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German Pages 239 Year 2010
Frühe Neuzeit Band 149 Studien und Dokumente zur deutschen Literatur und Kultur im europäischen Kontext Herausgegegeben von Achim Aurnhammer, Wilhelm Kühlmann, Jan-Dirk Müller, Martin Mulsow und Friedrich Vollhardt
Musikalische Norm um 1700 Herausgegeben von Rainer Bayreuther
De Gruyter
ISBN 978-3-11-023344-5 e-ISBN 978-3-11-023345-2 ISSN 0934-5531 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2010 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/ New York Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen f Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
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Inhalt Einleitung ............................................................................................................. 1 Rainer Bayreuther Perspektiven des Normbegriffs für die Erforschung der Musik um 1700 ........... 5 Alexander Aichele Galante Geltung. Normengebrauch und Normenanwendung bei Christian Thomasius .................................................................................... 63 Thomas Christensen Rules, License and Taste in 17th-Century French Music Theory: From Mersenne to Rameau ................................................................................ 81 Wolfgang Hirschmann »Musicus ecclecticus« – Überlegungen zu Nachahmung, Norm und Individualisierung um 1700.............................................................. 97 Sebastian Klotz »Humane Nature« und Musik bei Roger North. Zum ethischen Horizont der englischen Musikreflexion um 1700 .......................................... 109 Joachim Kremer ›Regel‹ versus ›Geschmack‹. Die Kritik an musikalischen Regeln zwischen 1700 und 1752 als Paradigmenwechsel ............................... 117 Michael Maul Johann David Heinichen und der »Musicalische Horribilicribrifax«. Überlegungen zur Vorrede von Heinichens Gründlicher Anweisung ......................................................... 145 Ute Poetzsch Das Erwecken von »allerhand Regungen« in Telemanns Kirchenmusik und die Fuge ............................................................................. 167 Miloš Vec Die normative Struktur des decorum. Über den Einbruch der Mode in den Naturrechtsdiskurs der Aufklärung ...................................... 181 Friedrich Vollhardt Normvermittlung bei Christian Thomasius ..................................................... 201
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Saskia Maria Woyke ›Varietas‹ – ›Artifizialität‹ – ›Irregolarità‹. Unausgesprochene Norm in venezianischen Opern der 1660er und 1670er Jahre ......................... 213 Namenregister .................................................................................................. 227
Einleitung Regeln haben den Effekt, die Dynamik der Geschichte stillzustellen. In der Geschichte der Künste hat man seit je Kräfte namhaft gemacht, die die Regel durchbrechen: in der Antike die göttliche Inspiration; in der Renaissance das Ingenium, das ein Recht auf Lizenz von der Regel hat; in der Aufklärung das Genie, das sich selbst die Regel gibt. Diese Kräfte, so ein gängiges Narrativ der Geschichtsschreibung, bewirkten Fortschritt und historischen Wandel. Hebt man damit mehr auf die ruhige, kontinuierliche Entfaltung einer Epoche als auf die geschichtliche Dynamik ab, wenn man die Normen einer Kunst untersucht? Diese Frage liegt den Studien des vorliegenden Bands zugrunde, und sie ist mit Nein zu beantworten. Am historischen Ursprung der Neuformierung musikalischer Normativität in Frankreich ab Mitte des 17. Jahrhunderts wird noch von Regeln und Lizenzen gesprochen (Beitrag Christensen). Die Lizenzen kann sich der begabte Künstler aber nicht anarchisch herausnehmen. Vielmehr sind sie in eine andere und historisch wegweisende Normenstruktur eingebunden: in die Normen des guten Geschmacks (Christensen und Kremer), die Regeln, die aus der Erfahrung gewonnen werden (Bayreuther), die Regeln der emotionalen Wirksamkeit von Musik (Poetzsch) oder einfach in die Maxime, musikalisch so vielfältig und irregulär wie möglich zu handeln (Woyke). Damit wurden nicht einfach ältere musikalische Regeln durch neue ersetzt. Die Normativität von Musik änderte sich grundlegend. Dabei handelt es sich um keine spezifisch musikgeschichtliche Entwicklung. Sie weist in einen alle Bereiche der Kultur durchdringenden zeittypischen Diskurs über Normativität. Die Frage, welche Normen die Musik um 1700 prägten, kann daher nicht allein musikgeschichtlich beantwortet werden. Die Rechtsphilosophie der Zeit findet für diese historisch neue Normativität eine eigene Normenklasse, das ›decorum‹ (Aichele und Vec). Die neue Normativität setzt nicht mehr allein beim Verstand an, der die triebhaften Kräfte reguliert. Sie kalkuliert das affektive, sinnliche, vernünftige und soziale Vermögen des Menschen ein und muss daher pädagogisch anders vermittelt werden als die Regeln alten Schlags (Vollhardt). Der musikalische Stilwandel, den Zeitgenossen subtil registrierten und der mit polemischen Streitigkeiten über Inhalt und Geltung von Regeln einherging (ein Fallbeispiel bei Maul), ist bisher musikgeschichtlich unterbestimmt geblieben. Zum einen sind die Wege des Transfers zwischen den musikalischen Kulturen in Europa und die gattungsgeschichtlichen Zusammenhänge noch unklar. In Frankreich wurden zentrale Aspekte der neuen Normativität erstmals erörtert (Christensen). In Italien, wo die Oper des späten 17. Jahrhunderts seit langem als Motor des Stilwandels im Blick ist, ist es für das Verständnis des Wandels musikalischer Normativität unerlässlich, die Sujets und die Formenvielfalt der Libretti zu berücksichtigen (Woyke). Wie in Deutschland begann in England die Diskussion um neue Regelstrukturen erst nach 1700. Bemerkenswert ist, dass hier wie dort völlig neue Kategorien des Beurteilens von Musik
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gesucht wurden (für Deutschland Bayreuther, für England Klotz). Zum anderen tangiert der Wandel der musikalischen Normativität die Geschichtlichkeit von Musik. Im Musikschrifttum herrschte bis zum Ende des 17. Jahrhunderts das Bewusstsein, die Entwicklung der Tonkunst von der Antike bis in die Gegenwart sei kontinuierlich verlaufen. Kurz nach 1700 diagnostizierten Mattheson und Heinichen aber einen historischen Bruch, der radikaler ist als der musikalische Zeitenwandel früherer Jahrhunderte. Er besteht in einem neuen Verständnis der Dynamik von (Musik-)Geschichte. Es wurden um 1700 nicht einfach veraltete musikalische Stile und ihre Regeln durch neue ersetzt. Das neue Epochenbewusstsein war geprägt von einem völlig neuen Typus musikalischer Normen (eine systematische Charakterisierung bei Bayreuther). Was diesen neuen Typus ausmacht, ist das Thema des vorliegenden Bands. Das epochal Neue besteht darin, dass der Inhalt von musikalischen Regeln nicht mehr aus einer konkreten Anweisung bestehen kann. Vielmehr muss der konkreten Situation, der herrschenden Mode und der Persönlichkeit der Akteure überlassen bleiben, wie musikalisch zu handeln ist. Das führte nicht dazu, dass der Regelbegriff suspendiert und in reine Pragmatik aufgelöst würde. Auch wurde die situative Variabilität des musikalischen Handelns nicht als Lizenz aufgefasst. Es wurde nach Regelhaftigkeiten in der Musik gesucht, die konstitutiv damit rechnen, dass jede Situation anders ist und dass jedes musikalische Handeln einen eigenen Zweck verfolgt. Das eklektische Einhalten von Vorschriften, das in der Musik wie in der Literatur um 1700 propagiert wurde, ist eine solche Regelhaftigkeit: Gegebene Regeln werden weder blind angewendet noch pauschal verworfen, sondern je nach Einzelfall neu kombiniert (Hirschmann). Das zwang die Musiktheorie der Zeit zu einer Reflexion darüber, welche Geltungsstruktur musikalische Normen haben, wenn man emotionale, situative und soziale Variabilität einrechnet (Bayreuther). Mit dieser Struktur musikalischer Norm gewann die Musikgeschichte eine qualitativ neue Dynamik. Solche Regeln bewahrten nicht mehr vor Veränderung und Beschleunigung, sie integrierten diese Faktoren vielmehr in ihre Regularität. Die Maxime, der Mode zu folgen (Vec), ist nichts anderes als eine rekursive Anwendung des Faktors Veränderlichkeit. Das Projekt einer musikalischen Aufklärung, das in der Mitte des 18. Jahrhunderts dann explizit formuliert wurde, ist erst auf der Grundlage dieses Wandels musikalischer Normativität verständlich. Die Musikgeschichte des 18. Jahrhunderts lässt sich in ihrer Dynamik ohne eine musikalische Normativität, die statt der starren Vorschrift die Flexibilität zur Regel macht, nicht angemessen verstehen. Die vorliegenden Aufsätze basieren auf Vorträgen, die im Rahmen der Tagung Die Regeln des musikalischen Satzes »ihrem Wesen nach« und »ihrem Gebrauch nach« (Mattheson). Musikalische Norm um 1700 vom 26. bis 28. Februar 2007 am Musikwissenschaftlichen Institut der Universität Frankfurt a.M. gehalten wurden. Mein Dank gilt vor allem vier Institutionen. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft hat die Durchführung der Tagung finanziert. Das Zentrum zur Erforschung der Frühen Neuzeit der Universität Frankfurt a.M. hat als Kooperationspartner die Tagung organisatorisch begleitet. Das
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Alfried Krupp Wissenschaftskolleg Greifswald ermöglichte durch ein Junior Fellowship im Kollegjahr 2008/09 eine gründliche Ausarbeitung der Thematik. Schließlich sei den Herausgebern der Frühen Neuzeit für die Aufnahme des Buchs in diese Reihe gedankt. Weimar, im Februar 2010
Rainer Bayreuther
Perspektiven des Normbegriffs für die Erforschung der Musik um 1700
I. Das Problem der Normativität1 Befragt man die musiktheoretischen Schriften Johann David Heinichens (ab 1711) und Johann Matthesons (ab 1713) auf die disziplinäre Herkunft des Vokabulars, mit dem argumentiert wird, gerät man auf ein Feld, mit dem die Musik nicht viel zu tun zu haben scheint, das Feld des Juristischen. Es ist möglicherweise die Distanz der beiden Disziplinen, die dafür sorgt, dass man bislang die juristische Begrifflichkeit in der musikalischen Publizistik des frühen 18. Jahrhunderts übersehen hat, damit dann auch übersieht, dass sich erst aus juristischen Kategorien die Denkfiguren begreifen lassen, mit denen man bislang an die Musikauffassung dieser Zeit heranging (Sensualismus, Eklektizismus, Affektenlehre usw.). Es ist die mangelnde Kenntnis der Relevanz des Juristischen für die Musik dieser Frühphase der Aufklärung, die dafür sorgt, dass die Musikwissenschaft bislang bei fachübergreifenden Forschungsclustern, die am Aspekt der Normativität ansetzen, unberücksichtigt bleibt.2 In der jüngeren Forschung zeichnet sich die Auffassung ab, dass das Einsetzen der Frühaufklärung mit einem Wechsel der Leitwissenschaft verbunden war. Das Wissen der Disziplinen orientiert sich in der Frühaufklärung nicht mehr an der Wissenschaft der Natur, sondern an der des Rechts. 3 So verwundert nicht, dass man auch im musikalischen Schrifttum rasch fündig wird, sucht man nach Argumentationen, die nach der Normativität, d.h. der Geltung von musikalischen Regeln, Gründen, Ansichten im Sinn des Geltungsgrunds von Gesetzen fragen. Mattheson beruft sich in der Widmung seiner ersten Publikation auf die Unparteilichkeit der »Justice«, um musikalische Verfahren auf ihre Geltung zu __________ 1
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Für eine kritische Lektüre insbesondere der rechtsphilosophischen Passagen des Aufsatzes sei Marco Iorio (Bielefeld) herzlich gedankt. Der seit dem Jahr 2000 bestehende Sonderforschungsbereich 485 »Norm und Symbol« (Universität Konstanz) umgreift die gesellschaftswissenschaftlichen und literaturwissenschaftlichen Fächer. Der im Oktober 2007 bewilligte Exzellenzcluster »Die Herausbildung normativer Ordnungen« (Universität Frankfurt a.M.) beinhaltet gegenwärtig die Disziplinen Philosophie, Geschichte, Politik- und Rechtswissenschaft, Ethnologie, Ökonomie, Religionswissenschaft und Soziologie. Vielleicht ist die an mich ergangene Einladung, auf einem interdisziplinären Kongress zum Thema „Was sind Regeln und was leisten sie?“ (Alfried Krupp Wissenschaftskolleg Greifswald 29.9.–2.10.2009, Tagungsband hg. von Marco Iorio und Rainer Reisenzein, Frankfurt a.M. 2010, im Druck) zu sprechen, Symptom einer Trendwende. Vgl. grundlegend den Beitrag von Friedrich Vollhardt im vorliegenden Band.
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überprüfen.4 Heinichen schreibt 1728, es seien die »berühmten Practici«, die ein »gut Judicium practicum« hätten. Ihre Urteilsfähigkeit ermögliche so etwas wie eine gesetzeskonforme Gesetzesübertretung; sie wüssten nämlich, an welcher musikalischen Stelle man »mit guter Raison von [...] Theoretischen Regeln abgehen kan.«5 Die Verletzung eines Gesetzes ist nur dann legitim, wenn sie die einzige Möglichkeit darstellt, einen übergeordneten Rechtsgrundsatz nicht zu verletzen. Eben dieser Konflikt scheint zwischen musikalischer Praxis und Theorie zu bestehen. In diesem Fall ist Heinichen der Auffassung, ein guter Praktiker halte es mit der »Juristischen Regel: Cessante ratione prohibitionis, cessat ipsa prohibitio«.6 Mattheson ist noch rigider, wenn er die Denkfigur des Rechtspositivismus bemüht und für die Musik überhaupt ablehnt, ihre Verfahrensweisen zu positivieren: »Ich will von allen; was hier in diesem Tractat geschrieben wird / [...] nichts vor eine positive Regul ausgeben«.7 Damit ist die Notwendigkeit juridischen Argumentierens aber nicht zu Ende. Selbst wenn der Praktiker gute Gründe nennen kann, sich musikalisch außerhalb der Gesetze der Theorie zu bewegen, hat er das juristische Feld keineswegs verlassen. Man mag sich eine beliebige Kunst ausdenken, die nach schierer Willkür, nach dem »Geratewohl« und dem »blinden Einfall«8 verfährt, nichtnormativ ist sie nie. Was immer sie tut, sie hat ihre Gründe, das zu tun, was sie tut, und sie glaubt, dass die Gründe zwingend sind, wie subjektiv, situativ und out-of-law auch immer sie sein mögen. Auch Handlungsgründe haben, wie zu sehen sein wird, einen in weitesten Sinn normativen Geltungsanspruch: Wenigstens in dieser Situation glaubt der Handelnde, nicht an ihnen vorbei zu können. Freilich scheint solche behavioristische Normativität explikationsbedürftig. Max Weber formulierte einmal den Grundsatz, Handeln, das zur
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Johann Mattheson: Das Neu-Eröffnete Orchestre, Oder Universelle und gründliche Anleitung / Wie ein Galant Homme einen vollkommenen Begriff von der Hoheit und Würde der edlen Music erlangen / seinen Gout darnach formiren /die Terminos technicos verstehen und geschicklich von dieser vortrefflichen Wissenschafft raisonnieren möge [...]. Hamburg 1713. Reprint Laaber 2002, Widmung Bl. )( 3r. Johann David Heinichen: Der General-Bass in der Composition, oder: Neue und gründliche Anweisung, wie ein Musicliebhaber mit besonderm Vortheil, durch die Principia der Composition, nicht allein den General-Bass im kirchen- cammer- und theatralischen stylo vollkommen, & in altiori gradu erlernen [...] sondern auch zu gleicher Zeit in der Composition selbst, wichtige profectus machen könne; nebst einer Einleitung oder musikalischen raisonnement von der Music überhaupt, und vielen besondern materien der heutigen praxeos. Dresden 1728, S. 16. Ebd. Heinichen zitiert hier die Vorrede zu Johann Kuhnau: Musicalische Vorstellung Einiger Biblischer Historien / In 6. Sonaten [...]. Leipzig 1700; der Thomaskantor Kuhnau war studierter Jurist. Vgl. ausführlich den Beitrag von Michael Maul im vorliegenden Band. Mattheson: Das Neu-Eröffnete Orchestre (Anm. 4), S. 198. Johann Joachim Quantz: Versuch einer Anweisung, die Flöte traversière zu spielen. Berlin 1752. Reprint hg. von Hans-Peter Schmitz (Documenta musicologica, I/II). Kassel u.a. 1983, Einleitung, S. 16.
Perspektiven des Normbegriffs für die Erforschung der Musik um 1700
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Norm erhoben werde, müsse verallgemeinerbar sein.9 Genau diese Verallgemeinerung leistet die Rechtstheorie der Zeit. Und nicht nur diese: Heinichen selbst spricht jener außerhalb von theoretischen Gesetzen und Regeln stehenden musikalischen Praxis zu, eine »judicieuse Praxis« zu sein,10 also eine, die nicht nur irgendwelche Gründe für ihr Tun und Lassen hat, sondern »judicieuse« Gründe, die in einer noch näher zu bestimmenden Weise Verpflichtungen nach sich ziehen wie die Normen der musikalischen Theorie. Heinichens Ausführungen deuten an, dass es eine Diskrepanz zwischen musikalischer Theorie und musikalischer Praxis gibt, und zwar eine, die sich als normatives Problem begreifen lässt. Die Theorie führt offensichtlich in bestimmten Fällen zu Normen, die faktisch gar nicht relevant werden. Wenn man Normen als Präferenzensetzung unter alternativen Handlungsoptionen versteht (ohne dass Normen mit diesem Merkmal vollständig charakterisiert sind), wären solche bloß theoretischen Normen also gar keine. Wo eine Norm die bestehenden Handlungsoptionen nicht tangiert, ist sie irrelevant. Umgekehrt scheint bei den Normen, die das praktische »Judicium« faktisch leiten, ein Begründungsproblem zu bestehen. Sie entsprechen zwar einer praktischen »Raison«, widersprechen hingegen theoretischen Grundsätzen. Ist aber ein kruder Pragmatismus und Positivismus ausreichend, um die Geltung solcher Praxisnormen abzusichern? Wir werden sehen, dass die Autoren um 1700 ein umfassendes System von mentalen, physiologischen, epistemologischen, soziologischen, ästhetischen und nicht zuletzt juristischen Argumenten aufbauen, um genau diese Frage zu klären. Die Dringlichkeit, dies zu tun, liegt für die Autoren in den jüngsten musikalischen Entwicklungen ihrer Zeit, die in einem entscheidenden Punkt gegenüber der älteren Musik den Fortschritt erbracht hätten, den eigentlichen Zweck von Musik zu erfüllen: die menschlichen Affekte zu bewegen. Das erfordert Erklärungen, die wiederum die skizzierten normativen Probleme aufwerfen. Die spezifische Normativität dieser neuen Musik kulminiert im Begriff des Galanten. ›Galant‹ ist mehr als nur ein um 1700 zuweilen inflationär gebrauchtes Modewort.11 Das Galante repräsentiert, wie im folgenden zu sehen __________ 9
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Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie. Mit einem Vorwort von Dr. Alexander Ulfig. Frankfurt a.M. 2005, S. 568f. »Und diese judicieuse Praxis ist zehenmahl schwerer / als die öffters vorgeschriebene truckene Theorie; Ja eben deswegen bleiben ungewiegte Theoretici so gern bei denen platt niedergeschriebenen antiqven Regeln / weil ihr Judicium nicht so weit langet / mit Raison davon abzugehen.« Heinichen: Der General-Bass in der Composition (Anm. 5), S. 17. Thomasius konstatiert einmal süffisant, es seien schon Hunde und Katzen, Pantoffeln, Tische, Bänke, Tinte, Äpfel und Birnen als galant bezeichnet worden: Christian Thomasius: Christian Thomas eröffnet Der Studirenden Jugend zu Leipzig in einem Discours, Welcher Gestalt man denen Frantzosen in gemeinem Leben und Wandel nachahmen solle? ein Collegium über des Gratians Grund-Reguln / Vernünfftig / klug und artig zu leben (1687/88). In: Christian Thomasens Allerhand bißher publicirte Kleine Teutsche Schrifften / Mit Fleiß colligiret und zusammen getragen; Nebst etlichen Beylagen und einer Vorrede. Halle 1701, S. 1–70, hier: S. 14 (Christian Thomasius: Ausgewählte Werke. Hg. von Werner Schneiders. Hildesheim und New York 1993ff., Bd. 22). Weitere
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ist, genau jene Normstruktur, in der konstitutiv ein Theorie-Praxis-Problem herrscht und in der konstitutiv die Normgeltung besonderer Begründung bedarf, weil die üblichen Geltungsmechanismen von Normen nicht greifen. Mattheson richtet sich 1713 an einen »judicieusen Liebhaber und Kenner«, und wie bei Heinichen wird dessen musikalische Urteilsfähigkeit einer scholastischen Normativität entgegengesetzt: Dieser Liebhaber oder Kenner habe eine »von allem unnöthigen Schul-Staub gesäuberte Ideam von der Musik«.12 Wer diese Urteilsfähigkeit hat, den bezeichnet Mattheson in gleich zwei Buchtiteln als »Galant Homme« bzw., um ihn von ephemerer Mode abzugrenzen und die ernsthafte Normativität zu betonen, die das Galante eigentlich hat, als »würcklichen galant-homme«.13 Die folgende Untersuchung legt dar, dass der Begriff der Norm die adäquate und die zentrale Kategorie ist, um den musikalischen Stilwandel und den Paradigmenwechsel im musikalischen Denken um 1700 zu beschreiben. Vorgreifend lässt sich sagen, dass alle musikalischen Regeln – Regeln des Komponierens, der musikalischen Ausführung, des gelehrten musikalischen Urteils, des musikalischen Liebhaberurteils usw. – von Inhalten des musikalischen Wissens auf Normen des musikalischen Handelns umgestellt werden. Diese zentrale These bedarf einer allgemeinen Bemerkung. Es gibt zwei Grundtypen von Regeln: deskriptive und präskriptive Regeln. Deskriptive Regeln beschreiben eine existierende Regularität in Natur und Kultur. Eine deskriptive Regel in der Musik könnte etwa lauten: Ein Musikstück aus der Zeit um 1700 endet in der Regel mit einem Durdreiklang. Jede deskriptiven Regel ist eine Behauptung, die wahr oder falsch sein kann. Insofern zielt sie auf Wissen. Präskriptive Regeln gebieten, in einer bestimmten Situation etwas bestimmtes zu tun. Sie zielen auf eine zukünftige Handlung, insofern kann ihnen kein Wahrheitswert zugeordnet werden. Die allgemeine Struktur einer präskriptiven Regel ist eine Anweisung der Form ›Für eine Person P gilt: Wenn du in der Situation S bist, mache/unterlasse X.‹ Der Kern einer präskriptiven Regel ist immer die Anweisung X, und für X lässt sich nur eine Handlung, nicht aber ein wahrer oder falscher Wissensgehalt einsetzen. Der mit einer Regel implizierte Wissensgehalt ist vielmehr die Kombination aus S und X: Es gibt einen guten Grund, in der Situation S gemäß X zu handeln. Und dieser Grund kann wiederum wahr oder falsch sein, er kann sogar die Form einer deskriptiven Regel haben. Je weiter S gefasst ist, desto höher und umfassender ist der Geltungsanspruch der Regel, desto höher auch ihr Anspruch __________
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Nachweise bei Max Freiherr von Waldberg: Die galante Lyrik. Beiträge zu ihrer Geschichte und Charakteristik. Straßburg und Tübingen 1885, sowie Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch, Bd. 4, Stichwort »galant«. Mattheson: Das Neu-Eröffnete Orchestre (Anm. 4), S. 10. Mattheson: Das Neu-Eröffnete Orchestre (Anm. 4); Johann Mattheson: Das Beschützte Orchestre: oder desselben Zweyte Eröffnung, worinn nicht nur einem würcklichen galanthomme, der eben kein Profeßions-Verwandter, sondern auch manchem Musico selbst die alleraufrichtigste und deutlichste Vorstellung musicalischer Wissenschafften [...] ertheilet [...] wird. Hamburg 1717, Reprint Laaber 2002.
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darauf, dass der Präskription eine deskriptive Regel zugrunde liegt, die wahr ist (sofern die Anweisung nicht mit diktatorischer Gewalt ergeht, sondern auf die Einsicht des Akteurs hofft). Je spezieller aber die Situationsklausel S gefasst ist, umso schwächer wird der Wahrheitsanspruch, der der Handlung X zugrunde liegt. Welches X eingesetzt wird, kommt dann in hohem Maß auf die Einschätzung an, welches S überhaupt vorliegt. In der Musik ist die Einschätzung von S wahrscheinlich die Crux musikalischer Regeln. Es sind Bedingungen sehr unterschiedlicher Art zu berücksichtigen: satztechnische, aufführungstechnische, gattungstechnische usw. Wie der musikalische Akteur die unterschiedlichen Faktoren zu einer triftigen Einschätzung seiner jeweiligen Situation zusammenführt, ist ein Kardinalproblem musikalischer Normativität. Je allgemeiner S formuliert ist, desto weniger muss sich P ein Urteil darüber bilden, ob er sich in S befindet. Je spezieller S formuliert ist, desto weniger Konstellationen deckt es ab, desto genauer muss sich P fragen, ob es sich bei seiner Situation wirklich um S handelt oder ob nicht ein anderer Faktor seiner Lage wichtiger ist und eine andere Regel in Frage käme. Damit bekommt P indirekt einen viel größeren Einfluss darauf, welche Anweisung X nun befolgt werden soll. Oder anders gesagt: Wissen erwerben und Handeln fallen in P mehr oder weniger zusammen. P wird vom exekutierenden Faktor innerhalb einer Handlung, die von dem Akteur strukturiert wird, der die Regel erließ, selbst zum Akteur, der eine Handlungssequenz plant und der sich Gründe und Regeln zurechtlegt. Ich möchte zeigen, dass sich der Diskurs in der Musik um 1700 um genau solche – bisher recht abstrakt formulierte – Fragen dreht. In den Regeldebatten um 1700 geht es darum, wie eng oder weit S in musikalischen Regeln sein kann und welche Kompetenzen P hat oder haben soll, um S zu bestimmen. Die Tendenz ist, dass die Bedeutung einer selbstständigen Einschätzung von P zunimmt. Bemerkenswert ist nun, dass in den musikalischen Debatten dabei direkter Bezug auf die fachübergreifende Diskussion von Normativität überhaupt genommen wird. Aus diesem Grund muss die Erörterung den musiktheoretischen und jenen allgemeinen normentheoretischen Diskurs zugleich berücksichtigen. Die Perspektiven, die sich hieraus für die Erforschung der Musik der Zeit ergeben, können nur angedeutet werden. Ihre Ausarbeitung bleibt einer umfassenden Studie vorbehalten. Im transdisziplinären Diskurs der letzten Jahre hat der Begriff der Norm eine wichtige Bedeutung erlangt. ›Norm‹ scheint, hierin nur vergleichbar mit ›Symbol‹14, eine jener transversalen Kategorien zu sein, die eine Schnittmenge von sozialen, politischen, ökonomischen, theologischen und ästhetischen Feldern repräsentieren. Solche transversalen Kategorien lassen sich als Sinnsysteme verstehen, an denen die Felder partizipieren und über die sie sich für eine denkende, fühlende und handelnde Person zu ein und derselben Lebenswirklichkeit verbinden. Unter den vielen beteiligten Disziplinen waren __________ 14
Vgl. Rudolf Schlögl und Bernd Giesen (Hg.): Die Wirklichkeit der Symbole. Grundlagen der Kommunikation in historischen und gegenwärtigen Gesellschaften. Konstanz 2004.
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es besonders die Sozialwissenschaften, die dem Begriff seinen eigentümlichen ›spin‹ gegeben haben. Seit dem späten Émile Durkheim spielt in den Handlungstheorien die Kategorie der Norm eine zentrale Rolle.15 Eine Norm ist handlungstheoretisch im weitesten Sinn eine Verpflichtung der oben beschriebenen Form, nach der eine Person ihr Handeln ausrichtet. Freilich ist eine Norm nicht die einzige Orientierungsmarke des Handelns. Handeln orientiert sich vor allem am Zweck. Der Zweck ist ein Grund der Handlung und nur in Sonderfällen zugleich eine Norm. Neben dem Zweck, auf den das Handeln zielt, gibt es eine Vielzahl von Handlungsgründen, die keine Normen sind und zu jenen in einem komplementären oder gegebenenfalls konträren Verhältnis stehen. Mit dem handlungstheoretischen Fokus entzogen die Sozialwissenschaften den Normbegriff der Rechtsphilosophie und der Ethik, deren Fragerichtung eben darin bestand, Inhalt und Geltung von Normen an sich zu erforschen, statt nach der Funktion von Normen in Handlungszusammenhängen zu fragen. Der handlungstheoretische Fokus hat zu der heute weithin akzeptierten, wenngleich nicht unwidersprochenen16 Auffassung geführt, dass sich normative Phänomene selbst dort besser aus der Perspektive des Handelns begreifen lassen, wo es sich zunächst gar nicht um dezidiert handlungsorientierte Normen handelt. Nur dem ersten Anschein nach handelt es sich hier um ein speziell soziologisches Methodenproblem. Tatsächlich ist der handlungstheoretische Zugriff auf Normen für unser Thema, welche Strukturen von Regeln dem Komponieren, Aufführen und der Urteilsbildung über Musik um 1700 zugrunde liegen, eine methodische Entscheidung, die der historische Gegenstand selbst nahelegt. Es wird zu sehen sein, dass die entscheidende Weichenstellung für die handlungstheoretische Fokussierung von Normen genau in die Zeit um 1700 fällt, mehr noch, dass es sich hierbei um eben jenen Diskurs handelt, auf den sich Mattheson und Heinichen fortwährend beziehen. Es ist dies der Naturrechtsdiskurs, wie er in Deutschland vor allem von Christian Thomasius geführt wird.17 Aus diesem Grund greifen die folgenden Ausführungen auf zweierlei Weise über das enge Feld der Musikauffassung um 1700 hinaus. Zum einen muss klargelegt werden, was in dieser Zeit genau unter Handeln verstanden und in welcher allgemeinen Weise Handeln mit Normen in Verbindung gebracht wurde. Dafür ist der naturrechtliche Diskurs um 1700 zu sondieren und seine handlungstheoretische Ausrichtung präzise zu bestimmen. Dies geschieht im II. Abschnitt des Beitrags. Im III. Abschnitt werden dann einzelne Strukturen __________ 15
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Vgl. Andreas Reckwitz: Die Transformation der Kulturtheorien. Zur Entwicklung eines Theorieprogramms. Weilerswist 2000, S. 117ff. Siehe etwa die Schriften von Alfred Schütz und Jürgen Habermas zum Thema. Wie weit in das literarische Milieu der Moralischen Wochenschriften hinein, in dem auch Mattheson und Scheibe ihre musikästhetischen Positionen vertreten, Thomasius gewirkt hat, zeigt Friedrich Vollhardt: Selbstliebe und Geselligkeit. Untersuchungen zum Verhältnis von naturrechtlichem Denken und moralididaktischer Literatur im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen 2001, S. 215ff.
Perspektiven des Normbegriffs für die Erforschung der Musik um 1700
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handlungsorientierter Normen an den zeitgenössischen musiktheoretischen Argumentationen entwickelt.
II. Zur normativen Struktur von Handeln Norm ist, was unbedingt gilt. Die Geltung einer Regel hingegen ist von Bedingungen abhängig. Auch kann die Geltung einer Regel von einer Person abhängig sein, die sie gibt. Beispielsweise kann ich mir zur Regel machen, jeden Tag um sieben Uhr aufzustehen. Die Regel gilt für mich, obwohl der Wille derselben Person, nämlich ich, die Bedingung ihrer Geltung ist. Bei den meisten lebensweltlichen Handlungen sind die Handlungsbedingungen so komplex und auch bei identischen Handlungen je nach Ort und Zeit meist verschiedene, dass es zur direkten oder indirekten Kollision von Regeln kommt. Man ist gezwungen zu entscheiden, welche Regel Priorität hat, und diese Entscheidung wird man vom Zweck der Handlung abhängig machen. Es ist kein ernsthaftes normatives Problem, gegen die Regel des zeitigen Aufstehens zu verstoßen, wenn man aufgrund irgendwelcher erzwungener Umstände spät ins Bett kam und noch viel vor hat, denn eine andere und in diesem Fall wichtigere Regel besagt, dass man ein bestimmtes Quantum Schlaf benötigt, um gut arbeiten zu können. Die Unbedingtheitsstruktur einer Norm nun zeigt sich gerade darin, dass sie sich nicht gegen andere Handlungsgründe abwägen lässt, d.h. formal: dass die Situation S sehr weit gefasst ist und nicht im Hinblick auf konkrete Handlungsziele formuliert wurde.18 Eine Norm ist zu befolgen, auch wenn sie das Erreichen des Handlungsziels gefährdet oder vereitelt. Sie ist, ganz im Unterschied zu einer Regel, selbst dann unabänderlich, wenn man mit ihr im Einzelfall schlechte Erfahrung gemacht hat. Ihre Effektivität im Hinblick auf den Zweck von Handlungen ist jedenfalls nicht ihr Geltungsgrund. Man kann sagen: Alle Normen fungieren im Handlungsverlauf als Regeln, aber nicht alle Regeln haben die Geltungsstruktur von Normen. Max Weber hat die rechtssoziologische Unterscheidung zwischen Rechtsübung und Rechtsgeltung eingeführt.19 Rechtsübung ist die bloße lex consuetudinis, das nichtgesatzte Einverständnis einer Gruppe von Akteuren über bestimmte Regeln. Diese Regeln gelten unter der Bedingung, dass sie von den __________ 18
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Vgl. Joseph Raz: Praktische Gründe und Normen. Frankfurt a.M. 2006 (engl. Orig.: Reason and Norms. Oxford 1975), S. 79–81. Nicht alle Philosophen unterscheiden so strikt zwischen unbedingten Normen und pragmatischen Regeln. Herbert Lionel Adolphus Hart: Der Begriff des Rechts. Frankfurt a.M. 1973 (engl. Orig.: The Concept of Law. Oxford 1961) zum Beispiel verwendet nur den Begriff »Regel« (»rule«), unterscheidet aber zahlreiche Grade, Arten und Sanktionen von Verpflichtungen (»obligations«). Dasselbe gilt für Marco Iorio: Regel und Grund. Eine philosophische Abhandlung. Berlin 2010, ein Text, dem die vorliegenden Ausführungen viel verdanken. Für mein musikhistorisches Thema erscheint mir die gegebene Unterscheidung zwischen Norm und Regel adäquat, ohne damit behaupten zu wollen, dass sie für eine allgemeine Theorie der Norm adäquat wäre. Weber: Wirtschaft und Gesellschaft (Anm. 9), 2. Teil, Kap. VII, §3, S. 564ff.
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Akteuren für sinnvoll und nützlich erachtet werden. Für Weber ist nun ein Merkmal der Höherentwicklung von Gesellschaften, dass sie solche Rechtsübung mit zunehmender Ausdifferenzierung in gesatztes Recht überführen. Diesen Vorgang begreift er als Rationalisierung, und zwar dezidiert als Zweckrationalisierung, also im Hinblick auf Handlungszwecke. Durch die Planungssicherheit, die mit der Positivierung von Recht gewonnen wird, sieht Weber eine Befreiung des Handelns aus einem dunklen Geflecht von archaischen Riten und Gewohnheiten hin zu einem zunehmend autonomen Handeln, das an Bewegungsspielraum und in diesem Sinn an Autonomie dort gewinnt, wo das gesatzte Recht nichts regelt: Cessante lege prohibitionis, cessat ipsa prohibitio, um Heinichens Diktum abzuwandeln. Nach demselben Entwicklungsschema konstruiert Weber seine Musiksoziologie. Die Ausdifferenzierung von musikalischen Normen, die eine Koinzidenz in der Ausdifferenzierung einer musikalischen Schrift hat, ist für Weber ein Rationalisierungsvorgang, der eine historische Entwicklungslinie vom frühen Mittelalter bis in seine eigene Gegenwart zeichnet und für die Akteure denselben Effekt hat wie die Ausdifferenzierung der Rechtssetzung, nämlich eine Loslösung der Musik von ursprünglich rituellen Kontexten und einen Zugewinn an künstlerischer Autonomie.20 Ob eine solche Teleologie musikhistorisch triftig ist, kann hier nicht diskutiert werden, erst recht nicht ihre sozial- und rechtsgeschichtliche Plausibilität. Relevant für uns sind zwei Aspekte. Zum einen ist das Schema einer Trennung zwischen Gewohnheitsrecht mit schwacher Normativität und gesatztem Recht mit starker Normativität zu unpräzise, um die Situation um 1700 rechtshistorisch zu erklären. Insbesondere lassen sich, wie zu sehen sein wird, normative Abstufungen nicht entlang der Unterscheidung usuelles/gesatztes Recht vornehmen. Auch eine Teleologie vom usuellen zum gesatzten Recht lässt sich für die Phase um 1700 schwerlich behaupten, eher das Gegenteil scheint der Fall zu sein. Zum anderen begibt man sich mit dem weberschen Schema in theoretische Probleme jenseits historischer Szenarien. Handlungstheoretisch erweist es sich als äußerst schwierig, handlungsleitende Normen mit einer irgendwie – durch Setzung, durch Befehl usw. – objektivierten Rechtsgeltung zu versehen. Es ist sogar schwierig, Normativität handlungstheoretisch von subjektivem Geltungsgrund zu trennen. Genau dieser zunächst rein handlungstheoretische Befund wird sich auch bei der Analyse des historischen Szenarios um 1700 ergeben. So wie Heinichen und Mattheson eine Praxisperspektive eingefordert hatten, um der eigentümlichen Struktur von musikalischen Regeln auf die Spur zu kommen, besteht ein Grundgedanke der Handlungstheorie darin, die Struktur von Normen aus der Perspektive des Handelns zu beschreiben. Dabei geht es nicht darum zu untersuchen, wie ein Handelnder unter Praxiszwang und Ergebnisdruck mit Normen faktisch umgeht; nicht Normwirklichkeit soll beschrieben werden. Vielmehr dient die Handlungsperspektive dazu, die Struktur von Nor__________ 20
Max Weber: Zur Musiksoziologie. Aus dem Nachlass hg. von Christoph Braun und Ludwig Finscher (Max Weber Gesamtausgabe Abt. I, Bd. 14). Tübingen 2004.
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men, die ja per definitionem handlungsbezogen sind, genau zu erfassen. Dieses Theorieprogramm hat etwa Talcott Parsons verfolgt.21 Parsons geht davon aus, dass Handeln ein integraler Vorgang ist, der eine Vielzahl von kleineren Handlungseinheiten (»unit-acts«) sowie eine Reihe von konkreten Zwecken, Mitteln, Bedingungen, Regeln und Normen umfasst. Jeder unit-act hat folgende Merkmale:22 1. Es gibt eine handelnde Person. 2. Jeder unit-act hat ein Ziel, an dem er ausgerichtet ist. 3. Jeder unit-act ist in eine Umgebung von Bedingungen eingebettet, die der Handelnde teils vorfindet, teils aktiv gestaltet. Auch Regeln und Normen sind solche Bedingungen. 4. Die Bedingungen unter 3. werden vom Handelnden in Beziehung und Gewichtung zueinander gesetzt; dies bezeichnet Parsons als »normative Orientierung«.23 Letzteres Merkmal beinhaltet, dass sich Normen letztendlich nicht unabhängig von Handlungszielen begreifen lassen. Das scheint auf eine paradoxale Bestimmung von Norm hinauszulaufen. Norm soll ja per definitionem eine Vorschrift sein, die unabhängig davon gilt, ob sie den Erfolg einer Handlung begünstigt oder erschwert.24 In der Tat ist ein gewisses paradoxales Zwielicht charakteristisch für Normen, wie sich gerade an den musikalischen Normen um 1700 erweisen wird. Aber man kann – gemäß der luhmannschen Strategie, Paradoxa aufzulösen, indem man Unterscheidungen trifft – hier veranschlagen, dass kleine Handlungseinheiten in größere Handlungsstränge eingebunden sind. Auf irgendeinem dieser Handlungsstränge, spätestens dem obersten und umfassenden, muss sich die Befolgung einer Norm rentieren. Denn es hat keinen Sinn, dass ich als Handelnder Normen postuliere und akzeptiere, von denen ich nie etwas habe, selbst wenn die Rendite einer Normbefolgung auf spätere Zeiten, in ein jenseitiges Leben oder in die bloße Möglichkeit verlegt wird. In diesen Fällen werden alle Handlungen, die im Hinblick auf die Rendite relevant sind, als unit-acts eines großen Handlungsstrangs aufgefasst. Nur auf den unteren Ebenen kleinerer unit-acts also ist die normative Orientierung ergebnisunabhängig, nicht aber prinzipiell und insgesamt. Erst wenn man diese Struktur von Handeln in Betracht zieht, lässt sich Parsons’ Definition von Norm nachvollziehen: »Eine Norm ist eine verbale Beschreibung eines konkreten Handlungsverlaufs, der als wünschenswert betrachtet wird, verbunden mit der Vorschrift, daß künftiges Handeln ihr entsprechen soll.«25 In einem wünschenswerten Handlungsverlauf wird Norm tatsächlich ergebnisabhängig verstanden. Ergebnisunabhängig ist jedoch die Bestimmung, dass diese Norm für jede __________ 21
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Talcott Parsons: Actor, Situation and Normative Pattern. An Essay in the Theory of Social Action (Ms., 1939). Deutsch als: Aktor, Situation und normative Muster. Ein Essay zur Theorie sozialen Handelns. Hg. und übersetzt von Harald Wenzel. Frankfurt a.M. 1994. Nach Alfred Schütz: Parsons’ Theorie des sozialen Handelns. In: Ders.: Zur Theorie sozialen Handelns. Frankfurt a.M. 1997, S. 25–76, hier: S. 29. Parsons (Anm. 21), S. 72. Vgl. auch S. 129f. Vor dieses Problem sah sich auch Schütz (Anm. 22), S. 47, gestellt. Allerdings hat Schütz die im folgenden ausgeführte konstitutiv paradoxale Struktur von Norm, sofern man sie handlungstheoretisch auffasst, nicht erkannt. Talcott Parsons: The Structure of Social Action (1937). New York 1968, S. 75.
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künftige Handlung gilt, denn künftige gleiche Handlungen können andere Ziele verfolgen. Parsons trägt mit dieser paradoxalen Definition der Einsicht Rechnung, dass sich mindestens ein konkreter Handlungsverlauf angeben lässt, bei dem die Norm zugleich der Zweck ist. Letztlich war das schon der Kern von Webers Argument, dort aber undeutlicher formuliert: Eine rationalisierende Positivierung von Gewohnheitsrecht ist sinnlos, wenn sie nicht letztlich den konkreten Interessen von Handelnden zugute kommt,26 die webersche geltungsstrukturelle Unterscheidung zwischen Wert- und Zweckrationalität hin oder her.27 Nach Parsons’ Handlungstheorie stellt sich Norm also weniger als eine inhaltlich konkrete Vorschrift dar, sondern als Konglomerat von Zwecken, Zielen, Gründen, situativen Umständen von Handeln.28 Normgemäß zu handeln heißt dann nicht, eine konkrete Norm als einen Aspekt unter anderen in die Rationalisierung von Handeln einzubringen, sondern alle gegebenen Aspekte zu sortieren und zu gewichten. In diesem Sinn ist Normierung ein deskriptiver Vorgang. Normierung läuft bei Parsons nicht auf einen autoritativen Akt des Anweisens hinaus, selbst wenn präskriptive Normen diese sprachlich-logische Form haben. Normierung ist für ihn letzten Endes die Deskription von __________ 26 27
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Weber: Wirtschaft und Gesellschaft (Anm. 9), S. 565. Die Gegenposition zu dieser Konzeption Parsons’, die eine dichotome Unterscheidung zwischen Handlungsgründen und Handlungsnormen bewusst vermeidet, hat in den letzten Jahren Jürgen Habermas vertreten. Indirekt gegen Parsons, direkt gegen Luhmann (dessen Systemtheorie wesentliche Theorieelemente von Parsons’ Normbegriff aufgenommen hat) argumentiert er, mit der letztlichen Gleichsetzung von Norm und Handlungsorientierung sei zwischen objektiven Handlungsbedingungen (»Wahrheitsgeltung«) und Normen (»Sollgeltung«) nur noch psychologisch zu unterscheiden: »Die Differenz zwischen Sein und Sollen, zwischen Wahrheitsgeltung und Sollgeltung wird auf zwei Reaktionsmöglichkeiten reduziert, die als Lernen oder Nichtlernen nur mit Bezug auf kognitive Erwartungen eine Alternative darstellen. ›Normativ‹ heißen dann die kognitiven Erwartungen, die man im Enttäuschungsfalle nicht zu revidieren bereit ist. Mit dieser grundbegrifflichen Weichenstellung macht sich die funktionalistische Rechtssoziologie gegen den Sinn des komplexen Geltungsmodus von Recht blind.« (Jürgen Habermas: Faktizität und Geltung. Frankfurt a.M. 1992, S. 70.) Es steht also viel auf dem Spiel bei der Verhältnisbestimmung von Norm und Wirklichkeit. Lässt sich irgendeine transzendentale Geltung von Normen behaupten, dann sind Letztbegründungen von Handlungen in Systemen, in denen normativ agiert wird – Politik, Ökonomie, die Künste – prinzipiell möglich. Diese Position verficht Habermas, freilich nicht mit einem transzendentalen, sondern einem demokratischkommunikativen Begriff von Normgeltung. Gibt es keine transzendentale Geltung von Normen, läuft normgeleitetes Handeln tendenziell auf utilitaristisches business as usual hinaus, in dem Norm und eigenes Interesse letztlich zusammenfallen. Die Alternative war um 1700, als Thomasius erstmals normative Systeme ohne transzendentalen Geltungsmodus entwarf, genauso dramatisch, wie sie es heute ist. Daran mag man ermessen, warum der Aufruhr so groß war, den Thomasius verursachte, und warum man sich, wenn man einen solchen Normbegriff auf die Musik übertrug, den Vorwurf einhandelte, »wieder Gottes Wort« zu sein (so direkt gegen Mattheson Johann Heinrich Buttstett: Ut, Mi, Sol, Re, Fa, La, Tota Musica et Harmonia Aeterna Oder Neu-eröffnetes, altes, wahres, eintziges und ewiges Fundamentum Musices, entgegen gesetzt Dem neu-eröffneten Orchestre [...]. Erfurt und Leipzig o.J. (1716), S. 3). Parsons: The Structure of Social Action (Anm. 25), S. 74ff.
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Regularitäten. Diese deskriptive Eigenschaft von Normen wird sich bei der Analyse der musikalischen Normativität bei Mattheson und Heinichen als zentral erweisen. Intention dieser Deskription ist eine normative Orientierung aller Handlungsaspekte im Hinblick auf das Ziel des Handelns.29 Halten wir uns die oben genannte zentrale Eigenschaft deskriptiver Regeln vor Augen: Ihnen kann ein Wahrheitswert zugeordnet werden. Wenn nun in den Normierungsvorgang das Handlungsziel einbezogen wird, dann kommt die Unterscheidung zwischen wahr und falsch ins Spiel. Wenn die Orientierung an diesen und jenen Gründen und Regeln erfolgreich zum Ziel des Handelns führte, ist die normative Deskription wahr. Hat man Gründe und Regeln herangezogen, die nicht zum gewünschten Ziel führten, ist die normative Deskription falsch. Auf der Ebene von unit-acts kann die normative Orientierung durchaus dazu führen, einen einzelnen unit-act anders auszuführen, als es Neigung, Zweck oder andere Handlungsgründe nahegelegt hätten. Dort greift der Unbedingtheitsanspruch der Norm. Auf der Ebene größerer Handlungssequenzen aber bedeutet eben dies, die Teilhandlungen ›normativ‹ an bestimmten Zwecken und Zielen zu orientieren. Die normative Orientierung des Handelns bezeichnet Parsons als »analytisch«, insofern in ihr der Ertrag einer Befolgung oder die Kosten einer Verletzung von vorfindlichen Normen errechnet und der errechnete Betrag dann als konkrete situative Bedingung des Handelns einkalkuliert wird. Die anderen Bedingungen des Handelns sowie dieser Betrag werden von Parsons als »konkret« im Hinblick auf die jeweilige Situation bezeichnet.30 Der analytische Charakter der normativen Orientierung besteht mithin nicht darin, bestimmte Norminhalte anzuerkennen, sondern ›nur‹, diverse Gründe und Bedingungen zu bewerten. Norm bei Parsons ist, zugespitzt formuliert, ein Vorgang, kein propositionaler Gehalt.31 Um anzudeuten, wie präzise mit diesem handlungstheoretischen Konzept von Normen die Verhältnisse in der Musik um 1700 beschrieben werden, sei nur an die Formulierung des »judicieusen Liebhabers und Kenners«32 erinnert. »Judicieus« ist dieser Liebhaber und Kenner nicht, weil er weiß, was eine musikalische Norm genau beinhaltet und wie man sie anwendet, sondern weil er den Vorgang des Judizierens insgesamt beherrscht. Der »judicieuse« Liebhaber und Kenner der Musik kann wahre Deskriptionen des __________ 29 30 31
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Parsons (Anm. 21), S. 72–74. Parsons: The Structure of Social Action (Anm. 25), S. 748; Parsons (Anm. 21), S. 117. In der bloß analytischen Formulierung von vorfindlicher Normativität steckt ein radikales Aufklärungsprogramm. Eine Pointe dieser höchst aktuellen Diskussion ist, dass der Atheist Habermas, der sich mit dem funktionalistischen Normbegriff Parsons’ und Luhmanns nicht abfinden will (vgl. Anm. 27), contre cœur jüngst Sympathie mit religiöser Normativität entwickelt. Offenbarungsreligionen tun sich naturgemäß leichter damit, die Normen, die die parsonssche Theorie kühl als bloß »analytisch« bezeichnet, »konkret« zu formulieren. Dies läuft auf eine Revision genau jener normtheoretischen Aufklärung hinaus, die, wie im folgenden zu sehen ist, bei Thomasius einsetzt. Habermas gibt denn auch offen zu, es gehe ihm um einen »Lernprozess [...], der die Traditionen der Aufklärung ebenso wie die religiösen Lehren zur Reflexion auf ihre jeweiligen Grenzen nötigt«. (Jürgen Habermas: Zwischen Naturalismus und Religion. Frankfurt a.M. 2005, S. 107). Anm. 12.
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gesamten musikalischen Handlungsvorgangs von den Bedingungen über die Handlungsgründe bis zum Handlungsziel liefern, ohne dass er von der genauen normative Struktur der Bedingungen und Gründe im einzelnen ein Expertenwissen hätte. Die gesamte musikalische Handlung als solche ist normativ, und ihre Deskription kann und sollte, paradoxerweise, offenlassen, wie es sich mit der Normativität der Gründe, Bedingungen und Mittel en detail verhält, die zu einem positiven Urteil – oder in handlungstheoretischer Terminologie: zu einem wünschenswerten Handlungsverlauf – führen. Mit dieser prozessualen Bestimmung von Normativität rückt Parsons den Begriff des Normativen nah an den des Rationalen. Auch Rationalisierung hat, wird sie handlungstheoretisch formuliert, den Charakter der Prozesssteuerung: »Ein Handeln ist rational dann, wenn es in der Handlungssituation mögliche Ziele verfolgt mit Mitteln, die unter den dem Handelnden zu Verfügung stehenden ihrem Wesen nach am besten für die Erreichung der Ziele geeignet sind; diese Eignung bemißt sich danach, ob sie im Rahmen einer positiven empirischen Wissenschaft einsichtig und beweisbar sind.«33 Im Unterschied zum normativen Vorgang gilt dieser rationale Einsatz rationaler Mittel auf allen Handlungsebenen. Es gibt aber, ganz gemäß dem alltäglichen Sprachgebrauch, durchaus irrationales Handeln, das sich an Normen orientiert, die empirischwissenschaftlich approbierten Mitteln entgegenstehen. Das hindert aber nicht, den Vorgang der Auswahl der geeigneten Mittel als Rationalisierung aufzufassen. Denn insofern man den Umgang mit Normen als Kosten-NutzenRechnung betreibt, also wieder eine konkrete Handlungsbedingung generiert, die dann als gegeben einkalkuliert wird, kann der Vorgang als ganzer mit Recht als Rationalisierung aufgefasst werden: An den Bedingungen wird genau der Sachverhalt erfasst, der für die Handlungssituation relevant wird, und es werden daraus nach wissenschaftlichen Kriterien neue Sachverhalte ermittelt, die nicht mehr jene einzelnen Bedingungen per se sind, sondern die des Zusammentreffens der einzelnen Sachverhalte in einer bestimmten Handlungssituation. Man kann also auf zwei unterschiedlichen kategorialen Ebenen von Rationalität sprechen und sollte diese auch präzise auseinanderhalten: einmal auf der Ebene der Dinge selbst – dies wird in der Frühen Neuzeit üblicherweise ›Natur‹ genannt –, einmal auf der Handlungsebene. Für letztere haben das 16. und 17. Jahrhundert keinen Begriff. Aber die Ästhetik der Ära Mattheson und Heinichen wird einen kreieren: Natürlichkeit.34 Es wird sich im III. Teil dieser Studie zeigen, dass die Kritik Heinichens, Matthesons und einiger anderer an musikalischer Theorie, Mathematik, antiquierten Regeln und trockener __________ 33
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Parsons: The Structure of Social Action (Anm. 25), S. 58. Vgl. auch Parsons (Anm. 21), S. 116. Vgl. hingegen den wesentlich zu dinglichen, beinahe landschaftlichen Begriff von Natur bei Peter Schleuning: Die Sprache der Natur. Natur in der Musik des 18. Jahrhunderts. Stuttgart und Weimar 1998, besonders S. 69ff. Obwohl Schleuning alle relevanten Aussagen zu Natur, Natürlichkeit und Naturnachahmung bei Mattheson und Scheibe versammelt, bleiben alle hier entwickelten normativen Strukturen von Natur und Natürlichkeit im unklaren.
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Gelehrsamkeit35 genau diese kategoriale Unterscheidung zwischen Gegenstandswissen und Handlungswissen, zwischen Natur und Natürlichkeit markiert. Auch in der englischen Musiktheorie des frühen 18. Jahrhunderts ist es, wie sich nun zeigt36 und wie Mattheson, der Gesandte der englischen Krone, möglicherweise von dort übernimmt, die dezidierte Handlungsperspektive, aus der heraus die mathematische Musikauffassung überwunden wird. Die Kritik richtet sich gegen einen Begriff von Rationalität, der Ratio einseitig an den einzelnen Bedingungen feststellt und nicht am Vorgang des musikalischen Handelns. Sie richtet sich gegen das, was die moderne Wissenschaft als naturalistischen Fehlschluss bezeichnet: dass die ›Natur‹ einer einzelnen Bedingung dazu verpflichtet, dieser speziellen ›Natur‹ gemäß zu handeln. Dieses alte Ostendieren auf der Beschaffenheit der einzelnen Bedingungen, so werden Mattheson und Heinichen argumentieren, mag rational daherkommen, es führt aber im Ergebnis zu irrationalem Unsinn, weil es die prozessuale Eigenschaft von Rationalität unberücksichtigt lässt. Oder, wie Mattheson, Heinichen und insbesondere Scheibe sagen werden: Das musikalische Ergebnis ist unnatürlich. Rational, ergo natürlich wird es erst, wenn der Akteur sein musikalisches Handeln als solches rationalisiert, und das heißt handlungstheoretisch: wenn er den Einsatz der Mittel am Handlungszweck orientiert. (Solche Zwecke können z.B. sein: die Affekte bewegen; Gott loben; dem Publikum gefallen.) Unter bestimmten gesellschaftlichen Umständen kann sich an dieser Stelle eine Art Unschärferelation einstellen: Die Rationalisierung des Prozesses blendet aus, wie rational die Mittel für sich genommen sind. Aber das ist kein Grund, die Vernünftigkeit und wissenschaftliche Dignität solcher musikalischen Kategorien in Frage zu stellen. Im Gegenteil, gerade weil Handlungsrationalität herrscht, können Heinichen und Mattheson weiter von musikalischer »Wissenschaft« reden,37 nun aber einer, die dezidiert auf Handlungsrationalität umgestellt hat. Und sie können weiterhin den normativen Charakter musikalischer Verfahrensweisen postulieren, nun aber einen, der sehr präzise handlungstheoretisch ausgerichtet ist, bei dem es also Normen nur im Hinblick auf anvisierte Handlungsziele gibt, keine inhaltlich konkreten Normen per se.38 __________ 35 36 37
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Vgl. die Beiträge von Joachim Kremer und Michael Maul in diesem Band. Vgl. den Beitrag von Sebastian Klotz in diesem Band. Mattheson: Das Neu-Eröffnete Orchestre (Anm. 4), bereits im Titel »[...] von dieser vortrefflichen Wissenschafft rainsonniren«. In der Widmung stellt er der Musikwissenschaft ein provozierendes Adjektiv voran, das in nuce den Paradigmenwechsel der musikalischen Rationalität enthält: »galante Musicalische Wissenschafft« (Widmung Bl. )( 3r.). Heinichen: Der General-Bass in der Composition (Anm. 3), spricht unzählige Male von der »Musicalischen Wißenschafft« (S. 1; S. 2, S. 4 usw.). Dass Heinichens Generalbasslehren dezidiert handlungstheoretisch und pragmatistisch konzipiert sind, hat in einer bahnbrechenden und in seinen analytischen Befunden durchgehend triftigen Arbeit Wolfgang Horn erkannt: Generalbaßlehre als pragmatische Harmonielehre. Teil I: Bemerkungen zum harmonischen Denken Johann David Heinichens. In: Ständige Konferenz Mitteldeutsche Barockmusik. Jahrbuch 2001, Schneverdingen 2002, S. 9–40; Teil II: Heinichens harmonische Analyse von Cesarinis Cantata. In: Ebd., Jahrbuch 2002. Schneverdingen 2004, S. 12–53. So begreift Horn Heinichens Regeln des
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Der naturrechtliche Rahmen, in den Mattheson und Heinichen ihre musikalischen Explorationen explizit stellen, ist die normative Struktur des Galanten. Dieser Begriff, den Heinichen und Mattheson wie ein Etikett an ihre Musikauffassung heften,39 wurde von Christian Thomasius als Übersetzung einer naturrechtlichen Kategorie vorgeschlagen, die im folgenden skizziert und an der aufgezeigt werden soll, dass in ihr wesentliche Eigenschaften handlungstheoretischer Normativität gelten: das decorum.40 Die im III. Teil des Beitrags dargelegten Argumentationen Matthesons, Heinichens und Scheibes werden zeigen, dass diesen Autoren der rechtliche Kontext des Begriffs des Galanten in aller Klarheit vor Augen gestanden haben muss. Die Grundfrage, von der aus Thomasius das gesamte Rechtssystem entwickelt, lautet: Warum handelt ein Mensch nach Normen? Warum ist er bereit, bei der Planung und Durchführung von Handlungen Gründe zu akzeptieren, die von der primären Triebfeder des menschlichen Handelns, dem Willen,41 unabhängig sind und ihm gegebenenfalls sogar entgegenstehen? Thomasius’ Antwort ist eine klassisch naturrechtliche: Von der Befolgung der __________
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Generalbassspiels als ausformulierte »internalisierte Handlungsmaximen« (Teil I, S. 12). Was dies normativ um 1700 genau bedeutet, was also konkret zum Beispiel eine internalisierte von einer buchstäblich ausformulierten Regel normativ unterscheidet, bleibt bei Horn weitgehend offen (vgl. die knappen und das eigentliche ›galante‹ Zentrum unberücksichtigt lassenden Andeutungen in Teil I, S. 36ff.). Erstmals Johann David Heinichen: Neu erfundene und Gründliche Anweisung / Wie Ein Music-liebender auff gewisse vortheilhafftige Arth könne Zu vollkommener Erlernung des General-Basses, Entweder Durch eigenen Fleiß selbst gelangen / oder durch andere kurtz und glücklich dahin angeführet werden [...]. Hamburg 1711. Reprint hg. von Wolfgang Horn. Kassel u.a. 2000, Vorrede, S. 9 (»die galanten Compositores«). Für diese Inanspruchnahme des Galanteriebegriffs ist zu berücksichtigen, dass Heinichen die Vorrede wahrscheinlich schon einige Jahre vor dem Erscheinungsdatum 1711 konzipiert und verfasst hat; vgl. den Beitrag von Michael Maul im vorliegenden Band. Mattheson nimmt den Begriff dann in den Titel seiner zwei ersten Orchestre-Schriften auf (Anm. 13). Thomasius: Discours (Anm. 11, S. 257f.) konstatiert 1689 noch, dass sich keine eindeutigen Übersetzungen des Begriffs ›decorum‹ finden ließen. Er sei sich aber sicher, dass die praktische Philosophie das geschickte und kluge Handeln als eigenständige Kategorie behandeln müsse. Die Lateiner, so Thomasius, bezeichneten dieses Handeln als »decorum«, die Franzosen als »Galanterie«. Im Deutschen lasse sich kein adäquater Begriff finden. Thomasius schlägt den Begriff Wohlanständigkeit vor. Diesen Begriff behält er dann in den naturrechtlichen Abhandlungen bei. 1713 offeriert Thomasius einen ganzen Reigen von Übersetzungsvorschlägen für »decorum«, unter denen sich wiederum der Begriff des Galanten findet: »Dahin gehöret der Griechen ihr πρέπον. Im Teutschen die Wörter Erbarkeit / Höffligkeit / Zierligkeit. Im Frantzösischen mode, bienseance, honnete, galanterie.« (Höchstnöthige Cautelen Welche ein Studiosus Juris, Der sich zu Erlernung Der Rechtsgelahrheit [sic] Auff eine kluge und geschickte Weise vorbereiten will / zu beobachten hat [...]. Halle 1713, S. 368.) Neben dem Verstand (intellectum) ist der Wille (voluntas) bei Thomasius eine der beiden zentralen Vermögen der menschlichen Natur. Thomasius definiert ihn als »Begierde im Hertzen«. Christian Thomasius: Grund-Lehren des Natur- und Völcker-Rechts. Halle 1709 (Thomasius: Ausgewählte Werke. Hg. von Werner Schneiders. Hildesheim und New York 1993ff., Bd. 18), I 1, § 34. Wille ist der Oberbegriff für die drei Grundbegierden Wollust (voluptas), Geldgier (avaritia) und Ehrgeiz (ambitio): ebd., § 130.
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Norm erhofft sich der Mensch Vorteile (spes), bei Nichtbefolgung befürchtet er Nachteile (metus).42 Der Verstand übt eine Steuerungsfunktion aus, indem er die kurzfristigen Begierden des Willens nach dem Schema gut/schlecht beurteilt: Gut ist, was langfristig gut für den Menschen ist, schlecht ist, was langfristig schlecht für den Menschen ist. Das ist ein naturrechtliches Axiom. Analysiert man diese Konstruktion, dann werden prinzipielle Koinzidenzen mit der Handlungstheorie sichtbar. Zunächst wahrt die Konstruktion einen Begriff von Norm, dessen zentrales Merkmal die Unbedingtheit ist, der insbesondere unabhängig vom subjektiven Willen gilt. Allerdings wird diese unbedingte Geltung komplementiert durch einen subjektiven Nachvollzug der Geltung durch den Verstand. Der Verstand ist nämlich in der Lage, die Sanktionsbewehrtheit von Normen, die in der unabhängigen Geltung prinzipiell mitgesetzt ist, auf das eigene Wohlergehen zu beziehen. Der Verstand leistet damit, wozu der Wille nicht in der Lage ist, äußere Handlungsbedingungen auf genau dieselben Begierden Lust, Geldgier und Machtstreben zu beziehen, auf die der Wille abzielt. Die Ethik einer solchermaßen konzipierten Verstandestätigkeit bei Thomasius entspricht damit einem utilitaristischen Argument der Handlungstheorie: Der Verstand kann erstens zwischen zwei Klassen von Präferenzen, der individuellen der Begierden und der überindividuellen der Norm, unterscheiden. Zweitens beurteilt der thomasianische Verstand die Rückwirkung der Befolgung von Normen auf das Individuum utilitaristisch: Wenn das Individuum vom Wohlergehen des Kollektivs profitiert und zugleich das Wohlergehen des Kollektivs sich aus der Summe der Einzelnutzen ergibt, ist es entscheidungstheoretisch rational, nach dem maximalen individuellen Wohlergehen zu handeln, vorausgesetzt, es handelt sich um eine Art von Eigennutz, die zum Nutzen des Kollektivs auch tatsächlich beiträgt und ihm nicht direkten Schaden zufügt.43 Obwohl also der Verstand normativ tätig ist, indem er unabhängig vom kruden Eigennutz geltenden Normen zur Akzeptanz verhilft, lässt sich der Vorgang des Akzeptierens nicht anders als dadurch verstehen, dass er genau dieselbe Zielorientierung von Handeln vornimmt, die auch der Wille vollführt, nämlich das Handeln zu strukturieren im Hinblick auf ein Ergebnis, das die eigenen Begierden befriedigt. Sobald man den Verstand nicht als ein auf das reine Erkennen, sondern auf das Handeln abzielendes menschliches Vermögen auffasst, ist es unabdingbar, seine Tätigkeit von den Ergebnissen von Handlung her zu verstehen. Das Akzeptieren von Normen zeigt sich somit als »analytisch« (im Sinne Parsons’), und zwischen Norm und Handlungsziel besteht genau jenes paradoxale Verhältnis, das sich in utilitaristischen Handlungstheorien zeigte: Normen gelten unabhängig; zugleich lässt die normative Verstandestätigkeit die Geltung von Normen als eine Frage __________ 42
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Christian Thomasius: Fundamenta juris naturae et gentium ex sensu communi deducta [...]. Halle und Leipzig 41718, IV § 60. Vgl. ausführlich den Beitrag von Alexander Aichele in diesem Band. Zu Design und Problemstellungen utilitaristischer Theorien vgl. Julian Nida-Rümelin und Thomas Schmidt: Rationalität in der praktischen Theorie. Eine Einführung. Berlin 2000, S. 122–135.
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des eigenen Vorteils (gut) oder Nachteils (schlecht) erscheinen. Wenn der Verstand sein Geschäft der subjektiven Adaption von Normen durchgeführt hat, lässt sich zwischen Handlungsgründen, die vom Willen ausgingen, und solchen, die von der Norm herrühren, kaum mehr unterscheiden. Die Verstandestätigkeit verhindert einen blinden Durchmarsch des Willens, sie verhindert aber auch ein blindes Befolgen der Norm, indem sie die beiden Instanzen rekursiv aufeinander bezieht und eine rationalisierte Konstellation von Handlungsgründen aufstellt, deren Abarbeitung sowohl den Willen als auch die Norm befriedigt und die insofern selbst normativ ist. Letztlich fällt damit das Geltungsprinzip von Normen in die Autorität dessen, der sie gebraucht. Diese Charakteristika treten noch profilierter hervor, wenn man sie vor dem Hintergrund der drei Normenklassen des iustum, honestum und decorum betrachtet. Diese Klassen unterscheiden sich für Thomasius zum einen danach, auf welche Weise Normen jeweils gesetzt werden, zum anderen, an welche Zielgruppe sich die Normen richten.44 Die Klasse des iustum (Gerechten) umfasst die äußerlich gegebenen Normen, also das gesetzte positive Recht, und verpflichtet einen Menschen gegenüber anderen Menschen. Sie sind bewehrt mit Strafen, die ebenso gesetzt und positiv sind. Die Klasse des honestum (Ehrlichen) beinhaltet Normen, die ein Mensch selbst setzt und die sich nur auf ihn selbst beziehen (Einstellungen, Selbstverpflichtungen usw.). Ob und wie sie sanktionsbewehrt sind, hängt ausschließlich von demjenigen ab, der sie für sich definiert. Es ist evident, dass solche Normen nicht Bestandteil der positiven Gesetzgebung sein können. Eine Art Schnittmenge aus beiden Klassen bildet die für das Thema dieser Untersuchung entscheidende Klasse des decorum (Wohlanständigen oder Galanten). Wie das honestum kann es nur Normen beinhalten, die ein Mensch sich selbst gibt. Aber die Normen richten sich nicht auf ihn selbst, sondern gelten wie die des iustum bezüglich anderer Menschen. Wie das iustum hat ihre Nichtbefolgung von außen kommende, d.h. nicht durch den Menschen sich selbst verordnete Sanktionen. Diese können aber nicht positiv gesetzt sein. Sie können nicht die Form einer gesetzlich verhängten Strafe haben, sondern treten als gesellschaftliche Missachtung, als schlechter Ruf, als ökonomischer und sozialer Misserfolg usw. auf. Die Sanktionen des decorum können also empfindliche Wirkung haben, die, wie gleich zu sehen ist, in der Empfindung des Bestraften mehr oder weniger identisch wird mit den Strafen des iustum. Dass die Normen des decorum inhaltlich vom Handelnden selber definiert werden, ist eine bloß formale Bestimmung. In der gesellschaftlichen Realität wird, da sich die Normausübung an die Gesellschaft wendet, eben diese Gesellschaft ein immenses Mitspracherecht ausüben. Darin besteht das Dilemma des gesellschaftlichen – also des ökonomischen, politischen und, dies ist neu ab 1700, ästhetischen – Agierens: Die decoralen Norminhalte werden durch gesellschaftlichen Druck oktroyiert, verantworten aber muss man sie selber. __________ 44
Thomasius: Grund-Lehren (Anm. 41), I 6, §§ 40–42. Vgl. auch den Beitrag von Alexander Aichele in diesem Band.
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Durch die konstitutive Verschränkung von Eigen- und Fremdinteressen lässt sich meistens nicht genau bestimmen, in welche einzelnen Handlungen eine decorale Norm umzusetzen sein soll. Wir werden sehen, dass die politische und ästhetische Auslegung dieser decoralen Normstruktur sogar lautet: Die einzelnen Handlungen können und sollen auch gar nicht genau aus der Norm deduziert werden. Der decorale Akteur ist nolens volens dazu verdammt, jeden Einzelfall und jeden einzelnen Menschen für sich zu bewerten und in immer neuen Handlungssequenzen eine Balance zwischen eigenen und fremden Ansprüchen an Inhalt und Verpflichtung decoraler Normen auszutarieren. Oder, wie Thomasius utilitaristisch formuliert, es müssen »Eigenliebe und Freundschaft nicht [...] unter oder gegeneinander / sondern zusammen gesetzet werden. Alle bestehen aus eintzeln Personen. Diesemnach wenn es um einzelne Personen nicht wohl stehet / wie kan das gantze Corpus glückselig seyn.«45 Eben dies wird auch das Los des galanten Komponisten und Musikhörers sein. Jeder schematischen Normativität wird er entsagen und für jeden Einzelfall aufs neue ein Gerüst von ästhetischen Verpflichtungen errichten müssen. Um den Charakter der Außenbeziehung, der für das iustum und decorum gemeinsam gilt, und zugleich seine je unterschiedliche Struktur der Obligation deutlich zu machen, bringt Thomasius die von außen, von der Gesellschaft kommenden Ansprüche und Norminhalte auf einen prägnanten begrifflichen Gegensatz.46 Dieser Anspruch erfolgt im iustum als Befehl (imperium), im decorum als Ratschlag (consilium).47 Während beim Befehl keine Wahl bleibt, kann man einen Rat annehmen oder auch nicht. Formal verpflichtet ist man nur sich selbst;48 daher kann man alle Folgen, die sich aus der Annahme oder Ablehnung eines Rats ergeben, niemand anderem zuschreiben als sich selbst, obwohl man diese Folgen nur schwer vorhersehen kann, da sich viele Handlungsbedingungen nicht exakt kontrollieren lassen. Die Folgen einer Übertretung von Normen des iustum, sofern ihre Befolgung contre cœur und contra rationem gegangen wäre, lassen sich dagegen gut externalisieren. Wie die Norm selber ist auch die Strafe äußerlich, und man kann sich vor seelischem Schaden schützen. Für das Wohlergehen des Handelnden, das Thomasius handlungstheoretisch als eigentliche Triebfeder von Normativität bestimmt hatte, ergeben sich komplexe Auswirkungen, komplexere, als man zunächst vermuten könnte. Das äußere Übel einer Strafe aufgrund Gesetzesbruchs wird unter Umständen als vergleichsweise klein empfunden, zumal es durch das Gut ausgeglichen wird, das die Realisierung eines vernunftgeläuterten Willensentscheids verschafft. Das psychische Übel einer gesellschaftlichen Sanktion hingegen, das eine unkluge Wahl oder Umsetzung decoraler Normen nach sich zieht, kann __________ 45 46
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Thomasius: Grund-Lehren (Anm. 41), I 6 §§ 25f. Vgl. die ausführliche Analyse der thomasianischen Textstellen zu diesem Problem bei Frank Grunert: Normbegründung und politische Legitimität. Tübingen 2000 (Frühe Neuzeit 57), bes. S. 204–230. Thomasius: Grund-Lehren (Anm. 41), I 4, §§ 50ff. Thomasius: Fundamenta (Anm. 42), IV § 62; Grund-Lehren (Anm. 41), I 4, § 64.
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fürchterlich sein. Hier wird deutlich, dass ein Befehl keineswegs normativ immer schwerer wiegt als ein Ratschlag. Einen Befehl zu missachten (aus guten Gründen, selbstverständlich, die man zu haben glaubt) zieht eine nur äußere Sanktion nach sich. Bekommt man hingegen einen Rat und die Sache geht schlecht aus, ist das seelische Übel groß, und zwar unabhängig davon, ob man den Rat befolgt hat oder nicht, denn verantwortlich in beiden Fällen ist man selbst. Aus diesem Grund ist die Verpflichtung eines Ratschlags, den man als bedenkenswert akzeptiert und mit dem man eine bestimmte Handlungssequenz begründet, im Hinblick auf das Ergebnis der Handlung noch stärker als beim Befehl. Man ist dann nämlich außer sich selber auch noch dem Ratschlagenden verpflichtet. Dieser letztere Fall ist für Thomasius sogar der Normalfall, denn Ratschläge ergehen üblicherweise von einem Weisen an einen verständigen Törichten.49 Diese beiden Personentypen befinden sich standesmäßig auf Augenhöhe, aber der Weise hat einen Wissens- und Erfahrungsvorsprung. Von vornherein hat also der weise Rat normatives Gewicht – normativ nämlich im Hinblick auf den Handlungszweck, insofern es wahrscheinlich ist, dass der Lauf der Dinge so sein wird, wie ihn der Weise sieht –, formal aber überhaupt keines, denn das liegt beim Handelnden selbst. In dieser Paradoxie des consilium ist die ganze gewaltige Problematik der Nachahmungsästhetik im frühen 18. Jahrhundert beschlossen. Juridisch reformuliert ist Nachahmung in den Künsten ab 1700 das Befolgen eines weisen Ratschlags, alle Chancen und Risiken dieser Form der Verpflichtung inklusive. Befolgt ein Künstler das Nachahmungsgebot, kann er allenfalls darauf hoffen, dass der nachgeahmte Gegenstand (dessen zentrale Eigenschaft, wie zu sehen sein wird, Natürlichkeit ist) mehr Realitätsgehalt oder eine präzisere psychologische Struktur hat, als der Künstler ex nihilo kreieren könnte. Aber sicher sein, dass dies – wie noch im 17. Jahrhundert – mit naturwissenschaftlicher Gewissheit so ist, kann er sich nicht. Der nachzuahmende Gegenstand qua Ratschlag sagt nicht einmal mehr, was genau künstlerisch zu tun ist. Ein Ratschlag muss kognitiv anverwandelt, er muss mit den von einem selbst kommenden Begierden in Kongruenz gebracht werden. Im Ergebnis ist dann schwierig zu sagen, wie genau der Ratschlag umgesetzt wurde oder ob es nicht eher die eigenen Begierden waren, denen man folgte. Die Nachahmungsästhetik nach 1700 steht vor dem Paradox, dass einem ästhetischen Artefakt nicht mehr anzusehen ist und niemand, auch der Künstler selbst nicht, zu sagen vermag, ob der Künstler sich nachahmend an bestimmten gesellschaftlichen Bedingungen orientierte, unter denen seine ästhetische Absicht realisiert werden muss, oder an seinen eigenen mentalen Zuständen. Unter dem Vorzeichen einer strikt handlungstheoretisch ausformulierten Normativität – kurz: des decorum oder Galanten – besteht eine fundamentale Unsicherheit darüber, warum kompositionstechnische und ästhetische Regeln überhaupt gelten, welchen Effekt ihre Befolgung oder Nichtbefolgung hat und was eine Regel genau beinhalten soll. Im decorum ist alles erlaubt, was die Normen des iustum erlauben, aber es gefällt nicht alles. Werden innerhalb __________ 49
Thomasius: Fundamenta (Anm. 42), I 7, § 2.
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dieses prinzipiellen Anything goes wiederum Regeln eingezogen, erlangen diese nie mehr den Status unbedingter Normgeltung. Wenn die rechtssetzende Instanz im decorum mit der Person zusammenfällt, die die Normen zu befolgen hat, mit dieser Kurzschlüssigkeit aber keineswegs ein Ertrag normgemäßen Verhaltens sichergestellt ist, dieser vielmehr von kaum kalkulierbaren gesellschaftlichen Konstellationen abhängt, dann werden decorale Normen schwerlich entgegen anhaltendem Misserfolg in Geltung bleiben. Sie werden revidiert, und das heißt, auf dieser Ebene konkreter Handlungsbedingungen erlischt Normativität überhaupt. Normiert wird dann im decorum eine allgemeine Ebene der Rationalisierung von Handeln, nämlich Strategien, die unter der spezifischen Bedingung gesellschaftlicher, unkalkulierbarer und im ständigen Fluss befindlicher Variablen erfolgversprechend sind: Erfahrung, Geschmack, Manieren, Mode usw. – Typen von Regeln, die um 1700 auf den Begriff der Galanterie gebracht werden. Rechtstheoretisch sind diese Verhaltensweisen in genau dem Sinn normativ, in dem handlungstheoretisch Normen gebildet werden. Wie sie sich musikalisch ausprägen und welche spezifische Form von Verbindlichkeit sie haben, soll im folgenden III. Teil entfaltet werden.
III. Zur Struktur von Normen musikalischen Handelns um 1700 1. Je ne sais quoi Die thomasianische Behauptung, mit der Unsagbarkeitsformel ›Je ne sais quoi‹ sei das Galante auf den Punkt gebracht,50 zielt bei aller literarischen, die Gefühle in Liebesangelegenheiten betreffenden, das Staunen des erkenntnisschwachen Geschlechts über den Lauf der Dinge und der frommen Männer über unfromme Epiphanien artikulierenden Situierung aufs Normative. Im Auge hat Thomasius französische Briefliteratur, französische Politik und französische Politesse, französische Lebensart, die das vivre beherrscht und über das savoir nichts zu sagen weiß als eben Je ne sais quoi. Die Formel hat ihren Ursprung in den Unsagbarkeitstopoi der mittelalterlichen Mystik. Unsagbar, ineffabile, war das Geschehen der unio mystica der Seele-Braut mit dem Bräutigam Christus. Ihre säkularisierten Pendants begegnen in der französischen Minnelyrik des Spätmittelalters und der Dichtung der Pléjade. Die Formel findet etwa dort Anwendung, wo man nicht sagen kann, worin die Schönheit der geliebten Frau besteht.51 Die Barriere der Unsagbarkeit lässt sich nur durch den gnädigen göttlichen Funken überwinden, __________ 50 51
Thomasius: Discours (Anm. 11), S. 15. Antoine Héroet: La parfaicte amye (1542), V. 1399. Die Formel begegnet auch bei Pierre de Ronsart: Les Amours (1552). Diese und weitere Nachweise bei Erich Köhler: ›Je ne sais quoi‹. Ein Kapitel aus der Begriffsgeschichte des Unbegreiflichen. In: Romanistisches Jahrbuch 6 (1953/54), S. 21–59. Neu ediert in: Ders.: Esprit und arkadische Freiheit. Aufsätze aus der Welt der Romania. München 1984, S. 230–286, hier: S. 232 und S. 236.
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der den Dichter in den furor poeticus geleitet und ihm Sage für das Unsagbare schenkt. Das Je ne sais quoi indiziert also zunächst ein Ausdrucksproblem. Ein emotionaler Zustand, wird er auch noch so intensiv gefühlt, lässt sich nicht adäquat kommunizieren, weder mit Worten noch mit anderen Ausdrucksmedien. Das Problem besteht in der nicht schwer durchschaubaren normativen Konstellation, dass alle Maßstäbe für die Plausibilität von Ausdrücken intimer Zustände einzig bei dem liegen können, der sie erlebt hat, jene Plausibilität aber trotzdem daran gemessen wird, ob andere den Ausdruck plausibel finden. Andere bestimmen die Normen in einem Feld, in dem eigentlich nur man selbst befähigt und berechtigt ist, Normen zu setzen. Diese einfache decorale Konstellation sorgt dafür, dass sich alle Künstler dieser Welt von der ästhetischen Einsetzung des Je ne sais quoi im 17. Jahrhundert bis Beuys und Stockhausen notorisch missverstanden fühlen. Im 17. Jahrhundert tritt zum Ausdrucksproblem des Je ne sais quoi ein weiteres hinzu, das Erklärungsproblem. So unwahrscheinlich der adäquate Ausdruck außerordentlicher innerer Zustände einerseits sein mag, er findet doch andererseits ständig und erfolgreich statt. Er ereignet sich, wie man in Frankreich um die Mitte des Jahrhunderts erstaunt registriert, gerade nicht dort, wo ein vom göttlichen Funken erleuchteter Autor auf allerhöchster Stilhöhe und mit feierlichem Pathos zum Ausdruck durchbricht. Wie beiläufig tritt er ein, wo locker und nebenher, eben galant, gesprochen wird. Das fordert dazu heraus, nach Gründen für den Erfolg solcher Galanterie zu fahnden in einer Weise, dass mit den Gründen zugleich die Nichtbegründbarkeit des Galanten aufscheint. Man kann dann einmal den einen, einmal den anderen Aspekt akzentuieren, ohne dass sich große theoretische Differenzen ergeben. Mlle de Scudéry will das geheimnisvolle Unsagbare im gesamten Vorgang sehen, der als »ce je ne sçay quoy galant« bezeichnet wird.52 Vaugelas hingegen zählt lieber die(selben) Merkmale galanten Verhaltens auf und reiht das Je ne sais quoi unter diese Merkmale ein.53 Es sind genau diese beiden zitierten Passagen, die Thomasius __________ 52
53
»Cependant c’est un malheur de ne l’avoir pas, car il est vray qu’il n’y a point d’agrément plus grand dans l’esprit que ce tour galant et naturel, qui sçait mettre je ne sçay quoy qui plaît aux choses le moins capables de plaire, et qui mesle dans les entretiens le plus communs un charme secret qui satisfait et qui divertit; Enfin ce je ne sçay quoy galant qui est repandu en toute la personne qui le possede, soit en son esprit, en ses paroles, en ses actions, ou mesme en ses habillemens [...]. Mais selon moy l’air galant de la conversation consiste principalement à penser les choses d’une maniere delicate, aisée et naturelle; à pencher plutost vers la douceur et vers‚ enjoument, que vers le serieux et le brusque, et à parler facilement, et en termes propres de toutes choses sans affectation.« (Madeleine de Scudéry: Conversations nouvelles sur divers sujets. Haag 1685. Hier: VII: De l’air galant, S. 180f.) »[...] ce mot de galant auoit bien vne plus grande estenduë, dans laquelle il embrassoit plusieurs qualitez ensemble, qu’en vn mot, c’estoit vn composé où il entroit du je ne sçay quoy, ou de la bonne grace, de l’air de la Cour, de l’esprit, du judgement, de la civilité, de la courtoise et de la gayeté, de tout sans contrainte, sans affectation, et sans vice.« (Claude Favre de Vaugelas: Remarques sur la langue française. Hg. von Marie Antoine Alexis Chassang. Versailles-Paris 1880, II, S. 209, zitiert nach Köhler, Anm. 51, S. 243.)
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vor Augen hat, als er im Discours die Positionen übersetzt, abwägt und die erste Skizzierung einer Normstruktur des Galanten verfasst.54 Thomasius neigt Vaugelas zu, aber die Unterschiede sind unerheblich, denn bei Mlle de Scudéry wie Vaugelas lautet der Befund, dass es nicht möglich ist, galantes Reden oder Verhalten normativ genau zu bestimmen. Beide weichen daher auf das Aufzählen von Nebenbedingungen wie Habitus, soziale Herkunft und andere an der emotionalen Oberfläche liegende Eigenschaften des Ausdrucks (grace, courtoise, esprit, civilité usw.) und das Benennen ungünstiger Eigenschaften (affectation, vice, Plumpheit) aus. Vaugelas und Mlle de Scudéry sind sich im klaren, dass solche Listen von Habitus und Sekundärtugenden um den heißen Kern nur kreisen und es nicht möglich ist, eine wirklich triftige und vollständige Liste aufzustellen oder präzise zu sagen, wie diese Tugenden ineinandergreifen. Ob man daher eine Unbekannte bei den Tugenden selbst mit dem Namen Je ne sais quoi postuliert oder, wie Mlle de Scudéry, die Art und Weise des Ineinandergreifens offen lässt, ist theoretisch unerheblich. Von kaum zu überschätzender Relevanz und direkt zur galanten Musikauffassung Heinichens und Matthesons hinführend ist, wie hier das Problem des verständlichen Ausdrucks von prinzipiell unausdrücklichen mentalen Zuständen angegangen wird. Es wird nach Handlungsbedingungen gesucht, um Handlungsziele zu erreichen, die aufgrund des ineffabile-Problems unerreichbar scheinen, wie zum Beispiel, einer Frau seine Liebe so auszudrücken, dass in der Frau genau der Eindruck evoziert wird, den der Liebhaber von ihr hat. Eine solche Handlung lässt sich nicht über einen Normenkatalog bestimmen, allenfalls ihre Strategien, d.h. das Arrangieren der Bedingungen. Weil die Welt komplex und kontingent ist, ist es schwierig, die Bedingungen genau zu kalkulieren. Sie sind, wie Vaugelas sagt, ein »plusieurs qualitez ensemble«, das »composé« ist und in jedem Einzelfall neu zusammengesucht und -gesetzt werden muss. Für den Vorgang der Normsetzung galanten Handelns auf Bedingungsebene heißt das: er ist eklektisch.55 Die Auflösung des Je ne sais quoi eines Ausdrucksproblems in eine reale Handlungssequenz führt zu einer eklektischen Vorgehensweise. Eklektik um 1700 ist die legitime Konsequenz __________ 54
55
»So scheinet auch / als wenn die Frantzosen selbst nicht einig wären / worinnen eigentlich die wahrhafftige galanterie bestehe. Mademoiselle Scudery beschreibet dieselbige in einer absonderlichen conversation de l’Air galant, als wenn es eine verborgne natürliche Eigenschafft wäre / durch welche man gleichsam wider Willen gezwungen würde einem Menschen günstig und gewogen zu seyn / bey welcher Beschaffenheit dann die Galanterie, und das je ne scay qvoy, wo von obgemeldter Pere Bouhours ein gantzes Gespräch verfertiget / einerley wären. Ich aber halte meines Bedünckens davor / daß Mons. Vaugelas und Mons. Costar die Eigenschafft der Galanterie ein wenig genauer und deutlicher beschrieben haben / daß es etwas gemischtes sey / so aus dem je ne scay qvoy, aus der guten Art etwas zu thun / aus der manier zu leben / so am Hofe gebräuchlich ist / aus Verstand / Gelehrsamkeit / einen guten judicio, Höfflichkeit / und Freudigkeit zusammen gesetzet werde / und deme aller Zwang / affectation, und unanständige Plumpheit zu wider sey.« Thomasius: Discours (Anm. 11) S. 14f. Zur musikalischen Eklektik um 1700 vgl. den Beitrag von Wolfgang Hirschmann, zur literarischen Eklektik den von Friedrich Vollhardt in diesem Band.
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aus dem konstitutiven Notstand der Erklärung erfolgreicher Ausdrücke von mentalen Zuständen und repräsentiert die Struktur decoraler Normsetzung, nicht Handlungen zu normieren, sondern Strategien des Arrangierens von Nebenbedingungen. Was der eklektische Philosoph, Komponist, Schriftsteller zusammenträgt, sind Nebenbedingungen in genau diesem Sinn.56 Damit ist die normative Struktur hinreichend bestimmt, um zu verstehen, inwiefern Mattheson das Je ne sais quoi von inhaltlich bestimmten musikalischen Verfahren, eklektisches Vorgehen und Galanterie zu einer Argumentation verschmelzen kann. In der Oper, jener eminent »galanten Sache / als die Opern nunmehr sind / oder seyn solten«, sei es unmöglich, abstrakte Regeln aufzustellen: »Halte demnach meines theils nicht davor, daß einer in dieser Affaire (ich meine so wol in Opern machen als Reguln davon zu geben) etwas rechtes zu praestiren vermöge / der nicht entweder ein sonderliches Donum Theatrale vor allen andern bekommen / oder nicht eine geraume Zeit selbst mit Hand angeleget und würcklich agiret hat / folglich aus der Erfahrung klug worden ist.«57 Der Grund der Regelproblematik besteht darin, dass die Oper ein »Confluxum aller Musicalischen Schönheiten«58 ist. Mit anderen Worten: Die Oper ist die eklektische Gattung par excellence, insofern in ihr diverse musikalische Verfahrensweisen zusammenfließen und insofern dann eine normative Beschreibung des Opernkomponierens nicht die Verfahren als solche intendieren kann, sondern die Art ihres Zusammenwirkens. Bekannt wurde die eine Äußerung, mit der sich Mattheson zum Eklektizismus bekennt: »Ich bin ein Musicus ecclecticus, und kehre mich an keine autorité, an kein αυζος εφα, wenns wieder Sinnen und Vernunfft streitet.«59 Mit den Kriterien des sinnlichen Wohlgefallens und einer Vernunft, die kaum konkrete Norminhalte einbringen wird, vielmehr eine Kontrollinstanz des Sinnenprinzips darstellt, insofern sie nämlich der einzigen Autorität untersteht, die überhaupt im Spiel ist, dem Handelnden selbst, ruft Mattheson aufs genaueste die Normstruktur des thomasianischen decorum auf. Diese Eklektik meint präzise, dass auf der unteren Ebene der konkreten musikalischen Vorgehensweise das Je ne sais quoi regiert, von dem nichts weiter ausgesagt werden kann als sinnliche Evidenz, und dass die Vernunft normativ nur tätig ist, indem sie eine ergebnisorientierte Strategie des Umgangs mit den musikalischen Nebenbedingungen entwirft (und __________ 56
57 58 59
Vgl. Christian Thomasius: Einleitung zur Hoff-Philosophie [...]. Leipzig 1712 (Christian Thomasius: Ausgewählte Werke. Hg. von Werner Schneiders. Hildesheim und New York 1993ff., Bd. 2), I § 90. Vgl. die Interpretation von Thomasius als eklektischem Philosoph bei Wilhelm Schmidt-Biggemann: Topica universalis. Eine Modellgeschichte humanistischer und barocker Wissenschaft. Hamburg 1983, S. 272ff. Philosophieren steht hier unter dem Primat der Praxisorientierung, der Sinnlosigkeit von Systemzwang bzw. Selbstlegitimation und einer Tendenz zur Hermeneutik. Derlei Merkmale lassen sich handlungstheoretisch als Normierungen von Nebenbedingungen des Handelns verstehen. Mattheson: Das Neu-eröffnete Orchestre (Anm. 4), S. 161f. Ebd., S. 160. Johann Mattheson: Critica Musica I. Hamburg 1722. Reprint Amsterdam 1964, S. 48 (Juni 1722).
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keineswegs, wie man leicht missverstehen kann, eine Vernunftgemäßheit der musikalischen Verfahrensweisen selbst). Weder Heinichen noch Mattheson verwenden, so weit zu sehen ist, explizit die Formel Je ne sais quoi. Aber sie postulieren, wie die Denkfigur des Musicus ecclecticus belegt, musikalische Normstrukturen, als wären diese unmittelbar aus dem Je ne sais quoi entwickelt. Wie klar auch ohne explizite Nennung den beiden Autoren dieser Aspekt des thomasianischen decorum und seine französische Tradition vor Augen steht,60 zeigt am deutlichsten die Affektenlehre. Die musikalische Affektenlehre nach 1700 ist nicht nur heute »eine[s] der schwierigsten Probleme der neueren Musikgeschichtsforschung«,61 sie war schon für Mattheson und Heinichen schwierig, und zwar aus in der Sache selbst liegenden Gründen. Beide schreiben, der eine wahrscheinlich den anderen ohne Referenz zitierend, die Affekte seien ein »unergründliches Meer«. Heinichen: »Was haben wir nicht vor ein zur Zeit unergründliches Meer vor uns / an der eintzigen Expression der Worte und Affecten in der Music«.62 Mattheson wiederholt: Die Affekte seien ein »unergründliche[s] Meer«.63 Die Unergründlichkeit bezieht sich auf mindestens dreierlei: 1. Bandbreite und Graduierung der emotionalen Zustände des Menschen sind unabsehbar. 2. Die Wirkung von Musik auf den menschlichen Affekthaushalt ist unabsehbar. 3. Die regelhafte Durchdringung musikalischer Affektwirkung steht erst am Anfang. Nur ihrer kruden Faktizität nach steht die affektive Wirksamkeit der Musik außer Zweifel. Ihrer Gesetzmäßigkeit nach aber stellt sie sich als ein Je ne sais quoi dar. Allerdings, so scheint Heinichen zu insinuieren, besteht keine prinzipielle Unsagbarkeit ihrer Regelstruktur, es besteht nur ein Forschungsdefizit. Entscheidend für das Verständnis des Problems ist nun, welche Art von Regeln Heinichen hier überhaupt für möglich hält. Die Ausgangslage des Komponisten ist ernüchternd: Die Texte von Opernarien, die Heinichen exemplarisch diskutiert, zeigen, dass nicht einmal die __________ 60
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Heinichen erwähnt 1711 namentlich nur Johann Adam Scherzer (1628–1683) und Daniel Georg Morhof (1639–1691), spricht aber auch von »andern braven Autoribus« (Anm. 39, S. 2). Vgl. Horns Anmerkungen zum intellektuellen Kontext dieser Namen (Anm. 38, Teil I, S. 36ff.). Heinichens Formulierung von der »studirenden Jugend« (ebd.), der diese Autoren in ihren Unterweisungen den scholastischen Ballast ersparten, alludiert aber klar auf: Christian Thomas eröffnet Der Studirenden Jugend zu Leipzig in einem Discours, Welcher Gestalt man denen Frantzosen in gemeinem Leben und Wandel nachahmen solle? (Anm. 11). Dass Heinichen, der ab 1702 in Leipzig das vormals just von Thomasius vertretene Fach Jura studierte, Thomasius nicht namentlich nennt, ist vielleicht eine Vorsichtsmaßnahme: Seit der Vertreibung vom Lehrstuhl 1690 war der Name brisant. So Werner Braun: Johann Mattheson und die Aufklärung. Diss. Universität Halle/Saale 1951 (masch.), S. 75. Die Feststellung ist noch heute aktuell, weil der von Braun aufgezeigte Weg, die Affektenlehre der Mattheson-Zeit in der Frühaufklärung zu verorten (und nicht in der Affektenlehre des 17. Jahrhunderts), bisher nicht gegangen wurde. Heinichen: Der General-Bass in der Composition (Anm. 5), S. 23f. Johann Mattheson: Der Vollkommene Capellmeister, Das ist Gründliche Anzeige aller derjenigen Sachen, die einer wissen, können, und vollkommen inne haben muß, der einer Capelle mit Ehren und Nutzen vorstehen will. Hamburg 1739. Reprint hg. von Margarete Reimann. Kassel 61995, S. 19.
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singende Person in der Lage ist, verbal ihre Affekte auszudrücken. Wie soll es dann der Komponist sein?64 Weder die Alltags- noch die poetische Sprache stellen explizite Verbalisierungen emotionaler Zustände bereit. Der Mangel verlängert sich in die musikalische Theoriebildung, die gar nicht in der Lage sein kann, unklaren emotionalen Zuständen eindeutige musikalische Mittel als deren adäquaten Ausdruck zuzuordnen. Um hier dennoch einen Schritt weiterzukommen, schlägt Heinichen dem Komponisten vor, nach der rhetorischen Methode vorzugehen, die »locos topicos« des Texts aufzuspüren und den dramatischen Kontext der Arie zu berücksichtigen. Das ist keineswegs eine direkte, inhaltlich konkrete Handlungsanweisung. Sie ist vielmehr eine Anleitung, zwischen den Zeilen zu lesen und aus für sich genommen uneindeutigen Indizien eine affektive Konstellation zu ermitteln. Ob dies gelingt, hängt nicht davon ab, dass eine Agenda von Regeln abgearbeitet wird, sie hängt ab von der »angebohrnen guten natürlichen Fantasie« des Komponisten.65 Seine und nur seine »Invention, Gout und brillant« sind gefragt.66 Aus dem Je ne sais quoi der konkreten Affekte zieht Heinichen also die Konsequenz, die normsetzende Autorität ganz in die Person des handelnden Komponisten zu verlegen und ausschließlich Strategien der Berücksichtigung von Nebenbedingungen (dramatischer Kontext, semantische Indizien usw.) zu normieren. Die schlussendliche kompositorische Handlung ist dann eine Möglichkeit unter »10. andere[n] Inventiones von dieser Arth«.67 Ob es diejenige war, die beim Publikum auch tatsächlich den intendierten Effekt hat, kann auch die vernünftigste strategische Normierung nicht garantieren. Mit dem Außenbezug der decoralen Handlung wird aber präzisiert, auf welche Art die handlungsorientierende Vernunft in diesem Fall arbeiten muss. Sie hat die Außenbeziehung in der Koordinierung von Handlungsbedingungen und Willensansprüchen herzustellen. Die thomasianische Vernunft entspricht dem Vermögen, das Heinichen mit »Raison« bezeichnet68 und das die »Theoretischen Regeln« samt allen anderen Handlungsgründen auf ein adressatenbezogenes Handlungsergebnis hin ausrichtet. Insofern also die strategische Normierung vernünftig geschieht, bezieht sie langfristig die Erfolgsrate ähnlicher Handlungen in die selbstverantwortete Normsetzung ein. Eine Eigenschaft der solchermaßen verstandenen Vernunft oder »Raison« ist Erfahrung. Erfahrung ist eine der Möglichkeiten, dem unentrinnbaren Je ne sais quoi auf der Ebene konkreter Handlungsinhalte wenigstens auf der allgemeineren Ebene der Haltungen und Strategien Normen zu geben. Aus diesem Grund wird die Kategorie der Erfahrung in der Musiktheorie um 1700 zu einer zentralen normsetzenden (und das wird sich hinsichtlich der Erfahrung erweisen als: regelinterpretierenden) Instanz. Deren __________ 64 65 66 67 68
Heinichen: Der General-Bass in der Composition (Anm. 5), S. 31ff. Ebd., S. 30. Ebd., S. 28. Ebd., S. 32. Anm. 5.
Perspektiven des Normbegriffs für die Erforschung der Musik um 1700
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Normen können nicht mehr als »Grund-Reguln«69 oder »Erfahrungs-Regeln«70 sein: Nur ein »exercirter Meister«71 wird dem normativen Anspruch der auf sich selbst zurückgeworfenen Autorität gerecht.
2. Esprit und goût Um die unwiss- und unsagbare Mitte des Je ne sais quoi wenn nicht aufzufüllen, so doch zu umrahmen, benötigt, wie zu sehen war, die Vernunft im decorum Eigenschaften, die sowohl selbst- als auch außenbezüglich sein müssen: selbstbezüglich gegenüber den Begierden des Willens, außenbezüglich gegenüber den Beteiligten der Handlung. In der Honnête- und Galant-homme-Literatur – bei den Franzosen, bei Thomasius und dann auch bei Mattheson und Heinichen – werden diese Eigenschaften als ›esprit‹ und ›goût‹ bezeichnet, zunächst nebeneinander, ab 1700 zunehmend ›goût‹ die erstere und einige verwandten Kategorien ablösend,72 schließlich in der kantischen Kritik der Urteilskraft als das ästhetische Vermögen schlechthin übrigbleibend. Welche Bedeutung die Kategorie des goût oder Geschmacks im musikalischen Denken ab der Jahrhundertmitte erlangt, wird im Zug der Erforschung der deutschen Batteux-Rezeption in der Musik und den anderen Künsten allmählich erkennbar.73 Wie zentral die Kategorie schon im frühen 18. Jahrhundert ist, und zwar auch vor und unabhängig von Königs in Deutschland richtungweisender Studie zum Geschmack,74 __________ 69
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Thomasius: Discours (Anm. 11), Titel. Dass Mattheson: Das Neu-Eröffnete Orchestre (Anm. 4), S. 102 und S. 105, fast gleichlautend von den »General-Reguln« für den galanthomme spricht, belegt die direkte Abhängigkeit von Thomasius. Heinichen: Der General-Bass in der Composition (Anm. 5), S. 23. Ebd., S. 88. Ähnliche, allmählich von ›goût‹ assimilierte Eigenschaften sind z.B. ›fin & delicate‹ oder ›négligence‹ (Nachweise bei Fritz Nies: Gattungspoetik und Publikumsstruktur. Zur Geschichte der Sevignébriefe. München 1972, S. 41ff.). Mattheson scheint letzteres zu kennen, wenn er dem französischen Air eine »etwas negligente Galanterie« attestiert (Das Neu-Eröffnete Orchestre, Anm. 4, S. 229). Vgl. etwa Wilhelm Seidel: Die Nachahmung der Natur und die Freiheit der Kunst. Zur Kritik deutscher Musiker an der Ästhetik von Charles Batteux. In: FS Martin Just. Hg. von Frank Heidlberger, Wolfgang Osthoff und Reinhard Wiesend. Kassel u.a. 1991, S. 257– 266; Friedrich Vollhardt: Die Grundregel des Geschmacks. Zur Theorie der Naturnachahmung bei Charles Batteux und Georg Friedrich Meier. In: Dichtungstheorien der deutschen Frühaufklärung. Kongressbericht Halle/S. 28.–30.10.1993. Hg. von Theodor Verweyen. Tübingen 1995, S. 26–36. Johann Ulrich König: Untersuchung von dem guten Geschmack in der Dicht- und RedeKunst. In: Ders. (Hg.): Des Freiherrn von Canitz Gedichte, mehrentheils aus seinen eigenhändigen Schrifften verbessert und vermehret. Leipzig und Berlin 1727, 21734. Die Rezeption von König wird vor allem durch den Artikel »goût« in Zedlers Universal-Lexicon befördert, der außer auf Müllers Gracián-Übersetzung (August Friedrich Müller: Balthasar Gracians Oracul, das man mit sich führen, und stets bey der hand haben kan. Das ist: Kunst-Regeln der Klugheit, vormahls vom Hrn. Amelot de la Houssaie unter dem Titel, L’Homme de la Cour ins Frantzösische, anietzo aber aus dem Spanischen Original, welches durch und durch gefüget worden, ins Deutsche übersetzet, mit neuen Anmerckungen,
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zeigt nun Joachim Kremers Untersuchung.75 Hier wird die Aufgabe sein, die normativen Aspekte des Geschmacks herauszuarbeiten oder, wie Heinichen 1728 insinuiert, die Regeln des musikalischen Satzes in Geschmacksregeln des musikalischen Satzes münden zu lassen. Esprit und goût sind Geltungsgründe decoraler Normen: Eine Normsetzung im decorum gilt, weil sie auf esprit und goût beruht. Damit beantworten sich alle Fragen und alle Kritik an der Ästhetik der Zeit, die in die Richtung gehen, die Kategorie des Geschmacks sei in Wahrheit nichts als getarnter Rationalismus, obwohl sie im galanten Habitus doch als Gegenkonzept zum SchlechtRegelgerechten auftritt. Solche Kritik läuft ins Leere, denn sie lässt den normativen Charakter von goût außer acht. Insofern goût eine Eigenschaft der galanten Normativität ist, ist er ein rationalisierendes, wenn auch kein rationales Moment. Vollends gegenstandslos wird das Missverständnis, wenn klar erkannt wird, dass esprit und goût keine Werte an sich sind, sondern Merkmale des Normierungsprozesses gesellschaftsorientierter Handlungen, oder kürzer: Vernunfteigenschaften des galant-homme. So sinnvoll es ist, von einem galanthomme zu sprechen, so sinnlos ist die Rede von einem galanten Stil.76 Esprit und goût sind galante Normierungsstrategien ästhetischen Materials, nicht dieses selbst. Anders ist nicht nachvollziehbar, warum Heinichen musikalischen goût in sachliche Verbindung mit dem Je ne sais quoi bringt77 und als »hauptschlüßel musicalischer Geheimniße« auffasst,78 nicht als Geheimnis selbst. Mit der Geltungsstruktur des Je ne sais quoi ist unwiderruflich festgelegt, dass die konkrete Mitte galanten Handelns indefinit bleibt. Normiert mittels esprit und goût werden nur die Nebenbedingungen von (ästhetischen) Handlungen im Hinblick auf den avisierten Zweck, d.h. konkret: Esprit und goût statten eine Handlung mit Überzeugungskraft aus. Die normative Struktur des Geschmacksbegriffs wird in seiner historischen Genese angelegt. Mit Giovanni della Casas Il Galateo (1572) wird ›gusto‹ zu einer Kategorie eigener Dignität im ästhetischen und gesellschaftlichen Werturteil.79 Schon hier werden die Weichen auf ein handlungstheoretisches __________
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in welchen die maximen des Autoris aus den gründen der Sitten-Lehre erklähret und beurtheilet werden [...]. 2 Bände. Leipzig 1716/19) weitgehend auf Königs Abhandlung basiert. Im vorliegenden Band. Ernst Bücken: Der galante Stil. Eine Skizze seiner Entwicklung. In: Zeitschrift für Musikwissenschaft 6 (1923/24), S. 418–430; Mark A. Radice: The Nature of the »Style galant«: Evidence from the Repertory. In: Musical Quarterly 83 (1999), S. 607–647. Evtl. sedimentiert sich die bei Mattheson und Heinichen zweifellos nur als normative Kategorie gebrauchte Galanterie tatsächlich zu bestimmten Stilmerkmalen, die sich durch irgendeine Form von schwacher Regelhaftigkeit auszeichnen. »Was Gout in der Music heiße, braucht wohl bey Music verständigen keiner Erklährung, und läßet sich essentialiter eben so wenig beschreiben, als das eigentliche Wesen der Seelen«. (Heinichen: Der General-Bass in der Composition, Anm. 5, S. 22.) Ebd., S. 23. Vgl. Ute Frackowiak: Der gute Geschmack. Studien zur Entwicklung des Geschmacksbegriffs. München 1994, S. 102ff. mit zahlreichen Nachweisen.
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Verständnis des Begriffs gestellt. Man beweist gusto, wenn man eine Handlung durch Schwierigkeiten hindurch zu ihrem Zweck navigiert. Damit beeinflusst della Casa indirekt Gracián, der zum einen präzisiert, dass sich Geschmack im Umgang mit Menschen ausbildet, und der zum anderen dem Geschmack eine machtvolle handlungsnormierende Funktion zuspricht, indem ein Mensch mit Geschmack andere Menschen dazu verpflichtet, ihn betreffende Handlungen nach seinem Geschmack auszurichten.80 Des weiteren wird die Funktionsweise von Geschmack analysiert. Bouhours hebt die Schnelligkeit des Geschmacksurteils hervor, eine Eigenschaft, die bei den französischen Autoren zur Überzeugung führt, goût schließe den – gelegentlich separat behandelten – esprit ein.81 Boileau folgert sogar, im goût sei das Phänomen des Je ne sais quoi aufgehoben, wenn er sagt, der goût habe die Stelle »du bel air, du je ne sçay quoy, et du bel esprit« eingenommen.82 Die Spontaneität und Instinktivität des goût bedeutet keineswegs, dass damit nur die sinnlichen Begierden artikuliert würden. La Rochefoucauld scheint geradewegs auf das Gegenteil zuzusteuern, wenn er hervorhebt, dass der goût auch Entscheidungen gegen die Neigungen des Willens treffen kann.83 Hier ist der eigentliche normative Kern von Geschmack erreicht. Offensichtlich ist es ebenso einseitig zu sagen, der Geschmack sei der ins Intelligible verlängerte blinde, sich dem reinen Empfinden hingebende Geschmackssinn, wie es unaufrichtig wäre, einen sinnlichen Aspekt von Geschmack abzustreiten.84 Die Karriere des Geschmacksbegriffs in der thomasianischen Rechtslehre und in der Musiktheorie nach 1700 gründet in dieser produktiven Dialektik. Den Erklärungsrahmen hierfür bietet die juridische Verfassung des decorum. Fasst man Geschmack als Geltungsgrund einer Norm des decorum auf, dann hat die Kategorie zwei paradoxal entgegengesetzten Bedingungen zu genügen: Sie ist durchaus auf die Befriedigung eigener Begierden gerichtet, aber nicht unmittelbar und sofort, sondern langfristig. Ein vernünftig Handelnder __________ 80
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Baltasar Gracián y Morales: Oraculo manual, y arte de prudencia. Huesca 1647, Maximen 65 und 233. »[...] le vrai esprit [...] est inséparable du bon sens, et c’est se mépendre que de le confondre avec je ne sais quelle vivacité qui n’a rien de solide«. (Père Dominique Bouhours SJ: Entretiens d’Ariste et d’Eugène. Paris 11670, 21671, zitiert nach Köhler (Anm. 51), S. 256.) Vgl. auch die Abhandlung »Des goûts« bei La Rochefoucauld: Réflexions diverses. Ediert in: Ders.: Réflexions ou Sentences et Maximes morales. Suivi de Réflexions diverses et des Maximes de Madame de Sablé. Hg. von Jean Laford. Paris 1976, S. 178f. Nicolas Boileau: Entretiens galans ou conversations. Paris 1691, S. 100. La Rochefoucauld: Réflexions diverses (Anm. 81): »Il y a différence entre le goût qui nous porte vers les choses, et le goût qui nous en fait connaître et discerner les qualités, en s’attachant aux règles : on peut aimer la comédie sans avoir le goût assez fin et assez délicat pour en bien juger, et on peut avoir le goût assez bon pour bien juger de la comédie sans l’aimer.« (S. 178.) Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. Tübingen 11960, 61990, unterschätzt in seiner berühmten Analyse des Geschmacks (S. 40–47) die Vernünftigkeit und die trotz seiner Spontaneität Realzeit benötigende Bildung von Geschmack im 17. und frühen 18. Jahrhundert erheblich.
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unterwirft sich, wie die thomasianische Analyse des decoralen Handelns, der Selbstdisziplin, spontane Begierden nicht blind und egozentrisch zu befriedigen, sondern als Strategien auf eine weniger konkrete, allgemeinere und vor allem normative Ebene zu transformieren. Zu dieser Disziplin zwingt den Handelnden der Umstand, dass durch eine Kategorie wie Geschmack geleitete Handlungen immer auch andere Personen betreffen. Ohne dass damit eine letztendliche Befriedigung der eigenen Begierden suspendiert wird, muss der Geschmack als Geltungsgrund in den Vorgang der handlungsorientierenden Normierung ein irgendwie objektives Moment einbringen. Mit schlechtem Geschmack kann man sich öffentlich blamieren und das Erreichen seines Handlungsziels vereiteln. Objektivität des Geschmacks ist prinzipiell dann gegeben, wenn sich derjenige, der Geschmack hat, sicher sein kann, dass dies wenn nicht der Geschmack auch aller anderen Beteiligten ist, so doch als guter Geschmack akzeptiert wird. In der Antike galt diese Sicherheit noch als schlicht dadurch gewährleistet, dass eine universale Natur angenommen und daraus abgeleitet wurde, das Sensorium für diese Natur sei prinzipiell bei allen Menschen dasselbe. So konnte Cicero die Objektivität eines Geschmacks (›sensus‹) unterstellen, der bei allen Menschen gleich ist.85 Jene Universalität des Geschmacks scheint in die Frühe Neuzeit hinein, aber sie büßt ihre naturgesetzliche Selbstverständlichkeit ein. Scannelli spricht von einem »gusto universale«86, ebenso Gracián vom »gusto [...] general«87. Hält man daneben aber Graciáns Formulierung vom »tribunal del gusto«88, dann wird klar, dass die Ermittlung von gutem Geschmack nichts mehr ist, was jeder Mensch bei gründlicher Introspektion für sich selber leisten könnte. Guter Geschmack wird nun ausgehandelt vor einem Volksgericht, das partikulare und verstaubte Geschmäcker unbarmherzig abstraft. Sucht man nach Normen, die den eigenen Handlungszweck zum Erfolg führen, wäre es geradezu töricht, sich über diese normative Kraft des faktisch herrschenden allgemeinen Geschmacks hinwegzusetzen. Den deutschen Adaptionen dieses Begriffs von goût, der den unmittelbaren Kontext für die Musiktheoretiker bildet, spürt man förmlich den Balanceakt ab, den Geschmack abverlangt. König entlehnt einerseits bei Du Bos den Glauben an den Primat der sinnlichen Erkenntnis, woraus sich ein Geschmacksbegriff ergibt, der nur sinnliche Empfindung zu artikulieren scheint.89 Andererseits __________ 85 86 87
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Frackowiak (Anm. 79), S. 15ff. mit Nachweisen. Francesco Scannelli: Il microcosmo della pittura [...]. Cesena 1657, S. 37. Baltasar Gracián y Morales: El Discreto. Huesca 1646. Ediert in: Ders.: Obras Completas. Hg. von Luis Sánchez Laílla. Madrid 2001, S. 99–198, hier: S. 122. Baltasar Gracián y Morales: El Héroe. Huesca 1637, Madrid 1639. Ediert in: Ders.: Obras Completas. Hg. von Luis Sánchez Laílla. Madrid 2001, S. 1–43, hier: S. 11. »Also nennet man dieses den Geschmack, wann die Seele auf den ersten Eindruck eines Gegenstandes, durch eine natürliche oder verbesserte, aber doch fertige Empfindung urtheilet.« König (Anm. 74), S. 273. Königs Referenz ist Abbé Jean-Baptiste Du Bos: Réflexions critiques sur la poésie et sur la peinture. 2 Bände. Paris 1719. Zum Geschmacksbegriff bei Du Bos und König instruktiv Andreas Solbach: Der galante Geschmack. In: Thomas Borgstedt und Andreas Solbach (Hg.): Der galante Diskurs. Kommunikationsideal und Epochenschwelle. Dresden 2001, S. 225–274, bes. S. 244ff.
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glaubt König, anders als Du Bos, nicht daran vorbei zu können, Geschmack als eine Urteilskraft aufzufassen, die nach dem Code richtig/falsch arbeitet,90 ein Code, der mit dem Primat sinnlicher Erfahrung gar nicht verträglich scheint, denn sinnliche Erfahrung ist nicht wahr oder falsch, sie ist evident oder inexistent. Geschmack kommt, zumindest in dieser vielleicht typisch deutschen Variation des Themas, nicht ohne Wissen aus, ein Wissen, das den primären Sinneseindruck »verbessert« und aus ihm eine »fertige« Empfindung macht und das erlaubt, dem Geschmack apodiktisch einen der Wahrheitswerte richtig/ falsch zuzuteilen. Es ist sofort einsichtig, dass dafür nicht jeder beliebige Wissensbegriff in Frage kommt. An genau dieser systematischen Stelle setzt die musiktheoretische Assimilierung der Geschmackskategorie bei Mattheson und Heinichen ein. Ziemlich kategorisch bescheidet Heinichen, dass sich alle Produktiv- und Rezeptionsvermögen in der Musik im Geschmack auf den Punkt bringen lassen: »Ich will ein eintziges Wörtgen nennen, worinnen sich unsere 3. haupt requisita compositoris, nehmlich Talent, Wissenschafft und Erfahrung, ja selbst der wahre finis Musices, gleichsam als in Centro terminiren / und dieses heißet mit 4. Buchstaben: der Gout. Ein Komponist muß sich nehmlich durch seinen Fleiß, durch sein Talent und durch die Erfahrung vor allen Dingen einen auserlesenen Musicalischen Gout zu wege bringen; Dahero gefället mir hauptsächlich von gewissen auswärtigen Nationen, daß ihre erste Frage oder Raisonnement über eine pruducirte Music gemeiniglich dahin aus lauffet: ob die Music von Gout, oder di bon gusto gewesen sey?«91 Die Frage nach der Qualität einer Musik, normativ formuliert: die Frage, ob die Normierungen des kompositorisch Handelnden erfolgreich waren, wird also für Heinichen mithilfe der Geschmackskategorie beantwortet: Musik ist geschmackvoll oder nicht. Nach den obigen Erwägungen der historischen Evolution der Geschmackskategorie bis ins frühe 18. Jahrhundert wird damit wohl kaum eine Festlegung auf etwas gemeint sein, was heute als bestimmte musikalische Präferenz verstanden wird in dem Sinn, von einem Menschen zu sagen, er habe diesen und jenen Musikgeschmack.92 Vielmehr kann man vermuten, dass Geschmack auch in der Musik eine inhaltlich indefinite Strategie der Normierung ist, oder, wie Heinichen offensichtlich sagen will, die Strategie musikalischer Normsetzung überhaupt. So klar wird das freilich erst einige Zeilen später formuliert: »Das proprium [...] eines Componisten von Gout, bestehet eintzig und allein in der Kunst, seine Music der verständigen Welt all’ordinaire beliebt und gefällig zu machen; oder welches einerley: das Gehöre durch erfahrne Kunstgriffe zu vergnügen, und die Sensus zu moviren. [...] In summa alles heißet Gout, oder __________ 90
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Der Geschmack, so König in der neuerlichen Definition, »ist eine aus gesundem Witz und scharfer Urtheilungs-Krafft erzeugte Fertigkeit des Verstandes, das wahre, gute und schöne richtig zu empfinden, und dem falschen, schlimmen und heßlichen vorzuziehen«. König (wie Anm. 74), 21734, S. 405. Heinichen: Der General-Bass in der Composition (Anm. 5), S. 22. Diese Terminologie beispielsweise bei Klaus-Ernst Behne: Hörertypologien. Zur Psychologie des jugendlichen Musikgeschmacks. Regensburg 1990.
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alles leitet sich vom Gout her, was zur würcklichen Beföderung des wahren Finis Musices contribuiret [...], die Menschlichen Gemüther aufzuschliessen, bewegen und die Sinnen gewinnen«.93 In aller Deutlichkeit schließt sich Heinichen hier an den normativen Geschmacksbegriff der galanten Literatur an. Goût ist die Eigenschaft, ästhetisches Handeln auf affektive Wirkung und Erfolg hin zu orientieren.94 In den deutschen Erörterungen des musikalischen Geschmacks taucht, wie hier bei Heinichen, mit auffallender Regelmäßigkeit der Hinweis auf den französischen goût und den italienischen gusto auf. Schon indem konkret zwei Nationen erwähnt werden, ist impliziert, dass der wahre Geschmack, der Musik zielsicher zum Finis musices führt, weder der speziell französische noch der speziell italienische sein kann. Allerdings scheinen diese Nationen einen decoral normtauglichen Geschmack zu haben, der, ohne dass er auf einen bestimmten Nationalgeschmack verengt wäre, mit nationaler Zugehörigkeit zu tun hat. Über Mattheson, Scheibe, Quantz und viele andere Autoren begegnet das Stereotyp bis heute: Geschmack unter Europas Kulturnationen haben die Franzosen und die Italiener. Analysiert man die entsprechenden Argumentationen, wird deutlich, dass dies wenig mit Nationalstilen zu tun hat, viel hingegen mit einem zentral vom decoralen Normverständnis her gedachten Geschmacksbegriff. Von einem »generalen Gout« spricht Mattheson. Ihn bescheinigt Mattheson der italienischen Musik, den diese nicht wegen, sondern trotz ihres Nationalstils, oder drastischer noch: trotz ihrer vielen heterogenen Nationalstile habe.95 Ob eine Musik sich durch diesen allgemeinen Geschmack auszeichnet, ist gänzlich unabhängig davon, ob ihr Stil partikular oder universal ist. Generell hängt goût nicht davon ab, ob eine Musik hinsichtlich irgendeines zu definierenden Katalogs von Qualitäten gut abschneidet. Der französischen Musik etwa bescheinigt Mattheson, sie verdiene hinsichtlich der Komposition und der praktischen Ausführung gute Noten. Es mangele ihr aber an etwas, was für Mattheson darüber entscheidet, ob man ihr Geschmack zusprechen kann oder nicht: die »generale Approbation« außerhalb der Landesgrenzen.96 Real in der __________ 93 94
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Heinichen: Der General-Bass in der Composition (Anm. 5), S. 23. Vgl. Hugo Goldschmidt: Die Musikästhetik des 18. Jahrhunderts und ihre Beziehungen zu seinem Kunstschaffen. Zürich und Leipzig 1915, S. 45ff. Goldschmidt erkennt die Universalität des Geschmacksbegriffs in der französischen Ästhetik um 1700, in keiner Weise aber seine deutsche Adaption. »Die Italiäner / welche heutigen Tages / theils durch die wesentliche Schönheit ihrer Wercke / theils auch durch die übertünchte und insinuante Kunst-Griffe in der Composition, den Preiß vor allen andern Nationen davon zu tragen scheinen / und den generalen Gout mehrentheils auff ihrer Seiten haben / sind nicht nur in ihrem Stylo von den Frantzosen / Teutschen und Engelländern ; sondern in gewissen Stücken unter sich selbst mercklich unterschieden. Z.E. Ein Venetianer, wird anders setzen / als ein Toscaner, dieser wieder anders als ein Neapolitaner oder Sicilianer &c. also daß ich keine bessere Vergleichung dieser Discrepantz wüste / als etwan mit den Dialectis ihrer Sprache«. Mattheson: Das Neu-Eröffnete Orchestre (Anm. 4), S. 202f. »Man streitet hierbey nicht / daß nicht so wol die Frantzösische Composition als Execution, in ihrer Art / ihr eigenes Lob verdiene / und vielleicht der Italiänischen nicht viel nachgiebet; allein weil ein grosses Theil in solchen Sachen von dem Gout
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italienischen, potenziell in der französischen Musik ist also nach Matthesons Auffassung der Geschmack ein genereller. Sein soziales Korrelat ist Erfolg; ein musikalisches Korrelat wird nicht angegeben und ist wohl auch nicht angebbar. Was ein Nischendasein führt, mag seine besonderen Qualitäten haben, Geschmack hat es auf keinen Fall. In dieser doppelten Optik von Produktion und Rezeption entspricht der matthesonsche Geschmacksbegriff aufs genaueste der decoralen Normstruktur. Galanter Geschmack erscheint als der Faktor, der die Kongruenz von ästhetischer Qualität mit einer allgemeinen Akzeptanz seitens des Publikums unabhängig von dessen sozialer Heterogenität und divergenter stilistischer Präferenzen herstellt.97 Er ist mithin der Ausweis, dass der Spagat decoraler Normierung zwischen Selbst- und Außenbezug geglückt ist. Bezeichnend auch, dass Mattheson nicht sagt, was konkret Geschmack denn nun ist, nur, was er nicht ist: Er ist nicht gute Kompositionstechnik, nicht gute Aufführungspraxis, nicht nationaler noch regionaler Stil, nicht Künstlichkeit, nicht Schönheit. Heinichen schließt sich diesem Je ne sais quoi an: Wer in andere Länder reist, um seinen »Gout zu reguliren«, erwirbt damit nicht musikalisches Wissen und endeckt nicht sein Talent.98 Eine Positivliste dessen, worin Geschmacksbildung bestehen soll, gibt Heinichen nicht. Der »vermischte Geschmack« der deutschen Musik in Quantz’ berühmter Formulierung99 kann, sofern sich dieser Geschmacksbegriff in die skizzierte normative Struktur des galanten Geschmacks bei Mattheson und Heinichen __________
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dependiret / und aber die Frantzosen noch keine solche generale Approbation ihrer Music, als wol ihrer Sprache / in der Welt erhalten haben / so wird sich vermuthlich das davon etwa zu machende Eolgium hauptsächlich intra, und nicht gar weit extra fines Galliae erstrecken können.« Ebd., S. 207f. Die Argumentation wird von Heinichen bis in die Terminologie hinein übernommen; Heinichen spricht von der »publique[n] Approbation« als Kriterium von goût. Heinichen: Der General-Bass in der Composition (Anm. 5), S. 13. Mit seiner Auffassung orientiert sich Mattheson genau am naturrechtlichen Diskurs; bei Thomasius ist zu lesen, man müsse keineswegs nach Frankreich reisen, sondern könne gout auch hierzulande antreffen, »wenn wir uns nur von dem gemeinen Pöbel etwas absonderten / und nicht ein iedweder sich einbildete / daß er nach seiner eigenen impression galant genug wäre / und le bon gout vollkommen besässe.« Discours (Anm. 11), S. 45. »Hier fället mir ein, was etliche Authores statuiren, daß wir nehmlich in gewissen Stücken nöthig hätten, von anderen Nationibus zu profitiren: was sollen wie aber eigentlich profitiren? oder deutlicher zu reden, warumb reisen wir selbst mit Mühe, Gefahr und Unkösten in andere Länder, wo die Music mehr Cultores [...] findet, als bey uns? vielleicht die Musicalische Wissenschafft / alda zu hohlen? Ach nein, diese haben wir so gut, und besser als sie [...]. Vielleicht reisen wir also, ein Musicalisches Talent alda zu erfischen? Dieses wäre an sich selbst unmöglich, wofern es unserer Nation nicht so wohl als ihnen angebohren wäre. Was mangelt uns denn vor ein requisitum compositoris, oder mit einem Worte: warum reisen wir? Antwort: eintzig und allein / umb unsern Gout zu reguliren.« Ebd., S. 23. »Wenn man aus verschiedener Völker ihrem Geschmacke in der Musik, mit gehöriger Beurtheilung, das Beste zu wählen weis: so fließt daraus ein vermischter Geschmack, welchen man, ohne die Gränzen der Bescheidenheit zu überschreiten, nunmehr sehr wohl: den deutschen Geschmack nennen könnte: nicht allein weil die Deutschen zuerst darauf gefallen sind; sondern auch, weil er schon seit vielen Jahren an unterschiedenen Orten Deutschlandes, eingeführet worden ist, und noch blühet, auch weder in Italien, noch in Frankreich, noch in andern Ländern misfällt.« Quantz (Anm. 8), S. 332.
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einfügt, nicht das Pendant eines ›reinen‹ Geschmacks der anderen Nationen sein. Wenn – wofür vieles spricht100 – tatsächlich der Fall ist, dass Quantz galantes Normdenken aufgenommen hat, bedeutete dies eine Auslegung des Diktums, die der bisherigen Lesart entgegengesetzt ist.101 Der Geschmack der deutschen Musik ›ist‹ nicht sein Stilamalgam; die deutsche Musik hat nicht Geschmack ›trotz‹ ihrer stilistischen Heterogenität (wie umgekehrt die Homogenität des französischen Stils nicht automatisch goût mit sich führt). Deutsche Musik hat freilich Geschmack vor dem Hintergrund ihrer stilistischen Heterogenität, was normativ heißt, dass sich ihr Geschmack darin beweist, die stilistischen Ebenen erfolgreich zu integrieren. Präzis heißt »vermischter Geschmack«, dass erfolgreich zusammengeführt wird, was den Geschmack der italienischen oder den Geschmack der französischen Musik ausmacht. Es werden im »vermischten Geschmack« mithin Erfolgsstrategien eklektisch vermischt, nicht Stile. Nichts hat diese strukturelle Eklektik des galanten Geschmacksbegriffs zu tun mit einem trivialen, gegenstandsbezogenen Verständnis von Eklektizismus, etwa dem der Postmoderne. Als strukturell eklektisch im Handlungsfeld des decorum erwies sich die Notwendigkeit, auf die Normierung von Konkreta zu verzichten und stattdessen auf die Normierung von Nebenbedingungen auszuweichen. Jeder Geschmack, insofern er eben diese Normierung darstellt, ist prinzipiell ein vermischter: Er vermischt eigene und fremde stilistische Präferenzen. Davon ist Quantz’ Begriff des »vermischten Geschmacks« um eine nur graduelle Nuance entfernt, indem er ausdrücklich anderweitige nationale Stile integriert, ein Normierungsvorgang, der aber eben keiner der Stil-, sondern der Geschmacksbildung ist. Eine terminologisch neue, von Mattheson und Heinichen unabhängige, sachlich auf den ersten Blick anders gelagerte Verfasstheit des musikalischen Geschmacks begegnet bei Scheibe: »Die musikalische Schreibart aber ist eine geschickte Zusammenstellung der Noten, die den Sachen gemäße Gedanken und Empfindungen auszudrücken. Das Denken und die Empfindung müssen also vorher gehen, und die Schreibart muß mit ihnen vollkommen übereinstimmen. In beyden zugleich äußert sich der Geschmack des Componisten. Dieser bestehet also nicht allein in der Schreibart, sondern im Denken und Schreiben zugleich.«102 Attackiert wird hier offenbar ein Geschmacksbegriff, der sich an bloßen Äußerlichkeiten festmacht. Das ist durchaus Zeitgeist; wie Galanterie gerät Geschmack, wie er in der Conduiteliteratur erscheint, ab den 1720er Jahren in den Ruch mangelnder Innerlichkeit. Dies wird kompensiert durch die neue Kategorie Empfindung, die hier auch bei Scheibe durchschlägt. Keineswegs aber verlegt Scheibe den Geschmack ins intime Seelenleben des Künstlers. Scheibes Klarstellung des Geschmacksbegriffs wäre haltlos, wäre sie nicht abwärtskompatibel mit den Auffassungen Matthesons und Heinichens aus __________ 100 101
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Vgl. die detaillierten Ausführungen zu Quantz bei Joachim Kremer im vorliegenden Band. Z.B. Wilhelm Seidel: Stil. In: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. 2. Auflage. Sachteil Bd. 8. Kassel u.a. 1998, Sp. 1740–1759, hier: Sp. 1751. Johann Adolph Scheibe: Critischer Musikus. Neue, vermehrte und verbesserte Auflage. Leipzig 1745. Reprint Hildesheim 1970, S. 124f. (13. Stück, 20.8.1737).
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den 1710er Jahren. Ohne eine zeitlich primäre innere Vorstellung eines Sujets (»Sachen«) hat Musik keinen Geschmack, sie hat ihn aber ebenso wenig ohne adäquate musikalische Außendarstellung (»Schreibart«). Auch wenn Scheibe, anders als Mattheson und Heinichen, den Publikumserfolg als Ausweis von Geschmack nicht explizit anführt, wird ohne jede Nuance in der Sache das decorale Ausdrucksproblem und seine normative Herausforderung benannt. Der galante normative Vorgang besteht im Abgleich eigener Empfindungen mit den Empfindungen anderer. Genau diesen Vorgang, so er erfolgreich ist und das Ausdrucksparadox überwindet, nennt Scheibe Geschmack: Denken bzw. Empfinden (Normativität der aus dem Willen resultierenden Handlungsgründe) und Schreiben (Normativität der Handlungsgründe, die die Befriedigung der mutmaßlichen Begierden anderer repräsentieren) zugleich.
3. Erfahrung Welchen systematischen Ort in der Normstruktur galanter Musikauffassung Erfahrung einnimmt, klang bereits an. Die einschlägige Aussage Heinichens sei wiederholt: »Ich will ein eintziges Wörtgen nennen, worinnen sich unsere 3. haupt requisita compositoris, nehmlich Talent, Wissenschafft und Erfahrung [...] gleichsam als in Centro terminiren / und dieses heißet mit 4. Buchstaben: der Gout.«103 Wenn sich Geschmack, wie zu sehen war, als allgemeine Charakterisierung des Vorgangs der decoralen Normierung von Handlungsbedingungen auf Erfolg hin begreifen lässt, dann scheint Heinichen Talent, Wissen und eben Erfahrung als kognitive Vermögen aufzufassen, die in diesem Normierungsvorgang eine je bestimmte Teilaufgabe übernehmen. Während Talent eine angeborene und unveränderliche musikalische Disposition bezeichnet, sind Wissen und Erfahrung erwerbbare, damit variable Größen, die bei Heinichen, Mattheson und inbesondere Scheibe in extenso diskutiert werden. Als essentiell wird sich die Komplementarität von Wissen und Erfahrung erweisen, insofern das Wissen eine Menge von Regeln und Handlungsbedingungen zur Verfügung stellt, die Erfahrung aber entscheidet, in welcher Weise diese jeweils normativ konkret in eine Handlungssequenz eingebracht werden. Gerade im Handlungsfeld des decorum ist Erfahrung das eigentlich entscheidende Vermögen (während die Triebkräfte des Handelns im iustum auf das Wissen, im decorum auf den Willen sich reduzieren). Es vermittelt dem Handelnden eine Vermutung darüber, wie seine Handlung wahrscheinlich auf die Beteiligten wirken wird, und lässt damit Rückschlüsse zu, wie die Normierung der Handlungsbedingungen zu optimieren ist. Für das folgende eine terminologische Bemerkung: Ich schließe mich dem Sprachgebrauch der diskutierten Autoren um 1700 an und verwende »Erfahrung« nicht synonym mit »Erlebnis«. In der Ästhetik seit Kant wird mit ästhetischer »Erfahrung« üblicherweise eine bestimmte Art von Wahrnehmungserleb__________ 103
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nis bezeichnet. Der Aspekt, dass ein Mensch, der viele ästhetischen Wahrnehmungserlebnisse hatte, ein Wissen über die Beschaffenheit solcher Erlebnisse erzeugt oder kurz: »Erfahrung« sammelt, spielt dort keine Rolle. In diesem letzteren Sinn aber sprechen Heinichen, Mattheson und Scheibe von »Erfahrung«, und dem schließe ich mich an. Im Sinn der Komplemente Theorie/Praxis, Wissen/Anwendung usw. ist Erfahrung im frühen 18. Jahrhundert keine neue Denkfigur. Auffassungen, dass es musikalisches Erfahrungswissen gibt und dass sich musikalisches Wissen durch Erfahrung bildet, sind das gesamte 17. Jahrhundert hindurch anzutreffen.104 Mit der normativen Grundlegung von decoralen Handlungen in der thomasianischen Rechtslehre eröffnen sich aber Möglichkeiten, wesentlich präziser als zuvor zu bestimmen, was Erfahrung genau ist, wie sie mit dem Wissensbestand des Handelnden interagiert und wie sie insbesondere die Anwendung von Regeln, die sich aus dem Wissen ergeben, steuert. Die gesamtkulturelle Wirkungsgeschichte dieses decoralen Erfahrungsbegriffs ist enorm, und dazu trägt gerade seine musiktheoretische Ausformulierung im frühen 18. Jahrhundert entscheidend bei, mehr als zum Beispiel die Theorie der Bildenden Künste, in denen die Kategorie der Erfahrung keine wichtige Rolle spielt.105 Seit Kant ist Erfahrung ein zentrales Merkmal ästhetischen Erkennens. Dewey hat dem Thema eine eigene, in Deutschland bis vor einigen Jahren wenig beachtete Studie gewidmet,106 für Adorno spielt, wie gleich zu sehen, die Erfahrung eine wichtige Rolle in der ästhetischen Theorie. Überall dort, wo (ästhetische) Handlungstheorien auf Normstrukturen aufbauen, die nicht als starre Setzung, sondern als aus einem Prozess des gesellschaftlichen Aushandelns hervorgehend aufgefasst werden, kann man naheliegenderweise an der Kategorie der Erfahrung nicht vorbei.107 Absehbar ist, dass die neurowissenschaftliche Reformulierung der Ästhetik der Erfahrung eine noch dominantere und präziser bestimmbare Funktion in ästhetischen Vorgängen zuweisen wird. Insbesondere wird sie dazu beitragen, dass nach einer merkwürdigen, sachlich durch nichts zu rechtfertigenden, rein forschungspolitisch erklärbaren Beschrän__________ 104
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Burmeister etwa spricht von Männern, die musikalisches Wissen (doctrina) und musikalische Erfahrung (usus rerum) haben (Joachim Burmeister: Musica poetica [...]. Rostock 1606, Reprint Laaber 2004, hg. von Rainer Bayreuther, Widmung, Bl. )(2r–v) oder von Verstand (ratio) und Erfahrung (experientia) als komplementären Vermögen (ebd., S. 53). Der systematische Grund ist, wie im folgenden zu sehen sein wird, die in der Musik konstitutive, in der Malerei hingegen fehlende Zeitdimension. John Dewey: Art as Experience. New York 1934, deutsch als: Kunst als Erfahrung. Frankfurt a.M. 1980. Etwa Jürgen Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns. 2 Bände. Frankfurt a.M. 1982. Vgl. Josef Früchtl: Ästhetische Erfahrung und Einheit der Vernunft. Thesen im Anschluss an Kant und Habermas. In: Perspektiven der Kunstphilosophie. Texte und Diskussionen. Hg. von Franz Koppe. Frankfurt a.M. 1991, 21993, S. 147–164. Auf andere Weise wird Erfahrung bedeutsam bei Hans Robert Jauß: Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik. Frankfurt a.M. 1991 (1982), 21997, bes. S. 31–44: Die durch ästhetische Anschauung gewonnene Erfahrung ist einerseits Lebenserfahrung oder Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnis; andererseits fließt diese zurück in den ästhetischen Prozess.
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kung auf visuelle Wahrnehmung akustische und musikalische Erfahrung und die ästhetischen Konsequenzen endlich ins Interesse der Forschung rücken.108 Erfahrung wird, wenn man die Einsicht, dass sie sich neuronal in manifesten physikalischen Strukturen niederschlägt, in ihrer ganzen Wucht zur Kenntnis nimmt, dann wieder zu einer Bedingungsgröße des elementaren ästhetischen Wahrnehmens, damit zu dem ausschlaggebenden Faktor ästhetischen Verstehens und Urteilens überhaupt. All dies ist ausreichender Stoff, um die musikgeschichtlichen Entwicklungen ab 1700 aus der Perspektive der Normativität zu erforschen. Mit der Kategorie der Norm wird nämlich erst freigelegt, wie Erfahrung nicht nur das musikalische Wissen erweitert oder abrundet, sondern zu einer normativen Instanz sui generis für die Musik wird. Blickt man auf den Beginn der Ästhetik als einer eigenständigen, wissenschaftlich zugänglichen Erkenntnisart bei Leibniz und Baumgarten, ist ihr die Kategorie der Erfahrung keineswegs mit auf den jungen Lebensweg gegeben gewesen. Baumgarten bestimmt historisch zum ersten Mal die Ästhetik als Wissenschaft, und zwar als »scientia cognitionis sensitiuae«.109 Welche Eigenschaften eine sinnliche Erkenntnis haben soll, beschreibt Baumgarten mit Hilfe einer leibnizschen Formel: Sinnliche Erkenntnis ist »clara« und »confusa« zugleich.110 In beiden Merkmalen ist sie damit unabhängig von Erfahrung. Insofern ästhetische Erkenntnis der sinnlichen Extension ihrer Wahrnehmungsinhalte nach eindeutig ist (clara), wird sie auch nach wiederholtem Mal dieselbe unveränderte Klarheit haben. Insofern sie zugleich konfus (confusa) und dabei logisch-begrifflich nicht bestimmbar ist, wird auch zunehmende ästhetische Erfahrung daran nichts ändern. Der baumgartensche Begriff der Ästhetik ist gegen die Kategorie Erfahrung immun. Ästhetische Erkenntnis mag für Erfahrungen anderer Art relevant sein,111 beinhaltet aber selbst kein Erfahrungsmoment. Inbesondere für die Musik, die abstrakteste aller Künste, scheint das zu gelten, und man hat mit diesem Argument oft zu begründen versucht, warum nicht in der Malerei und noch weniger in der Literatur, aber in der Musik Wunderkinder möglich sind: musikalisch vollendet ohne die Erfahrungen des Lebens. An dieser Stelle erhebt sich ein Einwand, den am lautesten Adorno artikuliert hat und der sich in ähnlicher Weise in der neurowissenschaftlich informierten Musikästhetik wiederfinden könnte: Man hört vielleicht zweimal __________ 108
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Vgl. folgende Studien: Alexander Becker: Wie erfahren wir Musik? In: Musikalischer Sinn. Beiträge zu einer Philosophie der Musik. Hg. von Alexander Becker und Matthias Vogel. Frankfurt a.M. 2007, S. 265–313. Matthias Vogel: Nachvollzug und die Erfahrung musikalischen Sinns. In: Ebd., S. 314–368. Stefan Koelsch und Tom Fritz: Musik verstehen – Eine neurowissenschaftliche Perspektive. In: Ebd., S. 237–264. Alexander Gottlieb Baumgarten: Aesthetica. 2 Teile. Frankfurt/Oder 1750/1758, Reprint Hildesheim 1961, Teil 1, § 1. Alexander Gottlieb Baumgarten: Metaphysica. Halle 1739, 71779, §§ 510 und 522. Dies hat insbesondere Jauß (Anm. 107) herausgearbeitet. In trivialisierter Form findet sich die Einsicht in Platons Empfehlungen für die geeignete Musik im Gemeinwesen bis hin zu heutigen kulturpolitischen Sonntagsreden, der Staat habe die Musikausbildung zu fördern, weil sie intelligible und soziale Kompetenz von Jugendlichen begünstige.
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dasselbe Stück, aber nie zweimal die gleiche Musik.112 Entscheidend ist, wie Adorno den Zuwachs an Erfahrung, der sich durch vielmaliges Musikhören und -machen einstellt und den musikalischen Experten – denjenigen, der ›expertus‹, also erfahren ist – hervorbringt, genau beschreibt. Es scheint dies nämlich eine allgemeingültige Beschreibung von Erfahrung zu sein, die ich im folgenden bei Heinichen und Scheibe nachweisen werde und die dann zum kantischen Erfahrungsbegriff führt. Der musikalische Experte bei Adorno hat die Fähigkeit ausgebildet, den musikalischen Augenblick in seiner ganzen Fülle als Resultat vieler in die unmittelbare Vergangenheit zurückreichender Entwicklungen und als Ausgangspunkt unabgeschlossener, in die Zukunft reichender und mit bestimmten Erwartungen versehener Entwicklungen zu hören. Das Erfassen dieser Zusammenhänge ist gleichbedeutend mit der Konstituierung von musikalischem Sinn. Musikalische Erfahrung erwerben bedeutet also, Kenntnis über die innere Logik musikalischer Vorgänge zu erwerben. Die ästhetische Wahrnehmung auch des Erfahrenen ist durchaus augenblicksbezogen. Aber mit jedem musikalischen Moment ist ein inneres Zeitbewusstsein gegeben, das die Qualität des wahrgenommenen Augenblicks nach seinem Vorher und Nachher bemisst und das zur »Rechenschaft«, d.h. zu einem normativen Urteil in der Lage ist.113 Musikalische Erfahrung kann damit verstanden werden als Verfügung über inneres musikalisches Zeitbewusstsein. Das baumgartensche Merkmal der ästhetischen ›cognitio confusa‹ wird damit teilweise revidiert: Der Form nach bleibt es konfus, da der erfahrungsgenerierte Sinn ein rein musikalischer bleibt und in anderweitige Sinnkontexte erst durch Metasprachen übersetzt werden müsste.114 Innerhalb dieser Form aber wird durchaus Inhalt generiert, und wir __________ 112
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Es scheint eine Charakteristik in der Sache anzuzeigen, dass Adorno dies mit derselben Polemik gegen die Mathematisierung der Musik verbindet, wie sie bei Mattheson anzutreffen ist: »Immanent ist den mathematisierenden Lehren von der Harmonie entgegenzuhalten, daß ästhetische Phänomene nicht mathematisieren sich lassen. Gleich in der Kunst ist nicht gleich. Offenbar ist das an der Musik geworden.« Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie. Frankfurt a.M. 1970 und 1997 (Gesammelte Schriften 7), S. 434. »Der Experte selbst wäre [...] durch gänzlich adäquates Hören zu definieren. Er wäre der voll bewußte Hörer, dem tendenziell nichts entgeht und der zugleich in jedem Augenblick über das Gehörte Rechenschaft sich ablegt. Wer etwa, zum erstenmal mit einem aufgelösten und handfester architektonischer Stützen entratenden Stück wie dem zweiten Satz von Weberns Streichtrio konfrontiert, dessen Formteile zu nennen weiß, der würde, fürs erste, diesem Typus genügen. Während er dem Verlauf auch verwickelter Musik spontan folgt, hört er das Aufeinanderfolgende: vergangene, gegenwärtige und zukünftige Augenblicke so zusammen, daß ein Sinnzusammenhang sich herauskristallisiert. Auch Verwicklungen des Gleichzeitigen, also komplexe Harmonik und Vielstimmigkeit, faßt er distinkt auf. Die voll adäquate Verhaltensweise wäre als strukturelles Hören zu bezeichnen. Sein Horizont ist die konkrete musikalische Logik: man versteht, was man in seiner freilich nie buchstäblich-kausalen Notwendigkeit wahrnimmt. Ort dieser Logik ist die Technik; dem, dessen Ohr mitdenkt, sind die einzelnen Elemente des Gehörten meist sogleich als technische gegenwärtig, und in technischen Kategorien enthüllt sich wesentlich der Sinnzusammenhang.« Theodor W. Adorno: Einleitung in die Musiksoziologie. In: Gesammelte Schriften 14. Frankfurt a.M. 1987 (1962), S. 169–433, hier: S. 181f. – Jedenfalls in einer strikten Auslegung der ›cognitio confusa‹. Aber darüber lässt sich trefflich streiten; vgl. Vogel (Anm. 108).
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werden sehen, dass genau dieser durch Erfahrung im Modus Zeit generierte Sinn den Zusammenhang zwischen Erfahrung und Regelanwendung bei Heinichen erschließt. Kant hat diese temporale Struktur von Erfahrung zu einem allgemeinen Begriff von Erfahrung erweitert: Seine berühmte Zurückweisung der Zeit als objektiv gegebene Form ist dadurch begründet, dass Zeit als »Form des innern Sinns« aufgefasst werden muss,115 die durch nichts anderes als Erfahrung gebildet wird.116 Heinichens Äußerungen zur musikalischen Erfahrung sind auffällig mit der Regelproblematik verknüpft. Es lässt sich ein zweifacher Bezug erkennen. Zum einen erlaubt die Erfahrung einem Komponisten, von den »Theoretischen Regeln« abzuweichen; in diesem Fall unterstellt Heinichen Gründe (»Raison«), die von der Erfahrung in den Handlungsprozess eingebracht werden und bestimmten Regeln entgegenstehen.117 Zum anderen weist Heinichen solchen musikalischen Verfahrensweisen, die nur durch die Erfahrung gedeckt sind, wiederum Regelstatus zu, aber einen besonderen: sie sind »ErfahrungsRegeln«.118 Die Verbindung von Erfahrung mit der Regelproblematik zeigt ein weiteres Mal, wie durchdacht Heinichens Terminologie, die in der Einleitung der Generalbasslehre von 1728 scheinbar chaotisch in einem langen Schwall polemischer Fußnoten daherkommt, tatsächlich ist.119 Als eines von mehreren Vermögen, die unter dem Oberbegriff des Geschmacks zusammengefasst werden, damit dem Handlungsfeld des decorum zugehören, dessen Eigentümlichkeit in seiner spezifischen Normativität liegt, muss auch sie selbst normativ beschreibbar sein. Heinichens Vorgehen, die Erfahrung durch ihre spezifische Regelstruktur zu charakterisieren, überrascht daher nicht. Allerdings wissen wir damit noch kaum, was für eine Regelstruktur das sein soll, außer dass sie in irgendeinem Gegensatz zu derjenigen theoretischer Regeln steht. Angesichts der allgemeinen Normstruktur im decorum, deren zentrales Merkmal Ergebnisorientierung ist, können wir vermuten, dass mit der Erfahrung mehr als einfach nur eine Lizenz zur beliebigen musikalischen Irregularität gegeben wird. Die Analyse der musikalischen Beispiele, mit denen Heinichen demonstriert, was er unter musikalischer Erfahrung versteht, wird auf genau die allgemeine Struktur von Erfahrung hinauslaufen, die Kant und Adorno beschrieben haben. __________ 115 116 117
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Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. Riga 21787, S. B 49. Ebd., S. B 58. Die Erfahrenen, so Heinichen, haben »ein gut Judicium practicum, und wissen / wenn und wo man mit guter Raison von dergleichen Theoretischen Regeln abgehen kan.« Heinichen: Der General-Bass in der Composition (Anm. 5), S. 16. Die Erfahrung erlaube »andere, auff dem Pappiere offt schlecht aussehende Vortheile, welche uns die Erfahrung an die Hand giebet, und die wir zu unserer Zeit nur noch mit dem obscuren Nahmen der Erfahrungs-Regeln tauffen«. Ebd., S. 23. In den praktischen Teilen seiner Generalbasslehren sind es insbesondere die »SpecialRegeln« (für die Generalbasslehre 1711: Anm. 39, S. 196ff.), die man als konkrete Fälle von Erfahrungsregeln ansehen muss. Sie entsprechen der skizzierten Struktur von Erfahrung, insofern sie ausdrücklich keine zeitpunktbezogenen Details des Tonsatzes regeln, sondern, wie Horn treffend erkannt hat, »prognostische« Aussagen über harmonische Verläufe machen (Anm. 38, Teil I, S. 18).
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Die ausführlichste zeitgenössische Erörterung dessen, was musikalische Erfahrung ist, stammt von Scheibe. Wie bei Heinichen, dessen Schriften und Kompositionen Scheibe, wie aus einigen launigen Bemerkungen hervorgeht, kannte,120 ist Erfahrung ein systematischer Aspekt der allgemeinen Problematik der Geltung und Funktion musikalischer Regeln. Allerdings ist Scheibe weniger polemisch eingestellt als Heinichen. Als guter Gottschedianer, der er in Leipzig wurde, hat Scheibe internalisiert, dass gute Kunst keinesfalls auf Regularität verzichten kann. Wenn man aber die decorale Kategorie der Erfahrung als für Scheibe unabdingbares Pendant zur Regularität der Musik einrechnet, mündet Scheibes Emphase der musikalischen Regel keineswegs in den von Mattheson und Heinichen aufs Korn genommenen Pedantismus, sondern kann als sachlich geradezu zwingende Weiterentwicklung des bei Mattheson und Heinichen erreichten Normverständnisses gelesen werden. In der Abhandlung vom Ursprunge, Wachsthume und von der Beschaffenheit des itzigen Geschmacks in der Musik exponiert Scheibe eine scheinbar absolute Regularität der Musik, wenn er die Geltung von Regeln aus der Natur ableitet und daraus zirkelschlüssig folgert, Natürlichkeit der Musik werde erreicht, wenn man nur die Regeln beachtet.121 Der Anschein des Dogmatischen löst sich aber auf, wenn man verfolgt, wie Scheibe diese Behauptung erläutert. Für Scheibe ist Natur die Natur des jeweiligen musikalischen Sujets: Musikalisch regelgebende Natur ist, was musikalisch dargestellt werden soll. Natürlich ist Musik, umgekehrt gedacht, also dann, wenn sie ihr Sujet angemessen darstellt. Was aber angemessen oder, wie Scheibe sagt, »vollkommen« ist, wird präzisiert mit dem Begriff des »Endzweckes«. Die Natur des Sujets wird mithin nicht als irgendeine starre, rein strukturale, »tiefsinnige« Natur begriffen, sondern als die Erscheinungsweise des Sujets in demjenigen, der der Endzweck ist, dem Hörer. Scheibes Begriff von Natur, oder genauer: von Natürlichkeit ist ein phänomenologischer. Nicht zufällig erklingt diese Eloge auf die Regel inmitten einer Abhandlung über den musikalischen Geschmack, jener Kategorie, über die sich wenig, __________ 120 121
Z.B. Scheibe: Critischer Musikus (Anm. 102), S. 341 (36. Stück, 5.5.1739). Die Passage lautet im Zusammenhang: »Alles, was in der Musik regelmäßig seyn soll, ist auch natürlich. Aus der Natur entspringen die Regeln der schönen Wissenschaften, und folglich auch der Musik. Natürlich ist derjenige musikalische Satz, welcher die Regeln der Kunst genau beweist, zugleich aber die Eigenschaften der Dinge, welche er ausdrücken soll, oder weswegen er verfertiget werden soll, vollkommen enthält. Oder kürzer: das Natürliche eines musikalischen Satzes besteht in der Beobachtung der Regeln der Tonkunst zur Erlangung eines bestimmten Endzweckes. [...] Alles Künstliche, welches dem Natürlichen widerspricht, ist falsch und zu verwerfen, wenn es doch mit den Regeln der Harmonie übereinstimmt, und die tiefsinnigste Ausarbeitung beweiset. Die Regeln der Harmonie sind nicht die Regeln der Tonkunst überhaupt, sondern ein Theil derselben; und so ist auch eine tiefsinnige Ausarbeitung nicht allemal natürlich, weil sie zu unrechter Zeit geschehen kann. [...] Ein jeder wird erkennen, wie es zugeht, daß das Regelmäßige auch denen, die in der Musik unerfahren sind, eine angenehme Empfindung verursachet, und warum hingegen die überflüßige Kunst und das Regellose bey ihnen einen Ekel oder eine widrige und unangenehme Empfindung erwecket.« Johann Adolf Scheibe: Abhandlung vom Ursprunge, Wachsthume und von der Beschaffenheit des itzigen Geschmacks in der Musik. In: Ders.: Critischer Musikus (Anm. 102), S. 750–795, hier: S. 771–774.
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sicher aber dies sagen lässt, dass Geschmack nur dort statthat, wo ästhetisches Handeln auch seinen Adressaten erreicht. Damit wird Scheibes Volte gegen die »Regeln der Harmonie« verständlich. Solche Regeln liefen auf ein »tiefsinniges« Verständnis von Natur hinaus, einer Natur, die strukturell gedacht wird und nicht in ihrer sinnlichen Erscheinung und ihrem mentalen Nachvollzug bei Komponist und Hörer. Man kann, so Scheibe, nach Regeln der Natur komponieren und dennoch entgegen der Natur des Dargestellten handeln, nämlich seine erscheinende, sinnlich evidente Natur. Mit diesem phänomenologischen, auf das subjektive Erleben abzielenden Naturbegriff ist Scheibe denkbar weit vom zahlhaften Naturbegriff eines Andreas Werckmeister oder Johann Heinrich Buttstett – und auch Lorenz Christoph Mizlers, seines erklärten Gegners – entfernt. Schon hier zeichnet sich ab, dass Regeln, deren Geltungsgrund diese Natur ist, ergebnisorientiert sein müssen – oder andernfalls schlicht unnatürlich sind.122 Wie hier die Erfahrung hineinspielt, blitzt in einer kleinen Bemerkung Scheibes auf. Auch bei den musikalisch Unerfahrenen, so Scheibe, tun die recht verstandenen Regeln, was sie tun sollen: Eine nach ihnen komponierte Musik verursacht »eine angenehme Empfindung«. Hieraus lässt sich im Umkehrschluss ableiten, dass Erfahrung bedeutet, in genau diesem Wirkungszusammenhang über Klarheit und souveräne Regelhandhabung zu verfügen. Was der Unerfahrene nur als Wirkung erlebt, ist dem Erfahrenen als das »Regelmäßige« bewusst – und das kann nun nicht nur heißen: der Erfahrene kennt die Regeln, sondern: der Erfahrene kennt das dialektische Wechselspiel zwischen Regeln an sich und der in die Autorität des Subjekts fallenden Anverwandlung von Regeln: »Daraus muß der Componist [...] erkennen lernen, wie er durch eine gewisse Ordnung der Töne die Menschen bewegen und einnehmen muß. Die fast unendliche Veränderung der musikalischen Klänge wird [...] durch eine critische Einsicht in den guten Geschmack, und endlich durch einen fähigen Verstand, der alle Compositionsregeln mit Unterschied und aus Erfahrung zu beurtheilen und anzuwenden weis, hervorgebracht, erkannt, und noch täglich mehr erweitert.«123 Bezeichnenderweise fällt diese Aussage nach einem (wohl gegen Mizler gerichteten) Angriff auf die »mathematische Lehrart«124 in der __________ 122
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Vgl. hingegen die einseitig auf Gottsched hin ausgelegte, weder das Komplement der Erfahrung noch die in den decoralen Kontext weisende Wirkungsorientierung des Naturbegriffs berücksichtigende Interpretation bei Joachim Birke: Christian Wolffs Metaphysik und die zeitgenössische Literatur- und Musiktheorie: Gottsched, Scheibe, Mizler. Berlin 1966, S. 57ff. Dass Regeln in der Natur gegründet sein müssen, konnte Scheibe schon an anderer Stelle und früher als bei Gottsched nachlesen, bei Heinichen, und dort schon mit der Kurzschließung vom Naturgrund der Regel und der Natürlichkeit ihrer Anwendung (»nutzbahr«): »alle unserer nutzbahre Regeln müssen vorhero aus der Natur selbst genommen, und dieser Herrscherin ihr Wille, Neigung, und Eigenschafft [...] gleichsam cum submissione abgemercket werden«. Heinichen: Der General-Bass in der Composition (Anm. 5), S. 19. Scheibes intellektueller Horizont ist nicht nur der gottschedsche Rationalismus, sondern, viel bedeutsamer, das Natürlichkeitsideal der Galanterie und seine juridischen Implikationen. Scheibe: Critischer Musikus (Anm. 102), S. 660 (72. Stück, 12.1.1740). Ebd.
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Musik. Offenbar besteht diese aus einer Sorte von Regeln, die nicht in sinnvolles und wirkungsorientiertes Komponieren überführbar sind oder, um es thomasianisch zu sagen: die als imperium und nicht als consilium auftreten. Für geeigneter hält Scheibe »physikalische und moralische [...] Gründe«.125 Hier kann die kompositorische Erfahrung ansetzen.126 Wie wir gleich sehen werden, entspricht dieser Ausschluss der intervallarithmetischen Regeln – denn diese sind gemeint mit der »mathematischen Lehrart« – nicht der Position Heinichens. Heinichen hält auch diese Gesetzmäßigkeit für kompositorisch umsetzbar durch Erfahrung. Scheibe scheint es hier vor allem darauf anzukommen, die Funktionsweise von Erfahrung als konkrete affektive Realisierung durch Töne und Klänge zu fassen. Die Erfahrung umfasst aber nicht nur die praktische Kenntnis der Kompositionstechniken und der Ausführung, sondern zugleich ihre reale affektive Erlebnisqualität in musikalischer Echtzeit.127 Scheibe scheint, ohne dass es ihm gelingt, besonders prägnant zu argumentieren, ein Vermögen dingfest machen zu wollen, das die Töne und Klänge in eine Verlaufsform bringt, die nicht nur nicht falsch, sondern regelgemäß in dem Sinne ist, affektiven Sinn zu stiften. Dieser Vorgang ist von Situation zu Situation ein anderer. Die affektive Realisierung von Regeln, die den Status des consilium haben, ist selbst keine Regel, sondern ein Normierungsvorgang; dies meint der von Heinichen gewissermaßen in Anführungszeichen gesetzte Begriff der ›Erfahrungs-Regel‹. Musikalische Erfahrung muss daher als Normierungsinstanz begriffen werden in dem Sinn, dass sie ein Erinnerungsort für konkret stattgefundene normative Abgleiche zwischen kompositorischen Regeln und der tatsächlichen sinnlichen Wirkung bei ihrer Anwendung bei sich selbst und bei anderen ist, der bei jedem neu auftretenden Normierungsproblem sein Wissen bereitstellt. __________ 125 126
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Ebd. Vgl. ausführlicher das ganz dem Erfahrungsbegriff gewidmete 3. Stück: »Die Theorie zeiget fast alles, was ein Meister der Musik wissen soll. Wir lernen daraus die Gründe verstehen und einsehen, die zur Verfertigung eines musikalischen Stückes gehören. [...] Und endlich erfahren wir auch aus der Theorie die wahren Eigenschaften der Leidenschaften der Gemüthsbewegungen und aller derjenigen Dinge und Sachen, die ein Componist ausdrücken, rühren, bewegen und nachahmen soll. Das alles ist aber noch nicht die Composition selbst. Es sind solches nur die Theile, aus welchen die Ausübung endlich entsteht, und die also ein jeder theoretischer Musikus, ohne dießfalls ein praktischer zu seyn, verstehen soll. Nunmehro setzt die Erfahrung zu allen diesen theoretischen Anmerkungen, in Ansehung der Ausübung, endlich die Anwendung aller vorerkannten Sätze. Und dieses ist also die Composition selbst [...].« Scheibe: Critischer Musikus (Anm. 102), S. 35 (3. Stück, 2.4.1737). »Und dieses also ist die Composition selbst, welche uns anführet, musikalische Stücke zu erfinden, zu entwerfen und auszuarbeiten. Da aber diese Art der Ausübung mit einer gehörigen Fertigkeit und Fähigkeit, alles in gehöriger Ordnung, und mit einer, bey der Musik höchstnöthigen, Geschwindigkeit zu verrichten, verbunden seyn muß: so habe ich dieses alles durch das Wort, Erfahrung, am füglichsten auszudrücken geglaubet. Und wie man hieraus sieht, so besteht die Erfahrung erstlich aus der Composition eines Stückes an sich selbst, und dann ferner, aus einer besondern Fertigkeit und Fähigkeit zu arbeiten.« (Ebd.)
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Wie die musikalische Erfahrung genau arbeitet und welche konkreten kompositorischen Konsequenzen sich ergeben, wird viel deutlicher bei Heinichen, denn Heinichen gibt Beispiele. Eine Arie aus seiner eigenen Oper Der angenehme Betrug sei von einem »Horribilicribrifax« der Verletzung musikalischer Regeln bezichtigt worden.128 Heinichen rechtfertigt sich, er habe hier ganz und gar nicht »aus Ignoranz und absque Judicio« gehandelt, vielmehr »das Gehöre zurathe« gezogen.129 Der Begriff der Erfahrung fällt hier, in der ersten Generalbasslehre von 1711, noch nicht, freilich die Merkmale der Urteilskraft und der sinnlichen Evidenz des Gehörten, die dann 1728 den Begriff der Erfahrung konstituieren. Dort tauscht Heinichen das Beispiel der Opernarie gegen einen Ausschnitt aus einer italienischen Solokantate »eines berühmten und fundamentalen Autoris«130 aus, dessen Verstöße gegen imperiale Regeln nun ausdrücklich mit der Kategorie der Erfahrung gerechtfertigt werden; auf derlei Verstöße bezieht sich die Bemerkung der »auff dem Pappiere offt schlecht aussehende Vortheile, welche uns die Erfahrung an die Hand giebet«.131
Notenbeispiel 1: Johann David Heinichen: Neu erfundene und Gründliche Anweisung [...]. Hamburg 1711, S. 4–6
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Vgl. den Beitrag von Michael Maul im vorliegenden Band. Heinichen: Neu erfundene und Gründliche Anweisung (Anm. 39), S. 6. Heinichen: Der General-Bass in der Composition (Anm. 5), S. 17. Anm. 118.
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Notenbeispiel 2: Johann David Heinichen: Der General-Bass in der Composition, Dresden 1728, S. 17–18
Es zeigen sich hier zwei unterschiedliche satztechnische Problemstellungen. Die erste sind indirekte Parallelen; sie finden sich 1711 in der Opernarie und 1728 in den ersten drei von Heinichen selbst mit Stern markierten Stellen der Kantate.132 Die Parallelen in den ersten drei Takten des Beispiels von 1728 springen in die Augen. Zwischen T. 2 und 3 werden der mit Stern markierte Ton im Sopran und der obere Ton des latent zweistimmigen Basspendels in Quinten geführt. ›Indirekt‹ sind sie, insofern dazwischen mehrere andere Töne liegen, die sogar zu Gegenbewegungen führen. Aber die Quinten werden wahrgenommen, weil sie auf denselben Akzentstufen liegen; daher wird in der Theorie oft auch von Akzentparallelen gesprochen. Die Quintparallele vom ersten zum zweiten Takt ist ebenfalls indirekt, allerdings nicht akzentuiert. Wahrscheinlich ist der Stern irrtümlich falsch gesetzt; Heinichen kann kaum die akzentuierte ›Hornquinte‹ f-a → c-g, der Theorie nach eine verdeckte Parallele, meinen. Fasst man die erste Note im Sopran als die problematische auf, ergibt sich eine unverdeckte, indirekte Quinte mit dem oberen Ton des Basspendels. Die zweite mit Sternen markierte Stelle in den Takten 12 und 14 ist kein Parallelen-, sondern ein Dissonanzproblem; dazu unten. Im Beispiel von 1711 musste der »Horribilicribrifax« die Parallelen geradezu suchen (markiert durch die von mir, R.B. eingezeichneten Striche). Zwar handelt es sich teilweise sogar um direkte und unverdeckte Parallelen, aber auf weit auseinanderliegenden Akzentstufen. Beim Taktwechsel T. 1/2 werden Sopran und Bass in direkten, offenen Oktavparallelen geführt, sofern man die Achtelpause im Bass ignoriert und davon ausgeht, dass das es im Bass auch während der Pause präsent bleibt. Allerdings werden die Töne auf zeitlich weit auseinanderliegenden Taktstufen angeschlagen; es handelt sich um die beiden schwerpunktmäßig am weitesten entfernten Zählzeiten, die Takteins und das letzte Sechzehntel auf der Taktdrei. Diese krude Ungleichzeitigkeit gilt auch für die weiteren Parallelen des Beispiels; auf sie scheint Heinichen bei seiner Verteidigung hinauszuwollen. Beim Taktwechsel T. 2/3 werden Alt und Bass in __________ 132
Zur satztechnischen Praxis verdeckter und indirekter Parallelen im frühen 18. Jahrhundert vgl. instruktiv Thomas Daniel: Der Choralsatz bei Bach und seinen Zeitgenossen. Eine historische Satzlehre. Köln 2000, S. 81–95. Heinichen bezeichnet 1711 die inkriminierten Stellen als »verdeckte Quinten und Octaven« (Anm. 39, S. 6). Da er damit offenkundig sowohl die verdeckten als auch die indirekten Parallelen meint, verwende ich im folgenden die präzise Terminologie Daniels.
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einer verdeckten Parallele von der Quint in die Oktav geführt; dasselbe gilt zwischen Sopran und Bass bei T. 5/6. Die Oktavparallele zwischen Alt und Bass bei T. 5/6 ist nicht nur unakzentuiert, sondern eine gleichsam nachträgliche Parallele, da das as im Alt mit der Verzögerung einer Sechzehntel eintritt. Bei T. 6/7 finden sich, wie bei T. 1/2, unakzentuierte Oktaven zwischen Tenor und Bass. Warum und wie nun legitimieren sich für Heinichen die Parallelen durch »das Gehöre«? Erstens dadurch, dass fast alle Parallelen unakzentuiert und indirekt sind. Zweitens dadurch, dass die Zwischentöne, die für eben diese Unakzentuiertheit und Indirektheit sorgen, zu einer Pendelbewegung gehören. Das Pendel bewirkt nicht nur die rhythmische Verzögerung im Anschlag der Parallelen, es setzt den jeweils abwärts verlaufenden Parallelen eine Aufwärtsbewegung der Phraseneinheiten entgegen. Das mögliche Wahrnehmen einer schlechten Abwärtsparallele wird vereitelt und damit im sinnlichen Gesamteindruck egalisiert durch die starke Wahrnehmung der Aufwärtsbewegung. Heinichens Argument, das Gehör toleriere solche auf dem Papier bestehenden Parallelführungen, meint also im Kern, dass sich der sinnliche Eindruck, der aus einem formalen Tonsatzfehler resultiert, verrechnen lässt mit den sinnlichen Eindrücken, die durch andere Faktoren des Tonsatzes zustande kommen. Es ist die musikalische Erfahrung, die hier im Sinne von Adornos Erfahrungsbegriff die musikalische Logik der Stelle als ganze erfasst. Der ›Fehler‹ der Parallelführung ist mithin kein absoluter Fehler. Er ist kein Verstoß gegen eine unbedingt geltende Norm, weil der Normierungsvorgang den Nachteil dieses ›Fehlers‹ in Beziehung setzen kann mit den Vorzügen anderer Gründe, die mit dem ›Fehler‹ wechselwirken. Dieses Inbeziehungsetzen geschieht also im Hinblick auf ein klangliches Gesamtergebnis, das nur formal, aber eben nicht dem sinnlichen Eindruck nach auseinanderdividiert werden kann. In genau diesem Sinn ist der Normierungsvorgang hier erfahrungsbasiert und ergebnisorientiert. Komplizierter ist der zweite Fall, die vierte und fünfte mit Stern markierte Stelle von 1728. Im Unterschied zum Beispiel von 1711 sagt Heinichen weder, was der »Theoreticus« und »Praeceptor«133 zu beanstanden hat, noch warum die Stelle dennoch musikalisch legitim sein soll. Das gekennzeichnete c der Singstimme (T. 14) scheint harmonisch falsch zu sein: Während der Bass zwischen Dominante (T. 11 und 13) und Tonika (T. 12 und 14) wechselt, verharrt die Singstimme durch eben das c auf der Dominante; man fasst die Tonfolge d-c in den Takten 12 und 14 als 6-vor-5-Vorhalt bzw. das c als Sekundvorhalt zum Grundton b auf. Der springende Punkt ist, in aller Schärfe, dass im Bass eine Auflösung in die Tonika stattfindet, in der Singstimme nicht. Was kann daran im höheren Sinn ›richtig‹ sein, wo es doch auch dem Ohrenschein nach ›falsch‹ klingt? Greifen wir Heinichens Argumentation aus dem ersten Fall auf: Die Inadäquatheit der Parallelendiagnose bestand dort darin, dass sie punktualistisch einen Zeitpunkt seziert, obwohl der Höreindruck gerade nicht punktualistisch sich bildet, sondern aus einem Kontinuum mehrerer aufeinanderfolgender __________ 133
Heinichen (wie Anm. 5), S. 18.
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Zustände. Aus letzterem resultiert das gut/schlecht-Urteil, auf dem die normative Geltung der kompositorischen Verfahrensweise gründet. Diese Einheit eines Kontinuums formiert sich auch im zweiten Fall, allerdings über einen großen, beinahe provozierend gestreckten Zeitraum. Nimmt man in den Takten 14 und 16 die durch die Basstöne gegebene Tonika als die dem Höreindruck nach stärkere harmonische Funktion an – zumal auch schon bei den ersten drei markierten Stellen die Harmonik taktweise wechselt –, dann empfindet man, dass in der Singstimme der zu erwartende Auflösungston b, der die melodische Linie zu d-c-b komplettieren würde, verweigert wird. Im Kontinuum der gesamten Stelle wird der Eintritt des dringlich erwarteten Tons hinausgezögert bis in den darauffolgenden Takt: Dort endlich tritt das b ein, während der Generalbass durch den Sextakkord, in dem die Tonika sich nun präsentiert, bereits die Ahnung des baldigen Verlassens der Tonika (im nächsten Takt) vermittelt. Die Einheit des Höreindrucks, an dem sich für Heinichen hier ein gut/schlecht-Urteil zu bilden hat, ist äußerst großräumig. Der Erweis der Richtigkeit eines einzigen Tonsatzregelfalls kann sich im extremen Fall über den Klangraum und die Erlebniszeit mehrerer Takte hinweg erstrecken. Eben darin besteht nun die Verfügungsgewalt und die Autorität des galanten Komponisten: die Empfindungseinheit in ihrer engeren und weiteren Ausdehnung und ihrem inneren Spannungsverlauf selbst zu generieren. Diese Generierung entspringt musikalischer Erfahrung. Heinichens Beispiele intendieren eine Demonstration, wie die Instanz der Erfahrung starre Tonsatzregeln in realen Tonsatz überführt. Diese Realisierung erfordert und erzeugt musikalischen Zeitraum. Regeln realisieren sich in musikalischer Zeit, einer Dimension, die sie »auff dem Pappiere« nicht haben und die sie die Realisierung dann als ›falsch‹ beurteilen lässt, wenn die Beurteilung des Tonsatzes die musikalische Erlebniszeit analytisch wegfiltert. Musikalische Erfahrung zeigt sich in den Beispielen als Fähigkeit, musikalische Verläufe in der Zeitdimension aufzufassen, zu beurteilen und zu generieren. Ziemlich präzise dem kantischen und adornoschen Verständnis entsprechend bildet musikalische Erfahrung, wie Heinichen sie skizziert, einen in der Logik von Verläufen gegebenen musikalischen Sinn, dessen Modalität Zeit ist. Der mit musikalischer Erfahrung wahrgenommene gegenwärtige Moment enthält die Fülle von Informationen über die Logik der Verläufe der zu einem bestimmten Gegenwartszeitpunkt erscheinenden Merkmale. Die musikalische Erfahrung verfügt also spontan über die Gründe, aus denen der gegenwärtige Zustand eines Verlaufs sich erklärt. Zugleich hat sie begründete Vorahnungen, wohin der Zustand sich entwickeln wird. Der musikalisch Erfahrene hat ein inneres musikalisches Zeitbewusstsein134 ausgebildet, das Grundlage seiner Urteilsbildung ist; der Grad von __________ 134
Zwei klassische Abhandlungen zur Wahrnehmung von Zeit als Verschränkung einer Erinnerung an unmittelbar vergangene Momente (Husserl: Retention) und einer erfahrungsgenerierten Mutmaßung über künftige Zustände (Husserl: Protention): William James: The Perception of Time. In: Journal of Speculative Philosophy 20 (1886), S. 374– 407, dt.: Die Wahrnehmung der Zeit. Ed. in: Klassiker der modernen Zeitphilosophie. Hg. von Walther C. Zimmerli und Mike Sandbothe. Darmstadt 22007, S. 31–66; Edmund
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Erfahrenheit und Unerfahrenheit bemisst sich dann nach dem Grad der Ausbildung dieses Zeitbewusstseins. Ein solcher Erfahrungsbegriff ist offensichtlich historisch neu, denn Heinichen gründet ihn auf ein neues, galantes Verständnis von musikalischer Normierung und auf den neuen musikalischen Stil, der aus jener hervorgeht. Der Erfahrungsbegriff, den Heinichen und Scheibe geradezu nobilitieren als die Instanz, die die pedantische alte Regelstarre überwindet, ist das eigentliche Zentrum, das Je ne sais quoi galanter Normativität. Er transportiert Regeln nach dem Muster, nach dem Normsetzung im decorum überhaupt erfolgt: Er fasst sie auf als Gründe, die keine absolute Geltung haben und daher nicht an sich in musikalisches Handeln umgesetzt werden; er fasst sie auf als Ratschlag, dessen normativer Geltungsgrund nur bei dem liegt, der ihn anwendet. In dieser Funktion von Gründen und Ratschlägen gehen die Regeln des musikalischen Satzes als Faktoren in eine – zeitlich ausgedehnte! – Handlungssequenz ein. Die Sequenz als ganze soll einen Zweck (musikalisch: eine emotionale Wirkung) realisieren, nicht die Gründe, Regeln und Bedingungen als solche. Diesen decoralen Normierungsvorgang zu durchschauen und kompositorisch wie rezipierend spontan zu beherrschen, heißt musikalische Erfahrung haben.
4. Transformation der imitatio naturae Jede Norm setzt, allgemein gesprochen, eine ›Natur‹ voraus, aufgrund derer sie gilt – jedenfalls um 1700. Gegenwärtige Normtheorien tendieren dazu, die Geltung von Normen und Regeln strikt kontraktualistisch aufzufassen und Referenzen auf irgendeine Natur für normtheoretisch irrelevant oder gar falsch zu erklären. Der Grund für diese gegenwärtige Verfahrensweise ist einfach, dass das eine mit dem anderen nicht zusammenhängt. Kein Normensystem gilt, weil es auf irgendeiner natürlichen Gegebenheit basiert. Und umgekehrt lassen sich aus irgendeiner natürlichen Gegebenheit keine Normen zwingend ableiten.135 Im 18. Jahrhundert gilt aber selbst für das thomasianische decorum: Normen gelten, weil sich ihre Kombination aus einer Situation S und einer Anweisung X auf etwas bezieht, das ist, wie es ist, und man daran nicht vorbei kann. Dieses Gegebensein kann als Natur bezeichnet werden, entsprechend das daraus entspringende Recht als Naturrecht. Wer sich dem Naturrecht gemäß verhält, ›ahmt‹ die Natur in gewisser Weise ›nach‹. Wenn man etwa ciceronisch einem Künstler Geschmack attestiert, dann ist mitgemeint, dass dem Künstler die imitatio naturae gelungen ist, denn sein Geschmack unterliegt allgemeinen, objektiven Naturbedingungen. Allerdings scheint es gerade der Normbezirk des decorum zu sein, in dem der Geltungsgrund der Natur einen weit reichenden __________
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Husserl: Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins (1905–1917). In: Jahrbuch für Phänomenologie und phänomenologische Forschung (1928). Hg. von Martin Heidegger. Ed. in: Husserliana Bd. X: Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins. Hg. von Rudolf Boehm. Den Haag 1966. Stellvertretend für viele moderne Normtheorien Hart (Anm. 18), S. 255ff.
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Bedeutungswandel durchmacht und der in die Richtung der modernen kontraktualistischen Theorien weist. Die um 1700 omnipräsente Rede von der Natur als Fundament, von der Natur als Herrscherin, von der Nachahmung der Natur in den Künsten hat damit von vornherein juridischen Charakter, selbst da, wo eine gegenständliche Nachahmung zur Debatte steht, erst recht aber, wie in der Musik, wo es um Imitieren von physischen Gegenständen gar nicht gehen kann. Imitatio naturae heißt, nach den Gesetzen der Natur zu handeln. Es wäre viel gewonnen in der musikhistorischen Forschung zum Natur- und zum Nachahmungsbegriff des 18. Jahrhunderts, würde sie diesen juridischen Charakter mit allen seinen Implikationen einbeziehen. In nun schon vielen Facetten ist in der bisherigen Untersuchung zutage getreten, dass gerade in der juridischen Struktur des decorum ein spezifisches Naturverständnis waltet, das sich von der Natur etwa im iustum – Natur dort gegeben als natürliche Existenz dessen, das Geltungsgrund der Gesetze des iustum ist, also des Gesetzgebers – grundlegend unterscheidet. So oft wie nie zuvor ist in der Musiktheorie nach 1700 von Natur die Rede: Heinichens Natur als »Herrscherin«136; Matthesons Diktum vom »Brunnen der Natur«, aus dem die Musik schöpfe.137 Noch nie aber war so unklar, was mit Natur gemeint ist. Diese Unklarheit hat System. Samuel Pufendorf und Thomas Hobbes, die Mattheson zumindest mittelbar über Thomasius, wahrscheinlich aber auch unmittelbar gelesen hat, gehen in ihren Staatslehren von einem Naturzustand der Gesellschaft aus, der aber als solcher gar nicht greifbar ist.138 Erst mit dem Gesellschaftsvertrag wird ein zivilisierter Zustand erreicht, der wie eine zweite Natur die Grundlage von Handeln und Urteilen ist. Sicher ausschließen lässt sich schon aus der Evidenz der beiden Formulierungen Heinichens und Matthesons, dass mit Natur die Musik selbst gemeint sei und daraus eine so enge Kurzschlüssigkeit des Nachahmungsgebots resultiere, dass damit das Gebot faktisch außer Kraft gesetzt würde.139 Zwar ist ein Richtiges angedeutet mit der Kurzschlüssigkeit im Nachahmungsvorgang; man vergleiche etwa Heinichens (für Matthesons Diktum im Vollkommenen Capellmeister wahrscheinlich die ungenannte Quelle abgebende) Äußerung, dass »der Brunnen, woraus man diese General-Bass Regeln schöpfen müsse, nemlich die Composition selbst von eben solcher veränderlichen Natur ist«.140 Aber hier ist von Regeln die Rede, die in einer musikalischen Natur gründen, überdies von einer prinzipiellen Veränderlichkeit dieser musikalischen Natur. __________ 136 137
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Anm. 122. Es sei ausgemacht, »daß die Tonkunst aus dem Brunnen der Natur ihr Wasser schöpffet; und nicht aus den Pfützen der Arithmetik.« Mattheson: Der Vollkommene Capellmeister (Anm. 63), S. 20. Hans Medick: Naturzustand und Naturgeschichte der bürgerlichen Gesellschaft. Göttingen 1 1973, 21981, behauptet zugespitzt, im Sinn der Gesellschaftslehren Pufendorfs und Hobbes’ sei der Naturzustand eine bloße »nominalistische Fiktion« (S. 43). So Laurenz Lütteken: Matthesons Orchesterschriften und der englische Sensualismus. In: Musikforschung 60 (2007), S. 203–213, hier: S. 210. Heinichen: Der General-Bass in der Composition (Anm. 5), S. 20.
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Dieses Bild eines Geflechts von normativen Vorgängen und seltsam weichen Naturbegriffen muss scharfgestellt werden, um zu tragfähigen musikhistorischen Aussagen zu führen. Auch ist nichts für den musikalischen Nachahmungsbegriff gewonnen, wenn man der Zeit ab 1700 das Bewusstsein »mimesistheoretischer Aporien« der Musik bescheinigt,141 die aus dem simplen Umstand rühren sollen, es gebe in der Musik eben nichts physisch Gegenständliches nachzuahmen. So kommt man nicht weiter bei der Beantwortung der Frage, warum auch und gerade in der Musik der Nachahmungsbegriff nirgends verworfen, vielmehr geradezu ubiquitär verwendet wird, angefangen bei Heinichen, der die musikalischen Regeln (man kommt um Normativität einfach nicht herum!) der Natur »abmercken« will,142 über Mattheson, der aus der Natur »schöpffen« möchte,143 und Telemann, der die »bloße Natur [als] seine »Lehr-Meisterin« angibt,144 bis hin zu Hillers brillanter Abhandlung von der Nachahmung der Natur in der Musik,145 ganz abgesehen von Thomasius’ emphatischer Frage, wie man »denen Frantzosen [...] nachahmen solle«146 und allen Begriffen musikalischer Galanterie, mit denen die Autoren dem thomasianischen Denken nacheifern. Bleibt schließlich die Kategorie der Natürlichkeit, deren Verknüpfung mit dem Nachahmungsbegriff durchaus komplex zu sein scheint: einmal vermeintlich simpel bei Scheibe als Charakteristikum vom Musik, die das Nachahmungsgebot befolgt und damit natürlich ist,147 einmal dem Nachahmungsgebot Einspruch entgegensetzend, wenn in der französischen Conduiteliteratur als natürliches Verhalten gilt, wenn man sich von der gezwungenen Nachahmung der Manieren des Fürsten148 löst. Die Aufgabe für die Musikforschung, die Begriffe von Natur und Naturnachahmung im frühen 18. Jahrhundert zu klären, ist entsprechend groß. Hier helfen weder ein Begriff von musikalischer Natur weiter, bei dem man gar nicht auf den Gedanken kommt, dass der entscheidende Punkt das aus einem jeweiligen Naturbegriff abgeleitete Recht auf bestimmtes musikalisches Handeln ist,149 noch jüngere __________ 141 142 143 144
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Lütteken (Anm. 139), hier: S. 210. Heinichen (Anm. 5), S. 19. Anm. 137. Georg Philipp Telemann: Zweite Autobiographie (1729). In: Johann Gottfried Walther: Musicalisches Lexicon. Leipzig 1732, S. 596. In: Friedrich Wilhelm Marpurg: Historisch-kritische Beyträge zur Aufnahme der Musik. Berlin 1754ff. Reprint Hildesheim u.a. 1970. Bd. I 6 (1755), S. 515–543. Hillers Studie dekonstruiert den musikalischen Nachahmungsbegriff tatsächlich. Allerdings geschieht das vermittels einer Kategorie, die dem frühen 18. Jahrhundert noch fremd ist und den spezifisch musikalischen Nachahmungsbegriff etwa bei Mattheson gerade nicht erklärt: Ausdruck. Noch radikaler wird musikalische Nachahmung in musikalischen Ausdruck transformiert bei Johann Gottfried Herder: Viertes Wäldchen über Riedels Theorie der schönen Künste (1769, postum 1846 erschienen). In: Ders.: Werke in 10 Bänden, hier: Bd. 2 (Schriften zur Ästhetik und Literatur 1767–1781), S. 247–442. Anm. 11. Anm. 121. So etwa bei Nicolas Faret: L’Honneste Homme ou l’Art de plaire à la covrt. Paris 1630, besonders S. 103f. So bei Schleuning (Anm. 34).
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kulturwissenschaftliche Forschungen, die vor allem auf Kurioses, Monströses und Disparates im Naturbegriff der Zeit abheben.150 Im folgenden können nur Umrisse eines Projekts freigelegt werden, das einen musikalischen Naturbegriff entwickelt, der von der Funktion ausgeht, die die Instanz der Natur für die Musiktheoretiker und Komponisten um 1700 hatte: Geltungsgründe für das Komponieren von Musik und das Urteilen über Musik zu gewinnen. Die Skizzierung beginne beim Begriff ›natürlich‹, bei Scheibe und anderen das Adjektiv von ›Natur‹. Den gesellschaftlichen Zwang zum zwanglos ›natürlichen‹ Verhalten artikuliert die Literatur der Conduite. Im französischen honnête-, ab dem späteren 17. Jahrhundert galant-homme-Ideal ist ›naturel‹ direkt einem als »artifice« oder »pédant« charakterisierten, als »étude laborieuse des doctes«151 verspotteten Verhalten entgegengestellt. Das lässt sich normstrukturell am besten über die Situationsklausel S von Normen verstehen. Der Pedant tut sich einfach damit zu entscheiden, nach welcher Anweisung X er handeln soll. Er stellt fest, welche Situation S vorliegt, und handelt nach der Norm, die genau S und sonst nichts in der Situationsklausel enthält. Das Pedantische daran ist, dass S noch so speziell sein kann; der Pedant ist überzeugt, dass mit S seine Situation vollständig charakterisiert ist und es an der Angemessenheit von X keinen Zweifel gibt. Die galante Natürlichkeit ist eine Art und Weise, S zu fassen. Ihr S unterscheidet sich vom S des Pedanten dadurch, dass die Situation komplexer, multifaktorieller und veränderlich ist. Der galant-homme glaubt nicht, dass sich seine Situation durch ein spezielles S zeitunabhängig und vollständig beschreiben lässt. Er sieht sich genötigt, seine Situation durch viele verschiedene S zu charakterisieren; die Gesamtheit der vielen S ist das ›Natürliche‹. Dementsprechend sieht er sich mit vielen verschiedenen Anweisungen X konfrontiert, die nicht ohne einen abwägenden decoralen Normierungsvorgang auf einen Nenner gebracht werden können. Scheibes Kritik an der italienischen Oper weist genau diese galante Auffassung von S auf. Die italienischen Opern seien »unnatürlich«152 in der Wahl der Singstimmen und der Anlage der vokalen Partien. Diese Kritik erklärt sich nicht allein damit, dass man in ihr den gottschedschen Standardeinwand gegen die Opernästhetik wiederfindet, die Menschen verhielten sich im alltäglichen Handeln ›natürlicherweise‹ nicht wie in der Oper. ›Natürlicherweise‹ wird singenderweise überhaupt nicht agiert, auf dem Affektpegel und mit dem Theateraplomb der Oper schon gar nicht. Dieses nicht falsifizierbare Totschlagargument kann Scheibe nicht meinen. Der zentrale Punkt in Scheibes Argument ist, dass die Singstimme einen absoluten Stellenwert eingenommen hat in dem Sinn, dass sie nicht gegen andere Faktoren und Nebenbedingungen abgewogen wurde. Das S in der Norm einer italienischen Opernarie sieht er zu stark eingeschränkt auf den Gesang an sich. Die Möglichkeit virtuoser __________ 150
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Z.B. Lorraine Daston und Katherine Park: Wunder und die Ordnung der Natur 1150–1750. Berlin 2002. Nachweise bei Maurice Magendie: La Politesse mondaine et les théories de l’honnêteté, en France au XVIIe siècle, de 1600 à 1660. Paris 1925. Reprint Genf 1993, S. 858. Scheibe: Critischer Musikus (Anm. 102), S. 154 (16. Stück, 1.10.1737).
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stimmlicher Entfaltung wird, so sein Vorwurf, in der Handlung zu einem dominierenden normativen Faktor, der S um wichtige andere Faktoren schmälert. Es wird damit vielleicht so manche Gier nach Goldkehlchenerotik befriedigt, nach den Maßstäben aber ist die Handlung erfolglos, weil sie den ›Finem musices‹ (Heinichen), beim gesamten Publikum Affekte zu erregen, nicht erreicht. In präzis bestimmbarer Weise also ist Scheibes Unterscheidung natürlich/unnatürlich in der Opernmusik eine Frage der Situationsklausel in musikalischen Normen. ›Natürlich‹ meint normstrukturell: Es wird ein komplexes, multifaktorielles S konstatiert; aus diesem S kann nicht die eine, ausschließliche Norm bestimmt werden, wie verfahren werden soll; die vielen Aspekte von S lassen viele Normen relevant werden, die in einem decoralen Normierungsvorgang abgewogen werden müssen. Der Umkehrschluss führt zum Je ne sais quoi. Was unnatürlich ist, kann Scheibe genau angeben; was genau natürlich wäre, könnte er nicht bestimmen. Wenn natürliches Verhalten als das Ergebnis eines handlungsrationalen Normierungsvorgangs im galanten Handeln zu begreifen ist, werden die Merkmale explizit natürlichen Verhaltens in jeder Situation neu bestimmt. Insofern man also klugerweise darauf verzichtet, die normative Geltung des musikalischen Natürlichkeitsgebots (ohne Unterschied, ob produktiv oder rezeptiv) auf irgendeine ›natürliche‹ Disposition zu gründen,153 im Fall der Vokalästhetik der Oper zum Beispiel darauf, dass bestimmte stimmliche Eigenschaften im Hörer mit Sicherheit und unabhängig von anderen Bedingungen wie der Dramaturgie des Stücks oder musikalischer Faktoren diese oder jene affektive Wirkung haben, wird die Frage, was natürliches Singen sein soll, von Opernhaus zu Opernhaus, von Oper zu Oper, von Arie zu Arie neu ausgehandelt werden müssen. In einer weiteren Kritik, die die vokale Einrichtung von Kantaten ins Visier nimmt, gebraucht Scheibe den Begriff der Natur, in dem ohne alle Aporien der Nachahmungsgedanke aufscheint (»folgen«). Dieser bedeutet nicht mehr und nicht weniger, als die Orientierung des musikalischen Handelns an Normen nachzuvollziehen, derer man sich auch in lebensweltlichen Situationen bedient, will man zu galantem Verhalten finden – wodurch sich ganz nebenbei erklärt, warum »Natur und Vernunft« in einem Atemzug, ja beinahe synonym fallen: »Es muß [...] der Componist in der Eintheilung derselben in die Singestimmen gewissen Umständen folgen, wenn er nicht auf eine lächerliche Art wider die Natur und Vernunft verstoßen will. Er muß also das Stück wohl durchsehen, und die Charaktere und Beschaffenheiten der singenden Personen genau bemerken [...].«154 Als ›natürlich‹ erweist sich musikalisches Handeln nicht im Sinn irgendeiner Ursprünglichkeit und von vornherein, sondern im Endeffekt. Nicht am Beginn __________ 153
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Vgl. die Analyse des aufgeklärten Naturbegriffs bei Panayotis Kondylis: Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus. München 1986, S. 348f. Das aufgeklärte Naturverständnis, so Kondylis, belässt die Seinsweise von Natur gewissermaßen im Hintergrund und hebt nur die rasche, einfache sinnliche Erkenntnisarbeit natürlichen Verhaltens hervor. Scheibe: Critischer Musikus (Anm. 102), S. 507 (54. Stück, 8.9.1739).
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des Handelns, sondern am Ende wird zwischen natürlich/unnatürlich entschieden. Orientierung an der Natur oder, wenn man so will, deren Nachahmung, so wie Mattheson, Heinichen und Scheibe sie einfordern, ist das Resultat eines galanten Rationalisierungsvorgangs von musikalischem Handeln. Im Resultat sind alle Gründe und Bedingungen im dialektischen Sinn aufgehoben: Sie zählen im galanten Urteil nicht mehr und werden selbst vom musikalisch Erfahrenen nicht je für sich wahrgenommen. Sie haben ihre Geltung nur kraft der Normativität, die für diese und nur diese musikalische Handlung generiert wurde. Das führt zum zweiten Schritt der Skizzierung eines musikalischen Naturbegriffs im frühen 18. Jahrhundert. Die einzige direkte Grundlage für ein musikalisches Urteil ist eben das klangliche Ergebnis – und weder Gründe noch Bedingungen noch Regeln noch der auf dem Papier stehende Notentext. Das heißt, die real erklingende Musik kann einzig nach ihrer sinnlichen Evidenz beurteilt werden. Dies meint Mattheson, wenn er sich gleich zu Beginn des NeuEröffneten Orchestre und dann, ausführlich, im Forschenden Orchestre John Lockes Erkenntnistheorie mit ihrem Sinnenprimat anschließt, »weil in den Sinnen selbst der eigentliche Ursprung aller Wissenschafft steckt«.155 Der sinnliche Eindruck von Musik ist der »Ursprung« des Urteilens über Musik nicht einem zeitlichen Beginn nach, sondern weil der sinnliche Eindruck überhaupt die einzige Materialgrundlage dieser »Wissenschafft« ist. Bei der Analyse der musikalischen Erfahrung war zu sehen, inwiefern diese Materialgrundlage ›oberflächlich‹ ist. Wer nach sinnlicher Evidenz urteilt, prüft nur das klangliche Ergebnis, nicht die Details der musikalischen Verfahrensweisen je für sich. Er beurteilt also den musikalischen Augenblick und hat im nächsten Augenblick sein Urteil wieder neu zu begründen. Mattheson formuliert, durch den Primat der sinnlichen Erkenntnis sei die Konstellation von Regeln »eben so veränderlich, als die Constellationes am Himmel«.156 Dieser Augenblick aber ist ein zeitlich ausgedehnter, nicht blind noch nackt, sondern voll Logik und Vernunft. Erst wenn man die sinnlich zu beurteilende Musik als Ergebnis eines normativen Prozesses auffasst und sein psychographisches Sediment Erfahrung berücksichtigt, lässt sich verstehen, warum Mattheson mit der sinnlichen Evidenz stets auch ihre Vernunftgemäßheit hervorhebt. Wesentlich sind zwei Aspekte. Erstens verzichtet decorale Normgeltung kraft sinnlicher Evidenz auf systematische und formale Vollständigkeit.157 Regeltechnisch gesagt: Sie glaubt nicht, dass sich die Situation, in der gehandelt werden muss, durch ein präzise eingegrenztes S bestimmen lässt. Sehr wohl aber enthält sie eine Beurteilung der logischen Stimmigkeit eines musikalischen Augenblicks, insofern sich innerhalb eines als sinnliche ›sensation‹ aufgefassten Moments musikalische Logik einstellt durch die zeitlich ausgedehnte Wechselwirkung verschiedener Beding__________ 155 156 157
Mattheson: Das Neu-Eröffnete Orchestre (Anm. 4), S. 4. Ebd. Vgl. die ausführliche Analyse dieses Geltungsgrunds bei Alexander Aichele im vorliegenden Band.
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ungen. Auf Grundlage sinnlicher Evidenz wird also durchaus vernünftig geurteilt, ohne dass die Vernunftgemäßheit als Befolgen einer gegebenen Regel beschrieben werden könnte. Zweitens sind – im Verständnis galanter Musikauffassung – sinnliche Urteile vernünftig, insofern sie am Ende eines decoralen Normierungsvorgangs stehen. Die handlungstheoretische Analyse des decorum hat gezeigt, dass die Reduktion der Normsetzung auf die alleinige Autorität des Handelnden, der dann auch aufgrund seines alleinigen sinnlichen Eindrucks urteilen muss, ein rekursiver Vorgang ist: Ihm ging die Abwägung des normativen Gewichts der einzelnen Bedingungen voraus. Dass hier unerheblich ist, ob man musikalisches Handeln produktiv oder rezeptiv auffasst, liegt auf der Hand.158 Woher sonst sollte sich Mattheson das Recht nehmen können, das Sinnenurteil vom bloßen Wahrnehmen »nackter« Sinnesdaten abzugrenzen,159 warum sonst könnte er behaupten, dass das »Urtheil der Sinnen« tatsächlich eines der »Seele« ist,160 warum sonst sollen die »Sensus« nicht »vor cörperliche Eigenschafften«, sondern »vor Seelen-Kräfte«161 aufzufassen sein? Jegliche Vereinfachung des Vorgangs auf den Sinneseindruck als »einziger Grundlage des Urteilens« 162 unterschlägt, dass der seelische Eindruck, seien dies Eindrücke von Sinnesdaten oder von emotionalen Zuständen (wie z.B. ›vernünftige Selbstliebe‹), gerade wenn sie ein komplexes Artefakt wie Musik zum Inhalt haben, durch einen Rationalisierungsprozess, der eigene und fremde, subjektive und objektive Sichtweisen integriert, mithin durch die Vernunft hindurchgegangen ist.163 Gibt es zu dem Prinzip, dass ein musikalisches Urteil primär auf der Grundlage sinnlicher Erkenntnis gefällt werden soll, kompositorische Korrelate? Ein solches Urteil, so lässt sich zusammenfassen, begründet sich nicht daran, ob Normen musikalisch umgesetzt werden, sondern an ihrer musikalischen Wirkung, einer Wirkung, die der Komponist (in einem vorausgegangenen decoralen Normierungsvorgang) kompositorisch schon ins Kalkül gezogen hat und nicht der Kontingenz der Aufführungsbedingungen, Hörhaltungen des __________ 158
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Anders Lütteken (Anm. 139), hier: S. 208, der das Vorrecht des sinnlichen Urteils nur dem Rezipienten zusprechen möchte. Dass diese Auffassung handlungstheoretisch unsinnig ist, kann man an den Beispielen, die Heinichen in den Vorreden der beiden Generalbasslehren und Mattheson im Neu-Eröffneten Orchestre geben, durchgängig sehen. Mattheson spricht von der »nuda illa perceptio sensibilium« und »nudae perceptionis«. Johann Mattheson: Das Forschende Orchestre, oder desselben Dritte Eröffnung. Hamburg 1721, S. 8 bzw. S. 9. Ebd., S. 8. Ebd., S. 28. Lütteken (Anm. 139), hier: S. 209. Eine systematische Aufarbeitung von Matthesons Sensualismus auf dieser Grundlage steht noch aus. Erforderlich ist vor allem der Brückenschlag vom Sensualismus zur komponierten Musik, der allein über die ästhetische Analyse der bei Mattheson und Heinichen gegebenen Musikbeispiele gelingen kann. Ian David Pearson: Johann Mattheson’s »Das forschende Orchestre«: The Influence of Early Modern Philosophy on an Eighteenth-Century Theorist, Diss. University of Kentucky 1992, und Donald R. Boomgaarden: Musical Thought in Britain and Germany During the Early Eighteenth Century. New York u.a. 1987 gehen über gröbste philosophische Einordnung nicht hinaus.
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Publikums usw. überlässt. Charakteristisch für kompositorische Korrelate solcher Urteile müsste also sein, dass ihre unmittelbar wahrnehmbare klangliche ›Oberfläche‹ die wirkungsästhetische Verflüssigung und das auf Wirkung angelegte Aufgehobensein von Normen, Regeln und Bedingungen ausstrahlt. Im parsonsschen Sinn müssen Normen, Regeln und Bedingungen als Deskriptionen ihres Wirkungszusammenhangs auftreten. Der spontane Satz, der auch dem erfahrenen Hörer einzufallen hätte, räsonierte er über die ästhetische Qualität der Musik, müsste Je ne sais quoi sein, und nicht: In diesem Takt waltet Regel x, in jenem Norm y. Als solche Korrelate kommen – mindestens – zwei musikalische Parameter in Betracht: Melodik und Harmonik. Längst erkanntes und beschriebenes Charakteristikum der Musiklehre nach 1700 ist das neue Interesse an der Melodik. In der abendländischen Musiktheorie seit Aristoxenos nicht mehr kodifiziert, bemühen sich namentlich Mattheson164 und Telemann165, Kriterien guter Melodieführung zu benennen. Geradezu eine Erleuchtung scheint die Erkenntnis der Dialektik der musikalischen Melodie gewesen zu sein: Einerseits ist die Melodiestimme Teil des mehrstimmigen Satzes (und war in der Kontrapunktlehre gleichsam zufälliges Ergebnis kontrapunktischer Operationen); andererseits ist eben diese Melodie »eigentlich die Erfindung«166 , also der primäre Einfall und die primäre innere sinnliche Wahrnehmung des Komponisten. Die Melodie ist damit ein Kandidat für ein musikalisches Korrelat, das die sinnliche Evidenz eines decoralen Normierungsvorgangs des Abwägens von Bedingungen und der spontanen Verfügung im Einfall in sich begreift. Scheibes Abhandlung über die Melodie – die man pars pro toto nehmen kann; ebenso ließe sich das folgende an Matthesons Kern melodischer Wissenschaft zeigen – lässt erkennen, dass der Autor sich völlig darüber im klaren ist, inwiefern die Spontaneität melodischer »Erfindung« und die Spontaneität des sinnlichen Urteils, das sich an ihr bildet, das galante Ergebnis eines austarierten Zusammenwirkens vieler Faktoren ist. Scheibe definiert: »Die Melodie ist aber eine natürliche und ordentliche Fortschreitung und einfache Verbindung vieler hoher und tiefer Klänge, die zugleich den Grund einer völligen Zusammenstimmung ausmachen.«167 ›Natürlich‹ und ›ordentlich‹ kann man nur als Komplemente auffassen, wenn Natürlichkeit als auf Wirkung hin optimierte Ordnung von Ordnungen (Regeln) und Ordentlichkeit als an allen objektiven Bedingungen geschliffene Urnatur begriffen wird. Sodann führt Scheibe in beeindruckender Präzision aus, welche divergenten Faktoren im spontanen melodischen Einfall aufgehoben sind und wie gute Melodik sofort vereitelt wird, wenn einer der Faktoren auf Kosten __________ 164
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Johann Mattheson: Kern Melodischer Wissenschaft, bestehend in den außerlesensten Haupt- und Grund-Lehren der musicalischen Setz-Kunst oder Composition, als ein Vorläufer des Vollkommenen Capellmeisters [...]. Hamburg 1737. Reprint Hildesheim u.a. 1990. Siehe Äußerungen in der Quellenanthologie von Werner Rackwitz (Hg.): Georg Philipp Telemann. Singen ist das Fundament zur Music in allen Dingen. Eine Dokumentensammlung. Wilhelmshaven 1981 (Taschenbücher zur Musikwissenschaft 80). Scheibe: Critischer Musikus (Anm. 102), S. 42 (4. Stück, 16.4.1737). Ebd., S. 41f.
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anderer dominiert. Auf rhythmischer Ebene muss gute Melodik das Silbenmaß des Texts und das Zeitmaß des musikalischen Metrums austarieren. Überwiegt einer der Faktoren, wird das Ergebnis unnatürlich; über Mizlers Sammlung auserlesener moralischer Oden (Leipzig 1740–43), die an der Bevorzugung des Textmetrums litten, urteilt er denn auch harsch, über ihnen »empöret sich recht die ganze Natur.«168 Eine noch komplexere Dialektik sieht Scheibe in den harmonischen Implikationen der Melodie. Melodie ist die in die Horizontale gelegte Harmonik, aber nicht in dem Sinn der Melodie als Nebenprodukt des Kontrapunkts, sondern als auf die unmittelbare Erlebniseinheit verdichteten harmonischen Vorgänge. Die Richtigkeit harmonischer Fortschreitungen erweist sich nicht in der Harmonik selbst, sondern in der Melodie. Die einzelnen Melodietöne sind dabei nicht Platzhalter darunterliegender Harmonien; vielmehr ist die melodische Fortschreitung die sinnlich wahrnehmbare natürliche ›Oberfläche‹ der harmonischen Fortschreitung, so dass die Harmonik eine Art normative Funktionsbeschreibung der Melodik wird:169 »[...] durch das andere [sc. die »Harmonia successiva«] zeiget sich eine richtige Uebereinstimmung des nachfolgenden mit dem vorhergehenden.«170 Gute Melodik ist mithin galant, insofern sie die geschickte Umsetzung der Tonsatzregeln ist, die nur als Harmonieregeln formuliert werden können, deren Umsetzung aber nicht auf der harmonischen Ebene selbst geschehen darf, weil sie sonst unter Pedanterieverdacht geriete und eine kontingente, im sinnlichen Ergebnis ungelenke Melodik nach sich zöge. Die Harmonik wird damit zum nächsten Kandidaten musikalischer Korrelate der evidentia sensuum. Heinichens Demonstration formal – das heißt bezüglich eines sehr eingegrenzt festgestellten S – falscher, im klingenden Ergebnis aber richtiger Klangfolgen in den Generalbasslehren von 1711 und 1728 zeigt, dass auch auf der Ebene der harmonischen Wahrnehmung sinnliche Evidenz nicht direkt an harmonische Regelgemäßheit gekoppelt ist. In das wahrnehmbare und dem spontanen Urteil der sinnlichen Erkenntnis unterworfene harmonische Gebilde sind normative Abwägungen eingegangen; harmonische Gebilde selbst, wie Heinichen sie legitimiert, sind das galante Resultat einer Handlung, die eine Vielzahl von auf dem »Pappiere« stehenden Normen und anderen Bedingungen auf Wirkung hin angewendet hat. Damit freilich ist eine um 1700 eminent moderne Funktionsharmonik und ein eminent modernes Generalbassverständnis bezeichnet, das historisch frühestens ab Corelli anzutreffen ist. Die großen Schwierigkeiten, diesen harmonischen Stilwandel um 1700 präzise zu beschreiben, lassen sich mit größerer Klarheit und höherem Reflexionsgrad angehen, wenn man den musikalischen Satz ab 1700 in seinen normativen __________ 168 169
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Ebd., S. 592 (64. Stück, 17.11.1739). Vgl. ausführlich Rainer Bayreuther: Generalbass und Differentialmathematik: Denkfiguren des 17. Jahrhunderts. In: Musik und kulturelle Identität. Bericht des XIII. Internationalen Kongresses der Gesellschaft für Musikforschung 16.–21.9.2004 in Weimar. Hg. von Detlef Altenburg und Rainer Bayreuther. Kassel u.a. 2010. 3 Bände, hier: Bd. 2, S. 278–289. Scheibe: Critischer Musikus (Anm. 102), S. 42 (4. Stück, 16.4.1737).
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Strukturen begreift – und dazu reichen theoretische Harmonielehre und theoretischer Kontrapunkt nicht hin. Nachahmung in der Musik ab 1700171 ist Nachahmung einer natürlichen Natur, wie wir sie skizziert haben. Seit der Mimesislehre im platonischen Staat und der aristotelischen Poetik meint Naturnachahmung in den Künsten nicht die Nachahmung der sinnlichen Erscheinungen von Natur, sondern von Strukturen, Mustern, Archetypen, Gesetzmäßigkeiten der Natur. Dies gilt namentlich für die musikalische Kunst, deren Ausweis von Naturähnlichkeit im 16. und 17. Jahrhundert ihre Numerabilität war.172 Wenn Naturnachahmung durch Zahlhaftigkeit gegeben sein soll, dann lässt sich das nur so verstehen, dass die Strukturen und die medialen Prozessualitäten der Zahlen selbst Natur repräsentieren. Die mangelnde Gegenständlichkeit war noch nie ein ernsthafter Hinderungsgrund, die Musik nicht zu den imitativen Künsten zu zählen. Schon mit dieser Klarstellung ist alle vermeintliche »Aporie« der Naturnachahmung in der Musik erledigt. Zwar soll nun die Numerabilität der Musik bei Mattheson und Scheibe erklärtermaßen keine Rolle mehr spielen. Was aber mit der Numerabilität in keiner Weise suspendiert wird, ist der nachahmende Bezug auf die Strukturen von Natur. Im Gegenteil, geradezu emphatisch wird diese Weise des Naturbezugs beibehalten. Indem in der Galanterie Natur in Natürlichkeit transformiert wird, hat sich jegliche Gegenständlichkeit, sofern man Natur noch gegenständlich vorstellte, bereits in Handlung und Handlungsweise aufgelöst: Natürlich sind dann weniger Gegenstände, Dinge, Einrichtungen – siehe Thomasius’ Spott über galante Äpfel und Birnen173 –, natürlich sind Eigenschaften von Handlung. Genau darauf bezieht sich nach der Umstellung von Natur auf Natürlichkeit das Nachahmungsgebot in den Künsten. Nachgeahmt wird die Natürlichkeit von Handlungen; wenn überhaupt ein objektives Kondensat solcher Natürlichkeit angegeben wird, das musikalisch nachzuahmen wäre, dann ist das entweder die Sprache oder der Affekt.174 Der scheinbare Widerspruch in Matthesons provokantem Satz, die Franzosen würden »überall / ohne imitirt zu werden / imitiret«,175 löst sich auf, wenn man ihn so versteht, dass nicht der Stil, sondern die hinter jenem stehende Haltung nachzuahmen ist. Nicht das konkrete kompositorische Handeln der Franzosen will Mattheson imitiert wissen, sondern ihren Geschmack. Der Satz belegt schlagend, dass es __________ 171
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Besonders für die deutsche Musik des frühen 18. Jahrhunderts fehlt eine umfassende Studie zum musikalischen Nachahmungsbegriff. Die Ausführungen von Walter Serauky: Die musikalische Nachahmungsästhetik im Zeitraum von 1700 bis 1850. Münster 1929, bes. S. 57ff., sind nach wie vor eine brauchbare Sichtung des Materials, der galante Kontext bleibt aber gänzlich unberücksichtigt. Vgl. ausführlich Rainer Bayreuther: Harmonie und Zahl. In: Musik im Kontext der Disziplinen. Hg. von Nicole Schwindt (Handbuch der Musik der Renaissance 5). Laaber 2010. Im Druck. Anm. 11. So bei Du Bos: Réflexions critiques (Anm. 89.) und in der Folge in der französischen Musikästhetik bis Rousseau; so bei Mattheson: Kern Melodischer Wissenschaft (Anm. 164) und bei Scheibe. Mattheson: Das Neu-eröffnete Orchestre (Anm. 4), S. 208.
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die galanten Normierungsstrukturen von Handeln sind, die nachgeahmt werden sollen. Sie sind es, die für die Natürlichkeit des solchermaßen normierten Handelns bürgen und damit das Erbe der zahlstrukturellen Natur antreten, der Musik bisher zu folgen hatte. Hierin liegt ein durchaus selbstreflexives Moment. Dass es darin bestehen soll, dass bei Mattheson Musik selbst als Natur aufgefasst werde und Musik sich damit auf sich selbst beziehe,176 ergibt freilich keinen Sinn. Auch Heinichens Satz, dass »der Brunnen, woraus man diese General-Bass-Regeln schöpfen müsse, nemlich die Composition selbst von eben solcher veränderlichen Natur ist«177 , ist nicht in der Bedeutung eines L’art pour l’art heimzubringen. Musik ist natürlich und ahmt natürliche Natur nach, insofern sie aus einem galanten Normierungsprozess hervorgeht. Es liegt in der normativen Struktur des decorum, dass jedes galante Verhalten wesentlich selbstbezüglich ist. In den galanten Normierungsvorgang waren eigene Begierden des Willens eingegangen, und er ist insgesamt auf die Realisierung eigener Interessen hin optimiert. Dies wird dann auch bei galantem Verhalten anzutreffen sein: Es ist, erstens, selbstbezüglich, insofern seine ästhetischen Urteile, seine kompositorischen Entscheidungen usw. wesentlich auf die eigene sinnliche Befriedigung hin orientiert sind. Nie zuvor hat das Subjekt des Handelnden in der Musik eine solch starke Stellung eingenommen. Dies ist, wie wir gesehen haben, aber noch nicht der vollständige Grund der Normgeltung, denn galantes Verhalten ist ebenso wesentlich außenbezüglich und muss diese Divergenz der Ausrichtung ausgleichen, um den Preis einer paradoxalen Unsicherheit, welches Verhältnis in der nachzuahmenden Natürlichkeit Eigen- und Fremdinteressen genau einnehmen, und um den Preis, dass die Verantwortung für den Erfolg von Nachahmung nicht auf das Nachgeahmte abgewälzt werden kann, sondern irreduzibel bei einem selber liegt. Das ist der zweite Aspekt von Selbstbezüglichkeit. Galante Nachahmung ist Nachahmung des Nachgeahmten. Die soziale Perpetuierung von galanter Nachahmung – oder, wie im folgenden skizziert: von Mode – geschieht dadurch, dass ein erfolgreicher Komponist die Musik komponiert, deren Erfolgsträchtigkeit sich in galanten Normierungsprozessen schon erwiesen hat. Die Kapitalistenweisheit, nichts sei so erfolgreich wie der Erfolg, ist ein galantes Axiom und musikalisch in der Operette und im Musical massenhaft approbiert; ihr musikhistorisch erster Protagonist ist Telemann. Darauf rekurriert Heinichen, wenn er nur noch Regeln gelten lassen will, die sich und weil sie sich in der kompositorischen Praxis bewährt haben. Galante Musik bezieht sich normativ auf sich selber, aber nicht semantisch. Der musikalische Nachahmungsbegriff unter dem Vorzeichen der Galanterie hat zirkuläre Aspekte, er ist aber nicht insgesamt zirkulär. Es ist unschwer zu erkennen, wie die vereinseitigende Hervorhebung des selbstbezüglichen Aspekts unter Reduktion der fremdbestimmten Momente im galanten Normierungsprozess zur Ästhetik der Empfindsamkeit führt. Fahrlässig aber wäre es, die __________ 176 177
Lütteken (Anm. 139), S. 210. Heinichen (Anm. 5), S. 20.
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Rainer Bayreuther
sinnliche Evidenz galanter Musikauffassung umstandslos mit Empfindsamkeit zu identifizieren. Das galante Postulat, die als Natürlichkeit aufgefasste Natur nachzuahmen, mündet in das Postulat, modisch zu sein. Bei Thomasius war nicht nur »mode« ein Übersetzungsvorschlag für decorum, es wird die ausdrückliche Veränderlichkeit decoraler Normsetzungen festgestellt.178 Wenn nun Mattheson und Heinichen in ihren musikalischen Naturbegriff konstitutiv das Merkmal des Veränderlichen einbauen,179 dann heißt das nicht weniger, als dass natürliche Kompositionen modische Kompositionen sind. Natürlichkeit zeigte sich als bestimmte Art und Weise, sein Handeln normativ zu gestalten. Aus genau diesem Strukturmerkmal entsteht im französischen 17. Jahrhundert der Begriff ›la mode‹. Wie seine etymologische Wurzel, das lateinische ›modus‹ (Art und Weise), bezeichnet Mode die Art und Weise, wie die Dinge unter konkreten raumzeitlichen Bedingungen gehandhabt werden. Als Übersetzung des lateinischen ›decorum‹ ins Französische schlägt Thomasius nicht ohne Grund neben »galanterie« auch »mode« vor.180 Graciáns berühmte Maxime »Sogar das Wissen muß nach der Mode sein, und da, wo es nicht Mode ist, besteht es gerade darin, daß man den Unwissenden spielt«181, die romantischer Wahrhaftigkeitsästhetik zynisch vorkommen mag, besagt, dass alles Wissen, welches das Handlungsfeld des decorum betrifft, aus einem adäquaten Normierungsprozess hervorgehen soll, und das heißt eben: es muss prinzipiell die Art und Weise speichern, wie in einer konkreten und von einem aufs andere Mal prinzipiell veränderten Situation Normen gesetzt, ausgewählt und ausgelegt wurden; kurz: es muss modisch sein. Auch Matthesons Ansinnen, mit der Komposition der Musik, die zu seinem Begräbnis zu spielen sei, möglichst lange zu warten, »aus Beysorge, sie mögte, vor der Aufführung, einigermassen aus der Mode kommen«,182 ist nicht der Gedanke eines Gecken, sondern schlicht der Respekt vor dem decorum in einer Angelegenheit, in der sich die Menschen mehr als sonst der Ausgestaltung des Augenblicks ausgeliefert fühlen. Während Fux mit seiner Behauptung, trotz aller modischen Veränderung der Musik gebe es ein für alle Mal gültige Normen und Regeln,183 den genau entgegengesetzten Punkt zur galanten Musikauffassung markiert, sind es im galanten Denken nicht nur die Handlungen, die aus Normierungs__________ 178
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Christian Thomasius: Cautelae circa praecognita iurisprudentiae in usum auditorii Thomasiani. Halle 1710, XV, § 52. Zur Veränderlichkeit der Normen des decorum vgl. den Beitrag von Miloš Vec im vorliegenden Band. Mattheson: Das Neu-eröffnete Orchestre (Anm. 4), S. 4; Heinichen: Der General-Bass in der Composition (Anm. 5), S. 20. Anm. 40. Gracián: Oraculo manual (Anm. 80), 120. Maxime. Zitiert nach Hans Joachim Marx (Hg.): Johann Mattheson (1681–1764). Lebensbeschreibung des Hamburger Musikers, Schriftstellers und Diplomaten. Hamburg 1982, S. 116. »Die Gründe der Harmonie, und der reinen Composition sind unveränderlich in der Musik, es mag die Mode in der Musik werden und sich verändern, wie sie will.« Johann Joseph Fux: Gradus ad Parnassum. Leipzig 1742 (1725). Vorrede, Bl. 2v.
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vorgängen hervorgehen, sondern die Normen und Regeln selbst (Gracián: das Wissen), die der Mode unterliegen. Selbst diese Einsicht jedoch konnte von rückwärtsgewandten Geistern noch um 1700 nicht-galant, nämlich more mathematico, gedeutet werden, so von Werckmeister, Matthesons Lieblingsgegner, der das Kommen und Gehen musikalischer Moden mit dem steten Wandel der jene kausal verursachenden Himmelskonstellationen erklärte.184 Im Kontrast zu dieser Auffassung erst wird deutlich, wie radikal neu es war, der Vorstellung des 17. Jahrhunderts, musikalische Normen müssten die deskriptive Struktur und die Geltungskraft mathematischer oder physikalischer Gesetze haben, ein handlungstheoretisches Konzept der Normativität ästhetischer Konstellationen entgegenzustellen. Dieses Konzept bedeutet normativ präzise, dass Normen nicht entgegen anhaltendem Misserfolg aufrechterhalten werden, so dass Mode überhaupt als Veränderlichkeit von Normierungen im Hinblick auf Wirkung und Erfolg begriffen werden kann. Wenn nach wie vor gilt, dass musikalisches Handeln die Natur nachahmen soll, diese Natur, als Natürlichkeit begriffen, aber nur mehr eine je gegenwärtige und situative ist, dann sind alle musikalischen Vorgänge von der Normsetzung bis zur Normanwendung abhängig von der Mode. Was sich der älteren Musikforschung bei Telemann, der zeit seines Lebens den Stil danach wechselte, mit welchem er Erfolg haben würde, als Mangel an kompositorischem Ethos darstellte und in den Achtundsechzigern gar unter Ideologieverdacht geriet, erscheint aus der Perspektive des galanten Normbegriffs in der Musik des frühen 18. Jahrhunderts als Prädikat: Telemann, der »angepaßte Komponist«.185
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»Daß aber das Untere von dem Obern oder Gestirn regieret werde / auch der Natürliche Mensch / solches ist von so vielen Philosophis schon längst bejahet / und wird keiner läugnen / der einen rechten Verstand von der Natur-Kündigung hat. Wie nun die Constellationes nicht eine Zeit wie die andere fallen / sondern immer eine Veränderung darinnen ist / da einer langsamer / der andere geschwinder seinen Lauf vollbringen / also halte ich / daß die Menschen / oder Künstler nach solchen Constellationen getrieben / und regieret werden / wodurch die neuen Inventiones an den Tag kommen: denn / wer den Genium oder die Invention der Music ansiehet / wie derselbe etwa vor 200. Jahren / in Musica practica gewesen / und betrachtet / wie sich die Manieren und Inventiones vor einer Zeit zur andern mercklich nur etwa von 20. bis wieder zu 20. Jahren / gar verändert / und wie die alten Inventiones irgend vor 100. Jahren / die doch keinem ietzo bekant / und wegen des vielen Gebrauches verdrießlich seyn möchten / und sehr künstlich sind / uns dennoch nicht schmecken wollen / dieses halte / ist die Uhrsache / daß wir von der ober Constellation regieret werden / welche jetzo [sic] gantz anders als zu der Zeit / und daher die alten Manieren und Modulationes uns so angenehm nicht fallen.« (Andreas Werckmeister: Musicalische Paradoxal-Discourse, oder ungemeine Vorstellungen, wie die Musica einen Hohen und Göttlichen Ursprung habe, und wie hingegen dieselbe so sehr gemißbrauchet wird [...]. Quedlinburg 1707. Reprint Hildesheim u.a. 1970, S. 26f.) Ludwig Finscher: Der angepaßte Komponist – Notizen zur sozialgeschichtlichen Stellung Telemanns. In: Musica 23 (1969), S. 549–554.
Alexander Aichele
Galante Geltung Normengebrauch und Normenanwendung bei Christian Thomasius
»Die Hochschule besaß gelehrte, aber pedantische, schulmeisterliche Professoren. Kein gebildeter Mensch konnte mit diesen formlosen Leuten verkehren. Nur zwei Männer machten eine Ausnahme und waren durch ihre Gaben eine Ehre für ihr Volk: der große Leibniz und der gelehrte Thomasius.«1 Dieses wenig schmeichelhafte Urteil über das wissenschaftliche Universitätspersonal seiner Zeit stammt von jemand, der es wissen musste, nämlich von niemand geringerem als Friedrich dem Großen, und es enthält ex negativo bereits den Begriff, um dessen Analyse und Explikation es im folgenden vornehmlich gehen soll: Es handelt sich um den Begriff des Galanten, der zunächst eine Eigenschaft erfasst, die ein besonderes Verhalten von Personen benennt. Bei Christian Thomasius – so die im Titel indizierte These – bezeichnet sie aber auch einen besonderen Geltungsmodus von Normen. Um dies zu erweisen, soll von den Fundamenta juris naturae et gentium2 des späten Thomasius ausgegangen werden, wenngleich der Ausdruck »galant« in diesem Werk nicht mehr auftaucht und daher auf den ersten Blick auch keine Rolle mehr zu spielen scheint. Freilich soll die gebräuchlich gewordene und überzeugend belegte Einteilung des thomasianischen Denkens in drei Entwicklungsphasen, die ihn – grob gesprochen – vom optimistischen Gesellschaftsverbesserer über einen lutherisch-pietistischen Pessimisten zum pragmatischen Sozialingenieur3 machen, hier nicht angezweifelt werden.4 Vielmehr soll gezeigt werden, dass das Galante, präzisiert und vertieft im Begriff des decorum5, eine bleibende Konstante in Thomasius’ Denken bildet. __________ 1
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Zitiert nach Erik Wolf: Große Rechtsdenker der deutschen Geistesgeschichte. Tübingen 4 1963, S. 417. Aalen 21979 (Reprint der Ausgabe Halle und Leipzig 41718). Darauf hebt insbesondere ab: Sabine Doyé: Absolutismus und Emanzipation. Christian Thomasius, ein vergessener Autor der Frühaufklärung. In: Denkspuren. FS Heinrich Hüni. Hg. von Oliver Cosmus und Frauke Annegret Kurbacher. Würzburg 2007, S. 105–124. Vgl. Werner Schneiders: Recht, Moral und Liebe. Untersuchungen zur Entwicklung der Moralphilosophie und Naturrechtslehre des 17. Jahrhunderts bei Christian Thomasius. Münster 1961. Vgl. zur Beziehung von Galanterie und decorum Simone Zurbuchen: »Decorum« and »Politesse«: Thomasius’s Theory of Civilized Society in Comparative Perspective. In: Early Modern Law Theories. Contexts and Strategies in the Early Enlightenment. Hg. von Timothy J. Hochstrasser und Peter Schröder. Dordrecht, Boston und London 2003 (Archives internationales d'histoire des idées 186), S. 279–296, hier: S. 283.
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Hierzu ist zunächst die Bedeutung des Ausdrucks »galant« zu exponieren, wie ihn der frühe Thomasius gebraucht. Sodann wird im Hauptteil der Untersuchung der Begriff der Norm einer Analyse unterzogen, und zwar zuerst hinsichtlich ihres Geltungsgrundes und dann hinsichtlich ihres Erkenntnisgrundes. Danach soll anhand einer Differenzierung zwischen Normengebrauch und Normenanwendung der Geltungsmodus der durch das decorum bestimmten Verhaltensregeln herausgearbeitet werden. Schließlich ist noch auf die entscheidende Bedeutung hinzuweisen, die nach Thomasius der Autorität bei der Setzung sozialethischer Normen zukommen muss.
I. Das Problem des Galanten beim frühen Thomasius Es ist schon öfter beobachtet worden, dass Thomasius keine regelgerechte Definition des Galanten gibt,6 obschon die Bildung seiner Hörer zur Galanterie ein, wenn nicht sogar das zentrale Anliegen seiner Lehre darstellt, deren Ziel gerade nicht im Erwerb von »Gelehrtheit«, sondern von »Gelahrheit« bestehen soll, d.h. von in der und für die Gesellschaft nützlichem Wissen7. Es wäre jedoch nicht angemessen, diese Undeutlichkeit Thomasius als Mangel vorzuwerfen. Denn die Unterlassung einer einschlägigen Definition hat wenigstens drei Gründe, die geeignet sind, den Sachverhalt zu rechtfertigen, dass Thomasius nur versucht, die Frage, was das Galante denn sei,8 vermittels der Anführung verschiedener Verhaltenskomponenten zu verdeutlichen, auf die jenes Prädikat zutrifft. Es sind dies ein historischer, ein methodischer und ein epistemologischer Grund.
1. Die historische Undeutlichkeit des Galanten Der historische Grund besteht schlicht darin, dass auch die Vorbilder, welche als Lehrmeister und Autoritäten in Sachen Galanterie zu gelten haben, nämlich __________ 6
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Vgl. etwa Jutta Brückner: Staatswissenschaften, Kameralismus und Naturrecht. Ein Beitrag zur Geschichte der Politischen Wissenschaft im Deutschland des späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts. München 1977, S. 114ff., und Carl Hinrichs: Preußentum und Pietismus. Der Pietismus in Brandenburg-Preußen als religiös-soziale Reformbewegung. Göttingen 1971, S. 357. Zu dieser Differenzierung vgl. Frederik M. Barnard: The »Practical Philosophy« of Christian Thomasius. In: Journal of the History of Ideas 32 (1971), S. 221–246, hier: S. 224–226. Diese Frage stellt er in seiner berühmten ersten auf Deutsch gehaltenen Vorlesung: Welcher Gestalt man denen Franzosen in gemeinem Leben und Wandel nachahmen solle? In: Christian Thomasens Allerhand bißher publicirte Kleine Teutsche Schrifften / Mit Fleiß colligiret und zusammen getragen; Nebst etlichen Beylagen und einer Vorrede. Halle 1701, S. 1–70, hier: S. 14 (Christian Thomasius: Ausgewählte Werke. Hg. von Werner Schneiders. Hildesheim und New York 1993ff., Bd. 22).
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»die Franzosen selbst nicht einig wären / worinnen eigentlich die wahrhafftige galanterie bestehe«9. Thomasius kann also vorderhand keine Definition anbieten, weil es noch keine solche gibt bzw. weil er keine kennt, die allgemein anerkannt wäre. Am ehesten sei aber Vaugelas10 und dem Abbé Costar (1603– 1660) darin zuzustimmen, dass »die Eigenschafft der Galanterie [...] etwas gemischtes sey / so aus dem je ne scay qvoy, aus der guten Art etwas zu thun / aus der manier zu leben / so am Hofe gebräuchlich ist / aus Verstand / Gelehrsamkeit / einem guten judicio, Höfflichkeit / und Freudigkeit zusammen gesetzet werde / und deme aller Zwang / affectation, und unanständige Plumpheit zu wieder sey«.11 Allerdings ist Thomasius mit dieser Beschreibung noch nicht zufrieden – und man darf sagen: zurecht. Denn einerseits scheint hier ein Unbekanntes mit anderen Unbekannten erklärt zu werden und andererseits stellt eine Liste von Fähigkeiten, Verhaltensweisen und Gemütsbewegungen bzw. deren Abwesenheit keineswegs eine Wesensbestimmung dar. Eine solche scheint Thomasius aber zu suchen, wenn er vor der angeführten Passage fragt: »[W]as ist galant und ein galanter Mensch?«12 Denn die Antwort auf eine Was-ist-X-Frage besteht in der Angabe einer Definition. Um nun zu größerer Vollständigkeit der Bestimmung zu gelangen, identifiziert Thomasius Galanterie mit politesse und kann so einer einschlägigen Abhandlung von Madeleine de Scudéry13 folgen. Nach ihr beruhe laut Thomasius’ Referat die wahre politesse darauff [...] / dass man wohl und anständig zu leben / auch geschickt und zu rechter Zeit zu reden wisse / dass man seine Lebens-Art nach dem guten Gebrauch der vernünfftigen Welt richte / dass man niemands einige Grob- und Unhöfflichkeit erweise / dass man denen Leuten niemals dasjenige unter Augen sage / was man sich selbst nicht wolte gesagt haben / dass man in Gesellschafft das grosse Maul nicht allein habe / und andere kein Wort auffbringen lasse / dass man bey dem Frauenzimmer nicht gar ohne Rede sitze / als wenn man die Sprache verlohren hätte / oder das Frauenzimmer nicht eines Wortes würdig achte; hingegen auch nicht allzu kühne sey / und sich mit selbigen / wie gar vielfältig geschiehet / zu gemein mache; dieses alles sind solche Eigenschafften / die zu einem galanten Menschen erfordert werden.14
Man sieht leicht, dass der Bestimmungsversuch nun zwar ausführlicher geraten ist, aber nicht präziser: Wiederum handelt es sich um eine nicht nach erkennbaren Prinzipien geordnete Liste von Fähigkeiten und geforderten bzw. zu unterlassenden Verhaltensweisen. Galanterie bestünde demnach offensicht__________ 9 10
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Ebd. Gründungsmitglied der Académie Francaise und Sprachreformer (Remarques sur la langue francoise, utiles à ceux qui veulent bien parler et bien escrire. Paris 1647), 1585–1650. Thomasius: Welcher Gestalt man denen Franzosen in gemeinem Leben und Wandel nachahmen solle? (Anm. 8), S. 15. Ebd., S. 14. Thomasius schätzte Scudérys (1607–1701) Roman Clelie (10 Bde., 1654–60) sehr. Vgl. Gunter E. Grimm: Literatur und Gelehrtentum in Deutschland. Untersuchungen zum Wandel ihres Verhältnisses vom Humanismus bis zur Frühaufklärung. Tübingen 1983, S. 418. Thomasius: Welcher Gestalt man denen Franzosen in gemeinem Leben und Wandel nachahmen solle? (Anm. 8), S. 15f.
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lich vor allem in der Fähigkeit zur Anpassung an vorgegebene Verhaltensweisen und deren Nachahmung, sofern diese allgemein als gut und vernünftig beurteilt werden, positiver wie negativer Höflichkeit15 und Affektenkontrolle, die jedoch keineswegs im Sinne der stoischen Apathie, sondern eher epikureisch als Meeresstille der Seele16 – galéne – zu verstehen ist17. Dies setzt zumindest Vernunft und Urteilskraft auf der einen und Rechtschaffenheit bzw. gesetzeskonformes Verhalten auf der anderen Seite voraus. Damit ist aber immer noch keine Definition erreicht. Denn Thomasius weist ja ausdrücklich darauf hin, dass es nur Eigenschaften solcher Art sind, welche die Galanterie ausmachen, und behauptet weder die Vollständigkeit der Aufzählung noch die definitorische Expliziertheit dieses Artbegriffs. Er besitzt also keine Definition des Galanten. Denn dessen Erfassung als in jedem beliebigen Sinne vernünftiges Verhalten wäre so weit, dass damit entweder der differenzierende Zweck einer Definition verfehlt würde oder alles vernünftige Verhalten unter den Begriff der Galanterie fiele. Eine solche Identifikation von praktischer Vernunft und Galanterie scheint abwegig, hieße dies doch, jedem sich irgendwie vernünftig verhaltenden Menschen schon Galanterie zuzusprechen und jedem sich galant verhaltenden Menschen praktische Vernunft zuzusprechen. Dass zweiteres Implikationsverhältnis zutrifft, erhellt aus dem bislang Gesagten. Ersteres gilt ganz offensichtlich nicht. Denn aus Thomasius‘ Beschreibung wird jedenfalls deutlich, dass sich galantes Verhalten grundsätzlich im Rahmen sozialer Kontakte bzw. irgendeiner Öffentlichkeit abspielt, und gewiss kann man sich auch vernünftig verhalten, wenn gerade niemand dabei ist. Es ist also klar, dass es die besondere Art der Vernünftigkeit sozialen Verhaltens ist, die weiterer Präzisierung bedarf, obgleich Thomasius dieser Forderung im bisherigen Kontext keine Rechnung trägt.
2. Das methodische Problem einer Galanteriedefinition Dass Thomasius es im Kontext seiner Vorlesung bei jener Beschreibung bewenden lässt, kann man durch seine Lehrmethode erklären. Er beschreibt sie wie folgt: In jeder disciplin will ich so viel wie möglich mich befleissen meine Lehre / in deutliche Definitiones, und daraus hergeleitete kurtze Propositiones oder Axiomata einschliessen (...). Bey Anfang aber derselben werde ich gewisse postulata praesupponiren / die alle aus __________ 15
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Siehe die grundlegende Studie von Manfred Beetz: Ein neuentdeckter Lehrer der Conduite. Thomasius in der Geschichte der Gesellschaftsethik. In: Christian Thomasius (1655–1728). Hg. von Werner Schneiders. Hamburg 1989, S. 199–222, insbesondere S. 202ff. Vgl. Maximilian Forschner: Über das Glück des Menschen. Aristoteles, Epikur, Stoa, Thomas von Aquin, Kant. Darmstadt 1993, S. 22–44. Zu Thomasius’ Stellung zur und in der Geschichte der Affektenlehre vgl. Schneiders (Anm. 4), S. 129–177, bzw. ders.: Naturrecht und Liebesethik. Zur Geschichte der praktischen Philosophie im Hinblick auf Christian Thomasius. Hildesheim und New York 1971, S. 183–225.
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der Natur des Menschen hergenommen seyn sollen / und zur Noth per evidentiam Anatomicam, und innerlichen assensum eines jedweden bekräfftiget werden können; Die Definitiones will ich jederzeit ad evidentiam reduciren / und die connexion derer propositionen mit denenselben / so wol auch derer propositionen untereinander selbst deutlich weisen.18
Es ist hier weder möglich noch nötig, diese Methode analytisch en detail zu entfalten. Es reicht vielmehr aus, das Augenmerk auf die Vermittlung der philosophischen Grundlagen zu richten. Dabei geht es einzig und allein um deren reductio ad evidentiam, d.h. deren Rückführung auf sinnlich Wahrnehmbares, da Thomasius Evidenz stets als evidentia sensuum begreift.19 Dieser Vermittlungsschritt genießt in der akademischen Lehre, wie sie dem Hochschulreformer Thomasius vor Augen steht, wenigstens zwei Vorteile. Zum einen stellt er gleichsam die ultima ratio eruditionis dar. So schreibt Thomasius in der Einleitung zur Vernunftlehre: »Dannenhero sind auch dieses Beweises (sc. der ostensio) alsbald kleine Kinder fähig / als welche an nichts zweiffeln / was man ihnen per evidentiam sensuum vorleget / auch alsbald falsche Meinungen per evidentiam sensuum zu wiederlegen wissen.«20 Dass dies auch für die Gegenstände der praktischen Philosophie gilt, sofern sie naturrechtlich fundiert sind, bestätigt die Einleitung zur Hofphilosophie. Dort heißt es: »Die Natürliche [Jurisprudenz] aber kann demonstriret werden / weilen dieselbe sich auff die convenientz mit der Menschlichen Natur gründet / welche einem jeden in die Sinnen fällt.«21 Die sinnliche Evidenz des Vorgetragenen wird also einerseits im Verhalten des Lehrenden selbst liegen müssen und andererseits in geeigneten, leicht fasslichen Beispielen. Der zweite Vorteil liegt gerade darin, dass durch einen solchen Aufweis weder eine metaphysische noch auch eine formal vollständige Definition erfordert oder auch nur angestrebt werden muss. Dass solches Bemühen Thomasius aufgrund mangelnder Nützlichkeit sowohl wissenschaftlich als auch moralisch für verfehlt hält, muss hier nicht eigens ausgeführt werden.22 Denn es ist eine – überdies wahre – Binsenweisheit, dass ein auch noch so präzises Wissen um bestimmte Normen keineswegs verbürgt, sich diesen gemäß zu verhalten. __________ 18
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Christian Thomas eröffnet der studierenden Jugend einen Vorschlag / wie er einen jungen Menschen / der sich ernstlich fürgesetzt / GOtt und der Welt dermahleins in vita civili rechtschaffen zu dienen / und als ein honnet und galant homme zu leben / binnen dreyer Jahre Frist in der Philosophie und singulis Jurisprudentiae partibus zu informiren gesonnen sey. In ders.: Kleine Teutsche Schriften (Anm. 8), S. 233–270, hier: S. 262. Vgl. dazu Hans-Jürgen Engfer: Empirismus versus Rationalismus? Kritik eines philosophiehistorischen Schemas. Paderborn u.a. 1996, S. 262f. Einleitung zur Vernunftlehre. Hg. von Werner Schneiders, Register von Frauke Annegret Kurbacher (= Thomasius: Ausgewählte Werke. Bd. 8, VII.25, S. 188). Einleitung zur Hof-Philosophie. Hg. von Werner Schneiders, Register von Frank Grunert (Thomasius: Ausgewählte Werke (Anm. 8) Bd. 2, VIII. § 25, S. 190). Vgl. etwa Notker Hammerstein: Jus und Historie. Ein Beitrag zur Geschichte des historischen Denkens an deutschen Universitäten im späten 17. und im 18. Jahrhundert. Göttingen 1972, S. 53ff.
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3. Das epistemologische Problem einer Galanteriedefinition Der dritte Grund für den Mangel einer regelgerechten Galanteriedefinition ist epistemologischer Natur. Er liegt in dem sensualistischen Prinzip, das Thomasius’ Erkenntnistheorie prägt und das er dergestalt versteht, dass – um eine prägnante Formulierung Hans-Jürgen Engfers zu gebrauchen – »der Mensch nur das erkennt, was er sinnlich wahrzunehmen in der Lage ist«23. Der Sinneswahrnehmung zugänglich sind aber gerade nicht diejenigen Eigenschaften, welche das Wesen einer Sache ausmachen, als solche unveränderlich sind und daher vollständig in deren definitorische Bestimmung eingehen müßten, sondern nur deren Akzidentien.24 Daraus folgert Thomasius in aller Konsequenz, dass der Mensch »keine klare und deutliche Erkäntnüß von keiner substantz« besitzt, so dass er zwar sagen kann, dass etwas eine Substanz ist, aber nicht vollständig bestimmen kann, was diese ist.25 Dies bedeutet jedoch keineswegs, dass der Bereich des im strengen Sinne Wahren dem Streben nach Erkenntnis völlig verschlossen wäre. Er ist nur viel kleiner, als die Wissenschaft bisher geglaubt hat. Denn die reductio ad evidentiam allgemeiner Sätze gelingt nur in der Mathematik und im Naturrecht. Alle anderen Wissenschaften müssen sich mit mehr oder weniger wahrscheinlichen Aussagen begnügen,26 denen keine im Verstande angelegten, aber ohne entsprechende Sinneseindrücke nicht bewussten Ideen korrespondieren, wie dies bei in strengem Sinne wahren Aussagen nach Thomasius der Fall ist, wenn der jeweilige Einzelverstand nicht durch bösen Willen oder Vorurteile getrübt ist27 – also fast nie. Entspricht folglich dem Galanten keine solche Verstandesidee, ist es auch nicht definabel und damit ein bloß historisches Phänomen, das keiner reductio ad evidentiam fähig ist. Oder aber dies ist der Fall, wie Thomasius anzudeuten scheint, und dann gehört es zum Naturrecht, so dass die Bemühung um seine definitorische Bestimmung nicht nur nicht aussichtlos, sondern durchaus geboten scheint. Dann ließe sich sagen, dass Thomasius diese systematische Verortung zwar bereits früh erkannt hat, jedoch noch nicht über eine geeignete Theorie verfügte, um sie auch einzuholen. Für diese Auffassung spricht jedenfalls seine ebenso frühe Identifikation des Galanten mit einem Begriff, dessen systematische Ausarbeitung nach allgemeiner Auffassung zu den genuinen Leistungen des Thomasius gehört.28 Es handelt sich dabei um den __________ 23 24 25 26
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Engfer (Anm. 19), S. 264. Vgl. Einleitung zur Hof-Philosophie (Anm. 21), VII § 19. Einleitung zur Vernunftlehre (Anm. 20), XI 24. Zu Thomasius’ Theorie wahrscheinlicher Erkenntnis vgl. Luigi Cataldi Madonna: La Filosofia della probabilità nel pensiero moderno. Dalla Logique di Port-Royal a Kant. Roma 1988, S. 83–104, und insbesondere Arno Seifert: Cognitio historica. Die Geschichte als Namensgeberin der frühneuzeitlichen Empirie. Berlin 1976, S. 150–162. Vgl. dazu Engfer (Anm. 19), S. 260ff. Vgl. insbesondere Merio Scattola: Prudentia se ipsum et statum suum conservandi: Die Klugheit in der praktischen Philosophie der frühen Neuzeit. In: Christian Thomasius (1655–1728). Neue Forschungen im Kontext der Frühaufklärung. Hg. von Friedrich
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Begriff des decorum. Es wird gerade vor dem Hintergrund der Relationalität, d.h. der Bezogenheit auf bestimmte einzelne Personen, der Verhaltensnormen, die unter dem Galanten begriffen werden, mit diesem identifiziert, insofern das decorum »die Seele der menschlichen Gesellschafften«29 darstellt. Thomasius schreibt: »Über dieses aber ist in der Welt noch was besonders / das nebst dem honesto, utili und jucundo dem Thun und Lassen der Menschen eine gemeine Richtschnur ist / absonderlich aber Polite, Welt-kluge und höffliche Leute von plumpen / groben und ungeschickten Tölpeln absondert. Dieses wird von denen Lateinern Decorum, von denen Frantzosen Galanterie genennet.«30
II. Thomasius’ Begriff der Norm Nimmt man diese Gleichsetzung ernst und hält am Status der Galanterie als allgemeiner Verhaltensaufforderung fest – sei diese nun historisch oder naturrechtlich oder gemischt begründet –, findet man sich auf Thomasius’ Fundamenta Iuris naturae et gentium von 1705 verwiesen, die den systematischen Endpunkt der Entwicklung seiner praktischen Philosophie darstellen.31 Denn dieses Werk enthält sowohl eine ausführliche Theorie allgemeiner Verhaltensaufforderungen verschiedener Verpflichtungsgrade, d.h. eine Theorie der Norm, als auch eine ausführliche Exposition des Begriffs des decorum. Beidem ist daher nachzugehen. Die Notwendigkeit von Handlungsnormen überhaupt hat ihren letzten Grund nach Thomasius’ gut lutherisch-augustinischer Überzeugung in der durch den Sündenfall des Menschen bedingten Verderbtheit des Wesens des Menschen, d.h. seines Willens.32 Dieser ist weder per se vernünftig noch folgt er den Vorgaben der von ihm verschiedenen Vernunft noch ist er frei, insofern er sich seine Gegenstände nicht selbst geben kann, wenngleich ihm jede Wahl, die er trifft, aufgrund der objektiven Gegebenheit von Alternativen zugerechnet werden kann.33 Normen sind daher notwendig, um einen Krieg aller gegen alle zu verhindern.34 Trotz dieser offenkundigen Parallele zu Hobbes ist zu beachten, dass Thomasius den allgemeinen Krieg nicht als Naturzustand, auch nicht als fiktiven, begreift, den die Menschen erst vermittels eines allgemeinen Vertrags verlassen müssten. Denn nach Thomasius kann gar kein Vertrag, auch __________
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Vollhardt. Tübingen 1997, S. 333–363, hier: S. 350; aber auch Georg Steinberg: Christian Thomasius als Naturrechtler. Halle 2005, S. 112ff. Erinnerung über den dritten Theil der Grund-Lehren, in: Auserlesene deutsche Schriften. 2. Teil. Hg. von Werner Schneiders, Register von Frank Grunert (Thomasius: Ausgewählte Werke. Bd. 24, S. 193–220, hier: S. 214). Christian Thomas eröffnet der studierenden Jugend einen Vorschlag (Anm. 18), S. 257. Vgl. Schneiders (Anm. 4), S. 207. Vgl. ebd., S. 185–194, aber auch Wolf (Anm. 1), S. 401f. Vgl. Thomasius: Fundamenta juris naturae et gentium (Anm. 2), I §§ 96ff. Vgl. dazu Barnard (Anm. 7), S. 229f. Vgl. Thomasius: Fundamenta juris naturae et gentium (Anm. 2), IV § 1.
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Alexander Aichele
nicht der fiktive Urvertrag, für sich genommen verpflichten. Die Geltung eines Vertrags setzt vielmehr bereits die Geltung von Normen voraus, ohne die jener chaotische Zustand nach kurzer Zeit aufgrund der Unvernunft der Menschen eintreten würde, was Thomasius durchaus als historische Möglichkeit begreift.35
1. Normengeltung Der allgemeine Geltungsgrund einer Norm wird auf zwei Weisen manifest, die zwei Arten von Normen entsprechen und zukünftiges Handeln anleiten, d.h. den verdorbenen Willen beeinflussen können, nicht aber vergangene Handlungen beurteilen, wie dies der Jurisprudenz zukommt.36 Handlungsanleitung durch Normen vermittels Rat oder Befehl ist die Aufgabe des Weisen, dessen Eignung zu diesem Geschäft psychologisch bedingt ist.37 Sein Temperament ist nämlich von den Grundaffekten bzw. Grundlastern Wollust und Ehrgeiz unter Ausschluss der Habgier bestimmt.38 Beide Grundaffekte mäßigen sich wechselseitig und bilden so die Voraussetzung zur Ausbildung intellektueller39 wie moralischer Tugenden wie Witz, Urteilskraft, Toleranz und Barmherzigkeit,40 welche zur Handlungsanleitung befähigen, wenn sie mit der Bereitschaft zu Erfahrung und Nachdenken zusammenkommen.41 Die dazu nötige Willensbeeinflussung ist wiederum psychologischer Natur: Sowohl Rat als auch Befehl flößen dem Adressaten Furcht bzw. Hoffnung ein,42 worin beider allgemeiner Geltungsgrund besteht. Da Handlungsnormen für Thomasius prinzipiell teleologisch verfasst sind, korrespondieren beiden durch sie hervorgerufenen Gemütsregungen Schaden bzw. Nutzen. Schaden und Nutzen sind jedoch hinsichtlich ihres Verhältnisses zu den geforderten Handlungen und deren Art verschieden: Im Falle des Rates bezieht sich die __________ 35
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Ebd.: »[...] revera oriturum esset parvo temporis spatio bellum omnium contra omnes. Exemplum cape, si quis furiosos homines plures relinqueret sine magistro & vinculis libere inter se agere.« Ebd., IV § 33 (S. 129f.): »Conveniunt consilium & imperium, quod utrumque praescribat normam actionibus futuris, non praeteritis, circa has enim versatur prudentia judicialis.« Vgl dazu und zum folgenden ausführlich Schneiders (Anm. 17), S. 256ff. Thomasius: Fundamenta juris naturae et gentium (Anm. 2), IV § 84: »Voluptatis & ambitionis mixtura character doctoris est, si voluptas aliquantulum emineat; Principis, si ambitio.« Zu deren Herkunft aus der Tradition der Rhetorik und der dadurch wiederum bestätigten Nähe des Galanten und des decorum vgl. Volker Sinemus: Poetik und Rhetorik im frühmodernen deutschen Staat. Sozialgeschichtliche Bedingungen des Normenwandels im 17. Jahrhundert. Göttingen 1978, insbesondere S. 161ff. Thomasius: Fundamenta juris naturae et gentium (Anm. 2), IV § 13: »[...] ita ut ex haec mixtura maximae oriantur virtutes, quarum homines natura sunt capaces; item quod haec mixtura gignat excellentiam ingenii & judicii ac placidam & humilem tolerantiam ac amorem infirmorum.« Ebd., IV § 6: »Ad sapientiam vero & experientia & meditatio requiritur.« Ebd., IV § 35: »Conveniunt ulterius, quod utrumque exitet spem & metum insipientium [...].«
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Wirkung der Handlung auf den durch sie mit Notwendigkeit herbeigeführten seelischen Zustand, d.h. größere Weisheit bzw. Glückseligkeit oder dessen Gegenteil,43 während das Ausführen oder Verweigern eines Befehls willkürlich festgesetzte positive oder negative Folgen zeitigt,44 die, gerade weil sie Menschenwerk und nicht natürlich sind, nur den äußeren Zustand des Adressaten betreffen können. Weil innere Handlungen gar nicht sinnvoll befohlen werden können, da ihr Vollzug nicht zuverlässig kontrolliert werden kann, weil er nicht in die Sinne fällt, kann ein Rat nur durch Aufdeckung seiner Gründe gemäß des intellektuellen Vermögens des Adressaten überzeugen.45 Seine Befolgung kann nicht wie die eines Befehls durch Gewalt erzwungen werden, mit dem die Macht verbunden ist, dem Adressaten »abhängig von der Willkür des Auferlegenden körperliche Schmerzen aufzuerlegen« 46. Weil aber sowohl Rat als auch Befehl den Willen durch Furcht zwingen,47 mithin in formaler Hinsicht ein und denselben Geltungsgrund besitzen, eignet auch beiden gleichermaßen verpflichtende Kraft. »Verpflichtung« bestimmt Thomasius allgemein als Bewegung des Willens durch vom Weisen eingeflößte Furcht oder erzeugte Hoffnung. Dies setzt den herausgearbeiteten Geltungsgrund voraus: Der Weise muss entweder über die Macht zur Furchterzeugung vermittels Gewaltandrohung oder durch Klugheit oder durch beides verfügen – je nachdem, ob er befiehlt oder Ratschläge erteilt.48 Daraus ergibt sich eine doppelte Art der Verpflichtung. Der Rat bringt nur eine innere Verpflichtung hervor.49 Diese entsteht entweder aus dem natürlichen Bewußtsein einer Gefahr, d.h. aus Furcht, welche mit natürlicher, d.h. auch gottgegebener, Notwendigkeit wirkt, so dass sie nicht vermieden werden kann, oder aus dem natürlichen Bewusstsein eines ebenso aus der Natur der Sache hervorgehenden Gewinns, d.h. aus Hoffnung.50 Weil das auf den Ratschlag bezogene Verhalten notwendige und natürliche Folgen zeitigt, besteht sein Nutzen oder Schaden in Gemütszuständen. Daher fordern Ratschläge, die eine Verpflichtung begründen, auch primär zu innerem Handeln auf bzw. zu äußeren Handlungen, die den Zweck haben, bestimmte Gemütszustände entweder herbeizuführen, zu vermeiden oder zu verlassen. Weil dieser Erfolg nicht äußerlich durch die Sinne überprüft werden kann, können die entsprechenden inneren Handlungen auch nicht erzwungen werden. Zur Befolgung eines Rates kann also gar keine äußere Verpflichtung bestehen.51 __________ 43 44 45 46 47
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Vgl. ebd., IV § 53. Vgl. ebd., IV § 54. Vgl. ebd., IV §§ 46 und 49. Ebd., IV § 57. Ebd., IV § 58: »Nam cum ipsum consilium pariter & imperium metum incutiat, patet, quod utrumque debeat habere vim cogendi intuitu voluntatis.« Ebd., IV § 60: »Est enim obligatio in genere inclinatio voluntatis per metum injectum (& spem suscitatam) a sapiente i. e. eo, qui potestatem metum faciendi habet, quique cum prudentia metum injicit, aut spem excitat.« Vgl. ebd., IV § 62. Vgl. ebd., IV § 61. Vgl. ebd., IV § 62.
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Äußere Verpflichtung definiert im Gegenteil die Geltung des Befehls und entsteht aus Furcht oder Hoffnung vor und auf einen kontingenten Schaden oder Nutzen, welcher von menschlicher Setzung abhängt und dem man durch List oder anderweitig entgehen kann.52 Klar ist, dass aus der Kontingenz der Folgen ihre Vermeidbarkeit und ihre Äußerlichkeit folgt. Zugleich folgt daraus, dass Befehle ebenfalls nur zu äußeren Handlungen verpflichten können, deren Vollzug äußerlich durch die Sinne überprüfbar ist und daher mit Gewalt erzwungen werden kann – was keineswegs ausschließt, dass Befehle auch aus innerer Verpflichtung befolgt und sonach als Ratschläge aufgefasst werden können. Der allgemeine Geltungsgrund einer jeden Norm aber liegt in jedem Falle in nichts anderem als dem Gemütszustand, den sie durch Klugheit oder Macht in ihrem Adressaten induziert, so dass Normen einzig und allein dazu gebraucht werden, den Willen ihrer Adressaten durch Furcht oder Hoffnung zu beeinflussen.
2. Normenerkenntnis Fällt nun das principium obligationis einer jeden möglichen Norm nicht in diese selbst, sondern in die Autorität desjenigen, der sie setzt und gebraucht, erhellt sogleich die Notwendigkeit eines Prinzips der Normsetzung, da diese andernfalls in der Gefahr absolutistischer Willkür stünde.53 Ein solches Prinzip ist demzufolge scharf vom Prinzip der Geltung bzw. Verpflichtung zu unterscheiden und muss als Prinzip der Normativität einer Norm diese selbst erst ermöglichen.54 Thomasius betont diese Differenz ausdrücklich, wenn er dem principium obligationis ein principium cognoscendi zur Seite stellt, das den »ersten und allgemeinsten Satz des Naturrechts [bildet], woraus alle übrigen abgeleitet werden können«55. Jeder besondere Satz des Naturrechts muss mithin auf die Norm der Normativität zurückgeführt – »reduziert« – werden können, um seine Zugehörigkeit __________ 52 53
54
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Vgl. ebd., IV § 61. In der Tat ist die Verteidigung eines grundsätzlich absolutistisch verfassten Staates Thomasius zum Vorwurf gemacht worden (vgl. Doyé, Anm. 3). Immerhin könnte es aber sein, dass dieser Vorwurf an Thomasius’ Normativitätsbegriff wie auch an seinem evolutionären Gesellschaftsverständnis (Hammerstein, Anm. 22, S. 77) zu Schanden wird oder wenigstens abgeschwächt werden muss. Diese durchaus zentrale Differenz ignoriert Hans-Ludwig Schreiber: Der Begriff der Rechtspflicht. Quellenstudien zu seiner Geschichte. Berlin 1966, S. 16ff. Auch die an historischem Material äußerst reiche Studie von Hinrich Rüping: Die Naturrechtslehre des Christian Thomasius und ihre Fortbildung in der Thomasius-Schule. Bonn 1968, deutet sie (vgl. S. 43) bestenfalls an. Thomasius: Fundamenta juris naturae et gentium (Anm. 2), VI § 1: »Per principium hic non intelligitur principium obligandi in jure nat. & gent. sed propositio prima & generalissima juris naturae, unde reliqua omnia deduci possunt.« In der Anmerkung zu diesem Paragraphen wird der Status jenes Prinzips explizit erklärt: »Metaphysicorum stylo, non principium essendi, sed cognoscendi.«
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zum Naturrecht und damit seine Gewissheit und Evidenz auszuweisen. Alle anderen möglichen Normen finden in jenem Prinzip ihren negativen Prüfstein, da es auf der Hand liegt, dass sie ihm nicht zuwiderlaufen dürfen, um nicht ihre Normativität, und das heißt: die Bedingung der Möglichkeit ihrer Geltung zu verlieren. Das von Thomasius vertretene Prinzip ist teleologisch verfasst, d.h. die durch es legitimierten Handlungen sind nicht um ihrer selbst willen »gut« zu nennen, sondern aufgrund des von ihnen verfolgten Zwecks.56 Es lautet: »Es ist zu tun, was das Leben der Menschen am längsten und glücklichsten macht, und zu unterlassen, was das Leben unglücklich macht und den Tod beschleunigt.«57 Dieser Satz ist wahr, weil jeder Mensch das Vorliegen dieses Strebens an sich selbst feststellen kann, d.h. er ist evident.58 Er ist klar, weil seine propositionale Struktur schlechthin einfach ist, insofern er jederzeit auf die ihm entsprechende Evidenz zurückgeführt werden kann, da diese jedem Menschen notwendig vorliegt.59 Der Satz ist angemessen, »weil er« – so Thomasius – »sowohl alle moralischen Vorschriften unter sich begreift als auch den Schlüssel, die Prinzipien des Ehrbaren, Anständigen und Gerechten zu trennen, bereitstellt«.60 Der extensionale Teil dieser Begründung ist klar: Weil es keinen naturrechtlichen Satz geben kann, der nicht auf dieses Prinzip zurückgeführt werden kann, und kein anderer praktischer Satz mit ihm konfligieren darf, entspricht es seiner Funktion als oberstes Prinzip und ist daher funktional adäquat. Das Prinzip ist nach Thomasius jedoch auch deswegen angemessen, weil es eine Differenzierung verschiedener naturrechtlicher Normenklassen erlaubt, welche der Rückgriff auf die unterschiedlichen Verpflichtungsarten nicht zuließe, die zudem ohnehin nichts über die Legitimität von Normen aussagen. Denn es gibt offensichtlich Normen, die weder nur innere Handlungen betreffen noch durch Gewalt erzwungen werden und gleichwohl zum Bereich moralischer Vorschriften zählen, so dass deren Befolgung dem evidenten Ziel alles menschlichen Handeln förderlich sein muss. Die Adäquatheit des obersten Prinzips bestünde dann gerade darin, dass es alle Verhaltensweisen umfasst, die tatsächlich dem in ihm enthaltenen Ziel entsprechen61 und so die durch die strikte Zweiteilung der Verpflichtung entstandene Lücke zwischen Normen inneren und äußeren Handelns schließt. Dabei ist dreierlei zu beachten: Zum einen können die durch das oberste Prinzip unterscheidbar werdenden Prinzipien verschiedener Normativität wiederum selbst nur Prinzipen der Erkenntnis von Normativität sein, da Geltung nicht schon aus Normativität folgt, weil diese kein zureichender Grund für jene ist. Zum anderen wird die Verpflichtungsart derjenigen Normenklasse, die sensu __________ 56
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Vgl. die knappe Zusammenfassung bei Manfred Riedel: Norm, Wert und Wertinterpretation. In: ders.: Norm und Werturteil. Grundprobleme der Ethik. Stuttgart 1979, S. 91– 114, hier: S. 93–96. Thomasius: Fundamenta juris naturae et gentium (Anm. 2), VI § 21. Vgl. ebd., VI § 22. Vgl. ebd., VI § 23. Ebd., VI § 24. Vgl. etwa ebd., VI §§ 27 und 32.
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stricto weder innerlich noch äußerlich verpflichtet, nicht mehr definitorisch bestimmbar sein, obzwar ihr allgemeiner Geltungsgrund kein anderer sein kann. Schließlich folgt aus der Teilhabe aller dreier Normenklassen am summum bonum und ihrer Bestimmung als Erkenntnisprinzipien einerseits ihre Einheit in dem durch sie bestimmten Lebensvollzug und andererseits ihr Status als begriffliche Instrumente zu dessen Analyse bzw. moralischer Beurteilung.62 Wenn dies so ist, müssten sie auch per reductionem ad evidentiam bestimmbar sein. Genau dieser Auffassung ist Thomasius. Denn die Methode des Normengebrauchs durch den Weisen erfordert zwar, die genannten drei analytischen Prinzipien auseinanderzuhalten, um auf den allemal, aber in verschiedenem Maße törichten Adressaten optimal einzuwirken.63 Zugleich aber sind alle diese drei Prinzipien auf die Evidenz des obersten Prinzips zurückführbar, das sie solchermaßen explizieren. Denn – um es kurz zu machen64 – keiner kann ein gelungenes Leben in jenem Sinne führen ohne inneren Frieden – so der Zweck des Prinzips des Ehrbaren, das innerlich verpflichtet; keiner kann dies in sozialer Isolation tun – so der Gehalt des Prinzips des Anständigen, dessen Verpflichtungsart noch unklar ist; und keiner kann dies ohne äußeren Frieden tun – so der Zweck des Prinzips des Gerechten, das äußerlich verpflichtet.
III. Normenanwendung und relationale Verpflichtung Somit bleibt noch zu klären, auf welche Art das Prinzip des Anständigen verpflichten könnte. Denn es scheint dies ja weder innerlich noch äußerlich zu tun. Dies soll anhand von Thomasius’ Theorie der Normenanwendung versucht werden. Normengebrauch und Normenanwendung sind dabei zu unterscheiden: Denn der Weise gebraucht eine Norm, indem er durch Rat oder Befehl den Willen des mehr oder weniger törichten Adressaten zwingt, diese Norm zu befolgen, d.h. sie anzuwenden. Dies ist so lange nötig, bis die Toren selbst zu vernünftiger Furcht und Hoffnung befähigt,65 d.h. nach Maßgabe ihres Temperaments von Vorurteilen befreit sind. Wer sind nun die Adressaten jener hinsichtlich ihrer verpflichtenden Kraft problematischen Norm? Es sind nach Thomasius Toren mittleren Grades, »die zwar nicht den äußeren Frieden stören, aber dennoch auch nicht durch ihre Handlungen das Wohlwollen und die Freundschaft anderer erwerben«,66 so dass sie gleichsam isoliert in der Gesellschaft leben. Schon an dieser Stelle zeigt sich, dass das Prinzip des decorum die Funktion der Galanterie übernimmt und insofern vertieft und modifiziert, als es dessen politischen Zweck der __________ 62 63 64 65 66
Vgl. ebd., VI §§ 32 und 39. Vgl. ebd., IV §§ 74–76. Vgl. ebd., VI §§ 36–38. Vgl. ebd., IV § 72. Ebd., IV § 75.
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Beförderung des eigenen gesellschaftlichen Fortkommens67 in den ethischen Zweck der Beförderung der eigenen und allgemeinen Glückseligkeit68 wenden soll.69 Weiterhin bezieht sich jene Norm ebenso wie die Galanterie strikt auf äußere Handlungen, die weder natur- noch positivrechtlich verboten sind.70 Weil es nur um äußere Handlungen geht, stehen dem Weisen beim Normengebrauch ebenso Rat wie Befehl zu Gebote, wenngleich er »eher Rat als Befehl nutzen«71 wird. Weil es aber weiterhin stets nur um erlaubte Handlungen geht, können jene Normen nur hypothetisch verpflichten, d.h. ihre verpflichtende Kraft ist von den Umständen und Perspektiven abhängig, unter denen sie angewandt werden. Damit gewinnt das Problem der Anwendung zentrale Bedeutung. Denn die Toren müssen im Falle relativer Normengültigkeit bei der Normenanwendung wesentlich auf die stete Anleitung durch Weise angewiesen sein, und »auch die weiseste Norm ist umsonst, wenn sie nicht auf Torheit angewendet wird«72. Da die Leistung der Toren bei der Anwendung moralischer Normen allein in Gehorsam besteht73 und es nur um erlaubte Handlungen geht, hängt das Befolgen einer relativ gültigen Regel wesentlich von der Autorität des Weisen ab, der dies verlangt. Autorität besteht aber allein in der Meinung des Toren, dass »der Weise sowohl wohltun als auch schaden kann, aber trotzdem eher nützen als schaden will«74. Autorität ist daher nach Thomasius »die Meinung über die mit Tugend verbundene Macht des anderen«75. Diese Meinung kann nur affektiv fundiert sein, da der Tor eben ein Tor ist und kein Weiser. Macht besteht dabei in der Fähigkeit, im Gemüt des Adressaten Furcht oder Hoffnung zu erregen. Ist diese Voraussetzung, d.h. der allgemeine Geltungsgrund von Normen, gegeben, stehen drei Mittel zur Verfügung, durch die der Weise die Toren zur Normenanwendung bewegen und sie so an diese gewöhnen kann. Es sind dies Beispiele, Belohnungen und Strafen,76 die freilich alle gleichermaßen zu Gebote stehen müssen, wenngleich ihr Einsatz je nach Normenklasse mehr __________ 67
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Vgl. zum hier in Anschlag zu bringenden Begriff des Politischen: Brückner (Anm. 5), S. 92–107. Vgl. Thomasius: Fundamenta juris naturae et gentium (Anm. 2), VI §§ 26 und 27. Diese Wendung betont Hammerstein (Anm. 22), S. 58f. Auf diese negativen Kriterien zur Unterscheidung des besonderen »Decorum politicum« vom »Schein-Decorum« verweist zurecht Matthias Kaufmann: Das Decorum: Grundlage oder Folgeerscheinung des Rechts? In: Christian Thomasius (1655–1728). Wegbereiter moderner Rechtskultur und Juristenausbildung. Hg. von Heiner Lück. Hildesheim, Zürich und New York 2006, S. 27–38, hier: S. 32ff. Thomasius: Fundamenta juris naturae et gentium (Anm. 2), IV § 75. Ebd., VII § 1. Ebd., VII § 4: »Opera stultorum in applicanda norma morali obsequium dicitur.« Zu weiterer Differenzierung vgl. ebd. und § 5. Ebd., VII § 6. Ebd. Ebd., VII § 9: »Sed cum stultorum varia sint genera, varia etiam debent esse genera auxiliorum, quae sapiens praebet insipientibus. Potissimum tria; exempla, praemia, poenae.«
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oder weniger effizient sein wird.77 Eine grundlegende Rolle spielen dabei jedoch die Beispiele78: »Wenn diese fehlen, ist Rat und Befehl vergebens, und alle Strafen und Belohnungen sind umsonst.«79 Von vornherein ist klar, dass die Anwendung von Normen, die innere Handlungen gebieten, allein durch Beispiele induziert werden kann. Da auch hier das Evidenzkriterium gilt und Evidenz immer sinnlich verfasst ist, kann hier nur das Beispiel des Ratgebenden selbst in Betracht kommen. Dies gilt aber auch für Belohnungen und Strafen, da sonst der Glaube an die Autorität des Weisen verschwindet und weder Hoffnung auf Belohnung noch Furcht vor Strafe entstehen kann.80 Vor dem Hintergrund dieses Primats des Beispiels als Mittel, die Toren zur Normenanwendung zu bewegen, ordnet Thomasius die verschiedenen drei Mittel hierzu gemäß ihrer Effizienz den verschiedenen Normenklassen zu, die wiederum Torheitsgraden entsprechen: »Beispiele wirken am meisten bei den Regeln des Ehrbaren, Belohnungen bei den Regeln des Anständigen und Strafen bei den Regeln des Gerechten: Durch Strafen entwöhnen sich die Menschen vom Unweisen und hören auf, böse zu sein; durch Belohnungen beginnen sie, Geschmack zu haben und gut zu sein; durch Beispiele werden sie vervollkommnet.«81 Unter die Normenklasse des Anständigen fallen allein erlaubte äußere Handlungen. Weil sie erlaubt sind, kann auf diesbezügliche Verfehlungen nicht mit Leibesstrafen reagiert werden. Ebenso verbietet es sich, auf die Anwendung der jeweiligen Norm mit gesetzesmäßigen materiellen Belohnungen zu reagieren, da diese immer gegeben werden müssten, so dass wiederum die Grenze zur Gerechtigkeit aufgehoben und der eigentlich angepeilte pädagogische Effekt verfehlt würde82 – von den unpraktischen, weil ruinösen materiellen Folgen für den Weisen ganz zu schweigen. Dennoch muss der Weise mit äußerem Verhalten reagieren, da eine Belohnung ansonsten nicht als solche erkannt werden könnte. Es bleibt also nur dies, dass er den Umgang mit dem gemäß der Norm handelnden Toren sucht und den Umgang mit dem wider die Norm handelnden Toren flieht, mithin sich diesem gegenüber freundlich oder unfreundlich verhält und damit zugleich wiederum beispielhaftes Verhalten an den Tag legt. Damit ist zugleich der Grund der Relativität der Verpflichtung offengelegt, welche durch die Normenklasse des decorum entsteht: Er liegt in der notwendigen Wechselseitigkeit83 des an den Tag gelegten Verhaltens, aus der __________ 77 78
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81 82 83
Vgl. ebd., VII § 14. Zur Tradition dieses Primats der Beispiele seit Gracián vgl. Friedrich Schümmer: Die Entwicklung des Geschmacksbegriffs in der Philosophie des 17. und 18. Jahrhunderts. In: Archiv für Begriffsgeschichte 1 (1955), S. 120–141, insbesondere S. 137. Thomasius: Fundamenta juris naturae et gentium (Anm. 2), VII § 12. Ebd., VII § 15: »Si imperans aut docens non praeeat exemplo, ipsa etiam praemia & poenae languescent, i. e. non rite ab ipso distribuentur.« Ebd., VII § 14. Vgl. dazu Thomasius’ Beispiel aus der Anmerkung zu ebd., VII § 58. Dies bemerkt zurecht Frederik M. Barnard: Rightful Decorum and Rational Accountability. A Forgotten Theory of Civil Life. In: Schneiders (Anm. 15), S. 187–198, hier: S. 188.
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überhaupt erst eine Verpflichtung entstehen kann. Weil dies so ist und weil es keine Notwendigkeit des Umgangs mit diesem oder jenem bestimmten Menschen gibt, sondern nur eine Notwendigkeit des Umgangs mit Menschen überhaupt, kann Thomasius behaupten: »Das Decorum ist die Seele der Menschlichen Gesellschafften / es ist eine Schwachheit / aber es ist kein Laster.«84
IV. Sozialethik und Autorität Die Normenklasse des Anständigen enthält daher die sozialethischen Normen par excellence,85 da sie im eigentlichen Sinne relational verpflichtet, denn sie bezieht sich auf den alltäglichen konkreten Umgang mit bestimmten Individuen. Ihr Geltungsmodus kann daher mit dem frühen Thomasius »galant« genannt werden. Anders als bei der individualethischen Norm des honestum, deren Zweck der innere Friede ist, und anders als bei der rechtlichen Norm des iustum, deren Zweck der äußere Friede ist, kann von der sozialethischen Norm des decorum aus dem Naturrecht nur erwiesen werden, dass es irgendwelche konkrete Regeln geben muss, die ihr entsprechen. Es kann aber nicht demonstriert werden, welche dies zu sein haben.86 Deswegen ist ihre Ausgestaltung auch vollständig von Autoritäten abhängig, da sie anders als die elementaren Normen der Moral und des Rechts nicht gefunden werden können, sondern erfunden werden müssen. Wenn man daher nicht die Autorität hat, solche Normen zu erfinden, kann man sich folglich nur durch Einübung an sie gewöhnen, da ihre Befolgung nicht ihren Lohn in sich selbst trägt, sondern auf Belohnung durch andere angewiesen ist. Der späte Wittgenstein hatte für diesen Sachverhalt das zunächst ganz neutral zu verstehende Wort »Dressur«, die jedenfalls bei Thomasius um des Besten des Dressierten willen erfolgen soll, ohne dass dieser freilich in strengem Sinne selbst wissen müsste oder auch nur in seiner Torheit könnte, was denn dieses Beste genau sein soll.87 Die Prägung der regularum decori ist also nicht nur gänzlich historischer Kontingenz unterworfen, sondern obliegt auch exklusiv einer besonderen Gruppe von Personen, deren diesbezügliche Kompetenz im Blick auf das Gemeinwohl von den allemal törichten Normadressaten nur anerkannt, aber nicht zuverlässig kontrolliert werden kann. Die Autorität der normsetzenden Weisen ruht daher auf einem positiven Vorurteil der Toren über ihr __________ 84 85 86
87
Thomasius: Erinnerung über den dritten Theil der Grund-Lehren (Anm. 29), S. 213f. Dies betont zurecht Beetz (Anm. 15), S. 202ff. Insofern sind diese konkreten Regeln auch Gegenstand historischer Forschung und Erkenntnis; vgl. dazu Hammerstein (Anm. 22), insbesondere S. 59–62, und Sinemus (Anm. 39), S. 163. Diese systematisch wohl nur auf den ersten Blick überraschende Parallelität noch unter Rücksicht auf Wittgensteins Begriff des Regelfolgens zu analysieren sprengte allerdings den Rahmen dieser Untersuchung.
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Wohlwollen. Die Rechtfertigung dieses Vertrauensvorschusses kann – jedenfalls bis zum immerhin möglichen Aufstieg des Toren zum Weisen durch Ablegung aller Vorurteile88 – allein in der jeweils erfolgenden Beförderung des persönlichen Wohlergehens der Normadressaten bestehen. Dies wird sich durch die Befolgung der Normen des decorum einstellen, welcher sich der Tor, d.h. der Normalbürger, nur um den Preis gesellschaftlichen Misserfolgs, sozialer Isolation oder gar Ächtung entziehen könnte. In der Tat scheinen unter dieser Bedingung individuelle Freiräume im Bereich der erlaubten, aber durch jene Sozialnormen dennoch kontrollierten Handlungen eher den Angehörigen des normensetzenden Teils der Bevölkerung offenzustehen als dem normbefolgenden Bürger, gleichsam Otto Normaltor,89 der sich – je nach Geschmack oder Perspektive – gezwungen oder gerechtfertigt sehen kann, durch schiere Opportunität seines Sozialverhaltens, d.h. Galanterie, seinen gesellschaftlichen Erfolg zu suchen. Es mag dieser schwer abzulegende Ruch des Opportunismus sein, der das Konzept der Galanterie, das Thomasius auf der Basis des Begriffs des decorum entwickelt, vom klassischen römischen bzw. stoischen Begriff des decorum zu trennen scheint, obgleich gute Gründe für eine zumindest sehr enge Verwandtschaft beider Theorien sprechen.90 Dafür, dass hier aber eine grundsätzliche Differenz zu bestehen scheint, spricht eine Bemerkung, zu der sich Thomasius’ »Meisterschüler«91 Nikolaus Hieronymus Gundling angelegentlich der Ankündigung einer Einführungsvorlesung für »Studios[i] Iuris und politische Mensch[en]«92 genötigt sieht. Nachdem Gundling ausdrücklich betont hat, dass »biß auf diese Stunde / ausser dem Herrn Thomasio, davon [sc. der Doctrina de decoro] niemand etwas recht vernünfftiges und zusammen hängendes geschrieben«93, stellt er klar: »Wie etliche gantz unvernünfftig den Stoickern die Erfindung des decori zugeschrieben / und also zuverstehen gegeben / dass sie diese doctrin nicht verstehen.«94 Es läßt sich also immerhin vermuten, dass es gerade die Übereinstimmung des Galanten mit dem decorum sein könnte, die – um es pointiert zu formulieren – das alte, republikanische Rom vom absolutistischen Preußen der Frühaufklärung trennt. Die Frage indes, ob sich __________ 88 89
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Vgl. Barnard (Anm. 83), S. 193ff. Vgl. die auf die gesellschaftliche Situation abhebende pessimistische Bewertung von Doyé (Anm. 3) und wiederum Barnard (Anm. 83) als die Bildungs- und Aufstiegschancen des Einzelnen betonenden optimistischen Widerpart. Vgl. Kaufmann (Anm. 70), S. 37f. Martin Mulsow: Moderne aus dem Untergrund. Radikale Frühaufklärung in Deutschland 1680–1720. Hamburg 2002, S. 311. Nikolaus Hieronymus Gundling eröffnet seinen künfftigen Zuhörern ein Collegium über die Historiam Litterariam, Darinnen er hauptsächlich zeigen wird / in was vor einer Ordnung ein Studiosus Iuris und politischer Mensch / alle ihm nöthige disciplinen und Wissenschafften vernünfftig erlernen / auch was derselbe vor Bücher und Schrifften erkennen / und sich bekandt machen solle / Daferne er entweder solid, oder auch nur cavallierement studiren will. Halle o.J. Ebd., IV 160 (S. 53). Ebd., IV 163 (S. 53).
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diese Differenzvermutung tatsächlich für die thomasianische Theorie bestätigen läßt und, wenn ja, ob sich Thomasius dieser Differenz bewusst war, erforderte eine eigene Untersuchung und kann daher hier nicht mehr beantwortet werden.95
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Vgl. auch die Hinweise auf Budde und Gundling bei Merio Scattola: Dalla virtù alla scienza. La fondazione e trasformazione della disciplina politica nell’ età moderna. Milano 2003, S. 461ff.
Thomas Christensen
Rules, License and Taste in 17th-Century French Music Theory: From Mersenne to Rameau
Since Plato chastised the Rhapsodes in his dialogue Ion, critics have always sought ways to balance the desideratum of prescribing objective norms of art while granting artists free reign to their imagination. There is no poetics of artistic creation in any field that I am aware in which this tension is not manifest. In music, we find such tensions already in the Middle Ages within the earliest music-theoretical writings that aim to codify basic procedures of compositional practice. Whether it is Guido of Arezzo teaching his young singers how to articulate a mode correctly, John of Garland attempting to coordinate rhythmic practice within his modal categories, or Marchetto of Padua attempting to illustrate proper procedures of counterpoint, theorists of music have always faced a tension between theoretical unification and practical variety, between the synthetic aspirations of the ›musicus‹ and the empirical creativity of the ›cantor‹. But if the dialectic of normativity and freedom is a defining feature of all aesthetic poetics, I would argue that no where was that tension more acute than in France in the grand siècle of the 17th century. For a complex of causes that might simplistically be attributed to 17th-century France’s historical reception of classical humanism within a political culture that valorized centralized absolutism and rationalist systematization, doctrines of artistic poetics were debated in France with an intensity found nowhere else at the time.1 In the following essay, I want to outline some of the dominant themes of French musical poetics from the 17th century. Obviously I cannot presume to offer anything approaching a comprehensive survey here. But I do want to at least touch on some fundamental issues, and trace them through the writings of selected critics and music theorists culminating in the writings of Jean Philippe Rameau in the early 18th century. We will see that while the debate over normativity and freedom in music was a recurring one, the nature of the debate and the configuration of arguments changed in important respects over a hundred year period. The trajectory of this change helps to shed light upon the deeper aesthetic shifts by which normativity in music theory might be measured in the early modern period. __________ 1
The one exception might be 18th-century Germany. But it is interesting that most of the key protagonists in this later debate, including Mattheson, Scheibe, Gottsched, and Marpurg, were deeply familiar with – and influenced by – the writings of their French predecessors. Thus an understanding of German aesthetic poetics in the 18th century entails an understanding of the French theories to which they are in part heirs.
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I want to first begin by considering as a background to my argument that famous purveyor of scientific thought and musical theory in the early 17th century, Marin Mersenne. I pick Mersenne as representative of a figure who straddles the boundary between an older Renaissance viewpoint of classical poetics and an early-modern viewpoint informed by the emerging discoveries of mechanical science and philosophical empiricism in which he took an active role. I will then turn to several music pedagogues from the generation following Mersenne and consider how they attempted to impose compositional discipline in their didactic writings. A short digression on problems of dramaturgical propriety and license at mid-century will help to highlight tensions in the neoclassical dogmas of its more conservative champions. Finally, we will conclude with a reconsideration of Rameau’s musical epistemology and his famous claim to found a musical science with Cartesian certainty. We will see few claims of normativity in music may be reduced to clearly apodictic formulations, and many norms in music remain in the realm of non-discursive knowledge.
Mersenne, modernity and music Marin Mersenne (1588–1648) has long been seen as a harbinger of modernity in music theory. Well known to historians of science for his work championing the new experimental science and mechanics of Galileo to his contemporaries, in music Mersenne is rightly presented as a progressive reformer. Against the received Pythagorean numerology and occultism that characterized so much late Renaissance music theory, Mersenne argued vigorously in his many publications – but especially his Harmonie universelle of 1636 – for an acoustical understanding of musical phenomenon testable through empirical experiment and quantitative measurement.2 (But Mersenne was not always the progressive empiricist this breezy sketch suggests; in other important ways, he retained a deeply ingrained mystical – and even Gnostic – mentality.3) Mersenne’s interest in music, as we might deduce, was closely allied to his work in science. He was convinced that music was an ideal science of mechanistic reduction, one to which the other physical sciences might even be subordinated: »If one had a perfect knowledge of sounds, and mastered all of the things that could be known from their means, then one would have a science of all natural bodies that would be more general, more certain, and more particular than that of ordinary physics.«4 __________ 2 3
4
Harmonie universelle contenant la théorie et la pratique de la musique. Paris 1636–37. In a forthcoming article (from which the present section of this essay is drawn), I have explored in greater depth these opposing tensions in Mersenne’s musical writings: Thomas Christensen: The Sound World of Father Mersenne. In: Sound and Sensibility in the 17th Century. Ed. Susan McClary (Garland Press, forthcoming). Marin Mersenne: Les Questions theologiques, physiques, morales, et mathematiques. Paris
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But in stripping music of the many pernicious myths and dogmas it had accumulated over time, Mersenne by no means wished to deny the affective powers and moral authority attributed to music by the ancients (or by his friends in the Académie, for that matter).5 On the contrary, he hoped to verify and reinforce this authority by securing it more firmly in the new empirical science. Above all, he was convinced that the quantifiable order that was the foundation of the Pythagorean lore of sounding number was deeper and more far reaching than any champion of Rosicrucian knowledge such as Robert Fludd could have imagined. Mersenne’s study of the vibrating string was paradigmatic here. By showing how the frequency of a string’s vibration is not only proportional to the square root of the tension of the string (which had been discovered by Vincenzo Galilei) but also inversely proportional to the square root of the string’s weight or thickness (resulting in the formula today known as ›Mersenne’s law‹), he believed anyone should be convinced of the sublime rationality of God’s universe – one far more profound and intricate than the mere iteration of simple whole-number ratios argued by the Pythagoreans.6 Indeed, so thoroughly rational and empirical were the mechanics of music that Mersenne was convinced that it could be used to convince skeptics, Pyrrhonists, and non-believers of the errors of their ways. For what could be more manifestly true and convincing than the truths of music theory? The precision by which intervals could be mechanically explained and precisely measured was surely a blow to the destructive skepticism of the Pyrrhonists who argued that nothing certain could be known and that all judgments were __________
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1634, p. 158. For the classic study of Mersenne as a scientist, see Robert Lenoble: Mersenne ou la naissance du méchanisme. Paris 1943. A. C. Crombie’s comprehensive study of early-modern science contains a most illuminating discussion of Mersenne’s scientific style, along with many helpful translations: Styles of Scientific Thinking in the European Tradition. Vol. 2. New York 1994, pp. 810–865. Much shorter and accessible is Crombie’s entry: Marin Mersenne. In: The Dictionary of Scientific Biography. Ed. C. G. Gillespie. New York 1974. Peter Dear’s indispensable study puts Mersenne’s scientific agenda in broader intellectual perspective: Peter Dear: Mersenne and the Learning of the Schools. Ithaca 1988. Mersenne was a close friend of Jacques Mauduit, the last member of the celebrated Académie de poésie et de musique founded in 1570 by Jean-Antoine de Baïf, who lived nearby the convent of Minims (located by the Palais Royal) to which Mersenne had moved in 1619. Mersenne became fascinated by the Académie’s project to recapture the powerful affects of ancient music and poetry, and its idealism is reflected in many pages of the Harmonie universelle. Clifford Truesdell: The Rational Mechanics of Flexible or Elastic Bodies, 1638–1788. In: Euleri Opera Omnia. Leipzig etc. 1912ff. Series 2, Vol. XI/2, p. 28. Still, we should not overlook the tenacious hold such naturalist and numerological views continued to hold in the 17th century. The vibrating string – the very object upon which Mersenne seemed to ground his mechanistic philosophy in music – was also the phenomenon that naturalists such as Fludd cited as evidence for the occult nature of music. For many of these observers, the vibrating string seemed to convey as if by magic its vibrations through the air and set into sympathetic motion other objects, much as music itself could set into motion the fibers and humours of the body. See Penelope Gouk: Music, Science and Natural Magic in Seventeenth-Century England. New Haven 1999.
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ultimately groundless.7 For those who argued that music was far too subjective an art and historically mutable, Mersenne responded in 1634 with a short treatise, the Questions harmoniques, in which he asks – and attempts to answer – a number of highly-speculative questions related to music.8 Mersenne’s actual stimulus for this treatise, it seems, was a lengthy essay sent to him by a humanist skeptic and follower of Montaigne named Francois de La Mothe Le Vayer. The essay, which Mersenne included in his publication under the title »Discours sceptique sur la musique« attempted to document the varying and often conflicting views held by ancient and non-Western authorities concerning the origins of music and its affects (pp. 84–171). The quantity of erroneous claims and sheer nonsense reported by the ancients and repeated by their acolytes today, La Mothe Le Vayer argued, coupled with the fallibility or our own judgments and knowledge should lead every sober Christian to recognize the limits of what we can know about music (pp. 164–65).9 Mersenne certainly had no argument with La Mothe Le Vayer concerning the hybris of human intellect. He regularly chided those writers who presumed to find final causes or occult properties in nature, let alone those who claimed to discern the plan and purpose God has for man. We cannot know the science or the true reasons for what occurs in nature, because there are always some circumstances or instances which make us doubt whether all the causes that we have believed are really true, or if any of them are true, or if there could be other causes altogether.10
But even if we can never penetrate to the ultimate causes of nature, Mersenne quickly added, we can still observe effects in nature, measure them with empirical precision, and perhaps derive from them some useful, moral application. (Richard Popkin has rightly characterized Mersenne’s position here as one of __________ 7
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Mersenne’s most impassioned polemic using arguments of science and music theory against skepticism came in his massive, 1000-page treatise of 1625: La Vérité des sciences contre les sceptiques ou Pyrrhoniens. Paris 1625. Reprint Stuttgart 1969. Discussions on music may be found on pp. 349–389 and pp. 527–580. For the classic study of skepticism in early modern thought, see Richard Popkin: The History of Skepticism from Erasmus to Spinoza. Berkeley 1979. Also see Richard Popkin: Father Mersenne’s War Against Pyrrhonism. Reprinted in ibid.: Essays on Early Modern Philosophers from Descartes and Hobbes to Newton and Leibniz. Ed. Vere Chappell. New York 1992, Vol. 2, pp. 161–178. Questions harmoniques dans lesquelles sont contenuës plusieurs choses remarquables pour la Physique, pour la Morale, et pour les autres sciences. Paris 1634. Reprint Stuttgart 1972. The Questions harmoniques was actually one of four treatises Mersenne published in 1634 that contained a large number of speculative problems concerning music theory, acoustics, and affect. (The others were: Questions inouyes ou recreation des scavans; Questions theologiques, physiques, morales, et mathematiques; and: Les preludes de l’harmonie universelle.) Quite likely the material in these books was all originally intended to be included in his forthcoming Harmonie universelle. But given their highly eclectic and speculative nature, Mersenne evidently decided to publish them separately. For background on La Mothe Le Vayer, see Popkin: The History of Skepticism (fn. 7), pp. 90–97. Marin Mersenne: Les Questions theologiques, physiques, morales, et mathematiques, p. 18.
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»mitigated« or »constructive skepticism«.11) While the kinds of delimited knowledge we gain from careful observation and measurement may not lead us to the ultimate truths known only to God, it is knowledge nonetheless, and a reasonable and honorable aim for all pious souls. There was real use to be had in music, too, Mersenne reminded La Mothe Le Vayer, by studying its physical origins and mathematical foundations. (Not by chance did Mersenne entitle the penultimate book of the Harmonie universelle »De l’utilité de l’harmonie«.) And he attempted to use the rest of the treatise to make just this point. The Questions harmonique might well be considered Mersenne’s most explicit meditations on musical epistemology in that he tried to clear the deck, so to speak, and ask in explicitly Cartesian rhetoric just what kind of certain knowledge (»principes certains et evidens«, p. 80) one could have about music. It turns out that theory can indeed lead to certain knowledge by applying tools of mechanics and geometry. While there is no doubt that the more intuitive understanding of music gained by practicing musicians is also of value, Mersenne cannot accept it as stable and profound as that gained by theory. For theory appeals to the dispassionate mind, whereas practice is guided only by fickle taste; the former is guided by the spirit, while the latter is seduced by the body, and it seeks the good and useful, not merely that which is delectable.12 Practice is only an effect of theory, on which it depends entirely; and if there had been no theory there would have been no practice. And although an edifice is more useful to lodge in when it is made, [...] the design of a building is the more excellent as it approaches nearer to that which the architect has conceived in his mind, following the rules of his art; and external moral actions which we call good and meritorious take their goodness from the internal acts that precede them or accompany them, without which they would have no moral goodness.13
Mersenne returned in his later writings to reconsider the relative merits of theory and practice in music, arriving always at the same conclusion. Again and again his Platonic sympathies were evident as he elevated the theory of art above the shadows of its practice: Because the mind of those who know only practice are limited by the scope of art, believing all else is useless and imaginary. It is nonetheless certain that theory is more excellent and more noble than practice, and that the essence of reason surpasses that of matter.14 __________ 11
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Popkin: The History of Skepticism (fn. 7), pp. 129–150. A good example of such delimited knowledge is Mersenne’s discussion of Gilbert’s magnet. Although he could not offer an explanation of its cause, it was quite possible to describe empirically the effects of the magnet and even to suggest obvious applications for surveying and navigation. Les Questions theologiques, #27: »Combien la pierre d’Aymant a-elle de proprietez?« (p. 123). Questions harmoniques, Question #5: »A scavoir si la pratique de la Musique est preferable a la Theorie; et si l’on doit faire plus d’estast de celuy qui ne scait que composer, ou chanter, que de celuy qui ne scait que les raisons de la Musique« (p. 226. Questions harmoniques, pp. 237–239. Harmonie Universelle, »Livre Premier des consonances«, p. 110.
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Mersenne’s confidence in the powers of reason applied to music inspired him to return in his later writings to some of the earlier speculative questions he had raised that were inspired by Mauduit’s Académie: Can we determine what attributes the most perfect musician should have? Is it possible to learn through theory how to compose and sing the most perfect melody possible for any given subject? And is it therefore possible to know how to judge music perfectly?15 As for the question of composing a perfect melody, Mersenne thought that the science of combinatorics might be of help, since in order to know if a melody was perfect, one had to know first what were the number of possible melodies to begin with against which it might be compared. Hence Mersenne’s fascination with Lullian ›ars combinatoria‹ by which to calculate the number of permutations of a series of notes, rhythms, or voices.16 Of course it was not possible to write out and perform – let alone to judge – all possible melodies on any given subject. In his own permutation tables, Mersenne reasonably limited himself to songs containing no more than the six notes of the diatonic hexachord (and thereby coming up with 720 permutations, each one of which was written out in solfege as well as staff notation). This limited exercise was proof enough that the number of practical melodies – especially when we take into account an extended gamut, repetition of notes, and rhythmic variety – exceeded by millions of times the numbers of grains of sand found on earth. »All the people of the earth couldn’t sing all of the possible songs contained in the harmonic hand [i.e. diatonic scale] [...] even if they sang a thousand different songs every day from the creation of the world until the present.«17 With evident regret, Mersenne conceded that it would never be possible on this earth to compose a perfect melody, although he held out the happy prospect that the devout Christian might yet hear such perfect melodies sung by the angels in paradise if it so pleases God. Still, the exercise in permutation theory was a __________ 15
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La Verité des sciences, p. 544: »Dans lequel il est traité des beaus airs, & des beaus chants, & montré s’il est possible de faire un chant sur un sujet donné, qui soit le plus beau de tous cues qui puissant ester faits sur le mesme sujet.« Les preludes de l’harmonie universelle, Question #5: »Quelle doit estre la capacité, et la science d’un parfaict musicien.« Question #11: »A sçavoir comme il faut composer les chansons, pout estre les plus excellenetes de toutes celles qui se puevent imaginer.« Harmonie Universelle, »Livre second des chants«, p. 103: »Determiner s’il est possible de composer le meilleur chant de tous ceux qui se seuvent imaginer, & si estant composé il se peut chanter avec toute la perfection possible.« (Already in his Quaestiones Celeberrimae in Genesim. Paris 1625, col. 1563–64, Mersenne asked what it would take to compose the most perfect music (»Quae requiruntur ut musicae perfecta vis restituatur«). Any diligent reader of Mersenne soon learns that he would constantly recycle questions and material from earlier writings, if with further elaborations or reflections.) Mersenne’s most extensive discussion of combinatorics is found in the Harmonie Universelle, »Livre second des chants« pp. 107–158. Harmonie Universelle, »Livre des Chants«, p. 107. In his La Verite des sciences of 1625, Mersenne attempted to be precise in his calculations. If there have been – according to Joseph Scaliger – 6824 years since creation, and a year contains 8766 hours, Mersenne determined that it would be impossible to sing all the permutations of a song containing only 12 tones assuming a leisurely rate of one song every 40 seconds! (pp. 553–554).
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useful one, if only to remind us of the unfathomable riches God has made available to us on this earth. Music is thus a parable for the plentitude of His creation. In contemplating this science of sound, Mersenne continually reminds us, the pious listener is lead inexorably to greater devotion to God. Returning to the question of the new science and music theory, we can now see why many theorists in the early 17th century such as Mersenne might have thought that many age-old questions of musical taste and judgment might now be resolved using rigorous acoustical analysis. Consider, for example, the problem of defining and ranking musical consonance. Historically, consonance was measured by interval ratios that could be easily plotted out on a monochord: the simpler the ratio, the more consonant the interval. The new acoustics offered a new and seemingly infallible foundation upon which to ground this hierarchy in a theory of vibrational ›coincidence‹. Whereas classical music theory taught that intervals such as the fourth were perfect because of their numerical simplicity, in this case, that of a sesquitertia superparticular ratio (4 to 3), the new mechanistic science as articulated by Mersenne’s contemporaries such as Galileo Galilei, Descartes, and the Dutch physician Isaac Beeckman taught that a simple ratio such as the fourth was consonant because of acoustical/physiological reasons: its frequencies ›coincided‹ with one in another in greater proportion, a coincidence that was physically perceived by the ear and conveyed a greater degree of consonance that to more dissonant intervals whose vibrational coincidences were lesser in number. But this very example points to problems still latent in the new science as regards to musical poetics. While the coincidence theory of consonance seemed to validate the Pythagorean classification of the fourth as a consonance, musical practice did not seem to concur with this judgment. Most musicians would accept the major third to be more consonant than the fourth, even though its ratio was more complex: 5 to 4 instead of 4 to 3. Mersenne discussed this discrepancy several times in letters to his friend Descartes, who proffered a dualistic explanation: the fourth may be more »excellent« than an interval such as the major third, however the later was more »agreeable«. Honey may be a sweet food to the palate, but in too much quantity it can be distasteful. Just so, said Descartes, music composed mainly with intervals deemed most perfect by reason may not produce the most beautiful music to the ear.18 That the science of Mersenne’s day was indeed not yet capable of guiding musical practice was implicitly acknowledged by Mersenne in that he found himself turning to musicians he knew or corresponded with in order to answer his questions concerning composition, including the likes of Jacques Mauduit, Pierre Ronsard, Jean Titelouze, Antoine Boesset, Giovanni Doni, and Joannes Bann. Throughout the Harmonie universelle we find evidence of Mersenne __________ 18
See Descartes’s letter to Mersenne dated January 13, 1631. In: Correspondance du P. Marin Mersenne, religieux minime. 17 vols. Paris: P.U.F. and C.N.R.S, 1933–88. Vol. II, p 25. On the history of the »coincidence theory« of consonance in the 17th century, see H. Floris Cohen: Quantifying Music. The Science of Music at the First Stage of the Scientific Revolution, 1580–1650. Dordrecht 1984.
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having consulted these trained musicians in order to determine their views of musical composition, history, performance, and instrument construction. Thus we begin to see cracks in Mersenne’s belief that reason supported by science would provide musicians with the rules and norms needed to guide them in composition, performance, and judgment of music. But Mersenne’s doubts must not be misconstrued. His deference to certain musical experts by no means meant the giving up of universal rules or principles, nor that such rules were any less scientific or reasonable. Rather it meant that such rules were most likely to be found sustained and articulated by the empirical judgment of connoisseurs: those individuals possessing the requisite degrees of experience, reason, taste, and decorum – this last quality being what the French called ›les bienséance‹. Such connoisseurs, Mersenne evidently felt, must have an instinctive understanding of music’s principles, even if such understanding was not arrived at by any deductive reasoning.
Taste, propriety and bienséance In the mid 17th-century, bienséance became a dominant trope of civil norms, the mark of a galant homme and noble courtier. As Norbert Elias has brilliantly shown us, norms of civility in court society during the 17th century were largely formed and sustained through shared values of bienséance.19 These were not norms of behavior that were legislated, let alone grounded in any kind of natural law or classical pedigree; rather they enjoyed their authority through a kind of tacit agreement among civilized men – one’s mark of civilization, of course, being (tautologically) that one recognized and agreed with this very norm of behavior. At mid-century, ›les bienséance‹ did much to establish norms of aesthetic poetics by which artworks could be judged, norms emphasizing reasonableness, verisimilitude, propriety, seemliness (or ›convenance‹), decorum, and morality. Thus it was that the celebrated controversy which engulfed the playwright Pierre Corneille at the premier of his stage tragedy Le Cid in 1637 was one of decorum. Let alone that the play violated the principles of Aristotelian unities of time, place, and action or the dictum of ›liaison des scènes‹, Le Cid presented troubling moral messages that forced the intercession of Cardinal Richelieu and the Académie Française.20 Corneille was eventually prompted to write in 1660 a defense of his dramatical practice in which he criticized the rigidity of Aristotelian poetics, or at least the poetics as presented by defenders of the ancients, such as Nicolas Boileau. Taking a more Horatian position of artistic __________ 19
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Norbert Elias: Die höfische Gesellschaft. Untersuchungen zur Soziologie des Königtums und der höfischen Aristokratie. Neuwied und Berlin 1969. Mitchell Greenberg: Toward French Classical Tragedy. In: A New History of French Literature. Ed. Denis Hollier. Cambridge, MA 1989, pp. 273–278. Also see from the same collection the essay of Marcel Gutwirth: The Autocritical Dramaturgy of Classicism, pp. 309-14.
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license, Corneille argued for a liberal interpretation of the rules of drama – ›les réguliers‹ – at the service of dramatic expression. Especially important was the need for plausibility of characters and of a story – the ›vraisemblance‹. And such dramatic integrity, Corneille emphasized, was possible only if the artist was not saddled with outmoded dogmas. Corneille’s criticism of classical poetics should not be misconstrued as an argument for subjective anarchy; there were no doubt that rules and norms should guide the playwright. But these norms were ones that were to allow for dramatic effect a n d affect. The socalled battle between the moderns and ancients, we must keep in mind, entailed not so much a repudiation of classical norms as it was a reformulation of those norms based on reason, taste, and ›bienséance‹. And again, such norms were ones that were located less in classical authority than in a kind of communal judgment and taste shared among connoisseurs – a ›sensus communis‹ of experts.21 Again, we should be careful that we not misconstrue this debate. The ›moderns‹ in the Querelle were not arguing against the existence, and indeed, the necessity of boundaries and guidelines in art. Charles Perrault, for all that he championed the side of the moderns, never doubted that norms of propriety, culture, and decorum – in other words, of ›bienseance‹ – did exist and could be mined through an analysis of contemporary practice. ›Bon gout‹ did not mean fickleness and hedonistic license. Quite the opposite is true; taste and the ›sensus communis‹ could at times be more restrictive and dogmatic than appeals to classical authority. Consider how the Académie Française attempted to codify the French language into a fixed dictionary so to regulate and discipline its usage, albeit a language sanctioned and drawn from the practice of its elite connoisseurs.22 Let me return to the domain of music now. If there was no source in antiquity upon which ›modern‹ French composers could model their musical compositions and regulate their poetics, there was a more recent authority in Zarlino, whose rules of counterpoint were disseminated and copied by early 17th-century French musicians beginning with Pierre Maillert, Antoine Parran, and Antoine de Cousu. But with the penetration of the Italian ›seconda pratica‹ into France by mid-century (symbolized by Mazarin bringing to court an Italian comedy troupe in 1645, and the adoption by Henri DuMont in 1650 of the basso continuo), Zarlino’s strict rules of counterpoint could no longer offer an infallible guide to progressive musical tastes.23 Mignot de la Voye in his short composition treatise of 1656 could thus argue that rules must be drawn from __________ 21 22
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René Bray: La formation de la doctrine classique en France. Paris 1951. Timothy Murray: The Académie Française. In: A New History of French Literature (fn. 20), pp. 267–273. For a helpful survey of these issues, see Wilhelm Seidel: Französische Musiktheorie im 16. und 17. Jahrhundert. In: Entstehung Nationaler Traditionen: Frankreich, England (= Geschichte der Musiktheorie. Ed. Frieder Zaminer. Darmstadt 1986), p. 1–140; and Herbert Schneider: Die französische Kompositionslehre in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Tutzing 1972.
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contemporary practice – but more specifically »rules and observations practiced by the most excellent musicians.« Moreover, rules must be neither too strict nor too loose. Characteristically, de la Voye appeals to the »good intentions« of a musician to find the right median – the ›juste milleau‹ – of practice.24 For Nivers, who as did Mignot de la Voye, appealed to »excellent musicians« for his rules of practice in his counterpoint treatise of 1667, this meant allowing consecutive imperfect consonances such as major or minor thirds, which were prohibited unjustly by Zarlino. On the other hand, one must not use too many consecutively lest the music become wearisome. One must be guided by taste sanctioned by the best masters.25 Charles Masson boasted that his 1697 treatise of composition was written »suivant l’usage des meilleurs Auteurs, tant de France que d’Italie«, while his 1699 manual of counterpoint was based upon »les bons auteurs modernes«.26 To the extent licenses could be sanctioned in music, they were ones that were based solely on the taste and experience of the performer – and with the approbation, as St. Lambert noted, of the critics (who, he notes, will otherwise condemn any performance in bad taste).27 Explains St. Lambert: »For it is known that good taste often decides things for which one can give no reason other than good taste itself; and this good taste which is so esteemed is not too clearly understood even by those who possess it.«28 The appeals that de la Voye, Nivers, Masson and St. Lambert make to practice underscores the importance of connoisseurship in determining principles of poetics for 17th-century music. So it’s not surprising that the most notable composition treatises of the later 17th and early 18th century in France were products of seasoned composers and performers such as Masson, Etienne Loulié, Marc-Antoine Charpentier, Michel Monteclair, and Louis Marchand. Even better than reading their treatises, though, was studying with a master in person. One anonymous author in 1703 advised any would-be composer to seek out the guidance of a good teacher, since there can be no absolute rules in musical composition.29 There is a real irony here that I need to underscore, in that the kind of nominalist, non-discursive empiricism described above stands in strong contrast to the normative aesthetics that is otherwise a hallmark of French classicism. By 1700, there was a growing consensus among French critics on all sides of the spectrum that music was a mimetic art, and only to the degree that a composition expressed most distinctly its imitation was it deemed successful. It is __________ 24
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La Voye Mignot: Traité de musique, pour bien et facilement apprendre à chanter et composer. Paris 1656; 1659, 1666. Reprint of the 1666 edition Genf 1972. Guillaume-Gabriel Nivers: Traité de la composition de musique. Paris 1667. Charles Masson: Nouveau traité des règles de la composition de la musique par lequel on apprend à faire facilement un chant sur des paroles. Paris 1697. Michel de Saint-Lambert: Les principes du clavecin, contenant une explication exacte de tout ce qui concerne la tablature et le clavier. Paris 1702, p. 60. Ibid. F-Pn, ms. Fr. 22823, fol. 85r.
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amazing how tenacious this Aristotelian aesthetic remained throughout the 18th century even in the face of a growing instrumental practice that belied the authority of texted expression. Aesthetically there seemed no debate about the mimetic basis of music; but as concerned the technical means to ensure that mimesis, there was no agreement whatsoever.
Rameau and triumph of empiricism It is thus a surprise that the first major composition treatise to appear in France in the 18th century – and I am referring now to Rameau’s masterpiece, the Traité de l’harmonie of 1722 – makes some audacious normative claims to its compositional pedagogy, but ones not rooted in the aesthetical poetics of classical mimesis, rather in the even more venerable tradition of speculative harmonics.30 Rameau almost singled-handedly resurrected methods of musica theorica that had lain dormant in France for almost one hundred years. Yet Rameau did not thereby simply impose an anachronistic pedagogical paradigm. On the contrary, he used the model of ancient harmonics – the learned technique of monochord divisions – in the service of a most up to date tonal language, itself explicated in modern philosophical and scientific rhetoric. But his efforts were not without peril. For in seeking to establish the rule of reason once again within the domain of compositional poetics, Rameau faced the same epistemological challenges as had his predecessors. The problems begin almost from the very first page of the treatise where Rameau seeks to generate the consonant intervals he will need later in the book to establish the movement of his ›basse fondamentale‹. The precepts of mathematical measurement and generation of intervals and chords occupying Book 1 of the Traité offer a very different, and in critical ways non-congruent epistemology than that more practical, empirical observations of Books 3 and 4. Whereas Books 1 and 2 attempt to ground the composition and concatenation of chords within a synthetic paradigm of harmonic generation, Books 3 and 4 attempt to begin empirically with practice and draw from that practice norms of behavior that may then be explained through the theory of Part 1. But the two ends never meet neatly in the Traité, as indeed they never met within the person of Rameau. Try as he might to found his theory upon rigorously mathematical principles (or later in his writings, upon acoustical principles of harmonic generation), he was never able to account consistently for the material and behavior of practice. The difficulties he faced are ones familiar to any student of historical music theory: an inability to find a consistent generating principle for the minor triad and his various species of seventh chords, or the impossibility of concatenating the fundamental harmonic progressions of a mode using a strict
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Jean-Philippe Rameau: Traité de l’harmonie réduite à ses principes naturals. Paris 1722.
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geometric progression of perfect fifths.31 It is no wonder that already in the Traité, Rameau showed himself ambivalent about the founding and justification of his principles exemplified by his tortuous vacillations over the respective roles of reason and experience. In the Preface to this work, of course, no such hesitation is apparent. With brash Cartesian bravado, Rameau announces confidently that his discovery of the true principles of music can only come about with the aid of reason. »Music is a Science« he famously announced, »which should have definite rules. These rules should be drawn from an evident principle, and this principle cannot really be known to us without the use of mathematics.«32 Experience, Rameau reminds us, may seduce us; the ear may become susceptible to prejudice, just as have most modern musicians. Changes in taste and the fickleness of the human ear may lead to error. Yet for all the confident rhetoric of Cartesian certainty that Rameau projects in his Preface to the Traité, he quickly finds that reason offers its own perils. He quickly concedes that for most musicians, it is experience that guides them. Even for musicians of genius and taste, experience seems the ultimate arbiter of musical practice. Yet – and here comes the dialectic that forever haunts Rameau’s arguments – reason is necessary to help guide and fortify experience, to correct it when necessary, and at the least, to offer its light upon the practice of musicians who worked, so to speak, in the dark. Ultimately, Rameau assumed that reason and experience would reinforce one another. Consider this convoluted passage from Chapter 18 of Book 2 in the Traité, in which Rameau seems to veer back and forth over the respective merits of reason and experience at least three times in two paragraphs: We may judge music only through our hearing, and reason has no authority unless it is in agreement with the ear; yet nothing should be more convincing to us than the union of both in our judgments. We are naturally satisfied by our ear, while the mind is satisfied by reason. Let us judge nothing then except by their mutual agreement.
But then Rameau hesitates: Experience sows doubts everywhere, and everyone, imagining that his own ear will not mislead him, trusts in himself alone. Reason, on the contrary, presents us with only a single chord whose properties are easy to determine with a little aid from experience. Thus as long as experience does not contradict what reason authorizes, the latter should prevail. [...] Let us be ruled then only by reason whenever possible, and let us call experience to its aid only when we desire further confirmation of its proofs.33 __________ 31
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I’ve explicated in detail the theoretical issues raised in Rameau’s Traité in my study: Rameau and Musical Thought in the Enlightenment. Cambridge 1993, esp. in Chapters 4 and 7. Rameau: Traité, Preface: »La musique est une science qui doit avoir des regles certaines; ces regles doivent etre tirées d’un principe evident, et ce principe ne peut gueres nous etre connu sans le secours des mathematiques.« Rameau: Traité, pp. 125–126: »L’on ne peut juger de la Musique que par la rapport de l’ouië; et la raison n’y a d’autorité, qu’autant qu’elle s’accorde avec l’oreille; mais aussi rien ne doit plus nous convaincre que leur union dans nos jugemens: Nous sommes
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A question then is at what point reason must cede to experience; or turned around, when can reason discipline experience? It’s clear enough that if Rameau’s theory can only generate a major triad or a single dominant seventh chord through the precepts of his rationalist system, that ways must be found to accommodate such obvious empirical entities as minor triads and diminished seventh chords – to take only two conspicuous examples. But are there times when practice can learn from theory? Rameau seems to have a hard time finding such cases. Take his rules for guiding the fundamental bass. According to his theory of harmonic generation, the same intervals that guide the generation of chords – fifths and thirds – are those that should guide the fundamental bass. That fifth motion is pre-eminent in the fundamental bass was a great confirmation to Rameau that his principle was indeed the comprehensive one he had sought for unifying theory and practice. Yet not all fundamental bass motion was so compliant – especially cases when it moved by step. Rameau was of course forced to concede the existence of such progressions. But he attempted to side-step the discrepancy by calling such motion licenses. Thus the deceptive cadence – the ›cadence rompue‹ – becomes a classic instance of a cadential license. It is an exception that is sanctioned by taste and practice – even if it apparently violates the principle. (And not yet willing to concede completely, Rameau adds that his licenses still ultimately can be found justified in the source of harmony by use of an interpolated fundamental bass that creates tolerable third and fifth progressions out of the licentious second progression.34 A license may turn out to be no license at all!) We could multiple such examples endlessly. The ›supposition‹ – notes posited below the fundamental bass – exceed the normally proscribed limit of the octave for the construction of chords, but are sanctioned by Rameau to allow for more rational motion in the fundamental bass. Likewise, the ›double emploi‹ in which a chord’s generative root is reinterpreted based on fundamental bass liaison is a license granted by taste and discretion. Again and again, Rameau finds that the rules he invokes must be bent to accommodate fickle empirical exceptions to those rules. One sympathizes with Mattheson who mocked __________
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naturellement satisfaits par l'oreille, et l'esprit l'est par la raison; ne jugeons donc de rien que par leur concours mutuel. L’experience nous offre un grand nombre d’Accords susceptibles d’une diversité à l’infini, où nous nous égarerons toûjours, si nous n’en cherchons le principe dans une autre cause; elle seme par tout des doutes; et chacun s’imaginant que son oreille ne peut le tromper, ne veut s’en rapporter qu’à luy-même. La raison au contraire ne nous met sous les yeux qu’un seul Accord, dont il luy est facile de déterminer toutes les proprietez, pour peu qu’elle soit aidée de l’experience: Ainsi dès que cette experience ne dément point ce que la raison autorise, celle-cy doit prendre le dessus; car rien n’est plus convaincant que ses décisions, sur tout lorsqu’elles sont tirées d’un principe aussi simple que celuy qu’elle nous offre: Ne nous reglons donc sur elle, si cela se peut, et n’appellons l’experience à son secours, que pour affermir davantage ses preuves.« The English translation is drawn from: Rameau’s Treatise on Harmony. Tr. Philip Gossett. New York 1971, pp. 139–40. See Book 2, Chapter 17, Article one, »De l’origine de la licence«, p. 109–112.
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Thomas Christensen
Rameau mercilessly for the Frenchman’s many contradictions and infelicities of logic.35 So are we back at where Mersenne started one hundred years earlier: a pious insistence on the necessity of rules and principles for music, yet a confession that we are incapable as of yet knowing what such rules are? We are there only if we insist on holding to a rigid and dogmatic notion of what rules constitute. Yet ›philosophes‹ of the early Enlightenment recognized that rules still might have validity even if there were apparent anomalies and exceptions. Observed perturbations in the rotation of the planets did not invalidate Newton’s theory of gravitation, no more than seeming inconsistencies in Rameau’s theory diminished the real pedagogical value of the fundamental bass. The famed Encyclopedist Denis Diderot recognized this well enough. In his Leçons de Clavecin that he ghost-wrote with the Alcestian music teacher Anton Bemetzrieder in 1771, Diderot reviewed many of the by now familiar difficulties Rameau faced in finding a consistent generative principle for all chords. Speaking in the voice of the hidebound schoolmaster, Diderot asked: »What does a sensible scientist do when he encounters a phenomenon that contradicts his hypothesis? Why he renounces it. But what does a systematizer do? He twists and turns the facts until they fit his ideas willy-nilly. And this is what Rameau did [...]«.36 The philosophe, who in Diderot’s dialogue assumes the reflective voice of mediation between the master and pupil, listens quietly to the schoolmaster’s reproach. After a considerable pause in which the philosophe ponders the words of the schoolmaster, he finally speaks up: »And what would you have me say? I have long been aware of the defects in Rameau’s system – I and many others.« Warming up to his subject, the philosophe continues: »But how can one dispute a great authority who penned such magnificent works of music?« More importantly, he wonders, how could one not be persuaded by a »doctrine supported by a natural phenomenon that offered a solid base for an art that until then had as a guide only routine and genius? Any method that shortened one’s time and study I would defend against the most minor objection.«37 For a philosophe from the high French Enlightenment such as Diderot, rules and principles in music, then, are seen less as dogmatic axioms of geometry than as useful heuristics ratified by communal judgment and the taste of connoisseurs. Normativity is a mean, not a limit in artistic creation. And for all __________ 35 36
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See Christensen, Rameau and Musical Thought (fn. 31), p. 113. Anton Bemetzrieder: Leçons de clavecin. Paris 1771, p. 514: »Que fait un bon logicien? que fait un bon physicien, lorsqu’il rencontre un phénomène qui contredit son hypothèse? Il y renonce. Que fait un systématique? Il force, il tord si bien les faits, que, bon gré, malgré, il les ajuste avec ses idées; et c’est ce qu’a fait Rameau.« »Que voulez-vous que je vous dise? Il y a longtemps que ce vice du système de Rameau m’avait frappé, moi et beaucoup d’autres. Mais le moyen de s’élever contre une grande autorité fondée sur de grands ouvrages? Et puis j’étais enchanté d’une doctrine appuyée sur un phénomène naturel qui présentait une base solide à un art où l’on n’avait eu jusqu’alors d’autres guides que la routine et le génie. Je me serais reproché la moindre objection contre une méthode qui abrégeait le temps et l’étude.« (Ibid.)
Rules, License and Taste in 17th Century French Music
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the pretense that French theorists such as Rameau held to the construction of a truly scientific music theory, they never forgot that music was also a fine art; it was not just a member of the quadrivium, but also the trivium; its muses resided not only in Athens, but also in Parnassus.
Wolfgang Hirschmann
»Musicus ecclecticus« Überlegungen zu Nachahmung, Norm und Individualisierung um 1700
Gemeinhin gilt erst für das späte 18. und frühe 19. Jahrhundert, dass sich eine Individualisierung des Stilbegriffs ereignet und damit, wie Wilhelm Seidel prägnant formuliert, der Personalstil »geschichtswirksam«1 wird. Der Gedanke, dass nicht bestimmte Systeme externer Stilkategorien oder vorgeschaltete Autoritäten die gestalterische Norm vorgeben, sondern der Einzelne sich selbst die Norm ist, weist dann auch dem kunststiftenden Prinzip der Nachahmung, der imitatio, eine andere Rolle zu. In der extremen Formulierung des Geniebegriffs, wie er im späten 18. Jahrhundert virulent wurde, ahmt ein Künstler nichts und niemanden mehr nach, sondern schafft alles aus sich selbst. Im Folgenden soll gezeigt werden, dass sich um und nach 1700 im Milieu der deutschen Frühaufklärung eine Weichenstellung ereignet, die sich als wichtiger Schritt hin auf jene Individualisierung des Stilbegriffs und die daran gekoppelte Modifikation des Nachahmungsgedankens in Richtung schöpferischer Autonomie deuten lässt.2 Als eine Schlüsselstelle könnte ein Satz von Johann Mattheson in seiner Critica musica von 1722 angesehen werden: »Ich bin ein Musicus ecclecticus, und kehre mich an keine autorité«3. Konkretisiert seien die folgenden Überlegungen zunächst an klingender Musik, einem Horn-Doppelkonzert von Georg Philipp Telemann.4 Das Werk __________ 1
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Wilhelm Seidel: Stil. In: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Zweite Auflage. Sachteil Bd. 8. Kassel u.a. 1998, Sp. 1740–1759, Zitat Sp. 1752. Der Beitrag fasst in pointierter Form Deutungsansätze zusammen, die ich in einigen früheren Publikationen entwickelt habe: Polemik und Adaption. Zur Kircher-Rezeption in den frühen Schriften Johann Matthesons. In: Neues Musikwissenschaftliches Jahrbuch 5 (1996), S. 77–91; Eklektischer Imitationsbegriff und konzertantes Gestalten bei Telemann und Bach. In: Bachs Orchesterwerke. Bericht über das 1. Dortmunder Bach-Symposium 1996. Hg. von Martin Geck. Witten 1997, S. 305–319; »Die Wahrheit als Wahrheit muß mir lieb seyn«. Zur Biographie und Persönlichkeit Heinrich Bokemeyers. In: Ständige Konferenz Mitteldeutsche Barockmusik. Jahrbuch 2000. Hg. von Wilhelm Seidel. Eisenach 2001, S. 109–129; »Klügliches Gemenge« – Telemann und die eklektische Tradition. In: Biographie und Kunst als historiographisches Problem. Bericht über die Internationale Wissenschaftliche Konferenz der 16. Magdeburger Telemann-Festtage. Magdeburg, 13. bis 15. März 2002. Hg. von Joachim Kremer, Wolf Hobohm und Wolfgang Ruf. Hildesheim u.a. 2004, S. 208–214. Johann Mattheson: Critica Musica I. Hamburg 1722/23, Reprint Amsterdam 1964, S. 48 (Juni 1722). Georg Philipp Telemann: Concerto per due Corni in D TWV 52:D 1. Erstausgabe vorgelegt von Wolfgang Hirschmann. Stuttgart 2002 (Telemann Archiv – Stuttgarter
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Wolfgang Hirschmann
gehört zwar nicht zum frühesten Bestand seines Konzertschaffens, das mit Telemanns Jahren als Eisenacher Konzert- und Kapellmeister seit 1708 beginnt, wurde aber doch auf keinen Fall nach dem Ende der Frankfurter Zeit des Komponisten, also nach 1721, komponiert. Möglicherweise entstammt das Konzert der mittleren Frankfurter Zeit um 1716. Das Konzert ist viersätzig wie der größte Teil der Konzerte Telemanns. Scharfe, schnittartige Kontrastbildungen nach italienischem Vorbild prägen den Eröffnungssatz (Largo – Allegro) (Notenbeispiel 1):
Notenbeispiel 1: Georg Philipp Telemann: Concerto per due Corni in D TWV 52:D 1, Eröffnungssatz
Zweimal wird ein durch Dreiklangsbrechungen, langsamen harmonischen Rhythmus und crescendierende Klangausweitungen bestimmtes Largo gegen ein federndes Allegro gesetzt, das durch die virtuose, vorwärtsdrängende Sechzehntelbewegung der Violinen und verschiedene Sequenzverläufe gekennzeichnet ist. Modelle für solche Eröffnungen lassen sich in den Werken Arcangelo Corellis nachweisen.5 Neuartig ist freilich die Verbindung des Satztypus mit Horninstrumenten. Mit Konzertbeginn wird der besondere Charakter der Soloinstrumente exponiert: ihre Nähe zum Naturklang und zur usuellen Musik der Jagdsignale. Von ganz eigenem Charakter ist auch der 2. Satz (Vivace): Telemann verbindet hier eine Themenbildung im modernen synkopischen Stil mit dem __________
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Ausgaben). Die Notenbeispiele sind – mit freundlicher Genehmigung des Carus Verlags, Stuttgart – dieser Ausgabe entnommen. Vgl. Arcangelo Corelli: Sonate da chiesa, Opus I und III. Hg. von Max Lütolf. Laaber 1987 (Arcangelo Corelli: Musikalische Werke. Bd. 1), Sonata da chiesa op. 3,12, S. 189–198, oder: Concerti grossi, Opus 6. Hg. von Rudolf Bossard. Köln 1978 (Arcangelo Corelli. Musikalische Werke. Bd. 4), Concerto grosso op. 6,1, S. 21–24.
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Satzverfahren der Fuge und der italienischen Ritornellform. Die nebenstufenreiche Harmonik und die häufige Verwendung von Vorhaltsdissonanzen verleihen den fugierten Ritornellen zudem leicht retrospektive Züge; die Musik ist von einer gewissen altitalienischen Noblesse durchzogen (Notenbeispiel 2). Die Kontrastmotivik der Hörner verbindet tändelndes Wesen (in der kurzmotivischen Reihungstechnik) mit SignalAssoziationen und gemäßigt virtuosen Spielfiguren.
Notenbeispiel 2: Georg Philipp Telemann: Concerto per due Corni in D TWV 52:D 1, 2. Satz
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Der kurze 3. Satz (Affettuoso) transformiert das Modell des AccompagnatoRezitativs ins Konzert. Die 1. Violine ist Trägerin der ›sprechenden‹ RezitativMelodik, die anderen Streicher begleiten mit Akkorden in Viertelwerten nach Art der ›kurzen‹ Rezitativbegleitung (Notenbeispiel 3).
Notenbeispiel 3: Georg Philipp Telemann: Concerto per due Corni in D TWV 52:D 1, 3. Satz
Hinter dem neutral als »Allegro« bezeichneten Schlusssatz verbirgt sich ein französisches Rondeau, das der Gavotte nahesteht. Den dreimal wiederkehrenden achttaktigen Refrain trägt das Tutti vor, wobei die Figurationen in der 1. Violine deutlich jenes »hüpffende Wesen« artikulieren, das Johann Mattheson der Gavotte zuschreibt,6 und der freudig jauchzende Grundaffekt dieses Tanzes vor allem durch die synkopisch gelagerten Triller zum Ausdruck kommt. Die zweizeitige Halbemensur, hier angezeigt durch das französische Zeichen für den schnellen Ouvertüren-Takt, sowie der Auftakt mit zwei Vierteln artikulieren deutlich den Gavotteduktus dieses konzertanten Tanzsatzes. Die drei ebenfalls achttaktigen Couplets sind verschiedenen Teilensembles und Ensemblekombinationen vorbehalten (Notenbeispiel 4). __________ 6
Johann Mattheson: Der Vollkommene Capellmeister, Das ist Gründliche Anzeige aller derjenigen Sachen, die einer wissen, können, und vollkommen inne haben muß, der einer Capelle mit Ehren und Nutzen vorstehen will. Hamburg 1739, Reprint Kassel 51991, S. 225.
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Notenbeispiel 4: Georg Philipp Telemann: Concerto per due Corni in D TWV 52:D 1, Schlusssatz
So führt dieses Konzert in komplexer, eigenständiger Synthese verschiedene Form-, Stil- und Gattungstraditionen zusammen: italienische Ritornellform und französisches Rondeau, Gavotte und Fuge, corellisierende Elemente und Accompagnato-Rezitativ, modernen synkopischen Stil und retrospektive Kontrapunktik, strenge Periodik und freie Fortspinnung, tändelnde Kurzmotivik und Naturklang, usuelle Musik und künstliche Polyphonie. An welche Methode und Denkhaltung lässt sich ein solches kombinatorisches Vorgehen, das auf gestalterische Autonomie zielt, rückbinden? Aufschluss geben könnte eine Äußerung Telemanns zu seinem Konzertschaffen in der Autobiographie von 1718: Alldieweil aber die Veränderung belustiget / so machte mich auch über Concerte her. Hiervon muß bekennen / daß sie mir niemahls recht von Hertzen gegangen sind / ob ich deren schon eine ziemliche Menge gemacht habe / worüber man aber schreiben möchte: Si natura negat, facit indignatio versum Qualemcunque potest. - - - (Juv. Sat. I.) Zum wenigsten [sc. zumindest] ist dieses wahr / daß sie mehrentheils nach Franckreich riechen. Ob es nun gleich wahrscheinlich / daß mir die Natur hierinne etwas versagen wollen / weil wir doch nicht alle alles können / so dürffte dennoch das eine Uhrsache mit seyn / daß ich in denen meisten Concerten / so mir zu Gesichte kamen / zwar viele Schwürigkeiten und krumme Sprünge / aber wenig Harmonie und noch schlechtere Melodie antraff / wovon ich die ersten hassete / weil sie meiner Hand und Bogen unbequehm waren / und / wegen Ermangelung derer letztern Eigenschafften / als worzu mein Ohr durch die Frantzösischen Musiquen gewöhnet war / sie nicht lieben konnte nach [sc. noch] imitiren mochte.7
In den meisten Konzerten, die Telemann ab um 1708 »zu Gesichte kamen« – und das waren mit Sicherheit vorwiegend Konzerte italienischer Komponisten – __________ 7
Lebens-Lauff mein Georg Philipp Telemanns; Entworffen In Franckfurth am Mäyn d.10.Sept.A.1718. In: Johann Mattheson: Große General-Baß-Schule. Hamburg 1731, Reprint Hildesheim u.a. 1994, S. 168–180, Zitat S. 176.
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fand er zu wenig Harmonie und Melodie, an die sich sein Ohr durch die französischen Musiken gewöhnt hatte. Man beachte, wie autonom Telemann hier argumentiert, wie er sein eigenes ästhetisches Urteil, sein Gehör, sein Stilempfinden als absoluten Maßstab setzt. Als eigenständige Synthese präsentiert er dann sein eigenes Konzept des Instrumentalkonzertes: Seine Werke in dieser Gattung würden »mehrentheils nach Franckreich« riechen. Hier geht es also um die selbstständige und damit neuartige Verknüpfung von Elementen der italienischen Konzertmusik mit solchen der französischen Musik. Ergebnis ist eine Konzertmusik, die das italienische Leitbild nicht sklavisch nachahmt, sondern der eigenen Gestaltungsabsicht, die hier auf eine Synthese nationaler Idiome abzielt, unterordnet. Unsere eröffnende Analyse hat freilich gezeigt, dass sich dieses synthetisierende Gestalten nicht allein auf nationale Eigenarten beschränkt, sondern im Grunde auf alle Bereiche der Komposition ausgedehnt wird. Dieser Befund sei in einem weiteren Schritt, der zugleich der methodisch gewagteste ist, mit einem Kernsatz aus der Göttlichen Rechtsgelahrtheit des Christian Thomasius verbunden: »Ich nehme viel neues an / ich verwerffe viel neues / ich erneuere manches / und gebrauche mich hierinnen meiner Philosophischen Freyheit / und folge meiner Vernunfft / welche ihr so wohl neues / als altes / nachdem es ist / gefallen lässet.«8 Auffällig an diesem Satz ist ähnlich wie in Telemanns Äußerung das fast schon nonchalante Selbstbewusstsein, mit dem hier »Ich« gesagt wird: meine philosophische Freiheit, meine Vernunft, mein Gefallen an bestimmten älteren und neueren Denkelementen. Man könnte die verschiedenen Kernaussagen Telemanns direkt in den Satz des Thomasius hineinprojizieren und käme zu folgendem Ergebnis: »Ich nehme viel neues an [hier: das italienische Prinzip des solistischen Konzertierens] / ich verwerffe viel neues [den mangelnden satztechnischen und melodischen Reichtum des italienischen Virtuosenkonzerts] / ich erneuere manches [das Konzert durch Einbeziehung französischer Stileigentümlichkeiten] / und gebrauche mich hierinnen meiner Philosophischen Freyheit [meines eigenen Geschmacks] / und folge meiner Vernunfft [meinem Geschmacksurteil] / welche ihr so wohl neues / als altes [die verschiedenen musikalischen Formen, Stile und Gattungen] / nachdem es ist / gefallen lässet.« Nun hat die Philosophiegeschichte herausgearbeitet, dass man die Position des Thomasius ziemlich präzise als eine Selbstständigkeits-Eklektik beschreiben kann, also als eine Form der Nachahmung, die aus Elementen verschiedener Vorgaben ein eigenes autonomes System aufbaut.9 Die Eklektik erfuhr im __________ 8
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Christian Thomasius: Drey Bücher der Göttlichen Rechtsgelahrtheit. Halle 1709, Reprint Hildesheim u.a. 2001 (Christian Thomasius: Ausgewählte Werke. Hg. von Werner Schneiders. Hildesheim und New York 1993ff. Bd. 4), Vorrede, S. 23. Dazu grundlegend die Arbeiten von Michael Albrecht: Eklektik. Eine Begriffsgeschichte mit Hinweisen auf die Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte. Stuttgart – Bad Cannstatt 1994 (Quaestiones: Themen und Gestalten der Philosophie 5), vor allem S. 307– 455; Christian Thomasius. Der Begründer der deutschen Aufklärung und seine Philosophie. In: Philosophen des 17. Jahrhunderts. Eine Einführung. Hg. von Lothar
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Deutschland des späten 17. Jahrhunderts in den Schriften des Physikers und Philosophen Johann Christoph Sturm, vor allem seiner Dissertation De philosophia sectaria et electiva von 1679 und dem Sammelband der Philosophia eclectica von 1686,10 eine bedeutende Aufwertung: Sturm lehnt die Sektierer, also jene Philosophen, die sich einer bestimmten Autorität unterordnen und diese verabsolutieren, ab und schlägt sich auf die Seite der Eklektiker: Diese lesen alle möglichen Autoren und sammeln alles, was wahr und gut ist, anstatt einer Autorität zu folgen; sie sehen also mit eigenen, nicht mit fremden Augen. In den frühen Schriften des Christian Thomasius, namentlich den Institutiones jurisprudentiae divinae von 1688 (deutsch 1709 als Drey Bücher der Göttlichen Rechtsgelahrtheit) und der einflussreichen Introductio ad philosophiam aulicam von 1688 (deutsch 1710 als Einleitung zur Hoff-Philosophie),11 wird das eklektische Konzept Sturms – teilweise in wörtlicher Entlehnung – aufgegriffen, popularisiert und zugleich umakzentuiert. Thomasius ist die Anbindung der eklektischen Philosophie an die frühaufklärerischen Konzepte des Selbstdenkens und der Autoritätskritik zu danken. Konsequenz dieses auswählenden Selbstdenkens ist eine kritische Haltung, durch die – mit Thomasius’ Worten – »allemahl das Vorurtheil menschlicher autorität beyseit« gesetzt werden soll.12 Diese neue Konzeption hat auch theologische Implikationen: Eine aufgeklärte Erneuerung theologischer Positionen unter eklektischer Fahne, die autoritäts- und dogmenkritisch ausgerichtet ist und den Toleranzgedanken stark macht, konnte sich auf eine Stelle aus dem ersten Thessalonicher-Brief des Paulus (5,21: »Prüfet aber alles, und das Gute behaltet«) berufen.13 Ein nächster Schritt: Lässt sich zeigen, dass die eklektische Nachahmung als Individualisierungsstrategie den deutschen Musiktheoretikern, Musikern und Komponisten bekannt war? Die Zusammenhänge sind ja keineswegs __________
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Kreimendahl. Darmstadt 1999, S. 238–259; Thomasius – kein Eklektiker? In: Christian Thomasius (1655–1728). Interpretationen zu Werk und Wirkung. Hg. von Werner Schneiders. Hamburg 1989 (Studien zum achtzehnten Jahrhundert 11), S. 73–94. Vgl. außerdem das erste Heft des ersten Jahrgangs der Zeitschrift Aufklärung: Eklektik, Selbstdenken, Mündigkeit. Hg. von Norbert Hinske. Hamburg 1986. Johann Christoph Sturm: De philosophia sectaria et electiva dissertatio academica. Altdorf 1679; Philosophia eclectica. h.e. Exercitationes academicae [...]. Altdorf 1686. Dazu ausführlich Albrecht: Eklektik (Anm. 9), S. 309–357. Christian Thomasius: Institutionum jurisprudentiae divinae libri tres. 1. Auflage 1688, 2. Auflage Halle 1694, 71730. Reprint der 7. Auflage Aalen 1963; Drey Bücher der Göttlichen Rechtsgelahrtheit (Anm. 8); Introductio ad philosophiam aulicam, seu lineae primae libri de prudentia cogitandi et ratiocinandi. Leipzig 1688, 2. Auflage Halle 1702. Reprint der 1. Auflage Hildesheim u.a. 1993 (Thomasius: Ausgewählte Werke. Bd. 1); Einleitung zur Hoff-Philosophie, Oder / Kurtzer Entwurff und die ersten Linien Von Der Klugheit zu Bedencken und vernünfftig zu schließen. Frankfurt und Leipzig 1710, 2. Auflage Berlin 1712. Reprint der 2. Auflage Hildesheim u.a. 1994 (Christian Thomasius: Ausgewählte Werke. Bd. 2). Thomasius: Drey Bücher der Göttlichen Rechtsgelahrtheit (Anm. 8), Vorrede, S. 8; vgl. Albrecht: Eklektik (Anm. 9), S. 402. Vgl. Albrecht: Eklektik (Anm. 9), S. 322f.
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Wolfgang Hirschmann
offensichtlich, und man muss hier einzelne, eher verstreute Belege behutsam interpretieren: Ist es denn richtig, so wäre zu fragen, dass Telemanns Äußerung zu seinem Konzertschaffen den ›eclectic turn‹ eines Thomasius voraussetzt? Auffällig ist schon, wie Johann Mattheson im Neu-Eröffneten Orchestre von 1713 in seinem großen Plädoyer für die deutsche Musik als eine den europäischen Leitkulturen zumindest ebenbürtige, wenn nicht sogar überlegene Musiksprache gerade die Fähigkeit der deutschen Musiker zur Nachahmung und Kombinatorik fremder Idiome hervorhebt: Wo sind solche Subjecta, die nicht nur eine oder andere / sondern viele zugleich / ja wol alle und jede dieser Qualitaeten auch mit einigem Zusatz beysammen besitzen / anzutreffen? Nirgend / als in dem fleißigen / gelehrten / nachsinnenden / muntren / nachahmenden [!] und fruchtbaren Teutschland.14 Wenn man dannenhero Musicam Gallicam, respectu Italicae, alteram ab illâ nennen wolte / würde es eben kein groß Unrecht seyn / weil doch diese beyde / die Italiänische und Frantzösische Music nemlich / alleine etwas eigenes und originelles an sich zu haben scheinen; dahingegen andere sich gemeiniglich gerne auf eine oder alle beyde beziehen / und entweder eine Nachahmung oder Vermischung machen [...] Denn / da befleißigen sich die Teutschen den Italiänischen und Frantzösischen Stylum zu combiniren; die heutigen Engelländer aber (ob sie gleich vor diesem auch auff die Mixtur gegangen) den ersten auff alle Weise zu imitiren.15
Die zweite Passage ist bemerkenswert, weil sie Originalität nur der italienischen und französischen Musik zuschreibt und die Stilmischung als eine aktuelle Tendenz der deutschen Komponisten hervorhebt, bei den Engländern jedoch einen Weg von der Stilmischung zurück zur reinen Nachahmung der Italiener konstatiert. Für Mattheson ist 1713 eher die Universalität der deutschen Musiker ausschlaggebend, weniger die Originalität ihrer Musiksprache. Dass die überbietende Kombinatorik der Königsweg zu einer autonomen Nationalmusik sei, lässt sich aus dieser Äußerung nicht direkt schließen. Aber: Die von Mattheson angerissene Perspektive sollte sich für das Konzept des vermischten deutschen Geschmacks als einer im europäischen Maßstab vorbildlichen Kompositionshaltung als fruchtbar erweisen, wie Quantz’ oft zitierte spätere Stellungnahme zeigt: »Wenn man aus verschiedener Völker ihrem Geschmacke in der Musik, mit gehöriger Beurtheilung, das Beste zu wählen weis: so fließt daraus ein vermischter Geschmack, welchen man, ohne die Gränzen der Bescheidenheit zu überschreiten, nunmehr sehr wohl: den deutschen Geschmack nennen könnte: nicht allein weil die Deutschen zuerst darauf gefallen sind; sondern auch, weil er schon seit vielen Jahren an unterschiedenen Orten
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Johann Mattheson: Das Neu-Eröffnete Orchestre, Oder Universelle und gründliche Anleitung / Wie ein Galant Homme einen vollkommenen Begriff von der Hoheit und Würde der edlen Music erlangen / seinen Gout darnach formiren [...] könne. Hamburg 1713. Reprint Hildesheim u.a. 1993, S. 217f. Ebd., S. 208.
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Deutschlandes, eingeführet worden ist, und noch blühet, auch weder in Italien, noch in Frankreich, noch in andern Ländern misfällt.«16 Eine selbstverständliche Vertrautheit mit der eklektischen Denkhaltung der Frühaufklärung offenbart Matthesons eingangs erwähnte Selbstbestimmung als »musicus ecclecticus« in der Critica Musica von 1722. Matthesons Critica Musica beginnt mit der Besprechung einer Abhandlung von Franz Xaver Murschhauser (1663–1738), des ersten Teils der Academia musico-poetica bipartita.17 Murschhauser beruft sich in seiner retrospektiven Kompositionslehre auf seinen Lehrer Johann Kaspar von Kerll (1627–1693) als zentrale Autorität. Die Feststellung eröffnet eine längere Fußnote, in der Mattheson seine Entscheidung kommentiert, die Auflösung der Sekund in den Einklang nicht als »ordentliche« Klangverbindung anzusehen, obwohl doch »viele Autores theoretici diese vermeinte resolutionem Secundae per unisonum ordentlich mit in diese Reihe hersetzen«:18 Ich bin ein Musicus ecclecticus, und kehre mich an keine autorité, an kein αυζος εφα wenns wieder Sinnen und Vernunfft streitet. Nullius juro in verba Magistri. Carissimi und Kerl wollen es auch lange nicht ausmachen. Das sind die rechten nicht. Es gehören mehr Autores zu einer Academie, und es gehört mehr zum Tanze / als ein paar rothe Schue. L’autorità dell’opinione di mille, nelle scienze, non val per una scintilla di ragione d’un solo. Gallil. a Gallil. D. i. In Wissenschaften gilt die autorité einer Meinung von tausend Leuten nicht so viel / als ein Füncklein Vernunfft eines einzigen.19
Wir verstehen nun besser, warum Mattheson Eklektik mit denkerischer Individualisierung (der »Vernunfft eines einzigen«) und Autoritätskritik verbindet. Der Satz betrifft auf jeden Fall, wie der Zusammenhang der Stelle zeigt, den musicus als Musikgelehrten; ob Mattheson den ausübenden Musiker oder Komponisten ebenfalls im Blickfeld hat, bleibt unklar. Der Kantor und Musiktheoretiker Heinrich Bokemeyer (1679–1751) war mit der thomasianischen philosophia eclectica, ihrer Berufung auf das eigene Urteil mit dem Ziel einer Befreiung von dogmatischen Systemen, bestens vertraut. 1711 publizierte dieser philosophisch und theologische geschulte cantor eruditus einen gegen die orthodoxe Ketzermacherei gerichteten Dialogtraktat, der von thomasianischen Denkfiguren durchsetzt ist. Man betrachte nur den nachfolgenden Ausschnitt (O. = Orthodoxus, A. = Alethophilus, also der Wahrheitsliebende): O. Was so viel vornehme und überall der richtigen Lehre halber gepriesene Theologi vor uns censiret und als verwerflich erkläret haben / darinnen / halte ich / können wir / ohn Verletzung unsers Gewissens / ihrer Meynung wol nachgehen. Denn es ist nicht zu praesumiren / daß solche hochgelehrte und redliche Leute uns darin solten hintergangen haben. __________ 16
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Johann Joachim Quantz: Versuch einer Anweisung die Flöte traversiere zu spielen. Berlin 1752. Reprint Wiesbaden 1988, S. 332. Franz Xaver Murschhauser: Academia Musico-Poetica bipartita, oder: Hohe Schul der Musicalischen Composition, in zwey Theil eingetheilet. Teil 1. Nürnberg 1721. Mattheson: Critica Musica (Anm. 3), S. 48f. Ebd., S. 48.
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Wolfgang Hirschmann
A. Um Verzeihung / mein Herr / es scheinet / als ob das Praejudicium Auctoritatis noch einiger massen bey demselben hafte. Nach diesem Principio werden die Schriftgelehrten und Pharisäer Recht haben / daß sie den HErrn Christum und seine Apostel verdammet. Item die Heyden / daß sie die Christen verfolget. Und wie werden wir denn unsern seligen Vor-Fechter Lutherum / gegen die Römisch-Catholischen legitimiren? Ja wenn wir deren Parthey allezeit annehmen sollen / welche publice den meisten Beyfall haben / und welchen jedermann wol redet / so dürfte die Unschuld nicht selten darunter leiden. O. Was wil er denn hieraus schliessen? A. Dieses / daß man selbst dergleichen verhassete Schriften zur Hand nehme / und sie / ohne Praejudicio mit dem grössesten Fleisse lese / um hernach ein gewissenhaftiges Urtheil zu fällen / damit man sich nicht für der Göttlichen Strafe zu befürchten habe / weil der Befehl da stehet: Prüfet alles. 20
Nun besitzt die Eklektik als Methode, aus verschiedenen Vorbildern die besten Elemente herauszulösen und zu einer neuartigen Synthese zu führen, Traditionen bis zurück in die griechische Spätantike. Insofern stellt sich – ähnlich wie beim vermischten deutschen Geschmack – die Frage, ob und inwiefern hier etwas wirklich Neues in die Welt tritt. Neu scheint zu sein die Verbindung von Eklektik, Autonomiedenken und Autoritätskritik, was das gestaltende Individuum angeht, neu der Versuch einer propagandistischen Aufwertung der deutschen Musik als einer eklektisch ausgerichteten Leitkultur, was die Nationalstildebatte angeht. Einen dritten Gesichtspunkt kann ein letzter Schritt zurück zu dem telemannschen Konzert verdeutlichen: Bemerkenswert erscheint, dass die intellektuelle Anstrengung der eklektischen Kombinatorik – Telemann spricht an anderer Stelle sehr treffend von »klüglichem Gemenge«21 – an keiner Stelle des Konzerts fühlbar wird. Tatsächlich scheint hier eine andere Stufe der Mischung von Elementen erreicht, als sie etwa in Georg Muffats Konzerten, die lullysche Tanzmusik und corellische Concerto-grosso-Musik nebeneinander stellen, greifbar ist. Aus der Kombinatorik resultiert eine Integration der Elemente; ihr Ergebnis ist ein neuartiges Amalgam. Dürfen wir die These wagen, dass die komplexen und eigenständigen Stilsynthesen eines Bach, Händel oder Telemann (vielleicht auch Mattheson) ohne die mentalitätsgeschichtlichen Öffnungen, die die eklektische Philosophie in ihrer thomasianischen Zuspitzung ermöglichte, nicht denkbar gewesen wären? Immerhin: Weltoffene Synthesehaltung, kritische Prüfung und Selektion des Überlieferten, Weite des gedanklichen Horizonts und konzeptionelle Eigenständigkeit können als künstlerische Korrelate des eklektischen Denkens gelten, die sich als musikgeschichtlich fruchtbar erweisen sollten. Die neue Bewegung nahm in Halle und Leipzig, im __________ 20
21
Heinrich Bokemeyer: Gespräch / Zwischen Orthodoxo und Alethophilo, von Ketzern und ketzerischen Schriften. Wolfenbüttel 1712. Edition bei Hirschmann: »Die Wahrheit als Wahrheit muß mir lieb seyn« (Anm. 2), S. 124–129, Zitat S. 127. In der Zuschrift Telemanns zu der von ihm herausgegebenen Transpositionslehre Carl Johann Friedrich Haltmeiers: Anleitung: wie man einen General-Baß, oder auch HandStücke, in alle Tone transponiren könne. Hamburg 1737. Faksimile-Ausgabe in: »… aus diesem Ursprunge …«. Dokumente, Materialien, Kommentare zur Familiengeschichte Georg Philipp Telemanns. Hg. von Wolf Hobohm. Magdeburg 1988 (Magdeburger Telemann-Studien XI), S. 73–107, Zitat S. 6 (78).
»Musicus ecclecticus«
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mitteldeutschen Raum insgesamt, ihren Ausgang; und die Biographien aller drei genannten Komponisten waren auf die eine oder andere Weise in diese Städte, in diesen Raum, in das geistesgeschichtliche Milieu, das diese Bewegung seit dem späten 17. Jahrhundert trug, hineinverflochten. Trotz aller methodischer Schwierigkeiten und Interpretationsprobleme wird deutlich, dass die Eklektik ein wichtiges Bindeglied zwischen Musik und Aufklärung im 18. Jahrhundert bereitstellen kann: Sie markiert um 1700 einen ersten wichtigen Schritt weg von der Herrschaft der Normsysteme hin zur autonomen gestalterischen Anstrengung des denkenden Einzelnen. Wohl gemerkt: Es handelt sich hier nicht um eine Präfiguration des autonomen Subjekts im kantischen Sinne oder eine Vorwegnahme des modernen Geniebegriffs, aber doch um eine wichtige Weichenstellung in diese Richtung. Dass die neue radikal autoritätskritische (oder gar autoritätsfeindliche) Haltung gerade in der Musiktheorie auf Widerstände stieß, dafür ist vielleicht die Figur des Erfurter Kantors Johann Heinrich Buttstett (1666–1727) der beste Beleg. 1716 attackierte er Mattheson, weil dieser in seiner ersten OrchestreSchrift »die Antiquité, welche man doch veneriren soll / allzu hart angegriffen« habe22. Der Einwand des Ancien Buttstett wirkt vor dem Hintergrund der modernen Denkhaltung des musicus eclecticus bemitleidenswert naiv; aus der Position eines älteren Denkens heraus, das sich mit großer Selbstverständlichkeit in einer Axiomatik normativer Vorstellungen geborgen sah, ist er nur allzu verständlich.
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Johann Heinrich Buttstett: Ut, mi, sol, re, fa, la, tota Musica et Harmonia Aeterna. Erfurt o.J. (1716), Vorrede.
Sebastian Klotz
›Humane Nature‹ und Musik bei Roger North Zum ethischen Horizont der englischen Musikreflexion um 1700
Die Frage, ob sich musikalische Regeln der Substanz oder dem Gebrauch nach beschreiben lassen können, ist in der englischen Musiktheorie in besonderer Weise akzentuiert worden. In der Person des renommierten Juristen und Musikamateurs Roger North (um 1651–1734), der eine Reihe musikalischer Schriften in Manuskriptform vorlegte1, wird diese Akzentuierung greifbar: Angesichts der zunehmenden Scheidung einer mathematisch-wissenschaftlich und einer ästhetisch-moralisierenden Auseinandersetzung mit Musik und ihren Regeln unternimmt North eine Anthropologisierung musikalischer Kategorien und musikalischer Funktionen. Damit versucht er die paradoxe Situation, in der eine präzise akustische ›science of musick‹ einer im Ungefähren verbleibenden Erklärung ihrer Wirkungen gegenüberstand, im Sinne eines integrativen Projekts zu überwinden, in dem Natur und ›decorum‹ in einer Weise zusammenwirken, dass als beste Musik schlichtweg diejenige gelten kann, die den Menschen zum besten Denken und Handeln animieren kann.2 Die Brisanz dieses Zugangs liegt darin, auf diese Weise die auch in der Musiktheorie spürbare Kluft zwischen der Natur- und der Moralphilosophie3 zu schließen. Eine der Sprachlogik vergleichbare Ausdruckslogik musikalischer Ideen und ihrer inneren Verarbeitung,4 die moralische Zweckbestimmung der Musik, eine an menschliches Handeln und an das Zusammenspiel von ›decorum‹ und ›pleasure‹ gebundene Urteilsinstanz5 erweisen sich als Säulen einer musikalisch-ethischen Betrachtung, die die spannungsgeladene, in ständiger Bewegung befindliche menschliche Subjektivität6 als Zielpunkt und Schauplatz musikalischer und erbaulicher Unterhaltung fasst. __________ 1
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Zur Biographie siehe Jamie Croy Kassler: The Beginnings of the Modern Philosophy of Music in England. Francis North’s ›Philosophical Essay of Musick‹ (1677) with comments of Isaac Newton, Roger North and in the ›Philosophical Transactions‹. Aldershot 2004, S. XIIIf. Roger North on Music. Being a Selection from his Essays written during the years c. 1695– 1728. Transcribed from the Manuscripts and edited by John Wilson. London 1959, S. 293. Jamie Croy Kassler: Introduction. In: The Science of Music in Britain, 1714–1830. A Catalogue of Writings, Lectures and Inventions. 2 Bde. New York und London 1979 (Garland reference library of the humanities 79). Bd. 1, S. XV–LXII. Jamie Croy Kassler: Introduction. In: Dies. und Mary Chan (Hg.): Roger North’s The Musicall Grammarian 1728. Cambridge 1990 (Cambridge Studies in Music), S. 36. Ebd., S. 18. Ebd.
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Sebastian Klotz
Anhand der Überlegungen von Roger North kann mithin beleuchtet werden, wie sich das Vermittlungsproblem mathematischer und moralischer Aspekte, das Verhältnis von Natur- und Regelbewusstsein angesichts der Aufwertung kreativer Imagination und die Herausforderung einer empirisch-wissenschaftlichen Fundierung der Ästhetik im England des frühen 18. Jahrhunderts darstellen. Die Implementierung der bestmöglichen Handlungen und Verhaltensweisen als Kriterium guter Musik relativiert mit einem Schlag alle Versuche, ein musikinternes Regelwissen zu propagieren. Nunmehr sehen sich alle Formulierungen von musikalischen Regeln einem Prüfkriterium menschlicher Handlungsrelevanz gegenüber – ein Kriterium, das North sowohl für die wissenschaftlichen als auch die praktischen Aspekte der Kunst der Musik7 in Anspruch nehmen möchte. Im folgenden sind diese Aussagen und die skizzierten Konstellationen näher zu entfalten. Dabei verdienen (1) die Entwicklung der Wissenschaft von der Musik im 17. Jahrhundert, (2) die Thematisierung von Regeln in einer musikalischen Grammatik, (3) der Zusammenhang der Kategorien ›wit‹ und ›decorum‹ angesichts des musikalischen ›Ayre‹ Beachtung. Schließlich wird dargestellt, wie Regelkenntnis bei North ein anthropologisch-ethisches Profil erhält und warum dieses Programm im weiteren 18. Jahrhundert nicht mehr aufrechtzuerhalten war.
(1) Wenn man die These vertritt, dass Musik als Modell der Wissenschaften der frühen Neuzeit fungierte, müssten sich Entwicklungen im Feld der Wissensformen auch in der Musik abzeichnen. Jamie Kassler verzeichnet zwei Tendenzen, die die Musikreflexion des 16. Jahrhunderts in Britannien dominierten. Dies sind erstens die Verdrängung des semantischen Feldes der Harmonie der Welt und zweitens das Verschwinden von Schriften, die die Harmonie der Welt als Erklärungsmodell nutzten.8 Einen wichtigen Impuls für diese Tendenzen stellt das Aufkommen der physikalischen Wissenschaften dar, mit denen die handwerkliche Fundierung der Naturforschung sowie die in ihr wirkenden magischen und Weisheitstraditionen zunehmend durch eine neue Praxis des Experiments ersetzt wurden. In Verbindung mit dem utilitaristischen Wertsystem der Puritaner wurde die Mathematik zunehmend der Anwendungsorientierung unterworfen. In der konkreten Anwendung und Handlung zeigte sich, ob die Durchdringung der Natur und ihre technische Beherrschung zum materiellen Fortschritt beitrugen oder nicht. In diesem Klima entstand eine Musikpublizistik, die auch Liebhabern und Amateuren die Gelegenheit zur Verbreitung ihrer Ideen gab. Innerhalb dieser Schriften zeichnen sich eine __________ 7 8
Kassler (Anm. 4), S. 3. Kassler (Anm. 3), S. XXXVI.
›Humane nature‹ und Musik bei Roger North
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philologische und eine mathematische Gruppe ab, wobei keine der beiden Gruppen theoretisch im modernen Sinne des Wortes argumentierte. Auch nutzten sie gerade nicht mathematische Methoden zur Ableitung oder Demonstration ihrer Prinzipien. Vielmehr trugen sie eine Menge unzusammenhängender Beobachtungen und Materialien zusammen, die ohne übergreifendes Konzept kaum zu koordinieren und zu interpretieren waren. Bot das Prinzip der Kausalität noch einen gemeinsamen Anker – ob in Bezug auf die Erforschung des musikalischen Klangs, der musikalischen Arithmetik, der musikalischen Struktur oder emotionalen Wirkung –, die unhinterfragte Mechanistik implizierte eine Präzision und Quantifizierung, die auf die Wirkungen der Musik nicht in dem selben Maße anwendbar waren wie auf akustisch-empirische Zusammenhänge. Dies führte dazu, dass die Musikbetrachtung und mit ihr auch die Musik selbst zunehmend aus den Wissenschaften verdrängt wurden.9 Die Trennung von Moral- und Naturphilosophie schlug sich in der Aufsplitterung zweier Zweige der Musikbetrachtung nieder, die seit der Antike als zusammengehörig erachtet wurden: Der mathematische Zweig untersuchte nunmehr die Schallerzeugung und -ausbreitung. Die primären Qualitäten, die objektiv messbar waren, wurden hier favorisiert. Andere, als sekundär erachtete Qualitäten fielen in die Domäne der Naturphilosophie. Aus dem ersten Zweig ging die akustische Forschung der Neuzeit hervor. Der zweite Zweig war philologisch orientiert. Er widmete sich den sekundären Qualitäten, unternahm linguistische Analysen, ergründete musiktheoretische Zusammenhänge wie die Beziehung von Melodie und Harmonie und interessierte sich für die Verdichtung dieser Erkenntnisse zu allgemeinen Regeln und Grundlagen der Komposition. Dieser Zweig fiel in die Domäne der Moralphilosophie. Vor diesem Hintergrund kann man Norths Position dahingehend charakterisieren, dass er diese Trennungen und Spezialisierungen nicht akzeptierte bzw. durch sein integratives Projekt einer derartigen Entzweiung zuvorkommen wollte.
(2) In The Musical Grammarian being a scientifick essay upon the practise of musick wird deutlich, dass North die Entstehung von Regeln durchdringen will und diese nicht nur in philologischer Manier (s.o.) erkunden möchte. In Fortführung seiner zu Lebzeiten unpublizierten Schrift Theory of Sound schlägt er einen Bogen von mathematisch-physikalischen zu ästhetischen und musikkritischen Fragen. Ihn treibt das Problem um, wie aus Luftschwingungen die Leidenschaften hervorgehen. Anstelle eines Regelwerks, also einer Musical __________ 9
Penelope Gouk: The Role of Harmonics in the Scientific Revolution. In: Thomas Christensen (Hg.): The Cambridge History of Western Music Theory. Cambridge 2002, S. 243.
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Grammar, argumentiert er von der Warte des »musical grammarian« aus, der über den Regeln steht und die Vernunftgründe dieser Regeln erklären möchte. Dies wird in dem seinem Text vorangestellten »Advertisement« deutlich: The title here is not Grammar but Grammarian; from the former is expected a sume of rules sufficient to instruct in art, but the other is of a superior order, pretending to reason upon those rules, and to shew the principles of them derived upon nature and the positive truth of things. This is like etimology to language, or as naturall reason and history to humane laws, and if any rules happen to result, they are such as flow, not from common practise or authority, but as the very consequences of fact […].10
Seiner Überzeugung nach scheinen die Regeln nicht auf allgemeinen Gebrauch oder eine Autorität zurückzugehen, sondern würden sich als Konsequenzen aus unumstößlichen Fakten ergeben.11 Diese Fakten sind empirisch und sensualistisch verankert: ein Klang rufe in uns Akzeptanz oder Aversion hervor. Nur in der Auseinandersetzung mit den Gegenständen in der Weise, wie uns unser Sinn über sie informiert, würde es gestattet sein, die Prinzipien der Wissenschaft von der Musik abzuleiten.12 Bereits in diesem Anliegen wird erkennbar, wie North die Kluft zwischen verstandesmäßiger und sinnlicher Wirkung von Musik und zwischen wissenschaftlicher Betrachtung und Musikpraxis schließen möchte, die sich im 17. Jahrhundert abgezeichnet hatte. Bei der Prinzipiensuche orientiert sich North am Modell der Syntax und der syntaktischen Analyse der Sprache. Hier entdeckt er Vernunftregeln, die er auf Musik appliziert, in der er Regeln der Einheit und Abwechslung entdeckt. North war hier sichtlich inspiriert von der Suche nach Gesetzen auf den Gebieten der physikalischen Mechanik und der physiologischen Psychologie.13 Fundament seiner musikalischen Lehre ist ein logisch-grammatisches Konzept, das die Erfindung und Kommunikation musikalischer Vorstellung in ähnlicher Weise wie in der Sprachanalyse der Logiker von Port-Royal betrachtet.14 Wenn die Vorstellungskraft die Fähigkeit hat, Bilder und Vorstellungen zu evozieren, die über den Gehörssinn empfangen wurden, avisiert North als einer der ersten Autoren das Programm einer regelgeleiteten Analyse dieser Bilder und der durch sie stimulierten Leidenschaften. Die Teilung in die Harmonie als Dimension, die auf Gegenstände des Verstandes verweist, und in den Rhythmus, der auf Handlungsmodi verweist, ist eine Entsprechung zur Trennung in Substantive und Verben, wie sie in der Sprachtheorie von Port-Royal vorgenommen wurde. Die Instanz, die diese Regeln ins Werk setzt, kann hier keine einzelne musikalisch-grammatische Autorität sein, sondern nur die Erfahrung bzw. ein erfolgreicher Präzendenzfall, von dem sich etablierte Mechanismen ableiten und zu Regeln verdichten lassen. __________ 10 11 12 13 14
North (Anm. 4), S. 88. Ebd. Ebd., S. 95. Kassler (Anm. 4). Ebd., S. 36.
›Humane nature‹ und Musik bei Roger North
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(3) Das Zusammenspiel von Regeln und Urteilsbildung erweist sich für North als komplexes Phänomen. Urteile würden entweder als Reaktion auf die Umwelt oder auf der Basis eines kausalen Verständnisses von Ereignissen und deren Folgen getroffen werden. Urteilen bedeute das Abwägen der Verknüpfung von ›decorum‹ und bzw. Kongruenz (›congruity‹) und dem bewirkten Vergnügen (›pleasure‹).15 Kriterien des Urteilens sind Vergnügen bzw. Schmerz. ›Pleasure‹ wird hier eindeutig als motivational eingeführt. Aufmerksamkeit ist Voraussetzung, um Sinneseindrücke aufzunehmen und sie intellektuell zu verarbeiten. Da der menschliche Apparat sich ständig selbst in Bewegung und wechselnden Spannungszuständen befindet, kann auch der Vorgang des Beurteilens, Vergleichens und Kombinierens als dynamischer Prozess verstanden werden. Anhand des Begriffs ›Ayre‹ diskutiert er den Zusammenhang von äußerer Manier und innerem Charakter.16 Dazu verschmilzt er die Konzepte des ›Ayre‹ und des Sublimen. ›Sublimity‹ steht für den Witz und die Seele, über die Komponisten verfügen sollten, die einer Komposition ihr spezifisches ›Ayre‹ verleihen. Darunter versteht North einen Stil und eine exzellente Ausdruckskraft, in der sich ein gelungenes Zusammenspiel von Melodie und Harmonie zeigt. ›Ayre‹ erhält damit eine ähnliche Funktion wie der Geist, der zwischen Körper und Verstand vermittelt.17 Der Einfallsreichtum (›wit‹) und die musikalische, bei North materiell aufgefasste Seele von Komponisten, die allein ›Ayre‹ realisieren können, werden gleichsam in Auseinandersetzung und wachsender Vertrautheit mit den Regeln sublimiert. Andererseits sind die Regeln auf ›wit‹ angewiesen, um sie mit musikalischem Leben zu erfüllen.18 In dem Essay What is Ayre?19 nimmt North die Natur als Quelle dieses Vermögens in Anspruch. Dies macht es umso schwieriger, Regeln für die Ausbildung dieser Fähigkeit zu formulieren. ›Ayre‹ sei, ähnlich wie ›wit‹ in der Dichtungskunst, nicht auf eine Qualität allein zurückzuführen. In der Musik kämen ›spirit‹ und ›decorum‹ als Voraussetzung der Komposition und nicht weniger auch für die Aufführung hinzu. In Of Composition in General ergänzt North, dass die Komponisten keine Kriterien für die Bewertung von ›Ayre‹ kennen würden. Offensichtlich muss das Zusammenspiel von ›wit‹ und ›decorum‹ anders begründet, müssen die Kriterien für eine Qualität wie ›Ayre‹ andernorts gesucht werden. In Anlehnung an das Konzept der zivilisierten menschlichen Natur, wie es Alexander Pope propagierte, führt North nunmehr den gesamten Kreis menschlicher Handlungen, Leidenschaften, Vorhaben und Projekte als Gegenstände an, die Musik evozieren müsse, die Musik sich anverwandeln müsse, um ähnlich wirkungsvoll wie Dichtung und Malerei wirken zu können: __________ 15 16 17 18 19
Kassler, in: Ebd., S. 18. Ebd., S. 45. Ebd., S. 46. Ebd. Ediert in: Roger North on Music (Anm. 2).
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My thoughts are first in generall that Musick is a true pantomime or resemblance of Humanity in all its states, actions, passions and affections. And in every musicall attempt reasonably designed, Humane Nature is the subject, and so penetrant that thoughts, such as mankind may occasionally have, and even speech itself, share in that resemblance; so that an hearer shall put himself into the like condition, as if the state represented were his owne.20
Auf diese Weise schälen sich Koordinaten für die Bestimmung der bislang im Dunkeln verbliebenen Qualität von ›Ayre‹ heraus: ›Ayre‹ ist die Fähigkeit, diese vermittelte Nachahmung menschlicher Handlungen im Feld der Musik zu leisten. Sobald eine Evokation der menschlichen Natur gelingt, in der die Hörer sich wiedererkennen, in die sie sich hineinversetzen können, ist die Komposition geglückt. ›Ayre‹ ist eine Kategorie, die diese Vermittlung beinhaltet. Die im engeren musikalischen Sinn anmutige Weise – die englische Bezeichnung hierfür ist ebenfalls ›Ayre‹ – kann ihre Wirkung nur vor diesem Hintergrund entfalten, was darüber hinaus den aktiven Hörer, der in all seinen Kapazitäten gefordert wird, einschließt.21 Die Vermittlung, die ›Ayre‹ leistet, kann nicht im herkömmlichen Sinn in Form von Regeln dargestellt werden. North legt aber in einer durch ›reason‹ geleiteten Argumentation die Grundlagen frei, auf der denkbare Regeln entwickelt werden könnten. Sie werden sich an der menschlichen Natur zu orientieren haben und sind nicht aus förmlicher Unterweisung heraus zu gewinnen. Diese Überzeugung tritt auch in den Ausführungen von North zur Beurteilung von Musik hervor. In dem Essay The Judgment of Musick wird wiederum die komplexe menschliche Natur avisiert, die durch Musik entweder zu impulsivem Handeln oder zur Reflexion angehalten werden könne. Hinzu kommt, dass North die Historizität von Regeln und Anschauungen im Feld der Musik signalisiert: Therefore in order to find a criterium of Good Musick wee must (as I sayd) look into Nature itself, and the truth of things. Musick has 2 ends. First to please the sence, and that is done by the pure Dulcor of Harmony, which is found chiefly in the elder musick […]. And secondly to move the affections, or excite passion; and that is done by measures of time joined with the former. And it must be granted that pure impulse, artificially acted and continued, hath great power to excite men to act, but not to think.22
Angesichts der Vielfalt der »states of Humanity«, die oben bereits angesprochen wurden, gilt als beste Musik diejenige, die gutes Handeln zu fundieren vermag: But as to the point of better or worse intrinsically, reason may determine, but humour must governe and pronounce. For the states of Humanity are infinitely various, and admit of all degrees of good and evill, important or frivolous, sane or distracted. And it must be granted that musick which excites the best, most important and sane thinking and acting, in true judgment, the best musick; […] So I conclude, setting aside the singular humor of men and __________ 20 21 22
North (Anm. 2), S. 110. Ebd. Ebd., S. 291.
›Humane nature‹ und Musik bei Roger North
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times, that musick which agrees most with the best actions of civilised humanity is the best musick.23
Somit kann das Schöne nur in Beziehung zu den ausgelösten Wirkungen und in Bezug auf das Aneignungspotenzial der menschlichen Natur diskutiert werden. Die Regeln, die North in den Wirkungsweisen des Schönen und in der Logik und der Grammatik der Künste vermutet, mögen rätselhaft erscheinen und den Menschen nicht als gesichertes Regelwissen zugänglich sein. Sie sind nur Gott zugänglich, der die Verknüpfung des Schönen mit dem Sublimen zu veranlassen vermag und durch die beständige Aufrechterhaltung dieser Verknüpfung das Gute befördert und das Gleichgewicht bewahrt.24
(4) Im Kontext der englischen Musikreflexion des frühen 18. Jahrhunderts wird erkennbar, wie virulent die Formulierung und Vermittlung von Regelwissen geworden war. Alexander Malcolm räumt in seinem Treatise of Mvsick, Speculative, Practical, and Historical ein, dass die Modulation ein Anwendungswissen sei, das nicht gelehrt werden könne und schlicht nicht beschreibbar sei.25 Francesco Geminiani gibt in seinem völlig neuartigen Modulations›Lexikon‹ Guida armonica26 gar keine Regeln mehr an. Vielmehr trägt er in Modul-Form alle denkbaren und empfohlenen Fortschreitungen als Momentaufnahmen zusammen. In der konkreten Situation mögen sie weiterhelfen. In der sich etablierenden Wahrscheinlichkeitsrechnung, wie sie Alexander de Moivre formulierte – Christopher Pepusch stand in Verbindung mit dem Mathematiker –, wird die Bewältigung von Kontingenzen formalisiert.27 Das Regelhafte steht damit allgemein zur Disposition. Angesichts kontingenter Ereignisse, in der natürlich und arbeitsteilig vermittelte menschliche Kräfte zusammenwirken, steht die Natur selbst nicht mehr als Quelle von Regeln zur Verfügung. Der Fokus verschiebt sich hin zur manipulierbaren menschlichen Natur. Genau zu dem Zeitpunkt, in dem Musik in das Revier der schönen Künste abgeschoben werden soll,28 ergründet North ein Fundament für die Musikreflexion, das akustische ebenso wie physiologische Tatsachen berücksichtigt und Musik noch __________ 23 24 25
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Ebd., S. 293. Kassler (Anm. 4), S. 48. Alexander Malcolm: A Treatise of Mvsick, Speculative, Practical, and Historical. Edinburgh 1721, S. 446. Francesco Geminiani: Guida armonica o dizionario armonico being a Sure Guide to Harmony and Modulation; in which are Exhibited The various Combinations of Sounds, Consonant, and Dissonant, Progressions of Harmony, Ligatures, and Cadences, Real and Deceptive. Opera X. London o.J. (um 1742). Vgl. Walter Hauser: Die Wurzeln der Wahrscheinlichkeitsrechnung. Die Verbindung von Glücksspieltheorie und statistischer Praxis vor Laplace. Stuttgart 1997, S. 93ff. und S. 150ff. Gouk (Anm. 9), S. 243.
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einmal vor dem ethischen Horizont platziert, vor dem sie in der griechischen Antike schon einmal gestanden hatte. Indem er anstelle eines technizistischen ein moralisch-ethisches, im wörtlichen Sinn ›naturgemäßes‹ Regelverständnis favorisiert, gelingt North eine bis dahin kaum unternommene Thematisierung von Musik als Gegenstand der menschlichen Natur. Mit seinem Denken in produktiven Spannungsverhältnissen, die als Regulative zu lesen sind – ›reason‹/›humor‹, ›sense‹/›affections‹, ›pleasure‹/›pain‹ –, zielt er auf eine Anthropologisierung von Musik, die noch nicht monologischen Entwürfen der Subjektivität das Wort redet, die im späteren 18. Jahrhundert Einzug halten. Wenn Musik den Reichtum menschlichen Lebens und Erlebens abbildet und darin mittels der Vernunft erkennbare Zusammenhänge wirken, greifen sämtliche musikimmanenten Regelformulierungen zu kurz. Mit der Markierung dieser Differenz und dem Unmut angesichts der Spezialisierung in eine technische Akustik und eine Musikästhetik bzw. Musikkritik gerät North in die Nähe zu Herder. Musik erweist sich nicht nur als mathematische Wissensform, sondern als Schauplatz des Wissens über den Menschen. Damit hat North in produktiver Weise die im 17. Jahrhundert bei Hobbes und Hooke aufgeworfene musikalisch-akustische Metaphorik zur Beschreibung menschlicher Subjektivität29 über die Schwelle des 18. Jahrhunderts, in das Zeitalter der englischen Vertragsgesellschaft, der Sympathie und des Gleichgewichts als Voraussetzung ästhetischer Erfahrungsbildung geführt. Wegen der Akzentuierung von Musik als Medium der Sozialität des Menschen, die er aus der menschlichen Natur und aus ihrem Wechselspiel mit Konzepten des ›decorum‹ heraus entwickelt, ist mit North nunmehr einer der Autoren benannt, die sich in besonders anregender und origineller Weise mit der Relevanz der Normtheorien um 1700 auseinandergesetzt haben.
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Jamie Croy Kassler: Inner Music. Hobbes, Hooke and North on Internal Character. London 1995.
Joachim Kremer
›Regel‹ versus ›Geschmack‹ Die Kritik an musikalischen Regeln zwischen 1700 und 1752 als Paradigmenwechsel
Die Frage, ob und in welchem Maße künstlerisches Schaffen bestehenden und als normativ verstandenen Vorgaben folgen solle, ist in der Musikgeschichte oft aufgeworfen worden, im Bereich der Kirchenmusik seit den Kirchenvätern, über die Bulle Docta sanctorum patrum von 1324/35, dem Konzil von Trient bis zu den restaurativen Positionen des 19. Jahrhunderts. Die Rolle des Regelbegriffs zu hinterfragen ist somit keine neue Fährte musikwissenschaftlicher Forschung, zumal schon Giovanni Maria Artusi in seiner Auseinandersetzung mit Claudio Monteverdi und der seconda pratica das Problem scharfzüngig benannt hat: Wenn Regelhaftigkeit nicht mehr erkennbar sei, dann herrsche doch nur Willkür. Diesen Vorwurf des Komponierens ›aufs Geratewohl‹ wehrte Monteverdis Bruder Giulio Cesare in der Vorrede zum V. Madrigalbuch ab: Statt um regelkonforme Dissonanzbehandlung gehe es dem Komponisten vielmehr um das Umsetzen des Affektgehaltes der Worte, was diese Art des musikalischen Satzes und der Dissonanzbehandlung rechtfertige.1 Zu Beginn des 18. Jahrhunderts wurden tradierte Regeln erneut nachdrücklich in Frage gestellt, was letztlich seit der Mitte des Jahrhunderts zur Idee einer im Wertesystem hoch angesiedelten absoluten Musik führte, verkörpert im Bild des Originalgenies, als dessen Prototyp Carl Philipp Emanuel Bach galt.2 Dass letzteres aber seinerseits Kritik auf sich ziehen, ins Negative umschlagen und als »bizarr« und »eigensinnig« gelten konnte,3 weist darauf hin, dass aller __________ 1
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Auf dieses Aufeinanderprallen von Gestaltungsprinzipien aus der Theorie und der Aufführungspraxis – hier konkret: der Dissonanzbehandlung – hat Silke Leopold mehrfach hingewiesen, z.B. Silke Leopold: Claudio Monteverdi und seine Zeit. Laaber 1982, S. 82. Vgl. Friedrich Wilhelm Marpurgs Äußerungen zu Bachs Reprisen-Sonaten und der Idee des Originalen und des Originalgenies. »Wir brauchen zum Lobe dieser Stuecke nichts mehr hinzuzufuegen, die, wie alle Werke unsers Hrn. Bachs, lauter Originale in ihrer Art, aber schoene Originale, und dazu gemacht sind, das Ohr und Herz zugleich zu ehren.« Friedrich Wilhem Marpurg: [Rezension von Bachs Sonaten mit veränderten Reprisen, Wq 50]. In: Historisch-kritische Beiträge zur Aufnahme der Musik 4. Berlin 1758/59, S. 560f. Weitere Äußerungen dieser Art von Johann Lavater, Charles Burney, Johann Friedrich Reichardt und Friedrich Nicolai in: Hans-Günter Klein: »Er ist Original!« Carl Philipp Emanuel Bach. Sein musikalisches Werk in Autographen und Erstdrucken aus der Musikabteilung der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz Berlin. Wiesbaden 1988, S. 11. Christian Friedrich Daniel Schubart: Ideen zu einer Ästhetik der Tonkunst. Wien 1806. Reprint hg. von Fritz und Margrit Kaiser. Hildesheim 1969, S. 179: »Was man an seinen Stücken tadelt, ist eigensinniger Geschmack, oft Bizarrerie, gesuchte Schwierigkeit, eigensinniger Notensatz«. – Charles Burney: Tagebuch seiner musikalischen Reisen,
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Joachim Kremer
Zukunftsträchtigkeit der Idee von der Absolutheit, oder vorsichtiger gesagt: der Eigenständigkeit der Musik zum Trotz die Abkehr oder zumindest Relativierung der Regeln ein kaum zu erschöpfendes und aufzulösendes Diskussionspotenzial bot. Roland Kranz sprach bezogen auf den ›Geschmack‹ von einer »dynamischen Gruppenangelegenheit«, die auf einen bestimmten Diskurskontext angewiesen ist, er ist also wie das Ideal der Galanterie eine sozialhistorische Kategorie, verweist auf ein Bildungs- und Kommunikationsideal.4 Mit den Schlüsselbegriffen ›Regel‹, ›Geschmack‹, ›Galanterie‹ ist ein Problemfeld umrissen, das für das gesamte 18. Jahrhundert Bedeutung hatte: Sicher wäre zu klären, wie der zu Anfang des Jahrhunderts nachhaltig propagierte ›goût‹ sich zu einem von Johann Georg Sulzer propagierten »Nationalgeschmack« und der musikalische »Vortrag« zur Vorstellung eines nach Gattungen differenzierten Vortrags entwickelte5. Im Folgenden soll jedoch die formative Phase dieser Diskurstradition im frühen 18. Jahrhundert beschrieben werden, die entsprechend Johann Heinrich Zedlers Definition des Wortes »galant«6 in alle Bereiche des Denkens und Sprechens über Musik reichte.
1. Die Kritik an den Regeln In seinem Gradus ad Parnassum beklagte Johann Joseph Fux 1725, dass die zeitgenössische Musik »beynahe willkührlich geworden« sei und dass »alle Componisten an keine Gesetze und Regeln sich mehr binden wollen, sondern den Nahmen der Schule und Gesetze wie den Tod verabscheuen«.7 Positiv __________
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Dritter Band. Durch Böhmen, Sachsen, Brandenburg, Hamburg und Holland. Hamburg 1773. Reprint hg. von Christoph Hust. Kassel u.a. 2003, S. 210f.: »Man hat seine Stücke beschuldigt, daß sie lang, schwer, tiefsinnig und weit hergesucht wären [...] Bey genauer Untersuchung also wird man finden, daß seine Kompositions [sic] so reichhaltig an Erfindung, Geschmack und Gelehrsamkeit sind.« – Zu Johann Friedrich Reichardts Äußerungen in seinen Schreiben über die Berlinische Musik (Hamburg 1775) vgl. Hans-Günter Ottenberg: C. Ph. E. Bach im Spiegel der zeitgenösssischen Musikpresse. In: Hans Joachim Marx (Hg.): Carl Philipp Emanuel Bach und die europäische Musikkultur des mittleren 18. Jahrhunderts. Bericht über das Internationale Symposium Hamburg 1988. Göttingen 1990, S. 159–173, hier: S. 164. Roland Kranz und Gerrit Walther: Geschmack. In: Friedrich Jaeger (Hg.): Enzyklopädie der Neuzeit 4: Friede – Gutsherrschaft. Stuttgart 2006, Sp. 654–659, hier: Sp. 656 und Andreas Waczkat: Galanter Stil. In: Friedrich Jaeger (Hg.): Enzyklopädie der Neuzeit 4: Friede – Gutsherrschaft. Stuttgart 2006, Sp. 129–131, hier: Sp. 130. Johann Georg Sulzer: Geschmak. (Schöne Künste.) In: Allgemeine Theorie der schönen Künste II. Reprint Hildesheim 1967, S. 371–385, hier: S. 376: »Jede Gattung von Tonstüken verlanget eine ihr eigene Art des Vortrags«. »Galanterie« eines Menschen sei »in Worten, Reden, Umgang, Kleidung und seine[m] gantzen Wesen« zu finden; vgl. Johann Heinrich Zedler: Grosses vollständiges Universal LEXICON Aller Wissenschaften und Künste, 64 Bde. Halle-Leipzig 1732–1750. 4 Supplementbände Leipzig 1751-1754, hier: Bd. 10, Leipzig-Halle 1735, Sp. 78: Galant. Zitiert nach: Johann Joseph Fux: Gradus ad parnassum oder Anführung zur regelmäßigen musikalischen Komposition, aus dem Lateinischen ins Teutsche übersetzt, mit Anmerckun-
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gewendet findet sich dieser Sachverhalt auch in Georg Philipp Telemanns Sonett auf den Tod des Hamburger Opernkomponisten und Domkantors Reinhard Keiser, 1739 in Johann Adolph Scheibes Critischem Musikus veröffentlicht.8 Bemerkenswert ist an diesem Sonett, wie Keisers Erfolg auf den angeborenen, natürlichen Trieb zur Musik zurückgeführt wird: »Zu diesem [sc. der Erfolg] zog ihn bloß ein angebohrner Trieb, Durch den er, ohne Zwang der Schulgesetze, schrieb«. Kurz formuliert: Ohne Zwang der »Schulgesetze« kann sich der Trieb eines Komponisten am stärksten entfalten und zu solchen Erfolgen führen, für die damals der Name ›Keiser‹ stand. Dieses regelkritische Denkmodell ist in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts keineswegs einzigartig. Zwei weitere Beispiele sollen den Diskussionskontext abstecken und bis 1752 verfolgen: In seiner 1728 publizierten Generalbassschule führt Johann David Heinichen die Vorstellung von ›Erfahrungsregeln‹ ein, die nicht mit den alten musiktheoretischen und kontrapunktischen Regeln zusammenfallen, sondern das Ergebnis von »Erfahrung, Discretion, und Judicium« seien: Der »goût« lasse sich nämlich »durch andere, auff dem Pappiere offt schlecht aussehende Vortheile« ausbilden, »welche uns die Erfahrung an die Hand giebet, und die wir zu unserer Zeit nur noch mit dem obscuren Nahmen der Erfahrungs-Regeln tauffen.«9 Deshalb polemisiert Heinichen gegen die alten kontrapunktischen, »verschimmelten Regeln« und leitet musiktheoretische und musikästhetische Verbindlichkeiten weder aus der Autorität Gottes als Schöpfer der Harmonie (wie es Andreas Werckmeister getan habe10) noch aus der Autorität früherer Musiktheoretiker ab. Letztere kanzelte Heinichen pauschal als »Musicalische Aristotelici«, »Antiquarii« und »super-Kluge Theoretici« ab.11 Schon in der __________
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gen versehen und herausgegeben von Lorenz Christoph Mizler. Leipzig 1742. Reprint Hildesheim 1974, Vorwort. »Sonnet auf das Absterben des berühmten Capellmeisters, Kaisers.« In: Johann Adolph Scheibe: Critischer Musikus. Neue, vermehrte und verbesserte Auflage, Das 57[.] Stück. Donnerstags, den 1[.] October 1739. Leipzig 1745, S. 537. Reprint Wiesbaden 1970, S. 536f. Johann David Heinichen: Der General-Bass in der Composition, oder: Neue und gründliche Anweisung, wie ein Musicliebhaber mit besonderm Vortheil, durch die Principia der Composition, nicht allein den General-Bass im kirchen- cammer- und theatralischen stylo vollkommen, & in altiori gradu erlernen [...] sondern auch zu gleicher Zeit in der Composition selbst, wichtige profectus machen könne; nebst einer Einleitung oder musikalischen raisonnement von der Music überhaupt, und vielen besondern materien der heutigen praxeos. Dresden 1728, S. 22–24 und S. 521. 1711 ist die Dichotomie Regeln vs. Erfahrung/Judicium (noch) nicht so stark ausgeprägt; stattdessen wird stärker – obwohl Heinichen von »judiciren« spricht – auf den Gegensatz Theorie und Praxis Wert gelegt; Johann David Heinichen: Neu erfundene und gründliche Anweisung zu vollkommener Erlernung des General-Basses. Hamburg 1711. Reprint hg. von Wolfgang Horn. Kassel u.a. 2000 (Documenta musicologica I/40), S. 162. »GOTT der Autor und Schöpfer der Harmonie« ist in dieser Sicht der Urheber der von ihm geschaffenen, umfassenden Weltordnung; Andreas Werckmeister: Musicalische ParadoxalDiscourse. Quedlinburg 1707, zitiert nach Rolf Dammann: Der Musikbegriff im deutschen Barock. Laaber 31995, S. 23. Heinichen: Der Generalbaß in der Composition (Anm. 9), S. 9.
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1711 publizierten Erstauflage seiner Generalbasslehre hatte er gegen die »uhralte[n] platonische[n] Regeln« polemisiert, die sogar ein »viereckigter BauernJunge fassen« könne; es bestehe nämlich die »rechte Seele und Tendresse der Composition [...] wahrhafftig nicht in ein Paar hundert verschimmelten überflüssigen Regeln«.12 Heinichen leitet seinen Regelbegriff – ähnlich wie Telemann seinen Hinweis auf den musikalischen Trieb Keisers – aus der Natur ab: »[A]lle unsere nutzbahre Regeln müssen vorhero aus der Natur selbst genommen, und dieser Herrscherin ihr Wille, Neigung, und Eigenschafft nach allen Gradibus erforschet, und ihr gleichsam cum submissione abgemercket werden«.13 Noch in Johann Joachim Quantz’ Versuch einer Anweisung, die Flöte traversière zu spielen (Berlin 1752) ist erkennbar, dass angesichts der Entwicklung der Musik im frühen 18. Jahrhundert – zu denken ist an die Vorbildrolle der Opernmusik, die Anlehnung daran in der sogenannten madrigalischen Kantate oder an die Diskussion melodischer Qualitäten14 – im Kompositionsunterricht nicht mehr primär kontrapunktische Lehrbücher des 17. Jahrhunderts zu Rate gezogen werden sollten. Dem Zeugnis Quantz’ zufolge galt zu jenem Zeitpunkt schon das Wort »Contrapunct« als Inbegriff einer »steifen«, von »Pedanterey« geprägten Musik: »Das Wort: Contrapunct, pfleget sonst bey denen, die nur dem bloßen Naturell zu folgen gedenken, mehrentheils einen widrigen Eindruck zu machen, und für überflüßige Schulfüchserey gehalten zu werden.«15 Quantz vertritt aber – im Übrigen auch bezüglich der Ausbildung eines Musikers – die Vorstellung einer kultivierungsbedürftigen Natürlichkeit, weswegen Regeln immer noch nicht ihre Gültigkeit verloren hätten. Regeln und Wissenschaft würden höchstens den »Componisten nach der Mode, itziger Zeit« __________ 12
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Heinichen: Neu erfundene und gründliche Anweisung (Anm. 9), S. 4 und 10. – Auch Mattheson propagiert im Beschützten Orchestre 1717 eine »musicalische Wissenschaft«, »wie sich dieselbe vom Schulstaub tüchtig gesäubert« habe. Vgl. den Titel des Werkes: Johann Mattheson: Das Beschützte Orchestre: oder desselben Zweyte Eröffnung, worinn nicht nur einem würcklichen galant-homme, der eben kein Profeßions-Verwandter, sondern auch manchem Musico selbst die alleraufrichtigste und deutlichste Vorstellung musicalischer Wissenschafften [...] ertheilet [...] wird. Hamburg 1717. Reprint Laaber 2002. Heinichen: Der Generalbaß in der Composition (Anm. 9), S. 19. Vgl. zur Qualität von Melodien den Hinweis Quantz’, die Diskussion zwischen Telemann und Wolfgang Caspar Printz über diese Frage und Matthesons Ausführungen; Johann Joachim Quantz: Versuch einer Anweisung, die Flöte traversière zu spielen. Berlin 1752. Reprint hg. von Hans-Peter Schmitz (Documenta musicologica, I/II). Kassel u.a. 1983, XVIII. Hauptstück, § 78, S. 324f., Telemanns dritte Autobiographie in: Georg Philipp Telemann: Singen ist das Fundament zur Musik in allen Dingen. Eine Dokumentensammlung. Hg. von Werner Rackwitz. Wilhelmshaven 1981, S. 202 und Johann Mattheson: Der Vollkommene Capellmeister, Das ist Gründliche Anzeige aller derjenigen Sachen, die einer wissen, können, und vollkommen inne haben muß, der einer Capelle mit Ehren und Nutzen vorstehen will. Hamburg 1739. Reprint hg. von Margarete Reimann. Kassel 61995, II. Teil, Fünfftes Haupt-Stück, §§ 1–164, S. 133–160. Quantz (Anm. 14), Einleitung, § 16, S. 16.
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als Gegensatz zu »Talent« gelten.16 Quantz hebt dies unter Zurückweisung des alten Vorwurfs, ohne Regeln aufs »Geratewohl« zu komponieren, und in Nachfolge zu Johann Matthesons Vollkommenem Capellmeister ausdrücklich hervor: »Wer da glaubet, daß es in derselben nur auf ein Gerathewohl und auf einen blinden Einfall ankomme, der irret sich sehr, und hat von dieser Sache nicht den geringsten Begriff. Die Erfindungen und Einfälle sind zwar zufällig, und können durch Anweisung nicht erlanget werden: die Säuberung und Reinigung, die Wahl und Vermischung der Gedanken aber, sind nicht zufällig; sondern sie müssen durch Wissenschaft und Erfahrung erlernet werden«.17 Noch immer also galt es also nach Matthesons Neu-Eröffnetem Orchestre, das 1713 die Gründlichkeit der Anleitung und die Vollkommenheit der Ausführungen in seinem Titel unterstrich, und nach seinem Vollkommenen Capellmeister von 1739, der Vollkommenheit anstrebte, diesen Generalvorwurf zu entkräften, dabei aber die Kategorien »Erfahrung«, »Wissenschaft«, »Talent« und »Naturell« zu verbinden.18
2. Von der Relativierung der Regeln: Der ›goût‹ als Gegenmodell Die bisher genannten Autoren erschöpfen sich nicht in ihrer Kritik tradierter Regeln, vielmehr erfolgt ihre Kritik vor der Ausformulierung eines Gegenmodells: Wie Quantz vermerkte, setzen die Kritiker dem blinden und starren Befolgen als ästhetisches Korrelat die Natürlichkeit entgegen, die nicht mehr nur durch Befolgen von Regeln erlangt werde, sondern nur durch die Ausbildung des Geschmacks, des »goût«. Damit dreht sich in gewissser Weise die Frage der Bedeutung von Regeln auch um die Ausbildung von Musikern, ist eine Frage des Lernens und Lehrens und damit der musikalischen Orientierung und Erfahrungen als einer ›musikalischen Sozialisation‹.19 Lehrschriften als Orte der __________ 16
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Auf das Verhältnis des »Feuers« der jugendlichen, »frechen« und »wilden« Komponisten mit Erfahrung und Wissenschaft weist nachdrücklich Quantz hin; Quantz (Anm. 14), Einleitung, § 14, S. 14. Quantz (Anm. 14), Einleitung, § 14, S. 14. Mattheson hatte diesen Gedanken wie folgt formuliert: »Viele Leute besitzen die Gabe, aus freiem Geiste und stehenden Fusses tausenderley gute Einfälle hervor zu bringen: denn sie sind mit einer starcken EinbildungsKrafft versehen. Hergegen wenn die Feder angesetzet werden soll, so ist der Meister nicht zu Hause, weil ihr Nachdencken nicht tief genug gehet. Andre setzen unvergleichlich wol; und haben doch dabey nicht das geringste Vermögen, aus dem Stegereiffe, ohne Bedenckzeit, zu vollstrecken. Diejenigen, so ihre Gedancken erst mit Fantasiren entdecken, wenn es auch auf eine noch so wilde Art geschähe, und bequemen sich allgemach zu gründlichen Dingen, weisen das meiste Feuer, und sind wircklich die allerbesten.« Mattheson (Anm. 14), II. Theil, Zweites Haupt-Stück, § 53, S. 107. Ähnlich auch der Titel von Heinichens Generalbasslehre von 1728 (Anm. 9). Für Carl Philipp Emanuel Bach wurde dieser Zusammenhang dargestellt in: Joachim Kremer: »Lehrmeister der Dilettanten« oder schlechter Kantor? Carl Philipp Emanuel Bach als Musikpädagoge und Lehrer. In: Hans-Günter Ottenberg und Ulrich Leisinger (Hg.): C. P. E. Bach als Lehrer. Die Verbreitung der Musik C. P. E. Bachs in England und
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Debatte um musikalische Regeln sind deshalb häufig zu finden. Dass aber mit den musiktheoretischen Abhandlungen nicht nur Schüler und Liebhaber (Niedt und Heinichen 1728) im engeren Sinn, sondern auch Berufsmusiker wie Organisten, ein Musicus wie auch ein Lehrer (Fuhrmann 170620, Heinichen 1711 und 1728, Mattheson 1717, Matthesons Kleine Generalbass-Schule, Carl Philipp Emanuel Bach) angesprochen wurden, weist auf die Grundsätzlichkeit dieser Fragen in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts hin. Mit der zentralen Kategorie der erfahrungsgestützten Geschmacksbildung gewann die Grenze zwischen professionellen Musikern und Liebhabern auch an Durchlässigkeit. Diese Grundsätzlichkeit verbietet eigentlich, im verengenden Sinn von ›musiktheoretischen Quellen‹ zu sprechen, weil sie vielmehr ins Zentrum der Musikvorstellung und der Musikpraxis jener Zeit führen. Der »goût« gilt als die den Regeln entgegengesetzte zentrale und allen anderen Kategorien übergeordnete Größe, was Heinichen 1728 kurz und lapidar beschreibt: »Ich will ein eintziges Wörtgen nennen, worinnen sich unsere 3. haupt requisita compositoris, nehmlich Talent, Wissenschafft und Erfahrung, ja selbst der wahre finis Musices gleichsam als in centro terminiren / und dieses heißet mit 4. Buchstaben: der Gout«, gleichsam der »lapis Philosophorum, und hauptschlüßel musicalischer Geheimniße.«21 Althergebrachte Kompositionsregeln seien infolgedessen unnütz, da durch sie die stilistisch moderne Musik behindert und deren Haupteigenschaften »Galanterie« und »Tendresse« vermieden würden. Schon in seiner Generalbassschule von 1711 hatte Heinichen mehrmals von der Tendresse als »von der Seele der Musik« gesprochen.22 Sie und die Galanterie seien wichtiger als kontrapunktische Regeln: »Um was also dem Theatralischen Stilo in einer der Kunst (ich meine die negligente Observirung der eingeführten Compositions-Regeln) abgeht / daß fället ihm gewiß bey der andern Art der Kunst (ich meine die heutige Galanterie, Invention und Tendresse der Music) reichlich und doppelt wieder zu.«23 Indem der objektiv-rational schwer bis gar nicht zu fassenden Kategorie des »goût« mindestens ebenso viel Bedeutung zuerkannt wird wie kontrapunktischen Regeln, wird die Notwendigkeit erkennbar, den Vorwurf des Komponierens und Musizierens »aufs Geratewohl« abzuwehren, was letztlich die Frage nach den geltenden Beurteilungskriterien und nach dem Beurteilungsvermögen aufwirft. Musikerausbildung – und die den Interessierten unterrichtende __________
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Skandinavien. Bericht über das Internationale Symposium vom 29. März bis 1. April 2001 in Slubice – Frankfurt (Oder) – Cottbus. Frankfurt an der Oder 2005 (Carl Philipp Emanuel Bach-Konzepte, Sonderband 4), S. 95–118. [Heinrich Martin Fuhrmann]: Musicalischer=Trichter / Dadurch Ein geschickter Informator seinen Informandis die Edle Singe=Kunst Nach heutiger Manier bald und leicht Einbringen kan [...], Franckfurt an der Spree 1706 (Mikrofilm des Deutschen Musikgeschichtlichen Archivs Kassel). Heinichen: Der General-Bass in der Composition (Anm. 9), S. 22 und 23. – Fuxens Position ist gewissermaßen die Gegenposition zu Heinichens Auffassung, dass »am Gout der Music am meisten gelegen« sein muss; ebd., S. 23. Ebd., S. 9 und 13 und ähnlich S. 21. Heinichen: Neu erfundene und gründliche Anweisung (Anm. 9), S. 12.
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Generalbasslehre als Ort für die Publikation dieser Ideen ist ein Hinweis darauf – ist deshalb in starkem Maße für Heinichen, Mattheson, Quantz und auch Bach im Grunde eine Geschmacksbildung, die zu einem »Judicium« führt, zu einer Urteilsfähigkeit, die nur – wie im Titel zu Scheibes Critischem Musikus programmatisch dargestellt – als kritisches Urteil gedacht werden kann, weil absolute Kriterien nun nicht (mehr) gelten, schon gar nicht in Form der aus älterer Musik abgeleiteten Kontrapunktregeln.24 Dies gilt vor allem auch vor dem Hintergund der sich rasch verändernden und entwickelnden Musik, die in Deutschland nun auch Musikmärkte entstehen ließ. Mattheson führt ohne weitere Präzisierung moderne Komponisten als Referenzgrößen an und leitet die Notwendigkeit zur Ausbildung eines geschmacksgestützten Urteils aus der Feststellung ab, dass sich die Musik in den letzten Jahren doch grundlegend geändert habe, dass »der gout unsrer Musicalischen Ertz-Väter gar sehr von dem Unsrigen unterschieden gewesen sey [und] von unserm itzigen gout, wie der Himmel von der Erden« unterschieden werden könne.25 Im 1721 publizierten Forschenden Orchestre dient ihm Baltasar Gracián als Referenz für diese Tatsache: „Qu’il faut aujourd’hui plus des conditions pour faire un veritable Musicien, qu’il n’en fallut anciennement, pour en faire sept.“ 26 Heinichen hatte schon 1711 darauf verwiesen, dass in einem von ihm wiedergegebenen Musikbeispiel regelwidrige verdeckte Quinten und Oktaven »nicht aus Ignoranz und absque Judicio« angebracht seien, sondern dass die Beurteilungskriterien andere sein müssten als die der traditionellen Musiktheorie. Bei dieser modernen Musik zeigten keine rationalen Argumente und auch nicht das optische Erscheinungsbild die Richtigkeit des musikalischen Satzes an, sondern alleine das Ohr. Das sinnliche Erleben der Musik könne zu solch einer Einschätzung befähigt sein, weswegen Heinichen statt der »Vernunftregeln« und »Gesichts-contrapunkte« das Gehör als »Dominam« eines Urteils bezeichnet27: »dahero fingen sie [sc. die Alten] gleichsam ex otio an, die __________ 24
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Pars tertia des Neu-Eröffneten Orchestre beinhaltet »Judicatoria Oder Wie eines und anderes in der Music zu beurtheilen.« Johann Mattheson: Das Neu-Eröffnete Orchestre, Oder Universelle und gründliche Anleitung / Wie ein Galant Homme einen vollkommenen Begriff von der Hoheit und Würde der edlen Music erlangen / seinen Gout darnach formiren [...] könne. Hamburg 1713. Reprint Laaber 2002, S. 200ff. – Niedt führt einen Organisten vor, der seinem Schüler vorspielte und den Rat gab: »Du must es so und so spielen / so hab ichs gelernet.« Friedrich Erhard Niedt: Musicalische Handleitung / Oder Gründlicher Unterricht. Vermittelst welchen ein Liebhaber der Edlen Music in kurtzer Zeit sich so weit perfectioniren kan / daß Er [...] ein rechtschaffener Organiste und Musicus heissen könnte. Teil 1. Hamburg 1710, § 11. Mattheson: Das Beschützte Orchestre (Anm. 12), S. 146f. Ebd., S. 279. – Lohnenswert wäre es, die herangezogene Referenzliteratur (ob Erasmus Sartorius, Baltasar Gracián, Andreas Werkmeister oder Athanasius Kircher) zu vergleichen. Nur so können letztlich die Argumentationsstrategien gegeneinander abgegrenzt und geklärt werden, aus welchen Quellen ein neuer Gelehrsamkeitsbegriff schöpfte; vgl. Laurenz Lütteken: Matthesons Orchesterschriften und der englische Sensualismus. In: Die Musikforschung 69 (2007), S. 203–213. Bemerkenswert ist, dass der Vergleich der alten und neuen Komponisten die Rede von Dienerin und Herrscherin aus der Artusi-Monteverdi-Kontroverse aufnimmt und trotz
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unschuldigen Noten bald theoretice nach dem mathematischen Maßstabe, und der proportions-Elle auszumessen, bald practice auf den Lineen (gleich als auf der Folterbank) so lange zu dehnen, zu ziehen, (ich wolte contrapunctisch sagen: zu augmentiren) zu verkehren, zu wiederholen / und zu verwechseln / biß endlich aus diesen eine praxis von unzehligen überflüssigen Gesichts-contrapuncten [...] entstunde.«28 Der Gegensatz zwischen alter und moderner Musik werde aus einem Vergleich der Musik leicht erkennbar, und ergänzend verweist Heinichen auf die modernen Komponisten, nicht auf die Musiktheoretiker: »Vor allen Dingen räumen sie dem unterdruckten Musicalischen Gehöre die Oberherrschaft seines Reiches völlig wieder ein; die Vernunfft aber entsetzen sie ihres richterlichen Amtes, und geben sie dem Gehöre nicht als Dominam, oder gleiche Mitherrscherin, sondern als eine kluge Ministram & consiliarium zu.« Die heutigen »compositeurs« und Praktiker hätten deshalb bezüglich der Regelbefolgung »kein so enges Gewissen mehr«, besonders bei satztechnischen »Exceptiones«.29 Kompositorisch umgesetzt findet sich dieses Problemfeld der Modernität und des starken Unterschieds zwischen älterer und aktueller Musik in Telemanns Ouvertüre des Nations anciens et modernes verwirklich, in dem der Komponist den alten Deutschen den alten Schweden und Dänen die modernen gegenüberstellt. Noch in seiner 1765 aufgeführten Serenade zum Jubelfest des Hamburger Commerz-Collegiums TVWV 24:4 stellt Telemann in der eröffnenden Symphonie folgende Zeiten dar: »Die alte Welt, die Mittlere Welt, die Jüngere Welt«.30 Und wenn Leopold und Wolfgang Amadeus Mozart über Kenner und Liebhaber korrespondierten und vermerkten, dass es Musik gebe, die in die Ohren falle, ohne dass die Hörer wüssten, warum sie schön sei, dann ist immer noch diese von Mattheson schon erwähnte direkte und sinnliche Musikerfahrung gemeint, die zu einem ästhetischen Urteil und konkret zu einem bestimmten Verhalten gegenüber der Musik führt, das heute mit dem Begriff ›Publikumsgeschmack‹ verbunden ist.31 __________
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Ablehnung der Vernunft kein ›unvernünftiges‹ Urteil fordert: Die Vernunft ist aber nun nicht mehr »als eine kluge Ministram & consiliariam«, und es kann deshalb vorkommen, dass ein musikalischer Satz auf dem Papier schlecht aussieht, wohl aber dem Ohr gefallen kann. Heinichen: Der General-Bass in der Composition (Anm. 9), S. 3f. Heinichen: Der General-Bass in der Composition (Anm. 9), S. 3 und zum folgenden ebd., S. 4. Vgl. Mattheson: Das Neu-Eröffnete Orchestre (Anm. 24), S. 119 und 118. – Auch Fuhrmann verweist – wenngleich mit anderer Argumentationsrichtung – auf den hohen Entwicklungsstand der Musik: »dieweil zu des Orlandi Zeit von der Music erst die Morgenröthe angebrochen / da itzund ihr heller Mittag auffgegangen.« Die Musik habe nun »den obersten Gipffel der Vollkommenheit erreicht«. Fuhrmann (Anm. 20), S. 4f. Eitelfriedrich Thom (Hg.): Georg Philipp Telemann, Vorwort und Symphonie zur Serenate auf die erste hundertjährige Jubelfeyer der Hamburgischen Löblichen HandlungsDeputation. Michaelstein/Blankenburg 1980 (Studien zur Aufführungspraxis 9). Vgl. den Brief Mozarts an seinen Vater 28.12.1782: »[...] die Concerten sind eben das Mittelding zwischen zu schwer, und zu leicht – sind sehr brilliant – angenehm in die ohren – Natürlich, ohne in das leere zu fallen – hie und da – können auch kenner allein satisfaction erhalten – doch so – daß die nichtkenner damit zufrieden seyn müssen, ohne zu wissen warum. [...] aber was wollen Sie! – das mittelding – das wahre in allen sachen[,]
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3. Der goût als Teil eines Bildungskonzepts. Zur Problematik der sozialen Zuordnung musikalischer Prägungen Vergegenwärtigt man sich, wer die Kritiker des alten Kontrapunkts waren, dann fällt auf, dass die wortgewaltigsten unter ihnen nicht die Älteren und Etablierten, nicht einmal die Vierzigjährigen wie Martin Heinrich Fuhrmann (geboren 1669) und Friedrich Erhard Niedt (geboren 1674) waren, sondern dass vorwiegend die Jüngeren, nämlich Johann David Heinichen (geboren 1683) und Johann Mattheson (geboren 1684), ihre Angriffe sprachlich und argumentatorisch scharf formulierten. Im Falle Matthesons fällt diese öffentliche Profilierung auch damit zusammen, dass er sich beruflich zu etablieren versuchte, einerseits mit dem Neu-eröffneten Orchestre und kompositorisch mit seinen 1713 publizierten Pièces de clavecin. Ähnlich bekleidete auch Heinichen damals – soweit die quellenbedingten Unsicherheiten seiner Biographie diese Aussage erlauben – kein Musikeramt, sondern wirkte eher als Ad-hoc-Komponist, z. B. für den Weißenfelser Hof.32 Die Kritik am Regelbegriff war aber mehr als die Polemik ehrgeiziger und karrierebewusster junger Musiker. Sie war vielmehr wesentlicher argumentativer Baustein eines Bildungskonzepts, das eng mit dem Ideal der Galanterie verbunden war. Dass nämlich Heinichen in seiner Generalbasslehre 1711 die erwähnten regelwidrigen Freiheiten des Komponisten an seiner Arie Eurer Schönsten Augen-Licht der in Leipzig aufgeführten Oper Carneval de Venise (1709) aufzeigt, ist aufschlussreich. Das Beispiel zeigt nämlich, dass die Kritik der Regeln, die Postulierung des ›goût‹ und der Galanterie Bestandteile eines an der Oper geschulten höfischen, zumindest aristokratischen Bildungsmodells darstellen. Im Grunde wirkte damit das höfisch-aristokratische Ideal des ›galant-homme‹ nach, das Christian Thomasius schon 1687 in seinem Discours welcher gestalt man denen Franzosen im gemeinen Leben und Wandeln nachahmen solle, einem Schlüsseltext für die deutsche Galanterie-Debatte, formuliert hatte. Den galant-homme mache folgendes aus: »honnete Gelehrsamkeit, beauté d’esprit, un bon gout und galanterie«.33 Noch bevor aber weitere literarische Schlüsselwerke zu dieser Thematik entstanden – etwa Benjamin Neukirchs Anweisung zu Teutschen Briefen (1721) oder Johann Ulrich Königs Ausgabe der Gedichte von Canitz __________
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kennt man itzt nimmer – um beyfall zu erhalten[,] muß man sachen schreiben[,] die so verständlich sind, daß es ein fiacre nachsingen könnte, oder so unverständlich – daß es ihnen, eben weil es kein vernünftiger Mensch verstehen kann, gerade eben deswegen gefällt.« Wolfgang Amadeus Mozart: Briefe und Aufzeichnungen. Gesamtausgabe. Gesammelt und erläutert von Wilhelm A. Bauer und Otto Erich Deutsch, Bd. III: 1780– 1786. Kassel 1963, S. 245f. Wolfgang Horn: Heinichen, Johann David. In: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. 2. Auflage. Personenteil Bd. 8. Kassel u.a. 2002, Sp. 1178–1192, hier: Sp. 1179. Zitiert nach Friedrich Paulsen: Geschichte des gelehrten Unterrichts auf den deutschen Schulen und Universitäten vom Ausgang des Mittelalters bis zur Gegenwart. Leipzig 3 1919, S. 527, dort ohne Nachweis. – Lütteken beschreibt die Möglichkeit des Einflusses aus dem englischen Sensualismus und geht von einer nur vordergründigen Reaktion auf Thomasius aus: Lütteken (Anm. 27), S. 208.
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(Leipzig 1727) –, hatte schon um 1710 die musiktheoreretische Diskussion eingesetzt: In seinem Forschenden Orchestre bezog sich Mattheson 1721 ausdrücklich auf den Homme de Cour oder kluger Hof- und Welt-Mann von Baltasar Gracián y Morales, der inzwischen in mehreren Drucken in Deutschland vorlag. Schon in seinem literarischen Erstlingswerk, dem Neu-Eröffneten Orchestre, hatte Mattheson 1713 die Galanterie als unverzichtbaren Teil der Komposition neben Melodie und Harmonie beschrieben, »welche sich dennoch auf keine Weise erlernen noch in Reguln verfassen lässt / sondern bloß durch einen guten gout und gesundes Judicium acquiriert wird.«34 Überhaupt ist hier im Neu-eröffneten Orchestre die Anleitung, »Wie ein Galant Homme einen vollkommenen Begriff von der Hoheit und Würde der edlen Music erlangen / [und] seinen Gout darnach formiren« könne,35 das zentrale Anliegen, und auch Matthesons Beschütztes Orchestre (Hamburg 1717) richtet sich gleichermaßen an den galant-homme und an den Musicus. Indem dieses höfisch-aristokratische Ideal aus seinem ursprünglichen sozialen Kontext gelöst wird – auch dies ist eine Begleiterscheinung der seit den 1920er Jahren etwa von Eberhard Rebling und Leo Balet diskutierten ›Verbürgerlichung der Musik‹ –, prallen soziale Prägungen und damit auch unterschiedliche Vorstellungen bezüglich der Stilistik, der Gattungswertigkeit und der Funktion von Musik aufeinander.36 Letztlich handelt es sich um eine erneute Infragestellung der seit der Hofkritik von Andreas Gryphius sich auch in Johann Rists Einschätzungen widerspiegelnden Abgrenzung von Stadt und Hof als Funktionsräumen kulturellen Handelns, also um eine vor allem in solchen Zentren, wie es Hamburg darstellte, situierte Infragestellung des ausgeprägten Selbstbewusstseins städtischer Kultur.37 Dass an der Gelehrtenschule des Hamburger Johanneums schon im Jahre 1714, also wenig später als die in Hamburg publizierten ersten Schlüsseltexte Heinichens und Matthesons, das Thema der Galanterie in einer Antrittsrede De Pedantismo et Galantismo durch den Rektor Johann Hübner thematisiert wurde, zeigt das dichotomische Verhältnis beider Bildungsideale, nämlich der tradierten Gelehrsamkeit und der modischen Galanterie. Hintergrund dürfte zudem auch das Aufeinanderprallen der städtisch-traditionellen und der aristokratischen Bildungsidee gewesen sein, also ein später Nachhall
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Mattheson: Das Neu-Eröffnete Orchestre (Anm. 24), S. 137f. und ähnlich S. 202. Vgl. den Titel des Werkes. Leo Balet und E. Gerhard (= Eberhard Rebling): Die Verbürgerlichung der deutschen Kunst, Literatur und Musik im 18. Jahrhundert. Straßburg u.a. 1936. Reprint hg. von Gert Mattenklott. Frankfurt a.M u.a. 1973; Eberhard Rebling: Die soziologischen Grundlagen der Stilwandlung der Musik in Deutschland um die Mitte des 18. Jahrhunderts. Saalfeld o.J. (1935). Auch Krummacher weist am Beispiel der Choralbearbeitung auf unterschiedliche soziale, sich stilistisch auswirkende Prägungen hin; vgl. Friedhelm Krummacher: Die Choralbearbeitung in der protestantischen Figuralmusik zwischen Praetorius und Bach. Kassel u.a. 1978 (Kieler Schriften zur Musikwissenschaft 22), S. 405ff. Vgl. Susanne Rode-Breymann (Hg.): Orte der Musik. Kulturelles Handels von Frauen in der Stadt. Köln, Weimar und Wien 2007 (Musik – Kultur – Gender 3).
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der Kontroverse um die Eröffnung des Hamburger Opernhauses 1678.38 Gerade dem bisher kaum systematisch für Hamburg untersuchten Bereich der institutionellen und der außerinstitutionellen Bildung scheint hier noch für das frühe 18. Jahrhundert eine Indikatorfunktion zuzukommen: Die Konkurrenz der Bildungsideale hatte sich nämlich schon anlässlich der geplanten Gründung einer als »Academie oder Ritter=Schule« bezeichneten Privatschule durch den »Tantz= und franzosische[n] Sprachmeister« Charles Des Hayes im Jahre 1681 gezeigt. Für die »Adeliche und Kunstbegierige Jugend« sollte Unterricht »in lingua Latina, Cosmographia, Geometria, Geographia, ja gantzer Historia und Mathesi, auch wol gantzer Philosophia und allen ihren Theilen«, sowie im Tanzen, Fechten, Zeichnen, »Fortification« und alternativ zur Lateinischen Sprache die »Vocal= und Instrumental-Music« gelehrt werden.39 Die stattliche Zahl von in Hamburg zu Beginn des 18. Jahrhunderts ansässigen Tanz-, Fecht- und Sprachmeistern40 weist auf das Interesse breiter Kreise an dieser Ausbildung hin. Für Heinichen und vor allem den in Hamburg aufgewachsenen Johann Mattheson, der neben dem Besuch des Johanneums auch bei Privatlehrern Unterricht im »Tantzen, Reissen, Rechnen [...] bey heranwachsenden Kräfften, im Fechten [... und] im Reiten« genommen hatte,41 bestand dieser tiefe Graben nicht, vielmehr bot ihm alles Höfisch-Theatralische die Gelegenheit zur Aktualisierung, auch der städtischen Kultur. Wie sehr eine solche ›Aktualisierung‹ auf die Entwicklung des Gattungsspektrums einwirkte, wird an der Entwicklung __________ 38
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Diese Vermutung wird gestützt durch folgende Tatsachen: Der Rektor Johann Hübner griff mit der Etablierung deutscher Redeübungen und der Einweihung des im Zuge der Renovation des Schulgebäudes Neu=angelegten Schau=Platze[s] der Beredsamkeit die Opernproblematik wieder auf, er hielt die Bezeichnung »Theatrum« für unangebracht, da »weder Comoedien noch Opern darauf sollen gespielet werden«; vgl. Hübners Einladung vom 31.12.1714, in: D-Hs, Scrin 199b, S. 9. – Auch die beim »actus promotionis« von 1722 gehaltene Disputation »de moralitate ludorum scenicorum« und die dabei positiv beantwortete Frage, »ob nemlich Opern, Comödien etc. erlaubet seyn oder nicht?«, belegt, dass die Vorbehalte gegen Oper und Theater nun ausgestanden waren; vgl. Staats= und Gelehrte Zeitung des holsteinischen unpartheyischen Correspondenten 1722, Nr. 71 (5. Mai). Vgl. ausführlich Joachim Kremer: Das norddeutsche Kantorat im 18. Jahrhundert. Untersuchungen am Beispiel Hamburgs. Kassel 1995 (Kieler Schriften zur Musikwissenschaft 43), S. 270. Vgl. z.B. die Auflistung der Tanz-, Fecht- und Sprachmeister in: Jetzt belebtes Hamburg / Oder Aufrichtig und wol=gemeinte Nachricht derer Namen // Characters und Wohnungen so wohl aller auswertigen Hohen Puissancen [...]. O.O. (Hamburg) 1712, S. 70f. Hans Joachim Marx: Johann Mattheson (1681-1764): Lebensbeschreibung des Hamburger Musikers, Schriftstellers und Diplomaten, Hamburg 1982, S. 40; ähnlich erwarb der Naturwissenschaftler Johann Albert Heinrich Reimarus – seit seinem sechsten Lebensjahr Johanneumsschüler – Fähigkeiten in Algebra, Mathematik, Geometrie und Trigonometrie, Tanzen und Fechten außerhalb des Johanneums, und Barthold Hinrich Brockes übte sich bei »Monsieur Haetcke« außer in modernen Sprachen und der Musik im »tanzen, fechten, voltigiren und reiten«; vgl. Johann Albert Heinrich Reimarus: Lebensbeschreibung von ihm selbst aufgesetzt. Hamburg 1814, S. 3 und J[ohann] M[artin] Lappenberg (Hg.): Selbstbiographie des Senators Barthold Heinrich Brockes. In: Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte 2 (1847), S. 167-229, hier: S. 175.
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repräsentativer Fest- und Gelegenheitsmusiken, an der Entwicklung des Oratoriums in den Nebenkirchen und auch an personellen Überschneidungen erkennbar, also dem Mitwirken der Operisten bei geistlichen Musikaufführungen.42 Dass dabei gewissermaßen als letzter Schritt auch das ästhetische Ideal der höfisch geprägten Musik propagiert wurde, ist nur folgerichtig.
4. Die Kritik des Kontrapunkts als Teil der Gelehrsamkeitskritik Christian Friedrich Hunold verbreitete 1709 in seiner Einleitung zur teutschen Oratoria und Brief-Verfassung das dichotomische Denkmodell von der Unvereinbarkeit »gekünstelten Wesens« und der Galanterie.43 Die literarischen Tendenzen des frühen 18. Jahrhundert zielten in Nachfolge hierzu auf eine natürliche und von ›Schwulst‹ befreite Literatur ab: Friedrich Rudolf Ludwig von Canitz hatte »dieses Gifft der schwülstigen Metaphoren, falschen Gedancken, gezwungenen Künsteleyen, lächerlichen Spitzfindigkeiten, läppischen Wortund Buchstabenspielen, seltsamen Mischmasch, aufgeblasenen Vorstellungen, [...] schülerhafften Beschreibungen [...] und hundert anderen kindischen und geschminckten Auszierungen«44 angeprangert, und auch Johann Christoph Gottscheds Kritik der Rhetorik (etwa reiner Wortfiguren) hatte diesen Faden weitergesponnen. In Parallelität dazu galten auch der Kontrapunkt und damit die ihn repräsentierende Musikergruppe zunehmend als Synonyme für eine veraltete, ›unnatürliche‹ und von ›Schwulst‹ beladene Musikauffassung,45 aber ähnlich wie die eingangs zitierte Beschreibung der aktuellen Situation der Musik je nach Argumentationsrichtung entweder ins Positive gewendet als Zeichen der Anciennität oder kritisierend als Kennzeichen einer der Lächerlichkeit preisgegebenen Musikauffassung. Telemanns Schulmeisterkantate – sei sie nun __________ 42
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An der Figur des damaligen Stadtkantors Joachim Gerstenbüttel, der sich diesen Entwicklungen weitgehend verschloss, werden die tiefgreifenden Verlagerungen erkennbar; vgl. hierzu wie auch zum Oratorium Joachim Kremer: Joachim Gerstenbüttel (1647–1721) im Spannungsfeld von Oper und Kirche. Ein Beitrag zur Musikgeschichte Hamburgs. Hamburg 1997 (Musik der frühen Neuzeit. Studien und Quellen zur Musikgeschichte des 16.–18. Jahrhunderts 1) und ders.: Johann Sebastian Bachs Erfahrungshorizont in Norddeutschland: Die Frühgeschichte des Oratoriums (1692–1710) zwischen Oper und Konzert. In: Wolfgang Sandberger (Hg.): Bach, Lübeck und die norddeutsche Musiktradition. Bericht über das Internationale Symposium der Musikhochschule Lübeck April 2000. Kassel u.a. 2002, S. 72–85. Christian Friedrich Hunold: Menantes’ Einleitung zur teutschen Oratoria und BriefVerfassung. Halle und Leipzig 1709, S. 157. Des Freiherrn von Canitz Gedichte, mehrentheils aus seinen eigenhändigen Schrifften verbessert und vermehret. Hg. von Johann Ulrich König. Leipzig und Berlin 1727, S. 234ff. Dies bildet den argumentatorischen Kontext für Scheibes Kritik der vermeintlichen Unnatürlichkeit und Schwülstigkeit in der Musik Bachs.
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von ihm komponiert oder nicht46 – nimmt das Motiv einer modisch-aktuellen Musik auf und parodiert einen Kantor, der ein Stück nach der veralteten Art Andreas Hammerschmidts favorisiert. Und auch die intensiven zeitgenössischen Versuche der Widerlegung des im Kontext weiterer anekdotisch verbrämter Attacken stehenden Sprichworts »Cantores amant humores« kann vor dem Hintergrund der Modernitätsdebatte als Ausdruck der Krise des Kantorenstandes und der durch ihn repräsentierten Musik bzw. der Musiziersphäre betrachtet werden.47 Im Zuge der Aufwertung des naturwissenschaftlichen und technischen Wissens im 17. Jahrhundert war es seit der Querelle des Anciens et des Modernes zu einer Diskussion um die Rangfolge antiker und moderner Gelehrsamkeit gekommen.48 Johann Heinrich Buttstett steht mit seiner gegen Mattheson gerichteten Replik Ut, Mi, Sol, Re, Fa, La, tota musica et harmonia aeterna, Oder Neu-eröffnetes, altes, wahres, eintziges und ewiges Fundamentum Musices entgegen gesetzt dem neu-eröffneten Orchestre (Erfurt und Leipzig 1716) für ein spätpythagoräisches Denken, das davon ausgeht, dass analog zu den harmonischen Prinzipien der Welt auch »die Ursachen der musicalischen Intervalle: durch Zahlen proportiones [...] gezeiget werden.«49 Das Verhältnis zu einer solchen in über zweitausendjähiger Tradition stehenden Gelehrsamkeit muss angesichts der Postulierung des ›goût‹ als das aktuelle und zeitgemäße Ideal ein zwiespältiges sein, weil Gelehrsamkeit allen Attacken zum Trotz noch immer eine positiv besetzte und damit eine in die neue Ästhetik zu rettende Kategorie darstellte. Wie uneinheitlich der Begriff ›Gelehrsamkeit‹ jedoch verwendet wurde und wie schillernd seine wertende Belegung war, zeigen die zwischen 1705 und 1712 in den Lübecker Schulexamina vorgestellten Redebeiträge über die Gelehrsamkeit von Kaufleuten, Bauern, Schustern oder Gärtnern, Versuche zur Popularisierung und Nobilitierung, vielleicht auch Modernisierung und Rettung des Gelehrsamkeitsbegriffes.50 Aber gerade solche Nobilitierungsversuche führen die Kategorie der Gelehrsamkeit ad absurdum und näher __________ 46
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Zur Frage der Echtheit siehe Hellmuth Christian Wolff: Georg Philipp Telemann – 300 Jahre. Eleganz und Grazie – Symmetrie und Witz. In: Die Musikforschung 34 (1981), S. 40–49, hier: S. 49. Zur Zuschreibung an Christoph Ludwig Fehre siehe Hans-Joachim Schulze: Der Schulmeister (TVWV 20:57) – eine komische Kantate. In: Dieter Gutknecht, Hartmut Krones und Frieder Zschoch (Hg.): Telemanniana et alia Musicologica. Festschrift für Günter Fleischhauer zum 65. Geburtstag. Oschersleben 1995 (Michaelsteiner Forschungsbeiträge 17), S. 117–121. Vgl. Joachim Kremer: Von »Noten-Krämern«, »Solmisations-Rittern« und »theatralischer« Kirchenmusik: Zur Bewahrung, Ausweitung und Auflösung des Kantorats im 18. Jahrhundert. In: Joachim Kremer und Walter Werbeck (Hg.): Das Kantorat im Ostseeraum im 18. Jahrhundert. Bewahrung, Ausweitung und Auflösung eines kirchenmusikalischen Amtes. Berlin 2007 (Greifswalder Beiträge zur Musikwissenschaft 15), S. 9–33. Vgl. hierzu Detlef Döhring: Gelehrsamkeit. In: Friedrich Jaeger (Hg.): Enzyklopädie der Neuzeit 4: Friede – Gutsherrschaft. Stuttgart 2006, Sp. 368–373. Johann Heinrich Buttstett: Ut, Mi, Sol, Re, Fa, La, tota musica et harmonia aeterna, Oder Neu-eröffnetes, altes, wahres, eintziges und ewiges Fundamentum Musices entgegen gesetzt dem neu-eröffneten Orchestre. Erfurt und Leipzig 1716, S. 8. Die Textdrucke dieser Dissertationen finden sich im Sammelband D-B Am 3362.
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zu klären wäre, inwieweit sie unter dem Schlagwort der »charlataneria eruditorum« Ausdruck einer um sich greifenden Gelehrsamkeitskritik waren, deren Höhepunkt nach Döhring im frühen 18. Jahrhundert lag.51 Quantz’ bereits zitierte Kritik der »Pedanterey« bzw. der Gleichsetzung derselben mit »Contrapunkt« und »Schulfüchserey« greift diesen Generalvorwurf noch 1752 auf. Aber schon im Forschenden Orchestre hatte Mattheson 1721 eine heftige Attacke gegen Gelehrte und deren Fehlurteil geritten und zahlreiche Beispiele »für anzügliche Stellen und ärgerliches Zeug / bey gar gelehrten Leuten« gegeben.52 Die verhandelten Fragen und Argumente fangen an mit der moralischen Gleichsetzung von Tanz, Musik, Komödien, Konkubinen und Polygamie53 und deren Bezeichnung als unedle Art der Arbeit (»C’est là le language de nos gens lettrés.«54) und reichen bis zur Gleichsetzung der musikalischen Wissenschaft mit der Theologie, kein modernes, sondern auf Luther aufbauendes, noch immer nicht abgenütztes Argument.55 Die Kritik blieb nicht beim Demolieren des Gelehrsamkeitsideals stehen, vielmehr zeigt sich auch hier der Trend zur Differenzierung des Gelehrsamkeitsbegriffes nach Wissensarten und Erkenntnisvermögen, erkennbar in dem sich in den folgenden Jahrzehnten etablierenden Begriff der »Schönen Wissenschaften«.56 Nachdem die Musik als universitäre Disziplin zunehmend aus dem universitären Fächerkanon gefallen war, wurde sie nämlich im 18. Jahrhundert in Einklang mit Matthesons flammendem Plädoyer für die Wiedereinführung57 wieder Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen, z.B. durch Lorenz Christoph Mizler zwischen 1736 und 1743 in Leipzig, nun aber ohne die pythagoräische Begründung, wie sie noch für Buttstett fundamental war. Dabei __________ 51
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Vgl. z.B. Johann Burkhard Mencke: De Charlataneria eruditorum. Leipzig 1715, übersetzt erschienen als: De la charlatanerie des savans. Avec des remarques critiques de différens auteurs. Trad. en françois [par David Durand]. La Haye 1721; veränderte Auflage als: Johann Burkhard Mencke: Zwey Reden von der Charlatanerie oder Marktschreyerey der Gelehrten: nebst verschiedener Autoren Anmerkungen. Leipzig 1727, und ders.: De Charlataneria Eruditorum Declamationes Duae. Jo. Burch. Menckenii De Charlataneria Eruditorum Declamationes Duae: Cum Notis Variorum. Amsterdam 1747. Siehe hierzu auch die folgende Quellensammlung: Alexander Košenina (Hg.): Charlataneria eruditorum. Satirische und kritische Texte zur Gelehrsamkeit. St. Ingbert 1995 (Kleines Archiv des achtzehnten Jahrhunderts 23). – In der deutschen Übersetzung der französischen Satire La Femme Docteur ou la Théologie tombée en Quenouille (Lyon 1730) flossen zwei Ansätze gesellschaftlicher Kritik ineinander, die Kritik der Gelehrsamkeit und des Pietismus; vgl. Luise Adelgunde Victorie Gottsched: Die Pietisterey im Fischbein-Rock: Oder die Doctormäßige Frau. In einem Lust-Spiele vorgestellet. Rostock 1736. Johann Mattheson: Das Forschende Orchestre, oder desselben Dritte Eröffnung. Hamburg 1721. Reprint Laaber 2002, S. 196. Ebd., S. 197. Ebd., S. 198. »Nach dem heil. Worte GOttes ist nichts so billig / und so hoch zu rühmen / und zu lieben / als eben die Musica.« (Ebd., S. 201). Döhring (Anm. 49), Sp. 369 und zur Gelehrsamkeitskritik ebd., Sp. 371f. Mattheson (Anm. 14), Vorrede, XVII, S. 27f. – Zu Mizler vgl. ausführlich Rainer Bayreuther: Struktur des Wissens in der Musik-Wissenschaft Lorenz Mizlers. In: Die Musikforschung 56 (2003), S. 1–22.
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wurden – nicht unabhängig von der praktischen Nutzbarmachung der Erkenntnisse – unterschiedliche Begriffe musikalischer Gelehrsamkeit verwendet, weil sich mit der Regelkritik inzwischen viel verschoben hatte: Der Rostocker Theologe Heinrich Jacob Sivers wollte in seiner 1729 in Rostock präsentierten Dissertation Der Gelehrte Cantor das tradierte Ideal der theologisch-philologischen Bildung retten. Statt jenem altmodischen Rettungsversuch steht Mattheson einem empirischen und nicht analytischen Begriff näher – wie ihn auch Diderots Encyclopédie 1755 in ihrem 5. Band definierte –, der auf Faktenwissen und ausgiebiger Lektüre beruht. Damit verbunden ist für Mattheson auch das Ideal der kritischen Urteilsbildung, das stets Praktisches und Theoretisch-Wissenschaftliches verknüpft. Ebenfalls noch in der Nähe zur Praxis bewegt sich Jacob Adlungs Anleitung zur musikalischen Gelahrtheit (Erfurt 1758), die sich in enzyklopädischer Manier an Gelehrte und Liebhaber wendet, nun Bezug nehmend auf die erneut beklagte Situation eines vermeintlichen Verfalls der Musik und insbesondere der Kirchenmusik, der trotz aller Leistungen Telemanns, Bachs, Stölzels, Hasses, Bendas und Quantzens festzustellen sei.58 Die Postulierung des ›goût‹ hatte erneut die Gefahr der Beliebigkeit und des regellosen Komponierens aufs »Geratewohl« vor Augen geführt. Heinchens und Matthesons Plädoyer für jede Art der Urteilsbildung auf der Basis musikalischer Erfahrungen und Kenntnisse begegnet dieser Gefahr, was eine neue Art der ›Bildung‹ und Gelehrsamkeit nicht nur ermöglicht, sondern sogar voraussetzt, nun aber nicht losgelöst von der realen, sinnlichen Musikerfahrung. Diese Verbindung ist in dem Verständnis des Begriffes ›goût‹ angelegt, wie ihn beispielsweise Johann Heinrich Zedler 1735 in seinem Universal-Lexicon formulierte, denn der »goût« wird »von dem Verstand, den man von einer Sache hat, ingleichen von dem Gefallen, der an etwas verspühret wird, genommen.«59 Auch Mattheson diskutiert das Verhältnis von Wissenschaft und Kunst und beschreibt bald nach Zedler in seinem Vollkommenen Capellmeister (Hamburg 1739) ein Bündel von den einem vollkommenen Musiker notwendigen Fähigkeiten, zu dem auch die musikalische Gelehrsamkeit als Teilbereich der von ihm so genannten musikalischen Wissenschaft zählt. Diese musikalische Gelehrsamkeit ist für ihn ein aus drei Teilbereichen bestehendes Feld, zu dem folgendes gehört: 1. die »Zeit-Rechnung«, die lehrt, »seit wenn die Music getrieben, zu welchem verschiedenen Endzweck sie gebraucht worden, wie sie bald ab- bald zugenommen habe, und endlich durch welche Mittel sie zu uns gekommen sey.«60 Der zweite Teilbereich »müste auf die Personen und ihren Lebenslauff gerichtet seyn«, während der dritte Bereich die Instrumentenkunde darstellt. Alle anderen im Vollkommenen Capellmeister behandelten Fragen, __________ 58
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Vgl. die Vorrede Johann Ernst Bachs in: Jacob Adlung: Anleitung zur musikalischen Gelahrtheit. Reprint hg. von Hans Joachim Moser. Kassel und Basel 1953, S. 10 und zur Klage über den Verfall ebd., S. 11–17. Zedler (Anm. 6), hier: Bd. 11 (1735), Sp. 440: Gout. Mattheson (Anm. 14), Erster Theil, Das vierte Haupt-Stück, § 7, S. 21 und zum folgenden ebd., § 8 und 9.
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etwa aus dem Bereich der Musiktheorie stammend, können – zuweilen recht pauschal – auf diese Grundaspekte zurückgeführt werden. Mattheson gibt mit der Breite seiner eigenen Tätigkeiten (z.B. als Komponist, Publizist, Opernsänger, Domkantor, Übersetzer) das Beispiel einer breit gefächerten, gewissermaßen alle theoretischen und praktischen Zugangsweisen abdeckenden musikalischen und musikbezogenen Bildung ab. Solch ein Bildungsideal ist – wie übrigens auch Mizler in seiner Dissertation61 unterstrich – nicht unabhängig von der Praxis zu sehen. Es sind nämlich die Praktiker, für deren Bildung Mattheson sein gesamtes Konzept umreißt, auch wenn sie »höhnisch« und »albernes Gelächter« zu solchen Forderungen nach Gelehrsamkeit produzieren.62 Der kompilatorische Ansatz des Vollkommenen Capellmeisters als einer – so im Titel – »Gründliche[n] Anzeige aller derjenigen Sachen, die einer wissen, können, und vollkommen inne haben muß, der einer Capelle mit Ehren und Nutzen vorstehen will«, vertritt somit ein außeruniversitäres, Praxis und Reflexion verbindendes Ideal musikalischer Bildung. In dieser Linie stehend hatte Mattheson schon im Forschenden Orchestre (1721) beschrieben, dass die »eruditio, diese Weißheit / nicht in abgeschmackten speculationibus, sondern würcklich im componiren / und dann im Singen und Spielen bestehe.«63 Ein solches zur Praxis führendes Ideal liegt nicht allein im Bereich des reinen Wissenserwerbs, der ideale Kapellmeister muss vielmehr ›wissen‹ und ›können‹, und er soll vieles »inne haben«, was letztlich bedeutet, dass er so vertraut mit den Zusammenhängen sein muss, dass er kompositorische – das heißt für Mattheson immer: modisch-aktuelle – Konsequenzen daraus ziehen kann. Des Komponisten »Arbeit kan endlich das Stück eines fleißigen Meisters heissen; weil es ihm aber an der Gelehrsamkeit mangelt, hat er die Natur des Textes [...] nicht in Acht nehmen können.« Und als Referenz dient ihm ein ungenannter französischer Schriststeller aus der groß angelegten und von der Familie Bonnet-Bourdelot herausgegebenen Histoire de la Musique: »ein Componist werde nimmer in seiner Kunst hervorragen, falls er keine Gelehrsamkeit besitze«.64 Die Allgemeingültigkeit dieser Erkenntnis belegt er mit __________ 61
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Lorenz Christoph Mizler: Dissertatio quod musica scientia sit, et pars eruditionis philosophicae. Leipzig 1734. Mattheson (Anm. 14), Erster Theil, Das vierte Haupt-Stück, § 3, S. 21. Mizler äußert sich wie folgt: »Breuiter nunc uidimus, quid theoria scientiae musicae, §. VIII, cet. quid praxis consideret, §. XVIII quarum unaquaeque ut semper sit cum altera coniuncta, plane necesse est.« (Mizler: Dissertatio, S. 11) – Vgl. zum Verhältnis von Wissenschaft/Theorie und Praxis Reinhard Kapp: Vom Ideal des guten Musikers. In: Joachim Kremer und Dörte Schmidt (Hg.): Zwischen bürgerlicher Kultur und Akademie. Zur Professionalisierung der Musikausbildung in Stuttgart seit 1857. Schliengen 2007 (forum musikwissenschaft 2), S. 11–60. Matthesons Position ist auch in dieser Hinsicht eindeutig: Er bezeichnet die Musik als »Wissenschaft und Kunst«; Mattheson (Anm. 14), Erster Theil, Zweytes HauptStück, § 15, S. 5 und ähnlich ebd., § 10, wo er unterstreicht, dass »das vornehmste Stück der Music nicht im blossen Singen und Spielen, sondern eigentlich im Setzen« bestehe. Mattheson (Anm. 52), S. 364. Mattheson (Anm. 14), Zweyter Theil, Zweites Haupt-Stück, § 4, S. 100 und zum folgenden ebd., § 40, S. 105.
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einem – allerdings hier nur auf die »Singe-Kunst« bezogenes – Sprichwort, »man könne es [auch] einer Sau gleich anmercken, wenn sie sich einmahl an eine Schul=Wand gerieben hat.« Der von Heinichen und auch Mattheson 1713 propagierte Wissenschaftsbegriff ist zwar ein Versuch, die Anciennität der Gelehrsamkeit nun auf die Musik zu übertragen, gleichwohl aber grundverschieden vom traditionellen Verständnis der Gelehrsamkeit: In ihn fließt nun auch praktisches und geschmackliches und damit ein an aktuellen Modetrends orientiertes Judicium ein. Besonders diskutiert Mattheson deshalb den tradierten Fächerkanon der Universitäten, plädiert für die neuen Sprachen Französisch und Italienisch, ohne das Latein zu opfern, räumt aber gleichzeitig ein, dass Bildung überall und nicht nur über die etablierten Institutionen zu erlangen sei: »Freie Künste leiden keine Handwercks-Fessel«, weswegen er hervorhebt, dass »Weisheit und Einsicht an keinem Orte, an keiner Universität gebunden werden mag«, und dass »sowol daheim, oder an einem gleichgültigen Orte, unter gescheuter Anführung« Gelehrsamkeit erworben werden könne.65 Der Auffächerung des Wissenschaftssystems entspricht somit auch eine institutionelle Auffächerung: Christoph Lorenz Mizlers zwischen 1736 und 1743 gegründete Sozietät der musikalischen Wissenschaften stellt ein Beispiel solch eines außeruniversitären Gelehrtenzirkels dar. Übertragen auf die Erfahrung mit klingender Musik öffnet dies den Blick auf eine institutionell nicht zwingend vorgeschriebene musikalische Sozialisation, denkbar in allen möglichen Zusammenhängen, für Mattheson vor allem in der Oper. Dass er die Oper »als eine hohe Schule vieler schöner Wissenschaften« beschreibt, »worin zusammen und auf einmal Architectur, Perspective, Mahlerey, Mechanik, Tanzkunst, Actio oratoria, Moral, Historie, Poesie und vornehmlich Musik zur Vergnügung und Erbauung vornehmer und vernünftiger Zuschauer, sich aufs angenehmste vereinigen«, ist nur konsequent66 und weist auf diesen neuen interdisziplinären, auf Erfahrung und Praxis ausgerichteten Begriff hin. Und gewissermaßen die Anwendung dieses Plädoyers ist Telemanns auf eigener Erfahrung basierender Hinweis, das man selbst in oberschlesischen »gemeinen Wirtshäusern [...] in 8. Tagen, Gedanken für ein gantzes Leben erschnappen« könne.67
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Ebd., § 31, S. 104 und § 5, S. 100. Johann Mattheson: Der musicalische Patriot [...]. Hamburg 1728. Reprint Leipzig 1975, S. 176. So äußert sich Telemann in seiner dritten Autobiographie in: Johann Mattheson: Grundlage einer Ehren-Pforte, woran der Tüchtigsten Capellmeister, Componisten, Musikgelehrten, Tonkünstler etc. Leben, Wercke, Verdienste etc. erscheinen sollen. Hamburg 1740. Reprint Kassel und Graz 1994, S. 360.
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5. Folgen und Möglichkeiten Die Postulierung des ›goût‹ als ästhetische Richtschnur und das Opponieren gegen tradierte Regelsysteme führt zu weit mehr als nur der Beschreibung musikalischer Einzelphänomene oder Entwicklungen a posteriori, stellt weit mehr dar als (nur) das Legitimieren von Regelverstößen. Dass die Legitimierungsbemühungen grundsätzlicher Natur waren, wird daraus erkennbar, dass einige der Autoren – wieder einmal – vom Verfall der Musik sprechen und ihre Texte als Beiträge zur Rettung der Musik verstanden werden sollen. Wenn auch mit völlig verschiedenen Argumenten, so ist dieser Ansatz beispielsweise in Fuhrmanns Musicalischem Trichter von 1706 und in Matthesons Neu-Eröffnetem Orchestre zu sehen; letzteres greift dieses Anliegen eingangs in der »Einleitung / Vom Verfall der Music Und Dessen Ursachen« auf. Die im Rahmen solcher Rettungsversuche unternommenen Verteidigungen von Regelverstößen sind aber nur Ausdruck und unvermeidliche Begleiterscheinung des Paradigmenwechsels, den diese Diskussionen für die Musik in Deutschland bedeuten und der den Komponisten ein Spektrum von Möglichkeiten im Umgang mit dem musikalischen Satz bereitstellt. Im Folgenden seien einige konkret sich auswirkende Möglichkeiten benannt.
a. Lob der Melodie und musikalischer Stil In seiner 1740 publizierten dritten Autobiographie beschreibt Telemann rückblickend auf seine Zeit in Sorau, also auf die erste Dekade des 18. Jahrhunderts, das Aufeinanderprallen unterschiedlicher Musikauffassungen, verbindet diese mit Personen – nämlich dem Kantor Wolfgang Caspar Printz und sich selbst – und unterstreicht dabei die Bedeutung der Melodie als wichtiges Kriterium der modernen Komposition: »Endlich hatte ich in Sorau [d.h. vermutlich schon zwischen 1705 und 1708; d. Verf.] noch das Vergnügen, mit dem berühmten Herrn Wolfgang Caspar Printz, Cantore daselbst, umzugehen, wobey er einen Heraclitum, und ich einen Democritum vorstellete. Denn er beweinete bitterlich die Ausschweiffungen der itzigen melodischen Setzer: wie ich die unmelodischen Künsteleien der Alten belachte.« Und Printz – so fährt Telemann fort – »hoffete, ich würde aus dem Babel der ersten heraus gehen«.68 Sicher ist die Datierung dieser Diskussion in die Zeit zwischen 1705 und 1708 ein früher Beleg hinsichtlich des Plädoyers für die Melodie. Wie aktuell aber diese Ausrichtung noch zum Zeitpunkt der Publikation – also 1740 – war, wird auch an Matthesons im Vorjahr erschienenen Vollkommenen Capellmeister deutlich, nicht nur an seinem Vergleich einer »geistlichen Sonate« von Johann Rosenmüller mit einer »Opern=Intrade« Reinhard Keisers, also dem Vergleich __________ 68
Sicher ist diese Diskussion infolge der Datierung auf zwischen 1705 und 1708 ein früher Beleg. Mattheson (Anm. 67), S. 360f.
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des »Instrumental=Styl in Kirchen« und dem »Instrumental=Styl in Opern«.69 Dem »reinen, fünffstimmigen Satze« Rosenmüllers stellt er die vorwiegend oberstimmenbetonte Intrada gegenüber: »In dem, was die Melodie betrifft, herrschet die Ober=Partie, und die andern richten sich nach ihr als in einer Monarchie.«70 Vor allem Matthesons umfangreiche Ausführungen »Von der Melodie« geben zahlreiche Anweisungen, wie ein melodieorientierter Satz zu verfertigen sei. Und auch hier findet sich eine bewährte Leitregel: »Das natürliche Lallen eines in der Wissenschafft unerfahrnen wird die beste Melodie abgeben«.71 Wie lange und wie intensiv die Kritik am regelkonformen Komponieren und am Kontrapunkt nachhallt, wird in Jean-Jacques Rousseaus Lettre sur la musique française von 1753 erkennbar: »À l’égard des contrefugues, double fugues, fugues renversées, basses contraintes, et autres sottises difficiles que l’oreille ne peut souffrir, et que la raison ne peut justifier, ce sont évidemment des restes de barbarie et de mauvais goût«. 72 ›Goût‹ und Melodie sind aber nicht an bestimmte musikalische Gattungen gebunden. Immer noch besteht zu Beginn des 18. Jahrhunderts der von Christoph Bernhard sozial begründete Begriff musikalischer Stile, der ausgehend vom Aufführungsort stilistische Eigentümlichkeiten beschreibt, zuordnet und damit auch reglementieren kann. Bernhard hatte musikalische Stile eindeutig nach Aufführungort unterschieden, den stylus ecclesiasticus und den stylus theatralis, und auch noch Mattheson legt solch eine Zuordnung zugrunde.73 Der ›goût‹ als ästhetische Leitkategorie und das Plädoyer für die Melodie stellen aber übergeordnete Kategorien dar, wurden als das Signum einer modernen und galanten Musik verstanden, so dass es nicht nur zur nachdrücklichen Postulierung und Intensivierung dieser auf theatralische Musik bezogenen Idealvorstellung kommt; mit der Ausbildung dieser an der Oper ausgerichteten Ästhetik trat auch sofort die Frage auf, wie und inwieweit diese übergeordneten Ideale auf andere Musikbereiche, etwa die Kirchenmusik, übertragen werden können, eine Frage, die Christoph Raupach 1717 in seinen Deutliche[n] Beweis-Gründe[n]/ Worauf der rechte Gebrauch der MUSIC, __________ 69
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Mattheson (Anm. 14), Erster Theil, Zehntes Capitel, §§ 73–77, S. 84–86. – Vor dem Hintergrund der Kritik des Kantorenstandes und der durch ihn repräsentierten Musik ist das Detail, dass Telemanns Diskussionpartner ein Kantor ist, äußerst ausgefeilt. Mattheson (Anm. 14), Erster Theil, Zehntes Capitel, §§ 73–77, S. 86. Ebd., Zweyter Theil, Fünfftes Haupt-Stück: Von der Kunst eine gute Melodie zu machen, S. 133–160, hier § 59, S. 142. Jean-Jacques Rousseau: Lettre sur la musique française. In: Bernard Gagnebin (Hg.): Œuvres complètes 5: Écrits sur la musique, la langue et le théâtre. Paris 1995, S. 291–328, hier: S. 308. Vgl. dazu das Fragment Sur le goût, ebd., S. 482f. Nach Rousseaus Dictionnaire de Musique seien Fugen geeignet, die Kunst eines Harmonikers zu zeigen, seien also nicht melodisch ausgerichtet und gefielen deswegen den Zuhörern weniger. Jean-Jacques Rousseau: Dictionnaire de Musique. Paris 1768, Reprint Hildesheim 1969, S. 222. Joseph Müller-Blattau (Hg.): Die Kompositionslehre Heinrich Schützens in der Fassung seines Schülers Christoph Bernhard. Kassel u.a. 31999, S. 17. Vgl. Matthesons Verortung des stylus phantasticus »in den Schauspielen«; Mattheson (Anm. 14), Erster Theil, Zehntes Capitel, § 88, S. 87.
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beydes in den Kirchen / als ausser denselben beruhet ausführlich erörtert.74 Und schon 1706 hatte Fuhrmann einen solchen Einfluss der Oper auf die Kirchenmusik abgelehnt, indem er in tradierter Weise ein Stilverständnis vertritt, das am Aufführungsort ausgerichtet ist: »Ob wol / sage ich / die Italiäner die besten Musici, so approbire ich dennoch durchaus keine Italiänische Capaunen=Gelächter in der Kirchen / welche bey Taffel-Music, Opern / Comödien gänge und gebe / da der Componist aus seinem Welt=Geist offt possierliche Phantasien setzet / welche sich besser im Kriege zum streit / oder auffm Tantz=Boden zum Sprung / als in der Kirchen schicken [...] In ecclesia theatrales moduli non audiantur & cantica [...] also soll der luxuriosus Stylus Musices nur in Conviviis, und nicht in der Kirchen erschallen.«75 Die Entwicklung einer – von den Zeitgenossen so genannten – »theatralischen Kirchenmusik« ist im beginnenden 18. Jahrhundert nicht neu, weil affekthaftes Komponieren schon mit der Rezeption italienischer seconda pratica in die deutsche Kirchenmusik gedrungen war und zu theologisch motivierten Kontroversen geführt hatte,76 aber es ist durch die Übernahme der ästhetischen Plädoyers Heinichens und Matthesons eine entscheidende Intensivierung zu erkennen, indem nun über den Affektausdruck hinaus eine Anlehnung an das musikalische und ästhetische Ideal der Opernmusik postuliert wurde. Matthesons Position in dieser Frage ist eindeutig: Indem er 1713 jedes Argument, Galanterie aus der Kirchenmusik zu verbannen, als unvernünftig verwirft, wird die Kirchenmusik als reformierungsbedürftig angesehen. Dabei argumentiert Mattheson trickreich aus der lutherischen Tradition heraus, denn »ein neues Lied / kein altes / will der Herr haben.«77 Matthesons Debatte mit Joachim Meyer gegen Ende der 1720er Jahre über diese moderne und aktuelle Form der theatralischen Kirchenmusik ist im Grunde schon 1713 und 1717, mit den ersten beiden Orchestre-Schriften, eröffnet worden, indem eine veraltete Kirchenmusik, die »von keinem galant homme für Music zu halten« sei, kritisiert worden war.78 Damit führte die Propagierung des ›goût‹ nicht zu einer __________ 74
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Veritophili [d.i. Christoph Raupach] Deutliche Beweis-Gründe / Worauf der rechte Gebrauch der MUSIC, beydes in den Kirchen / als ausser denselben beruhet. Hg. von Johann Mattheson. Hamburg 1717. Fuhrmann (Anm. 20), S. 18. Zur Fuhrmanns Schriften vgl. Reinald Ziegler: Fuhrmann, Martin Heinrich. In: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. 2. Auflage. Personenteil Bd. 7. Kassel u.a. 2002, Sp. 256–259. Dorothea Beck: Krise und Verfall der protestantischen Kirchenmusik im 18. Jahrhundert. Diss. Universität Halle a.d.S. 1951; Christian Bunners: Kirchenmusik und Seelenmusik. Studien zur Frömmigkeit und Musik im Luthertum des 17. Jahrhunderts. Göttingen 1966 (Veröffentlichungen der Evangelischen Gesellschaft für Liturgieforschung 14) und Jürgen Heidrich: Protestantische Kirchenmusikanschauung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Studien zur Ideengeschichte ›wahrer‹ Kirchenmusik. Göttingen 2001 (Abhandlungen zur Musikgeschichte 7). Mattheson (Anm. 52), S. 369. Die Tatsache, dass Luther als Referenzfigur zitiert wird, ist nicht außergewöhnlich, weil sich sowohl Befürworter wie Gegner der theatralischen Kirchenmusik auf ihn beziehen. Mattheson (Anm. 12), S. 133. – Dies erhöht aber nur die Notwendigkeit eines begründeten Judicium.
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verbindlichen Lösung, sondern eröffnete demgegenüber vielfältige Möglichkeiten – hier im Bereich der Kirchenmusik –, steckte ein weites und kaum begrenztes Experimentier- und Argumentationsfeld ab, das die Frage der Angemessenheit des musikalischen Gotteslobes wieder aufgriff.
b. Künstlerbild Es versteht sich von selbst, dass die Frage nach dem geschmackvollen Vortrag nicht durch »Schulfüchserei« erlangt und auch nicht von dem Musikerstand verwirklicht werden kann, der wesentlich mit Regelhaftigkeit verbunden ist, also von den Kantoren. Hintergrund für die intensive Verunglimpfung des Kantorenstandes in der ersten Hälfte des 18. Jahrhundert ist weniger die in dem schon erwähnten Sprichwort kolportierte Trinkfestigkeit der Kantoren, sondern ihre Ausrichtung an einem Repertoire und einem Regelsystem, das aus der Mode gekommen war. Das von Johann Sebastian Bach noch 1729 und 1737 für den Gebrauch der Thomasschule gekaufte Florilegium portense (Leipzig 1618– 1621) mit seinen Motetten des 16. Jahrhunderts79 zeigt diese stilistische Vielsträngigkeit, also die gleichzeitige klingende Realität von ›alter‹ und ›neuer‹ Musik; das Bewusstsein für die Unterschiede zum modernen Repertoire wurde auch durch eine Zuordnung zu den Institutionen – Oper und Kirche – geschärft. Hinter diesem stilistischen Gegensatz steht aber nun nicht mehr jene Kontroverse, die die Forschung zuweilen mit der stilistischen Prägung zweier Berufsstände verbunden hat, mit den Organisten und Kantoren. Sicher gibt es im Kreise der norddeutschen Organisten des 17. Jahrhunderts innovative Ausrichtungen an italienischer Musik – der Beginn des geistlichen Konzerts Wie liegt die Stadt so wüste vom Hamburger Jacobiorganisten Matthias Weckmann wäre ohne die Rezeption der seconda pratica kaum vorstellbar –, aber je älter das 17. Jahrhundert wurde, um so stärker setzte sich eine dritte musikalische und extrem normierend wirkende Sphäre durch, nämlich die Oper. Über die Drucke von Opernarien – z.B. von Johann Wolfgang Franck – drang die Oper in die Hausmusik ein, und wegen ihrer Innovativität bezeichnete Mattheson in seinem Musicalischen Patrioten (Hamburg 1728) die Opern als »die besten Music-Schulen« und im Vollkommenen Capellmeister als »bester Pflanzgarten« der Musik.80 Die Oper, gewissermaßen um und nach 1700 das Experimentierlabor für die musikalische Umsetzung verschiedenster Affekte, für die Auslotung dessen, was ein ›goût‹ ermöglicht, war engstens verbunden mit einem außermusikalischen, gesellschaftlichen Argument, nämlich der sozialen Stellung der Ausführenden. Gegenüber den institutionell eingebunde__________ 79
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Werner Neumann und Hans-Joachim Schulze (Hg.): Schriftstücke von der Hand Johann Sebastian Bachs. Kassel u.a. 1963 (Bach-Dokumente 1), Nr. 271, S. 199 und Nr. 407, S. 294. Mattheson (Anm. 65), S. 140 und ders. (Anm. 14), Vorrede, XVII, S. 28.
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nen, aber auch sozial abgesicherten Gelehrten der Schulen und Universitäten waren die Operisten frei agierende und am höfischen Ideal des galant-homme ausgerichtete, sozial wenig verankerte, aber moderne Musiker. Wie sehr dieser Typus aus der Sphäre jener sozialen Ordnungen fiel – neu ist die Verunglimpfung des nicht sesshaften und sozial nicht eingebundenen Musikers nicht –, zeigt auch der theologische Streit um die Hamburger Oper,81 der mit harten Bandagen geführt wurde, also der Verunglimpfung eines Operisten als »hergeloffener Pursch« und der Verbreitung von Gerüchten. Dass die Oper aber dennoch zunehmend als musikalisches Gravitationszentrum, als Orientierungspunkt genommen wurde, macht verständlich, dass das neue Künstlerbild nun nicht mehr darin bestand, einen den Regeln verpflichteten, sondern einen von der Natur geleiteten Komponisten zu beschreiben. Noch einmal sei an Telemanns Sonett auf den jugendlichen Reinhard Keiser erinnert, das Keiser als »Züchtling der Natur« bezeichnet.82 Fast kann dies als Vorwegnahme einer Stelle aus Telemanns Autobiographie von 1740 bezeichnet werden, in der er unterstreicht, außer der Natur keinen anderen Lehrmeister gehabt zu haben. Dass dieses Lernen mit einem »Trieb« – selbstredend wird ein »natürlicher Trieb« angenommen – verbunden ist, der sich bereits in der Kindheit durchsetzt, nämlich getreu dem von Telemann in seiner Autobiographie zitierten Horazvers »Naturam expellas furca, tamen usque recurret«83, ist nur folgerichtig, weil dieser Hinweis seine Natürlichkeit belegen soll. Deshalb sind biographische Abhandlungen in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts nicht nur voll von Äußerungen zur Rolle von ›Talent‹ und ›Naturell‹ für die Ausbildung guter Musiker,84 sie sind auch __________ 81
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Sieghart Döhring: Theologische Kontroversen um die Hamburger Oper. In: Axel Beer und Laurenz Lütteken (Hg.): Festschrift Klaus Hortschansky zum 60. Geburtstag. Tutzing 1995, S. 111–123; Markus Vinzent: Von der Moralität des Nichtmoralischen: Die ethische Grundlage für die Ermöglichung der Hamburger Oper. In: Renate Steiger (Hg.): Von Luther zu Bach. Bericht über die Tagung 22.–25. September 1996 in Eisenach der Internationalen Arbeitsgemeinschaft für theologische Bachforschung. Sinzig 1999, S. 197– 231 und Werner Braun: »Operist« als Typ und Möglichkeit. In: Opernstudien. Anna Amalie Abert zum 65. Geburtstag. Hg. von Klaus Hortschansky. Tutzing 1975, S. 13–24. »Da seine Jugend noch in erster Glut gebrennet, Wie reich, wie neu, wie schön, wie ganz hat er gedacht! Wie hat er den Gesang zum vollen Schmuck gebracht, Den dazumal die Welt noch ungestalt gekennet!« Und die abschließende Sestine eröffnet Telemann mit der zentralen Überzeugung: »Zu diesem zog ihn bloß ein angebohrner Trieb«, und er bezeichnet Keiser in der drittletzten Zeile als »Züchtling der Natur«. Georg Philipp Telemann: Sonnet auf das Absterben des berühmten Capellmeisters, Kaisers (Anm. 8). In seiner Komödie Le Glorieux (1732) kommt Philippe Néricault Destouches auf dieses aus den Episteln des Horaz stammende Zitat zurück: »Chassez le naturel, il revient au galop.« Georg Büchmann: Geflügelte Worte. Neue Ausgabe. München und Zürich 1977, S. 85. Auch die folgenden Zitate stammen aus Telemanns Autobiographie von 1718; zitiert nach Telemann (Anm. 14), S. 90–93. Vgl. Joachim Kremer: ›Naturell‹, ›Lust‹ und ›Fleiß‹ in der Musiker(auto)biographie des 18. Jahrhunderts. Anmerkungen zur pietistischen und der künstlerischen ›Erweckung‹. In: Pietismus und Neuzeit. Ein Jahrbuch zur Geschichte des neueren Protestantismus 30 (2004), S. 155-175. Alle weiteren bibliographischen Angaben, passim. Auch Fuhrmann, der moderner und opernhafter Kirchenmusik zurückhaltend gegenübersteht, diskutiert ausführlich die Rolle von Talent: »In Summa: Musicus nascitur; Wil jemand die Sache
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voll von aufgeweckten kindlichen Musikern, die nur der Natur und dem angeborenen musikalischem Trieb folgten, selbst unter Missachtung elterlicher Ratschläge und Gebote. Dieser Topos der Musikerbiographik des frühen 18. Jahrhunderts ist notwendiger Hintergrund, um das Wirken des aus der Natur abgeleiteten ›goût‹ behaupten zu können, ohne den letztlich auch die Idee eines ›Originalgenies‹ nicht denkbar gewesen wäre.85
c. Zunehmende Bedeutung der Aufführung und der Ausführung Der ›goût‹ gilt als unverzichtbare Voraussetzung für jedes Judicium und stellt Beurteilungskriterien über die eigene Erfahrung zur Verfügung, und zwar sowohl dem Rezipienten wie auch einem Komponisten. Da vorwiegend das Gehör über die Richtigkeit der Musik entscheidet und nicht der visuell wahrnehmbare und analysierbare Notentext, gilt die Musik nicht als identisch mit dem auf dem Papier fixierten Notentext. Um also ein begründetes Judicium bilden zu können, kommt der Frage der Ausführung und der Aufführung von Musik eine zentrale Bedeutung zu, weil sie die Realität der Musik zum großen Teil bestimmen kann. Während die Rhetoriklehren des 17. Jahrhunderts und auch die unter dem Titel musica poetica publizierten Werke den sich der Ausführung widmenden Bereich der Rhetorik, die pronuntiatio, eher schwach gewichtet und demgegenüber inventio, dispositio und decoratio ausdifferenziert hatten, wird nun im 18. Jahrhundert die Aufführung verstärkt thematisiert. Heinichens Ausführungen zum Harpeggiando in seiner Generalbasslehre von 1728 belegen diese Tendenz ebenso wie zahlreiche Unterrichtswerke für bestimmte Instrumente. Aber auch das Bewusstsein für die instrumententypischen Möglichkeiten nahm erneut zu, und Telemann fordert in seiner ersten Autobiographie in despektierlichem Tonfall gegenüber allem ›Regelkram‹, dies in guten Kompositionen zu respektieren und zu beachten: Nein / nein / es ist nicht genug / daß nur die Noten klingen / Daß du der Regeln Kram zu Marckte weist zu bringen. Gieb jedem Instrument das / was es leyden kan / So hat der Spieler Lust / du hast Vergnügen dran.86
Heinichens Generalbasslehre von 1711 hatte im ersten Teil mit Ausführungen zum »fernern Exercitio eines Incipienten« geendet, der zweite Teil in »einen [sic] nützlichen Exercitio Practico«, das vorwiegend aus praktischen Übungen (etwa Transponierübungen) besteht und das auch zur freien Disposition gestellt wird und wie auch Niedts Musicalische Handleitung zum Selbststudium führen __________
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zwingen / und par force ein Mitglied in der musicalischen fruchtbringenden Gesellschaft der Virtuosen werden / hat aber von der Natur kein musicalisches Talent sondern nur ein Drachma bekommen«, der könne nur ein »Pfuscher aus dem Orden der Simplicisten werden«. Fuhrmann (Anm. 20), S. 29f. Kremer (Anm. 84), bes. S. 163–170. Zitiert nach Telemanns erster Autobiographie von 1718; in: Telemann (Anm. 14), S. 94f.
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soll.87 Deutlich wird diese Hinführung zum eigenen Tun, zur Anwendung und damit letztlich zum Anwenden der zuvor in extenso vermittelten Geschmacksbildung auch an Carl Philipp Emanuels Klavierschule, deren erster Teil mit einem Kapitel »Vom Vortrag« endet, das klärt, was denn einen solchen ausmacht, dass man durch »Besuchung guter Musicken« die »Einsicht in den wahren Inhalt und Affeckt eines Stückes [...] erlangen« könne.88 Trotz der empirisch zu erlangenden Geschmacksbildung bleibt man ohne die spezifischen Regeln der Musik nur ein Ignorant: »Alle Künste und Wissenschafften haben ihre Regeln, und müssen durch Regeln erlernet werden, wofern wir nicht pure Naturalisten, das ist, halbe Ignoranten bleiben wollen.«89 Eine weitere Seite des Musiklernens – die im Übrigen das in Mode kommende Selbststudium legitimieren kann (wie es Heinichen schon 1711 propagiert und Mattheson 1713 hervorhebt) – zeigt sich hier: Um den ›goût‹ auszubilden, bedarf es der ständigen praktischen Begegnung mit Musik, des ständigen Zuwachses an Erfahrungen, wobei die Orientierung an der Natur auch auf das Lernen angewendet wird. Noch Carl Philipp Emanuel Bach empfiehlt diese andersartige Form des Lernens: Durch die »fleißige Anhörung guter Musicken« könne man sein Gehör üben und »singend dencken« lernen und so letztlich den Geschmack bilden, nicht aus »weitläuftigen Büchern und Discursen«.90 Die Erkenntnis aber, dass es keinen absoluten Geschmack gebe, der möglicherweise nach Gattungen differenziert aller Musik übergeordnet sei, setzt sich in dem Maße durch, wie auch die Möglichkeiten der Umsetzung und insbesondere der instrumentalen Umsetzung bewusst wurde: In zunehmendem Maße werden nämlich die instrumentenspezifischen Möglichkeiten und die Notwendigkeit instrumentenspezifischer Fähigkeiten erkannt: Hotteterre, Corette, Bach, Mozart und Quantz bedienen mit ihren instrumentalen Lehrwerken nicht nur einen sich ausweitenden Markt. Die enge Verbindung von instumententypischen und geschmacksbildenden Belehrungen – das Kennzeichen von Bachs und Quantz’ Werken – ist in der Bedeutung der Ausführung als eigentlicher __________ 87
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Heinichen: Neu erfundene und gründliche Anweisung (Anm. 9), S. 161ff. und S. 267ff. »Von einen nützlichen Exercitio Practico, oder wie man sich nunmehro selbst helffen / und die Perfektion im General-Bass suchen müsse.« Zu Niedt vgl. den Titel der Handleitung (Anm. 24). Carl Philipp Emanuel Bach: Versuch über die wahre Art das Clavier zu spielen. Teil 1, Berlin 1753 und Teil 2, Berlin 1762. Hg. von Wolfgang Horn. Kassel u.a. 1994, hier: Teil 1, § 12, S. 121f. Heinichen: Der Generalbaß in der Composition (Anm. 9), S. 18. Das Naturell ist zwar wichtig, kann aber wie ein Schatz nur durch Fleiß und Arbeit gehoben werden; vgl. Kremer (Anm. 84), S. 155–175, und beispielhaft Johann Caspar Simons Rückblick auf sein Dasein als »purer practicus« ebd., S. 158. Bach (Anm. 88), Teil 1, Das zweyte Hauptstück, § 13, S. 56 und Teil 1, Das dritte Hauptstück, § 15, S. 121f. Indirekt verweist Bach hier auf die später von Forkel hervorgehobene und in gewisser Weise auch als ›pädagogisch‹, d.h. geschmacksbildend wirkende Rolle von Konzerten, wohl weniger auf die früher zentrale Rolle der Kirchenmusik in einer Stadt. In der Suche nach musikalischer Erfahrung ist auch die Diskussion von Bildungsreisen begründet; vgl. Mattheson (Anm. 14), Zweiter Theil, Zweites Haupt-Stück, §§ 62f., S. 108.
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musikalischer Realität begründet. Sie differenziert sich in Folge der starken Gewichtung des ›goût‹ nicht nur aus, sondern steht – wie Bachs Polemiken gegen die modischen und marktorientierten Murky-Komponisten zeigen – als Qualitätsdebatte in direktem Zusammenhang mit einer sich ausweitenden Kommerzialisierung des Musikproduzierens, der Verbreitung von Musik durch Druck, Hausmusik, Zeitschriften, Privatunterricht und Konzerte.
d. Popularisierung und ›Verbürgerlichung‹ im 18. Jahrhundert – »homme galant« und »galant-homme« Zedler unterschied 1735 zwischen dem »homme galant«, der schlechte Eigenschaften kultiviere, und dem »galant-homme«, der im positiven Sinne von Thomasius in der Lage sei, sich »bey jedermann beliebt zu machen«.91 Diese Unterscheidung hat einen Bedeutungshintergrund von großer Tragweite, weil der »galant-homme« im Bereich der Musik für jene Modernität steht, die über den ›goût‹ das Geschmacksurteil des Publikums als entscheidende Kategorie im Umgang mit Musik betrachtet. Jedem zu gefallen gilt deshalb nicht als schlechte Eigenschaft, vielmehr kann sich ›jeder‹ – sicher nicht im umfassenden Sinn, wie heute verstanden – in den Diskurs um die Musik einbringen, allemal dann, wenn seit Matthesons Critica musica (Hamburg 1722) auch Printmedien zur Verfügung stehen. Und wenn Telemann in seiner ersten Autobiographie fordert »Wer vielen nutzen kan / Thut besser / als wer nur für wenige was schreibet; Nun dient / was leicht gesetzt / durchgehends jedermann: Drum wirds am besten seyn / daß man bey diesem bleibet.«, dann wird daran erkennbar, wie eng das Ziel, für »jedermann« zu komponieren, mit der Frage des Geschmacks, des Gefallens und der Leichtigkeit verbunden ist.92 Was trotz ihrer zentralen Funktion die Kategorie ›goût‹ aber konkret bedeutet, muss als offen gelten und ist nicht in verbindliche Regeln zu fassen: Das aus begrifflicher Unschärfe und emphatischer Propagierung entstehende Missverhältnis, das die Kategorie ›goût‹ ausmacht, weist somit darauf hin, dass der ›goût‹ vorwiegend ein Funktionsbegriff war. Streng genommen beschreibt Heinichen deshalb nicht, was der ›goût‹ ist, sondern wie er zu erwerben ist und was Anzeichen einer an ihm ausgerichteten Musik sind.93 Offen ist deshalb grundsätzlich auch, auf welche Art Musik sich diese Kategorie bezieht: Heinichen propagiert 1711 – wie auch Mattheson – mittels dieses Begriffes die theatralische Musik, was auch in Niedts Generalbasslehre oder Raupachs Unter__________ 91 92
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Zedler (Anm. 6), hier: Bd. 10 (1735), Sp. 78: Galant. Zitiert nach Telemanns erster Autobiographie von 1718; in: Telemann (Anm. 14), S. 101. Telemanns erste Autobiographie, die Mattheson als nachahmenswertes Muster für Biographien bezeichnete, gibt in weiten Bereichen das Idealbild dieser von »goût« und Galanterie geprägten Musikauffassung bzw. den sich daraus ergebenden Musikertypus wieder. Der »goût« lasse sich »essentialiter eben so wenig beschreiben, als das eigentliche Wesen der Seele«. Dammann (Anm. 10), S. 481; Heinichen: Neu erfundene und gründliche Anweisung (Anm. 9), S. 4.
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suchung der Kirchenmusik 1717 zu finden ist. Carl Philipp Emanuel Bach hat dagegen eine andere musikalische Ausrichtung präferiert. Weit problematischer aber erweist sich in den folgenden Jahrzehnten, dass die an den ›goût‹ gebundene Urteilsfähigkeit zwar ausgebildet werden könne, ihr aber die Gefahr des Qualitätsverlusts innewohnt. Bachs in der Tradition von Matthesons Forschendem Orchestre stehende Feststellung,94 die »besten Regeln [leiden] eben so viel Ausnahmen [...] als sie festsetzen«,95 weist mehr auf die Ausbildung bestimmter geschmacksbildender Eigenschaften und weniger einer rational-logischen Begabung hin. Während Mattheson 1717 forderte, dass vor allen Dingen der ›goût‹ der Zuhörer zu respektieren sei,96 nahm in der Folgezeit nicht zuletzt in Folge der zunehmenden Ausbildung eines musikalischen Marktes durch Subskriptions- und Konzertwesen das Bewusstsein für einen möglichen Qualitätsverlust und auch für den produktiven Nutzen musikalischer Regeln zu. Der Grundgedanke war dabei folgender: Die Propagierung des ›goût‹ birgt die Gefahr der Willkürlichkeiten, die Herrschaft eines kollektiven schlechten ›goût‹ die Gefahr des unkontrollierbaren Niveauverlusts, einer kurzlebigen Musik und eines vorwiegend auf Konsum ausgerichteten Publikumsgeschmacks. Bach äußert sich hierzu aufgrund seines tiefen Zweifels an der absoluten Gültigkeit des Publikumsgeschmacks: Während ›goût‹ und Modernität bei Mattheson und Heinichen uneingeschränkt positiv belegt waren, polemisiert er mehr als dreißig Jahre später gegen einen platten Publikumsgeschmack im Bereich der Klaviermusik: Murkys und die »bis zum Ekel in allen Clavierkompositionen« zu findenden Rondos (so Cramer in seinem Magazin der Musik) galten ihm als schlechte Beispiele modischer Musik.97 Es ist kein Zufall, dass dieses Problemfeld für einen Komponisten aufbrach, der ein ausgeprägtes Bewusstsein für kompositorischen Anspruch besaß, zugleich den musikalischen Markt nutzte und der in einer Stadt lebte, wo sich solche merkantilen Mechanismen ausbilden konnten. Ähnlich brach dieses Problemfeld ›Publikumsgeschmack vs. Qualität‹ auch für Mozart in Wien auf, erkennbar in der Komposition des Rondo KV 382 für das schon bestehende Klavierkonzert KV 175, in dem Mozart – die spezifische öffentliche Konzertsituation respektierend – einen gelehrten Schlusssatz durch einen »popularen« ersetzte.98 Das von Bach in gewisser __________ 94
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Mattheson (Anm. 52), S. 277: »Die mathematische Zahl=Theoria verhält sich / gegen die musicalischen Praxi, wie eine See-Carte / gegen die rechten Schiffahrt. In jener lässet sich alles fein abzirckeln und messen; aber in dieser gibt es viele anfractus, Felsen / und irregulare Winde / gegen welchen allen den rechten Lauff zu halten / mehr erfordert wird / als contemplatio.« Bach (Anm. 88), Teil 1, Das dritte Hauptstück, § 29, S. 129f. Mattheson (Anm. 12), S. 140f. C. F. C.: [Rezension der] Claviersonaten und freye Phantasien, Vierte Sammlung, [= Sonaten für Kenner und Liebhaber, Vierter Teil]. In: Carl Friedrich Cramer: Magazin der Musik 2/2. Hamburg 1783. Reprint Hildesheim 1971, S. 1238–1255, hier: S. 1241. Vgl. den Rat Leopold Mozarts an seinen Sohn: »vergiß also das so genannte populare nicht«. In: Wolfgang Amadeus Mozart: Briefe und Aufzeichnungen. Gesamtausgabe. Hg. von Ulrich Konrad. Kassel u.a. 2005, Bd. III, S. 53 (Brief vom 11.12.1780).
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Weise noch als dichotomisch gedachte Problemfeld hatte sich wiederum neu justiert. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts war die Integration regelwidriger oder nur in freiem Kontakt zu Regeln stehender Elemente nichts neues: In der Praxis des Stylus phantasticus, auf dessen Eigenschaft als »genus Theatrale« Mattheson verweist99 und an den er 1717 mit dem Hinweis auf das Ex-tempore-Singen der Opernsängerin Paulina Kellner erinnert,100 war dies ebenso angelegt wie schon in der seconda pratica. Dass aber diese Freiheit nun im frühen 18. Jahrhundert so radikal als Maßstab für alle Gattungen und Stile postuliert wurde und die Kritik der tradierten Musik und Musiktheorie so umfassend ausfällt, ist ein zentrales Moment des umfassenden Strukturwandels in Deutschland. Gerade weil die Debatte wortreich und polemisch, bezüglich der argumentativen Fundierung aber auch vage und zirkelschlüssig geführt wurde, warf sie die Problematik des publikumsorientierten Komponierens auf und schärfte über das Postulat der Modernität das Bewusstsein für die Bandbreite musikalischer Stile, im Extrem eines modernen Stils und des stile antico.
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Mattheson (Anm. 12), S. 136; zu Händel und dem stylus phantasticus ders. (Anm. 14), Erster Theil, Zehntes Capitel, § 90, S. 88. »Die Paulina pfleget wohl ex tempore zu singen und mit der Kehle zu fantaisiren / ohne einzige Worte; welches ich gewiß vor diesem mit grossem Plaisir gehöret habe.« Mattheson (Anm. 12), S. 137.
Michael Maul
Johann David Heinichen und der »Musicalische Horribilicribrifax« Überlegungen zur Vorrede von Heinichens Gründlicher Anweisung1
Die 1711 in Hamburg erschienene Neu erfundene und Gründliche Anweisung zu vollkommener Erlernung des General-Basses von Johann David Heinichen2 stand lange im Schatten ihrer grundlegenden Überarbeitung, der 1728 publizierten Abhandlung Der General-Bass in der Composition.3 Erst in jüngerer Zeit hat Wolfgang Horn nachdrücklich auf ihren eigenständigen Wert aufmerksam gemacht und dabei auch auf die Bedeutung ihrer Vorrede hingewiesen. Diese ist laut Horn »eines der wichtigsten Zeugnisse ›galanten Musikdenkens‹ in Deutschland in den ersten Jahren nach 1700«4 und gehöre überhaupt »zu den zentralen Dokumenten frühgalanter Musikästhetik.«5 Weil Heinichens Vorrede folglich als wichtiger Beleg für die im vorliegenden Buch facettenreich diskutierte Beobachtung angesehen werden kann, dass sich um die Jahrhundertwende grundlegend neue musikalisch-satztechnische Normen etabliert hätten, ist nach ihrem unmittelbaren Entstehungskontext zu fragen. Denn es gilt festzustellen, ob es sich bei Heinichens Kernaussagen __________ 1
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Die vorliegenden Ausführungen sind in etwas gekürzter Form (und mit leicht abgewandelter inhaltlicher Ausrichtung) Teil meiner inzwischen gedruckt vorliegenden Dissertation; siehe Michael Maul: Barockoper in Leipzig (1693–1720) (Voces: Freiburger Beiträge zur Musikgeschichte, Band 12/1). Freiburg i.Br. 2009, S. 452–472. Johann David Heinichen: Neu erfundene und Gründliche Anweisung / Wie Ein Musicliebender auff gewisse vortheilhafftige Arth könne Zu vollkommener Erlernung des General-Basses, Entweder Durch eigenen Fleiß selbst gelangen / oder durch andere kurtz und glücklich dahin angeführet werden [...]. Hamburg 1711. Reprint hg. von Wolfgang Horn. Kassel u.a. 2000 (Documenta Musicologica I/XL). Johann David Heinichen: Der General-Bass in der Composition, oder: Neue und gründliche Anweisung, wie ein Musicliebhaber mit besonderm Vortheil, durch die Principia der Composition, nicht allein den General-Bass im kirchen- cammer- und theatralischen stylo vollkommen, & in altiori gradu erlernen [...] sondern auch zu gleicher Zeit in der Composition selbst, wichtige profectus machen könne; nebst einer Einleitung oder musikalischen raisonnement von der Music überhaupt, und vielen besondern materien der heutigen praxeos. Dresden 1728. Reprint Hildesheim u.a. 1994. Siehe Wolfgang Horns Einleitung zu Heinichen (Anm. 2), S. 6; siehe außerdem Wolfgang Horn: Generalbaßlehre als pragmatische Harmonielehre. Teil I: Bemerkungen zum harmonischen Denken Johann David Heinichens. In: Ständige Konferenz Mitteldeutsche Barockmusik. Jahrbuch 2001, Schneverdingen 2002, S. 9–40; Teil II: Heinichens harmonische Analyse von Cesarinis Cantata. In: Ebd., Jahrbuch 2002. Schneverdingen 2004, S. 12–53. Wolfgang Horn: Heinichen, Johann David. In: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. 2. Auflage. Personenteil Bd. 8. Kassel u.a. 2002, Sp. 1178–1192.
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tatsächlich um ohne weiteres verallgemeinerbare Äußerungen jener jungen Meister handelt, die als die Generation der um 1680 geborenen Kapellmeister ab circa 1710 so erfolgreich die glanzvolle musikalische Epoche des deutschen Spätbarock einläuteten, oder ob die in Teilen recht scharfzüngigen Formulierungen in Folge einer persönlichen Auseinandersetzung zustande kamen und daher als nur bedingt repräsentativ anzusehen wären. Ohne die allgemeine musikgeschichtliche Bedeutung des Textes in Frage stellen zu wollen, wird im folgenden nämlich gezeigt werden – dies sei vorausgeschickt –, dass manche auf den ersten Blick musterhaft das neue, eben ›galante Musikdenken‹ widerspiegelnde Äußerungen zugleich eine polemisierende Abrechnung mit einem damals ungleich berühmteren mitteldeutschen Zeitgenossen waren, mithin eine differenzierte Interpretation des Textes erforderlich wird. Dies nachzuweisen gelingt über den Aufbau einer längeren Indizienkette, an deren Anfang der Blick auf Heinichens Situation zum Zeitpunkt der Niederschrift steht. Doch die Vorrede zu datieren und ihren Entstehungsort zu lokalisieren bereitet Probleme, denn sie ist undatiert – eine eher unübliche Praxis, die dahingehend interpretiert werden könnte, dass zwischen Niederschrift und Veröffentlichung einige Zeit vergangen war. Das Jahr der Drucklegung, 1711, und der Druckort Hamburg liefern nur insofern Anhaltspunkte, als Hamburg als ein Ort gelten kann, in dem Heinichen wohl nie gewesen ist, und das Veröffentlichungsjahr einen terminus ante quem bildet, der schon allein wegen Heinichens inzwischen erfolgter Abreise nach Italien zu spät für den tatsächlichen Entstehungszeitpunkt der Vorrede angesetzt wäre. Dorthin war er wohl noch 1710 – eventuell über die Zwischenstation Braunschweig –aufgebrochen, frühestens im Sommer.6 Manche Unzulänglichkeiten im Buchsatz – Spuren nicht konsequent ausgeführter Korrekturen in den Kapitelüberschriften und zahlreiche Druckfehler – deuten auf einen in der Schlussphase hektischen Herstellungsprozess hin. Dies verleitete Wolfgang Horn zu der Vermutung, das Manuskript sei unmittelbar vor Heinichens Abreise nach Italien druckfertig geworden.7 Die Datierung zumindest der Vorrede lässt sich bei näherem Hinsehen aber noch präzisieren. Dazu bedarf es eines kurzen Exkurses über Heinichens vorangegangenen Lebenslauf und eines Blickes auf den Inhalt seiner in Rede stehenden Ausführungen. Die Hauptquelle für Heinichens Biographie ist eine 1767 von Johann Adam Hiller veröffentlichte Lebensgeschichte, die auf Nachrichten »von einigen Freunden und Zeitgenossen« Heinichens beruht und sich im Detail, speziell was die frühen Jahren betrifft, als sehr zuverlässig erweist.8 __________ 6
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Gustav Adolph Seibel: Das Leben des Königl. Polnischen und Kurfürstl. Sächs. Hofkapellmeisters Johann David Heinichen nebst chronologischem Verzeichnis seiner Opern und thematischem Katalog seiner Werke. Leipzig 1913, S. 12–15. Horn: Generalbaßlehre als pragmatische Harmonielehre (Anm. 4), S. 20–22. Johann Adam Hiller: Wöchentliche Nachrichten und Anmerkungen, die Musik betreffend. 28. Stück (1767), S. 213–217 und 221–225; eine nur sprachlich überarbeitete Fassung liefert Hiller in ders.: Lebensbeschreibungen berühmter Musikgelehrten und Tonkünstler neuerer Zeit. Leipzig 1784. Reprint Leipzig 1975, S. 128–146. Nachfolgende biographische
Heinichen und der »Musicalische Horribilicribrifax«
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Im Alter von 13 Jahren kam der 1683 im weißenfelsischen Krössuln geborene Heinichen auf die Leipziger Thomasschule. Hier erhielt er anfänglich Unterricht von Johann Schelle und schon vor 1701 vom zukünftigen Thomaskantor Johann Kuhnau, von letzterem nachweislich auf dem Clavier und in der Komposition.9 1702 schrieb sich Heinichen als Student der Rechte in die Matrikel der örtlichen Universität ein und fasste alsbald im studentischen Musikleben der Stadt Fuß: in den Collegia musica und dem seit 1693 existierenden Opernhaus, das nach dem Tod seines Gründers Nikolaus Adam Strungk im Jahr 1700 zunehmend von studentischen Kräften dominiert wurde. Als 1705 das durch den Weggang Telemanns vakant gewordene Musikdirektorat an der Leipziger Neukirche wiederzubesetzen war, befand sich Heinichen unter den Bewerbern; gewählt wurde sein ehemaliger Kommilitone Melchior Hoffmann,10 der auch das von Telemann gegründete Collegium musicum und die musikalische Leitung im Opernhaus übernahm und auf dieser Basis die innovative junge Musikerszene der Stadt fortan kontrollieren konnte. Heinichen soll sich nun »einige Jahre« nach Weißenfels begeben haben und dort einer anderweitig nicht belegten Tätigkeit als Advokat nachgegangen sein. Günstige Rahmenbedingungen für eine Rückkehr nach Leipzig ergaben sich für ihn »etliche Jahre« später gleichsam zufällig. Darüber heißt es bei Hiller: Um diese Zeit war die Musik der Leipziger Opern, sowohl in Ansehung der musikalischen Composition, als der Ausführung, (nicht aber in Ansehung der Poesie) in einem sehr blühenden Zustande. [...] Herr – – Döbrecht, war ein fertiger Bassist und guter Hauptacteur in diesen Singspielen, und führte zugleich die Aufsicht darüber. Nach Herrn Telemanns Abzuge von Leipzig setzete der damalige Musikdirector an der neuen Kirche in Leipzig, Herr Melchior Hofmann, ein sehr gefälliger und rührender Componist, viele Opern für die Leipziger Singbühne. [...] Als Herr Heinichen, nach seinem ersten Abzuge von Leipzig, schon in Weissenfels, seit etlichen Jahren, Advocat war, entstand einsmals eine Mishelligkeit zwischen den Opernvorstehern, und dem Herrn Melchior Hofmann. Und weil dieselbe nicht sogleich beygeleget werden konnte; so überredete Herr Döbrecht den Hrn Heinichen, sich wieder nach Leipzig zu begeben, und die Verfertigung einiger Opern zu übernehmen. Es geschah; und zwar mit gutem Erfolge. Zu gleicher Zeit trat auch Herr Heinichen die Anführung des einen Collegii musici an, welches sich auf dem damaligen Lehmannischen Caffeehause am Markte versammelte. Die Namen der Opern, welche Herr Heinichen in Leipzig in Musik gebracht hat, können nicht eigentlich angezeiget werden. [...] Er bemühte sich in diesen Opern sehr, sich dem melodiereichen Geschmack Melchior Hoffmanns und anderer seiner Vorfahren auf dem Leipziger Theater, zu nähern. Denn ein solcher Geschmack scheint ihm, wenn man nach seinem etwas finstern und eigensinnigen Temperamente, und einigen von seinen ganz alten Compositionen urtheilen sollte, nicht eben von Natur eigen gewesen zu seyn [...].11
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Ausführungen basieren, wenn nicht anders angegeben, auf dieser Quelle und auf Seibel (Anm. 6). Heinichen: Der General-Bass in der Composition (Anm. 3), S. 840 und Hiller 1767 (Anm. 8), S. 213. Andreas Glöckner: Die Musikpflege an der Leipziger Neukirche zur Zeit Johann Sebastian Bachs. Leipzig 1990 (Beiträge zur Bach-Forschung 8), S. 39 und S. 149. Hiller 1767 (Anm. 8), S. 213ff.
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Jene erwähnte »Mishelligkeit« läßt sich zwar nicht präzisieren, jedoch datieren. So stand innerhalb des zeitlich auf die dreimal jährlich stattfindenden Messen beschränkten Opernspielplanes noch zur Neujahrsmesse 1709 eine Oper von Hoffmann (Acontius und Cydippe) auf dem Programm.12 In der Folgezeit waren die Kompositionsaufträge aber fest in der Hand Heinichens: Für die Ostermesse 1709 vertonte er das Weißenfelser Erfolgslibretto Der angenehme Betrug, für die Michaelismesse folgte Die lybische Talestris13; auch der zur Neujahrsmesse 1710 präsentierte Einakter Die getreue Schäferin Daphne könnte noch aus seiner Komponierfeder stammen. Erklungen sind die Werke unter der gemeinsamen Leitung Heinichens und des jungen Johann Friedrich Fasch, dessen Collegium musicum die Aufführungen anstelle des vom Opernhaus abgezogenen Hoffmannischen Ensembles übernahm. Zur gleichen Zeit erhielt Heinichen vom genannten Impresario Samuel Ernst Döbricht – einem Schwiegersohn von Nikolaus Adam Strungk – Kompositionsaufträge für die zur Peter- und PaulMesse in Naumburg stattfindenden Opernaufführungen14: 1709 vertonte er Olimpia vendicatta, 1710 Paris und Helena15. Das abrupte Ende von Heinichens Wirken als Komponist der Leipziger Opern hatte außermusikalische Ursachen. In einem seit 1708 schwelenden Streit um die Frage, welche der fünf Töchter Nikolaus Adam Strungks von dem väterlichen Opernprivileg profitieren dürften, hatten zur Ostermesse 1710 die von Döbricht zuvor ausgeschlossenen Dresdner Schwägerinnen gerichtlich durchgesetzt, zukünftig unabhängig von Döbricht Opern aufführen zu können. Sie organisierten die folgenden Spielzeiten allein und hatten keinen Geringeren als den ehemaligen Leipziger Studenten (und nunmehrigen Eisenacher Kapellmeister) Georg Philipp Telemann unter Vertrag – sicherlich eine wesentliche Ursache für Heinichens Entschluss, im Sommer 1710 erneut Leipzig zu verlassen und auf Reisen zu gehen; als an Döbricht gebundener Opernkomponist war er in der Messestadt nun auf verlorenem Posten. Doch zurück zur Datierung von Heinichens Vorrede. Diese besteht aus zwei Hauptabschnitten. Ausgehend von der Feststellung, dass der Generalbass der Komposition entspringe, weil er das »ex tempore«-Ersinnen einer völligen Harmonie über einer einzigen Bassstimme erfordert, gelingt Heinichen im ersten Teil16 eine geschickte Überleitung zu seinem Hauptanliegen: der Darstellung __________ 12
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15 16
Alle hier dargelegten Erkenntnisse zur Leipziger Oper behandele ich ausgiebig in meiner Dissertation (Anm. 1). Autographe Partitur in: D-Bsak, SA 1205. Die seit Seibel etablierte Behauptung, Heinichen sei bis 1710 Kapellmeister in Zeitz gewesen, fußt auf einem Irrtum. Heinichen bezeichnet sich gegenüber dem Zeitzer Herzog als »Compositeur von dero Opern« und bezieht sich dabei auf seine »Composition bey denen Naumburgischen Opern«. Dieses Engagement verdankte Heinichen vor allem dem Impresario Döbricht; siehe Herbert A. Frenzel: Thüringische Schlosstheater. Berlin 1965, S. 106 und S. 247 (Schriften der Gesellschaft für Theatergeschichte 63) sowie Adolf Schmiedecke: Aufführungen von Opern, Operetten, Serenaden und Kantaten am Zeitzer Fürstenhof. In: Die Musikforschung 25 (1972), S. 168–174, besonders S. 171. Autographe Partitur in: D-Bsak, SA 1127. Heinichen: Neu erfundene und Gründliche Anweisung (Anm. 2), S. 1–10.
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einer effektiven Lehrmethode für den Kompositionsunterricht, die sich von älteren Methoden dadurch unterscheiden will, dass sie die vielen althergebrachten Regeln – er bezeichnet sie als »unnöthige Compositions Grillen« – in wenigen wesentlichen Merksätzen zusammenfasst, der Lernende aber im Resultat in der Lage wäre, nach den Erfordernissen des Zeitgeschmacks zu komponieren und Generalbass zu spielen. Zwar würden die Modus- und Kontrapunktlehre, die Auseinandersetzungen mit dem Monochord und den Temperaturen nach wie vor Grundpfeiler einer soliden musikalischen Lehre darstellen, doch sollte deren Stellenwert im Unterricht – entgegen der pedantischen Praxis mancher Lehrender – verringert werden. Als Exempel für die überflüssigen Kontrapunktregeln, mit deren Erlernung sich Schüler viel zu lang herumplagen müssten und die einer modernen, am Effekt orientierten Setzweise im Wege stehen würden, druckt er – neben zwei nicht näher spezifizierten (Eigen-?)Kompositionen – die ersten sieben Takte einer Arie ab, die er für die »nechste Leipziger Opera« Der Angenehme Betrug komponiert hatte. Das Notenbeispiel soll zeigen, dass verdeckte Quint- und Oktavparallelen keine Regelverletzungen darstellten, wenn der gesuchte Affekt auf keine andere Weise musikalisch auszudrücken sei und das Gehör daran keinen Anstoß nehmen würde.17 Heinichens Ausführungen über die »unnützen Compositions-Grillen« und jene musikalischen Pedanten, die sich am neuen – respektive seinem – Kompositionsstil stießen, münden in der Feststellung: »die rechte Seele und Tendresse der Composition bestehet wahrhafftig nicht in ein Paar hundert verschimmelten überflüßigen Regeln / welche zur Noth auch noch wol ein viereckigter Bauer=Junge fassen und observiren lernen kan.«18 Vielmehr gelte es – und dies sei die zentrale Herausforderung für Heinichens Komponistengeneration –, »etwas höhers in der Music zu suchen / als man vorhero gehabt«.19 Und um dieses zu finden, müsse das »noch zur Zeit unergründliche Meer« der »Affecten und Worte in der Music« ergründet werden.20 In diesem Zusammenhang packt Heinichen gleich noch ein weiteres ›heißes Eisen‹ der zeitgenössischen musikästhetischen Debatte an, wenn er abschließend schwärmt, wie gewinnbringend es wäre, die Prinzipien theatralischer Musik in die Kirchenmusik zu übertragen: »O wie schön vergnüget es die Ohren / wenn man Z. E. in einem delicaten Kirchen=Stücke wahrnimmet / wie ein verständiger Virtuose hier und da sich bemühet hat / durch seine galanten, und dem in Text liegenden Affect ähnlichen Expressiones die Gemüther der Zuhörer zu bewegen / und hierdurch den wahren Endzweck der Music zu suchen?«21 Dieses seinerzeit mutige Bekenntnis gestattet Heinichen nun bruchlos die Überleitung zum 14 Seiten einnehmenden zweiten Teil seiner Vorrede,22 der __________ 17
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Das Notenbeispiel sowie Heinichens zusätzlicher Kommentar werden wiedergegeben bei Anm. 25. Heinichen: Neu erfundene und Gründliche Anweisung (Anm. 2), S. 9. Ebd., S. 4. Ebd., S. 9. Ebd., S. 9–10. Ebd., S. 10–23.
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sich mit dem Komponieren im theatralischen Stil auseinandersetzt, insbesondere mit der Schwierigkeit, innerhalb einer Oper vielfach wiederkehrende Affekte mit immer neuen musikalischen Inventionen zu vertonen. Auch hier entspringen die Notenbeispiele seiner eigenen Feder. Zum einen druckt er die ersten acht Takte einer Arie aus der »voriges Jahr [1709] auff dem Naumburgischen Theatro praesentirten« Oper Olimpia vendicatta ab,23 zum anderen führt er anhand einer anonymen Ariendichtung vor – es handelt sich um einen Text aus der 1701 am Weißenfelser Hof aufgeführten Oper Der königliche Schäffer Paris (Arie des Dieners Grifo in II/5)24 –, welche Vielfalt an melodischen Einfällen ihm angesichts der Verse kommt. Dieser Teil der Vorrede wirkt in einer Generalbasslehre reichlich deplaziert. Aber hier spricht der junge, erfolgreiche Opernkomponist zu seinen Lesern, der die Suche nach einem treffenden melodischen Einfall als die zentrale Herausforderung seiner Tätigkeit betrachtet und für weitaus anspruchsvoller und wichtiger hält als die kontrapunktische Durchdringung des Satzes. Und betrachtet man außerdem seine die Vorrede abschließende Bemerkung, es könne die »ein und [...] andere Materie dieses Tractats gar wohl weiter ausgearbeitet / wie auch insonderheit bey künfftigen Druck der Leipziger Oper Arien, von der Theatralischen Composition ein mehrers zu schreiben versuchet werden«, wird auch deutlich, dass Heinichen mit dem ausführlichen Exkurs noch einen zweiten Zweck verfolgte: Eigenwerbung für sich als Opernkomponist und seine zukünftigen, freilich nie verwirklichten Editionsprojekte zu betreiben. Für die Datierung der Vorrede liefern die beiden Notenbeispiele aus Heinichens Opern nun konkrete Anhaltspunkte. Da Heinichen beim Abdruck der Arie aus Olimpia vendicatta (Naumburg, Peter- und Paul-Messe, Anfang Juli 1709) schreibt, sie stamme aus der »voriges Jahr auff dem Naumburgischen Theatro praesentirten Opera [...] Olympia«, belegt dies eine Formulierung im Jahr 1710. Zur Arie aus Der angenehme Betrug vermerkt er sodann, er habe sie »Jn der nechsten Leipziger Opera [...] auszuführen gesucht«, womit er nicht auf die Uraufführung des Werks zur Ostermesse 1709 anspielen kann, sondern auf die Wiederaufführung anlässlich des im Dezember 1709 begangenen vierhundertjährigen Universitätsjubiläums (4. bis 9. Dezember); das Wort »nechsten« ist hier im Sinne von »letzten« zu verstehen; gemeint ist also: die letzte in Leipzig aufgeführte und von ihm vertonte Oper. Da sich Heinichen außerdem als beschäftigter und routinierter Bühnenkomponist darstellt und zuversichtlich den Druck seiner Opernarien ankündigt, scheint er im Augenblick der Niederschrift noch keinen Schlussstrich unter seine Tätigkeit für die Bühne am Leipziger Brühl gezogen zu haben. Folglich muss die Vorrede zwischen Januar und April 1710 entstanden sein, denn das vorläufige Ende von Döbrichts veranstalterischer Tätigkeit wurde erst während der Ostermesse (beginnend drei Wochen __________ 23 24
Ebd., S. 14–15. Aufgeführt am 12. September 1701 anlässlich der Geburt von Prinzessin Friedericke (Textbuch in Francisceum-Bibliothek Zerbst, A 11b); nicht identisch mit der gleichnamigen Weißenfelser »Musicalischen Vorrede« von 1697 (Textbuch in D-LEu, Lit. germ. E. 650).
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nach Ostern) absehbar. Die Vorrede ist also – wie wohl die Gründliche Anweisung insgesamt – ein Leipziger Produkt und steht im engsten Kontext mit Heinichens Wirken für das dortige Opernhaus. Von besonderem Interesse ist nun, dass Heinichen in dem stark polemisierenden ersten Teil an zwei Stellen auf einen nicht näher benannten Kritiker seiner Kompositionsweise zu sprechen kommt. Er schildert dessen negatives Urteil, um es schließlich zu widerlegen, ja lächerlich zu machen. Dies geschieht zunächst im Zusammenhang mit jenem Beginn einer Arie aus der Oper Der angenehme Betrug, worüber Heinichen schreibt:
Hierüber nun hatte sich ein Musicalischer Horribilicribrifax erschrecklich moquirt / vorgebende / wie die Ober= und Mittel=Stimmen gegen den Bass hin und wieder verdeckte Quinten und Octaven rühreten durch die gantze Aria, welches gleichwohl eine rechte Nothzüchtigung der edlen Composition wäre. Allein der gute Mensch wird doch wohl jedweden Componisten nach Proportion so viel zutrauen / dass er dergleichen Dinge nicht aus Ignoranz und absque Judicio thue / sondern zum wenigsten doch das grosse A.von der Composition, ich meine die alte Regel wisse / dass man 5ten und Octaven nicht setzen solle nach einander. Und also sehe er nur die Aria deutlich an / ob das Thema wohl müglich anders zu setzen gewesen / wo man nicht der Invention die höchste Gewalt hätte anthun / oder sonst unförmliche Sätze heraus bringen wollen? Er ziehe ferner das Gehöre zurathe / ob auch selbiges von diesen vermeinten Quinten und Octaven, bey immer darzwischen vorfallenden kleinen Pausen, und da benandte Quinten und Octaven nicht einmahl zusammen anschlagen/im geringsten verletzet wird oder nicht? Und wenn er nun dies alles reifflich überleget / so will ich alsdenn erst mit ihm zu expostuliren und zu fragen anfangen / von wem denn das strenge Gesetze gegeben worden: dass alle Octaven und Quinten absolute und ohne eintzige Exception verbothen seyn sollen? und mit was vor raison es denn geschehen?25
Sodann bespricht Heinichen ein weiteres Notenbeispiel, in dem der Grundsatz der Gegenbewegung angeblich nicht beachtet wurde:26 ich will aber nur noch diese eintzige nicht ohne Ursache hinzu setzen; Ich habe einen Componisten / und / seiner Meinung nach / vortrefflicher Contra-Punctisten gekennet / welcher folgende Sätze nicht wolte passiren lassen:
__________ 25 26
Heinichen: Neu erfundene und Gründliche Anweisung (Anm. 2), S. 4–6. Zuvor lieferte er noch ein zweites Beispiel mit verdeckten Oktaven (S. 6–7), welches »Ein Musicalischer Cato« beanstanden könnte.
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Und zwar aus Ursachen / weil es wieder die gewöhnliche Composition-Regel lieffe / dass man nicht in vielen Stimmen zugleich springen solte; welcher Regel er nun so blindlings nachgienge / gleich wie der bekandte verwegene Phaëton, der von dem Sonnen=Wagen stürtzete. Allein der gute Virtuose würde gantz anders raisonnirt haben / wenn er hätte zu judiciren gewust / dass obige Composition-Regel eintzig deswegen gegeben worden / damit man durch viele Sprünge per motum Rectum nicht zugleich ohne Noth viele vitiose Sätze und Progressiones mache / welches fast nicht anders ablauffen kan / wenn der Bass seinen Accord varirt, und die obern Stimmen auch alle zugleich motu recto springen wollen: Allein in obigen Exempel cessiret die raison des Verboths; denn der Bass bleibet stetig in Accord c. / die obern Stimmen aber changiren nur einerley Accord durch auff und niederspringen / worinnen nicht die geringste verdeckte Quinte, Octave, oder sonst ein vitioser Griff mit recht zu finden ist. Ja vielmehr muss es so und nicht wohl anders gesetzet seyn ohne gnugsame Ursache wegen zweyer andern Composition-Regeln / deren die eine mit guten Grunde befiehlet / dass man die Stimmen jederzeit soll suchen so viel möglich zusammen zu halten / oder Syzigias perfectas zu machen (nach dem Termino technico zu reden/) die andere aber: dass man jederzeit trachten solle / den völligen Accord, als: Tertia, Quinta und Octava zugleich in einer vollstimmigen Harmonie zu exprimiren. Diese beyde Regeln aber lassen sich schwerlich observiren / wofern man des oben gerühmten Contrapunctisten Meinung nach die obere Stimme in obigen Exempel alleine wolte über sich springen / die Mittlern aber entweder halten oder unter sich gehen lassen. Seynd aber dergleichen Lappereyen wohl so viel werth / dass man die edle Zeit damit verderbet? und ist das nun nicht einfältig / wenn man von der unschuldigen Composition oder von denen Componisten so grillenfängerhafftig raisonniren will? Es ist eine unfehlbahre Marque, dass solche Raisonneurs entweder die Musicalischen Kinder=Schuh noch nicht ausgezogen / oder mit allen Recht unter die Musicalischen Pedanten zu zehlen seynd; und folgbar wissen sie nicht / was vor ein Unterscheid es sey / und was da heisse / vor die Augen oder vor die Ohren componiren? welcher Unterscheid / dass er sehr groß sey / solches erweisen vor andern die galanten Compositiones derjenigen Virtuosen, welche sich bey der Musicliebenden und Music-verständigen Welt allbereit dergestalt distinguiren / dass man nicht nöthig hat / durch speciale Benennung dero Continence zu beleidigen.
Zwar könnte jener Kritiker ein von Heinichen erfundener Advocatus diaboli sein. Da aber die beiden ihn betreffenden Passagen in der über weite Strecken nahezu gleichlautenden Vorrede der erweiterten Generalbasslehre von 1728 grundlegend überarbeitet wurden – Heinichen ließ keine eigenen Notenbeispiele mehr abdrucken, sondern Werkauszüge italienischer Komponisten –, der Kritiker hier mit keiner Silbe mehr erwähnt wird und Heinichen in einer Fußnote kryptisch andeutet, er sei damals »Occasione gewisser truckenen Texte auff diese Gedancken geraten«,27 spricht einiges dafür, dass die ursprünglichen Formulierungen einen besonderen Zweck erfüllen sollten, also auf einem wahren Kern basierten. Wer käme aber als Kritiker Heinichens in Betracht, der um 1709 über die satztechnischen Unzulänglichkeiten in dessen Opernarien – womöglich schriftlich – gespottet hatte, und dies auf eine Weise, die den jungen Komponisten herausforderte, sich in seiner Vorrede an jenem »musikalischen
__________ 27
Heinichen: Der General-Bass in der Composition (Anm. 3), S. 30.
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Horribilicribrifax« bzw. nur »seiner Meinung nach vortrefflichen ContraPunctisten« zu rächen. Man will jene Person, die sich der modernen theatralischen Kompositionsmanier verschloss und starr an den alten Regeln festhielt, kaum unter Heinichens Kollegen am Opernhaus oder innerhalb der städtischen Collegia musica suchen. Die dort um 1710 wirkenden Komponisten Johann Friedrich Fasch, Melchior Hoffmann, Christoph Graupner und Johann Georg Pisendel gehörten seiner Generation an, und man darf von ihnen ähnliche Ansichten erwarten. Sucht man aber innerhalb der gesamten zeitgenössischen Komponistenszene der Messestadt, so richtet sich der Blick auch auf den Thomaskantor Johann Kuhnau. Zwar scheint auf den ersten Blick alles gegen dessen Gleichsetzung mit dem Kritiker zu sprechen. Schließlich war Kuhnau Heinichens Kompositionslehrer gewesen. Außerdem wird dem Thomaskantor die Ehre zuteil, der einzige Komponist zu sein, der in der Vorrede überhaupt namentlich erwähnt wird, denn Heinichen schloß seine Auseinandersetzung mit dem »musicalischen Horribilicribrifax« folgendermaßen ab: »Was gilts / es wird endlich auff die recht güldene und judicieuse Regel hinaus lauffen / welche der berühmte Herr Kuhnau in seinen schönen Musicalischen Biblischen Historien gantz ungemein wohl angeführet: Cessante ratione prohibitionis, cessat ipsa prohibitio: die Regel gilt alsdenn nichts mehr / so offt diejenige raison wegfället / um dessen Willen die Regel gegeben wurde.«28 Gerade diese Passage erweist sich nun aber als der Schlüssel für die Gleichsetzung jenes altmodischen Komponisten mit Kuhnau. Zunächst fällt wiederum auf, dass Heinichen den genannten Grundsatz zwar in seiner Generabasslehre von 1728 erneut zitiert, nun aber den Autor und die Herkunft des Zitates verschweigt, obwohl hier ein prominenter Gewährsmann nicht fehl am Platze gewesen wäre.29 Warum er dies tat, ist auch aus inhaltlichen Gründen nicht recht nachvollziehbar, zumal Kuhnau genauso argumentiert wie Heinichen in seiner Vorrede von 1710: Quint- und Oktavparallelen sind nicht zu beanstanden, wenn sie verdeckt sind, also vom Ohr nicht wahrgenommen werden.30 Sodann ist von Bedeutung, dass sich Kuhnaus Verhältnis zur theatralischen Musik, speziell zur Oper und deren Leipziger Protagonisten, zwischen 1700 – dem Jahr der Drucklegung der Biblischen Sonaten – und 1710 grundlegend verändert hatte. Als einstiger Schüler Nikolaus Adam Strungks und praktizierender Advokat war der Thomasorganist Kuhnau noch in den Anfangsjahren des Opernhauses (nachweislich 1694) als Rechtsbeistand von Strungk tätig gewesen. 1698 hatte er sogar selbst eine Pastoraloper (Galathea) komponiert, deren Aufführung freilich zunächst nicht zustande kam; sie wurde erst zwei Jahre nach Strungks Tod zur Neujahrsmesse 1702 auf die Leipziger Bühne gebracht und scheint ein Misserfolg gewesen zu sein.31 Nach dem Libretto zu __________ 28 29 30
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Heinichen: Neu erfundene und Gründliche Anweisung (Anm. 2), S. 6. Heinichen: Der General-Bass in der Composition (Anm. 3), S. 16. Musicalische Vorstellung Einiger Biblischer Historien / Jn 6. Sonaten / Auff dem Claviere zu spielen / Allen Liebhabern zum Vergnügen versuchet von Johann Kuhnauen. Leipzig 1700. Reprint Leipzig 1973, Vorrede, unpaginiert. Zur Identifizierung dieser Oper als Werk Kuhnaus siehe Maul (Anm. 1).
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urteilen muss es ein recht altmodisches Werk gewesen sein – es bestand zum überwiegenden Teil aus Strophenarien; gegen weitere Kompositionsaufträge an Kuhnau sprach aber auch, dass die Aufführung 1702 gegen den Willen der fortan als Opernveranstalter tätigen Strungk-Erben zustande gekommen war und Kuhnau 1701 das Thomaskantorat übernommen hatte. Wohl nicht zuletzt wegen dieser Vorgeschichte entwickelte sich Kuhnau in den folgenden Jahren zu einem lautstarken Kritiker des Leipziger Opernunternehmens. Ein weiterer Grund war, dass die ab 1704 eingesetzten Musikdirektoren der Neukirche (zunächst Georg Philipp Telemann, dann Melchior Hoffmann) in ihren Collegia musica, der Neukirche und dem Opernhaus musikalisch ambitionierten Studenten und ehemaligen Thomasalumnen ein vergleichsweise attraktiveres Betätigungsfeld bieten konnten, weshalb Kuhnau schon im Dezember 1704 gegenüber dem Stadtrat klagte, ihm würden die eigenen Zöglinge davonlaufen, die er doch für die eigene Kirchenmusik so dringend benötige.32 Noch einmal scheint sich die Situation im Jahr 1709 verschärft zu haben, also während Heinichens alleiniger Tätigkeit als Opernmusikdirektor. Die schriftlichen Zeugnisse geben sicherlich nur einen Bruchteil der Schärfe wieder, mit der Kuhnau jetzt gegen die unliebsame Konkurrenz zu polemisieren pflegte. Jedenfalls schrieb er im Frühjahr 1709 folgendes an den Stadtrat, um diesen – im übrigen umsonst – davon zu überzeugen, dass zukünftig die musikalischen Strukturen in Opernhaus und Neukirche aufgebrochen werden müssten: Aber den grösten Defect von solcher Music verursachet die Opera und Music in der Neüen Kirche. Denn die meisten Schüler, (von denen neüankommenden und dem Choro recommendirten Studenten will man nichts sagen) sobald sie in der Music bey des Cantoris saurer Mühe einen habitum erlanget und nüze sey können, sehnen sich gleich nach der Gesellschafft der Operisten, thun dahero nicht viel gutes, suchen vor der Zeit ihre Dimission, öffters mit Unbescheidenheit und Troze, lauffen auch, im Falle der Verweigerung gar davon, wie neülich der beste Bassist, Pezold, auff die ihm aus der Opera geschehenen Promessen gethan, dem ein andrer guter Discantist, Pechuel, [...] hierinne vorgegangen [...]. Die andern aber, welche mit Frieden dimittiret werden, nach dem man ihnen zwar viel durch die Finger sehen müßen, machen es nicht viel beßer. Denn, an statt dass sie zur Danckbarkeit vor die große auff sie gewandte Mühe dem Choro Musico fernere Dienste leisten solten, so gerathen sie gleichfalls bald unter die Operisten. Und wie es freylich lustiger zugehet, wo man Operen spielet, in öffentlichen Caffée Häusern auch zu der Zeit, da die Music verbothen ist, und des Nachts auf den Gaßen, oder sonsten immer in frölichen Compagnien musiciret, alß wo dergleichen nicht geschehen kan [...].33
War dies noch ein internes Papier gewesen, das sich gegen die Oper als Institution richtete, so ließ Kuhnau ein halbes Jahr später eine Polemik folgen, die sich nun gegen die Operisten an sich richtete. Sie muss Heinichen als den aktuellen Komponisten der Leipziger Opern sehr getroffen haben, denn er __________ 32
33
Memorial Kuhnaus vom 4. Dezember 1704, vollständig wiedergegeben bei Philipp Spitta: Johann Sebastian Bach. Band II. Leipzig 1879, S. 853–855. »Erinnerung des Cantoris die Schul und Kirchen Music betreffend«. Eingabe Kuhnaus an den Leipziger Rat vom 17. März 1709, hier zitiert nach der vollständigen Wiedergabe bei Spitta (Anm. 32), S. 855–859.
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wurde in ihr – trotz seines breiten Erfolges – von seinem ehemaligen Lehrer schulmäßig belehrt. Was aber ebenso schwer wog, war die Entscheidung Kuhnaus, die Polemik an einer Stelle zu veröffentlichen, wo sie ungeheuerliche Breitenwirkung entfalten musste: im Textbuch zur Leipziger Kirchenmusik von Advent 1709 bis Advent 1710.34 Kuhnau erläutert in seiner am 12. Dezember 1709 unterzeichneten Vorrede, warum er bei der Zusammenstellung der Dichtungen des neuen Jahrgangs von »Arien oder andern Poetischen Paraphrasibus« Abstand genommen und nur Bibelworte und Choräle ausgewählt habe, nämlich, um von vornherein »dem Verdachte der Theatralischen Music desto leichter zu entgehen«. Ja, es wäre zu beklagen, dass »zur Zeit denen wenigsten die eigentliche Difference des Kirchen und Theatralischen Styli bekandt ist / und an beyden Orten die Madrigalien ohne Præjudiz eines ieden Proprii stattfinden können«. Jene »Difference« sei, dass man im Kirchenstil dem Zuhörer eine heilige Andacht / Liebe / Freude / Traurigkeit / Verwunderung / und dergleichen zu erwecken suchet / hier [d.h. im theatralischen Stil] aber denen wahren und unschuldigen Liebhabern der Music zwar eine unschuldige Vergnügung / denen meisten andern und fleischlich gesinneten aber immer mehr und mehr Nahrung ihrer Begierden giebet, und gar selten die unordentliche Hitze des auffsiedenden Geblütes dämpffet [...]. Dort [d.h. im Kirchenstil] erfodert der heilige Ort und Text alle Kunst / Pracht / Modestie und Ehrbezeigung: Hier mögen in dem profanen Wercke auch neben den guten Sätzen schlechte / poßierliche / lächerliche / excessiv hüpffende und wider die Regulen der Kunst peccirende Melodien mit unter lauffen.35
Zwar vermeidet es Kuhnau, die aktuellen Opernkomponisten Leipzigs als Exempel für derartige Komponisten im unreinen und mitunter lächerlichen theatralischen Stil zu nennen, doch liegt es auf der Hand, dass er mit der Bezeichnung »profanes Werck« die Gattung Oper meint, zumal Kuhnau zehn Jahre später gegenüber dem Stadtrat unmissverständlich zum Ausdruck bringen wird, dass in der Neukirche und dem Opernhaus »ein wildes Opernwesen« herrsche, das es zu verhüten gilt, und dass die »jungen Operisten« ihre leicht nachahmbaren Kompositionen nur »in fleischlicher Absicht« verfertigen würden.36 Liest man vor diesem Hintergrund die Vorrede der Gründlichen Anweisung erneut, so wird offensichtlich, dass Heinichens Feder wesentlich von dem Vorsatz geführt wurde, Kuhnaus wenige Wochen zuvor allen Leipziger Kirchgängern präsentierte Polemik gegen die Opernkomponisten und deren theatralischen Stil Punkt für Punkt zu widerlegen. Seine Apologie der verdeckten Quint__________ 34
35 36
»Texte zur Leipziger Kirchen=Music, auff das mit GOtt angefangene Kirchen=Jahr / vom ersten Advent=Sonntage dieses zu Ende lauffenden 1709ten Jahres / biß wieder dahin / ANNO 1710. geliebt es GOTT. LEJPZIG / gedruckt bey Immanuel Tietzen.« Exemplar in D-LEm, I B 1; Text der Vorrede wiederabgedruckt bei Bernhard Friedrich Richter: Eine Abhandlung Johann Kuhnau’s. In: Monatshefte für Musikgeschichte 34 (1902), S. 147–154. Ebd., S. [5–6]. »Project, welcher Gestalt die Kirchen Music zu Leipzig könne verbeßert werden«. Eingabe Kuhnaus an die Leipziger Bürgermeister vom 29. Mai 1720, zitiert nach der vollständigen Wiedergabe bei Spitta (Anm. 32), S. 866–868.
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und Oktavparallelen bezieht sich dann auf Kuhnaus Formulierung: »Wider die Reguln der Kunst peccirenden Melodien«; seine Rechtfertigung für den nicht beachteten Grundsatz der Gegenbewegung spielt auf Kuhnaus Behauptung an, in den Opern sei eine »excessiv hüpfende« Stimmführung anzutreffen. Es ließe sich sogar spekulieren, ob nicht auch die Bezeichnung jenes anonymen Kritikers als »musicalischer Horribilicribrifax« ganz bewußt ausgewählt worden war: Der Protagonist des bekannten gryphiusschen Schertz-Spiels (1663) wäre kein offensichtliches, aber zweifellos treffendes – nur den Eingeweihten sich erschließendes – Synonym für den kuhnauischen Musicalischen Quacksalber (1700) gewesen.37 Dass Heinichen in seiner Verteidigung Kuhnau (und nur diesen!) namentlich als Gewährsmann für die Richtigkeit seiner eigenen Prinzipien anführt – wohlgemerkt mit einer Äußerung aus dessen Zeit als Opernbefürworter und Thomasorganist –, ist so gesehen nicht etwa eine Verneigung vor dem ehemaligen Lehrer, sondern eine raffinierte rhetorische Parade. Heinichens ausgiebige Kritik an den althergebrachten Unterrichtsthemen: der ausgiebigen Modus- und Kontrapunktlehre, der langwierigen Auseinandersetzung mit dem Monochord, den Temperaturen und der Ars combinatoria, stellt bei näherem Hinsehen ebenso eine Abrechnung mit Kuhnaus Lehrmethode dar. Zwar haben sich dessen Abhandlungen Tractatus de Monochord und De Triade Harmonica nicht erhalten, doch läßt sich anhand der im WaltherLexikon abgedruckten Inhaltsverzeichnisse erahnen, dass gerade diese Themen überproportionalen Anteil in der Ausbildung bei Kuhnau eingenommen haben müssen.38 Dass Heinichen tatsächlich unter dieser kopflastigen Unterweisung gelitten hatte, wird in Hillers zweiter Heinichen-Biographie angedeutet. Dort heißt es über Kuhnau als Lehrer: Das Klavierspielen scheint, allem Vermuthen nach, Heinichen nie sehr am Herzen gelegen zu haben. Destomehr Fleiß wendete er hingegen auf die Setzkunst, und besonders auf den Contrapunct. Damals wurde der Contrapunct, mit Hintansetzung mancher anderer und beträchtlicherer Schönheiten in der Musik, jungen Leuten als das Herrlichste und Beste in der Tonkunst, nicht aber als ein nothwendiges Mittel zu Erlangung größerer musikalischen Vollkommenheiten, nicht als nur ein Theil des Schönen in der Tonkunst, angepriesen. Doch ist eben nicht zu glauben, dass ein Mann von so aufgeklärtem Verstande, und von solcher Gelehrsamkeit, als Kuhnau zu seiner Zeit war, einer dieser übertriebenen Verehrer des Contrapuncts gewesen sey, ob er ihn gleich aus dem Grunde verstand. Dem sey aber wie ihm wolle.39
Auch der zweite Teil von Heinichens Vorrede, die oben nur kurz behandelte Demonstration seiner Kompositionspraxis einer Opernarie, erweist sich nun als Replik auf Kuhnaus Polemik: In dem Textbuch zur Leipziger Kirchenmusik hatte der Thomaskantor umständlich ausgeführt, dass man aus den Worten einer Dichtung alle »Gelegenheiten zur Invention und Variation« »arripiren« könne, »ohne welche die Music ihren Finem, nehmlich die Delectation und Bewegung __________ 37 38
39
Beide Titelfiguren waren Prahler und Betrüger. Johann Gottfried Walther: Musicalisches Lexikon oder musicalische Bibliothec [...]. Leipzig 1732. Reprint Kassel 1953, S. 349f. Hiller 1784 (Anm. 8), S. 129.
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der Gemüther / schwerlich erreichet«; und wenn »die Worte in der Mutter= Sprache einen nicht gleich auff eine geschickte Invention führten«, wäre es hilfreich, die Bibeltexte auch »in andern uns bekandten Sprachen zur Hand« zu lesen. Anhand der hebräischen, lateinischen, französischen und italienischen Übersetzungen führt Kuhnau dann aus, was für eine Vielzahl an melodischen und strukturellen Einfällen ihm diese liefern. Man könne aber auch, wie er bereits andernorts ausgeführt habe, auf eine andere »Art und Weise [...] variren«: »wie nehmlich / zum Exempel / vier Noten von einerley Quantität nach denen Præceptis artis combinatoriæ 24. mahl / und 5. Noten 120. mahl / und so fort / da man das letzte Productum mit dem in Progressione Arithmetica folgenden Numero Notarum variandarum multipliciret / solcher gestalt können verwechselt werden / dass bald iede Combination einen andern Effect in dem Gemüthe der Zuhörer operire. Welche Variation fast unendlich seyn würde / wenn man an der Quantität der Noten zugleich etwas changiren wolte.«40 Auf ersteres reagierte Heinichen durch seine ausführliche Auseinandersetzung mit dem Text einer Weißenfelser Opernarie,41 auf letzteres mit der abfälligen Bemerkung: »Unverständige oder passionirte« würden heutzutage »den Componisten vor einen Plagiarium [...] schelten«, wenn er in Opern eine eintzige Aria, oder nur eine Clausul von 14. oder 15. Noten noch einmal vorbringe [...]. Und eben darum käme heut zu Tage ein Componiste nicht einmahl fort / wenn er seine Inventiones in der sonst sehr nützlichen Arte combinatoria auff gemeine Art suchen / und gedencken wolte / weil man vermittelst dieser Kunst 4. Noten 24. mahl / 5. Noten 120 mahl. und so fort nach der gewöhnlichen Progression verändern könte [...]. Glücket es auff solche Art ja ein oder etliche mahl / so geschicht es gewiß nicht offt / er mag auch die Quantität der Noten changiren wie er will. Denn weil die Tendresse oder / Seele der Music unmöglich bey solchen höltzern Noten zu finden ist / so muss man dabey auff andere / wiewohl etwas schwerere Modos Invention zu suchen / bedacht seyn / da hauptsächlich / nebst der Combinatoria eine gute natürliche Fantasie bey dem Componisten praesupponiret wird.42
Kann es angesichts dieser offensichtlichen Bezüge als gesichert angesehen werden, dass der Inhalt von Heinichens Vorrede maßgeblich von Kuhnaus wenige Wochen zuvor erschienener Polemik und dessen generellem Kampf gegen die Leipziger Operisten bestimmt wurde, muss abschließend gefragt werden, inwieweit sich diese Beobachtung auf die Bedeutung und Interpretation der Vorrede auswirkt. Ihre generelle Bedeutung als wichtiges Dokument des neuen ›galanten Musikdenkens‹ bleibt davon sicherlich unberührt. Gleichwohl wird ihre Zielstellung doch etwas relativiert: Sie ist der energische, polemisierende – vergleichsweise aber doch recht taktvoll vorgebrachte – Behauptungsversuch eines jungen aufstrebenden Komponisten gegenüber dem übermächtigen, den gelehrten Kirchenstil repräsentierenden Thomaskantor Johann Kuhnau. Verfolgt man diese Konstellation weiter, ergeben sich interessante Denkanstöße zur __________ 40 41
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Texte 1709 (Anm. 34), S. [7]. Sollte die Auswahl dieses Arientextes wiederum einen Hintersinn haben, etwa dahingehend, dass Kuhnau in die Weißenfelser Produktion von 1701 involviert gewesen war? Heinichen: Neu erfundene und Gründliche Anweisung (Anm. 2), S. 12f.
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Michael Maul
musikgeschichtlichen Situation zu Beginn des 18. Jahrhunderts. Warum kommt es zu dieser Zeit in Leipzig zu einer solchen Auseinandersetzung, die ein Konflikt zwischen einem Opern- und einem Kirchenkomponisten war, zugleich als Generationenkonflikt angesehen werden kann und obendrein einen LehrerSchüler-Konflikt darstellte? Ich möchte eine Deutung anbieten, die generell die Veränderungen bzw. Infragestellungen mancher althergebrachter musikalischer Denkformen und Unterrichtspraktiken in Mitteldeutschland, speziell in Leipzig, und auch die Frühgeschichte der Dacapo-Arie erhellen könnte. Die deutschsprachige Oper war – ohnehin vergleichsweise spät als Gattung etabliert – zunächst ein nur an wenigen Höfen auftretendes Phänomen gewesen. Erst im letzten Viertel des 17. Jahrhunderts expandierte sie. ›Bürgerlich‹ wurde sie in Leipzig ab 1693, wobei die Vertonungen der hier aufgeführten Bühnenwerke bis ins Jahr 1700 vom Dresdner Kapellmeister Strungk besorgt wurden. Dann aber wurden plötzlich, bedingt durch Strungks Tod, Studenten als Tonsetzer aktiv, die allesamt, abgesehen von Telemann, ehemalige Alumnen der Thomasschule waren und die sich, obgleich hervorragend ausgebildete Kompositionsschüler Kuhnaus oder Schelles, nun im Opernhaus mit völlig neuen Herausforderungen konfrontiert sahen. Diese lassen sich in der Hauptaufgabe zusammenfassen, den Affekt einer Dichtung möglichst plastisch und theatralisch in Musik zu setzen – und dies unter Berücksichtigung verschiedenster, auch außermusikalischer Erfordernisse. Entscheidend ist dabei, bildlich gesprochen, das, was auf der Bühne passiert, also in der Oberstimme und weniger im Fundament und schon gar nicht in den Mittelstimmen. Entscheidend ist ebenso die Reaktion des Publikums, das in der Masse weniger mit satztechnischen Details beeindruckt werden wollte als vielmehr mit Virtuosität, spektakulären Bühneneffekten und eindrucksvoller Ausstattung. Mit anderen Worten: Dies alles widersprach bereits im Grundsatz dem hohen Kirchenstil, barg aber so lange kein Konfliktpotenzial, wie die Kompositionsideale und formen auf die Gattung beschränkt blieben. Als jedoch Erdmann Neumeister im Jahr 1702 den Ausspruch wagte, eine geistliche »Cantata« sehe »nicht anders aus als ein Stück aus einer Opera, aus Arien und Rezitativen«,43 und in der Folgezeit die jungen Operisten – aus der Leipziger Oper: Telemann, Heinichen, Hoffmann – nicht nur die dichterischen Formen, sondern auch die Prinzipien der Opernmusik in ihre geistlichen Werke übertrugen (mitunter auf Basis reiner Textparodien!),44 ist es leicht nachzuvollziehen, wie in dieser Situation, also im ersten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts, ein Generationenkonflikt, aber auch ein Kompetenzstreit zwischen den etablierten (vergleichsweise älteren) Kirchenmusikern und den jungen erfolgreicheren Operisten latent entsteht und es angesichts der beiderseitigen Befindlichkeiten nur geringer äußerlicher Anlässe bedarf, um daraus einen offensiven Schlagabtausch werden zu lassen. Der __________ 43
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[Erdmann Neumeister:] Geistliche CANTATEN Uber alle Sonn- Fest und Apostel-Tage zu einer denen Herren Musicis sehr bequemen Kirchen-Music In ungezwungenen Teutschen Versen ausgefertiget. ANNO 1702 [...], Vorbericht. Siehe Maul (Anm. 1).
Heinichen und der »Musicalische Horribilicribrifax«
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öffentlich ausgetragene Heinichen-Kuhnau-Disput liefert dafür ein beredtes Zeugnis; und er ist, soweit ich sehe, die erste schriftlich geführte Auseinandersetzung zur Thematik zwischen Musikern.45 Nach 1710 äußert sich der Konflikt in den anhaltenden, oft scheinheilig geführten Debatten um die Unterschiede zwischen Kirchen- und theatralischem Stil und die Schicklichkeit des Parodieverfahrens. Unsere Leipziger Auseinandersetzung von 1709/10 und der dabei scheinbar von Heinichen davongetragene Sieg dürfen aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die selbstbewusste Aufbruchstimmung und der reformierende Charakter, die in der Vorrede zur Neu erfundenen und Gründlichen Anweisung allenthalben zum Ausdruck kommen, durch den weiteren musikgeschichtlichen Verlauf relativiert wurden. Solange die noch junge Dacapo-Arie ein kaum mehr als 30 Takte umfassendes Gebilde ohne Zwischenritornelle und mit wenigen Textrepetitionen blieb, genügte der plastische motivische Einfall, um ein solches Stück auszufüllen. Heinichens im Anhang dieses Beitrages abgedruckte Arie aus der 1709 entstandenen Oper Die lybische Talestris gibt ein repräsentatives Beispiel davon ab, wie konsequent er selbst sein in der Vorrede dargelegtes Konzept der Gewinnung musikalischer Einfälle anhand einer eingehenden Textanalyse in die Praxis umsetzte. Mit der in den 1710er Jahren einsetzenden, sukzessiven Erweiterung der Arienform durch die Ausprägung instrumentaler Zwischenspiele und vielfacher Phrasenwiederholungen musste der motivischen Arbeit und der kontrapunktischen Durchdringung wieder mehr Aufmerksamkeit zuteil werden. Die von Heinichen noch 1710 vertretene Extremposition, die eigentliche Kunst bestehe im melodischen Einfall, dem habe sich alles andere unterzuordnen und daran müssten sich auch die Unterrichtsmethoden anpassen, konnte so nicht mehr als alleinige Wahrheit verfochten werden. Dies wusste auch Heinichen – vermutlich schon nach seinem Italienaufenthalt –, der deshalb viele seiner Äußerungen und auch die Kritik an Kuhnau in seiner zweiten Generalbasslehre von 1728 zurücknahm oder zumindest entschärfte. Nun ließ er sogar eine Episode aus dem Unterricht bei seinem Lehrmeister einfließen und bekannte dabei, er habe während seiner Zeit als Schüler Kuhnaus »vor lauter Contrapuncts-Begierde kaum essen, trincken, noch schlaffen« können.46 Schon __________ 45
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Zuvor hatten sich nur besorgte Theologen und Schulrektoren zu Wort gemeldet, ohne den Siegeszug der jungen Gattung Oper aufhalten zu können (vgl. die Dokumente zum ›Hamburger Opernstreit‹ und zur Beer-Vockerodt-Kontroverse, dargestellt u.a. bei Heinz Becker: Quellentexte zur Konzeption der europäischen Oper im 17. Jahrhundert. Kassel u.a. 1981, S. 17–191 und Gudrun Busch: Die Beer-Vockerodt-Kontroverse im Kontext der frühen mitteldeutschen Oper. Oder: Pietistische Opern-Kritik als Zeitzeichen. In: Das Echo Halles: kulturelle Wirkungen des Pietismus. Hg. von Rainer Lächele. Tübingen 2001, S. 131–170). Heinichen: Der General-Bass in der Composition (Anm. 3), S. 840–841 und 935. – Möglicherweise hatte sich Heinichen schon nach seiner Rückkehr aus Italien mit Kuhnau versöhnt. Dieser führt jedenfalls – freilich nicht ohne Eigennutz – 1717 in einem an den Stadtrat gerichteten Vorschlag zur Verbesserung der Thomasschulordnung nicht ohne Stolz an: »So sind doch darinne [d.h. in der Thomasschule] zu allen Zeiten fast mehr Musici aufgewachßen, welche so wohl in Fürstlichen Capellen, als auch vornehmlich bey der Gott
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gegenüber Mattheson, der Heinichens Vorrede der Generalbasslehre begeistert aufgenommen hatte, schlug er um 1717 weniger polemische, ja versöhnliche und selbstkritische Töne an.47 Überhaupt hatten die großen Meister seiner Generation die argumentative Sackgasse schnell erkannt. Telemann betonte bereits in seiner ersten Autobiographie, »allemahl die Kirchen-Music am meisten werth geschätzet« zu haben48 und wollte damit sicherlich auch auf seine bei allen tonmalerischen Vorlieben stets solide, saubere und gelegentlich raffinierte Satztechnik hinweisen – von den Unterrichtsmethoden und Kompositionen Bachs ganz zu schweigen. Wie sehr wiederum Telemann das erste Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts als eine Zeit des kreativen Suchens nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten wahrgenommen hatte, deutet auch sein bekanntes Sonett auf den Tod des damals berühmtesten deutschen Opernkomponisten Reinhard Keiser an, der zu jener Zeit den oberstimmenorientierten, affektgeladenen und kurzen deutschen Arienstil wie kein anderer geprägt hatte, und der damals auch Heinichens zentrales Vorbild gewesen sein dürfte: »Wie reich, wie neu, wie schön, wie gantz hat er gedacht! Wie hat er den Gesang zum vollen Schmuck gebracht, Den dazumahl die Welt noch ungestalt gekennet! Zu diesem zog ihn bloß ein angeborner Trieb, Durch den er, ohne Zwang der Schulgesetze, schrieb.«49 Es ist mithin kaum verwunderlich, dass sich die unmittelbare Nachwelt recht unentschieden über den Wert von Heinichens Vorrede (in beiden Fassungen) und dessen ›galantes Musikdenken‹ äußerte, wenn bei Hiller etwa die Würdigung zu lesen ist:
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geheiligen Kirchen-Music beliebte Membra und Choragi worden. Wenn ich von denen, welche, Gott sey Danck, nur aus meiner Anführung gelaßen worden, viel Rühmens machen wolte, könte ich unter vielen andern, welche an unterschiedenen Orten als gute Musici Beförderung gefunden, 2 berühmte Capellmeister anführen. Einer ist unsers allergnädigsten Königs seiner, Hr. Heinichen, der andere ist der zu Darmstadt, Graupner, welche aber in specie das Clavier und die Composition, und zwar der erste auch einige Zeit vor meinem Cantorat bey mir gelernet, dabey auf der Schule meine Notisten, so meine Concepte und Partituren mundiret, gewesen.« Eingabe vom 18. Dezember 1717, zitiert nach der Wierdergabe bei Spitta (Anm. 32), S. 862. Siehe Heinichens Brief an Mattheson vom 7.12.1717 aus Dresden, abgedruckt bei Johann Mattheson: Critica Musica II. Hamburg 1725, S. 212f.; vgl. auch Matthesons Reaktion darauf ebd., S. 213f. sowie die von diesem wiederabgedruckten Passagen aus Heinichens Vorrede in: Das Forschende Orchestre [...]. Hamburg 1721, S. 58–59, S. 62 und S. 225– 226 und in: Critica Musica I. Hamburg 1722, S. 284–285; siehe ferner Heinichens Antworten auf Matthesons Fragen zum Canon, ebd., S. 357f. Lebens-Lauff / mein / Georg Philipp Telemanns; / Entworffen / in Frankfurth am Mayn / d. 10. Sept. A. 1718, abgedruckt in: Johann Mattheson: Grosse General-Bass-Schule. Oder Der exemplarischen Organisten-Probe Zweite verbesserte und vermehrte Auflage. Hamburg 1731, S. 160ff., zitiert nach Georg Philipp Telemann: Singen ist das Fundament zur Music in allen Dingen. Eine Dokumentensammlung. Hg. von Werner Rackwitz. Leipzig 1981, S. 100. Abgedruckt bei Johann Adolph Scheibe: Critischer Musikus [...]. Leipzig 1745, hier zitiert nach Rackwitz (Anm. 48), S. 193.
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Herr Heinichen verstand die Harmonie und ihre Gesetze vollkommen, und als ein Mann, der sich nicht bloß mit den alten Regeln behilft, sondern der darüber vernünftig nachgedacht, und sich durch eigene beständige praktische Ausübung Meister davon gemacht hat. Er verstand nicht weniger den Contrapunkt mit allen seinen Künsten aus dem Grunde. Er sah aber auch den Nutzen und die Gränzen der Notenkünsteleyen auf das richtigste ein. Nur scheint es, dass, wie er nach seinem eigenen öffentlichen Geständnisse, ohnstreitig in seiner Jugend den contrapunktischen Künsten zu viel Werth zugetrauet, und zu viel Mühe darauf gewendet hatte, er nachher ihren Nutzen in seinem Buche, ein klein wenig mehr als billig ist, einzuschränken, und ihre wesentlichen Vortheile herunter zu setzen gesuchet habe, denn dass es Contrapunkte gäbe, die auch schön ins Gehör fielen, das beweisen seine eigenen Fugen. Doch, es ist auch wieder wahr, dass sowohl vor, als noch zu seinen Zeiten, etliche Componisten sich mehr mit den harmonischen Künsten groß machten, als ihr Nutzen verdienet: und also wollte Herr Heinichen vielleicht sich dem Misbrauche derselben desto nachdrücklicher und eifriger entgegen setzen. Die Mittelstraße aber zu halten ist allezeit schwer. Man kann sich deswegen leicht vorstellen, dass einige große Componisten, weil er nicht nur in manchen Privatunterredungen, sondern auch im Generalbasse in der Composition gewisse hämische Züge wider die contrapunktischen Künste, und einige Verfasser derselben hier und da hatte einfließen lassen, deswegen nicht zum besten mit ihm zufrieden waren. Schlimm war es, dass einige der großen Contrapunctisten damaliger Zeit, ob sie gleich nicht fürs Theater setzten, doch an musikalischer Erfindung reicher waren, als Herr Heinichen selbst, und dass bey einem und dem andern, alle Contrapunkte und Canons noch lange nicht den wichtigsten Theil seiner musikalischen Verdienste ausmacheten, Wiewohl auch wieder nicht zu läugnen ist, dass es damals noch andere gab, welchen, außer einem heraus gequälten Contrapunkte oder Fuge, weiter nicht viel gescheutes vorzubringen möglich war.«50
Mit der Identifizierung von Johann Kuhnau als Heinichens Bezugspunkt in der Vorrede der Neu erfundenen und Gründlichen Anweisung wird nun aber nachvollziehbar, warum der junge Opernkomponist seinerzeit so radikale Positionen bezog, die in der Sache eben »ein klein wenig mehr als billig« sein mussten.
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Hiller 1767 (Anm. 8), S. 224; nahezu unverändert übernommen in Hiller 1784 (Anm. 8), S. 142–143.
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Anhang Johann David Heinichen / Heinrich Anselm von Zigler und Kliphausen: Die lybische Talestris (Leipzig, Michaelismesse 1709), II/4, Arie des Philotas, »Auch im Sarge flammt die Liebe«. Quelle: Schlossmuseum Sondershausen, Mus. A 1:1, Nr. 6
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Heinichen und der »Musicalische Horribilicribrifax«
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Das Erwecken von »allerhand Regungen« in Telemanns Kirchenmusik und die Fuge
Bei der Betrachtung der neuen Kirchenmusik des 18. Jahrhunderts, insbesondere der Telemanns, stand in den letzten Jahren ihre enge Verwandtschaft mit der Oper im Vordergrund. Denn die Oper als poetologisch-musikalische Leitgattung beeinflusste das Denken der Dichter und Komponisten um 1700 maßgeblich.1 Festzustellen ist aber auch, in welcher Weise die neu entwickelte affekthafte, theatralisch genannte Kirchenmusik traditionelle, geistlich konnotierte Kompositionstechniken integriert. Ein erster Abschnitt wird Aussagen zu der sich im frühen 18. Jahrhundert entwickelnden neuen Kirchenmusik vorstellen. Daraufhin ist zu untersuchen, wie Telemann polyphone Satztechniken in Kanon und Fuge einsetzte, welche Lösungen er fand, um dem Anspruch der opernhaften Kirchenmusik, Affekte zu erregen, zu genügen. An Beispielen aus den Jahren bis 1720 wird zu zeigen sein, dass die Antworten, die Telemann auf Johann Matthesons Fragen, die dieser auch Johann David Heinichen und Reinhard Keiser vorgelegt hatte, gegeben hat und die in der Critica musica veröffentlicht wurden, an seinen Kompositionen überprüft werden können.
I Bereits 1702 hat Erdmann Neumeister in der Vorrede zu den Geistlichen Cantaten statt einer Kirchen-Music (wiederaufgelegt 1704) auf die spezifische Affektivität mittels zur Vertonung gedachter Texte wie Arien und Oden hingewiesen. Wobei in den mehrstrophigen Oden der Affekt von einer zur anderen Strophe wechseln könne, was es dem Komponisten erschwere, eine Melodie zu finden, die für alle Strophen geeignet sei: Es sei nicht gut, »wenn unterschiedene Affecten einerley Melodie haben«2, und es klinge »häßlich«3, __________ 1
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Zuletzt dazu: Ute Poetzsch- Seban: Die Kirchenmusik von Georg Philipp Telemann und Erdmann Neumeister. Zur Geschichte der protestantischen Kirchenkantate in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Beeskow 2006 (Schriften zur mitteldeutschen Musikgeschichte 13), S. 46–69. Erdmann Neumeisters Geistliche Cantaten statt einer Kirchen-Music. Die zweyte Auflage Nebst einer neuen Vorrede, auf Unkosten Eines guten Freundes. O.O. 1704. Vorbericht, Bl. )( 5r. Zu dieser Vorrede vgl. Wolfgang Miersemann: Erdmann Neumeisters »Vorbericht« zu seinen »Geistlichen CANTATEN« von 1704: ein literatur- und musikprogrammatisches »Meister=Stück«. In: Erdmann Neumeister (1671–1756). Wegbereiter der
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»wenn die Musicalischen Variationes in den Pausen, Trillern, Läuffern u. s. f. auf wiedrige und unbequeme Worte fallen«.4 Dies könne jeder beurteilen, »der nur halben Verstand von der Music hat«.5 In einer aus Rezitativen und Arien bestehenden Cantata würde es solche Härten nicht geben, denn hier könne der Komponist seine »Kunstgriffe nach der guten Phantasie überal ohne Zwang«6 anbringen. Einen Unterschied zwischen weltlicher Musik (Oper) und geistlicher (Kirchenmusik) sah Neumeister lediglich in den Inhalten. Denn Kantaten oder Gedichte, die »ihr Modell von Theatralischen Versen erborget« haben, würden dadurch geheiligt, dass »sie zur Ehre GOttes gewiedmet« seien, wofür er auf »Apostolische Sprüche« referiert.7 Die Gegenstände selbst seien angemessen zu behandeln, weshalb er, Neumeister, sich an »Biblische[n] und Theologische[n] Redens=Arthen« orientiert habe: »bey Geistlichen Gedichten« würde ein »prächtiger Wörterschmuck von menschlicher Kunst und Weisheit den Geist und die Anmuth« behindern, anders als er sie »in Politischen Versen befördern möchte«.8 Gottfried Tilgner, der Herausgeber der Fünfffachen Kirchen-Andachten genannten ersten Sammelausgabe Neumeisterscher Jahrgänge, nennt weitere Gründe und Details, wie die Kirchenmusik das Gemüt bewege.9 Dies geschehe durch Abwechslung, aber auch durch Wiederholung wie etwa beim Dacapo. Zu viel Wiederholung mache verdrießlich, »aber zu wenig rühret sie gar nicht«: »Ein emphatisches Wort, ein nachdrücklicher Affect kan dem Gemüthe nicht kräfftiger, als durch eine durchdringende Wiederhohlung eingepräget werden.«10 Auf potenzielle Kritik an der bewegten und bewegenden Kirchenmusik reagiert er, indem er darauf hinweist, dass diese angemessen auf den Anlass eingehe: Die sich aber insonderheit über die Musick beschweren, und lieber jeden Thon, der nur etwas muntrer klinget, als ihre heuchlerische Ohren vertragen können, zu einer Todt= Sünde machen wolten; die belieben sich zu erinnern, dass die alten Weynacht= und __________
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evangelischen Kirchenkantate. Hg. von Henrike Rucker. Rudolstadt 2000 (Weißenfelser Kulturtraditionen 2), S. 51–74. Neumeister 1704 (Anm. 2), Bl. )( 5r. Ebd., Bl. )( 5r. Ebd. Ebd., Bl. )( 5r–5v. Ebd., Bl. [7v]. Die Dikta lauten: 1Kor 7,14: »Denn der ungläubige Mann ist geheiligt durchs Weib, und das ungläubige Weib wird geheiligt durch den Mann. Sonst wären eure Kinder unrein, nun aber sind sie heilig.« 1Tim 4,5: »Denn es wird geheiliget durch das Wort Gottes und Gebet.« Phil 1,18: »Was ist ihm aber denn? Daß nur Christus verkündiget werde allerlei Weise, es geschehe rechter Weise oder Zufalles, so freue mich doch darinne, und will mich auch freuen.« Neumeister (Anm. 2), Bl. [6v]. Herrn Erdmann Neumeisters Fünfffache Kirchen-Andachten bestehend In theils eintzeln, theils niemahls gedruckten Arien, Cantaten und Oden Auf alle Sonn- und Fest-Tage des gantzen Jahres. Herausgegeben Von G.T. LEIPZIG In Verlegung Joh. Großens Erben. Anno 1717, Vorrede. Ebd., Bl. [7r].
»Allerhand Regungen« in Telemanns Kirchenmusik und die Fuge
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Oster=Lieder: Ein Kind gebohren zu Bethlehem ec. ec. Heut triumphiret GOttes Sohn ec. ec. und viele andere, auch nicht gar zu traurig gehen, und dennoch von jedermann ohne besorgliche Aergerniß mitgesungen werden. Ja sie mögen selbst urtheilen, ob das Danck= Lied, welches die Prophetin Mirjam, nach dem Untergange des stoltzen Pharao, mit den Israelitischen Weibern in die Paucken gesungen, wie ein lamento sey gesetzt gewesen; oder der Lob=Gesang des erfreuten Zachariä einem erbärmlichen Buß=Liede gleich geklungen habe?11
Freudige Affekte würden durch fröhliches, traurige durch trauriges Singen ausgedrückt. Das Ziel der Kirchenmusik sei Erweckung von Andacht. Wäre dies durch schlichtes Singen oder Spielen erreichbar, würden »des alten Conrad Nachtigals u. anderer ehrlichen Meister-Sänger schlechte und gerechte KnittelReime gewiß die vortrefflichsten Lieder des fleißigen Ristes, erbaulichen Hermanns, anmuthigen Gerhards, lieblichen Neumanns ec. bey weitem übertreffen; auch wohl der elendeste Dorff-Organist selbst dem berühmten Herrn Telemann vorzuziehen seyn.«12 Tilgner schreibt also den neueren Liedern und der aktuellen Musik eine größere affektive Kraft zu. Außerdem wäre es unpassend, würden diejenigen, »denen die Gnade des Höchsten ein grösser Talent verliehen, [...] solches nicht ihm zur Ehre, sondern zur Wollust anwenden.«13 Gott solle ein neues Lied gesungen werden mit »auserlesenen Gedanken« der besten Dichter.14 Endlich: »Da alle Künste und Wissenschafften steigen, und mit der Zeit von denen noch übrigen Unvollkommmenheiten befreyet werden; warum solte denn dasjenige, so hauptsächlich zum Lobe unsers GOttes gewidmet ist, in seinem Moder liegen bleiben?«15 Tilgner plädiert also für eine von den besten Meistern geschaffene, die Affekte bewegende und zur Andacht führende Kirchenmusik. Denn mit unzureichenden Mitteln sei dieser hohe Zweck nicht zu erreichen. Neumeister selbst bestätigt die Ausführungen Tilgners 1726 in seiner Vorrede zum dritten Teil der Freytags-Andachten.16 Auch Gottfried Ephraim Scheibel äußert sich zur Fähigkeit der Musik, das Gemüt zu bewegen. Er definiert die Musik als »eine Kunst, die uns weiset wie man durch die Abwechslung der Thone die Affecten bewegen kan.«17 In seiner Schrift Zufällige Gedancken von der Kirchen-Music handelt er von der »Bewegung der Affecten« durch Musik, aber nicht davon, wie die »Abwechslung __________ 11 12 13 14 15 16
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Ebd., Bl. [7v]. Ebd., Bl. )( 2 [9r]. Ebd. Ebd., Bl. )( 2 [9v]. Ebd. Erdmann Neumeisters Freytags-Andachten, meistentheils über Moralische Sprüche, deren aus jedem Buche der Heiligen Schrifft einer genommen ist, in kurtzen und erbaulichen Predigten Seiner geliebten Gemeine zu St. Jacob vorgetragen, und auf Verlangen im Drucke wiederhohlet. Der dritte Theil. GOTT der HErr ist Sonne und Schild. HAMBURG, In Verlag Johann Christoph Kißners. 1726, Vorrede. Gottfried Ephraim Scheibel: Zufällige Gedancken von der Kirchen-MUSIC, Wie sie heutes Tages beschaffen ist Allen rechtschaffnen Liebhabern der MUSIC zur Nachlese und zum Ergötzen wohlmeinende ans Licht gestellet Von Gottfried Ephraim Scheibel. Franckfurt und Leipzig 1722, S. 4.
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der Thone« zu organisieren oder zu arrangieren sei.18 Dies könne man bei Kircher und Mattheson nachlesen. Auch Scheibel sieht keinen Unterschied zwischen weltlicher und Kirchenmusik, aus seiner Sicht ist diese Spaltung jüngeren Datums – von dieser »Eintheilung in sacram & profanam in Kirchen und Welt-Music« habe »man lange Zeit nichts gewußt«.19 Dagegen akzeptiert er die »Division« in Vokal- und Instrumentalmusik, wobei die Verbindung von Vokal- mit der Instrumentalmusik am meisten »movire«.20 Denn ein »Concert von vielen Instrumenten« könne das »Genus eines Affectus« zwar vorstellen, »aber noch lange nicht dessen Speciem«.21 Reine Instrumentalmusik, Musik ohne Worte, könne das Gemüt nicht bewegen. Scheibel untermauert seine Argumentation mit dem Hinweis auf einen Komponisten, »welcher unterschiedene Biblische Historien mit ihrem Affect hat wollen auf dem Clavier exprimiren«, was zwar dessen Geschicklichkeit gezeigt habe, aber zu bezweifeln sei, dass der Affekt ohne die beigefügten verbalen Erläuterungen erkannt würde.22 Ohne diese hätte man »lange rathen« müssen, »was diese oder jene Phantasie bedeuten sollte.«23 Es ist wortgebundene Musik, die die Affekte erregt, sei es Opern- oder Kirchenmusik. Dann zeigt er, dass »die Kirchen- und die WeltMusic, was die Motion der Affecten anbetrifft nicht eignes habe, und der Componiste hierzu sich einerley Modi bedienen müsse« und dass der »Thon, der mich in einer Opern vergnügt, der kan auch solches in der Kirchen thun, nur dass er ein anderes Objectum hat.«24 Freude und Traurigkeit blieben auch bei wechselnden Objekten Affekte. Gute Texte nun hätten von »Geistlichen und Göttlichen Dingen« zu handeln, sie müssten »I. erbaulich seyn, II. den Affect wohl exprimiren, III. nicht undeutliche Redens-Arten in sich halten.«25 Die Arien zeigten den stärksten Affekt, Rezitative erklärten, die Bibelsprüche ließen erkennen und die Lieder erläuterten.26 Auch die Auswahl der Sprüche und Lieder habe auf die Erregung der Affekte zu zielen, auch sie sollten »was affectueuses in sich haben«.27 In der Kunst, Liedstrophen und Bibelsprüche nach ihrem Affektgehalt auszuwählen und zusammenzustellen, sei Erdmann Neumeister »ein vollkommner Meister«.28 Die Texte waren in ihrer Argumentation auf das Detempore und seine Perikope zu richten. Der ihr innewohnende Affekt und damit der des Sonn- oder __________ 18 19 20 21 22
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Ebd. Ebd., S. 5. Ebd., S. 17. Ebd., S. 18. Ebd. Gemeint ist die Musicalische Vorstellung Einiger Biblischer Historien / Jn 6. Sonaten / Auff dem Claviere zu spielen / Allen Liebhabern zum Vergnügen versuchet von Johann Kuhnauen. Leipzig 1700. Ebd. Ebd., S. 35. Ebd., S. 63. Ebd., S. 80. Ebd., S. 80f. Ebd., S. 81.
»Allerhand Regungen« in Telemanns Kirchenmusik und die Fuge
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Feiertags war zu identifizieren, und danach war die bewegende Auslegung in Rezitativen, Arien, Liedern und Bibelsprüchen zu gestalten. Als ein Beispiel möge die Kantate zum 2. Advent aus Neumeisters ersten für Telemann gedichteten Jahrgang Geistliches Singen und Spielen29 dienen. Das Evangelium (Lk 21,25–36) stellt die Schrecken des Jüngsten Tages vor, der über die Menschen kommen wird. Das erste Rezitativ malt das kurz bevorstehende Ende der Welt aus. In der anschließenden Liedstrophe (»Es ist gewißlich an der Zeit«, Lied vom jüngsten Gericht von Bartholomäus Ringwald, 4. Strophe) wird darauf hingewiesen, dass die Gottesverächter in die Hölle gehen werden, worauf im folgenden Rezitativ Bezug auf die Schlechtigkeit der realen Welt, die es verdient unterzugehen, genommen wird. Die einzige Arie sagt den lachenden Gottlosen Höllenqualen voraus, denn das Diktum verkündet die Gewissheit, dass der Herr kommen wird. Aus der Verdammung des Unglaubens zieht der Gläubige im Rezitativ Trost, der in der beschließenden Choralstrophe (»Es ist gewißlich an der Zeit«, 5. Strophe) bestätigt wird:30 [Rezitativ] Der jüngste Tag wird bald sein Ziel erreichen, Und was die Welt nicht glaubet, wird geschehn. Mich dünkt, es lassen sich schon Zeichen Am Himmel und auf Erden sehn. Die Zeit ist kurz, drum tobt der arge Feind, Ach denkt doch dran, ihr sichern Leute, Wer weiß, ob nicht der Richter annoch heute Plötzlich erscheint. [Choral] O weh demselben, welcher hat, Des Herren Wort verachtet; Und nur auf Erden früh und spat, Nach grossem Gut getrachtet! Er wird fürwahr gar kahl bestehn, Und mit dem Satan müssen gehn, Von Christo in die Hölle. [Rezitativ] Und wenn mans auch aus Gottes Wort nicht wüßte, Dass endlich ein Gerichtstag kömmt, So wäre doch ein Schluß nicht ungewiß, Dass Gott der Welt ein Ende machen müßte. Denn alles ist mit Ärgernis, und Greueln überschwemmet. Was acht man Gottes Wort zu dieser Zeit? __________ 29
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[Erdmann Neumeister:] Geistliches Singen und Spielen, Das ist: Ein Jahrgang von Texten, Welche dem Dreyeinigen GOTT zu Ehren bey öffentlicher Kirchen-Versammlung in Eisenach musicalisch aufgeführet werden von Georg. Philip. Telemann, F.S. Capellmeister und Secr. GOTHA, gedruckt bey Christoph Reyhern, F.S. Hof-Buchdr. 1711. Georg Philipp Telemann: Geistliches Singen und Spielen. Kantaten vom 1. Advent bis zum Sonntag nach Weihnachten. Hg. von Ute Poetzsch-Seban (Georg Philipp Telemann. Musikalische Werke 39). Kassel u.a. 2004, S. XLIXL–L. Die Vertonungen befinden sich auf den S. 21–56 und 203–222.
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Die Ungerechtigkeit hat überhand genommen, Der Böse frißt den Frommen. Den Armen drückt der Reiche, Der Geiz heißt vieler Herzen Gott, Des Fleisches Lust wird zur gemeinen Seuche, Die Falschheit ist ein Ruhm, die Redlichkeit ein Spott. Die Hoffart wird man nicht bei Sünden, Noch Schwelgen untern Lastern finden. Und wie mans sonst aufs ärgste treibt. Ist Gott gerecht? (wie ers denn ist, und bleibt) Wie sollt’ er nun die Rache lassen schlafen, Und nicht die Welt mit einem Garaus strafen. [Arie] Lacht immerhin ihr Atheisten, Und spottet nur der frommen Christen, Das Heulen kommt zu rechter Zeit. Da ihr vor solchen Spott und Frevel, Im Feuerpfuhl voll Pech und Schwefel Ein ewig Ach! und Zeter schreit. [Tutti] Siehe, der HErr wird kommen mit Feuer, und sein Wagen wie ein Wetter, dass Er vergelte im Grimm seines Zorns, und sein Schelten in Feuer-Flammen. Esa. LXVI. v. 15. [Arie] Welt zage nur, mit den verruchten Sündern, Der Urteilsspruch bringt dir die Höllenpein. Ich freue mich, mit allen Gotteskindern, Denn unser Teil wird in dem Himmel sein, Doch Gott wills allen gern bereiten, Er predigt Buße für und für. Drum Mensch, besinne dich beizeiten, Die Ewigkeit ist vor der Tür. [Choral] O Jesu hilf zur selben Zeit, Von wegen deiner Wunden: Dass ich im Buch der Seligkeit Werd eingezeichnet funden. Daran ich dann auch zweifle nicht, Denn du hast ja den Feind gericht, Und meine Schuld bezahlet.
Arien können solistisch, als Duett oder Tuttisatz, Rezitative als einfaches oder begleitetes Rezitativ vertont werden. Choräle erklingen im vierstimmigen Kantionalsatz oder als – manchmal auch instrumentaler – cantus firmus. Bibelsprüche werden solistisch arios oder vierstimmig vertont, oft sind diese Sätze mehrteilig homophon-polyphon angelegt. Wie der theologische Dichter Neumeister und der sich theoretisch versuchende Scheibel bekennt sich auch der Komponist Telemann zu einer affekthaften Musik. Von Johann Mattheson aufgefordert, zu den aus seinem Disput mit Heinrich Bokemeyer hervorgegangenen Fragen Stellung zu nehmen, mahnt
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Telemann zunächst an, darüber nachzudenken, »was eigentlich die Kunst in der Music sey«, um fortzufahren, dass die »Kunst in der Music« darin bestehe, »mittels harmonischer Sätze in den Gemütern der Menschen allerhand Regungen« zu erwecken, durch die »ordentliche und sinnreiche Verfassung« solcher Sätze aber auch den Verstand des Kenners zu belustigen.31 Dies wäre mit Kanons durchaus zu erreichen, doch würden sie wenig Regungen in den Gemütern hervorrufen. Doch die nahen Verwandten des Kanons, nämlich »Fugen oder Contrapuncte«, besäßen »viel Schönheit« und würden Lernenden helfen, größere Fähigkeiten zu erlangen.32 Ein Komponist müsse sie beherrschen, auch weil sie »hauptsächlich zur Kirchen-Music, als dem alleredelsten Theile der Klinge-Kunst« gebraucht würden.33 Kanons sind für Telemann nicht das Fundament der harmonischen Kunst, sondern eher eine Kammer im musikalischen Gebäude. Auf die Frage nach dem Verhältnis von Kunst und Naturell plädiert Telemann für den Vorrang des Naturells, da dies im Unterschied zur Kunst, die wegen ihrer Mühsamkeit nur von Kennern geschätzt werden kann, sowohl bei Liebhabern als auch bei Kennern Anerkennung finden könne. Am besten sei es aber, »wenn das Naturell der Kunst vorgehet, und sie beide verknüpfet werden.«34 Am Ende fügt Telemann den Hinweis hinzu, dass in »simplen Canonen, als all’unisono, von 2, 3, biß 4 Stimmen, schon etwas herauszubringen ist, das dem Ohr angenehm und dem Urteile des Verstandes ergetzlich fällt.«35 Allerdings sei dies eine schwere Aufgabe, die nur jemand lösen könne, der »von der Modulation und Melodie Meister ist«.36 Anfängern sei es nützlich, ihre »Feder« mit Kanons »geschickt« zu machen.37 Der Gefahr, dass »nicht zu feurige ingenia« durch eine solche Schule pedantisch würden, wäre dadurch entgegenzuwirken, dass man sie »mehr zu galanten, als dergleichen ernsthafften Ausarbeitungen« führe.38 Deutlich wird Telemanns Ansatz, Gegensätze zu versöhnen, Gemüt und Verstand, Naturell und Kunst39, Affekt mit Fugen und Kontrapunkten als den »nächsten Verwandten«40 der Kanons zusammenzuführen. Seine knappen Formulierungen zeigen ihn als einen Komponisten, der den Diskurs seiner Zeit __________ 31
32 33 34 35 36 37 38 39
40
Georg Philipp Telemann: Unmaßgebliches Gutachten über folgende Fragen. In: Johann Mattheson: Critica Musica I. Hamburg 1722. Reprint Amsterdam 1964, S. 358–360, hier: S. 358–359. (Ediert in: Georg Philipp Telemann. Singen ist das Fundament zur Music in allen Dingen. Eine Dokumentensammlung. Leipzig 1981, S. 109–112). Ebd., S. 359. Ebd., S. 360. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Wilhelm Seidel: Naturell – Unterricht – Fleiß. Telemanns Lebensläufe und der Geniebegriff des 18. Jahrhunderts. In: Biographie und Kunst als historiographisches Problem. Hg. von Joachim Kremer, Wolf Hobohm und Wolfgang Ruf. Hildesheim 2004 (TelemannKonferenzberichte 14), S. 90–100. Telemann 1722 (Anm. 33), S. 359.
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intensiv reflektiert und der eine Normativität vertritt, die Regeln dem Gegenstand angemessen anwendet.41
II Aus der Zeit vor 1720 sind von Telemanns Kantaten drei Jahrgänge erhalten, die Neumeister gedichtet hat,42 ein Jahrgang mit Texten des Eisenacher Sängers und Sekretärs Johann Friedrich Helbig und eine nicht vollständige zweite Vertonung des Jahrgangs Geistliches Singen und Spielen. Dazu kommen das auf 1704 zu datierende lateinische Magnificat (TVWV 9:17) und das ebenfalls in der Leipziger Zeit entstandene Sanctus F-Dur (TVWV deest).43 Das Magnificat ist in späteren Quellen erhalten, vom Sanctus haben wir das Autograph. Im Magnificat wechseln Fugen mit ariosen Sätzen. Das Sanctus kann als lateinisches Kirchenstück ohne Soli, das aus einer Folge von Fugen besteht, mit Mattheson als Motette bezeichnet werden.44 Im Kirchenjahr 1710/11 erklang in Eisenach der Jahrgang Geistliches Singen und Spielen, der mit einer Motette über die erste Zeile des Liedes »Nun komm der Heiden Heiland« beginnt, womit Telemann sich auf eine alte lutherische Tradition der motettischen Liedbearbeitung bezieht.45
a) Magnificat Auf das einleitende Concerto folgt der erste Tuttisatz, der zweiteilig homophonpolyphon angelegt ist. Das Thema der Fuge wird bei jedem Einsatz verlängert, der Verlauf ist durch Ausspinnung und Motivabsplitterung charakterisiert. Nach dem ariosen Solo mit obligater Violine »Quia respexit« folgt das »Quia fecit« als homophones Tutti mit duettierend und solistisch konzertierenden Abschnitten. Auf das innige, sich über einem Klangteppich der Streicher entfaltende »Et misericordias« folgt das »Fecit potentiam« für zwei Vokalbässe im Kanon, __________ 41 42 43
44
45
Vgl. den Beitrag von Rainer Bayreuther im vorliegenden Band, besonders Abschnitt III. Poetzsch-Seban (Anm. 1), S. 91–226. Magnificat: D-B Mus. ms. 21744 Nr. 1, Mus. ms. 21745/5, Mus. ms. 21745/8. Sanctus: Mus. ms. autogr. G. P. Telemann 136. Vgl. Andreas Glöckner: Die Musikpflege an der Leipziger Neukirche zur Zeit Johann Sebastian Bachs. Leipzig 1990 (Beiträge zur Bachforschung 8), S. 33–36. Ders.: Frühe Leipziger Telemann-Quellen. In: Georg Philipp Telemann – Werküberlieferung, Editions- und Interpretationsfragen. 3 Teile. Köln 1991, Teil 1, S. 57–74, besonders S. 64–66 und 68 (Abbildung). Johann Mattheson: Das Neu-Eröffnete Orchestre. Hamburg 1713. Reprint Laaber 2002, S. 141f. Schon Johann Walther komponierte eine Reihe von Liedmotetten, darunter auch über »Nun komm der Heiden Heiland«. Vgl. Friedrich Blume und Ludwig Finscher: Das Zeitalter der Reformation. In: Geschichte der evangelischen Kirchenmusik. Zweite, neubearbeitete Auflage. Kassel 1965, S. 44f.
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Trompetenchor und Basso continuo. Das »Dispersit« ist wieder ein vierstimmiger homophoner Tuttisatz mit Solopassagen und einem Ausklang in motettisch wirkenden Imitationen. Im »Esurientes / Suscepit Israel« imitieren der Tenor, zwei Violinen und der Bass im strengen Satz. Aus dem Kontrapunkt entwickelt Telemann das konzertierende Spiel für die Obligato-Arie »Suscepit Israel«. »Sicut locutus est« ist ein Tuttisatz, in dem im doppelten Kontrapunkt imitiert wird, gelegentlich unterbrochen von homophonen Blöcken. Es folgt das »Gloria«, ein Duett, wie ähnliche auch in der Kantate zum 1. Weihnachtstag des Geistlichen Singens und Spielens oder in Kantaten des Concerten-Jahrgangs zu finden sind. Der letzte Satz »Sicut erat« ist wie der erste Vokalsatz zweiteilig homophon-polyphon, wobei die die Fuge vertikal strukturierenden homophonen Blöcke an die Themeneinsätze des Basses gekoppelt sind. Im Magnificat gleicht also keine Fuge der anderen. Diese Fugen wechseln mit affekthaften ariosen Sätzen. Damit handelt es sich um ein Magnificat, das nicht »nach der Larve hingesungen« wird, sondern das von einem »geschickten Virtuosen« verfasst ist, der »jedem Verse, in welchem allemahl ein besondrer Affect steckt, seine gehörige Modulation« zudachte, wodurch es einen »bessern Nachdruck in den Hertzen der Zuhörer« hinterlässt.46
b) Sanctus Das Sanctus ist zweiteilig und deutlich auf Wortausdeutung hin angelegt. Von diesem Stück haben sich neben dem Autograph und teilweise von Telemann selbst geschriebenen Stimmen auch Skizzen erhalten. Die dritte Skizze enthält die Takte 1 bis 10 und damit den Beginn der Komposition (Notenbeispiele 6 bis 8), die beiden anderen Skizzen enthalten Teile der Doppelfuge, die die Texte »Sanctus« und »Pleni sunt coeli« kombiniert (Notenbeispiele 1 bis 5).
Notenbeispiel 1: Skizze 1 __________ 46
Gottfried Ephraim Scheibel: Poetische Andachten Uber alle gewöhnliche Sonn- und FestTage [...]. Leipzig und Breslau 1725. Vorrede von den Hindernisse der Kirchen-Music, Bl. b.
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Notenbeispiel 2: Übertragung der Skizze 1
Notenbeispiel 3: Skizze 2
Notenbeispiel 4: Übertragung der Skizze 2
Notenbeispiel 5: Endfassung
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Notenbeispiel 6: Skizze 3
Notenbeispiel 7: Übertragung Skizze 3
Notenbeispiel 8: Endfassung der Passage von Skizze 3
c) Geistliches Singen und Spielen 1710/11 und 1717/18 Neumeisters Jahrgang Geistliches Singen und Spielen, der früheste mit Musik vollständig erhaltene Kantatenjahrgang des 18. Jahrhunderts, enthält eine Vielzahl von Bibelsprüchen. Denn, wie Neumeister 1726 schrieb, es würde »der unvergleichliche Componist, Hr. Telemann, schwerlich eine Music aufführen [...], in welcher nicht Texte aus der Heil. Schrifft wären.«47 Die Dikta sind von __________ 47
Neumeister 1726 (Anm. 16), Bl. [c2r].
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unterschiedlicher Länge und innerhalb des Textes unterschiedlich positioniert; es gibt auch Kantaten mit mehreren Dikta. Denn es ging nicht um die Entwicklung einer Standardform für Texte, sondern um Angemessenheit in der Wahl der poetischen und musikalischen Mittel, um das Ziel, durch Bewegung des Gemüts Andacht zu erwecken, erreichen zu können. Die Vertonungen der Dikta des Geistlichen Singens und Spielens sind außerordentlich vielgestaltig. Das einleitende Diktum der Kantate zum 6. Sonntag nach Trinitatis Wer sich rächet (TVWV 1:1600) aus Sir 28,1–2 vertont Telemann in vier Abschnitten: 1. Wer sich rächet, (Concerto) 2. an dem wird sich der Herr wieder rächen (Fuge 1, 25 Takte) 3. und wird ihm seine Sünde auch behalten. (Fuge 2, 36 Takte) 4a. Vergib deinem Nächsten, was er dir zuleide getan hat, und bitte denn, (Doppelfuge, 29 Takte) 4b. so werden dir deine Sünden vergeben. Fuge 1 verläuft ausgeglichen, doch folgt auf die Exposition direkt eine Durchführung mit variiertem Einsatzplan. In Fuge 2 fungiert die Ausspinnung des Themas im Sopran als Zwischenspiel, während die anderen Stimmen pausieren, bevor in der Durchführung die Stimmen in der gleichen Reihenfolge wie in der Exposition einsetzen. Der Vordersatz bleibt gleich, während der Nachsatz variiert und erweitert wird, die unteren Stimmen untersetzen den Sopran mit dem Text »auch behalten« deklamatorisch mit dem ganzen Vers. Die Doppelfuge kombiniert die Texte 4a und 4b. Der gesamte Satz ist auf das Wort »vergeben« hin organisiert. Die Kantate zum Johannesfest Gelobet sei der Herr (TVWV 1:596) wird mit dem Diktum Offb 7,12 1. Amen, Lob und Ehre, und Weisheit, und Dank, und Preis und Kraft, und Stärke sei unserm Gott, 2. von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen. beschlossen. Über den 2. Textabschnitt komponiert Telemann eine Doppelfuge (»Amen« gegen »von Ewigkeit zu Ewigkeit«) mit unvollständigen Durchführungen und Kontrapunkten, aus denen er Motive abspaltet, die ihrerseits imitiert werden. Im Verlauf verdichtet sich der Satz und richtet sich auf das »Amen« aus. Eindrucksvoll gestaltet ist der dreiteilige Eingangssatz der Kantate zum Michaelisfest Der Engel des Herrn lagert sich (TVWV 1:232) über das Diktum Ps 34,8–9: 1. Der Engel des Herrn lagert sich um die her, so ihn fürchten, und hilft ihnen aus. (Concerto) 2. Schmecket und sehet, wie freundlich der Herr ist. (Tutti, homophon) 3. Wohl dem, der auf ihn trauet. (Doppelfuge, 53 Takte)
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Nach einem prächtigen Concerto, in dem der Vokalbass und zwei Hörner konzertieren, und dem durch das Affektwort »freundlich« inspirierten zweiten Abschnitt treten in der Fuge die Hörner wieder hinzu, wodurch der Satz zur Sechsstimmigkeit geweitet wird. Die beiden Themen der Fuge, eines eher deklamatorisch, das andere an einen cantus firmus erinnernd, werden unterschiedlich kombiniert und gekoppelt, Telemann arbeitet mit der Originalgestalt und Umkehrungen. Durch die Kopplungen kommt es immer wieder zu Teildurchführungen. Einmal wird die Umkehrung des zweiten Themas von den beiden Hörnern im Kanon durchgeführt. Die Fuge klingt über einem Orgelpunkt aus, der das schon im Verlauf wichtige Wort »vertrauet« hervorhebt. Ganz anders zeigt sich der Verlauf der beschließenden Fuge aus der Kantate zum 1. Advent Nun komm der Heiden Heiland (TVWV 1:1174) aus dem Jahr 1717, der zweiten Vertonung des Textes.48 Der Teil des Diktums, auf den die Fuge komponiert ist, lautet »und nimm deinen heiligen Geist nicht von mir« (Ps 51,13). Affektwort ist ohne Zweifel »heiligen«, das durch die Verarbeitung des Themas, seine Wiederholungen, kombiniert mit dem ausgesponnenen Kontrapunkt, permanent erklingt. Durch Kombinationen und Stimmkopplungen entstehen homophone Passagen, die aber auch als Engführungen betrachtet werden können. Die Kantate ist im Autograph überliefert, in dem sich eine dreitaktige Skizze für die Schlussfuge befindet:
Notenbeispiel 9: Kantate Nun komm der Heiden Heiland, Skizze
Notenbeispiel 10: Übertragung der Skizze
__________ 48
Telemann: Singen ist das Fundament zur Music in allen Dingen (Anm. 31), S. 173–200, Fuge S. 196–200.
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Notenbeispiel 11: Endfassung
Auf das letzte Beispiel hat bereits 1760 Friedrich Wilhelm Marpurg hingewiesen. Im 49. seiner Kritischen Briefe über die Tonkunst diskutiert er über die Fuge. Er räumt ein, »dass man von einer Fuge keine solche Rührung im genauesten Verstande verlangen könne, als von einer zärtlichen, oder einer in anderm Affecte wohlgesetzten Kirchen- oder Opernarie«.49 Doch hält er es für ausgeschlossen, dass in 75 Jahren »niemals ein Zuhörer durch Fugen wäre gerühret« worden.50 Marpurg kannte also Fugen, die über ihren Kunstcharakter hinaus auch das Gemüt anzusprechen vermochten. Und er nennt Beispiele für solche Fugen, die ihn, »zumal an Orten wo sie angebracht waren, wirklich gerühret« haben.51 Seine Aufzählung beginnt er mit einer Fuge »aus einem sehr alten Telemannischen Stück, über den Spruch: Ich will den Namen Gottes loben mit einem Liede und will ihn hoch ehren mit Dank.«52 Das sehr alte Stück ist die Kantate zum 1. Weihnachtstag Uns ist ein Kind geboren (TVWV 1:1451) aus der ersten Vertonung des Geistlichen Singens und Spielens.53 Marpurg weist auch auf den Kontext hin, in dem dieses Diktum steht. Es folgt »unmittelbar auf ein sehr demütiges Duett, in welchem man bekennet, dass man nicht wisse, was man dem Heilande an seinem Geburtsfeste zum würdigen Opfer bringen könne.«54 Eingeleitet wird die Kantate von einem Diktum, das Telemann wie einen Arientext vertont, worauf das beschriebene, dem Duett aus dem Magnificat ähnelnde Duett folgt, bevor das zweite Diktum den Eingangskomplex __________ 49
50 51 52 53
54
Friedrich Wilhelm Marpurg: Kritische Briefe über die Tonkunst. 1. Band. 49. Brief. Berlin 1760. Reprint Hildesheim 1974, S. 382. Vgl. auch Günter Fleischhauer: Die ›galante‹ und die kontrapunktische Schreibart Telemanns im Urteil Friedrich Wilhelm Marpurgs. In: Telemann und seine Freunde. Kontakte – Einflüsse – Auswirkungen. Teil 2. Magdeburg 1986, S. 71–81, besonders S. 76. Erst neuere Forschungen haben ergeben, dass die Kantate als dem Jahrgang Geistliches Singen und Spielen zugehörig bereits 1710 in Eisenach erklungen ist. Poetzsch-Seban: Vorwort zu Telemann (Anm. 30), S. XVII–XVIII. Marpurg (Anm. 49), S. 382. Ebd. Ebd. Telemann: Singen ist das Fundament zur Music in allen Dingen (Anm. 31, S. 81–108, Fuge S. 93–96. Marpurg (Anm. 49), S. 382.
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beschließt. Es folgen drei gleich gebaute Arien, die, aus der Kantate herausgelöst, eine Ode ergeben. Nach der ersten Strophe steht das einzige Rezitativ der Kantate. Ein Choral beschließt das Stück. »Den Anfang der Fuge machen die Bässe«, sagt Marpurg,55 es folgen Tenor und Alt, zuletzt setzt der Sopran ein. Die Abstände zwischen den Einsätzen sind unterschiedlich, und nicht jede Stimme hat in den Durchführungen gleich viele Einsätze. Das Thema ist so erfunden, dass es leicht auszuspinnen ist, aber auch Abspaltungen zulässt, woraus unterschiedliche Kopplungen erzeugt werden können. Der Bass führt auch ein zweites, durch einen Oktavsprung nach oben charakterisiertes, anschauliches Thema auf die Wortgruppe »Ich will dich hoch loben« ein. Dieses Thema wird nur von Sopran und Bass durchgeführt. Als fragmentarischer Kontrapunkt, aber auch als weiteres Thema könnte die Tongruppe auf das aus der Wortgruppe herausgelöste Wort »loben« angesehen werden. Die besondere Struktur des Satzes lässt nun ständig »loben« und »ehren« hören, nur unterbrochen durch den Einwurf »hoch loben« und ein weiteres Motiv für »(mit) einem Liede«. Telemann gibt dem Satz durch seine Anlage einen hochgestimmten, jubelnden Ton. Zusammenfassend ist festzustellen: Auch in Fugen ist Telemanns Themenbildung immer textgezeugt und textbezogen. Bleiben die Themenköpfe gleich, können doch die folgenden Perioden verlängert oder gekürzt werden. Abgespaltene Motive bleiben mit dem jeweils zugeordneten Wort verbunden. Auch diese Motive können wieder imitiert werden, bevorzugt in Kombination mit einer Ausspinnung in einer anderen Stimme. Aus abgespaltenen Motiven können aber auch homophone Gruppen gebildet werden. Insbesondere kommt es bei langen Themen zu Abspaltungen. Diese werden oft imitiert, auch wenn das Thema noch nicht vollständig erklungen ist, womit der Nachsatz sowohl Thema als auch für eine andere Stimme Kontrapunkt zugleich ist. Es sind dies Abschnitte, die weiter verändert werden können. Gekoppelte Verläufe ergeben sich aus unterschiedlichen Einsatzfrequenzen, aus enggeführten Einsätzen, aber auch aus Variierungen. Varianten können ebenfalls als eigene Themen durchgeführt werden. Telemann hebt wichtige Worte oder Wortgruppen auch im polyphonen Geflecht bzw. durch die polyphone Verflechtung hervor. Der Komponist folgt mit seiner Kunst dem Dichter, der für seine poetischen und affektiven Text die passenden Dikta gewählt hat, und verstärkt den Ausdruckscharakter der Vorlage mit Mitteln, deren kontrapunktische Gelehrtheit und Kunst kein Selbstzweck ist, sondern sich dem Endzweck der Musik, Affekte zu erregen, unterordnet.
__________ 55
Ebd.
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Die normative Struktur des decorum Über den Einbruch der Mode in den Naturrechtsdiskurs der Aufklärung
Im Rahmen der Naturrechtstheorie des frühen 18. Jahrhunderts entwickelt sich ein neues Regelverständnis, das nach zwei Seiten hin revolutionär ist: Es nimmt einerseits affirmativ gesellschaftliche Entwicklungen auf, etatisiert sie in gewissem Umfang und reflektiert insofern die zeittypischen Trends von höfischen Galanterie- und Alamode-Idealen. Andererseits wirkt die Theoriebildung zurück auf die Gesellschaft und verankert das Bewusstsein der Legitimität dieser Ausrichtung ausgehend vom gelehrten Diskurs in Popularphilosophie, Gesellschaftsethik und Gelegenheitsschriften. Dieses gewandelte Regelverständnis kristallisiert sich vor allem in einem Normbegriff, der ab etwa 1700 für ein knappes Jahrhundert eine steile Karriere nimmt: dem decorum. Das decorum bezeichnet eine spezifische Normativität, in der sich formale und inhaltliche Strukturen einer von Barock, Aufklärung und absolutistischem Wohlfahrtsstaat geprägten Gesellschaft widerspiegeln. Dieser Begriff des decorum, obwohl zunächst im Kontext des frühaufklärerischen Naturrechtsdenkens entwickelt, strahlt als transdisziplinärer Normbegriff in zahlreiche gesellschaftliche Teilbereiche ab. Er prägt dort, etwa in der Musik1, der Rhetorik und besonders dem Komplimentierwesen2 oder dem Tanz3, ästhetische Ideale und – damit untrennbar verbunden – insbesondere die Bewertungsmaßstäbe der Kritik. Der decorum-Begriff wirkt insofern in hohem Maße stilbildend für zahlreiche Wissenschaften und besonders die Künste. Im Folgenden sollen aus rechtshistorischer Sicht einige Beobachtungen zu jener Normtheorie gemacht werden, von der das Tagungsexposé mit guten Gründen vermutet, sie könnte auch das Regelverständnis in der Musik um 1700 beeinflusst haben. Dabei werden fünf Punkte angesprochen: Im ersten Teil möchte ich einige Ausführungen zum historischen Normbegriff des decorum und seinen Entstehungskontexten im säkularen Naturrecht der Frühaufklärung machen. Im zweiten Teil wird eine kurze Analyse der formalen Normstruktur unternommen. Eine Skizze zu den materiellen Inhalten schließt sich drittens an. __________ 1
2
3
Anselm Bayly: The Alliance of Musick, Poetry and Oratory. London 1789, S. 169: decorum als Norm. – Siehe nun die Beiträge dieses Bandes. Manfred Beetz: Frühmoderne Höflichkeit. Komplimentierkunst und Gesellschaftsrituale im altdeutschen Sprachraum. Stuttgart 1990 (Germanistische Abhandlungen 67), passim. Gottfried Taubert: Rechtschaffener Tantzmeister, oder gründliche Erklärung der Frantzösischen Tantz-Künste: bestehend in drey Büchern. Leipzig 1717, I 20, S. 140: decorum als Norm.
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Viertens komme ich auf die Frage von Normimplementation und Sanktion zu sprechen. Der fünfte und letzte Teil bietet ein Resümee an.
I. Ius decori: Der Kontext des säkularen Naturrechts Christian Thomasius, dessen dreihundertfünfzigster Todestag 2005 begangen wurde,4 ist so etwas wie die personalisierte Verkörperung der Aufklärung. Einen deutschen Gelehrten ohne Misere nannte ihn Ernst Bloch in seiner populär gewordenen Formel.5 Die Tatsache, dass die decorum-Theorie des 18. Jahrhunderts maßgeblich von ihm geprägt wurde, legt die Vermutung nahe, sie hätte auch in inhaltlicher Hinsicht etwas mit Aufklärung zu tun. Bevor man hier Thesen formuliert, ist es sinnvoll, die Theorie in ihre elementaren Punkten zu skizzieren, und das soll – so gut man diesen Aspekt überhaupt isolieren kann – aus juristischer Sicht geschehen.6 Dass dieses Unterfangen Thomasius nicht ganz in ein falsches Licht rücken würde, kann man schon an der Tatsache ablesen, dass er nicht nur selbst Jurist war, sondern dass die beiden maßgeblichen Stellen, in denen er die decorum-Theorie entwickelt, sich in an Juristen adressierten Schriften befinden. Es sind dies 1699 sein in Halle erschienener Summarischer Entwurff Derer Grund-Lehren / Die einem Studioso Juris zu wissen / und auff Universitäten zu lernen nöthig / nach welchen D. CHRISTIAN THOMAS. künfftig / so GOtt will Lectiones privatissimas zu Halle in vier unterschiedenen Collegiis anzustellen gesonnen ist7 sowie einige Jahre später die 1710 zunächst auf Latein erschie__________ 4
5 6
7
Miloš Vec: Aufklärungsforschung ohne Misere. Geburtstagsblatt für Christian Thomasius (1655–1728). In: Zeitschrift für Europäisches Privatrecht 2005, S. 814–820 mit weiteren Nachweisen. – Eine Auswahl der wichtigsten Buchpublikationen der vergangenen Jahre: Peter Schröder: Christian Thomasius zur Einführung. Hamburg 1999; ders.: Naturrecht und absolutistisches Staatsrecht. Eine vergleichende Studie zu Thomas Hobbes und Christian Thomasius. Berlin 2001; Martin Kühnel: Das politische Denken von Christian Thomasius. Staat, Gesellschaft, Bürger. Berlin 2001; Klaus-Gert Lutterbeck: Staat und Gesellschaft bei Christian Thomasius und Christian Wolff. Eine historische Untersuchung in systematischer Absicht. Stuttgart-Bad Cannstatt 2002; Manfred Beetz und Herbert Jaumann (Hg.): Thomasius im literarischen Feld. Neue Beiträge zur Erforschung seines Werkes im historischen Kontext. Tübingen 2003; Georg Steinberg: Christian Thomasius als Naturrechtslehrer. Köln 2005; Francesco Tomasoni: Christian Thomasius. Spirito e identità culturale alle soglie dell’illuminismo europeo. Brescia 2005; Heiner Lück (Hg.): Christian Thomasius (1655–1728). Wegbereiter moderner Rechtskultur und Juristenausbildung. Rechtswissenschaftliches Symposium zu seinem 350. Geburtstag an der Juristischen Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Hildesheim u.a. 2006. Ernst Bloch: Christian Thomasius, ein deutscher Gelehrter ohne Misere. Berlin 1953. Siehe ferner die Beiträge von Rainer Bayreuther und Alexander Aichele in diesem Band. – Zum Verhältnis der Fächer: Frank Grunert: Der Jurist als Philosoph. Zur Disziplinendifferenzierung und Disziplineninterferenz bei Christian Thomasius. In: Lück (Anm. 4), S. 151–172. Christian Thomasius: Summarischer Entwurff Derer Grund-Lehren / Die einem Studioso Juris zu wissen / und auff Universitäten zu lernen nöthig / nach welchen D. CHRISTIAN
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nenen Cautelen8, die 1713 erstmals ins Deutsche übersetzt wurden und 1729 eine zweite Auflage erlebten: Höchstnöthige Cautelen Welche ein Studiosus Juris, Der sich zu Erlernung Der Rechts-Gelahrtheit Auf eine kluge und geschickte Weise vorbereiten will / zu beobachten hat.9 Ausgaben in beiden Sprachen sind dankenswerter Weise von Friedrich Vollhardt im Rahmen der Nachdrucke der Thomasius-Werke bei Olms neu herausgegeben worden.10 Parallel zu diesen und früheren Schriften hält Thomasius propädeutische Kurse und Vorlesungen, in denen er sich mit dem – so die Veranstaltungsankündigungen – »ius decori« auseinandersetzt.11 Erste Begriffsverwendungen in gedruckten Werken datieren bei ihm zurück auf 1689.12 Thomasius wendet sich also an Juristen. Die decorum-Lehre ist aber dennoch keine spezifisch juristische Theorie. Im Gegenteil, die Berührungspunkte des decorum zum Recht sind isoliert und einigermaßen klar zu identifizieren. Es handelt sich inhaltlich und formell vielfach um präzisierende Abgrenzungen. Heute finden sich vergleichbare Reflexionen am ehesten in der juristischen Grundlagenliteratur, wo das Verhältnis des Rechts zu anderen Normativitäten problematisiert wird.13 Denn die decorum-Lehre, die Thomasius um 1700 entwickelt, ist eine allgemeine Lehre über angemessenes äußerliches Verhalten, die das Spezifische dieser Normativität14 gerade gegenüber Recht und Moral betont. Thomasius entwickelt sie aber systematisch aus seinem umfassenden Naturrechtssystem heraus. __________
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THOMAS. künfftig / so GOtt will Lectiones privatissimas zu Halle in vier unterschiedenen Collegiis anzustellen gesonnen ist. Halle 1699. Reprint Aalen 1979, I 16, S. 113–120 zum decorum. Christian Thomasius: Cautelae circa praecognita iurisprudentiae in usum auditorii Thomasiani. Halle 1710, XV, S. 236–262 zum decorum. Herrn Christian Thomasens [...] Höchstnöthige Cautelen Welche ein Studiosus Juris, Der sich zur Erlernung Der Rechts-Gelahrtheit Auff eine kluge und geschickte Weise vorbereiten will, zu beobachten hat: Nebst Einem dreyfachen und vollkommenen Register. Halle 1729, 15, S. 364–405 zum decorum. Christian Thomasius: Cautelae circa praecognita iurisprudentiae in usum auditorii Thomasiani. Nachdruck der Ausgabe Halle 1710. Hg. und mit einem Vorwort versehen von Friedrich Vollhardt. Personen- und Sachregister von Sigrid Schunk. Hildesheim 2006 (Christian Thomasius: Ausgewählte Werke. Hg. von Werner Schneiders. Hildesheim und New York 1993ff., Bd. 19); ders.: Cautelen zur Erlernung der Rechtsgelehrtheit. Hg. und mit einem Vorwort versehen von Friedrich Vollhardt. Personen- und Sachregister von Stefanie Kießling. Reprint der Ausgabe Halle 1713. Hildesheim 2006 (Thomasius: Ausgewählte Werke, Bd. 20). Nachweise bei Steinberg (Anm. 4), S. 110ff. Kühnel (Anm. 4), S. 193. Thomas Vesting: Rechtstheorie. Ein Studienbuch. München 2007, § 2 (S. 17–34); Bernd Rüthers: Rechtstheorie. Begriff, Geltung und Anwendung des Rechts. München 1999, Rz. 92ff.; Klaus F. Röhl: Allgemeine Rechtslehre. Köln 22001, S. 178ff., S. 267ff.; ders.: Rechtssoziologie. Köln 1987, S. 199ff.; Thomas Raiser: Das lebende Recht. Rechtssoziologie in Deutschland. Baden-Baden 31999, S. 190–206. Zum historischen Normbegriff um 1700 siehe den Beitrag von Rainer Bayreuther in diesem Band.
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Wie soll man sich das vorstellen, und was bedeutet Naturrecht in diesem Sinne? Das frühneuzeitliche Naturrecht,15 so könnte man in aller Knappheit formulieren, ist eine Methode, mit welcher Vertreter verschiedener Fächer Rechts-, Staats- und Gesellschaftsphilosophie betreiben. Am Ausgang des 17. Jahrhunderts und in der Nachfolge des 1694 verstorbenen Samuel von Pufendorf befindet man sich in der Epoche des säkularen Naturrechts.16 Thomasius wie Pufendorf entwickeln mit ihren Naturrechtssystemen theoretische Ordnungsmodelle, die Gesellschaftsethik, Moralphilosophie und vor allem Rechts- und Staatslehre beinhalten. Aus höchsten Prinzipien werden von den zeitgenössischen Autoren einzelne, mitunter recht detaillierte Normen abgeleitet – die etwa bei Christian Wolff hinabreichen bis zu einzelnen Bestimmungen des Pacht-, Wechsel- und Lotterierechts.17 Die Ge- und Verbote, welche die Autoren in ihren Naturrechtstraktaten formulieren, gelten ›von Natur‹ aus und werden durch die menschliche Vernunft erschlossen, es bedarf also grundsätzlich keines irdischen Normsetzers, um ihnen Verpflichtungskraft zu verschaffen. Zugleich sollen diese Normen am Ende des Jahrhunderts der mitteleuropäischen Religionskriege autonom gegenüber theologischen Dogmen formuliert sein. Es handelt sich also um einen umfassenden Normbegriff, der unabhängig vom staatlichen Gesetz das rechte Handeln postuliert. Dieses Sollen kann staatliches Handeln legitimieren, wo positives Recht und Naturrecht zum gleichen Ergebnis kommen.18 Es kann aber auch einen Bewertungsmaßstab abgeben, wo Herrschafts- und Obrigkeitskritik geübt werden soll.19 Wie dieses Naturrecht seine Sätze gewinnt, wird ebenfalls nicht einheitlich gesehen und von den Autoren methodisch unterschiedlich gehandhabt. Und schließlich ist auch deren Inhalt unter den Autoren umstritten. __________ 15
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Eine Auswahl aus der reichen Literatur: Michael Stolleis: Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland. Bd. 1: Reichspublizistik und Policeywissenschaft 1600–1800. München 1988, bes. S. 268ff.; Timothy J. Hochstrasser: Natural Law Theories in the Early Enlightenment. Cambridge 2000 (Ideas in Context 58); ders. und Peter Schröder (Hg.): Early Modern Natural Law Theories. Contexts and Strategies in the Early Enlightenment. Dordrecht, Boston und London 2003 (Archives internationales d'histoire des idées 186); Jan Schröder: Recht als Wissenschaft. Geschichte der juristischen Methode vom Humanismus bis zur historischen Schule. München 2001, bes. S. 100ff. und passim; Diethelm Klippel (Hg.): Naturrecht und Staat. Politische Funktionen des europäischen Naturrechts (17.–19. Jahrhundert). München 2006. Friedrich Vollhardt: Selbstliebe und Geselligkeit. Untersuchungen zum Verhältnis von naturrechtlichem Denken und moraldidaktischer Literatur im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen 2001; Horst Denzer: Moralphilosophie und Naturrecht bei Samuel Pufendorf. Eine geistes- und wissenschaftsgeschichtliche Untersuchung zur Geburt des Naturrechts aus der praktischen Philosophie. München 1972. Christian Wolff: Grundsätze des Natur- und Völkerrechts, worin alle Verbindlichkeiten und alle Rechte aus der Natur des Menschen in einem beständigen Zusammenhange hergeleitet werden. Hg. von Christian Freiherr von Wolff. aus dem Lateinischen ins Teutsche übersetzt. Halle 1769, § 638 (S. 419f.), §§ 655ff. (S. 431ff.), §§ 673ff. (S. 451ff.). Stolleis (Anm. 15), S. 269f. Diethelm Klippel: Politische Freiheit und Freiheitsrechte im deutschen Naturrecht des 18. Jahrhunderts. Paderborn 1976.
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Man sieht: Das frühneuzeitliche Naturrecht ist ein geräumiger Ort, um Entwürfe einer Staats- und Gesellschaftsordnung vorzulegen, die mit einer eindringlichen Verpflichtungskraft ausgestattet sind, aber von Autor zu Autor ihren Inhalt wechseln. Die aus dem Naturrecht deduzierten Sätze genießen im 18. Jahrhundert noch den Status geltenden Rechts – ein Privileg, das ihnen die Historische Rechtsschule des 19. Jahrhunderts nachhaltig aberkennen wird.20 Thomasius nimmt gegenüber seinem berühmten Vorgänger Pufendorf allerdings eine theoretische Verschärfung dieses Normkomplexes vor. Sie betrifft die Struktur der Binnendifferenzierung des Naturrechts. Ich halte diese Verschärfung für so innovativ und originell,21 dass man Thomasius als den eigentlichen Begründer dieser Lehre ansehen sollte,22 auch wenn sich Vorläuferfiguren finden. Denn Thomasius unterteilt den Normenkosmos des Naturrechts in drei Bereiche: Erstens justum, zweitens honestum und drittens decorum.23 Zahlreiche __________ 20
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Jan Schröder (Anm. 15), S. 104 (für das 18. Jahrhundert) bzw. S. 202 (Eliminierung des Naturrechts aus dem Rechtsquellensystem im 19. Jahrhundert). Zur Historischen Rechtsschule: Joachim Rückert: Die Historische Rechtsschule nach 200 Jahren – Mythos, Legende, Botschaft. In: Juristenzeitung 2010, S. 1-9 (m.w.N.). Miloš Vec: Zeremonialwissenschaft im Fürstenstaat. Studien zur juristischen und politischen Theorie absolutistischer Herrschaftsrepräsentation. Frankfurt a.M. 1998, S. 49– 54; ders.: Juristische Normen des Anstands. Zur Ausdifferenzierung und Konvergenz von Recht und Sitte bei Christian Thomasius. In: Reiner Schulze (Hg.): Rechtssymbolik und Wertevermittlung. Berlin 2004 (Schriften zur europäischen Rechts- und Verfassungsgeschichte 47), S. 69–100. So auch Jan Schröder (Anm. 15), S. 103; Matthias Kaufmann: Das Decorum: Grundlage oder Folgeerscheinung des Rechts? In: Christian Thomasius (1655–1728). Wegbereiter moderner Rechtskultur und Juristenausbildung. Hg. von Heiner Lück. Hildesheim u.a. 2006, S. 27–38, hier: S. 31; Stephan Buchholz: Recht, Religion und Ehe. Orientierungswandel und gelehrte Kontroversen im Übergang vom 17. zum 18. Jahrhundert. Frankfurt a.M. 1988, S. 177; Merio Scattola: Prudentia se ipsum et statum suum conservandi. Die Klugheit in der praktischen Philosophie der frühen Neuzeit. In: Christian Thomasius (1655–1728). Neue Forschungen im Kontext der Frühaufklärung. Hg. von Friedrich Vollhardt. Tübingen 1997, S. 333–363, hier: S. 350. Christian Thomasius: Grund-Lehren des Natur- und Völcker-Rechts. Halle 1709 (Thomasius: Ausgewählte Werke. Hg. von Werner Schneiders. Hildesheim und New York 1993ff., Bd. 18), VI, S. 108–124. Noch nicht aber entwickelt in ders.: Institutiones Jurisprudentiæ Divinæ, In Positiones succinctè contractæ, In quibus Hypotheses Illustres Pufendorfii circa doctrinam Juris Naturalis Apodicticè demonstrantur & corroborantur, præcepta vero Juris Divini Positivi Universalis primùm à Jure Naturali distinctè secernuntur, & perspicuè explicantur. His præmissa est Dissertatio Prooemialis & magnam partem Apologetica. Frankfurt a.M. 1688, übersetzt als: Drey Bücher der Göttlichen Rechtsgelahrheit / In welchen Die Grundsätze des natürl. Rechts nach denen von dem Freyherrn von Pufendorff gezeigten Lehrsätzen deutlich bewiesen / weiter ausgearbeitet / Und von denen Einwürffen der Gegner desselben Sonderlich Herrn D. Valentin Alberti befreyet / auch zugleich die Grundsätze der Göttlichen allgemeinen geoffenbarten Gesetze gezeiget werden. Nebst des Herrn Autoris allerneusten Grundlehren des Natur und Völcker Rechts In das Teutsche übersetzet mit einer Vorrede Ephraim Gerhards Von denen Hindernüssen der natürlichen Rechtsgelahrheit / und dem Nutzen dieser deutschen Übersetzung. Halle 1709, Reprint Hildesheim 2001 (Thomasius: Ausgewählte Werke Bd. 4, mit einem Vorwort von Frank Grunert).
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Naturrechtslehrer des achtzehnten Jahrhundert werden ihm darin folgen und diese Trias in ihren Werken wiederholen, differenzieren oder korrigieren.24 Danach verschwindet die Dreiteilung in verblüffend umfassender Weise; in den Naturrechtslehrbüchern und der praktischen Philosophie des 19. Jahrhunderts findet sich von ihr keine Spur25 oder Ablehnung26. Bereits sachlich-neutrale oder historisierende Darstellungen wie jene Friedrich Julius Stahls27 bilden eine Ausnahme. Die frühaufklärerische Trennung in justum, honestum und decorum wird sich somit als eine spezifisch im Jahrhundert der Aufklärung wirkungsmächtige Idee erweisen. Ob für dieses Verschwinden, wie manche vermuten, die »sozialkonservativen Inhalte« ursächlich waren28 oder ob vielmehr andere Gründe den Ausschlag gaben, müsste noch genauer geklärt werden. __________ 24
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Frank-Steffen Schmidt: Praktisches Naturrecht zwischen Thomasius und Wolff: Der Völkerrechtler Adam Friedrich Glafey (1692–1753). Baden-Baden 2007, bes. S. 125–129; Hinrich Rüping: Christian Thomasius und seine Schule im Geistesleben des 18. Jahrhunderts. In: Recht und Rechtswissenschaft im mitteldeutschen Raum. Symposion für Rolf Lieberwirth anläßlich seines 75. Geburtstages. Hg. von Heiner Lück. Köln 1998, S. 127–136; ders.: Theorie und Praxis bei Christian Thomasius. In: Stillstand, Erneuerung und Kontinuität. Einsprüche zur Preußenforschung. Hg. von Jörg Wolff. Frankfurt a.M. 2001, S. 35–49; ders.: Die Naturrechtslehre des Christian Thomasius und ihre Fortbildung in der Thomasius-Schule. Bonn 1968, S. 157ff. Ohne Treffer durchgesehen wurden: Ludwig Heinrich Jakob: Philosophische Rechtslehre oder Naturrecht. Halle 21802; Jakob Fries: Philosophische Rechtslehre und Kritik aller positiven Gesetzgebung mit Beleuchtung der gewöhnlichen Fehler in der Bearbeitung des Naturrechts. Jena 1803; Anton Bauer: Lehrbuch des Naturrechts. Marburg 1808; A[dalbert Bartholomäus] Kayssler: Grundsätze der theoretischen und praktischen Philosophie als Leitfaden zu Vorlesungen. Halle 1812; Theodor Maximilian Zachariae: Philosophische Rechtslehre oder Naturrecht und Staatslehre. Breslau 1820; Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821). Berlin 41956; Johann Christoph Hoffbauer: Naturrecht aus dem Begriffe des Rechts entwickelt. Merseburg 41825; Andreas Metz: Grundriß der Practischen Philosophie. Erster Band: Die allgemeine practische Philosophie, und von der besondern das erste Buch, das Naturrecht. Würzburg 1827 (mehr nicht erschienen); Clemens August von Droste-Hülshoff: Lehrbuch des Naturrechtes oder der Rechtsphilosophie. Bonn 21831; Friedrich Eduard Beneke: Grundlinien des Naturrechts, der Politik und des philosophischen Kriminalrechtes. Ein Versuch eines natürlichen Systemes dieser Wissenschaften. Berlin 1838; Heinrich Lauer: Die Philosophie des Rechts in ihren Grundzügen. Erster Theil. Mainz 1846 (mehr nicht erschienen); Heinrich Ahrens: Das Naturecht oder die Rechtsphilosophie nach dem gegenwärtigen Zustande dieser Wissenschaft in Deutschland. Braunschweig 1846; Friedrich Adolph Schilling: Lehrbuch des Naturrechts oder der philosophischen Rechtswissenschaft mit vergleichender Berücksichtigung positiver Rechtsbestimmungen. 2 Bde. Leipzig 1859 und 1863. Karl Heinrich von Gros: Lehrbuch der philosophischen Rechtswissenschaft oder des Naturrechts. Stuttgart 41821, § 16 (S. 10); Karl David August Röder: Grundzüge des Naturrechts oder der Rechtsfilosofie: Heidelberg 1846, § 26 Ziff. 1 (S. 82–86, bes. S. 85 in der Anm. *); dass., 2. Auflage. Leipzig 1860, Erste Abtheilung. Einleitung. Allgemeiner Theil, § 71 Ziff. 1 (S. 240–247, bes. S. 242 in der Anm. *). Friedrich Julius Stahl: Die Philosophie des Rechts. Erster Band: Geschichte der Rechtsphilosophie. Tübingen 51878, S. 184, S. 190. Erwähnungen ferner bei: Ferdinand Walter: Naturrecht und Politik im Lichte der Gegenwart. Bonn 1863, S. 566; August Geyer: Geschichte und System der Rechtsphilosophie in Grundzügen. Innsbruck 1863, 2, § 5 (S. 37); Adolf Lasson: System der Rechtsphilosophie. Berlin 1882, S. 94. Kühnel (Anm. 4), S. 231.
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Jeder dieser drei Bereiche bezeichnet eine eigene Art von Normativität, alle befinden sich aber unter dem weiten Dach des jus naturae. Wie sich das decorum strukturell gegenüber justum und honestum unterscheidet, wird im folgenden Punkt skizziert.
II. Analyse der formalen Normstruktur Thomasius’ Trennung in decorum, justum und honestum knüpft in der Bestimmung der drei Arten von Normen nicht an den Inhalten ihrer Ge- und Verbote an. Sie unterscheiden sich vielmehr durch ihre Anlage und Wirkungsweise oder eben Struktur. Beim decorum oder der »Wissenschafft der Wolanständigkeit« 29 begründet er die Autonomie gegenüber dem Recht damit, dass »nicht alles was recht ist / und was man zu thun Macht hat / sich allemahl wohl schicket und wohlanständig ist«.30 Auch gegenüber der Moral benennt Thomasius Abgrenzungskriterien. Die decorum-Norm ist also nicht im Code Recht/Unrecht codiert, sondern durch das Gegensatzpaar schicklich/unschicklich oder wohlanständig/nicht wohlanständig definiert. Das decorum ist der Inbegriff des Anständigen oder Wohlanständigen,31 Verstöße gegen die decorum-Norm sind also als »unanständig« zu bezeichnen. Decorum-Normen sind demnach keine Rechtssätze. Sie werden auch prinzipiell nicht durch obrigkeitlichen Zwang exekutiert. Dennoch erkennt man in Thomasius’ Normtheorie schnell die gesellschaftlich fundamentale Bedeutung der Normen. Thomasius selbst meint, »ohne diese Lehre werden die Leute entweder unverschämt / und verursachen durch ihre unverschämte Aufführung allerhand Unruh in der Republique, oder sie werden gar zu schamhafftig und blöde / daß man im gemeinen Leben nicht mehr mit ihnen anfangen kan.«32 Hier sieht man musterhaft, warum die decorum-Lehre einerseits Teil des Naturrechtsdiskurses, andererseits keine genuin juristische Theorie ist. Denn es geht im Kern um die Herstellung von Sozialität. Das decorum gewährleistet die tatsächliche Geselligkeit und Gesellschaftsfähigkeit der Menschen. Würden wir das decorum nicht beherrschen, wäre an ein Gemeinschaftsleben nicht zu denken. Zwei Abweichungen vertypt Thomasius: erstens den decorum-Verstoß der Unverschämtheit als des mangelnden Schamgefühls und zweitens den der __________ 29 30 31
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Thomasius (Anm. 8), XV, § 3, S. 365. Ebd. Deswegen fungieren die Begriffe auch als Synonyme. Siehe: Deutsche Encyclopädie oder Allgemeines Real-Wörterbuch aller Künste und Wissenschaften. 6. Band. Frankfurt a.M. 1782, S. 834: Das Stichwort decorum verweist auf »Anständig, auch Wohlstand«. Der Band mit dem Buchstaben W wird jedoch nie erscheinen, die decorum-Lehre wurde hauptsächlich in Band 1, Frankfurt a.M. 1782, 1778, S. 540, abgehandelt: »Anständig, heißt alles Schickliche, insonderheit aber in so fern es sich auf die Sitten bezieht. […].« Thomasius (Anm. 8), XV, § 7, S. 367.
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Verschämtheit als eines übertriebenen Schamgefühls. Scham ist somit die anthropologische Basis des decorum.33 Der Philosoph Johann Georg Heinrich Feder wird später sogar von einem »Trieb zum Wohlanständigen« sprechen.34 Die Regulierung des eigenen Schamgefühls obliegt in allen Fällen dem Individuum, kein Richter und keine Obrigkeit sanktionieren Abweichungen im Haushalt der Affekte, auch wenn die Konsequenzen Thomasius zufolge weit reichen. Es geht bei der decorum-Theorie vielmehr um die analytische Durchdringung eines autonomen gesellschaftlichen Raumes, in dem das Kriterium und die Konsequenzen der Angemessenheit äußerlichen Verhaltens reflektiert werden. Eine juristische Verbindlichkeit steht nicht hinter den Normen – soweit zumindest der erste Eindruck. Dass es tatsächlich im Verhältnis von Obrigkeit, Recht und decorum komplizierter zugeht und dass diese sich doch vielfach um die Durchsetzung von decorum-Normen kümmern, wird unten (IV.) verdeutlicht werden. Bleiben wir aber vorerst bei den Grundlinien bzw. der Struktur der decorumNormen. Sie haben, wie gesehen, fundamentale Bedeutung für das menschliche Zusammenleben. Wie sie durchgesetzt oder befolgt werden, möchte ich später ausführen. Aber wie werden sie eigentlich gesetzt? Hier findet man bei Thomasius keine befriedigende Antwort. Über die Entstehung jener Manierlichkeit, deren Existenz für das Zusammenleben so zentral ist, lässt uns Thomasius weitgehend im Dunkeln. Ihm geht es offensichtlich primär um Bekräftigung ihrer Bedeutung, Abgrenzung zu anderen Normtypen und Durchsetzung ihrer vernünftigen Gebote. Die Theorie hat dabei etwas latent Affirmatives gegenüber den Gepflogenheiten, die man gesellschaftlich beobachten kann.35 Sie ist zum Zeitpunkt ihrer Entstehung eine der ständestaatlichen Ordnung, ihren Hierarchien und zugehörigen Zeichensystemen36 gegenüber nicht nur tolerante, sondern sie bekräftigende und im Grundsatz rechtfertigende Theorie, weil sie in __________ 33
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So auch: Johann Jacob Schmauss: Neues Systema des Rechts der Natur. Göttingen 1754 (Reprint, eingeleitet von Marcel Senn. Goldbach 1999), III 12, S. 467: »Das Decorum hat zum Grund eine Schamhafftigkeit, und supponiret vornehmlich statum societatum civilium, […].« Zur »Installierung eines decorum-Gewissens« Thomas Rahn: »Festbeschreibung.« Funktion und Topik einer Textsorte am Beispiel der Beschreibung höfischer Hochzeiten (1568–1794). Tübingen 2006 (Frühe Neuzeit 108), S. 13. Johann Georg Heinrich Feder: Grundlehren zur Kenntnis des Menschlichen Willens und der natürlichen Gesetze des Rechtverhaltens. Göttingen 31789, Allgemeine Praktische Philosophie, § 27 (S. 46f.). So auch Kühnel (Anm. 4), S. 200ff., bes. S. 209 und S. 229. Thomas Weller: Theatrum Praecedentiae. Zeremonieller Rang und gesellschaftliche Ordnung in der frühneuzeitlichen Stadt: Leipzig 1500–1800. Darmstadt 2006; Rahn (Anm. 33); Marian Füssel: Gelehrtenkultur als symbolische Praxis. Rang, Ritual und Konflikt an der Universität der Frühen Neuzeit. Darmstadt 2006; André Krischer: Reichsstädte in der Fürstengesellschaft. Politischer Zeichengebrauch in der Frühen Neuzeit. Darmstadt 2006; Barbara Stollberg-Rilinger: Zeremoniell als politisches Verfahren. Rangordnung und Rangstreit als Strukturmerkmale des frühneuzeitlichen Reichstags. In: Neue Studien zur frühneuzeitlichen Reichsgeschichte. Hg. von Johannes Kunisch. Berlin 1997, S. 91–132; Marian Füssel und Thomas Weller (Hg.): Ordnung und Distinktion. Praktiken sozialer Repräsentation in der ständischen Gesellschaft. Münster 2005.
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abstrakter Weise den Wert gesellschaftlicher Differenz und von Standesgrenzen akzentuiert. Soziale, sinnlich wahrnehmbare Unterschiede werden in abstrakter Weise gut geheißen, den Lesern gegenüber werden ihre positiven Funktionen betont.37 Die Anleitung erscheint in dem Sinne daher zunächst inhaltlich blind, da Thomasius von der Normstruktur ausgeht und sich mit ihr auseinandersetzt, wobei er besondere Akzente auf die Bedeutung der Normbefolgung legt. Die Akzentuierung der gesellschaftlichen Funktion und des Nutzens dieses Normenkomplexes stehen im Vordergrund.
III. Französische Galanterie als ideale Gesellschaftsethik: Der Regelungsgegenstand des decorum Thomasius zufolge ist der Regelungsbereich der decorum-Normen außerordentlich weit. Es stellt sich eigentlich geradezu die Frage, was nicht Gegenstand von decorum-Vorschriften sein kann. Thomasius bekundet, dass »das Decorum so vielerley / als vielerley das Menschliche Thun und Lassen selbst sey.«38 Wie vielfältig dies tatsächlich sein kann, bleibt aber nicht der Phantasie des Lesers überlassen. Thomasius macht wiederholt illustrierende Aussagen zum Geltungsbereich. Nach Personen und Berufen geordnet, betrifft das decorum bei Thomasius: Bauern, Land- und Edelleute, Pfarrer, Tagelöhner, Handwerker, Kaufleute, Prediger, Professoren, Studenten, Gerichtspersonen, Hofleute, Fürsten, Abgesandte, Soldaten etc.39 An anderer Stelle vertypt Thomasius die Situationen, auf die sich das decorum bezieht. Demnach bestehen decorum-Normen für das Ankleiden, für die Kleidung, für Speise und Trank, für Wohnung und Hausrat, für die vertrauliche Konversation, für die nicht vertrauliche Konversation, in der Kirche, bei Hofe, auf dem Rathaus, beim Nachtmahl, bei der Taufe, bei Predigten, bei Hochzeiten, Begräbnissen etc.40 Man könnte aber auch das decorum im Hinblick auf körperliche Verhaltensformen typisieren, und dann gibt es nach Thomasius ein »decoro an denen Gliedmassen und Theilen des Menschlichen Leibes«,41 ein __________ 37 38 39
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Vec: Juristische Normen des Anstands (Anm. 21), S. 92–100. Thomasius (Anm. 7), I 16, § 51, S. 119. Christian Thomasius: Erinnerung Wegen zweyer Collegiorum über den Vierdten Theil Seiner Grund-Lehren / Nemlich über die Historische Vorstellung des Kirchen-Staats / Und dann über die Erklärung des Rechts des Lehr-Standes / Ingleichen wegen noch eines Collegii, über den hochseeligen Herrn von Seckendorff Teutscher Fürsten-Staat / Nebst kürtzlicher Vorstellung seiner bißherigen öffentlichen Lectionum, Von Recht der Politischen und Christlichen Erbarkeit. In: Ders.: Außerlesener Und dazu gehöriger Schrifften Zweyther Theil. Frankfurt und Leipzig 1714 (Thomasius: Ausgewählte Schriften Bd. 24), S. 221–252, hier: S. 234. Ebd., S. 234f. Thomasius (Anm. 7), I 16, § 52, S. 119.
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»decoro im Gang Bewegungen des Leibes / Spielen / Exercitien u.s.f.«42 und auch eines »in Reden in der Materie davon / und in der Art und Weise wie man redet«43. Das decorum normiert demnach zahllose Bereiche menschlichen Verhaltens; Ausschließungen oder Ausgrenzungen werden hinsichtlich der Regelungsgegenstände nicht vorgenommen. Das decorum ist sogar im Gegenteil als analogiefähig zu bezeichnen, als offen für Erweiterungen seiner Normen für nicht ausdrücklich genannte Lebensbereiche. Diese Normen gesellschaftlichen Wohlverhaltens gewinnen aber schärfer an inhaltlicher Kontur, wenn man das Wortfeld betrachtet, das Thomasius verwendet. Denn der Zentralbegriff des decorum44 besitzt bei Thomasius ausdrückliche und faktische Synonyme. Dazu gehören die Begriffe, die Thomasius selbst einsetzt oder die er als mögliche Begriffsalternativen diskutiert. Er spricht von »Manierlichkeit«45 bzw. »manierlichem Wandel«46 oder »manierlichem Leben«47, von »Landessitten«48 oder »Artigkeit«49, von »Erbarkeit«50, »Ehrbezeigung«51, »Höfflichkeit«52, »Zierlichkeit«53, »mode«54, »bienséance«55, »honnêteté«56, »galanterie«57, »Complaisance«58 und schließlich »Ceremonien«59. Man sieht dabei, welche Art von Sozialität sich hier entfalten soll. Die decorum-Theorie des Thomasius ist eng verbunden mit dem vormodernen Höflichkeitsdiskurs, wie ihn besonders der Hallenser Aufklärungsforscher Manfred Beetz nachgezeichnet hat.60 Dessen Kennzeichen sind auch maßgebliche __________ 42 43 44
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Ebd. Ebd. Christian Thomasius: Von der Kunst Vernünfftig und Tugendhafft zu lieben. Als dem einzigen Mittel zu einem glückseligen / galanten und vergnügten Leben zu gelangen / Oder Einleitung zur Sittenlehre. Halle 1692 (Thomasius: Ausgewählte Werke, Bd. 10), S. 29. Ebd., S. 101. Thomasius (Anm. 7), I 16, § 41, S. 118. Ebd., I 16, § 14, S. 115. Ebd., I 16, § 12, S. 114. Thomasius (Anm. 44), S. 101. Thomasius (Anm. 7), I 16, § 6, S. 114. Thomasius (Anm. 44), S. 29. Ebd. Thomasius (Anm. 7), I 16, § 6, S. 114. Ebd. Ebd. Ebd. Thomasius (Anm. 8), XV, § 8, S. 368. Thomasius (Anm. 44), S. 29. Thomasius (Anm. 7), I 16, § 21, S. 115; ders. (Anm. 8), XV, § 28, S. 376. Beetz (Anm. 2); ders.: Konversationskultur und Gesprächsregie in den »Monatsgesprächen«. In: Thomasius im literarischen Feld. Hg. von Manfred Beetz und Herbert Jaumann. Tübingen 2003 (Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung 20), S. 35–60; ders.: Ein neuentdeckter Lehrer der Conduite. Thomasius in der Geschichte der Gesellschaftsethik. In: Christian Thomasius 1655–1728. Hg. von Werner Schneiders. Hamburg 1989, S. 199–222. Siehe ferner: Volker Sinemus: Poetik und Rhetorik im frühmodernen deutschen Staat. Sozialgeschichtliche Bedingungen des Normenwandels im 17. Jahrhun-
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Stichworte für Thomasius. Dieser Diskurs ist zum einen im Sinne einer schichtbezogenen Ständelehre höfisch orientiert, er ist ferner geografisch an das als besonders manierlich erscheinende Vorbild Frankreich angelehnt. Das findet auch seinen Niederschlag in den Begriffen. Das höfische Element ist durch die vielfach verwendeten französischen Termini Bienséance, Honnêteté, Complaisance, Galanterie usw. vertreten,61 das höfische Element besonders stark durch den Begriff ›Ceremoniel‹.62 Er wird hier aber entgegen dem früheren und späteren (also auch heutigen) Wortverständnis auch auf Handlungen von Privatleuten ohne eine spezifisch herrschaftlich-repräsentative Funktion übertragen. ›Ceremoniel‹ weitet sich demnach im 18. Jahrhundert semantisch auch über jene Bereiche hinaus aus, die klassisch seinen Kern bildeten: die Kirche63, die internationalen Beziehungen und die Diplomatie64 sowie schließlich der Fürstenhof65. Einige Jahre später wird der Christian Wolff-Schüler Friedrich Friese den aus heutiger Sicht kurios erscheinenden Versuch unternehmen, den ›Ceremoniel‹-Begriff auch auf Handwerker-Sitten zu übertragen. Friese publiziert zu Beginn des 18. Jahrhunderts eine Serie von Kleinmonografien, die er zusammenbindet unter dem Haupttitel Der vornehmsten Künstler und Handwercker Ceremonial-Politica, Erster Theil, 1708. Sie beschäftigen sich im Einzelnen mit dem Ceremoniell der Beutler, 1705 erschienen. Ihm folgen: Ceremoniell der Böttger, 1705; Ceremoniell der Drechßler, 1705; Tischer, 1705; Kürschner, 1707; Schuster, 1707; Buchbinder, 1708; Messer-Schmiede, 1708; Schmiede, 1708; Schneider, 1708; Fleisch-Hauer, 1708; Trompeter und Paucker, o.J. (1708); Huthmacher, 1710; Töpffer, o.J.; Weißgerber, o.J.; Buchbinder, 1712; __________
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dert. Göttingen 1978 (Palaestra 269); Wilfried Barner: Barockrhetorik. Untersuchungen zu ihren geschichtlichen Grundlagen. Tübingen 1970. Zum Galanterieverständnis siehe den Beitrag von Alexander Aichele in diesem Band, bes. Abschnitt I. Zum Begriffsverständnis im frühen 18. Jahrhundert Vec: Zeremonialwissenschaft im Fürstenstaat (Anm. 21), S. 15–137. Gregorius Rippel: Alterthum, Ursprung, und Bedeutung Aller Cerimonien / Gebraeuchen / und Gewohnheiten der Heil. katholischen Kirche, welche in, und ausser den Kirchen, bey allen Gottesdiensten / Genuss der H.H. Sacramenten / Andachten / Processionen, Weihungen, und andern Solennitaeten, das Jahr hindurch auf Sonn- und Feyertage, wie auch zu allen andern Zeiten ueblich sind. Augsburg und Freiburg i.Br. 81772. Johann Jacob Moser: Beyträge zu dem neuesten Europäischen Völckerrecht in FridensZeiten, Zweyter Theil: Vom Ceremoniel. O.O. (Tübingen) 1778. Gottfried Stieve: Europäisches Hof-Ceremoniel, In welchem Nachricht gegeben wird, Was es für eine Beschaffenheit habe mit der Praerogativa und dem aus selbiger fliessenden Ceremoniel, Welches Zwischen Kayser- und Königl. Majestäten, Churfürsten, Cardinälen, Fürsten und freyen Republiquen, dero Gesandten und Abgesandten beobachtet wird, Nebst beygefügtem Unterricht Was ein Legatus à Latere, Nuncius Apostolicus, Ambassadeur, Envoyé, Plenipotentarius, Commissarius, Resident, Agent, Secretatrius, Deputatus, Consul, so wohl seiner Würde, als seinem Amte nach sey, und wie es mit derselben Character, Creditiv, Instruction, Passeport, Quartier, Inviolabilität, Immunität, Reception, Magnificentz, Titulatur &c. beschaffen, Auch was es wegen des Ceremoniels, auf FriedenSchlüssen und bey Höfen, für Mißhelligkeiten gegeben, zusammen getragen von Gottfried Stieve. Leipzig 11715, Leipzig 21723.
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Büchsenmacher, 1712; Kannengießer, 1714; Gürtler, 1715; Riemer, 1715; Seiler, 1715; Weiß-Becker, 1716. Außer der Reihe gibt es noch bei Friese die Historische Nachricht / von denen Merckwürdigen Ceremonien derer Altenburgischen Bauern, 1703. Kurz: Alle Stände haben ihr »Ceremoniell«. Man sieht, wie hier der höfisch geprägte ›Ceremoniel‹-Begriff zur einer schichtübergreifenden Norm ausgebaut werden soll. Auch Thomasius importiert durch seine zunächst sehr akademisch scheinende decorum-Theorie die französische Gesellschaftsethik des Barock in das säkulare Naturrecht der deutschen Aufklärung. Die Befolgung von Regeln des gesellschaftlichen Wohlgefallens, die durch die Oberschicht geprägt sind, wird zur allgemeinen Norm generalisiert. Im Dialog zwischen Thomasius, Wolff und anderen Aufklärern wird eine umfassende Repräsentations-Lehre konstruiert, die man nach den Buchtiteln eines Wolff-Schülers66 als ›Zeremonialwissenschaft‹ bezeichnen kann.67 Weil Thomasius sich in seiner decorum-Theorie kaum je auf die Ebene konkreter Normen begibt, muss man präziser eigentlich formulieren, dass die Befolgung von Regeln des gesellschaftlichen Wohlgefallens von ihm zur allgemeinen Meta-Norm erklärt wird. Es ist die Norm, die Normbefolgung anordnet. Eine alles andere dirigierende Grundnorm gewissermaßen. Dieser Verweis auf die Meta-Ebene ist auch deswegen wichtig, weil Thomasius damit eine abstrahierende Distanz zu konkreten Ge- und Verboten in seiner Theorie wahrt. Es gibt keine briefstellerartigen Ratschläge, man hört nichts über das korrekte Fechten, Reiten, Tanzen, über manierliche Gespräche mit Damen, Ranghöheren, Bedienten, über fürstliche Titulaturen und korrekte Anreden von Bürgergattinnen oder Gelehrten und dergleichen Quisquilien mehr. Das alles __________ 66
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Julius Bernhard von Rohr: Einleitung zur Ceremoniel-Wissenschafft Der Privat-Personen / Welche Die allgemeinen Regeln / die bey der Mode, den Titulaturen / dem Range / den Complimens, den Geberden, und bey Höfen überhaupt, als auch bei den geistl. Handlungen, in der Conversation, bey der Correspondenz, bey Visiten, Assembleen, Spielen, Umgang mit Dames, Gastereyen, Divertissements, Ausmeublirung der Zimmer, Kleidung, Equipage u.s.w. insonderheit dem Wohlstand nach von einem jungen teutschen Cavalier in Obacht zu nehmen / vorträgt, Einige Fehler entdecket und verbessert, und sie hin und wieder mit einigen moralischen und historischen Anmerckungen begleitet, abgefasset von Julio Bernhard von Rohr. Berlin 1728. Reprint Weinheim 1990, hg. und kommentiert von Gotthardt Frühsorge; Julius Bernhard von Rohr: Einleitung zur Ceremoniel-Wissenschafft Der großen Herren, die in vier besonderen Theilen Die meisten Ceremoniel-Handlungen / so die Europäischen Puissancen überhaupt / und die Teutschen Landes-Fürsten insonderheit, so wohl in ihren Häusern, in Ansehung ihrer selbst, ihrer Familie und Bedienten, als auch gegen ihre Mit-Regenten, und gegen ihre Unterthanen bey Krieges- und Friedens-Zeiten zu beobachten pflegen; Nebst den mancherley Arten der Divertissements vorträgt / sie so viel als möglich in allgemeine Regeln und Lehr-Sätze einschlüßt, und hin und wieder mit einigen historischen Anmerckungen aus dem alten und neuen Geschichten erläutert, ausgearbeitet von Julio Bernhard von Rohr. Berlin 21733. Reprint Weinheim 1990, hg. und kommentiert von Monika Schlechte. Dazu Vec: Zeremonialwissenschaft im Fürstenstaat (Anm. 21); ders.: Zeremonie, Zeremonialwissenschaft. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 12: W–Z. Basel 2005, Sp. 1301–1305; Volker Bauer: Hofökonomie. Der Diskurs über den Fürstenhof in Zeremonialwissenschaft, Hausväterliteratur und Kameralismus (Frühneuzeitstudien, Neue Folge 1). Weimar, Köln und Wien 1997.
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bleibt unausgesprochen, sei es, weil es selbstverständlich ist, sei es – und das ist meine Vermutung –, weil es keine Rolle spielt. Denn Thomasius will nicht Benimm-Lehrer im konkreten Detail sein, sondern ihm ist nur an der gedanklichen Abstraktion und der Generalisierung gelegen, eben an der Meta-Ebene der Ratschläge. Die decorum-Normsetzung vollzieht sich in kollektivistischer Weise durch die Gesellschaft selbst, nicht durch gelehrte Diskurse. Es gibt einen interessanten Aspekt dieses Verweises auf die Meta-Ebene: die Verzeitlichung der decorum-Normen. Indem Thomasius die Befolgung der decorum-Normen weitgehend unabhängig von ihren Inhalten fordert, eröffnet er auch bei den Normen die Möglichkeit wechselnder Inhalte, bzw. er erlaubt dem oder den Normsetzern wechselnde Inhaltsbestimmungen. Thomasius ist insofern decorum-Relativist. Das hört sich kompliziert an, es gibt aber ein kurzes zweisilbiges Wort, das den Sachverhalt, um den es geht, unübertroffen präzise ausdrückt: Mode. Mode ist nämlich genau jener Wechsel in den gesellschaftlichen Sitten, im decorum politicum, das weder nach den Prinzipien des Rechts noch denen der Moral als richtig oder falsch zu beurteilen ist. Es betrifft die Mitteldinge des Lebens, die Adiaphora, ein Verhalten, das kulturell so oder anders aussehen könnte und sowohl naturrechtlich als auch moralisch neutral ist.68 Mode bezeichnet die Verschiedenheit von Sitten nach Land und Zeit, Ständen und Situationen. Über die decorum-Lehre des Christian Thomasius dringt demnach die Idee der Mode in das frühaufklärerische deutsche Naturrecht ein, und zwar bemerkenswerter Weise nicht in einem modekritischen, sondern in einem modeaffirmativen Sinn. Das erkennen auch schon die Zeitgenossen, und die Erwähnungen sind durchaus kritisch.69 Die Befolgung von gesellschaftlichen Moden wird nämlich ausdrücklich in die decorum-Norm mit eingeschrieben, und nicht nur das, sie macht eigentlich den Kern des decorum politicum aus. Wie und warum das so ist, soll im nächsten Punkt dargelegt werden.
IV. Mode als Imperativ: Normdurchsetzung durch Nachahmung und Policey-Gesetze Während bei Thomasius der Normsetzer diffus bleibt, wird der Mechanismus der Normdurchsetzung mit besonderer Intensität diskutiert. Zu Anfang wurde bereits gezeigt, dass die Verstöße auf der subjektiven Seite des Täters auf einen __________ 68
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Für das decorum: Thomasius (Anm. 7), I 16, §§ 19–23, S. 115; ders. (Anm. 8), XV, §§ 22 und 28, S. 374 und S. 376. Dazu Scattola (Anm. 22), S. 333–363, hier: S. 353; Kaufmann (Anm. 22), S. 27–38, hier: S. 31. Schmidt (Anm. 24), S. 125, unter Verweis auf Adam Friedrich Glafey: Vernunfft- und Völcker-Recht, Worinnen Die Lehren dieser Wissenschaft auf demonstrative Gründe gesetzet / und selbigen die unter souverainen Völckern / wie auch denen gelehrten biß daher vorgefallene Strittigkeiten erörtert werden, Nebst einer Historie des vernünfftigen Rechts […]. Frankfurt a.M. 1723, II 2, § 60, S. 228.
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anormalen Affekthaushalt zurückgehen. Zu schwach oder zu stark ausgeprägte Schamhaftigkeit des Individuums führt zu Normverstößen und verhindert die Geselligkeit. Aber wie gelingt es dem angemessen regulierten Individuum, die Normen zu befolgen? Thomasius’ Antwort ist einfach: Nachahmung. Thomasius sagt in einem definitorischen Satz, das »manierliche Leben nach der gesunden Vernunfft« könne man dahingehend beschreiben, »daß es eine vernünfftige / und aus der Gefälligkeit entstandene Nachahmung sey derer Menschen von unserem Stande / die vor die vornehmsten und vortrefflichsten gehalten werden / in dem Thun und Lassen / daß denen allgemeinen Regeln der Erbarkeit / der Wohlanständigkeit / (Decori) und der Gerechtigkeit nicht zuwieder ist.«70 Das Individuum wird von Thomasius damit zur Beobachtung und Nachahmung gesellschaftlicher Bräuche angehalten und angeleitet. Diese Beobachtung und Nachahmung wird als Kern sich geziemenden, also höflichen Verhaltens ausgegeben. Die affirmativen und positivistischen Züge einer solchen Verhaltenslehre treten sprachlich immerhin deutlich hervor, wenn Thomasius ebenso kritisch wie relativierend davon spricht, dass es nur die für am Vortrefflichsten »gehaltenen« Menschen seien, die man manierlicherweise nachzuahmen habe. Damit wird höfliches, angemessenes Verhalten auf die Reproduktion und Affirmation tatsächlicher gesellschaftlicher Übung zurückgeführt, die Thomasius hier empfiehlt. Diese Übung ist bekanntermaßen dem Wandel unterworfen, und auch diese Mode gilt es daher nachzuahmen. Thomasius betont ausdrücklich die Veränderlichkeit der konkreten decorum-Normen, er historisiert das decorum.71 Nicht alle sind unveränderlich, manche Normen wie jene des »natürlichen Decorum« sind nicht in allen Fällen unveränderlich; andere hingegen wie die des »Decorum politicum« haben Thomasius zufolge viele Ausnahmen und unterliegen Gelegenheitsmodifikationen.72 Der Kern liegt stets bei der Bestätigung der Sozialnormen jenes Standes, dem man zugehörig ist oder zugehörig sein will. Immerhin, Thomasius formuliert ein gewichtiges Korrektiv, indem er das Gebot der ›Nachahmung‹ um das Adjektiv ›vernünftig‹ ergänzt. Nur vernünftige Nachahmung ist gefordert. Torheiten müssen damit nicht imitiert werden; es gibt keine gesellschaftliche Pflicht, sich um der Höflichkeit willen lächerlich zu machen. Wo aber keine nach den Grundsätzen der Vernunft geprüfte, erkennbare Lächerlichkeit herrscht, dort besteht die Pflicht zur Nachahmung. Also sind Moden in Maßen zu befolgen, um den höheren Zweck des Gefallens bei seinen Mitmenschen zu erreichen. Diese »Gefälligkeit« wird von Thomasius vielfach als zentraler Baustein der Sozialität betont.73 Dieses Gefallen stellt sich aber nur dort ein, wo das decorum nicht misslingt. Das Individuum kann die eigene Normverfehlung freilich kaum unbemerkt __________ 70 71 72 73
Thomasius (Anm. 8), XV, § 22, S. 374f. Steinberg (Anm. 4), S. 115. Thomasius (Anm. 8), XV, § 52, S. 387. Ebd., XV, § 38, Anm. q, S. 382.
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lassen, denn es gibt eine Instanz, die es ihm mitteilt. Diese Instanz ist das Schamgefühl: Bei gesellschaftlichen Verfehlungen schämt man sich. Als drohende Scham hat dieses Gefühl einen antizipatorisch regulierenden Aspekt: Die noch nicht eingetretene Scham ist eigentlich eine »Furcht wegen einer unanständigen und unehrbaren That verachtet zu werden.«74 Sie treibt uns laut Thomasius an, die Normen zu befolgen; ihr positives Gegenstück ist der »Wunsch nach Wertschätzung«75. So wird das gesellschaftlich so nützliche Gefallenwollen durch den individuellen menschlichen Affekthaushalt abgesichert, indem es zu allseitigem Wohlgefallen anleitet. Man könnte Thomasius noch lange zuhören und sich an den so plausiblen, pragmatischen und menschlichen Ausführungen erfreuen, die er über die Bedeutung guten Benehmens und guten Stils für die gesamtgesellschaftliche Harmonie entwickelt. Was wäre angemessener in einer Zeit, da die Wiederentdeckung guter Manieren heute unter dem karrieristisch-ökonomischen Banner des Eigennutzes betrieben wird? Machiavellismus und vergleichbare Klugheitslehren überlagern in diesem Genre die verhaltensethischen Ratschläge, die Sozialität herzustellen bestrebt sind. Bei Thomasius hingegen könnte man lernen, welche gesellschaftliche Bedeutung das decorum hat und warum es insofern ergänzend zu den Normen des Rechts ein gesellschaftliches Zusammenleben ermöglicht. Die Theorie des Thomasius ist aber im Hinblick auf die Gesellschaft nicht so autonom, wie man nach dem Vorgesagten vermuten könnte. Die Normsetzung soll zwar in anonymer, kollektivistischer Weise durch die Gesellschaft erfolgen, der menschliche Nachahmungstrieb und das Gefallen-Wollen garantieren als anthropologische Gegebenheiten die Normbefolgung, und der permanente Wandel wird ihr durch das Element der Mode eingeschrieben. Aber dennoch ist die decorum-Lehre durch Thomasius nicht rein gesellschaftsautonom konstruiert. Sie hat vielmehr ihre überraschend etatistischen Züge. Sie sind in einer Fußnote in den Cautelen versteckt. Dort kann man lesen, was auch passieren kann, wenn der Bürger das Nachahmungsgebot missachtet. Eigentlich ist er nun nicht Mitbürger, sondern Thomasius adressiert ihn als Untertan. Hier geht es konkret um die Nachahmung anderer Stände. Thomasius schreibt: Denn ahmet man eines geringern Standes-Sitten nach / so ist es eine Anzeige eines niederträchtigen / ahmet man aber die Sitten eines höhern Standes nach / so ists ein Zeichen eines hoffärtigen Gemüthes. Und ist ein solcher Sprung manchmal nicht nur unanständlich / sondern auch ungerecht und zu bestraffen / wenn z.e. Kleider / Speise etc. Ordnungen hat / oder wenn der Sprung von einem niedrigen Stand zu einem höhern gar zu groß ist. Inzwischen so ist das Indecorum oder Unanständigkeit von dieser letzten Art sehr gemein / und daher ist auch die grosse Pracht in Kleidern / auch Essen und Trincken / in Titulaturen / und Ceremonien durch böse Exempel / da sich nemlich Vornehme und Geringe einander angereitzet / immer mehr und mehr gestiegen.76 __________ 74 75 76
Ebd., XV, § 12, S. 370. Kaufmann (Anm. 22), S. 27. Thomasius (Anm. 8), XV, § 34, S. 380 f.
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Hier überlagert sich die am Ende formulierte Selbstbeobachtung und Selbstkritik des Barock, wonach eine historisch präzedenzlose Prachtsteigerung und Titelinflation eingetreten sei, mit dem obrigkeitlichen Regulierungsinstrumentarium, das angetreten ist, genau jene Missbräuche einzudämmen. Dies geschieht durch ein populäres Steuerungsinstrument der Vormoderne, durch Policeyordnungen, und zwar in Form der hier explizit genannten Kleider- und Aufwandsordnungen. Was das bedeutet, ist klärungsbedürftig, aber in einigen knappen Worten zu verdeutlichen: Im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation gab es eine Vielzahl von kommunalen und territorialen Obrigkeiten, die ihre politischen Ziele mit diesen Policeyordnungen durchzusetzen suchten. Die Ordnungen regulierten das Verhalten der Untertanen umfassend, sie wurden wiederholt, verschärft und ausdifferenziert, wie instruktive Fallstudien gezeigt haben.77 Die Ordnungen waren teils mit speziellen Materien umfasst, teils bündelten sie die Materien der »guten Policey«78 in größeren Gesetzeswerken. Die Regelungsmaterien reichten von der Wirtschaft79 über das Medizinalwesen,80 Aufwandsund Luxusverbote81 bis zur Regelung der innerfamiliären Beziehungen82; teils wurden auch einzelne Bevölkerungsgruppen gezielt angesprochen83: Es gab kaum einen Lebensbereich, der nicht durch entsprechende Normen verpoliceylicht wurde. Nach neueren Schätzungen ging die Gesamtzahl dieser Policeyordnungen in die quantitativ verblüffende Dimension von rund acht Millionen einzelner Gesetze, jedes wiederum zahlreiche Paragrafen umfassend. Dieser Punkt sei betont, um zu verdeutlichen, dass die Schnittmenge zwischen nicht-juristischen decorum-Normen und staatlichen Gesetzen doch
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Karl Härter: Policey und Strafjustiz in Kurmainz. Gesetzgebung, Normdurchsetzung und Sozialkontrolle im frühneuzeitlichen Territorialstaat. Frankfurt a.M. 2005; ders.: Entwicklung und Funktion der Policeygesetzgebung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation im 16. Jahrhundert. In: Ius Commune 20 (1993), S. 61–141. Thomas Simon: »Gute Policey« – Ordnungsleitbilder und Zielvorstellungen politischen Handelns in der Frühen Neuzeit. Frankfurt a.M. 2004; ders.: Recht und Ordnung in der Frühen Neuzeit. In: Rechtshistorisches Journal 13 (1994), S. 386ff. Thomas Dehesselles: Policey, Handel und Kredit im Herzogtum BraunschweigWolfenbüttel in der Frühen Neuzeit. Frankfurt a.M. 1999. Caren Möller: Medizinalpolizei. Die Theorie des staatlichen Gesundheitswesens im 18. und 19. Jahrhundert. Frankfurt a.M. 2005; Torsten Grumbach: Kurmainzer Medicinalpolicey 1650–1803. Eine Darstellung entlang der landesherrlichen Verordnungen. Frankfurt a.M. 2006. Benno König: Luxusverbote im Fürstbistum Münster. Frankfurt a.M. 1999; Michael Stolleis: Luxusverbote. In: Handwörterbuch zur Deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 3. Hg. von Adalbert Erler und Ekkehard Kaufmann. Berlin 1984, Sp. 119–122. Diethelm Klippel: Familienpolizei. Staat, Familie und Individuum in Naturrecht und Polizeiwissenschaft um 1800. In: Perspektiven des Familienrechts. Festschrift für Dieter Schwab zum 70. Geburtstag. Hg. von Sibylle Hofer u.a. Bielefeld 2005, S. 125–141. Imke König: Judenverordnungen im Hochstift Würzburg (15.–18. Jahrhundert). Frankfurt a.M. 1999.
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erheblich ist.84 Nicht alles war hier dem Geschmack und der Selbstregulierung der Gesellschaft überlassen. Französische Gesellschaftsethik, säkulares Naturrechtsdenken ging hier, in der decorum-Theorie des Thomasius, eine Allianz mit dem vormodernen Polizeistaat ein. Dessen Anspruch auf Vielregiererei, der sich in umfassender Normproduktion niederschlug, wurde von Thomasius gerade im Bereich der Umgangsformen und der Mode eben nicht in die Schranken gewiesen, sondern der normsetzende Wille erhielt vielmehr geradezu höhere Weihen.85 Koexistenz und Konkurrenz der verschiedenen Normenmassen erzeugten »Multinormativität«86; Recht, Moral und Sitte bildeten ein vormodernes Regulierungsregime. Aufwandsreduzierung und Nachahmungsverbote standen im Interesse einer Obrigkeit, die wusste, was für ihre Untertanen das Beste war. Freilich legitimierte sich diese Besserwisserei nicht nur aus Aspekten der Sittenregulierung um des lieben Anstands willen, sondern es kamen auch theologische, kameralistische und sozialfürsorgliche Aspekte hinzu. Das soll die eudämonistische Bevormundung nicht beschönigen, aber man versteht die Motive des vormodernen Gesetzgebers doch besser, wenn man das weiß.
V. Resümee: Innovation, Affirmation und Selbstregulierung Im Rahmen des säkularen Naturrechts entwickelt Christian Thomasius mit seiner decorum-Theorie eine Lehre vom gesellschaftlich angemessenen Verhalten. Sie beschäftigt sich mit einem Raum, der gegenüber den Ge- und Verboten von Recht und Moral grundsätzlich autonom ist. Hier geht es vielmehr um jene in Raum und Zeit wandelbaren Verhaltensweisen, die man mit anderen Begriffen auch als Stil, Höflichkeit, gute Manieren und dergleichen mehr bezeichnen könnte. Thomasius weist auf die gesamtgesellschaftliche Bedeutung dieser Regeln hin: Wie das Recht den äußeren Frieden garantiert und die Moral den inneren, so befriedet auch das decorum den Umgang und stellt Gesellschaft her. Man verhält sich korrekt, wenn man das vernünftige Verhalten der Mitmenschen seines eigenen Standes nachahmt. Decorum, justum und honestum bilden damit einerseits Teile einer universalen Moralphilosophie, die zeittypisch als Naturrecht firmiert, andererseits findet eine Binnendifferenzierung statt, die der
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Anders Kühnel (Anm. 4), S. 202: »Folglich lehnt er [Thomasius, M.V.] auch eine staatliche Reglementierung der Sitten, die durch legislative und exekutive Mittel erfolgt, dezidiert ab.« So bereits Buchholz (Anm. 22), S. 171. Miloš Vec: Multinormativität in der Rechtsgeschichte. In: Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (vormals Preußische Akademie der Wissenschaften), Jahrbuch 2008. Berlin 2009, S. 155–166.
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Komplexität von Staat, Gesellschaft und menschlicher Affektenlehre Rechnung trägt.87 Thomasius erweist sich hier als Manieren-Theoretiker, beeinflusst von französischen Sitten und einer mediterranen Denktradition. Sein Modell ist gegenüber der Mode prinzipiell affirmativ. Gezeigt werden soll jenes Verhalten, das anderen gefällt. Aktualität und Wechsel haben einen prinzipiellen Eigenwert. Sein Stil-Verständnis ist daher wenig doktrinär, und man muss vielleicht um der Klarheit willen ausdrücklich sagen, was in diesem Modell eher peripher vorkommt: Moral sowie besonders Religion und Konfession und deren rigidere Normen. Der vormalige Konflikt Thomasius’ mit der Leipziger lutherischen Orthodoxie hat in seiner Theoriebildung einer säkularen Verhaltenslehre und einer betont toleranten Moralwissenschaft erkennbare Spuren hinterlassen. Erfasst wird vom decorum potenziell jedes äußerliche Verhalten. Thomasius begibt sich freilich nicht auf die Stufe eines Briefstellers oder Hofmeisters, sein Anliegen war bloß die Postulierung einer Meta-Norm, verkürzt gesagt lautet deren Imperativ: Ahme reflektiert nach! In ihrer Negation beinhaltet dies dann eine bis heute sprichwörtliche gebliebene Maxime: Man soll »Ueberhaupt also nicht durch blinde Nachahmung sich leiten lassen, sondern die Gründe und Folgen von allem, was man zur Regel des Wohlstandes sich machen will, fleißig untersuchen.«88 Aber seine Schüler und die von Christian Wolff werden sich vielfach differenziert mit diesen Inhalten beschäftigen. Der bereits genannte Julius Bernhard von Rohr etwa wird sich in seinen beiden Ceremoniel-Werken, die die reichsten und reflektiertesten Werke ihrer Gattung sind, dezidiert mit Musik, Tanz, Opern, Komposition und ähnlichen Gegenständen beschäftigen.89 Hier wirken die decorum-Normen stilbildend, sie begründen Maßstäbe der Kritik, so dass von einer Wechselwirkung zwischen Theorie und Praxis der Wissenschaften und Künste ausgegangen werden muss. Beides, naturrechtliche decorum-Theorie wie manierliche Praxis, spiegeln die Blüte der Hofkultur, die Notwendigkeit, in zahlreichen Konstellationen Orientierung zu geben, den Wunsch, Stil-Standards zu setzen in einer sich als galant verstehenden Welt, einer Welt, in der das eigene Verhalten reflektiert an die Sinne seiner Mitmenschen adressiert wird. Geschmack, Eleganz, Gefälligkeit werden vom rationalen Sensualismus des Christian Thomasius als Kriterien ausgegeben, und zwar sogar im Rahmen des säkularen Naturrechts der Aufklärung. Zugleich verabschiedet sich Thomasius aber nicht von den Ansprüchen und Standards dieser Aufklärungsbewegung. Kritik an dogmatischer Starre, Einfalt, übertriebener Frömmigkeit bilden nur die eine Seite der Medaille. Im Gegenzug akzentuiert er die Notwendigkeit der kritischen Prüfung von Moden, die __________ 87 88 89
Vollhardt (Anm. 16), S. 189. Feder (Anm. 34), Grundsätze der Tugend-Lehre, § 9 (S. 128). Rohr: Ceremoniel-Wissenschafft Der Privat-Personen (Anm. 66), II 11, S. 493–516; ders.: Ceremoniel-Wissenschafft Der großen Herren (Anm. 66), IV 5, S. 784–796; IV 6, S. 796– 815.
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Reflexion der Bedürfnisse seiner Mitmenschen und weist auf die unhintergehbare Veränderlichkeit von Standards in diesem Bereich hin. So verdeutlicht also seine Lehre die Eigengesetzlichkeit gesellschaftlichen Wandels. Noch ist dieser Wandel abgesichert durch Policeygesetze, noch drohen Strafen bei der Nachahmung der falschen Vorbilder. Aber Thomasius’ Theorie liefert die kritischen Bausteine, um Mode und Stil ganz der gesellschaftlichen Selbstregulierung90 zu überlassen und die geschmacklichen Entgleisungen staatlicherseits duldend hinzunehmen. Denn wenn es nur Geschmack ist, dann kann man darüber streiten, aber nicht mehr vor Gericht,91 sondern nur durch symbolische Mittel wie die Zumessung oder Verweigerung von Respekt. Dieser Respekt, diese Achtung vermittelt sich wiederum vielfach im gleichen Medium der Kommunikation, etwa in Form der Gegenbezeugung von gesteigerter Höflichkeit. Thomasius’ Theorie wäre, wenn man so will, in maßgeblichen Teilen auch als Plädoyer für gesellschaftliche Selbstorganisation zu verstehen.
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Miloš Vec: Höflichkeit als Selbstgesetzgebung. Beobachtungen zu einer spezifischen Normativität im Natur-, Staats- und Völkerrecht der Aufklärung. In: Gisela Engel, Brita Rang, Susanne Scholz, Johannes Süßmann (Hg.): Konjunkturen der Höflichkeit in der Frühen Neuzeit (Zeitsprünge. Forschungen zur Frühen Neuzeit, Band 13, Heft 3/4). Frankfurt a.M. 2009, S. 510–530. Barbara Stollberg-Rilinger: Rang vor Gericht. Zur Verrechtlichung sozialer Rangkonflikte in der frühen Neuzeit. In: Zeitschrift für Historische Forschung 28 (2001), S. 385–418.
Friedrich Vollhardt
Normvermittlung bei Christian Thomasius
Im Jahr 1729 erschien ein Totengespräch zwischen August Hermann Francke und Christian Thomasius. Im Titel wird erwähnt, dass es sich um eine Fortsetzung des Dialogs handelt, in dessen erstem Teil das Leben und Werk des Hallenser Theologen Francke beschrieben wurde. Mit dieser in der Vorrede gegebenen Auskunft soll für die Schrift geworben werden, in selbstironischer Übertreibung ist von »mehr als 6000. Exemplaria« des ersten Teils die Rede, womit auf die Konkurrenz im Feld der beliebten Literaturgattung verwiesen wird.1 Im Jahr nach dem Tod von Christian Thomasius war die Öffentlichkeit sichtbar daran interessiert, Nachrichten über das Leben des berühmten Gelehrten, seine Streitfälle und den Hallenser Universitätsklatsch in einer Form zu erhalten, die journalistische und satirische Elemente verbinden konnte. Es entspricht dabei den Traditionen der Gattung, dass mit August Hermann Francke ein Dialogpartner auftritt, der in einem gewissen Kontrast zur Hauptfigur steht und damit ein auf ›Spannungen‹ konzentriertes Gespräch verspricht. Über die akademischen Konflikte wird daher ausführlich berichtet, sei es die ›Flucht‹ aus Leipzig oder die folgenreiche Disputation De Crimine Magiae aus dem Jahr 1701, zu der es heißt: »Was die Hexen=Processe anlangt, meine ich [sc. Thomasius], die Nachwelt soll mir es noch dancken, dass ich deren Greuel gewesen.«2 Aus den zusammengestellten Episoden entsteht die Musterbiographie eines sowohl unbeugsamen als auch selbstkritischen Gelehrten (›Aufklärer‹), deren Konturen Thomasius bereits zu Lebzeiten festgelegt hat, bis hin zur Wahl der Textstelle aus dem Neuen Testament, die seiner Gedächtnispredigt zugrundegelegt werden sollte.3 __________ 1
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Der Andere Theil / Oder Die ächte und rechte Continuation Des besonders curieusen Gesprächs In dem Reich derer Todten / Zwischen Denen beyden im Reich der Lebendigen hochberühmten Männern, Christian Thomasio […] Und August Hermann Francken […] Da insbesondere in diesem andern versprochenen Theile das Leben Thomasii, nebst einiger Nachricht von der Universität Halle gegeben wird. Franckfuhrt und Leipzig 1729, Bl. A2v; der anonyme Autor unterzeichnet die Vorrede mit »Dreßden, den 18. Sept. 1729«. Ebd., S. 36. Act 24,16: »Dabei aber übe ich mich, zu haben ein unverletzt Gewissen allenthalben, gegen Gott und die Menschen.« Vgl. Max Fleischmann: Christian Thomasius. Halle 1930, S. 165. – Zur Bedeutung des individuellen Lebensbeispiels vgl. die Untersuchung von Herbert Jaumann: Frühe Aufklärung als historische Kritik. Pierre Bayle und Christian Thomasius. In: Sebastian Neumeister (Hg.): Frühaufklärung. München 1994, S. 149–170, hier S. 161f.: »Man wird bis zu dieser Zeit schwerlich einen vergleichbaren Autor finden, der so viel ›Klartext‹ über die eigene Person und Biographie geschrieben und publiziert hat wie Thomasius, sieht man von Montaigne ab, der aber inspirierend gewirkt hat. Dieser Zug
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Dieser Zug ist überdeutlich im ganzen Œuvre und geht über die traditionell vorgesehenen Anlässe zur Selbstthematisierung (in Leservorreden etwa) weit hinaus.4 Der erwähnte Dialog arbeitet an diesem Profil besonders zwei Züge heraus: die Vorurteilskritik und die Fähigkeit zur Selbstkorrektur. Ausführlich dargestellt wird die Auseinandersetzung mit der älteren Schulgelehrsamkeit: »Als ich [sc. wiederum Thomasius] aber mit der Sprache deutlicher herfür kam, und die Aristotelische Esel=Brücke nach Utopia5 verwieß, da entstand in Republica literaria […] ein grösserer Tumult und Auflauff.«6 Illustriert wird diese Erfolgsgeschichte auf verschiedene Weise, etwa durch die Abbildung auf dem Titelkupfer, das im Hintergrund die zerstörte Burg der scholastischen Philosophie zeigt, zu der eine Eselsbrücke führt.7 In der linken Bildhälfte – hier sieht man im Hintergrund den »Tempel der Weisheit« – stehen sich die beiden Dialogpartner gegenüber. Gezeigt wird, wie Thomasius seinem Hallenser Kollegen ein Exemplar der Cautelen überreicht:8 als Abschluss seines Lebenswerks, als Summe des Wissens und als Vermächtnis für die Nachwelt: 1710 in einer lateinischen, 1713 in einer deutschen Fassung publiziert. Ich nehme diesen Hinweis auf und versuche, am Beispiel der letzten wichtigen Schrift von Thomasius einige Überlegungen zur Normvermittlung um 1700 zusammenzufassen. Dabei werde ich – im Blick auf das Thema dieser Tagung – auch der Frage nachgehen, wie der durch die akademischen Schriften von Thomasius mitangestoßene Wandel der Gesellschaftsethik popularisiert worden ist. Das Medium der Moralischen Wochenschrift bietet sich dafür als __________
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ist überdeutlich im ganzen Œuvre und geht über die traditionell vorgesehenen Anlässe zur Selbstthematisierung (in Leservorreden etwa) weit hinaus.« Vgl. Jaumann: Frühe Aufklärung als historische Kritik (Anm. 3). Vermutlich eine Anspielung auf die kritisch-parodistischen Auseinandersetzungen mit der Utopia von Thomas Morus, wie sie in Deutschland etwa in der Schwankdichtung des Lalebuchs (1597) zu finden sind. Die ächte und rechte Continuation Des besonders curieusen Gesprächs In dem Reich derer Todten / Zwischen Denen beyden im Reich der Lebendigen hochberühmten Männern, Christian Thomasio […] Und August Hermann Francken (Anm. 1), S. 14. Abbildungen des Titelblatts finden sich bei Hanspeter Marti: Ausbildung. Schule und Universität. In: Macht des Wissens. Die Entstehung der modernen Wissensgesellschaft. Hg. von Richard van Dülmen und Sina Rauschenbach. Köln u.a. 2004, S. 391–416, hier: S. 407 und bei Walther Bienert: Der Anbruch der christlichen deutschen Neuzeit dargestellt an Wissenschaft und Glauben des Christian Thomasius. Halle 1934 (Theologische Arbeiten zur Bibel-, Kirchen- und Geistesgeschichte II), Titelei mit Erläuterungen ebd., S. 474. Im Text wird diese Geste nicht näher erläutert, nur beiläufig werden die Cautelae circa praecognita jurisprudentiae ecclesiasticae (1710) erwähnt: »Es hat mich [sc. Thomasius] auch die unverdiente göttliche Gnade immer mehr und mehr behertzt gemacht, die noch vielfältigen Reliquien des Politischen Pabstthums in der Jurisprudentia Ecclesiastica getrost zu entdecken, wie davon […] die bekandten Cautelen […] bezeugen.« (Ebd., S. 38) – Zu der erwähnten Kirchenkritik (»Politisches Pabstthum«) in den Cautelen zur Erlernung der Kirchen-Rechtsgelahrheit vgl. Frank Grunert: Antiklerikalismus und christlicher Anspruch im Werk von Christian Thomasius. In: Les Lumières et leur combat. / Der Kampf der Aufklärung. Kirchenkritik und Religionskritik zur Aufklärungszeit. Hg. von Jean Mondot. Berlin 2004, S. 39–56.
Normvermittlung bei Christian Thomasius
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Beispiel an, auch deshalb, weil sich führende Komponisten und Musiker der Zeit (Mattheson!) für diese neue literarische Gattung und deren Autoren interessierten.
I Doch zunächst zu den Cautelae circa praecognita jurisprudentiae. Diese bieten – das ist eine etablierte Forschungsmeinung – ein durchdachtes, im akademischen Unterricht von Thomasius selbst erprobtes Grundstudium in der Philosophischen Fakultät, konzipiert noch in Anlehnung an den Kanon der artes-Studien, ergänzt jedoch durch eine Einführung in andere Disziplinen, darunter die Theologie und Medizin. Der Student erhält so Einblick in sämtliche Fakultäten und das gesamte universitäre Wissen, das nicht beziehungslos nebeneinander, sondern auf ein Ziel hin geordnet präsentiert wird. Das Fachstudium soll also durch die Vermittlung allgemeiner Grundlagen vertieft, zugleich aber auch ein Erziehungs- und Bildungsideal entworfen werden. Dazu bedarf es bestimmter Prämissen. Das ›studium generale‹ bereitet einen neuen, weltoffenen Typus des Gelehrten auf seine Laufbahn vor, die von einer zunehmenden Differenzierung und Abgrenzung der Kompetenz- und Wissensbereiche gekennzeichnet ist. Damit stellen sich zugleich Anforderungen an die Selbstständigkeit im Denken und Urteilen sowie die Fähigkeit zur Selbstdarstellung im gesellschaftlichen Umgang und in der Konversation, die weit über die eigentlichen Rechtsmaterien hinausgehen. Er habe, schreibt Thomasius in der deutschen Vorrede, »aus der täglichen Erfahrung und Nachdenckung gelernet / daß sich ein Studiosus juris bey den freyen Künsten und philosophischen Wissenschafften vor zwey Abwege hüten müsse: Erstlich daß er sich nicht einbilde / er wolle ohne die freyen Künste und Philosophie die Rechtsgelahrheit erlernen / hernach / daß er nicht an statt der wahren Philosophie und rechtschaffenen freyen Künste / in unnütze und subtile Wissenschafften verfallen möge.«9 Bei der Indienstnahme der artes und der Philosophischen Fakultät insgesamt zeigt sich das Selbstbewusstsein, mit dem die Jurisprudenz als neue Leitwissenschaft die Hierarchie der Lehrgebiete ordnet. Auf einen weiteren wichtigen Aspekt weist Thomasius selbst hin, wenn er in der Vorrede von den »klaren und unumstößlichen principiis« seiner Lehren spricht, die in den Cautelen entfaltet werden. Die vierte Fakultät ist zwar pädagogisch orientiert und für Anfänger gedacht, doch eben hier wird expliziert, was eine wissenschaftliche Disziplin ausmacht oder, anders gesagt, worin ihre Fundamente __________ 9
Zitiert wird nach der inhaltlich unveränderten zweiten Auflage der deutschen Fassung: Herrn Christian Thomasens [...] Höchstnöthige Cautelen Welche ein Studiosus Juris, Der sich zur Erlernung Der Rechts-Gelahrtheit Auff eine kluge und geschickte Weise vorbereiten will, zu beobachten hat: Nebst Einem dreyfachen und vollkommenen Register. Halle 1729, hier: Bl. )()( 4r.
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bestehen: Die philosophischen Konzepte von Wissenschaft bestimmen zunehmend auch die Wissenschaftskonzepte der oberen Fakultäten. Der Wandel solcher Konzepte hat dann meist auch Folgen für die Institution – der Gedanke der Reformuniversität in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts bestätigt diese Vermutung. Zugleich dürfte hier die Suche nach wissenschaftsexternen Bedingungen bei den zu beobachtenden Umstellungen erfolgversprechend sein, doch das kann hier nicht weiter verfolgt werden. In zweifacher Hinsicht sollten die Cautelen eine Orientierung geben, wie bereits den wenigen Zitaten aus der Vorrede zu entnehmen ist: Einerseits war eine deutliche Abgrenzung gegenüber älteren Lehrpraktiken und deren Vertretern, also des ›ancien régime‹ notwendig; die Alternative hierzu musste sich andererseits aber auch als ein konstruktives, wettbewerbsfähiges Modell erweisen. Bei diesem zweiten, in die Zukunft weisenden Moment zeigte sich die Überlegenheit des thomasianischen Studienprogramms. Dass die Abgrenzung von der älteren Generation auch mit Hilfe von Verhaltenscodes und der Kleidungsmode vollzogen wurde, ist bekannt, vor allem aus der Reaktion der Gegner. Zu erwähnen ist hier der Leipziger Theologieprofessor Augustin Pfeiffer, der 1689, auf dem Höhepunkt des Konflikts mit Thomasius in Leipzig, in einem Wohlmeinenden Gutachten über die Gefahr der neuen Unterrichtspraxis schrieb: »Wunderlich genug / er [sc. Thomasius] kömmt in einem bunten Kleide nebst einem Dehgen / angestochen, so daß er ein Ebenbild einer thörichten singularität so naturell repräsentiret / daß man es billig ad perpetuam rei memoriam sollte lassen in Kupffer stechen / welche sich eben so gut würde vor einen Monat schicken als Pons Asinorum.«10 Diese Kupferstiche hat es durchaus gegeben, sie bestätigten jedoch umgekehrt den Erfolg des neuen Gelehrtentyps. Die Episoden sind bekannt, sie belegen eindrucksvoll, wie bei Thomasius die veränderte Methodenlehre mit einer solchen des Verhaltens korrespondiert. Das Stichwort lautet: ›Galantismus‹, der Gegenbegriff ist ›Pedantismus‹. Von letzterem macht Thomasius ausgiebig Gebrauch, sowohl in seinen akademischen Schriften als auch in den für ein breiteres Publikum gedachten und von Pfeiffer ebenfalls warnend erwähnten Monatsgesprächen. Der Begriff des Pedantismus ist zu diesem Zeitpunkt bereits so geläufig, dass er ausführliche Erörterungen überflüssig macht und Standortbestimmungen erlaubt. Wonach der Leser jedoch vergeblich sucht, ist eine knappe Explikation des thomasianischen Begriffes der ›Galanterie‹. Ersetzt wird diese durch »gewisse Grund= Regeln und maximen« aus dem Oráculo manual, die Thomasius in seinem 1687 veröffentlichten Gracián-Collegium zitiert bzw. diesem voran- und nachgestellt hat. Die Klugheit der Lebensführung wird zum entscheidenden Motiv der __________ 10
Christian Thomasens Allerhand bißher publicirte Kleine Teutsche Schrifften / Mit Fleiß colligiret und zusammen getragen; Nebst etlichen Beylagen und einer Vorrede. Halle 1701, S. 317 (Christian Thomasius: Ausgewählte Werke. Hg. von Werner Schneiders. Hildesheim und New York 1993ff., Bd. 22).
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Erziehung (und Berufsbildung) und die neue ›ars vivendi‹ zu einem Distinktionsmerkmal, das im gesellschaftlichen Umgang Anwendung findet. Das Begriffspaar Pedantismus/Galantismus wird bei Thomasius kontrastiv verwendet, der elegante Jurist wird zum Gegenbild des Gelehrten alter Prägung und damit zum Adressaten der Höchstnöthigen Cautelen, die in der Orientierung an äußerer Zweckmäßigkeit und der wiederholten Forderung nach Nützlichkeit, kurz in einem ›Praxisdiktat‹ ihre Prämissen finden. Natürlich besaß der Wissenserwerb und die akademische Sozialisation auch in der älteren scientific community einen Praxisbezug. Allerdings verwertet sich wissenschaftliches Wissen hier für den, der es erstrebt oder besitzt, typischerweise nicht durch Applikation, sondern durch Reputation. Nirgends scheint die Differenz gegenüber dem älteren Universitätswesen deutlicher erkennbar als bei diesem veränderten Praxisbegriff. Der Hallenser Reformer öffnet die Universität für die Welt, nicht zuletzt durch die in der Zeit zunehmende Verwendung der Volkssprache in den Vorlesungen.11 Die Wissenschaft soll ihren Zweck nicht in sich selbst, sondern im Bezug auf die Gesellschaft finden. Das Wissen wird von den Gelehrten nicht länger nur autoritär verwaltet, vielmehr den geänderten Ansprüchen der Ausbildung angepasst.
II Damit nun zu dem Werk selbst, bei dem zu prüfen ist, wie Thomasius das Studium im einzelnen ›mondän‹ gestaltet hat – wobei nicht übersehen werden darf, dass die Jurisprudenz um 1700 einen enormen Professionalisierungsschub erlebt, der ganz auf die Verfachlichung, also die Eigenlogik der Disziplin abzielt. Welche Aufgabe soll hier eine Grundlegung übernehmen, wie sie die Cautelen zu geben versprechen? Diese bildet die Krönung des juristischen Fachstudiums, wie Thomasius im letzten Abschnitt der Vorrede ausführt; die Cautelen haben also keine einführende Funktion im eigentlichen Sinn, denn sie werden nicht am Anfang, sondern am Ende des Studiums und zudem nur ausgewählten Studenten »privatissime« vorgetragen. Dieses Aufbaustudium empfiehlt Thomasius jungen Juristen, die eine akademische Karriere anstreben. Die von Thomasius gebotene Vorlesung schult das Verhalten desjenigen, der nicht nur ›iurisconsultus‹, sondern ›iuris-prudens‹ sein will. Die Unterweisungen dienen auch der Reproduktion einer Fachelite, das Kompendium besitzt demnach einen internen, nur auf die Wissenschaftskommunität gerichteten Praxisbezug, wie er __________ 11
Dass Thomasius hier – entgegen der noch immer gern zitierten Legende – Vorgänger hat, ist seit langem bekannt; vgl. A. Hofmeister: Zum Thomasiusjubiläum. In: Die Grenzboten 45 (1887), S. 294f.; ausführlicher Richard Hodermann: Universitätsvorlesungen in deutscher Sprache um die Wende des 17. Jahrhunderts. Diss. Jena 1891 [Druck Bad Friedrichsroda], passim. – Zum Stand der heutigen Forschung Marti: Ausbildung. Schule und Universität (Anm. 7), bes. S. 410.
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bereits im scholastischen Wissenschaftsbetrieb bestand. Nach der Galanterie ist hier nicht weiter zu fragen. Gleichwohl richten sich die Cautelen nicht exklusiv an den juristischen Nachwuchs, sondern an alle Studenten und Gelehrten, die an epistemischen Fragen interessiert sind.12 Indem das Kompendium in etwa die Gliederung der ›artes liberales‹ (insbesondere des Triviums) sowie die der höheren Fakultäten zugrundelegt, weckt es bestimmte, vor allem edukative Erwartungen, um auf dieser Grundlage dann eine systematische Darstellung der thomasianischen Philosophie zu liefern, die in keinem anderen Werk in demselben Umfang geboten wird. Und hier wird von ganz grundsätzlichen Überlegungen ausgegangen: »Da doch der Mensch, wenn man ihn genau ansiehet, die elendeste Creatur von der Welt ist.« Dieser Satz findet sich in der Mitte des ersten Kapitels, er fasst prägnant die anthropologischen Prämissen zusammen, von denen Thomasius ausgeht. Das Diktum erinnert zum einen an die Lehre von der ›imbecillitas‹, welche die moderne Naturrechtslehre aus der philosophischen Tradition übernommen und methodisch genutzt hat, um einen Beweis für die gesellige Natur des Menschen zu führen.13 Zum anderen klingen Grundsätze der lutherischen Anthropologie an, die sich – nicht zuletzt unter dem Einfluss Samuel Pufendorfs14 – in der Zeit umzuformen begann. Thomasius fügt diese Diskurselemente im ersten Kapitel in seine Beschreibung der wahren Gelehrsamkeit und Weißheit überhaupt ein, der im zweiten Kapitel eine Lehre von denen Mitteln folgt, die Weißheit zu erlangen; das theoretische Wissen bedarf der praktischen Anwendung.15 Der von Thomasius eingeführte Begriff wird folglich streng von einer spekulativen, nur auf Grundannahmen gerichteten Wahrheitserkenntnis unterschieden. Was wir Wahrheit und Irrtum nennen, enthält erst in seiner jeweiligen Anwendung eine ethische Qualität (»gut oder böse«), die wiederum »von dem menschlichen Willen« abhängt. Der Wille, nicht der Verstand ist – und hier kommen die anthropologischen Voraussetzungen ins Spiel – als »Ursprung der Thorheit« des affektgeleiteten Menschen zu betrachten. Ein ›lebendiges‹ Wis__________ 12
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Das zeigen Rezeptionszeugnisse, auch solche von prominenten Kollegen, die das Werk sofort nach Erscheinen in ihren akademischen Unterricht integrierten; vgl. etwa Johann Franz Budde: Institutiones theologiae moralis. Leipzig 1711, III 3. Vgl. Horst Denzer: Moralphilosophie und Naturrecht bei Samuel Pufendorf. Eine geistesund wissenschaftsgeschichtliche Untersuchung zur Geburt des Naturrechts aus der Praktischen Philosophie. München 1972, S. 92f. Anselm Schubert: Das Ende der Sünde. Anthropologie und Erbsünde zwischen Reformation und Aufklärung. Göttingen 2002, S. 148ff. und 229f. Vgl. Frank Grunert: Normbegründung und politische Legitimität. Zur Rechts- und Staatsphilosophie der deutschen Frühaufklärung. Tübingen 2000 (Frühe Neuzeit 57), S. 215: »Weise fallen also nicht vom Himmel, sie werden zu einem nicht unerheblichen Teil gemacht, d.h. sie werden (von Thomasius) ausgebildet.« Vgl. auch ders.: Die Pragmatisierung der Gelehrsamkeit. Zum Gelehrsamkeitskonzept von Christian Thomasius und im Thomasianismus. In: Ulrich Johannes Schneider (Hg.): Kultur der Kommunikation. Die europäische Gelehrtenrepublik in der Epoche von Leibniz und Lessing. Wiesbaden 2005 (Wolfenbütteler Forschungen 109), S. 131–153.
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sen vom Guten besitzt, wer es verwirklichen will, anders gesagt: wer ein Verlangen nach »wahre[r] Glückseeligkeit«16 verspürt. Da die von Vorurteilen eingenommene Vernunft das Gute nicht von sich aus verwirklichen kann, ist der »Brunnquell der Weißheit und Thorheit im Hertzen und Willen« zu suchen, also »in der Realisierung durch den jeweiligen Menschen«, womit »die Philosophie ›subjective‹«17 definiert wird. Am Ende des ersten Kapitels zeigt Thomasius einen verhaltenen Optimismus bei der Beantwortung der Frage, wie die wahre Weisheit den Studenten zu vermitteln sei. Das Unternehmen der Cautelen wird selbstreflexiv: »der zeiget den Weg am besten, welcher getrost und mit freudigem Gemüthe vorangehet.« Wer »über die Schwierigkeit des Weges« klagt, soll angespornt statt durch die überlieferten Tugend-Laster-Schemata verunsichert werden. Ausdrücklich erwähnt wird das »sehr abgeschmackt[e]« Bild »von dem Hercule auf den zwey Scheidewegen«, der sich zwischen Virtus und Voluptas zu entscheiden hat.18 Das traditionsreiche Bild der Wegewahl wird von Thomasius im Kern umgedeutet. Seine Kritik richtet sich – wie noch zu zeigen ist – sowohl auf die Bewertung der Affekte und den Begriff der Tugend als auch auf das Ziel des richtigen Weges. Doch zunächst erläutert er nur lapidar die Methode, »zur Weißheit zu gelangen, nemlich die Reinigung des Hertzens.« Auf den selbst formulierten Einwand, dass die Menschen »von Natur Narren« seien und daher kaum belehrbar, antwortet er mit einem Verweis auf seine Fundamenta juris naturae et gentium (1705), in denen er das Dilemma gelöst und einen Weg gezeigt habe, die Toren zu erziehen: »Allein wo sollen wir nun Weise finden; Unter Blinden ist der Einäugigte der beste: weist du nicht / dass die Erfahrung der Narren Lehrmeisterin sey.«19 Diese Erfahrung ist ganz weltlicher Art, sie hat nichts zu tun mit der Hoffnung auf eine »Reinigung von einer höhern Krafft«. Thomasius achtet hier streng auf eine Trennung der Kompetenzbereiche, »Natur und Gnade« sind ebenso zu unterscheiden wie die natürliche Weisheit von der übernatürlichen, die eine Angelegenheit der Theologie bleibt. Mit diesen Grundsätzen korrigiert er zugleich frühere Irrtümer, welche er als »übrig gebliebene Mönchs= Philosophie« charakterisiert, zu der er »durch die Lesung falscher mystischer Bücher« verführt worden sei. Nach dieser selbstkritischen Betrachtung über__________ 16
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Zum Eudämonismus in der Aufklärungsphilosophie vgl. Friedrich Vollhardt: Ueber Eigennutz und Undank. Knigges Beitrag zur Moralphilosophie der Spätaufklärung. In: Zwischen Weltklugheit und Moral. Der Aufklärer Adolph Freiherr Knigge. Hg. von Martin Rector. Göttingen 1999, S. 45–67; Hinweise zur Forschungsliteratur ebd., S. 47 Anm. 6. Werner Schneiders: Hoffnung auf Vernunft. Aufklärungsphilosophie in Deutschland. Hamburg 1990, S. 114. Zur Bild- und Bedeutungstradition vgl. Wolfgang Harms: Homo viator in bivio. Studien zur Bildlichkeit des Weges. München 1970, sub verbo [Herakles]. Christian Thomasius: Grund-Lehren des Natur- und Völcker-Rechts. Halle 1709 (Thomasius: Ausgewählte Werke. Hg. von Werner Schneiders. Hildesheim und New York 1993ff., Bd. 18), S. 77; zum Kontext vgl. Friedrich Vollhardt: Selbstliebe und Geselligkeit. Untersuchungen zum Verhältnis von naturrechtlichem Denken und moraldidaktischer Literatur im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen 2001, S. 185ff.
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rascht dann um so mehr die Empfehlung, mit der er unmittelbar darauf seine Überlegungen zusammenfasst: »Bete und arbeite« – der wohl traditionsreichste Satz abendländischer ›Mönchsphilosophie‹. Im XIV. Kapitel, das den Cautelen bey dem Studio der Sitten=Lehre gewidmet ist, setzt Thomasius den eben skizzierten Gedankengang fort. Da die »Sitten=Lehre«, wie es gleich eingangs heißt, den »Grund der Rechts=Gelahrtheit« bilde, habe jeder Student die Fähigkeit zur Selbsterkenntnis durch eigenes Nachdenken (»meditiren«), nicht durch das Memorieren überlieferter Tugendund Lasterkataloge zu erwerben. Von der Kritik nimmt er auch seine eigene Sitten=Lehre nicht aus, in der er der »irrigen Meinung« war, dass »alle Affecten, auch die guten, müsten ausgetilget werden.« An die Stelle dieser Lehre setzt er nun eine modifizierte Theorie der »vernünfftigen Liebe«, die ihren Zweck in einer ›klugen‹ Affektsteuerung findet: »die Haupt=Absicht der Artzney=Mittel in der Moral muss dahin gehen, dass die excedirenden und stärckeren Passiones gedämpffet, die schwächeren und in geringer Krafft stehenden in die Höhe gehoben, und also alle drey Begierden [sc. Ehrgeiz, Geldgeiz, Wollust] gleichsam in eine gleiche Proportion gebracht werden […].«.20 Diese zwischen Determinismus und Willensfreiheit vermittelnde Position hat die Zeitgenossen fasziniert. Der seinen Trieben – vor allem der Trias von ambitio, avaritia und voluptas – unterworfene Mensch kann seinen Willen durch rationale Einsicht allein nicht steuern, vielmehr muss er seine auf das Selbst bezogenen Affekte zu einem Ausgleich bringen, also instrumentalisieren, da sich nur so der ›innere‹ und der ›äußere Frieden‹ erhalten und das eigene Glück stabilisieren lässt. Moralisches Handeln erscheint nun als das Ergebnis einer Selbstzerstörung der Laster. Fruchtlose Diskussionen über das ›summum bonum‹ werden mit diesem skeptischen Hinweis auf Erfahrung und Lebensklugheit abgebrochen, folgerichtig ist das unmittelbar anschließende Kapitel dem ›decorum‹ gewidmet. Und kaum zufällig erinnert der von Thomasius beschriebene Vorgang an ein medizinisches Heilverfahren – von einer »Cur« ist ausdrücklich die Rede –, ohne dass damit eine besondere Hochschätzung der naturforschenden Disziplinen zum Ausdruck gebracht würde; diese zählen für Thomasius nicht zu den Wissenschaften im engeren Sinn.
III Doch wie ließen sich solche Einsichten einem breiteren Publikum vermitteln? Schauen wir in den Hallenser Hörsaal hinein, um nachzuvollziehen, wie rasch sich diese Lehre auch außerhalb der Jurisprudenz verbreitete: Im Raum der literarischen Fiktion ließen sich die anthropologischen Einsichten einer breiten Leserschaft anschaulich vermitteln. Ein Schüler von Thomasius, der durch seine __________ 20
Thomasius: Höchstnöthige Cautelen (Anm. 9), §§ 52 und 56.
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physikotheologischen Lehrgedichte bekannte Barthold Hinrich Brockes (1680– 1747), hat diese Selbstdeutung des Menschen in eine Traumallegorie verwandelt,21 die im Patriot veröffentlicht wurde, der ersten erfolgreichen Moralischen Wochenschrift nach englischem Vorbild in Deutschland. Dieser zuerst 1724 publizierte Text hat bis über die Mitte des 18. Jahrhunderts hinaus gewirkt, die von mir zitierte vierte Auflage erschien 1765; wie kaum ein anderes Medium haben die Moralischen Wochenschriften zur Durchsetzung der ›weltlichen‹ Morallehre von Thomasius beigetragen. Thomasius hat diese Form der »Lehrart« selbst empfohlen, das breitere Publikum könne auch »durch Sinnbilder oder […] Characteres«22 – wie sie die Wochenschriften gerne verwendeten – unterrichtet werden. In der allegorischen Erzählung (Stück 43) wird die thomasianische Lehre durch das traditionelle Bild des Tugendweges verdeutlicht, direkt verwiesen wird auf die »Fabel des Xenophon vom Hercules auf dem Scheidewege«, die Thomasius in den Cautelen – ich habe die Stelle zitiert – mit deutlichen Worten abgelehnt hatte. Dieser scheinbare Widerspruch beruht auf einem Spiel mit den Erwartungen des Publikums: Der Autor lässt seinen Erzähler von einem Traum berichten, dem eine Betrachtung über die »drey verhassten Leidenschaften«23 vorangestellt wird. Die große Menge der Menschen lässt sich mit ihrer Hilfe »gar leicht in wenige Classen« einteilen. Folgen sie in ihrem Handeln nicht der »Noth«, werden sie »unstreitig durch Geld=Geitz, Wollust und Ehr=Sucht angespornet«.24 Die tabellarische Einteilung der Verhaltensweisen, streng an der Affektenlehre von Thomasius ausgerichtet, wirkt so stereotyp, dass die vom Autor bewusst daran angeschlossene Fehldeutung des psychologischen Instrumentariums leicht überlesen wird. Der Patriot glaubt zunächst, die »lasterhafte[n] Triebe« dafür verantwortlich machen zu können, dass »so wenig Menschen der Tugend«25 nachstreben. Diese fordere in aller »Strengigkeit« die Abkehr vom Laster, eine aus kluger Einsicht getroffene Entscheidung, die eben mit jener »vom Hercule auf dem Scheide=Wege« zu vergleichen sei – allerdings, und das könnte den zeitgenössischen Leser erneut verwundert haben, wird hier von einem »eingebläueten« Schulstoff gesprochen. Das traditionsreiche Bild der »zweene Wege« wird in der Schilderung des Traumes dann völlig umgedeutet. Der beschwerliche Weg führt zum Laster, während sich der Pfad zur Tugend als äußerst angenehm und bequem erweist – die Metaphorik verändert sich in ihrem Kern. Auf dem beschriebenen Tugendweg soll zweifellos nicht die Nachfolge Christi angetreten werden. Das ausgesprochen weltliche Wissen über die Tugend verkörpert sich dann in einem __________ 21
22 23 24 25
Vgl. auch Friedrich Vollhardt: Eigennutz – Selbstliebe – Individuelles Glück. Theoretische und literarische Entwürfe zwischen 1500 und 1800. In: Entdeckung des Ich. Die Geschichte der Individualisierung vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Hg. von Richard van Dülmen. Köln u.a. 2001, S. 219–242, bes. S. 240ff. Thomasius: Höchstnöthige Cautelen (Anm. 9), XIV, § 7. Der Patriot. Erstes Jahr. Vierte Auflage. Hamburg 1765, S. 365. Ebd., S. 412–422. Ebd., S. 412f.
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allegorischen Bild, das in einem »Tempel« am Ende des Weges aufbewahrt wird: Ich suchte hierauff das Bild der Tugend selbst, um selbige geflissenst zu verehren; fand aber an deren statt allein drey Bild=Säulen, welche zu meiner höchsten Verwunderung nichts anders, als unsere drey Leidenschafften, vorstellen konnten. Sie bestunden alle aus einer durchscheinenden Materie, die dem Opal in vielem gleich kahm, und ein Sapphir aus einem Stücke war ihr Fuß. Das erste erkannte ich alsobald für das Bild der Ehre. Es sah wie eine junge prächtig gekleidete Manns-Person aus, und hatte Schwanen=Flügel. Zu seinen Füssen lagen der Hochmuht mit Pfauen=Federn, und die Niederträchtigkeit auff einer Schwein=Haut als Sclaven gefesselt. Das zweyte bildete die Wohllust ab. Es glich einer schönen jungen Frau, welche mit Blumen bekräntzt war, ein Kind auff den Armen hielt, und sich mit einer angenehmen Mine an demselben zu ergetzen schien. Sie hatte zu ihren Füssen zwo Sclavinnen, nehmlich die Geilheit und die Schwehrmuht, die erste aus buntem und die andere aus schwartzem Marmor. Die wilde Stellung der einen und das traurige Wesen der andern legten dasjenige, was sie seyn sollten, klährlich genug vor Augen. Durch das dritte war die Geld-Liebe vorgestellet [...].26
Der Patriot kann also eine erfreuliche Deutung des Traumes geben: Ich dachte hiernächst meinem Traum und der grossen Wahrheit mit Vergnügen nach, welche meine Phantasie mir unter allerhand Bildern gewiesen hatte, dass nehmlich die Tugend bloß im vernünftigen Gebrauche unserer Leidenschaften bestehe, folglich nicht unnatürlich, schwer und verdrießlich, sondern natürlich, leicht und angenehm sey.27
Bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts folgen zahlreiche Wochenschriften diesen von Thomasius und seinen Schülern formulierten Leitlinien. Brockes’ allegorische Erzählung zeigt durch ihre überraschende Enträtselung der traditionellen Bildlichkeit, dass es nicht mehr um den Kampf zwischen Tugend und Laster gehen kann, wenn Tugend nur in einem »vernünftigen Gebrauch« der selbstbezüglichen Neigungen besteht, zwischen denen ein Ausgleich, eine günstige »Proportion«, geschaffen werden muss. Entbehrlich für das irdische Leben werden die Vorstellungen christlicher Askese.
IV Die ethischen Grundsätze konnten nun aus der – wie es bei Thomasius heißt – »allgemeinen menschlichen Natur« deduziert werden, wobei die gesuchten Verhaltensregeln in der von Thomasius vorgeschlagenen Einteilung der moralischen Disziplinen (iustum, honestum, decorum) anzuordnen seien. Erik Wolf hat diese Einteilung als »eine der ersten, volkstümlich gewordenen, ursprünglich gelehrten Distinktionen des modernen Lebens« bezeichnet,28 eine __________ 26 27 28
Ebd., S. 418. Ebd., S. 418f. Erik Wolf: Christian Thomasius. In: Ders.: Große Rechtsdenker der deutschen Geistesgeschichte. Tübingen 41963, S. 371–423, hier: S. 407. Das Zitat auch bei Wolfgang Wiebking: Recht, Reich und Kirche in der Lehre des Christian Thomasius. Diss. Tübingen 1973, S. 87.
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genauere Untersuchung der Moralischen Wochenschriften bestätigt dies. Der hier sichtbar werdende Normierungsprozess repräsentiert den Stand der gesellschaftlichen Differenzierung und Spezialisierung, an dem die sozialethischen und reformerischen Disziplinen notwendig partizipieren. Die gelehrten Autoren haben die selbstgesetzte Aufgabe der Erziehung und Aufklärung des Publikums mit Hilfe naturrechtlicher Normvorstellungen einzulösen versucht. Sieht man von deren internen Gliederungsformen ab, die nur aus dem Wissensvorrat der Zeit verständlich werden (wie etwa die Trias von iustum, honestum und decorum; die dreigliedrige Pflichtenlehre; die Unterscheidung von erzwingbaren und unerzwingbaren Pflichten, von Recht und Moral etc.), ergeben sich große thematische Einheiten, die vom Naturrechtsdenken getragen werden: Anthropologie, Sozialität und Privatglück. Oder in der Sprache, aus der die analysierten Texte ihre sozialen Symbolwelten aufbauen: Selbstliebe, Geselligkeit und Glückseligkeit. Ein neues Verständnis des menschlichen Handelns zeichnet sich ab. Vor allem in jenem Bereich, der sich gegenüber der Zwangsgewalt des Staates abgrenzen lässt und auf den die Moralischen Wochenschriften zielen: die Sphäre zwischen Tugend und Sitte, ethisch legitimierter Klugheit und »gescheider Conduite« (Thomasius), Selbsterkenntnis und Humanitätspflicht. Je deutlicher das Funktionssystem des Rechts im Zuge der gesellschaftlichen Entwicklung auf der Trennung von diesen Normbereichen besteht, die Thomasius theoretisch differenziert, aber noch zu einer systematischen Einheit verknüpft hat, desto größer wird deren Anteil an der literarischen Kommunikation. Es geht um Ordnungsprobleme der Gesellschaft, um Regeln des sozialen Verhaltens und die soziale Selbstdeutung des Menschen, mithin um Identität. Die ethischen und sozialethischen Normen werden aus der menschlichen Natur abgeleitet und wiederum auf dieselbe bezogen – aus einem höchst einfachen Grund: Das Individuum soll in die Lage versetzt werden, seine Natur auch ohne eine vertikale Determination des Handelns zu überwinden. Die Furcht vor dem Zwang der Gesetze soll nicht das einzig bestimmende Motiv des Sozialverhaltens sein. Dass die Motive und die Motivation des Handelns in der Selbstbezogenheit des Subjekts zu suchen sind, kann – und soll – dabei als Faktum hingenommen werden; sie »ist das Principium aller seiner Thaten«.29 Da die Wochenschriften diese Fragen der Anthropologie für gelöst halten, können sie das Gesellschaftliche diesseits der staatlichen Zwangsgewalt als einen Raum beschreiben, in welchem sich der legitime Anspruch auf den Genuss der Güter und des Umgangs, kurz das Streben nach Glückseligkeit erfüllt. Dann jedenfalls, wenn die Normen der Geselligkeit – Pflichten der Humanität – beachtet werden. Zur Geselligkeit ist der Mensch von Natur aus disponiert, er besitzt sie als eine Neigung, von der bereits Pufendorf gesprochen hatte. Die aus dem socialitas-Gedanken hervorgehende Topik der Empfindsamkeit stellt nur die emotionale Überformung von Konstanten dar, die die naturrechtliche Sozialethik vorstrukturierte. Noch die Konzepte einer ästhetischen __________ 29
Johann Jakob Bodmer und Johann Jakob Breitinger: Die Discourse der Mahlern. Zürich 1721–1723. Reprint Hildesheim 1969. Hier: Zweiter Teil 1722, St. 4.
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Erziehung, wie sie in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ausgebildet wurden, stehen in unmittelbarer Nachbarschaft zu den Verhaltensidealen, die das Sozialitätsprinzip zusammenfasst. Kritik an dem ›System [...] der Geselligkeit‹, das man um 1750 bezeichnenderweise mit der englischen moral sensePhilosophie gleichsetzen konnte, wurde selten und wenn, dann vornehmlich von Theologen geäußert, die die Wahrheiten der Offenbarung durch die Idee einer natürlichen Moral gefährdet sahen. Der Mensch sei nun einmal, lautet ein typischer Einwand, von der Natur nur so zur Gesellschaft bestimmt worden, »wie sie die Traube zum Weine bestimmet hat« (Thomasius) – unter der Herrschaftsbefugnis äußerer, eben auch kirchlicher Gewalt. Gerade von einem solchen Zwang wollte die in den Wochenschriften vermittelte Interaktionsmoral ein Stück weit befreien. Doch diese Überlegungen führen weit über die Kommentararbeit an der Traumallegorie von Brockes hinaus. Im Blick auf das Rahmenthema ist noch kurz auf drei – wie ich meine: typische, bei Austauschbeziehungen zwischen den Künsten ebenfalls geltende – Aspekte des Popularisierungsvorgangs hinzuweisen, die sich an dem gewählten Beispiel weiter verfolgen ließen: Die Größe des Publikums und seiner Kommunikationsnetze ist in Relation zur Gesamtgesellschaft zu setzen; die Popularisierung erfolgt in der Regel – wie in unserem Fall – intentional, nach den Motiven der Wissensvermittler bleibt daher genauer zu fragen; von Bedeutung ist das verwendete Medium, da es bei der Popularisierung von Wissen ganz entscheidend auf die Breitenwirksamkeit und den multiplizierenden Effekt ankommt.30
__________ 30
Vgl. Friedrich Vollhardt: Die Bildung des Bürgers. Wissensvermittlung im Medium der Moralischen Wochenschrift. In: Bürgerlichkeit im 18. Jahrhundert. Hg. von Hans-Edwin Friedrich, Fotis Jannidis und Marianne Willems. Tübingen 2006 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 105), S. 135–147.
Saskia Maria Woyke
›Varietas‹ – ›Artifizialität‹ – ›Irregolarità‹ Unausgesprochene Norm in venezianischen Opern der 1660er und 1670er Jahre
Die These, dass ›Varietas‹, ›Artifizialität‹ und ›Irregolarità‹ als unausgesprochene Norm venezianischer Opern der 1660er und 1670er Jahre anzusehen sind, resultiert aus Beobachtungen zu den drammi per musica des Komponisten Pietro Andrea Ziani. Eine solche These in Bezug auf Ziani aber impliziert ihre Ausweitung auf venezianische Opern der 1660er und 1670er Jahre allgemein. Denn Ziani war ihr erfolgreichster und meistgespielter Vertreter. Seine Vertonungen von drammi per musica umfassen den Zeitraum von 1654 bis 1684. Sie fallen demnach in die Frühzeit der damals noch recht neuen öffentlichen Oper. Tatsächlich hatte der Komponist, der schon 1616 geboren worden war, längere Zeit benötigt, um die Chancen des neuen Marktes einschätzen zu können. Dann jedoch verlief seine Karriere brillant: Seine Auftraggeber waren die wichtigsten Bühnen Venedigs, folglich die Theater Sant’Apollinare, San Cassiano und SS. Giovanni e Paolo, und die Höfe Wiens und Neapels, wo er Kapellmeisterstellen innehatte. In diesen dreißig Jahren kam jedes Jahr mindestens eine neue Oper Zianis zur Aufführung, zumeist in Venedig. Gleichzeitig erfuhren seine drammi per musica, auch durch seine über Jahrzehnte andauernde Zusammenarbeit mit der reisenden Operntruppe der Febiarmonici, in ganz Italien Wiederaufnahmen. Damit war Ziani der erste und erfolgreichste Nachfolger Francesco Cavallis im Operngeschäft.1 Von einer Norm ist auszugehen, weil sich ›Varietas‹, ›Artifizialität‹ und ›Irregolarità‹ in allen Opern Zianis, vor allem aber in denen der 1660er und frühen 1670er Jahre, als zentrale Charakteristika erweisen und deren einheitlichen Stil bedingen. Zudem manifestierten sie sich nicht nur in __________ 1
Saskia Maria Woyke: Pietro Andrea Ziani. Varietas und Artifizialität (Perspektiven der Opernforschung 16). Frankfurt 2008. Zu Ziani weiterhin: Dies.: Ziani, Pietro Andrea. In: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. 2. Auflage. Personenteil Bd. 17, Sp. 1452–1457. Theophil Antonicek: Ziani, Pietro Andrea. In: The New Grove of Opera. London u.a. 1997 (1992), Bd. 4, Sp. 1232f. Ders.: Beobachtungen zu den Wiener Opern von Pietro Andrea Ziani. In: L’opera italiana a Vienna prima di Metastasio. Hg. von Maria Teresa Muraro. Florenz 1984, S. 165–191. Ders.: Die Damira-Opern der beiden Ziani. In: Analecta musicologica. Köln 1974 (Studien zur italienischen Musikgeschichte 14), S. 176–207. Ders.: Ziani, Pietro Andrea. In: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik begründet von Friedrich Blume. Hg. von Ludwig Finscher. Kassel u.a. 1968. Bd. 14, Sp. 1254–1259. Wendy Beth Heller: Emblems of Eloquence. Opera and Woman’s Voices in Seventeenth-Century Venice. Berkeley u.a. 2003, S. 223–225.
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Saskia Maria Woyke
ausnahmslos allen drammi per musica des Komponisten, sondern auch auf allen Ebenen derselben, wie im Folgenden ausgeführt werden wird. Die drei zentralen Charakteristika wurden von Zianis Zeitgenossen zwar erwähnt, genannt oder umschrieben, jedoch in keinem Fall näher oder neu definiert. Zeitgenössische Traktate wie Il corago o vero alcune osservazioni per metter bene in scena le composizioni drammatiche2 (um 1640) nehmen sie ebensowenig vorweg wie Giovan Battista Donis Trattato della musica scenica in seiner Lyra barbarina (ebenfalls um 1640).3 Auch Giovan Domenico Ottonellis Della christiana moderatione del Teatro von 1652,4 Angelo Bontempi in seiner Historia musica5 von 1695 oder Angelo Berardis Miscellanea musicale6 von 1698 gehen nicht explizit auf sie ein. Dies deutet darauf hin, dass die angenommene Norm primär von den Erwartungen des zahlenden Publikums anstatt von künstlerischen oder theoretischen Überzeugungen ausging. Entsprechend konstatierte Andrea Perrucci in Dell’arte rappresentativa 1681, wenn auch in einem Nebensatz: »dilettare con profitto essendo il fine di questo esercizio, essere tiranna dell’ozio.«7 Es sei demnach das Ziel dieser Kunstform, »der Langeweile zur Tyrannin zu werden und mit Profit« zu unterhalten. ›Varietas‹ als wichtiges Kriterium für Musik und Text des 17. Jahrhunderts im Allgemeinen vermutete die Musikwissenschaft schon mehrmals. So schrieb Franko Piperno zur Instrumentalmusik des 17. Jahrhunderts: »la musica strumentale d’assieme seicentesca denuncia prepotentemente ad ogni rilettura o riascolto la propria natura sfuggente, costituzionalmente incline alla varietà, alla irregolarità, alla sorpresa […]«.8 Anna Laura Bellina bemerkte in Hinblick auf ein Libretto Legrenzis und auf den Librettisten Cristoforo Ivanovich: »In sostanza il principio della varietas […] informerebbe di se del dramma secentesco.«9 Schließlich wies Paolo Fabbri in seiner Studie Il secolo cantante __________ 2
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Il corago o vero alcune osservazioni per metter bene in scena le composizioni drammatiche. (Manuskript um 1640). Hg. von Paolo Fabbri und Angelo Pompilio. Florenz 1983. Giovan Battista Doni: Trattato della musica scenica (Manuskript um 1640). In: Giovan Battista Doni: Lyra barbarina. De’ trattati di musica […] tomo secondo. Hg. von Francesco Gori. Florenz 1763. Giovan Domenico Ottonelli: Della christiana moderatione del Theatro […] con aggiunta dell’ultimo d’un hipomistico […] diretto in forma di preghiera a’musici comedianti mercenarij, & ad ogn’altro musico aiutente al theatrale, e poco modesto recitamento. Florenz 1652. Angelo Bontempi: Historia musica. Perugia 1695. Angelo Berardi: Miscellanea musicale. Florenz 1698. Andrea Perrucci: Dell’arte rappresentativa e premeditata ed all’improvviso. Neapel 1691. Hg. von Anton Giulio Bragaglia. Florenz 1990, S. 1–31, hier: S. 5. Franco Piperno: Sulla ricezione della musica strumentale d’assieme al tempo di Legrenzi. Strategie compositive e carattere della fruizione. In: Giovanni Legrenzi e la Cappella ducale di San Marco: Atti dei convegni internazionali di studi. Venezia, 24–26 maggio 1990. Clusone, 14–16 settembre 1990. Hg. von Francesco Passadore und Franco Rossi. Florenz 1994 (Quaderni della Rivista italiana di musicologia 29), S. 275–289, hier: S. 275. Anna Laura Bellina: Totila, Belisario, l’Orso e l’Elefante. In: Giovanni Legrenzi (Anm. 8), S. 545–565, hier: S. 553.
›Varietas‹ – ›Artifizialität‹ – ›Irregolarità‹
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auf die im Verlauf der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts evidente Entwicklung zu immer extravaganteren und diskontinuierlicheren Sprachstrukturen in venezianischen Librettodrucken hin.10 Da also keine Definition im Umfeld Zianis zu finden ist, so sei hier eine solche, wenngleich vorläufige, zum besseren Verständnis des Folgenden vorgenommen. ›Varietas‹ wird dabei als ›Mannigfaltigkeit‹, als ›zahlreiche verschiedene Abweichungen von einer Grundform‹ verstanden. ›Artifizialität‹ ist im italienischen und deutschen Wortschatz inexistent und wurde als bewusste Wortschöpfung gewählt, um ›Kunstfertigkeit‹, ›Geschicklichkeit‹, aber auch ›Künstlichkeit‹ in neutraler Bedeutung zu implizieren, entsprechend der Herkunft von ›arte‹. Dies bedeutet auch das Vermeiden des problematischen, bereits besetzten Begriffes des ›Manierismus‹. ›Irregolarità‹ wird im einfachsten Sinn als Unregelmäßigkeit, als Nicht-Vorhersehbares verstanden. Hinzuzufügen als in Bezug auf Zianis Musik von Zeitgenossen angewandter, jedoch ebenfalls nicht näher definierter Begriff wäre die ›Bizzaria‹. Die genannten Merkmale zeigen sich in Zianis drammi per musica auf folgenden sechs Ebenen: 1. Librettodrucke, 2. Musik, 3. Korrespondenz, 4. Titelbilder, 5. ›intreccio‹, also Handlung, 6. Bearbeitungspraxis in Text und Musik der Wiederaufnahmen. Der Erläuterung dieser Ebenen sei ein programmatischer Librettodruck eines von Ziani vertonten dramma per musica Francesco Maria Picciolis vorangestellt, der das hier gemeinte Prinzip der ›Varietas‹ explizit zum Thema erhebt: L’incostanza trionfante ovvero il Theseo von 1658, also die »triumphierende Unbeständigkeit«.11 Damit nicht genug, denn als Motto des Königs fungiert: »Costanza è il variar spesso il pensiero«. Gemeint ist: »Standhaftigkeit bedeutet das häufige Wechseln des Gedankens«. In einem Oxymoron setzt man hier Unbeständigkeit der Gedanken und Standhaftigkeit gleich, lässt also die scheinbare Unbeständigkeit triumphieren. Aufschluss geben die ungewöhnlich umfangreichen Vorreden, die zusätzlich auch in lateinischer Sprache aufgeführt sind, um das Thema mit Nachdruck historisch zu legitimieren. Nach Plutarch wird Theseus auch im modernen Venedig in den Parallelen seiner Handlungen als Privatmann und als Politiker dargestellt (»passo naturale« verso »passo politico«). Ihm gereiche die große Zahl seiner ausgezeichneten verschiedenen politischen Handlungen ebenso zur Ehre wie die hohe Zahl seiner bewusst gewählten Frauen. Dies mag insbesondere bei den Diplomaten im Opernpublikum Venedigs Anklang gefunden haben. Gleichzeitig gibt es einen expliziten Bezug auf die Serenissima, die Stadt, die per se als Inbegriff der ›Varietas‹ galt.12 Denn die Perspektive des eckigen Pfeilers, vor dem Theseus erhöht sitzt, __________ 10
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Paolo Fabbri: Il secolo cantante. Per una storia del libretto d’opera nel Seicento. Bologna 1990. Francesco Maria Piccioli u.a.: L’incostanza trionfante ovvero il Theseo. Venezia 1658. Exemplar mit erhaltenem Titelbild in I-Rsc. Eine Abbildung des Titelbilds bei Woyke: Pietro Andrea Ziani (Anm. 1), Titelbild und Abb. 4, S. 224 Hier wäre beispielsweise auf die Mannigfaltigkeit während des Karnevals hinzuweisen: »But carnival also exerted an influence on the musical texture of opera. While we can only
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ist Tizians berühmtem Gemälde Die Madonna des Hauses Pesaro aus Santa Maria Gloriosa dei Frari entnommen. »Variar spesso il pensiero« in der »Costanza« verweist gerade auch im Zusammenhang mit der »Natur«, dem »passo naturale«, auf eine Auffassung der ›Varietas‹, wie sie Jahrhunderte zuvor Leon Battista Alberti in seiner Della pittura formuliert hatte:13 Die »varietà« wird als auf Einheit, Regelmäßigkeit, Erwartbarkeit zielende Norm, die zugleich restriktivem Gebrauch unterworfen werden muss, verstanden. Die dargestellte »copia e varietà delle cose« müsse moderat gehandhabt werden und sei vor »confusione« und »tumulto« ebenso zu bewahren wie dem eigentlichen Thema unterzuordnen.14 Genau dies ist im Libretto der Fall. Zum einen wird die ›Varietas‹ der ›Costanza‹ untergeordnet, da sie diese bedingt. Zum anderen zeigt sich gerade Theseus’ Handeln als Vermeidung von »tumulto«, da seiner feinen Sinnlichkeit die brutale, der »confusione« zuneigende wahllose Sinnlichkeit des Zentauren Anfimedonte gegenübergestellt wird. Wie gezeigt werden wird, ist es tatsächlich Albertis Definition von ›Varietas‹, die der ›Varietas‹ bei Ziani auch in Hinblick auf seine Musik am nächsten kommt. Die sechs verschiedenen Ebenen, auf denen ›Varietas‹, ›Irregolarità‹ und ›Artifizialität‹ nachzuweisen sind, sollen im Folgenden näher benannt werden.
1. Die Ebene der Textvorlagen Hinweise hierauf sind in Zianis unmittelbarem Umfeld vorhanden, so etwa bei Christoforo Ivanovich. Für diesen seinen vornehmsten Librettisten und angesehenen Historiker Venedigs setzte sich der Komponist am Wiener Hof persönlich ein, um ihm zum Amt des dortigen Hofkomponisten zu verhelfen.15 Ivanovich schrieb 1673 an den Komponisten Giovanni Maria Pagliardi: »Ho adoperato una varietà di metri; a finché campeggiano nella loro bizzarria gli andamenti
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imagine the multiplicity of sounds during carnival, the range of activities, the different social classes and talents among the participants, and the blurry line between spectator and performer suggest that it must have included a stunning variety of musical styles [….].« Wendy Beth Heller: Emblems of eloquence (Anm. 1), S. 8. Leon Battista Alberti: De pictura praestantissima et nunquam satis laudata arte libri tres absolutissimi. 1435. 1436 als Della pittura […] publiziert. Ediert in: Leon Battista Alberti: Opere Volgari III. Hg. von Cecil Grayson. Bari 1973, Liber II, 40. Brigitte Brinkmann: Varietas und Veritas: Normen und Normativität in der Zeit der Renaissance. Castigliones Libro del Cortegiano. München 2001, S. 15ff. Brinkmann (Anm. 13), S. 10, Anm. 1. Ivano Cavallini: Questioni di stile e struttura del melodramma nelle lettere di Cristoforo Ivanovich. In: Giovanni Legrenzi (Anm. 8), S. 185–200. Norbert Dubowy: Un Dalmata al servizio della Serenissima: Cristoforo Ivanovich, primo storico del melodramma. In: Arti Musices 23 (Juni 1992), S. 35–44.
›Varietas‹ – ›Artifizialität‹ – ›Irregolarità‹
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della sua musica [...].«16 (»Ich habe eine Varietàs von Metren angewandt; auf dass sie in ihrer Bizzarrerie mit Ihrer Musik wetteifern mögen.«) Andrea Perrucci, der in unmittelbarer Zusammenarbeit mit Ziani dessen Le fatiche d’Ercole per Deianira 1679 für Neapel umschrieb, stellte in seiner zwei Jahre später erschienenen Abhandlung Dell’arte rappresentativa fest, es gebe nunmehr »[…] tanta varietà d’arie, con diversità di metri e versi [...] composte con tanta varietà di ritmi, metri e rime che ormai non si ritrova né più da desiderare, né da inventare.«17 (»[…] eine solche Varietas von Arien, mit einer Unterschiedlichkeit von Metren und Versen [...], die mit einer Varietas von Rhythmen, Metren und Reimen komponiert sind, dass man nunmehr nichts mehr zu wünschen, noch zu erfinden hat.«) Eine Analyse der je ca. fünfzig Arien in jeweils einem dramma per musica der Librettisten Zianis, Cristoforo Ivanovich, Aurelio Aureli, Nicolò Beregan, Matteo Noris und Giovanni Andrea Moniglia, die ihre sprachliche Struktur untersucht, wobei die Kombinationen von Verszahl, Versart, Reimschema, Strophe sowie Proportion ermittelt wurden, führte zu einem erstaunlichen Ergebnis (Anhang 1):18 Keine Arie innerhalb desselben dramma gleicht oder ähnelt in ihrer sprachlichen Struktur einer anderen. Dramenübergreifend sind ebenfalls kaum ähnliche Arien vorhanden. Also war es ein positives Qualitätsmerkmal des Librettisten, sich nicht zu wiederholen. Dies gilt sogar für die eher seltenen Schlafszenen, Wahnsinnsszenen und Lamenti, die gerade bei Ziani alles andere als standardisiert sind, wie man bisher vermutete.19 Das Durchführen einer solchen konsequenten ›Varietas‹ scheint ohne vorherige genaue Planung kaum möglich gewesen zu sein, weshalb auf das Auffinden von Skizzen seitens der Librettisten noch dringend zu hoffen wäre. Bezieht man als Untersuchungskriterium die inhaltliche Struktur mit ein, so ist die Abwechslung noch größer. Ein Beispiel für die ›Varietas‹ in diesem Bereich ist die typische rhetorischen Anrede zu Beginn fast jeder Arie, die an eine Allegorie, an Tugenden, an Götter, an Gegenstände oder an die Natur gerichtet ist (Anhang 2). Stets schließt sie eine andere Metonymie oder Personifikation ein, weshalb die Arie in Distanz zur Handlung gesetzt ist. Keine Anrede kommt innerhalb einer Oper mehrmals vor.
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Poesie di Cristoforo Ivanovich. Con l’aggiunta di varie Lettere di proposta, e risposta, e della Fenice panegirico alla memoria del gran Lazzero Mocenigo. Venedig (G. B. Catani) 1675. Brief vom 26.6.1673, S. 63. Andrea Perrucci: Dell’arte rappresentativa (Anm. 6), S. 92 und S. 101. Woyke: Pietro Andrea Ziani (Anm. 1), Kap. »Beseelung der Verse / Charakteristika der Musik / ›varietas‹ in Sprache und Musik«. Vgl. Ellen Rosand: Opera in Seventeenth-Century Venice. The Creation of a Genre. Berkeley u.a. 1991, S. 4; zu Ziani S. 294–295, S. 311f., S. 379f. Woyke: Pietro Andrea Ziani (Anm. 1), Kap. »Forschungsstand zur Oper der 1660er und 1670er Jahre«.
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2. Die Ebene der Musik Ziani bewältigte die ›Varietas‹ der Textvorlagen auf die einzig mögliche, von seinem Vorgänger Cavalli deutlich abweichende Art. Seine Opern der 1660er und frühen 1670er Jahre dokumentieren einen hochartifiziellen Stil, der einen angemessenen Gegenpart zur ›Varietas‹ der sprachlichen Struktur der Textvorlagen bildet. Dabei halfen ihm sein enormer Einfallsreichtum auf der einen und seine virtuose Beherrschung des Kontrapunkts auf der anderen Seite. Letzteres war eine Folge seiner musikalischen Ausbildung durch die Canonici di San Salvatore, wo kein geringerer als Giovanni Maria Artusi unmittelbarer Vorgänger Zianis gewesen war.20 In Bezug auf die Entsprechung von ›Varietas‹ in Text und Musik ist hier insbesondere die Abwesenheit jeglicher wörtlicher Wiederholungen zu sehen. Zianis Interesse an Experimenten war groß, so beispielsweise in der Anlage der Binnenstruktur von Arien, der Ausarbeitung von Cavaten und der Architektur ganzer Szenen. Dabei hielt er jedoch an der Vielfalt verschiedener Genres innerhalb einer Oper, an Rezitativen, Cavaten, Ariosi und Arien, fest. Anders als seine jüngeren Zeitgenossen unterlag er keinesfalls der Faszination der Dacapo-Arie. Grund hierfür ist seine noch nicht explizite Bindung an die Dur-Moll-Tonalität, wie sie seinen Kollegen, etwa Pallavicino, mit ihren darauf genau zugeschnittenen Devisenarien zu eigen war.21 Vielmehr zeigt sich bei Ziani die ältere, prozesshafte, zu seinen Textvorlagen passende, nach der ersten Textzeile hin offene Arienstruktur.22 Übergeordnetes Prinzip blieb die Orientierung an der affektiven Rede, die sich aus der unmittelbaren inneren Bewegung des Protagonisten ergab. Dabei deutete Ziani keineswegs jedes einzelne Wort aus, wie dies bei Monteverdi häufig geschehen war. In keinem Fall dominierte die innere Bewegung des Protagonisten über die Textstruktur, wie es häufig bei Cavalli in dessen ausgedehnten lyrischen Phrasen der Fall gewesen war.23 Auch Signalworte wurden selten als solche behandelt, plakative Mittel wie etwa ›suspiratii‹ vermieden. Überhaupt war die melodische Konzeption des Nicht-Sängers Ziani eher instrumental als sanglich. All dies macht auch das aus, was als ›Artifizialität‹ und ›Irregolarità‹ bei gleichzeitigem – um mit Alberti zu sprechen – Vermeiden des »tumulto« bezeichnet werden kann. Alles in allem zeigt die Analyse von Text und Musik der drammi per musica Zianis die Unmöglichkeit einer __________ 20
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Woyke: Pietro Andrea Ziani (Anm. 1), Kap. »Der Orden von San Salvatore« und »Individualität«. Norbert Dubowy: Arie und Konzert. Zur Entwicklung der Ritornellanlage im 17. und frühen 18. Jahrhundert. München 1991 (Studien zur Musik 9), S. 123. Woyke: Pietro Andrea Ziani (Anm. 1), Kap. »Beseelung der Verse – Charakteristika der Musik«. Antonicek: Die Damira-Opern der beiden Ziani (Anm. 1). Vgl. jedoch Eleanor Selfridge-Field, die angesichts der Höhe einer Entlohnung Zianis an San Marco folgert, er sei als Sänger angestellt gewesen: Venetian Instrumental Music from Gabrieli to Vivaldi. New York 1994, S. 17. Sie nimmt Bezug auf die Quelle I-Vas, Basilica di San Marco. Reg. 13, Eingänge vom 20.5.1651. Diese Eintragung konnte die Autorin in der entsprechenden Quelle jedoch nicht mehr auffinden.
›Varietas‹ – ›Artifizialität‹ – ›Irregolarità‹
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Einteilung in Arientypen, die Unvorhersehbarkeit der melodischen Umsetzung und damit das Vorherrschen der ›Varietas‹ als Norm.
3. Die Ebene der Korrespondenz Gemessen an den Handschriften Claudio Monteverdis und Francesco Cavallis ist die Zianis auffallend unregelmäßig. Dies lässt darauf schließen, dass er seine Briefe ebenso rasch wie seine Arien entwarf. Nicht nur in der Geschwindigkeit der Konzeption entsprechen erstere den letzteren: Häufig wirken verschiedene Satzteile oder Sätze wie eine Variante desselben Themas, und es gibt unerwartete Fortführungen. Dies sind zugleich die wichtigsten Eigenschaften seiner musikalischen Phrasen. Ferner zeichnete Ziani sich in seinen Briefen wie in seinen Arien durch zahlreiche Einfälle aus, die den Text interessanter machten. So hieß es etwa am 12. Juni 1666 in einem von Ziani diktierten Brief an den Impresario Marco Faustini in Venedig, der hier in Übersetzung zitiert wird: Ich erwarte Ihre Anweisung ohne anderen Grund, als dass es mir lieb wäre, wenn Sie mir eröffnen würden, ob Sie sie [die Musik] aus Pflicht oder aus Höflichkeit haben möchten. Wenn es für die erste wäre, antworte ich, dass ich es nicht vorhabe, weil es mehr als die Beigabe des Fleisches wäre. Wenn es für das zweite ist (falls ich anders als eine andere Person behandelt worden bin, die ich sehr wohl achte, aber der ich keinerlei Überlegenheit zubillige) [gemeint: Cavalli], wie exitus fatta probavit, et probatito nunc, dennoch, verhandeln wir mit Höflichkeit, höflich und ohne Romanate noch Fiorentinate, ohne mich bitten zu lassen, oder Erlaubnis zu erfragen bei den Padroni, um meine Interessen besser voranzubringen und ohne Wunsch nach eitlem Ruhm, ich halte Sie für einen sehr feinen Höfling und Ehrenmann, und um Herrn Marco zu dienen, antworte ich mit ja, denn, um offen zu reden, betrachte ich Sie als sehr zurückhaltend und zielgerichtet und fähig jedes guten Zieles und jeder guten Korrespondenz, ohne anderes zu sagen, dass Sie mich zu verstehen und mir zu antworten wissen werden. Onde satis!24
4. und 5. Die Ebene der Titelbilder der Librettodrucke sowie der Handlungen Zu neun der von Ziani vertonten drammi per musica sind Titelbilder überliefert. Dabei liegen fünfmal Szenen aus unterschiedlichen Akten der Oper vor. Quer dazu handelt es sich zweimal um die Anfangs-, zweimal eine spätere, einmal die Prologszene. In der Identität der Dargestellten handelt es sich nur in vier Fällen um Protagonisten aus der Oper im Szenenzusammenhang, einmal um einen aus den Szenen herausgelösten Protagonisten, einmal um mythologische Gestalten, zweimal um eine gemeinsame Darstellung von Protagonisten und Allegorien __________ 24
Brief vom 12.6.1666 aus Wien. I-Vas, Scuola Grande di San Marco, Busta 188, f. 268. Publikation der vollständigen Briefe Zianis im italienischen Original und in deutscher Übersetzung bei Woyke: Pietro Andrea Ziani (Anm. 1).
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und einmal ausschließlich um Allegorien. Damit wurde auch in den Titelbildern die größtmögliche ›Varietas‹ von Lösungen gefunden. Die Vielfalt der Handlungen der Libretti sind aus den Titeln und Titelbildern zu erahnen.25
6. ›Varietas‹ und ›Artifizialität‹ auf der Ebene der Wiederaufführungen Untersucht wurden elf Opern Zianis und ihre insgesamt 52 Wiederaufnahmen in ganz Italien (Anhang 3). Das wichtigste Merkmal jedes Textes, der in der Nachfolge eines ersten Librettodruckes publiziert wurde, war seine Individualität. Vereinheitlichende Bearbeitungsweisen fehlten. Vorlieben der Bearbeitung sind demnach, zumindest gemessen an den Librettodrucken der von Ziani vertonten drammi, nicht bestimmten Städten, sondern ausschließlich dem Geschmack der Bearbeiter oder Auftraggeber zuzuordnen. Bei den insgesamt eher seltenen Änderungen in der Musik für die Wiederaufführungen muss ebenfalls die Abwesenheit standardisierter Vorgangsweisen festgestellt werden. Sie sind vielfältig und individuell. Meist kommt eine bestimmte Art der Veränderung nur in einer einzigen Partiturhandschrift vor. Die typischen Orte der Ritornelle, der Schnittstellen der Akte und der Arien mit Binnenritornellen wurden zwar besonders häufig, jedoch auf unterschiedliche Art und Weise modifiziert. Dies bedeutet ›Varietas‹ und ›Irregolarità‹ in der Bearbeitungspraxis der Libretti und der Musik.26 Zuletzt sei ein ausdrückliches Beispiel zur ›Artifizialität‹ bei Ziani angeführt. Es ist zwar einem sepolcro, Assalone punito, entnommen, jedoch gerechtfertigt, da Ziani selbst seine Arien für die Kirche und für die Oper gleichsetzte.27 Da es für Wien geschrieben wurde, ist die sprachliche und musikalische ›Varietas‹ etwas weniger ausgeprägt, jedoch immer noch deutlich bemerkbar. Artifiziell im Sinne von höchst künstlich aber ist die Situation, in der gesungen wird: Absalon, der sich durch die Schönheit seines Haares auszeichnet und dessen Verschwörung gegen den Vater aufgedeckt wurde, hat sich auf seiner Flucht mit eben diesem Haar in einer Eiche verfangen. Das Pferd ist unter ihm hinweggeritten, so dass er nun hilflos am Baum hängend seinen Tod erwartet und die entsprechende Arie singt (Anhang 5 und 6).28 Der Leser sei hier auf die ausgezeichnete Aufnahme von Alan Curtis und Il complesso barocco verwiesen. Die beschriebenen Jahrzehnte des 17. Jahrhunderts zeigen sich wenig beeindruckt von den Anfängen der Aufklärung und der ›Dea Ragione‹, der ›Göttin Vernunft‹, der wenig später gehuldigt werden sollte. Sie erweisen sich als __________ 25
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Woyke: Pietro Andrea Ziani (Anm. 1), Kap. »Opernsujets – zur Stoffgeschichte und Ikonographie im Zeichen der ›varietas‹«. Ebd., Kap. »Voraussetzungen« und »Transformationen der Opernproduktion Zianis«. Ebd., Kap. »Pietro Andrea Ziani und Venedig«. Assalone punito. Poesia del Padre Lepori, I-Wn, Mus. Hs. 18.854 Mus. Leopold. Einspielung von Alan Curtis, Il Complesso Barocco, Berlin und Mailand (Stradivarius) 1998.
›Varietas‹ – ›Artifizialität‹ – ›Irregolarità‹
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Dezennien voller Kreativität, Vielfalt und Einfallsreichtum an ›Varietas‹, ›Artifizialität‹ und ›Irregolarità‹, als eine Huldigung an häufig negativ als Unbeständigkeit, Unregelmäßigkeit und Überraschung aufgefassten Paradigmen. Diese zeigen sich in den nahezu unbegrenzt vielen Kombinationen verschiedener Versarten in den Arien Zianis. Sie sind in seiner Musik, wo kaum wörtliche Wiederholungen vorkommen, zu finden. Sie zeigen sich in der vielfältigen Bearbeitungspraxis seiner Opern für andere Städte. Die grundlegenden Wesenszüge des Theseo, »variar spesso il pensiero« – »den Gedanken häufig wechseln« – fügen sich hier ein. Sogar die vielfältigen Lösungen, die für Titelbilder von Librettodrucken, ob mit oder ohne Allegorien, gefunden werden, folgen solchen Maximen. Ziani gelang es wie keinem anderen Opernkomponisten seiner Zeit, die ›Varietas‹ der sprachlichen Textur durch eine ›Varietas‹ der musikalischen Ausarbeitung zu erhöhen. Gerade dies als einer der wichtigsten Gründe für den Erfolg seiner drammi bei gleichzeitigem Fehlen expliziter Erörterungen in Traktaten scheint darauf hinzudeuten, dass ›Varietas‹, ›Artifizialität‹ und ›Irregolarità‹ als unausgesprochene Normen von Seiten des Publikums erwünscht waren. ›Varietas‹ wurde, insbesondere in Zianis Arien mit nicht erwarteten melodischen Fortführungen, als Abundanz und Reichtum der Möglichkeiten und zugleich als Unberechenbarkeit und Unbegründetheit, der die ragione nicht mehr beizukommen vermochte, empfunden.29 Demnach stellte venezianische Oper der 1660er und 1670er Jahre die ›contrarietà‹ der ›Varietas‹ im Sinne Platons dar, wo ›varietà‹ der Natur weniger als Teil einer kosmischen Geordnetheit erscheint, sondern vielmehr als Unabsehbarkeit und Undurchschaubarkeit permanenter Wiederholung und Bewegung einer ›macchina del mondo‹ auffällt. Die Auslieferung der Protagonisten an fremde Mächte, etwa an die Sterne oder an Fortuna, wie sie insbesondere in den ersten Arienzeilen zum Ausdruck kommt, zeigt eine geringere Tatkraft als in den aussagekräftigen Devisenarien von Zianis jüngeren Zeitgenossen. Dieses Bewusstsein einer Entfernung von sich selbst findet sich auch in der Korrespondenz, wenn Ziani von sich in der dritten Person spricht – »così pensa di fare anche lo Ziani«, »so gedenkt es auch der Ziani zu tun«.30 Sie zeigt sich schließlich auch, wenn Ivanovich an Ziani schreibt: »Questa volta è toccato alla Fortuna di guidarlo« – »Es war Fortuna, die es [das dramma] führte.«31
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Brinkmann (Anm. 12), S. 13. Brief vom 9.5.1666 aus Wien, I-Vas, Scuola Grande di San Marco, Busta 188, f. 279. Poesie di Cristoforo Ivanovich (Anm. 15), Briefe Nr. 26–32 auf S. 341–348. Brief Nr. 28, S. 343f.
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Anhang Anhang 1 Struktur der Arientexte von L’amor guerriero, Dramma per musica, Librettist: Cristoforo Ivanovich, Aufführung: Venedig, San Cassiano 1662 (in Klammern Anzahl der Vorkommen) Arien mit nur einer Silbenzahl32
Arien mit zwei verschiedenen Silbenzahlen
Arien mit drei verschiedenen Silbenzahlen33
Arien mit vier verschiedenen Silbenzahlen
6p (1) 6p+tr (1) 7tr (1) 8p+tr (2) 8p (2) 8tr (2)
4p, 8p (2) 4p, 8tr+p (1) 6p, 11p (1) 7p, 11tr (1) 7 p+tr, 11p (1) 7p, 8p (1) 8p+tr, 11p (1)
4p, 8 tr+p, 7p (1) 4p, 8p, 11p (1) 4p, 8tr, 11p (1) 5sdr+tr, 8p, 11p (1) 7p, 10p, 11p (1) 7p, 8p, 11p (3) 7p+tr, 11p, 12p (1) 4p, 8p+tr, 11p (1)
4tr, 5p, 7 tr+p, 11p (1) 5p, 8tr, 7p+tr, 11tr (1)
Arten von Refrains:34
Anzahl der Verse (ohne Refrain):35 vierzeilig (11): fünfzeilig (3): sechszeilig (10): siebenzeilig (5): achtzeilig (6): zehnzeilig (5)
RBR (7) RBR, CR (3) RBR, CR, DR (1) RBR, SCS (1)
Arien mit Refrain (27) Arien ohne Refrain (13)
ABA (1) ABA, CDC (1) ABA, CA (1) AB, CB (1) AR, BR (7)
Einstrophige Arien (14) Zweistrophige Arien (16)
Proportionen der Arientexte (Verhältnis Refrain bzw. A-Teile zum restlichen Arientext, in Zeilen): 1:3:1 (5) 1:4:1 (2) 1:5:1 (3) 1:9:1 (1)
2:5:2 (2) 2:6:2 (1) 3:4:3 (1) 3:5:3 (2)
4:6:4 (1) 1:5 (1) 4:2 (3) 4:3 (1)
5:1 (1) 6:1 (1) 6:8 (1) 8:2 (1)
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33
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Die Zahl gibt die Silbenzahl des Verses, (6 = senario), die folgende Abkürzung die Endung (p = piano, tr = tronco, sdr = sdrucciolo) an. Beispielsweise bedeutet »6p, 8p«, dass die Arie ausschließlich »senarii piani« und »ottonarii piani« enthält. Als »Refrain« wird eine Zeile betrachtet. Eine Arie RBR ist also eine, in der die erste Zeile am Ende wiederholt wird. Als ABA-Arien werden Arien, in denen die ersten zwei bzw. noch mehr Zeilen am Ende wiederholt werden, bezeichnet. Anzahl der Zeilen, aus denen eine Arie besteht. »vierzeilig (11)« bedeutet: In der Oper kommen elf Arien vor, die vierzeilig sind.
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›Varietas‹ – ›Artifizialität‹ – ›Irregolarità‹
Anhang 2 Struktur der rhetorischen Anrede in den Arien von L’amor guerriero, Dramma per musica, Librettist: Cristoforo Ivanovich, Aufführung: Venedig, San Cassiano 1662 Anreden an die Götter: an den Liebesgott (Amor, Cupido): Anreden an Tugenden und Laster: an das Geschick: an die Hoffnungen: an die Rache: an die Eifersucht: an den Frieden: an Zorn und Verachtung: Anrede des »Ich« an die eigenen Gedanken: an das eigenes Herz:
an die Stimmen in der Brust: Anrede an die Natur: an Baumstämme, wilde Tiere, Quellen, Farne, Berge, Steine, Flüsse: an die Sterne: Anrede an Gegenstände: an Waffen: an die Räume des Palastes: Anrede an abwesende, pauschalierte Gruppen: an Frauen: an alte Frauen: an schöne Frauen: an junge Männer: an zornige Mütter liebender Söhne: an Amor: an Mars: an die Winde:
»Amor non mi tradire« I/5 »Cieco amor, fiero sdegno« II/1 »Ben vaneggia, chi da fede« II/13 »Amica fortuna« II/15 »Speranze tradite« III/1 »Vendette rubelle« II/2 »Gelosia cruda arpia« II/3 »Vago aspetto della pace« III/9 »Ira, e sdegno non più« III/11 »Non tardate ò miei pensieri« II/4 »Miei pensieri amorosi« III/14 »Se nel campo guerrier« I/12 »Infelice mio core«, III/3 »Su mio core al bear« III/6 »Soffri, e spera, ò mio core« II/5 »Quel diletto che rendete« II/8
»O voi di questi boschi« I/15 »Stelle, se prendete« I/14 »A che o stelle mi togliete« II/7 »A dio guerrieri arnesi« I/10 »Care loggie beate« I/3
»Convien donne aver patienza« III/2 »Amar vecchie o questo nò« III/11 »Prestar fede è gran pazzia« I/5 »Giovanetti non cercate« I/15 »Madri irati a figli amanti« II/9 »Mio fido destriero« »Dimmi Marte, che val la tua vittoria« »Venti a che più badate«
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Arien ohne spezifische Anrede, die eine allgemeine Lebensweisheit ausdrücken: wer das gute Herrschen versucht: wer sich zum Liebhaber macht: Wirkung von Hoffnung und Glück auf die Liebe: Wert von Standhaftigkeit und Glauben: Mitgefühl mit leidenden Liebenden:
»Chi al governo vive intento« I/4 »Mala cosa è farsi amante« I/9
»Se in Amore la speranza« I/2 »Di costanza e di fede« I/3 »Qual tormento e qual martire« I/11 Dummheit, Amor zu glauben: »Ben vaneggia, chi da fede«, II/13 Wirkung der Schönheit: »Tiranna si fa« II/6 Frauen werden nur in ihrer Jugend geliebt: »Amar vecchie o questo no« III/11 Anhang 3 Wiederaufnahmen von Ziani vertonten drammi per musica, zumeist mit seiner Musik: Titel
Textdichter
Anzahl Wiederaufnahmen
Ort und Jahr der Wiederaufnahmen
Le Fortune di Rodope e di Damira
Aurelio Aureli
14 in 18 Jahren
L’incostanza trionfante ovvero il Theseo Antigona delusa da Alceste
[M.A. Piccioli u.a.]
Venedig 1657 (San Cassiano), Bologna 1658, Mailand 1660, Bergamo o.D., Livorno 1661, Florenz 1661, Livorno 1661, Ferrara 1662, Turin 1662, Neapel 1666, Forlì 1667, Palermo 1669, Bologna 1670, Reggio 1674 Venedig 1658 (San Cassiano), 2. Auflage Venedig 1658
Aurelio Aureli
8 in 12 Jahren
Annibale in Capua
Nicolò Beregan
9 in 15 Jahren
Le Fatiche d’Ercole per Deianira L’Amor guerriero
Aurelio Aureli
3 in 20 Jahren
Venedig 1660 (SS. Giov. e Paolo). Bologna 1661, Mailand 1662, Mailand und Neapel 1669, Venedig 1669, Venedig 1670 (S. Salvatore), Hannover 1679 und 1681 als Alceste, hierbei teilweise mit Musik von M. Pier Antonio Fiocco Venedig 1661 (SS. Giov. e Paolo), 2. Auflage Venedig 1661, WA Malta 1664, Malta / Messina 1664 und Neapel 1671, Ferrara 1665, Mailand 1666, Bologna 1667, Bergamo 1668, Viterbo 1671, Lucca 1675 Venedig 1662 (SS. Giov. e Paolo), Neapel 1679, Amsterdam 1681
Cristoforo Ivanovich
3 in 14 Jahren
Venedig 1662 (SS. Giov. e Paolo), Neapel 1668, Bologna 1675
L’Elice (Favola boscareccia)
Domenico Federici
2 in 15 Jahren
Wien 1666, Neapel 1680
227
›Varietas‹ – ›Artifizialität‹ – ›Irregolarità‹
Titel
Textdichter
Anzahl Wiederaufnahmen
Ort und Jahr der Wiederaufnahmen
L’Heraclio
Nicolò Beregan Matteo Noris
5 in 21 Jahren
Il Candaule
Adriano Morselli
3 in 6 Jahren
L’Innocenza risorta ovvero Etio
Adriano Morselli
2 in 4 Jahren
Venedig 1671, Neapel 1673, Mailand 1678, Verona 1683, Bologna 1692 Venedig 1672 (SS. Giov. e Paolo), 2. Auflage Venedig 1672, WA Neapel 1675, Mailand 1677 Neapel 1679 (Real Palaggio), Venedig (San Cassiano) 1680, Palermo / Castelbuono 1684 Venedig 1683 (San Cassiano), Neapel 1686 als L’Etio
Attila
3 in 6 Jahren
Anhang 4 Ausschnitt aus Assalone punito (Text: Padre Lepori, Musik: Pietro Andrea Ziani, Wien) Italienischer Text
Wörtliche Übersetzung36
Da capelli e da foglie s’invola a gli occhi il Cielo,
Vor den Haaren und dem Laub entschwindet vor meinen Augen der Himmel, die Erde entzieht sich meinen Füßen, das Herz füllt sich mit Eis. Durch meinen goldgelockten Tod lerne ich Unseliger endlich, dass Rebellen zu ihrer schrecklichen Züchtigung in den Haaren und Gedanken Galgen tragen. O Sterne, die ihr neidisch auf meine Augensterne seid, sind diese, ihr Tückischen, Eure Siegestrophäen? In der Luft zu betrachten so fröhliche Lichter, zu Kometen geworden, bedroht ihr mein Herz mit wildem Eisen. Ruchlose, lacht, wo ihr nun sehen werdet, dass in diesem Eichenwald, während das Gold mich erhängt, mich das Eisen tötet. Da ist Joab, ich sehe ihn, bewaffnet mit drei Lanzen, der mir drei Tode in einem einzigen Schlag gibt. Erbarmen, Krieger, Erbarmen.
la terra al piè si toglie, il cor s’empie di gelo. Dalla mia morte d’oro misero, alfin comprendo che portano i ribelli, per suo castigo orrendo, ne’ crin capestri e ne’ pensier flagelli. O stelle invide degl’occhi miei, son questi, o perfide, vostri trofei? Mirar in aria luci sì liete, fatte comete, minacciar all mio cor spada gregaria. Empie ridete, ch’or, or vedrete ch’in questo cerro, mentre m’impicca l’or, mi svena il ferro. Ecco Gioab, il veggio, che di tre lancie armato, tre morti in un sol colpo, ahimè, mi da. Pietà, guerrier, pietà. __________ 36
Hier wurde die Übersetzung des Beiheftes der Aufnahme Assalone punito (Anm. 25) von Liesel B. Sayre zugrunde gelegt, die leicht verändert wurde.
Namenregister Adlung, Jacob 131 Adorno, Theodor W. 38, 39, 40, 41, 47, 48 Aichele, Alexander 1, 19f., 54, 66ff., 184, 193 Alberti, Leon Battista 187, 218, 220 Albrecht, Michael 102f. Antonicek, Theophil 215, 220 Aristoteles 58, 66, 88, 91, 119, 204 Aristoxenos 56 Artusi, Giovanni Maria 117, 123, 220 Aureli, Aurelio 219, 226 Bach, Carl Philipp Emanuel 117f., 121– 123, 140–142 Bach, Johann Ernst 131 Bach, Johann Sebastian 46, 97, 106, 126, 128, 131, 137f., 147, 154, 160, 174 Baïf, Jean-Antoine de 83 Balet, Leo 126 Bann, Joannes 90 Barnard, Frederik M. 64, 69, 76, 78 Batteux, Charles 29 Bauer, Volker 194 Baumgarten, Alexander Gottlieb 39f. Bayly, Anselm 183 Bayreuther, Rainer 1f., 8ff., 130, 174, 184f. Beck, Dorothea 136 Becker, Alexander 39 Becker, Heinz 159 Beeckman, Isaac 87 Beer, Johann 159 Beetz, Manfred 66, 77, 183f., 192 Behne, Klaus-Ernst 33 Bellina, Anna Laura 216 Bemetzrieder, Anton 94 Benda, Anton 131 Berardi, Angelo 216 Beregan, Nicolò 219, 226f. Bernhard, Christoph 135 Beuys, Joseph 24 Bienert, Walther 204 Birke, Joachim 43 Bloch, Ernst 184 Blume, Friedrich 174, 215 Bodmer, Johann Jakob 213 Boesset, Antoine 87 Boileau, Nicolas 31, 88 Bokemeyer, Heinrich 97, 105f., 172
Bontempi, Angelo 216 Boomgaarden, Donald R. 55 Borgstedt, Thomas 32 Bouhours SJ, Père Dominique 25, 31 Braun, Werner 27, 138 Bray, René 88 Breitinger, Johann Jakob 213 Brinkmann, Brigitte 218, 223 Brockes, Barthold Hinrich 127, 211f., 214 Brückner, Jutta 64, 75 Büchmann, Georg 138 Bücken, Ernst 30 Budde, Johann Franz 79, 208 Bunners, Christian 136 Burmeister, Joachim 38 Burney, Charles 117 Busch, Gudrun 159 Buttstett, Johann Heinrich 14, 43, 107, 129f. Canitz, Friedrich Rudolf Ludwig Freiherr von 29, 125, 128 Casa, Giovanni della 30f. Cavalli, Francesco 215, 220f. Cavallini, Ivano 218 Charpentier, Marc-Antoine 90 Christensen, Thomas 1, 81ff., 111 Cicero (Marcus Tullius Cicero) 32, 49 Cohen, H. Floris 87 Corelli, Arcangelo 57, 98, 101, 106 Corette, Michel 140 Corneille, Pierre 88f. Costar, Abbé 25, 65 Cousu, Antoine de 89 Cramer, Carl Friedrich 142 Crombie, Alistair Cameron 83 Curtis, Alan 222 Dammann, Rolf 119, 141 Daniel, Thomas 46 Daston, Lorraine 52 Dear, Peter 83 Dehesselles, Thomas 198 Denzer, Horst 186, 208 Des Hayes, Charles 127 Descartes, René 82, 84f., 87, 92 Destouches, Philippe Néricault 138 Dewey, John 38 Diderot, Denis 94, 131 Döbricht, Samuel Ernst 148, 150
230 Döhring, Detlef 129f. Döhring, Sieghard 138 Doni, Giovan Battista 87, 216 Doyé, Sabine 63, 72, 78 Du Bos, Abbé Jean-Baptiste 32f., 58 Dubowy, Norbert 218, 220 DuMont, Henri 89 Durkheim, Émile 10 Elias, Norbert 88 Engfer, Hans-Jürgen 67f. Euler, Leonhard 83 Fabbri, Paolo 216f. Faret, Nicolas 51 Fasch, Johann Friedrich 148, 153 Faustini, Marco 221 Feder, Johann Georg Heinrich 190, 200 Fehre, Christoph Ludwig 129 Finscher, Ludwig 12, 61, 174 Fleischhauer, Günter 129, 180 Fleischmann, Max 203 Fludd, Robert 83 Forschner, Maximilian 66 Frackowiak, Ute 30, 32 Franck, Johann Wolfgang 137 Francke, August Hermann 203f. Frenzel, Herbert A. 148 Friedrich der Große 63 Friese, Friedrich 193f. Fritz, Tom 39 Früchtl, Josef 38 Fuhrmann, Heinrich Martin 122, 125, 134, 136, 138f. Füssel, Marian 190 Fux, Johann Joseph 60, 118, 122 Gadamer, Hans-Georg 31 Galilei, Galileo 82, 87 Galilei, Vincenzo 83 Geminiani, Francesco 115 Gerstenbüttel, Joachim 128 Giesen, Bernd 9 Gilbert, William 85 Glafey, Adam Friedrich 188, 195 Glöckner, Andreas 147, 174 Goldschmidt, Hugo 34 Gottsched, Johann Christoph 42f., 52, 81, 128 Gottsched, Luise Adelgunde Victorie 130 Gouk, Penelope 83, 111, 115
Register
Gracián y Morales, Baltasar 29, 31f., 60f., 76, 123, 126, 206 Graupner, Christoph 153, 160 Greenberg, Mitchell 88 Grimm, Gunter E. 65 Grimm, Jacob 8 Grimm, Wilhelm 8 Grunert, Frank 21, 184, 185, 204, 208 Gryphius, Andreas 126, 156 Guido von Arezzo 81 Gundling, Nikolaus Hieronymus 78f. Gutwirth, Marcel 88 Habermas, Jürgen 10, 14f., 38 Hammerstein, Notker 67, 72, 75, 77 Händel, Georg Friedrich 106, 143 Harms, Wolfgang 209 Hart, Herbert Lionel Adolphus 11, 49 Härter, Karl 198 Hasse, Johann Adolf 131 Hauser, Walter 115 Heidrich, Jürgen 136 Heinichen, Johann David 2, 5–8, 10, 12, 15–18, 25, 27–30, 33–38, 40–51, 53– 55, 57, 59f., 119–127, 133, 136, 139– 142, 145–165, 167 Heller, Wendy Beth 215, 218 Herder, Johann Gottfried 51, 116 Héroet, Antoine 23 Hiller, Johann Adam 51, 146f., 156, 160f. Hinrichs, Carl 64 Hirschmann, Wolfgang 2, 25, 97ff., 106 Hobbes, Thomas 50, 69, 116, 184 Hochstrasser, Timothy J. 63, 186 Hodermann, Richard 207 Hoffmann, Melchior 147f., 153f., 158 Hooke, Robert 116 Horaz (Quintus Horatius Flaccus) 88, 138 Horn, Wolfgang 17f., 27, 41, 119, 125, 140, 145f. Hotteterre, Jacques-Martin 140 Hübner, Johann 126f. Hunold, Christian Friedrich 128 Husserl, Edmund 48f. Iorio, Marco 5, 11 Ivanovich, Cristoforo 216, 218f., 223–226 James, William 48 Jaumann, Herbert 184, 192, 203f. Jauß, Hans Robert 38f. Johannes de Garlandia 81
231
Register
Kant, Immanuel 29, 37f., 40f., 58, 66, 68, 107 Kapp, Reinhard 132 Kassler, Jamie Croy 109f., 112f., 115f. Kaufmann, Matthias 75, 78, 187, 195, 197 Keiser, Reinhard 119f., 134, 138, 160, 167 Kellner, Paulina 143 Kerll, Johann Kaspar von 105 Kircher, Athanasius 97, 123, 170 Klein, Hans-Günter 117 Klippel, Diethelm 186, 198 Klotz, Sebastian 2, 17, 109ff. Koelsch, Stefan 39 Köhler, Erich 23f., 31 Kondylis, Panayotis 53 König, Benno 198 König, Imke 198 König, Johann Ulrich 29f., 32f., 125, 128 Kranz, Roland 118 Kremer, Joachim 1, 17, 30, 36, 97, 117ff. Krischer, André 190 Krummacher, Friedhelm 126 Kuhnau, Johann 6, 147, 153–159, 161, 170 Kühnel, Martin 184f., 188, 190, 199 La Mothe Le Vayer, Francois 84f. La Rochefoucauld, François de 31 La Voye, Mignot de 89f. Lavater, Johann 117 Legrenzi, Giovanni 216, 218 Leibniz, Gottfried Wilhelm 39, 63, 84, 208 Lenoble, Robert 83 Leopold, Silke 117 Lepori, Padre 222, 227 Locke, John 54 Loulié, Etienne 90 Luhmann, Niklas 13–15 Lull, Ramón 86 Luther, Martin 69, 106, 130, 136, 138, 174, 198, 208 Lütteken, Laurenz 50f., 55, 59, 123, 125, 138 Lutterbeck, Klaus-Gert 182 Madonna, Luigi Caltaldi 68 Magendie, Maurice 52 Maillert, Pierre 89 Malcolm, Alexander 115
Marchand, Louis 90 Marchetto di Padua 81 Marpurg, Friedrich Wilhelm 51, 81, 117, 180f. Marti, Hanspeter 204, 207 Marx, Hans Joachim 60, 118, 127 Masson, Charles 90 Mattheson, Johann 2f., 5f., 8, 10, 12, 14– 18, 25–27, 29f., 33–38, 40, 42, 50f., 54–56, 58–61, 81, 93, 97, 100f., 104– 107, 120–127, 129–137, 140–143, 160, 167, 170, 172–174, 205 Mauduit, Jacques 83, 86, 87 Maul, Michael 1, 6, 17f., 45, 145ff. Mazarin, Jules 89 Medick, Hans 50 Meier, Georg Friedrich 29 Mencke, Johann Burkhard 130 Mersenne, Marin 84ff. Miersemann, Wolfgang 167 Mizler, Lorenz Christoph 43, 57, 119, 130, 132f. Möller, Caren 196 Moniglia, Giovanni Andrea 219 Montaigne, Michel de 84, 203 Monteclair, Michel 90 Monteverdi, Claudio 117, 123, 220f. Monteverdi, Giulio Cesare 117 Morhof, Daniel Georg 27 Morus, Thomas 204 Moser, Johann Jacob 191 Mozart, Leopold 124f., 140, 142 Mozart, Wolfgang Amadeus 124, 142 Muffat, Georg 106 Mulsow, Martin 78 Murray, Timothy 89 Murschhauser, Franz Xaver 105 Neukirch, Benjamin 125 Neumeister, Erdmann 158, 167–172, 174, 177 Newton, Isaac 84, 94, 109 Nicolai, Friedrich 117 Nida-Rümelin, Julian 19 Niedt, Friedrich Erhard 122f., 125, 139– 141 Nies, Fritz 29 Nivers, Guillaume-Gabriel 90 Noris, Matteo 219, 227 North, Roger 109ff. Ottenberg, Hans-Günter 118, 121
232 Ottonelli, Giovan Domenico 216 Pagliardi, Giovanni Maria 218 Pallavicino, Carlo 220 Park, Katherine 52 Parran, Antoine 89 Parsons, Talcott 13–16, 18, 56 Paulsen, Friedrich 125 Paulus 103 Pearson, Ian David 55 Pepusch, Christopher 115 Perrault, Charles 89 Perrucci, Andrea 216, 219 Pfeiffer, Augustin 206 Piccioli, Francesco Maria 217, 226 Piperno, Franco 216 Pisendel, Johann Georg 153 Plato 39, 58, 81, 85, 120, 221 Plutarch 217 Poetzsch, Ute 1, 167ff. Pope, Alexander 113 Popkin, Richard 84f. Printz, Wolfgang Caspar 120, 134 Pufendorf, Samuel 50, 186f., 208, 213 Pythagoras 82f., 87, 129f. Quantz, Johann Joachim 6, 34–36, 104f., 120f., 123, 130f., 140 Rackwitz, Werner 56, 120, 160 Radice, Mark A. 30 Rahn, Thomas 190 Rameau, Jean-Philippe 84ff. Raupach, Christoph 135f., 141 Raz, Joseph 11 Rebling, Eberhard 126 Reckwitz, Andreas 10 Reichardt, Johann Friedrich 117f. Reimarus, Johann Albert Heinrich 127 Reisenzein, Rainer 5 Richelieu, Armand-Jean du Plessis, Duc de 88 Riedel, Manfred 73 Ringwald, Bartholomäus 171 Rippel, Gregorius 191 Rode-Breymann, Susanne 126 Röhl, Klaus F. 185 Rohr, Julius Bernhard von 194, 200 Ronsard, Pierre de 87 Rosand, Ellen 219 Rosenmüller, Johann 134f. Rousseau, Jean-Jacques 58, 135 Rückert, Joachim 187
Register
Rüping, Hinrich 72, 186 Saint-Lambert, Michel de 90 Sartorius, Erasmus 123 Scaliger, Joseph 86 Scannelli, Francesco 32 Scattola, Merio 68, 79, 187, 195 Scheibe, Johann Adolph 10, 16–18, 34, 36–38, 40, 43–44, 49, 51–54, 56–58, 81, 119, 123, 128, 160 Scheibel, Gottfried Ephraim 169f., 172, 175 Schelle, Johann 147, 158 Scherzer, Johann Adam 27 Schleuning, Peter 16, 51 Schlögl, Rudolf 9 Schmauss, Johann Jacob 190 Schmidt, Frank-Steffen 188, 195 Schmidt, Thomas 19 Schmidt-Biggemann, Wilhelm 26 Schmiedecke, Adolf 148 Schneiders, Werner 63, 66, 69f., 76, 209 Schreiber, Hans-Ludwig 72 Schröder, Jan 186f. Schröder, Peter 184 Schubart, Christian Friedrich Daniel 117 Schubert, Anselm 208 Schulze, Hans-Joachim 129, 137 Schümmer, Friedrich 76 Schütz, Alfred 10, 13 Scudéry, Madeleine de 24, 25, 65 Seibel, Gustav Adolph 146–148 Seidel, Wilhelm 29, 36, 89, 97, 173 Seifert, Arno 68 Selfridge-Field, Eleanor 220 Serauky, Walter 58 Simon, Johann Caspar 140 Simon, Thomas 198 Sinemus, Volker 70, 77, 192 Sivers, Heinrich Jacob 131 Solbach, Andreas 32 Stahl, Friedrich Julius 188 Steinberg, Georg 69, 184f., 196 Stieve, Gottfried 193 Stockhausen, Karlheinz 24 Stollberg-Rilinger, Barbara 190, 201 Stolleis, Michael 186, 198 Stölzel, Christoph Heinrich 131 Strungk, Nikolaus Adam 147f., 153f., 158 Sturm, Johann Christoph 103 Sulzer, Johann Georg 118
Register
Taubert, Gottfried 183 Telemann, Georg Philipp 51, 56, 59, 61, 97–102, 104, 106, 119f., 124, 128f., 131, 133–135, 138f., 141, 147f., 154, 158, 160, 167ff. Theseus 217f. Thomasius, Christian 7, 10, 14f., 18–27, 29, 35, 50f., 58, 60, 63ff., 102–104, 125, 141, 184–197, 199–201, 203ff. Tilgner, Gottfried 167f. Titelouze, Jean 87 Tizian (Ticiano Vecellio) 218 Tomasoni, Francesco 184 Truesdell, Clifford 83 Vaugelas, Claude Favre de 24f., 65 Vec, Milos 1f., 60, 183ff. Vesting, Thomas 185 Vinzent, Markus 138 Vockerodt, Gottfried 159 Vogel, Matthias 39f. Vollhardt, Friedrich 1, 5, 10, 25, 29, 69, 185–187, 200, 203ff.
233 Waczkat, Andreas 118 Waldberg, Max Freiherr von 8 Walther, Gerrit 118 Walther, Johann 173 Walther, Johann Gottfried 51, 156 Weber, Max 6f., 11f., 14 Webern, Anton 40 Weckmann, Matthias 137 Weller, Thomas 190 Werckmeister, Andreas 43, 61, 119 Wiebking, Wolfgang 212 Wittgenstein, Ludwig 77 Wolf, Erik 63, 69 Wolff, Christian 43, 184, 186, 193f., 200 Wolff, Hellmuth Christian 129 Woyke, Saskia Maria 1, 215ff. Zarlino, Gioseffo 89f. Zedler, Johann Heinrich 29, 118, 131, 141 Ziani, Pietro Andrea 215–223, 226f. Ziegler, Reinald 136 Zurbuchen, Simone 63