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German Pages 462 [458] Year 2021
Henning Mohr, Diana Modarressi-Tehrani (Hg.) Museen der Zukunft
Schriften zum Kultur- und Museumsmanagement
Henning Mohr (Dr.) ist Leiter des Instituts für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft e.V. in Bonn. Der Kultur- und Innovationsmanager hat u.a. für das Deutsche Bergbau-Museum Bochum gearbeitet. Zuvor promovierte er am DFGGraduiertenkolleg »Innovationsgesellschaft heute« (TU Berlin, Institut für Soziologie) über die Innovationspotentiale künstlerischer Interventionen in Transformationsprozessen. Diana Modarressi-Tehrani (Dr.) leitet die Stabsstelle Wissenschaftsmanagement am Deutschen Bergbau-Museum Bochum, ist ausgebildete systemische Organisationsberaterin und verantwortet den Aktionsplan für Forschungsmuseen. Die promovierte prähistorische Archäologin war Stipendiatin der Studienstiftung des deutschen Volkes. Lehrtätigkeiten in den Fachgebieten Archäometrie, Anthropologie und Projektmanagement führen sie seitdem an Hochschulen in Kiel, Bochum und Berlin.
Henning Mohr, Diana Modarressi-Tehrani (Hg.)
Museen der Zukunft Trends und Herausforderungen eines innovationsorientierten Kulturmanagements
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2022 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: https://pixabay.com/de/illustrations/virtuelle-realitätsimulator-2874659/ (bearbeitet) Lektorat: Dr. Ines Eckermann Korrektorat: Daniel Demant Satz: Jan Gerbach, Bielefeld Druck: Friedrich Pustet GmbH & Co. KG, Regensburg Print-ISBN 978-3-8376-4896-6 PDF-ISBN 978-3-8394-4896-0 https://doi.org/10.14361/9783839448960 Buchreihen-ISSN: 2703-1470 Buchreihen-eISSN: 2703-1489 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschaudownload
Inhalt Museen der Zukunft Trends und Herausforderungen eines innovationsorientierten Kulturmanagements Henning Mohr, Diana Modarressi-Tehrani........................................................................ 9
Tendenzen eines innovationsorientierten Kulturmanagements im Museum Museen nach der Pandemie Mit den Erfahrungen einer weltweiten Gesundheitskrise den Kulturbetrieb neu denken – Denkanstöße für Museen aus einer wünschenswerten Zukunft Ivana Scharf, Michael Wimmer ..................................................................................... 27
Innovationshindernisse im Museum Armin Klein................................................................................................................... 55
Der Raum zwischen Null und Eins Kulturinstitutionen als zeitgemäße Körper für eine demokratische Digitalisierung Jasmin Vogel, Daniel Neugebauer..................................................................................71
Neue Zwischenräume: Museumsentwicklung in Zeiten von Corona — und was Kulturmanagement dazu beitragen kann Patrick S. Föhl, Gernot Wolfram.................................................................................... 99
Agiles Handeln und Innovationsorientierung im Kulturbetrieb Gesa Birnkraut............................................................................................................ 113
»How might me…?« Design Thinking für neue Impulse in Museen Judith Bauernfeind, Paul Beaury.................................................................................139
Cultural Entrepreneurship Die Bedeutung von Netzwerken im unternehmerischen Kulturbetrieb Elmar D. Konrad...........................................................................................................165
Zukunftstrends und Herausforderungen Zukunftsfähig mit Outreach Ivana Scharf................................................................................................................195
»Supersizing the Museum« Digital Outreach und die Erweiterung des Museums in seine Umgebung Kasra Seirafi, Florian Wiencek.....................................................................................213
Künstliche Intelligenz und ihre Potenziale im Kulturbetrieb Dominika Szope........................................................................................................... 241
VR/AR — Digitale Räume im Museum Andrea Geipel, Georg Hohmann................................................................................... 257
Das Museum als Dritter Ort. Schlagwort oder Leitbegriff? Von Ray Oldenburg bis Homi K. Bhabha Katharina Hoins.......................................................................................................... 275
Partizipationsorientierte Wissensgenerierung und Citizen Science im Museum Franziska Mucha, Kristin Oswald................................................................................. 295
Postkoloniale Museologie als Innovationsförderung für die Museen der Zukunft Anna Greve................................................................................................................. 329
Konfliktraum Museum Überlegungen für Museumstheorie und -praxis Friederike Landau-Donnelly.........................................................................................341
Die Zukunft im Museum ausstellen? Reinhold Leinfelder....................................................................................................363
Zukunftsweisende Zielgruppenarbeit durch Nicht-Besucher*innenforschung Bestandsaufnahme und Perspektiven Vera Allmanritter.........................................................................................................401
Evidenzbasierte Entwicklung innovativer Vermittlungsformate zur Unterstützung des Wissenserwerbs Peter Gerjets, Stephan Schwan .................................................................................. 429
Autor*innen...............................................................................................................455
Museen der Zukunft Trends und Herausforderungen eines innovationsorientierten Kulturmanagements Henning Mohr, Diana Modarressi-Tehrani Ursprünglich hätte der vorliegende Sammelband bereits im Sommer 2020 erscheinen sollen. Die Planung, Konzeption und Umsetzung dieses Projekts begann bereits vor der Coronapandemie. Im Rahmen verschiedener innovationsfördernder Maßnahmen am Deutschen Bergbau-Museum Bochum1 entstand ursprünglich die Idee für dieses Projekt. Wir wollten auf diese Weise den Diskurs über sich wandelnde Museumsverständnisse und damit verbundene Anpassungen im Management von Kulturorganisationen stärken. Durch den Coronavirus kam das Projekt allerdings für eine längere Zeit ins Stocken. Aufgrund der nicht absehbaren Folgen der Pandemie für den Kulturbereich wirkte die – unter komplett anderen Umständen – begonnene Debatte über »Museen der Zukunft« in gewissem Sinne aus einer anderen Zeit. Es stellte sich die Frage, ob die grundlegende Idee des Sammelbands noch nachhaltig Tragfähigkeit für einen substantiellen Beitrag zum Diskurs zur Zukunft der Museen besitzt oder größere Anpassungen vorgenommen werden müssten. Angesichts existentieller Krisen im Kontext eines über lange Zeit anhaltenden Kulturlockdowns schien die Auseinandersetzung mit Rettungsschirmen und finanzieller Absicherung erst einmal relevanter zu sein. Gerade Museen betonten ihre Systemrelevanz als Bildungseinrichtungen und
1 So führte das Deutsche Bergbau-Museum Bochum beispielsweise das dreijährige BMBF-Forschungsprojekt INTRAFO (Intrapreneurship in Forschungsmuseen) durch, in dem Innovationsmethoden zur Verbesserung der Innovationsfähigkeit von Museen getestet wurden. Weitere Details: www.bergbaumuseum.de/intrafo (zuletzt aufgerufen im Januar 2021).
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forderten so einen umfangreichen finanziellen Schutz und eine frühzeitige Wiederöffnung. Die Coronakrise wirkte gleichzeitig wie ein Brennglas auf strukturelle Problemlagen im Kulturbereich und offenbarte Schwächen im Umgang mit digitalen Technologien, vorherrschenden Machtasymmetrien, Verteilungsungerechtigkeiten oder fehlenden Möglichkeiten der Teilhabe für viele Menschen der Gesellschaft (Mohr 2020a). Dadurch etablierte sich zusätzlich eine Debatte über dringend notwendige Reformprozesse im Feld der Kultur. In diesem Zusammenhang erhoben sich viele kulturpolitische Forderungen nach Transformation und zukunftsweisender Neuausrichtung kultureller Infrastrukturen. Diese Entwicklungen wirkten letztendlich als Bestätigung für die Notwendigkeit und den Bedarf dieses Projekts. Daraus resultierte die Entscheidung, den Sammelband mit wenigen zielgerichteten Anpassungen auf Basis des ursprünglichen Konzepts wie geplant herauszugeben. Obwohl ein großer Teil der Texte noch vor der Coronakrise entstanden war, sind die darin geäußerten Überlegungen und Fragestellungen weiter hochrelevant. In einigen Fällen erwiesen sich kleinere Anpassungen als opportun, um damit auch die Auswirkungen der Krise aufzunehmen. Zudem sind neue Artikel hinzugekommen, um aktuelle Phänomene oder Problemlagen adäquater darzustellen. Durch die unterschiedlichen Perspektiven von namhaften Autor*innen aus der Museumspraxis und -theorie liefert der Sammelband wichtige Impulse für dringend notwendige Veränderungsprozesse im Feld der Museen. Die Auseinandersetzung mit Zukunftsfragen von Museen hat gerade Hochkonjunktur, ist prinzipiell aber nichts Neues. Im Kontext kulturpolitischer Debatten zur Veränderung kultureller Infrastrukturen wurde regelmäßig auch das Selbstverständnis und die Funktion von Museumsinstitutionen hinterfragt (Sternfeld 2018). So erschien bereits Anfang der 1970er Jahre der vieldiskutierte Sammelband »Das Museum der Zukunft« (Bott 1970), in dessen 43 Beiträgen eine progressivere Ausrichtung von Sammlungseinrichtungen zur Diskussion stand. Im Jahr 2020 wurde ein Sammelband gleichen Namens veröffentlicht, der das Konzept wiederaufgriff und in die heutige Debatte überführte (Baur 2020). Die sehr ähnlichen Titel dieser Publikation und unseres Sammelbands zeigen, dass unter demselben Metathema unterschiedliche Herangehensweisen gewählt werden können. Auch diese Vielfalt bereichert die inhaltlichen Debatten. Allerdings existieren deutliche Unterschiede in der Schwerpunktsetzung und Fokussierung. Es werden – und hier offenbart sich das eigentliche Potential dieses Bandes – nicht nur Visionen
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für ein anderes Institutionenverständnis von Museen präsentiert, sondern gezielt Innovationsmethoden und Zukunftstrends als Anknüpfungspunkte für das Kulturmanagement zur Diskussion gestellt. Damit leistet dieser Sammelband einen konkreten Praxisbeitrag zur Stärkung der Museumsarbeit. Das Konzept der Transformation bleibt auf diese Weise nicht mehr nur abstrakte Forderung, sondern wird anwendungsorientiert und unter Einbeziehung konkreter Entwicklungsrichtungen vermittelt. Dieses Wissen soll für den Diskurs über die Modernisierung von Museumsstrukturen genutzt werden, um langfristig auch den Förderungs- bzw. Forderungskatalog der Kulturpolitik und Kulturverwaltung im Sinne der Ausgangsthematik zu befruchten. Im Museumsbereich existiert durchaus ein Bewusstsein für die Notwendigkeit für zukunftsweisende Veränderungen. Allerdings fehlt es in vielen Fällen an Handlungswissen über die Anpassungen im Organisationsmanagement und der damit verbundenen strategischen Ausrichtung. An dieser Stelle offenbart sich ein zentrales Problem des Kulturbereichs. In vielerlei Hinsicht mangelt es derzeit an Möglichkeiten der Kompetenzentwicklung für Transformationsfragen und des damit zusammenhängenden Change- oder Innovationsmanagement-Repertoires. Museumsmacher*innen werden in ihrer – in der Regel akademischen – Ausbildung zwar auf die fachlichen Aspekte von Kunst und Kultur vorbereitet, allerdings spielt Kulturmanagement im Sinne der Auseinandersetzung mit Management- oder Führungsmethoden für Kulturorganisationen nur eine untergeordnete Rolle. Dieses Problem verstärkt sich dadurch, dass es auch nach dem Studium kaum möglich ist, die hier gemeinten Fähigkeiten zu erlernen. Es gibt keine ausdifferenzierte Kultur der Weiterbildung und kaum Budgets bzw. spezifische Programmatiken in diese Richtung (Mohr 2020b; Mohr 2019).2 Deshalb müssen gerade Akteur*innen aus dem musealen Bereich bei ihrem Engagement für die Professionalisierung des eigenen Feldes stärker unterstützt werden und dafür neue Zugänge vermittelt bekommen. Erst dadurch kann es gelingen, dass gesellschaftliche Veränderungen mit ihren Auswirkungen 2 S icherlich gibt es auch im Kulturbereich verschiedene Angebote zur Qualifizierung in Managementfragen, etwa bei den Akademien für Kulturelle Bildung in Remscheid oder Wolfenbüttel. Hierbei handelt es sich aber eher um partielle Weiterbildungsmöglichkeiten, die oftmals von den jeweiligen Personen selbst finanziert werden müssen. Ausdifferenzierte (Kulturmanagement-)Programme für Innovationsfragen sind hingegen kaum zu finden.
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auf zentrale Steuerungs-, Produktions- und Reproduktionsweisen stärkere Berücksichtigung finden. Derzeit sind viele Museumseinrichtungen in ihrer strukturellen Verfasstheit und den davon ausgehenden Arbeitsprozessen in vielerlei Hinsicht wandlungsunfähig und veränderungsresistent (Mohr/ Vogel 2020; Mohr/Vogel 2019). Umso wichtiger ist die fundierte Darstellung möglicher Lösungsansätze und Herangehensweisen in diesem Sammelband, um auf diese Weise dabei zu helfen, bestehende Defizite im Bereich der Innovationsorientierung aufzulösen.
Zukunft als Orientierungsrahmen für den gesellschaftlichen Wandel Im Zusammenhang mit der Zukunft von Museumseinrichtungen wird häufig auch vom Bedarf für mehr Agilität gesprochen, was die Fähigkeit zur Anpassung an gesellschaftliche Veränderungen beschreibt. Im Kontext disruptiv wechselnder Umweltbedingungen ist eine hohe organisationale Wandlungsdynamik von entscheidender Bedeutung. Dies beschreibt die »VUKA-Welt«: VUKA ist ein Akronym aus den Begriffen Volatilität, Unsicherheit/Ungewissheit, Komplexität sowie Ambiguität und beschreibt die Herausforderungen, denen sich auch die Leitungen von Kulturorganisationen im Kontext eines zunehmend schneller werdenden gesellschaftlichen Wandels stellen müssen (Hoffmann 2019). Volatilität steht dabei für die enormen Schwankungen innerhalb kurzer Zeitspannen, Unsicherheit beschreibt die Schwierigkeit eindeutiger Prognosen, Komplexität stellt die wachsende Dichte zu verarbeitender Informationen dar und Ambiguität die Widersprüchlichkeit möglicher Handlungskontexte. Zusammengenommen agieren Menschen und ihre Institutionen in einer zunehmend uneindeutigeren Gesellschaft, die andere Formen der Verarbeitung im Sinne eines veränderten Umgangs mit Alltagsfragen notwendig macht. Die Verantwortlichen innerhalb von (Museums-)Organisationen können sich in Bezug auf ihre Aufgabenwahrnehmung deshalb kaum noch auf die angelernten Muster der Vergangenheit verlassen; sie müssen mit den Unschärfen umgehen und jenseits etablierter Pfade neue Wege definieren. Schon vor etwa 25 Jahren hat Beck (1996) im Kontext seiner Theorie der ref lexiven Modernisierung diesen Zusammenbruch bisheriger Basisverständlichkeiten konstatiert. Daran anknüpfend beschreibt er den Prozess
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der gesellschaftlichen Transformation von einer Industriegesellschaft in eine nachindustrielle Phase, der pfadabhängig durch bestehende institutionelle Voraussetzungen (im Sinne spezifischer Strukturen und Kulturen) erschwert wird. Schon damals kritisiert Beck: »Wenn überhaupt, dann wird nach neuen Strukturbildungen im Horizont der alten Kategorien gesucht.« (S. 22) Diese Aussage hat auch heute noch Gültigkeit, obgleich sich in den vergangenen Jahren ein Paradigmenwechsel – verbunden mit neuen Praxisformen – abgezeichnet hat. Da sich die Pluralität des postdigitalen Zeitalters im Kontext vorherrschender Strukturen und altbekannter Lösungen kaum noch bewältigen lässt, etabliert sich zunehmend ein anderer Orientierungsrahmen. Immer mehr gesellschaftliche Akteur*innen versuchen in ihrem Handeln gezielt die Zukunft zu antizipieren und dadurch möglichen Entwicklungsperspektiven vorzugreifen (Böschen/Weis 2007). Mit dieser Veränderung in gesamtgesellschaftlichen Problemlösungsformen scheint sich auch ein neues funktionales Selbstverständnis der Institution Museum auszubreiten. In vielen Prozessen der Museumsneugründung oder Museums(-weiter-) entwicklung wird mittlerweile auf den Begriff der Zukunft und die damit zusammenhängende Potentiale für Sammlungseinrichtungen referiert. Im Sinne eines erweiterten Funktionsverständnisses machen Museen die Vergangenheit nicht mehr nur in der Gegenwart sichtbar, um anhand der Historie eine Form der Selbstvergewisserung im Hier und Jetzt zu ermöglichen. Vielmehr nutzen die Museumsverantwortlichen diese Vermittlungsmomente des ref lexiven Umgangs mit Wissens ganz gezielt, um durch die Prozessualität des Augenblicks einen Verhandlungsraum für die Antizipation alternativer Zukünfte zu eröffnen. Diese Formate laufen oftmals partizipativ, wirken dadurch sozialintegrativ und etablieren gemeinsam geteilte Zielperspektiven. Lohnenswert ist auch ein Blick in den Bereich der anwendungsorientierten Zukunftsforschung. Diese versucht auf Basis existierender Wissensbestände mögliche Ableitungen und Prognosen für Zustände in den nächsten Jahrzehnten herauszuarbeiten, an denen sich planungs- oder strategiebildende Maßnahmen ausrichten können. Damit verbunden ist ein Ideal zur Ausbreitung progressiver Haltungen, die abseits des bestehenden Kanons denken, gesellschaftliche Zustände ref lektieren und neue Lösungen hervorbringen. Im Kontext der Zukunftsforschung sind bereits verschiedene Megatrends entstanden, die ein Rahmenwerk zur Neuausrichtung des
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eigenen Arbeitens liefern können.3 Daran anknüpfend können Museen einen Beitrag zur Demokratisierung von Bildung und Wissen und somit zur zivilgesellschaftlichen Selbstermächtigung leisten. Dieses neue Selbstverständnis offenbart sich etwa in der Debatte über Dritte Orte oder in neuen politischen Idealen eines (radikal-)demokratischen Museums (Sternfeld 2018). Als zentrale Treiber gesellschaftlicher Veränderungen in Bezug auf den Kulturbereich sollten insbesondere die Aspekte Digitalität, Diversität und Nachhaltigkeit berücksichtigt werden. Diese prägen unsere Gesellschaft und damit auch unser Kulturverständnis zunehmend. Somit müssten damit auch massive Auswirkungen auf die weitere Ausgestaltung kultureller Infrastrukturen verbunden sein. Im klassischen Kanon der Museumspraxis findet dieser Wandel jedoch keine ausreichende Berücksichtigung, da dafür eine stärkere Publikumsorientierung4 und die Einbindung anderer, nichtmusealer Expertisen notwendig wäre. Damit ginge jedoch die weitgehende Abgabe der traditionell bei den Einrichtungen liegende Deutungshoheit einher, was im traditionellen Verständnis von Wissenschafts- und Kunstfreiheit zunächst nicht vorgesehen ist. Daran anknüpfend werden Weiterentwicklungen vielfach durch die dominanten wissenschaftlichen Leistungserwartungen blockiert. Aufgrund der edukativ ausgerichteten Wertvorstellungen stellen auch die zuständigen Träger – aus Politik und Verwaltung – oftmals nur wenige Anforderungen in Bezug auf stärkere Orientierung an gesellschaftlichen Entwicklungen. Durch diese Gemengelage haben sich starke Traditionen in den Organisationskulturen festgeschrieben, so dass diese entsprechend konservativ auf Wandlungsphänomene reagieren und an alten Kulturvorstellungen mit den damit zusammenhängenden Produktionsbedingungen festhalten (Mohr et al. 2019; Mohr 2020a; Mohr 2020b). Am Beispiel der Digitalisierung zeigt sich dieser Effekt besonders deutlich. Bis heute wird dieses Feld von vielen Museumsmacher*innen nur als mögliches »Addon« musealer Arbeit gesehen und im Kontext einer Diskussion um die Aura analoger Objekte abgewertet. Daran anknüpfend existiert nach wie vor die Kritik, dass das Digitale die Qualität des Künstlerischen verschlechtere. 3 W eitere Hinweise zu Themen der Zukunftsforschung und zu verschiedenen Megatrends finden sich auf den Webseiten des Zukunftsinstituts auf https://www.zukunftsinstitut.de/ (zuletzt aufgerufen im März 2020). ublikum meint hier sowohl Besucher*innen, als auch (noch) Nicht-Besucher*innen, digi4 P tal wie analog.
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In anderen Bereichen hat sich hingegen längst die Erkenntnis durchgesetzt, dass die digitale Transformation die gesellschaftliche Wirklichkeit durch eine fortschreitende Implementierung neuer technischer Möglichkeiten ergänzt und in relevanten Teilen überschreibt. Das Soziale wird im Sinne einer »Kultur der Digitalität« (Stalder 2017) neuarrangiert und es entstehen neue hybride Konstellationen zwischen analoger und digitaler Realität. Dadurch muss auch die Idee des Musealen auf den Prüfstand, da sich neue Möglichkeiten und Chancen für Sammlungseinrichtungen ergeben. Hier ist entsprechend auch der politische Sektor gefragt, der seine Wissenschafts- und Kulturpolitik nicht nur nominell, sondern auch faktisch auf eine stärkere Teilhabe der Gesellschaften ausrichten muss. Nur so kann der anstehende Transformationsprozess in der Breite erfolgreich gemanagt werden.
Über die Innovationsfähigkeit von Museen Die hier gemeinten Innovationsformen sind immer weniger das Ergebnis von Zufällen im Sinne eines unintendierten Gesellschaftswandels, sondern im zunehmenden Ausmaß das Resultat einer sich in diese Richtung professionalisierenden und weiterentwickelnden unternehmerischen Praxis innerhalb der VUKA-Welt, die sich auch im Museumsbereich ausbreiten sollte. In den vergangenen Jahren haben sich eigenständige Methoden und Handlungskompetenzen herausgebildet, von denen einige in diesem Sammelband aufgegriffen werden. Welzer und Sommer (2014) bezeichnen diese Durchsetzung in die Zukunft gerichteter Veränderungen als Transformationsdesign. Der Begriff des Designs bezieht sich dabei auf die Intentionalität und Zielorientierung bestimmter Akteur*innen bei der Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Fragestellungen. Gleichzeitig versuchen die beiden Autoren in ihrem Ansatz die sozialpsychologische Komponente von Veränderungsprozessen besser nachvollziehbar zu machen. Die Anpassung sozialer Wirklichkeiten muss demnach auch die mentalen Infrastrukturen (also die psychische Struktur) beteiligter Personen erreichen. Demnach ist mit den hier gemeinten Transformationen immer auch ein Kulturwandel im Sinne sich weiterentwickelnder Selbstverständnisse oder Haltungen verbunden. Ähnliche Erkenntnisse finden sich auch in der Innovationsforschung, insbesondere bei der Auseinandersetzung mit sozialen Innovationen (Hutter et
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al. 2011; Braun-Thürmann 2005). Schwarz und Howaldt (2013) beschreiben soziale Innovationen als »[…] eine von bestimmten Akteuren bzw. Akteurskonstellationen ausgehende intentionale, zielgerichtete Neukonfiguration sozialer Praktiken in bestimmten Handlungsfeldern bzw. sozialen Kontexten, mit dem Ziel, Probleme oder Bedürfnisse besser zu lösen oder zu befriedigen, als dies auf der Grundlage etablierter Praktiken möglich ist.« (S. 53) Daran anknüpfend etabliert sich die Suche nach Innovation(en) im Kontext der VUKA-Welt zunehmend als eigenständige Praxisform, durch die eine Anpassung an sich verändernde gesellschaftliche Voraussetzungen gelingen kann. In immer mehr gesellschaftlichen Feldern oder Teilbereichen lässt sich beobachten, wie Innovationen zu einem handlungsleitenden Motiv werden und dadurch eine Professionalisierung dieses Feldes ermöglichen. Mit dem Innovationsmanagement hat sich eine eigene Fachdisziplin herausgebildet, es gibt unzählige Zusammenstellungen von einem entsprechenden Methodenwissen, Beratungsleistungen und politische (Förder-)Programmatiken. In dieser Ausdifferenzierung sehen Hutter et al. (2011) eine Ref lexivierung der Innovationspraxis. Sie bezeichnen diese Prozesse als ref lexive Innovationen und beziehen sich damit »nicht nur [auf] die gezielte[n], sondern auch die von kontinuierlich erneuerten Wissen um Innovation getragenen Handlungsweisen«. In diesem Zusammenhang beschreiben die Forscher*innen die Ausbreitung eines gesamtgesellschaftlichen Innovationsimperatives, der die allgegenwärtige Suche nach Innovationen antreibt und zum eigenständigen Strukturmerkmal werden lässt. In vielen Institutions- oder genauer Organisationsformen ist zu beobachten, dass diese sich entsprechend der Innovationsgenese weiterentwickeln (Mohr 2018; Rammert 2010). Die klassische Matrixorganisation mit ihren starken Hierarchien, der festgelegten Abteilungs- oder Fachbereichslogik und den dafür definierten Rollen der Beschäftigten stößt im Kontext der dargestellten Innovationsdynamiken zunehmend an ihre Grenzen. Zur Verarbeitung der gesellschaftlichen Vielschichtigkeit im Sinne der ref lexiven Innovationssuche bedarf es auch im Museumsbereich anderer Formen des Organisierens und damit anderer institutioneller Voraussetzungen. Hier offenbart sich ein entscheidendes Paradox aus der Organisationsforschung. Aus der Tradition heraus sind Organisationen so aufgebaut, dass sie eine festgelegte Aufgabe routi-
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nebasiert und möglichst komplexitätsreduziert bearbeiten können. Daran anknüpfend sind die Strukturen bewusst statisch und auf Dauerhaftigkeit angelegt. Diese maschinenähnliche Steuerung hat sich in Form von Regeln auch als Bestandteil der Organisationskultur durchgesetzt und lässt nur geringfügige Neuausrichtungen zu bzw. blockiert vielfach gezielt den Wandel. Passend dazu schreibt Tyradellis (2014): »Organisationen und Arbeitsabläufe, die es geschafft haben, sich in einer Einrichtung auf Dauer zu etablieren, sind fast so unumstößlich wie Naturgesetze […]. Wenn jedoch die äußeren Rahmenbedingungen und damit die Anforderungen an die Institutionen sich ändern, wird die Unbeweglichkeit zu einem Problem.« (S. 57) Daran anknüpfend reicht eine Neuausrichtung im Sinne einer Verarbeitung gesellschaftlicher Veränderungen auf der Handlungs- und damit der Projektebene nicht aus. Derzeit häufen sich die Versuche durch projektspezifische Innovationsförderungen neue Lösungen hervorzubringen, die aber nur temporäre Veränderungen evozieren und in der Regel spätestens mit dem Ende der Förderung beendet sind. Vereinfacht ausgedrückt vollziehen sich diese Aktivitäten während der Projektlaufzeit ohne langfristig wirkende Regelungsstrukturen am Rande des Systems und haben dabei nur wenig Einf luss auf den Gesamtorganismus. Nachhaltige Anpassungen der Aufgabenwahrnehmung können sich dieser Logik folgend nur durch dauerhafte strukturelle Neuausrichtungen ergeben, die langfristig das Handeln beteiligter Personen und damit auch die Kultur der Organisation beeinf lussen (Mohr/ Vogel 2019). »Museen der Zukunft« sind selbstlernende, ref lexive Organismen, die intendiert nach Innovationen suchen, die als Prozesse, Produkte und Dienstleistungen zur Professionalisierung der Aufgabenwahrnehmung genutzt werden können. Zentraler Gradmesser für den einzuleitenden Paradigmenwechsel ist hierbei die Innovationsfähigkeit der Organisation. Es ist oben bereits deutlich geworden, dass sich die Agilität und damit Anpassungsfähigkeit von Museen nur durch innovationsfördernde Strukturelemente erreichen lässt. Daran anknüpfend müssen Innovationen (bzw. die Suche danach) zu einem zusätzlichen eigenständigen Organisationszweck werden, der die Strategie mitbeeinf lusst und sich in entsprechenden Handlungskontexten mit eigenen Regeln bzw. Ressourcen niederschlägt. In diesem Zusammenhang sollte kurz darauf hin gewiesen werden, dass die Routinehaltungen von Museumsorganisationen eigentlich ein sinnvolles Potential sind. Sie vereinfachen das alltägliche Handeln der Beschäftigten, da sie durch festgelegte Strukturen, Regeln und Abläufe die Komplexität
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reduzieren. Diese Unvermeidbarkeit von Routinen sollte bei der Durchsetzung innovationsfördernder Strukturen mitbedacht werden (Giddens 1996). Die strukturellen und damit institutionellen Weichenstellungen in Richtung einer höheren Innovationsorientierung sollten bestehende Routinen der Aufgabenwahrnehmung auf keinen Fall beenden, sondern diese durch eine eigenständige Prozesslogik befruchten bzw. professionalisieren. Dieses Dilemma wird durch den Faktor der organisationalen Ambidextrie (Beidhändigkeit) gelöst. Daran anknüpfend müssen Organisationen sowohl die alltäglichen Routinen sinnvoll bearbeiten. Gleichzeitig braucht es, neben einer grundsätzlichen Bereitschaft die Orientierung der Institution als Gesamtes auf das Publikum auszurichten, Formen der Selbstthematisierung, in denen die eigene Arbeitsleistung im Kontext gesellschaftlicher Erwartungen kritisch ref lektiert und kreativ weiterentwickelt werden kann. Diese Verbesserung der Innovationsfähigkeit vollzieht sich auf Basis einer Erweiterung der Arbeitsprozesse als ergänzende Strategie zu den klassischen Abläufen. In Form spezifischer Innovationsprozesse werden gesellschaftliche Anforderungen gezielt aufgegriffen und in die alltäglichen Routinen der Aufgabenwahrnehmung überführt. Durch diese Adaption externer Bedarfe und Handlungsmuster und eine erfolgte Sensibilisierung im Hinblick auf die Potenziale einer Diversifizierung der inneren Struktur der Institution verbessert sich die Außenorientierung, da die Neuorientierung die permanente und möglichst umfassende Ref lexion von Umweltbedingungen notwendig macht. In Zusammenhang mit diesem Perspektivwechsel wird im Kontext des Innovationsmanagements zunehmend von der Etablierung kollaborativer Organisationsformen gesprochen. Der Begriff der Kollaboration bezieht sich auf die hier gemeinte Anschlussfähigkeit, die im Kontext sich verändernder Umweltanforderungen notwendig wird (Terkessidis 2014).
Etablierung kollaborativer Organisationsformen Es ist bereits deutlich geworden, dass die Pluralität der VUKA-Welt nicht mehr auf Basis eindeutiger Problemlösungen bewältigt werden kann und sich dadurch ein Modus experimenteller Sondierungsbewegungen etabliert. Innerhalb von Organisationen braucht es eine Steuerung, die der zunehmend netzwerkförmig organisierten Wirklichkeit gerecht werden kann (Mohr 2018). Einen möglichen Lösungsansatz liefert die Handlungs-
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logik der Kollaboration, die sich jüngst vor allem aus dem Digitalen heraus getragen auch in rein analogen oder hybriden Wirklichkeiten zunehmend verbreitet (Stalder 2017). In diesem Zusammenhang ist es notwendig, kurz auf ein immer wiederkehrendes Missverständnis einzugehen. Kooperation und Kollaboration sind als Begriffe nicht gleichzusetzen. Zwar geht es auch bei der Kollaboration um die Zusammenarbeit von Akteur*innen, um durch die Bündelung von Kräften (im Sinne einer Synergie) entsprechende Mehrwerte zu generieren. Es existieren allerdings entscheidende Unterschiede in der Art und Weise der Zusammenarbeit und der damit verbundenen systemischen Voraussetzungen. Kollaborative Prozesse entsprechen in vielerlei Hinsicht dem Veränderungsbedarf der Innovationsgesellschaft. Sie sind darauf angelegt, die Orientierung am Vorwissen innerhalb von Museumsorganisationen außer Kraft zu setzen, neue Akteurskonstellationen zu ermöglichen und Wissensbestände neu zu arrangieren. Während bei der Kooperation die beteiligten Partner*innen – zumindest dem idealtypischen Begriffsverständnis folgend – auf Basis ihrer klassischen Routinen oder Rollen der Aufgabenwahrnehmung agieren, werden entsprechende Funktionalitäten in Prozessen der Kollaboration im Sinne einer Neubestimmung von Potentialen aufgehoben. Kollaborative Arbeitskontexte sind in der Regel projektförmig organisiert und entstehen – der Logik der organisationalen Ambidextrie folgend – als querschnittsorientierte Ergänzung zur klassischen Auf bauorganisation von Sammlungseinrichtungen. Sie eröffnen die Möglichkeit den Mitarbeiter*innen hierarchiefreie Räume zur Selbstref lexion der eigenen Arbeitsleistung jenseits der klassischen Pfadabhängigkeiten zu eröffnen, um über Methoden der Ideenentwicklung erweiterte Formen der musealen Aufgabenwahrnehmung denkbar zu machen. Dafür werden die weitestgehend etablierten Ressortlogiken, Expertisen, Rollen oder Zuständigkeiten zumindest temporär außer Kraft gesetzt, um das Wissen der Beschäftigten anders miteinander in Beziehung zu bringen und dadurch alternative Herangehensweisen zu ermöglichen. In diesen offenen Prozessen werden existierende Hierarchien durchbrochen. Darin liegt ein unumstrittenes Potential traditionelle Machtasymmetrien abzubauen und die Beschäftigten zur eigenständigen Lösungsfindung zu ermächtigen. Diese Form der Selbstführung eröffnet neue Perspektiven auf komplexe Fragestellungen und erhöht gleichzeitig die Identifikation mit der eigenen Organisation bzw. den entwickelten Ideen. Es etablieren sich offene Handlungskontexte, in denen ref lexiv anhand von
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Fragestellungen nach neuen Lösungen für gesellschaftliche Problemlagen oder Herausforderungen gesucht werden kann. Hier offenbaren sich vielfältige Anklänge zum Open-Innovation-Ansatz. In diesen Settings wird die Wirklichkeit nicht als eindeutig festgelegt verstanden, sondern als kreative Gestaltungsmasse im Sinne sozialer Konstruktionen. Da Ordnungsprinzipien menschengemacht und damit Teil der Kultur(en) sind, lassen sich diese innerhalb des Sozialen formen und weiterentwickeln (Blättel-Minz/Menez 2015). In diesem Zusammenhang kommt es in der Praxis oftmals zur Kritik einer Überlastung der Beschäftigten. Der Regelbetrieb sorgt oftmals für eine so hohe Auslastung, dass keine Zeit für eine kritische Weiterentwicklung der eigenen Arbeitskontexte bleibt. Hier bedarf es einer kritischen Ref lexion der grundlegenden administrativen Anforderungen und Prozesse, da hier oftmals freie Ressourcen zu gewinnen sind. Zudem bedarf es ganz grundsätzlich einer Prüfung der Möglichkeit einer Umverteilung von Aufgaben sowie einer stärkeren Priorisierung in Bezug auf die alltäglichen Arbeitsaufgaben, um die benötigten Ressourcen und Räume für Innovationsprozesse zu schaffen. Diese Anpassungen vorausgesetzt, verfügen die Beschäftigten durchaus über ungenutzte kreative Energien, die für neue Zukunftsentwürfe musealer Arbeit genutzt werden könnten. Bisher dominiert in den Sammlungseinrichtungen oftmals ein extrem hierarchisches Führungsverständnis. Im Sinne althergebrachter Vorstellungen wissenschaftlicher Universalgenies werden die meisten Entscheidungen in der obersten Leitungsebene getroffen. Diese Fokussierung auf das Wissen von Einzelpersonen blockiert in vielen Fällen die systemische Orientierung an Veränderungen und Innovationen. Ein bedeutender Faktor ist gerade in Museumsorganisationen bis heute der dominante wissenschaftliche Kanon, der sowohl die Machtverteilung in der Organisation als auch die Auswahl von und den Umgang mit Inhalten und Publikum dominiert. Idealtypische Museumsmacher*innen sind oftmals wissenschaftlich sozialisiert und übertragen die damit verbundenen Regelungen der Arbeitsausübung in den Museumsbetrieb. Dementsprechend dominieren auch wissenschaftlich ausgebildete Akteur*innen – etwa Kurator*innen – die organisationale Steuerung und die Auswahl programmatischer Angebote. Dies führt oftmals zu einer Schief lage zwischen intentionierter Wissens- beziehungsweise Wissenschaftsvermittlung und der Orientierung musealer Angebote am Publikum und den aktuellen gesellschaftlichen Fragestellungen. Es braucht daher transformationsorien-
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tierte Führungskräfte, die sich stärker mit Innovationsthemen beschäftigen, ref lexiv den Status quo der eigenen Museumsarbeit hinterfragen, das Wissen der Beschäftigten anders einbinden und auf diese Weise neue Wege definieren. Daran anknüpfend sollte eine Orientierung an den Grundlagen von Cultural Leadership erfolgen. Diesem Konzept folgend brauchen Führungskräfte nicht nur Kompetenzen der Unternehmensführung, sondern müssen sich in ihren Entscheidungen auch an den Bedarfen der Gesellschaft orientieren (Hausmann 2019). Das Verlassen klassischer Routinen im Sinne der experimentellen Suche nach neuen Potentialen sorgt für einen anderen Umgang mit Expertisen. Angesichts der Komplexität der Rahmen- und Umweltbedingungen wächst auch der Bedarf an Problemlösungskompetenzen. Dies lässt sich innerhalb der Organisation dadurch verarbeiten, dass das Knowhow der Beschäftigten anders gehoben und genutzt bzw. eingebunden wird. In kollaborativen Arbeitskontexten können Mitarbeiter*innen ihr Wissen abseits ihrer Abteilungs- oder Funktionszugehörigkeit einbringen und dadurch neue Impulse setzen. Als Herausforderung erweist sich dabei gleichzeitig, dass das Wissen der Systeme im Sinne der vorhandenen Personalressourcen notwendig begrenzt ist. Es bedarf also einer deutlich stärkeren Einbindung externer Expertisen, um den gesellschaftlichen Veränderungen gerecht werden zu können. Daran anknüpfend kann sich innerhalb der Systeme ein deutlich offeneres, vernetzteres Denken und Handeln etablieren, durch das sich der Selbstbezug klassischer Museumsorganisationen zugunsten des Einbezugs der Gesellschaft für ein neues Zukunftsverständnis überwinden lässt.
Museen der Zukunft Der hier vorliegende Sammelband leistet einen Beitrag zur Diskussion über Transformationsfähigkeit und Zukunft der Museen und gibt Einblicke in damit zusammenhängende Themenfelder und Ansätze. In diesem Sinne wird der Begriff Kulturmanagement – zumindest in diesem Sammelband – als ein Wissensrepertoire verstanden, das Beschäftigten im Kulturbereich zur Professionalisierung der eigenen Managementpraxis zur Verfügung steht. Diesem Anspruch folgend sind die einzelnen Texte als Module zu verstehen, die kurze Einblicke in Methodenfragen, Trends und Herausforderungen bieten.
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Entsprechend der Zielstellungen des Sammelbands gliedert sich dieser in zwei Teile. Der erste Teil beschäftigt sich mit aktuellen Tendenzen eines innovationsorientierten Kulturmanagements. Die darin gebündelten Texte setzen sich vertiefend mit neuen Selbstverständnissen musealen Arbeitens im Kontext des gesellschaftlichen Wandels auseinander, beschreiben Notwendigkeiten der Anpassungen des Managements bzw. der institutionellen Voraussetzungen und liefern erste Einblicke in die Methoden des Innovationsmanagements. Darüber hinaus werden auch neue Ideale der Kulturpolitik adressiert, die dazu beitragen können, die Innovationsorientierung im Kulturbereich durch eine Anpassung der Rahmenbedingungen der Kulturförderung zu verbessern. Die spezifische Zusammenstellung liefert ein Grundgerüst zum Verständnis der Ausgangsthematik. Der zweite Teil des Sammelbands versteht sich daran anknüpfend als Vertiefung und Erweiterung der Grundkenntnisse. Entsprechend des bereits diskutierten Selbstverständnisses der Zukunftsforschung werden in den Texten dieses Kapitels einige wesentliche Zukunftsthemen und Herausforderungen diskutiert, die als Orientierungsrahmen für die Neuausrichtung oder Weiterentwicklung der Museumspraxis dienen können. Anhand von Beispielen und methodischen Ansätzen präsentieren die Autor*innen sich verändernde Museumsideale, neue Praxisformen und Paradigmenwechsel in Bezug auf die gesellschaftliche Orientierung. Daran anknüpfend wird aufgezeigt, dass die Museen der Zukunft sich als ref lexive Orte der gesellschaftlichen Selbstauseinandersetzung stärker nach außen öffnen, das Publikum partizipativ in die Arbeit einbeziehen und die Bedarfe von Zielgruppen stärker ref lektieren müssen.
Literatur Baur, Joachim (2020) (Hg.): Das Museum der Zukunft. 43 neue Beiträge zur Diskussion über die Zukunft des Museums. Bielefeld. Beck, Ulrich (1996): Das Zeitalter der Nebenfolgen und die Politisierung der Moderne, in: Beck, Ulrich/Giddens, Anthony/Lash, Scott (Hg.): Ref lexive Modernisierung. Eine Kontroverse, S. 19-113. Frankfurt a.M. Blättel-Mink, Birgit/Menez, Raphael (2015): Kompendium der Innovationsforschung. Wiesbaden.
Museen der Zukunft
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Museen nach der Pandemie Mit den Erfahrungen einer weltweiten Gesundheitskrise den Kulturbetrieb neu denken – Denkanstöße für Museen aus einer wünschenswerten Zukunft Ivana Scharf, Michael Wimmer
Bereits lange vor dem Ausbruch der Pandemie sind die Museen ins Gerede gekommen. Ihnen wurde Grosso Modo nachgesagt, sich den Herausforderungen einer dynamischen Gesellschaftsentwicklung nicht stellen zu wollen. Stattdessen würden sie in ewigen Routinen verharren und damit einen vergangenheitsverliebten Kulturbegriff hochhalten, der mit den Herausforderungen der Gegenwart immer weniger zu tun habe. Unübersehbar war aber auch, dass im Schatten dieses Mainstreams eifrig an neuen Museumskonzepten gearbeitet wurde, um den Anforderungen der Gegenwart zu entsprechen. Diese orientierten sich nicht nur in ihrer Rhetorik gerne an modernen Managementmethoden in der Hoffnung, sich mit Hilfe neuer Geschäftsmodelle in der gegebenen marktwirtschaftlichen Verfassung Wettbewerbsvorteile zu verschaffen (vgl. Ernst/Ernst 2007). Andere versuchten, etwa mit der Konstruktion eines »radikaldemokratischen Museums« (Sternfeld 2018) noch einmal den gesellschaftspolitischen Charakter dieser Einrichtungen zu stärken. Gemeinsam war ihnen der Anspruch auf die Bereitschaft, die eigenen institutionellen Grundlagen in Frage zu stellen, um so auf die wachsenden gesellschaftlichen Unwägbarkeiten adäquat reagieren zu können. Mit dem Ausbruch der globalen Pandemie verschärfte sich eine bereits zuvor massenhaft grassierende Verunsicherung noch einmal beträchtlich. Und sie machte auch vor den Toren des öffentlichen Kulturbetriebs nicht mehr Halt. Gerne wird in diesem Zusammenhang das Bild des Brennglases strapaziert (vgl. Wiener Zeitung 2021), durch das bereits bestehende gesellschaftliche Widersprüche
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noch einmal verstärkt würden. Im Vergleich dazu bleiben – jedenfalls bislang – die Stimmen, die von einer möglichen Umkehr politischer und kultureller Trends, die unsere Gesellschaften in den letzten Jahren heimgesucht hätten durch die Pandemie in der Minderheit (vgl. Christakis 2020). Niemand kann bis dato mit Sicherheit sagen, wann die globale Pandemie an ihr Ende gekommen sein wird. Umso weniger lässt sich vorherbestimmen, welche Auswirkungen sie auf den Kulturbetrieb im Allgemeinen und die Museumslandschaft im Besonderen haben wird. Immer deutlicher wird aber, dass sich unter der Oberf läche des staatlich verordneten Stillstands tiefgehende gesellschaftliche Veränderungen ereignen, die wir noch kaum verstehen und uns daher auch nur bedingt zutrauen, diese zu beeinf lussen. Gesellschaftliche Trends zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Beitrages zeigen bereits beträchtliche Verwerfungen des sozialen und wirtschaftlichen Gefüges: Führende Analysten wie der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Marcel Fratzscher, warnen vor dem Zusammenbruch ganzer Wirtschaftszweige (vgl. FAZ 2021). Eine nachhaltige wirtschaftliche Erholung rückt mit jedem weiteren Tag der Pandemie in immer weitere Ferne (vgl. FAZ 2020). Ausgenommen davon sind allenfalls international agierende Digitalkonzerne, die zunehmend Einf luss auf die kulturelle Produktion und ihre Distribution auch in Deutschland und Österreich nehmen (vgl. Scheerer 2021). Der zumindest mittelfristige Anstieg der Arbeitslosenquote ist evident (vgl. WSI 2020). In dem Maß, in dem verschiedene soziale Gruppen unterschiedlich von den Folgen der Krise betroffen sind, kommt es zu einer weiteren Verschärfung sozialer Ungleichheit, ein Umstand, der auch die geistige und körperliche Gesundheit von immer mehr Menschen beeinträchtigt. Die zusätzlichen Belastungen, die sich durch die Verlagerung der verbleibenden Arbeitsplätze in die Privatsphäre und die Schließung weiter Teile der öffentlichen Infrastruktur ergeben, gehen mehrheitlich zulasten von Frauen (vgl. Europäische Kommission 2021) und stellen damit die Fortschritte im Geschlechterverhältnis in Frage. Auch im Generationengefüge kommt es zu gravierenden Beschädigungen der Lebensperspektiven junger Menschen: je nach sozialer Herkunft verschlechtern sich ihre Bildungschancen in mehrfacher Weise. Mit den Erfahrungen der kollektiven Benachteiligung wird sich ihre Sicht auf die Welt, in die sie hineinwachsen, nachhaltig verändern (vgl. Anger 2021). Zugleich verschwand das Thema Flucht, mit dem sich zuletzt eine Reihe von Kultureinrichtungen verstärkt auseinander gesetzt hatten aus den öffentli-
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chen Schlagzeilen. Stattdessen legte sich im öffentlichen Diskurs über die Europäische Flüchtlingspolitik der Mantel des Schweigens.1 Auf politischer Ebene spiegeln sich diese tektonischen Verschiebungen im Zulauf zu staatskritischen Bewegungen, die vor unverhohlenen Angriffen auf die demokratische Grundordnung immer weniger zurückschrecken. Gerade dort, wo sich der Staat noch einmal als entscheidender Faktor im Kampf gegen die Pandemie auf bäumt, erwächst ihm mit jedem weiteren Tag der Seuche eine erstarkende Fundamentalopposition, die vor dem Hintergrund zunehmender Demokratiemüdigkeit alles daran setzt, den rationalen Diskurs zur Lösung der anstehenden Probleme zu verunmöglichen. Unter all diesen Erschütterungen zeigen sich bereits die Umrisse einer noch viel weitergehenden Zäsur, bei der die grassierende Pandemie nur den Anfang der viel tiefergehenden Klimakatastrophe markiert. Die erzwungenen Mobilitätseinschränkungen werden bislang überwiegend als Verlust interpretiert, während ihre positiven Wirkungen auf die Umwelt nur eine Randnotiz darstellen. Ganz anders werden da schon die durch die Pandemie ausgelösten Digitalisierungsfortschritte verhandelt. Als die großen Krisengewinner erweisen sich die bereits erwähnten globalen Digitalkonzerne, die mit einer Flut neuer Produkte alles daransetzen, Arbeit und Alltag gleichermaßen in den virtuellen Raum – genau genommen aber in den privaten Raum – zu verlagern. Online-Shopping, Homeoffice, Homeschooling und Homecaring verändern zusammen mit einem umfassenden, digital vermittelten Freizeitangebot das kulturelle Verhalten grundlegend. Weite Teile des Arbeitslebens werden über den virtuellen in den privaten Raum verlagert. Den Betroffenen ist klar, dass sie nicht mehr an ihre alten Arbeitsplätze zurückkehren werden und viele wollen das auch gar nicht mehr. Damit aber ändert sich auch unsere Beziehung zur Welt insgesamt, zu unserem sozialen Umfeld, zu unseren Kolleg*innen und Freund*innen. Die Art, miteinander zu kommu1 Dass Museen in dieser Fragestellung Vorbildfunktion übernehmen können und Haltung beziehen, wurde in einer im November 2020 gestarteten Petition anlässlich der Diskussion um die neue Museumsdefinition deutlich. Hier heißt es unter anderem: »Politische und klimatische Krisen lösten weltweit Migrationsbewegungen aus. Umgang mit diesen globalen Krisen forderte das Überwinden eines nationalzentrierten Denkens […].« Siehe Gromova, Alina (2020): Offener Brief an die Vertreter*innen von ICOM Deutschland, https:// www.openpetition.de/petition/online/of fener-brief-an-die-vertreterinnen-von-icomdeutschland vom November 2020.
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nizieren, wird sich also in einer Weise verändern, wie sich das viele bis vor Kurzem noch nicht haben vorstellen können.2 Das hat große Einf lüsse auf den Kulturbetrieb und die Kulturnutzung. Weite Teile der kulturellen Infrastruktur sind durch die einschränkenden Maßnahmen in besonderer Weise gefordert. Die Wortführer*innen reagieren auf die verunsichernde Umbruchssituation bislang vor allem mit dem Ruf nach einer möglichst baldigen »Rückkehr in die alte Normalität« (Wimmer 2021). Als ob sie die dramatischen Krisenerscheinungen, die weite Teile der Gesellschaft erfasst haben, nichts angingen, pochen sie auf eine möglichst baldige und ungestörte Fortsetzung des Betriebs. Das schlagende Argument: Für das Publikum seien ja ohnehin nur alle denkbaren Sicherheitsvorkehrungen getroffen worden (vgl. Bundesministerium 2021). Während mit Slogans wie »Kunst ist ein Lebensmittel« (ORF 2020) oder »Ohne Kultur wird es still«3 für die Beibehaltung der gesamten Bandbreite des Kulturangebotes selbst unter Corona-Bedingungen geworben wurde, blieben die, den Sektor bestimmenden höchst ungleichen Produktionsbedingungen weiterhin undiskutiert. In der Folge war es den staatlich gut abgesicherten Kultureinrichtungen möglich, die Auswirkungen der Krise mit Hilfe von diversen Unterstützungsprogrammen vergleichsweise moderat abzufedern, während weite Teile vor allem der Freien Szene im Kampf ums schiere Überleben das Schicksal einer Vielzahl an Akteur*innen anderer Wirtschaftszweige teilen musste. Insgesamt erfuhr der Kulturbetrieb mit der getroffenen staatlichen Prioritätensetzung – die sein Angebot auf ein Anhängsel der Freizeitindustrie beziehungsweise zu einem Luxusgut für einige wenige »Kulturverliebte«4 reduzierte – eine tiefe Frustrationserfahrung. Entgegen dem lang gepf legten Hang zur Selbstüberhöhung, die sie gegenüber dem Rest der Gesellschaft 2 Für viele der sogenannten Generation C, Millennials oder TikTok-User*innen stellen ›virtuelle Freunde‹ bereits eine wichtige Normalität dar. 3 Selbst prominente Kulturpolitiker wie Carsten Brosda scheuten im Versuch, anwaltschaftlich für die Bestandsinteressen des Kulturbetriebes einzutreten, vor großen Worten nicht zurück. Brosda, Carsten (2020): Hier geht mehr verloren als eine Art der Freizeitgestaltung, in: ZEIT online, https://www.zeit.de/kultur/2020-11/kultur-corona-krise-beschluesse-lock down-kunst-pandemie-beschraenkung, Gastbeitrag vom 02.11.2020. 4 So sprach der österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz von einem, in der Krise nur zu leicht entbehrlichen Angebot für »Kulturverliebte«, zitiert nach Laher, Ludwig (2020): Kurz und die »Kulturverliebten«, in: DER STANDARD, https://www.derstandard.at/sto ry/2000121384873/kurz-und-die-kulturverliebten vom 02.11.2020.
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auszeichnen würde, war das Erstaunen groß, als die Politik wenig Anstalten machte, ihnen noch einmal eine bevorzugte Stellung einzuräumen. Anstatt ihren Wünschen als Träger*innen der »Kulturnation« mehr oder weniger bedingungslos zu entsprechen, entwickelten sich stattdessen Diskussionen ob der Systemrelevanz des Kulturbetriebs (vgl. Cerny 2020). Von einem Tag zum anderen stand ein herausragendes Standing des Kulturbetriebs als Ergebnis einer ideologisch hoch aufgeladenen kulturpolitischen Erfolgsgeschichte zur Disposition, dass bislang weitgehend als unangezweifelt galt. Zur näheren Erklärung bedarf es eines kleinen historischen Exkurses: Immerhin hatte der staatliche Kulturbetrieb nach 1945 in Deutschland, mehr noch in Österreich eminent zur nationalen Identitätsbildung beigetragen. Als diese Aufgabe spätestens in den 1990er Jahren erledigt schien5, wurde das bewährte Image einfach von innen nach außen gekehrt. Den internationalen Touristenströme sollte die Reise in die deutschsprachigen Kulturnationen schmackhaft gemacht werden, und sei es drum, durch den dadurch erzielten Zuwachs an Einnahmen die nationalen Kulturbudgets entlasten zu können. In dieser Phase meinte das Management der großen Häuser, auf gute Beziehungen mit der lokalen oder regionalen Bevölkerung – mit Ausnahme einiger, oft alibihafter Vermittlungsbemühungen – weitgehend verzichten zu können.6 Als im März 2020 der erste Lockdown verkündet wurde, bedeutete dies auch das abrupte Ausbleiben derer, die als zahlungskräftiges internationales Publikum weite Teile des Betriebs am Laufen gehalten hatten. Von einem Tag zum anderen ergab sich vor allem auf nationalstaatlicher Ebene7 ein ek-
5 Die Behauptung, ungebrochen eine spezifisch österreichische kulturelle Identität verteidigen zu müssen, wird heute vor allem von rechtspopulistischen bis rechtsradikalen Kräften vorgetragen, die im Rahmen der Migrationsdebatte versuchen, den Kampf gegen den Einfluss ›fremder Kulturen‹ zu schüren. 6 Im Belvedere-Museum betrug der Anteil an Tourist*innen 2019 über 80 %. In den anderen österreichischen Bundesmuseen ist die Schieflage bei der Publikumszusammensetzung ähnlich. Vgl. Bundesministerium Kunst, Kultur, öffentlicher Dienst und Sport (2020), https://www.bmkoes.gv.at/dam/jcr:c8f8de94-2e8d-47d9-b4f0-c786af2313de/Kunst KulturBericht2019.pdf, Kunst- und Kulturbericht 2019. 7 Auf kommunaler bzw. auf regionaler Ebene war es bereits vor der Pandemie zu Versuchen einer Neubegründung des staatlichen Engagements für den Kulturbetrieb gekommen: ›Kultur als Standortfaktor‹.
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latanter Legitimationsverlust. In den Augen der Entscheidungsträger*innen hatte der Kulturbetrieb sowohl seine Funktion als nationaler Identitätsstifter als auch als Urheber eines international verwertbaren positiven Images verloren.8 Zwar legte die Politik eine Reihe von Unterstützungspaketen auf, trotzdem wurde die Wut selbst prominenter und damit in der Regel privilegierter Künstler*innen (vgl. Gröger 2021) immer deutlich, wenn sie sich am unteren Ende der Anspruchsleiter wähnen mussten. Was für ein Schlag ins Gesicht, wenn Kultureinrichtungen künftig analog der Vorschriften für Bordelle behandelt werden sollten (vgl. Riedel 2021). Anfang 2020 noch für unmöglich gehalten bahnte sich ein dauerhafter Relevanzverlust des staatlich geförderten Kulturbetriebes an, der – so die zentrale These der Autor*innen – uns noch lange nach dem Ende der Pandemie beschäftigen wird. Zu offenbar ist hier ein bereits lange gärendes Widerspruchsverhältnis geworden, in dem die Wahrnehmung des Angebotes – trotz aller seit nunmehr 50 Jahren währenden Bemühungen einer »Neuen Kulturpolitik« – weiterhin einer kleinen Minderheit vorbehalten blieb (vgl. Mandel 2020). Zugleich wurden die Anbieter nicht müde, sich als Garanten eines gesamtgesellschaftlichen Nutzens hochzustilisieren (vgl. Connemann 2004). Wenn sich der Kulturbetrieb mit der Fortdauer der Krise zunehmend am Rand der Gesellschaft wiederfindet, dann wird er mit den bewährten kulturpolitischen Mitteln – so steht zu erwarten – den Weg in die gesellschaftliche Mitte nicht wiederfinden. Die Krise macht deutlich, dass die utopischen Potentiale einer aus dem 1970er Jahre stammenden Kulturpolitik aufgebraucht sind, sich jedenfalls auf die fundamental veränderten gesellschaftlichen Verhältnisse von heute und morgen nicht mehr anwenden lassen. Der Ruf müsste also nicht lauten: »Zurück in die alte Normalität!«, sondern – entsprechend dem Credo der Kulturpolitischen Gesellschaft – »Hin zu einer neuen Relevanz!« (Kulturpolitische Gesellschaft 2020).
8 Der Streit um öffentliche Aufmerksamkeit, dem die erste grüne Kunst- und Kulturstaatsekretärin Ulrike Lunacek in der Auseinandersetzung mit einigen Künstler*innen zum Opfer fiel, wurde einfach in Kauf genommen.
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Die Museen – wegen Pandemie geschlossen! Womit wir bei den Museen wären. Ihnen kommt im Rahmen des gesamten Kulturbetriebs traditionell eine herausgehobene Bedeutung zu. Als die zentralen Verwahranstalten des kulturellen Erbes liegt es in ihren institutionellen Genen, Bestehendes zu sichern und allen Veränderungsabsichten reserviert gegenüber zu treten. Nur zu deutlich wurde dies am Ende des ersten Lockdowns in Österreich im April 2020, als der Staat als Eigentümer seine Museen aufforderte, ihre Pforten für Besucher*innen wieder zu öffnen. Weil sich jedoch zu diesem Zeitpunkt keine Lockerungen im internationalen Tourismusverkehr abzeichnete, beharrten die Museumsleitungen auf einer weiteren Schließung: Nur für ein einheimisches Publikum würde sich eine Öffnung nicht rechnen. Man fahre gut mit der Kurzarbeit. Solange der Staat die Einnahmenausfälle kompensiere, ziehe man lieber Instandhaltungsmaßnahmen vor und warte, bis sich an den Kassen wieder Schlangen von internationalen Tourist*innen bilden werden. Es bedurfte mehr als sanftes Zureden der Politik, um die Häuser dazu zu bewegen, sich den neuen Umständen anzupassen (vgl. Hadler/Baranyi [2020]). Als diese Auseinandersetzung fürs Erste ausgestanden schien, zeigten sich bald neue Frontlinien. Führende Vertreter*innen der österreichischen Bundesmuseen sprachen allen anderen Kultureinrichtungen die Möglichkeiten ab, den Publikumsbetrieb wieder aufzunehmen. Wenn etwa der Direktor der Wiener Albertina Klaus Albrecht Schröder äußerte: »Jetzt kommen wir einmal ohne Theater aus«9, dann drückte er damit eine im Kulturbetrieb wachsende Tendenz der Entsolidarisierung aus, die eine zuletzt in die Defensive geratene Kulturpolitik zuvor bewusst mitbefördert hatte. In Deutschland kam man gar nicht erst in die Verlegenheit zu öffnen: Die Museen wurden bei der Lockerung von Lockdowns oftmals weit nach hinten gereiht. Diese Prioritätensetzung der Politik wurde sehr irritierend aufgenommen (Lorch 2020). Direktor*innen namhafter Häuser meldeten sich regelmäßig öffentlichkeitswirksam zu Wort und forderten in einem Schreiben an die Kultusminister*innen der Länder eine individualisierte 9 Albrecht Schröder zitiert aus Trenkler, Thomas (2020): Albertina-Chef: »Wir kommen jetzt einmal ohne Theater aus«, in: KURIER, https://kurier.at/kultur/albertina-direktor-ich-darfnicht-gegen-die-betonwand-rasen/400994240 vom 09.08.2020.
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Öffnungsstrategie, um Gerechtigkeit und eine kulturelle Grundversorgung zu sichern (vgl. ZDF 2020). In der Diskussion dominierte die Frage, wo Museen in den verschiedenen institutionalisierten Diskursen von Bildung, Kultur, Freizeitgestaltung und Staatlichkeit eingereiht werden sollen. Die selbstbewusst verkündete Sonderstellung wurde von einer oft sehr pragmatischen Beurteilung von außen konterkariert. Jedenfalls rangierten Museen hinter Schulen oder und mitunter auch Sporteinrichtungen. Nichtsdestoweniger waren sie oft die einzigen öffentlichen Kulturorte, die ihre Tore öffnen konnten. Selbst Kultureinrichtungen, die gewöhnlich anderen Genres zugeordnet werden, nutzen die kleine Gunst der Stunde und präsentierten sich – wie die Wiener Staatsoper – in der Pandemie als Museen ihrer selbst (vgl. Wiener Staatsoper 2021). Die kulturpolitische Missachtung, die der Sektor in der Krise erfahren hat, deutet aber auch noch auf zumindest einen weiteren blinden Fleck des Museumssektors hin. Spätestens mit seiner temporären Schließung ist der Verlust seiner bisherigen Monopolstellung als »kollektives kulturelles Gedächtnis« unübersehbar. Ihnen zur Seite steht mittlerweile Vielzahl weiterer Anbieter, die mit Hilfe der Medien Buch, Film oder anderer medialer Vermittlungsformen attraktive Interpretationen historischer Phänomene anbieten und diese auch noch wesentlich einfacher verfügbar machen als der oft mühsame Weg in und durch das Museum.
Bedeutungswandel oder Hoheitsverlust? Lange Zeit konnte in Österreich der überragende Einf luss vor allem der Bundesmuseen auf die gesellschaftspolitische Gesamtverfassung gar nicht überbewertet werden. Als Repräsentationen einer feudalen Großmacht in Europa dem Kleinstaat Österreich überantwortet, wussten sie sich als Hort eines kulturellen Erbes aus einer vermeintlich besseren Vergangenheit. Sie standen dabei in einem natürlichen Spannungsverhältnis zu den Demokratisierungs- und Modernisierungsbemühungen, die die österreichische Gesellschaft nach 1945 erfahren sollte. Irgendwann wurde selbst den eingef leischtesten konservativen Kulturpolitiker*innen bewusst, dass die Aufrechterhaltung der überkommenen feudalen Strukturen im Gewand »nachgeordneter Dienststellen« zunehmend dysfunktionale Wirkungen hervorrief. Sie fanden eine Antwort in einer »Auslagerung« samt einer dem
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neoliberalen Zeitgeist der späten 1990er Jahre entsprechenden Verweisung auf den Markt. Von betriebswirtschaftlichen Kriterien gelenkt, warf sich das Management in die neuen Konkurrenzverhältnisse und bot der Kulturpolitik mit dem Vergleich von Besucher*innen-Zahlen ihr einzig verbleibendes, dafür scheinbar umso durchschlagkräftigeres Erfolgskriterium. Also überboten sich die großen Häuser in Wien mit jährlichen Steigerungsraten, um jede staatliche Einf lussnahme auf inhaltliche Ziele weit von sich zu weisen: Die Museen bestimmten den Kurs, die Kulturpolitik hatte zu folgen.10 Das was Österreich als Erbe geblieben war, wurde in Berlin sukzessive wieder hergestellt und in Stiftungen für die Ewigkeit konserviert: Die Stiftungen Preußischer Kulturbesitz und Preußische Schlösser und Gärten fassen die einst königlichen und dann in Ost und West aufgeteilten Museen, Schlösser, Gärten, Archive und Bibliotheken zusammen und zählen zu den wenigen Institutionen, die den nach 1945 in beiden deutschen Staaten abgewiesenen Begriff »Preußentum« im Namen führen. Damit geht man symbolisch sogar über die republikanisch umbenannten Museen in Österreich hinaus. Es ging am traditionellen Standort Berlin in der Nachwendezeit um weit mehr als die Zusammenführung dessen, was zusammengehört. Mit dem Wiederaufbau des Hohenzollernschlosses sollte an eine zugkräftige Tradition angeschlossen werden, die staatliche Repräsentation mittels Kulturpolitik legitimiert. Das wurde auch in den Worten der Kulturstaatsministerin deutlich, wenn sie vom »[…] bedeutendsten Kulturprojekt Deutschlands, auf das die ganze Welt schaut.«11 sprach. Während viele kleinere Museen sich bereits an vielfältigen Experimenten in einem anderen Umgang mit dem Publikum versuchten, bauten die großen Museen in Wien wie in Berlin auf ihre vorrangige Zielgruppe, einem scheinbar unendlich großen Reservoir an Städtetourist*innen. Und dann kam Corona: Mit dem Ausbruch der Pandemie verebbten die Touristenströme; damit war das zentrale Erfolgskriterium außer Kraft gesetzt, ein bislang erfolg10 In der Person des Langzeit-Generaldirektors Wilfried Seipel, der das Kunsthistorische Museum von 1990 bis 2008 leitete, kam es gleich zu einer Personalunion, wenn Seipel neben seinen Managementaufgaben für das Museum gleich auch die Funktion als Chefberater der zuständigen Kulturministerin übernahm. 11 Prof. Monika Grütters zitiert aus Sontheimer, Michael (2016): Die Schlossgeister sind komplett, in: SPIEGEL, https://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/humboldt-forum-berlinschlossgeister-komplett-a-1079586.html vom 26.02.2016.
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reiches Geschäftsmodell brach zusammen. Spätestens ab diesem Zeitpunkt konnte eine zentrale Unterlassungssünde des etablierten Kulturbetriebs und damit vor allem der großen Museen nicht mehr verschleiert werden. Die Tatsache nämlich, dass dieser in seiner Globalisierungseuphorie den Bezug zu den Arbeits- und Lebensverhältnissen der sie umgebenden lokalen und regionalen Bevölkerung weitgehend verloren hatte. Ein auf die vielfältigen sozio-ökonomischen Veränderungen bezogener Museumsdiskurs, der sich kritisch mit Ausschlusskriterien von Class, Gender und Ethnicity befasste (vgl. Muttenthaler/Wonisch 2007) fand bestenfalls an den institutionellen Rändern statt. In Bezug auf das Kerngeschäft blieb der Umstand einer ausdifferenzierten Gesellschaft mit ganz unterschiedlichen Zugängen unterbelichtet. Ganz als befänden wir uns noch in der Reformphase der 1970er und 1980er Jahre, konzentrierte man sich ungebrochen auf das Phantasma eines kulturell homogenen, permanent wachsenden – und reisenden – Mittelstandes als richtungsgebende Adressat*innen für das eigene Angebot. Die Autor*innen übersehen dabei nicht die verschiedenen Bildungs- und Vermittlungsinitiativen, die ihren Auftrag darin sehen, sich vorrangig um ›sozial benachteiligte‹, ›bildungsferne‹ oder sonst wie als randständig erklärte Zielgruppen zu bemühen. Als solche werden sie bis heute gerne unter dem Terminus ›Nicht-Besucher*innen‹ zusammengefasst. In den Jahren 2007 bis 2013 versuchte die österreichische Kulturministerin Claudia Schmied nochmals in einem Kraftakt eine strategische Neuausrichtung, die der geänderten sozialen, ethnischen und religiösen Zusammensetzung der österreichischen Gesellschaft besser gerecht würde. Bereits die Möglichkeit für junge Menschen bis zu ihrem neunzehnten Lebensjahr, das Museum gratis zu besuchen, bedurfte mehrjähriger Verhandlungen. Noch zäher erwies die die Verabschiedung eines neuen Bundesmuseumsgesetzes samt daraus resultierenden Geschäftsordnungen (vgl. Rechtsinformationssystem des Bundes [2021]), die das Thema Vermittlung zu einer zentralen Aufgabe erklärte. Aus Museumssicht genauso randständig blieben diejenigen, die diesen Auftrag bewerkstelligen. Bislang ist es nur in Ausnahmefällen gelungen, die Gruppe der Vermittler*innen in die strategische Entscheidungsfindung einzubeziehen oder ihnen gar Führungsverantwortung zu übertragen. Stattdessen befanden sie sich bis zum Ausbruch der Pandemie in der Regel am Rande des Betriebs angesiedelt. Mit der Schließung der Museen wurden die ohnehin oft schon prekären Arbeitsbedingungen von oftmals selbstständigen Museumspädagog*innen existenzbedrohend, auch weil die Politik we-
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nig Einblicke in die Arbeitsweise von den auch in diesem Sektor arbeitenden Soloselbstständigen hat.12 Dass sich bislang niemand die Mühe gemacht hat, die Auswirkungen ihrer bisherigen Vermittlungsbemühungen auf diejenigen, deren Fernbleiben zumindest in Sonntagsreden bedauert wird, systematisch zu untersuchen, spricht auch nicht für einen ernstgemeinten Stellenwert des Vermittlungsaspektes. Wollen also die Museen einer weiteren Marginalisierung entgehen, dann werden sie nicht umhinkommen, neue Antworten auf die wachsende Ausdifferenzierung der nationalen Gesellschaften zu finden. Auch wenn wir das Ende der Pandemie erreicht haben, dürfte wenig dafür sprechen, dass die Museen schnell wieder von den internationalen Tourist*innen gestürmt werden; umso wichtiger wird es sein, die Beziehungen zur lokalen und regionalen Bevölkerung zu konsolidieren. Aktuell finden sich zwar einige Stammkunden ein, die die weitgehende Leere der Museumsräume genießen, der überwiegende Anteil der Bevölkerung aber scheint andere Sorgen zu haben.13
Dimensionen des Digitalen Wie viele andere Kultureinrichtungen sehen sich die Museen in Deutschland wie in Österreich mit einer nochmals beschleunigten Digitalisierung aller Lebensbereiche gegenüber. Größere Häuser waren sicherlich im Vorteil, 12 Vgl. beispielsweise den offenen Brief des Landesverbands Museumspädagogik Bayern e.V., der die Situation detailliert darstellt, Landesverband Museumspädagogik Bayern e.V. (2020): Situation der freiberuflichen Museumspädagog*innen in Bayern ist existenzbedrohend – Landesverband Museumspädagogik Bayern e.V. fordert Unterstützung von Seiten der Bayerischen Staatsregierung, https://www.museumspaedagogik.org/filead min/Data/Regionalverbaende/Bayern/PDF/Offener_Brief_LVMP_BY_201029.pdf vom Oktober 2020. 13 Der ungarisch-amerikanische Museumsexperte András Szánto meint dazu: »Trotz wachsender Besucherzahlen sind Kunstmuseen – mehr noch als Wissenschafts- und Naturgeschichtemuseen – in den Augen zu vieler Menschen ein privilegierter und unergründlicher Bereich geblieben«, Szánto, András (2020): »The Future oft he Museum« zitiert aus Schedlmayer, Nina: »Lokalanästhesie: Corona zwingt Museen zu radikalen Kurswechseln. Sind Ausstellungshäuser zu elitären Institutionen für ein privilegiertes Publikum geworden?«, in: profil, https://www.profil.at/kultur/lokalanaesthesie-corona-zwingt-museenzu-radikalen-kurswechseln/401214900 vom 11.03.2021.
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wenn sie bereits vor dem Ausbruch de Pandemie über eine Digitalstrategie verfügten, um ihre Artefakte auch im virtuellen Raum zu präsentieren. Sie konnten sich auf die Professionalisierung fokussieren und darauf, wie es gelingen kann, auch alltägliche Museumsarbeit jenseits klassischer Online-Führungs-Formate in neue digitale Formate zu übersetzen. Sie erprobten neue Technologien und beschäftigten sich allenfalls auch mit Fragen der Technologiegerechtigkeit. Vor allem kleinere Häuser hingegen machten in diesen Tagen oftmals ihre ersten Schritte in die digitale Welt: Kompetenzen in der Medienproduktion wurden aktiviert und erweitert und die Ergebnisse unmittelbar auf verschiedenen Social-Media-Kanälen ausprobiert. Dafür galt es zunächst eine technische Basisausstattung zu schaffen und sich mit anachronistischen Datenschutzvorgaben ihrer Träger herumzuschlagen. Zugleich erfuhren Argumentationsmuster, die hundert Jahre nach Walter Benjamin noch einmal die Aura des Originals bemühen, ein Revival. Diesem Verständnis einer besonderen Aura des im Museum ausgestellten Artefakts widersprechen freilich eine Reihe von Forschungsergebnissen, die zu anderen Schlussfolgerungen kommen (vgl. Weindl 2019). Sie sprechen von nachhaltigen Änderungen des kulturellen Verhaltens von immer mehr Menschen, für die die Grenzen zwischen real und virtuell verschwimmen. Sie sehen keinen Grund mehr, ein Museum physisch aufzusuchen, um dort Objekte unter zum Teil wesentlich schlechteren Bedingungen physisch wahrzunehmen als in ihrer digitalen Vermittlung, die noch dazu wesentlich selbstbestimmter erfolgen kann. Es bedarf wenig Phantasie, um davon auszugehen, dass die rapiden Digitalisierungsfortschritte die Beziehungen zwischen Museumsobjekten und ihren Rezipient*innen nachhaltig verändern werden. Die Digitalisierung steht nach wie vor in vielen Museen am Anfang und seit der Pandemie wird sehr deutlich, dass diese Aufgabe nicht weiter als »Low-Budget-Unternehmen« in einer Art »Selbsthilfegruppe« angegangen werden kann, wie es die langjährige Geschäftsführerin des Museumsverband Sachsen-Anhalt e.V. Susanne Kopp-Sievers formulierte14. Es spricht vieles dafür, die Digitalkompetenz in Museen systematischer und vernetzter auszubauen, wie das etwa in Baden-Württemberg durch die 14 Susanne Kopp-Sievers zitiert bei Schlenstedt, Katrin (2020): Das Museum als digitale Baustelle, bei MDR Kultur, https://www.mdr.de/kultur/ausstellungen/museen-sachsensachsen-anhalt-thueringen-digitalisierung-100.html vom 16.11.2020.
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Schaffung von neuen Stellen für Digitalmanager*innen an Landesmuseen verwirklicht wurde (vgl. Land Baden-Württemberg 2020). So manche der bestehenden digitalen Defizite verweisen auch auf mehr als starre Strukturen vieler Museen: Bislang weigern sich die meisten Museumsleitungen, Digitalisierung hinreichend in ihre Managementstrukturen einzubeziehen. Jüngste Studien zu digitalen Führungsstrategien15 belegen eindrucksvoll, dass die jüngsten Entwicklungen im Bereich »Cultural Leadership16« noch nicht hinreichend antizipiert wurden und damit die Führungsstrukturen vieler Museen zum Teil noch sehr traditionellen Modellen folgen.
Dimensionen des Ökologischen Im Moment richtet die Pandemie die Aufmerksamkeit auf die potenzielle Lebensgefahr für Menschen, die von der physischen Teilnahme an kulturellen Aktivitäten ausgeht. Umweltthemen kommt hingegen wieder weniger öffentliche Aufmerksamkeit zu – trotz der durchaus vorhandenen Verbindungen zwischen ökologischer Krise und Pandemie. Aber auch der Kulturbetrieb wird über kurz oder lang nicht an einer intensiveren Befassung mit dem globalen, sozialen wie individuellen Überleben herumkommen. Es kommt nicht von ungefähr, dass gerade die Museen, die bereits vor der Krise nicht an vorderster Front im Wettbewerb um möglichst hohe Quoten gestanden sind, früher erkannt haben, dass ihnen eine diesbezügliche Vorbildwirkung zukommen sollte. So fragte der Direktor des Wiener Museums für angewandte Kunst Christoph Thun-Hohenstein, ob das Zeigen einiger weniger global herumgereichter Originale nach wie vor die zentrale Aufgabe von Museen sein sollte. Oder aber die gemeinsame Beschäftigung mit zu-
15 Inwiefern das Konzept Digital Leadership bereits in Museen angewendet wird, untersuchte eine Studie des Instituts für Kulturmanagement der PH Ludwigsburg, vgl. Hausmann, Andrea (2021): Fit für die Zukunft?, https://www.kulturmanagement.net/Themen/ Studie-zu-digitaler-Fuehrung-im-Museumsbetrieb-Fit-fuer-die-Zukunf t,4260 vom 12.02.2021. 16 Sie dazu etwa das Motto der Jahrestagung des Deutschen Museumsbundes 2018, vgl. Schößler, Tom/Schütz, Dirk (2018): Museen auf dem Weg zu Cultural Leadership, https:// www.kulturmanagement.net/Themen/Rueckblick-Jahrestagung-des-Deutschen-Muse umsbunds-2018-Museen-auf-dem-Weg-zu-Cultural-Leadership,2339 vom 12.07.2018.
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kunftsrelevanten Problemstellungen wie Klimapolitik oder der Zukunft der Arbeit.17 In Deutschland ist bis dato das Naturkundemuseum federführend in Fragen einer zeitgemäßen Vermittlung von Nachhaltigkeit. 2019 lud Direktor Johannes Vogel die vor seinem Haus im Rahmen von Fridays for Future demonstrierenden Schüler*innen immer wieder persönlich im Anschluss zu den Demos zu gemeinsamen Workshops mit Forscher*innen ins Museum ein (vgl. Wojcik 2019). Darauf hin entstand der Slogan »Für Natur« unter dem das Museum als weltweit vernetzte Forschungsinstitution eine aktive Rolle »[…] nicht nur als Bewahrer des Wissens, sondern auch als Vermittler, Berater und Aktivator […]« einnimmt (Museum für Naturkunde). Es wundert nicht, dass angesichts der Fülle an zu bewältigenden Transformationsthemen die »Global Goals«, 17 Ziele für eine nachhaltige Entwicklung, die 2015 von den Vereinten Nationen, vorgestellt wurden, erst langsam in der Museumswelt ankommen. ICOM Österreich startete Anfang 2021 gemeinsam mit dem Büro für Transfer und mit Unterstützung des Bundesministeriums für Kunst, Kultur, öffentlicher Dienst und Sport eine österreichweite Initiative mit 17 Museen unterschiedlicher Größe (vgl. ICOM Österreich 2021).
Umbrüche und neue Allianzen Kann es sein, dass für den Kulturbetrieb die Ära der physischen Repräsentation mit der Pandemie als Zäsur langsam aber sicher zu Ende geht? Eine Reihe von diesbezüglichen Aufgaben können mit der Nutzung digitaler Medien weit besser erledigt werden, zumal diesbezügliche Berührungsängste auch beim Stammpublikum immer weiter sinken. Umso wichtiger werden kulturelle Räume als Orte der persönlichen Begegnung von Menschen. Würden Museen ihre Einrichtungen nicht nur aus der Sicht der Artefakte, sondern in gleicher Weise aus der Sicht der Besucher*innen oder sogar Nichtbesucher*innen konzipieren, dann stellte das einen Quantensprung bei der Wie17 Siehe dazu das Interview mit Christoph Thun-Hohenstein, entgegen immer mehr und teureren Ausstellungen plädiert er für eine Neuausrichtung der Museen unter dem Primat der »Klimamoderne«, Hilpold, Stephan (2021): MAK-Direktor: »Müssen wir unbedingt die Originale zeigen?«, in: DER STANDARD, https://www.derstandard.at/sto ry/2000124594325/mak-direktor-muessen-wir-unbedingt-die-originale-zeigen vom 03. 03.2021.
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derherstellung von – in den letzten Jahren verloren gegangenen – kulturellen Öffentlichkeiten dar. Kulturpolitisches Ziel wäre dabei nicht die Herstellung eines möglichst homogenen Massenpublikums, sondern die Spiegelung einer diversen Gesellschaft, deren Mitglieder sich mit ihren unterschiedlichen Haltungen, Interessen und Erwartungen wiederfinden können. Den Artefakten käme dabei eine Art Katalysatorfunktion zu, die mithelfen kann, Differenzerfahrungen produktiv zu machen. Auch wenn Stella Rollig, die Generaldirektorin und wissenschaftliche Geschäftsführerin des Belvedere Wien meint, Museen eigneten sich nicht als »Community Centers« (Rollig 2021) so spricht doch vieles dafür, gerade in einer Phase sich vertiefender sozialer Bruchlinien »Community Building« als eine zentrale Aufgabe von Kultureinrichtungen zu begreifen. Öffentliche Büchereien, die bereits vor einigen Jahren auf Grund der geänderten Nutzungsgewohnheiten von Medien in eine existentielle Krise geschlittert sind, zeigen mit ihrer Neuaufstellung als Begegnungszentren ganz unterschiedlicher sozialer Gruppen, wohin auch im Museumbereich die Reise gehen sollte. Inhaltlich könnten sich Museen in einem Dreischritt weiterbewegen: Stand am Beginn des kulturpolitischen Reformprozesses noch der Versuch im Vordergrund, die Türen zu öffnen und das von Expert*innen erarbeitete Angebot über den engen Kreis der Bildungsüber*innen verfügbar zu machen, so zielten die weiteren Vermittlungsmethoden darauf ab, das Angebot mithilfe von Outreach näher an die Menschen heranzutragen. Die jetzt anstehende dritte Phase in Form einer »radikaldemokratischen Wende« (Sternfeld 2018) würde die Nutzer*innen endlich ins Recht setzen, einen aktiven Part im kulturellen Geschehen zu übernehmen. Dafür gälte es, neue Angebote der Interaktion zu entwickeln, die sich nicht an vorgefertigten Expert*innenpositionen abarbeiten, sondern den Menschen ermöglichen, die Problemstellungen ins Zentrum zu rücken, die sie in der Phase der Post-Pandemie konkret betreffen. Manches lässt sich dabei aus den Erfahrungen einer Reihe von stadthistorischen und kleineren Museen lernen, die sich durch eine besondere Nähe zu den Menschen in ihrer unmittelbaren Umgebung auszeichnen. Ein gutes Beispiel bot hierfür das Wiener Volkskundemuseum, das sich dem Thema »Junge Muslime und Musliminnen in Wien« widmete. Ebendiese waren eingeladen, aktiv an der Programmgestaltung mitzuwirken und in den Räumen des Museums das Gespräch über das Zusammenleben in der Stadt zu eröffnen. Das Publikum hatte einen aktiven Part inne, gesellschaftliche Realitäten wurden erörtert. Damit wurde das
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Museum zum Ort der Verhandlung gegenwärtiger sozialer Herausforderungen (vgl. Volkskundemuseum Wien). Neben der Frage der Wiederherstellung von Öffentlichkeiten wird uns auch die Frage der Gerechtigkeit intensiver beschäftigen müssen. Dies einerseits, weil es innerhalb des Kulturbetriebs besonders ungerecht zugeht. Und andererseits, weil die progressiven politischen Bewegungen von heute wie Black Lives Matter, meToo, Fridays for Future oder Occupy nicht wie häufig missverstanden, sich mit Identitätszuschreibungen begnügen, sondern im Kern Fragen der Gerechtigkeit verhandeln. Kulturpolitisch kann der Schlüssel in vermehrter Kooperation und institutioneller Vernetzung – nach innen wie nach außen – liegen: Museum und Museum, Museum und Zivilgesellschaft, Museum und Kultureinrichtungen anderer Genres, Museum und privatwirtschaftliche Akteur*innen und – nicht zuletzt – Museum und Kulturpolitik. Museumsräume bieten sich geradezu dafür an, von unterschiedlichsten Initiativen mitgenutzt zu werden. Das Kunsthistorische Museum in Wien hat mit der Reihe Ganymed (Kunsthistorisches Museum) diesbezüglich sogar einen Publikumsrenner geschaffen, bei dem mit performativen Mittel nichts weniger verhandelt wurde als die Macht, die dem Museum eingeschrieben ist. Der im Herbst 2020 neu eröffnete Freiraum in Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe (MK&G), ein großer und variabel nutzbarer, konsumfreier Raum im Herzen des Museums, konnte zwar noch nicht wie gewünscht zum Leben erweckt werden, zeigt aber wie die neue Verbindung zwischen Museum und Umgebung f ließender wird: »Der neue Treffpunkt, Pausen-, und Projektraum für Besucher*innen, Nachbar*innen, Reisende und Museumsmitarbeiter*innen ist während der Öffnungszeiten des MK&G kostenfrei zugänglich und lädt zum Verweilen, Lesen, Arbeiten und Diskutieren ein« (MK&G 2020). Die Kooperationsangebote sollen sich im Sinne von Outreach verstärkt nach außen, in Richtung verschiedener sozialer Bewegungen und Initiativen richten, das Museum mit der Stadtgesellschaft vernetzen und neben neuem Publikum auch neue thematische Zugänge einbeziehen, die Museen aufgrund ihres engen Profils bislang kategorisch ausgeklammert haben. Dass Museen beispielsweise Schulen ihre Räume für den Unterricht anbieten, könnte Beispielwirkung entfalten (vgl. Fritzen 2021). Die Vernetzung durch Outreach führt wiederum unweigerlich zu einer internen Transformation und zu einem Aufspüren der bewussten- und unbewussten Ausgrenzungsmechanismen innerhalb der Organisation.
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Ein Blick zurück aus der Zukunft Da zwischen den Wellen der noch immer anhaltenden Pandemie Entscheidungen im Nebel des Ungewissen auf Sicht getroffen werden, versuchen wir uns einen Punkt in einer nicht allzu fernen Zukunft vorzustellen. Schauen wir etwa in das Jahr 2030 und blicken von dort aus zurück auf diese besondere Zeit Anfang der 2020er Jahre, in der sich für Museen alles verändert hat. Damals haben die Mitarbeiter*innen in Museen eine Phase der Gleichzeitigkeit erlebt, in der vieles unmöglich und zugleich vieles möglich wurde. Aufgrund der temporären Schließungen wurde es unmöglich, die Museen zu besuchen. Ausstellungen, die bereits lange Zeit geplant waren, wurden auf- und wieder abgebaut ohne dass Besucher*innen sie sehen konnten, sie wurden verschoben oder verlängert, sofern das in den komplexen, globalen Zusammenhängen von dicht getakteten Leihverträgen möglich war. Museen waren gesellschaftlich nicht mehr so bedeutsam wie vor dem Ausbruch der Pandemie. Die Menschen waren in erster Linie mit der Umorganisation ihres Alltags beschäftigt: vor allem Eltern mit Kindern jonglierten zwischen Homeoffice und dem Homeschooling ihrer Kinder. Die Natur wurde für viele zum Fluchtort aus ihrem digitalen Büro, ihrem digitalen Sportstudio und der digitalen Kinderbetreuung. Vielen Museumsmitarbeiter*innen ging es in dieser Zeit nicht anders als anderen Arbeitnehmer*innen, sofern sie das Privileg einer Festanstellung genossen. Sie machten zunächst die leidvolle Erfahrung, von manchen digitalen Entwicklungen ausgeschlossen zu sein. In vielen Fällen wurde die Verbindung zu den Kolleg*innen und zur Außenwelt über das private Smartphone aufrechterhalten. Selten war die Zeitzeugenschaft und die Sammlungsaufgabe so synchron; entsprechend vielfältig die Versuche, partizipative Sammlungsprozesse auf digitalen Kanälen anzustoßen. Nie zuvor wurden so viele digitale Formate erprobt. Und Einrichtungen wie das Zentrum für Kunst und Medien (ZKM) in Karlsruhe boten einen Ausblick, welche Richtung das Museum von morgen mit Stand Juli 2020 nehmen könnte: »Nach der Pandemie sieht alles anders aus: Das Museum wurde Fernsehstudio, Hörsaal, Kino und Konzerthaus. Wir bauten die Ausstellung auf eine virtuelle Plattform und drehten Führungen in einem menschenleeren Haus. Wir waren geschlossen und offen, analog und digital, Museum und Fernsehstudio – Das Museum der Zukunft ist kein Museum mehr, aber was ist es dann?« (ZKM 2020)
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Neben der Ref lektion der gesellschaftlichen Situation, der eigenen internen Um- und Neuplanungen haben sich viele Museumsmitarbeiter*innen grundsätzlichen Fragen zur Relevanz ihrer Einrichtungen gestellt18: Für wen existieren wir als Museum? Wie können wir in dieser Situation einen gesellschaftlichen Beitrag leisten? Wie schaffen wir Gemeinschaft? Wie erreichen wir unser bisheriges Publikum und neue Besucher*innen mit digitalen Mitteln? Wie binden wir sie darüber hinaus ein?19 Diese Fragen waren nicht neu, sie stellten sich aber in einer neuen Dringlichkeit, die noch weit über die Zeit der Coronapandemie hinausreichte. Es waren Fragen nach einer wünschenswerten Zukunft. Und es stellte sich die Aufgabe, wie es möglich würde, diese zu gestalten. Dabei kreiste anfänglich alles um die Digitalisierung und die Bereitstellung digitaler Angebote, um die Flexibilisierung und Neuordnung interner Kommunikationsprozesse, sowie um die Schaffung agiler Arbeitsformen. Nach der anfänglichen Erprobungsphase für viele kleinere Häuser und der Professionalisierung in größeren Häusern, waren die Herausforderungen für die einzelnen Museen so verschieden wie die Museen selbst. Dennoch beschäftigten sich viele Museen mit ähnlichen Fragen: Wie sie ihre eigene Digital Literacy – also die Kompetenzen im Umgang mit einer zunehmend digital geprägten Welt – ausbauen, wie sie digital versiertes Fachpersonal gewinnen, in welche Technologien sie investieren und wie sie die Beziehung zum Stammpublikum gestalten, neues Publikum erreichen und ein besseres Verständnis für digitale Besucher*innen entwickeln. Langfristig ging es
18 Siehe dazu beispielhaft das Interview mit dem Würzburger Museologen Guido Fackler von Staffen-Quandt, Daniel (2021): Museologieprofessor Guido Fackler: »Museen haben gesellschaftliche Relevanz«, in: Sonntagsblatt, https://www.sonntagsblatt.de/artikel/ kultur/museologie-professor-guido-fackler-museen-haben-gesellschaf tliche-relevanz vom 03.03.2021. 19 Diese Fragen sind Teil des Reflexionsprozesses mit Mitarbeiter*innen aus 14 norddeutschen Museen, den die Autorin im Rahmen des Programms »Das relevante Museum« der NORDMETALL Stiftung 2020 leitete. Sie erörterte diese wiederum in einem öffentlichen Gespräch mit dem Kultursenator Dr. Carsten Brosda, um den Wissensstand aller Beteiligten zu synchronisieren, siehe NORDMETALL-Stiftung (2020): Das relevante Museum. Arbeitsraum für besucherfokussierte Strategien, https://www.nordmetallstif tung.de/wp-content/uploads/2019/04/Das-relevante-Museum-Arbeitsraum-fuerbesucherfokussierte-Strategien-Programmheft.pdf vom 28. und 29.09.2020.
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darum, sich der weltweiten OpenGLAM-Bewegung20 anzuschließen, digitale Formate für ein unabhängiges digitales Museumserlebnis zu schaffen, Gaming-Ansätze einzubinden und sich dort zu tummeln, wo digitale Nutzer*innen schon waren, sich folglich mit verschiedenen digitalen Szenen zu verbinden. Die Professionalisierung von Outreach mit digitalen Mitteln für Schulen bot einen besonderen Mehrwert für Schulen im ländlichen Raum. Unter Pandemiebedingungen wurde ein anderes Arbeiten möglich, geprägt durch mehr Experimentiermöglichkeiten und Freiheit. Mitarbeiter*innen konnten ihre Kompetenzen anders einbringen, Arbeitsabläufe und Kommunikationswege waren spontaner und hierarchiefreier. Durch den Blick hinter die Kulissen der Museumsarbeit wurden mehr Mitarbeiter*innen sichtbar. Der Wunsch agiler und abteilungsübergreifender zu arbeiten wurde dort, wo die produktive und kreative Dynamik erlebt wurde weiterentwickelt. Auch wenn diese Entwicklung nicht in allen Häusern zu beobachten war, allen Einrichtungen war gemeinsam, dass die Transformationsprozesse hin zu neuen Arbeitsformen in einer digitalen Kultur sowie die Besucherzentrierung und Neubesucherfokussierung vor allem den Aufbau neuer Leadership-Kompetenzen, die Schaffung interner Lernumgebungen und das Einüben von Fehlertoleranz erforderte. Um das zu bewältigen, musste ein enormer interner Weiterbildungsbedarf gedeckt werden. In dem Maße wie sich die Museen zunehmend um Besucher*innen und insbesondere um neue lokale Besucher*innen in der ganzen Vielfalt ihrer Lebens- und Arbeitsbedingungen bemühten, rückte auch das Thema Diversität in den Mittelpunkt. Die notwendigen Veränderungsprozesse waren tiefgreifend und umfassten Veränderungen in Personalentscheidungen, das Etablieren von Diversity-Manager*innen und von internen Arbeitsgruppen, die sich mit allen Formen der Diskriminierung und intersektionalen Diskriminierung auseinandersetzten und die Organisation für unterschiedliche Fragestellungen sensibilisierten. Dort wo Förderprogramme es ermöglichten, wurden neue Stellen für Community-Manager*innen oder Outreach-Kurator*innen geschaffen, die sich vor allem mit der Erschließung von neuen Zugängen zur Dauerausstellung und Sammlung sowie mit einer zeitgemä20 Unter dem Begriff OpenGLAM, was für Galleries, Libraries, Archives und Museums steht, finden sich weltweit Kulturinstitutionen zusammen, deren Aufgabe es ist, das öffentliche Kulturerbe zu wahren mit dem Ziel, ihre Werke öffentlich und frei für alle Menschen zur Verfügung zu stellen.
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ßen Wissenschaftskommunikation befassten. Die Sammlung unter Diversitätsaspekten neu zu beforschen, zu organisieren und zu ergänzen eröffnete Museen neue Perspektiven. Die Aufarbeitung von kolonialem Erbe verlangte die Einbeziehung von unterschiedlichen Perspektiven und Expertisen. Die Museen investierten viel, damit die unterschiedlichsten Menschen mit all ihren Möglichkeiten, Sichtweisen und Geschichten, im Personal, in Ausstellungen, in Sammlungen und in Aufsichtsgremien anzutreffen waren. Auch bauliche und gestalterische Maßnahmen zur Barrierefreiheit wurden umgesetzt. Museen gewannen so nicht nur lokal neue Besucher*innen, sondern eine gesellschaftliche breitere Akzeptanz. Ein »Weiter-so« war nicht mehr denkbar, zu groß die permanente Selbstüberforderung. Die Pandemie hatte das Bewusstsein für die tieferliegenden Probleme innerhalb der Organisation und in der Gesellschaft geschärft. Der Umgang mit Ressourcenknappheit bekam eine völlig neue Dimension. Die großen Aufgaben konnten letztlich nur durch massive Restrukturierungsmaßnahmen angegangen werden. Nicht jede Organisation war auf sich allein gestellt in der Lage, zusätzlich Nachhaltigkeits-Manager*innen, Diversity-Manager*innen und Outreach-Manager*innen einzustellen. Dazu waren zum Teil auch unkonventionelle Formen der Kooperation, über die engen Zuständigkeitsgrenzen hinweg, erforderlich. Die Transformationsthemen kontinuierlich in der Organisation anzugehen erforderten eine Reduzierung der Taktung von Ausstellungen, Sonderausstellungen und Veranstaltungen. Damit verbunden waren auch positive Effekte auf den CO2-Fußabdruck, bei dessen Ermittlung und Reduktion inzwischen die meisten Museen gesellschaftlich Vorbildfunktion übernehmen.
Von der Gegenwart in eine wünschenswerte Zukunft Vieles von dem, was aus einer Zukunftsperspektive an dieser Stelle nur angedeutet werden kann, wirkt heute noch weit entfernt. Die Museen – so viel scheint sicher – werden diese grundstürzenden Herausforderungen nicht im Alleingang lösen können. Dazu braucht es einer starken kulturpolitischen Handschrift, die um die überragende Bedeutung sozialer Beziehungen innerhalb und rund um den Kulturbetrieb weiß, dahingehend neue Akzente setzt und dabei wohl auch die eigenen institutionell-administrativen Strukturen wie die der Museen noch einmal hinterfragt. Praxisbeispiele vor
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allem von kleineren Häusern lassen erahnen, wohin die Reise gehen könnte.21 Noch überwiegen die defensiven Kräfte, die sich möglichst bald die alten Verhältnisse zurückwünschen. Das ist verständlich und doch illusorisch. Die Büchse der Pandora ist geöffnet (vgl. Hilpold 2021). Der Bedarf an einer ebenso engagierten wie fachkundigen, zugleich möglichst breiten und vielstimmigen Diskussion war noch nie so groß, um die Museen – auch in Mitteleuropa – in den Realitäten von heute ankommen zu lassen und ihnen – wenn auch hundert Jahre verspätet – als Orte der Konfrontation und Kooperation demokratischen Geist einzuhauchen. Es sei denn, man hält es mit Christian Boltanski und schließt Wetten auf den eigenen Tod ab (Wetzel 2010). Schon jetzt zeigt sich, dass der Kulturbetrieb nicht einmal in Ansätzen in der Lage sein wird, die durch die Pandemie verursachte institutionelle Verunsicherung aus sich heraus zu meistern. Aber es wäre ein eklatanter Irrtum zu glauben, ein temporäres Aufdrehen des öffentlichen Geldhahns würde ausreichen, die notwendige Konsolidierung herbeizuführen. Dazu haben bereits vor der Pandemie zu viele Probleme unter der Oberf läche geschwelt. Um den erwartbaren Sparmaßnahmen der öffentlichen Hand zur Tilgung der angehäuften Schulden zu begegnen, wird es sehr guter Argumente bedürfen, um zumindest die bestehenden Mittelzuweisungen an den Kulturbetrieb zu gewährleisten. Aktuell erleben wir eine Vielzahl an Initiativen, die sich nicht auf den Ruf »Zurück in die alte Normalität« beschränken, sondern sich auf die Suche nach einer »Neuen Agenda der Kulturpolitik« machen (EDUCULT 2021). Gerade im Museumsbereich könnten sich diese auf vielfältige Vorarbeiten stützen, die freilich bislang nicht den Mainstream des museumspolitischen Diskurses erreicht haben. Ansätze dazu gibt es, wie die die ins Leben gerufenen Initiativen Das relevante Museum oder museumdenken, mit der der österreichische Museologe Gottfried Fliedl die Museumsdebatte aus bürgerschaftlichem Engagement heraus wiederbeleben möchte (vgl. Fliedl 2021). Oder aber die Kulturpolitik aktiviert die Bürger*innen in Form eines breit 21 Einige von ihnen wurde sogar mit Preisen bedacht, vgl. Bundesministerium Kunst, Kultur, Öffentlicher Dienst und Sport: Museumspreis, https://www.bmkoes.gv.at/Kunst-undKultur/preise/oesterreichischer-museumspreis.html. In Deutschland wurde 2021 erstmalig der kulturpolitische Zukunftspreis KULTURGESTALTEN für herausragende Praxisbeispiele vergeben, vgl. Kulturpolitische Gesellschaft (2021): Zukunftspreis für Kulturpolitik, https://kupoge.de/kulturgestalten/
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angelegten Partizipationsprozesses wie etwa bei einem Hackathon gleich selbst.22 Wie sieht eine praktische Kulturpolitik aus, die Transformation in Museen fördert? Sie wird zuallererst nicht darum herumkommen, sich entlang von Schwerpunktsetzungen im Auftrag ihrer Wähler*innen inhaltlich neu zu positionieren, um Fragen wie diese zu beantworten: »Welche gesellschaftlichen Entwicklungsprozesse wollen wir künftig mit den Mitteln der Museen anstoßen und befördern?« Sie wird auch nicht umhinkommen, neue Modi der Aushandlungsprozesse zu etablieren, um alle Akteursgruppen an den künftigen Entscheidungsprozessen zu beteiligen. Alle dringlichen Transformationsthemen bedeuten Investitionen in Zeit, Personal- und Finanzressourcen, die sich nicht unmittelbar in höheren Besuchszahlen und folglich nicht in Einnahmen niederschlagen und schon gar nicht in Prestige, wie es bisher definiert wurde. Die Politik sollte ein Verständnis dafür entwickeln, dass weniger Ausstellungen mit längeren Laufzeiten im Rahmen des geplanten Budgets stattfinden, um die Anforderungen an Diversität im weitesten Sinne, den Auf bau neuer Kooperationen, die Erfordernisse der Digitalisierung sowie das Erlernen neuer Formen der Zusammenarbeit und die Umsetzung von Nachhaltigkeit zu ermöglichen. Die Kulturpolitik ist daher ganz praktisch gefragt: • Indikatoren zu entwickeln, die Relevanz von Museen besser als die Messung von Besuchszahlen beschreiben. • Den Rahmen und die Finanzierung für eine diversitätsorientierte Organisationsentwicklung zur Verfügung zu stellen. • Prozesse für eine ko-kreative Zusammenarbeit zwischen Kulturverwaltungen, Kulturinstitutionen, Stiftungen, Besucher*innen und Vertreter*innen verschiedener Gruppen, die bisher nicht in Museen kommen, zu gestalten.
22 Siehe Beispiele für die Aktivierung der Zukunftsgestaltungskompetenz in Form eines Hackathons: #WirVsVirus, der Hackathon der Bundesregierung (2020), https://wirvsvi rus.org/ vom 19. bis 21.03.2020 oder UpDate Deutschland (2021), https://updatedeutsch land.org/ vom 19. bis 21.03.2020 oder Kulturhackathon (2020), https://www.openglam.at vom 27.-30.04.2020 oder Coding da Vinci (2021), https://codingdavinci.de/
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• Kooperative Strukturen für eine solche Form der Zusammenarbeit zu fördern und zu etablieren. Der Soziologe Nicholas C hristakis an der Yale University sieht in C orona einen Weckruf: »Bei all dem Leid, das die Pandemie brachte, zeigte sie den Leuten aber auch neue Möglichkeiten.« Und er sagt voraus: »Die Menschen werden unerbittlich nach sozialen Interaktionen suchen.«23 Geht es nach den Autor*innen, dann ergeben sich aus den Folgen der Pandemie neue Chancen für die Museen sich künftig als Orte der kulturellen Öffentlichkeit zu positionieren, um diesem wachsenden Interaktionsbedürfnis zu entsprechen. In unserer Momentaufnahme inmitten der Pandemie wollten wir den Möglichkeitsraum der Museen für die Zukunft öffnen und gestalterisch nutzen, so dass sie die Relevanz entfalten können, die sie verdienen. Damit können wir der Konzeptionsarbeit zugunsten neuer kulturpolitischer Schwerpunktsetzungen nicht vorgreifen, allenfalls hoffen wir, sie an dieser Zeitenwende mit unseren Überlegungen beim Weiterdenken zu inspirieren. Es liegt an den Leser*innen, diese weiter zu treiben, um damit zu entscheiden, welchen Stellenwert die Museen in der Transformationsgesellschaft haben werden.
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23 Zitiert aus Kreye, Andrian (2021): Schützt Menschen, nicht Formen, in: Süddeutsche Zeitung, https://www.sueddeutsche.de/kultur/kapitalismuskritik-corona-1.5244210?redu ced=true vom 24.03.2021.
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Museen nach der Pandemie
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Innovationshindernisse im Museum Armin Klein
»Die Museen der Zukunft werden nur dann ihre – bisweilen aufgeregte – Müdigkeit hinter sich lassen, wenn sie bereit sind, ihr Selbstverständnis in Hinblick auf das, was sie als kulturelle Institution sind, zu befragen und sich strukturell zu verändern«, schreibt Daniel Tyradellis in seiner Streitschrift »Müde Museen« (Tyradellis 2014: 25, Hervorhebung AK). »Müde« versteht er in zweierlei Hinsicht: Zum einen werden die Museen deshalb zunehmend müde, weil sie einem permanenten Veränderungsdruck ausgesetzt sind und die Zahl der Stakeholder, also der Anspruchsnehmer, ständig wächst: Die Bildungseinrichtungen, der (Kultur-)Tourismus, die Wirtschaft, die Politik, die Öffentlichkeit: Sie alle formulieren ständig Wünsche und Begehrlichkeiten an die Museen. »Müde, unter ständig schwierigeren ökonomischen Bedingungen arbeiten zu müssen. Müde vom dauernden Legitimationsdruck als teure Kulturinstitution. Müde davon, als Musentempel, Unterhaltungsund Bildungsanstalt, regionaler Standortvorteil- und Tourismusattraktion mit Erwartungen überhäuft zu werden. Müde von immer neuen Wellen medialer Innovationen […] Kurz: Sie sind müde davon, nicht mehr in Ruhe ihre Arbeit tun zu können.« (Tyradellis 2014: 9) »Ihre Arbeit« – darunter verstehen viele vor allem das Bewahren, das Konservieren, das Erforschen und weniger das Präsentieren und das Vermitteln. »Ermüdet« sind die Museen allerdings auch durch die weitgehend selbst gestalteten Bedingungen ihrer Arbeit – und ermüdend wirken sie dadurch auch auf ihre Besucher*innen. »Der Ermüdete ist am Ende seiner subjektiven Möglichkeiten angelangt; er ist davon ermüdet, immer nur ein und dieselben Dinge zu variieren, ohne dabei auf die Idee zu verfallen, dass das Problem der Ermüdung nur daher rührt, das sichere Terrain, die erarbeitete Position und die damit verbundene Professionalität nicht zur Disposition stellen zu wollen.« Tyradellis behauptet weiter, »dass Museen deshalb so
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langweilig und ermüdend sind, weil sie glauben, allein durch ihre einmaligen Originale oder die Verwendung eines medialen Fuhrparks interessanter zu werden« (Tyradellis 2014: 24). Wer sich näher mit Fragen des Museumsbetriebs befasst ist indes verwundert, wie lange schon über die Innovation von Museen diskutiert wird – und wie wenig sich ganz offenkundig geändert hat bzw. ändert – trotz aller unübersehbarer Anstrengungen einzelner Häuser. Bereits 1989 legte die Kommunale Gemeinschaftsstelle ihre Studie »Die Museen. Besucherorientierung und Wirtschaftlichkeit« (KGSt 1989) vor, die sehr deutlich den Weg zu (mehr) Besucherorientierung aufwies. Im Jahr 2000 veröffentlichte Anja Dauschek ihre Darstellung zum »Museumsmanagement in den USA«, in der sie neue Strategien und Strukturen kulturhistorischer Museen aufzeigte, die durchaus auch für den Kulturbetrieb in Deutschland relevant hätten sein können bzw. noch sind (Dauschek 2000). 2004 fand schließlich in Braubach die Tagung zum Thema »Museen neu Denken« statt (John/Dauschek 2008) – auch dies blieb weitgehend folgenlos. Woher kommt bloß diese Zähigkeit, dieses Beharrungsvermögen fragt man sich unwillkürlich. Laut Kulturfinanzbericht 2018 flossen im Jahr 2015 18,3 Prozent der gesamten Kulturausgaben von Bund, Ländern und Gemeinden in die Finanzierung von Museen, Sammlungen und Ausstellungen (vgl. Kulturfinanzbericht 2018: 15). Der Museumssektor ist somit der zweitgrößte Zuschussempfänger nach Theater und Musik (35,4 Prozent), somit sicherlich Grund genug, die konstatierte Müdigkeit zu überwinden und die Potenziale zu entfalten. Deshalb soll im Folgenden gefragt werden, (1) was genau sind die Gründe für die konstatierte Ermüdung und (2) wie können diese möglicher Weise überwunden werden?
1. Das Museum als Behörde Ein ganz wesentlicher Ermüdungsfaktor (oder im Sinne der im Titel gestellten Frage nach Innovationshindernissen besser gesagt: »Trägheitsfaktor«) der Museen liegt zweifelsohne in deren Rechtsform. Die Aufgaben öffentlicher Kulturbetriebe in Deutschland sind juristisch ganz unterschiedlich eindeutig fixiert. Auf der einen Seite gibt es einige wenige gesetzliche Regelungen, die bestimmte Kulturaufgaben als Pf lichtaufgaben bestimmen. So wird beispielsweise das Archivwesen sowohl durch das Bundesarchivgesetz als auch die einzelnen Archivgesetze der Länder gesetzlich genau geregelt, da
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der Staat ein fundamentales Interesse daran hat, dass »Unterlagen von bleibendem Wert« entsprechend auf bewahrt werden (vgl. hierzu Archivrecht [Abrufdatum 16.12.2019]). In gleicher Weise haben die einzelnen Bundesländer den Denkmalschutz gesetzlich geregelt (vgl. hierzu Denkmalschutzrecht [Abrufdatum 16.12.2019]). Da es sich auf beiden Feldern um gesetzlich fundierte, hoheitliche Aufgaben handelt wird ihre Durchführung in der Regel Beamten anvertraut. Auf der anderen Seite stehen eine Vielzahl anderer Kulturbetriebe (wie z.B. Theater, Orchester, Musik- und Jugendkunstschulen, Stadtbibliotheken, die Einrichtungen der Soziokultur bzw. die gesamte Freie Kulturszene usw.), deren Aufgaben gesetzlich nicht normiert sind. Es handelt sich hier also um sog. freiwillige Aufgaben, d.h. die einzelnen Bundesländer bzw. Gemeinden als Träger bzw. Förderer dieser Einrichtungen können selbständig regeln, wie diese Aufgaben wahrgenommen werden. Die öffentlichen Mittel, die hierfür aufgewendet werden, müssen jährlich jeweils neu in den Haushaltsplänen ausgehandelt und bereitgestellt werden. Museen (und auch Wissenschaftliche Bibliotheken – im Gegensatz zu Öffentlichen Bibliotheken) stehen gewissermaßen zwischen diesen beiden Polen: Einerseits ist ihr Aufgabengebiet (zumindest in Deutschland, anders dagegen z.B. in der Schweiz vgl. hier das Bundesgesetz über die Museen und Sammlungen des Bundes) nicht durch Gesetze festgelegt. Andererseits stellen die jeweiligen Sammlungen teilweise sehr große Werte dar: Man denke etwa an die zahlreichen Museen der Stiftung Preußischer Kulturbesitz in Berlin und Brandenburg oder die Stiftung Weimarer Klassik. So sind die Museen einerseits »frei« (in obigem Sinne einer fehlenden gesetzlichen Grundlage und dementsprechend einer freiwilligen Aufgabe), andererseits erfordert die sachgerechte Wahrnehmung ihrer Aufgaben (also vor allem die Sammlung, Betreuung und Erforschung) ganz bestimmte Ressourcen. In der Regel werden sie daher als »Amt« bzw. als »Abteilung« (z.B. eines Kultur»amts«) geführt. Unter der bezeichnenden Überschrift »Dauerhafte institutionelle und finanzielle Basis« gibt der Deutsche Museumsbund Beispiele für geeignete Rechtsformen u.a.: • »Museen als unselbständige Einrichtungen des Bundes, der Länder oder der Kommunen • Museen als unselbständige Einrichtungen der Kirchen und anderer Körperschaften des öffentlichen Rechts […]
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• Museen als unselbständige Einrichtungen von Wirtschaftsunternehmen« (Deutscher Museumsbund 2006: 8, Hervorhebungen AK) Problematisch ist hier in der Regel die fehlende Selbständigkeit. Diese Zwitterstellung – keine gesetzliche Grundlage bei gleichzeitiger Einbindung in die Kulturbürokratie – hat einerseits unübersehbare Vorteile, aber ebenso deutliche Nachteile. Von Vorteil ist sicherlich, dass (zumindest die großen) Sammlungen eine gewisse Bestandsgarantie haben, d.h. nicht in den alljährlichen Haushaltsdebatten ernsthaft in Frage gestellt werden – Kein ernst zu nehmender (Kultur-)Politiker würde etwa die Hamburger Kunsthalle oder das Münchner Deutsche Museum zur Disposition stellen wollen. So schreibt der Deutsche Museumsbund an der bereits zitierten Stelle: »Der Träger gewährleistet eine Finanzierung, die den dauerhaften Betrieb des Museums ermöglicht« – also eine quasi ökonomische Bestandsgarantie. Dieses Wissen um die garantierte Existenz zementiert den Status quo und beeinf lusst das Denken der in dieser Institution handelnden Akteur*innen. Sie wissen, dass die finanzielle Basis gesichert ist, öffentliches Geld f ließt – und so müssen sie sich selbst und ihre Arbeitsweisen kaum befragen – Und vor allem müssen sie nicht »lernen« (im ganz umfassenden Sinne; vgl. hierzu ausführlich Klein 2017). Angesichts einer sich immer schneller verändernder Umwelt wird Lernen indes zu einer Grundvoraussetzung der Existenzsicherung. Der »lernenden Organisation« (vgl. Peter M. Senge 2001) gehört die Zukunft. Von Nachteil ist dagegen sicherlich die Einbindung in die kommunale bzw. staatliche Bürokratie der jeweiligen Länder bzw. Kommunen, z.B. in das Rechnungswesen der Kameralistik, in die Personal- und Baubewirtschaftung usw., d.h. ob sie wollen oder nicht gehorchen diese Einrichtungen den Maximen eben dieser Organisationsform. Was dies bedeutet, hat der Soziologe Ulrich Beck auf den Begriff der »organisierten Verantwortungslosigkeit« gebracht. »Wer Kultur sagt, sagt auch Verwaltung, ob er will oder nicht«, seufzte der Frankfurter Philosoph Theodor W. Adorno schon zu Beginn der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts in seinem berühmten Aufsatz »Kultur und Verwaltung« (Adorno 1960: 101). »Museen sind auch deshalb so müde, weil Institutionen grundsätzlich zu Trägheit tendieren« konstatiert Tyradellis (2014: 57). In der Tat sind in Deutschland immer noch sehr viele Kultureinrichtungen in Formen der bürokratischen Organisation verfasst: Als Regiebetriebe,
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als nachgeordnete Behörden in der Landesverwaltung, als kommunale Ämter, als Abteilungen städtischer Kulturämter, als Eigenbetriebe usw. Diese Kultureinrichtungen folgen nolens volens der Institutionenlogik bürokratischer Organisationen und das heißt dem »Rationalitätstypus korporativer Selbsterhaltung« (Schulze 1992: 504). Die Institution setzt sehr große Energie darein, dass möglichst alles so bleibt wie es ist und Veränderung nur durch Wachstum möglich ist, keinesfalls aber durch Innovation und tiefgreifende Veränderungen: Die zukünftige Existenz wird durch die vergangene legitimiert nach dem Motto: »Das haben wir schon immer so gemacht!« Was das für das eigene Handeln bedeutet, kritisierte schon vor Jahren der damalige geschäftsführende Intendant der Frankfurter Oper, Martin Steinhoff, am Beispiel der Oper, was aber gleichermaßen für das Museum gelten kann: »Wer ein Opernhaus betritt, betritt die Räumlichkeiten einer Behörde. Diese Behörde ist seit Jahren und Jahrzehnten als Behörde geführt worden, d.h. sie ist der Logik der Geschichte von Behörden gefolgt. Diese Logik heißt: Immer etwas mehr im nächsten Jahr zu bekommen, als man bereits im letzten Jahr hatte. Das ist nicht die Logik der Künstler an der Oper, das ist die Logik dieser Institutionen.« In gleichem Tenor schrieb die Kulturredakteurin Ulrike Knöfel im SPIEGEL (27/2015: 119ff.): »Berlin ist die langweiligste Museumsmetropole der Welt. Kaum eine andere Stadt besitzt so viel schöne Kunst – und gibt sich so viel Mühe, Besucher*innen davon fernzuhalten.« Sie sieht den Grund hierfür in deren Behördenhaftigkeit und schreibt weiter: »Wenn man eines der staatlichen Häuser besucht, hat man tatsächlich den Eindruck, in Behörden zu kommen, jedenfalls nicht an Orte, an denen der Kunst mit Leidenschaft begegnet wird.« (Ebd.) Der Artikel trägt den bezeichnenden Titel: »Ham wir nich, wolln wir nich«, ein Satz, den man nur zu gut aus nicht motivierten und nicht funktionierenden Dienstleistungsbetrieben kennt. Als ich vor einigen Jahren in einem Gespräch mit der Leiterin einer renommierten deutschen Kunsthalle fragte, wieso es bei stark frequentierten Sonderausstellungen keine weitere Kasse zum Ticketerwerb gäbe, antwortete diese: »Das Personal liebt diese zweite Kasse nicht.« Also lieber zufriedenes Personal als zufriedene Besucher*innen, die man – im wahrsten Sinne des Wortes – nicht selten im Regen stehen lässt, wenn sich entsprechende Schlangen bis vor das Haus bilden! Uwe Schneede, langjähriger Leiter der Hamburger Kunsthalle, gab schon 2006 vor der Enquete-Kommission »Kultur in Deutschland« hinsichtlich des
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Zustands der Museen in Deutschland zu Protokoll: »Weitgehend veraltete Strukturen, zu viel Verwaltung, zu viel Mitsprache von Politik und Administration, zu starres Haushaltssystem, zu wenig aktive Öffnung zum Publikum, zu wenig Selbständigkeit, zu wenig Leistungskontrolle und zu wenig Selbstbewusstsein im Umgang mit Mäzenen, Sponsoren und Privatsammlern.« (Schneede 2006: 9) Die enge Anlehnung an bzw. die Einbindung in bürokratische Strukturen sind sicherlich Haupthemmnis jedweder Innovation bzw. der Implementierung auch nur im Ansatz unternehmerischen Denkens im Museum. Dagegen regte sich indes schon seit Jahrzehnten immer wieder Kritik – weitgehend allerdings folgenlos. Insbesondere die Kommunale Gemeinschaftsstelle hat immer wieder Gutachten zur Führung und Steuerung öffentlicher Kulturbetriebe vorgelegt. So schrieb sie etwa – hier am Beispiel der öffentlich getragenen Theater 1988: »Jeder einzelne öffentliche Kulturbetrieb ist seiner Anlage nach ein Betrieb. Allerdings ist sein Betriebscharakter nur ansatzweise verwirklicht.« Und weiter: »Leiterinnen und Leiter von öffentlichen Kultureinrichtungen sehen sich bislang allerdings sehr viel eher (oder sogar ausschließlich) als diejenigen, die für die »Inhalte« zuständig sind. Das führt vielfach dazu, dass sich die jeweilige Leitung »für die wirtschaftliche Steuerung des Betriebs auch nur eingeschränkt verantwortlich« fühlt (KGSt 1988: 3). »Sie denkt eher administrativ als betriebswirtschaftlich.« Gegen die in so verfassten öffentlichen Kulturbetrieben zu beobachtende »Flucht in den Komfort der Gängelung statt verantwortlicher Selbststeuerung« setzte die KGSt seiner Zeit die programmatische Forderung, endlich auch die »Betriebsnatur voll zu entfalten«. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass eine Stadt, die ihre Kultureinrichtungen »bei hohem künstlerischen Anspruch auch wirtschaftlich in der Hand behalten will, nur die Wahl hat, (sie) zu einem echten Betrieb zu machen (KGSt. 1988 1988: 3)«. Nicht selten aber wird von den Museen die »Flucht in den Komfort der Gängelung« anstatt »unternehmerischen Handelns« (ebd.) bevorzugt – ein nicht zu unterschätzendes Innovationshindernis. Was heißt in diesem Kontext »unternehmerisches Handeln«? Elmar Konrad (2000: 71) hat sich intensiv mit dem Typus des »Kulturunternehmers« auseinandergesetzt. Neben Sozialkompetenz, Kulturwissen und betriebswirtschaftlichen Kenntnissen benötigt dieser vor allem eine unternehmerische Motivation. Wesentliche Elemente dieser unternehmerischen Motivation sind Leistungsmotivation und ein ausgeprägtes Machbarkeitsdenken (d.h.
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die eigene Leistungsbereitschaft und Kreativität anerkennend, diese auch effizient einzusetzen und permanent unter Beweis zu stellen), Herbeiführung einer wirtschaftlichen und persönlichen Verbesserung der eigenen Situation, die Möglichkeit und der Wunsch nach Selbstverwirklichung, das Streben nach Autonomie, also der Wunsch nach Tätigkeit in einer unabhängigen Situation und einem befreienden Umfeld und schließlich rein marketingpolitische Überlegungen, also die Entdeckung und Ausnutzung einer Marktlücke im Kulturbereich. Entscheidend ist also vor allem das entsprechende unternehmerische Bewusstsein der Entrepreneurs, die Timmons (1994: 24) – sicherlich etwas euphorisch – so charakterisiert: »They work hard and are driven by an intense commitment and determined perseverance; they see the cup half full rather than half empty; they strive for integrity; they burn with competitive desire to excel; they are dissatisfied with the status quo and seek opportunities to improve almost any situation they encounter; they use failure as a tool for learning and eschew perfection in favor of effectiveness; and they believe they can personally make an enormous difference in the final outcome of their ventures and their life.« Gibt es einen größeren Kontrast zu dem, was in so vielen Museen stattfindet?
2. Ein Museum ist ein Museum ist ein Museum Ein zweites Innovationshemmnis ist quasi »natürlich« durch die spezifische Aufgabenstellung von Museen gegeben, die per se konservativ orientiert ist, gilt es doch vor allem die eigenen Bestände zu bewahren und zu pf legen. Der ICOM-Weltverband (International Council of Museums) liefert die bekannteste Definition des Begriffs Museum: »The museum is a non-profit, permanent institution in the service of society and its development, open to the public, which acquires, conserves, researches, communicates and exhibits the tangible and intangible heritage of humanity and its environment for the purposes of education, study and enjoyment.« (ICOM: 2019) Sinngemäß lautet die Definition auf Deutsch: »Ein Museum ist eine dauerhafte Einrichtung, die keinen Gewinn erzielen will, öffentlich zugänglich ist und im Dienst der Gesellschaft und deren Entwicklung steht. Sie erwirbt, bewahrt, beforscht, präsentiert und vermittelt das materielle und immaterielle Erbe der Menschheit und deren Umwelt zum Zweck von Studien, der Bildung und des Genusses.«
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Die ersten drei der hier genannten Aufgaben des Museums richten sich auf Objekte, die es zu bewahren und für die Nachwelt zu erhalten gilt. Lediglich die vierte und fünfte Funktion (»präsentieren« und »vermitteln«, die zudem oft gemeinsam genannt werden) richtet sich nach außen, d. h. nur hier tritt das Museum in die Kommunikation mit Besucher*innen, also Subjekten. Durch diese spezifische Aufgabenstellung erklärt sich die starke Sammlungsorientierung von Museen, die nicht selten in diametralem Gegensatz zur Besucherorientierung steht. Diese Sammlungsorientierung – vor allem in Verbindung mit der o.a. »Behördenhaftigkeit« – hat weitreichende Konsequenzen; viele Ausstellungen folgen dem Prinzip: »Was haben wir Interessantes und wie können wir es zeigen?« Dabei »scheinen viele Museen mit ihren Präsentationsformen und ihrer Wissensauf bereitung im 19. Jahrhundert stehen geblieben zu sein […] Wie selbstverständlich gehen viele Museen davon aus, dass es genügt, Exponate nach professionellen Kriterien auszustellen und je nach Objektgattung mit den entsprechenden wissenschaftlichen Fakten zu betexten.« (Tyradellis 2014: 12) Im Mittelpunkt auch der Präsentations- und Vermittlungsarbeit stehen also nicht die tatsächliche »Erreichbarkeit« des Publikums, sondern vor allem der wissenschaftliche Ertrag, der sich im meist voluminösen Katalog niederschlägt. Und unter karrierepolitischen Gesichtspunkten ist das auch durchaus nachvollziehbar: Was von einer Ausstellung bleibt ist der Katalog: Durch ihn dokumentieren die jeweiligen Kuratoren ihre wissenschaftliche Qualifikation – und empfehlen sich ggf. für höhere Positionen (bei den Theaterdramaturg*innen erfüllt das Programmbuch zur Aufführung eine ähnliche Funktion). Unvergessen bleibt die – in dieser zugespitzten Form sicherlich nicht verallgemeinerbare – Antwort der Leiterin eines größeren Stadtmuseums auf die Frage der Studierenden des Kulturmanagements im Seminar Museumsmanagement auf die Frage, für welche Zielgruppen sie denn ihre Ausstellungen plane: »Zunächst für die Kollegen aus anderen Häusern und dann für die Presse. Und wenn dann noch Publikum kommt, schicken wir es selbstverständlich nicht weg« (persönliches Erlebnis in einem deutschen renommierten Stadtmuseum). Auf das Gelächter der Ironie vermutenden Studierenden reagierte sie höchst erregt und meinte, das sei ihre ehrliche Meinung und davon weiche sie auch nicht ab. Tyradellis (2014: 76) nennt dies sarkastisch »das selbstbezügliche System des Museums«.
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Diese Haltung wird nicht zuletzt beeinf lusst durch die Ausbildung und Sozialisation von Museumsleiter*innen, die in aller Regel eine wissenschaftliche Ausbildung mit abschließender Promotion voraussetzen. Kulturmanagementkenntnisse und Führungsqualitäten scheinen demgegenüber nach wie vor eher nachrangig.
3. Von der Sammlungsorientierung zur Besucherorientierung Die Sammlungsorientierung lässt sich in ihrem Denken also primär von folgenden Fragen leiten: Was haben wir als Museum (zu bieten) und wie können wir es den Besucher*innen zeigen bzw. optimal vermitteln? Die Besucher*innen und ihre oftmals ganz unterschiedlichen Interessen rangieren in dieser Sicht häufig an zweiter Stelle: im Fokus stehen die zu präsentierenden Objekte. Nun könnte an dieser Stelle eingewandt werden, dass doch die Aufgabe der »Vermittlung« bereits (genug?) Besucherorientierung sei. Dies ist jedoch keineswegs der Fall. Denn dahinter steckt insgeheim die Haltung, »dass Vermittlung zu dem Eigentlichen, der Ausstellung, hinzukommt. Doch Ausstellungen werden nicht vermittelt, sie sind Vermittlung. »Eine Ausstellung, die auf eine gesonderte Vermittlungsebene angewiesen ist, ist keine Ausstellung«, formuliert ganz radikal Tyradellis (2014: 82; Hervorhebungen AK). Denn im Rahmen einer so verstandenen »Vermittlung« werden der Besucher*innen weiterhin als Objekt, nicht als eigenständiges Subjekt behandelt: »Vermittlung ist dann weniger eine Annäherung an das museale Objekt als eine Einweihung in die fachwissenschaftlichen Perspektiven auf dieses.« (Tyradellis 2014: 84) Die Rolle (mehr noch die Identität des jeweiligen Kurators bzw. Vermittlers) in diesem Prozess ist: »›Was bin ich?‹ – ›Der, der euch das zeigt‹« bzw. »›Was bin ich?‹ – ›Der, der all dies weiß‹« (Tyradellis 2014: 115f.). Demgegenüber stellen Neil und Philip Kotler (Kotler/Kotler 1998: 15) in ihrem leider bis heute nicht ins Deutsche übersetzten Standardwerk »Museum Strategy and Marketing« eine interessante These auf, die die Besucher*innen in den Mittelpunkt der Aktivitäten des Museums rückt. Historisch gesehen wurden die Museen als die mit Autorität ausgestatteten Bewahrer*innen und Interpret*innen der Kultur und des Wissens betrachtet. Diese ihnen zugeschriebene Autorität beruhte auf ihren seltenen und
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authentischen Sammlungen und der Fertigkeit der jeweiligen Kurator*innen, diese Sammlungen angemessen zu interpretieren. Heute bestehen die Sammlungen, die nach wie vor das Herzstück des Museums sind, neben den erzählenden, interpretierenden und erzieherischen Begleitprogrammen der Kunst- und Kultur-Vermittlung als ebenfalls wichtigen und anerkannten Werten des Museums. »Die Entwicklung der zentralen Museumskonzepte – von Sammlungen zu Informationsvermittlung und Erziehung und vom Lernen zum Erfahren – reflektiert eine schrittweise Veränderung von der Kontrolle durch Experten (Kuratoren, Wissenschaftlern, Studierende) zu einer Kontrolle durch das Publikum. Traditioneller Weise kontrollieren Museen ihre Sammlung und deren Interpretationen, während das Publikum seine eigenen Erfahrungen kontrolliert. Daher reflektiert das Marketing, mit seinem Fokus auf die Museumserfahrung aus der Sicht des Besuchers, die jüngste Station in der Entwicklung der Museumsgeschichte.« (Kotler/Kotler 1998: 15; Hervorhebungen AK) Kurator*innen haben sicherlich einen (nicht selten sehr großen) Wissensvorsprung, der es erlaubt, sich quasi über die Besucher*innen zu stellen (und ihnen dieses Wissen zu vermitteln). Als Menschen allerdings verfügen sie über ganz ähnliche lebensweltliche Erfahrungen wie die Besucher*innen und stehen somit mit diesen mehr oder weniger auf einer Stufe und der Wissensvorsprung entfällt zunehmend. Was aber »erfahren« die Besucher*innen im Museum, welche Erfahrungen (»experiences«) können sie im Museum machen? Neil und Philip Kotler (1998: 35) halten vor allem folgende sechs Erfahrungen für wesentlich: • • • • •
Recreation (Erholung) Sociability (Geselligkeit) Learning-Experience (Lernerfahrungen) Aesthetic Experience (Ästhetische Erfahrungen) Celebrative Experience (Auratische Erlebnisse von Berühmtheiten, etwa in Geburts-/Wohnhäusern von Künstler*innen, Wissenschaftler*innen, Politiker*innen usw.) • Enchanting Experience (Verzauberungs-Erlebnisse – Erhebung aus dem Alltag).
Innovationshindernisse im Museum
Michael Spock, langjähriger Leiter des Boston Children’s Museum und Doyen der amerikanischen Museologie, brachte schon vor Jahrzehnten die neuen Aufgaben des Museums knapp und präzise auf den Satz: »The museum is for somebody rather than about something«, d.h. das Museum der Zukunft sei viel mehr für jemanden als über etwas. Die Sammlung verliert dabei keineswegs an Bedeutung, ihre Relevanz wird aber zunehmend mehr aus dem Blickwinkel der (potenziellen) BesucherInnen gesehen. Neil und Philip Kotler ergänzen daher die oben dargestellten »klassischen« Aufgaben des Museums um drei weitere, die in engem Zusammenhang mit der Besucherorientierung stehen. Sie benennen die Zieltrias: »(1) Designing missions (2) Building audiences (3) Generating revenue and ressources« (Kotler/Kotler 1998: 28-56), d.h. • die Museen müssen ihre zentrale Botschaft klar bestimmen und entsprechend den potenziellen Besucher*innen im Sinne der Zieltrias Erfüllung des kulturell/künstlerischen Auftrages vermitteln); • sie müssen sich um den Auf bau und die Weiterentwicklung von Zielgruppen kümmern (im Sinne o. a. Zieltrias Erreichung bestimmter Zielgruppen) und • sie müssen verstärkt für die Gewinnung neuer Einnahmequellen sorgen (im Sinne o. a. Zieltrias: Garantie des Bestandes der Kultureinrichtung). Um diese neuen (und für Viele häufig noch ungewöhnlichen Aufgaben) adäquat erfüllen zu können, müssen die Museen zunächst einmal möglichst genau wissen, wer ihre Besucher*innen sind. Welche Merkmale haben sie? Wie lassen sie sich unterscheiden, wie in Gruppen zusammenfassen? Was weiß das Museum über ihr Verhalten? Was wollen die Besuche*rinnen? Was erwarten sie von dem jeweiligen Museum? Von was sind sie u.U. enttäuscht? Was beeinf lusst ihr Entscheidungsverhalten? Welche »Erfahrungen« wollen sie im Museum mach? Und wer sind auf der anderen Seite die Nicht-Besucher*innen? Und welche potenziellen, möglichen, d.h. Noch-Nicht Besucher*innen gibt es, die vielleicht bzw. unter bestimmten Umständen kommen würden? Und wer sind die Nicht-Mehr-Besucher*innen? Aus welchen Gründen kommen diese nicht mehr? (vgl. hierzu ausführlich Klein 2011: 95-155). Die Besucher*innen haben Fragen – die Museen können mögliche Antworten bzw. »Erfahrungen« anbieten.
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Schon einen entscheidenden Schritt weiter plant das Badische Landesmuseum in Karlsruhe, nämlich von der Besucherorientierung hin zur Nutzerorientierung. »In den deutschen Museen schlummern unzählige Schätze im Verborgenen. Viel zu schade, findet der Direktor des Badischen Landesmuseums, Eckart Köhne. Er will die historischen Raritäten aus den Depots nicht nur ans Licht bringen. Sein Museum im Karlsruher Schloss will sich zu einem Nutzer-Archiv wandeln, eine Art ›Museum auf Abruf‹. […] Jedes Sammlungsobjekt soll für alle Bürger öffentlich zugänglich sein«, erläutert Köhne […] Schließlich seien die Bürger »Eigentümer der Sammlungen«. Deswegen sei es nur konsequent, ihnen den Zugang zu ihrem eigenen kulturellen Erbe zu öffnen, meint der Museumschef. Jedes Objekt soll erreichbar sein. An Stelle der Eintrittskarte soll es künftig einen Nutzerausweis geben.« (Südwestpresse [Abrufdatum 18.03.2018]) Wie kann man sich dieses praktisch vorstellen? Die geplante Realisierung wird an dem »Pilotprojekt Expothek« demonstriert, die sich thematisch mit »Archäologie in Baden« befassen wird: »Lange raumhohe Vitrinen mit zahlreichen Funden und drei interaktiven Tischen mit Touch-Displays bestimmen die etwa 300 m2 große Fläche. Hier können sich die Nutzerinnen und Nutzer mit den Objekten ihrer Wahl intensiv auseinandersetzen. Die Exponate lassen sich mit Smartphones als ›digitaler Lupe‹ genauer erforschen. Richtet man das Display auf die umgebenden Vitrinen, erscheinen über Augmented Reality (AR) zusätzliche Informationen zu den Objekten […] Die Expothek wird von sowohl wissenschaftlichen als auch technischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern betreut, den sog. Explainern. Sie erklären nicht nur die Funktionsmöglichkeiten an den interaktiven Tischen – einzigartig ist die praktische Demonstration der Originale: Die Ausstellungsobjekte werden auf Wunsch aus den Vitrinen entnommen und den Nutzerinnen und Nutzern zur genaueren Betrachtung exklusiv vorgelegt.« (Badisches Landesmuseum 2019: 25)
4. Fazit Das Berliner Institut für Museumsforschung (2018) zählte für das Jahr 2017 6.771 Museen in Deutschland; 25 Jahre zuvor, 1992, waren es noch 4.475 Museen (Institut für Museumskunde 1993) – ein Zuwachs von 2296 in einem
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Vierteljahrhundert! Das Wachstum ist ungebremst, jährlich kommen neue Häuser hinzu. Sicherlich ist auch in diesem Bereich angebracht, darüber nachzudenken ob ein solches Wachstum sinnvoll ist (vgl. hierzu ausführlich Haselbach et al. 2012). Vor allen Dingen aber stellt sich die Frage, welche Aufgaben all diese Häuser haben, welche Ziele, wie sie strukturiert sind, letztlich: wie innovativ sie sind. Museen sind per definitionem »konservierend«, d.h. sie bewahren in aller Regel Objekte der Vergangenheit für die Zukunft auf. Angesichts ständig wachsender Dynamik in der Entwicklung der Gesellschaften (Nur Stichworte seien hier: Globalisierung, weltweite Migration, technologischer Wandel) scheinen Fragen der Selbstvergewisserung und Identität immer mehr zuzunehmen: Wer sind wir? Wer waren wir? Wo kommen wir her? Wie haben wir uns verändert? Und: Wo wollen wir hin? Vergangenheit kann in entsprechend gestalteten Museen in einen Dialog mit der Zukunft treten. Museen können auf Grund ihrer Aufgabenstellung daher ganz hervorragende Orte dieser Selbstverständigung und differenzierten Identitätsbildung sein. Dies setzt allerdings voraus, dass sie sich tiefgehend verändern, sowohl in organisatorischer wie inhaltlicher Hinsicht. Zu fragen ist demnach zuerst: Wie ermöglicht man »Entrepreneurship«, unternehmerisches Denken in der Institution Museum? Aufgrund ihres Doppelcharakters (einerseits verfügen die meisten Museen – und damit die öffentliche Hand – über wertvolle Sammlungen, die es zu schützen und zu bewahren gilt, d.h. die prinzipiell der grenzenlosen unternehmerischen Verfügbarkeit entzogen sind; andererseits bewegen sie sich auf einem »Nachfragemarkt«, d.h. sie sollen sich dem breiten Publikum öffnen) ist dies keine einfache Aufgabe. Es ist zu prüfen, inwieweit die Überführung der Museen in die Rechtsform der öffentlich-rechtlichen Stiftung diesem Doppelcharakter am besten Rechnung trägt (der Stadtstaat Hamburg hat hier langjährige Erfahrungen gesammelt). Als zweiter wichtiger Entwicklungsschritt sollte ein Umdenken hinsichtlich der Ausbildung und Sozialisation der Kurator*innen und der Leitungsfunktionen erfolgen. Die klassische Ausbildungs-Trias: Fachstudium – Promotion – Volontariat scheint wenig zukunftstauglich. Ohne die Bedeutung des Fachlichen abwerten zu wollen sollten (kultur-)manageriale Kenntnisse und Fähigkeiten unabdingbar hinzukommen. In Ausbildung und beruflichem Werdegang des Direktors des Metropolitan Museums, Max Hollein, lässt sich diese Doppelbegabung gut demonstrieren.
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Es wurde gezeigt, dass sich Kurator*innen, aber auch Direktor*innen inhaltlich neu orientieren müssen: Neben die »Macht des Wissens« tritt die Fähigkeit, die Objekte »zum Sprechen zu bringen«, d.h. die vielzitierten Narrative zu finden, die das Publikum erreichen. Ebenfalls beispielhaft sei hier Neil MacGregor genannt mit seinen Publikationen »Eine Geschichte der Welt in 100 Dingen« und »Shakespeares ruhelose Welt«. Als zielführendes Motto in diesen Anstrengungen könnte der dem französischen Publizisten und Politiker Jean Jaurès zugeschriebene Satz dienen: »Wir wollen aus der Vergangenheit das Feuer übernehmen, nicht die Asche.«
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Timmons, Jeffrey A. (1994): A New Venture Creation. Entrepreneurship for the 21st Century, Illinois: Mcgraw-Hill Publ. Comp. Tyradellis, Daniel (2014): Müde Museen. Oder: Wie Ausstellungen unser Denken verändern können, Hamburg: edition Körber-Stiftung.
Der Raum zwischen Null und Eins Kulturinstitutionen als zeitgemäße Körper für eine demokratische Digitalisierung Jasmin Vogel, Daniel Neugebauer
Einleitung Die forcierte Digitalisierung durch Corona hat gnadenlos aufgedeckt, wie ungleich digitale Infrastruktur sowie Wissen über die »digitale Welt« auch im Kultursektor verteilt liegen. Im Lockdown haben die Möglichkeiten des Zugangs zu digitalen Tools die bestehenden Unterschiede noch verschärft und gleichzeitig die Transformations- und Strukturdefizite der gesamten Branche offenbart. Nach einem Jahr Krise lässt sich offensichtlich festhalten, dass Digitalität sich nicht in der Logik eines Livestreams einlöst, und auch die stattfindenden Digitalisierungsschübe in Kulturinstitutionen nicht darüber hinwegtäuschen können, dass es an einem grundlegenden Verständnis und einer Haltung fehlt, die digital und analog nicht neben- oder gegeneinander beinhaltet, sondern miteinander betrachtet. Eine Haltung, die Ideen der Solidarität, Gemeinschaftlichkeit und Bildung als Aufgabe der Kulturinstitution verknüpft. Wie kann also eine soziale Digitalität aussehen? Und wie kann diese weitergedacht werden als lediglich ein Abschied von einer gefühlten »Normalität«? Wie kann sie helfen, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft miteinander zu verbinden? Welche digitalen Infrastrukturen sind nötig, damit Kulturinstitutionen als soziale Kraftwerke Gesellschaft gestalten können? Was passiert eigentlich zwischen »Null« und »Eins«? Diese Fragen klingen vielleicht naiv, aber wenn gesellschaftliche Realität durch Algorithmen mitbestimmt wird, diese auf dem Binärsystem basieren und damit eine maximale Abstraktion darstellt – Schwarz und Weiß, Plus und Minus oder eben Null und Eins – scheint es uns angebracht, diese Alterna-
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tivlosigkeit kritisch zu betrachten bzw. die gesellschaftliche Realität auf ihre Grauzonen hin zu untersuchen. Statt Gegensätze wie analog/digital, Kultur/ Kommerz, Individuum/Gesellschaft, Bildung/Unterhaltung weiter zu befestigen, suchen wir in diesem Essay nach Werkzeugen, um zwischen den Polen zu navigieren. Die Fähigkeit, in diesen Zwischenbereichen souverän zu agieren, scheint uns für eine Neudefinition der Rolle von Kultureinrichtungen essenziell. Die Frage nach der Entwicklung eines neuen Selbstverständnisses könnte für Museen – respektive Kultureinrichtungen – dabei nicht drängender sein. Sie lassen sich mit einer Fülle von Ansätzen in der einschlägigen Literatur verbinden. Dabei scheint über allem die Frage zu schweben, welche (neuen) Kulturen digitale Transformationsprozesse hervorbringen und wie diese in Kulturinstitutionen wirksam werden bzw. Kulturinstitutionen verändern. Es ist uns wichtig zu betonen, dass diese Prozesse nicht aus der Technologie über den Kulturbetrieb hereinbrechen, sondern dass Digitalität eine kulturelle und keine rein technische Entwicklung ist. Aus diesem Perspektivwechsel ergibt sich eine Handlungsmacht für Kulturinstitutionen, ein Ruf zu kreativer Selbst- und Gesellschaftsgestaltung. Mit diesem Text wollen wir unsere Kolleg*innen ermutigen, die Herausforderungen kreativ anzugehen und den Prozess kultureller Digitalisierung aktiv mitzugestalten. Es ist ein Angebot, eben innezuhalten und dem Druck von außen Ideen von Innen entgegenzusetzen. Dafür schlagen wir das Entwickeln einiger neuer Literacies oder Kompetenzen vor, um neue Ressourcen der Selbstwirksamkeit zu entdecken und den Raum zwischen Null und Eins selbstbewusst zu besetzen. Mit den Begriff lichkeiten der Digitalen Transformation und Digitalisierung werden derzeit die großen Arbeitsgebiete der zukünftigen Gegenwart wie Konnektivität, Wissenskultur, New Work, Globalisierung, Individualisierung etc. aus den unterschiedlichsten Denkrichtungen und Perspektiven betrachtet und verhandelt (vgl. Zukunftsinstitut: 2019). Insbesondere im Kulturbereich sind diese Termini so präsent, dass keine Publikation mehr ohne sie auskommt. Dabei verschwimmen die Begriff lichkeiten und vieles gerinnt zu Allgemeinplätzen. Ein besonders hartnäckiger Allgemeinplatz ist der, der Digital Literacy. Was ist damit gemeint, welche politischen Implikationen bringt dieser mit sich und wie könnte man sie wirksam einsetzen? Wir sind der Überzeugung, dass man diesen Begriff weiter schärfen muss – was wir mit diesem Text tun wollen. Es bedarf unserer Ansicht nach eines konkreteren Hinschauens auf die gesellschaftlichen Auswirkungen aus kulturpolitischer Perspektive, das ein-
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zelne Facetten in den Blick nimmt und in einen Konnex setzt. In diesem Text schauen wir darum entlang zweier Achsen auf die Effekte von Digitalität: Körper und Zeit. Neben physischen Körpern, die in einer kollektiven Architektur wie dem Museumsraum zusammenkommen, ist der Körper nun auch eine digitale Entität, ein Avatar, ein Bündel von personenbezogenen Daten. Die allgemeine Beschleunigung von Kommunikationsabläufen, Datenübermittlung und Zugriff auf Wissen durch digitale Technik hat obendrein Auswirkungen auf unser Erleben von Zeit. Für diese Diskussion einen Startpunkt zu schaffen, ist darum unser Anliegen. Wir möchten zeigen, dass Veränderungen im Umgang mit und dem Verständnis von Körper, Raum und Zeit, die Rollen und gesellschaftliche Funktionen von Kulturinstitutionen beeinf lussen. Wir schlagen das strategische Entwickeln von Kompetenzen in Körperlesekunde (Corpoliteracy) und Zeitlesekunde (Chronoliteracy) vor, um auf Veränderungsprozesse adäquat reagieren zu können. Nicht die Begriffe sind uns wichtig, sondern der kreative Umgang mit Körpern und Räumen in digitalen Prozessen. Wir verdanken den Begriff Corpoliteracy oder Körperlesekunde Sepake Angiama und Clare Butcher, die im Rahmen der Bildungsprogramme der documenta 14 mit dem Begriff gearbeitet haben. Bonaventure Soh Bejeng Ndikung (Gründer und Künstlerischer Leiter des SAVVY Art Space in Berlin) prägte den Begriff als Strategie des Lernens und Verlernens sowie als Alternative zum euro- und phallogozentrischen Denken, zur Wissensproduktion und -verbreitung. Im zur documenta 14 erschienenen Band »eine Erfahrung« beschreibt er sein Interesse an der »Möglichkeit einer Körperlesekunde (corpoliteracy), die den Körper als Forum, Bühne, Schauplatz und Medium des Lernens, als Wissen ansammelndes, speicherndes und weitergebendes Gefüge oder Organ kontextualisiert. Daraus ergibt sich, dass der Körper nicht ausschließlich mit dem Gehirn gleichgeschaltet, sondern auch unabhängig von ihm erinnerungsfähig ist, dass er erworbenes Wissen performativ, also durch das Prisma von Bewegung, Tanz und Rhythmus behalten und weitergeben kann.« (Vgl. Angiama/Butcher 2018: 90) Die Kompetenz, im digitalen und analogen Raum souverän mit neuen Vorstellungen von Zeit und Körper umzugehen, so werden wir argumentieren, ist die Voraussetzung für ein ethisches und demokratisches Einsetzen digitaler Techniken. Darüber hinaus kann eine Lücke in den schulischen Lehrplänen gefüllt werden, was zum einen die Zukunftsfähigkeit von Kulturinstitutionen sicherstellt und zum anderen die Rolle dieser bei der Ausbildung junger Menschen stärkt. Kulturinstitutionen generieren also soziale
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Energie. Zusammengefasst heißt das, dass wir die Chancen des digitalen Wandels für Kulturinstitutionen nicht allein im technischen Know-how sehen, sondern vor allem darin, wie die Institutionen der Gesellschaft helfen können das sich bietende Potenzial der digitalen Entwicklung sinnvoll, sozial und ethisch in gesellschaftliche Prozesse und Diskussionen einzubinden. Kurz gesagt geht es um neue Methoden des demokratischen Austauschs und Miteinanders. Unserer Meinung nach können Institutionen ihre Rolle in der Gesellschaft stärken, wenn sie sich als soziale Kraftwerke verstehen. Der Begriff des Museums als Kraftwerk geht auf den Kunsthistoriker Alexander Dorner zurück, der in seinem Standardwerk »The Way beyond Art« seine Überlegungen zum sozial engagierten Kunstmuseum festhielt. Das Van Abbemuseum Eindhoven hat diesen Begriff zu seinem Leitsatz gemacht und bezeichnet sich als Social Power Plant. Körper- und Zeitlesekunde sind unsere ersten Vorschläge, um innerhalb einer sozialen Agenda analoge und digitale Prozesse zusammen zu denken. Die Fähigkeit, dies zu tun, erscheint uns als zentrale Aufgabe für die Weiterentwicklung einer digitalen Demokratie (vgl. Vogel/Neugebauer 2018: 68ff.). Dies hat, analog zur klassischen PPP-Formel, Auswirkungen auf die angebotenen Programme, die Einbindung des Publikums und das Selbstverständnis des Personals. Unsere Argumentation kann auch einfach entlang dieser Formel (manchmal ergänzt durch Presse oder Partizipation) gelesen und verstanden werden, wird aber um ein weiteres P, der Politik, erweitert (vgl. Romano-Centro 2019). Um eines deutlich vorwegzunehmen: Es geht uns nicht darum, bestimmte neue Vokabeln zu etablieren, sondern um Ideen. Wir betonen die Wichtigkeit der Achsen Körper und Zeit und finden, dass mit den vorgeschlagenen Begriffen (Corpoliteracy/Chronoliteracy) weitere Diskussionen zur Thematik ermöglicht werden, und dass wir damit gleichzeitig vom digitalen und vom analogen Raum sprechen können. Corpoliteracy referiert hierbei auf die Notwendigkeit, Körperzeichen wie Hautfarbe, Behinderung, religiöse Symbole kritisch und nicht-diskriminierend lesen zu können. Chronoliteracy bietet eine zeitliche Orientierung in einer Gegenwart, die durch das Leben in verschiedenen Zeitzonen und mit verschiedenen historischen Bewusstseinszuständen gekennzeichnet ist, eine Gegenwart zwischen Deep Time und digitaler Beschleunigung. Gerade die Intersektionen von digitalen und analogen Realitäten zu fassen, ist eines der wichtigsten Anliegen, wenn man theoretische Ideen auch in die Praxis umsetzen will – und gerade dafür plädieren wir mit diesem Text. Eine weiterführende Definition und Diskussion
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des Begriffs der Intersektionalität, bezugnehmend auf Gloria Wekker, folgt im Kapitel »Corpoliteracy als Bildungsaufgabe« (siehe 2016: 12f.). Dieses Ineinandergreifen von analog und digital würde im zeitgenössischen Diskurs wohl als postdigitale Analyse bezeichnet werden. Das ist uns recht, aber kein Anliegen. Die Diskussion der Tragkraft des Konzepts des Postdigitalen wird deshalb nicht näher erörtert werden. Uns geht es um Werkzeuge, die analoges und digitales Denken für Kulturinstitutionen sinnvoll miteinander verbinden. Unsere vorgeschlagenen Denkbilder, mit denen man arbeiten könnte, sind Corpoliteracy und Chronoliteracy. Dieser Logik folgend wird Digitalität in Kulturinstitutionen aus einer community-orientierten Haltung heraus in einer zeitlichen Perspektive verortet, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zusammendenkt. Vor diesem Hintergrund ist die Perspektive dieses Artikels eine soziale. Gemeinsam begreifen die Autoren*innen Kulturinstitutionen als »soziale Kraftwerke«, die müde Demokratien mit neuer Energie versorgen könnten. Im vorliegenden Text wird dieses Thema spezifiziert. Durch verbindende Analysen verschiedener Aspekte digitaler Transformationen in der Kultur entsteht ein utopisches Bild möglicher sozialer Kraftzentralen mit Digitalantrieb. Das Digitale und Analoge wird grundsätzlich zusammen, also denselben Logiken folgend gedacht und ist in diesem Sinne postdigital zu nennen. Es ist deshalb wichtig zu verstehen, dass digitale Techniken dazu beitragen, diese drei Zeitebenen verschwimmen zu lassen, weswegen das Zeitliche notwendiger Gegenstand unserer Analyse wird. Ideen aus der historischen Epoche der Auf klärung bieten hierfür eine argumentative Reibungsf läche, da der Umgang mit digitalen Realitäten durchaus als neue Auf klärung verstanden werden kann, wie wir später zeigen werden (vgl. Krämer 2008: 53ff.). Ziel ist es, das Verständnis von Kulturinstitutionen zu erweitern und deren soziale Rolle in Gesellschaften zu betonen, insbesondere innerhalb der lokalen Stadtgesellschaften. Dies ist relevant, weil Kulturinstitutionen großen Anteil am geschichtlichen Storytelling von Gesellschaften haben und diese entweder durch Exklusions- oder Inklusions-Prozesse strukturieren bzw. prägen (vgl. Kirchberg 2005: 130ff.). Zu denken ist hier zum Beispiel an den Ausschluss von mobilitätseingeschränkten Besucher*innen durch eine schlechte Barrierefreiheits-Policy oder der bewusste Prozess, Sponsoren an Häuser zu binden, die so Einf luss auf Programmformate und Werbebotschaften nehmen können.
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Inzwischen ist es eine Tatsache, dass eine Vielzahl von Menschen zwischen ihren digitalen, psychischen, diskursiven und physischen Körpern hin- und herswitchen. Hier sind vor allen Dingen feministische Ansätze wegweisend, von Donna Haraways »Cyborg Manifesto« (1985), über Sadie Plants »zeros and ones« (1997) bis zu Paul B. Preciados biopolitischen Ansätzen, wie in »Testo Junkie« (2008) formuliert. Da auch der digitale Raum immer im Verhältnis zum physischen Raum der Kulturinstitutionen steht, zieht sich durch diesen Text neben der Zeitthematik eine Körper/Raum-Analyse. Das Bild eines sozialen Kraftwerks mit Digitalantrieb, das hieraus entsteht, soll vor allem eine Folie für institutionelle Utopien sein, die selbstkritisch, (radikal-)demokratisch und selbstbestimmt sind (vgl. Sternfeld 2018: 37ff.). Utopien von Institutionen, die eher digital denken als digital aufrüsten, die Digitalität als ihr Eigen, nämlich als Kulturtechnik, beanspruchen, statt sie als feindliche Übernahme einer dystopisch-technoiden Welt zu sehen. Es gilt Utopien einen Raum zu geben, die als Open-Access-Ressource auf Sharing angelegt sind und hoffentlich damit bei einigen Leser*innen eine verlorene Netzeuphorie reanimieren können. Wir haben es also mit einer Utopie von Bildung im Rousseauschen Sinne zu tun (vgl. Liebau/ Miller-Kipp/Wulf: 11). Es geht darum, sich mit einem »Wider der Alternativlosigkeit« (Stalder 2017a: 279) nicht den Regeln des Marktes und den daraus resultierenden Machtansprüchen/-gefällen zu unterwerfen, sondern sich sowohl im Diskurs als auch in der institutionellen Praxis hin zu den »commons, zu einer Erneuerung der Demokratie« (ebd.: 280) zu bewegen. Denn Kulturinstitutionen, respektive Museen, sind Orte, die sich in ihrer inhaltlichen Ausrichtung jenseits von Markt und Staat verorten können und damit die Verhandlungsbasis für die Frage nach der Welt, in der wir leben wollen, par exellence bieten können (vgl. ebd.: 280f.). Es geht um die spannende und dringliche Aufgabe einer Rückeroberung des Raums zwischen Null und Eins – dem Raum, in dem sich das Leben abspielt.
Zwischen Aufklärung und Kontrolle Digitalität verstanden als eine Kulturtechnik hat auf klärerisches Potenzial. In ihren Publikationen sowie einem Vortrag vom 8. Oktober 2018 am IFK, dem Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften in Wien, erläuterte die Medienphilosophin Sybille Krämer, wie Digitalität und Auf-
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klärung zusammen zu denken sind. Vor ungefähr zwanzig Jahren habe die vielbeschworene Netzeuphorie geherrscht. Digitale Medien und das World Wide Web seien als neuer Motor für eine demokratischere Welt verstanden worden und dieses Potenzial fände sich in Ideen wie der Netzneutralität angelegt. Inzwischen hätte uns jedoch die Realität eingeholt, eine Realität der Postdemokratie, in der Netzkapitalismus und digitale Territorialkämpfe, Überwachung und Kontrolle die undemokratischen und ungleichen Zustände, die der junge Netzaktivismus und -positivismus bekämpfen wollte, noch verstärkt habe. Der Lösungsansatz sei zum Problem geworden, und dies, so Krämer, sei in der Struktur der Digitalität als Kulturtechnik angelegt. Es gehe ihr zufolge darum, Digitalität als Alphabet zu begreifen, als Alphabet radikalster Ausprägung, da es den höchsten Abstraktionsgrad besäße, in einem permanenten Oszillieren zwischen Null und Eins, ja und nein, schwarz und weiß, der höchsten Wahrscheinlichkeit, als Endlosschleife von Trial-and-Error und höchster Effizienz. Das digitale Denken ist auf den Universalgelehrten Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1717) zurückzuführen, der die Reduktion der Grundrechenarten auf den binären Code als erster vollzog und so einen Grundstein für die moderne Naturwissenschaft der frühen Auf klärung legte. Rationalität, Überprüf barkeit, Fakten statt Glauben waren Ideen hoher emanzipatorischer Kraft. Diese Überprüf barkeit, so Krämer, sei aber ebenso die Wurzel von Kontrolle, in Alphabeten, in Zahlen, also im gesamten alphanumerischen Raum, der die post-auf klärerische Gesellschaft dominiert. Es scheint, als sei Kontrolle der Preis, den man für Empowerment bezahlt (vgl. Krämer 2018). Gleichzeitig legt sie dar, wie sich das Transparenzversprechen der neuen Kulturtechniken ins Gegenteil verkehrt, wenn Algorithmen dafür sorgen, dass Menschen Maschinen bedienen können, ohne sie zu verstehen (vgl. Krämer 2019). Hier lohnt es sich, genauer hinzuschauen: Könnten Kulturinstitutionen nicht noch bessere und wirkungsvollere Zonen sein, die a) auf emanzipatorischen Strukturen beharren (als Bildungsorte für neue Literacies), b) Alternativen zu marktkonformen Organisationsformen erproben (als community-orientierte Co-Produktionsstätten), um dadurch c) demokratische Prozesse wirksamer zu beeinf lussen?
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Um dies darzustellen, schauen wir zunächst darauf, wie Kulturinstitutionen helfen, die persönliche Position in der Geschichte einzuordnen, gemeint ist damit die die museale Zeit, und verbinden dies mit der Frage nach der sozialen Rolle von Kulturinstitutionen. Orientierung in der Zeit und das Verbinden von gesellschaftlichen Grundwerten verstehen wir als urdemokratische Aspekte von Kulturinstitutionen. Emanzipation und Kontrolle, Individuum und Masse, Leben und Tod, Nullen und Einsen.
Das träge Tempo der Totgesagten: Zwischen Innovation und Repression Totgesagte leben bekanntlich länger, und die stetige Wiederkehr der Forderung nach musealer Erneuerung in Hinblick auf gesellschaftliche Relevanz und Gestaltungskraft verdeutlicht die Sehnsucht nach Orten, in denen Vergangenheit und Gegenwart mit Blick auf die Zukunft gemeinsam verhandelt werden. Kulturtechnik und Zeit stehen dabei in komplexer Wechselwirkung zueinander: Welche Lehren der Vergangenheit können für welche Zeitgenoss*innen heute wichtig sein oder auf die Zukunft vorbereiten? Welche Aspekte einer schnelllebigen, f lüchtigen Gegenwart sollten durch Kulturinstitutionen der Gegenwart entrissen und in den »Depots der Ewigkeit« untergebracht werden? Daran anschließend stellt sich die Frage der (digitalen) Kanonisierung und natürlich auch des notwendigen (physischen) EntSammelns der Depots. Da unsere menschlichen Gehirne aufgrund ihrer beschränkten Kapa zität diese transtemporale Perspektive schwerlich einnehmen können, bietet die Vorstellung einer durchdigitalisierten Welt zunächst Hoffnung darauf, Zeiten und Orte für Kultur gemeinsam verhandelbar zu machen. Diese drei Elemente lassen sich schnell mit den Realitäten westlicher Kultureinrichtungen verbinden: Da Kommunikationskanäle im digitalen Raum heute schneller sind als die Absender, die Institutionen, entsteht bereits eine temporale Inkongruenz. Auch die angesprochene industrielle Produktion lässt sich leicht auf den Kulturbereich übertragen, wo zwar keine Waren, aber Services und vor allem Wissen produziert wird, und zwar häufig analog den Mustern der Warenproduktion. Letztlich entsteht Wissen ohne Abnehmer, die Ressourcen zu deren Produktion sind verschwendet, wenn digitale Speichertechniken hier nicht ausreichend auffangen. Es mangelt ebenfalls
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nicht an Vergleichen, die digitale Unternehmen der New Economy als koloniale Strukturen im digitalen Raum darstellen, die nicht selten den digitalen Militarismus stützen und von ihm abhängig sind. Die Relevanz der Verquickung von Kultur(-techniken) und Chronos macht Bernd Scherer im Vorwort »100 Jahre Gegenwart« deutlich: »Drei technologische und gesellschaftliche Veränderungen haben ein Zeitregime hervorgebracht, das bis heute unsere Zeitzonen und -räume, Uhrzeiten und Taktungen prägt: die erhöhte Mobilität im Transport- und Kommunikationswesen, die getaktete Arbeitszeit in der industriellen Produktion und die Verbindung von kolonialen Territorialkriegen und militärischer Zeiterfassung.« (Scherer 2016: 9) Doch schauen wir zunächst kurz auf die historische Entwicklung: Die Deutung des Museums als gesellschaftlich relevanter Ort, der nicht nur der Repräsentation, sondern insbesondere der Gestaltung von Gesellschaft dient, impliziert die Notwendigkeit einer auf den stetigen Wandel ausgerichteten Institution. Aber wie gestaltet man stetigen Wandel in einer »liquiden Moderne«, in der »die fortschreitende Eventisierung des Sozialen als sinnhafte Kombination von Erlebnis und sozialer Interaktion« (Mohr 2018: 67) verstanden wird. Auch wenn Museen häufig unf lexibel und angestaubt erscheinen, so haben die gesellschaftlichen Veränderungen der vergangenen 100 Jahre immer wieder sowohl zu einer Neudefinition der Strukturen als auch der eigenen gesellschaftlichen Rolle geführt – leider aber auch oft wieder zurück an die feudalen Ausgangspunkte. Man denke hierbei an den Diskurs der neuen Museologie in den 1970er Jahren. Dabei war das neuzeitliche Museum eben immer nicht nur Repräsentationsort von Objekten, sondern ein sozialer Ort des Miteinanders und in gewisser Weise auch immer ein »Kampfschauplatz divergierender Werte und Weltanschauungen« (Steyerl 2019), zwischen Elfenbeinturm und den großen gesellschaftlichen Konf liktlinien (Klimawandel, Schere zwischen Arm und Reich etc.). In diesem Spannungsfeld zwischen Besitzstandswahrung und der Aufgabe bestehender Strukturen und Normen, zwischen Bildung und Manipulation, bewegt sich das Museum seit jeher (vgl. Sternfeld 2018: 56). Dabei befinden wir uns in der musealen Entwicklungsgeschichte nach Kulturwissenschaftlerin Nora Sternfeld nun an dem Punkt, an dem sich Museen von »wohlfahrtsstaatlichen zu neoliberalen Institutionen« gewandelt haben und damit insbesondere mit Blick auf die großen Sonderausstellungen einem globalen Megatrend gefolgt sind (vgl. ebd.: 13). Die Durchökonomisierung des Kultur-, respektive des Museumsbetriebes hat in der Folge
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auf vielen Ebenen zu einer Überforderung des Kultursystems geführt, in dem die Frage nach der eigenen gesellschaftlichen Rolle zugunsten marktwirtschaftlicher Interessen in den Hintergrund tritt. Wobei hier einschränkend erwähnt werden sollte, dass die genannten neoliberalen Strukturen in erster Linie in den Bereichen Marketing, Service, Vertrieb, Vermittlung und Fundraising Eingang gefunden haben. Interessanterweise konnten sich zudem an der kreativen Spitze oft eher patriarchalische Strukturen erhalten, die ihre Ausprägungen unter Anderem in einer (fehlenden) Gender- und Diversitätsquote und Marktnähe findet. Dabei sind der Haupttreiber der oben beschriebenen Entwicklung, die fortschreitende Digitalisierung und die damit verbundenen gesamtgesellschaftlichen Transformationsprozesse. Die digitale Revolution hat auf globalem Level alle Gesellschaften und, natürlich auch, die deutsche Kulturlandschaft bereits in einem Maße verändert wie keine vor ihr in Hinblick auf »Geschwindigkeit, Reichweite und systematische Effekte« (Matzlert et al. 2016: 13). Allerdings wäre es unzutreffend, die aktuellen gesellschaftlichen Realitäten als eine natürliche Folge dieser technologischen Entwicklungen zu betrachten. Vielmehr trafen diese »Technologien auf bereits laufende gesellschaftliche Transformationsprozesse. Sie konnten erst entwickelt werden, nachdem eine Vorstellung formuliert worden war, was mit ihnen möglich sein sollte.« (Stalder 2017a: 21f.) Der Druck durch die ständige Selbstevaluation und -legitimation sowie durch die Übertrumpfung der Konkurrenz hat in den letzten Jahren zu einer paradoxen Situation geführt, der Museen meinen mit einem auf Wirtschaftlichkeit hin orientierten Ansatz beikommen zu können (vgl. Tyradellis 2014: 9ff.). Museen sind heute nicht umsonst populärer als je zuvor, wie statistischen Gesamterhebungen des Instituts für Museumsforschung jedes Jahr aufs Neue belegen (vgl. Staatliche Museen Berlin 2017: 7ff.). Im Gegenteil: Der Trend zu spektakulären neuen Architekturen hört nicht auf, gedient wird damit aber selten demokratischen Strukturen oder Gedanken. Kann ein Umarmen des Digitalen ein Ausweg sein?
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Gefühlte Gemeinsamkeit: Zwischen sozialer Bewegung und social media Digitale Techniken erobern stets größere Teile des gesellschaftlichen Miteinanders und erweitern so die »soziale Basis von Kultur« (Stalder 2017: 22). So weit, so bekannt. Aber was bedeutet dieser Allgemeinplatz konkret, welche Strukturen wirken hierdurch in die Gesellschaft hinein? Zumeist entfalten digitale Techniken Strukturen der Effizienz und beschleunigen so viele gesellschaftliche Prozesse. Selbst der soziale Aspekt von digitalen Techniken wie sozialen Netzwerken kann daran gemessen werden; wie effektiv sie helfen, Beziehungen zwischen Individuen und Organisationen zu verwalten. Sie sind auch aus der kulturellen Arbeitsrealität nicht mehr wegzudenken. Diese Effektivität beruht meist auf einer vermarkteten Ideologie von Gemeinsamkeit, aber nicht von commons: »The abolishment of distance by means of electricity, and therefore the commonness of community, bestows life, and it does so in a way that calls to mind the Platonic paradigm of truth and unity. Difference is a vacuum; it is emptiness, forlornness and loneliness. Separated elements, separated people, and separated continents can only become alive as a unity – be it as an audience of live television« spitzt es Florian Sprenger zu (Sprenger 2014: 59). Genau hier gilt es, anzusetzen, denn Demokratie ist nicht im Konsum eines Livestreams eingelöst, wenn darin ein ewiges Jetzt regiert, das sowohl historische Perspektiven als auch Zukunftsutopien ausschließt. Hier liegt also ein großes Feld kreativer Möglichkeiten für den Kultursektor. Denn die Praktiken der großen Internetkonzerne stehen nicht umsonst auf allen Ebenen heftig in der Kritik, aber es fehlen häufig die Impulse für Alternativen. Kulturinstitutionen können hier Impulsgeber und Verhandlungsort sein. Ähnliches gilt für die Verfügbarkeit von Ideen: Der vereinfachte Zugriff auf Wissensressourcen durch digitale Infrastrukturen wird gemeinhin als Element der Emanzipation oder der Ermächtigung postuliert und als treibende Kraft auch für den musealen Wandel verstanden. Die fortschreitende Digitalisierung der sozialen und der Arbeitswelt und damit auch der kulturellen Institutionen in Gänze ist aber an sich natürlich noch kein soziales Projekt und die Nutzung digitaler Technologien noch keine Ermächtigung des Einzelnen innerhalb einer demokratischen Öffentlichkeit. Im Gegenteil: Oft bedeutet Digitalisierung auch hier einen Prozess des fortschreitenden Ausschlusses (vgl. Spielkamp 2019: Min. 25ff.): Gesell-
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schaftlich erfolgreich sind diejenigen, die digitale Techniken verstehen oder verkaufen. Menschen, Firmen oder auch Kulturinstitutionen, die der digitalen Realität mit Skepsis begegnen und digitale Elemente der Kommunikation, Distribution oder Wissensproduktion bewusst oder aus Ressourcenmangel ablehnen, werden abgehängt. Kategorisiert als »nicht media savvy« oder medienungeübt, erfahren Individuen und Institutionen, die neben der behaupteten Demokratisierung der Welt durch Datenzugang auch einen Neo-Kolonialismus erkennen, eine zunächst technisch-praktische, letztlich aber auch eine moralische Diskriminierung. Zum Gesamtbild gehört allerdings auch, dass dieser Entzug vom digitalen Change-Imperativ häufig schlecht oder gar nicht begründet und so die argumentative Deutungshoheit anderen überlassen wird. Das Verständnis von Digitalität als Kulturtechnik ist zumeist nicht vorhanden und führt in der Folge ins Abseits, da eine Ref lexion der kulturellen, ästhetischen, ontologischen und ethischen Aspekte dieser Transformationen und damit eine Teilnahme am Diskurs, nicht stattfindet. Diese schleichende, implizite soziale Bewertung schlägt dabei mehr und mehr auch in praktische Macht um: die Digital Natives dominieren und beherrschen die Industrien, Nationen, Individuen und Institutionen mit weniger Zugang zu digitalen Ressourcen. Das oben genannte Verb erobern ist also als eine bewusste Referenz auf kolonialistische Strukturen gewählt. Befreiung durch Wissenstransfer und Kommunikationstechniken (also soziale Aspekte der Entwicklung) oder Bereicherung durch Wissensvorsprung und Kontrolltechniken (also neoliberale Aspekte der Entwicklung) stehen in ihrer Potenz als die Nullen und Einsen von Digitalisierungsprozessen in der Kultur zur Debatte. Da es durchaus Erfahrungswerte gibt, wenn es um den Kampf zwischen sozialen und neoliberalen Entwicklungen geht, bleibt nicht wahnsinnig viel Raum für Optimismus. Der kapitalistische Extraktivismus gewinnt. Ob Erz oder User-Data – die Prinzipien bleiben gleich. Das wachsende soziale Bewusstsein der Exekutive in Kultureinrichtungen (die für Barrierefreiheit, Outreach und Diversität sorgt) sieht positiverweise vor allem das soziale, gesellschaftliche progressive Potenzial von Digitalisierungsprozessen. Gleichzeitig darf unserer Ansicht nach niemals vergessen werden, welche politischen und wirtschaftlichen Interessen gefördert werden, wenn Kultureinrichtungen bestimmte Techniken von bestimmten Firmen einkaufen, die für unsoziale Praktiken bekannt sind. Es ist naiv zu glauben, dass digitale Technik zum Wohl von Menschen agiert,
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wenn sie von kommerziellen Anbietern entwickelt werden. Dies ist im besten Fall eine Einladung, zumeist aber eine Erpressung, sich selbst zu kolonisieren und sich in digitale Abhängigkeiten zu begeben. Darum ist es essentiell für Kulturinstitutionen, zu diesem Dilemma eine Haltung aufzubauen – ganz praktisch, als Mission, Leitbild, durch Gespräche und Diskussionen, durch konkretes Handeln. Diese Haltung sollte historische Perspektiven mit utopischen Zukünften im Hier und Jetzt vereinen und vermitteln – dies wäre ein Aspekt der Chronoliteracy, die wir hier versuchen einzufangen. Ein anderer, auf User bezogene Aspekt, wäre der edukative. Könnten digitale Werkzeuge helfen, das private Zeitempfinden bis hin zum historischen Bewusstsein zu vertiefen, um dem ewigen Hier und Jetzt von Push-Nachrichten kommerzieller Plattformen etwas entgegenzusetzen? Es geht unserer Meinung nach aber weniger um ein neues Problem, sondern um das schwelende Dilemma von Kulturinstitutionen: Häufig als soziale Projekte wahrgenommen oder vermarktet, dienen sie vielerorts als Filialen eines Status Quo (wenn staatlich gefördert), als Showroom von intellektuellen oder sozialen Eliten zur Machtkonsolidierung oder als Durchsetzer von Partikularinteressen wie Wertsteigerung von Kunst von Privatsammlern. Nullen und Einsen. Wo werden also neben ökonomischen noch ideelle Werte verhandelt und für die Zukunft antizipiert?
Museen im Marktgefüge: Zwischen Repräsentation und Transformation Das oben beschriebene Spannungsfeld, in dem sich Museen seit jeher bewegen, möchten wir ergänzen durch einen Blick auf ein gesamtgesellschaftliches Dilemma: Das demokratische Selbstverständnis und das damit verbundene Versprechen an Freiheit und (politischer) Gleichheit repräsentiert in den Parlamenten, steht auf dem Prüfstand. Die gesellschaftlichen Konf liktlinie manifestieren sich in einer Krise der Repräsentation und gehen einher mit zunehmend »selbstorganisierten Protestformen«, neuen Formen von Grassroot-Bewegungen und einer »fortschreitenden Ökonomisierung aller Strukturen« (Sternfeld 2018: 32). Die Digitalität ist dabei der Beschleuniger und die Brandmauer zugleich, Null und Eins. Der Ausgang der Entwicklung ist ungewiss. »Diese Widersprüchlichkeit der Gegenwart öffnet den Raum für die Zukunft« (Stalder 2017a: 281) und kann durch das Integrieren des
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Dialektischen neue Ausformungen der Komplexitäts-Evolution bilden (vgl. Zukunftsinstitut 2019). Diese Widersprüchlichkeit innerhalb der heutigen Zeitgenossenschaft zeigt auch deutlich, dass es weder eine völlige »Loslösung von Repräsentation noch […] eine vollständige Übereinstimmung zwischen Demos und seinen Repräsentant*innen« (Sternfeld 2018: 34) oder auch -orten geben kann. Es geht nach Nora Sternfeld im Kulturkontext also nicht darum Repräsentation abzuschaffen oder als einzig legitime Ausdrucksform anzuerkennen, sondern darum, einen radikaldemokratischen Ansatz zu verfolgen. Das Museum – respektive Kulturinstitutionen – als Orte zu verstehen, in denen es noch möglich ist, um Bedeutung zu verhandeln, als Orte, die immer wieder die Frage nach der Deutungshoheit stellen und sich dabei auch selbst in den Blick nehmen (vgl. Sternfeld 2018: 76ff.). Als Orte an denen die New Literacies unbedarft diskutiert, erlernt, erprobt und hinterfragt werden können. Dabei agieren Museen als soziale »Zwischenräume« (Sternfeld 2018: 38), als Möglichkeitsräume zwischen Null und Eins, in denen gesellschaftliche Utopien gedacht, erprobt und auch wieder verworfen werden können. Als ein Dazwischen, das auf der einen Seite höchst agil antizipiert, sich aber auf der anderen dem Change-Imperativ entzieht und das Polare miteinander verbindet und synthetisiert. Aber auch als Zwischenraum, die neben dem Arbeitsund häuslichen Umfeld als öffentlicher Raum ganz physisch erfahren werden. Dabei geht es darum, wie es der Soziologe Ray Oldenburg formulierte »a home away from home« (Oldenburg 2001: 42) zu schaffen. Die Idee von Kulturinstitutionen als soziale und zentrale Orte lässt sich nicht nur bei Oldenburg finden, der mit seinem Begriff der Third Places (dritte Orte) derzeit im kulturpolitischen Diskurs den populärsten besetzt (vgl. Wolfram 2019), sondern es existieren ähnliche Begriffskonstruktionen mit variierenden Definitionen und inhaltlichen Abgrenzungen auch bei anderen Theoretikern wie z.B. bei dem Stadtgeographen Edward W. Soja und seiner Theorie der Third Spaces. So oder so ist die Vorstellung von Kulturinstitutionen als physische Orte als »a setting beyond home and work […] in which people relax in good company and so on regular basis« (Oldenburg 2001: 2) ein Konzept, das sich den Regeln des neoliberalen Marktes widersetzt, da es sich um f luide Orte handelt, in denen die Besucher sich frei bewegen können und als »Gleichmacher« (Leveler) (ebd.: 32) und damit inklusive Orte funktionieren, hier ist jeder, egal mit welchem Hintergrund, ein Besucher wie alle anderen. Das Fluide darf jedoch keinesfalls mit politischer Neutralität ver-
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wechselt werden, denn gerade das Insistieren auf verhandelbare Orte oder Orte der Verhandlung hat größte politische Ladung im Sinne eines demokratischen Austauschs. Als Hauptmerkmal steht dabei die Konversation mit allen lokalen Regeln im Fokus. Ein weiteres Kriterium ist dabei eine Zugänglichkeit und ein serviceorientiertes Setting, das wiederum für eine breite Stammkundschaft sorgt, die für einen dritten Ort wesentlich ist. Es ist ein Ort des Austausches und der Geselligkeit, hier steht nicht der Konsum von Gütern im Vordergrund, sondern die spielerische Interaktion zwischen den Gästen (vgl. ebd.: 32ff.). Der Kurator und Autor Daniel Tyradellis greift in seinen Betrachtungen zwar nicht das Konzept von Oldenburg auf, aber auch er fordert von Museen in ihren Ausstellungen »keine Präsentationsstätte von Dingen und Sachverhalten um ihrer selbst willen zu sein« (Tyradellis 2014: 240), sondern Orte des Diskurses und der Begegnung zu sein. Museen könnten auf Grund ihrer Interdisziplinarität und ihrer Intermedialität Erfahrungsräume sein, in denen Empathie gelernt und Perspektivwechsel erlebt werden können (vgl. ebd.: 240ff.). Eine weitere häufig gebrauchte Begriff lichkeit in diesem Zusammenhang ist die Beschreibung des »Museums als sozialer Raum oder Ort«. Das Konzept des sozialen Raumes geht auf Pierre Bourdieu zurück. »Der soziale Raum konstituiert sich aus sozialen Feldern und Positionen, die Wahrnehmung, Interpretationen von Realität, Spielregeln, Währungen und Handlungschancen von Akteuren prägen und gleichfalls von ihnen geprägt werden. Dabei kommt dem Konzept des Habitus eine zentrale Bedeutung zu. Der Begriff des Habitus dient bei Bourdieu zur Vermittlung zwischen Struktur und Praxis.« (Vgl. Schnell 2012: 2) Allerdings implizieren alle genannten Begriffe etwas Passives, einen Ort oder Raum, an dem etwas passiert, und nicht einer, der aktiv gestaltet wird. Viel treffender nach unserer Ansicht ist der Begriff des sozialen Kraftwerks, da die transformative Kraft, die von Kulturinstitutionen für die Gesellschaft ausgehen kann, so besser gefasst wird. Diese auf Alexander Dorner zurückgehende und unter anderem von den Partnermuseen der Konföderation L’Internationale (Internationale Online 2019) in eine zeitgenössische Praxis übersetzte Idee löst sich radikal von der Idee der Neutralität von Kultureinrichtungen. White Cube, abgehobene Diskurse und Ästhetizismus werden durch Haltung und Repolitisierung von Kunst und Kunstorten ersetzt. Die-
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se Repolitisierung kann auch als eine Re-Emotionalisierung von Politik verstanden werden. Vor diesem Hintergrund gewinnt die Perspektive des Lokalen an Gewicht. In einer globalisierten und durchökonomisierten Gesellschaft gilt es die emotionale Kultur zwischen Stadtgesellschaft und Institution neu zu verstehen. Der Kulturtheoretiker Raymond Williams definiert diese emotionale Kultur als »the (local) structures of feelings« (Williams 1977: 128), als zentrale Parameter sozialen Handelns und sozialer Strukturen von Gesellschaften. Nach Williams drücken sich diese Strukturen insbesondere in den Bereichen der Literatur und der Kunst aus, in denen Emotionen, Gefühle und gesellschaftliche Sentiments eine besondere Ausprägung finden. Ein Bewusstsein für diese Gefühlsstrukturen hilft dabei, »latente soziale Strukturen begriff lich zu fassen« (Löw 2008a: 39) und das alltägliche unbewusste Handeln in einen spezifischen Kontext zu setzen (vgl. Williams: 128ff.). Diese lokale und emotionale Ebene ist demnach das entscheidende Kriterium, um das Museum als Zwischenraum – als soziales Kraftwerk – besser zu verstehen. Hierbei geht es um »die distinkte Qualität sozialer Erfahrungen und Beziehungen, welche historisch in spezifischer Form gewachsen und sinngebend für künftige Generationen gefasst sind.« (Löw 2008a: 39)
Zwischen Code und Kapital: Museen als soziale Kraftwerke Wenn es nun darum geht »echte, fundamentale Alternativen« (Stalder 2017: 281) und neue Vermittlungsansätze zu den bereits erwähnten postdemokratischen/technokapitalistischen Strukturen aufzuzeigen, bringen Kulturinstitutionen/Museen einen spezifischen Vorteil mit: sie sind zumeist physisch-materiell und werden körperlich erfahren – oder sie sind virtuell und werden durch Datenkörper und Avatare erfahren. Als Datenkörper werden nach dem Künstler und Medienforscher Konrad Becker »die Gesamtheit aller Daten, die mit einer Person verknüpft sind: standesamtliche Daten, Bildungsdaten, Einkommensdaten, Konsumdaten, Verbindungsdaten usw.« (Becker 2003: 195) verstanden. Gebäude, in unserem Kontext Kulturbauten wie Museen, Bibliotheken, Theater, Opernhäuser etc., sind immer auch Symbole, für »Lebensweisen, Machtansprüche, Geschlechterverhältnisse oder für ein nach außen kom-
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muniziertes Selbstverständnis« (Steets 2011: 134). Angelehnt an Ferdinand de Saussures Theorie von Sprache als »System von Zeichen, die Ideen ausdrücken« (de Saussures 2016: 20) und als »Speicher angehäufter Erfahrungen und Bedeutungen« (Berger/Luckmann 1996: 39), können Gebäude als architektonisches Zeichensystem interpretiert werden. Denn Gebäude führen uns vor Augen, wie Menschen in anderen Zeiten und in anderen Ländern gelebt, gewohnt, regiert, repräsentiert haben. In unserem Alltag wird Architektur meist beiläufig und implizit über die Art und Weise bedeutsam, wie wir Gebäude, Straßen und Plätze nutzen. Zudem sind Gebäude »immer an Orten« (Steets 2011: 134) und damit an lokale Kontexte gebunden. Analog dazu werden wir später auch menschliche und digitale Körper im Sinne einer Körpersemiotik und Körperepistemologie als Zeichensysteme behandeln. Doch bleiben wir zunächst beim architektonischen Kulturraum: Gebäude ziehen Grenzen zwischen Privatem und Öffentlichem, sie ordnen die Bereiche von Arbeit, Freizeit und Konsum, rücken Dinge ins Zentrum oder stellen sie mit ihrer Architektur an den Rand (vgl. ebd.: 133ff.). Allerdings wird die lokale Dimension in der Architektur selten berücksichtigt. Seit längerem ist global der Trend zur ikonografischen Funktionsweise von Kultur- insbesondere Museumsbauten nach dem Prinzip »function follows form« (Kirchberg 2005: 139) zu beobachten und zeigt deutlich die Ambivalenz zwischen der Architektur und (lokalen) gesellschaftlichen Anforderungen, da das Primat beim kulturellen Kapital von Stararchitekt*innen liegt. Dieses Guggenheim-Prinzip, das Museen als reine Geschäftsmodelle begreift, führt in der Folge zu einer Standardisierung des inhaltlichen Angebotes, das angepasst auf die architektonischen Gegebenheiten übertragen wird (vgl. ebd.: 146ff.). Die äußere Hülle wird dabei wichtiger als der Inhalt, das Image wichtiger als die Mission (vgl. Bishop 2014: 11f.). Nach dem Motto »bigger is better, and better is richer« (ebd.: 6) dient die Architektur sowie die Angebotsgestaltung dabei immer mehr als Spiegelbild einer segregierten und durchökonomisierten Gesellschaft (vgl. Kirchberg 2005: 146). Die ästhetische Codierung als symbolisches Kapital. Damit erfüllen insbesondere Museen im Raum häufig eine latente Funktion, da sie durch ihre Architektur und ihr Raumgefühl einen privaten Raum für viele nicht-öffentliche, homogene Gruppen schafft und so kein öffentlicher Raum im Sinne der res publica, des demokratischen Aushandelns sind. Die fortschreitende Individualisierung der Gesellschaft führt in der Konsequenz zu einer Ästhetisierung der
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selbigen, während dabei in Museen zwar immer auch eine soziale Funktion erfüllt wird, aber eben nicht im Sinne einer größer gedachten Gemeinschaftsbildung (vgl. Mohr 2018: 62ff.). Vielmehr geht es, wie es der Soziologe Zygmunt Baumann ausdrückt, um die »Sehnsucht nach einer Gemeinschaft der Gleichen, die nicht nur sinn- und identitätsstiftenden Charakter hat, sondern vielmehr auch das Gefühl von Sicherheit und Schutz liefert« (Baumann 2007: 52). Museen haben nach unserer Ansicht hier die Aufgabe, als soziale Kraftwerke eben nicht nur über Ästhetisierung unterschiedlichste Gruppen zusammenzubringen, sondern Plattform und Ermächtigungsort für jene Gruppen zu sein, denen Sichtbarkeit verwehrt oder nur eingeschränkt gewährt wird.
Zwischen analog und digital: Corpoliteracy als Bildungsaufgabe Ausgehend von den oben genannten (local) structures of feelings sowie der physisch-materiellen Nutzung von Orten zur sozialen Identitätsbildung bietet sich folgenden Denkaufgabe an: Stellen wir uns Kulturinstitutionen als Behälter für Körper vor – physisch wie digital. Wie oben schon angedeutet benutzen wir den Begriff Körper vereinfacht als System von Zeichen – das können im analogen Raum kontrollierte Zeichen sein, wie beispielsweise modische Elemente oder religiöse Symbole oder eben Zeichen, die nicht oder kaum zu kontrollieren sind, wie Hautfarbe, Behinderungen, Falten Narben etc. Es scheint offensichtlich, dass in unseren Schulen und Kulturinstitutionen kein adäquates Werkzeug bereitsteht, um das Lesen von Körpern, sowie das Lesen und Erfassen mit dem Körper strategisch zu fassen. Dies gilt in gleichem, wenn nicht höherem Maße, für die digitalen Körper, die den Museumsraum einnehmen, in Kunstwerken, durch Vermittlungstechniken, Social Media und Roboter sowie virtuelle Sammlungen. Auch im digitalen Raum präsentieren wir uns und hinterlassen wir Zeichen. Zeichen als Daten: Durch soziale Medien bewusst und mehr oder weniger kontrolliert, durch ungefragtes Datenabsaugen von großen Unternehmen und anderen Big Datakraken unbewusst und kaum noch kontrollierbar- also genau wie bei den oben beschrieben Markern der physischen Erscheinung (vgl. Bordel 2019). Der Auf bau einer Körperlesekunde, oder Corpoliteracy, wäre unserer Ansicht nach ein Kernaufgabe für das Museum der Zukunft,
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und zwar als physische und digitale Variante und vor allem mit Blick auf Intersektionalität. Das bedeutet im Klartext: Es fehlt eine intersektionelle Pädagogik, oder eben eine Schule des Sehens oder Schule des Körperlesens. Das Museum kann und sollte diese Schule sein. In Anlehnung an Gloria Wekker verstehen wir Intersektionalität als eine Theorie und Methodik, die auf dem Denken Schwarzer Feminist*innen basiert und die Komplexität identitätsbezogener Themen analysiert und problematisiert. Das Buch »White Innocence: Paradoxes of Colonialism and Race«, dass die Kultur-anthropologin Gloria Wekker 2016 veröffentlichte, gilt als bedeutendes dekoloniales Werk. Anhand von medialer Dokumentation, historischen Quellen, quantitativer Daten und persönlichen Erlebnissen arbeitet Wekker heraus, wie in den Niederlanden die kolonialen Verstrickungen der eigenen Geschichte und Gegenwart zugunsten einer liberalen, weißen Unschuld geleugnet wird. Identitätskonstruierende Marker wie Geschlecht, Herkunft, Klasse, Sexualität und Religion sind immer auch Elemente, die diskriminierend gelesen werden können und stehen grundsätzlich in Wechselwirkung zueinander, sind also nie isoliert analysierbar. Erweitert in den digitalen Raum durch Avatare, digitale Identitäten bis hin zu Deep Fakes, also extrem glaubwürdigen Bewegtbildmanipulationen, potenziert sich diese Komplexität noch einmal. Wir halten Digitalität ebenfalls für einen Identitätsmarker, weswegen wir die Idee der Intersektionalität um diesen Aspekt erweitert verstanden sehen wollen. Sowohl Komplexität als auch Kreativität können differenziertes Denken fördern. Wir sind der Meinung, dass Museen attraktive Orte sein können, die Körper dazu verführen, die oben genannten Komplexitäten und Schnittstellen für ihr kreatives Potenzial zu nutzen. Dabei ist die alles entscheidende Frage: Wie wirkt sich das auf das Museum und seine Inhalte aus? Ganz konkret: Kulturinstitutionen sollten verstehen, dass kulturelle Prozesse (verstanden als Interaktionen in analogen oder digitalen Kulturzonen) immer auch damit verbunden sind, dass Körper, Avatare, Identitäten auf Anzeichen von Geschlecht, Klasse, digitale Filter, Fakes, sexuelle Orientierung, ethnischer Zugehörigkeit, Behinderung, Alter usw. gescannt werden, um sie dann zu bewerten und zu kategorisieren. Das bedeutet in der Konsequenz, dass diese Prozesse strategisch gesteuert werden können. Analoge und digitale Körperleskundigkeit kann kulturelle Prozesse profund verändern. Corpoliterate zu sein bedeutet also, in der Lage zu sein, eine komplexe, intersektionale Lesung von Körpern und deren Korrelationen durch-
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zuführen und Corpoliteracy als kollektiven Akt mit diversen Akteur*innen wahrzunehmen. Das oben diskutierte Konzept der Intersektionalität ist für die Entwicklung integrativer Programme wie zum Beispiel des Special Guests-Programms des Van Abbemuseums von großer Bedeutung. Wenn ein Museum erkennt, dass es ein politischer Akteur in der Gesellschaft ist, muss es auch die Körper, die mit ihm in Verbindung stehen, als solche erkennen: als f ließende Struktur politischer Konstellationen. Diese Konstellationen sollten die Mission eines sozial engagierten Museums bestimmen. Dies sollte ergänzt werden durch Praktiken von Netucation, also netzbezogener Pädagogiken. Zwischen Shaming, Mobbing, Porno und Deep Fakes können körperleskundige Institutionen medienkundigen Menschen digitale Handlungsmacht vermitteln. Die Herausforderung besteht darin, Intersektionalität nicht nur auf analog-körperliche oder soziale Faktoren hin zu denken, sondern um den Faktor der (digitalen) Körperlichkeit sowie der Zeitlichkeit zu erweitern. Für diese Aufgabe bedarf es eines bewussten Umgangs mit Raum, diverser Medien/Artefakte/Archive, eine digitale Infrastruktur und der diversesten Gruppe an analogen und digitalen Nutzer*innen. Museen besitzen dieses Potenzial: Durch das Üben von physischer und digitaler Corpoliteracy können das Museum und seine Besucher*innen sowie User*innen festgelegte Vorstellungen über Körper und deren Wahrnehmung überdenken und neu lernen. Ohne der Komplexität und den sicher schwierigen Entwicklungen, die uns beim Entwirren der angeschnittenen Problematiken noch bevorstehen, aus dem Weg gehen zu wollen, finden wir es besonders wichtig, sich über dieses Potenzial zu freuen und hieraus die nötige Motivation zu ziehen, um sinnstiftende Museumspraxen für die Zukunft zu entwickeln und damit positiv-strukturierende Impulse in die gerade im Entstehen begriffene neue Gesellschaftsform zu geben. Wir halten dies für einen realistischen Utopismus.
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Zwischen Zeitgeist und Chronoliteracy: Museen als zeitgemäße Orte für Körperverhandlungen Wie bereits an anderer Stelle verdeutlicht, wird zum Thema der Digitalisierung so viel geschrieben und nachgedacht, weil durch ihren Filter eine Vielzahl gesellschaftlicher Prozesse neu betrachtet werden können. Und so wichtig es auch ist, auf die ermächtigenden, befreienden Elemente digitaler Entwicklungen hinzuweisen (Zugang zu Wissen und Kultur, Umgehen der Staatsmacht etc.), so geboten scheint es ebenfalls, realistisch zu sein und im Kontext einer, unserer Ansicht nach, notwendigen Opposition zu einem neoliberalen Museumsverständnis Alternativen aufzuzeigen und die gesellschaftlichen Widersprüche und Konf liktlinien zu benennen. Für eine praktische Umsetzung ihrer Rolle als Orte der Zeitvermittlung oder der Zeitgeistvermittlung, müssen Kulturinstitutionen ihren Bildungsauftrag auch als ein Fokussieren auf digitale Chronoliteracy verstehen und sich ihrer Rolle als Vermittler zwischen Paradoxien bewusstwerden. Doch was bedeutet das in der Praxis? Ein Beispiel hierfür wäre das Haus der Kulturen der Welt in Berlin, das in seinem Langzeitprojekt »100 Jahre Gegenwart« einen alternativen Zeitbegriff entwickelt und diesen in Bezug zu technisch-industriellen Entwicklungen setzt. Die inhaltliche Analyse in einer Vielzahl von Diskursveranstaltungen, Konzerten und Ausstellungen wird auch in eine alternative institutionelle Praxis übertragen: Statt kurzer, voneinander unabhängiger Projekte entfaltet sich das Programm für Kurator*innen und Publikum über vier Jahre, was für Kulturinstitutionen, die sich innerhalb einer neoliberal geprägten Aufmerksamkeitsökonomie einrichten müssen, sehr ungewöhnlich ist (vgl. Rötzer: 57). Dieses Programm entwickelt gleichzeitig Thesen des vorhergehenden Langzeitprojekts »Anthropozän« fort und antizipiert das dreijährige Nachfolgeprojekt »Das Neue Alphabet« (2019-2021), das sich stark mit Fragen des Digitalen auseinandersetzt. Diese komplexen Verschränkungen und widersetzen sich stark einer marktkonformen Programmlogik und fordern Freunde und Follower heraus, in größeren zeitlichen Zusammenhängen zu denken. Aber auch Reina Sofia in Madrid oder das MACBA in Barcelona sind hier zu nennen, die durch eine aktive Arbeit mit Archiv, lebendige Strukturen für alternative Zeitlesungen erschaffen. In speziellen Study Centers entstehen Eintrittsmöglichkeiten für physische Körper in Zeitzonen, die Archive hervorgebracht haben. Dies bringt uns schließlich zu einem Blick
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auf Körperlichkeiten und deren (alternativen) Lesarten im Sinne von neuen Literacies (vgl. MACBA Museu d’Art Contemporani de Barcelona 2019). Das Spezifische und Produktive von Kulturorten ist die sinnstiftende und dringliche Verbindung von digitalen Strukturen und Erfahrung mit ihren analogen Gegengewichten. Geht es im Moment noch darum, Digitalität als Kulturtechnik zu ref lektieren und zu vermitteln, gilt es zukünftig einen Schritt weiterzudenken: Der Mensch ist in der Lage, sein analoges Selbst durch digitale Technik zu verbessern und hat damit viele Möglichkeiten, quasi zum Cyborg zu werden und sich dadurch mit den Logiken zwischen Null und Eins zu verbinden (vgl. Ferrari 2010: 287ff.). Gleichzeitig werden die vom Menschen geschaffenen Roboter immer menschlicher in Struktur, Aussehen und Verhalten (vgl. Liu 2011: 201ff.). Die Vielzahl digitaler Wissensressourcen sind miteinander vernetzt und können unabhängig vom Menschen miteinander kommunizieren. Deep learning wird vermutlich die Adaptabilität von Cyborgs und Menschmaschinen noch verstärken. Netzaktivisten wie Aral Balkan postulieren selbst, dass das Konzept der Menschenrechte einer Erweiterung bedarf. Menschen sollten besser an einer Erklärung der Cyborg Rights arbeiten (vgl. Cyborgrights 2019). Hier liegen große Aufgaben für Kulturinstitutionen und auch große Chancen, um diese hybriden Strukturen zu erkennen, zu benennen, zu beeinf lussen. An welchen Orten findet also zukünftig Kultur statt, wo brauchen wir Kulturinstitutionen? Wie können sie ihrer Rolle als ein Dazwischen, als Synthesizer gerecht werden? Technologie hat längst eine Sphäre hervorgebracht, die zusätzlich zur Atmosphäre, Hydrosphäre, Biosphäre usw. existiert – die Technosphäre ist eine Realität. Diese Realität beinhaltet Elemente digitaler Kultur, die es zu analysieren gilt, also auch digitaler Körper in digitalen Zeitzonen. Können Kulturorte Verbindungspunkte zwischen Anthroposphäre und Technosphäre sein? Lassen sich diese Sphären überhaupt so einfach verbinden – und liegt nicht auch in der Verbindung von Sphären, so wie heute in der Verbindung von Lebensrealitäten, Zielgruppen, Wertesystemen etc. eine entscheidende Aufgabe von Kultur? Kulturorte haben keine Chance, sich dem Wissen über technische Entwicklungen zu verschließen, wenn sie weiterhin relevantes Wissen hervorbringen wollen oder damit arbeiten, denn »ohne moderne Wissenschaft kann es keine Technosphäre geben, ohne Technosphäre kein zeitgenössisches Wissen« (Klingan/Rosol 2019: 18), wie Katrin Klingan und Christoph Rosol es pointiert formulieren. Die Institution der Zukunft ist also auch eine Technosphärenwissensproduzentin. Das bedeutet nicht, dass
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alles bisher verwaltete Wissen überf lüssig wird, im Gegenteil, denn »Technologie alleine wird nicht reichen. Es braucht dringend einen kulturellen Wandel« (Stalder 2017b: 57), wie Felix Stalder optimistisch anmerkt. Er wird hierbei relativ konkret: »Neue Technologien und Datenverarbeitungskapazitäten könnten uns ermöglichen, intimes, konkretes (statt generalisierendes und abstraktes) Wissen über den Globus als Ganzes zu sammeln und zu speichern. […] Wir brauchen also die wissenschaftlich-technische Fähigkeit und den kollektiven Willen, das rasante Ansteigen der Komplexität, die wir gerade erleben, als Chance zu begreifen und sie in die richtige Richtung zu steuern.« (Stalder 2017b: 57) Kulturinstitutionen können dabei die zentralen Orte sein, die diese f luide Komplexität sichtbar machen und durch einen holistischen Ref lexionsansatz immer wieder neu aushandeln. Modelle für eine Chrono- und Corpoliteracy könnten hierzu erste Impulse liefern.
Fazit — Haltung statt Neutralität Wir haben versucht, anhand einiger Denkmodelle, Theorien und Ideen zu zeigen, dass Digital Literacy allein ein leerer Begriff ist und nur durch eine Konkretisierung in der Lage ist, relevante Impulse für Kulturinstitutionen zu geben. Einen ersten Ansatz haben wir versucht anhand der Achsen Körper und Zeit aufzuzeigen. Anhand dieser Achsen lässt sich ein intersektionales Körperverständnis sowie ein transtemporaler Zeitbegriff auf bauen. Der größte Gewinn dieses Ansatzes liegt unserer Ansicht nach allerdings darin, dass sich so analoge und digitale Aspekte gemeinsam oder zumindest in Verbindung zueinander verhandeln lassen. Ob man dies einen postdigitalen Ansatz nennen möchte oder nicht, ist hierbei unerheblich. Das Essentielle, das wir versucht haben herauszuarbeiten, ist die Notwendigkeit einer Haltung, die digital und analog nicht neben- oder gegeneinander beinhaltet, sondern miteinander betrachtet. Eine Haltung, die Ideen der Solidarität, Gemeinschaftlichkeit und Bildung miteinander verknüpft. Eine Haltung, die Utopien in politische Forderungen übersetzt und hierfür analoge und digitale Kanäle gleichsam nutzt. Vielleicht eine neue Auf klärung – wobei uns auch weniger aufgeladenen Begriffe wie Bildung oder Literacies genügen. Was zählt, ist das gemeinsame Projekt, das sich erlauben kann, von Markt und Macht durch Savvyness abzurücken.
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Kulturinstitutionen können und dürfen also nicht zu einer Werbeplattform digitaler Entwicklung werden. Sie sollen kein Showroom digitaler Technik werden, der weniger digital entwickelten Peers, Gästen etc. zeigt, wie die Zukunft aussieht oder welche technische Entwicklung möglich ist. Im Verlauf dieses Essays haben wir versucht, aufzuzeigen, dass es essenziell ist, the bigger picture im Blick zu behalten, wenn eine Kultur der Digitalität den Menschen, also der Gemeinschaft und nicht den Märkten, nutzen soll. Wir haben vorgeführt, wie die Zeitachse, die relevant ist, um den heutigen Umbruch zu verstehen, mit einer Achse des Raumes zusammenhängt (Museen als post-digitale dritte Orte) und des Körpers (intersektionelle Zeichensysteme). »Raum, Zeit, Mensch und Bedürfnis müssen gemeinsam betrachtet werden, inklusive der Wechselwirkungen zwischen diesen Dimensionen,« fasst Kulturwissenschaftler Gernot Wolfram es zusammen (Wolfram 2019). Neben einer Analyse der komplexen Realität haben wir stets probiert, auf das Potenzial hinzuweisen, das sich hier für Kulturinstitutionen ergibt. In diesem Sinne ist dieser Text auch als eine Motivationsschrift zu begreifen, die hoffentlich Ängste abbauen kann und Lust auf einen kreativen Umgang mit beschriebener Komplexität macht. Das digitale Projekt muss ein soziales Projekt sein, so unser Fazit. Dann ist es ein kulturelles Projekt. Es kann nur gelingen, wenn es Partikularinteressen entrissen wird, wenn Technik und Kultur, Wirtschaft und Wissen ethisch miteinander verknüpft werden. Wo kann das passieren und wie? Wenn der Prozess einer fortschreitenden Digitalisierung eine neue Aufklärung sein soll, verstanden als emanzipatorischer, radikaldemokratischer Prozess und nicht als das zwanghafte Durchsetzen einer auf wirtschaftlichen Interessen fußenden Ideologie, müssen wir Transparenz darüber entwickelt, wer wen wann und warum auf klärt – und mit welchen Methoden. Um wieder auf die PPP-Formel aus Programm, Publikum und Personal zurückzukommen: Es geht um die Politisierung von Programm, Personal und Publikum im Sinne von Bildung und Ermächtigung durch neue Literacies (Programm), Demokratisierung und Einbeziehung (Publikum), Selbstverständnis und Handlungsmacht (Personal). Weniger das Anwenden von digitalen Techniken ist also die Aufgabe der Kultureinrichtungen, sondern vielmehr die kritische Debatte, das Bestehen auf Unabhängigkeit, das Unterstützen von sozialen Akteur*innen, oder Agents-of-Change wie Hackern, Aktivist*innen etc., die Verbindung kleiner und größerer Gruppen
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im Sinne einer ganzheitlichen Gemeinschaftsbildung, um eine tatsächliche sozial Kraftzentrale sein zu können. Kulturinstitutionen können nur davon profitieren, zu lernen und zu lehren, wie und wo digitale Infrastrukturen funktionieren. Als soziale Kraftwerke müssen sie Partei ergreifen für Hacker*innen, Copyrightverletzer*innen und Lizenzbrüchige sowie Ressourcen zur Verfügung stellen für diejenigen, die an einer antikapitalistischen Counterdigitalisierung arbeiten. Wenn sie gleichzeitig ihre systemerhaltende Rolle gut ausspielen und so Verbindungen zu Politik und Wirtschaft im Sinne eines sozialen Projekts einsetzen, können Kulturinstitutionen zu wichtigen politischen Playern in einem neuen, digitalisierten Sozialgefüge werden. Die Idee eines sozialen Kraftwerks, das sich auf digitale Chronoliteracy und Corpoliteracy spezialisiert, ist für uns ein attraktives Denkbild, das uns helfen kann, neue Wege und Werkzeuge für die totgesagten Institutionen zu (er-)finden (vgl. Stein & Neugebauer 2019). Corona hat eine veränderte Realität geschaffen. Das Ausgestalten dieser Realität sollten wir aktiv sozial, menschenfreundlich und zukunftsorientiert gestalten. Wir fordern dazu auf, es sich im Raum zwischen Null und Eins gemütlich zu machen.
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Neue Zwischenräume: Museumsentwicklung in Zeiten von Corona — und was Kulturmanagement dazu beitragen kann Patrick S. Föhl, Gernot Wolfram
Krise als Chance?1 Das Beschwören der »Krise als Chance« gehört nicht erst seit der Coronapandemie zum Grundrauschen in kulturpolitischen und kulturmanagerialen Diskursen (vgl. hier und im Folgenden Föhl/Klemm 2020). Allerdings scheint dieser Ausruf im Kontext von Covid-19 reichlich euphemistisch angesichts der unzähligen damit verbundenen menschlichen Schicksale. Zugleich wirkt er ein wenig oberf lächlich, haben die vergangenen Jahre und Jahrzehnte doch gelehrt, dass Krisen nicht automatisch zu sinnvollen Veränderungen führen. Man denke nur an das vom Soziologen Andreas Reckwitz beklagte liberale Dynamisierungsparadigma (vgl. Reckwitz 2019): Der »starke« Staat sollte sich immer weiter zurückziehen, die Märkte regulieren und Individualisierung sowie Globalisierung die gesellschaftliche Entwicklung vorantreiben. Spätestens in den 2000er Jahren wurde aber deutlich, welche unerwünschten Konsequenzen mit dieser Strategie einhergingen. Und was sich seit 2020 zeigt, sind es doch häufig die »Überbleibsel« des alten Sozialstaates, die uns in der Krise retten, da der Markt Bedrohungen wie Covid-19 nicht regeln kann. Auch dadurch wird deutlich, dass wir neue, agile Konzepte des öffentlichen Gutes und des Gemeinwohls benötigen. D.h., dass das gängige Schwarz-Weiß-Denken, das Entwederoder, nicht funktioniert. We1 Anmerkung: Der vorliegende Text enthält Passagen und Argumentationen aus bereits publizierten Forschungsarbeiten der Autoren und werden hier in einem neuen Kontext diskutiert.
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der liegt alles Heil im Neuen, noch ist »das« Alte durchweg überholt. Eines wird hier immer deutlicher: Es ist Zeit für eine Bestandsaufnahme und für sinnvolle Schritte der Transformation abseits von Abbau- oder Wachstumsparadigmen.
Abseits der gängigen Transformationsrhetorik Noch nie war in genannten Kontexten so einstimmig die Rede von »Transformation«, »Modellen«, Experimenten«, »Laboren«, »Digitalität«, »Agilität«, »Diversität«. »Leadership« oder »Nachhaltigkeit« im Kulturbereich. Diese Vokabeln sind nicht neu. Während immer wieder – weitgehend erfolgslos – versucht wurde Ansätze einer nachhaltigen Entwicklung zu realisieren, scheint die Zeit nun tatsächlich reif zu sein, gemeinsam über entsprechende Konzepte zu reden und sinnvolle neue Wege einzuschlagen. Die Krise wird damit allerdings nicht automatisch zur Chance, sie wird zum Brennglas auf all diejenigen Themen, die im Kulturbereich bekanntermaßen längst virulent sind. Vor allem gilt auch zu differenzieren, wer auf welche Weise von der Krise betroffen ist und welche Anforderungen jeweils zur Veränderung bestehen. Nicht alle stehen hier in der gleichen Not und Bedrohung. Wir wissen bereits an vielen Punkten, welche Veränderungen notwendig sind; zahlreiche Ansätze sind längst formuliert und dauerhafte Diskursräume zur Entwicklung neuer Formate angedacht (vgl. Sievers et al. 2016). Blicken wir zum Beispiel auf all die Bemühungen im Feld der Teilhabe, der Dritten Orte, im Schaffen digital-analoger Strategien oder der Re-Politisierung von Kulturarbeit bzw. die Forderung nach klaren Haltungen. Oder legen wir all die Ergebnisse der zahllosen Kulturentwicklungsplanungen der letzten Jahre nebeneinander (vgl. Föhl 2017). Der lange Lockdown lässt dabei von Woche zu Woche deutlicher werden, welche Fragen hierbei zentrale sind: Wer wird unser Publikum in Zukunft noch sein? Für wen und was sind wir eigentlich (potenziell) relevant? Was können wir aus den letzten Jahren transformativer Arbeit lernen und noch besser machen? Wie können wir all die vorhandenen Ansätze und Schlagwörter tatsächlich in konkretes und sinnvolles Handeln übersetzen? Wie können wir Künstler*innen und selbstständige Kulturschaffende besser absichern? Wie können wir die vorhandene Kulturlandschaft als Potenzial verstehen, diese als neue Beziehungsorte und als Räume analog-digitaler
Neue Zwischenräume: Museumsentwicklung in Zeiten von Corona
Kunstproduktion/-vermittlung zu entwickeln? Wie können wir all dies mit Prioritäten belegen, damit wir die Systeme nicht überfordern? Entscheidend wird dabei sein, wie man aus dem Modus des Reagierens in ein konstruktives Agieren wechselt. Sicherlich kann man aus dem Umgang mit der Coronapandemie lernen, dass sich Krisen nicht von heute auf morgen und auch nicht Hauruckaktionen bewältigen lassen. Vielmehr tritt deutlich zu Tage, dass es langfristige Ansätze braucht, die agiles Handeln und Antizipieren als grundlegendes Prinzip verstehen, das auch rasche Kurswechsel zulässt. Die umfängliche und solide Kulturlandschaft in Deutschland ist aus dieser Warte als unerschöpf liches Potenzial zu verstehen, dass nahezu unbegrenzte Möglichkeiten der Vernetzung und Entwicklung mobilisieren könnte.
Museen im Fluss der Veränderung Was heißt das nun für die Museen? In der Coronakrise hat es auch die Museen besonders hart getroffen. Sie waren und sind besonders mit ihrem Standort identifiziert, mit einer gewissen Fixierung auf Gebäude und Räumlichkeiten. Der Erhalt dieser Infrastruktur ist naturgemäß besonders kostenintensiv. Museen sind als traditionell geschlossene Räume zudem ohnehin generell immer wieder Kritik ausgesetzt. Für wen sind sie da? Wen schließen sie aus? Was stellen sie zur Diskussion? In der Krise der Coronapandemie kam der Umstand hinzu, dass sie als Innenräume besonders von Schließung bedroht waren und sind, je nach Iokalem Infektionsgeschehen. Abgesehen von den dramatischen ökonomischen Folgen, die jetzt schon eingetreten sind, wird auch eine Bedrohung für einen der zentralen Ansätze der Museumsarbeit in den vergangenen Jahren deutlich: der Ermöglichung von Teilhabe und Partizipation von Menschen aus den unterschiedlichsten Gesellschaftsschichten, denn geschlossene Orte sind, so banal es zunächst klingen mag, eben auch verschlossen für die Begegnung von Menschen. Digitale Ersatzräume sind bei allen Vorteilen und Möglichkeiten (vgl. z.B. Saavedra-Lara 2021) keine allein ausreichende Antwort auf diesen Ausschluss – da sie bei den Nutzer*innen technische Ausstattung, Kompetenz und Sprachmächtigkeit voraussetzen. Zudem fördern sie eine Form der Interaktion, welche den Körper und die Repräsentationen des jeweiligen Andersseins limitiert oder
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auf Bildschirmgröße reduziert. Dabei haben sich Museen bereits in starkem Maße geöffnet und sich kritischen Fragen nach ihrem Rollenverständnis gestellt. Kritik an der Repräsentation von Erhabenheit, Distanz, kolonialer Vereinnahmung von kulturellen Artefakten haben in vielen Fällen dazu geführt, dass die Institutionen nahbarer wurden (vgl. exemplarisch Radonic/ Uhl 2020; Schulze 2017). Das Museum als Ort der Aushandlung von politischen und gesellschaftlichen Fragestellungen begreifen, wie es die Museumswissenschaftlerin Sharon Jeanette Mcdonald immer wieder betont, kann jedoch nur gelingen, wenn es ein vielstimmiger Aushandlungsort ist (vgl. Mcdonald 2013): Wenn metaphorisch wie praktisch die »kulturellen Heiligtümer« aus ihren Vitrinen entlassen werden und in neue Kontexte geraten. Wenn nicht die Führung durch eine Ausstellung, sondern die mitsprechende Erkundung der Besucher*innen im Mittelpunkt steht. Das gilt eben auch für die digitale Nutzung. Wie bereits geschrieben: Forschung und Praxis haben hier große Schritte unternommen. Die Konferenzen, Bücher und Fachaufsätze zur Differenzierung von Teilhabe, kulturellem Erbe, Teilsein, Partizipation und die für politische Implikationen aufgeschlossene Dekonstruktionen von gängigen Terminologien sind mittlerweile äußerst umfangreich. Daher stellt sich die Frage: was geschieht mit diesem Partizipationsverständnis in einer Situation, in der Abstand, Distanzhalten, Hygiene, Öffnen und Schließen der Tore plötzlich die zentralen Bezugspunkte sind? Die beiden Schweizer Konzeptkünstler Frank und Patrik Riklin betonten einmal in einem Interview den zentralen Aspekt dieses Problems: »Partizipation findet dann statt, wenn man nicht über sie redet. […] Du musst über andere Dinge sprechen, damit Partizipation entsteht.« (Büro für Sonderaufgaben – Quatschmobil 2014) Eine Chance für Museen in dieser Situation ist möglicherweise über eine radikale Veränderung des Ortes selbst nachzudenken. Teilhabe und strukturelle Bedingungen noch stärker aufeinander beziehen. Nicht nur, wie momentan stets betont, im Kontext der Digitalisierung, sondern im Sinne einer neuen Öffnung in den öffentlichen Raum hinein (vgl. Wolfram 2020). Dieser Prozess ist nicht erst mit der Coronakrise in der Diskussion. Die Kunsthalle Wilhelmshaven hat hier mit der Ausstellung »Komm, nimm mich mit!« in eine gute Richtung gezeigt. Die Besucher*innen konnten sich die Exponate der Ausstellung ausleihen und somit neu das Verhältnis Ort und
Neue Zwischenräume: Museumsentwicklung in Zeiten von Corona
Rezeption denken. (vgl. Kunsthalle Wilhelmshaven 2020) Aber auch das Kölnische Stadtmuseum ref lektierte diesen Wandel, indem es die Besucher*innen aufforderte, Exponate der Coronakrise einzuschicken und sich somit aktiv an einem Sammlungsprozess zu beteiligen (vgl. Kölnisches Stadtmuseum 2020). Partizipation, so ließe sich sagen, ist messbar am Grad der Kommunikationen, die sie auslöst. Je spontaner, unmittelbarer und direkter diese Kommunikationen ausfallen, so »überraschender« sie sind, um an einen Gedanken von Dirk Baecker anzuschließen (vgl. Baecker 2009), desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass Beteiligung von Menschen nicht lediglich ein kulturelles Planungsinstrument in Strategiepapieren von Kultureinrichtungen ist. Krisen sind immer auch potenzielle Ursprungsorte für neue Kommunikationen. Daher stellt sich die Frage, ob man an Planungs- und Förderkonzepte vor der Pandemie anschließen möchte oder eben auch die Logik der konzeptionellen Förderung neu denkt und sich von den alten, projektorientierten Indikatoren verabschiedet. Neue Parameter könnten sich dann genau an diesen Interaktions- und Kommunikationsgraden ausrichten, was in der Tat kulturpolitisches Neuland wäre. Im Moment ist viel die Rede von »Schutzkonzepten«, von Maßnahmen, die zur Sicherheit der Besucher*innen getroffen werden. Das ist ein verantwortlicher und wichtiger Aufgabenbereich; dennoch erstaunt, wie ruhig es gleichzeitig um die Themen Partizipation, Nähe und Teilhabe geworden ist. Sind diese Kategorien durch die Pandemie in den Hintergrund getreten oder einfach nicht umsetzbar? Letzteres muss man wohl bejahen, wenn man den Fokus auf die Museen als unmittelbare Orte lenkt. Für eine Strategie der Entgrenzung von Orten – und zwar nicht nur in digitaler Ausformung – gibt es schon viele Ideen (vgl. Dreyer/Wiese 2010, 2020; John/Dauschek 2008; Wolfram 2020). Teilhabe von Menschen unterschiedlicher Herkunft und Bildungsschichten ermöglichen, Barrieren abbauen, offene Räume schaffen. Viele der vorgeschlagenen Ansätze haben sich jedoch in den vergangenen Jahren jeweils auf einen bestimmten Bereich konzentriert. Auf die Veränderung der Programmatik von Museen, auf neue Ansprachemodelle oder eben auf die Gestaltung von Räumen. Dabei sollte es vielleicht viel stärker um eine holistische Annäherung gehen. Um ein Agieren in Zwischenräumen, um eine Verknüpfungskompetenz, die im Kulturmanagement angesiedelt ist, ergo
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eine Schlüsselkompetenz, die man zur Gestaltung der zuvor genannten Ansätze benötigt (vgl. Föhl/Wolfram 2020). Eine Kernfrage könnte dabei sein: Wie integriert sind Konzepte für den Umgang mit bestehenden und kommenden Krisen? Die Lösungskompetenz also nicht nur als kuratorische Aufgabe begreifen, sondern als Rezeptionsaufgabe. Die Museumsbesucher*innen der Zukunft werden möglicherweise auf einige Orte verzichten müssen, weil sie in Krisen wie jener der Pandemie untergegangen sind (gerade bei vielen Privatmuseen, kleineren Häusern oder spezifischen Themenausstellungen droht diese Gefahr). Gleichzeitig werden neue heterotopische Orte entstehen können (vgl. Spahn et al. 2018), in denen das Ausgestellte, wie bei dem Ausleihmodell der Kunsthalle Wilhelmshaven (s. vertiefend Kunsthalle Wilhelmshaven 2020), die Räume verlässt, in »Zwischenräumen« sichtbar wird, rezipiert wird und somit neue Angebotsformen schafft.
Gestaltendes Kulturmanagement — »Meister*innen der Zwischenräume« Die genannten Ansätze sind natürlich voraussetzungsvoll und bedürfen neben einer handelnden sowie mutigen Kulturpolitik unter anderem eben auch eines gestaltenden, transformativen Kulturmanagements (vgl. Föhl 2018). Die Coronapandemie macht bei aller Tragik deutlich, dass wir zur »alten Normalität« nicht mehr zurückkehren werden können, auch wenn es an vielen Stellen versucht wird (vgl. hier und im Folgenden Föhl/Klemm 2020). Je länger Schließungen bzw. drastische Auf lagen den Kontakt zum Publikum kappen oder stark eingrenzen, umso schwieriger wird es, den Kontakt zu halten. Zum einen zeigt sich bereits der zunehmend artikulierte Bedarf nach weitreichenden Konzeptionen zum Umgang mit den bekannten – und durch Corona beschleunigten – Herausforderungen. Zum anderen steigt der Bedarf für Kollaborationen, für das Herstellen wahrhaftiger Beziehungen. Bereits vor der Coronakrise zeichnete sich über Jahre ab, dass ein Großteil transformatorischer Schritte nicht ohne Kooperationen zu schaffen ist (Kultur und Teilhabe, Kultur und Stadtentwicklung, Kultur und Digitalität usw.). Es kündigt sich ein neues Zeitalter des In-Beziehung-Gehens an. Dann brauchen wir neben Hilfefonds mehr unterstützende und koordinierende Strukturen, um den Netzwerkauf bau im Kulturbereich zu fördern.
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D.h., ein gestaltendes Kulturmanagement ist mehr und mehr notwendig. In der Zwischenzeit hat sich für diese Vermittler*innen- und Gestalter*innenfunktion ein neuer Terminus etabliert, der bereits zuvor genannt wurde: die »Meister*innen der Zwischenräume« (vgl. hier und im Folgenden Föhl / Wolfram 2020, Föhl 2018 sowie Föhl et al. 2016). Damit sind Kulturmanager*innen gemeint, die kulturelle Arbeit organisieren, koordinieren, vermitteln, die moderieren, übersetzen und kritisch begleiten. Als Zwischenräume werden jene kooperativen Handlungsbereiche verstanden, welche häufig noch keine klare Definition besitzen, da sie erst durch den Prozess der Kooperation zu neuartigen organisationalen und künstlerischen Positionen finden. Der Ansatz findet inzwischen breitf lächige Anwendung und ist unter anderem die konzeptionelle Grundlage für die »Cultural Leadership Academy Ukraine«, in der inzwischen 300 Akteur*innen aus der kommunalen Kulturverwaltung und -arbeit zu »Meister*innen der Zwischenräume« ausgebildet wurden (vgl. Goethe-Institut Ukraine 2020).
Meister*innen der Zwischenräume — zehn Thesen für eine Museumsarbeit in neuen Räumen Auf bauend auf dem besagten Ansatz der »Meister*innen der Zwischenräume« haben die beiden Autoren diesen während der Coronakrise noch einmal einer Revision unterzogen und auf die Anforderungen musealer bzw. kultureller Arbeit insgesamt bezogen. Dabei werden bisherige Rollenbeschreibungen von Kulturmanager*innen nicht ersetzt, sondern erweitert und ergänzt. Hierfür wurden zehn Thesen formuliert, welche die Rolle von Kulturnager*innen in einem sich ständig verändernden Umfeld ref lektieren. Aus welcher Haltung heraus können kulturelle Szenen dramatischen Krisen begegnen? Was muss sich ändern, damit es nicht mehr zu Diskussionen kommt, ob Kultur »systemrelevant« ist oder nicht (was als Frage schon viel Ignoranz offenbart und andersherum als Postulat ohne Evidenz ebenso wirkungslos bleibt)? Dabei soll auch deutlich werden, dass es um ein verändertes politisches Verständnis geht. Kritische Distanz zu Entscheidern und permanenten Einf lussnahmen sind essenziell. Aber auch ein neues Verständnis von kooperativer Museums- und Kulturverwaltung kann helfen wie ein fundiertes Engagement für die Eigenlogik künstlerischer Prozesse. Die Meister*innen der Zwischenräume denken Politik und kulturelle Entwicklung wieder
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stärker als Möglichkeit, separierte gesellschaftliche Bereiche näher aneinander zu rücken. Die zehn Thesen verstehen sich hierbei als Vorschläge, nicht als Setzungen. Sie sind als Anregung zur weiteren Diskussion gedacht: 1. Meister*innen der Zwischenräume sind Kulturmanager*innen, die kulturelle Arbeit organisieren, gestalten, vermitteln und mit anderen gesellschaftlichen Feldern verbinden. Als Zwischenräume werden jene kooperativen Handlungsbereiche verstanden, welche noch keine klare Definition besitzen, da sie erst durch den Prozess der Zusammenarbeit zu neuartigen organisationalen, kulturellen und künstlerischen Positionen finden. Beispiele sind neue Verbindungen zwischen musealer Arbeit und Wissenschaft, Bildung, digitaler Transformation, Stadtentwicklung oder etwa sozialer Arbeit. Eine wichtige Aufgabe ist dabei das Auf brechen vorhandener »Silos« bzw. »Blasen«, um kollaborative Arbeit zu ermöglichen, die über den eigenen musealen Tellerrand hinausgeht. 2. Meister*innen der Zwischenräume können helfen, neue Relevanz für museale Arbeit zu erzeugen, indem sie bestehende Grundstrukturen stärken, auch durch ihre Transformation, und zugleich Lösungen für Krisen (Stichwort Corona) anbieten, ohne auf normative Handlungsmuster zu setzen. Sie agieren als kritische Begleiter*innen in musealen Arbeitsprozessen und nehmen gegenüber Politik, Wirtschaft sowie Gesellschaft eine Moderationsrolle ein. 3. Meister*innen der Zwischenräume können helfen, Museumsarbeit noch stärker zu demokratisieren. Sie ermöglichen Teilhabe, indem sie Räume und Strukturen auf ihre Durchlässigkeit für verschiedene gesellschaftliche Gruppen befragen und wo möglich verändern oder öffnen. 4. (Museums-)Kulturelle und künstlerische Prozesse haben in der Arbeit der Meister*innen der Zwischenräume das Primat vor genuin politischen, ökonomischen und sozialen Perspektiven, d.h. Kultur darf nicht zum alleinigen Vehikel von gesellschaftlichen Themen werden, sondern der Ausgangspunkt sind immer spezifische Aushandlungsformen künstlerischer Fragestellungen. 5. Kulturelle bzw. museale Zwischenraumarbeit kann Netzwerke fördern und neu verbinden, welche schon vorhanden sind, aber erst später sichtbar werden. So haben sich innerhalb von Stadtsoziologie, Urban Planning und Stadtentwicklung bereits seit vielen Jahren umfangreiche Netzwerke zum Beispiel in Form von Nachbarschaftsinitiativen, Bürger-
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begehren und digitalen Communities gebildet, welche immer wieder auf künstlerische Handlungsformen zurückgreifen. Hier gilt es, das Nachdenken über gutes Leben in den Städten in seiner ganzen Fülle, Kreativität und Kooperationsfähigkeit sichtbar zu machen. Meister*innen der Zwischenräume sind während und nach der Coronakrise mehr denn je als Vermittler*innen und Mediator*innen gefragt. Vor dem Hintergrund der in allen gesellschaftlichen Feldern dominierenden Transformationsparadigmen fungieren sie als konstruktive Begleiter*innen, um Beziehungen zu ermöglichen und lenken immer wieder den Blick auf die (Nicht-)Sinnhaftigkeit eines Veränderungsvorhabens. Dabei steht das Fragenstellen mehr denn je im Mittelpunkt – ohne den Druck, jeweils umgehend Antworten finden zu müssen. Kommunikation und Ausprobieren werden als Werte an sich anerkannt. Meister*innen der Zwischenräume können Museums- und Kulturakteur*innen dabei unterstützen, wichtige Lernerfahrungen der vergangenen Monate der Coronakrise zu bewahren und für die nächsten Jahre nutzbar zu machen. Im Mittelpunkt stehen hierbei unter anderem der Ausbau analog-digitaler Strategien sowie neue Möglichkeiten im Feld der Digitalität (z.B. VR und AR). Die Coronakrise hat als Katalysator mehr denn je gezeigt, dass zahlreiche Menschen keinen Zugang zu (musealer) Kultur gefunden haben oder sich nicht willkommen fühlen. Zugleich führen die Schließungen, Beschränkungen und die bestehende Ansteckungsgefahr dazu, dass viele Einrichtungen Gefahr laufen, auch bestehendes Publikum längerfristig zu verlieren. Meister*innen der Zwischenräume können zentral daran mitwirken, alte Audience Development-Ansätze zu überwinden und neue Formen des Community- und Audience-Buildings, vor allem auch außerhalb der Institutionen, zu entwickeln. Die Themen Barrierefreiheit (vgl. Föhl et al. 2007), Dezentralität, Transkulturalität (vgl. Wolfram/Föhl 2018) und aufsuchende Kulturarbeit sind hier von besonderer Bedeutung. Auf der permanenten Suche nach dem Neuen leidet die Wertschätzung des Vorhandenen. Meister*innen der Zwischenräume kommt eine Vermittler*innen-Rolle zu, bestehende Strukturen und ihre Bedeutung transparent zu machen – auch als Start- und Ankerpunkte für neue Formen der Zusammenarbeit. Hier können Museen eine herausragende Rolle spielen.
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10. Die Coronakrise hat eindringlich vor Augen geführt, welche Themen in der Vergangenheit zwar immer wieder diskutiert, aber mangels Druck oder aufgrund großer Komplexität, nie richtig und ernsthaft umgesetzt wurden. Die Konzeptionen einer »nachhaltigen Entwicklung« oder etwa eines »New Green Deal« stehen dafür exemplarisch. Meister*innen der Zwischenräume sind wichtige Schlüsselakteur*innen, um diese Ansätze für den Kulturbereich zu konkretisieren bzw. zu gestalten und ins Zentrum (museums)kultureller Arbeit zu stellen. Fazit Eine zentrale Erkenntnis für das Kulturmanagement ist sicher, dass die Krise bestimmte Themenkomplexe der kulturellen Transformationsforschung deutlich geschärft, andererseits auch die Sinnlosigkeit permanenter Transformationsrhetorik enthüllt hat. Die Pandemie hat konkrete Probleme und somit Rettungsanforderungen geschaffen. Besonders betroffen sind davon, wie wir zu zeigen versucht haben, die Museen. Es ist nicht übertrieben, hier von einer Wiederauf bauleistung zu sprechen, die vor vielen Kulturbetrieben steht. Das bietet die Chance, das bestehende Kulturmanagement auf den Prüfstein zu stellen. Es bedarf der Einbeziehung neuer Akteur*innen, wie es das Konzept Meister*innen der Zwischenräume beschreibt, welche neue Kommunikationen und Verknüpfungen ermöglichen können. Kulturpolitisch wartet die große Herausforderung, sich von allzu formalistischen und projektbezogenen Logiken zu lösen und in viel stärkerem Maße, aktivierende Kommunikation zwischen Museen, Besucher*innen und anderen Gesellschaftsfeldern zu befördern. Gemeinsames Sammeln, Dezentralisierung von Orten, Leihkonzepte und Akte kollektiven Erinnerns miteinander zu verknüpfen, ist keine wissenschaftliche Utopie, sondern schon jetzt in vielen Beispielen erfolgreiche und spannende Praxis. Was fehlt, ist ein Willen, daraus einen neuen Vertrag zwischen Kulturpolitik, Kulturmanagement und Akteur*innen aus diversen Szenen zu schließen.
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Neue Zwischenräume: Museumsentwicklung in Zeiten von Corona
Dreyer, Matthias/Wiese Rolf (Hg.) (2020): Den Museumsstandort entwickeln und stärken. Impulse, Strategien und Instrumente. Ehestorf. Dreyer, Matthias/Wiese Rolf (Hg.) (2010): Das offene Museum. Rollen und Chancen von Museen in der Bürgergesellschaft. Ehestorf. Föhl, Patrick S. (2018): Mitten in der Transformation oder am Rand? Wie KulturmanagerInnen auf ihre Aufgabe als »MeisterInnen der Zwischenräume« vorbereitet werden müssen, in: KM. Kultur und Management im Dialog. Das Monatsmagazin von Kulturmanagement Network. Nr. 137, S. 24-29. Föhl, Patrick S. (2017): Kulturentwicklungsplanung, in: Klein, Armin (Hg.): Kompendium Kulturmanagement. Handbuch für Studium und Praxis. 4. Auf l. München. S. 157-179. Föhl, Patrick S./Erdrich, Stefanie/John, Hartmut/Maaß, Karin (Hg.*innen) (2007): Das barrierefreie Museum. Theorie und Praxis einer besseren Zugänglichkeit. Ein Handbuch. Bielefeld, S. 121-128. Föhl, Patrick S./Klemm, Suse (2020): In Beziehung gehen – Gedanken entlang des kulturellen Transformationsparadigmas in Zeiten von Covid-19. Erschienen in der Online-Reihe »Essays zur Corona-Krise« der Kulturpolitischen Gesellschaft (https://kupoge.de/wp-content/uploads/2020/05/ Essay-F %C3 %B6hl-Klemm.pdf). Föhl, Patrick S./Wolfram, Gernot (2020): Meister*innen der Zwischenräume – zehn Thesen für eine Kulturarbeit in neuen Räumen, 202020. Positionen und Berichte zum Umbruch im Arbeitsfeld Kultur und Kulturmanagement. Onlinepublikation des SKM – Studienangebot Kulturmanagement an der Universität Basel. Das Magazin erscheint anlässlich seines 20-jährigen Jubiläums 2020 (https://202020.ch/2020/07/04/meis terinnen-der-zwischenraeume-zehn-thesen-fuer-eine-kulturarbeitin-neuen-raeumen/). Föhl, Patrick S./Wolfram, Gernot/Peper, Robert (2016): Cultural Managers as ›Masters of Interspaces‹, in: Transformation Processes – a Network Theory Perspective, in: Journal of Cultural Management. Arts, Economics, Policy. Vol. 2 2016/1, S. 17-49. Goethe-Institut Ukraine (Hg.) (2020): Cultural Leadership Academy: Champion of change in the cultural sphere of Ukrainian communities, Kyiv (https://www.goethe.de/resources/files/pdf208/goethe_cultural_leader ship_academy_champion_of_change1.pdf?f bclid=IwAR0ZwfLxjQu8W_ CvXaR34gwrySbhF9NuE9lrfxC9qESf9pco-yMyNWOs_4o).
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Patrick S. Föhl, Gernot Wolfram
Greve, Anita (Hg.*in) (2015): Weißsein und Kunst. Neue postkoloniale Perspektiven. Kunst und Politik. Jahrbuch der Guernica Gesellschaft. Band 017/2015. Göttingen. John, Hartmut/Dauschek, Anja (Hg.*in) (2008): Museen neu denken. Perspektiven der Kulturvermittlung und Zielgruppenarbeit, Bielefeld. Macdonald, Sharon J. (2013): Memorylands. Heritage and Memory in Europe Today. New York. Radonic, Ljiljana/Uhl, Heidemarie (Hg*in) (2020): Das umkämpfte Museum. Zeitgeschichte ausstellen zwischen Dekonstruktion und Sinnstiftung. Bielefeld. Reckwitz, Andreas (2019): Ein Ordnungsruf. In: DIE ZEIT, 4. November 2019 (Nr. 47/2019). Saavedra-Lara, Fabian (2021): »Zurück in die Zukunft IV«. Erschienen auf dem Blog »#neueRelevanz Eine Kulturpolitik der Transformation« der Kulturpolitischen Gesellschaft (https://kupoge.de/blog/2021/03/02/zu rueck-in-die-zukunft-iv/). Schulze, Mario (2017): Wie die Dinge sprechen lernten. Eine Geschichte des Museumsobjektes 1968-2000. Bielefeld. Sievers, Norbert/Föhl, Patrick S./Knoblich, Tobias (Hg.) (2016): Jahrbuch für Kulturpolitik 2015/16. Schwerpunkt: Transformatorische Kulturpolitik. Bielefeld. Spahn, Lea/Scholle, Jasmin/Wuttig, Bettina/Maurer, Susanne (Hg.*innen) (2017): Verkörperte Heterotopien. Zur Materialität und [Un-]Ordnung ganz anderer Räume. Bielefeld. Wolfram, Gernot (2020): Das Ende der Partizipation? Kulturelle Teilhabe in (Post-)Corona-Zeiten. Haus der Kulturen der Welt Berlin. (https://www. kiwit.org/kultur-oeffnet-welten/positionen/position_14848.html) Wolfram, Gernot/Föhl, Patrick S. (2018): Transkultur. Eine kurze Einführung, gefördert durch das Goethe-Institut. Broschüre. Berlin. Wonisch, Regina/Hübel, Thomas (Hg.*in) (2011): Museum und Migration. Konzepte.Kontexte.Kontroversen. Bielefeld.
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Neue Zwischenräume: Museumsentwicklung in Zeiten von Corona
Kölnisches Stadtmuseum (2020): #coronia: Objekte aus dem Corona-Alltag, in: https://www.koelnisches-stadtmuseum.de/_CORONIA (zuletzt eingesehen am 18.3.2021) Kunsthalle Wilhelshaven (2020): Reiner Maria Matysik. Komm, nimm mich, in: https://kunsthalle-wilhelmshaven.de/de/ausstellungen/komm-nimmmich (zuletzt eingesehen am 18.3.2021)
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Agiles Handeln und Innovationsorientierung im Kulturbetrieb Gesa Birnkraut
Alle paar Jahre werden vermeintlich neue Managementbegriffe in den (Fach-) Medien diskutiert. In den letzten zwei Jahren sind das besonders die Themen Agilität und Innovation. Der Kulturbetrieb im Generellen und das Museum im Speziellen sind in der Vergangenheit nicht dafür bekannt gewesen, Managementtrends schnell und blind zu folgen. Vor etwa 30 Jahren entstanden die ersten Kulturmanagement Ausbildungen (1987 in Hamburg) und seit etwa 20 Jahren ist Kulturmanagement ein immanenter Teil des Kulturbetriebs geworden. Mit dieser Entwicklung werden immer wieder Managementmodelle und Theorien auf die besonderen Gegebenheiten des Kulturbetriebs adaptiert. So wurden in den letzten Jahren betriebswirtschaftliche Modelle wie die Deckungsbeitragsrechnung, kaufmännische Buchführung, Kostenstellenrechnung weitgehend übernommen. Weiterhin wurden eher qualitative Modelle übernommen wie das Thema audience development (in Anlehnung an Kundenorientierung), die Personalorientierung (von der reinen Personalverwaltung hin zum Personalmanagement mit Personalentwicklung etc.) oder der Kundendialog (in Anlehnung an Customer Related Marketing [CRM]). Grundsätzlich sollte nicht nur die Situation und Entwicklung der Museen selbst betrachtet werden, sondern auch die gesellschaftliche Entwicklung bei den (potenziellen) Mitarbeitenden und dem Publikum. Die junge Generation der Arbeitnehmer*innen legt verstärkt Wert auf eigenverantwortliches Arbeiten in f lachen Hierarchien mit der Möglichkeit von Teilzeitarbeit, f lexiblen Arbeitszeiten und starker Balance zwischen beruf licher und privater Zeit. Das Publikum agiert immer stärker auch im digitalen Bereich und sieht Museen nur bedingt als Ort der Innovation und Inspiration. Viele Inhalte werden digital abgerufen, ein Großteil der Kommunikation läuft auf digitalen Wegen ab.
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Gerade in Zeiten der Krise ist das Thema Agilität und Innovation in Kulturbetrieben wichtig. Wenn Kulturbetriebe in einer Zeit der Disruption des Gewohnten arbeiten, zeigt sich der Veränderungswille der Führungskraft und der Mitarbeiter*innen. Die Aspekte der hierarchischen Führung, der agilen, selbstbestimmten Arbeit (auch oder gerade im Homeoffice) und innovative Ansätze in der administrativen und der künstlerischen Ebene gewinnen erheblich mehr Gewicht. Zeitdruck, diese Veränderungen vorzunehmen kann auf der einen Seite zu unausgegorenen Lösungen führen, aber es steigert das positive Verständnis für Scheitern auf der anderen Seite. Innovationen müssen nicht immer minutiös geplant sein, sie leben von iterativen Schleifen und Veränderungen. Das kann gerade in einer Zeit der Umwandlung/der temporären Schließung und der Digitalisierung von Nutzen sein. Die Themen Agilität und Innovation betreffen besonders die Organisationsstruktur, das Führungsverständnis und die Ergebnisorientierung der Kulturbetriebe. Dementsprechend soll im vorliegenden Text eine Einführung zu den Begriffen der Agilität und der Innovation gegeben werden. Darauf hin wird untersucht, wie diese Theorien und Modelle auf den Museumsbetrieb umgesetzt werden können. In einem kurzen Glossar werden die Haupttrends dieses Managementverständnisses erklärt.
Agilität und Innovation — der Versuch einer Abgrenzung Agilität Agiles Management ist mehr eine Grundeinstellung als ein Managementinstrument. Es geht um die Auf lösung von vertikalem Silodenken hin zu einem ganzheitlichen Denken, dass eher horizontal arbeitet. Das Thema der Agilität stammt ursprünglich aus der Softwareentwicklung, hier entstand auch 2001 das agile Manifest (vgl. Manifest 2001). Dieses postuliert 12 Grundsätze, die vielseitig auch in anderen Bereichen eingesetzt werden können. So hat das Forum Agile Verwaltung dieses Manifest auch auf die Verwaltung umgesetzt (vgl. Michl 2018). Agilität im Sinne des Manifestes heißt, die »soziale Dimension der Arbeit und Zusammenarbeit mit allen Beteiligten höher zu bewerten, als die rein technischen Aspekte« (Michl 2018: k.S.). Dies deckt sich mit Merkmalen, die von Hofert und Thonet beschrieben werden: Es soll
Agiles Handeln und Innovationsorientierung im Kulturbetrieb
um eine Kultur gehen, die den Mensch vor die Methode stellt und eine Institution beschreibt, die sich an gemeinsamen Lernen und Entwicklung orientiert (vgl. Hofert/Thonet 2018: 37). Zu den Grundätzen gehört weiter die absolute Kundenorientierung. De facto heißt das, dass alles was in der Institution getan wird, immer im Hinblick auf die Kunden oder das Publikum gedacht wird. Das bedeutet nicht, dass nur Inhalte vermittelt werden, die von möglichst vielen Menschen gesehen werden wollen, sondern eher, dass alle zu vermittelnden Inhalte dahingehend überprüft werden, wie sie am besten zu den Menschen gebracht werden können. Die übergreifende Zusammenarbeit von Experten aus unterschiedlichen Bereichen ist bei vielen Instrumenten des agilen Managements immanent. Die Auf lösung der vertikalen Denksilos bedeutet auch die Auf lösung von reinen Fachabteilungen hin zu cross-sektoralen Arbeitsgruppen (siehe auch Scrum und Holokratie im Glossar). Der Mehrwert, der durch die Durchmischung der unterschiedlichen Expertisen erreicht werden kann, wird hier als sehr hoch angesehen. Eine weitere Grundvoraussetzung von agilem Handeln ist das Stecken und Erreichen von kurzfristigen Zielen. Dies schließt nicht aus, dass das Team oder die Institution an einem langfristigen Ziel oder einer Vision arbeitet. Es bedeutet lediglich, dass dieses langfristige Ziel in kleine, überschaubare Teilziele eingeteilt wird und in die Erreichung dieser zeitlich klar abgesteckten Ziele (meist nicht mehr als 30 Tage) eine hohe Energie f ließt (siehe auch Scrum und Sprint im Glossar). Es wird bei agilem Handeln eine ständige Bereitschaft gefordert, den eigenen Erfolg zu ref lektieren und die Prozesse im Team stetig zu verändern und zu verbessern. Damit einher geht eine Kultur, die Innovationen ermöglicht und Experimente begrüßt. Im besten Falle ist eine positiv besetzte Fehlertoleranz in der Organisation vorhanden. Das ganze Konstrukt wird eingerahmt von einem Führungsverständnis, das Hilfe zur Selbstentwicklung und Befähigung zur Selbstorganisation in den Vordergrund stellt (vgl. Hofer/Thonet, Manifest 2001 und vgl. Michl 2018).
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Innovation Ob man zuerst das Thema Innovation und nachgeordnet den Bereich agiles Handeln betrachtet oder vice versa erscheint unerheblich. Die beträchtliche Schnittmenge der Sichtweisen ist allerdings von Bedeutung. Aufgrund von stagnierenden oder sinkenden Kulturbudgets und einer Verschiebung der Bedeutung von Kultur in der Gesellschaft definieren sich Kulturbetriebe in den letzten Jahren immer wieder neu. Dies zeigt die Bedeutung von Sonderausstellungen, von kultureller Bildung, von partizipativem künstlerischem Gestalten. All diese Entwicklungen sind Innovationen des Kulturbetriebs und damit auch Teil von agilem Handeln. Lange Zeit wurden Innovationen allerdings rein technologieorientiert betrachtet. Dies fußt unter anderem in der Beschreibung von Innovation durch Schumpeter: Innovation wird hier als neue und andersartige Kombinationen der zur Verfügung stehenden Ressourcen gezeichnet (vgl. Schumpeter 1997: 132). Vorherrschend in den letzten Jahrzehnten war ein technologieorientierter Innovationsbegriff. Dies spiegelt sich auch in den Förderprogrammen der Bundesregierung wider (z.B. das Zentrale Innovationsprogramm Mittelstand [ZIM]), aber auch in der vorherrschenden Literatur (vgl. Sengupta 2013; vgl. Hauschildt et al. 2016 sowie vgl. Vahs 2015). Erst in den letzten Jahren ist, unter anderem getrieben von der Kultur und Kreativwirtschaft, auch ein nicht technologieorientierter Innovationsbegriff breit diskutiert worden (vgl. Söndermann 2017). Ergebnisse sind unter anderem die Veränderung diesbezüglicher Förderprogramme des Bundeswirtschaftsministeriums. Der nicht technologieorientierte Innovationsbegriff wird wie folgt definiert: »Unter nichttechnischen Innovationen werden neuartige Produkt-, Dienstleistungs-, Prozess-, Organisations- und Marketingkonzepte wie auch Geschäftsmodelle verstanden. Der primäre Wertschöpfungsbeitrag entsteht dabei nicht aus eingesetzten Technologien (z.B. Komponenten, Software), sondern wesentlich aus Veränderungen, die auf bisher nicht bekannte Anwendungskontexte, Nutzungsmöglichkeiten, organisationale Strukturen oder Ertrags- und Wertschöpfungsmechaniken abzielen. Nichttechnische Innovationen zeichnen sich vor allem durch eine hohe Kontextabhängigkeit und Anwendungsvielfalt aus. Sie haben interaktiven Charakter und weisen tendenziell keine objektvierten Produkteigenschaften auf. Nichttechnische
Agiles Handeln und Innovationsorientierung im Kulturbetrieb
Innovationen können in marktorientierter und gemeinwohlorientierter Ausprägung, aber auch in Mischformen vorliegen.« (Heimer et al. 2016: 38) In dieser Definition steckt auch eine Bedeutung für den Kulturbetrieb. Die Innovationen, die Kultureinrichtungen nach vorne treiben, haben meist eine gesellschaftliche Bedeutung, die nach dem bisher vorherrschenden Verständnis nicht wahrgenommen wurde.
Cross Innovation Interessant ist dabei auch der Ansatz der Cross Innovation. In einem Manifest des vom European Regional Development Fund geförderten Cross-Innovation-Projektes1 wird Folgendes zu dem Thema statuiert: Innovation entwickelt sich in einem dementsprechenden Umfeld, eine reine Spezialisierung ist nicht unbedingt förderlich. Ganz im Gegenteil braucht es Pioniergeist, um innovativ zu sein, man muss bereit sein, seine Grenzen zu überschreiten. Und damit sind nicht nur die institutionellen Grenzen gemeint, sondern die regionalen ebenso wie die sektoralen Grenzen. Durch eine Zusammenarbeit zwischen unterschiedlichen Sektoren entstehen neue Sichtweisen. (Biase/ van der Duin 2012: 4) Entstanden ist der Begriff Cross Innovation in Zusammenhang mit der Kultur- und Kreativwirtschaft. Gemeint sind Kooperationen zwischen Kreativschaffenden und anderen wirtschaftlichen Branchen. Hierzu gibt es bundesweit und auch in den Bundesländern Initiativen, die diesen Ansatz verstärken (z.B. setzt das Kompetenzzentrum des Bundes zur Kultur und Kreativwirtschaft unterschiedliche Formate zum Thema Cross Innovation um) (Kompetenzzentrum 2019). Die Kreativgesellschaft Hamburg hat ein Cross-Innovation-Hub (auch co-finanziert durch den Europäischen Fonds für regionale Zusammenarbeit [EFRE]), in dem in unterschiedlichen Formaten diese branchenübergreifende Innovation bearbeitet wird (Kreativgesellschaft 2019). Innovation, cross-sektorales Arbeiten und agiles Handeln gehen Hand in Hand und gehören systemisch zusammen. Die Grundsätze dieser drei Bereiche haben große Schnittmengen und können zu zukunftsweisenden Veränderungen führen. 1 In dem Projekt arbeiten elf europäische Städte zusammen, um »good practices« für cross innovation zu finden und zu publizieren, mehr dazu unter: www.cross-innovation.eu
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Organisationsstruktur und Führungskultur Agilität und die Organisationsstruktur einer Einrichtung haben einen wechselseitigen Einf luss aufeinander. Agile Strukturen brauchen bestimmte organisationale Voraussetzungen, um erfolgreich sein zu können (siehe auch Soziokratie und Holokratie im Glossar). Eng damit verbunden ist die Organisations- und Führungskultur. Die Struktur und die operative Umsetzung alleine aber würden keine agile Einrichtung ausmachen. Entscheidend, ob diese Strukturen nachhaltig und erfolgreich sind, ist die Führungskultur, die in der Organisation vorherrscht. Charles Handy hat den Begrif f des »postheroischen Führens« geprägt: »Helden […] lieben starre Prozesse, Vorgabe und Kontrolle sowie Rang und Autorität. Postheroische Manager dagegen wirken über Interdisziplinarität, Kollaboration, Vernetzung und Selbstorganisation der Mitarbeiter.« (Weber/Berendt 2017: 41) Das bedeutet ein völlig verändertes Rollenverständnis von Chef und Mitarbeitenden. »Handy zeigt den Weg, weg von der heldenhaften hin zur dienenden Führungskraf t, die unterstützend wirkt und die Entfaltung von Potentialen ermöglicht und Sinn gibt. Vorbei die Zeiten starrer Organisationen und endloser Langfristpläne. Stattdessen herrscht das Prinzip der Kurzfristigkeit: Entscheidungen müssen schnell getrof fen und umgesetzt werden.« (Weber/Berendt 2017: 41) Agile Führungskräfte sehen den Mitarbeiter*innen als höchste Priorität an, aber auch die Mitarbeiter*innen müssen dies erkennen. Im Unternehmen müssen strukturelle Prioritäten aufgeweicht werden und alle Prozesse müssen als gleich wichtig anerkannt werden. Im Museumsbetrieb, aber auch im Kulturbetrieb allgemein herrschen größtenteils klare und althergebrachte Machtsysteme und Rollen. So ist die künstlerische oder wissenschaftliche Leitung mit Abstand die mächtigste und wichtigste Rolle im Kulturbetrieb. Gefolgt von dem künstlerischen oder wissenschaftlichen Personal (das z.T. auch arbeitsrechtlich anders behandelt wird, z.B. im Theaterbetrieb). Danach kommen die nicht-wissenschaftlichen und nicht-künstlerischen Tätigkeiten. Der Sinn von Kollaboration, die Nutzung von Synergien hängt dabei dann sehr von der Organisationskultur ab, die von der Leitung geprägt wird. Um das Machtsystem bzw. das Rollenverständnis zu verändern, müsste im Museum zum Beispiel die strukturelle Priorität der Kurator*innen aufgeweicht und die Stellung der übrigen Museumsmitarbeiter*innen gestärkt werden.
Agiles Handeln und Innovationsorientierung im Kulturbetrieb
In einem agilen Museum sind die Kurator*innen und die künstlerische Leitung nicht mehr der Nucleus, sondern nur noch ein wichtiger Teil neben anderen wichtigen Teilen. Dies bedeutet eine Umwandlung der Arbeitskultur in der Organisation. Methoden wie agiles Projektmanagement und Organisationsstrukturen sind immer nur der zweite Schritt, die eigentliche (Kultur-)Veränderung findet schon vorher statt.
Wie bereit ist das Museum an sich? Fraglich ist nach den Definitionen der Konzepte und Modelle, inwieweit das Verständnis agiler Organisationen sich auf den Museumsbereich übersetzen lassen. Kulturinstitutionen an sich gelten als eher veränderungsresistent und Status Quo bezogen, daher ist zu untersuchen, inwiefern ein Modell, das stetige Veränderungsbereitschaft voraussetzt, im Kulturbetrieb bzw. im Museum Anklang findet. Dazu soll zunächst betrachtet werden, in welcher Organisationsstruktur und Führungskultur sich Museen momentan noch hauptsächlich bewegen, bevor darauf eingegangen wird, wie das agile Museum aussehen könnte.
Struktur von Museen Museen folgen klassischerweise in ihren Organisationsstrukturen einer Linienorganisation (Erläuterung siehe Liniensystem im Glossar). Am Beispiel des folgenden fiktiven Organigramms lässt sich das sehr gut und anschaulich ablesen Grundsätzlich liegt die Führung eines Museums in den Händen des künstlerischen und/oder wissenschaftlichen Direktor*innen, meist gefolgt von dem kaufmännischen Geschäftsführer. Es gibt auch zahlreiche Modelle, in denen es eine gleichberechtigte Doppelspitze gibt. Es ist kein Beispiel bekannt, in dem ein*e kaufmännische* Geschäftsführer*in die Spitze übernimmt in deutschen Museen. Prinzipiell ergeben sich daraus die Verantwortlichkeiten: der Geschäftsführer*in ist für die zentralen Dienste zuständig (Personal- und Finanzwesen, technischer Dienst, Reinigung etc.) Der künstlerische oder wissenschaftliche Direktor*in ist zum einen für die inhaltlichen Abteilungen zuständig, daneben aber auch für die Themen Museumspädagogik oder kul-
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Abbildung 1: Organigramm – eigene Darstellung
turelle Bildung, Öffentlichkeitsarbeit und Marketing. Klassische Entscheidungswege sind den hierarchischen Gegebenheiten geschuldet. Je nach Hierarchieausprägung kann es eigene Budgets und damit eigene Verantwortungen für die Abteilungen geben oder eine klare Top-Down-Entscheidung. Klassischerweise finden wir eine klare Linienorganisation, in der der Direktor*in (und in gewissen Maßen der Geschäftsführer*in) die Linie des Museums vorgibt. Die Kurator*innen füllen dann diese Linie mit eigenen Inhalten. Alle anderen Abteilungen oder Funktionen sind dann untergeordnet. Es gibt eine klassische Top-Down- Entscheidungsstruktur, die wenig durch übergreifende Prozesse durchbrochen wird. Ergänzt wird dies durch zeitlich begrenzte Projektstrukturen. Als Beispiele für diese Projektstrukturen sind die in den letzten Jahren vielerorts entstandenen Digitalisierungsprojekte zu nennen. Diese sind klassischerweise in Projektform abteilungsübergreifend angegangen worden. Nicht auszuschließen sind noch weitere übergreifende Projekte, in Be-
Agiles Handeln und Innovationsorientierung im Kulturbetrieb
zug auf Jubiläen, neue strategische Entwicklungen etc. Diese Projekte sind zeitlich begrenzt. Projekte, die übergreifend bearbeitet werden, können am ehesten mit agilen Strukturen verglichen werden. Wobei agile Strukturen nicht zwangsläufig wie Projektstrukturen zeitlich begrenzt sind, sondern durchaus auf Dauer angelegt sind.
Wie könnte ein agiles Museum aussehen? Grundsätzlich kann Agilität in allen Institutionen und Unternehmen greifen. Fraglich ist, welche der aufgeführten Aspekte von agiler Organisation und Innovationsfähigkeit im Museum eingesetzt werden können. Das ist selbstverständlich nicht generalisierend zu statuieren. Zu unterschiedlich sind die Museen und ihre Aufgaben und Strukturen. Trotzdem soll ein Ansatz entwickelt werden, wie ein agiles Museum aussehen könnte. Grundlegend erscheint dabei eine Neudefinition oder zumindest Überprüfung der Rolle des Museums in der Stadtgesellschaft. Diese Rolle ist im Museum selbst zu diskutieren, aber auch eng zusammen mit der Kulturpolitik und der Kulturverwaltung zu verhandeln. Wenn ein strukturelles, vertikales Silodenken in der Organisation unterstützt wird, ist ein agiles Verständnis schwierig umzusetzen. Das zunächst getrennt vom Rollenverständnis des Museums zu betrachten. Denn auch die herkömmliche Rolle des Bewahrens, Sammelns, Forschens und Ausstellens kann durch eine agile Struktur so verändert werden, dass eine zielgruppenorientierte, Expertise übergreifende Arbeit möglich ist. Wenn das Vermitteln und Kommunizieren stärker in den Vordergrund gestellt wird (Museumsbund 2019), kommt eine Agilität noch einfacher in Betracht, da Vermitteln automatisch bedeutet, dass übergreifend gearbeitet werden muss. Soll das Museum eine proaktive, dynamische und auf Fragen der (Stadt-)Gesellschaft eingehende Rolle einnehmen, soll das Museum ein aktiver Knotenpunkt zwischen der Wirtschaft, der Kreativwirtschaft, der Gesellschaft und der Stadt und seinen Einrichtungen sein, dann ist eine Agilität nicht nur von Vorteil – sondern immanent. Dies würde aber auch ein anderes Verständnis der Politik und der Verwaltung bedingen, denn rein quantitative Kennzahlen wie Besucherzahlen sind dann fehl am Platz, um die Wirksamkeit eines Museums zu verdeutlichen.
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Abbildung 2: Agilität des Museums – eigene Darstellung
Erst wenn das Selbstverständnis geklärt ist, ist der nächste Schritt, dieses Rollenverständnis in das Führungsverständnis umzusetzen. Dazu gehört auch ein Überdenken der Wichtigkeit der Kuration. Sind die bestehenden Arbeitsprofile und die internen Machtsysteme noch zeitgemäß? Müssen neue Arbeitsprofile (siehe Best Practices des Citizen Sciences und des Museumslotsen) und eine neue Balance der Wichtigkeiten geschaffen werden? Welche Rolle nimmt der künstlerische Direktor noch ein und wie sehr kann er zu einer postheroischen Leitungskraft im Sinne Handys (Weber/Berendt 2017: 41) werden, die sich eher als »dienenden Führer« betrachtet? Die Auseinandersetzung damit wird automatisch zu einem Auf brechen der Linie und einer Veränderung der Organisationsstrukturen führen, einer Veränderung des operativen Prozessmanagements. Diese Veränderung bei bestehenden Strukturen durchzuführen, ist gerade im öffentlich-rechtlich geprägten Museumsbetrieb langwierig und oftmals zäh. Langjährige Museumsmitarbeiter*innen, die quasi unkündbar sind, sind oftmals keine Treiber*innen von Veränderung. Dementsprechend ist ein Umbau im laufenden Konstrukt nicht einfach, aber machbar. Entscheidend ist, dass eine Mehrheit
Agiles Handeln und Innovationsorientierung im Kulturbetrieb
der Mitarbeitenden bereit ist, sich auf den neuen Weg zu begeben. Den Anfang muss hier die Leitung machen, denn eine Hinwendung zur agilen Organisation heißt auch eine Abwendung vom Intendanzprinzip. Es gibt so nicht mehr den Einen, der die (künstlerische/wissenschaftliche) Richtung angibt. Dies geht mit Machtverlust bzw. einer anderen Definition von Macht einher. Mit dem Überzeugen einer kritischen Masse kann Veränderung auch f lächendeckend greifen. Eine solche Umstellung sollte von externen Berater*innen begleitet werden, die die Leitung während des Prozesses unterstützen. Aus diesen Veränderungen und den entstehenden Schnittstellen kann cross-sektorale Innovation entstehen. Gemäß der Abbildung 1 kann das Thema Arbeiten in unsicheren, disruptiven, gesellschaftlichen Rahmenbedingungen diskutiert werden (siehe auch VUCA im Glossar): Ist die volatile und unsichere Situation auch im Museumsbetrieb relevant? Betrachtet man die freie Szene, so wird schnell deutlich, dass diese Vorreiter im Umgang mit unsicheren, unberechenbaren und komplexen Situationen sind. Fehlende kontinuierliche Finanzierung, gestützt auf Projektbasis, ständige Veränderung der künstlerischen Zusammensetzung, wechselnde Orte sind dort an der Tagesordnung. Wie sieht es aber aus, wenn institutionell geförderte Museen betrachtet werden? Viele Museen sind staatlich subventioniert, arbeiten mit festen, unbefristeten Arbeitsstellen, haben einen festen Ort und eine feste Sammlung oder Ausstellung. Die Strukturen sind oftmals noch traditionell auf die künstlerische oder wissenschaftliche Leitung fixiert. Es herrscht ein hohes Maß an Hierarchisierung und Bürokratisierung. Grundsätzlich also treffen die meisten Attribute der Agilität, der Volatilität nicht auf das Museum der Vergangenheit zu. Jedoch treffen sie auf die Museen der Zukunft zu. Trotzdem wird das Museum der Zukunft und vielleicht auch schon der Gegenwart sich dieser Volatilität stellen müssen, wenn es nicht an Bedeutung verlieren will. Schon jetzt ist bei vielen der Druck zu spüren, ständig neue Sonderausstellungen produzieren zu müssen, um steigende oder gleichbleibende Besuchszahlen zu generieren. Dies ist der Legitimation gegenüber den Fördermittelgeber*innen geschuldet. Auch die Relevanz für die Gesellschaft spielt eine Rolle. Die eigene Sammlung, die eigene Dauerausstellung wird oft aus den Augen verloren, da ein Großteil der Ressourcen und der Energie auf Sonderprojekte oder Sonderausstellungen verwendet wird. Ein Erfolgsfaktor, den Sarkar benennt, ist fast-paced response, was nicht nur eine Reaktion bedeutet, sondern im besten Falle auch eine Aktion, um proaktiv den Wandel einzuführen und nicht nur zu reagieren, wenn der Wandel von
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außen initiiert wird (Sarkar 2016: 9). Das agile Museum muss sich also in der Lage fühlen, sich selbst neu zu definieren, sich zu hinterfragen und gemeinsam mit den Stakeholdern der Stadtgesellschaft und im besten Falle mit den Bürger*innen ein neues Bild entstehen zu lassen. Die Dynamik und Flexibilität eines agilen Ansatzes stellen viele der traditionellen Strukturen des Museumsbetriebes in Frage. Es bedarf großer Bereitschaft der Mitarbeitenden und der Leitung, eine solche Neupositionierung durchzuführen. Nicht zu vergessen, bedarf es einer Unterstützung und eines Bewusstseins des Fördergebers, wie eine solche veränderte Rolle in der Stadtgesellschaft aussehen soll. Die Kulturverwaltung und auch die Kulturpolitik (selbst oftmals eher in bewahrenden Strukturen verfangen) müssen ein Verständnis entwickeln von der Rolle, die das Museum einnehmen soll. Die Diskussion über Agilität der Museen hat also nicht nur etwas mit dem Thema Organisationsstrukturen zu tun. Das ist eher Mittel zum Zweck. Zu Grunde liegen muss eine veränderte und überprüfte Definition des Ortes Museum. Das Stadtmuseum Berlin geht diesen Weg schon seit 2016 in einem intensiven Organisationsentwicklungsprozess. Festgehalten und beschrieben ist der Weg in der Zukunftsstrategie des Stadtmuseums (Zukunft Stadtmuseum 2019). Um zu verdeutlichen, was zu einer größeren Agilität eines Museums führen kann, sollen hier einige aktuelle Trends und Good-Practice-Beispiele aufgezeigt werden:
Dritte Orte Museen werden immer öfter als dritte Orte angesehen, die zum Austausch und zum Dialog einladen wollen. Dazu werden Pilotprojekte der OECD durchgeführt2 und Förderprogramme aufgelegt3. Dritte Orte werden dabei im engeren 2 Die OECD führt ein Pilotprojekt durch zum Thema Culture and local development:maximising the impact – dazu ist auch ein Guide erschienen, der Handlungsempfehlungen zu Vernetzungen für die lokale Verwaltung und die Museen generiert (siehe auch [OECD; ICOM. 2018]). Das Projekt hat das Ziel, das Bewusstsein zu steigern, dass Museen aktive Partner in der Stadtgesellschaft und der Stadtentwicklung sein können und Netzwerkknotenpunkt auch für soziale Einrichtungen, Gesundheitsinstitutionen etc. sein können. 3 Zum Beispiel das neue Förderprogramm des Ministeriums für Kunst und Wissenschaft in Nordrhein-Westfalen, dass sich explizit um neue Konzepte für kulturelle Orte dreht, die Verbindungorte sein sollen (mehr unter https://www.mkw.nrw/kultur/arbeitsfelder/dritteorte).
Agiles Handeln und Innovationsorientierung im Kulturbetrieb
Sinne als Orte des Dialogs, der Vernetzung und der Begegnung betrachtet. Ray Oldenburg, ein amerikanischer Soziologe, prägte den Begriff des Third Place und betitelt diesen als »the core settings of informal public life […] that host the regular, voluntary, informal, and happily anticipated gatherings of individuals beyond the realms of home and work.« (Oldenburg 1999: 16) Dieses wird oft mit Bibliotheken verbunden, aber auch der Museumsbetrieb bietet dafür Raum und Möglichkeit. Voraussetzung hierfür ist die Bereitschaft der Kurator*innen im Speziellen und der Mitarbeiter*innen im Generellen sich für die Bürger*innen zu öffnen und zuzulassen, dass ein Dialog auf Augenhöhe stattfinden kann.
Beispiele Das Badische Landesmuseums in Karlsruhe hat gerade ein Projekt initiiert, das Creative Collections heißt. Hier arbeitet ein Bürgerbeirat an zukünftigen Gestaltungen des (digitalen) Museums. Es wurde ein MuseumsCamp (angelehnt an die Methode barcamp) veranstaltet und mehrere Bürgerbeiratstreffen, bei denen mit der Design-Thinking-Methode neue Prototypen des digitalen Museums erdacht wurden (Landesmuseum 2019). Die Kurator*innen des Hauses arbeiteten mit bei den Bürgerbeiratstreffen, um so viele Ideen wie möglich umsetzen zu können. Die Kunsthalle Hamburg hat seit 2018 bis Ende 2019 ein partizipatives Element in seiner Galerie der Gegenwart mit dem Künstler Olafur Eliasson gestartet. Unter dem Motto: »Ein Spielraum für den Anfang der Kritik« gibt es hier mitten im Museum die Möglichkeit an einem Seh-, Erlebnis- und Spielort Kunst ganz nah zu entdecken. Im Raum selbst hängen Kunstwerke alter Meister und dazu gibt es ein vom Künstler entwickeltes Steckspiel, mit dem eigene Kunst geschaffen und im dazu geeigneten Regal ausgestellt werden kann. Genannt wird das Projekt das Hamburger Kinderzimmer (2019). Die ZLB in Berlin ist gerade als Bibliothek des Jahres 2019 ausgezeichnet worden, weil sie sich kontinuierlich weg von der passiven Ausleihbibliothek zu einem aktiven Ort der Stadtgesellschaft entwickelt hat. Dieser Weg hat mehrere Jahre unermüdlicher Veränderung von Strukturen und Prozessen benötigt, um zu einem solch positiven Ergebnis zu führen (Bibliotheksverband 2019).
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Citizen science/Bürgerwissenschaften/Partizipation In Zeiten des Internets und des breit gestreuten Wissens ist der partizipative Ansatz der Forschung aktueller als je zuvor. Schon 1970 wurde die Demokratisierung der Forschung gefordert (Kaurav 2015: 72). Die Diskussion dazu vertiefte sich in den 1990er Jahren und ist nach wie vor aktuell. Während die citizen science oftmals in Museen für Naturkunde und auch in wissenschaftlichen Bezügen genutzt wird (so hat z.B. das Museum für Naturkunde in Berlin vielfältige Projekte zu dem Thema), ist es in anderen Museen noch wenig bekannt. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung fördert seit 2016 mit fünf Millionen Euro 13 Projekte für drei Jahre (BMBF 2019). Hierbei geht es direkt und indirekt auch um die Innovation des Museumsbetriebes (Kaurav 2015: 74). Das Thema Bürgerwissenschaften hängt im Museum eng mit dem Themenbereich Dritte Orte zusammen. Auch hier ist die Voraussetzung, dass die Mitarbeiter*innen und die Leitung es erlauben, dass Laien auf Augenhöhe mitforschen und gestalten.
Beispiel Auf der Seite buergerschaffenwissen.de werden vielfältige Projekte vorgestellt, unter anderem ein Kunstgeschichtliches Projekt des Instituts für Kunstgeschichte der Universität München. Es geht darum, Werke der Malerei und der bildenden Kunst durch einfache Beschreibungen von Laien zu charakterisieren und dadurch eine Datenbank aufzubauen. Das Ganze ist als ein Spiel mit Wettbewerbscharakter angelegt, bei dem die Ergebnisse sofort als Suchworte für die Kunstwerke genutzt werden. Das Museum für Naturkunde in Berlin hat ein Projekt namens »Naturkunde 365/24« gefördert aus dem Europäischen Fonds für regionale Entwicklung (EFRE) ins Leben gerufen. Dabei geht es um ein multimediales Applikationslabor. Dieses wird entwickelt zusammen mit kleinen und mittelständischen Unternehmen (KMU) aus der Berliner Kultur und Medienwirtschaft. Durch diese neuen Partnerschaften bekommt das Museum auch tiefere Einblicke in das kreative Schaffen (Museum für Naturkunde 2019).
Agiles Handeln und Innovationsorientierung im Kulturbetrieb
Neue Arbeitsprofile Basis des Veränderungsprozesses ist wie in Abbildung 1 beschrieben die Auseinandersetzung mit einer Definition der Rolle, die das Museum einnehmen soll. Wenn es zu einer Veränderung der Rolle hin zu einem aktiveren Knotenpunkt in der Stadtgesellschaft kommt, ist Teil der Veränderung eine neue Sicht auf bestehende Stellenprofile und die Schaffung von neuen Arbeitsprofilen. Parallel zu der seit einigen Jahren zu beobachtende Tendenz großer profitorientierter Unternehmen, so genannte Community-Manager4 zu besetzen, sollten auch in Museen neue Arbeitsprofile entstehen, die die Vernetzung in die Gesellschaft als Hauptaufgabe haben. Dazu gibt es bereits gute Beispiele für Umorientierungen in Kultureinrichtungen, angeregt nicht zuletzt von Stiftungen und neu aufgelegten Förderungen. Diese ersten Schritte müssen weiter fortgesetzt werden, was auch wiederum eine Bereitschaft der Länder, Städte und Kommunen voraussetzt, Änderungen im Stellenplan zu unterstützen.
Beispiel Die Kulturstiftung des Bundes hat seit einige Jahren ein Förderprogramm für Kultureinrichtungen ins Leben gerufen: den sogenannten 360° – Fonds für Kulturen der neuen Stadtgesellschaft (Kulturstiftung des Bundes 2019). Unter anderem werden dort bis zu vier Jahre lang Stellen von »360°-Lotsen« gefördert. Deren Aufgabe ist es gemeinsam mit der Institution Vorschläge und Maßnahmen zu erarbeiten, wie sich die Institutionen diversifizieren und einen Beitrag zu einer selbstbewussten, Einwanderern gegenüber offenen Gesellschaft so gestalten können, dass die Stadtgesellschaft davon profitiert. Angelehnt daran hat auch die Stadt Osnabrück und das Museumsquartier Osnabrück (co-finanziert durch zwei Stiftungen) einen Museumslotsen geschaffen. Hier ist die Definition der Vernetzung etwas breiter angelegt, aber auch fokussiert auf der Diversität der Stadtgesellschaft (Osnabrück 2019).
4 Z.B. Xing, Google, Facebook, etc.
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Gründe des Scheiterns Die schönste Strategie nutzt wenig, wenn die Kultur sich dagegen sträubt (Hofert/Thonet, 2018: X). Es geht immer um einen iterativen Kulturwandel, denn Veränderung kann man nicht verordnen, man kann sie initiieren und begleiten (ebd.: 4).
Verweigerung der Mitarbeitenden Wenn die Mitarbeitenden nicht mitgenommen werden auf die Reise und sich selbst auch nicht verändern wollen, wird jeder Wandel zu einer agileren Organisation zum Scheitern verurteilt sein. Eine wichtige Rolle spielen dabei die Führungskräfte und ihr Führungsstil. Denn nur wenn die Leitung die Veränderung hin zu Agilität unterstützt, vorlebt und die Transformation begleitet, hat die Organisation eine Chance (ebd.: 24). Das eine ohne das andere funktioniert nicht: Weder transformationale Führung ohne Mitarbeiter*innen, die einen Sinn in der Arbeit sehen, noch eine streng autokratische Führung, die die Veränderungsbereitschaft der Mitarbeitenden drosselt, sind erfolgsversprechende Konzepte. Veränderungsprozesse jeder Art lösen Ängste bei den Beteiligten aus – diese Ängste müssen ernst genommen und im besten Falle aufgelöst werden.
Fehlende Begleitung (von außen) Veränderungen ohne eine passende Begleitung sind öfter zum Scheitern verurteilt. Das muss nicht immer eine externe Begleitung bedeuten, oftmals ist es allerdings hilfreich, jemanden mit einem objektiveren Blick an der Seite zu haben. Wenn eine interne Begleitung von der Leitung bevorzugt wird, so muss gewährleistet werden, dass die interne Person, die mit der Begleitung beauftragt wird, genug Ressourcen zur Verfügung hat.
Arbeitsrechtliche Restriktionen Im öffentlichen Kulturbetrieb kommen die Restriktionen des öffentlichen Dienstes hinzu. Viele der Museen unterliegen diesen zum Teil starren Strukturen, die nur selten als unterstützende Strukturen für Wandel angesehen werden können. Diese Restriktionen schließen eine Änderung nicht aus, können sie aber verlangsamen.
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Kulturverwaltung und Kulturpolitik Die Verwaltung und die Kulturpolitik sind weitere Faktoren, die selbst oft in starren Systemen verharren. Sie müssen in dem Veränderungsprozess hin zu mehr Agilität ihre eigenen Grenzen überschreiten. In den politischen Strukturen und auch den Verwaltungsstrukturen muss ein grundsätzliches Verständnis vorhanden sein für solche Veränderungsprozesse und im besten Falle müssen Ressourcen für solche Veränderungen von der Leitung freigesetzt oder zur Verfügung gestellt werden.
Fehlerkultur/Kultur des Scheiterns Grundlegend ist in der Organisation, aber auch in der Kulturverwaltung die Haltung gegenüber Fehlern, gegenüber Scheitern. Erst wenn Fehler und Scheitern als Prozesse oder Schritte auf dem Weg des Erfolges angesehen werden, kann sich die agile Organisation optimal entfalten. Die positive Kraft und Energie, die aus Fehlern entstehen kann, wird zu oft unterschätzt. Gerade die Iteration der Prozesse im agilen Handeln ermöglicht ein positiv besetztes Scheitern, das im zweiten und dritten Versuch zu neuen Lösungen führen kann. Im künstlerischen Prozess vollzieht sich diese Iteration fast schon automatisch und ist nicht negativ konnotiert.
Der Praxistest Um diese Theorien und Aussagen zumindest stichprobenartig zu überprüfen, wurden im Rahmen einer nicht repräsentativen Umfrage elf Museumsleitungen bundesweit anonym befragt, wie sie ihre eigene Agilität einschätzen. Bei den Museen handelt es sich um Museen mit kleiner Mitarbeiterzahl (5) bis zu sehr großer Mitarbeiterzahl (1.000). Die befragten Museen waren Teilnehmer eines Treffens für Museumsleitungen. Ausgefüllt wurden die Fragebögen von der künstlerischen oder der wissenschaftlichen Leitung. Die weiteren Ausführungen sind alle der Auswertung der Fragebögen entnommen. Insgesamt wurden zehn Fragen gestellt, die wichtigsten Antworten werden im Folgenden zusammengefasst: Vier der Befragten finden, dass ihr Haus eine f lache Hierarchie hat, drei sehen bei sich eine sehr hierarchische Struktur. Der Mittelwert aller Antworten liegt bei 47 Punkten (wobei 100 Punkte die f lache Hierarchie beschreibt und 0 Punkte die starke Hierarchie).
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Der Durchschnitt der befragten Museen sieht seine Agilität im unteren Drittel (der Mittelwert liegt bei 38 Punkten, wobei 0 Punkte nicht agil, 50 Punkte agil und 100 Punkte sehr agil bedeutet). Diejenigen, die sich selbst eine eher f lache Hierarchie attestiert hatten, haben auch ähnlich hohe Werte bei der Agilität eingesetzt. Die stärker hierarchischen Museen geben auch weniger Agilität an. Hier kann man also eine Korrelation zwischen Hierarchie und Agilität sehen. Die befragten Leitungen nennen als Aspekte der Agilität: Flexibilität, schnelle Reaktionsfähigkeit, wechselnde Hierarchien, Dynamik und Initiativenreichtum. Es wird einmal angemerkt, dass Agilität stark im Kontrast zum öffentlichen Dienst steht und der dortigen stark begrenzten Flexibilität der Arbeitsprofile. Und es wird einmal angemerkt, dass motivierte Beschäftigte in einem agilen System wachsen können, dass aber eher hierarchisch orientierte, nicht so motivierte Mitarbeiter sich »unauffällig verkrümeln« können. Als größte Hindernisse werden Tradition und Bequemlichkeit genannt, neben der Angst und der Unsicherheit. Weiter ist die Besitzstandssicherung ein Thema und die Zeit, die aufgewandt werden muss, um solche Veränderungen zu realisieren. Die Bereitschaft der Führungskräfte Veränderungen zu initiieren, liegt im Mittel bei 72 Punkten (wobei 100 Punkte eine sehr hohe Bereitschaft aussagt und 50 Punkte eine generelle Bereitschaft). Die einzelnen Antworten variieren sehr, auffällig ist lediglich, dass die Leitungskraft die eine starke Hierarchie für ihr Haus attestiert und diese auch gut findet (Antwort auf die Frage, ob das Level an Hierarchie richtig ist), sehr wenig Bereitschaft hat, Veränderungen anzustoßen. Die Bereitschaft der Mitarbeiter*innen Veränderungen aktiv umzusetzen wird von den Leitungen als deutlich geringer als die Bereitschaft der Leitungen angesehen. Hier wird ein Mittelwert von 48 Punkten (wobei 50 Punkte »bereit« und 100 Punkte »sehr bereit« aussagen) benannt. Nur bei zwei Antworten liegen die Werte des eigenen Veränderungswillens und der der Mitarbeitenden nah beieinander, bei allen anderen Antworten sind große Diskrepanzen zu sehen. Mit einem Durchschnittswert von knapp 60 Punkten trauen die Leitungskräfte ihren Mitarbeiter*innen eine gewisse Fähigkeit zu, ihr eigenes Tätigkeitsfeld in Zusammenhang mit dem gesamten Museum zu setzen und dementsprechend ihren Verantwortungen entsprechend für das gesamte Museum zu handeln (50 Punkten entspricht einer gewissen Fähigkeit und
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100 Punkte einer sehr ausgeprägten Fähigkeit). Hier liegt ebenfalls eine sehr geringe Streuung vor, fast alle Antworten bewegen sich auf der gleichen Höhe. Auf die Frage, für wie zukunftsfähig sie die Organisation hielten, lagen die Antworten im Schnitt bei einem Wert von knapp 60 Punkten (50 Punkte entspricht einer generellen Zukunftsfähigkeit und 100 Punkte eine sehr hohe Zukunftsfähigkeit). Gefragt, wie sehr diese Zukunftsfähigkeit mit der Organisationsstruktur zusammenhängt, ergibt sich das gleiche Bild: knapp 60 Punkte (wobei 50 Punkte einen gewissen Zusammenhang ausdrücken und 100 Punkte einen sehr hohen Zusammenhang). Der Praxistest unterstreicht die theoretischen Grundlagen dieses Artikels und zeigt auf, dass die Leitungskräfte in der Realität eine ähnliche Sichtweise von Agilität internalisiert haben wie sie in der Theorie vorherrscht. Weiterhin zeigen die Ergebnisse, dass die angeführten Gründe des Scheiterns und auch die Bereitschaft sich zu Verändern in der Realität ähnlich aufgezeigt werden. In Bezug auf die Ausprägung der Hierarchie weicht die Stichprobe von der Annahme ab, dass die meisten Museen stark hierarchisch angelegt sind. Die Ergebnisse unterstreichen, dass nicht alle Museen die Notwendigkeit sehen, eine andere hierarchische Struktur einzuführen. Besonders interessant ist die Selbsteinschätzung, dass die Leitungskräfte eine höhere Bereitschaft zur Veränderung aufweisen als die Mitarbeitenden.
Fazit Deutlich wird, dass Museen vielfältige Möglichkeiten haben, um Agilität und Innovation in ihre Strukturen zu implementieren. Es ist keine Frage der Machbarkeit, sondern eine Frage der Sinnhaftigkeit und des Veränderungswillens. Veränderung um der Veränderung willen kann ähnlich schädlich sein wie das Verharren in verkrusteten Strukturen. So muss jede Institution für sich die Struktur finden, die ihrem Ziel und ihrer Vision am dienlichsten ist. Dazu gehört die Ausbildung von Führungskräften, die die unterschiedlichen Strukturen kennen und aus dem Füllhorn der Instrumente auswählen können, um das Museum der Zukunft zu steuern. Da im Museumsbetrieb noch oft wissenschaftliche sowie künstlerische Leitungen vorherrschen, bedeutet dies auch eine Veränderung der wissenschaftlichen und künstlerischen Ausbildung. Programme wie museion 21 der
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Töpfer Stiftung (Museion 21 2019) in Hamburg sind wichtige Bestandteile einer sich verändernden Führungsgeneration. Aber dies kann nicht einzig im Weiterbildungsbereich verbleiben, sondern muss auch in der universitären Bildung Wurzeln schlagen. Museen können und sollen Momente der Disruption für sich nutzen. Aus temporären Schließungen können Möglichkeiten entstehen, gerade auch für die Planung von agilen Strukturen intern oder innovativen Ansätzen zur Publikumsansprache oder Wirkungsmessung extern. Raum für Experimente entsteht, in dem auch neue Formen der (Zusammen-)Arbeit gesucht und gefunden werden. Gerade in Zeiten der Krise erkennen die Organisationen ihre Stärken und Schwächen intensiver und können an Veränderungen arbeiten. Jede Veränderung muss auf einer Überprüfung des strategischen Weges fußen. Was soll erreicht werden? Und welche Veränderung muss dafür stattfinden. Zugrunde liegt also immer die Verortung der eigenen Ziele des Museums, um so die passende Organisationsstruktur und den passenden Grad der Agilität zu finden.
Kleines Glossar der Begrifflichkeiten Soziokratie Ausgangspunkt des soziokratischen Organisationsmodells ist die Vorstellung, dass »eine Organisation eine Gemeinschaft von Menschen darstellt, die eine Vision (für die Gesellschaft) haben und gemeinsame Ziele verfolgen. Ziel ist, anstelle der hierarchischen eine demokratische Führung aufzubauen und ein Modell für substanzielle Mitarbeiterbeteiligung zu finden.« (Glatz/Graf-Götz 2011: 110) Endenburg entwickelte in den 1960er Jahren, beeinf lusst von Boeke das soziokratische Modell, um eine Demokratisierung seines Unternehmens zu erreichen, in welchem Mitarbeiter*innen und Führungskräfte partnerschaftlich und effektiv zusammenarbeiten (vgl. Rüther 2010: 8). Das Modell geht davon aus, dass Menschen Verantwortung für ihre Organisation übernehmen, was sich in den Grundprinzipien des Modells widerspiegelt: Gleichwertigkeit aller Beteiligten, Selbstorganisation und -verantwortung von Personen und Teams, Transparenz, Fairness und Gerechtigkeit, Effizienz und Effektivität, wie auch Empowerment und Wachstum von Menschen (vgl. Glatz/Graf-Götz 2011: 110).
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Die Mitglieder der jeweiligen Kreise entscheiden gemeinsam und autonom auf der Basis von Gleichwertigkeit über Rahmenbedingungen und Grundsatzentscheidungen. Demzufolge verliert die Führungskraft die alleinige Entscheidungsgewalt über Richtung und den Rahmen der Organisation (vgl. Rüther 2010: 31). Innerhalb der einzelnen, auf jeder Ebene der Organisation eingerichteten Kreise, finden diese Entscheidungen alle vier bis sechs Wochen für den jeweiligen Wirkungsbereich statt. Ein Kreis ist eine semi-autonome, selbstorganisierte Einheit mit einem gemeinsamen Ziel, welches durch den nächst höheren Kreis bestimmte Richtlinien erhält und dabei auf seinen jeweiligen Wirkungsbereich begrenzt ist (vgl. ebd.: 29). Die Realisierung des operativen Geschäfts wird weiterhin durch die lineare Struktur gewährleistet, welche jedoch an die Entscheidungen des Kreises gebunden ist (vgl. ebd.).
Holokratie Holokratie (auch Holakratie genannt oder im Englischen holacracy) bezeichnet eine Weiterentwicklung der Soziokratie, in der die Organisation nur noch aus Kreisen besteht. Die Weiterentwicklung wurde durch Brian Robertson 2006 erarbeitet (vgl. Rüther 2018). Die Circle Organisation ersetzt die Linienhierarchie vollkommen (vgl. Goyk/Grote 2017: 81). Grundsatz ist auch hier die Autonomie und Eigenverantwortung der Mitarbeiter*innen. Der einzelne Beschäftigte hat dabei nicht nur eine Rolle inne, sondern kann und muss mehrere Rollen in den unterschiedlichen interdisziplinär zusammengesetzten Kreisen übernehmen (vgl. Bernstein et al. 2016: 13). So kann Person X, die aus dem Bereich Finanzen kommt, in dem Kreis der kulturellen Bildung eine kleine Rolle übernehmen, die lediglich das zur Verfügung stehende Budget im Auge behält. Im Finanzkreis kann die Person X dann die leitende Rolle des Controllers übernehmen, der maßgeblich strategisch das Gesamtbudget zusammenstellt, und im Kreis Fundraising wiederum übernimmt Person X die beratende Rolle in Bezug auf steuerrechtliche Betrachtung von Spenden. Das gibt vielen die Möglichkeit, sich weiterzuentwickeln und neue Perspektiven aufzubauen. Es setzt aber auch eine grundsätzliche Flexibilität und den Willen der Eigenverantwortung voraus (vgl. Bernstein et al. 2016: 2).
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Liniensystem Von einem Liniensystem ist dann zu sprechen, wenn es eine klare Hierarchie und ein Top-Down-System gibt. Entscheidungen werden von oben bzw. von der Leitung getroffen und nach unten durchgesetzt. Eine Kommunikation von unterer Mitarbeiterebene nach oben findet nur über die jeweiligen Vorgesetzten statt.
Agiles Projektmanagement — Scrum Scrum ist eine agile Methode, die Iterationen nutzt, um Prozesse immer wieder zu überprüfen und zu dem bestmöglichen Ergebnis zu kommen (vgl. Bibik 2018: 12). Es gibt hier unterschiedliche Rollen, die das Team und den Prozess gestalten (Schwaber/Sutherland 2013: 5ff.): So gibt es den Produktverantwortlichen (Product Owner), das Entwicklungsteam und den Scrum Master. Der Product Owner ist zuständig für die (quantitative und qualitative) Wertmaximierung des Produktes und für das Steuern des Entwicklerteams. Er schreibt das Backlog (so etwas wie die Wissensdatenbank des Projektes). Die Entwickler arbeiten danach und respektieren die Entscheidungen des Product Owners (vgl. ebd.: 5). Das Entwicklerteam besteht aus interdisziplinär arbeitende Expert*innen, die eigenverantwortlich das Produkt (weiter-)entwickeln (vgl. ebd.: 6). Der Scrum Master ist ein Dienstleister5 für das gesamte Team, er ist für das Verständnis und die Durchführung zuständig. Er erklärt auch denjenigen, die nicht Teil des Teams sind, welche Interaktionen hilfreich sind und welche nicht (vgl. ebd.: 7). Als Beispiel für die zeitlich begrenzte Iteration im Prozess sei hier der sogenannte Sprint beschrieben: Der Sprint ist ein zeitlich festgelegter (maximal einen Monat andauernder) Zeitabschnitt, in dem das vorher definierte Ziel erreicht werden muss. Während des Sprints werden keine Änderungen vorgenommen, die das Ziel gefährden könnten. Es entsteht ein Scrum-Plan, der gemeinsam im Team erstellt wird (vergleichbar mit einem Projektplan, nur eben auf einen Monat heruntergebrochen). Darüber hinaus gibt es ein tägliches kurzes Meeting von 15 Minuten (das Daily Scrum), in dem Aktivitäten 5 Der dienende Führungsstil ist schon sehr alt, viele alte Monarchien haben ein Verständnis, dass Führung bedeutet, dem Volk zu dienen. In einem neueren Kontext hat Greenleaf 1970 den dienenden Führungsstil wieder in die Diskussion gebracht Dabei hat er zehn Faktoren benannt, die einen dienenden Führer ausmachen: Zuhören, Empathie, Heilen, Bewusstmachen, Überzeugung, Konzeptionierung, Voraussicht, Stewardship, Unterstützung der Weiterentwicklung von Menschen und Gemeinschaft bilden (vgl. Stone/Gandolfi 2018).
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synchronisiert werden und der Plan für die nächsten 24 Stunden überprüft wird. Als Elemente der Evaluation gibt es am Ende jeden Sprints eine Sprint Review und eine Sprint Retrospective, um Lerneffekte zu erhalten (vgl. ebd.: 13). Scrum ist aus der Metaperspektive gesehen eine Projektmanagementmethode für Teams, die unter unsicheren Rahmenbedingungen arbeiten und möglichst f lexibel auf Änderungen eingehen müssen. Elemente aus der Evaluation und dem Qualitätsmanagement gepaart mit klarer Aufgabenverteilung, einem restriktiven Zeitmanagement und einem kontinuierlichen Abgleich von gesetzten Zielen und Erreichtem kommen hinzu und perfektionieren so das agile System. Anhand dieses Beispiels wird deutlich, dass Agilität und agile Systeme bedeuten, dass durch strikte Systeme (Daily Scrums, das penibel geführte Backlog etc.) eine erhöhte Flexibilität und Dynamik entstehen kann.
VUCA — Volatile Umwelt Das amerikanische US Army War College entwickelte Anfang der 2010er Jahre das Akronym VUCA, um unsere heutige disruptive Zeit zu beschreiben. VUCA steht für volatile, uncertain, complex, ambiguous – unberechenbar, unsicher, komplex, ungewiss, mehrdeutig. Diese Symptome der heutigen Arbeitswelt haben einen großen Einf luss auf die Art der Führung von Organisationen und auch auf die Zusammenarbeit der unterschiedlichen Generationen (vgl. Casey 2014: 32ff.). Wenn man als Organisation in einer solchen disruptiven Umgebung erfolgreich sein will, sind laut Sarkar unter anderem folgende Faktoren essentiell (vgl. Sarkar 2016: 9)© Emerald Group Publishing Limited. Purpose: This paper aims to describe the role of responsible leadership in a VUCA (volatile, uncertain, complex and ambiguous: • • • • • •
Innovation Schnelle Reaktionen Flexibiltät Change management Diversität Ausgeprägte Kollaboration.
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»How might me…?« Design Thinking für neue Impulse in Museen Judith Bauernfeind, Paul Beaury »…und was hat das mit mir zu tun?« Wir beobachten aktuell eine Veränderung der Institution Museum. Teils stoßen Häuser ihre Türen weit auf, räumen ihre Vitrinen leer, um sie in partizipativen Prozessen füllen zu lassen und verhandeln in co-kuratierten Ausstellungen zeitgenössische Themen. Andere museale Institutionen wiederum suchen in dem Prozess, in dem die Grenzen zwischen Museen und anderen Kulturinstitutionen als Orten des öffentlichen Diskurses zu verschwimmen scheinen, nach Handlungsanweisungen und Orientierungshilfen. Es herrscht zum Teil große Ratlosigkeit bei Museumsschaffenden und Kulturakteur*innen, was ein Museum ist, was es sein kann und was es sein soll. Gleichzeitig nehmen wir auch wahr, dass viele Menschen durch Museen und ihre Inhalte nicht mehr erreicht werden. Auf den ersten Blick fehlt hier oftmals die Relevanz der ausgestellten Objekte, der Zugang zu Themen und somit der Rückbezug in die eigene Lebensrealität. Museale Räume konkurrieren zudem mit anderen Freizeitgestaltungsmöglichkeiten, mit digitalen Angeboten oder stellen finanzielle und soziale Barrieren dar. Eintrittspreise stellen hierbei beispielsweise Hürden dar, die einen Besuch verhindern können. Wir glauben jedoch an Museen als relevante Orte der Gesellschaft, des Austausches und der Sicherung von Wissen. Als Gestalter*innen haben wir es uns zum Ziel gesetzt, Alltagsbezüge in Ausstellungsprojekten zu erkennen, diese herauszuarbeiten und so Räume zu schaffen, in denen Besucher*innen zu vielfältigen Themen ins Gespräch kommen. Wir entwickeln Wege, um Objekte und Dinge angemessen zu präsentieren. Zeitgleich streben wir an, niedrigschwellige Zugänge zu verwirklichen, die die Annäherung an die im Museum präsentierten Geschichten erlauben – und es so er-
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möglichen, Neues zu erfahren. Unsere kulturwissenschaftliche Perspektive wird von Theorien des Sammelns und Ausstellens bestimmt, ebenso wie von der Entwicklungsgeschichte von Museen und Fragen nach Repräsentation und Sichtbarkeit, Identität und Institutionskritik. Wir schätzen den Wert von Objekten und Sammlungen als Wissensspeicher und möchten andere dafür begeistern. Design Thinking stellt hier eine Methode dar, die maßgeblich dazu beitragen kann, sich den Menschen im und außerhalb des Museums zuzuwenden, um ihre Bedürfnisse zu erkennen und als Institution darauf zu reagieren.
Was ist Design Thinking? Zur Theorie Bislang existiert für das Konzept des Design Thinking keine einheitliche und allgemeine Definition. Vielmehr lassen sich zwei unterschiedliche Diskurse beobachten: So formierte sich ab der Mitte des 20. Jahrhunderts eine Theoretisierung des Feldes Design, deren Ziel darin liegt, Praktiken und Techniken des designerischen Arbeitens zu erforschen (Hassi/Laakso 2011). Dieser DesignDiskurs, der 1961 mit den Arbeiten Herbert Simons seine Anfänge nahm, konzentriert sich vorrangig auf die Aspekte der Problemlösungen im und durch Design und ist stark praxeologisch ausgerichtet. Das Ziel der Theoretiker ist es, Muster und Regelmäßigkeiten im Arbeiten von Designer*innen zu erkennen und daraus eine Epistemologie der (designerischen) Praktiken zu entwickeln. Einzelne Analysen fokussierten sich in der Folge entweder darauf, die allgemeine Vorgehensweise von Designer*innen bei ihrer Arbeit zu erforschen, während andere Publikationen den Fokus auf konkrete Einzelbeispiele richteten und daraus allgemeine Muster abzuleiten versuchten. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich der frühe Design-Diskurs vorrangig damit befasste, wie Designer*innen sich in ihrem praktischen Arbeiten zunächst selbst »Probleme« definieren, Lösungen für diese entwickeln und sie schließlich im aktiven Anwenden überprüfen und die Lösungen gegebenenfalls nachbessern. In der Wiederholung dieser Einzelschritte entsteht letztlich das fertige Design – ob Produkt, Architektur oder auch Musikstück (vgl. Johansson/Woodilla 2010). Um die Jahrtausendwende setzt jedoch der Trend ein, dem der Begriff Design Thinking seine aktuelle Präsenz verdankt: Design Thinking löst sich in
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der historischen Folge aus dem ursprünglichen Bezugssystem der kreativen Disziplinen und wird auf den Management Bereich übertragen (vgl. Hassi/ Laakso 2011). Anstatt epistemologischer Fragestellungen und philosophischer Betrachtungen rücken das Innovationspotenzial und die neue Form der Problemlösung, die Design Thinking verspricht, in den Mittelpunkt des Interesses. Infolgedessen werden die Anwendungsbereiche des Design Thinkings auf Aspekte der Unternehmensführung erweitert und finden beispielsweise in der Strategieplanung und im Marketing neuen Einsatz (vgl. Johansson/Woodilla 2010).Während Design im konventionellen Wortgebrauch oftmals als reine Ästhetisierung verstanden wird, bezieht sich das sogenannte Design Thinking im Sinne der beschriebenen Trend- und Begriffswende auf den weitaus größeren Rahmen einer Methode zur kreativen Problemlösung und zur Konzeption neuer Ideen. Diese Anwendung des Design Thinking wird maßgeblich von Akteuren wie dem Industriedesigner Tim Brown und seiner Agentur Ideo sowie von Unternehmer und SAP-Begründer Hasso Plattner an seinem Institut in Potsdam und der Stanford Universität in Palo Alto vertreten. Aus der Zusammenarbeit Hasso Plattners mit der Stanford Universität ging zudem die d.school der Standford Universität hervor, ein Institut, das sich dem designerischen Arbeiten verschrieben hat. Grundsätzlich zielt der aktuelle Ansatz darauf ab, mithilfe kreativer Techniken Probleme zu identifizieren, diese zu erforschen und schließlich in innovative Lösungen zu überführen (vgl. Grots/Pratschke 2009: 18-23). Hierbei werden kreative und analytische Herangehensweisen kombiniert (Larson 2017: 377). Grundlegend kann Design Thinking also sowohl als ein Prozess mit vorgegebenen Arbeitsschritten als auch als übergeordnete Haltung im Sinne eines designerisch-offenen Mindsets verstanden und angewandt werden (vgl. Hellgren 2015: 22).
Wie kommen wir ins Gespräch? Design Thinking und die Annäherung an die Besucher*innen Die kreative Innovationsmethode bietet die Chance, auf vielfältigen musealen Ebenen anzusetzen, um das eigene Angebot selbstref lexiv zu hinterfragen. Angesichts der Komplexität der musealen Situation, die von zahlreichen Akteur*innen mit unterschiedlichen Wünschen, Bedürfnissen, aber auch Barrieren geprägt ist, ermöglicht die Methode des Design Thinkings,
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diese abzufragen und daraus neue Lösungen abzuleiten. Die Einsatzmöglichkeiten reichen hierbei von der Öffentlichkeitsarbeit über die Organisation des internen Wissensmanagements bis hin zu den Öffnungszeiten des Museumsshops. So war für uns beispielsweise die Gestaltung einer Sonderausstellung zum Ersten Weltkrieg und zu seinen Auswirkungen in der Stadt Cottbus der Impulsgeber für ein spontanes Design Thinking Experiment vor den Türen des eigenen Studios. In einer ersten, komplett offenen und anonymen Abfrage wollten wir erste Assoziationen und individuelle Eindrücke von Menschen zum Thema des Ersten Weltkriegs sammeln. Das so kein vollständiges Bild entstehen kann, war von Beginn an klar. Vielmehr ging es uns darum, neue Methoden zu testen und auszuprobieren, wie man die Phase 1 eines Design-Thinking-Prozesses – das Verstehen – innovativ umsetzen konnte. Dabei wurden wir von mehreren Fragen vorangetrieben: Welche Bedeutung hat der Erste Weltkrieg heutzutage – 100 Jahre später – für Einzelpersonen? Wo sehen die Menschen individuelle Anknüpfungspunkte, welche Bilder sind im kollektiven Gedächtnis verankert und welche Assoziationen werden wachgerufen? Wir klebten ein Plakat mit auffälligem, neon-orangen Tape an die schwarzen Fenster des Berliner Nachtclubs neben unserem Büro. Auf der weißen Plakatf läche verknüpften sich grafische, stilisierte Post-Its – Pfeile und Striche bildeten Verbindungen zwischen den einzelnen Kästchen, führten zu Fragezeichen oder endeten offen. In der Mitte prangt in Großbuchstaben die zentrale Frage: »Was verbindest du mit dem Ersten Weltkrieg?« Das »du« war mit orangefarbenen Textmarker umkreist. An einem Faden baumelte ein schwarzer Stift. Die Kästchen waren leer. Alle Passanten konnten kommentieren. Offen war zu diesem Zeitpunkt jedoch: Würden die Passanten diese Chance auch tatsächlich nutzen und kommentieren? Der vorliegende Text ist als eine erste Bestandsaufnahme gedacht und als ein Versuch, das Feld des Design Thinkings im Museum zu sondieren. Um das Museum und die Innovationsmethode erfolgreich zusammendenken zu können, werden zunächst die aktuelle Situation und die Herausforderungen der Institution Museum in den Blick genommen. Im Anschluss wird genauer auf die Methode und Vorgehensweise bei Design Thinking eingegangen. Ein schemenhaftes, gedankliches Fallbeispiel zeigt auf, wie ein Design-Thinking-Prozess im Museumskontext ablaufen könnte, bevor mögliche Chancen und Hürden bei der Implementierung genauer verhandelt werden.
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Wo stehen Museen heute? Fragt man nach den Aufgaben und konstituierenden Momenten eines Museums, sieht man sich mit zahlreichen Begriffsbestimmungen konfrontiert, die zum Teil unterschiedliche Schwerpunkte setzen. Eine weitgehend als verbindlich angesehene Definition bietet das International Council of Museums (ICOM, deutsch: Internationaler Museumsrat) seit 2007: Laut ICOM handelt es sich bei einem Museum um »eine dauerhafte Einrichtung, die keinen Gewinn erzielen will, öffentlich zugänglich ist und im Dienst der Gesellschaft und deren Entwicklung steht. Sie erwirbt, bewahrt, beforscht, präsentiert und vermittelt das materielle und immaterielle Erbe der Menschheit und deren Umwelt zum Zweck von Studien, der Bildung und des Genusses.« (ICOM 2019: 13.02.2019)1 Doch zeichnet sich auch hier ein Wandel ab: So regte das Standing Committee for Museum Definition, Prospects and Potentials (MDPP) des ICOM zum Jahresende 2018 eine Neuverhandlung der Museums-Definition an, die bis Mitte des Jahres 2019 zum Teil partizipativ erarbeitet wurde. Die Empfehlungen des MDPP machten hierbei deutlich, dass die bestehende Einordnung der Institution Museum der aktuellen globalen Situation in ihren gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Ausprägungen nicht mehr entspricht und Handlungsbedarf besteht. (Vgl. MDPP 2018: 21.02.2019) Museen sehen sich gegenwärtig unterschiedlichen Herausforderungen auf mehreren Ebenen gegenübergestellt. Neben den basalen Grundaufgaben Sammeln, Bewahren, Forschen, Präsentieren und Vermitteln geht es unter anderem darum, als Institution den Ansprüchen einer diversen Besucherschaft zu begegnen: Kern-Besucher*innen, das heißt die Besucher*innen, die Museen regelmäßig besuchen, sollen und möchten gehalten werden, neue Zielgruppen angesprochen werden. Museen möchten finanziell sichere Rahmenbedingungen schaffen und zugleich relevant sowie wettbewerbsfähig bleiben (vgl. Scharf/Wunderlich/Heisig 2018; vgl. Renz 2014: 22ff.). Eine neue, kritische und selbstref lexive Museologie, aktivistische Interventionen, Erkenntnisse der Wissens- und Wissenschaftsgeschichte wie der Disziplinen- und Institutionsgeschichte führen dazu, dass Museen in ihrem epistemologischen, historischen wie aktuellen Selbstverständnis in Bewegung geraten (MDPP-Empfehlungen 2018: 8). Hier schließen sich die partizipati1 Es handelt sich hierbei um die sinngemäße Übersetzung des juristisch bindenden, französischen Textes der Statuten von ICOM von 2007.
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ven Prozesse, Initiativen zur kulturellen Teilhabe sowie die Bestrebungen sozialer Inklusion der Museen an. In der Summe ziehen diese Entwicklungen inhaltliche und somit auch thematische Öffnungen der Museen nach sich. Es tauchen neue Stimmen und vielfältigere Positionen im Museum auf. Diese entstehen, da aufgrund einer Öffnung über neue Zielgruppen politische, künstlerische, gesellschaftskritische, aktivistische oder aber auch vormals marginalisierte Perspektiven an Museen herangetragen werden. Damit wird zugleich eine Debatte über den Stellenwert individuellen Wissens, über Erfahrungswerte und Expertentum angestoßen und vorangetrieben (vgl. Gesser et al. 2012: 11). In der verknappenden Dichte dieser Aufzählung erscheinen die Anforderungen an ein Museum als Konglomerat aus wirtschaftlichen, politischen, kulturellen, sozialen und institutionsinhärenten Aspekten. Es wäre vermessen und würde der Relevanz der einzelnen Teilbereiche nicht Genüge tun, hier eine universelle Allgemeinlösung formulieren zu wollen. Doch zeigt sich im Überblick, dass die Institution Museum in ihren Strukturen und Inhalten nicht als ein losgelöstes, isoliertes System zu verstehen ist, sondern stets im Zusammenhang mit Menschen steht: ob mit den Besucher*innen, mit der Belegschaft eines Hauses, mit Wissenschaftler*innen, Kurator*innen, Gestalter*innen oder mit Nicht-Besuchenden (vgl. Hellgren 2015: 11). Design Thinking bietet die Chance, gerade an diesem Faktor Mensch anzusetzen.
Wie gestaltet sich ein Design-Thinking-Prozess? Zur Vorgehensweise Sowohl die Agentur IDEO als auch die d.school und die HPI School of Design Thinking in Potsdam gelten als wichtige Akteure, die die Methodik des Design Thinking im Sinne der zweiten, unternehmerisch ausgerichteten Welle seit den 2000er Jahren vorantreiben. Im Folgenden soll nun Design Thinking als Prozess genauer beschrieben werden. Die vorliegende Untersuchung greift hierbei vorrangig auf die Ansätze des Hasso-Plattner-Instituts, wie sie in Potsdam und an der kooperierenden d.school vermittelt werden, zurück (vgl. d. school bootleg 2018: 10.04.2019; vgl. Plattner et al. 2009). Indem zu Beginn jedes Design-Thinking-Prozesses die individuellen Bedürfnisse, aber auch Hemmnisse von Zielgruppen in den Fokus gerückt
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werden, sollen Lösungen entwickelt werden, die Human-centered sind. Der Ansatz des Human-centered design entstand bereits in den 1980er Jahren im Bereich der Mensch-Computer-Interaktion (vgl. Dunne 2011). In der Anknüpfung an diese Theorie stellt Design Thinking somit klar den Menschen in den Mittelpunkt des Innovationsprozesses. Anders als in anderen Innovationsprozessen, bei denen oftmals das Produkt und seine Entwicklung im Fokus stehen, richtet sich das Design Thinking dezidiert am Menschen und seinen Wünschen aus. Eine solche Fokussierung auf den Menschen und die menschlichen Bedürfnisse führt dazu, dass Empathie als der relevante Grundwert Design-Thinking-Prozesse umspannt. Eva Köppen spricht in diesem Zusammenhang davon, dass Empathie nicht als eine automatische Reaktion, sondern als das aktive Einnehmen einer offenen und unvoreingenommenen Geisteshaltung gegenüber einer Zielgruppe zu verstehen ist (vgl. Köppen 2017: 119). Vor diesem Hintergrund können die unter der Abkürzung 3P gefassten Grundprinzipien des Design Thinking entwickelt und umgesetzt werden: People, Place und Process.
#1 People oder: Wer denkt gemeinsam? Ein erfolgreiches Design-Thinking-Team sollte multidisziplinär zusammengesetzt sein, um somit möglichst vielfältige Perspektiven und unterschiedliche Weltanschauungen in den gemeinsamen Prozess einbringen zu können (vgl. Schallmo 2017: 15). Hierbei können sowohl interne Mitarbeiter*innen aus den Institutionen als auch externe Personen miteingebunden werden. Gerade im Hinblick auf die Institution ist es von Vorteil, wenn Beschäftigte aus unterschiedlichen Unternehmensbereichen und Hierarchiestufen Teil des Design-Thinking-Teams werden (vgl. Grots/Pratschke 2009: 19). Es ist davon auszugehen, dass das Team von einem externen Design-Thinking-Coach oder von dem verantwortlichen Projektleitenden der Institution zusammengesetzt wird. Dabei sollte bedacht werden, dass die Zusammenstellung des Teams durch jemanden aus der eigenen Institution einen – möglicherweise unbeabsichtigten – Einf luss auf den Prozess und somit auch auf das erzielte Ergebnis hat. Dabei gelten für die einzelnen Mitglieder eines Design-Thinking-Teams Auswahlkriterien.
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So besteht das Team im besten Fall aus sogenannten T-Shape-Persönlichkeiten: Die vertikale Achse des Buchstabens T steht dabei für das Fachwissen und die Expertise der Person, während der horizontale Balken ein breites Allgemeinwissen und vielfältige Interessen symbolisiert (vgl. Poguntke 2014: 97). Wir gehen davon aus, dass letztlich jeder Mensch eine T-Shape-Persönlichkeit besitzt, die es nur zu benennen gilt. Die Gewichtung der einzelnen Achsen kann hierbei unterschiedlich ausfallen. Die Ausprägungen der jeweiligen Achsen kann möglicherweise auch erst im Teamprozess durch eine empathische, offene und sich gegenseitig motivierende Arbeitsweise zutage treten. In diesem Zusammenhang kommt zudem der designerischen Geisteshaltung eine große Bedeutung zu. Offenheit, Experimentierfreude, Optimismus, Empathie, Kooperationsfähigkeit und eine integrative Denkweise gelten im Diskurs als essenziell für designerisches Vorgehen und sind damit die Grundvoraussetzungen, die an die einzelnen Teammitglieder gestellt werden (vgl. Schallmo 2017: 16ff.; vgl. Dunne 2018: 4; vgl. Hassi/Laakso 2011: 6). Aufgrund des experimentellen Charakters des Design-Thinking-Prozesses, der wie sich später zeigen wird, bestenfalls ergebnisoffen und dynamisch abläuft, ist außerdem ein konstruktiver Umgang der einzelnen Beteiligten mit Scheitern und Fehlern entscheidend (vgl. Dunne 2018: 4; vgl. Hassi/Laasko 2011: 6).
#2 Place oder: Wo wird gedacht? Neben den menschlichen Akteur*innen kommt den Materialien, Räumen und Umgebungen im Design Thinking eine maßgebliche Rolle zu. Sie werden als Einf lussfaktoren auf den kreativen Prozess ernstgenommen. Die f lexible und ergebnisoffene Arbeitsweise der einzelnen Phasen des Design Thinking soll sich in ihnen widerspiegeln können. Konkret bedeutet dies, dass die Räumlichkeiten, in denen die Design-Thinking-Treffen stattfinden, beispielsweise mit mobilen Möbeln und Stellwänden, Post-Its sowie Kreativmaterialien ausgestattet sind (vgl. Schallmo 2017: 20). Gerade das Visualisieren einzelner Ideen besitzt im Design Thinking eine große Bedeutung (vgl. Grots/Pratschke 2009: 20; vgl. Schallmo 2017: 19). Margarete Pratschke hebt dies in Anlehnung an die Bildwissenschaft hervor, indem sie erklärt: »Die Wahrnehmung verfährt nicht passiv, sondern Sehen ist Denken – und
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in jeder visuellen Form stecken nicht nur Wissen, sondern auch Problemlösungen.« (Grots/Pratschke 2009: 22) In dem Moment, in dem kognitive Prozesse auf visueller Ebene festgehalten werden, werden sie sowohl greif bar als auch im Team verhandelbar. In raschen Skizzen sowie mithilfe von Symbolen oder prägnanten Stichworten werden die verschiedenen Vorschläge während des Design Thinkings Prozesses verdichtet. Sie werden beispielsweise auf Post-Its festgehalten. Neben konkreten Inhalten können so auch Relationen, offene Punkte und Wertungsebenen symbolisch fixiert werden oder über eine Neuanordnung der Post-Its direkt vermittelbar werden. Der Raum, in dem der Design-Thinking-Prozess stattfindet, bietet im besten Fall genügend Platz, um f lexible Gruppengrößen fassen zu können, und um die vorhandenen Flächen für Mindmaps, Ideensammlungen und Skizzen in den kreativen Denkprozess miteinzubeziehen.
#3 Process oder: Wie wird gedacht? Das zentrale Element des Design Thinking ist der Prozess. Dieser gliedert sich in sechs Stufen: Verstehen, Beobachten, Sichtweise definieren, Ideen finden, Prototypen entwickeln und Testen (vgl. Schallmo 2017: 32ff.; vgl. HPI Website 2019). Diese sechs Stufen entsprechen dem Ansatz der HPI School of Design Thinking, während an der d.school von fünf Phasen ausgegangen wird. Die Phasen der d.school werden als »empathize, define, ideate, prototype, test« bezeichnet (vgl. d. school bootleg 2018: 10.04.2019). Da beide Institutionen eng miteinander verknüpft sind, ähneln sich die Prozessphasen und ihre Ergebnisse trotz unterschiedlicher Gliederung. Im Folgenden werden zur Beschreibung des Prozesses die sechs Stufen der HPI School herangezogen. Jedes Teammitglied ist in allen Phasen beteiligt und bringt seine Perspektiven ein. Bevor der sechsstufige Prozessablauf angestoßen wird, geht es grundsätzlich zunächst darum, eine konkrete Fragestellung zu einem aktuellen Problem, die sogenannte Design Challenge zu formulieren. Üblicherweise wird diese in Form einer »How might we?«-Frage zusammengefasst. Eine solche »How might we?«-Frage kann im musealen Kontext beispielsweise lauten: »Wie können wir unsere Ausstellungen so konzipieren, dass Großeltern sie zusammen mit ihren Enkeln besuchen?« Die Ausgangsfrage setzt somit zu Beginn den Rahmen für den kommenden Prozess.
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Die erste Phase des Verstehens ist maßgeblich davon geprägt, ein möglichst umfassendes Bild des Problems zu gewinnen. Die Methoden reichen hierbei von Interviews, ersten Nutzerbefragungen bis zur Analyse der entsprechenden Literatur. Die eingehende Beschäftigung mit der Ausgangslage kann dazu führen, dass die Fragestellungen zum Ende dieser ersten Phase noch einmal nachjustiert und verändert werden muss (vgl. Grots/Pratschke 2009: 19). Hier schließt sich die Phase des Beobachtens an. Das Ziel dieser Prozessstufe ist es, die Perspektiven der ausgewählten Zielgruppe und somit der potenziellen Nutzer*innen und Kund*innen konkreter zu erfassen. Dies kann sowohl mithilfe qualitativer Analysen bereits bestehender Angebote als auch über Methoden erfolgen, die sich an ethnographische Vorgehensweisen anlehnen, wie persönliche Interviews oder teilnehmende Beobachtungen. Um im Anschluss die Sichtweise zu definieren werden die Ergebnisse der ersten beiden Prozessphasen zusammengeführt. Üblicherweise erfolgt in diesem Zusammenhang die Definition konkreter Personas. Personas stehen für idealtypische, fiktive Nutzer*innen mit konkreten Bedürfnissen und können als gedankliches Hilfskonstrukt während des gesamten Prozesses zur Überprüfung herangezogen werden: Entspricht die entwickelte Idee noch den Bedürfnissen der Zielgruppe, die durch die Persona repräsentiert wird? Würden Besucher*innen sich von dem Angebot angesprochen fühlen? Was muss ergänzt werden, was erscheint überf lüssig (vgl. Schallmo 2017: 34; vgl. HPI Website 2019: 10.04.2019)? Ausgehend von der eindeutigen Sichtweise werden im Schritt Ideen finden mithilfe von Brainstorming-Techniken unterschiedlichste Ideen und Lösungsansätze skizziert, kombiniert und ausgewertet (vgl. Schallmo 2017: 34). Der Visualisierung kommt in dieser Phase die wichtigste Rolle zu. Ideen, die als aussagekräftige Skizzen festgehalten werden, können im Anschluss zielgerichtet geclustert werden und bilden die Basis für die weiteren Phasen (vgl. Grots/Pratschke 2009: 21). Um die gewonnenen Ideen eingehend zu überprüfen, werden schließlich Prototypen entwickelt. Prototypen können in verschiedenen Komplexitätsgraden umgesetzt werden: die Bandbreite reicht von konkreten, räumlichen Modellen bis zu neuen Dienstleistungsangeboten, die ausprobiert werden. Dies leitet zur letzten Phase des Design-Thinking-Prozesses über, dem Testen. In engem Kontakt zu den Nutzer*innen werden die Prototypen erprobt und gemeinsam evaluiert. Hierbei werden Verbesserungsvorschläge und Wünsche der Testpersonen eingeholt.
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Jede der einzelnen sechs Prozessphasen bringt im Verlauf neue Erkenntnisse hervor und erweitert somit die Ausgangslage. Im Design Thinking wird der Prozess deshalb als iterative Abfolge gedacht, in der die einzelnen Phasen über Feedbackschleifen immer wieder aneinander zurückgebunden werden und so aufs Neue durchlaufen werden können. Der Design-Thinking-Prozess lebt hierbei von der raschen Entwicklung von Konzepten, der schnellen Umsetzung ausgewählter Lösungsansätze in Prototypen und Mockups und einem offenen, lernenden Mindsets aller Beteiligten. Neue Ideen, Verbesserungen oder Anpassungen können so schnell umgesetzt werden (vgl. Grots/Pratschke 2009: 22; vgl. Dunne 2018: 3).
Was kann Design Thinking für Museen bewirken? Während die Bedeutung von Design Thinking im Innovationsmanagement sowohl im deutschsprachigen als auch im internationalen Kontext in den vergangenen Jahren gestiegen ist und eine Vielzahl von Publikationen für verschiedenste Bereiche vorliegt,2 zeigt der aktuelle Forschungsstand, dass die theoretische Übertragung auf das Museum für den deutschsprachigen Raum bislang noch gänzlich fehlt. Auch eine internationale Literaturrecherche bringt lediglich vier Ergebnisse hervor: 2013 berichtete ein Team des Amsterdam Museums auf der EVA Conference in London in einem Vortrag über die Einführung eines Online-Community-Portals des Amsterdam Museums und präsentierte die damit einhergehenden Debatten. In der Entwicklung des Portals fand das Design Thinking als übergeordnete designerische Haltung Eingang in die Arbeitsweise des Museumsteams. In Rahmen des Vortrages wurde die allgemeine prozesshafte Arbeitsweise ref lektiert und als Chance für die Entwicklung partizipativer Formate in Museen vorgestellt, konkrete Arbeitsmethoden blieben hierbei jedoch unerwähnt. Drei weitere Beispiele für Design Thinking im musealen Kontext finden sich im amerikanischen Raum: So veröffentlichte Rachel Hellgren, Kommunikationsdesignerin und freie Ausstellungsmacherin, 2015 eine Masterarbeit zum Potenzial des Design Thinking im Museumsmanagement. Lucy Larson, Direktorin der Ab2 S o findet Design Thinking beispielsweise im Gesundheitssektor und Bildungswesen Anwendung (vgl. Vetterli/Jäggi: 2015; vgl. Hwee Ling Koh et al. 2015).
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teilung Bildung des Palo Alto Art Centers, beschreibt 2017 wiederum anhand eines konkreten Fallbeispiels, wie Design Thinking an ihrem Haus erfolgreich eingesetzt wurde, um ansprechendere Vermittlungsangebote für Familien mit Kindern zu entwickeln. Die Tatsache, dass die einzelnen Texte aus unterschiedlichen Disziplinen stammen, zeigt somit einerseits die Heterogenität der bestehenden Auseinandersetzung, andererseits jedoch auch die facettenreichen Potenziale des Design Thinkings. Zugleich bildet die Quellenlage die Realität der Museen und Kultureinrichtungen ab und verweist darauf, dass neue, fachfremde Methoden und die Bewegung hin zu Strukturen der New Work (vgl. Bergmann 2017; vgl. Hackl et al. 2017) erst langsam Eingang in den kulturellen Bereich finden. Lediglich die amerikanische Initiative »Design Thinking for Museums«, die aus einer Kollaboration zwischen dem San Francisco Museum of Modern Art und der d.school entstanden ist, bietet konkrete Online-Ressourcen, Tools und Coachings für den Einsatz von Design Thinking in musealen Kontexten an.3 Dieser erste Überblick wirft Fragen auf: Weshalb also sollte Design Thinking als Methode überhaupt Einzug in die Arbeit von Museen halten? Wozu können die Ansätze dienen und welche Chancen bieten sie den Kulturinstitutionen? Welches Potenzial verspricht die Methode für den kulturellen Bereich? Generell bietet Design Thinking als Innovationsmethode vielfältige Anknüpfungspunkte für Kulturinstitutionen. Je nachdem, welche Design Challenge und damit auch zentrale Frage man an den Anfang des Prozesses stellt, wendet man sich einer ausgewählten Zielgruppe und deren Bedürfnissen zu. Somit können im Museum theoretisch auch einzelne Abteilungen wie die Kurator*innen, die Vermittlung oder das Guide-System in den Blick genommen werden und interne Veränderungen angestoßen werden (vgl. Schallmo 2017: 22ff.).4 In seiner Offenheit kann Design Thinking eingesetzt werden, um von der Entwicklung passender Angebote über die Optimierung von Prozessabläufen bis zu Marketingstrategien, Digitalisierungskonzepten und Wegeführungen im Museum neue Lösungen zu erarbeiten.
3 D en Webauftritt der Initiative findet man unter http://designthinkingformuseums.net [letzter Zugriff: 10.04.2019] 4 S challmo verweist auf die unterschiedlichen Innovationsarten, denen sich das Design Thinking zuwenden kann: Geschäftsmodellinnovationen, Prozessinnovationen, Marktinnovationen, Sozialinnovationen oder Leistungsinnovationen.
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Die besondere Stärke der Methode liegt hierbei in der Fokussierung auf den Menschen. Am Ende jedes erfolgreich durchlaufenen Design-ThinkingProzesses steht ein Resultat, das von der Zielgruppe aus gedacht wurde und auf sie zugeschnitten entwickelt wurde. Dies eröffnet gerade angesichts der aktuellen Lage der Museen spannende Möglichkeitsräume. Die einleitende Betrachtung hat gezeigt, dass Museen als Institutionen einem Wandel unterliegen und sich komplexen Herausforderungen zu stellen haben. Auch Dana Mitroff Silvers, Verantwortliche der Initiative »Design Thinking for Museums«, verweist darauf, dass Museen sich in den vergangenen 30 Jahren in einem paradigmatischen Umbruch befänden: ursprünglich auf die Sammlungen fokussiert, würde sich die Museumspraxis seit den 1980er Jahre vermehrt den Besucher*innen zuwenden. Das Ziel sei es, Besucher*innen nicht länger als passive Rezipient*innen, sondern als aktive Nutzer*innen wahrzunehmen und sie als solche zu adressieren. Die aktuelle Wissens- und Informationsgesellschaft habe diese Entwicklung verstärkt und dazu geführt, dass individuellen Erfahrungen und Expertisen, Bedürfnissen und Beiträgen neue Aufmerksamkeit zuteilwerde (vgl. Silvers/Wilson/Rogers 2013). Mit diesen Argumenten schließt sie an eine breitere, aktuelle museologische Debatte an: Auch in der Partizipation im Museum, dem Audience Development, der sozialen Inklusion sowie der (Nicht-)Besucher*innenforschung geht es um den Wunsch, neue Besucher*innengruppen anzusprechen, bereits bestehende Nutzer*innen wertzuschätzen und zu halten sowie neue Inhalte zu entwickeln, die den diversen Bedürfnissen und der aktuellen gesellschaftlichen Struktur entsprechen. Die Strategien ähneln sich hierbei, indem sie stets von einer klaren Problemfrage ausgehen und diese in der Folge bearbeiten. Design Thinking kann hierbei als ein vielversprechendes und effektives Werkzeug gesehen werden, das in all diese Strategien eingebunden werden kann, um nutzer*innenorientierte Lösungen zu schaffen.
Wie können mit Design Thinking relevante und innovative Zugänge zu den Inhalten der Museen entwickelt werden? Design Thinking bietet mit seinem auf dem Menschen fokussierten Ansatz Methoden und Instrumente an, sowohl um Bedürfnisse gezielt abzufragen als auch um diese in konkrete Lösungen zu überführen. Ausgehend davon, soll in einem schemenhaften Fallbeispiel aufgezeigt werden, wie Design
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Thinking beispielsweise bei der Entwicklung von Zugängen zu Ausstellungsinhalten eingesetzt werden kann, um sie für neue Zielgruppen relevant zu machen. Möglicherweise haben an einem fiktiven Museum verschiedene Prozesse – ungeachtet ihrer Skalierung, von großangelegten Evaluationen bis zu Besucher*innenbefragungen – gezeigt, dass das aktuelle Angebot nicht komplett den Bedürfnissen des Publikums entspricht. Vielleicht gibt es aber auch nur Eindrücke, subjektive oder geteilte Erfahrungen aus der langjährigen Tätigkeit im Museum, die die Mitarbeiter*innen beschäftigten: wie viele Jugendliche besuchen unsere Ausstellung? Warum sehe ich hier so selten Familien mit kleinen Kindern? Warum kommen weniger Besucher*innen als wir es uns erhofft hatten, obwohl die Ausstellung doch ein Highlight-Objekt der Sammlung ins Zentrum stellt? An diesen Fragen, den sogenannten wicked problems, setzt Design Thinking an. Bereits in den 1960er Jahren hatte der Designer Horst Rittel diese definiert. Er beschreibt sie als »class of social system problems which are ill-formulated, where the information is confusing, where there are many clients and decision makers with conf licting values, and where the ramifications in the whole system are thoroughly confusing.« (Rittel 1992: 15) Die eigentliche Herausforderung des Design Thinking besteht also bereits, bevor der sechsstufige Prozess selbst angestoßen wird. Welcher Design Challenge möchte man sich zuwenden? Hier bedarf es des offenen, designerischen Mindsets und Mut, mit dem in ein Design-Thinking-Projekt gestartet wird – von einem zunächst noch grob umrissenen Problem aus, wird ein Prozess angestoßen, in dessen Verlauf das eigentlich zu bearbeitende Problem meist erst genauer definiert und spezifiziert werden kann. Gehen wir in einem Gedankenspiel für einen Moment davon aus, dass das Plakatbeispiel zu Beginn des Textes Teil eines umfassenden Design-Thinking-Prozesses eines mittelgroßen Museums wäre, das sich zum Gedenkjahr dem Ende des Ersten Weltkriegs vor 100 Jahren zuwendet. In einem idealen Setting findet sich dort also zunächst ein multidisziplinäres Team zusammen: die Museumsdirektorin – eine 54-jährige, promovierte Historikerin – der 57-jährige Sammlungsleiter, der 28-jährige Volontär, eine 35-jährige Vermittlerin, die 46-jährige Kuratorin, eine ältere, männliche Aufsicht sowie eine Frau mittleren Alters, die die Kasse des Museums betreut und ein 38-jähriger Gestalter einer externen Gestaltungsagentur. Sie alle kommen zwar mit den Erfahrungswerten ihrer Funktionen innerhalb
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des Museums zusammen, arbeiten im Design-Thinking-Prozess aber hierarchiefrei und als Individuen zusammen. Ihren persönlichen Expertisen und Präferenzen kommen im Rahmen des Projektes die gleiche Wertung zu. Die Räumlichkeiten, die für das Projekt bereitgestellt werden, bieten die Möglichkeit mit Kreativmaterialien Ideen festzuhalten. Es liegen Post-Its bereit, ebenso Stifte, Papier, Kleber, Scheren, große Plakatwände sowie Sticker, um Bewertungen abzugeben oder Aspekte hervorzuheben. Gemeinsam wird nun eine Design Challenge als »How might we?«-Frage formuliert: »Wie können wir eine Ausstellung über den Ersten Weltkrieg für 15-Jährige relevant machen?« Hervorgegangen war diese Problemstellung aus einem gemeinsamen Gespräch über Beobachtungen und Analysen der Besucher*innenstruktur des Hauses. Nun beginnen die beiden ersten Phasen des Design-Thinking-Prozesses: Verstehen und Beobachten. Um das Problem zu verstehen, beginnt die Gruppe in Anlehnung an ethnografische Methoden beispielsweise erste Telefoninterviews durchzuführen. Die einzelnen Beteiligten befragen am häuslichen Abendbrottisch ihre Familien nach deren Beobachtungen. Die Vermittlerin erkundigt sich bei einer Schulklassen-Führung nach den Eindrücken von Schüler*innen, die Frau an der Kasse nutzt ein kurzes Gespräch bei der Ticketausgabe. Die einzelnen Teammitglieder erfahren so beispielsweise, dass die Schüler*innen Museumsbesuche stark mit Schule und Geschichtsunterricht in Verbindung bringen. Viele beklagen das Gefühl, dass sie sich in Museen langweilen und die präsentierten Inhalte nicht spannend genug finden. Auch subjektive Bewertungen wie »Ich versteh das eh nicht«, »Auf Youtube und Instagram kann ich mir wenigstens das raussuchen, was mich interessiert und den Rest ignorieren«, und »Museumsbesuche dauern immer so ewig und dann darf ich da nicht mal mit meinen Freunden quatschen«, kommen in dieser ersten Phase zutage. Um zu beobachten, konkretisiert die Gruppe ihre ersten Ergebnisse, indem sie sie zusammenträgt. Um die Perspektiven der Zielgruppe noch besser erfassen zu können, nehmen einzelne Teammitglieder an Schüler*innenführungen durch die aktuelle Ausstellung teil. Sie beobachten, wie die Schüler*innen sich im Anschluss an die Führung eigenständig durch den musealen Raum bewegen, was sie sich ansehen, welche Dinge ignoriert werden. Ein weiterer Teil des Teams recherchiert und analysiert beispielsweise, wie und wo Jugendliche sich über geschichtliche Themen informieren und in welchen Formaten, die Inhalte gerade im digitalen Raum vermittelt werden. Die Grenzen zwischen der ersten und der zweiten Phase können dabei
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f ließend sein und ihre Methoden sich überlappen. Wichtig für beide Phasen ist es jedoch, dass das Team Empathie als Grundwert des Design Thinking berücksichtigt, um letztlich tatsächlich bei einer Lösung zu enden, die Human-centred ist. Für dieses konkrete Fallbeispiel bedeutet dies, dass die Teammitglieder aktiv ihre subjektiven Perspektiven auf Ausstellungen, Museen und auf die Relevanz der Inhalte zurückstellen müssen. Um ein Angebot zu schaffen, dass tatsächlich die Bedürfnisse der gewählten Zielgruppe erfüllt, müssen die Teammitglieder sich auf die Kritik und die Lebenswelt der Jugendlichen einlassen. Die Eindrücke, die so in den ersten beiden Phasen gewonnen wurden, werden schließlich zusammengefasst und so als eine Sichtweise definiert. Die zentrale Herausforderung besteht darin, eine Synthese aus der Fülle des gesammelten Materials zu schaffen und sich auf eine konkrete Zielgruppe festzulegen. Es kann in diesem Zusammenhang und aufgrund des iterativen Charakters des Design-Thinking-Prozesses dazu kommen, dass die Ausgangsfrage noch einmal angepasst und konkretisiert wird: Wie können wir eine Ausstellung über den Ersten Weltkrieg für 15-Jährige relevant machen, die ungern alleine etwas in ihrer Freizeit unternehmen, sondern lieber mit Gleichaltrigen ins Museum kommen würden, um dort in kurzer Zeit Neues zu erfahren? In dieser Phase des Design Thinkings definiert das Team eine oder mehrere feststehende Personas, anhand derer es die später entwickelten Lösungen überprüfen kann. Die Personas dienen hier als Hilfsmethode, mit der sich das Team der Zielgruppe empathisch nähert. In der Realität kann die Arbeit mit Personas den direkten und dauerhaften Kontakt zu den Besucher*innen jedoch nie ersetzen. Der Prozess, der in der definierten Sichtweise zusammengelaufen ist und auf eine Frage hin kondensiert wurde, wird nun anschließend wieder breit aufgefächert. Mittels unterschiedlicher Methoden des Brainstormings sammelt das Team Ideen und folgt dabei dem Ansatz von Quantität vor Qualität. Dana Mitroff Silvers stellt an diesem Punkt des Design Thinkings die Regel auf, Bewertungen zurückzustellen, Ideen mit »Ja, und…« zu ergänzen anstatt sie mit »ja, aber…« einzuschränken und auch zunächst abwegig erscheinenden Ideen Raum zu geben (vgl. Silvers/Wilson/Rogers 2013). Das Team hält die Ideen auf Post-Its fest und clustert diese im Anschluss, ordnet sie in Gruppen und ergänzt. Am Ende dieser Prozessphase einigen sie die Beteiligten auf die Ideen, die sie nun überprüfen möchten.
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Die Auswahlkriterien für die Ideen können sich von Prozess zu Prozess und von Team zu Team unterscheiden. In der Regel stehen bei diesem Auswahlprozess wieder die Lösungen an erster Stelle, die vor allem die menschlichen Bedürfnisse in den Fokus stellen. Weitere Kriterien, die zur Entscheidung beitragen, ob eine Idee ausgewählt und weiterverfolgt wird, können auch die Frage nach der Umsetzbarkeit und Wirtschaftlichkeit einer Lösung sein. Maßstäbe, die Silvers in diesem Kontext aufführt, sind beispielsweise low-hanging fruits (Was ist leicht machbar?), most deligthful (Wo ist der Überraschungseffekt, der Spaß am größten?) und most breakthrough (Wo ist die Innovation am größten?) (vgl. Silvers/Wilson/Rogers 2013). Die Ideen, die so ausgewählt wurden, werden dann in einfachen und schnellen Prototypen umgesetzt. Das könnte für unseren fiktiven Design-Thinking-Prozess bedeuten, dass das Museum eine erste, sehr einfache Version einer analogen Schnitzeljagd entwickelt, die die Jugendlichen in Teams durch die Ausstellung führt. Diese Schnitzeljagd testet das Museum im Anschluss mit ihrer Zielgruppe und lädt sich dazu zwei ortsansässige Jugendclubs und das Mädchenhandballteam ins Museum ein. Die Jugendlichen durchlaufen den ersten Prototypen des Spiels. Im Anschluss daran holt das Team Feedback von den Jugendlichen ein. Die Verbesserungsvorschläge und Ergänzungen der Jugendlichen werden schließlich in neuen Prototypen realisiert und wiederum getestet. Hier wird der iterative Charakter des Design Thinkings deutlich. Am Ende des Prozesses entwickeln die Museumsmitarbeiter*innen eine »Schnitzeljagd«-App, mit der die Nutzer*innen auf dem eigenen Handy an einzelnen Objekten Fragen beantworten und Informationen sammeln, um sich so die wichtigsten Inhalte spielerisch und im Team zu erarbeiten. Natürlich handelt es sich hierbei um einen schemenhaft dargestellten Design-Thinking-Prozess, der im Umfang dieses Textes nicht vollständig ausformuliert werden kann. Vielmehr geht es darum, einen ersten Eindruck zu vermitteln, welche Möglichkeiten sich durch Design Thinking eröffnen.
Welche Haltung braucht Design Thinking — und vor welche Herausforderung stellt es die Museen? Die Haltung und Arbeitsweise des Design Thinkings einzunehmen, kann Museen und ihre jeweiligen traditionellen musealen Werte vor Herausforderungen stellen. Design Thinking erfordert von allen Beteiligten zunächst
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Kreativität, eine Bereitschaft zum Scheitern und eine hierarchiefreie Zusammenarbeit auf Augenhöhe. Die Organigramme vieler Museen zeigen hingegen immer noch eine traditionell vertikale, hierarchische Aufteilung von Positionen und Abteilungen (vgl. Hellgren 2015: 14; vgl. Janes 2007: 75). Feste und weisungsgebundene Top-Down-Strukturen erzeugen Grenzen in der Zusammenarbeit, die eine Atmosphäre von Kreativität erschweren bis unmöglich machen (vgl. Janes 2007: 75; vgl. Janes 2014: 145). Um einen produktiven Design-Thinking-Prozess anzustoßen, müssen diese strukturellen Unterschiede für die Dauer der Zusammenarbeit außer Acht gelassen werden. Für Abstimmungen im Rahmen des Design-Thinking-Projektes gilt so beispielsweise, dass die Stimme jedes Teammitglieds – unabhängig von seiner Position – den gleichen Wert erhält. Design Thinking nimmt hier auf Projektebene eine Tendenz auf, die von Museumsexperten weltweit für Museen gefordert wird, um kreativ, relevant und innovativ zu bleiben: eine Neuordnung der Organisation und Struktur von Museen (vgl. Janes 2014: 144). Dennoch zeigen Studien und Erfahrungsberichte, dass die Haltung des Design Thinking dann positiv in Institutionen implementiert wird, wenn sie von einer Führungspersönlichkeit (mit-)getragen und gefördert wird (vgl. Dunne 2018: 9). Diese Bindung von Management- und Organisationsstrukturen an Personen bedeutet im Umkehrschluss jedoch auch, dass ein Wechsel auf personeller Ebene oftmals mit einem Wechsel in der Arbeitsweise einhergeht. Um eine nachhaltige und langfristige Änderung in der Haltung eines Hauses zu erreichen, müsste die Arbeitsweise somit an das Haus selbst geknüpft werden – weniger an Persönlichkeiten. Die Ergebnisoffenheit des Design Thinking und die iterativen Feedbackschleifen können zudem auf den ersten Blick dazu führen, aus Angst um finanzielle, zeitliche oder personelle Ressourcen vor der Methode zurückzuschrecken. Hier soll dazu motiviert werden, zu Beginn einen Blick auf die momentane Situation des Museums zu richten: Wo gibt es bereits bestehende Initiativen, die sich über Methoden des Design Thinking ergänzen lassen? Oft können bereits kurzfristige Maßnahmen neue Perspektiven eröffnen: 2012 führte ein studentisches Team zusammen mit dem San Francisco Museum of Modern Art 2012 ein dreiwöchiges Design-Thinking-Projekt durch, um herauszufinden, wie das Haus während einer dreijährigen Schließung für Besucher*innen attraktiv bleiben könnte. Die einzelnen Prozessphasen wurden hierbei in je höchstens vier Tagen durchlaufen. In nur drei Wochen entstand so ein umfassender Eindruck von den Bedürfnissen der Besu-
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cher*innen angesichts der bevorstehenden Schließung. Die Studierenden sammelten Stimmen ein, die zeigten, dass gerade der Museumsraum als solcher fehlen wird und dass die Zielgruppe eine Möglichkeit brauchen würde, die Kunst für diesen Zeitraum in alternativen Räumen zu entdecken (vgl. Silvers/Wilson/Rogers 2013: o. S.). Die wohl größte und zeitgleich radikalste Herausforderung, die das Design Thinking mit sich bringt, ist jedoch die Bereitschaft sich der Zielgruppe empathisch zu nähern und die geäußerten Bedürfnisse ernst zu nehmen. Lässt man sich in voller Konsequenz auf die befragten Zielgruppen ein, kann dies bedeuten, sich als Institution auch unbequemen Wahrheiten stellen zu müssen. Gerade an diesem Punkt der wicked problems setzen Design-Thinking-Prozesse an. Es werden Fragen laut wie: Inwiefern bin ich bereit, meine Ausstellungen und Inhalte anzupassen? Welche Themen gehören in ein Museum, welche nicht? Warum? Wer denkt das – ich, meine Disziplin, meine Institution, die Kolleg*innen? Für wen erarbeite ich meine Ausstellungen, wen möchte ich einladen? Welches Verständnis habe ich selbst von Qualität und warum? Wo bin ich bereit für Kompromisse? Wie greife ich Kritik auf? Was mache ich, wenn die Zielgruppe unsere Objekte langweilig findet? Wie viel bin ich bereit loszulassen, wo liegen Grenzen? Hier zeigt sich die gedankliche Nähe zu partizipativen Prozessen im Museum, die sich seit längerem diesen und ähnlichen Fragen zuwenden (vgl. Gesser et al. 2012: 174-178). Museen sind in sich bereits komplexe Systeme, die per Definition bereits vielschichtige, institutionelle Aufgaben in sich vereinen. Ausstellungsmacherin Rachel Hellgren beschreibt die Widersprüchlichkeit, die sich daraus für die unterschiedlichen Bereiche und Mitarbeiter*innen der Museen ergibt: während es für Kurator*innen und Kustod*innen prinzipiell darum geht, die Objekte der Museen zu sichern und zu schützen, strebt beispielsweise die Öffentlichkeitsarbeit an, das Haus und seine Sammlung möglichst umfassend für die Gesellschaft bereitzustellen. Hier zeigt sich die Diskrepanz zwischen Werten, die sich in sich selbst bereits diametral gegenüberzustehen scheinen. Auch die Annäherung an Marketingstrategien wird oftmals als Herausforderung für die musealen Werte und als Gegenpol zur gesellschaftlichen und gemeinnützigen Aufgabe der Museen verstanden (vgl. Hellgren 2015: 13). Dieser Spagat und die dazugehörige Erwartungshaltung soll jedoch seitens der Museumsleitung gemeistert werden. Mit den Bedürfnissen neuer Zielgruppen wird der Rechnung noch eine weitere Variable hinzugefügt. Öffnen Institutionen sich, werden Ängste und Stimmen von Verlust, Über-Simpli-
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fizierung und Deutungshoheit laut – die es zunächst ernst zu nehmen und auf die es zu reagieren gilt. Es ist jedoch festzuhalten, dass ein Sich-Öffnen und das Schaffen von vielfältigen Zugängen nicht damit einhergehen, Fakten, Wissen, die Institution Museum an sich oder auch die Wertigkeit von Objekten und Sammlungen zu negieren. Um mit Robert J. Janes zu sprechen: »This is ›either/or‹ thinking and will only be overcome when we are more open and reflective, and accept that error and uncertainty in our work are inevitable. Without encouraging the exploration of different viewpoints, we are condemned to our own internal perspective.« (Janes 2014: 146f.) Vielmehr geht es darum, miteinander ins Gespräch zu kommen und auf unterschiedlichen Kommunikationswegen Anknüpfungspunkte für die Zielgruppe zu schaffen, der man sich zuwenden möchte – von den Kenner*innen bis zu Erst-Besucher*innen. Im Design Thinking wählt ein Museum die Herausforderung selbst, der es sich stellen möchte und legt damit zugleich den Grad an Mut und Offenheit fest, den es einzugehen bereit ist.
Wie können wir weiterdenken? Langfristig sollte der Weg in unseren Augen weiter dahin führen, gemeinsam mit den Besucher*innen an einem Tisch zu arbeiten, gemeinsam mit ihnen zu fragen, wie die Sammlungen, Objekte und Geschichten erfahren werden möchten, um miteinander eine Museumssituation zu schaffen, die verbindet. Denkt man Design Thinking weiter, sind Besucher*innen so nicht nur Ideengeber*innen und Evaluator*innen, sondern von Beginn an Teil der multidisziplinären Teams auf Augenhöhe. Hier gilt es, zukünftig praktikable Lösungen zu entwickeln, wie man sich diesem Ziel nähern kann. Eine Möglichkeit stellt die frühzeitige Implementierung dieser Methoden in die Museumspraxis dar. Dies kann beispielsweise über eine Verankerung in den Curricula des Kulturmanagements oder über die Förderung der Haltung des lebenslangen Lernens innerhalb von Institutionen erfolgen. Auch das frühzeitige Einplanen von Ressourcen für gezielte Weiterbildungsmaßnahmen und Workshop-Formate kann hier unterstützen. Design Thinking kann zudem dazu führen, dass Museen sich – zumindest für die Prozessdauer – auf neue Organisations- und Kommunikations-
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strukturen einlassen und so längerfristig auch das eigene Selbstverständnis im Hinblick auf bestehende Traditionen neu ausrichten. Die Innovationsmethode des Design Thinking soll und kann hier kein Allheilmittel sein. In Kombination mit dem Mut sich auch im Bereich Marketing, dem Management, der Museumstheorie und -praxis auf Neues einzulassen und dies mit Altbewährten zu kombinieren, kann hier jedoch eine nachhaltige Veränderung angestoßen werden. Zeitgleich beobachten wir Grenzen des Design Thinking: Insbesondere für die Grundhaltung der Empathie berufen sich die Methoden teils auf eine Art Allgemeinwissen und common sense anstatt feststehende Definitionen anzubieten (vgl. Grots/Pratschke 2009: 22). Hier bietet sich ein Anknüpfungspunkt für weiterführende Betrachtungen und Handlungsanweisungen, die in diesem Text nicht geleistet werden können. Während wir unseren Beitrag zu diesem Sammelband verfasst haben, kam der Aufruf zur Partizipation und Neujustierung der Museumsdefinition des ICOM zu einem ersten Ergebnis. Der Vorstand von ICOM mit seinem Sitz in Paris beschloss am 22. Juli 2019 eine neue Definition. Bereits am 12. August 2019 stellten sich 24 der ICOM-Landesgruppen – unter anderem Italien, Russland, Kanada, Deutschland, Frankreich und Spanien – gegen die Neuformulierung. Am 7. September 2019 wurde auf der Generalversammlung des ICOM in Kyoto die neue Fassung der Definition diskutiert: »Museums are democratizing, inclusive and polyphonic spaces for critical dialogue about the pasts and the futures. Acknowledging and addressing the conflicts and challenges of the present, they hold artefacts and specimens in trust for society, safeguard diverse memories for future generations and guarantee equal rights and equal access to heritage for all people. Museums are not for profit. They are participatory and transparent, and work in active partnership with and for diverse communities to collect, preserve, research, interpret, exhibit, and enhance understandings of the world, aiming to contribute to human dignity and social justice, global equality and planetary wellbeing.« (ICOM 2019: 15.10.2019) Die Formulierungen verdeutlichen, dass hierbei insbesondere der Diversität, den Bedürfnissen unterschiedlicher Communities sowie einer gesell-
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schaftlichen, wie politischen Verantwortung gebührend begegnet wurde. Die Diskussionen, die darauf hin folgten, machten einen Konf likt deutlich: Kritiker*innen führten die juristische Unschärfe der Definition sowie ihren politischen und als ideologisch bezeichneten Wortlaut ins Feld, Befürworter*innen lobten die Neuausrichtung und die Aktualität angesichts der globalen Herausforderungen (vgl. Noce 2019). Es bleibt zu beobachten, welche Einf lüsse sich durchsetzen können, während die Debatte zur Neudefinition zunächst bis auf Weiteres vertagt wurde. Und das eingangs erwähnte Plakat? Im Laufe der auf das Auf hängen des Plakats folgenden zwei Tage füllten sich die Kästchen. Von »Übermut« war dort zu lesen, vom »Ende des Osmanischen Reiches«, von, »Spartakusbund«, »Schlamm« und »Verdun«. Auch sehr persönliche Kommentare wie der Hinweis auf den »verschütteten Großvater« und »Sinnlosigkeit« wurden dort festgehalten. Typische Kritzeleien, unpassende und einzelne völkische Kommentare blieben erwartungsgemäß nicht aus. Ein Plakat kann in dieser Form alleine kein Mittel sein, um neue, relevantere Ausstellungsinhalte zu entwickeln. Aber es kann im Sinne des Design Thinking ein Anfang sein: weiter zu beobachten, zu experimentieren, offen zu sein – und zuzuhören. Dieser Ansatz kann jenseits der Grenzen festdefinierter Strategien auch anderen dabei helfen, neue Prozesse in ihren Kultureinrichtungen anzustoßen und wieder vermehrt ins Gespräch zu kommen. Unerwartet schneller als gedacht erforderte die globale Covid-19-Pandemie, die sich während der Veröffentlichungsphase dieses Sammelbandes entwickelte, genau diese Offenheit und experimentellen Strategien von uns ein. Design-Thinking-Workshops mussten pandemiebedingt in den digitalen Raum verlagert werden. Konnten produktive, erfolgreiche Design-Thinking-Prozesse, die so auf den Menschen zentriert und empathisch angelegt sind, auch virtuell stattfinden? Die Basis der guten Zusammenarbeit, die menschlichen Begegnungen, lässt sich auch im Digitalen schaffen. Spielerische Warm-Ups wie gemeinsames Dichten, Fotos aufnehmen oder schnelle digitale Kunstwerke zu kreieren legen den Grundstein für ein gutes Team und brechen rasch das Eis, das durch die Distanz der Bildschirme entstehen könnte. Gerade das hierarchiefreie Arbeiten funktioniert in diesem digitalen Zwischenraum einfacher: Projekt-Duʼs werden in unserer Erfahrung schnell angenommen. Auch die kreativen Tools des Design Thinkings lassen sich gut übertragen: Online-Boards mit Post-It Funktionen, Möglichkeiten zum Skizzieren
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oder Voten über Emojis bieten hier ebenso wie Konferenz-Anwendungen oder geteilte Bildschirme die Chance gemeinsam neue Ideen zu entwickeln. Inwiefern sich der Einsatz von Mock-Ups und Prototypen in Zeiten von Social Distancing im Digitalen realisieren lässt, gilt es für den musealen Bereich noch zu prüfen. Nichtsdestotrotz hat Corona gezeigt, dass ein virtuelles Setting dem Design-Thinking-Prozess zur kreativen Format-Entwicklung keinen Abbruch tut und uns möglicherweise noch länger begleiten wird.
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Cultural Entrepreneurship Die Bedeutung von Netzwerken im unternehmerischen Kulturbetrieb Elmar D. Konrad
1. Unternehmertum im Kulturbetrieb — Eine Einleitung Ende der achtziger Jahre wurde in Deutschland beginnend durch Studien vor allem des ifo-Instituts gezeigt, welche Bedeutung der Sektor Kunst und Kultur für die Volkswirtschaft besitzt (vgl. Hummel/Berger 1988; vgl. Hummel/Brodbeck 1991). Was damals noch als ein neuer Untersuchungsansatz galt, hat sich mittlerweile weitestgehend durchgesetzt. Dies zeigt sich seit Längerem durch die immer regelmäßigeren Kulturwirtschaftsberichte verschiedener Bundesländer sowie von Kommunen und Städten. Insbesondere der Abschlussbericht der Enquetekommission Kultur in Deutschland des deutschen Bundetags (vgl. Deutscher Bundestag 2008) sowie die Bundesinitiative Kultur- und Kreativwirtschaft des Bundeswirtschaftsministeriums verdeutlichen auch den zunehmenden Stellenwert von Kunst und Kultur in der Wirtschaftspolitik und der dadurch wachsenden Förderung von kulturwirtschaftlichen Unternehmensgründungen. Zur Stärkung der Identifikation und Bindung der Bevölkerung an einen Standort, besonders für den Bevölkerungsanteil der jungen und gut ausgebildeten Erwerbstätigen, aber auch als Mittel zur Bewältigung des Strukturwandels, setzen Kommunen immer mehr auf die Förderung und Entwicklung der kulturellen Infrastruktur. Im Zuge einer zunehmenden Globalisierung des Wettbewerbs, dem Überf luss an Kultur- und Freizeitangeboten, den Limitationen und Restriktionen von Kulturbudgets sowie den Wandel durch Digitalisierung sind auch Kulturbetriebe mehr und mehr auf unternehmerische und innovative
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Konzepte angewiesen. Gerade in diesem wichtigen Kontext besitzen Kulturbetriebe aber auch Künstler*innen als Teil des Kerns des Kultur(wirtschafts-)sektors neben eigenen arbeitsplatz- und steuerumsatzrelevanten Potenzialen auch ein qualitätsverbesserndes Potenzial bezüglich eines innovativen Kulturstandorts vor Ort (vgl. Konrad 2002). Diese Potenzialausschöpfung kann oder muss verstärkt durch unternehmerische Faktoren wie private Eigeninitiative, neuartige innovative Geschäftskonzepte, Auf bau strategischer Partnerschaften sowie qualitativ hochwertige, strukturell effektiven und kosteneffiziente Aktivitäten innerhalb der Kulturinstitutionen erreicht werden. Dieser Aspekt der Eigeninitiative bis hin zur Selbständigkeit und Betriebsgründung im Kultursektor wird in den letzten Jahren zunehmend intensiv auch in der Entrepreneurship-Forschung untersucht (vgl. Hausmann/ Heinze 2016). Hier hat sich in der Gründungsforschung insbesondere in den letzten fünf bis sieben Jahren der Forschungszweig Cultural Entrepreneurship etabliert (vgl. Klamer 2011). Das sich darin entwickelnde Konzept des Cultural Entrepreneurships findet nun auch Eingang in der internationalen Arts Management Forschungsgemeinschaft. Hierdurch lassen sich Effekte, Strukturen und Entwicklungen von einem anderen Blickwinkel erklären. Insbesondere die Forschung und Untersuchungen innerhalb und über Museen als Kulturinstitutionen in diesem Kontext habe diesen Ansatz vorangebracht. Zu nennen sei hier insbesondere die Studien und Publikationen von Ruth Rentschler an der University of Adelaide (vgl. u.a. Rentschler 2015; vgl. Rentschler/Lehman/Fillis 2018; Azmat/Ferdous/Rentschler/Winston 2018). Gerade die in der Entrepreneurship Forschung untersuchten und ermittelten unternehmerischen Einf lussfaktoren wie Risikoverhalten, Proaktivität, Machbarkeitsdenken, Leistungsbereitschaft etc. (vgl. Gemünden/Konrad 2005) sollten auch in der Entwicklung einer neuen, innovationsorientierten Kulturmanagementtheorie deutlich werden. Um Unternehmertum als Voraussetzung eines erfolgsorientierten Kulturmanagements zu verdeutlichen, werden nachfolgend die Aspekte und Perspektiven des Managements und Unternehmertums – insbesondere mit einem Fokus auf Netzwerke und dem Agieren in solchen – kurz beleuchtet, um sie im weiteren Verlauf des Beitrags zu verknüpfen.
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1.1 Aspekte des (Kultur-)Managements Die aus dem Management von Wirtschaftsbetrieben gewonnenen Organisations- und Führungserfahrungen werden meist auf den Kulturbereich übertragen, was zu einer Fülle von Fachliteratur zu Teilbereichen des Kulturmanagements führt. Diese Kulturmanagementliteratur hat sinnvollerweise eine eher praxisbezogene Ausrichtung im Sinne von Handbüchern und Ratgebern zu Teilaspekten des Managements wie zum Beispiel Sponsoring, Mäzenatentum, Non-Profit-Marketing, Projektmanagement, Event-Marketing, Festivalisierung oder andererseits einen Fokus auf Kunst- und Kultursparten wie beispielsweise Museen, Theater, Oper, Ballett/Tanz, Rockfestivals (vgl. u.a. Föhl/Glogner-Pilz 2017.). Dabei dominieren die Kategorien des klassischen Managements wie Marketing oder Controlling sowie deren Modifikation für die jeweiligen spezifischen Kunstsparten. Forschungsarbeiten zur Bildung einer Kulturmanagementtheorie, welche die Disziplin Kulturmanagement voranbringen, sind bislang nur in Ansätzen vorhanden (Mulcahy 2006). Nach Bendixen sollte eine gute Theorie des Kulturmanagements den Graben, der zwischen der traditionellen Wirtschaft und dem traditionellen Kulturbereich existiert, aufarbeiten (vgl. Bendixen 1996). Salopp gesagt, also die gewinnorientiert und unternehmerisch denkende Wirtschaft mit dem kameralistisch geführten und einem idealen Kulturbegriff verpf lichteten Kulturbereich verbinden. Mit Blick auf die betriebswirtschaftlichen Komponenten fällt auf, dass – obwohl der weitaus größte Teil des erwirtschafteten Umsatzes im privatwirtschaftlichen Kultursektor erbracht wird (vgl. Bendixen/Laaser 2000; vgl. Throsby 2001; vgl. Konrad 2010) – die kulturmanagementtheoretischen Ansätze sich bis vor wenigen Jahren fast ausschließlich an öffentliche Kulturbetriebe richteten. Mittlerweile tritt immer mehr die sogenannte Kultur- und Kreativwirtschaft in den Vordergrund (vgl. Enquete-Kommission Kultur und Deutschland 2008). Die privatwirtschaftlich betriebenen bzw. eher unternehmerisch geführten Kultureinrichtungen folgen meist anderen inhaltlichen Zielsetzungen, wodurch die daraus folgenden Programmentscheidungen andere Konturen haben. Dennoch brauchen auch diese Kulturinstitutionen funktionierende Instrumentarien der Organisationsführung, des Marketings und des Controllings. Theorien und Konstrukte des Managements für Kunst und Kultur sollten also all jene Instrumentarien umfassen, welche die kommunikativen, technologischen, organisatorischen, sozialen, rechtlichen
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und wirtschaftlichen Aufgaben effektiv und effizient zu lösen vermögen – und dies gilt insbesondere auch für staatliche und durch die öffentliche Hand geführten Kulturinstitutionen, wie etwa Museen. Neben den rein betriebswirtschaftlichen Führungs- und Organisationsstrukturen sowie Management-Tools wird vor allem auch unternehmerisches Verhalten und unternehmerische Entscheidungen mit Risiko, mit Kundenbezug, mit Strategieentwicklung und Zukunftsvision mehr und mehr an Bedeutung gewinnen (vgl. Hagoort 2003).
1.2 Aspekte des (Kultur-)Unternehmertums In den verschiedenen Ansätzen und Theorien der Ökonomie werden zum Teil sehr unterschiedliche Auffassungen von der Rolle von Unternehmer*innen und des Unternehmertums vertreten. Die immer noch gültige ökonomische schumpetersche Idee der schöpferischen Zerstörung macht in seinem Kern bereits die Innovationsorientierung des Unternehmertums deutlich, indem dadurch nur das sich etablierende Neue entstehen kann (vgl. Schumpeter 1927). Die gestalterische und verändernde Kraft des Schöpferischen und der Kreativität spielt hier die zentrale Rolle wie wohl auch im Kultursektor. Aber es geht auch vermehrt um das konkret individuelle Auf bauen von Strukturen und Gestalten von Prozessen, und zwar mit einer sich tragenden Nachhaltigkeit. Stevenson und Jarillo definieren daher Unternehmertum als einen Prozess »by which individuals – either on their own or inside organizations – pursue opportunities without regard to the resources they currently control« (Stevenson/Jarillo 1990: 23). Nach Bygrave und Hofer sind Unternehmer*innen somit Personen, die Chancen und Gelegenheiten für neue Ideen, Projekte, Produkte oder Konzepte erkennen und sich eine passende Organisation auf bauen sowie Ressourcen erschließen, um diese zu nutzen (vgl. Bygrave/Hofer 1991). Diese Formulierung eignet sich auch sehr gut für Kulturschaffende, die auch ständig Neues erschaffen wollen und hierfür auch stets Gelegenheiten und Möglichkeiten suchen und finden müssen. In seiner Übersicht historischer Betrachtungen der Beschreibungen unternehmerischer Personen findet Bretz drei wesentliche, verknüpf bare und in der Realität unterschiedlich dominante Hauptfunktionen dieses Personentypus: den Kombinator, Innovator und Risikoträger (vgl. Bretz 1991: 277). Kombinatoren mobilisieren kritische Ressourcen und gestalten eine überlebensfähige Organisation. Innovatoren zerstören bestehende Marktgleich-
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gewichte und setzen neue Produkte und Dienstleistungsbündel durch. Risikoträger verfolgen Ziele beharrlich trotz Unsicherheit und riskieren damit bewusst den Verlust des eingesetzten Kapitals, persönlichen Einkommens, Know-hows und Prestiges. Hébert und Link identifizieren neben dem Innovator und Risikoträger den Kundschafter, der nach ungenutzten Möglichkeiten sucht (vgl. Hébert/Link 1988: 152). In Bezug auf die (Organisations-) Kultur von innovativen Unternehmen favorisiert die Entrepreneurship-Forschung eine offene Organisationskultur, die Wachstum, Risikobereitschaft und Flexibilität betont (vgl. Bygrave/Hofer 1991: 17). Ein wichtiger Aspekt bei Unternehmen ist bekanntlich der Erfolg. In der Literatur der Entrepreneurship-Forschung finden sich zahlreiche Vorschläge zur Messung des Erfolgs von (jungen) Unternehmen. Oftmals wird nach subjektiven und objektiven Erfolgsmaßen unterschieden (vgl. Müller-Böling/Klandt 1993: 154; vgl. Konrad 2010). Objektive Erfolgsmaße wie Umsatzsteigerung, Gewinnsteigerung, Beschäftigungszuwachs, Auslastungszahlen oder Stärkung der Marktanteile etc. sind mit Zahlen und Fakten, sofern man diese erhält, gut messbar. Hier bestehen im Grunde auch keine Unterschiede zwischen Kulturinstitutionen und klassischen Unternehmen. Aber im Kultursektor spielen auch nicht leicht greif bare und kaum klar messbare, also eher subjektive Faktoren eine wichtige Rolle. Etablierungsgrad, Renommee und Image, Bekanntheitsgrad, Verankerung und Zuspruch durch die Bevölkerung, Zufriedenheit der Mitarbeiter aber auch Besucher etc. sind nicht anhand von Hard Facts zu erkennen. Diese lassen sich nur indirekt durch erhaltende Preise oder Evaluation der Medienpräsenz oder durch entsprechende Befragungen innerhalb und durch die Kulturinstitutionen ermitteln.
1.3 Kulturunternehmertum versus Kulturmanagement Unternehmertum zeichnet sich also vor allem durch eine kreative Beschäftigung mit Problemlösungen und der daraus sich erschließenden kreativen Schöpfung von etwas Neuem und auch dann Nachhaltigem aus. Die Persönlichkeit der Unternehmer*innen bzw. der entscheidenden Führungspersonen, die Motivation, die Kompetenzen und die spezifischen Handlungsweisen tragen dabei in ebensolchem Maße zum Erfolg dieser Problemlösung bei, wie das vorhandene Fach- und Branchenwissen. Unternehmertum und Management sind also – insbesondere auch in den Kulturinstitutionen wie Museen – zwei aufeinander auf bauende Prinzipien, wobei das Management als
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Basiswerkzeug und Unternehmertum als erfolgsförderndes Verhalten verstanden werden muss. Die grundsätzliche Diskrepanz der beiden Begrifflichkeiten, als auch der Nutzen einer Integration beider Prinzipien, lässt sich nachvollziehen, wenn Stärken und Aufgabenbereiche von Unternehmertum und Management vergleichend gegenüberstellt sind. Tabelle: (Kultur-)Unternehmertum versus (Kultur-)Management (Konrad/Rauh 2008: 5) (Kultur-)Unternehmertum (Kultur-)Unternehmer*innen …
(Kultur-)Management (Kultur-)Manager*innen …
… entwickeln Visionen.
… steuern Strategien.
… schaffen Systeme.
… nutzen Systeme.
… tragen Risiken.
… minimieren Risiken.
… dirigieren Ressourcen.
… kontrollieren Ressourcen.
… realisieren Strategien.
… planen Strategien.
▼ Verhaltensweise
▼ Werkzeug
Diese Polarität, die sich jedoch in der kulturpraktischen Realität oftmals wieder überlappt, bis hin zur Undifferenziertheit, wird insbesondere in der Entrepreneurship-Forschung im Forschungszweig des Cultural Entrepreneurship zunehmend untersucht und behandelt (vgl. Ellmeier 2003). In diesem neuen Untersuchungszweig wird in der Research Community intensiv diskutiert, wie Cultural Entrepreneurship zu definieren und was genau alles darunter zu verstehen ist (vgl. Konrad 2017). Es gibt hier einige unterschiedliche, manchmal sogar sich widersprechende Perspektiven (vgl. Hausmann 2010; Hausmann/Heinze 2016). So richtet eine Perspektive den fokussierten Blick rein auf das unternehmerische Verhalten von Personen im Kultursektor. Eine andere Perspektive hat dagegen einen sehr fokussierten Blick auf die Gründung und begrenzt sich nur auf die Unternehmensgründung, Selbständigkeit, Existenzgründung etc. in der Kultur- und Kreativwirtschaft. Wiederum eine andere Perspektive hat einen sehr umfassenden Ansatz, indem sie sich allgemein auf die kreativ schöpferische Tätigkeit im Kultursektor bezieht. Mittlerweile kristallisiert sich in der Forschung eine Strömung heraus,
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welche alle Perspektiven und deren Abstufungen in Form eines Definitionskontinuums bevorzugt einbeziehen (vgl. Gehman/Soublière 2017). Jedenfalls spielen auch (Kultur-)Managementaspekte im Kontext von Cultural Entrepreneurship eine wichtige Rolle. Es stellt sich also die Frage, welche Rolle Cultural Entrepreneurship innerhalb der Kulturarbeit spielt und welche Bedeutung dies insbesondere für die Akteure der Kulturarbeit– sei es als freischaffende Künstler*innen, sei es als selbständige bzw. gründende Kulturschaffende oder auch als leitende Personen in Kulturbetrieben wie Museen – hat?
2. Akteure und Organisationen im Kultursektor Künstler*innen, Kulturschaffende und Kulturmanager*innen müssen effektiv und effizient handeln, und Kulturbetriebe müssen wirtschaftlich geführt werden, was sich aufgrund der Eigenheiten und der besonderen Komplexität des kulturellen Sektors als durchaus schwierig gestalten kann. Gerade kleine Kulturbetriebe befinden sich im steten Spagat zwischen einem Idealbild der Kunst und Kunstrezeption, in welchem sich die agierenden Künstler*innen befinden, und dem kommerziellen Denken des Marktes, indem das Prinzip von Angebot und Nachfrage, Kostenminimierung und Gewinnmaximierung regiert. Quasi in einer Schnittmenge aus beiden Extremen müssen Künstler*innen, Kulturbetriebe und Kulturmanager*innen leben und überleben. Um in diesem Spannungsfeld von wirtschaftlichen Notwendigkeiten und kunstfreundlichem Ideal erfolgreich agieren zu können, müssen die leitenden Akteure nicht nur Kompetenzen als Manager*innen besitzen. Dies gewinnt auch für die in der öffentlichen Hand befindlichen Kulturinstitutionen zunehmend an Bedeutung, insbesondere für Museen (vgl. Schulenburg 2006). Es ist für alle kulturnahen Akteur*innen (in ihren jeweiligen Tätigkeitsfeldern) von größter Notwendigkeit, innovativ und f lexibel mit den sich zwangsläufig ergebenden Problemen umzugehen. Diese Flexibilität beinhaltet, Chancen für kulturelles Eigenengagement, eine Marktnische oder die Schaffung kultureller Aktivitätsmöglichkeiten zu erkennen. Ebenso beinhaltet diese Flexibilität, die dazu nötige eigene Organisation zu schaffen oder eine Bestehende individuell diesbezüglich zu prägen sowie die nötigen Ressourcen selbst zu beschaffen. Mit anderen Worten ausgedrückt: Kulturmanager*innen müssen unternehmerisch denken und handeln (vgl. Konrad 2010; vgl. Halberstadt 2017).
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2.1 Die Künstler*innen und Kulturschaffenden Kreative und schöpferische Kulturschaffende, seien es nun Komponist*innen, bildende Künstler*innen oder Schriftsteller*innen bzw. auch Designer*innen, Raumgestalter*inne etc., sind der Nukleus des Kunst- und Kulturbetriebs. Sie arbeiten meist freischaffend, unabhängig und selbständig. Daher können sie als Unternehmer*innen in eigener Sache angesehen werden, die quasi als Ein-Personen-Unternehmen ihr Produkt selbst herstellen und dieses teils mit Hilfe von Vermittler*innen wie Galerien, aber euch eventuell Museen vertreiben und vermarkten. Ausgehend von dieser Betrachtungsebene sind die persönlichen Merkmale von Künstlern*innen und Unternehmer*innen hinsichtlich ihrer Erfolgsrelevanz vergleichbar, wobei diese Merkmale in persönliche Eigenschaften, Motive und Kompetenzen unterteilt werden können (vgl. Konrad 2010: 76f.). Zudem kann hier nochmal festgestellt werden, dass Künstlern*innen in ihrer Bestrebung, etwas Neues zu schaffen und sich hierfür voll und ganz einzusetzen, durchaus als Idealtypen des Unternehmertums anzusehen sind, von denen andere Gründer*innen lernen können – aber auch umgekehrt (vgl. Faltin 2007). Besonders Unabhängigkeit, Selbstverwirklichung und Existenzauf bau sind in beiden Fällen, also Künster*Innen und Unternehmer*innen, häufig auftretende Motivbündel (vgl. Gemünden/Konrad 2005: 11ff.), wobei der positive Einf luss von Unabhängigkeitsstreben und Selbstverwirklichung auf den Erfolg von unternehmerischen wie künstlerischen Erfolg trotz intensiver empirischer Forschung kaum konsistente Ergebnisse vorgebracht hat (vgl. Rauch/Frese 1998: 11). Ein wesentlicher Aspekt des unternehmerischen Verhaltens bei Kulturschaffenden ist der Umgang mit, das Bewegen in und das Knüpfen von Netzwerken. Effektive und effiziente Netzwerkarbeit sowie das Gestalten von kooperativen Beziehungskontakten sind immanent für den Erfolg von Künstler*innen und Kulturschaffenden (vgl. Konrad 2010: 111ff.).
2.2 Privatwirtschaftliche Kulturbetriebe Der Großteil der kommunalen Kulturarbeit sowie der kulturellen Infrastruktur findet meist in kleinen privatwirtschaftlichen Kulturbetrieben statt. Untersuchungen des Statistischen Bundesamtes als auch diverse Kulturwirtschaftsberichte verschiedener Bundesländer und Kommunen haben aufgezeigt, dass diese Tendenzen zu Kleinst- und Kleinbetrieben im Kultur-
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sektor immer stärker werden. Bei diesen Kulturbetrieben handelt es sich meist nicht um klassische Unternehmen. Oftmals sind es aus Eigeninitiativen von sogenannten Kulturunternehmer*innen hervorgegangene sehr kleine Kultureinrichtungen, deren Rechtsform – z.B. gemeinnützige Kulturfördervereine oder Kulturstiftungen – jedoch keinen Gewinn als Ziel zulassen. Innerhalb dieser meist kleinen Organisationen agieren leitende Personen, die oftmals auch die Gründer*innen und Initiator*innen sind, die als sogenannte Kulturunternehmer*innen bezeichnet werden können (vgl. Konrad/ Fronz 2016; vgl. Höllen/Konrad 2018). Aber auch durchaus größere Einrichtungen wie Ausstellungen, Kunstmessen oder Kunstvereine zählen in diesen Bereich und verhalten sich entsprechend. Der Kern der Aufgaben und Handlungen dieser leitenden Personen ist das Erkennen von Chancen und Potenzialen für kulturelles Eigenengagement, indem Marktnischen zu einer Gründung eines Kulturbetriebs oder für die Schaffung kultureller Aktivitäten genutzt werden. Gemäß unternehmerischer Herangehensweise müssen die nötigen eigenen Organisationen geschaffen oder eine Bestehende individuell umgestaltet sowie die nötigen Ressourcen selbst beschafft werden. Privatwirtschaftliche Kulturbetriebe agieren zudem wie Unternehmen anderer Branchen in einem Netzwerk verschiedenster Beziehungen. Diese gleichzeitig bestehenden Netzwerke werden von den Kulturunternehmern unterhalten, gepf legt sowie gesucht und bilden somit ein persönliches Beziehungsgef lecht. Da die Bedeutung dieser auf Eigeninitiative beruhenden privatwirtschaftlichen Kulturbetriebe neben den klassischen öffentlichen Kulturinstitutionen für ein lebendiges Kulturangebot ständig wächst, wird auch das Kulturmanagement aber auch die Kulturpolitik sich immer stärker mit diesen kleinen und kleinsten Kulturunternehmen beschäftigen müssen. Dadurch werden auch die theoretischen und praktischen Aspekte des Unternehmertums innerhalb einer neu zu schaffenden Kulturmanagementtheorie eine – wenn nicht die herausragende – Kernaussage bilden.
2.3 Öffentliche Kulturinstitution: Beispiel Museum — unternehmerisches Management der Kreativität? Schaut man sich die Kulturmanagementliteratur an, so gibt sie im überwiegenden Teil Empfehlungen für Großevents als auch für große Kulturinstitutionen, wie z.B. für größere und große Museen, die im Besitz oder in der Regie der öffentlichen Hand sind, sei es nun auf kommunaler oder landes-
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politischer Ebene. Verlagert sich der Blickwinkel weg vom individuellen Aspekt hin zu einer eher institutionellen Betrachtungsweise, so fällt auf, dass sich auch hier ein Wandel des Eigenverständnisses weg von reinen Verwaltungsapparaten oder musischen Elfenbeintürmen hin zu kundenorientierten Bildungs- und Kultureinrichtungen vollzieht. Langsam, aber sicher ziehen unternehmerisches Denken und Handeln ein, sei es aus einem Autonomiestreben oder aus einem durch die enormen finanziellen Zuschüsse entstehenden Rechtfertigungsdruck heraus, unter dem sich beispielsweise städtische und landeseigene Museen befinden. Immer mehr entstehen in diesen Tankern des Kultur- und Ausstellungssektors eigene Marketing-, Sponsoring- und Werbeabteilungen, die professionell Öffentlichkeitsarbeit verrichten, neue Angebotsstrategien entwickeln, Ressourcen und Finanzmittel beschaffen sowie neue Märkte und Kund*innen, sprich Publikum erschließen müssen: Stichwort Audience Developement. Wenn Audience Development als Erschließung neuer Kundensegmente oder Marktanteile verstanden wird, dann müssen hierzu neue und innovative Konzepte, Geschäftsmodelle, Marketingmaßnahmen oder Organisationsstrukturen etc. gefunden, entwickelt und umgesetzt werden. Diese sind im Kern als unternehmerisch anzusehen. Das Cultural Entrepreneurship kann hier Ansätze und Methoden liefen, die einer erfolgreichen Neuausrichtung und Weiterentwicklung des Bestehenden dienlich sein können (vgl. Hazelwood/Lawson/Aitken 2009). Im Rahmen einer Studie von Ruth Rentschler werden zwei alternative Sichtweisen von Kreativität bzgl. des Managements eines Museums gegenübergestellt (vgl. Rentschler 2001). Die erste, objektbezogene Sichtweise nimmt ihren Ausgangspunkt im traditionellen Kernbereich eines Museums: dem Sammeln, Bewahren und Studieren von Objekten. Hier wird die Aufgabe von Museumsleitungen in der Objektverwaltung gesehen. Sie fungieren als Hüter des kulturellen Vermögens wie auch der Institution – und damit der kreativen Werke. Kreativität wird hier ausschließlich auf die Werke sowie Sammlerstücke und deren Erstellung und Wirkung bezogen. Das Augenmerk liegt dabei auf der Existenz der Werke und Ausstellungsstücke sowie dem Untersuchen und der Dokumentation ihrer wesentlichen Charakteristika. Die alternative Wahrnehmung von Kreativität setzt sich mit der zunehmenden Bedeutung der Managementperspektive von Führungskräften auseinander: dem kreativen Leiten des Museumsbetriebes, der Mitarbeiterführung und dem Unterrichten, aber auch dem Unterhalten im Sinne einer
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dauerhaften Attraktivität der interessierten Öffentlichkeit. Hier fungieren die Museumsleitungen selbst als sich unternehmerisch verhaltende Kreative, da sie die Abwechslung im Rahmen des Managements von Kunstinstitutionen fördern (vgl. Rentschler 2006: 205 ff.). Es kann daher die Frage aufgeworfen werden, ob die heutige Rolle von Museumsleitungen das traditionelle Kreativitätsverständnis hinter sich gelassen hat. Dabei kann die These vertreten werden, dass das Rollenverständnis mehr eine Evolution denn eine Revolution erfahren hat. Direktor*innen eines Museums jeglicher Spartenausrichtung stehen vor dem Erfordernis, Strategien zu entwickeln, die gleichzeitig wissenschaftliche, künstlerische, technische, aber auch betriebswirtschaftliche Kreativität fördern. Museen, seien es Kunst-, Heimat oder Naturkundemuseen etc., befinden sich zudem in einem Zielkonf likt. Insbesondere ist hier das Spannungsfeld zwischen den rein ökonomischen Interessen und dem wesentlich breiter zu verstehenden kulturellen, öffentlichen Auftrag eines Museums zu nennen. Der Blickwinkel von Museen hat sich daher weg von den kreativen Werken an sich hin in Richtung der Kultur- und Freizeitkonsumenten verschoben (vgl. Mayer 1996; vgl. Proeller et al. 2012).1 Dieser Perspektivenwechsel hat eine Suche nach kreativen oder eben unternehmerischen Managementlösungen und einem breiteren Verständnis vom Nutzen der künstlerischen wie natur- und technikhistorischen Kulturgüter angestoßen. Ebenso wurde die Notwendigkeit erkannt, die Finanzierung durch öffentliche Gelder zunehmend auf eine breitere Basis zu stellen, um ein umfassenderes, kreatives Programm von Museen bieten zu können. Des Weiteren hat der Wechsel vom Publikum mit monokulturellem Hintergrund hin zu multikulturellen Zielgruppen ein maßvolles Umdenken bei der Ausstellungspraxis notwendig gemacht. Entweder sind Nischenprogramme oder aber breit gefächerte Ausstellungsthemen erforderlich, bei denen – in Abhängigkeit von den besonderen Bedürfnissen der jeweiligen Zielgruppe – der Aspekt der Unterhaltung gegenüber der reinen Unterrichtung in den Vordergrund rücken muss.
1 Es ist anzunehmen bzw. noch zu untersuchen, dass das Verhältnis und das Selbstverständnis zwischen Museen und Besuchern innerhalb der Sparten hier unterschiedlich sind, z.B. einem reinen Kunstmuseum wie dem Museum Folkwang in Essen oder einem Technikund Industriegeschichtemuseum wie z.B. dem Deutschen Bergbau-Museum Bochum.
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Diese Kundenorientierung ist per se unternehmerisch gedacht bzw. muss unternehmerisch gedacht werden (vgl. Webb et al. 2011).2 Aus all diesen Gründen folgt, dass ein Museum seinen Fokus verlagern muss – weg von der reinen Sammlung und Verwaltung von Objekten hin zu einer Zielgruppenorientierung – und dies sowohl innerhalb des Museums als auch in dessen Umfeld, der Gesellschaft (vgl. Rentschler 1999). Unternehmer*innen oder unternehmerisch denkende Museumsmanager*innen werden auch in diesen Institutionen immer mehr an Bedeutung gewinnen. Eine wichtige Aufgabe ist es hierbei, die gesellschaftliche Relevanz von Museen als wichtiges Alleinstellungsmerkmal – sogenannte Unique Selling Proposition (USP) – zu vermitteln und so das Nutzungsbedürfnis zu stärken. Aber auch auf organisationaler Ebene wird ein Wandel vom Verwaltungsbetrieb hin zu einem Unternehmen mit marktorientierter Betriebsführung, natürlich mit all seinen gesellschaftlichen und kulturpolitischen Aufgaben, stattfinden. Die immer stärker werdende Entwicklung von der Kameralistik hin zur Kostenstellen-bezogenen doppelten Buchführung ist unumkehrbar. Für die positive Entwicklung kann ein Erfolg fördernder Einf luss bezüglich der Strategie vor allem dann festgestellt werden, wenn darin unternehmerisch proagierende und reagierende Handlungsgrundsätze ausgewogen enthalten sind (vgl. Frese/Gelderen/Ombach 1997: 15). Auch für diesen Wandel wird innerhalb der Kulturmanagementtheorie das Unternehmertum eine starke Bedeutung erlangen.
3. Erfolgsfaktor Netzwerkkompetenz im Kulturbetrieb Im Kultursektor ist die Etablierung einer Kooperation von größter Bedeutung. Solche Kooperationen werden auch über die Reputation oder das Image öffentlich wahrgenommen (vgl. Vecco/Konrad 2018: 58). Der ganze Kulturbetrieb ist kein Konglomerat von solistischen Aktionen vom einzelnen Kulturschaffenden angefangen bis hin zur großen Kulturinstitution. Der Kulturbetrieb ist komplex vernetzt und die meisten Aktionen und Projekte darin werden in Form von Kooperationen umgesetzt. Dabei kann die Band-
2 Insbesondere Museen können in diesem Kontext hier direkter und auch vielfältiger mit Markt- und Kundeneffekten agieren als zum Beispiel Opernhäuser oder Archive.
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breite sich von informellen Kontakten bis hin zu institutionellen Partnerschaften spannen. Somit stellt das Agieren in Netzwerken eine zentrale Aufgabe von Künstler*innen, Kulturmanager*innen und Kulturunternehmer*innen dar: gerade in Anbahnung, Anschub und Umsetzen von neuen, innovativen Projekten und Konzepten (vgl. Konrad 2013). Erfolgreiche Kooperationen sind immanent für kulturunternehmerische Projekte insbesondere für Kulturbetriebe – aber sie sind keine Selbstverständlichkeiten. Hierzu ist Netzwerkkompetenz bei den handelnden und entscheidenden Akteuren innerhalb der Kulturbetriebe ein entscheidender unternehmerischer Faktor (vgl. Ritter/Gemünden 2003). Heutzutage stehen Akteure und Organisationen der Kultur- und Kreativsektoren immer wieder vor der Frage, in welchem Ausmaß sie Kooperationen und Partnerschaften eingehen sollten, um ihre Aufgabe insbesondere im Kontext der in die Zukunft gerichteten Innovation zu erfüllen (vgl. Todeva/Knoke 2005). Dies ist oft eine eher strukturelle, aber doch entscheidende Frage, welcher sich die Kulturunternehmer*innen stellen müssen. Der Umgang mit Partnerschaften und Kooperationen von Seiten der Kulturinstitutionen ist prägend für deren Akzeptanz ebenso wie für ihre Begrenzung innerhalb der Netzwerkpartner. Auf der einen Seite steht die teilweise übermäßige Anhäufung und starke Ausbreitung von institutionalisierenden Kontakten und übergreifender Zusammenarbeit (manchmal auch nur auf dem Papier). Auf der anderen Seite stehen langanhaltende Partnerschaften mit wenig Potenzial für neue Impulse, Innovationen und Effizienz – quasi wie ausgetretene Pfade, die für immer und ewig genutzt werden (vgl. Granovetter 2005). Jedoch sind Netzwerke meist nicht spezifisch greif bar oder institutionell verankert, wodurch für das wichtige zielorientierte Agieren in diesen Netzwerken entsprechender Ressourceneinsatz von Zeit, Personal und Budget notwendig ist (vgl. Konrad 2013).
3.1 Beziehungsportfolio Ein umfangreiches und ausbalanciertes Set bestehend aus guten persönlichen Beziehungen kann als ausbalanciertes Beziehungsportfolio verstanden werden. So sind wichtige Organisationen und Personen angehören, die über relevante Ressourcen, wie finanzielle Mittel, Informationen, Macht und Kontakte verfügen, sehr wichtig für Kulturbetriebe und Kul-
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turunternehmer*innen. Personen und Organisationen, welche über ein derartig personenbezogenes Beziehungsportfolio verfügen, können viel leichter Hürden und Zugänge für ihre Aktionen, Projekte und Tätigkeiten überwinden, indem wichtige Akteure über organisationale Grenzen hinweg effizient gesucht, zusammengebracht und beeinf lusst werden können. Gerade im Kulturbereich sind solch gute persönliche Kontakte und Beziehungen zu wichtigen Personen und Partner*innen im regionalen Kulturleben, wie Entscheidungsträger*innen in der Kulturverwaltung in den Kulturredaktionen oder potentielle Sponsor*innen überaus wichtig (vgl. Konrad 2013). Diese Kontakte helfen dabei, dass Entscheidungen in eine gewünschte Richtung bewegt und deren Unterstützung erlangt werden können (vgl. Walter 1998; vgl. Konrad et al. 2010). Der Charakter der persönlichen Beziehungen zu den für die eigene Kulturarbeit wichtigen Akteur*innen aber auch die Art sowie der Aufwand hinsichtlich Pf lege der Ressourcen der jeweiligen Partner*innen zeichnet im Wesentlichen die Qualität eines personengebundenen Beziehungsportfolios aus (vgl. Walter 1998: 91ff.). Entscheidende Personen in Netzwerken, welche Zugang zu wichtigen Ressourcen haben oder diese anderen eröffnen, aber auch versperren können, müssen erkannt und kontaktiert werden (vgl. Ibarra 1993: 472). Die zentralen Akteur*innen, welche in einem Gef lecht sozialer Beziehungen geschickt agieren, kontrollieren so zu einem Teil die für sie selbst und die für ihre direkten und indirekten Netzwerkpartner*innen relevanten Ressourcen. Die Gewährung von öffentlichen Fördermitteln, Finanzierungen durch Sponsoring, Publikumszuwachs durch multiplikative Medienreaktionen sind wichtige ja immanente Einf lüsse insbesondere in der institutionellen Kulturarbeit. Die durch ein Beziehungsportfolio erschlossenen Ressourcen wirken sich somit direkt auf den wirtschaftlichen Erfolg, aber auch auf den Bekanntheits-, Reputations- und Etablierungsgrad eines Kulturbetriebs aus. Zusammenfassend lässt sich konstatieren, dass mit zunehmender Qualität des Beziehungsportfolios der Kulturunternehmer*innen auch der Erfolg ihres Kulturbetriebs wächst (vgl. Konrad 2010: 124).
3.2 Netzwerkorientierte Organisationskultur Neben diesen genannten Einf lüssen müssen selbstverständlich auch die strukturelle und rechtliche Ausprägung sowie das Leistungsverhalten des Kulturbetriebs als Ganzes hinzukommen. Gerade die Größe und Rechts-
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formen sowie die Organisationskultur von Kulturbetrieben stehen in einem sehr starken Zusammenhang mit den Institutionsleitungen also den Kulturunternehmer*innen selbst, indem sie diese prägen und sich mit ihnen auseinandersetzen und umgehen müssen. Zuweilen hemmen oder blockieren solche Strukturen und Ausprägungen das unternehmerische Entscheidungsverhalten. Erstens werden die Aufgaben innerhalb der Strukturen des Kulturbetriebs intensiver und somit effektiver durchgeführt. Zweitens sind die Bereitschaft und die Fähigkeit zum Erkennen und Nutzen von Netzwerken im Kulturbereich vorhanden. Zur Übernahme einer solchen Verantwortung bedarf es Freiheiten für unternehmerisches Denken und Handeln auf allen Ebenen. Innerhalb gleichberechtigter Teams muss zudem bei allen Beteiligten hinsichtlich der zielorientieren Potenziale von bestehenden bzw. von zu findenden Kontakten Übereinstimmung herrschen. Solche innerhalb von Organisationen gewährten unternehmerischen Freiräume werden in den Konzepten des Intrapreneurships und Corporate Entrepreneurships sehr gut beschrieben (vgl. Fillis/Rentschler 2010; vgl. Corbett et al. 2013). Die strategische Ausrichtung der Netzwerkarbeit auf Unternehmertum, Risikobereitschaft sowie Innovation und Marktchancen erhöhen die sozialen Qualifikationen der Mitarbeiter*innen, indem Informationen ständig, spontan und gewollt sowie umfassend ausgetauscht werden. Zentrale Elemente der unternehmerisch-netzwerkorientierten Organisationskultur sind Weiterentwicklung und Zielerreichung des Kulturbetriebs. Diese Elemente sollten als wichtige Aspekte des Kulturmanagements gerade für Kulturschaffende vermittelt werden. Es lässt sich zusammenfassen, dass der Erfolg eines Kulturbetriebs umso höher ausfällt, je unternehmerischer und marktorientierter die Organisationskultur ausgeprägt ist (vgl. Konrad 2010: 12).
3.3 Leistungsbezogene Netzwerkarbeit Die persönlichen Verhaltensweisen sowie die spezifischen unternehmerischen Haltungen und Einstellungen sind wichtige Wirkungsvariablen für den Erfolg. Bei Kulturbetrieben lassen sich durch die Ausprägung des Unternehmertums ihrer leitenden Personen als ein Qualitätsmerkmal des persönlichen strategischen Handelns direkte wirtschaftliche Erfolge nachweisen. Ein weiterer Erfolgsfaktor aus den unternehmerischen Leistungsbeiträgen lässt sich zum einen aus der Qualität und Flexibilität von Managementkonzepten sowie dem Ausmaß und der Qualität des eigenen Ressourceneinsatzes bzw.
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deren effizienter Nutzung bzgl. zielorientierter Netzwerkarbeit erklären. Aus der effizienten und effektiven Erfüllung der funktionalen und planungsrelevanten Aufgaben erfolgt in einem Kulturbetrieb der reibungslose Ablauf beispielsweise des Ausstellungs- oder Veranstaltungsprogramms, was sich direkt auf den wirtschaftlichen Erfolg auswirkt (vgl. Frese/Gelderen/Ombach 1997: 7ff.). Gerade im Hinblick auf Problemlösungsbedürfnisse und Problemlösungspotenziale können netzwerkstrategische und beziehungsspezifische Tätigkeiten und Aktionen als herausragende Leistungsbeiträge bezogen auf den Betriebserfolg verstanden werden. So erhält man für den eigenen Kulturbetreib wichtige Informationen durch die geeignete Anbahnung und Pf lege von persönlichen Beziehungen zu Meinungsführer*innen und Entscheidungsträger*innen. Mit einem derartigen Informationsvorsprung können auf Probleme schneller reagiert und Aufgaben effektiver erledigt werden. Ein weiterer Aspekt ist, dass der Auf bau eines Beziehungsnetzwerkes zu potenten Partner*innen auch ernstzunehmende Barrieren überwinden lässt, indem strategische Unterstützung gewonnen und notwendige Ressourcen erschlossen werden können (vgl. hierzu Konrad 2013). Die Effizienz der Ressourcenausbeute erhöht sich durch eine intensive Ausübung der beziehungsspezifischen Funktionen im Kulturbereich. Diese Funktionen müssen als strategische Zusammenarbeit und Interaktion in einem Netz von Akteur*innen angesehen werden. Um aus strategischer Sicht relevante und einf lussreiche Partner des Kulturbereichs im eigenen Beziehungsportfolio zu haben, sind entsprechende Aktivitäten des Beziehungs- und Netzwerkmanagements notwendig. (vgl. Konrad/Walter/Gemünden 2010). Die von Walter (1998) ermittelten Erkenntnisse über den Beziehungspromotor machen den Einf luss von Netzwerkaktivitäten auf das Beziehungsgef lecht deutlich. Dieser Ansicht beschreibt auch das persönliche strategische Verhalten und die sich daraus ergebenden unternehmerischen Leistungsbeiträge der Kulturunternehmer*innen als Promotorenverhalten sehr nachvollziehbar (vgl. Konrad/Walter/Gemünden 2010). Die Aktivitäten zur Pf lege und Anbahnung von persönlichen Beziehungen haben somit direkten Einf luss auf die Qualität des persönlichen Beziehungsportfolios von Kulturunternehmer*innen, insbesondere wenn diese mit den Aktivitäten des Gestaltens von Netzwerken gekoppelt sind (vgl. Vecco/Konrad 2018). Zusammenfassend können diese Erkenntnisse quasi als zwei Hypothesen formuliert werden. So kann konstatiert werden, dass je stärker die
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unternehmerische Netzwerkarbeit im Leistungsbeitrag der Kulturunternehmer*innen ausgeprägt ist, umso größer und nachhaltiger auch der Erfolg des Kulturbetriebs selbst ist. Des Weiteren ist festzustellen, dass je effektiver und effizienter die unternehmerische Netzwerktätigkeit durch die Kulturunternehmer*innen ist, umso besser ist auch die Qualität des Beziehungsportfolios des Kulturbetriebs ausgeprägt (vgl. hierzu die weiterführenden Beschreibungen in Konrad 2010: 131-138).
3.4 Sozial- und Netzwerkkompetenz Neben diesen direkten und aktiven Wirkungen ist zudem nachweisbar, dass die unternehmerischen Aktivitäten durch weitere Faktoren einer leitenden Person positiv beeinf lusst werden (vgl. Goleman 1999). Gute persönliche Beziehungen zu den für Kulturbetriebe relevanten Partner*innen herzustellen, ist nicht selbstverständlich. Sozial- und Netzwerkkompetenz wie Kommunikationsfähigkeit, Kontaktfreudigkeit, Einfühlungsvermögen, Koordinationsfähigkeit und Flexibilität helfen Kulturunternehmer*innen dabei, angemessen und geschickt mit den Partner*innen umzugehen und damit persönliche Beziehungen zu den Akteur*innen zu entwickeln (vgl. Walter 1998: 118f.). In der Realität ist es aber oft sehr schwer, die Komplexität einer Situation voll zu erfassen, um deren verschiedene Handlungsweisen zu planen oder deren Konsequenzen vorherzusehen. Daher wird zur Verringerung dieser Komplexität meist auf Alltagswissen und normierte Verhaltensregeln zurückgegriffen (vgl. Konrad 2006).3 Beispielsweise müssen politische und verwaltungstechnische Aspekte der Kulturarbeit zwecks einer effizienten Kulturpolitik mit den Kulturbetrieben koordiniert und abgestimmt werden. Auch innerhalb der Organisation von Kulturbetrieben ist das Vorhandensein einer starken Sozialkompetenz in der Leitungsebene entscheidend. Denn die Belange der Mitarbeiter*innen, der Partner*innen und Kund*innen müssen den leitenden Personen bewusst sein bzw. werden, um entsprechend mit funktionalen Aktivitäten reagiert zu können. Je stärker also die Sozial- und Netzwerkkompetenzen der Kulturunternehmer*innen ausgeprägt sind, umso positiver wirkt sich dies auf die effiziente und effektive Netzwerkarbeit und somit den unternehmerischen Leistungsbeitrag der 3 Vgl. hierzu auch die Bemerkungen von Greif (vgl. Greif 1994: 312ff.)
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Kulturunternehmer*innen aus. Gerade hierdurch besteht in Kulturinstitutionen und auch innerhalb von Museumsorganisationen durch erfolgreich gestaltete Vernetzung und Kollaboration das große Potenzial für neue Prozesse, Produkte und Dienstleistungen bzw. für innovationsorientierte Projekt- und Konzeptentwicklungen.
3.5 Strukturelles Kulturwissen Branchenwissen, Erfahrungen und Kenntnisse über den Tätigkeitssektor sind in der Entrepreneurship-Forschung als immanenter Erfolgsfaktor ermittelt worden (vgl. Gemünden/Konrad 2005). Im Kulturbereich ist Branchenerfahrung nicht so eindeutig fassbar. Jedoch sind auch hier die Erfahrungen und Kenntnisse des Kultursektors – also im Grunde das bereits vorhandene strukturelle Kulturwissen – besonders für die Informationsbeschaffung und effektive Strategieplanung für neue Projekte und Konzepte sehr von Vorteil. Kenntnisse über den Kulturbereich, sei es nun durch theoretische Aneignung oder durch in der Praxis erlebte Erfahrungen, erleichtern das Erkennen von wichtigen Personen und das Zurechtfinden innerhalb des Kulturbereichs, was sich wiederum positiv auf die beziehungsspezifischen Leistungsbeiträge der Kulturunternehmer*innen auswirkt (vgl. Vecco/Konrad 2018). Zum anderen sind Personen, die ein hohes Wissen bezüglich der Kultur und der allgemeinen Kulturszene, aber auch im Wissenschaftssektor besitzen, sowie erlebte Erfahrung in der Kulturpraxis als Fachkompetenz vorweisen können, attraktive Partner für weitere Akteure im Kultursektor. Durch diese Art von Fachkompetenz und Branchenwissen werden Personen für andere Personenkreise attraktiver und dadurch eher aufgesucht. Dies erleichtert die Anbahnung und Pf lege von Beziehungen zu wichtigen Personen im Kulturbereich. Hierdurch werden wiederum direkt die Teilkonstrukte Pf lege und Gestaltung von persönlichen Beziehungen und Netzwerken positiv beeinf lusst. Durch Kulturwissen entsteht auch eine gewisse Sicherheit in strategischen Entscheidungsprozessen, wodurch die proaktiven und risikobehafteten Aktionen begünstigt werden, also die unternehmerische Handlungsorientierung gefördert wird. Abschließend kann man also sagen, je höher das Kulturwissen der Kulturunternehmer*innen ausgeprägt ist, umso positiver wirkt sich dies auf die effiziente und effektive Netzwertarbeit und somit den unternehmerischen Leistungsbeitrag der Kulturunternehmer*innen aus (vgl. Konrad 2010: 127).
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4. Unternehmertum und Kultur – Ein Fazit Kulturarbeit und Unternehmertum sind kein Widerspruch. Unternehmerisches Handeln und Verhalten ist für die erfolgreiche Tätigkeit von Leiter*innen und Geschäftsführer*innen von Kulturbetrieben eine wichtige Grundlage. Unternehmerische Herangehensweisen sind eine wichtige Vorrausetzung, um neue Strategien zu entwickeln, neue innovative Angebotsprodukte anzubieten und neue Märkte und Kundensegmente zu erschließen. Dies ist förderlich zum einen für den wirtschaftlichen Erfolg aber auch für den gesellschaftlichen Etablierungs- und Reputationsgrad dieser Kulturbetriebe. Ebenso besitzt der unternehmerische Leistungsbeitrag dieser sogenannten Kulturunternehmer*innen und Leiter*innen von Kulturbetrieben einen starken Einf luss auf die Ausprägung und das Ausmaß der Organisationskultur. Man kann die Organisationskultur auch durchaus als verlängerten Handlungsarm der Kulturunternehmer*innen innerhalb eines Kulturbetriebs wie eines Museums bezeichnen. Eine auf Unternehmertum und Innovation ausgerichtete Organisationskultur, wie es das Konzept des Intrapreneurships oder Corporate Entrepreneurships vorschreibt, wirkt hierbei stark positiv auf den Erfolg und die Innovationskraft des Kulturbetriebs. Durch diesen indirekten Effekt ist der Einf luss des unternehmerischen Leistungsbeitrags des Kulturunternehmers auf den Erfolg noch weitaus höher zu bewerten. Ein überaus wichtiger Faktor innerhalb der Kulturarbeit ist das Zusammenspiel von unterschiedlichen Akteur*innen und Institutionen. Kulturbetriebe agieren in einem komplexen Netzwerk verschiedener Beziehungen. Diese können sehr lose und informell sowie zeitlich sehr eng befristet und fokussiert sein. Diese können aber auch sehr formal institutionalisiert in Form von langfristigen strategischen Partnerschaften sein. Diese gleichzeitig bestehenden Beziehungen werden von erfolgreichen Kulturunternehmer*innen gesucht, unterhalten sowie gepf legt und bilden somit ein persönliches Beziehungsportfolio. Diese Netzwerke, Kontakte, Kooperation und Partnerschaften sind unabdingbar für das Umsetzen innovativer Ideen, den Auf bau neuer Strukturen und das Gewinnen von nachhaltigen Ressourcen. Beziehungen innerhalb dieses Beziehungsportfolios können sich auch gegenseitig beeinf lussen, werden aber gerade durch systemorientierte und beziehungsspezifische Aktionen und Tätigkeiten durch die Kulturunternehmer*innen selbst beeinf lusst. Determinanten, die von außen kommen, können von erfolgreichen Kulturunternehmer*innen bzw. unternehmerisch
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agierenden Leiter*innen von Kulturbetrieben mit geeigneten unternehmerischen Maßnahmen gesteuert werden. Einerseits können diese von außen kommenden Determinanten ausgeglichen werden, wenn die Einf lüsse sich negativ auf das Ergebnis des Kulturbetriebs auswirken. Aber sie können auch andererseits gefördert oder ausgenutzt werden, wenn diese positiven Wirkungen erzielen. Diese netzwerkorientierten und beziehungsbezogenen Tätigkeiten sind als ein bedeutender Teil der unternehmerischen Kulturarbeit anzusehen und allgemein im gesamten Kultursektor als grundlegend zu bewerten. Dieses Agieren in Netzwerken kann formal in Form von offiziellen kooperativen Partnerschaften erfolgen aber auch – und eventuell sogar wichtiger – sehr informell in einem Gef lecht von Kontakten und Beziehungen ablaufen. Ergänzend zu den unternehmerischen Leistungsbeiträgen von Kulturunternehmer*innen kann auch ein sehr positiver Einf luss auf den Erfolg durch die Qualität des persönlichen Beziehungsportfolios ermittelt werden. Die leitenden Akteur*innen und Entscheider*innen innerhalb von Kulturbetrieben repräsentieren in ihrer Person quasi den Knotenpunkt dieses Beziehungsnetzwerks. Über die netzwerk- und beziehungsspezifischen Handlungen und Tätigkeiten werden zudem der indirekte Einf luss des unternehmerischen Leistungsbeitrags und dessen Erfolg verstärkt. Positive Effekte von netzwerk- und beziehungsspezifischen Handlungen und Tätigkeiten sind signifikant nachweisbar im Sinne der Umsetzung innovativer Geschäftsmodelle, zukunftsträchtiger Strategien, des Erschließens neuer Kund*innen- und Nutzer*innenpotenziale aber auch des Einwerbens und Gewinnens neuer Finanzierungs- und Fördermöglichkeiten. Hierdurch ergibt sich die Erkenntnis, dass leitende Kulturmanager*innen von Kulturinstitutionen effektiv und effizient mit relevanten Personen im Kulturbereich netzwerken sollten und dies als unternehmerische Aufgabe verstehen sollten. In der Tat ist eine hohe Ausprägung unternehmerischen Verhaltens und unternehmerischer Fähigkeiten eine zentrale Schlüsselkompetenz für Erfolg in kulturellen Tätigkeitsfeldern und für künstlerische Arbeit. Für die beruf liche Entwicklung im heutigen Kultursektor besteht hier also ein immenser Bedarf und ein großes Bedürfnis nach diesen Schlüsselqualifikationen. Dies sollte deshalb in der Ausbildung von Künstler*innen, Kulturschaffenden und Kulturmanager*innen für Kulturbetriebe zum Ausdruck kommen. Solche Ansätze sind neben der Cultural Entrepreneurship-Forschung mehr
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und mehr auch in der Lehre und Weiterbildung zu erkennen. Neben den klassischen Kulturmanagement Studiengängen werden gerade im internationalen Bereich auch Kurse, bzw. sogar ganze Studiengänge in Cultural Entrepreneurship angeboten.4 Das Konzept des Cultural Entrepreneurship ist nicht nur für das Gründen von neuen privatwirtschaftlichen Kulturbetrieben notwendig. Gerade auch für öffentliche Kulturbetriebe wie Museen reichen reine Managementtools wie Projekt- oder Eventmanagement nicht mehr aus. Um Innovationsorientierung, Geschäftsmodellentwicklung, Bewältigung von gesellschaftlichem und technischem Wandel proaktiv zu gestalten, ist die Vermittlung unternehmerischer Herangehensweise und Methoden von größter Bedeutung. Die Implementierung von begleitenden Ausbildungszielen solcher unternehmerischen Schlüsselkompetenzen ist eine wichtige Voraussetzung für Erfolg innerhalb des Spannungsfeldes von Kunst und Kommerz bzw. Kultur und Kunde. Dies müsste auch in der Entwicklung einer neuen Kulturmanagementtheorie deutlich werden. Nur durch Künstler*innen und Kulturschaffende, die als Kulturunternehmer*innen etwas auf bauen und erfolgreich tätig sind, nur durch unternehmerische Direktor*innen von Kulturinstitutionen, welche innovative Geschäftsfelder, neue risikoreiche Konzepte und zukunftsorientierte Strategien entwickeln, wird Neues geschaffen, das gemanagt werden muss. Wie in Kapitel 1.3 bereits erläutert wurde, wird insbesondere auch im öffentlichen Kulturbetrieb durch unternehmerisches Denken und Handeln Neues und Innovatives geschaffen, was dann operativ und strategisch umgesetzt werden muss. Um es ein wenig provokativ zuzuspitzen: Erst kommen der/die Kulturunternehmer*in, dann der/die Kulturmanager*in (vgl. Konrad 2006: 46ff.). Erste Tendenzen hinsichtlich dieser Betrachtung von Unternehmertum und bzw. in Kulturmanagement sind mittlerweile zu erkennen und setzen sich auch langsam durch (vgl. Colbert 2003; vgl. Colbert 2006; vgl. Mandel 2007; vgl. Konrad 2010; vgl. Klamer 2011; vgl. Hausmann 2007; vgl. Hausmann 2016; vgl. Gehman/Soublière 2017).
4 So finden sich zum Beispiel Cultural Entrepreneurship Studiengänge in der ZHAW sowie entsprechende Module und an der Burgundy Scholl for Business in Dijon.
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Das prototypische Museum gibt es nicht. Museen treten in verschiedensten Typen, Größen und Organisationsformen auf. Jedes Museum hat durch seine Lage, die Gründungsgeschichte und die jeweiligen Sammlungsanfänge und -bestände eine regionalspezifische Bedeutung und ist Teil der historisch gewachsenen Kulturlandschaft. Es hat aufgrund seines Ursprungs eine ureigene Aufgabe und steht damit vor individuellen Herausforderungen, dennoch gibt es Themen, mit denen fast alle Häuser in Berührung kommen. Einschneidende gesamtgesellschaftliche Entwicklungen, wie die Digitalisierung, die zunehmende Diversität der Bevölkerung und der demographische Wandel fordern zum Handeln auf. Die Veränderungsdynamik und die Gleichzeitigkeit der Faktoren, die auf allen Ebenen der Museumsarbeit von außen einwirken, erhöhen den Innovationsdruck. Die Museen sind gefragt, sich auf die veränderten Bedingungen einzustellen, wenn sie weiterhin relevant und bedeutsam sein wollen. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts befassen sich Museen verstärkt mit Zukunftsfragen: Wie stärken Museen ihre gesellschaftliche Relevanz? Wie öffnen sie sich für die breite Bevölkerung? Wie verändert sich die Museumsarbeit mit den Möglichkeiten der Digitalisierung? Wenngleich während der pandemiebedingten Schließungsphasen in den Jahren 2020 und 2021 die digitale Verfügbarmachung musealer Inhalte stark in den Fokus rückte, ziehen diese Fragen auch über die Zeit der Coronapandemie hinaus weite Kreise. Sie bestimmen und bedingen das Management, die Personalführung, die Sammlungspolitik sowie die Ausstellungsund Programmgestaltung. Noch mehr wird es zur Bewältigung der neuen Aufgaben und unter erschwerten postpandemischen Bedingungen für eine Organisation notwendig, Strategien zu entwickeln, die eine Öffnung und Vernetzung fördern. Aufgaben und Themen, die nicht mit vorhandenem Wissen und Strukturen gelöst werden können, benötigen die Einbeziehung
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einer Vielzahl an Perspektiven. Inwiefern Outreach dafür ein geeigneter Ansatz sein kann, soll in diesem Beitrag gezeigt werden.
Begriffsbestimmung von Outreach Als Verb bedeutet to outreach »hinausreichen«, »übertreffen« oder »überwinden«, als Nomen bedeutet outreach »Reichweite« oder »Zugänglichmachen«. Outreach wird aufgrund seines Ursprungs in der Sozialarbeit häufig in Verbindung mit schwer erreichbaren Gesellschaftsgruppen angewendet. Das spiegelt sich auch in der Kulturarbeit wider, etwa um Menschen mit Migrationshintergrund, benachteiligte Jugendliche (Giersing 2012) oder junge Mütter (Jensen 2013) zu gewinnen. Welche Gesellschaftsgruppe jeweils von den Museen schwer zu erreichen ist, hängt von den Standortbedingungen und der individuellen Ausgangslage ab. Definitionsgemäß hat Outreach zum Ziel, unterrepräsentierte Gesellschaftsgruppen einzubeziehen, was konsequenterweise zu einer Veränderung der bisherigen, exkludierenden Organisationskultur führt: »Outreach ist ein systematischer Prozess, bei dem die Kulturinstitution strategische Maßnahmen abteilungsübergreifend plant, durchführt und evaluiert, um Gesellschaftsgruppen einzubeziehen, die das Kulturangebot aus unterschiedlichen Gründen nicht eigeninitiativ wahrnehmen. Dieser Prozess bewirkt eine Veränderung in der Haltung der Institution, der Diversität des Personals, ihrer Programmgestaltung und Kommunikation. Ziel ist eine diversere, die Gesellschaft widerspiegelnde Besucherschaft.« (Scharf/Wunderlich/Heisig 2018: 13) Outreach ist ein strategischer Managementansatz, der Audience Development, Partizipation und soziale Inklusion miteinander verbindet. Das Konzept der sozialen Inklusion beinhaltet die Einbeziehung von bisher sozial ausgegrenzten Gruppen und folglich die Ermöglichung ihrer Teilhabe und Teilnahme. Dafür ist eine Kooperation und Zusammenarbeit mit unterschiedlichen sozialräumlichen Partner*innen erforderlich, die Kontakt zu den verschiedenen Anspruchsgruppen haben oder der Auf bau eines eigenen Teams (vgl. ebd: 18). In diesem Punkt reicht Outreach über Audience Development hinaus, da es nicht nur um das Gewinnen neuer Besucher*in-
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nen geht, sondern die soziale Einbeziehung in die Programmgestaltung ein wesentlicher Bestandteil des Ansatzes ist. So ist Co-Kuration, eine kollaborative und co-kreative kuratorische Praxis, bei der bereits zu Beginn der Ausstellungsplanung verschiedene gesellschaftliche Gruppen einbezogen werden, ohne Outreach kaum realisierbar, wenn ein Museum Nicht-Besucher*innen begeistern möchte. Ein Beispiel mag das veranschaulichen: Während es im Rahmen von Audience Development etwa das Ziel sein kann, den Veranstaltungsraum des Museums für Kongresse an Ärzt*innen zu vermieten, um diese Zielgruppe als Besucher*innen und letztlich als Mitglieder des Fördervereins zu gewinnen, würde eine Outreach-Strategie nicht primär von den Bedürfnissen des Museums ausgehen. Hier würden die Interessen von Patient*innen, Pf leger*innen und Ärzt*innen im Zentrum stehen, wenn es beispielsweise darum ginge, gemeinsam eine Ausstellung zu entwickeln. Mit Outreach wird das sozialräumliche Umfeld eingebunden, ohne dass damit zwingend ein unmittelbarer zahlenmäßiger Anstieg der Besucher*innen oder der fördernden Mitglieder erreicht wird. Auf diese Weise erarbeitet sich das Museum eine Reputation in neuen Bevölkerungskreisen, baut Vertrauen auf und steigert seinen Bekanntheitsgrad. Das Museum lernt, auf welche Weise es für neue, potenzielle Besucher*innen einen Mehrwert bieten und Relevanz schaffen kann. Damit kann das langfristige Ziel verbunden sein, diese neuen Kreise als Besucher zu gewinnen. Outreach wird besonders in gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Umbruchsituationen bedeutsam. In Amerika lässt sich das historisch im Gefolge der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung in den 1960er Jahren beobachten, in Großbritannien mit dem sozioökonomischen Wandel der 1990er und in Deutschland etwa seit 2013 seitdem kulturelle Teilhabe und gesellschaftlicher Zusammenhalt zunehmend auf die politische Agenda kommen.1 Während Outreach früher eine Reaktion auf gesetzliche und regulative Anstöße war, wird es heute zukunftsweisender und strategischer Bestandteil der Museumsarbeit. Oftmals kommt Outreach etwa bei einer vorrübergehenden Schließung zum Einsatz oder wenn bei einer Neugründung der Mu1 Deutlich wird das in Programmen für Kulturelle Bildung, wie etwa »Kultur macht stark« des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) ab 2013: www.buendnissefuer-bildung.de und ab 2016 in Maßnahmen wie »Kultur öffnet Welten«: www.bundesregierung.de/breg-de/bundesregierung/staatsministerin-fuer-kultur-und-medien/kultur/ kulturelle-teilhabe/kultur-oeffnet-welten-438050 oder der »Initiative für Integration« zur gleichen Zeit: www.kulturelle-integration.de alle vom 01.03.2021.
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seumsbau noch nicht existiert. Auch ein Führungswechsel bedingt zuweilen eine Neuausrichtung und bringt Outreach in die Organisation. Outreach – also die Öffnung der Museen für neue Besuchergruppen – gewinnt seit einigen Jahren auch in der deutschen Museumslandschaft zunehmend an Relevanz. Seit 2016 setzt sich Outreach als Ansatz zur diversitätssensiblen Organisationsentwicklung durch, was sich anhand von großen Förderprogrammen oder neu geschaffenen Stellen, wie Outreach-Kuratoren ablesen lässt.2 Die Coronapandemie markiert zudem eine Umbruchsituation und eine Zeit, in der sich Museen gefragt haben, wie sie einerseits den Kontakt zu ihrem bestehenden Publikum aufrechterhalten und nachhaltig Beziehungen zu neuen Besucher*innen auf bauen können. Das spricht dafür, dass Outreach auch in Deutschland als geeignetes Diversity-Instrument bedeutsamer wird.
Outreach als Diversity-Instrument Diversity als Begriff wird zunehmend in der Fachöffentlichkeit und Öffentlichkeit thematisiert und die diversitätssensible Transformation von Museen wird als Zukunftsaufgabe verstanden.3 Wurde Diversity zu Beginn häufig mit Internationalität gleichgesetzt oder auf Aspekte der Migration und Inklusion 2 Beispielsweise im Programm »360 Grad – Fonds für neue Kulturen der Stadtgesellschaft« der Kulturstiftung des Bundes, mit dem die diversitätsorientierte Öffnung von Kulturinstitutionen gefördert wird: www.kulturstiftung-des-bundes.de/de/projekte/nachhaltigkeit_und_zukunf t/detail/360_fonds_fuer_kulturen_der_neuen_stadtgesellschaf t.html vom 10.05.2018. 3 Beispielsweise: Netzwerk Migration in Europa e.V.; International Council of Museums Europe (ICOM Europe); Centre de Documentations sur les Migrations Humaines (2008), Tagungsbericht: »Migration in Museums: Narratives of Diversity in Europe«, 23.10.2008-25.10.2008 Berlin, in: H-Soz-Kult, 28.01.2009, www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-2500, das Tagungsprogramm: Bundesakademie Wolfenbüttel (2015): »Vielfalt – Das Erfolgsmodell? Kultureinrichtungen und Diversität«, www.uni-hildesheim.de/media/fb2/kultur politik/aktuelles/pdf/Programm_Kultureinrichtungen_und_Diversit%C3%A4t_-_ku-21__21._-_22._Oktober_2015.pdf oder das Tagungsprogramm: »Für eine inklusive Gesellschaft. Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland (2017): Diversität und das Museum von morgen«, 3.12.2017-4.12.2017 www.bundeskunsthalle.de/fileadmin/user_up load/04Vermittlung/inklusion_integration/Fuer_eine_inklusive_Gesellschaf t.pdf, Staatliche Kunstsammlungen Dresden (2020): Museen und Hochschulen der Vielfalt. Wie leben und lernen Museen und Kunsthochschulen Diversität aktiv?/Museums and Universities of
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reduziert, wird zunehmend deutlich, dass es vor allem darum geht strukturell benachteiligte Gruppen in den Blick zu nehmen. Eine seit 2015 laufende Studie aus Großbritannien zeigt anhand von Interviews mit Beschäftigten in der Kreativwirtschaft und in der Kultur die strukturellen Hürden auf, die mehr Diversität in Organisationen verhindern. Demnach ist zwischen 1981 und 2011 die soziale Struktur der Beschäftigten in den Kreativberufen und in der Kultur unverändert geblieben. Das betrifft Künstler*innen, Musiker*innen oder Schauspieler*innen genauso wie Angestellte in Bibliotheken, Museen und Galerien. Hier sind Frauen, People of Color und insbesondere diejenigen mit einer Herkunft aus Arbeiterfamilien stark unterrepräsentiert. Die Studie untersucht zudem die Vorlieben und Interessen, sowie die Netzwerke der Beschäftigten in der Kultur- und Kreativbranche. Deutlich wurde, dass die Beschäftigten in der Kreativbranche selber kaum Kontakt zu Menschen im Arbeitermilieu haben. Zudem finden sich die Geschmacksmuster der »Kreativszene« nicht in der Gesellschaft wieder (vgl. Brook/O’Brien/Taylor 2018). Demnach fehlt es wechselseitig an Zugängen. Der gesamte Kultursektor bleibt überwiegend unter sich, sowohl was die Besetzung von Stellen angeht, beim Nachwuchs, in der Produktion als auch bei der Rezeption. Es ist davon auszugehen, dass eine Studie in Deutschland zu ähnlichen Ergebnissen kommen würde. Sicher kann basierend auf Ergebnissen der Besucher- und Nicht-Besucherforschung auch für Deutschland die Aussage getroffen werden: Ein von Akademiker*innen geprägtes Umfeld spricht vor allem Akademiker*innen an. Demnach gehört die regelmäßige Teilhabe an Kunst- und Kulturveranstaltungen nur für eine Minderheit zum Lebensalltag. Neben Personenkreisen aus traditionellen Arbeitermilieus werden zahlreiche weitere Menschen mit vielfältigsten Hintergründen, Geschichten und Bedürfnissen von den musealen Angeboten kaum angesprochen geschweige denn repräsentiert. Eine steigende Anzahl an Kulturangeboten trifft zudem auf ein schrumpfendes Interesse in der Bevölkerung. Der Kreis der Museumsinteressierten Diversity: How Can Museums and Art Universities Take an Active Approach to Living and Learning Diversity?. In: H-Soz-Kult, 02.08.2020, www.hsozkult.de/event/id/event-93012. Siehe auch Berichterstattungen wie: Deutschlandfunkkultur (2020): Museen der Zukunft, zugänglich, einladend und offen, am 07.07.2020, www.deutschlandfunkkultur. de/museum-der-zukunf t-zugaenglich-einladend-und-of fen.1008.de.html?dram:artic le_id=480059 oder Morlang, Eva (2020): Diversität im Museum, am 29.09.2020: https:// detektor.fm/kultur/monopol-podcast-diversitaet-im-museum alle vom 10. Februar 2021.
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wächst nicht von allein, jedenfalls nicht über die sich bisher überwiegend aus einem akademischen Umfeld zusammensetzende Besucherschaft hinaus. Die Nach-1980-Geborenen, die oft als Generation Y, Digital Natives oder Millennials bezeichnet werden, sind schon in ihrer Menge weniger zahlreich und darüber hinaus mit anderen Kulturtechniken und Erwartungen groß geworden. Sie finden ihr eigenes Kunst- und Kulturverständnis nicht wieder und das pädagogische Begleitprogramm der Institutionen erreicht oftmals nur einen sehr eingeschränkten Kreis. Der Modus, in dem heute Kunstwerke entstehen und rezipiert werden, verändert sich vor dem Hintergrund der digitalen Techniken fundamental. Das Kulturverständnis ist geprägt durch das Prinzip der participatory culture und somit durch die Kulturtechnik des copy/paste und Kulturformen wie Sample, Mashup, Hack und Remix (vgl. Meyer 2015). Pankratz spricht von einer »Generation C«, die computerised, communicating, connected, clicking, community-orientied, collaborative und co-creative sei (vgl. Pankratz 2017). Diese Generation produziert laufend Inhalte auf sozialen Plattformen und sieht das Internet als die Hauptquelle für Unterhaltung (vgl. Picket 2018). Die Generation C bestimmt die Gegenwart und die Zukunft der Kulturbetriebe auch als potenzielle Mitarbeiter*innen mit anderen Anforderungen an Organisationskultur, Führungskultur und Arbeitsbedingungen. Mandel kommt in ihrer Studie zu Veränderungen im Cultural Leadership durch neue Generationen von Führungskräften zu folgenden Erkenntnissen: Der Wert von Kultur als ein sinnstiftendes Ideal ist nicht mehr alleine aussagekräftig. Attraktiv ist ein*e Arbeitgeber*in mit f lexiblen Arbeitszeitmodellen, Gestaltungsmöglichkeiten, angemessener Bezahlung und Perspektive. Die gesellschaftlichen Ansprüche an Kulturinstitution steigen, zunehmend wird die Diversität von Inhalten und Mitarbeiter*innen eingefordert. Mit den veränderten Wertvorstellungen wandeln sich auch die Anforderungen an die Führung der Institutionen. Shared Leadership und Partizipation werden zu neuen Idealen (vgl. Mandel 2018). Und was sagen die noch Jüngeren? Noah (9) erschafft mit seinen Freunden sein Traummuseum: »Die meisten Museen sind für Eltern gemacht und das finden wir langweilig, da muss man immer so viel lesen und nichts anfassen. Wir wollen eine richtig spannende Ausstellung machen, die soll vor allem bunt werden. Wir haben einen großen Karton und darin bauen wir unser Traummuseum. Hier
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ist so ein Mitmachbild und das wird nie fertig, da können alle mitmachen, die mitmachen möchten. Die Bilder hängen nicht so hoch wie im normalen Museum, damit die Kinder das besser sehen können und wir wollen andere Kinder durch die Ausstellung führen.« (KiKa 2019) Nicht alle Kinder sind von sich aus so museumsbegeistert wie Noah. Und obwohl Schulen der entscheidende Ort sind, um Kinder aus nichtakademischen oder finanziell benachteiligten Familien mit Kultur in Kontakt zu bringen, zeichnen sich diese jedoch eher durch mangelnde kulturelle Bildungsangebote aus (vgl. Rat für kulturelle Bildung 2017: 7ff.). Ein nachteiliger Effekt, der durch die pandemiebedingten Schulschließungen noch verstärkt wurde. Die Gesellschaft fährt auf das notwendigste herunter was im Schulbetrieb bedeutet, dass der Fokus auf die Kernfächer gelegt wird. Eine ernsthafte Auseinandersetzung mit Diversität stößt eine Reihe von Veränderungsschritten an und führt zu einem Kulturwandel im Inneren der Organisation. Insbesondere bei der Ansprache eines diversen Publikums, fehlt es oft an Ressourcen, seien es Kompetenzen und Erfahrungen in der Mitarbeiterschaft, Kontakte in die Stadtbevölkerung oder personelle Kapazitäten (vgl. ZAK NRW 2019). Diversity hat, wie in diesem Abschnitt deutlich wurde, viele Facetten.
Die Outreach-Strategie Museen begegnen diesen Herausforderungen, indem sie mit einer konsequenten Outreach-Strategie in einem offenen Innovationsprozess direkte Begegnungen mit bisher unvertrauten Personengruppen schaffen. Damit verbunden sind eine wirkungsorientierte Umsetzung sowie neu zu erlernende kollaborative und co-kreative Arbeitsweisen. Die Tätigkeit von OutreachManagern und -Kuratorinnen hat daher wenig mit der klassischen Vermittlungsarbeit zu tun. Es geht nicht nur darum, etwas außerhalb des Museums anzubieten oder einfach neue Zielgruppen für ein Ausstellungsprogramm zu erschließen. Das wechselseitige Annähern und Kennenlernen führt in der Konsequenz zu einer Veränderung der Organisation, sobald sie sich ihre gewohnten Denk- und Handlungsmuster erst einmal bewusstgemacht hat und diese schrittweise verlernt. Der damit verbundene Veränderungsprozess basiert auf folgenden Grundlagen (vgl. Scharf et al. 2018: 110-116):
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Ref lexion der Haltung in der Institution Etablierung und Einbindung von Outreach auf Führungsebene Diversifizierung und Qualifizierung der Mitarbeiter*innen Mut zur co-kreativen Arbeitsweise Auf bau von Partnerschaften
Outreach beschreibt einen offenen Innovationsprozess und ist insofern ein wandelbares Konzept, als dass es sich an die sozialräumlichen Bedingungen und Gegebenheiten anpasst. Dies geschieht durch Kontaktauf bau, Einbeziehung und Beziehungsauf bau. Die individuelle Outreach-Strategie wird daher von den jeweiligen Ausgangsbedingungen des Museums bestimmt. Es lassen sich drei Kategorien von Outreach definieren: Community-Outreach, dass die lokale oder breite Öffentlichkeit einbezieht, School-Outreach, das sich an Schulen richtet, und Digital-Outreach als Outreach mit digitalen Mitteln (vgl. ebd.: 76-79). Es ist sinnvoll, in einem Bereich mit konkreten Zieldefinitionen zu beginnen und die Outreach-Strategie kontinuierlich weiterzuentwickeln. Beispielsweise kann es sich das Museum zum Ziel nehmen, mit Schulformen zusammenzuarbeiten, die bisher im Museum unterrepräsentiert sind. Es könnte sich auch zum Ziel nehmen, ein nichtakademisches Umfeld anzusprechen. Wie Community-Outreach, School-Outreach und Digital-Outreach kombiniert und organisiert werden, hängt vom Vernetzungspotenzial der Mitarbeitenden in das jeweilige Umfeld ab, das aktiv auf- und auszubauen ist. Sie schaffen stimmige Formate und Angebote wie co-kreative Produktionen, Pop-ups, Flashmobs, Satellitenmuseen, Online-Tools oder digitales Storytelling. Ob vor Ort, mobil oder virtuell, der Modus des jeweiligen Sozialraums bildet die Basis der Konzeption. Wichtig für die Erfolgsmessung ist die Definition messbarer Ziele und einer übergeordneten Zielstellung. Die Steigerung der unterrepräsentierten Schulformen ist genauso messbar wie die Rekrutierung von Mitarbeiter*innen mit unterschiedlichen Bildungsbiographien oder der Auf bau von Kooperationen mit Partnerorganisationen im Umfeld des Museums. Was allerdings schwer messbar ist, ist häufig der unmittelbare Effekt von Outreach-Formaten, die außerhalb des Museums stattfinden. Reputation und Vertrauen in einem neuen Umfeld aufzubauen, ist ein langwieriger Prozess.
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Abbildung: Kategorien, Formate, Modi & Wirkung von Outreach in Museen (eigene Darstellung)
Outreach funktioniert in jedem Museum. Es setzt jedoch eine grundlegende, mitunter auch schmerzliche Veränderung der Organisation voraus, die mit Ref lexion und Aushandlungen einhergeht. Aus dem Drei-P-Ansatz (Personal, Programm, Publikum) wird ein die gesamte Organisation durchdringender Acht-P-Ansatz (Personal, Programm, Publikum, Prozesse, Partnerschaften, Preis, PR/Kommunikation, Passion), der alle Bereiche einbezieht. Ein innovationsorientiertes Museum stellt Besucher*innen und ihre Bedürfnisse in den Mittelpunkt. Es geht nicht darum, den wissenschaftlichen Anspruch aufzugeben, sondern die wissenschaftliche Arbeitsweise mehr Menschen zugänglich zu machen. Die Ausstellung muss bereits in der Phase der Konzeption für viele Perspektiven geöffnet werden. Auch hier erfolgt die Einbindung verschiedener Sichtweisen nicht nach einem festgelegten Schema, sondern ist abhängig von den geographischen, sozialräumlichen und personellen Voraussetzungen des Museums und insbesondere von der Ausstellungsidee. Wichtig ist dabei, dass das Museum das Potenzial seines Umfeldes erkennt und dieses auf vielfältigste Weise mit einbezieht. Eine Ausstellung über die Mode im 18. Jahrhundert, kann sich ausschließlich auf die Träger*innen und ihren höfischen Kontext fokussieren oder auch die kulturhistorischen und technischen Aspekte des Handwerks in den Blick nehmen.
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Das Ausstellungsthema Mode bietet dann eine Vielzahl an Möglichkeiten, um aktuelle Bezüge herzustellen und mit der Stadtgesellschaft – etwa mit Handwerks- und Ausbildungsbetrieben oder Schulen in Kontakt zu treten. Dadurch halten neue Themen, Aspekte, Sichtweisen und vor allem eine andere Sprache und Visualisierung Einzug ins Museum. Es entsteht eine Vernetzung und selbstverständliche Nähe zu verschiedenen Lebenswelten.
Einblick in die Outreach-Praxis Herausforderungen, die sich in Verbindung mit Outreach stellen, betreffen die Qualifikation des Personals, die Intensität und Kontinuität des Prozesses, die Wechselwirkung in das Museum hinein und schließlich die Änderung der Haltung. Wie langwierig die Transformation sein kann, zeigt selbst das herausragende Beispiel der Glasgow Museums, die bereits auf eine langjährige Erfahrung zurückblicken. »Open Museum« lautet der Name der Outreach-Abteilung der neun Glasgower Museen, die seit über 25 Jahren die Verbindung zur Stadtbevölkerung herstellt. Sie unterstützt die Philosophie der Museen, dass die Sammlungen den Menschen in Glasgow gehören: Sammlungsobjekte werden lokalen Gruppen zur Verfügung gestellt, die gemeinsam mit den Outreach-Mitarbeiter*innen Ausstellungen gestalten, die auch in Krankenhäusern, Bibliotheken oder Einkaufszentren zu sehen sind (vgl. Erickson 2015). Begegnung darf dabei keine Einbahnstraße bleiben. Noch wirkt Outreach zu wenig in die Museumspraxis hinein. Damit die Stimmen aus der Bevölkerung tatsächlich Eingang ins Museum finden, wurde in Glasgow ein Forum eingerichtet, in dem Bevölkerung, Outreach-Mitarbeiter*innen und Kurator*innen untereinander, mit der Sammlung und zu aktuellen Fragestellungen in Kontakt treten (vgl. ebd.). Das historische museum frankfurt – hmf (Eigenschreibweise) ist ein weiteres viel zitiertes Beispiel aus Deutschland mit einer umfassenden Outreach-Strategie. Es ist nicht neu, dass Museen partizipativ sammeln oder Besucher*innen in Ausstellungsplanungen einbeziehen. Co-Kreation ist jedoch ein partizipatorischer Prozess, der bereits in der Phase der Konzeption beginnt. Die besondere Herausforderung ist dabei die Einbeziehung der Nicht-Besucher*innen. Das hmf sucht daher Wege, um die Interessen und Bedürfnisse der Frankfurter Bürger*innen, die bislang nicht präsent sind, kennenzulernen. Das Museum macht sich im Rahmen des Stadtlabors mit
Zukunftsfähig mit Outreach
bestimmten Forschungsfragen auf den Weg und sammelt in wenig repräsentierten Stadtteilen Geschichten, Bilder, Töne und Exponate der Frankfurter Bürger*innen. Die erste der Stadtlabor Ausstellung »Ostend/Ostanfang. Ein Stadtteil im Wandel« fand von April bis Juni 2011 im Frankfurter Stadtteil Ostend statt: »Wie erleben Bewohner und Besucher das Ostend? Was verbindet sie mit dem Stadtteil? Wie war es früher? Und wie wird es werden? Diese Fragen kann ein Museum nicht alleine beantworten, deshalb lud das Stadtlabor unterwegs all diejenigen ein, die etwas zu diesen oder anderen Fragen rund um die Veränderungen des Ostends beitragen wollten. Gemeinsam realisierten wir eine erste Stadtlabor-Ausstellung. Über 100 Menschen aus dem Viertel und Menschen, die sich aus persönlichen, künstlerischen oder wissenschaftlichen Gründen mit dem Stadtteil beschäftigen, richteten mit ihren Ausstellungsbeiträgen abwechslungsreiche Blicke auf das Ostend.« (hmf 2011) Einerseits mündet dies in Ausstellungen vor Ort, andererseits wird das, was als Suchbewegung außerhalb begonnen hat, schrittweise in die interne Museumsarbeit integriert (vgl. Scharf et al.: 68). Ganz im Sinne des in Frankfurt durch Hilmar Hoffmann geprägten Credos einer »Kultur für alle« hat das Museum es sich zum Ziel gesetzt, künftig sämtliche Einwohner*innen der Metropolregion Frankfurt zu erreichen und ist diesem Ziel mit fünf Stadtlabor-Ausstellungen außerhalb des Museums schon einen Schritt näher gekommen (vgl. Gerchow/Thiel 2017: 143). Das Stadtlabor hat die vielfältige Stadtgesellschaft angesprochen: Museumsaffine, Museumsnahe und Museumsferne. Sprach Direktor Jan Gerchow im Jahr 2015 noch von einem gewagten Experiment (vgl. Gesser/Mucha 2015), bestärken die Erfahrungen ihn, dieses Format 2017 sowohl außerhalb als auch innerhalb des Museums weiterzuführen – auch wenn daran viele praktische und theoretische Fragen für die zukünftige Museumsarbeit geknüpft sind (vgl. Gerchow/Thiel 2017: 149). Wieder drei Jahre später, im Jahr 2020 zeigt sich, wie dauerhaft Strukturen und Abläufe für eine neue kuratorische Praxis etabliert wurden, die eine Einbeziehung des Stadtlabor-Teams sicherstellen. Das Stadtlabor hat neue Ebenen und Möglichkeiten für Teilhabe eröffnet, neue Kompetenzen gefordert und geholfen diese zu entwickeln und es hat die Kultur des Zusammenarbeitens im Museum verändert.
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Museumsneueröffnungen lassen bereits künftige Entwicklungen greifbar werden. Das Ende 2018 in Helsinki eröffnete Amos Rex-Museum, verschmilzt nicht nur architektonisch die Innen- und die Außenwelt. Die Dachfassade des unterirdischen Museums, die Einblicke ins Innere erlaubt, lädt zum Spielen ein und ist ein beliebtes Motiv für Selfies. Im Ausstellungsraum begegnen sich interaktive, zeitgenössische Kunst und Urban Art (vgl. Hollenstein 2018). Zahlreiche Besucher*innen und besonders Jugendliche werden von der außergewöhnlichen Architektur angesprochen. Der Museumsdirektor sagt: »Wir wollten es so zugänglich wie möglich machen, so einfach wie möglich zu besuchen, und dass jeder weiß, wo es sich befindet.« (Hunt 2018) Das dieser Wunsch nach Zugänglichkeit interne Transformationsprozesse mit sich bringt wird auch in der Reaktion des Museums auf eine Petition Kulturschaffender deutlich, die Maßnahmen gegen Rassismus und für die Öffnung des Museums fordert. Auf seiner Website veröffentlicht das Amos Rex museumsübergreifenden Schritte etwa in Bezug auf Gleichstellung, Inklusion und Antirassismus (vgl. Amos Rex 2020). Das Anfang 2019 in New York eröffnete, spartenverbindende Kulturzentrum The Shed, wird in der Kunstpresse als Museum der Zukunft bezeichnet, nicht zuletzt, weil es eine neue Qualität der Unmittelbarkeit im Erleben von Kunst ermöglicht (vgl. Hohmann 2019). Outreach hat für den Gründungsdirektor Alex Poots eine hohe Priorität. Lange vor der Eröffnung, ohne Gebäude und ohne Team, startete The Shed mit einem Tanzkollektiv – das sich mit Flexing, einer besonderen Form des Street Dance aus Brooklyn, einen Namen gemacht hat – ein Community- und School-Outreach-Projekt. Jugendliche wurden zu Trainer*innen weitergebildet und arbeiteten dann mit Schulen in benachteiligten Stadtvierteln (vgl. Kinsella 2019). Aus dieser Initiative entwickelte sich schließlich FlexNYC, ein New York weites, kostenloses Tanzangebot für Jugendliche und eine Tanzcompany, die Bestandteil des Programms von The Shed ist (vgl. The Shed 2019). Outreach ist darüber hinaus im Kern der Institution verankert. Das zeigt sich nicht nur in der programmatischen Arbeit, sondern zum Beispiel auch in der Preispolitik. Die »billigen Plätze«, also Tickets für zehn Dollar, machen zehn Prozent jeder Sitzreihe aus, so dass im Publikum eine soziale Durchmischung entsteht (vgl. Brockes 2019). Wie erfolgreich diese Preispolitik ist und inwiefern die Diversität innerhalb des Publikums tatsächlich steigt, wird sich erst im postpandemischen Regelbetrieb zeigen.
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In den Museumsprojekten der Zukunft wird die Digitalisierung die oben beschriebenen Grenzen weiter auf lösen. Museen werden ihr Publikum dort treffen, wo es sich digital bereits befindet. Ein Beispiel dafür ist die Zusammenarbeit von Brooklyn Museum New York und Netf lix, bei der das Museum in der virtuellen Modeausstellung »The Queen and the Crown« die Kostüme aus zwei Serien des Streamingdienstes zeigt. (vgl. Brooklyn Museum 2020). Museen werden virtual- und Augmented-Reality-Anwendungen nutzen, die zur vollkommenen Immersion führen können. Ein solches Erlebnis bildet den Kern des 2018 in Tokio, im MORI Building eröffneten Museums für digitale Kunst, das »Digital Art Museum: teamLab Borderless«. Hier verschmelzen Kunstformen und -stile miteinander, die Besucher*innen tauchen völlig in das Kunsterlebnis ein und werden selbst Teil der Kunst (vgl. Dermentzi 2018). Die Auseinandersetzung mit der Zukunft führt indes zur Gründung von sogenannten Zukunftsmuseen wie etwa dem Futurium in Berlin. Seine Objekte sind nicht Artefakte der Vergangenheit, sondern Zukunftsentwürfe, die seit Ende 2019 gestaltet und diskutiert werden.
Wirkungsorientierte Umsetzung Natürlich ist es leichter, Outreach in Verbindung mit einem neuen Museumsprojekt zu planen. Ein Museum, das von Anfang an auf Öffnung setzt und die unterschiedlichsten Menschen erreichen möchte, denkt Outreach bereits bei der Konzeption mit und trifft dementsprechend Personal- und Programmentscheidungen. Bei vielen Neugründungen ist es das Mittel der Wahl, um Relevanz und Akzeptanz bei den verschiedensten Personengruppen und in der unmittelbaren Nachbarschaft des Museums zu schaffen. Entweder bestimmt das Museum den Wirkungsradius der Outreach-Maßnahmen oder er ergibt sich aus dem Bildungsauftrag. Um Outreach als gleichberechtigten Funktionsbereich in einem Museum aufzubauen, sollte die Outreach-Strategie idealerweise auf einem Wirkungsmodell basieren. Dazu kann ein Museumsteam sich folgende Fragen stellen: 1. Welche gesellschaftliche Herausforderung wollen wir lösen? (um beispielsweise einen Beitrag zu einer offenen und toleranten Gesellschaft zu leisten oder die Bildungsgerechtigkeit zu fördern);
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2. Welche Barrieren bestehen? (beispielsweise Zugangsbarrieren zum Museum wie die Eingangssituation, Ansprache, Preisgestaltung, Aufenthaltsqualität, Themensetzung oder Sprachbarrieren); 3. Wen wollen wir erreichen? (beispielsweise die lokale Bevölkerung oder Schüler*innen an Haupt,- Real oder Stadtteilschulen); 4. Wie ist unser Zugang zu den Menschen, die wir erreichen wollen? (beispielsweise durch eine direkte Ansprache und Kontaktaufnahme oder eine Ansprache über Vereine und Verbände); 5. Mit welcher eigenen Vorstellung (Werte, Bildungsauftrag und Ziele) treten wir an die Menschen heran und wie formulieren wir diese? (beispielsweise: »Jede*r Schüler*in soll einmal im Leben das Jüdische Museum Berlin besucht haben!«); 6. Was sind die Bedürfnisse der Menschen, wie sind ihre Vorstellungen? Welche Maßnahmen führen zum Ziel? (beispielsweise Status quo-Analyse, Stakeholder-Analyse, Verteilerauf bau, direkte Ansprache, Workshops, Runde Tische, Werkstätten, Pop-up-Formate, mobile Angebote, Storytelling, einfache und anschauliche Objekttexte, sprachliche Übersetzungen oder partizipative Ausstellungsentwicklung); 7. Über welche Wege und Kanäle wollen wir kommunizieren? (beispielsweise mit mehrsprachigen Plakaten oder Flyern in Cafés und Bäckereien, über eine Whatsapp-Gruppe, Social Media, per Radio, Telefon oder mit einem Brief); 8. Anhand welcher quantitativen und qualitativen Ergebnisse lässt sich der unmittelbare Erfolg messen? (beispielsweise haben eine bestimmte Anzahl von Werkstätten stattgefunden, haben die Museumsmitarbeiter*innen die Bedürfnisse kenngelernt, wurde ein regelmäßiger Beirat etabliert und wurden Formate erprobt, überarbeitet und angepasst; 9. Wie lässt sich der langfristige Erfolg messen? (beispielsweise: »Das Museum wird von 20 Prozent mehr Haupt,- Real,- und Stadtteilschüler*innen besucht«, »Der Bekanntheitsgrad des Museums bei den Bürger*innen ist gestiegen«, »Hat die Diversität bei den eigenen Mitarbeiter*innen zugenommen?« oder »Der Diskurs über Toleranz wird öffentlich geführt und wahrgenommen«). Ob groß oder klein, ob Neugründung oder Haus mit langer Tradition, ob im städtischen oder ländlichen Raum: die Schritte, derer es für eine erfolgreiche Outreach-Strategie bedarf, sind ähnlich. Es bedarf einer Etablierung
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auf Führungsebene, der Ref lexion des eigenen Status quo, und die Freisetzung von Zeit und finanziellen Ressourcen für diese Prozesse. Dazu gehört ebenfalls die Entwicklung einer diversitätssensiblen Haltung, Einstellung qualifizierter Outreach-Mitarbeiter*innen und höhere Diversität im Personal. Zudem erfordert ein gesellschaftsorientierter Entwicklungsansatz neue Arbeits- und Kommunikationsweisen. Nicht zuletzt sollte die Aufgabe mit Experimentierfreude und Neugierde angegangen werden. In Kontakt zu gehen, bedeutet unmittelbare Feldarbeit, die Verbindung zu Intermediären und den Auf bau neuer Partnerschaften. Dabei ist ein hohes Maß an Kreativität gefordert, um Museumsinhalte für bisherige Nicht-Besucher*innen relevant werden zu lassen. Wichtig ist, Ziele zu definieren, den Kulturwandelprozess zu steuern und die Erfolge und Misserfolge sowohl für die Mitarbeiter*innen als auch für die Öffentlichkeit sichtbar zu machen. Transformationsprozesse fordern vom Museumsteam den Willen, die Leidenschaft, Zeit und Beharrlichkeit, soziale Mehrsprachigkeit, Frustrationstoleranz und Mut. Kurzum, die Formel für eine erfolgreiche Outreach-Strategie lautet: Wollen und Tun.
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»Supersizing the Museum« Digital Outreach und die Erweiterung des Museums in seine Umgebung Kasra Seirafi, Florian Wiencek
Problemstellung Der 20. Bayerische Museumstag im Juli 2019 trug den Titel »Im digitalen Raum _ Das erweiterte Museum«. Der Euphemismus des Titels ist kaum zu übersehen. Denn wer sich in den letzten Jahren mit dem Selbst- und Fremdbild musealer Institutionen beschäftig hat, weiß: ein Museum ist, noch immer und in erster Linie, abgestecktes Terrain. Museen bilden klar abgegrenzte, in sich geschlossene Systeme, die Kunst, Kultur, Technik und Geschichte professionalisiert in sich sammeln und durch eine architektonische Klammer binden. Die »Aus-Stellung« kehrt sich zumeist gegen ihre explizit getragene Wortbedeutung und offenbart sich eher als das »Hinein-Stellen« von (analogen wie digitalen) Artefakten in die Örtlichkeit der Institution. Zwar thematisch weit gefächert und gesellschaftlich kontextualisiert, jedoch nur um durch die räumliche und institutionelle Abgrenzung zusammengehalten zu werden. Dass die allgemeine Institutionsbegriff lichkeit und das Gebäude mit demselben Namen bezeichnet werden (wie bei Kirche oder Schule) ist kein Zufall. Die gefeierte Inszenierung des Gebäudes und die mediale Überhöhung der architektonischen Meisterleistungen, die bei jeder Neugründung zu beobachten sind, bilden nur ein Oberf lächenphänomen der örtlichen Geschlossenheit des Museums. Viel tiefgreifender und weitreichender sind die institutionellen Auswirkungen des gelebten Selbstverschlusses: Museen grenzen sich, gewissermaßen als »Silos«, von anderen, sie umschließenden Entitäten ab. Die Umgebung, die Stadt, andere Institutionen, aber auch die Lebenswelt der Menschen, bilden die Umwelt des Systems und werden in Wahrheit nur
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durch Fremdreferenzen aus dem eigenen Innen heraus bezeichnet. Dass die Hallen der Kunst auch für Konferenzen, Firmenfeiern oder Geburtstagspartys geöffnet werden, ist eher als Mehrzwecknutzung der Räumlichkeiten zu verstehen, als eine inhaltliche Öffnung nach Außen. Und dies ist in nicht wenigen Fällen vor allem dem ökonomischen Einnahmendruck geschuldet.
Digital Outreach Sicherlich ist Abgrenzung ein notwendiges Mittel, um eigene Identität zu erzeugen und zu erhalten. Wir wollen in diesem Artikel jedoch Wege aufzeigen, wie das Museum sich in seine Umgebung hinein erweitern kann, um gerade so seine Identität zu stärken und für die Zukunft fit zu machen. Es wird hierbei das Konzept des musealen Outreaches (vgl. Scharf/Wunderlich 2014) mit den Mitteln neuer digitaler Technologien verbunden. Mit Outreach ist ein Prozess gemeint, »that involves going out from a specific organization or centre to work in other locations« (Golding 2006: 4). Wichtig zu erwähnen ist, dass der Outreach-Aspekt unserem Vorhaben eine ethische/normative Dimension, sowie eine Diversifikationskomponente hinzufügt: denn die Erweiterung der Wirkung des Museums erreicht »sets of people who typically do not or cannot avail themselves of the services of that centre« (ebd.). Verbunden mit unseren Ausführungen oben, bedeutet dies, dass der Museumsraum als in sich geschlossene physische und semantische Welt nicht nur sich selbst von seiner Umwelt abgrenzt, sondern gerade dadurch auch einen Großteil der Bevölkerung von seinem Wissens- und Vermittlungsauftrag ausschließt. Outreach versucht dem aktiv entgegenzuwirken, indem das Museum nach Außen geht, um dadurch Bevölkerungsgruppen anzuziehen und einzubinden, die sonst mit der Institution wenig Berührungspunkte haben. Es werden auf den nächsten Seiten internationale Praxisbeispiele vorgestellt und Leitlinien entwickelt, die einem innovationsorientieren Kulturmanagement neue Möglichkeiten aufzeigen. Wir verfolgen hierbei die These, dass der zweckmäßige Einsatz neuer Technologien der Organisation Museum einen bedeutenden Outreach-Impact ermöglichen kann. Verbunden mit den richtigen gesamtstrategischen Entscheidungen, können Museen mit Digital Outreach ihre Immanenzlogik und -praxis durchbrechen, über ihre eigenen Mauern hinauswirken und ihren eigentlichen Zweck vertiefen: Wissen über das kulturelle Erbe an alle weitergeben.
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Es werden drei Digital-Outreach-Aspekte vorgestellt, wie Museen sich mit ihrer Umgebung verbinden können. Es eignet sich hierbei die Metapher des Raumes, der sich, wie oben dargestellt, im Denken des Museums fest etabliert hat. Gemeint ist auch der Raum außerhalb des physischen Museums, wodurch neue Wege des Outreaches aufgezeigt werden können, die von digitalen Technologien ermöglicht werden, um den Museumsraum zu erweitern: 1. Digital Maps: Den Raum entdecken. 2. Augmented Reality: Den Raum erweitern. 3. Gamification: Den Raum bespielen.
1. Digital Maps: Den Raum entdecken Der smarte Einsatz digitaler Besuchsservices wird es Museen in Zukunft noch stärker ermöglichen, sich mit Ihrer Umgebung zu verbinden und Outreach-Prozesse zu verstärken. Wie die unten vorgestellten Praxisbeispiele deutlich zeigen werden, liegt ein hohes Potenzial darin, Vermittlung für Besucher*innen nicht nur innerhalb der Museumswände anzubieten, sondern die Stadt, die Region oder das Land in die Vermittlung mit einzubinden. Mobile Apps bilden eine spannende Möglichkeit, Besuchende zu motivieren, die Umgebung mittels ortsbezogenen Storytellings zu explorieren. So können die Themen der Ausstellung in der Region wiederentdeckt oder das touristische Umfeld genutzt werden. Es werden in diesem Kapitel Herangehensweisen und Praxisbeispiele für Digital Outreach vorgestellt, welche Themen der Ausstellung mit Orten der Umgebung verbinden. Ein solcher Digital-Outreach-Aspekt erzeugt für das Museum (a) einen didaktischen Vermittlungsvorteil, da Ausstellungen oft eine direkte inhaltliche Verknüpfung mit ihrer Umgebung aufweisen. Andererseits wirkt sich (b) die Einbindung der Region mit Mitteln des Museums (z. B. einer Besuchsapp) positiv auf den Besucher*innenservice als Ganzes aus, da ein Besuch immer in dem Kontext eines Gesamterlebnisses eingebettet ist, welches sich nicht auf den Museumsrundgang als solchen beschränken lässt. Zu betonen sind (c) auch die vom Museum generierten Tourismuseffekte. Diese lassen
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sich seit vielen Jahren nachweisen und zeigen eine signifikante Wirkung von Museen auf die umliegende Tourismuswirtschaft.1
Das Museum mit der Region verbinden Insbesondere bei Stadtmuseen oder kulturhistorischen Museen besteht bereits sammlungsinhärent ein starker Bezug zwischen der musealen Sammlung, ihrem Ausstellungsnarrativ und der Stadt oder Region. Hier bietet sich die Möglichkeit, Exponate und Themen eines Museums mit Orten in der Umgebung zu verbinden, mit denen diese in Bezug stehen. Doch auch für Museen, die keine standortspezifischen Themen behandeln, stellt die Sammlungsverortung als digitale Outreach-Tätigkeit ein Potential dar, neue Zielgruppen zu erreichen (vgl. Scharf et al. 2018). Ein Beispiel für die Verortung und das Heraustragen der Sammlung in die Region ist das App-Projekt des Stadtpalais – Museum für Stuttgart. Wie dem Namen bereits zu entnehmen ist, geht es in der musealen Sammlung der 2018 eröffneten Dauerausstellung vor allem um lokale Identität und Stuttgarter Stadtgeschichten. Jedes ausgestellte Objekt hat Spuren in der Stadt hinterlassen, die über eine eigene Museums-App erkundet werden können. Die App bietet Besucher*innen die Möglichkeit sowohl das Museum als auch die Stadt zu erkunden (Stadtpalais Stuttgart 2018, Fluxguide Ausstellungssysteme 2019a). Im Museum präsentiert die App zunächst Geschichten von bekannten und weniger bekannten Stuttgarter*innen, die sie persönlich mit den Ausstellungsobjekten verbinden. Damit kommen persönliche Geschichten und Erlebnisse, wie auch unterschiedliche Blickwinkel auf die Objekte, aus der Stadt ins Museum. Sie regen die Besucher*innen an über die eigene Verbindung zur Stadt und Geschichte nachzudenken oder aber die Stadt aus einer Bewohner*innenperspektive kennenzulernen. Dieses multimediale App-Storytelling als Museums-Guide wird um einem Stadt-Guide Modus ergänzt. Unter dem Motto »folgen Sie den Spuren unserer Objekte in der Stadt« werden Besucher*innen an die realen historischen Orte der Stadt geführt. So kann man erfahren, wo das Kronprinzenpalais stand oder wo der erste Büstenhalter industriell produziert wurde. Die Stadtgeschichten, die durch die Sammlungsobjekte des Museums symbolisiert werden, sind in der App mit Orten in 1 A llein in Österreich erzeugen Museen Tourismus-Wertschöpfungseffekte von 1,8 Mrd. € und sichern 30.800 Arbeitsplätze in Tourismus-Betrieben (vgl. Muchitsch/Kradischnig 2018).
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der Stadt verknüpft. Dieser Outreach wird durch die App proaktiv verstärkt: denn Nutzer*innen können die für sie spannenden Themen »liken«. Die App stellt dann automatisch einen persönlichen Stadtrundgang zusammen. Die Museumsführung wird dadurch durch eine Stadtführung ergänzt und erweitert. Es entsteht ein gesamtheitliches Besuchererlebnis – alles unter der Brand und der inhaltlichen Vermittlungsverantwortung des Museums. Der Outreach wird hier vom Museum in die Außenwelt erreicht. Aber auch der umgekehrte Weg ist möglich. So bietet die App eine spannende Möglichkeit die Stadt kulturhistorisch zu erkunden, zunächst ganz unabhängig vom Museumsbesuch. Der Einwand gegen eine solche Möglichkeit wäre natürlich, dass investierte Ressourcen für die App- und Inhalts-Erstellung nicht direkt dem Museum zugutekommen. Doch ein innovationsorientiertes Kulturmanagement wird erkennen, dass ein solcher Outreach in Summe einen Return on Investment bringt. Denn der »Stadtführer« des Museums wird direkt und indirekt Anreize für einen Museumsbesuch setzen – beispielsweise über weitere oder vertiefende Inhalte zu einem Thema, das im Museum weiter exploriert werden kann. Oder über gezielte Veranstaltungshinweise zu Themen, die die potenziellen Besucher*innen auf Basis der in der Stadt angesehenen Inhalte interessieren könnte. Außerdem erweitert das Museum mit einer solchen App, die eben auch als unabhängiger Stadtführer verwendet werden kann, seinen Wirkungskreis potenziell auch Abbildung 1: Digital Outreach durch die App des Stadtpalais – Museum für Stuttgart
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auf digitalaffine und themeninteressierte Noch-Nicht-Besucher*innen des Museums. Mit der bereits installierten App hat das Museum einen direkten Kommunikationskanal zu potenziellen Besucher*innen und gleichzeitig auch erste Aufmerksamkeit bekommen. Nicht zuletzt sollte erwähnt werden, dass staatlich subventionierte Museen einem Bildungsauftrag folgen, z.B. die Geschichte der Stadt zu vermitteln – wenn dies auch im Rahmen eines vom Museum kuratierten Stadtrundgangs erreicht werden kann, so ist dies durchaus zu vertreten, auch wenn manche Nutzer*innen nicht direkt ins physische Museum kommen. Denn hierbei geht es gerade nicht um »kurzfristige, punktuell das Publikum mobilisierende Events oder den alleinigen Blick auf steigende Besuchszahlen, sondern um qualitative, nachhaltige Erlebnisse, um abwechslungsreiche und individuelle Aneignungsprozesse« (Deutscher Museumsbund 2008: 6). Dahingehend zählt vor allem die Nachhaltigkeit und die Qualität der Vermittlungserlebnisse, nicht aber die Örtlichkeit der Vermittlung zu den Bewertungsmaßstäben für museale Bildung (vgl. Deutscher Museumsbund 2008). Am Beispiel des Stadtpalais Stuttgart lassen sich die diversen Vorteile und Synergieeffekte von Digital Outreach verallgemeinern und darstellen: • Das Museum und vor allem seine Sammlung werden am Ort oder in der Region potenziell sichtbarer. Der Museumsraum wird über das physische Gebäude hinaus erweitert. Kulturelle Objekte und Themen werden zu den Menschen gebracht – sowohl in das Lebensumfeld der Bewohner*innen eines Ortes als auch zu den Besucher*innen einer Region. Dadurch können potenziell neue Besucher*innen in das Museum gebracht werden, die sonst vielleicht nicht darauf aufmerksam geworden wären. Diese Form von digitalem Outreach fällt auf der einen Seite zwar in den Bereich des Marketings, also der Generierung von Aufmerksamkeit durch ein Erlebnis an Orten, an denen sich potenzielle Besucher*innen bereits auf halten. Es kann aber auf der anderen Seite auch als eine Art der aufsuchenden Kulturarbeit betrachtet werden (vgl. Scharf/Wunderlich 2014). • Die Sichtbarkeit und Findbarkeit der Objekte ist allerdings stark mit der Sichtbarkeit des Kommunikationsmediums – in diesem Falle einer App – verknüpft. Diese ist stark abhängig von ihrer Vermarktung. Nur wenn die Nutzer*innen wissen, dass die App existiert, können sie diese auch installieren und so auf die Orte und Sammlungsobjekte im Stadtraum aufmerksam werden. Nach der Installation der App kann die Sicht-
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barkeit einzelner Sammlungsobjekte durch technologische Mittel wie Push-Benachrichtigungen auf dem Mobiltelefon unterstützt werden. • Die Sammlungsobjekte können mit Orten in der Umgebung verknüpft werden, die in direktem Bezug mit ihrer Objektgeschichte oder ihrem früheren Gebrauchswert stehen. Dadurch können Objekte wieder mit ihrem historischen Kontext zusammengebracht werden, der durch die Dekontextualisierung in einer musealen Sammlung verloren geht oder in radikal neuem Kontext gezeigt wird. Beides verändert den Blickwinkel auf das Sammlungsobjekt und die Orte. Das Erlebnis eines Ortes, der mit einem virtuellen Sammlungsobjekt bespielt wird, wird womöglich verändert. So wird beispielsweise die Geschichte eines Ortes anhand von Sammlungsobjekten greif bar. Hier empfiehlt sich die direkte Einbindung der physischen Orte in die Geschichtenerzählung. Ein entsprechendes User Experience Design sowie Storytelling, können zum genauen Erkunden des Ortes mit allen Sinnen anregen und eine Blicklenkung fördern, die zum genauen Hinsehen motiviert.
Karten als Koordinatensystem für kulturelle Inhalte Neue Technologien und deren interaktive Explorationsformen ermöglichen Museen einen Outreach über die eigene Örtlichkeit hinaus. Vor allem durch Standortbestimmung und digitale Karten kann die Institution Museum Ihren geschlossenen Raum transzendieren und den Besucher*innen ein erweitertes Erlebnis und Storytelling bieten. Ein zentrales Element der oben vorgestellten Stadtpalais Stuttgart-App stellt eine interaktive Kartenansicht dar. Auf einer digitalen Map von Stuttgart werden hier korrespondierende Orte zu den musealen Objekten eingezeichnet und auffindbar. Die Karte stellt gleichsam ein Koordinatensystem für Sammlungsinformationen in der Stadt dar, das Besucher*innen anregt, die Stadt im Hinblick auf ihre Geschichten zu explorieren. Oder aber sie ermöglicht einen virtuellen Stadtausf lug am Smartphone. Das Konzept des Hybrids aus virtueller Exploration einer Region greift auch eine in Entwicklung befindliche Mapping-Applikation des Deutschen Bergbau-Museums Bochum auf, die im Zuge der Entwicklung einer neuen Besucher-App gelauncht wird. Ziel einer solchen explorierbaren Karte ist es, Bewohner*innen und den Besucher*innen des Ruhrgebiets die Allgegenwärtigkeit von Bergbaugeschichte in ihrer unmittelbaren Umgebung vor Augen zu
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führen. Zu diesem Zweck werden Orte im Ruhrgebiet mit Bezug zum Bergbau vom Museum erfasst und auf einer digitalen Kartenapplikation per GPS-Koordinaten verortet: von Zechen, über Siedlungen, Wohnheime und Knappschaftskrankenhäusern bis hin zu Halden. In der Applikation werden Nutzer*innen zunächst angehalten, sich zu verorten. Ausgehend vom Startpunkt, zumeist die aktuelle Position oder das Zuhause der Nutzer*innen, werden Bergbauorte unterschiedlichster Typen in der Nähe der angegebenen Position angezeigt. Eine solche Around-me-Funktion verknüpft zunächst den physischen Ort der Nutzer*innen mit dem digitalen Informationsangebot, das in unmittelbarer Nähe derselben verortet wurde und zeigt damit alle verfügbaren Informationen im definierten Umkreis um den Standort der Nutzer*innen an. Dies empfiehlt sich insbesondere für eine Exploration der unmittelbaren Umgebung der Nutzer*innen aber auch für ein ortsbasiertes Empfehlungssystem, wie im Falle der App des Stadtpalais Stuttgart. Im Falle der Kartierungs-Applikation für historische Orte des Bergbaus wird verdeutlicht, wie viel Bergbau-Geschichte bereits in der unmittelbaren Umgebung der Nutzer*innen zu finden ist. Oft können dies Orte sein, die in der Gegenwart gar nicht mehr als industriegeschichtliche Plätze zu erkennen sind, aber in ihrer Historie vom Bergbau geprägt wurden. Oder aber es sind Orte der Industriekultur, die auch heute noch besucht werden können. Im nächsten Schritt bekommen die Nutzer*innen alle Orte der Bergbaugeschichte angezeigt, die derzeit im RuhrgeAbbildung 2: Entwurf für den »Ruhrgebiet-Explorer« des Deutschen Bergbau-Museums Bochum
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biet bekannt sind. Dies zeigt, wie stark die Region durch den Bergbau geprägt ist. Nutzer*innen sind eingeladen, die Orte zu besuchen und über das Deutsche Bergbau-Museum Bochum hinaus die Industriekultur zu erleben.
Crowdsourcing und Citizen Science Eine wichtige Folgemöglichkeit des digitalen Outreachs ist die aktive und partizipative Einbindung von Nutzer*innen und Besucher*innen. Im Sinne des digitalen Mindsets (vgl. Sanderhoff 2014) geht es in der Vermittlung auch um die gemeinsame Wissensgenerierung mit den Besucher*innen (vgl. Mörsch 2011). »Connect, circulate, create, and collaborate« lauten die 4 C der Partizipation (vgl. Erin Reilly et al. 2012). Im Sinne eines offenen oder partizipativen Museums geht es darum Verbindungen zu schaffen: zwischen Besucher*innen untereinander wie auch mit Institutionen, zwischen Sammlungsdaten und der Lebenswelt und den Erinnerungen der Besucher*innen. Es geht um die Offenheit für eigene Beiträge von Nutzer*innen wie auch zur Kollaboration in der Wissensgenerierung zu einem Thema, wobei sich hier zwei Trends deutlich zeigen: Projekte, in denen die crowd bereits existierende institutionelle Inhalte integriert, anreichert oder rekonfiguriert sowie Projekte, bei denen die crowd aufgefordert ist neue Inhalte zu erstellen oder beizutragen (vgl. Carletti et al. 2013). Eine wichtige Beteiligungsform im Rahmen des einer co-kreativen Wissensgenerierung für den Sektor des kulturellen Erbes und digitale Geisteswissenschaften ist das kollaborative Mapping von Inhalten. In diesem Sinne
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könnte beispielsweise der oben beschriebene »Ruhrgebiets-Explorer« nicht nur eine interaktive Explorationsplattform sein, sondern eröffnet auch vielfältige Kollaborationsmöglichkeiten für das Museum: so könnten Nutzer*innen die Grundinformationen zu den historischen Orten, im Rahmen von Citizen Science und Crowdsourcing-Ansätzen, mit eigenem Wissen oder Erinnerungen anreichern und damit zu Dokumentar*innen der Geschichte aber auch des Strukturwandels in der Region werden. Diese Ansätze ermöglichen es dem Museum eine Datenbasis nicht nur auf Basis institutionsinterner Wissensressourcen aufzubauen und anzureichern, sondern die kollektive Intelligenz (Lévy 1997) der Besucher*innen und Nutzer*innen aus der Region mit einzubeziehen und zu nutzen. Auch andere Besucher*inneninstitutionen könnten eingebunden werden, für die die explorierbare Karte zur Bergbaugeschichte ein Marketing-Instrument sein kann. Bei Crowdsourcing-Projekten geht es im ersten Schritt um die Gestaltung der Rahmenbedingungen, Grenzen und Parameter, innerhalb derer die Nutzer*innen etwas beitragen können (vgl. Koblin 2012). Hierbei gilt zu beachten, dass allein die Schaffung einer technologischen Plattform und damit der Möglichkeit der Partizipation in einem digitalen Medium allein nicht ausreichend ist. Vielmehr geht es darum ein partizipatives Szenario zu schaffen, das die Nutzer*innen motiviert ihr Wissen, ihre Geschichten, Medienmaterialien oder Fähigkeiten beizutragen und gleichzeitig idealerweise mit der Partizipation auch Bedürfnisse der Nutzer*innen und nicht nur der Institution erfüllt. Eine Einbeziehung diverser Besucher- und NochNicht-Besuchergruppen in den Entwicklungsprozess eines solchen Projektes im Sinne eines User-Centered-Design Prozesses (vgl. Garrett 2003) ist für diesen Anspruch zentral. Teil des Prozesses ist es, die Nutzer*innen und ihre Bedürfnisse zu verstehen und diese Nutzerbeiträge und Erkenntnisse über dieselben in den Designprozess einf ließen zu lassen. Was treibt potenzielle beitragende Personen an? Was sind ihre persönlichen Motivationen der Teilnahme? Wie kann eine Institution ihre Erwartungen noch übertreffen und ihnen ein positives Erlebnis bieten? Dies sind Fragen, die ein Museum sich bei der Planung eines solchen Vorhabens stellen sollte. Dies zeigen Erfahrungen aus Crowdsourcing-Projekten wie beispielsweise der digitalen Ausstellung »Europeana 1989«. Ziel des Projektes der Europeana Foundation war es, europaweit persönliche Geschichten, Fotos, Videos und Tonaufnahmen aus dem Jahr 1989 zum Fall des Eisernen Vorhangs und den politischen und sozialen Umbrüchen zu digitalisieren, zu sammeln und
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zu vernetzen. So sollte der Prozess der (Wieder-)Vereinigung Europas greifbar gemacht werden und ein Austausch zwischen unterschiedlichen Generationen von Europäern ermöglicht werden – von Zeitzeugen bis hin zu jüngeren Generationen mit Interesse an Zeitgeschichte. Dazu kam die Plattform »Historypin« (https://www.historypin.org/en vom 6.2.2020) zum Einsatz, auf der persönliche Erinnerungen hochgeladen und auf einer Karte verortet werden konnten. Zentral für die Befüllung des Projektes mit Inhalten waren allerdings nicht allein die offene Online-Plattform, sondern auch die Aktionstage an unterschiedlichsten Orten in Europa. Dort konnten Zeitzeugen an einem physischen Ort zusammenkommen, sich miteinander austauschen und auch ihre Erinnerungsstücke mitbringen, digitalisieren und ihre Geschichte erzählen. Von Projekteditor*innen wurden diese Inhalte dann auf die Plattform gespielt. Wichtig für das Gelingen des Projektes war es dementsprechend eine Gemeinschaft aufzubauen und den Teilnehmenden nicht nur digitale, sondern physische Orte der Begegnung und des Austausches zu geben. Zum anderen gab die direkte Interaktion mit den Editoren den Beitragenden direkt das Gefühl, gehört zu werden und eine direkte Ansprechperson zu haben, der man seine Erinnerung erzählt statt alleine vor dem Computer ein Formular auszufüllen. Die sozialen Faktoren und auch die direkte Aufmerksamkeit waren demnach wichtige Motivationsfaktoren für die Teilnehmer*innen. Abbildung 3: Crowdsourcing Plattform https://www.historypin.org
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2. Augmented Reality: Den Raum erweitern Der Outreach in die Region steht immer vor der Herausforderung, eine sinnhafte Verknüpfung von Museum und Außenraum zu erzeugen. Durch die Einbindung von interaktiven Maps können Besucher*innen zwar an einen Ort geführt werden, dort muss das Storytelling jedoch die Verbindung zu den Exponaten oder zum Themenkomplex der Ausstellung und des Museums herstellen. An diesem Punkt bietet Augmented Reality (AR) vielversprechende Möglichkeiten. AR gehört zusammen mit Lifelogging, Mirrorworlds und Virtual Reality zu den Metaverse-Technologien, die einen Nexus von physischer und virtueller Welt darstellen (vgl. Smart et al. 2007). All diese Technologien verbinden entsprechend die physische Welt mit einer virtuellen. Mirrorworlds als Abbild oder Simulation der physischen Welt im Digitalen und Virtual Reality als künstlich erschaffene, fiktionale Welt, nehmen ihren Ausgangspunkt im virtuellen Raum. Lifelogging als eine Methode persönliche Daten aus dem Leben von Objekten oder Personen in der physischen zur Erinnerung, Beobachtung, Kommunikation oder Verhaltensmodellierung digital aufzuzeichnen sowie AR als eine Erweiterung der Wahrnehmung der physischen Realität für individuelle Nutzer*innen um multimodale digitale Informationsebenen sind beide in der physischen Welt verankert. Als Endgeräte für die Darstellung dieser Informationen in der erweiterten Realität kommen Smartphones, Tablets oder Glasswear – also dedizierte AR-Brillen – zum Einsatz. Durch diese Geräte sieht man den umgebenden physischen Raum entweder in Form eines Kamerabildes oder – im Falle von Glasswear – durch hybride Brillengläser. Es können digitale Informationen direkt im Blickfeld eingeblendet und je nach genutztem Endgerät über Touch, Gesten oder Sprache gesteuert werden. Durch den hier beschriebenen Digital-Outreach-Aspekt, kann nahezu jeder Raum zu einem erweiterten Museum werden, an dem Sammlungsgegenstände, aber auch mögliche Vergangenheiten und Zukünfte, erlebbar sind.
Globaler Outreach: Museumsexponate überall Museumsexponate können auch ganz ohne kartenräumliche Verortung in die Außenwelt gebracht werden. Hierzu werden Artefakte digital reproduziert und per AR auf Smartphones oder Tablets in die Welt gewissermaßen einsetzbar. Ein Beispiel hierfür zeigt sich in der AR-App des Deutschen Mu-
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seums für die Ausstellung »Kaffee Kosmos« (Deutsches Museum 2019). Mittels dieser App können alle Nutzer*innen über das eigene Smartphone eine Kaffeepf lanze an jeden beliebigen Ort setzen, wachsen lassen und zur Ernte führen. Auf der Website des Museums heißt es: »Du kannst deine Kaffeepf lanze fast überall wachsen lassen. Finde hierzu einen f lachen Untergrund und tippe um den Keimling zu platzieren. Folge den Hinweisen auf dem Screen, um am Ende möglichst viele Tassen Kaffee mit den geernteten Bohnen deiner Pf lanze zu füllen.« (Siehe Fluxguide Ausstellungssysteme 2019b) Verbunden mit einer spielerischen und interaktiven Gamification-Komponente (siehe Abschnitt 3 dieses Artikels), können immersive Erlebnisse noch stärker ihre Wirkung entfalten. Im Beispiel der Kaffee-Kosmos-App wurde dies so implementiert, dass die Nutzer*innen nicht nur passiv der Pf lanze beim Wachsen zusehen, sondern aktiv den richtigen Mix an Sonne und Regen erzeugen müssen. Abbildung 4: AR App der Ausstellung »Kaf fee Kosmos« des Deutschen Museums
Ein weiteres Praxisbeispiel für Outreach per AR, ist die international viel beachtete App »Civilisations« der BBC (BBC 2018). Durch eine Kooperation mit 30 englischen Museen und Galerien, wurden wichtige, kunst- und kulturgeschichtliche Werke Englands digitalisiert und mit dieser App explorierbar gemacht. Die Exponate (von Rodins »Kuss«, über ägyptische Mumien, bis
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zur japanischen Schiesspulvertasche) können Zuhause ins Wohnzimmer gestellt werden, von allen Richtungen betrachtet und vergrößert werden. Man kann die Exponate durchleuchten, öffnen, verändern und vieles mehr. Hier werden die Schätze der Museen also nicht nur per Outreach in die Lebenswelt von Menschen transferiert, sondern auch mit neuen, erweiterten Zugangsmöglichkeiten für die Nutzer*innen ausgestattet. Diese machen die Sammlungsobjekte nicht nur für ein globales Publikum außerhalb des Museums verfügbar, sondern ermöglichen auch eine direkte Interaktion mit den digitalen Objekten. Abbildung 5: BBC AR App »Civilisations«
AR als Fenster zu lokalisierten digitalen Erlebnissen Die Augmentierung von physischen Orten mit digitalen Informationen stellt neben Kartenannotation (siehe Abschnitt 1 dieses Artikels) ein weiteres Interaktionsparadigma mit digitalen Informationsräumen in der physischen Welt dar. Im Gegensatz zur reinen Verortung als Points of Interest auf einer Karte erscheinen Sammlungsobjekte und Medienerlebnisse auch als Einblendungen ins Kamerabild. So verschiebt sich das Nutzungsverhalten von der bloßen passiven Navigation mittels einer Karte zur aktiven Exploration des Umfelds: das Smartphone wird zu einem Fenster zu digitalen Objekten, die sich im Umfeld der Nutzer*innen befinden und die innerhalb der realen Welt gesucht, gefunden und erlebt werden können (vgl. Schavemaker et al. 2011). Diese Ob-
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jekte haben das Potenzial, nicht nur Informationen an Orte zu binden, sondern direkt den Blickwinkel auf einen Ort und damit das Erlebnis des Ortes zu verändern. Das Museum kann somit tiefgreifender das Erlebnis seiner unmittelbaren Umgebung im Licht seiner Themen, Objekte und Geschichten beeinf lussen, und sich stärker in die Umgebung einschreiben und hinauswirken. So nutzte das Stedelijk Museum Amsterdam bereits in den Jahren 2009 bis 2011 Augmented-Reality-Technologie, um den öffentlichen Raum zum Display für seine museale Arbeit zu erheben (Schavemaker et al. 2011). Im Projekt ARTours wurde der AR-Browser Layar dazu genutzt, in unterschiedlichen kleineren und größeren Projekten Objekte der Sammlung wie auch dezidiert für das Projekt produzierte AR-Kunstwerke an bestimmten GPSKoordinaten im öffentlichen Raum zu verorten. So richtete das Museum beispielsweise als Begleitprogramm auf dem Lowlands Musikfestival eine ARtotheque ein, in der die Festivalbesucher*innen sich mittels AR-Replikas von Sammlungsobjekten des Stedelijk Museums – also Digitalisaten von allem Flachware, die als digitale Bilder im Augmented Reality Browser »LayAR« angezeigt und verortet werden konnten – ausleihen und auf dem Festivalgelände platzieren konnten. Über ihr Smartphone konnten andere Besucher*innen des Festivals auch die so entstandene co-kuratierte Ausstellung auf dem Festivalgelände explorieren (siehe ARtours 2010). In einer Urban Design Tour zeigt der niederländische Design-Cultures-Professor Timo de Rijk Designgeschichte in Amsterdam auf. Von den ersten öffentlichen Toiletten bis zum Entstehen der Chinatown erzählt die augmentierte Tour die Rolle von Design in der Stadtentwicklung des heutigen Amsterdams, und kontextualisiert damit auch die Design-Sammlung des Museums. Das Storytelling funktioniert über die Verortung von historischem Dokumentationsmaterial wie Fotos oder Videos zur Designgeschichte an den entsprechenden historischen Schauplätzen, die die Geschichte wieder lebendig und erlebbar werden lässt. Die Stadt und ihre Geschichten werden musealisiert. Das Projekt »Me on the Museumsquare« nutze die Freif läche vor dem zu dem Zeitpunkt geschlossenen Museum, um eigens für das Projekt von Student*innen der Kunstakademie Amsterdam produzierte AR-Kunstwerke auszustellen. Die Freif läche wurde so zur temporären musealen Ausstellungsf läche. Dieses Beispiel zeigt, wie Blicke direkt im Blickfeld der Nutzer*innen auf Details am Ort gelenkt werden. So kann man beispielsweise mit Überblendungen von historischen Aufnahmen über die Ansicht eines aktuellen Ortes eine Zeitreise in die Vergangenheit unternehmen und vom Standpunkt des Foto-
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grafen die Veränderungsprozesse des Ortes über die Zeit nachvollziehen. Oder man kann eine mögliche Vergangenheit eines Gebäudes oder ein historisches Ereignis über eine digitale Rekonstruktion am historischen Ort erlebbar und erkundbar machen, von dem heute nur noch wenige Überreste zu finden sind. Die beiden Ansätze – interaktive Karte wie auch Augmented Reality – werden häufig in Zusammenspiel verwendet und können so ihre jeweiligen Stärken ausspielen und sich komplementieren. Dies wird in einem weiteren Beispiel, der Applikation des Interreg Projekts AB119 (siehe Oberösterreich Tourismus 2014) unter dem Titel »Helden der Römerzeit« (siehe Stadt Wels 2018) deutlich, in der verortete Augmentierungen im Zusammenspiel mit der physischen Umgebung erfahren werden können. Die App demonstriert die effektive Verknüpfung einer interaktiven Karte für die Navigation durch den heutigen Stadtraum und das Auffinden von historischen Erlebnisorten mit AR Erlebnissen, die den physischen Raum mit digitalen Rekonstruktionen anreichern. Hier wird über eine App eine Führung durch die ehemalige Römerstadt Wels in Österreich angeboten. An entsprechenden Stopps in der Stadt wird die römische Geschichte zum Leben erweckt, an einem Meilenstein eine alte Handelsstraße animiert, ein nicht mehr existentes Reiterbild eingeblendet oder eine römische Villa aus dem Boden gestampft (siehe Fluxguide Ausstellungssysteme 2018). Auch hier wurde AR Technologie mit Elementen der Gamification eingesetzt: die Nutzer*innen müssen die AR-Stops in der Stadt finden und sammeln so unterschiedliche römische Charaktere, erhalten Punkte (römische Münzen) durch richtig gelöste Wissensaufgaben und erreichen so Schritt für Schritt neue Levels. Durch solche spielerischen Interaktionen wird das Erlebnis nicht nur kurzweiliger, sondern kulturelles Lernen durch aktive Partizipation verstärkt (vgl. Deterding 2011; vgl. Glover 2013; vgl. Landers 2014).
3. Gamification: Den Raum bespielen Eine bereits angesprochene wichtige Frage bei kulturvermittelnden Applikationen ist es, wie Benutzer*innen motiviert werden, eine begonnene Tour zu Ende zu gehen, an Citizen-Science-Projekten zu partizipieren oder aber den Schritt vom Stadtraum ins Museum zu schaffen. Das Schlüsselwort in diesem Zusammenhang lautet Gamification. Unter Gamification versteht man die Anwendung von Spieleelementen und -strategien, um die Nutzer*innenerfah-
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rung von Spielen und das daraus resultierende Bindungs- sowie Motivationpotenzial auch für Services und Anwendungen außerhalb des klassischen, auf Unterhaltung ausgelegte Spieleumfelds einzusetzen. Dieses Designparadigma hat sich nach dem Erfolg des ortsbasierten Services Foursquare (vgl. Deterding et al. 2011) in vielen Bereichen – vom Interaktionsdesign, über digitales Marketing bis hin zu Bildung und Kulturbereich durchgesetzt. Diese Arten von spielerischen Elementen, Motivations- und Belohnungssystemen haben auch im edukativen Bereich Eingang gefunden. So werden sie dort beispielsweise verwendet, um Lernen interaktiver zu gestalten und über die geistige Einbindung der Lernenden die aktive Teilnahme und das eigene Nachdenken zu fördern sowie das gedankliche Abschweifen zu vermindern. Belohnungssysteme und kompetitive Elemente wie Punktesysteme, Highscores, Badges oder reale Incentives motivieren die Lernenden, Fortschritte zu machen und weitere Lerneinheiten zu absolvieren. Auch Verhaltensänderungen kann man über Spielerisches fördern, indem positives Verhalten im Spielverlauf motiviert und belohnt wird. Welche dieser Aspekte man in der Anwendung aufgreift, ist stark von den Lern- und Vermittlungszielen abhängig (vgl. Kapp et al. 2012).
Gamification für kulturelles Lernen in der Umgebung Entsprechend lassen sich diese Mechanismen auch für Applikationen in der kulturellen Vermittlung und für den digitalen Outreach anwenden. Ein Beispiel hierfür ist die, bereits oben erwähnte, Applikation »Helden der Römerzeit«. Als Teil des Interreg-Projekts der Tourismusregionen Oberösterreich und Ostbayern sowie dem Wels-Tourismus beleuchtet der Augmented-Reality-Rundgang die römische Geschichte der Stadt Wels – oder von Ovilava, wie die Stadt in der Römerzeit genannt wurde. Eingebettet ist die Erkundung der Stadt in eine Geschichte: Der Fluss Tiber ist über die Ufer getreten und Kaiser Hadrian startet den Aufruf, in Ovilava eine Delegation an Helden zusammenzustellen und mit ihnen nach Rom zu reisen. Nun ist es an dem Spieler*innen an neun Standorten Verbündete aufzuspüren – die Helden von Ovilava. Diese Meta-Erzählung bildet einerseits einen thematischen Rahmen für den Rundgang, und lässt sich andererseits in ein Sammelbelohnungssystem umsetzen, das die Nutzer*innen motiviert, den Rundgang weiterzugehen. Die unterschiedlichen Orte werden hier, wie in den in Abschnitt 1 dieses Artikels beschriebenen ortsbasierten Applikationen, über eine Karte navigiert.
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Abbildung 6: Outreach durch Gamification – die »Helden der Römerzeit« App
In der Stadt sind die Stationen mit Tafeln gekennzeichnet, die auf der einen Seite Orientierungspunkte für die Spieler sind und als Marker für Augmented Reality Erlebnisse dienen, auf der anderen Seite aber auch ein Marketing-Instrument für die App darstellen. Wels-Besucher*innen, die die App noch nicht kennen, werden durch die Schilder auf die App aufmerksam gemacht und motiviert diese auszuprobieren, was in Folge potenziell neue Nutzer*innen der Applikation generiert. Mit jeder richtig beantworteten Frage sammeln die Spieler*innen Punkte und einen römischen Helden. Dieser erscheint wie in einem Sammelalbum oder Stickerheft in einer Übersicht und wird auch auf der Karte verzeichnet. So bekommen die Spieler*innen einen Überblick, welche Stationen sie schon besucht haben und welche Helden sie noch sammeln können, um das Spielziel zu erreichen.
Grundlage und Motivationsdynamik des Gamification-Aspekts Mit einer interaktiven Gamification-Komponente geht ein Service wesentlich über die klassische Präsentation von Wissen hinaus. Vielmehr wird der Lernerfolg durch Gamification in der App sichtbar und zum Erlebnis gemacht, das Lernen und Erkunden mit spielerischen Ansätzen verstärkt und Nutzer*innen in die Vermittlung einbezogen und ermutigt, Herausforderungen zu lösen sowie ein Themengebiet selbst mit Neugier zu explorieren
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(vgl. Su/Cheng 2015). Die Basis des Erfolgs einer solchen Herangehensweise ist immer eine Reward-Logik, d.h. ein Belohnungskonzept, das mittels Sammelgegenständen, Stufen (Level), Aufstiegen, Freischalten von neuen Elementen etc. realisiert wird. Indem Nutzer*innen Assets sammeln, entsteht eine Motivationsdynamik, ein Momentum, die App und deren Funktionen weiter zu nutzen. Denn nur durch die Nutzung ist ein weiterer Aufstieg innerhalb des Spiels möglich. Die an Belohnungen geknüpften Themen gewinnen dadurch einen neuen Wert, werden in der App individuell vom Nutzer*innen sozusagen virtuell konserviert. Die App-Nutzung erzeugt damit eine emotionale Verbindung zu den damit verbundenen Themen. Ein Belohnungssystem erzählt, wie auch im Beispiel oben, zumeist eine eigene Geschichte oder eine Mission, ein Meta-Narrativ, welches die spielend Lernenden durchlaufen. Eine weitere, wichtige Faustregel für die Entwicklung von Gamification-Services ist es, Lernerfolge sehr früh, sowie in der Anfangsphase auch sehr oft, passieren zu lassen, indem man schnell zu erreichende Lernziele setzt und das Erreichen dieser belohnt. Unsere Erfahrung aus der Praxis zeigt: schnelle Erfolgserlebnisse binden die Lerner bereits früh im Lernprozess und verhindern zu hohe Abbruchquoten. Das Nutzererlebnis sollte demnach generell einer solchen »From Zero to Hero«-Logik folgen. Bei dieser Logik dient das Belohnungs-System als positiv verstärkendes Narrativ, das die Lernerfolge sichtbar dokumentiert und so eine langanhaltende Lernmotivation evozieren kann.
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»2-stufiges Storytelling«: Spielerisch den räumlichen Outreach motivieren In Verknüpfung mit dem raum-explorativen Outreach, bei dem die größte Herausforderung ist die Nutzer*innen an zu motivieren die physischen Orte tatsächlich aufzusuchen, gibt uns Gamification eine vielversprechende Motivations-Möglichkeit an die Hand. So kann ein zweistufiges Storytelling, wie es in der App »Helden der Römerzeit« verwendet wird, die Erzählstruktur in zwei Akte gliedern. Einerseits enthält jeder Ort einen Einführungsteil, welcher jederzeit und überall gespielt werden kann (Off-Site-Story). Dieser macht neugierig auf weitere Inhalte und dient z. B: auch mit einem ersten Reward als spannender Motivations-Input, um auch den Hauptteil zu konsumieren und vor Ort aufzurufen. Dieser erste Teil endet mit der Aufforderung, die realen Orte zu besuchen. Durch Geo-Fencing – also dem automatisierten Auslösen einer Aktion, wenn man sich an einem festgelegten geografischen Ort bzw. dessen Umkreis befindet oder diesen betritt – und Push-Notifications wird die App dann so gestaltet, dass das Hauptkapitel (On-Site-Story) erst an dem entsprechenden Ort verfügbar ist. Somit müssen Nutzer*innen sich tatsächlich an den historischen Ort begeben, um die nächste Stufe, die nächsten Punkte oder Belohnungen innerhalb des Spiels zu erhalten. Das nächste Erfolgserlebnis kann nun eben nicht vom heimischen Wohnzimmer aus erreicht werden. Dieser Hauptteil bietet dann z.B. eine Reihe von Aufgaben und Medienerlebnissen – unter anderem Augmented-Reality-Erlebnisse und digitale Rekonstruktionen rund um den Ort und das dort behandelte Thema.
Reale Incentives und Nutzerbindung Als zusätzliche Motivation sollte in jedem digitalen Outreach Projekt angedacht werden, für erreichte Erfolge auch reale Incentives anzubieten. So könnten z. B. Artefakte/Gegenstände in der App gesammelt werden, die dann auch als Franchising-Artefakte produziert oder im 3D-Druck hergestellt werden. Im Beispiel oben, könnten dies die virtuellen Römerhelden-Charaktere sein. Virtuelle Gegenstände werden als Werbemittel oder Souvenir Teil des Marken-Auftritts einer Institution und ggf. zu physischen Sammlerstücken. So könnten sie eine stärkere Nutzer*innenbindung erzeugen. Oder das erfolgreiche Durchführen einer Mission schaltet einen Gutschein frei, der in
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einer lokalen Kulturinstitution oder einem Partnerbetrieb eingelöst werden kann, was wiederum potenzielle Besucher*innen aus der Region durch die Tore eines Kulturbetriebs führt und sie im besten Fall einladen kann, dort zu verweilen.
Micro Content: Aktives Lernen mit Erlebnisbausteinen Die Möglichkeiten spielerischer Interaktion sollten nicht darüber hinwegtäuschen, dass erfolgreiche Museumsvermittlung und -Outreach nur durch qualitativ hochwertige Inhalte erreicht werden kann. Unter Vermittlung im Museum wird jedoch immer noch oft akademische Textproduktion, statt kreatives Storytelling verstanden. Auf Grund positiver Erfahrungen aus der Praxis empfiehlt sich ein Storytelling-Konzept, das aus einzelnen Micro-Content-Bausteinen besteht. Micro-Content bedeutet, dass die unterschiedlichen Inhalte für eine Tour oder einen Point of Interest – zu deutsch »Ort von Interesse« (OVI) – nicht als lange Texte oder Audios vermittelt werden, sondern entlang einer interaktiven Erzählung, welche aus Mikroeinheiten (Erlebnisbausteinen oder MicroContent-Chunks, siehe Abbildung 7) besteht. Solche Erlebnisbausteine können kurze Audio-Clips, Bilder mit Unterschriften oder Kurztexte sein, oder aber auch aus interaktiven Aufgaben und kleinen Spielen bestehen. Dadurch können die einzelnen, zusammenhängenden Erlebnisbausteine, je nach Kontext Abbildung 7: Beispiele für Micro-Content Storytelling (links: App »Römerspuren«, Interreg Projekt Donaulimes, rechts: Smartwatch App für das MAK – Museum für Angewandte Kunst Wien im Rahmen des F&E Projekts »personal.curator«)
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und in der eigenen Erlebnis- bzw. Lerngeschwindigkeit, von den Nutzer*innen abgearbeitet werden. Das Konzept ist im E-Learning schon seit einiger Zeit als Micro-Learning etabliert und ermöglicht, vor allem auf mobilen Geräten, eine kurzweilige und sinnvolle Vermittlung von Inhalten. Dynamik gewinnt das Storytelling durch die Möglichkeit, als Erlebnisbausteine auch interaktive Aufgaben zu definieren d.h. Teile der Erzählung beinhalten das aktive Lösen einfacher Aufgaben, deren Auf lösung didaktische Effekte und Erfolgserlebnisse generieren. Diese Aufgaben können als unterschiedliche Typen realisiert werden: Multiple-Choice, Schätzaufgaben, Zuordnungsaufgaben, Richtig/ Falsch-Fragen oder aber auch das Deuten von Inschriften, Bildern oder Fotoaufgaben. Unterschiedliche Aufgabentypen sorgen für eine abwechslungsreiche, spannende und spielerische Auseinandersetzung mit den Inhalten. Dies führt zu einer Aktivierung der Nutzer*innen. Die kulturellen Inhalte werden nicht passiv konsumiert, sondern direkt nach der Einführung aktiv angewandt. Nutzer*innen werden durch die gezielten Fragen und Aufgaben zum Nachdenken über die kulturellen Inhalte angeregt. Das Lösen von interaktiven Aufgaben sollte durch direktes Feedback begleitet werden. Abbildung 8: Interaktive Erlebnisbausteine am Beispiel der Apps »Römerspuren«, »Helden der Römerzeit« und des Deutschen Technikmuseums
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Zusammenfassung Es wurde in diesem Artikel gezeigt, wie die institutionelle und örtliche Geschlossenheit des Museums mit Hilfe digitaler Medien teilweise aufgebrochen werden kann. Hierzu wurde der Ansatz des musealen Outreaches mit drei Aspekten digitaler Innovationen verbunden und, entlang von Praxisbeispielen, entwickelt wie das Museum institutionell, örtlich und zielgruppenspezifisch erweitert und geöffnet werden kann. Ein innovationsorientiertes Kulturmanagement sollte die Chancen nutzen, die durch den gezielten Einsatz neuer Technologien entstehen, um einen bedeutenden Outreach-Impact zu erzielen. Es wurde, gewissermaßen induktiv, d.h. aus den derzeit gegebenen technischen Möglichkeiten und vorhandenen Proof of Concepts, drei Digital-Outreach-Aspekte definiert: 1. Digital Maps: Den Raum entdecken – Hier geht es darum, dass die Institution Museum den sie umgebenden Raum entdeckt und von den Besucher*innen entdecken lässt. Es wurde argumentiert, dass faktisch jedes Museum in seine örtliche Umwelt eingebettet ist. Dies ist am augenscheinlichsten bei Ausstellungen, die thematisch an ihre Umgebung geknüpft sind. Der digitale Anschluss liegt hier in den diversen Möglichkeiten von interaktiven Karten und ortsgebundenem Storytelling. So kann etwa der Besuch im Stadtmuseum mit einem museumsangeleiteten Stadtrundgang erweitert werden. Die Verbindung mit Storytelling oder partizipativen Citizen-Science-Ansätzen verspricht weitere Ausbaumöglichkeiten. 2. Augmented Reality: Den Raum erweitern – Im ersten Digital-OutreachAspekt ging es uns darum, zu zeigen, wie der umgebende Raum des Museums genutzt und entdeckt werden kann. Im zweiten Aspekt wurde der Fokus auf die Erweiterung des Raumes selbst gelenkt. Der digitale Anschluss hier besteht im Nexus der Augmented-Reality-Technologien. Es wurde gezeigt, wie Museen ihre Objekte und Themen durch AR aus ihren Mauern nach außen tragen können. Somit können die Institutionen ihre Sammlungsobjekte und Themen in der Lebenswelt der Menschen manifestieren und erlebbar machen. Sei es durch das Ausstellen von Objekten im eigenen Wohnzimmer, durch interaktives Explorieren von Artefakten oder durch das Lebendigmachen von Geschichte im Stadtraum.
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3. Gamification: Den Raum bespielen – Der dritte Digital-Outreach-Aspekt erweitert den Museumsraum um neue Vermittlungsansätze der Gamification. Die digitalen Erlebnisse sollten nicht nur mit Inhalten, sondern auch von motivierenden Mechanismen gestützt werden. Digitale Vermittlung, wie in (1) und (2) beschrieben, beschränkt sich nicht auf bloßes Konsumieren, sondern eröffnet einen Raum interaktiver Erlebnisse mit aktiver Beteiligung der Besucher*innen/Nutzer*innen. Hier kann der Fundus spielerischer Herangehensweisen starke Effekte erzielen: Sammel-, Belohnungs-, Level- und Score-Systeme machen die interaktive Beschäftigung mit digitalen Vermittlungsangeboten nicht nur kurzweiliger, sondern weisen meist auch stärkere Lerneffekte auf. Die drei vorgestellten Digital-Outreach-Aspekte verstehen sich als erster Versuch einer Systematisierung und sind mit Sicherheit noch erweiterbar. Theorie wie Praxis werden sich in Zukunft noch diversifizierter mit der Thematik auseinandersetzen müssen. So sollten etwa die Aspekte von Social Media, Multi-User-Applikationen oder der Technologiebereich der Virtual Reality eingebunden werden. Darüber hinaus ist an den Kulturinstitutionen, der Wissenschaft und Wirtschaft in Kollaboration ein gesamtheitliches Framework zu entwickeln, welches die gesamtstrategische Sicht des musealen Kulturmanagements einbindet und – nicht zuletzt – wirtschaftliche Aspekte beleuchtet. Zudem gilt es, die unterschiedlichen behandelten Aspekte und Erlebnisse weiter auf ihre mittel- sowie langfristigen Effekte in Bezug auf kulturelles Lernen zu untersuchen. Es ist jedoch jedenfalls deutlich geworden, dass Digital Outreach ein essentieller Baustein innovationsorientierter Kulturarbeit darstellen sollte, um das erweiterte Museum der Zukunft zu ermöglichen.
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Künstliche Intelligenz und ihre Potenziale im Kulturbetrieb Dominika Szope
1. Einleitung Bowman: Open the pod bay doors HAL. HAL 9000: I am afraid I can’t do that, Dave. Der häufig im Zusammenhang mit Künstlicher Intelligenz (KI) zitierte Dialog zwischen dem Supercomputer HAL 9000 und dem Charakter Bowman aus dem Film 2001: Odyssee im Weltraum aus dem Jahre 1968 scheint ein gutes Beispiel, nicht nur für Zukunftsfantasien von Science-Fiction-Autor*innen, sondern auch für unsere Ambitionen zu sein. Tatsächlich und vielleicht auch glücklicherweise sind wir von solchen mächtigen Systemen – die unserem Verständnis nach einer starken künstlichen Intelligenz entsprechen würden – noch weit entfernt. Eine solche Intelligenz, die aus eigenem Antrieb, intelligent und f lexibel handelt und dem Bestreben folgt, menschliche intellektuelle Fertigkeiten zu erlangen oder sie gar zu übertreffen, konnte bis heute noch nicht entwickelt werden. »Heute breiten sich künstliche Intelligenz und Robotik wie ein Lauffeuer aus, und wer sie ignoriert, steckt den Kopf in den Sand.« (Miranda 2019: 6) Tatsächlich zeigen aktuelle Statistiken, dass die technologische Entwicklung und ihre Verwendung schneller geworden ist (vgl. Brandt 2017). Während es 75 Jahre dauerte bis 100 Millionen Menschen mit dem Telefon verbunden waren, waren es beim World Wide Web nur noch sieben Jahre (ebd.). Von einem »Lauffeuer« (Miranda 2019) im Zusammenhang mit der künstlichen Intel-
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ligenz zu sprechen, scheint dennoch ambivalent. Von einer dem Menschen ähnlichen Intelligenz scheinen wir noch weit entfernt. Schätzungen von Wissenschaftler*innen bewegen sich hier, je nach Verfasser*in, zwischen 20 und 50 Jahren, bis wir in der Lage sein werden, eine solche künstliche Intelligenz zu generieren (Dohm 2019). Auf der anderen Seite zieht die sogenannte schwache künstliche Intelligenz immer mehr in den Alltag ein. An klar definierten Aufgaben orientiert, sind diese Systeme nicht dazu gedacht, ein tieferes Verständnis für die jeweiligen Problemlösungen zu entwickeln. Vor allem im Bereich der Text-, Bild- und Spracherkennung, automatisierter Übersetzung, Navigation oder Expertensystemen angewendet, zielen sie auf die Lösung konkreter Probleme ohne darüber hinaus zu »denken« – dennoch machen Automatisierungen im Bereich der Automobilindustrie oder Entwicklungen wie Alexa, unser Leben angenehmer, nicht selten einfacher beziehungsweise »smarter«. An Besucher*innen orientiert, bemüht sich die Kultur aktiv um den Anschluss an die technologische Entwicklung, steht sie doch aktuell vor einer besonderen Situation. Menschen und Unternehmen befinden sich heute in einer der größten Veränderungen seit der Erfindung der Dampfmaschine. Die Digitalisierung hat einen epochalen Wandel eingeleitet und wir können beobachten, wie sich viele Regeln der Arbeit, der Produktion und des Zusammenlebens verändern. Unbeständigkeit, Ungewissheit, Komplexität und Mehrdeutigkeit – abgekürzt mit dem Akronym VUCA (volatility, uncertainty, complexity and ambiguity) – in gesellschaftlichen Bereichen erfordern nicht nur Reaktionen von Seiten der Wirtschaft, Wissenschaft und Politik, sondern auch von Seiten der Kultur. Die Kultur und ihre Institutionen werden zu dem vermutlich einzigen neutralen Spielplatz – zum einzigen Ort – an dem wir lernen können, kritisch zu denken, zu ref lektieren und Fragen zu stellen. Kulturinstitutionen müssen damit – noch mehr als im 20. Jahrhundert – zu Orten der Bildung und des Lernens und damit zu einem tragenden Element innerhalb der Bildungspolitik werden. Hierfür aber müssen sie eine klare Führungsrolle – im Sinne von Cultural Leadership (vgl. Zierold 2017) – innerhalb der Gesellschaft übernehmen. Studien zeigen heute, dass lediglich nur rund 20 Prozent der deutschen Bevölkerung Museen besuchen und werfen damit Fragen zum Angebot der Institutionen aber auch der Bedarfe auf Seiten potentieller Besucher auf (Renz 2015). Einige Kulturinstitutionen haben diese Entwicklung erkannt und arbeiten beispielsweise mit neuen digitalen Angeboten an einer Öffnung hin zu den Besucher*innen. Der Fokus
Künstliche Intelligenz und ihre Potenziale im Kulturbetrieb
auf Zielgruppen und die Auseinandersetzung mit Nicht-Besucher*innen werden aktiv angegangen und legen einen deutlichen Schwerpunkt auf die zeitgemäße Ansprache der zahlreichen und unterschiedlichen Interessensgruppen. Die Institutionen müssen auf einem auch technologisch aktuellen Niveau operieren, um ihre Besucher*innen abzuholen und gleichzeitig neue Besucher*innen zu interessieren. Die Technologie kann und muss hierbei eine wichtige Rolle spielen. Zugleich lässt sich beobachten, dass zahlreiche Künstler*innen das Thema der künstlichen Intelligenz aufgreifen, ref lektieren und kritisch beobachten. Im Hinblick auf Künstliche Kreativität lassen sich zuletzt einige Ansätze antreffen, die die Frage nach der Fähigkeit der Maschinen, kreativ zu schaffen, zur Diskussion stellen. Ein Einsatz von KIbasierten Anwendungen innerhalb der Kulturinstitutionen im Hinblick auf Organisation lässt sich bisher vereinzelt beobachten, erscheint von einer breiten Anwendung aktuell aber noch weiter entfernt. Oftmals fehlt das nötige Knowhow, aber auch die finanziellen Möglichkeiten der Institutionen stellen eine weitere Hürde dar. Hinzu kommen nicht selten schlecht gepf legte Datenbanken oder gar eine nicht-digitale Datenbasis, die einen möglichen Einsatz von KI-Technologie deutlich erschweren.
2. Künstliche Intelligenz Die Künstliche Intelligenz findet ihre Geburtsstunde als akademisches Fachgebiet in der Konferenz des Summer Research Project on Artificial Intelligence des Dartmouth College in Hanover (New Hampshire) im Jahre 1956, bei der die Möglichkeiten einer Intelligenz außerhalb des menschlichen Gehirns diskutiert wurden. Unter anderem durch Teilnehmer, wie den KI-Forscher Marvin Minsky, den Informationstheoretiker Claude Shannon sowie den späteren Ökonomie-Nobelpreisträger Herbert Simon sollte die KI-Forschung der damaligen Zeit einen sichtbaren Auftrieb erhalten, der durch schneller und günstiger werdende Computer sowie die steigende Kapazität zur Speicherung von Daten in der darauffolgenden Zeit begünstigt wurde. Das Potenzial von KI-Algorithmen machte sich schon damals an Entwicklungen wie Joseph Weizenbaums ELIZA deutlich, einem Programm, das die Kommunikation zwischen Mensch und Maschine über natürliche Sprache simulierte und als Vorläufer der heutigen Chatbots gesehen werden kann. Viele Erwartungen der damaligen Öffentlichkeit, wie beispielsweise die Ent-
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wicklungsgeschwindigkeit von Systemen der künstlichen Intelligenz, konnten nicht erfüllt werden, was mitunter an der seinerzeit immer noch zu geringen Rechenleistung lag. Daher bezeichnet man die Zeitspanne zwischen 1965 und 1975 auch als KI-Winter (vgl. Manhart 2017). Die Entwicklung sogenannter Experten-Systeme in den 1980er-Jahren in den USA, Europa und allen voran Japan, das mit dem sogenannten Fifth Generation Project rund 400 Millionen US-Dollar in die KI-Forschung investierte, rückte praktische Anwendungen der KI in den Vordergrund. Als eines der wichtigsten Forschungsgebiete entwickelte sich in den 1990er Jahren die sogenannte Agententechnologie (Softwareagenten), die auf Marvin Minsky zurückgeht und als ein Computerprogramm verstanden wird, welches f lexibel, autonom und vorausschauend in der Lage ist, auf seine Umgebung unter bestimmten Bedingungen proaktiv zu reagieren (vgl. Weiss 2000). Ab den 1990er Jahren folgten große Fortschritte auf dem Gebiet der Robotik, aber auch die Entwicklung von komplexen Algorithmen im Bereich der künstlichen neuronalen Netze. Der Fokus in der aktuellen Auseinandersetzung mit künstlicher Intelligenz liegt heute weitgehend auf den Gebieten des maschinellen Lernens. Die Maschine oder Software wird auf Basis von Erfahrungen trainiert, wobei die Beispiele nicht auswendig gelernt, sondern Muster und Gesetzmäßigkeiten in den Lerndaten erkannt und so verallgemeinert werden können. Grundsätzlich lassen sich drei Arten des maschinellen Lernens unterscheiden: Supervised Learning (Algorithmen erhalten die jeweilige Information, ob ihre Klassifikation korrekt ist, Parameter können darauf hin angepasst werden), Unsupervised Learning (Algorithmen müssen Muster in den bestehenden Daten selbst finden und die Kategorisierung vornehmen) und Reinforcement Learning (Algorithmus erhält keine Information über die optimale Aktion, sondern auf Basis der Anreizfunktion eine Rückmeldung auf die gewählte Funktion). Ein Ansatz, der aktuell ebenfalls häufig Verwendung findet, ist der des Deep Learnings, bei dem künstliche neuronale Netze als Grundlage dienen und so mit den sogenannten Knoten (Neuronen) und Kanten (Synapsen) das menschliche Gehirn simulieren. Die Netzwerke profitieren stärker von einer größeren Zahl an Trainingsdaten und können aufgrund von mehrschichtigen Netzwerken Zusammenhänge erlernen, die einfache Algorithmen des maschinellen Lernens nicht erkennen. Ein viel diskutiertes Problem des maschinellen Lernens ist mit dem Begriff der Black Box umschrieben: Oftmals ist nicht nachzuvollziehen, wie es zu einem bestimmten Ergebnis gekommen ist, warum beispielsweise eine Katze nicht als eine solche, son-
Künstliche Intelligenz und ihre Potenziale im Kulturbetrieb
dern als Guacamole erkannt worden ist (vgl. Anthalye et al. 2017). Obwohl die Eingabe gesteuert werden kann und die Ausgabe in algorithmischen Systemen zu beobachten ist, ist bisher weitgehend unbekannt, was innerhalb der internen Schichten geschieht, d.h. wie der Algorithmus letztendlich seine Entscheidungen trifft, resp. was innerhalb des KI-Algorithmus geschieht. Parallel zu den offenen technologischen Fragen, stellt uns der Begriff der künstlichen Intelligenz vor die Schwierigkeit einer genauen Definition, da aufgrund der unterschiedlich starken Ausprägung einzelner kognitiver Fähigkeiten und einer fehlenden Einigkeit, wie diese zu bestimmen wären, eine solche nur schwer zu treffen ist. Verschiedene Intelligenztheorien schlagen hier unterschiedliche Operationalisierungen des alltagssprachlichen Begriffs vor (vgl. Süß 2003). Im Kontext einer starken künstlichen Intelligenz ist auch die Diskussion um die sogenannte Singularität zu verorten. Innerhalb der Zukunftsforschung wird darunter der Zeitpunkt verstanden, an dem die künstliche Intelligenz die menschliche übertrifft und die weitere Entwicklung nicht mehr vom Menschen, sondern von der KI selbst vorangetrieben wird. Der Begriff, der eng mit den Gedanken zu Trans- und Posthumanismus verbunden ist, geht zurück auf Stanislaw Ulam (vgl. Ulam 1958) und wurde in den letzten Jahren vom Pionier auf dem Gebiet der Text- und Sprachkennung, Zukunftsforscher und Director of Engineering bei Google, Ray Kurzweil, als ein Bruch in der Struktur der Geschichte der Menschheit bezeichnet (vgl. Kurzweil 2001).
3. Künstliche Kreativität Es sind Projekte wie The Next Rembrandt1 oder DeepBach2, die im populären Bereich den Verdacht erwecken, eine künstliche Intelligenz könne kreativ sein. Aus rund 15 Terabyte Daten und anhand von Röntgenbildern und 3D-Scans analysierte eine KI Malweise, Farbauftrag und Motivdetails in den Werken Rembrandts, und erstellte daraus ein Gemälde in Form eines 3D-Drucks, um die zahlreichen Farbschichten zu simulieren. Das Ergebnis war ein neues, bis dato nichtexistierendes und vermeintlich von Rembrandt stammendes Porträt. Im musikalischen Bereich war es eine KI, die polyfone Musik im Stil von 1 Weitere Details: https://www.thenextrembrandt.com, zuletzt aufgerufen am 02. Juni 2019 2 Weitere Details: https://arxiv.org/abs/1612.01010, zuletzt aufgerufen am 02. Juni 2019
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Johan Sebastian Bach komponierte beziehungsweise vervollständigte. In beiden Fällen wurden die Systeme mit umfassendem Datenmaterial gefüttert, aus dem der Algorithmus ein weiteres Modell errechnete und so die Künstler imitierte. Inwieweit dieser Prozess Kreativität erfordert, scheint schnell beantwortet: die Kreativität ist durch die Vorgabe der Daten eingeschränkt, eine Interpretation über die Daten hinaus – beispielsweise die Techniken anderer Künstler*innen, aktuelle Gegebenheiten oder gar Gefühle im Sinne einer Inspiration einbindend – ist nicht vorgesehen. Folgt man darüber hinaus der gängigen Definition der Kreativität als einer Fähigkeit, etwas zu erschaffen, was neu oder originell ist, sind als weitere Kriterien für einen kreativen Menschen f lüssiges Denken und Assoziationsfreude sowie die Fähigkeit zum Perspektivwechsel und zur Grenzüberschreitung bedeutsam – Eigenschaften, die die Maschine noch nicht beherrscht. Sowohl The Next Rembrandt als auch DeepBach sind der schwachen künstlichen Intelligenz zuzuordnen, die sich umfangreicher Datensätze bedient, um aus bestehenden Regeln eine eben diesen Regeln entsprechende Variante zu schaffen. Darüber hinaus entwickelt die KI kein Bewusstsein – ein starkes künstliches kreatives System hingegen würde auf Feedback reagieren, sich inspirieren lassen und eigene Kriterien entwickeln. Eine gewisse intrinsische Motivation scheint hierfür unabdingbar. Neben dem Schaffen neuer Werke mithilfe künstlicher Intelligenz ist jedoch die kritische Auseinandersetzung mit ihren Möglichkeiten ein Arbeitsfeld, das zunehmend von Künstler*innen eingenommen wird. Deren Arbeiten zeigen einen kritischen Blick auf die neuen Technologien und fordern auf, Entwicklungen zu hinterfragen. Ein solches Werk ist beispielsweise die Arbeit von Helen Knowles, die ein aktuelles Beispiel für eine ethische, wie auch juristische Fragestellung im Zusammenhang mit der KI darstellt. Das Werk The Trial of Superdebthunterbot (Knowles 2019) entwirft ein fiktives Szenario, in dem ein Inkassounternehmen einen Algorithmus programmiert, um die Zahl säumiger Kreditnehmer*innen zu verringern: Potenzielle Kund*innen dieses Szenarios sollen auf der Basis von Big Data durch die Schaltung von Stellenangeboten auf Seiten, die sie oft besuchen, gezielt angesprochen werden. Infolge der Handlungen des Algorithmus kommt es zum fiktiven Tod von fünf Menschen. Die Arbeit zeigt einen erdachten Gerichtsprozess, bei dem der intelligente Algorithmus angeklagt ist. Die Verhandlung wirft die Frage auf, wer für selbstlernende Softwareagenten rechenschaftspf lichtig ist. Das Werk hinterfragt damit die Möglichkeiten, einen Algorithmus und dessen intellektuelle Fähigkeiten juristisch bewerten zu können.
Künstliche Intelligenz und ihre Potenziale im Kulturbetrieb
Es sind ethische Probleme und Haftungsfragen, die sich hinsichtlich einer zunehmenden rechnergestützten Automatisierung unseres Lebens aller Voraussicht nach vermehrt stellen werden. In Zusammenarbeit mit dem Laboratoria Art&Science Center in Moskau produzierte Thomas Feuerstein 2018 das Werk Borgy&Bes, in dem zwei Operationslampen aus dem vergangenen Jahrhundert – Borgy (aus Cyborg von Gibson) und Bes (aus Dämonen von Dostojewski) – sich bewegen, reden, f lüstern und miteinander streiten. Ihr Verhalten und ihre Interaktion basieren auf einem trainierten, künstlichen neuronalen Netzwerk. »Wie Lebewesen haben sie Bedürfnisse nach Kommunikation, Ruhe, Sicherheit und Liebe. Borgy&Bes reagieren emotional auf wahrgenommene Informationen: Sie zittern vor traumatischen Nachrichten und vermeiden neugierige Besucher. Die Grenzen zwischen künstlicher Intelligenz und Menschlichkeit verschwinden: Diese hybriden Kreaturen werden von Dämonen, von Netzwerkstimmen und Programmprotokollen besessen und zeigen die Epoche des Dialogs mit künstlicher Intelligenz voraus.« (Feuerstein 2019) Feuerstein spricht von Emotional AI und diskutiert emphatische Algorithmen, die sich um den Menschen kümmern (ebd.). Die Idee, dass KI-basierte Maschinen die emotionalen Zustände und Stimmungen der Menschen erkennen, analysieren, verarbeiten und darauf reagieren, ist – auch wenn sie heute noch nicht realisiert werden kann – nicht neu. Die Technologie kann im Bereich des Internet of Things (IoT) verwendet werden, um personalisierte Benutzer*innenerlebnisse zu schaffen, wie beispielsweise einen intelligenten Kühlschrank, der unsere Gefühle interpretiert und Speisen vorschlägt, die diesen Gefühlen entsprechen. Für Jake Elwes sind die kreativen Möglichkeiten des maschinellen Lernens und die Implikationen der Generierung neuer Originalinhalte aus einem Algorithmus, der aus riesigen Datenmengen mittels generativer neuronaler Netze gelernt hat, von großem Interesse. In seinen ersten Versuchen erzeugte er Bilder von Schafen und Wolken am Himmel und versuchte mithilfe von KI die Zensuralgorithmen, die bei pornografischen Bildern im Netz greifen, auszutricksen, indem er synthetische pornografische Abbildungen generiert. Gleichzeitig versucht er die Algorithmen – die zuvor darauf programmiert wurden von Menschen erkennbare Bilder in abstrahierte Bilder zu transformieren und unvorhersehbaren Ergebnissen zu erzeugen (Latent Space, 2017) – an ihre Grenzen zu führen, sprach- und bilderzeugende Modelle zu Gesprächen anzuregen (Closed Loop, 2017) oder mit Hilfe von KI
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erzeugte Vögel wieder in eine natürliche Landschaft zu bringen (Cusp, 2019). Algorithmen unterstützen in seinen Arbeiten den künstlerischen Prozess, die Entscheidung seiner Handlungen bleibt bei den Künstler*innen bis sie beschließen, diese an die Maschine abzugeben. Gleichzeitig werden die bis dahin unsichtbaren Algorithmen im Idealfall für Betrachter*innen sichtbar. Zudem beschäftigen sich Elwes und zahlreiche andere Künstler*innen seiner Generation mit ganz pragmatischen Fragen, wie der nach der Rolle von Künstler*innen in der Zusammenarbeit mit künstlicher Intelligenz und der Tatsache, dass dieser den Ausgang eines Prozesses nicht immer steuern kann. Damit stellt sich nicht die Frage nach der kreativen Leistung, wohl aber nach der Urheberschaft und danach, wem die Daten gehören. Von großem Interesse ist auch die damit verbundene Frage nach den zukünftigen Aufgaben der Künstler*innen im Kontext KI-gesteuerter Prozesse. Aus der Perspektive von Future Labs oder Art Labs wird Künstler*innen die Fähigkeit wie auch die Möglichkeit zugesprochen, in Zukunft mit Algorithmen neue Konzepte und Paradigmen etablieren können. Jake Elwes sieht die zukünftige Rolle von Künstler*innen durchaus auch in der Kuratierung von Datasets innerhalb des computerisierten Denkens mit dem Ziel der Lesbarkeit und Sichtbarmachung von Prozessen künstlicher Intelligenz und Werkentstehung für Betrachter*innen. Neben einer künstlerisch praktischen Auseinandersetzung kommen seitens der Künstler*innen kritische Reaktionen und mitunter abwertende Hinweise auf die Unfähigkeit von KI-Programmen grundlegende Aufgaben angemessen zu erfüllen. So wurde innerhalb der Kulturszene der Begriff der Artificial Stupidity durch die Kritik von Hito Steyerl gegenwärtig, die die Möglichkeit formulierte, Macht und Gefahren von Algorithmen wegen ihrer Unsichtbarkeit nicht zu erkennen: »it’s the ›weak AI systems‹ which are currently causing the most severe social fallout. I absolutely agree with this. I call these systems ›artificial stupidity‹ and I think they are already having a major impact in our lives. The main fallout will of course be automation. Automation is already creating major inequality and also social fragmentation-nativist, semi-fascist, and even fascist movements. The more ›intelligent‹ these programs become, the more social fragmentation will increase, and also polarization. I think a lot of the political turmoil we are already seeing today is due to artificial stupidity.« (Steyerl 2017)
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4. Der Einsatz von KI in Kulturinstitutionen Das Digitale als eine neue Kulturtechnik eröffnete nicht nur im künstlerischen Bereich zahlreiche Möglichkeiten der gesellschaftlichen Ref lexion. Als eine neue Technik und Handlungsmöglichkeit wie auch -fähigkeit ist KI im Idealfall dazu geeignet, menschliche Prozesse zu unterstützen und zu optimieren. In diesem Sinne sollte künstliche Intelligenz in keinem Fall allein eine Anwendungsdomäne der Wirtschaft bleiben, sondern auch in Prozesse der Kulturarbeit integriert werden: sei es um die eigenen, zumeist äußerst umfangreichen und nicht selten komplexen Bestände zu verwalten und zugänglich zu machen, oder um Ansprachen für potenzielle Besucher*innen zu entwickeln und damit die Relevanz von Kultur auch gegenüber jüngeren Generationen zeitgemäß immer wieder aufs Neue zu formulieren. Die Kulturinstitutionen würden damit, so die Annahme, in die Situation versetzt, ihre Besucher*innen in Zukunft adäquat und besser, der Zeit angepasst und interessengeleitet anzusprechen und damit ihren wertvollen Beständen Genüge zu tun, respektive zu entsprechen. Das oftmals beschworene Audience Development nähme mit KI eine weitere Stufe einer direkten und zielgerichteten Besucher*innenansprache. Künstliche Intelligenz stellt bereits heute eine vielversprechende Möglichkeit dar, große Datenmengen musealer Bestände für die Forschung zugänglich zu machen. Für Kulturinstitutionen bietet sich hier insbesondere die Zusammenarbeit mit Hochschulen an. Studentische Arbeiten aus dem IT-Bereich können hier eine erste Orientierung für Institutionen darstellen, die nicht über das notwendige Knowhow verfügen, wenn es beispielsweise um die Verarbeitung der umfangreichen Sammlungsdaten geht. Kooperationen mit IT-Unternehmen, die ein Interesse an der Förderung der kulturellen Güter haben, bieten eine weitere Option zur Zusammenarbeit in diesem Bereich. Über die Strukturierung und Analyse von Bestandsdaten können nicht nur weitere Erkenntnisse zu einzelnen Sammlungsbeständen, sondern auch Querverbindungen geschaffen werden, um so neue Perspektiven zu eröffnen. So hat beispielsweise das Metropolitan Museum (Met) 2017 entschieden, hochaufgelöste Fotos von 406.000 Kunstwerken zur freien Nutzung ins Internet zu stellen. Darüber hinaus hat das Museum die Fotos für die BigQuery-Datenbank freigegeben. Auf diesem Wege kann das Datenanalysesystem von Google mit den Met-Kunstwerken arbeiten und so besser erkennen, was auf Bildern zu sehen ist (Werner 2019). Auch im Bereich der
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Forschung kann die KI helfen, Sammlungsobjekte zu inventarisieren, zu bestimmen und mitunter zu analysieren. Unter dem Aspekt der Musteranalyse und mithilfe neuronaler Netze, also Deep-Learning-Anwendungen, konnten hier erste Erfolge verzeichnet werden. So gelang es beispielsweise dem National Museum of Natural History ein neuronales Netz darauf zu programmieren, Pf lanzenproben eines Herbariums zu bestimmen: »We first demonstrate that a convolutional neural network can detect mercury-stained specimens across a collection with 90 % accuracy. We then show that such a network can correctly distinguish two morphologically similar plant families 96 % of the time. Discarding the most challenging specimen images increases accuracy to 94 % and 99 %, respectively. These results highlight the importance of mass digitization and deep learning approaches and reveal how they can together deliver powerful new investigative tools.« (Schuettpelz et al. 2017) Weitere Einsatzbereiche der KI könnten in naher Zukunft die Provenienzforschung (vgl. Lecoutre et al. 2017) oder das Erkennen von Fälschungen (vgl. Elgammal et al. 2017) sein. Aktuell ist der Einsatz von Anwendungen künstlicher Intelligenz allerdings nur wenigen Häusern möglich. Voraussetzung sind hier nicht nur das Wissen um Technologien und Lernprozesse der künstlichen Intelligenz. Es handelt sich dabei um ein Wissen, das in den Museen selbst meist nicht zu finden ist und von außen herangezogen werden muss – ein Umstand, der mit entsprechenden finanziellen Belastungen und zeitlichen Ressourcen einhergeht. Jenseits des industriellen Einsatzes steht in der Wirtschaft die KI insbesondere im Marketing im Fokus. Hier geht es darum, die richtigen Daten zu identifizieren und zu filtern, um Muster erkennen zu können, von denen das Unternehmen wiederum profitieren kann. Der Einsatz von KI bietet im Marketing bereits seit einiger Zeit die Chance, zielgerichtete und individuelle Kampagnen zu realisieren, mit denen Kund*innen zum richtigen Zeitpunkt erreicht werden können. Konkret kommt KI zum Einsatz, um beispielsweise Marktanalysen und Prognosen auf Basis von Big Data durchzuführen, Werbef lächen mit Hilfe von Programmatic Advertising zu handeln oder – wie in vielen Fällen bereits üblich – den Kundendienst durch KI-basierte Chatbots zu ergänzen. Gleichwohl das Marketing der Wirtschaft – aus
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technologischen, praktischen oder kapazitären Gründen – bei weitem nicht umfassend KI zum Einsatz bringt, sollte Kultur eher früher als später Einsatzmöglichkeiten der künstlichen Intelligenz in ihrem Bereich der Besucher*innenansprache eruieren. Insbesondere in der Adressierung potenzieller Besucher*innen ergeben sich zahlreiche Fragen im Hinblick auf die Rolle der Kultur. Versteht diese sich als ein Korrektiv der Gesellschaft, obliegt es ihr, Prozesse, die die Privatsphäre aufzubrechen drohen, kritisch zu hinterfragen. Denn auch wenn heutige Targeting-Methoden der Gesetzgebung entsprechen, so wird die technologische Entwicklung immer wieder dazu neigen, diese aufzuweichen und eine Nachjustierung erforderlich machen. Es scheint unabdingbar, dass auch die Marketingabteilungen von Kulturinstitutionen über ein breites Wissen verfügen, um in der Lage zu sein, den Einsatz solcher Technologien für den Kulturbereich einschätzen zu können. Inwieweit aber sollte Kultur generell Methoden ökonomischer Prozesse übernehmen, um in der Ansprache nicht abgehängt, respektive überhört und übersehen zu werden und sich gleichzeitig dem Vorwurf der Ökonomisierung aussetzen zu müssen? Angesichts solcher Fragen ist es erforderlich, die Kenntnisse des Marketings, wie es von der Wirtschaft verfolgt und praktiziert wird, zu kennen und zugleich – für die Kultur – Wege der Anwendung zu finden. Individuell ausgesteuerte Werbebotschaften auf Basis des sogenannten Programmatic Advertising bieten hier eine Möglichkeit: die KI steuert die Platzierung und Transaktionsabwicklung von Anzeigen nicht nur bei der Suche (SERP), sondern spielt den Nutzer*innen diese auch auf von ihnen besuchten Webseiten aus. Programmatic Advertising bezeichnet den vollautomatischen und individualisierten Ein- und Verkauf von Werbef lächen in Echtzeit. Dabei werden auf Basis der vorliegenden Nutzer*innendaten gezielt auf die Nutzer*innen zugeschnittene Werbebanner oder Werbespots ausgeliefert. Aktuell greifen vor allem große Unternehmen auf diese Werbemöglichkeiten, die mit einem entsprechenden finanziellen Einsatz verbunden sind, zu. Man kann jedoch davon ausgehen, dass auch hier in nicht allzu langer Zeit die Zugangsmöglichkeiten auch für Anbieter*innen von Produkten mit kleineren Budgets möglich sind. Einen weiteren – nicht unumstrittenen – Anwendungsbereich stellt das Prinzip der Lookalikes dar, die die Möglichkeit bieten, mit Hilfe der KI aus Daten über Deep-Learning-Algorithmen neue Konsumenten ermitteln und damit für die Identifikation und Profilierung von Zielgruppen genutzt werden können und. Facebook bietet hier bereits im Business-to-Consumer-
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Bereich erste Möglichkeiten (Gentsch 2019). So kann aus einer Liste existierender Kontakte eine neue Zielgruppenart generiert werden, die man zuvor hochgeladen hat. Facebook verwendet diese verschlüsselten Daten, um die Personen auf Facebook zu identifizieren. Eine Vorgehensweise, die selbst im Streben nach vollständigen Daten über potenzielle Besucher*innen zu denken geben sollte. Eine interessante Variante im Kontext der KI bieten Chatbots. Es handelt sich dabei um Programme, die den Eindruck eines realen Gesprächspartners vermitteln. Sie greifen auf Datenbanken und immer häufiger auf Interpretationen durch KI-Algorithmen zurück und reagieren so auf Fragen und Antworten von Nutzer*innen. Auch in der Museumswelt sind Chatbots bereits angekommen und werden insbesondere für die Vermittlung von Wissen und Services wie auch zum Austausch mit dem Publikum herangezogen. Zu den Museen, die Chatbots in unterschiedlicher Form bereits im Einsatz haben, zählen unter anderem das National Art Museum of Republic of Belarus, die Anne Frank Stichting in Amsterdam, das Museo di Milano, das Petit Palais in Paris und die Pinacoteca de São Paulo in Brasilien. Mit Informationen zu Werken, Künstler*innen und Ausstellungen bieten sie eine attraktive Ansprache der Besucher*innen, machen auf die Weise die Informationen einfacher und direkter zugänglich und senken mitunter die Hemmschwellen für bisherige Nicht-Besucher*innen. In den meisten Fällen handelt es sich bei den Chatbots um sogenannte gescriptete Bots, deren Antworten in Gesprächen mit Nutzern aus einer Reihe vorgefertigter Formulierungen, die von Museen vorgegeben werden, ausgewählt werden. Das Projekt Voice of Art der Pinacoteca de São Paulo, Brasilien geht hier technologisch einen Schritt weiter und setzt auf IBM Watson auf. Watson ist ein von IBM entwickeltes KI-basiertes Computerprogramm, welches Algorithmen der natürlichen Sprachverarbeitung und des Information Retrieval implementiert und auf Methoden des Maschinellen Lernens, der Wissensrepräsentation und der automatischen Inferenz auf baut. Im Gegensatz zu typischen Audio-Touren greift Watson dabei nicht auf vorgefertigte Audio-Clips zurück. Zum Einsatz kommt hier ein kognitiver Chatbot, der, um die Fragen in Echtzeit zu beantworten, eine Schnittstelle verwendet, die die menschliche Sprache und Intention durch künstliche Intelligenzdienste versteht. Das Zentrum für Kunst und Medien (ZKM) in Karlsruhe begann 2019 mit der Entwicklung eines Chatbots, um die umfangreiche Sammlung des ZKM, die u.a. über eine der größten Medienkunstsammlungen weltweit
Künstliche Intelligenz und ihre Potenziale im Kulturbetrieb
verfügt, einfacher und direkter zugänglich zu machen. Der Titel »As We May Speak« rekurriert dabei auf einen Artikel des Computerpioniers Vannevar Bush aus dem Jahre 1945, der unter dem Titel »As We May Think« angesichts der exponentiell steigenden Menge wissenschaftlicher Publikationen die Frage aufwarf, mit welchen neuartigen Techniken es Wissenschaftler*innen möglich sein könnte, die für sie wichtigen Forschungsergebnisse zu rezipieren, die einer alltäglichen Praxis entsprechen. Auch der ZKM-Chatbot, der auf der Open Source Conversational AI RAZA basiert, wird über bereits bestehende Infrastrukturen wie Website und Messenger-Dienst zugänglich sein. Darüber hinaus ist vorgesehen, Informationspunkte im Ausstellungsraum und innerhalb der öffentlichen Bereiche des Museums zu platzieren, um einen hohen Nutzwert und Zugriff zu ermöglichen. Ein weiteres Projekt im Kontext von KI, das 2020 vom ZKM und Partnern initiiert wurde, fokussiert ebenfalls das intelligente Museum. Ziel des vierjährigen Projekts ist die Umsetzung eines KI-unterstützten Ausstellungskonzepts, das gemeinsam mit dem Deutschen Museum und dem Fraunhofer Institut für Optronik, Systemtechnik und Bildauswertung (IOSB) entwickelt wird. Das daran gekoppelte Artist-in-Residence-Programm stellt ein Experimentierfeld für Künstler*innen dar, die mit quelloffenen Algorithmen des maschinellen Lernens experimentieren und digitale Kunstwerke schaffen wie zum Beispiel interaktive audio-visuelle Installationen, generative Videos, Datenvisualisierungen oder -verklanglichungen, Klangkunst, Musik, web- oder textbasierte Kunst. Parallel dazu entstehen datengetriebene Applikationen, welche die Interaktionen der Museumsbesucher*innen mit den digitalen Kunstwerken analysieren, um zur Optimierung der Ausstellung beizutragen. Das Projekt fokussiert dabei auch den Bereich der sogenannten emotionalen künstlichen Intelligenz und dem affektiven Computing. Geisteswissenschaftler*innen, Künstler*innen, Forscher*innen und Programmierer*innen verhandeln das Feld der Emotion in der Maschine aus Sicht der Künste, der Wissenschaften und der jüngeren Computergeschichte. Sie skizzieren die Entwicklung hin zu affektiven Technologien, verweisen auf neueste Entwicklungen in diesem Bereich und aktualisieren bisherige Definitionen der emotionalen KI vor dem Hintergrund und den technischen Möglichkeiten eines aktuellen KI-Booms. Im Vordergrund steht die Schaffung einer Ref lexionsebene für die breite Öffentlichkeit in Form von interaktiven und erlebbaren Präsentationen u.a. im Museumsraum. Fragen nach den Möglichkeiten von Interaktion, Dialog und musealer Kommunikation in
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Verbindung mit automatisierter Feedbackerfassung durch KI sollen in diesem Zusammenhang diskutiert und beantwortet werden. Welche Vermittlungswege sind sinnvoll und wie verändert sich die Dialogmöglichkeit und -fähigkeit im Museum auf Basis der künstlichen Intelligenz? Eruiert wird dabei auch, inwiefern neue Zielgruppen erreicht und neue Vermittlungsformen generiert werden können. Nicht zuletzt ist die Auseinandersetzung mit möglichen Risiken ebenso wie der Auf bau respektive die Weiterentwicklung einer kritischen Technologiekompetenz der Besucher*innen ein Ziel des Projekts.
5. Ausblick Künstliche Intelligenz wird in den kommenden Jahren die prägende Technologie sein und unsere technologische und gesellschaftliche Entwicklung im privaten wie öffentlichen Bereich entsprechend beeinf lussen (Dohm 2019). Für Kulturinstitutionen ist es unabdingbar, sich mit dem Thema und den technologischen Herausforderungen auseinanderzusetzen, geht es doch um nicht weniger, als um ihre Rolle in der Gesellschaft des 21. Jahrhunderts vor dem Hintergrund einer zunehmenden Technologisierung. Während die Wirtschaft entwickelt und produziert und die Politik sich um Regularien bemüht, wird in der Kultur die Diskussion der gesellschaftlichen Anliegen, der Regeln des Zusammenlebens, der korrekten Umgangs- und Vorgehensweisen ausgeweitet werden. Die Kultur wird zunehmend die Rolle übernehmen, Orientierung in einer immer komplexeren Umwelt zu geben. Hierfür aber muss sie über das notwendige Wissen verfügen. Gleichzeitig muss sie auf Augenhöhe ihre Teilnehmer*innen, Besucher*innen und Nutzer*innen ansprechen. Dies kann ihr aber nur gelingen, wenn sie sich nicht ausschließlich antiquierter Techniken bedient, die von jungen Zielgruppen nicht mehr angenommen werden.
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VR/AR – Digitale Räume im Museum Andrea Geipel, Georg Hohmann
Visionen virtueller Museumswelten Digitalen Technologien wie Virtual Reality (VR) und Augmented Reality (AR) werden in den kommenden Jahren hohe Wachstumsraten (vgl. Statista 2019) vorausgesagt. Zugleich stellen sie eine Bereicherung für Kultur- und Bildungseinrichtungen dar. Als »Virtual Reality« wird dabei das Eintauchen in eine virtuelle Welt mit Hilfe einer VR-Brille bezeichnet. Darunter fallen z. B. 360-Grad-Videos, die man sich mit dem eigenen Smartphone und einer entsprechenden Halterung anschauen kann, genauso wie VR-Settings mit Controllern und Tracking-Systemen, welche die Interaktion mit virtuellen Elementen ermöglichen. Unter Augmented Reality oder der »erweiterten Realität« versteht man die Projektion virtueller Elemente in die »reale« Welt mit Hilfe von Smartphones oder durchsichtigen AR-Brillen. Mit Hilfe von photogrammetrischen sowie weiteren 3D-Scanverfahren, aber auch über sogenanntes Reverse Engineering und Modellierungen, können museale Objekte dreidimensional bzw. virtuell auf bereitet und den Besucher*innen zur Verfügung gestellt werden, auch wenn diese nicht auf den Ausstellungsf lächen ausgestellt sind. Denkt man an neue Technologien in Museen, gar an 3D-Technologien, haben manche vielleicht den Film »Nachts im Museum« im Kopf: ein Ausstellungsraum, der zum Leben erwacht, mit Objekten und Figuren, welche die Besucher*innen persönlich führen, mit ihnen interagieren und spannende Geschichten erzählen. Manch einer ist vielleicht auch bereits mit verschiedenen VR- oder AR-Settings in Berührung gekommen, sei es im Museum, an der heimischen Spielekonsole oder bei entsprechenden Events. Tatsächlich finden sich bereits heute einige Anwendungen, die der Vision eines zum Le-
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ben erwachenden Museums ähnlich sind. So stellt zum Beispiel das Natural History Museum eine 360-Grad-Anwendung zur Verfügung, in der ein Dinosaurier zum Leben erweckt wird. Besucher*innen werden hierfür virtuell in den Ausstellungsraum versetzt und erleben, wie sich dieser zunächst mit Wasser füllt und dann ein Dinosaurierskelett zum Leben erwacht und durch den Raum schwimmt. Ähnliche Beispiele finden sich auch als AugmentedReality-App, z.B. im Smithsonian Institute. Hier kann man durch Leihgeräte oder das eigene Smartphone Tierskelette zum Leben erwecken und sie mit Zusatzinformationen, wie Links zu Wikipedia oder zu anderen Webseiten anreichern. Einrichtungen, wie das Dali Museum oder die Alte Nationalgalerie bieten die Möglichkeit in die virtuelle Welt von Kunstwerken einzutauchen. So können Besucher*innen der Alten Nationalgalerie in Berlin mit Hilfe von VR-Brillen und Controllern dem Mönch am Meer, einem Gemälde von Caspar David Friedrich, einen Besuch abstatten und Einblicke in die Restaurierungsgeschichte dieses Werks erhalten. Und auch im Deutschen Museum kann man seit August 2018 mit Hilfe eines Fahrsimulators virtuell über den Mond fahren, oder virtuelle Objekte des Museums erkunden, den Kopf in den Dampf kessel der Sulzer Dampfmaschine stecken, eine Partie Golf auf dem Mond spielen oder Otto Lilienthal bei seinem ersten Flug beobachten. Häufig jedoch sind VR-Stationen in Museen mit dem Verweis »Außer Betrieb« versehen, AR-Applikationen funktionieren nicht, das Tracking der VR-Brillen fällt aus oder Besucher*innen finden keine Beschreibungen oder Personal, dass für Fragen zur Nutzung der Anwendungen zur Verfügung steht. In manchen Einrichtungen gar sucht man nach digitalen Vermittlungsansätzen grundsätzlich vergeblich. Manchmal fehlt es an Geldern, oft an Personal oder aber an dem notwendigen Fachwissen, um entsprechende Formate zu entwickeln und den Besucher*innen zur Verfügung zu stellen. Zudem stehen dem Einsatz digitaler Technologien immer noch recht häufig Skepsis und Bedenken im Weg. Entsprechend werden VR- oder AR-Stationen entweder überhaupt nicht in Ausstellungsplanungen berücksichtigt oder nur als zusätzliche Medienstation gedacht. Dabei können digitale Vermittlungsansätze im Bereich VR und AR, wenn richtig eingesetzt, Museumsobjekte für Besucher*innen besser zugänglich machen, indem sie z.B. re-kontextualisiert oder einzelne Elemente hervorgehoben werden. So sollen digitale oder digitalisierte Objekte als Erweiterungen im Museumsraum und nicht als Ersatz für analoge Objekte angesehen werden. In der Umsetzung gilt allerdings, dass VR- und AR-Settings als eigenständiges Format in
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der Ausstellung gedacht werden müssen. Hierfür müssen sich Kulturinstitutionen den Herausforderungen der Implementierung digitaler Vermittlungsansätze stellen, die sich auf alle Bereiche der Ausstellungsplanung erstrecken. Im Folgenden werden diese Herausforderungen, ausgehend vom im Deutschen Museum etablierten VRlab, aufgezeigt und beschrieben. In einem zweiten Schritt wird dann erläutert, warum es gerade im Hinblick auf die Integration digitaler Technologien in den Ausstellungsraum notwendig ist, Lösungsansätze über Institutsgrenzen hinweg zu formulieren. Als Beispiel hierfür werden Inhalte und Ziele des Verbundprojekts »museum4punkt0«1 vorgestellt. Abschließend wird unterstrichen, welche Bedeutung ein multidisziplinärer Austausch sowie die nachhaltige Dokumentation zwischen Kultureinrichtungen sowie innerhalb der eigenen Einrichtung haben, um digitale Technologien optimal in den musealen Alltag zu integrieren und die Vermittlung von Wissen zu unterstützen.
Herausforderungen im Einsatz von VR & AR im Museumsraum Neue Technologien, wie VR und AR, weisen nicht nur den Weg in das Museum der Zukunft, sondern schärfen gleichzeitig den Blick für alltägliche Herausforderungen im Analogen und Digitalen. Eben diesen Herausforderungen stellen sich Kulturinstitutionen gleichermaßen. Im Rahmen des Verbundprojekts museum4punkt0 beschäftigt sich das Deutsche Museum ganz explizit mit der Frage, wie man VR und AR in den musealen Ausstellungsraum integrieren kann und welche infrastrukturellen, didaktischen und organisatorischen Herausforderungen sich hierbei ergeben. Mit der Eröffnung des VRlabs im August 2018 wurde eine Experimentierf läche im Ausstellungsraum geschaffen, um verschiedene Vermittlungsszenarien zu testen und Maßnahmen zur Umsetzung zu identifizieren. Auf insgesamt 120 Quadratmetern finden sich ein Anmeldebereich, eine Multifunktionsf läche sowie drei Flächen zur Präsentation von VR-Sequenzen. Hier werden 3D-gescannte und aufwendig nachmodellierte Objekte des Deutschen Museums präsentiert. Neben einem Fahrsimulator, mit dem man virtuell über die 1 I m von der Bundesbeauftragten für Kultur und Medien geförderten Verbundprojekt entwickeln sieben Kultureinrichtungen digitale Prototypen, um neue Formen der Kommunikation, Partizipation, Bildung und Vermittlung in Museen zu ermöglichen.
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Mondoberf läche fahren kann, werden auf den zwei VR Flächen eine Dampfmaschine der Gebrüder Sulzer, der Benz-Motorwagen, der Lilienthalgleiter sowie das Lunar Roving Vehicle in virtuelle Welten versetzt. So können Besucher*innen z.B. die Dampfmaschine in einer Spinnerei des 19. Jahrhunderts nicht nur besichtigen, sondern sich auch einzelne Bauteile und Mechanismen, wie den Dampf kreislauf anzeigen lassen. Für die Modellierung der jeweiligen Sequenzen wurde entsprechend auf die Scandaten zweier Verfahren (Photogrammetrie und Laserscan) sowie auf Baupläne, Unterlagen oder sogar Satellitenaufnahmen und Originaldaten der NASA zurückgegriffen, um beispielsweise die Mondoberf läche mit den jeweiligen Standorten von Landefähre und Forschungsstation möglichst realitätsgetreu darzustellen. Das VRlab als Labor beziehungsweise als Experimentierf läche wurde explizit modular und offen gestaltet, um einerseits neue technologische Entwicklungen zeitnah testen zu können und andererseits auch die Technologie hinter dem Erlebnis den Besucher*innen zugänglich zu machen. Zudem besteht über die Fläche die Möglichkeit, neue Entwicklungen externer Partnereinrichtungen aus Forschung, Wirtschaft und Kunst vorzustellen und Besucher*innen so aufzuzeigen, welche Entwicklungen im weiten Feld der Virtual Reality zu beobachten sind. Über die Projektlaufzeit sollen hier unterschiedliche Fragestellungen wissenschaftlich bearbeitet und nachhaltig dokumentiert werden. Hierzu zählen Fragen nach infrastrukturellen Voraussetzungen (z.B. im Hinblick auf die Raumgröße oder das technische Equipment) genauso wie die nach unterschiedlichen Betriebskonzepten (z.B. mit oder ohne Anmeldung) und digitalen Vermittlungsmethoden (z.B. virtuelle Touren oder freies Explorieren der Nutzer*innen). Hierfür wurden von Beginn an Herausforderungen, Maßnahmen und Entscheidungsprozesse dokumentiert. Zudem wurden seit der Öffnung des VRlabs Beobachtungstagebücher für das Betreuungspersonal eingeführt und Weiterentwicklungen für die Dokumentation festgehalten. Ergänzt werden die so gesammelten Daten durch bislang 20 leitfadengestützte Interviews sowie einer im Sommer 2019 startenden Befragung, welche auf bauend auf der Analyse der Interviews entwickelt wurde. Ziel ist es, mehr über die Nutzer*innen des VRlabs zu erfahren (z.B. bereits gesammelte Erfahrungen mit 3D-Technologien, aber auch Altersstruktur und technisches Vorwissen) sowie Daten zur Nutzerfreundlichkeit (z.B. zur Verständlichkeit des Tutorials oder zur Bedienung der Controller), zahlreiches Feedback zum VRlab selbst sowie den darin präsentierten Inhalten (z.B. zum Interesse an den Objekten
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nach dem VR-Erlebnis) zu erheben. Hinzu kommen kurze Teststrecken mit anderen VR-Systemen, wie 360-Grad-Brillen, die ohne Betreuungspersonal eingesetzt werden können, oder Trackingsystemen sowie mit anderen technologischen Erweiterungsansätzen, wie Eye Tracking zur Unterstützung der Menüführung. Am Ende soll eine umfassende Dokumentation auch anderen Einrichtungen dabei helfen, herauszufinden, welche Maßnahmen zum Einsatz von VR in Museen ergriffen werden müssen und unter welchen Voraussetzungen die Integration in den Ausstellungsbereich gelingen kann. Hierfür sollen die gesammelten Daten grafisch auf bereitet werden, um Entscheidungsprozesse zu unterstützen und gleichzeitig dem kurzlebigen Charakter der Technologie gerecht zu werden. Zudem werden die Daten gesammelt, mit den Erfahrungen und Ergebnissen der anderen Teilprojekte abgeglichen und in einem online abruf baren Katalog am Ende der Projektlaufzeit anderen Einrichtungen zur Verfügung gestellt. Abbildung 1 zeigt ein erstes Zwischenergebnis dieser grafischen Auf bereitung. Darin sollen nach und nach alle Fragen rund um die Integration von VR in den musealen Raum aufgezeigt und in ihrer Detailliertheit vermittelt werden. Damit wird sichtbar, dass es sich bei VR- aber auch AR-Stationen nicht um reine Medienstationen handelt, sondern dass vielmehr die Planung von VR- und AR-Stationen der Planung und Umsetzung von Ausstellungen selbst ähnelt. Zur Gestaltung der Übersichtsgrafik wurden die gesammelten Daten in die Bereiche Infrastruktur, Betriebs- und Vermittlungskonzept geclustert. Innerhalb der Bereiche finden sich nah am Zentrum gelegene Fragen, die zu Beginn der Planung von VR-Stationen im Museum gestellt werden sollten. Diese werden dann nach außen hin immer detaillierter und spezifischer. Die Grafik vermittelt so auf einen Blick, wie umfassend die Integration von VR auf der Ausstellungsf läche gedacht werden muss. Gleichzeitig lässt sie für Rezipient*innen möglichst viel Spielraum um eigene Entscheidungen und Ergänzungen zu integrieren. Ein anschauliches Beispiel hierfür ist die Frage nach hygienischen Maßnahmen in der Nutzung von VR-Brillen. Im Rahmen des Projekts wurden hierfür unterschiedliche, am Markt verfügbare, Lösungsansätze (z.B. Gesichtspolster, Reinigungsmaßnahmen, Klebesysteme) getestet und auf unterschiedliche Kriterien überprüft (z.B. der anfallende Müll oder Kosten). Die Darstellung ermöglicht es verschiedene Lösungsansätze kennenzulernen und zugleich je nach den individuellen institutionellen Rahmenbedingungen Entscheidungen zu treffen.
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Abbildung 1: Herausforderungen im Einsatz von VR-Stationen im Museumsraum: Zwischenergebnis einer Übersichtsgrafik zu Fragen rund um die Integration von VR-Stationen im Museum (Andrea Geipel, Joyce Moore)
In einem zweiten Schritt soll aus dieser Übersichtsgrafik eine Grafik zur Unterstützung von Entscheidungsprozessen entstehen. Entscheidungen hinsichtlich der eingesetzten Technologie orientieren sich z.B. am zur Verfügung stehenden Personal oder der Größe der Ausstellungsf läche, auf der die Station für die Besucherinnen zugänglich gemacht werden soll. So stellt z.B. die rasante Weiterentwicklung neuer Technologien sowie der hohe Be-
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treuungsaufwand von VR-Stationen (z.B. zur Erläuterung der Technik) Museen vor große Herausforderungen und muss bei der Planung berücksichtigt werden. Denkbar ist entsprechend ein Szenario durch das, ausgehend von den jeweils zur Verfügung stehenden Ressourcen und infrastrukturellen Rahmenbedingungen, Lösungsvorschläge zur Integration von VR- und ARInhalten in den Ausstellungsraum sichtbar werden. Die drei in Abbildung 1 dargestellten Bereiche, Infrastruktur, Betriebs- und Vermittlungskonzept sind dabei nicht als streng voneinander getrennt zu betrachten. Vielmehr bedingen sich die Voraussetzungen der einzelnen Bereiche gegenseitig oder es finden sich Antworten zur Umsetzung in mehr als nur einem Cluster. Die hier vorgestellte Grafik stellt lediglich ein Zwischenergebnis dar. Bis Ende des Verbundprojekts sollen weitere Fragestellungen ergänzt und bestehende Themenbereiche vertieft werden.
Herausforderungen im Cluster ›Infrastruktur‹ Hinsichtlich der Infrastruktur zur Präsentation von VR-Inhalten stellen sich zentrale Fragen zur Raumplanung sowie zur benötigten Hard- und Software (siehe Abbildung 2). Neben der zur Verfügung stehenden Raumgröße stellen sich ebenso Fragen zur Ausstattung sowie Gestaltung des Ausstellungsbereichs. Gerade für die Verwendung von interaktiven VR-Systemen muss immer auch die Anbringung von Tracking-Systemen mitgedacht werden. Auf der anderen Seite bietet sich z.B. für die Präsentation eines 360-Grad-Films über nicht interaktive Brillensysteme eine Fläche mit mehreren drehbaren Stühlen an, um den Betreuungsaufwand zu verringern und die Durchsatzzahl zu erhöhen. Hierfür müssen ausreichend Platz sowie genügend Ladestationen vorhanden sein. Aber auch die Gestaltung des Ausstellungsraums muss berücksichtigt werden. Vor allem bei der Verwendung interaktiver VR-Systeme hilft den meisten Besucher*innen ein abgeschlossener Bereich, um sich den neuen Technologien zu nähern, ohne sich beobachtet zu fühlen. Außerdem sollte die VR-Fläche über Markierungen verfügen, um den Besucher*innen die Orientierung zu vereinfachen. Zudem müssen je nach Betriebskonzept Bereiche für eine Anmeldung oder einen Zuschauerbereich berücksichtigt werden. Auch hinsichtlich der verwendeten Hard- und Software stellen sich verschiedene Fragen. Neben leistungsfähigen Rechnern müssen auch die Brillensysteme selbst ausgewählt werden. Hier gilt es, einen Kompromiss aus neuester
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Abbildung 2: Cluster ›Infrastruktur‹ (Andrea Geipel, Joyce Moore)
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Technologie und einem ökonomischen Einsatz derselben zu finden. Dass angeschaffte Systeme frühzeitig als veraltet gelten können, muss unter diesem Aspekt akzeptiert und entsprechend antizipiert werden. Zudem muss darüber entschieden werden, ob das Museum die virtuellen Inhalte selbst herstellt oder ob eine externe Firma diese zur Verfügung stellt. Entsprechend ist auch die Anschaffung von Hard- und Software für die Aufzeichnung von 360-GradVideos oder den 3D-Scan eigener Objekte notwendig. Großf lächige Bildschirme im Ausstellungsraum ermöglichen es den Besucher*innen darüber hinaus, an den virtuellen Erlebnissen andere Besucherinnen teilzuhaben. Zudem erhöht sich hierdurch der Interaktionsgrad, da sich z.B. Familienmitglieder oder Klassenkamerad*innen gegenseitig anfeuern oder Erlebnisse so noch besser geteilt werden können. Allerdings können Bildschirme dann hinderlich sein, wenn Inhalte präsentiert werden sollen, die einen Überraschungseffekt beinhalten oder ganz konkret mit der veränderten Wahrnehmung innerhalb der VR spielen. All diese Punkte müssen bedacht werden, um VR zielführend in den Museumsraum zu integrieren.
Herausforderungen im Cluster ›Betriebskonzept‹ Hinsichtlich des Betriebskonzepts ergeben sich ausgehend von den zwei zentralen Aspekten – der verfügbaren Ausstellungsf läche und dem vorhandenen Personal – eine Vielzahl an weiteren Fragen: Neben der Frage, welche Technik verwendet wird und ob davon ausgehend Personal oder eine entsprechende Bedienungsanleitung benötigt wird, muss zunächst auch geklärt werden, ob die geplante VR-Station nur kurzzeitig (als Event) oder auf Dauer betrieben werden soll. Ausgehend von z.B. einer interaktiven VR-Anwendung, die im Dauerbetrieb für die Besucher*innen zur Verfügung stehen soll, müssen nicht selten mindestens eine Betreuungsperson pro VR-Station sowie eine ausreichend große Fläche eingeplant werden. Erst dann können Öffnungszeiten sowie Zugangswege festgelegt werden. Zusätzlich stellen sich Fragen, inwieweit die VR-Anwendung separat bezahlt werden und ob und wie eine Anmeldung organisiert werden soll. Die Anmeldung für feste Zeitfenster, zur Nutzung der VR bietet den Vorteil, dass Besucher*innen frühzeitig einschätzen können, ob sie während ihres Besuchs noch die Möglichkeit haben, die Anwendung zu testen oder nicht. Zudem können dadurch lange Warteschlangen vermieden werden. Gleichzeitig benötigt die Einrichtung eines
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Abbildung 3: Cluster ›Betriebskonzept‹ (Andrea Geipel, Joyce Moore)
Anmeldebereichs je nach Umsetzung möglicherweise zusätzliches Personal oder technisches Equipment (z.B. wenn die Anmeldung über ein Tablet oder online erfolgen soll). Ein weiterer relevanter Punkt ist die Berücksichtigung einer sicheren Nutzung für Besucher*innen aber auch das Betreuungspersonal auf der VR-Fläche. Hierfür müssen einerseits räumliche Bedingungen geschaffen werden, wie ausreichend Platz rund um eine interaktive VR-Fläche, so dass Besucher*innen nicht mit Wänden oder anderen Besucher*innen kollidieren können. Andererseits ist es notwendig Besucher*innen sowie Betreuungspersonal über die korrekte Nutzung aufzuklären. Hierfür können sich Kulturinstitutionen z.B. an den Vorgaben der Brillenhersteller orientieren und entsprechende Aushänge formulieren. Sinnvoll scheinen darüber hinaus die Festlegung eines Mindestalters sowie die Formulierung eines Fragenkatalogs (als Handreichung für das Betreuungspersonals ebenso wie als FAQ zur Publikation auf der Webseite), der die häufigsten Fragen der Besucher*innen für eine sichere Nutzung im Allgemeinen vorwegnimmt.
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Aber auch hinsichtlich des zur Verfügung stehenden Personals stellen sich weitergehende Fragen. Je nach Charakter der VR-Station wird Personal nur für einen bestimmten Zeitraum oder auf Dauer benötigt. Hieran orientieren sich Anstellungsvoraussetzungen und Vertragslaufzeiten. Auch die Gestaltung von Einweisung, Ausbildung und Weiterbildung des Personals müssen in diesem Zusammenhang frühzeitig mitgedacht werden.
Herausforderungen im Cluster ›Vermittlungskonzept‹ Die zentrale Frage hinsichtlich der digitalen Vermittlung ist, welche Inhalte mithilfe welcher Formate und Methoden konkret vermittelt werden sollen. Sollen z.B. die eigenen Objekte virtuell zugänglich gemacht werden, so kann dies in Form einer Kontextualisierung (wie die Kontextualisierung einer Dampfmaschine in einer Spinnerei im VRlab des Deutschen Museums), einer historischen Einordnung in Form einer Zeitreise oder aber durch die Vermittlung spezifischer Mechanismen und Gesetzmäßigkeiten über die Änderung des Größenverhältnisses zwischen Nutzer*innen und Objekt erfolgen. Manchmal können Gesetzmäßigkeiten, wie die Eigenschaften verschiedener Elemente des Periodensystems über die Einbindung bereits vorhandener Modelle auf VR-Plattformen genutzt werden. Zudem kann VR genutzt werden, um den Besucher*innen Inhalte auch nach Ende der Ausstellung z.B. über 360-Grad-Videos zugänglich zu machen. Manchmal ist das Ziel aber auch die Technologie hinter VR selbst zu vermitteln. Hierfür können frei verfügbare Inhalte über Plattformen genutzt oder aber eigene Inhalte erstellt werden. Hinsichtlich der Vermittlung konkreter Inhalte, stellen sich z.B. Fragen zum Einsatz von Gamification-Ansätzen sowie zur Umsetzung von Digital-Storytelling-Methoden. Welche Zielgruppe soll angesprochen werden? Sollen die Inhalte im Rahmen einer Tour vermittelt werden oder soll die VR-Erfahrung durch die Besucher*innen frei exploriert werden können? VR bietet darüber hinaus aber auch die Möglichkeit der Partizipation und Interaktion. 3D-Inhalte können selbst gestaltet werden oder VR-Szenarien von mehreren Besucher*innen gemeinsam erlebt werden (sogenannte Multiplayer-Szenarien). Für diese Anwendungen müssen eventuell weitere Rahmenbedingungen, wie die technische Ausstattung oder die zur Verfügung stehende Fläche angepasst werden. Auch die Usability bzw. Bedienfreundlichkeit muss in diesem Zusammenhang berücksichtigt werden. Hierzu gehören Fragen nach dem Ein-
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satz von Textfeldern und Audiobeiträgen, um Inhalte möglichst verständlich zu vermitteln, genauso wie nach der Gestaltung von Tutorials, damit sich Besucher*innen ohne Vorkenntnisse schnellstmöglich mit der Technik zurechtfinden. Grundsätzlich sollte immer im Vordergrund stehen, welche Inhalte wem vermittelt werden sollen. Erst danach können Entscheidungen bezüglich Vermittlungsmethoden sowie Infrastruktur und zum Betrieb getroffen werden. ›Inhalt vor Technik‹ lautet entsprechend die Maßgabe. Der Einsatz von VR, aber auch AR, ist schließlich nur dann sinnvoll, wenn er einen didaktischen Mehrwert hat, für Besucher*innen leicht zugänglich ist und in den Museumsalltag integriert werden kann. Neben dem Einsatz von VR im Museumsraum testet das Deutsche Museum auch den Einsatz integrativer Konzepte zum Einsatz von AR. Durch die Projektion von 3D-Objekten über Smartphones und Tablets, reduziert sich der Betreuungsaufwand sowie der benötigte Raum nachhaltig. AußerAbbildung 4: Cluster ›Vermittlungskonzept‹ (Andrea Geipel, Joyce Moore)
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dem ermöglicht es AR, Inhalte direkt in den Ausstellungsraum zu integrieren und für ganze Besuchsgruppen gemeinsam erfahrbar zu machen. Möglich ist etwa die virtuelle Auf bereitung von Ausstellungsobjekten durch die Einblendung von Zusatzinformationen, kurzen Videos oder zusätzlichen Elementen wie Animationen. Im Sommer 2019 wurde im Rahmen des Verbundprojekts eine AR-App für die Sonderausstellung »Kosmos Kaffee« erstellt. Mit Hilfe dieser App können Besucher*innen eine Kaffeepf lanze im Ausstellungsraum oder zuhause wachsen lassen. Neben einer ausführlichen Evaluation dieser AR-App sollen in Zukunft weitere Prototypen entstehen, um Daten für Empfehlungen zum Einsatz von AR und VR zu sammeln. Auch im Hinblick auf den Einsatz von AR stellen sich Fragen zur Infrastruktur (z.B. die Raumgröße, die Platzierung von Tablets und Markern oder die Verfügbarkeit von WLAN), dem Vermittlungskonzept (z.B. zum Storytelling, zum Einsatz von Gamification-Methoden oder der Gestaltung unterschiedlicher Inhalte für die Ausstellungsf läche und die downloadbare App) sowie dem Betrieb (z.B. werden AR-Brillensysteme verwendet und ist hierfür Personal nötig, muss der Verleih von Geräten organisiert werden und soll die Nutzung der AR-App kostenfrei möglich sein), die entsprechend visuell auf bereitet anderen Einrichtungen zur Verfügung gestellt werden sollen. Am Ende sollen unterschiedliche Dokumentationsformate – grafische, textbasierte oder audiovisuelle – Entscheidungsprozesse zum Einsatz von 3D-Technologien im Ausstellungsbereich unterstützen.
Über die Bedeutung multidisziplinärer Zusammenarbeit & nachhaltiger Dokumentation Verbundprojekt »museum4punkt0« Die hier vorgestellten Erfahrungen im Einsatz von VR und AR im Museumsraum entstehen im Rahmen des Verbundprojekts »museum4punkt0«: ein Projekt, das auf drei Jahre angelegt ist und von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien gefördert wird. Die insgesamt sechs Kultureinrichtungen von unterschiedlichem Profil, unterschiedlicher Größe, Organisationsform und Vertrautheit mit digitalen Prozessen, entwickeln in Fallstudien digitale Prototypen und stellen im Anschluss deren Evaluation und Dokumentation anderen Einrichtungen zur Verfügung. Dabei präsentie-
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ren die Sammlungsinhalte der beteiligten Einrichtungen Aspekte der Kunst-, Kultur- und Migrationsgeschichte, der Naturkunde, des Brauchtums und immateriellen Kulturerbes sowie der Technikgeschichte und ermöglichen so einen multidisziplinären Austausch. Über die enge Zusammenarbeit und die gegenseitige Nachnutzung entwickelter Prototypen können so Gemeinsamkeiten im Umgang mit digitalen Technologien im musealen Raum identifiziert und eine gemeinsame Sprache entwickelt werden. Dies führt auch dazu, Prozesse in der Umsetzung digitaler Vermittlungsstrategien in der eigenen Einrichtung zu optimieren. Basis hierfür ist die gemeinsame Evaluation und Dokumentation der praxisnah ausgerichteten Vorhaben hinsichtlich ihrer Anforderungen an interne Infrastrukturen und Workf lows. Daneben eröffnet das Verbundprojekt genügend Raum zum Experimentieren. In der alltäglichen Museumsarbeit fehlt hierfür häufig Zeit, Geld und Personal. So können digitale Vermittlungsformate nur selten vertiefend geplant und umgesetzt werden. Und auch die Evaluation und Dokumentation für zukünftige Projekte zur digitalen Anreicherung von Ausstellungsinhalten kommt hierbei oft zu kurz. Wie bereits erwähnt ist die Einbindung von VR und AR in den Ausstellungsraum eine umfangreiche Aufgabe, die verschiedene Arbeitsbereiche von Kulturinstitutionen fordert und eine gute Kommunikation über Abteilungsgrenzen hinweg nötig macht. Die nach Projektende bereitgestellten Ergebnisse aller beteiligten Einrichtungen sollen einerseits bei der Umsetzung eigener Projekte helfen und andererseits Grundlage für weitere Erkenntnisse bei der Implementierung von VR und AR im Museum bieten. Hierzu gehören neben Betriebskonzepten und Leitfäden auch nachnutzbare Quellcodes, Evaluationsergebnisse und Projektberichte. Gerade im Umgang mit sich schnell entwickelnden Technologien scheint die Optimierung von Prozessen auf bauend auf einem intensiven Erfahrungsaustausch und einer gemeinsamen Sprache für die Wahl der geeigneten digitalen Vermittlungsmethode zentral.
Zusammenarbeit im Museum Auch in der eigenen Einrichtung sind der multidisziplinäre Austausch sowie eine nachhaltige Dokumentation die Basis für die Umsetzung digitaler Projekte im Ausstellungsraum. Digitalisierung fördert und fordert in diesem Sinne die Zusammenarbeit unterschiedlicher Fachbereiche. Hilfreich für die Prozessoptimierung können auch hier Grafiken sein, die Wissen auf einen
VR/AR – Digitale Räume im Museum
Blick dokumentieren oder Entscheidungsprozesse unterstützen. Auch können gemeinsam erarbeitete Dokumente helfen, digitale Projekte in multidisziplinären Teams anzustoßen und umzusetzen. So können auf bauend auf vorherigen Erfahrungen formulierte Kriterien zur Zusammenarbeit von Kurator*innen und externen Partneragenturen helfen, Entscheidungsprozesse zu vereinfachen und die Zusammenarbeit zu verbessern. Hierfür muss der Prozess der Digitalisierung selbst als zentrales Moment der gesamten Museumsarbeit gedacht werden und die Arbeit einer Digitalisierungsabteilung entsprechend integrativ in alle Bereiche von Kulturinstitutionen hineinwirken. Nur so können im ständigen Austausch, ähnlich wie auf Verbundebene im Projekt »museum4punkt0«, Erfahrungen gesammelt, diskutiert und gemeinsam evaluiert werden. Die Mitarbeiter*innen einer solchen Digitalisierungsabteilung übernehmen in diesem Sinne zusätzlich ein Art Beratungsfunktion innerhalb ihrer Einrichtung ein und helfen bei Entscheidungen bezüglich der digitalen Technologien für die museale Vermittlung. Diese werden wiederum in iterativen Testläufen evaluiert und deren Einsatzmöglichkeiten stetig neu ausgehandelt. Im Deutschen Museum wird dieses Bestreben im Rahmen der seit 2012 laufenden tiefgreifenden Sanierungs- und Modernisierungsphase verfolgt. Mit einer der größten Digitalisierungsmaßnahmen in der deutschsprachigen Museumslandschaft (Hohmann 2014), dem Deutschen Museum Digital (DMD), widmet sich das Deutsche Museum allen Aspekten des Digitalen im Museum. Sie umfasst nicht nur die Digitalisierung der Bestände, sondern betrachtet und optimiert auch administrative und organisatorische Strukturen und erprobt neue digitale Vermittlungsformate. Dabei richtet sich der Fokus auf Fragen, wie die Museumsarbeit von digitalen Methoden und Techniken profitieren kann, wie sich Arbeitsabläufe digital ökonomischer gestalten lassen, wie unterschiedliche Organisations- und Informationseinheiten vernetzt werden können, oder wie sich digitale Forschungsmethoden gewinnbringend einsetzen lassen. Gleichzeitig werden auch Fragen nach den Erwartungen einer digitalen Gesellschaft an Museen sowie die Förderung der Relevanz vernetzter Welten berücksichtigt. Nicht zuletzt die prognostizierten Wachstumsraten für VR und AR für die nächsten Jahre zeigen, dass diese und neue Technologien in allen Bereiche Einzug halten werden. Dies gilt sowohl für die Wirtschaft als auch für die Wissenschaft und kulturhistorische Einrichtungen wie Museen. Die Einbindung von VR und AR in einen musealen Kontext bedingt eine Vielzahl an Aufgaben und
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notwendigen Voraussetzungen. Sie bietet noch unausgeschöpfte Möglichkeiten für die Vermittlung von Wissen und birgt in der Umsetzung teils ungeahnte Fallstricke. Durch die Bereitstellung der Ergebnisse des interdisziplinären Verbundprojekts »museum4punkt0« können Erkenntnisse im Umgang mit neuen Technologien in Ausstellungen gebündelt und skalierbar präsentiert werden. Hierdurch können Hürden und Ängste genommen und Vorteile aufgezeigt werden. Das VRlab im Deutschen Museum, das im Verbundprojekt umgesetzt wurde, erfreut sich großer Beliebtheit bei den Besucher*innen und hat sich seit der Eröffnung im August 2018 bereits fest im Ausstellungsbetrieb etabliert. Trotz des hohen Betreuungsaufwands zeigt es, dass die neuen Technologien wie VR und AR einen deutlichen Mehrwert für kulturhistorische Einrichtungen darstellen und die Ausstellungsobjekte im erweiterten digitalen Raum im Museum in ein neues Licht stellen kann.
VR/AR in Zeiten von Corona – ein Update Durch die Schließung des Ausstellungsbereichs des Deutschen Museum in Folge der Covid-19-Pandemie wurde auch das VRlab für den Besucherverkehr geschlossen. Auch während der kurzen Lockerungsphase im Sommer und Herbst konnte es aufgrund des besuchernahen Betriebskonzept nicht wieder geöffnet werden, weshalb das VRlab nun seit dem Frühjahr 2020 nicht mehr öffentlich zugänglich ist. Gerade bei der Interaktion zwischen Personal und Besucher*innen, beim Anlegen und Erläutern der VR-Headsets sind die notwendigen Hygiene- und Abstandsregeln unmöglich umzusetzen. Auf diese Entwicklungen haben wir mit unterschiedlichen Maßnahmen reagiert. Einerseits hat das Team des VRlabs sich intensiv mit der Produktion von Videoformaten beschäftigt, die den Besucher*innen verständlich und anschaulich das Aufsetzen der Headsets und deren Nutzung erläutern. Dadurch soll in Zukunft der Kontakt zwischen Personal und Nutzer*innen reduziert werden. Darüber hinaus haben wir uns verstärkt mit alternativen virtuellen Formaten beschäftigt, die das Aufsetzen von VR-Headsets nicht mehr notwendig machen. Hierfür wurde das VRlab so umgebaut, dass nun an allen drei Wänden Projektionsf lächen angebracht sind. Mit leistungsfähigen Projektoren können so virtuelle Inhalte in den Raum projiziert und so ein immersives Raumerlebnis geschaffen werden. Die Integration von LiveTracking und 3D-Shutter-Brillen vertieft dabei noch das Erlebnis. In einem
VR/AR – Digitale Räume im Museum
letzten Schritt haben wir uns mit der Veröffentlichung der virtuellen Inhalte auseinandergesetzt, damit Besucher*innen diese auch von zuhause aus erleben können. Auch nach Öffnung des VRlabs möchten wir mit all diesen Formaten weiterarbeiten, um immer wieder neue Anreize zu setzen und zu testen, um immersive Museumserlebnisse zu schaffen und andererseits auch die Besucher*innen zu erreichen, die das Deutsche Museum auch unabhängig von der Pandemie nicht besuchen können.
Literatur Hohmann, Georg (2019): »Deutsches Museum Digital«, in: Museumskunde 79, S. 24-28. Statista (2019): »Marktentwicklung von Augmented und Virtual Reality«: https://de.statista.com/infografik/9006/marktentwicklung-von-aug mented-und-virtual-reality/ vom 01.03.2019.
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Das Museum als Dritter Ort. Schlagwort oder Leitbegriff? Von Ray Oldenburg bis Homi K. Bhabha Katharina Hoins Wenn es um die aktuelle Definition dessen geht, was Museen leisten sollen und wie sie gesellschaftlich relevant sein können, fällt häufig das Schlagwort vom Museum als Drittem Ort. Selten wird der Begriff jedoch weiter erläutert, meist bleibt die Verwendung vage und unpräzise. Möglicherweise ist es in der augenblicklichen Diskussion gerade eine der Stärken dieser Vokabel, dass sie durch ihren unbestimmten Gebrauch reichlich Raum für verschiedene Auf ladungen lässt. Der Begriff wird in der Regel benutzt, um eine zunehmende Öffnung der Museen und ihre soziale und gesellschaftliche Funktion anzusprechen. Die Implikationen reichen dabei von der Vorstellung des Museums als für alle zugänglichem Aufenthaltsort bis zur Erwartung, dass hier gesellschaftliche Gruppen, die sonst kaum miteinander in Kontakt kommen, sich begegnen, austauschen und die relevanten Fragen unserer Zeit gemeinsam debattieren könnten. Die genauen Ansprüche bleiben dabei im wohlig Ungefähren, so dass jede Gruppe das meinen kann, was für sie jeweils vorstellbar und tragbar ist. Wird der Begriff in Reden oder im Gespräch überhaupt definiert, wird vor allem auf die Bestimmung des Soziologen Ray Oldenburg verwiesen, der in seinem 1989 in der ersten Auf lage erschienenen Buch »The Great Good Place« den Wohnort als Ersten Ort und den Arbeitsort als Zweiten Ort definierte (vgl. Oldenburg 1999: 16). Die Bezeichnung Dritter Ort prägte er für Orte außerhalb dieser beiden Sphären. Typische Beispiele waren für ihn Cafés und Kneipen, Friseursalons oder Geschäfte, in denen der Gast regelmäßig einkehrt und an dem über die Zeit soziale Beziehungen entstehen. Ein informeller Ort, an dem sich Menschen treffen und sich gesellschaftliches Leben ereignet. Kulturelle Einrichtungen wie Bibliotheken oder Museen kommen in Olden-
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burgs erstem Buch als Beispiele für Dritte Orte nicht vor. Einzig eine Buchhandlung ist in seinem 2001 erschienen Band »Celebrating the Third Place« beschrieben, in dem er als Herausgeber exemplarisch eine große Bandbreite Dritter Orte versammelt, häufig auf Vorschlag und Initiative der Betreiber oder Gäste (vgl. Oldenburg 2001: 3). Wie ist es also zu erklären, dass der von Ray Oldenburg geprägte Begriff museumspolitisch momentan in aller Munde ist? Um dies zu klären, sollen die verschiedenen Phänomene, die der Begriff beschreibt, aufgefächert werden: Daher wird zunächst auf die Frage eingegangen, wie Museen bereits als Dritte Orte genutzt werden, und wie sie diese Funktion durch bestimmte Maßnahmen und Gestaltungen weiter stärken können. Dies betrifft vor allem Fragen der Zugänglichkeit, Aufenthaltsqualität und Voraussetzungen des sozialen Austauschs im Museum. In einem zweiten Schritt werden darüber hinaus gehende Implikationen des Begriffs in den Blick genommen, die vor allem gesellschaftliche Ziele und Ideale in der Konzeption von Museen ansprechen. Hier sind vor allem die historische Situation von Oldenburgs Konzepts und die gesellschaftliche Problemlage, die es umschreibt, als Ausgangspunkt interessant. Der Museumsdiskurs koppelt sich jedoch von Oldenburg ab und projiziert Erwartungen an die Institution, die über das Ursprungskonzept hinausgehen. An dieser Stelle ließe sich von einer Überfrachtung des Begriffs und einer Überforderung des Museums sprechen. Zugleich schließen hier Ideen aus Museumskonzeption und -theorie indirekt an. Eine konkrete Analyse ermöglicht es, durch den Begriff Grundkonzepte des Museums in ihrer Aktualität und ihrem Innovationspotenzial zu identifizieren und zu stärken. Auf diese Weise lässt sich der Dritte Ort vom kryptischen Schlagwort zu einem Leitbegriff im Museumsmanagement entwickeln.
Home away from home. Vertrautheit mit Dingen und Menschen Ray Oldenburg definiert Dritte Orte als »informal public gathering places« (Oldenburg 1999: ix). Personen kommen ungeplant, aber regelmäßig her und treffen hier andere Stammgäste (regulars), die über die Zeit miteinander vertraut werden. Es bilden sich Bekanntschaften oder Freundschaften und es entsteht sozialer Austausch. In diesem Sinne sind Museen längst Dritte Orte: Häufig gibt es einen mehr oder weniger großen harten Kern an
Das Museum als Dritter Ort. Schlagwort oder Leitbegriff?
Stammbesucher*innen, die sich untereinander kennen, die von den Mitarbeiter*innen des Museums namentlich angesprochen werden, inklusive Plausch über das Wetter und Erkundigung nach dem aktuellen Befinden. Institutionalisierten Ausdruck findet dieses Phänomen in den zahlreichen Freundeskreisen von Museen, die als Vereine die Arbeit der Häuser unterstützen und zugleich gesellschaftliches Miteinander zwischen den Mitgliedern organisieren, beispielsweise bei Führungen, Seminaren oder gemeinsamen Reisen. Diese bei Oldenburg nicht vorgesehene, angeleitete Gemeinschaft steht in gewissem Widerspruch zu seinem Konzept, kann aber auch die lose Begegnung begünstigen. Sie macht den relativ teuren Einzelbesuch durch einen Pauschalbetrag immer günstiger, je häufiger der Besuch sich wiederholt: In den Freundeskreisen ist im Mitgliedsbeitrag meist der stets kostenlose Zugang enthalten, so dass es egal ist, ob die Mitglieder den Besuch für eine Tour durch das gesamte Museum nutzen, nur wegen eines Lieblingswerks oder einer speziellen Veranstaltung kommen oder sich mit jemandem im Café treffen. Anfang Juni 2019 hat das Chrysler Museum of Art in Norfolk (Virginia) ein Video mit dem Titel »My third place« veröffentlicht (https://youtu.be/ H7gQL_ihIdA). Darin stellt es fünf Personen vor, die offenbar regelmäßig das Museum besuchen – zum Abschluss sagt einer der Protagonisten: »There’s home, there’s work and there’s the Chrysler. My third place.« Das Video des Chrysler Museum nimmt das Konzept des Dritten Orts demonstrativ für sich in Anspruch, indem es betont, dass sich die Stammbesucher*innen mit ihrem Museum identifizieren und hier viel Freizeit verbringen. Es fungiere für sie, in Ray Oldenburgs Worten, die auch im Video verwendet werden, als ein »home away from home«. Interessant und kennzeichnend ist dabei, dass die Statements der ausgewählten Personen sie im Museumsraum, in Aktion und Interaktion zeigen – sie arbeiten in der angeschlossenen Glaswerkstatt, zeichnen nach den ausgestellten Werken, führen durch die Ausstellung und sitzen an einem historischen Tasteninstrument inmitten der Gemäldegalerie. Sie erzählen, wie sie in der Auseinandersetzung mit den Sammlungen und Einrichtungen des Museums bestimmte Fähigkeiten erworben haben oder ihre Begeisterung mit anderen Besucher*innen teilen, mit denen sie dadurch in Kontakt kommen. Sozialer Austausch ist bei Oldenburg der Mehrwert Dritter Orte – in Cafés und Bars sind Essen und Trinken Anlass für den Besuch. Sie bilden außerdem häufig einen ersten Gesprächsanlass, genauso wie die Neuigkeiten aus der Zeitung im Kiosk oder die Gartentipps
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im Blumenladen. Sicher lässt sich dasselbe für das Museum konstatieren – und doch scheint hier auch eine Besonderheit der Institution auf. 2010 hat Nina Simon, Autorin von »The Participatory Museum«, auf ihrem Blog Museum 2.0 Oldenburgs Buch diskutiert und bat ihre Leser*innen um Kommentare, inwiefern seine Beschreibung des Dritten Orts sinnvoll auf Museen zu übertragen sei (vgl. Simon 2010). Einer der Kommentatoren, Aaron Goldblatt, beschrieb zunächst, er habe zwei Stammkneipen, wo er ohne Bestellung seinen Whiskey serviert bekomme und man sich gegenseitig nach dem Tag und dem Wohlergehen der Familien erkundige. Mit dem Museum verbinde ihn zwar eine ähnliche, aber doch anders geartete Verbindung: »When I was an art student, I used to go to the art museum often enough that I developed a deep personal relationship with maybe two dozen pieces of art. No one single person. Cezanne’s Large Bathers was an intimate friend.« (Aaron Goldblatt, zit. n. ebd.) Die Bekanntschaften und Freundschaften an diesem vertrauten Ort können sich im Falle eines Museums nicht nur auf die anderen Gäste oder die Gastgeber beziehen, sondern auch auf eine Nähe und Vertrautheit zu seinen Objekten. Genaugenommen liegt die Stärke der Institution und das Potenzial des Museums genau in dieser Dopplung und in der Verbindung, da das Museum über die Objekte Menschen in Kontakt mit der Kunst sowie mittelbar und unmittelbar in Kontakt miteinander bringen kann. Der soziale Aspekt und die Auseinandersetzung mit den Werken wurden und werden aber durchaus auch als Gegensätze aufgefasst: Walter Benjamin hat in einem Seitenhieb in seinem Aufsatz zum »Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit« vor einer übertriebenen Konzentration auf die Werke bis hin zu ihrer kultischen Verehrung gewarnt, die im Dadaismus zu einer Gegenreaktion geführt habe: »Der Versenkung, die in der Entartung des Bürgertums eine Schule asozialen Verhaltens wurde, tritt die Ablenkung als eine Spielart sozialen Verhaltens gegenüber.« (Benjamin 1977: 38) Dies lässt sich auch konkret auf das Museum beziehen, in dem soziale und kommunikative Optionen durch eine auratische Inszenierung eher unterbunden würden (van den Berg 2010: 157). In dieser Sichtweise wird der Kontakt zwischen den Besucher*innen durch das Objekt unterbunden und nicht vermittelt. Der Kontakt zum Kunstwerk und die Kommunikation der Besucher*innen untereinander sind hier in einem Gegensatz gedacht. In diesem Zusammenhang ließe sich vielleicht auch Thomas Bernhards 1988 erschienener Roman »Alte Meister« als Konstellation am Dritten Ort lesen, in dem er mit voyeuristischem Genuss das
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zweitägliche Miteinander zwischen dem »Weißbärtigen Mann« von Tintoretto, dem Stammgast Reger, dem Saaldiener Irrsiegler und dem Erzähler Atzbacher schildert. Bernhards Karikatur des Stammbesuchers, der am liebsten mit seinen Vertrauten im Museum allein wäre, seine Verachtung für die übrigen Besucher, insbesondere Gruppen, unterhalten auch deshalb so, weil sie einen wahren Kern umspielen. Bernhard erklärt auch, warum Reger normalerweise nicht am kostenlosen Samstag ins Museum geht: »Lieber zahle ich die zwanzig Schilling für eine Eintrittskarte, so Reger einmal, und ich muß diese grauenhaften Besuchergruppen nicht über mich ergehen lassen.« (Bernhard 2013: 136)
Barrieren und Bedürfnisse Die Kosten für den Besuch stellen eine Barriere dar – über die Reger froh war und die wir heute beklagen. Höchstens sollte der Eintritt so viel kosten wie ein Kaffee – um im Café-Bild Oldenburgs zu bleiben. Für den offenen Zugang stellt freier oder niedriger Eintritt denn auch eine notwendige, aber keine hinreichende Voraussetzung dar. Nur weil es freien Eintritt gibt, erhöht sich die Diversität der Besucher*innen und die Häufigkeit der Besuche in der Regel noch nicht (vgl. Wegner 2019). Eintrittsfreie Wochenenden oder besondere Tage und Feste, an denen der Eintritt frei ist, helfen nur bedingt. Dem Prinzip des Dritten Orts folgend, geht es ja gerade darum, dass Besucher*innen sich aussuchen und frei wählen, wann sie das Angebot wahrnehmen wollen. Anders als etwa in Theatern oder Konzerthäusern, deren Besuch an bestimmte Veranstaltungen gebunden ist, können Besucher*innen Aufenthaltszeitpunkt und -dauer im Rahmen der Öffnungszeiten frei bestimmen. Gerade im Kontext der Ursprungsdefinition Oldenburgs als Ort neben der privaten Sphäre und jener der Arbeit sind dabei natürlich Öffnungszeiten auch jenseits der klassischen Arbeitszeiten, insbesondere am Abend und an Wochenenden, von großer Bedeutung. Was ist also zu tun, damit Museen tatsächlich Institutionen für alle sein können, damit sich die unterschiedlichsten Besuchertypen – etwa Familien, Kinder, Jugendliche, Gruppen, Einzelbesucher – wohlfühlen? Dafür bedarf es auf allen Ebenen einer Konzeption und Gestaltung der Besucherorientierung. Das beginnt – man traut sich diese banalen Dinge kaum mehr aufzuzählen – beim Eingang, der einladend und ohne Barrieren zugänglich sein sollte, setzt sich fort mit dem
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Empfang, der Begrüßung, der Gestaltung der Wegeführung im Haus, der Garderoben und WCs. Dazu kommen weitere basale Dinge wie ausreichend Sitzgelegenheiten in den Ausstellungsräumen, weitere Räumlichkeiten, um sich aufzuhalten und sich zu treffen, Pause zu machen, ein qualitativ gutes und erschwingliches Angebot an Essen und Trinken, die Möglichkeit sich zu informieren, zu fotografieren oder der Zugang zum Internet. Sprich: Die unterschiedlichen Räume sollten je so gestaltet sein, dass sich verschiedene Besuchergruppen dort gern auf halten und sich wohlfühlen. Unweigerlich geraten Institutionen bereits hier in Zielkonf likte, inwieweit sie ihre Energien und personellen, zeitlichen und finanziellen Ressourcen in diese Aspekte investieren. Wichtiger als die Regelungen im Einzelnen erscheint dabei die Haltung einer Einrichtung, die sich in allen diesen Details ausdrückt. Unabhängig von den eingesetzten finanziellen Mitteln vermittelt sich hier, ob einem Museum seine Besucher*innen mit ihren unterschiedlichen Bedürfnissen wichtig sind. Gibt es ein wirkliches Interesse an den Wünschen der Menschen – nicht nur derjenigen, die bereits Besucher*innen sind, liegt es nahe, Möglichkeiten der Beteiligung an Gestaltungsprozessen zu erproben. Hier können Museen viel lernen von Bibliotheken, die solche Gestaltungsprozesse vielfach angeschoben und realisiert haben und von städtischen Beteiligungsprojekten, die im Vorfeld großer Planungen durchgeführt werden. Außerdem praktizieren auch Medien längst eine solche Beteiligung, indem sie ihre Leser*innen, andere Expert*innen oder Stakeholder zur Blattkritik einladen. Spätestens hier ist auch klar, dass es nicht nur um die Frage geht, ob Besucher*innen lieber auf Stühlen oder Hockern sitzen wollen und das Café belegte Brötchen oder gehobene Küche anbieten soll. Vielmehr lässt sich auch in Austausch kommen darüber, welche Fragestellungen, Themen oder Formate wie ankommen oder interessant sein könnten. All das sind basale Voraussetzungen, damit Museen für möglichst breite Teile der Bevölkerung als Dritte Orte attraktiv sind, damit sie zu Treffpunkten werden, an denen Begegnungen passieren. Damit reihen sie sich ein in die Aufzählung von Cafés, Bars, Friseursalons oder Geschäften, die Oldenburg beschreibt. Doch ist das nur ein Teil von dem, was in der aktuellen Diskussion mit dem Schlagwort vom Museum als Drittem Ort gemeint ist. Bisher ist erörtert worden, welche Voraussetzungen das Museum schaffen kann, um als Dritter Ort wahrgenommen und genutzt zu werden. Im Folgenden soll es darum gehen, zu zeigen, welche Impulse das Museum
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darüber hinaus setzen kann in Bezug auf eine Fragestellung, als deren Antwort Oldenburg das Konzept vom Dritten Ort entwickelt hat.1
Individualisierung und Inklusivität Deshalb noch einmal zurück: Um Oldenburgs Konzept vom Dritten Ort besser zu verstehen, lohnt sich ein Blick auf die gesellschaftliche Situation in den USA, in der das Buch entstanden ist: Seine Analyse ist gleichsam eine Folge der Entwicklung der amerikanischen Vorstädte und der Praxis der verstärkten räumlichen Trennung von Wohn- und Arbeitsorten. Während es früher üblich war, auf dem Hin- oder Heimweg von der Arbeit kurz einzukehren, hatten sich durch das Pendeln für weite Teile der Bevölkerung die Arbeitswege verlängert und gleichzeitig individualisiert. Das private Wohnen wurde wichtiger, Fußwege waren in den Suburbs praktisch nicht vorgesehen, ungeplante Begegnungen fanden kaum mehr statt, Freizeit wurde organisiert. Zwischen dem Rückzug ins Private und der Arbeit blieb nach der Analyse Oldenburgs die Zivilgesellschaft auf der Strecke, die Individualisierung nahm zu. Oldenburg: »The problem of place in America manifests itself in a sorely deficient informal public life. The structure of shared experience beyond that offered by family, job, and passive consumerism is small and dwindling. The essential group experience is being replaced by the exaggerated self-consciousness of individuals.« (Oldenburg 1999: 13) Oldenburg beklagt in seinem Buch diese Entwicklung und schlussfolgert, ohne Dritte Orte entstehe eine hoch individualisierte Gesellschaft, in der die gesellschaftliche Verständigung, auch die Tuchfühlung zueinander verlorengehe, da es kaum noch Möglichkeiten gebe, anderen gesellschaftlichen Gruppen zu begegnen und andersartige Gedanken, Vorstellungen, Ideen kennenzulernen. Oldenburg konstatierte für die amerikanische Gesellschaft zunehmend »individuals ignorant of the interests, ideas, habits, problems, likes and dislikes of those not in their own group« (Seldon Bacon,
1 Dank für Anregungen insbesondere zu diesen Aspekten an Felicitas von Mallinckrodt. Siehe auch den gemeinsamen Vortrag Das Museum als Dritter Ort – Prozess einer Annäherung im Rahmen der Tagung Smart Cities – Smart Museums? Stadtmuseen im kulturellen Wandel des Potsdam Museum – Forum für Kunst und Gesellschaft in Kooperation mit der Kulturstiftung des Bundes im September 2019.
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zit. n. ebd.: 48). Das Verständnis füreinander schwinde, der gesellschaftliche Zusammenhalt bröckele. Oldenburg folgend könnte also eine Stärkung Dritter Orte einen Ausweg aus den beschriebenen Problemen der Individualisierung bringen: »Whereas formal organizations typically bring together the likeminded and similarly-interested, third places are highly inclusive by comparison.« (Ebd.: xxiv) Die heutige Tendenz, die Trennung von Wohnen, Freizeit und Arbeit im postindustriellen Konzept von Stadt wieder aufzuheben, rührt nicht zuletzt aus diesen Erkenntnissen, dass lebendige Stadtgesellschaft in einem gemischten Umfeld besser gelingen kann. Ein ähnlicher Befund liegt der heutigen Klage über die Zersplitterung der Gesellschaft, die Bildung von Echokammern und Filterblasen im digitalen öffentlichen Raum zugrunde, die sich durch die sozialen Medien weiter verstärke. Angesichts einer zunehmend diverser werdenden Gesellschaft, die als heterogen bis hin zur Fragmentierung erlebt wird, mehrt sich im öffentlichen Diskurs der Ruf nach Möglichkeiten der gemeinsamen Verständigung und der Begegnung. Sie scheinen besonders notwendig angesichts des Eindrucks, dass ein gemeinsames Gespräch kaum mehr selbstverständlich ist, und sich Positionen unversöhnlich gegenüberstehen (vgl. u.a. Reckwitz 2017). Es ist vor allem diese Parallelität der Situation in den USA der 1980er Jahre und unserer Lage heute, die das Konzept des Dritten Ortes aktuell so attraktiv macht. Seit etwa 2000 wird es für den englischsprachigen Bibliotheksbereich diskutiert, zehn Jahre später folgte die deutschsprachige Debatte, die sich seit einiger Zeit auch auf die Museen ausdehnt (vgl. Haas/ Mummenthaler/Schuldt 2015 sowie Tate 2012). Doch warum erscheinen ausgerechnet Kulturinstitutionen hier so interessant?
Privatisierung, Kommerzialisierung und Museen als geschützte Räume Jens Kobler konstatiert in seinem Beitrag »Vielfältige Begegnungen am Dritten Ort« für die Zukunftsakademie NRW: »Jenseits der Orte Zuhause und Arbeitsplatz sollte es für eine demokratische Öffentlichkeit eine weitere, dritte Klasse von Orten geben, an denen sich möglichst viele Teile der Gesellschaft ungezwungen und ohne Vorgaben austauschen können.« (Kobler 2019) Diesen Charakter eines Forums, dessen Kennzeichen Offenheit und Ungezwungenheit sind, wird in der öffentlichen Wahrnehmung aufgrund ihrer
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kommerziellen und konsumorientierten Ausrichtung kaum mehr den Cafés, Kneipen oder Geschäften zugesprochen, die Oldenburg als Beispiele anführt. Zu übermächtig erscheinen wirtschaftliche Interessen gerade von Ketten und Franchise-Unternehmen in diesen Bereichen. Hinzu kommt, dass einstmals öffentliche Orte sowohl in den USA als auch in Europa in den vergangenen Jahrzehnten zunehmend privatisiert wurden, etwa indem die Wege zwischen den Einzelhandelsgeschäften in Einkaufszentren oder Bahnhöfen privaten Hausordnungen unterliegen. Private Wachdienste sorgen hier für deren Durchsetzung. Darüber hinaus funktionierten öffentliche Freiräume wie Parks und Plätze heute nicht unbedingt automatisch als Foren der Begegnung, es sei denn, man ist Hundebesitzer*in. Es gebe, schreibt Kobler, »also eine Marktlücke für Öffentlichkeit und Kultur (jenseits des Digitalen), in die nicht zuletzt Bildungs- und Kulturinstitutionen vordringen können« (ebd.). Öffentlichkeit erscheint nicht als selbstverständlicher Grundzustand, sondern muss aktiv ermöglicht werden. Ungezwungener und freier Austausch ist nicht die Regel, sondern eine Aufgabe. Dies erscheint umso mehr als Desiderat, weil die Möglichkeiten des Digitalen und der sozialen Medien es erlauben, unterschiedliche Meinungen, Milieus und Grundhaltungen wahrzunehmen und zu beobachten. So fällt besonders auf, dass zwischen ihnen im physischen wie elektronischen Raum kaum ernsthaft Austausch stattfindet. Dadurch, dass Oldenburgs »informal gathering places« nicht (mehr) einfach so funktionieren, entsteht ein Paradoxon, das zentral ist für das Verständnis und die Funktion von Museen und anderen kulturellen Einrichtungen als Dritte Orte. Wie bereits vielfach diskutiert, sind Museen mit Ihren Eintrittsbarrieren, Besucherordnungen und Verhaltensregeln – von nicht essen über nichts anfassen bis zu nicht rennen – nicht unbedingt exemplarische Orte der informellen Zusammenkunft. Die Reglements scheinen Freiheit und Ungezwungenheit entgegenzustehen. Und dennoch könnte gerade in dieser vermeintlichen Schwäche, der eigenen Prägung mit eigenen Gesetzmäßigkeiten und Funktionsweisen bei umsichtiger Steuerung die größte Stärke der Museen liegen. Vom öffentlichen Stadtraum etwa unterscheiden sie sich als halböffentliche Institutionen dadurch, dass sie personelle und infrastrukturelle Voraussetzungen vorhalten, um für Öffentlichkeit verlässliche Rahmenbedingungen zu geben. Diese gilt es so sensibel zu gestalten, dass die Verhaltensregeln nicht primär als einschränkend empfunden werden, sondern im Gegenteil positiv als verlässlichen Rahmen einen Safe Space bilden. Voraussetzung dafür ist, dass das Personal, das
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diese Sicherheit herstellen soll, sich auch so verhält, dass eine positive Atmosphäre entsteht, die Regeln erklärt statt durch Zurechtweisungen maßregelt. Das ist leicht geschrieben – doch in der Praxis ein komplexer, andauernder Prozess. Es gilt hierzu, überlegt eine Haltung zu entwickeln, die Interessen abzuwägen, und diese dann auch mit Fingerspitzengefühl umzusetzen. Die Definition und Ausgestaltung der Rolle der Aufsichten ist hier ein zentraler Aspekt, der wesentlich beeinf lusst, ob die Regeln als positiv oder negativ erlebt werden. Dabei können unterschiedliche Interessen einander nahezu ausschließen. Möglicherweise müssen für verschiedene Nutzungen und Bedürfnisse deshalb verschiedene Räume oder Zeiten zur Verfügung stehen.
Sonderprojekte und Experimentierfelder 2018 richtete das NRW Forum im Rahmen des Forschungs- und Ausstellungsprojekts »Museum Global« einen Open Space ein. Die sonst für Ausstellungen genutzte Grabbehalle gestaltete das Architekturbüro raumlaborberlin als »einen kostenfrei zugänglichen Treffpunkt und Verhandlungsort«, der als Schnittstelle zwischen dem Museum und der Öffentlichkeit fungieren sollte (vgl. Open Space 2019). Dieser stand durch einen Zugang vom zentralen Grabbeplatz gleichzeitig für eine Öffnung zur »Stadt und Stadtgesellschaft«. Weiter heißt es: »Vier Monate lädt das Museum mit einer f lexiblen Bühne, einem Café, einer Siebdruckwerkstatt sowie einer Infostation rund um das Forschungs- und Ausstellungprojekt »Museum Global« zu öffentlicher Diskussion und informeller Begegnung ein«. Als gesonderter Bereich ergänzte das Angebot die Ausstellungsräume für eine begrenzte Zeit. Nach erfolgreicher Testphase soll der Open Space künftig alternierend mit Sonderausstellungen einmal jährlich eingerichtet werden. Ähnliche Projekte und Experimente finden momentan an vielen Kunstmuseen statt, getragen und durchgeführt meist durch die Abteilungen für Bildung und Vermittlung. Sie gestalten dabei für eine bestimmte Zeit und einen bestimmten Bereich, der den Museumslogiken weitgehend enthoben wird, während diese im übrigen Haus kaum verändert werden. Der Düsseldorfer Open Space diente für Veranstaltungen und Vermittlungsangebote im Zusammenhang mit der Ausstellung. Zudem wurde er für Verabredungen, zum Zeitunglesen, zum Siebdrucken oder zum Hausaufgabenmachen genutzt. Ein Zugang zur Kunst war damit nicht immer verbunden. Diese
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Abkopplung vereinfacht in vielen Fällen die Realisierung, da die Experimentierfelder klar abgegrenzt werden können und die musealen Regeln in den anderen Teilen weiter gelten. In diesem Modell gibt es verschiedene Zonen für verschiedene Bedürfnisse. Auch in Chemnitz lud von Mai bis November 2019 ein von den Kunstsammlungen initiierter Open Space zu Diskussion und Austausch ein – unter dem programmatischen Titel »Eine Stadt. Ein Raum. Viele Stimmen«. In angemieteten Räumlichkeiten direkt hinter dem Karl-Marx-Denkmal fanden Veranstaltungen verschiedener Akteur*innen der Stadtgesellschaft statt, bewusst offen für weitere Vorschläge und Beiträge. Gleichzeitig waren in den kostenlos zugänglichen Räumlichkeiten verschiedene Ausstellungen und Installationen zeitgenössischer Künstler*innen zu sehen und zu erleben (vgl. Chemnitz Open 2019). Hier fand eine stärkere programmatische Verschränkung von Open Space und Kunstraum statt.
Kunsterlebnis als Kern Dritte Räume sind im Museumskontext häufig Auskopplungen – sowohl räumlicher Natur als auch durch ihren Projektcharakter. Das Sonderformat geht so weit, dass sich manchmal die Frage stellt, ob das Museum als solches in seiner Spezifik für diese Konzeption als Dritter Ort überhaupt bedeutsam ist. Oder übernimmt es in der heutigen gesellschaftlichen Situation die Rolle eines Initiators und Moderators lediglich, weil sich dieser Rolle sonst gerade niemand in der Zivilgesellschaft annimmt? Denn nicht immer wird klar formuliert oder in den Programmen eindeutig kommuniziert, warum gerade das Museum sich in dieser Hinsicht als kompetent erachtet. Anders gefragt: Ist etwas damit gewonnen, wenn der Mehrzweckraum an das Museum angeschlossen ist, statt von der Gemeinde betrieben zu werden – außer dass das Museum, dem die klassischen Museumsgänger*innen schwinden, gesellschaftliche Relevanz reklamieren kann, und nicht geschlossen wird? Hortensia Völckers empfahl im Grußwort zu einem Ideenkongress zu Kultur, Alltag und Politik auf dem Land in Nordrhein-Westfalen: »Kultureinrichtungen, die sehr spezialisiert sind, beispielsweise nur auf Musik oder Ausstellungen, werden es schwer haben, ausreichend Publikum zu finden. Dafür gibt es an vielen Orten durch Ab- und Zuwanderung einfach
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nicht mehr genug Nachfrage der Menschen vor Ort. Wir brauchen also ein breiteres Angebot in den Häusern selbst, und sie sollten sich mehr mit Nachbareinrichtungen abstimmen. Man spricht heute von sogenannten Dritten Orten, wo sich die Bevölkerung mit immer unterschiedlicher werdenden Interessen und Voraussetzungen begegnen kann. Da geht es nicht in erster Linie um Kunsterlebnisse, sondern um eine Kultur des gesellschaftlichen Miteinanders zur kreativen Gestaltung eines guten Lebensumfeldes.« (Völckers 2018) Überspitzt gesagt, werden in dieser Aussage erstaunlicherweise Kunsterlebnis und eine Kultur des gesellschaftlichen Miteinanders und der Lebensgestaltung in einen Gegensatz gebracht. Erstaunlicherweise deshalb, da ein Museum oder ein Konzerthaus meiner Auffassung nach seine Existenzberechtigung aufgäbe, wenn es nicht überzeugt wäre, dass gerade das Kunsterlebnis zu einer Kultur des gesellschaftlichen Miteinanders und zu einer kreativen Gestaltung eines guten Lebensumfeldes beitrüge oder bereits ein Teil davon sei. Der Künstler Kader Attia äußert sich in einer Diskussion zum Thema »Kulturinstitutionen als Dritte Orte« ähnlich über seine Beweggründe, angesichts der politischen Situation in Paris, den Treffpunkt und Veranstaltungsort La Colonie zu gründen: »For many years I wanted to create a space where we could basically not meet for exhibition or art, I’m sorry, but much more to open dialogue.« (Attia, zit.n. Museum Global 2019) Auch hier erstaunt die Opposition, die aufgemacht wird, und das geringe Vertrauen in die eigene Profession. Museen können gerade dann Dialog und gesellschaftliches Miteinander stärken, wenn sie das in den Vordergrund rücken, was sie ausmacht, und was keine andere Institution bietet: die Auseinandersetzung mit Objekten, Kunst und Geschichte. Welches Potenzial Kunst für Dialog und Debatte entfalten kann, zeigte sich im öffentlichen Raum etwa am Beispiel des mit Blattgold verkleideten Backsteinwohnblocks auf der Veddel, ein höchst umstrittenes Projekt, mit dem es dem Künstler Boran Burchard nicht nur gelang, eine öffentliche Diskussion über den Status eines Stadtteils und die Freiheit und Funktion von Kunst, sondern auch Gespräche zwischen Anwohner*innen und Kunsttourist*innen zu initiieren (vgl. Twickel 2017). »Wenn wir darüber sprechen, dass wir mehr Offenheit haben wollen, wenn wir ein Museum sehen als etwas, wo Gesprächsanlässe geboten werden,
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dann findet ja Demokratie im besten Sinne statt, nämlich über etwas zu diskutieren, über etwas in der Sache zu streiten – und wo kann man besser streiten als über die Interpretation eines Kunstwerks. Da übt man ja demokratische Tugenden. Insoweit ist, glaube ich, eine Öffnung der Museen natürlich etwas, was zur Förderung der Demokratie unmittelbar beiträgt – ohne, dass man die Kunst vereinnahmt. […] Kunst muss frei sein. Es darf keine politische Beeinflussungen geben«, so Klaus Kaiser, Parlamentarischer Staatssekretär im Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes NRW, in einer Diskussionsrunde zum Dritten Ort, den die Kunstsammlung Nordrhein Westfahlen im Rahmen des Open Space veranstaltete (Kaiser zit.n. Museum Global 2019). Die große Stärke des Museums ist dabei die Zentrierung und Gründung der Auseinandersetzung um Objekte. Diese können als Ausgangspunkt und gemeinsamer Verständigungspunkt dienen, um unterschiedliche Perspektiven zu artikulieren und nachvollziehbar zu machen. Andere Sichtweisen zuzulassen, fällt erfahrungsgemäß leichter, wenn es einen gemeinsamen Ankerpunkt gibt, an dem sie sich erläutern und beschreiben lassen. Dies ist im Angesicht der Werke im Museum möglich. »Unrelated people relate«, stellt Ray Oldenburg in seiner Betrachtung als Charakteristikum von Dritten Orten fest (Oldenburg 1999: ix). Im Museum wirkt das Objekt als Katalysator dieser Beziehung unter Unverbundenen. »Diesseits der Hermeneutik« (Gumbrecht 1994), ungeachtet der verschiedenen Deutungsmöglichkeiten, bietet es in seiner physischen Präsenz und Qualität die Möglichkeit eines common ground (Oldenburg, ebd.), auch im Sinne eines neutralen Bodens. Ein Beispiel für eine solche Nutzung des Museums ist die Veranstaltungsreihe »Interreligiöser Dialog« an der Hamburger Kunsthalle. Moderiert durch Marion Koch treffen sich hier Vertreter*innen von Judentum, Christentum und Islam, um von einem Werk ausgehend darüber zu diskutieren, was für sie beispielsweise Liebe bedeutet. Ohne das Kunstwerk als Bezugspunkt wäre die Diskussion nicht nur weniger anschaulich, sondern auch schwieriger, da sie sich abstrakter und ohne konkreten Anhaltspunkt gestalten würde. Inzwischen ist das Format »Kunst im interreligiösen Dialog« auch als Veranstaltung für Schulklassen weiterentwickelt worden (vgl. Kunst im interreligiösen Dialog 2019). Spätestens hier ist das Museum nicht nur ein Dritter Ort im Sinne Ray Oldenburgs, sondern auch ein Dritter Raum im Sinne Homi K. Bhabhas, der den Begriff in seinem Buch »Die Verortung der Kultur« prägte (vgl. Bhabha
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2000). In diesem Raum ist es nicht nur möglich, unterschiedliche Positionen nachzuvollziehen oder zusammenzubringen – nach Bhabha kann im Dritten Raum eine andere Position entstehen, die bestehende Kategorien sprengt: »Menschen kommen mit unterschiedlichen Einstellungen zusammen und streiten miteinander um Bedeutungen. Dabei entstehen neue Freiräume.« (Bhabha/Wieselberg 2007) Teilhabe an den Sichtweisen anderer kann dabei ebenso in Schulveranstaltungen ermöglicht werden wie in öffentlichen Führungen oder größer angelegten partizipativen Projekten. Sie können auf diese Weise einen Austausch zwischen den Teilnehmer*innen ermöglichen. Birgit Mandel formuliert: »Indem sich Kultureinrichtungen auch als »dritte Orte« im Sinne eines transkulturellen Raums begreifen […], können dort kulturelle Symbole und unterschiedliche kulturelle Identitäten in Austauschprozessen zwischen Menschen verschiedener sozialer und ethnischer Herkunft verhandelt werden.« (Mandel 2018) Die Objekte könnten in dieser Konstellation den Ausgangspunkt bilden. Für eine kleine Gruppe an typischen bürgerlichen Museumsgänger*innen bedeutet dieser womöglich vor allem die Gewissheit um die exklusive, gemeinsame Kenntnis des kunsthistorischen Wissens – doch gerade das steht hier nicht im Vordergrund. Schon Alfred Lichtwark, dem ersten Direktor der Hamburger Kunsthalle, war das reine Wissen verdächtig: »Die Hauptsache bleibt, dass das Kunstwerk nicht als Illustration zu einem kunstgeschichtlichen Vortrag oberf lächlich angesehen wird, sondern Ausgang und Endziel einer eingehenden Betrachtung bleibt, bei der das kunst- und kulturgeschichtliche Element als möglichst einzuschränkende Zuthat ganz zurücktritt.« (Lichtwark 1898: 31f.) Sonst ließe sich ja auch ein Buch lesen, statt Werke und Objekte im Raum zu betrachten. Wissen, so wird hier deutlich, ist nicht aufgefasst als etwas Feststehendes, sondern als etwas Prozessuales, das sich immer wieder neu entwickelt und in der Betrachtung des Werkes formiert.
Für verschiedene Perspektiven und gegen Beliebigkeit Die in einer Museumssammlung steckenden Möglichkeiten der Deutung, der vergangenen und künftigen Fragestellungen gehen deshalb nie aus (vgl. im Folgenden Hoins/von Mallinckrodt 2018). Gerade das macht den Wert und die gesellschaftliche Bedeutung des Museums aus; »ein schon gegebe-
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nes und doch […] noch nicht antizipierbares Potenzial. Dies bewahren die Dinge als Latenz: als Möglichkeit einer späteren Befassung mit anderen Erkenntnisinteressen, anderem Aufmerksamkeitsfokus, anderen Methoden, in anderen Theorierahmen« (Strohschneider 2012: 18). Darin besteht nach Strohschneider der »Eigensinn der Sammlung«. Dieser Eigensinn macht die Offenheit und die integrative Kraft des Museums aus. Unter dem Schlagwort der Multiperspektivität rücken in Ausstellungen heute neben den Objekten die unterschiedlichen Blickwinkel immer häufiger selbst in den Fokus, so dass Objekte nicht mehr nur in einer bestimmten Interpretation, sondern verschiedene Möglichkeiten ihrer Betrachtung gezeigt werden. Statt selbst Deutungen vorzugeben, könnten Museen Deutungsprozesse künftig verstärkt moderieren und organisieren. Durch den Abschied von den verbindlichen Wissensordnungen sind Museen nicht länger reine Orte der Wissensvermittlung. Vielmehr werden sie zu Diskursorten, an denen anhand der Objekte über die Weiterentwicklung von Systematiken und Methoden debattiert wird, die Kunst und Welt erschließen. Dies ist auch deshalb besonders eindrücklich, weil das Museum mit seiner Sammlung immer wieder die gleichen Kunstwerke inszeniert, und doch in den jeweiligen Ausstellungen immer wieder andere Geschichten erzählt. Durch die Art und Weise der Präsentation, die Kombination mit anderen Werken, die Platzierung im Raum, die Informationen, die über verschiedene Medien gegeben werden, rücken immer wieder andere Facetten in den Vordergrund. Wissensbestände erweitern sich dabei meist nicht vorrangig, weil neue Informationen zugänglich werden. Vielmehr werden diese erst entdeckt, weil Wissenschaftler*innen oder Besucher*innen so fragen, dass sie in den Blick geraten. Dabei gibt es immer auch Moden. Die heute erzählte Geschichte ref lektiert die jeweilige Gegenwart. Interpretationen sind also zwar veränderbar, aber nicht willkürlich. Insbesondere in einer gesellschaftlichen Situation, in der durch den Begriff Fake-News selbst Tatsachen angreif bar erscheinen und Behauptungen vorgeblich Realitäten schaffen, erscheint die Erfahrung bedeutungsvoll, dass ein Werk zwar unterschiedliche Sichtweisen, deshalb aber dennoch nicht jede Interpretation zulässt. Umberto Eco formulierte dies in seinem Konzept zum »offenen Kunstwerk« folgendermaßen: »So sind Vorstellungen von der Welt dergestalt perspektivisch und in der biologischen, ethnischen, psychologischen und kulturellen Herkunft des Be-
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trachters verwurzelt, dass die Annahme einer Endgültigkeit der Antworten – mögen Sie im Einzelnen auch noch so gut erscheinen – zurückgewiesen werden muss. Eine solche Vielfalt an Interpretationen zuzulassen ist keineswegs Ausdruck schierer Beliebigkeit.« Und weiter: »Auch wenn man partout nicht sagen kann, wann eine Interpretation richtig ist, so lässt sich doch sagen, wann sie falsch ist. Denn es gibt Interpretationen, die das Objekt der Interpretation einfach nicht zulässt.« (Eco 2014: 45) Diese Grenzen im geschützten Raum des Museums zu diskutieren, bietet die Möglichkeit, sich der eigenen Position bewusst zu werden und sie mit anderen zu verhandeln. Noch einmal zurück zu Oldenburg: Zu seinem Konzept des Dritten Orts gehört es auch, dass ihn in der Regel Einzelpersonen besuchen und erst dort zur Gesellschaft aus Individuen hinzustoßen. Vor Ort entsteht Gemeinschaft. Gesellschaftliche Debatte, gesellschaftliche Teilhabe funktioniert auch im Museum nicht nur in der Gruppe. Natürlich kann ein Gespräch entstehen – es ist aber für eine gesellschaftliche Teilhabe und Verständigung nicht zwingend notwendig. Vielmehr stellen sie sich indirekt in der Ausstellung auch für Einzelbesucher*innen ein. Diese haben Teil an gesellschaftlichen Debatten und erhalten Zugang zu verschiedenen Perspektiven – und vielleicht führen sie das Thema in den sozialen Medien weiter oder kommen im Museumscafé mit ihren Sitznachbar*innen dazu ins Gespräch. Digitale Zugänge zu den Sammlungen ermöglichen die Debatte auch außerhalb des physischen Orts Museum. Gerade angesichts dieser seit geraumer Zeit voranschreitenden Expansion von Museen in den digitalen Raum verstärkt sich noch einmal die Diskussion um die besonderen Qualitäten der Museumserfahrung. Da diese im Digitalen nicht selbstverständlich durch Parameter wie Architektur, Originale, Klima oder Museumspersonal definiert sind, sondern in einem anderen Medium hergestellt bzw. in dieses übersetzt oder übertragen werden müssen, geraten sie umso mehr als Aufgabe in den Blick: Wie lassen sich digitale Erfahrungsräume so gestalten, dass sie im oben beschriebenen Sinne als Dritte Orte fungieren können? Welche Mechanismen und Regeln ermöglichen Freiheit für den gemeinsamen Austausch? Und wie können Museen ihre Stärke ausspielen, entgegen der
Das Museum als Dritter Ort. Schlagwort oder Leitbegriff?
Filterblasen-Logik und in Auseinandersetzung mit ihren Objekten unterschiedliche Menschen ins Gespräch zu bringen? Angesichts dieser Fragen sei abschließend noch einmal auf eine Grundvoraussetzung für die Entwicklung des Museums als Dritten Ort hingewiesen: Da die besondere Stärke die Qualität der Begegnung mit Kunst, mit Themen, zwischen Besucher*innen ist, muss diese als Maßstab und Kategorie im Museumsmanagement auch ernst genommen werden. Statt den Erfolg von Museen anhand von Besucherzahlen fast ausschließlich quantitativ zu bemessen, sollten als weitere Faktoren qualitative Kriterien für die Besuchserfahrung und Möglichkeiten ihrer Beschreibung und Erhebung entwickelt werden. Nur so ließe sich das Gelingen der gesellschaftlichen Aufgabe der Museen steuern, bemessen und würdigen. Erst dann könnte sich das Museum als Dritter Ort vom diffusen kulturpolitischen Schlagwort weg hin zum innovationstreibenden Leitbegriff entwickeln.
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Einleitung Ob Museen über, für oder mit der Gesellschaft arbeiten, ist eine Frage, die seit den 1970er Jahren verhandelt wird. Diese Veränderung im Museumsbereich führt weg von der bis dahin vorherrschenden, auf Deutungshoheit über ihre Inhalte geprägten Selbstwahrnehmung der Institution Museum. Mit der New Museology und Ecomuseen (vgl. Piontek 2017: 95-100; vgl. Gorgus 2012) entwickelten sich seitdem starke Bewegungen für die Selbstref lexion, Community-Orientierung und Demokratisierung aus der Museumswelt heraus (vgl. Crooke 2015). Diese sind in den vergangenen Jahren verstärkt in einen sozialen und technologischen Kontext eingebettet, den Felix Stalder als Kultur der Digitalität beschreibt (vgl. Stalder 2017). Dieser gesellschaftliche Wandel ruft aufgrund der Möglichkeiten der Digitalisierung eine verstärkte Erwartungshaltung bezüglich Beteiligungsmöglichkeiten und Transparenz des Handelns öffentlicher Institutionen hervor. Trotz dieser Entwicklungen und der zugehörigen museologischen Diskussion stellen dialogische und partizipative Museumspraktiken immer noch eine Herausforderung für viele Museen dar. Ein Grund dafür mag sein, dass die wissenschaftliche Perspektive von Museen und deren Arbeitsweise mitunter weit entfernt von der Lebensrealität vieler Menschen sind – trotz der Bedeutung von Geschichte gerade in Zeiten des gesellschaftlichen Wandels (vgl. Imhof 2012: 66). Entsprechend zeigen die Statistiken zu Kulturbesucher*innen (vgl. Piontek 2017: 18) oder zu neuen Eintrittsmodellen (vgl. Stanehl 2017), dass unverändert nur ca. fünf bis zehn Prozent der deutschen Bevölkerung die Museen regelmäßig
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besuchen, und dass die Haupthürde deren unnahbares Image als öffentliche Institution ist, zu der man nur als Wissenschaftler*in oder als am Thema interessierte*r Besucher*in Zugang hat (vgl. Renz 2015; vgl. Cross 2017). Diese Diagnose ist nicht neu, doch nach inzwischen jahrzehntelangen Diskussionen ohne umfassende Auswirkungen in die Praxis geraten die Museen zunehmend in Bedrängnis, etwas zu ändern. In diesem Beitrag argumentieren wir deshalb, dass nicht nur die Formen der Vermittlung und Kommunikation von Wissen aktualisiert, sondern bereits der Prozess der Wissensproduktion partizipativ gedacht werden muss, um neben Expert*innenwissen auch die Perspektiven der Besucher*innen in die Museumsarbeit zu integrieren und damit konkrete Anknüpfungspunkte zwischen den musealen Themen und Inhalten einerseits und dem Leben der Besucher*innen andererseits herzustellen. Grundvoraussetzung dafür ist, Partizipation nicht nur als Trend, als Eingeständnis an die Besucher*innen oder als Mittel zu verstehen, neues Wissen kostengünstig zu sammeln. Vielmehr muss partizipative Wissensgenerierung eine grundsätzliche Haltung des Museums und all seiner Mitarbeiter*innen sein, die die Ideen und das Wissen der Besucher*innen als ebenso wichtig und wertvoll anerkennt wie die eigene professionelle Perspektive. Partizipative Wissensgenerierung ist nach diesem Verständnis ein Weg, die eigenen wissenschaftlichen Erkenntnisse durch externes Wissen zu erweitern, nicht sie zu entwerten. Byrd Philipps nutzt hierfür den Begriff Open Authority. Er meinte eine transparent bzw. zugänglich arbeitende öffentliche Institution und verbindet den Open-Ansatz der Gesellschaft (Open Source, Open Access usw.) mit dem Museum als öffentlicher Institution, um verschiedene Perspektiven zu einem Thema zur Diskussion zu stellen und in einer Zeit der Desinformation bzw. der Informationsf lut glaubwürdiger zu werden. Angela Jannelli hat in ihrer Forschung zu sogenannten Wilden Museen passend dazu aufgezeigt (vgl. Jannelli 2012), dass diese ehrenamtlich und von Laien betriebenen, meist kleinen Lokalmuseen keine Vorstufe oder weniger wissenschaftlich sind als hauptamtlich betriebene Häuser. Nur mit einer solch ganzheitlichen Perspektive können partizipative Ansätze langfristige Änderungen der Institution Museen hin zu mehr Offenheit und Teilhabe bewirken. Entsprechende Ansätze gibt es im angloamerikanischen Raum seit Längerem und auch in Deutschland fassen sie zunehmend Fuß. Die deutschsprachige Literatur zu Partizipation und Citizen Science im Museum nennt inzwischen zahlreiche Projekte und Häuser. Neben den in diesem Beitrag zu Wort
Partizipationsorientierte Wissensgenerierung und Citizen Science im Museum
kommenden Häusern sind das beispielsweise das Stadtpalais – Museum für Stuttgart, das Jüdische Museum München oder das Focke-Museum Bremen (für weitere Beispiele vgl. v.a. Piontek 2017; Gesser et al. 2012). Die Gründe dafür, dass sich partizipative Wissensgenerierung hierzulande aber bedeutend langsamer und bisher vor allem auf Projektebene etabliert, sind vielfältig (vgl. Piontek 2017: 21-25) und stimmen mit den Barrieren für andere Ansätze zur Verbesserung der Innovationsfähigkeit von Museen in Deutschland im Allgemeinen überein. Der wichtigste ist wohl, dass deutsche Museen zum größten Teil öffentlich getragene Einrichtungen (vgl. Statista 2019) und damit den unf lexiblen Strukturen des öffentlichen Dienstes unterworfen sind. Zudem herrscht nicht selten eine konservative Aufgabenwahrnehmung, die mit einem Verständnis von Museen als Forschungsinstitutionen einhergeht, für die Besucher*innen vor allem passive Wissensempfänger*innen sind. Trotz dieser Hürden gibt es Wege, sich an die neuen Erwartungen sowie veränderten Rahmenbedingungen und Verständnisse von Kultur und Kultureinrichtungen anzupassen. Teilhabeorientierung kann dabei ein Weg sein, die eigenen Besucher*innen, ihre Ideen und Kompetenzen besser kennenzulernen sowie ihnen einen Blick hinter die Kulissen und damit auch ein besseres Verständnis der Museumsarbeit zu ermöglichen. Auf den folgenden Seiten stellen wir verschiedene Formen partizipationsorientierter Wissensgenerierung in Museen vor. Bisher gibt es kaum Erhebungen dazu, inwieweit diese Ansätze institutionellen Wandel in deutschen (oder deutschsprachigen) Museen beeinf lussen (Ausnahme: die qualitative Untersuchung von Piontek 2017, die sich als einzige mit den Vor- und Nachteilen, Kritik, Hürden und Potenzialen von Partizipation beschäftigt). Aus diesem Grund haben wir mit drei Mitarbeiter*innen(-Teams) von Museen, an denen verschiedene Formen partizipativer Ansätze umgesetzt wurden, sowie mit zwei Expert*innen darüber gesprochen, was diese auf der strukturellen Ebene langfristig verändert haben bzw. verändern können und was dafür notwendig ist. Wir treffen hierbei keine Unterscheidung zwischen digital und analog, weil die praktische Verf lechtung beider Modi für unsere Herangehensweise relevanter ist und die Auswirkungen sich stärker nach Format als nach Medium unterscheiden. Zudem ist das Verständnis einer Kultur der Digitalität, also einer Verbindung von analog und digital, wie sie für die meisten Menschen längst Alltag ist, ausschlaggebend für eine ganzheitliche Museumsarbeit. Eine Trennung in digitale und analoge Museumsarbeit ist deshalb weder zielführend noch realistisch, zumal die digi-
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talen Besucher*innen ebenfalls Teil des Vermittlungsauftrages sind und der digitale Besuch nicht vom Besuch vor Ort zu trennen ist. Die Interviews geben wir aus Platzgründen nur in Ausschnitten wieder.1 Die vollständigen Gespräche sind auf dem Blog Bürger Künste Wissenschaft zu finden (vgl. Mucha/Oswald 2019). Interviewt wurden: • Angela Jannelli und Susanne Gesser vom Historischen Museum Frankfurt. Dort sind sie mit dem Stadtlabor an unterschiedlichen partizipativen Projekten beteiligt. Seit 2010 arbeiten sie gemeinsam am co-kreativen Stadtlabor, das sie als »gegenwartsorientiertes und partizipatives Ausstellungs- und Veranstaltungsformat des Museums« verstehen. Der Leitgedanke ist: »Wir möchten ein für möglichst viele Menschen relevantes Museum werden.« (Mucha/Gesser/Jannelli 2019) • Carina Grömer vom Naturhistorischen Museum Wien. Sie ist dort u.a. für das Fundaktenarchiv der Prähistorischen Abteilung sowie für die Erforschung prähistorischer Textilien verantwortlich. In diesem Kontext betreut sie vor Ort und digital Citizen Scientists, die sie kontributiv und kollaborativ bei ihrer Arbeit unterstützen. Für sie ist es »ein sehr wichtiger Punkt, dass Archäologie auch einen persönlichen Bezug hat und dass man durch Partizipation der Museumsbesucher die Meinungen und Stimmungen dazu einfängt« (Oswald/Grömer 2019). • Ruth Schilling ist am Deutschen Schifffahrtsmuseum Bremerhaven – Leibniz-Institut für Maritime Geschichte für die Forschungs- und Ausstellungskonzeption zuständig. Sie koordiniert die Planung der neuen Dauerausstellung, in die kollaboratives Citizen Science und kontributive Oral History bereits projektweise integriert wurden und künftig dauerhaft um co-kreative Partizipation ergänzt werden sollen. Ihr Anspruch: »Ich hoffe, dass wir am Ende in der Lage sind, Partizipation nicht als Sahnehäubchen zu sehen, sondern als grundlegendes Moment dessen, was wir dort erzielen wollen. […] Wir wollen überall da, wo es sich inhaltlich ergibt, die Leute auf Augenhöhe ansprechen und einbinden.« (Oswald/Schilling 2019) • Stephan Bartholmei war zum Zeitpunkt des Interviews in der Projektkoordination der Deutschen Digitalen Bibliothek an der Deutschen Nationalbibliothek in Frankfurt a.M. beschäftigt. Dort hat er den Kultur-Hacka1 Alle wortwörtlichen Zitate auf den folgenden Seiten dieses Beitrages stammen, soweit nicht anders angegeben, aus den von uns geführten Interviews.
Partizipationsorientierte Wissensgenerierung und Citizen Science im Museum
thon Coding da Vinci mit ins Leben gerufen. Bei diesem stellen Museen und andere Kultureinrichtungen ihre digitalen Daten zur Weiterverwendung für Designer*innen, Programmierer*innen und Spieleentwickler*innen bereit. »Wir wollen in die Köpfe der Entscheider*innen in den Kulturerbeeinrichtungen [und dort] den Umschwung bringen, so dass man nicht mehr drüber diskutieren muss, dass das Digitale selbstverständlich dazugehört. Denn vieles sind Selbstverständlichkeiten, die durch eine Hackathon-Erfahrung erlebbar werden.« (Mucha/Bartholmei 2019) • Hubertus Kohle ist Professor u.a. für digitale Kunstgeschichte (vgl. Kohle 2018) an der Ludwigs-Maximilians-Universität München. Sein Team entwickelte Artigo, die erste Plattform für museale Crowdsourcing-Projekte in Deutschland. Er ist »nicht dafür, dass man das ganze Museum partizipatorisch auf bauen muss. Auch in Zukunft muss es möglich sein, […] dass man ein Museum besucht und sich einfach in Ruhe umschaut […]. Aber wenn Leute gern an Wissensgenerierung teilnehmen und […] beteiligt werden möchten, dann sollte man sie mitmachen lassen.« (Oswald/Kohle 2019)
Formen partizipativer Wissensproduktion Allen Formen der partizipativen Wissensproduktion im Museum ist gemeinsam, dass sie den aktuellen Fokus auf wissenschaftliche Erkenntnisse um erfahrungsbasiertes und außermuseales Expertenwissen erweitern und damit helfen, wissenschaftliche Einsichten mit der Lebenswelt und Wahrnehmung ihrer Besucher*innen zu verknüpfen. Dies bedeutet auch eine Umverteilung von Macht innerhalb der Museen weg von der Dominanz der Kurator*innen und hin zu einer gleichberechtigten Einbindung von Vermittler*innen und Moderator*innen. Dabei ist Partizipation in verschiedensten Intensitäten möglich – von einfachen Formen wie Ideen- und Wissensabfragen im Rahmen einer Ausstellung bis hin zur kompletten Ausstellungsplanung durch die Beteiligten oder deren Einbeziehung in manageriale Prozesse. Diese Formate lassen sich nach unterschiedlichen Kriterien sortieren, beispielsweise nach der Art und Tiefe der Interaktion oder dem beteiligten Museumsbereich. Der Sinn dieser Kategorisierung ist es zum einen, die für das jeweilige Museum und Projekt passende Form eruieren, zum anderen diese nach verschiedenen Kriterien evaluieren und vergleichen zu können.
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Am umfassendsten ist dabei wohl das Dimensionenmodell von Piontek (vgl. Piontek 2017: 184-258), bei dem es im Kern um die Beziehung zwischen Museum und Besucher*innen geht (ebd.: 85). Die Dimensionen dieses Modells, anhand derer partizipative Projekte und Ansätze geplant und eingeordnet werden können, sind: Beteiligung (Abteilung und Art der Beteiligung – z.B. Mitarbeit in der Ausstellungsplanung), Akteur*innen (externe und interne Teilnehmer*innen, z.B. Schulklassen und Kurator*innen), Ausstellungsgegenstand (Thema und Objekte, z.B. Stadtgeschichte), Raum (Ort und Reichweite, z.B. eine Ausstellung im Haus mit lokalem Bezug), Zeit/Prozess (Zeitrahmen des Projektes), Kommunikation/Interaktion (Kommunikationsstil, -wege und -formen, z.B. online unidirektional), Ziele (institutionell und auf Teilnehmer*innenseite) und Selbstverständnis (Stellenwert der Partizipation und Selbstverständnis des Hauses, z.B. ein Stadtmuseum, das der Stadtgesellschaft hilft, ihre Themen aufzubereiten). Die meisten anderen Kategorisierungen beziehen sich nur auf ausgewählte Aspekte von Partizipation im Museum. Häufig geschieht die Unterscheidung beispielsweise anhand der Beziehung des gewählten Ansatzes zum gesamten Museum, zu den Beteiligten und des Themas: In welcher Abteilung findet die Zusammenarbeit statt? Ist sie grundlegend oder zusätzlich zum jeweiligen Projekt? Wird das Museum selbst thematisiert oder stehen die Akteur*innen oder die Welt im Mittelpunkt? (Vgl. Simon 2010; vgl. Aljas/ Tatsi 2014; vgl. Piontek 2017: 159). Die bis heute grundlegendste und in der Museumspraxis am weitesten verbreitete Einteilung hat Nina Simon vorgenommen (vgl. Simon 2010). Sie folgt der Frage, wie Besucher*innen mit den musealen Inhalten und miteinander interagieren, und sortiert ihr Modell vom Ich zum Wir: • Stufe 1: Einzelbesucher*in konsumiert Inhalte • Stufe 2: Einzelbesucher*in reagiert auf Inhalte • Stufe 3: Reaktionen der Einzelbesucher*innen werden mit der Gesamtheit aller Besucher*innen in Verbindung gebracht • Stufe 4: Reaktionen der Einzelbesucher*innen werden für die Simulation sozialer Interaktion genutzt • Stufe 5: Einzelbesucher*innen interagieren miteinander Daraus leitet sie nach der Intensität, mit der die Teilnehmer*innen in die museale Inhaltsgenerierung eingebunden werden, vier Formen von Parti-
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zipation ab – Kontribution, Kollaboration, Co-Kreation und Hosting/Gastgeberschaft. Diese sind eine Weiterentwicklung einer Studie zu »Public Participation in Scientific Research« (Bonney et al. 2009). Dort werden die Formen folgendermaßen definiert: »1) Contributory projects, which are generally designed by scientists and for which members of the public primarily contribute data, 2) Collaborative projects, which are generally designed by scientists and for which members of the public contribute data but also may help to refine project design, analyse data, or disseminate finding, 3) Co-created projects, which are designed by scientists and members of the public working together and for which at least some of the public participants are actively involved in most or all steps of the scientific process.« (Ebd.: 11) Analog dazu unterscheiden sich Simons Partizipationsformen durch den Einf luss, den die Partizipient*innen auf den Projektrahmen haben: Während in kontributiven Projekten ein vordefiniertes Format ausgefüllt wird, kann dieses im Laufe von kollaborativen Projekten angepasst werden. In cokreativen Projekten wird das Format von Anfang an gemeinsam entwickelt und beim Hosting wird der Museumsraum zur Plattform für die Projekte der Teilnehmer*innen. Dieser Beitrag bezieht sich im Folgenden vor allem auf die drei Formen Kontribution, Kollaboration und Co-Kreation, weil zum einen der Plattformansatz im deutschsprachigen Raum bisher kaum ausprobiert wurde und weil sich zum anderen kollaborative, kontributive und co-kreative Methoden auf zentrale Prozesse im Museum auswirken, die im Rahmen von Partizipation verändert werden und für das Thema dieses Sammelbandes – Innovation im Museum – besonders essentiell sind. Die meisten Autor*innen machen deutlich, dass die Einteilungen keine qualitative Wertung beinhalten. Zwar sehen manche Akteur*innen in rein kontributiven Ansätzen einen Pseudozugang, da es hierbei nur darum ginge, die Ressourcen der Freiwilligen für die Forschung bzw. die Museumsarbeit zu nutzen, während deren individuelle Kompetenzen, Perspektiven oder Ideen keine Rolle spielen würden (vgl. Finke 2016; vgl. Sternfeld 2018). Dass es Kulturinstitutionen bei Crowdsourcing-Projekten um das Auslagern von Arbeit geht, ist natürlich richtig. Zugleich kommt die Wissensgenerierung
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der Gesellschaft zugute und basiert auf ehrenamtlichen Prinzipien – diese Kontextverschiebung ist grundlegend und sollte bei der Diskussion immer mitgedacht werden (vgl. Owens 2013). Dabei gilt es für die organisierende Institution, respektvoll mit den Ehrenamtlichen umzugehen und die Umstände der Zusammenarbeit von Anfang an deutlich zu kommunizieren. Insgesamt sind sich Praktiker*innen und Forscher*innen deshalb einig, dass »der Köder dem Fisch schmecken [muss], nicht dem Angler«, wie Hubertus Kohle betont (Oswald/Kohle 2019). Dies meint, dass nicht jede*r Museumsbesucher*in daran interessiert ist, an kontributiven oder gar co-kreativen Ansätzen teilzunehmen. Sich in partizipative Projekte einzubringen und persönliche Erfahrungen und Ideen zu teilen, kann für manche zeitlich und emotional überfordernd sein. Andere sehen darin eine ideale Freizeitaktivität und Kontaktmöglichkeit zu anderen Teilnehmer*innen oder möchten sich vertieft in ein für sie interessantes Thema einarbeiten. Für wieder andere ist es eine Ehre, ihren Input ausgestellt zu sehen, damit einen Beitrag zu einem größeren Ganzen zu leisten und mit der Institution Museum zusammenarbeiten zu dürfen (vgl. Simon 2010: 4-5, 210; vgl. Piontek 2017: 362364; vgl. Jennett et al. 2016; Rotman et al. 2012). Demnach können kontributive Ansätze ein Einstieg sein, der gleichermaßen die Hürden für das Museum und für die Freiwilligen senkt, denen der Zugang zu solchen Institutionen bisher weitgehend versperrt blieb (vgl. Pettibone/Ziegler 2016). Zudem sind sie oft voraussetzungsärmer und stehen damit einer breiteren Gruppe von Menschen offen als co-kreative Ansätze, für die es oftmals mehr Vorwissen und konkrete Ideen auf Seiten der Teilnehmer*innen braucht. Zugleich können sie ebenso kreativ und vielfältig sein wie beteiligungsintensivere Formate (vgl. Simon 2010: 204; vgl. Ridge 2017: 7). Es ist also nicht grundsätzlich derjenige Ansatz der beste, bei dem die Teilnehmer*innen die meisten Entscheidungsbefugnisse haben, wohl aber muss ein Sinn sowohl für das Museum als auch für die Teilnehmer*innen damit verbunden sein (vgl. Piontek 2017: 309). Es gilt, den Anspruch und die Ziele des jeweiligen Museums mit denen der potenziellen Teilnehmer*innen zu vereinbaren. Entgegen gängiger Vorurteile von Seiten Museumsschaffender wirken dabei die Möglichkeit zur Partizipation und deren Ergebnisse nicht abschreckend oder als von geringerer Qualität auf (Stamm-)Besucher*innen. Pionteks und weitere Beispiele zeigen stattdessen, dass entsprechende Ansätze und ihre Ergebnisse auch diejenigen stärker ansprechen, die nicht di-
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rekt daran teilgenommen haben, weil die dadurch generierten Inhalte näher an der Lebensrealität und ungewöhnlicher sind als übliche museale Inhalte (vgl. Simon 2010: 230). Die Möglichkeit zur Partizipation schreckt also nicht ab. Das nicht-Vorhandensein von Partizipation verschreckt aber durchaus diejenigen, die partizipieren und sich einbringen möchten (vgl. ebd.: 4-5). Angesichts der Vielfalt an Kriterien, Dimensionen und Argumenten zur Einschätzung und Einteilung von Partizipation zeichnen sich besonders erfolgreiche Projekte deshalb vor allem dadurch aus, dass sie verschiedene Formen und Intensitäten anbieten, zwischen denen die Teilnehmer*innen das für sie passende wählen können. Spaß allein ist demnach kein ausreichendes Argument, sondern trivialisiert im Gegenteil den Einsatz der Teilnehmer*innen. Vielmehr kommt es beiden Seiten zugute, wenn Partizipation ein gewisses Maß an Herausforderung mit sich bringt, sodass alle Beteiligten mittels eines Learning-byDoing-Ansatzes ihre eigenen Fähigkeiten weiterentwickeln, Selbsterfüllung und Ref lexion erfahren können. Hierbei wirkt sich das konkrete partizipative Format auf die möglichen Lerneffekte aus. Doch es gibt auch grundsätzliche Lernerfahrungen, die weniger in konkretem Fachwissen zu einem musealen Thema bestehen als in Soft Skills, die für das Leben und Arbeiten im 21. Jahrhundert wichtig sind (vgl. Simon 2010: 193-197; vgl. Piontek 2017: 391-394), beispielsweise: Kooperation, Respekt, Kreativität, Quellenkritik, Selbstwirksamkeit, Ref lexionsfähigkeit oder Schreib- und Präsentationskompetenzen. Im Folgenden gehen wir auf die drei Formen Kontribution, Kollaboration und Co-Kreation ein, legen Charakteristika und Anwendungsgebiete dar und zeigen Beispiele und die Einschätzungen unserer Interviewpartner*innen dazu auf.
Crowdsourcing: von Kontribution zu Kollaboration Der Begriff Crowdsourcing umfasst im Kern mehrheitlich kontributive Ansätze, kann aber auch kollaborative Elemente beinhalten. Hierbei geht es vor allem darum, dass Museen mit Hilfe von Teilnehmer*innen Wissen, Daten oder Informationen zusammentragen und diese anschließend – meist ohne die Teilnehmer*innen – auswerten und in einen wissenschaftlichen Kontext einbetten. Im Bereich Citizen Science – der die Generierung von wissenschaftlichem Wissen durch nicht-Wissenschaftler*innen meint (vgl. Os-
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wald/Smolarski 2016) – gehören Crowdsourcing-Projekte zu den Klassikern, digital wie analog. Der Ansatz von solchen kontributiven Projekten ist dabei von Seiten der Institution meist, Zeit- und Personalressourcen zu sparen, etwa wenn Teilnehmer*innen museale Objekte verschlagworten und damit eine Datenbank befüllen (vgl. Kohle 2011; vgl. Dunn/Hedges 2017). Gerade in größeren, meist digitalen Crowdsourcing-Projekten kommen dabei oft in kurzer Zeit Millionen von Informationen zusammen, die ein Museum in diesem Umfang nicht selbst hätte generieren können. Solche Formate erfreuen sich bei den Teilnehmer*innen großer Beliebtheit, denn die Barrieren und das benötigte Wissen sind gering, die Kernaufgaben klar umrissen und einfach umzusetzen. Zudem können die Partizipient*innen bei regelmäßiger Teilnahme ein gewisses Maß an Expert*innenwissen erlangen (vgl. Dunn/Hedges 2017: 232) und fühlen sich dem Museum näher als zuvor. Den Mehrwert von solchen Schlagwortsammlungen macht Hubertus Kohle am Beispiel Artigo deutlich: »Wir haben auf Basis unserer Laienannotationen tiefergehende Einsichten erlangt und wissenschaftliche Aufsätze geschrieben, die beweisen, dass man damit zum Beispiel Kunstwerke neu kategorisieren kann, und die von der Tiefe her nicht weit weg sind von professionellen Annotationen und Datenbanken.« (Oswald/Kohle 2019)2 Natürlich muss es bei kontributiven Ansätzen nicht zwangsläufig um wissenschaftliche Informationen gehen. Auch persönliche Erinnerungen oder Erfahrungen, wie sie etwa im Kontext von Oral History oder Zeitzeugengesprächen aufgezeichnet werden, können eine Rolle spielen. Für Ruth Schilling ist das eine wichtige Informationsquelle, denn das Deutsche Schifffahrtsmuseum beschäftigt sich intensiv mit der Geschichte der Schifffahrt, des Meeres und der Küsten im 20. und 21. Jahrhundert. Seit dem Beginn der Neukonzeption der Dauerausstellung ist das Wissen der Menschen der Region deshalb ein wichtiges Thema für Schilling (vgl. Schilling 2016). Sie möchte dabei nicht zwischen den Expert*innen des Museums und den Laien außerhalb unterscheiden, denn »der Begriff Experte ist an sich irreführend, weil man damit eine bestimmte Figur assoziiert. Damit verbunden ist für uns aber ein Wissen, was verloren geht bzw. sich stark ändert und zum emotionalen Verständnis dessen, was bei uns geschildert wird, dazu gehört.« (Oswald/Schilling 2019) 2 www.artigo.org/ (zuletzt abgerufen: 03.08.2019).
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Auch wenn Schilling mit den Rückläufen und Zugängen der Menschen zum Museum, die sich seit der Einführung der partizipativen Ansätze sehr ins Positive gewandelt haben, sehr zufrieden ist, ist ihr persönlicher Anspruch damit noch nicht erfüllt. Sie möchte, »dass in der Art und Weise, wie die Ausstellung didaktisch aufgebaut ist, zu sehen ist, dass die Ergebnisse und die Aussagen, die dort getroffen werden, nicht ein Wissenschaftler einsam im Kämmerlein entwickelt hat, sondern dass sie sich in ein gesellschaftliches Gef lecht einbetten und von vielen getragen werden, viele berühren und involvieren« (ebd.). Auch bei kontributiven Projekten können spezifische Kompetenzen zum Einsatz kommen. Die Ehrenamtlichen, die Carina Grömers betreut, lernen etwa oft erst das Transkribieren historischer Dokumente von ihr – ein aufwendiger Prozess, wie sie betont – bevor sie sich selbstständig daransetzen können. Dann leisten sie aber unschätzbare Arbeit, übersetzen, recherchieren Quellen, befragen Menschen vor Ort. »Ich persönlich hätte nicht die Ressourcen, um all das zu machen. Und so mancher Historiker könnte es nicht besser als meine Citizen Scientists. Das muss ich schon sagen.« (Oswald/ Grömer 2019) Zudem, so ergänzt Grömer, fallen ihnen »sehr oft Sachen auf, die ich vielleicht nicht gesehen hätte, weil sie wirklich viel Zeit haben und sehr viel Liebe und Energie reinstecken. Sie verbeißen sich teilweise wirklich richtig in Dinge und forschen und hinterfragen. Das ist schon sehr imposant, diese Eigeninitiative.« (Ebd.) Mit diesem Ansatz, der auch Erwähnungen oder Co-Autorschaft in wissenschaftlichen Artikeln oder Vorträgen mit sich bringen kann, sind die Teilnehmer*innen nach ihrer Erfahrung durchaus zufrieden: »Ich habe schon das Gefühl, dass das genau das ist, was sie eigentlich wollen – angeleitet werden, Teil eines größeren Ganzen sein, bei dem aber doch wer noch drüber steht und die Richtung vorgibt.« (Ebd.) Etwas anders gelagert ist es bei Grömers digitalen Projekten zur prähistorischen Textilforschung3. Hierbei postet sie Überreste und Muster im Internet, vor allem auf Pinterest, mit der Bitte um Ideen und Vergleiche. Dabei geht es Grömer nicht nur darum, dass die User*innen ihr konkrete Informationen liefern, sondern mit ihr diskutieren und neue Thesen einbringen, aus denen auch schon neue wissenschaftliche Erkenntnisse entstanden sind. Dass mit Crowdsourcing-Ansätzen vorher weitgehend Uninteressierte angesprochen werden, ist allerdings die Ausnahme, wie beispielsweise eine 3 https://www.pinterest.de/carinagroemer/ (zuletzt abgerufen 03.08.2019).
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Studie zur britischen Crowdsourcing-Plattform MicroPasts des University College London und des British Museum zeigt. Nach fünf Jahren Laufzeit haben die Betreiber*innen untersucht, welche Nutzer*innengruppen sie damit ansprechen (vgl. Bonacchi et al. 2019). Das Ergebnis: Die Plattform spricht primär Wissenschaftler*innen und jene Bevölkerungsschichten an, die sich für Museen und ähnliche Angebote bzw. Themen auch sonst interessieren. Ähnliche Schlussfolgerungen lassen auch die Motivationen der Teilnehmer*innen von Grömers und Schillings Projekten zu (vgl. Piontek 2017: 371-378). »Es geht um Emotionen und die Annäherung an die dargestellten Welten und Themen an das, was sie [die Teilnehmer*innen] denken und was sie ausmacht. Ich habe immer das Gefühl, dass das wie ein Stromkreis ist. Man bringt zwei Welten oder Pole wieder oder auch das erste Mal zusammen«, beschreibt Schilling (Oswald/Schilling 2019). Für Grömer ist die größte Motivation »das persönliche Interesse der Menschen am Thema, aber auch die Nahbarkeit oder Berührung mit einer Institution, an die man sonst nicht rankommt.« (Oswald/Grömer 2019) Auf Basis dieser Erkenntnisse plädiert Byrd Philipps dafür, den Begriff Communitysourcing anstatt Crowdsourcing zu nutzen, da dieser besser die tatsächliche Beziehung zu den Beteiligten widerspiegele (vgl. Phillipps 2017: 257). In der Literatur zu Crowdsourcing-Projekten wird dieses Engagement ambivalent sowohl als Erfolgsfaktor als auch als Grenzüberschreitung bewertet. So beschreibt Mia Ridge, dass das Geheimnis erfolgreicher Crowdsourcing-Projekte genau in dem Vermögen stecke »to listen to a project’s user communities and collaboratively devise new and improved tasks and research questions« (Ridge 2013: 443-444). Andere ziehen eine Linie zwischen partizipativen Modellen, die allein die Perspektive der Institution verfolgen und die Ergebnisse betonen, und solchen, die stärker auf den kollaborativen Prozess und die dabei entstehende Gemeinschaft abzielen (vgl. Haythornthwaite 2009; vgl. Sample Ward 2011). Wie alle partizipativen Formen kombiniert auch Crowdsourcing verschiedene Ebenen der Beteiligung und kann sowohl unverbindliche kontributive Beteiligung als auch intensivere Kollaboration ermöglichen. Darüber hinaus führt die Entwicklung von neuen Technologien zu innovativen, kollaborativeren Formaten. Hubertus Kohle macht in diesem Kontext deutlich, dass digitale Ansätze wie Tagging – die digitale Annotation von Kunstwerken durch nicht-Wissenschaftler*innen – oder Transkription zeitnah von künstlichen Intelligenzen übernommen werden können. Für ihn ist Crowdsour-
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cing deshalb künftig vor allem als Community-Ansatz zu denken, der Menschen mit dem Museum verbindet: »Nach allen soziologischen Theorien geht Gemeinschaft immer stärker zurück, Individualisierung, Vereinsamung und mangelnde Kommunikation sind an der Tagesordnung und geraten immer stärker ins Zentrum der gesellschaftlichen Debatte. Dazu können die Museen in diesem Zusammenhang einen Beitrag leisten.« (Oswald/Kohle 2019) Dies gilt natürlich auch für andere Formen der partizipativen Wissensgenerierung im Museum, jedoch insbesondere für Crowdsourcing, da hier die Wahrscheinlichkeit am größten ist, dass Beteiligung durch Künstliche Intelligenz ersetzt werden wird.
Hackathons – ein Format für Kollaboration und Co-Kreation Auch kollaborative Projekte in Museen gemeinsam mit Besucher*innen können ganz unterschiedlich aussehen. Mit Bezug auf die Definition von Bonney et al. ist der größte Unterschied zu kontributiven Ansätzen die Einbindung der Partizipient*innen in verschiedene Arbeitsschritte: Sie werden nicht nur an der Datensammlung beteiligt, sondern auch an der Interpretation und Kommunikation der Ergebnisse (Bonney et al. 2009: 18). Zudem kann ihre Beteiligung Rückwirkungen auf das Forschungsdesign haben. Diese Form der partizipativen Wissensgenerierung eröffnet damit einerseits größere Einf lussmöglichkeiten für die Teilnehmer*innen und ist andererseits mit größerem Ressourcenaufwand für sie und die Institution verbunden. Diese stärkere Verpf lichtung aller Beteiligten erlaubt es, komplexere Fragestellungen partizipativ zu bearbeiten, weil in der Regel mehr Zeit für die Zusammenarbeit und für Feedback eingeplant ist. Zudem ist Kollaboration ein stärkeres Zeichen der Öffnung eines Museums, da dieses auch Aufgaben und den Umgang mit dem generierten Wissen und damit Entscheidungsund Deutungsmacht abgibt. In dem Sammelband »Museum Participation« definieren Kayte McSweeney und Jen Kavanagh Kollaboration vor allem als ergebnisoffene Zusammenarbeit, »where the museum sets the concept and outline plan. […] Staff then work with audience groups to develop the detail and make it happen. This would often involve the audience defining and deciding on what content was relevant« (McSweeney/Kavanagh 2016: 19).
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Dabei ist kollaborative Partizipation ein Kontinuum und kommt in der Museumsarbeit meist als Mischform vor. Sie ist eine relationale Praxis, die das Verhältnis zwischen den Beteiligten, der Institution und dem Thema verhandelt. Damit ermöglicht sie die Öffnung der Kulturinstitution für andere Arbeitsweisen, Expertisen und Wissensformen. In diesem Kontext zeigt Oonagh Murphy interessante neue Wege auf, die mit kollaborativen Ansätzen beschritten werden können: »One way that museums have responded to these developments is by inviting creative entrepreneurs to work, create, and collaborate within the walls of their museums in the dedicated coworking spaces.« (Murphy 2018: 65) Inwiefern Museen bald zu Coworking Spaces werden, bleibt abzuwarten. Mit kollaborativer Partizipation sind solche Szenarien, die vor allem die professionelle Zusammenarbeit betonen, jedoch interessante Optionen zur Weiterentwicklung der Museumsarbeit. Hackathons sind eine dieser Optionen. Als Zwischenform aus kollaborativer und co-kreativer Zusammenarbeit tauchte das Veranstaltungsformat erstmals 1999 im Silicon Valley (USA) und Calgary (Kanada) auf (vgl. Moura de Araújo 2018). Der Begriff setzt sich zusammen aus dem Verb to hack (wie im IT-Hacker) und dem Substantiv Marathon und steht für einen engen Zeitraum, in dem intensiv, gemeinsam gehackt wird. Annika Richterich definiert Hackathons als »techno-creative events during which participants get together in a physical location. They may be hosted by civic communities, corporations or public institutions. Working individually or in teams, usually for several days, participants develop projects such as hardware or software prototypes.« (Richterich 2017: 1) Obwohl Hackathons aus der Software- und Hardware-Entwicklung stammen, werden sie als Innovationsformat mittlerweile weit darüber hinaus eingesetzt. Dabei wird das Hacken als kreative Praxis verstanden, die auf der Nutzung, Dekonstruktion und Neukombination von vorgegebenem Material beruht, das nicht ausschließlich digital sein muss (vgl. Cramer 2014). Die Grundprinzipien sind Remix, Innovation und Pragmatismus oder wie Leonardo Moura de Araújo es formuliert:
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»Having a topic to work on, access to the necessary technology, and people willing to spend time together in order to transform an idea into a prototype are the necessary ingredients to make a Hackathon happen.« (Moura de Araújo 2018: 21) Im Kulturbereich sind Hackathons ein neueres Phänomen und eng mit dem partizipativen Diskurs und der Digitalisierung verbunden. Die Digital Humanities-Forscherin Melissa Terras sieht Hackathons als eine Form, mit der die Open GLAM-Bewegung (GLAM steht für: Galleries, Libraries, Archives, Museums) erfolgreich den Zugang zu Kulturgut und der Weiternutzung der Sammlungsdaten ermöglicht (vgl. Terras 2015: 738), denn diese »open-ended participation« hilft beim Auf bau einer »community of co-creators, conspirators and agents of change« rund um das und innerhalb des Museums, resümiert Oonagh Murphy die Erfahrungen des Metropolitan Museum of Art New York aus seinem Met Hack Day (vgl. Murphy 2016: 124). In Deutschland sind Kultur-Hackathons vor allem durch den Coding Da Vinci-Hackathon ein verbreitetes Format geworden. Im Projektbericht der ersten Ausgabe, die 2014 in Berlin stattfand, schrieb Helene Hahn: »Das übergeordnete Projektziel lag in der Entwicklung einer möglichst großen Anzahl von prototypischen Applikationen mit unmittelbarem Nutzen für Endanwender und Kultureinrichtungen. Gleichzeitig wurden Kulturinstitutionen dazu ermutigt, ihre digitalisierten Sammlungsbestände frei zugänglich und nutzbar zu machen. Kultureinrichtungen und Teilnehmern sollte eine Plattform geboten werden, um sich auszutauschen und gemeinsam Ideen für die aktive Nutzung des digitalen Kulturerbes zu entwickeln.« (Hahn 2014: 3) Diese Ziele wurden seitdem jedes Jahr in verschiedenen Regionen erreicht, was nicht nur zur breitf lächigen Verbreitung des Open-Gedankens führte, sondern auch die Förderung des Projekts von 2019 bis 2022 mit 1,2 Millionen € im Rahmen des Fonds »Kultur Digital« der Kulturstiftung des Bundes einbrachte. Stephan Bartholmei, der gemeinsam mit Kolleg*innen der Open Knowledge Foundation Germany, dem Forschungs- und Kompetenzzentrum Digitalisierung Berlin (digiS) und Wikimedia Deutschland das Projekt gründete, beschreibt es als komprimierte Digitalisierungserfahrung für Kulturinstitutionen:
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»Im Zeitraffer-Tempo wird alles, was die Einrichtung in Zusammenhang mit der digitalen Transformation beschäftigt, berührt. Ich muss mir überlegen, was will ich digital zur Verfügung stellen? Was muss ich dazu in welcher Tiefe erschließen und in welchen Formaten spiele ich die Metadaten aus? In welcher technischen Darreichungsform veröffentliche ich sie, über einen eigenen Webauftritt, eine Schnittstelle, eine bestimmte Plattform? Wie kommuniziere ich darüber? Wie stelle ich die Qualitätssicherung dar? Wie sieht die rechtliche Situation aus?« (Mucha/Bartholmei 2019) Dadurch bekomme die Digitalisierung der Sammlung eine weitere, konkretpraktische Zieldimension, die nicht nur in der eigenen Nutzung der Daten, sondern in der Freigabe für »technik-affine und kulturbegeisterte Kreative, die neue Anwendungen daraus entwickeln«, liege. »Das können Webseiten, Apps, Games, interaktive Visualisierungen, MashUps, Filme, digitale und analoge Kunst, physische Produkte wie Poster, Gesellschaftsspiele usw. usf. sein.« (Ebd.) Damit dieses intensive Aufeinandertreffen zwischen »Datengeber-Institution« und der Community erfolgreich verläuft, sind einige Schritte im Vorfeld notwendig. Die teilnehmenden Kulturinstitutionen müssen sich nicht nur mental für den partizipativen Prozess öffnen, sondern offen lizenzierte Datensets bereitstellen. Die weiteren Teilnehmer*innen setzen sich meist aus einer diversen Gruppe von »Programmierer/innen, Designer/innen, Hardware-Bastler/innen, Wissenschaftler/innen und Künstler/innen« (Fischer et al. 2018: 3) zusammen. Coding Da Vinci ist in drei Phasen geteilt, die sich über einen Zeitraum von mehreren Wochen strecken: Nach dem Kick-Off Event, Kennenlernen und der Teambildung arbeiten die Teams, manchmal im Austausch mit den Kulturinstitutionen, mehrere Wochen an der Projektentwicklung. Zum Abschluss werden die Prototypen bei einer Preisverleihung von einer Jury beurteilt. Als besonders wichtig schätzt Stephan Bartholmei dabei »das Finden einer gemeinsamen Sprache im Verlauf des Hackathons« ein. Dessen partizipative Arbeitsweise sei ein typisches Merkmal von Hackathons, das diese mit neuen Arbeitsformen und Kreativtechniken wie Agile bzw. Design Thinking gemein haben: »Das ist immer wieder ein magischer Moment, wenn man einander zum ersten Mal begegnet ist, dann beginnt, gemeinsam miteinander zu arbeiten, und anhand der Ergebnisse der gemeinsamen Arbeit die Ideen des Gegenübers wirklich ver-
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steht, obwohl man Entwicklerin und Kunsthistoriker ist und sonst immer aneinander vorbeiredet.« (Mucha/Bartholmei 2019) Ein weiteres Charakteristikum des Hackathons sei das praktische Ausprobieren verschiedener Ideen, was auch mal in Sackgassen führen könne, aber schnell die Praktikabilität und Umsetzbarkeit aufzeige. Grundsätzlich betont Bartholmei den niedrigschwelligen Zugang zur Veranstaltung, der in der diversen Teilnehmer*innen-Statistik deutlich werde. Beispielsweise werde bei Coding-da-Vinci-Events regelmäßig Geschlechter-Parität erreicht. Neben der Möglichkeit, digitale Ansätze kennenzulernen, bietet der Hackathon damit für Museen auch die Möglichkeit, ihre Nutzer*innengruppe zu diversifizieren. Als intensives Format der Co-Kreation und Kollaboration liegt der Erfolg genau in dieser sonst eher unwahrscheinlichen Kombination aus Expertisen und Fähigkeiten, die die Teilnehmer*innen zusammenbringen und interdisziplinär einsetzen. Der Nachteil ist allerdings, dass die Intensität der Partizipation nicht über längere Zeiträume realisierbar ist und so die Frage der Nachhaltigkeit in Bezug auf Beziehungsbindung und Weiterführung der Prototypen auf den Plan ruft.
Co-Kreation und Co-Produktion Auf dem Partizipations-Kontinuum stellt Co-Kreation die umfangreichste Form dar und wird von McSweeney und Kavanagh vor allem durch das gemeinsame Produzieren und enge Zusammenarbeiten beschrieben: »Co-creation is defined as ›creating output together‹, with ownership of the concept being shared between the participants and the museum. In this scenario, the museum gives audience groups the skills and tools to deliver an outcome and staff workes closely alongside them to support their activities. The goal is shared between museum and participants and requires the involvement of the audiences from the very start of a project.« (McSweeney/ Kavanagh 2016: 19) Das Teilen von Verantwortung, Arbeit und Zielen sind demnach wichtige Bestandteile co-kreativer Arbeit, genauso wie die gemeinsame Zusammenarbeit von Projektbeginn an. Angela Jannelli und Susanne Gesser vom Historischen Museum Frankfurt (HMF) arbeiten seit 2010 co-kreativ und beschreiben die so entwickelte Stadtlabor-Methode folgendermaßen:
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»Wir arbeiten auf der Grundlage der geteilten Expertise und schließen daraus, dass wir nur gemeinsam mit den 730.000 Frankfurt-Expert*innen die Stadt der Gegenwart erfassen und beschreiben können. In den partizipativen Prozess bringt das Museumsteam die kuratorische und organisatorische Expertise ein. Wir strukturieren und moderieren den Prozess und beraten unsere jeweiligen Co-Kurator*innen dabei, ihre Ideen professionell und ansprechend umzusetzen. Sie wiederum sind die Expert*innen für die Stadt und bringen ihr Wissen über die Stadt bzw. ihre Lebenswelt ein. Aus dieser Zusammenarbeit entstehen Ausstellungen, Veranstaltungen, aber auch Texte, Fotoserien oder Filme, die Frankfurt in all seinen unterschiedlichen Facetten zeigen.« (Jannelli/Gesser 2017: 17) Co-Kreation und Co-Produktion basieren also auf einer geteilten Autorität und Expertise zwischen den Museumsmitarbeiter*innen und den Teilnehmer*innen, die im Laufe des Arbeitsprozesses immer wieder implizit und explizit verhandelt werden. Dafür ist es grundlegend, das konkrete Museumsverständnis und die Rollenverteilung für alle Beteiligten transparent zu kommunizieren: Das Museum wird idealerweise vom Inhaber der Deutungsmacht zum pluralen Forum, das verschiedene Blickwinkel auf ein Thema und vielfältige Artikulationsformen dieser Perspektiven anstrebt. Das lebendige Alltagswissen, das in diesem Modus co-kreiert wird, entspricht dennoch der wissenschaftlichen Wahrnehmung, nach der Wissensgenerierung niemals abgeschlossen, sondern stets ein Prozess ist. Jannelli beschreibt dieses Vorgehen als »Forschen mit vielen« mit dem Ziel, »Wissen zu generieren und zwar auch eine andere Form von Wissen, die bisher in Museen unterrepräsentiert war. Das heißt, dafür auch Methoden zu finden, wie dieses Wissen überhaupt auch ›tangible‹ wird, also wie es in objekthafte Inszenierungen übersetzt werden kann, um dann auch diskutierbar zu werden.« (Mucha/Gesser/Jannelli 2019) Sie macht deutlich, wie tief co-kreative Partizipation in die Museumsarbeit hineinreicht und welche Ansprüche mit ihr verbunden sind: Sie möchte marginalisierte Positionen sichtbar und neue Stimmen hörbar machen. Dafür strebt sie eine Zusammenarbeit mit unterschiedlichen Expert*innen an, mit denen Wissen produziert und vermittelbar gemacht wird. Dieser Prozess ist kein Selbstzweck, sondern zielt auf die Diskussion dieser Perspektiven mit den Museumsbesucher*innen ab.
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Diese Form der Museumsarbeit beruht auf dem Selbstverständnis des Museums als Forum für die Frankfurter*innen, der im Rahmen der Neukonzeption des HMF zur Leitlinie erhoben wurde. Der Forumsgedanke lässt sich mit dem »Museum Values Framework« von Davies et al. beschreiben als »driven by the conviction, that users are the co-owners of the museum and, as such, visitors are encouraged to get involved in creating meaning from the collections« (Davies et al. 2013: 354). Dieser Ansatz beruht auf einer konstruktivistischen Haltung, die die Mitgestaltung des Museums und Benutzung der Sammlung anstrebt und für eine Demokratisierung der Kulturinstitution eintritt. Susanne Gesser sieht ihn als grundlegend für »eine Kulturinstitution, die von Steuergeldern finanziert und getragen ist. (…) Es ist die Einladung an die Stadtbevölkerung, ihren Kulturort aktiv mitzugestalten, und nicht nur zu konsumieren, sondern tatsächlich partizipativ dabei zu sein.« (Mucha/Gesser/Jannelli 2019) Damit ist allerdings nicht gemeint, dass es keine unterschiedlichen Rollen im partizipativen Prozess gibt. Angela Jannelli vom Historischen Museum Frankfurt weist ausdrücklich darauf hin, dass bei jeder Form der Partizipation eine Rahmengebung (mit klaren Aufgaben bzw. Rollenverteilungen) notwendig ist, um Sicherheit für alle Beteiligten zu schaffen. »Ich fände es schein-partizipativ, zu sagen: Wir sind hier alle gleich. Das sind wir nämlich nicht, wir sind die Gastgeber. Und ein guter Gastgeber will auch, dass die Gäste sich wohlfühlen und einen guten Abend haben, interessante Gespräche führen, dass alles anregend ist. Also ich finde, dass man diesen Rahmen sehr, sehr deutlich setzen muss.« (Ebd.) Dieses Prinzip wird auf alle partizipativen Projekte angewandt, die im Historischen Museum Frankfurt sowohl Kontribution als auch Kollaboration und Co-Kreation umfassen können. Susanne Gesser erklärt die Bandbreite so: »Wir arbeiten ja mit allen Methoden der Partizipation. Und da gibt es dann auch mal eine Post-its-Wand, die im Übrigen gut angenommen wird und nicht nur eine Alibifunktion hat. Wichtig ist, dass wir da Zeit und Energie reinstecken und uns ernsthaft damit auseinandersetzen.«
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Diese einladende Haltung bereitet den Boden für erfolgreiche partizipative Museumsarbeit und drückt das ehrliche Interesse an Austausch aus, dass das HFM also »nicht nur Partizipation macht, wie man Gymnastik macht, weil es irgendwie zum Kanon dazu gehört« (ebd.). Das tiefe Engagement, das bereits als wichtiger Bestandteil partizipativer Wissensgenerierung erwähnt wurde, ist demnach keineswegs nur auf Seiten der Teilnehmer*innen gefragt. Vielmehr ist es ebenso die Aufgabe des gesamten Museums, diese Beziehung anzubieten und durch die eigene Haltung zu ermöglichen. Susanne Gesser: »Wir haben uns da mit Haut und Haaren reingestürzt und darauf eingelassen. Wir leben dafür und ich denke auch, das ist die Kultur des Hauses.« (Ebd.) Dazu hätte auch die kontinuierliche Arbeit mit dem Stadtlabor beigetragen. In den letzten Jahren hätte sich durch diese Erfahrung mit partizipativer Museumsarbeit alles verändert, so dass mittlerweile nicht nur die Haltung des Museums offener sei, sondern auch ganz konkret das partizipative Know-how von anderen Kolleg*innen im Rahmen von Sonderausstellungen oder Sammlungsarbeit nachgefragt würde. Hier wird sichtbar, wie Partizipation in die Institution zurückwirken kann und nachhaltigen Einf luss ausübt. Angela Jannelli erwähnt eine weitere Entwicklung: Über die Jahre sei »ein ungeheuer gutes und tragfähiges Netzwerk« entstanden, das ihnen das Gefühl vermittle, in Frankfurt eingewurzelt zu sein. Charles Leadbeater beschreibt diesen Netzwerk-Gedanken als logische Folge aus der partizipativen Haltungsänderung: »The underlying principles of the logic of With are quite different from those of the world of To and For. Knowledge and learning can be co-created, come from many sources, often from committed Pro-Ams [professionelle Amateure, Anm. d.A.] as well as experts. Organisations will increasingly resemble networks, partnerships and collaborations, not rigid hierarchies. Authority, even at work, will need to be earned peer-to-peer.« (Leadbeater 2009: 6-7) An diesem Übergang von partizipativem Umdenken zu organisatorischer Umstrukturierung zeigen sich die tiefen Veränderungen, die co-kreative Partizipation auf die Museumsarbeit haben kann. In den Glasgow Museums wird analog zur Co-Kreativität von Co-Produktion gesprochen und auf den zusätzlichen Aufwand sowie den schwer zu messenden Wert solcher Projekte hingewiesen:
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»A co-production approach to engagement can be resource-intensive; an investment of time is essential and often can involve low numbers of participants. However, even on a short-term project, this flexible and open methodology can achieve a great impact. The value of projects like this cannot be measured purely statistically or compared to crudely work with larger numbers of participants in purely economic terms.« (Craig et al. 2016: 277) Und Angela Jannelli weist auf die Wissenslücke in Bezug auf die Evaluierung dieser neuen Arbeitsform hin: »Ich würde auch sagen, dass wir da Pionierarbeit gemacht haben und ich bin jetzt an einem Punkt, wo ich denke, wir sollten das eigentlich dringend evaluieren, weil für mich immer deutlicher wird: Es ist eine ganz spezielle Form der Museumsarbeit, die eigentlich eher eine emotionale Arbeit ist, wenn man wirklich mit Partizipienten arbeitet. Und das ist etwas, was überhaupt nicht evaluiert ist.« (Mucha/Gesser/Jannelli 2019) Diese Feststellungen sind essentiell, da sie einerseits auf die Forschungslücke im Bereich Impact-Evaluation im Kulturbereich allgemein deuten und andererseits den Bedarf neuer Museumsrollen und -ausbildungen vermitteln.
Die Implementierung von partizipativen Ansätzen in den musealen Arbeitsalltag Wie bereits geschildert, kann Partizipation nur funktionieren, wenn man sie als grundsätzlich positive und neugierige Haltung versteht und nicht nur als Trend. Um das zu erreichen und erfolgreich umzusetzen, braucht es im ersten Schritt überzeugte Museumsschaffende. Im Deutschen Schifffahrtsmuseum begann dieser Prozess mit neuen Mitarbeiter*innen des Museums: »Bis 2014, als ich und andere ins Haus kamen und ein Generationswechsel stattgefunden hat, war es nicht üblich über Besucherpartizipation nachzudenken«, erklärt Ruth Schilling (Oswald/Schilling 2019). Dem muss nicht so sein. Partizipation kann entweder top-down oder bottom-up in ein Museum kommen, in Form eines einzelnen Projektes oder einer langfristigen Neuausrichtung (vgl. Simon 2010: 343).
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Damit sie dazu beitragen kann, Strukturen in Richtung Innovationsfähigkeit aufzubrechen, Besuchshürden abzubauen und neues Wissen zu generieren, gilt es einen Punkt zu beachten: In hierarchischen Organisationen wie Museen ist es häufig schwierig, Veränderungen bottom-up zu etablieren. Das Engagement einer*s einzelne*n Mitarbeiter*in kann über eine kurzfristige Wirkung kaum hinausgehen, wenn die entstandenen Ideen und Erfahrungen in den anderen Abteilungen nicht ref lektiert und in die tägliche Arbeit übertragen werden. Um Langfristigkeit herzustellen, muss die Leitungsebene deshalb nicht zwingend eine Idee selbst einbringen, aber unterstützen und ihre dauerhafte Implementierung fördern, indem sie beispielsweise Arbeitsprozesse und deren Priorisierung anpasst und bereit ist, Entscheidungsbefugnisse an die Mitarbeiter*innen und an Externe anzugeben. Das bedeutet beispielsweise, die in den Aufgabenabfolgen etwa bei der Entwicklung einer neuen Ausstellung häufige Trennung zwischen den Abteilungen zu lockern. Erst damit werden deren Vernetzung in allen Phasen der Museumsarbeit und die Einbindung von Besucher*innen in diese Phasen überhaupt erst möglich. Partizipative Wissensgenerierung sollte zudem nicht bestehenden Aufgaben hinzugefügt werden, denn – darauf verweisen die meisten Autor*innen sehr deutlich – sie kostet Zeit und Ressourcen für Vor- und Nachbereitung, für ggf. dadurch veränderte oder neu hinzukommende Aufgaben und vor allem für die gute Betreuung der Teilnehmer*innen, für Vertrauensauf bau, die Kommunikation des Wertes, der Ziele und konkreten Rahmenbedingungen sowie des Projektverlaufes (vgl. ebd.: 19, 184, 322). »Viele [Teilnehmer*innen] sind ganz begeistert, aber erwarten, dass man jede Woche mit ihnen in Kontakt tritt. Das können wir in der Form nicht leisten und ich glaube, dass wir dafür gute und standardisierte Formate bezüglich Zeit, Ort usw. fürs ganze Haus brauchen«, so Schilling (Oswald/Schilling 2019). Auch Carina Grömer betont: »Die Schwierigkeiten, die ich erlebt habe, waren eigentlich nur zeitlicher Natur. […] Die Leute partizipieren nicht einfach und alles wird schön und besser, weil so viel Input kommt.« (Oswald/Grömer 2019) Susanne Gesser fasst ihre Erfahrung mit partizipativer Museumsarbeit als ambivalenten Prozess zusammen: »Es ist zwar sehr anstrengend und es ist keine Arbeitserleichterung. […] Das ist ein Trugschluss, das stimmt überhaupt nicht. Aber ich würde das trotz-
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dem immer wieder machen. Ich finde es ist absolut sinnvoll und es tut glaube ich dem Museum und der Institution gut.« (Mucha/Gesser/Jannelli 2019) Partizipative Museumsarbeit müsse, um ihre Potenziale für die Öffnung von Museen erfolgreich umsetzen zu können, aber unbedingt besser ausgestattet werden, ergänzt Angela Jannelli und verweist auf die Arbeitsbelastung, die im Historischen Museum Frankfurt selbst mit zwei Stellen kaum zu bewältigen sei. Das Deutsche Schifffahrtsmuseum hat für den ersten Schritt erst einmal zwei befristete Stellen geschaffen, um »anhand von Versuchsballons zu testen, in welche Richtung wir generell gehen können auch mit Hinblick auf Ressourcen. […] Der nächste Schritt könnte sein, eine Koordinierungsstelle Partizipation zu schaffen, aber ich weiß nicht, ob das richtig ist. Ich habe immer Angst bei solchen Stellen, dass die als Entlastung genutzt werden […]. Das wäre nicht das, was ich wollte. Ich will eigentlich, dass Partizipation schon in der Ausschreibung und Besetzung von beispielsweise Doktorandenstellen mit bedacht wird […]. Das heißt, das Ziel ist, wie man es von Social Media immer sagt: Eigentlich sollte man keinen Social Media-Manager haben, sondern jeder im Haus sollte irgendwie immer dabei sein und es mitdenken und mitmachen.« (Oswald/Schilling 2019) Dem stimmen auch Simon und Piontek zu, machen aber deutlich, dass es dennoch wichtig für die Kolleg*innen und die Teilnehmer*innen ist, konkrete Projektplaner*innen und Ansprechpartner*innen zu haben (vgl. Simon 2010: 333; vgl. Piontek 2017: 381). Das damit verbundene Aufgabenspektrum und die notwendigen Kompetenzen werden aber bisher von der klassischen geisteswissenschaftlichen Ausbildung und den typischen Tätigkeitsprofilen in Museen nur zum Teil abgedeckt. Beide Autorinnen charakterisieren diese neue Rolle als die eines*r Communitymanager*in. Piontek zählt zudem zahlreiche wichtige Eigenschaften auf, die bisher bei musealen Stellenausschreibung kaum eine Rolle gespielt haben. Sie betont, dass es dabei nicht um die Abschaffung von Kurator*innen gehe, denn es brauche auch weiterhin thematische Expert*innen – schon deshalb, weil es den Teilnehmer*innen wichtig ist, mit solchen arbeiten zu dürfen (vgl. Piontek 2017: 420-427). Susanne Gesser erklärt, welche Fähigkeiten und Zugeständnisse notwendig sind: »Ich denke, man muss bereit sein, auch außerhalb der Büro-Arbeits-
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zeiten ansprechbar zu sein […] Ich glaube, es ist ganz gut, kommunikative Fähigkeiten zu haben, auch Moderations-Techniken zu kennen, bis hin zu Großgruppen-Methoden, einfach zu wissen, wie läuft sowas ab.« (Mucha/ Gesser/Jannelli 2019) Dazu gehöre auch, mal Ärger auszuhalten oder mediativ eingreifen zu können. Hier zeigt sich ein weiteres Mal die soziale und kommunikative Dimension partizipativer Museumsarbeit, die auch dafür sorgen muss, eine Atmosphäre zu erzeugen »in der die Leute sich wohlfühlen und angstfrei äußern können«. Mit Blick auf die Nachhaltigkeit kann partizipative Museumsarbeit ganz unterschiedlich bewertet werden. Am nachvollziehbarsten ist sicher, dass der Auf bau einer Community Geduld braucht, aber auch längerfristige Beziehungen ermöglicht. Jannelli weist in diesem Kontext darauf hin: »Gerade die Partizipation ist eine Beziehungsarbeit und es muss alles wachsen und entstehen, so wie auch Freundschaften entstehen.« Wenn diese Zusammenarbeit ehrlich und mit ausreichend Zeit geplant wird, können die Auswirkungen bei allen Beteiligten zu einer eindrücklichen positiven Erfahrung führen und etwas Neues kreieren. Das ist es auch, was das Stadtlabor-Team als Erfolgsdefinition anführt: »[dass] alle am Ende das Gefühl haben, […] neue Erfahrungen gemacht zu haben, sei es in Bezug auf Wissen […] oder auch im Sinne von Erlebnis, eine neue Lebenswelt kennengelernt zu haben oder – was für die Stadtlaborant*innen oft der Fall ist – zu wissen, wie Museum funktioniert […] und natürlich auch für die, die dieses Projekt nur angucken oder die Ergebnisse, dass die auch das Gefühl bekommen, einen echten Mehrwert zu haben. ›Man geht gewitzter aus dem Museum heraus als man hineingegangen ist‹, ich glaube, Walter Benjamin hat das gesagt.« (Mucha/Gesser/Jannelli 2019) Susanne Gesser fügt hinzu, für sie sei es wichtig, »dass man da mit echtem Interesse [herangeht] und mit echten Themen, mit echten Personen ins Gespräch kommt, mal diskutiert und auch mal streitet und sich auseinandersetzt, aber eben, vielleicht etwas mitnimmt und sich verändert« (ebd.). Sieht man partizipative Wissensgenerierung als einen Ansatz für Innovation im Museum, also als »geplante und kontrollierte Veränderung, Neuerung in einem sozialen System durch Anwendung neuer Ideen und Techniken«, wie es der Duden (2019a) formuliert, gehen damit mehr Herausforderungen als nur steigender Ressourcenbedarf und neue Mitarbeiter*innenprofile einher.
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Partizipation zielt damit nicht nur auf innovative Formen der Wissensgenerierung und auf die Integration neuer Wissensformen ab. Sie stellt auch die Museumsstrukturen als Umgebung für Innovation auf den Prüfstand. Eine der größten Schwierigkeiten ist dabei sicherlich, die Rolle des Museums und seiner Mitarbeiter*innen in der Gesellschaft sowie die üblichen Prozessschritte zu überdenken. Arbeiten Museen bisher großteils format- und ergebnisbezogen, wird es mit der Integration externer Teilnehmer*innen notwendig, sich stärker auf die Prozesse zu konzentrieren und das Lernen auch der Mitarbeiter*innen in den Mittelpunkt zu rücken (vgl. Piontek 2017: 83). Die Annahme, es gäbe eine unabhängige, allgemeingültige, objektive, wissenschaftliche Wahrheit und die Museen hätten die Deutungshoheit über diese, wird durch ein konstruktivistisches Modell von Wirklichkeit und Rezeption ersetzt, nach dem auch Museen immer etwas dazulernen können (vgl. ebd.: 466). Dies bezieht sich nicht nur auf die Aufgaben Ausstellung und Vermittlung. Partizipative Ansätze können vielmehr auch in Bereichen wie Sammeln und Bewahren, Fundraising, Kooperationen oder Strategieentwicklung umgesetzt werden (vgl. Simon 2010: 197). So könnten Partizipient*innen in Prozesse der Entscheidungsfindung einbezogen werden, bei denen es um die Frage geht, welche Objekte wie gesammelt werden sollen, sie können Input für die Umsetzung von Querschnittsthemen wie Inklusion oder Digitalisierung geben, per Crowdfunding und Voting die finanziellen Investitionen beeinf lussen oder zu Kommunikationsstrategien befragt werden. Piontek sieht darin – neben Nachhaltigkeit und der Ansprache einer möglichst heterogenen Gruppe – sogar einen entscheidenden Erfolgsfaktor (vgl. Piontek 2017: 109). Neben der Veränderung der institutionellen Perspektive ist eine große Schwierigkeit, dass auch Fördergeber, obwohl sie selbst zunehmend partizipative Ansätze fordern, selbst noch oft in Projekten und vorher festgelegten Ergebnisse denken anstatt in ergebnisoffenen Ansätzen oder langfristigen Umstrukturierungen (vgl. ebd.: 483). Umso wichtiger ist es, anhand von Evaluationen aufzuzeigen, welche positiven Veränderungen partizipationsorientierte Wissensvermittlung für Besucher*innenzahlen und -bindung, für das Image des Museums und dessen Orientierung an gesellschaftlichen Themen sowie für nachhaltige Wissensvermittlung mit sich bringen kann. Der grundlegenden Idee dahinter entsprechend sollte hierbei nicht nur der Mehrwert für das Museum erhoben werden, sondern auch für die Teilnehmenden und die nicht-beteiligten Besucher*innen. Zudem muss neben dem Ergebnis auch der Prozessverlauf Teil der Evaluation sein (vgl. Simon 2010:
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310-302; vgl. Piontek 2017: 332), denn aus diesem entstehen im Rahmen von partizipativer Wissensgenerierung mehr Lernerfahrungen in Bezug auf die Einstellungen, Bedürfnisse und Ideen der Teilnehmer*innen sowie auf die Besucher*innen als allein aus der Einschätzung des Ergebnisses aus wissenschaftlicher oder quantitativer Perspektive. Aus Platzgründen ist es hier nur bedingt möglich, konkrete Schwierigkeiten bei der Umsetzung der verschiedenen partizipativen Formate zu thematisieren – vom richtigen Projektauf bau über das Design der konkreten Plattform, die Teilnehmer*innenansprache und dem Umgang mit deren Input bis hin zur Auswahl der passenden Objekte. Informationen, Tipps und Beispiele für viele dieser Punkte finden sich bei Simon (vgl. Simon 2010).
Schluss Schaut man sich die aktuellen Veränderungen und Diskussionen im Museumsbereich an, lässt sich mit Piontek (vgl. Piontek 2017: 118) tatsächlich von einer partizipatorischen Wende sprechen. Im Gegensatz zu einem Trend, der nach Duden (2019b) eine Entwicklungstendenz in einem bestehenden System meint, ist eine Wende eine einschneidende Veränderung bzw. ein Richtungswechsel. Dem entspricht, dass Partizipation nicht nur eine zusätzliche museale Aufgabe ist, also keine sechste Säule der Museumsarbeit, sondern, wie in diesem Beitrag dargelegt wurde, ihre volle Wirkung nur entfalten kann, wenn damit ein Wandel des gesamten Hauses in Haltung und Strukturen einhergeht. Diejenigen, die sich gegen diesen Ansatz verwehren, begründen dies zumeist einerseits mit der Expertenfunktion von Museen in der Gesellschaft und andererseits mit der Qualität musealer Arbeit, die nur durch diese Expert*innen aufrecht zu erhalten sei. Spricht man mit Akteur*innen, die bereits partizipative Projekte durchgeführt haben, und schaut man auf die Untersuchungen zu diesem Thema, lassen sich beide Argumente jedoch nicht halten. Beispielsweise betont Ruth Schilling: »Ich glaube, dass es ganz grundsätzlich der richtige Weg ist und dass das Museum als Institution nicht anders überleben kann. Die große Frage, die Museen auf allen Ebenen reflektieren müssen, ist aber: Was passiert mit der Attraktivität des Museums als Wissensort, wenn man Wissensort anders definiert als die Besucher das gewohnt waren?« (Oswald/Schilling 2019)
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Die Idee von mehr Teilhabegerechtigkeit und einer verstärkten Integration externer Perspektiven in Museen soll also keinesfalls unref lektiert und übereilt vonstattengehen. Vielmehr handelt es sich um einen langfristigen Prozess, der die Rolle von Museen in neuem Licht beleuchtet und ins 21. Jahrhundert überführt: »Die sozialen Medien bestimmen unsere Wirklichkeit inzwischen so stark und die Wahrnehmung aller Lebensbereiche ist so intensiv von Interaktivität geprägt, dass man solche Ansätze eigentlich nicht mehr vermeiden kann«, so Hubertus Kohle (Oswald/Kohle 2019). Übertragen auf Museen bedeutet dies, dass wenn sie sich weiterhin als Verwalter öffentlicher Güter sehen wollen, damit eine Einbindung und Aufwertung derjenigen hervorgehen muss, für die sie diese Güter verwalten, weil, so Carina Grömer, »die Menschen heutzutage viel mündiger sind, aktiv mitgestalten wollen und sich nicht nur wie eine Schaf herde behandeln lassen wollen« (Oswald/Grömer 2019). Dass Museen in diesem Kontext nicht nur Lehrende, sondern auch Lernende sind, die sich ebenso wie ihr Umfeld den aktuellen Veränderungen erst annähern müssen, ist dabei ein Vorteil. Museen, so beschreibt es Kohle, seien »immer noch zu stark eine im freien Raum schwebende Einheit ohne Fenster nach außen, bildlich gesprochen. Insgesamt glaube ich, muss es sich stärker öffnen – nicht nur von außen nach innen, sprich von den Besuchern ins Museum hinein, sondern auch andersherum, von dem Museum in die Öffentlichkeit.« (Oswald/Kohle 2019) Da viele Museumsschaffende sich schwer damit tun, sich von ihrer professionellen Perspektive zu lösen, ist partizipative Wissensgenerierung für sie eine Möglichkeit, die notwendigen Informationen und verbessertes Verständnis im Sinne der Besucher*innenforschung zu erhalten und zugleich interessierte Partner*innen zu finden, um sich gemeinsam in der veränderten Umwelt zu orientieren und diese zu gestalten. Entsprechend zeigt Piontek, dass diejenigen, die Partizipation als zu unwissenschaftlich oder aufwendig kritisieren, ignorieren, dass Museen dabei »eigentlich einen guten Tausch machen« (vgl. Piontek 2017: 126, 462-463). Sie bekommen Arbeitszeit, Inhalte, neues kulturelles Kapital und eine gute Außenwirkung – und geben angesichts dessen eigentlich oft zu wenig zurück, vor allem wenn es um wirklichen Zugang geht.
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Oft, so hat man das Gefühl, wird die Forderung nach Partizipation vor allem von denjenigen als zusätzliches Übel und Qualitätsverlust verstanden, die bisher keine Erfahrung damit haben. Das ist in gewisser Weise verständlich, kann man sie doch als grundlegende Kritik an der bisherigen Museumsarbeit und damit auch den Museumsschaffenden deuten. Sowohl die von Piontek als auch die von uns befragten Akteur*innen schildern jedoch genau das Gegenteil. Demnach sind die meisten Museumsmitarbeiter*innen im Nachhinein sehr zufrieden sowohl mit dem Prozess als auch mit den Ergebnissen und empfanden die neuen Blickwinkel als bereichernde Aufweichung des eigenen wissenschaftlichen Kategoriesystems. Das gilt auch für Leitungspersonen wie Ruth Schilling: »Bei uns merkt man, dass ein solcher Ansatz eine Grundstimmung erzeugt, die offen ist, positiv, dynamisch, das Ganze zum Leben erweckt und uns mit den unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen in Berührung bringt. Ich glaube – und dieses Argument wird nicht gern angeführt, aber muss auch berücksichtigt werden – dass so ein Museum mehr Spaß macht. Menschen brauchen Menschen. Menschen brauchen Interaktion. Menschen wollen sich bewegen, sie wollen begegnen.« (Oswald/Schilling 2019) Ähnlich argumentiert auch Simon: »The true value of a participatory project is not solely determined by the amount of time and money it takes staff to do the work offered to participants. It also includes the social value of building community relationships and the educational value of providing skill-building experiences for participants.« (Simon 2010: 197) Doch nicht nur für die Museen, auch für die Besucher*innen ist partizipative Wissensgenerierung noch neu. Zugleich ist die Neugier, mit einer öffentlichen Institution zu arbeiten, gerade bei treuen Besucher*innen sehr groß. Dieser Effekt ist, ebenso wie die Motivatoren, unabhängig von dem konkreten partizipativen Format. Er könnte sich aber entweder abschwächen, wenn Teilhabe selbstverständlicher wird. Oder er könnte sich verstärken, wenn die Distanz zwischen der Institution Museum und ihren (potenziellen) Besucher*innen nachlässt. Die Tatsache, dass bislang vor allem Menschen an partizipativer Wissensgenerierung teilnehmen, die bereits eine Beziehung
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zum Museum oder dessen Thema haben, könnte ein Indikator für Letzteres sein – diese Menschen wären demnach die Vorhut, die als erstes auf die gesunkenen Zugangshürden reagiert und auf die weitere Gruppen folgen, wenn sie sich stärker adressiert fühlen oder direkt angesprochen werden. In welche Richtung die Entwicklung geht, hängt aber vor allem davon ab, wie abwechslungsreich und wertschätzend ein Museum mit Partizipation und seinen Teilnehmer*innen umgeht. In Hinblick auf das Verhältnis von Partizipation und der Innovationsfähigkeit von Museen lassen sich zwei abschließende Bemerkungen treffen: Zum einen sind Innovationsoffenheit und Mut zum Experimentieren notwendig, um Partizipation überhaupt langfristig und abteilungsübergreifend in einem Museum etablieren zu können. Auf der anderen Seite fördert Partizipation aber auch Innovation als stetigen, nie abgeschlossenen Prozess, weil sie als grundlegendes Moment eines Museums immer wieder neue Meinungen und Diskurse in Form von externen Beteiligten in ein Haus bringt. Damit spiegelt sie dem Museum die Themen, Herangehensweisen und Forderungen, die die Gesellschaft an das Museum stellt, und ermöglicht zugleich, diese gemeinsam mit Vertreter*innen der Öffentlichkeit zu bearbeiten.
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Postkoloniale Museologie als Innovationsförderung für die Museen der Zukunft Anna Greve »Museen sind demokratische, inklusive und polyphone Orte für den kritischen Dialog über Vergangenheit und Zukunft«1 Ist es ketzerisch, zu fragen, welche gesellschaftliche Funktion Museen im 21. Jahrhundert eigentlich (noch) haben? Erweisen sich die Fragen nach historischer Verantwortung und gegenwärtiger Identität wirklich als zentral? Die Beschäftigung mit dem kolonialen Erbe in deutschen Museen mag auf den ersten Blick als ein randständiges Spezialthema erscheinen. Die Gründungsgeschichte von Museen allerdings ist untrennbar mit der Epoche der Auf klärung im 18. Jahrhundert und dem Kolonialismus verbunden. Dies wirkt bis heute. Daher ist es mit Blick auf eine Neupositionierung von Museen notwendig, ihr früheres Selbstverständnis als teilweise kolonialistische Institutionen aufzuarbeiten. Das Publikum der Zukunft ist divers – in jeglicher Hinsicht. Menschen unterschiedlicher Herkunft und kultureller Prägung tragen ihre je spezifische Perspektivität auf Geschichte ins Museum – sie bringen sie quasi mit – und fühlen sich in Museen insbesondere dann angesprochen, wenn sie mit ihrer Weltsicht einen Resonanzboden und Anknüpfungspunkte an ihre eigene Lebensrealität vorfinden. Als ich eine aus Ghana stammende Kollegin nach ihrem Lieblingsobjekt im Bremer Landesmuseum fragte, nannte sie 1 Freie Übersetzung des ersten Satzes der englischsprachigen neuen Museumsdefinition, die derzeit international diskutiert wird. Vgl. https://www.icom.museum/en/news/ icom-announces-the-alternative-museum-definition-that-will-be-subject-to-a-vote/ (14.2.2021).
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ein großes, steinernes Kreuz aus dem Jahr 1435. Anders als bei der Mehrheit der Bremer*innen spielt die christliche Religion eine große Rolle in ihrem Leben. Sie kann also mit den älteren, sehr europäischen Beständen in unserem Haus durchaus etwas anfangen. Eine ästhetisch ansprechende Präsentation des Werks ist ihr dabei als Wertschätzung des Themas wichtig. Eine sprachliche Erklärung des Werkes – womöglich in leichter Sprache – ist für sie – trotz Verständnisschwierigkeiten des Deutschen – hingegen weniger wichtig.2
Das koloniale Erbe und die postkoloniale Theorie Mit Kolonialem Erbe – explizit auf Museen bezogen – ist im Deutschen der international gebräuchliche Begriff colonial heritage gemeint. Damit werden materielle Zeugnisse, Traditionen und Gedankenmuster gleichermaßen bezeichnet, die auf die Zeit des Kolonialismus zurückgehen und bis in die heutigen Gesellschaften sowohl ehemals kolonialisierter Länder als auch ehemaliger Kolonialmächte fortwirken. Ihre Geschichten sind durch eine strukturelle Machtasymmetrie geprägt und miteinander verf lochten (entangled history). Ausdrücklich nicht gemeint ist ein Erbe im juristischen Sinne, das auch ausgeschlagen werden könnte. Eine über Jahrhunderte währende Kolonialgeschichte – vornehmlich vom christlichen Europa ausgehend – hat die Welt geprägt und bedarf daher einer gerade auch multiperspektivischen Aufarbeitung. Prämisse sollte dabei das Ziel sein, die verschiedenen Positionen aufzudecken, die es heute angesichts der gemeinsamen Erfahrung einer heterogenen und geteilten Geschichte gibt. In diesem Zusammenhang spricht man im Englischen von 2 Durch die Corona-Pandemie-bedingte Schließung des Focke-Museums – Bremer Landesmuseums für Kunst und Kulturgeschichte ergab sich für mich als neue Direktorin die Idee und Möglichkeit, mit den Kolleg*innen aus den Bereichen Aufsicht und Reinigung eine Ausstellungs-AG II zu gründen (in der Ausstellungs-AG I arbeiteten bereits die Kolleg*innen aus den Bereichen Wissenschaft und Vermittlung an der Entwicklung einer neuen Sammlungsausstellung). In dieser Arbeitsgruppe werden die Erwartungen an das Museum der Zukunft aus der Nutzer*innen-Perspektive zusammengetragen. Mein besonderer Dank für die Inspiration zu diesem Text geht daher an Esengül Bakici, Joyce Boyks, Erhan Buğdayci, Rita Fehsenfeld, Marlena Grzanna, Ute Pesara-Krebs, Christa Schorfmann und Berrin Yildiz-Klose.
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shared history. Denn dies hat konkrete Auswirkungen auf die Weiterentwicklung Europas und das Verhältnis zu Menschen und Regierungen aus anderen Weltgegenden – und vice versa. Nachfahr*innen von einst versklavten Menschen formulieren andere Interessen und Ansprüche an Erinnerungspolitik als diejenigen, deren Vorfahr*innen z.B. durch den Kolonialhandel (sehr) reich wurden. Es kann heute nicht alleine um die Frage einer möglicherweise ›vererbten‹ Schuld gehen, die wieder gut gemacht werden könnte. Vielmehr müssen die Ausbeutungsstrategien analysiert und individuelle Emotionen zu dem Thema zur Kenntnis genommen und in einen Austausch gebracht werden. Mit Blick in die Zukunft gilt es, gemeinsam dafür einzutreten, dass die Allgemeinen Menschenrechte und die Grundwerte der Französischen Revolution, Freiheit, Gleichheit und Solidarität, tatsächlich für alle Menschen Geltung erlangen und als unteilbar verteidigt werden. Denn dies sind die Errungenschaften der Europäischen Auf klärung, die paradoxerweise in der Zeit des sich etablierenden Kolonialismus entwickelt wurden und heute die Attraktivität des Lebens in Europa ausmachen – zumindest für die meisten Menschen weltweit, unabhängig von dem Regierungssystem, in dem sie leben. Diese Diskrepanz ist ein wesentlicher Faktor für heutige Migrationsbewegungen – neben Naturkatastrophen und ökonomischer Ungleichheit. Vor diesem Hintergrund legen postkoloniale Theoretiker*innen wie Dipesh Chakrabarty großen Wert darauf, dass die Idee der Auf klärung nicht originär europäisch zu verorten sei, sondern als ein in einem globalen Entwicklungsprozess entstandenes historisches Faktum begriffen werden müsse (Chakrabarty 2010), das wiederum untrennbar mit der Entstehung von Rassismus verbunden ist. Angesichts dieser grundlegenden Bedeutung des Themas und seiner globalen Dimension nehmen insbesondere Museen als geborene Archive von Kunst- und Kulturobjekten eine besondere Rolle ein. Sie entstanden in der Zeit des Kolonialismus, ihre Sammlungen spiegelten häufig den kolonialen Blick auf außereuropäische Weltgegenden. Zugleich dienten sie so der Konstruktion eines sich als kulturell überlegen definierenden europäischen Selbst. Sie sind nicht nur historischer Wissensspeicher, sondern sie haben seit ihrer Gründung die prominente Funktion, Orte der Ref lexion von Geschichte und Gegenwart zu sein. Postkoloniale Museologie nimmt Museen im Kontext einer verf lochtenen Weltkulturengeschichte in den Blick. Zudem geht es nicht nur um Objekte aus außereuropäischen Gegenden oder inter-
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kulturelle Ansätze, sondern vornehmlich um veränderte Perspektiven auf den klassischen Kanon der sogenannten europäischen Kunst- und Kulturgeschichte. Das Präfix Post bei dem Wort Postkolonialismus meint die Phase nach dem expliziten Kolonialismus; untersucht werden insbesondere seit der Mitte des 20. Jahrhunderts dessen Langzeiteffekte, deren Wirkspuren noch heute lebendig sind (Castro Varela/Dhawan 2020). Viele globale Krisen sowie eurozentrische, aber auch rassistische Denkweisen gehen auf die Zeit des Kolonialismus zurück. Die ursprünglich in den Literatur- und Geschichtswissenschaften entwickelten postkolonialen Theorien haben inzwischen auch in die praktische Museumsarbeit Eingang gefunden. So eröffnete ein schlichter Satz in der Ausstellung Thomas Gainsborough (1727-1788) – die moderne Landschaft (2018) in der Hamburger Kunsthalle eine neue Dimension auf diese heute wenig modern erscheinende Kunst. Es wurde in einem Wandtext darauf hingewiesen, dass die Gemälde zur Zeit des voranschreitenden Kolonialismus entstanden. Mit dieser Information werden sie nicht mehr nur aus der perspektivischen Blickrichtung der englischen Oberschicht auf die Landschaft im 18. Jahrhundert wahrgenommen. Ihr Verständnis im Kontext der damaligen Globalgeschichte eröffnet alternative Sichtweisen und mutige Brückenschläge in die Gegenwart: Zäune weisen auf Gutsbesitz hin, Bauern als Produzenten kommen nur marginal vor, es ist die Zeit der beginnenden Industrialisierung, und Großbritanniens Aufstieg lässt sich wesentlich auf die Versklavung von Menschen und den Kolonialismus zurückführen. Dieses Beispiel zeigt, dass es gar nicht immer um tiefgehende Spezialanalysen gehen muss, sondern bereits das Setzen bisher nicht gemachter Bezüge das historische Material in einem neuen Licht erscheinen lässt. Dadurch werden Identitätsbildungen jenseits des konstruierten Dualismus ›wir/die Anderen‹ möglich, etwa durch die Feststellung länderübergreifender Ausbeutungsmechanismen. Denn es ist eine Tatsache, dass Kultur zwar eine Gemeinschaft kennzeichnet, also insbesondere durch Lebensformen, Denkformen, Wertesysteme, Glaubensrichtungen und Traditionen, die Definition ihrer Grenzen – wo eine bestimmte Kultur auf hört und eine andere anfängt – aber kaum möglich ist. Denn die Übergänge sind immer polykausal und nie monokausal zu begreifen, d.h., hier treffen Gegensätze aufeinander, entstehen Krisen und InFrage-Stellungen, wodurch gerade in diesen energiegeladenen Übergangszonen Kreativität und Innnovation besonders groß sind. Daher widmet sich beispielsweise die von Sanjay Subrahmanyam entwickelte connected history
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(Subrahmanyam 1997: 735-762) oder die von Monica Juneja vertretene Globale Kunstgeschichte (Juneja 2011: 274-297) vornehmlich mikrohistorischen Analysen kultureller Übergänge.
Der Umgang mit dem kolonialen Erbe – ein internationaler Aushandlungsprozess Die Aufarbeitung der Kolonialgeschichte durch Analyse der damaligen Machtasymmetrie zwischen Europa und Afrika sowie durch das Aufdecken ihrer bis heute nachwirkenden Folgen war in Deutschland seit den 1980erJahren in erster Linie ein Anliegen von Schwarzen Aktivist*innen (Oguntoye et al. 2006),3 weißer solidarischer Initiativen sowie einzelner Schwarzer und weißer Wissenschaftler*innen. Viktoria Schmidt-Linsenhoff sprach noch in den 2000er-Jahren von einem zögerlichen postcolonial turn in den Wissenschaften (Schmidt-Linsenhoff 2002: 7-16). Inzwischen gehören postkoloniale Theorien, black studies und critical whiteness studies zum Kanon kritischer Geisteswissenschaften. Vielfältig sind die dahinterstehenden Interessen und Fragestellungen, teilweise widersprüchlich ihre Aussagen und Handlungsempfehlungen. Man würde der Intention des Themas nicht gerecht, setzte man in diesem Feld Prioritäten. Es hat sich als hilfreich erwiesen, das Themenfeld selbst als Mosaik zu begreifen, an dem jeder und jede mit dem eigenen Erkenntnisinteresse und der eigenen Kompetenz arbeitet und sich dabei nur als ein Steinchen im Gesamtgefüge begreift, allerdings unter der Voraussetzung, den Nachfahr*innen der einst versklavten Menschen ein unvoreingenommenes »Prä« einzuräumen. Weiterhin lässt sich schnell feststellen, ob eine weiß oder Schwarz positionierte Person spricht bzw. schreibt; angesichts von mehreren Jahrhunderten Kolonialgeschichte ist dies wenig verwunderlich. Auf beiden Seiten sind große Emotionen vorhanden, die kaum unterschiedlicher sein könnten. Kritische weiße Personen etwa haben ein großes Interesse daran, sich durch die Aufarbeitung der ›Tätergeschichte‹ eben von dieser zu distanzieren und durch Erinnerungsarbeit ihre persönliche Verurteilung vergangenen Unrechts zum Ausdruck zu bringen. 3 In diesem Kontext hat sich die Großschreibung von ›Schwarz‹ als Selbstbezeichnung mit Widerstandspotential etabliert. Die kursive Kleinschreibung von ›weiß‹ soll dem Gegenüber das Unbewusste dieser Kategorie widerspiegeln.
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Schwarze Menschen sind stärker daran interessiert, Schwarze Geschichte sichtbar zu machen, in den Kanon einzuschreiben und heutigen Alltagsrassismus zu thematisieren. Achille Mbembe schreibt: »Auf den ersten Blick besteht die schwarze Vernunft also aus einer Vielzahl von Stimmen, Aussagen und Diskursen, Kenntnissen, Kommentaren und Sottisen, deren Objekt das Ding oder die Menschen ›afrikanischer Herkunft‹ bilden, und aus dem, was angeblich deren Name und Wahrheit ist (die Attribute und Eigenschaften, das Schicksal und dessen Bedeutung als empirischer Ausschnitt der Welt). Diese aus mehreren Schichten zusammengesetzte Vernunft reicht mindestens bis in die Antike zurück. […] Die Moderne spielt in ihrer Entstehung jedoch eine zentrale Rolle, und zwar einerseits aufgrund der Berichte der Reisenden und der Forscher, der Soldaten und Abenteurer, der Kaufleute, Missionare und Kolonisten; andererseits aufgrund der Schaffung einer ›Kolonialwissenschaft‹, deren letzter Nachkomme die ›Afrikawissenschaft‹ darstellt.« (Mbembe 2014: 61-62) Auf diesen »ersten Text« des europäischen Blicks antwortet nach Mbembe ein »zweiter Text«, der das afrikanische Ich ins Zentrum stellt, als Schritt der Emanzipation und des Wiederauf baus, wobei »Geschichtsschreibung sich mehr denn je als Akt moralischer Phantasie« (Ebd.: 65) erweist. Die Funktionsweise des Kolonialismus basierte auf einer Verstaatlichung des Biologischen. Die Historie einer augenscheinlichen bewertenden Ungleichheit ist tief in die Menschheitsgeschichte eingeschrieben. Insofern sind in Deutschland für weiße und Schwarze Menschen auch heute noch ungleiche Startbedingungen für Bildungserwerb und Berufswahl, individuelles Selbstbewusstsein und gesellschaftlicher Anerkennung gegeben: »Wie Fanon und vor ihm schon W.E.B. Dubois gezeigt haben, kann derjenige, der seiner Fähigkeit, für sich selbst zu sprechen, beraubt ist, sich selbst stets nur als einen ›Eindringling‹ denken oder zumindest als jemanden, der im sozialen Bereich allenfalls als ›Problem‹ erscheinen kann.« (Ebd.: 211) Die grundlegend unterschiedlichen, sich aber im Verlauf der Geschichte immer mehr verf lechtenden weißen und Schwarzen Perspektiven lassen sich inzwischen weniger einzelnen Kontinenten zuordnen; vielmehr treffen sie in der globalisierten Welt an verschiedenen Orten direkt aufeinander. Vielleicht lässt sich so die derzeit zu beobachtende Diskrepanz erklären, dass es deutschen Museen leichter zu fallen scheint, mit sogenannten Herkunftsge-
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sellschaften von Kunst- und Kulturobjekten über Rückgaben und/oder Kulturkooperationen zu verhandeln.4 Schwieriger scheint es ihnen hingegen zu fallen, mit in Deutschland lebenden afrikanischen Communitys und einzelnen Schwarzen Menschen derart zusammenzuarbeiten, dass diese nicht nur bereichernde Kooperationspartner*innen, sondern Teammitglieder im Museum werden und ihre Perspektiven als integrale Bestandteile der deutschen Gesellschaft anerkannt und berücksichtigt werden. Immer noch werden viel zu häufig die ›anderen‹ Perspektiven auf Geschichte und Gegenwart von weißen Amtsinhabern als ›falsche‹ Ausbildung, ›Sprachbarriere‹ oder subjektive Wahrnehmung missinterpretiert. Weiterhin fehlt es an einem gesamtgesellschaftlich getragenen politischen Willen zu einer Versöhnung und der Akzeptanz der Migrationsgesellschaft als gegebener Realität.
Kritische Weißseinsforschung in der praktischen Museumsarbeit Im Jahr 2017 zeigte die Bremer Kunsthalle die Ausstellung Der blinde Fleck. Bremen und die Kunst in der Kolonialzeit (Binter 2017). Als eine erste Plakatidee im Raum stand, wurde ich um eine Einschätzung gebeten. Die Intention war es, im öffentlichen Raum mit einem positiven Bild Schwarzer Menschen zu werben. Ausgewählt worden war das Porträt eines Südseebewohners von Emil Nolde. Als weiße Wissenschaftlerin hatte ich dabei ein »komisches Bauchgefühl« und verwies auf das Afrika Netzwerk Bremen. Die Plakatidee stieß dort auf große Ablehnung, der Halsring des Dargestellten wurde mit der Versklavung von Menschen assoziiert. In einem intensiven Prozess erarbeiteten Kunsthalle und Afrika Netzwerk ein neues Plakatmotiv. Es wurde eine Liegende mit dunkler Körperfarbe von Ernst Ludwig Kirchner, deren 4 Im Jahr 2019 haben sich Bund und Länder auf die grundsätzliche Absicht geeinigt, Kunstund Kulturobjekte sowie menschliche Überreste aus kolonialen Kontexten an die Herkunftsländer zurückzugeben. Vgl. https://www.kmk.org/fileadmin/pdf/PresseUndA kutelles/2019/2019-03-25_Erste-Eckpunkte-Sammlungsgut-koloniale-kontexte_final (14.2.2021). Warum die Umsetzung weniger einfach ist als sie auf den ersten Blick erscheint, diese Frage böte genug Stoff für einen eigenen Aufsatz. Zu dieser Problematik und den entsprechenden Empfehlungen des Deutschen Museumsbundes vgl. https://www.mu seumsbund.de/publikationen/leitfaden-zum-umgang-mit-sammlungsgut-aus-kolonia len-kontexten/ (14.2.2021).
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Geschlecht bewusst mit dem Textfeld »Blinder Fleck« bedeckt wurde. Dieses Beispiel zeigt, dass heute Multiperspektivität unverzichtbar ist (Bayer et al. 2017). »Gut gemeint« kann oft danebengehen. Als Wissenschaftler*innen haben wir immer nur eine sehr eingeschränkte Weltsicht, die durch unsere persönliche Sozialisierung geprägt ist. Die Auseinandersetzung mit anderen Perspektiven, das Lernen über andere kulturelle Kontexte können den Dialog und die Konfrontation nicht ersetzen. Die Kritische Weißseinsforschung ist ein Instrument, um die Relativierung des weißen Selbst zu fördern, um das Hören anderer Positionierungen zu ermöglichen (Eggers et al. 2005). Ziel ist das Teilen von Definitionsmacht. Eine stärkere Öffnung, hin zum Publikum, eine kollaborative Weiterentwicklung der Institution Museum werden zunehmend Teil eines neuen Selbstverständnisses im Museumswesen. Inwiefern dies nicht nur als pädagogisches Mitmachen im Institutionsrahmen verstanden wird, sondern auch ein bewusstes Schaffen neuer Freiräume für ein gesellschaftspolitisches Mitgestalten im Sinne einer grundlegenden Transformation, wird in den nächsten Jahren kritisch zu überprüfen sein. Weiße Personen beschreiben sich über Alter, Geschlecht, Beruf, Religion, nicht aber in Bezug auf ihr Weißsein. Wenn sie betonen, das habe doch keinen Einf luss auf ihre Person, dann suggerieren sie Neutralität. Damit setzen sie zugleich Weißsein als universelle, neutrale Norm. »Rasse« wird dann als nur Schwarze Menschen betreffendes Problem definiert. Durch die unkritische Negierung des Unterschieds werden einerseits die eigenen strukturellen Privilegierungen und andererseits die alltäglichen Ausgrenzungs- und Diskriminierungserfahrungen von Schwarzen Menschen geleugnet. Meistens geschieht dies aus Unwissen oder sogar in wohlmeinender Absicht. Wenn dies nicht bewusst ref lektiert wird, kommt es dazu, dass grundlegende Verf lechtungen von Wissenschaft und Herrschaft nicht aufgedeckt werden können. Dann wird bestehendes gesellschaftliches Unrecht fortgeschrieben. Die Kritische Weißseinsforschung leistet als Theorie die Kritik der reinen weißen Perspektive und damit eine Dekonstruktion traditioneller (weißer) Sichtweisen. Konkreter ist sie eine Methode mit dem Ziel, die Perspektiven weißer Menschen von den Perspektiven Nicht-Weißer Menschen analytisch zu trennen, um diese gesondert zu Wort kommen zu lassen. Sie löst gleichsam die immer und jederzeit mitgedachte, wertende Verbindung von Hautfarbe und Menschsein auf und gestattet der Vernunft den freien Blick auf das Leben und die Gesellschaft; somit wird durch die Abstraktion die Tren-
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nung des Menschseins von der Hautfarbe erst ermöglicht und das Menschsein in seinem Verhältnis zur Hautfarbe auf neue Art und Weise denkbar. In der europäischen Kunstgeschichte dominiert die helle Körperfarbe nicht nur, sondern sie ist moralisch als das Richtige, Gute definiert. In der Renaissance wurde die Kunst helle Haut darzustellen zum Inbegriff des künstlerischen Könnens (Greve 2013: 195-205). Es wurde auch immer eine Minderheit mit dunkler Körperfarbe dargestellt. Die Farbe diente dabei zur Markierung von Differenz, zur Definition sozialer Rollen und/oder Herkunft. Eine theoretische Ref lexion dessen fand allerdings kaum statt. Insofern gilt es heute für ein diversifiziertes Publikum in europäischen Museen, mit diesem historisch gewachsenen, strukturellen Rassismus umzugehen, Angebote der Ref lexion zu machen, um eine Fortschreibung der Differenz zu brechen. Bis heute umstritten sind dabei die zunächst absolut erscheinende Definition zweier Gruppen und die Zusammenfassung Nicht-Weißer Menschen unter der Bezeichnung Schwarze Menschen. Im Verlauf der Anwendung auf verschiedene Sammlungsarten und Museumstypen hat sich gezeigt, dass die analytische Schärfe Differenzen nicht festschreibt, sondern auf löst. Vielmehr kann sie verstärkt zur Selbstkritik der Vernunft führen, wodurch es möglich wird, Brücken zwischen den Extremen zu bauen. Die Berichtigung der eigenen Erkenntnis wird auf diesem Wege motiviert zu einer verbesserten Wahrnehmung unterschiedlicher Lebensrealitäten in der Grauzone dazwischen. Plötzlich tauchen blinde Flecken in der Kommunikation und im Handeln auf, werden als solche erkannt, und ein gemeinsames Ringen um Positionen und das Entwickeln von Zukunftsperspektiven wird möglich. Wie oben ausgeführt, ist das grundlegende Prinzip der Kritischen Weißseinsforschung die eigene Haltung, sich nicht als neutral und wissend zu verstehen. Aufgrund der gegebenen Machtverhältnisse sind Schwarze Menschen von Geburt an gezwungen, sich mit der weißen Welt auseinanderzusetzen, sie zu analysieren, sich selbst in Bezug zu ihr zu setzen. Für weiße Menschen hat die Forschung verschiedene Phasen der Bewusstwerdung der Differenz definiert: 1. Phase: Verunsicherung. Das weiße Weltbild zerbricht mit der Erkenntnis, dass es nicht neutral ist. 2. Phase: Abwehr. Man möchte nicht wahrhaben, dass dem so ist. 3. Phase: Scham. Man schämt sich, es nicht gewusst zu haben und möchte eine Ausnahme sein, andere belehren. 4. Phase: Schuld. Man möchte wieder gut machen und wünscht sich, dass Schwarze Menschen einem verzeihen. 5. Phase: Anerkennung. Es wird die Differenz der Weltwahrnehmung akzeptiert. Weiße Personen sehen ihre
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eigenen Privilegien und nehmen strukturellen Rassismus in der Gesellschaft wahr (Ogette 2017). Sie können ihre Privilegien nutzen, um Macht zu teilen, in ihren Lebensbereichen aktiv zu werden, ohne andere zu belehren. Mit diesem theoretischen Hintergrund und praktischen Methodenwissen kann Kritische Weißseinsforschung im Museum zu grundlegenden Strukturveränderungen und Innovationen eingesetzt werden. Etwa bezüglich des wissenschaftlichen Selbst-Verständnisses, bei Stellenbesetzungen, bei der Arbeit mit historischen Werktiteln sowie Bildbeschreibungen und -interpretationen. In den vergangenen Jahren ist viel über die Notwendigkeit einer Sensibilisierung für diese Thematik nachgedacht und geschrieben worden. Nun ist die Zeit reif für eine konkrete Umsetzung der Erkenntnisse in die Vitrine. Niemandem wird dies durch eine Konzepterarbeitung »im stillen Kämmerlein« gelingen. Vielmehr ist der Mut zum Experimentieren und das Einholen von Feedback – insbesondere von Schwarzen Menschen – gefordert. Nur Nutzer*innen-Zentriertheit, Multiperspektivität und ein Selbstverständnis als lernende Institution im Sinne des Design Thinking wird uns weiterbringen. Die Installation (Un)Framed Narratives 2017 der Bremer Künstlerin Ngozi Schommers bringt das emotionale und kognitiv so komplexe Thema ästhetisch auf den Punkt: Weiße Menschen sind aufgefordert, die über Jahrhunderte gewachsenen stereotypen Vorstellungen von Schwarzen Menschen – die sich beispielsweise auf Verpackungen von Kakao und Kaffee manifestieren – zu überwinden, um in Kontakt mit den individuellen Porträts dahinter zu kommen. Erst dann kann ein ebenbürtiger Dialog stattfinden. Es braucht ref lexive Organisationen, die sich ihrer blinden Flecken im Sinne der Machtkritik bewusst werden bzw. bereit sind, sich diese von außen aufzeigen zu lassen, um als lernende Institutionen darauf zu reagieren und neue Themen und Aufgabenstellungen in ihre Arbeit aufzunehmen.
Literatur Bayer, Natalie/Kazeem-Kamiński, Belinda/Sternfeld, Nora (Hg.) (2017): Kuratieren als antirassistische Praxis, Berlin: De Gruyter. Binter, Julia (2017): Der blinde Fleck. Bremen und die Kunst in der Kolonialzeit. Ausst. Kat. Kunsthalle Bremen, Berlin: Dietrich Reimer Verlag. Castro Varela, María do Mar/Dhawan, Nikita (2020): Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung, Bielefeld: UTB (1. Auf l. 2015).
Postkoloniale Museologie als Innovationsförderung für die Museen der Zukunft
Chakrabarty, Dipesh (2020): Europa als Provinz. Perspektiven postkolonialer Geschichtsschreibung, Frankfurt a.M.: Campus Verlag (1. engl. Auf l. 2000). Dübgen, Franziska/Skupien, Stefan (Hg.) (2015): Afrikanische politische Philosophie. Postkoloniale Positionen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Eggers, Maisha et al. (Hg.) (2005): Mythen, Masken und Subjekte. Kritische Weißseinsforschung in Deutschland, Münster: Unrast-Verlag. Greve, Anna (2019): Koloniales Erbe in Museen. Kritische Weißseinsforschung in der praktischen Museumsarbeit, Bielefeld: transcript. Hall, Stuart (2018): Das verhängnisvolle Dreieck. Rasse, Ethnie, Nation, hg. v. Kobena Mercer, Frankfurt a.M.: Suhrkamp (1. engl. Auf l. 2017). Juneja, Monica (2011): »Global Art History and the ›Burden of Representation‹«, in: Hans Belting et al. (Hg.), Global studies. Mapping Contemporary Art and Culture, Ostfildern: Hatje Cantz, S. 274-297. Mbembe, Achille (2014): Kritik der schwarzen Vernunft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 61-62 (1. franz. Auf l. 2013). Ogette, Tupoka (2017): exit RACISM. rassismuskritisch denken lernen, Münster: Unrast-Verlag. Oguntoye, Katharina/Opitz, May/Schulz, Dagmar (Hg.) (2006): Farbe bekennen. Afro-deutsche Frauen auf den Spuren ihrer Geschichte, Berlin: Orlanda (1. Auf l. 1986). Schmidt-Linsenhoff, Viktoria (2002): »Kunst und kulturelle Differenz oder: Warum hat die kritische Kunstgeschichte in Deutschland den postcolonial turn ausgelassen?«, in: Postkolonialismus (= Jahrbuch Kunst und Politik, Band 4), Osnabrück: Universitätsverlag Rasch, S. 7-16. Subrahmanyam, Sanjay (1997): »Connected Histories. Notes towards a Reconfiguration of Early Modern Eurasia«, in: Modern Asia Studies, Nr. 31/3, S. 735-762.
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1. Umstrittene Räume: Museen zwischen Aktivismus und Abwesenheit Die wachsende gesellschaftspolitische Rolle von Museen wurde in jüngster Zeit1 in einigen Studien der interdisziplinären Museumsforschung besprochen (vgl. Carvill Schellenbacher 2017; vgl. Janes/Sandell 2019; vgl. Reilly/ Lippard 2018). Sie hebt den Charakter des Museums als Ort und Raum für sozialen Aktivismus und Ungehorsam hervor (vgl. Message 2014; vgl. Message 2018). Im Anschluss an diese Forschungen soll der folgende Beitrag einerseits konkrete Einblicke in Ausstellungsformate und Definitionsentwürfe bislang kaum beforschter aktivistischer Museen geben. Im Kontext dieses Sammelbandes bringt das aktivistische Museum potenziell neue Selbst- oder Institutionsverständnisse hervor, in denen sich Museen stärker in gesellschaftsbezogene Diskurse einbringen und Themen organisierter sozialer Bewegungen explizit auf die kulturpolitische Agenda setzen. Andererseits sollen einige konzeptuelle Leitplanken skizziert werden, wie das Ermöglichen, Darstellen und Dokumentieren von Konf likten in, durch und 1 D ie ursprünglich finale Fassung dieses Beitrag wurde im Dezember 2019 eingereicht. Aufgrund verzögerter Produktionsbedingungen des vorliegenden Sammelbandes konnten größere Umwälzungen im Laufe des Jahres 2020 wie die globale Black Lives Matter (BLM)Bewegung und Museumsangebote in der Corona-Pandemie in diesem Beitrag leider nicht ausführlich diskutiert werden. Meine eigenen vorübergehenden Gedanken hierzu finden Sie hier: http://artsoftheworkingclass.org/text/cultural-infrastructures-of-vulnerability-ii oder spezifisch zu Museen und BLM-Aktivismus: https://www.museumnext.com/article/ how-have-museums-responded-to-the-black-lives-matter-protests/
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aus Museen einen Beitrag zu gesamtgesellschaftlichen Debatten für eine politischere Museumslandschaft leisten könnten. Mit einem zugrundeliegenden Verständnis von Konf likt als produktiv, omnipräsent und letztlich unabdingbar für eine lebend(ig[er])e Demokratie tritt das aktivistische Museum somit als politischer öffentlicher Raum in Erscheinung. Kurz gesagt: Es geht mir um die Erarbeitung eines konf likttheoretischen Verständnisses von Museen mit einem spezifisch raumtheoretischen Fokus. Gesellschaftliche Umbrüche wie Globalisierung, Digitalisierung und politische Trends, die sich aktuell zwischen Konsensdemokratien und dem Erstarken linker sowie rechter Populismen bewegen, spiegeln sich auch in Museen wider. Museen nehmen in dieser politischen Stimmung teils explizit aktivistische Positionen ein, teils bleiben sie auffällig abwesend in der Debatte um lokale und globale politische Herausforderungen. Museen wie das Van Abbemuseum im niederländischen Eindhoven initiieren neue politische Räume: Dort wurde 2018 die Ausstellung »Museum als Parlament« eröffnet. Die Aktion des niederländischen Künstlers Jonas Staal in Kollaboration mit der heutigen demokratischen Föderation Nord- und Ostsyrien Rojava erschuf ein neues Parlament für die Öffentlichkeit(en) im Museum (vgl. Van Abbemuseum 2018). Nach der ersten Ausführung des Projekts »Democratic Self-Administration of Rojava« im Jahre 2016 beauftragte das Museum Staal später mit einer weiteren Variation des Projekts. Dank institutioneller Förderung wurden zwei Parlamente im/für das Museum geschaffen: Das eine versammelte sich in der Stadt Dêrik im autonomen Westkurdistan Rojava, das andere Parlament war im niederländischen Museum aufzufinden. Ziel der Aktion sei es laut dem Van Abbemuseum gewesen, Museumsbesucher*innen neue Formen, Möglichkeiten, Vorstellungen und Praktiken von Demokratie aufzuzeigen, diese zu diskutieren und so eine gesamtgesellschaftliche Aktivierung für mehr Demokratie anzustoßen (ebd.). Durch den Ankauf von Videomaterial und Architekturmodellen aus der ersten Projektphase verhalf das Van Abbemuseum der Initiative nicht nur zu öffentlicher Sichtbarkeit, sondern ermöglichte auch die langfristige Dokumentation der Aktion. Neben diesem aktivistischen Engagement von Kurator*innen in der Realisation zeitgenössischer Ausstellungen mit dringlichen Themen (vgl. Reilly/Lippard 2018) verleihen auch die Archivierung und Erstellung historischer Rückschauen aktivistischer Kämpfe in Ausstellungen dem Museum eine Rolle als Komplizin in sozialen Bewegungen. Beispielsweise bot das Zentrum für Kunst und Medientechnologie (ZKM) in Karlsruhe 2013 und 2014 mit der Ausstellung »Global
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aCtIVISm« eine international beachtete Bühne für künstlerisch-aktivistische Praktiken und Taktiken des 21. Jahrhunderts (vgl. Weibel/Altay 2015). Ausbeuterische Arbeitsverhältnisse im Guggenheim in New York brachten Aktivist*innen im wahrsten Sinne des Wortes ans Licht, als sie mit Video-Projektionen Slogans wie »Ultra Luxury Art – Ultra Low Wages« an die Fassade des Museums warfen (vgl. Dunne 2016). Bündnisse wie Decolonize this Place (vgl. Decolonize this Place 2019), eine Vereinigung mit Zielen der Black Liberation, die sich für Rechte indigener Gruppen, ein freies Palästina, global gerechte Löhne für (Kultur-)Arbeiter*innen und gegen Gentrifizierung einsetzt, kritisierten zuletzt in mehrmonatigen Interventionen im Whitney Museum die Besetzung von Vorstandsposten mit moralisch fragwürdigen Unternehmer*innen. Die Decolonize this Place-Aktivist*innen drängten auf den Rücktritt des finanzkräftigen Vizevorsitzenden Warren Kanders, dessen Firma Safariland Tränengas-Kanister herstellt und exportiert, die unter anderem in militarisierten Konf likten wie an der US-amerikanisch-mexikanischen Grenze oder im türkischen Gezi-Park-Protest verwendet wurden. Institutionsübergreifend organisierten sich Kulturakteur*innen aus Museen, Theatern, Galerien, Kunsthochschulen, Kulturveranstalter*innen und Abbildung 1: Protest im Whitney Museum, 2019 (Quelle: Creative Commons)
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zivilgesellschaftliche Organisationen aus dem Kulturbereich zu Donald Trumps Inauguration am 20. Januar 2017, und riefen zum sogenannten J20 Kulturstreik beziehungsweise eintägigem Boykott auf (vgl. ef lux 2017). Unter dem Motto »Close for the Day. Hit the streets. Bring your friends. Fight back.« wollten Kulturschaffende und -manager*innen einen Kampf gegen »die Normalisierung des Trumpismus – eine toxische Mischung aus weißer Vorherrschaft, Frauenfeindlichkeit, Fremdenhass, Militarismus und oligarchischer Regierung« (ebd., eigene Übersetzung) markieren. Durch den Aufruf zur Schließung von Galerie- und Museumsräumen, Geschäften und Schulen sollte der Öffentlichkeit zeitweise physischer und digitaler Raum von und für Kultur entzogen werden. Diese Entziehung des eigenen kulturellen Angebots als Form des Streiks haben auch andere aktivistische Organisationen von Künstler*innen, wie die Berliner Koalition der Freien Szene angewendet, um durch temporäre Sichtbarkeiten und Unsichtbarkeiten öffentliche Aufmerksamkeit zu mobilisieren (vgl. Landau 2015). Aus diesen exemplarischen Schlaglichtern internationaler Proteste in und um Museen wird ersichtlich, dass die Beziehungen zwischen Museen, aktivistischen Gruppen kultureller Arbeiter*innen, zivilgesellschaftlicher Aktivist*innen und deren Räumen politischer Forderungen vielfältigste Formen des Konf likts annehmen können. Anhand des Beispiels in Eindhoven sehen wir, wie Raum und Ressourcen von Seiten der Museumsinstitution für geplante Ausstellungs- und Diskussionsformate über Gerechtigkeit, Demokratie, Politik und Diversität zur Verfügung gestellt werden können. Im Fall des Guggenheim oder des Whitney wird deutlich, wie Museumsräume teilweise ungefragt von Aktivist*innen in Anspruch genommen und besetzt werden, um Kritik an Politiken der (Re)Präsentation, Museumsführung oder -finanzierung zu üben (vgl. Robertson 2019). Im Beispiel des J20 Streiks steht der (angedrohte) Entzug von Raum der Kultur-, Bildungs- und Museumseinrichtungen im Vordergrund. Einerseits könnte das temporäre Verschwinden oder die vorübergehende Unsichtbarkeit widerständiger Stimmen Populisten wie Trump noch mehr Raum überlassen, weil Ausstellungsräume und Aufenthaltsorte, die normalerweise Platz für gesellschaftliche Kritik darbieten, verschlossen bleiben. Andererseits ist diese Form des Protests beziehungsweise die selbstgewählte, strategische Selbstaufgabe auch überwältigend in der Bedingungslosigkeit ihrer Kritik an Populismus, Rassismus, Xeno- und Homophobie. Vorläufig sollen diese Raumstrategien der Zurverfügungstellung von Museumsraum, der Besetzung von Ausstel-
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lungsräumen und des Entzugs physischer und digitaler Räume aufzeigen, wie umstritten Museumsräume sind, sein können und vielleicht sogar sein soll(t)en. Sicherlich gibt es auch andere Raumpraktiken, um Protest und Museum zusammenzubringen. Die einführenden Beispiele liefern keinen erschöpf lichen Überblick, sollen aber das Museum der Zukunft exemplarisch als Raum und Aushandlungsfeld politischer Positionen und Konf likte skizzieren. Museen stehen also vor einer Fülle räumlicher Herausforderungen: In urbanen Kontexten erzeugen beispielsweise steigende Mieten Druck auf private Ausstellungshäuser, auch fehlende finanzielle Mittel für Sanierungen öffentlich getragener Häuser können für diese zum Verhängnis werden. Raum wird knapper und teurer. In ländlichen Regionen kämpfen Museen mit Besucher*innenschwund und dem ungreif baren Phänomen der Digitalisierung, welches den physischen Museumsbesuch vielleicht nicht länger lohnenswert erscheinen lässt, Originale in ihrer einzigartigen Wirkung redundant macht oder durch die Gleichzeitigkeit von Erlebnis und Kommentar (Stichwort Twitter und Instagram) überhaupt nicht up-to-date daherkommt. Hinzu kommt ein sich langsam wandelndes Bewusstsein mit räumlichen und sammlungspolitischen Konsequenzen, wie beispielsweise Reaktionen auf die berechtigten Forderungen nach umfangreichen Rückgaben von kolonial erworbenen Kunstobjekten. Würden diese Restitutionen konsequent umgesetzt, würden Sammlungen und Dauerausstellungen einiger prominenter Museen sich stark verändern. Restitutionsaktionen wie die des Stuttgarter Linden-Museums, welches 2019 nach über 100 Jahren Besitz Objekte des Widerstandskämpfers Hendrik Witbooi an die namibische Regierung zurückgab (SWR 2019), markieren die politische Positionierung eines Museums, die Ähnlichkeit mit den oben skizzierten aktivistischen Aktionen von Museen in aktuellen politischen Konf likten hat. Wohlgemerkt brachte dieser Versuch der Versöhnung auch neue Konf likte mit sich, war die Rückgabe an die Regierung doch von der Familie des Widerständlers kritisiert worden. Neben den politischen und räumlichen Auswirkungen auf Sammlungen sind auch Bewahrung und Schutz von Kulturerbe-Stätten umstritten, die durch menschengemachte Umweltzerstörung, Kriege oder terroristische Angriffe bedroht werden. Kurz: Konf likte über, in und um Museen scheinen überall zu erscheinen.
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2a. Umstrittene Positionen: Museen als Austragungsort von Konflikten Innerhalb der multiplen raumbezogenen Herausforderungen möchte ich in diesem Beitrag das Wechselverhältnis von Museumsräumen und Konf likten in den Blick nehmen. Meine Vorannahme ist einerseits, dass Museumsräume immer inmitten und durch vielschichtige Konf likte entstehen. Ich möchte diskutieren, wie Museumsmacher*innen einen offen(er)en Umgang mit Konf likten als Triebfeder für Museumsinnovationen nutzen können. Mein Verständnis von Innovation ist dabei nicht ökonomistisch zu verstehen, als solle Konf likt als Ressource oder Allheilmittel für »krankende« Museen herhalten oder kapitalisiert werden. Vielmehr ist mein Verständnis von Innovation ein politisches oder politisierendes. Meine Argumentation wird daher die Konf likthaftigkeit von Räumen beziehungsweise Institutionen wie Museen als öffentliche Räume in den Vordergrund stellen, deren konkrete Nutzung, Bedeutung und Zugänglichkeit umstritten sind. Innovationen im Museum können dann entstehen, wenn diese Konf likte nicht versteckt, verschüttet, verleugnet oder verdrängt werden, sondern als notwendige und legitime Dimension des Museums betrachtet werden. Konf likte haben in dieser Ansicht etwas Gespenstisches an sich; sie sind nie ganz zu greifen, zu verstehen, geschweige denn zu lösen. Beim Begriff des Gespenstischen beziehe ich mich auf Derrida (1994), und versuche, Bewegungen zu beschreiben, die im Museum umherspuken: Verschiebungen der Bedeutungen von Gebrauchs- und Nutzwerten, Irritationen ebendieser Kategorien, Spaltungen, Umkreisungen und Verschränkungen zwischen Vergangenheit und Gegenwart, das Infragestellen von Zeitlichkeiten und vermeintlichen Wahrheiten (vgl. Sternfeld 2018). Anhand eines konkreten Museums zeige ich auf, wie Konf likte beispielsweise über Bedeutung, Zugang und (Re)Präsentation im Museum nicht als Problem, beschwerendes Gepäck oder unangenehmer Ausnahmezustand wahrgenommen werden, sondern als wesentlicher Bestandteil des Museums begriffen und erlebbar gemacht werden. Anhand des Conf lictorium – Museum of Conf lict in Ahmedabad in der indischen Region Gujarat diskutiere ich, wie Konf likte als Materie oder matter im Museumskontext verhandelt werden. Mein Fokus auf die Verf lechtung von Museum, Raum und Konf likt repositioniert das Museum als öffentlichen Raum beziehungsweise öffentliches Gut der (Ver-)Sammlung (vgl. Krasny 2017).
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Mit einem Verständnis von Konf likt als produktiv, irreduzibel und notwendig für ein politisches Verständnis des Museums als Ort, der immer schon politisch war, kommt dies (wieder) stärker zum Vorschein. Diese Sichtbarmachung ist jedoch keine definitive Enthüllungsgeschichte, in der das Museum schließlich ein Konsensraum werden würde. Stattdessen ist eine Konf liktperspektive auf das Museum ein ambivalentes, ungeordnetes, gar unordentliches Unterfangen, das nie endet und in dem nie alle zufrieden sind oder sein werden. Trotzdem geht es nicht um konfrontative Konf likte, in denen Freund*innen und Feind*innen versuchen, sich gegenseitig auszuschalten, sondern um agonistische Formationen eines gezähmten Konf likts unter Wettstreiter*innen, die sich gegenseitig als freie und gleiche Agent*innen respektieren (vgl. Mouffe 2005; vgl. Landau 2019). Im Museumskontext sind die Wettstreiter*innen extrem divers, mit unterschiedlichen Machtkonstellationen und Zugangsmöglichkeiten der Inanspruchnahme und Gestaltung von Raum ausgestattet. Aus den oben skizzierten verschiedensten Umgangsweisen mit Museumsräumen schöpfend fokussiere ich mich darauf, wie das Fallbeispiel Conf lictorium konf liktbehaftete Beziehungen zwischen Museum, Raum und verschiedenen Publika (bzw. der so schwer zu beforschenden Gruppe der Nicht-Besucher*innen) auslotet. Über die konkrete Einzelfallbesprechung hinausgehend verfolge ich das Projekt, ein konf likttheoretisches Verständnis von Raum zu erarbeiten (vgl. Landau et al. 2021). Ich argumentiere, dass das zugrundeliegende Raumverständnis im konkreten Museumskontext alle Beteiligten des Museums (von Kurator*innen, Besucher*innen bis hin zu Ausstellungswärter*innen) betrifft und deren Museumserlebnis oder körperlich-räumliches Erleben des Museumsraums verändern kann. Ich möchte sowohl für Museumsbeteiligte wie Kulturmanager*innen, Kurator*innen, Künstler*innen und Vermittler*innen, Besucher*innen als auch interdisziplinäre Museumsforscher*innen ein Bewusstsein von Museen als politische Akteur*innen schärfen. Dieses in sich selbst politische Vorhaben zielt zunächst auf die Frage, was ein Museum überhaupt ist.
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2b. Umstrittene Geschichte(n): Ringen um (Re)Präsentationen Museen sind Orte der Macht und Disziplinierung (vgl. Bennett 2009; vgl. Kirshenblatt-Gimblett 2005; vgl. Witcomb 2003), von Konsum, Kommerz, Vermarktung von Identitäten beziehungsweise Streit um Identitäten (vgl. Baur 2013). Zudem sind Museen auch Orte von Bildung, Forschung, Pädagogik, Versöhnung, Erleben und Erkenntnis (vgl. Henkel 2013). Die Kernaufgaben des Museums changieren in ihrem Bildungsmandat zwischen Darstellung, Information und Vermittlung aber auch Prägung und Sensibilisierung von Welt-, Menschen- und Naturbildern. Joachim Baur deutet das Museum »nicht nur als Spiegel gesellschaftlicher Machtverhältnisse, sondern auch als Ort ihrer Produktion und Reproduktion« (Baur 2013: 38). Das Museum ist also nicht nur Ref lektor und damit repräsentativ-wiedergebende Instanz, sondern auch Gestalter und Impulsgeber von politischen Themen, sowie Plattform und Raum, der von Aktivist*innen erobert und (wieder)angeeignet wird. Für die Diskussion über zukunftsorientierte Formate und Ansätze von Museen eröffnet sich so ein Verständnis vom Museum als gesellschaftlicher und politischer Ort für und von Öffentlichkeit. Mit anderen Worten: Das Museum ist ein öffentlicher Ort und Raum, in dem sich unterschiedlichste gesellschaftliche Gruppen begegnen (können). Bereits in James Cliffords bekanntem Essay »Museums as Contact Zones« wird das Museum als Austragungsort von Konf likten markiert (vgl. Clifford 1999). Nora Sternfelds jüngste Veröffentlichung »Das radikaldemokratische Museum«, eine Essaysammlung über die demokratietheoretische Einbettung des Museums und kritischer Kulturvermittlung, nimmt diesen Gedanken der Kontaktzone auf und stellt ihn in die Tradition politischer Theorien des Konf likts (vgl. Marchart 2013; vgl. Mouffe 2005, vgl. Mouffe 2013; vgl. Sternfeld 2018). Die Kontaktzone wird so zur Konf liktzone. Aus der radikaldemokratischen Tradition von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe (vgl. 2001) schöpfend, diskutiere ich in der Debatte um Zukünfte von Museen im Folgenden die Kategorie Konf likt als hilfreiches analytisches wie praktisches Werkzeug. Die konf likttheoretische Perspektive soll Anregungen geben, über die Rolle von Museen als öffentliche Institutionen nachzudenken – insbesondere vor dem Hintergrund der (De- oder Post-)Politisierung von Identitätserzählungen oder vielfach beschworenen Politikverdrossenheit verschiedener gesellschaftlicher Gruppen. Anders als öffentliche Einrichtungen, die
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Dienstleistungen sozialer Daseinsvorsorge bereitstellen oder Aufgaben des Sozialstaats übernehmen, sind Museen jedoch auch Gestalter ihres eigenen Status als öffentliche Institutionen. Hier offenbart sich eine komplexe, wenn nicht paradoxe Stellung der Museen: Sie sind einerseits öffentliche Orte, Institutionen, Infrastrukturen, andererseits sind sie freier als andere öffentliche Einrichtungen in der Ausübung und Interpretation des öffentlichen Auftrags. Während Management-Ansätze und Neoliberalisierung vor öffentlichen Einrichtungen wie Krankenhäusern, Wohnungsgesellschaften, Ämtern oder Kindergärten nicht Halt machen, und auch Museen davor keineswegs gefeit sind, haben Museen zwischen Kunstfreiheit und diversen Modellen der Finanzierung und Programmgestaltung aber auch den expliziten Auftrag, wie die Definition des International Council of Museums zeigt, im Dienst der Gesellschaft und deren Weiterentwicklung zu agieren (vgl. ICOM Deutschland 2019). Ich verstehe diesen öffentlichen Auftrag als politische Handlungsanweisung an Museen, Ort und Raum für die Aushandlung potenziell kontroverser Positionen zur Verfügung zu stellen. Wie dieser Auftrag ausgeführt und ausgefüllt wird, bleibt offen und umstritten. Ein wichtiger Aspekt der Positionierung von Museen im konf likttheoretischen Rahmen ist deren Bezug zu Geschichte(n). Ein konf liktsensibles Verständnis von Geschichte betrachtet diese nicht als abgeschlossenen oder absoluten Ausdruck von Macht und Bedeutung. Stattdessen begreife ich Geschichte als relational mit Gegenwart und Zukünften verwobenes, stets neu zu artikulierendes materiell-diskursives Gefüge. Sowohl Vergangenheit und Gegenwart haben durch ihre vielseitigen Erzählungen etwas Gespenstisches, geistern doch immer (noch) nicht erzählte Geschichten von einzelnen Schicksalen und Erfahrungen von Schmerz, Glück, Gewalt und gelebter Realität in Köpfen, Körpern, Orten und historischen, legalen und religiösen Dokumenten umher, die im Museum gegebenenfalls nicht alle dargestellt oder erzählt werden können. Anstatt diese Unmöglichkeit der vollständigen (Re)Präsentation jedoch als Anlass fürs Nichtstun oder als Entmutigung aufzunehmen, verstehe ich ebendiese Unabgeschlossenheit zeitlicher und narrativer Geschichte(n) als Möglichkeit, neue Erzählungen, Bilder, Machtund Bedeutungskonstellation zu erschaffen. Sternfeld sieht Museen in diesem Sinne als Versammlungsräume, in denen »Leute sich anhand von Dingen und Geschichten an die Vergangenheit im Hinblick auf ein Verständnis der Gegenwart und eine andere mögliche Zukunft erinnern« (Sternfeld 2018: 4). Das Museum beschäftigt sich mit sich selbst als Teil von Gemein-
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schaftsbildung. Die (Ver)Sammlung und gemeinsame Auseinandersetzung über zerstrittene Geschichte(n) ähnelt, mit Bettina Messias Carbonells Worten, einem Palimpsest, das stets Spuren seiner eigenen historischen Wurzeln, (Vor)Geschichten, Werte, ästhetischen Konturen und Konf likte in sich trägt (vgl. Carbonell 2012). Über die Repräsentation von Geschichte(n) hinausgehend, bezeichnet Baur das Museum jenseits seiner konkreten Örtlichkeit als »epistemologische Struktur, die eine Vielzahl von Ideen, Bildern und Institutionen umfasst[e]« (Baur 2013: 20). Aus diesen »Umkreisungen« des Museumsbegriffs, wie Baur es nennt, ergibt sich ein Umriss des Museums als konf liktbehaftetes Phänomen der (Ver)Sammlung mit historisch konstruierten Wurzeln, die permanent hinterfragbar sind und bleiben (vgl. Baur 2013). Dies ist sowohl für die Zukunft von Museen als auch für zukunftsfähige Museen relevant. Der folgende Abschnitt geht diesem Umriss eines gespenstischen und widerspenstigen Museums weiter nach, und setzt ihn mit bestehenden Verständnissen und Definitionen von Museen ins Verhältnis.
2c. Umstrittene Definitionen: Kleinster gemeinsamer Nenner vs. das gespenstische Nichts Laut dem 1946 gegründeten International Council of Museums (ICOM Deutschland 2019) ist ein Museum »eine dauerhafte Einrichtung, die keinen Gewinn erzielen will, öffentlich zugänglich ist und im Dienst der Gesellschaft und deren Entwicklung steht. Sie erwirbt, bewahrt, beforscht, präsentiert und vermittelt das materielle und immaterielle Erbe der Menschheit und deren Umwelt zum Zweck von Studien, der Bildung und des Genusses.« In dem Bewusstsein, dass diese Definition überarbeitet werden muss, die sich auf die fünf Kriterien von Sammlung/Erwerb, Bewahrung, Forschung, Präsentation und Vermittlung von Kunst konzentriert, wurde vom ICOM Anfang 2017 ein sogenanntes Committee for Museum Definition, Prospects and Potentials (MDPP) einberufen, um eine zeitgemäße Museumsdefinition zu entwickeln (vgl. Committee for Museum Definition, Prospects and Potentials 2019). Im August 2019 rief ein Vorstoß von Jette Sandahl, der dänischen Vorsitzenden ebenjener Arbeitsgruppe, große Kritik hervor: Der neue, zu-
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nächst informelle Entwurf band die demokratisierende Funktion von Museen sowie ihren Beitrag zur Förderung von Menschenwürde, sozialer Gerechtigkeit, Diversität, konf liktueller Geschichte(n) und Zukünfte sowie das Wohlergehen des Planeten in die Definition mit ein (vgl. Small 2019). Museumsvertreter*innen hielten diesen Definitionsvorschlag für »zu politisch«, und waren der Meinung, Museen könnten dieser Definition in der Praxis nur schwer gerecht werden (ebd.). Die Abstimmung über die neue Definition wurde im September 2019 auf unbestimmte Zeit vertagt (vgl. ICOM 2019b). Obwohl Sandahl bei der Definition eines Museums vor den »Gefahren einer Universalisierung« warnt (Sandahl 2019: 6) und den Wert von Leerstellen in Definitionen betont, kreisen einige Museumsdiskurse dennoch weiter um strukturelle Ähnlichkeiten oder das, was ›das Museum‹ im Innersten zusammenhält. Beispielsweise verengte das 16. Internationale Bodensee-Symposium der ICOM-Nationalkomitees von Deutschland, Österreich und der Schweiz unter dem Titel »Museum: ausreichend – Die ›untere Grenze‹ der Museumsdefinition« die Status Quo-Debatte des Museums auf eine Kleinster-Gemeinsamer-Nenner-Definition und begreift die Problematik der Museumsdefinition »nicht als eine Liste möglicher Merkmale von Museen, sondern als Problem, Mindestmaße zu benennen, mit denen Definitionsbestandteile von allen Museen zu erfüllen sind« (Internationales Bodensee-Symposium 2018: 2). Während die Ablehnung einer Positivdefinition berechtigt ist, erscheint ein negativ konnotierter Diskurs über Mindestmaße, -kriterien oder -standards ebenfalls kontraproduktiv, da diese Bewegungen weiterhin an einer Museumsdefinition festhalten und diese lediglich relativieren, schmälern oder verf lachen wollen (vgl. Gielen 2013). Obwohl das Spannungsfeld von Definitionsversuchen wahrscheinlich genauso alt ist wie Museen selbst (vgl. Cameron 1971), will der heutige Museumsdefinitionsdiskurs auf bedeutsame Unterschiede der Kontext- und Arbeitsbedingungen, Werte und Ausstellungspraktiken von Museen in diversen, sich rasch verändernden Gesellschaften eingehen, wie die ICOM-Initiative zur Neudefinition verdeutlichen soll. Im Zuge der Arbeit des MDPP hat der ICOM einen partizipativen Versuch gestartet, einen Dialog über das, was das Museum ist, zu initiieren. Durch den öffentlichen Aufruf, zur Definition eines Museums beizutragen, kamen über 250 Vorschläge in verschiedensten Sprachen weltweit zusammen (vgl. ICOM 2019a). Während die Debatte um eine neue offizielle Museumsdefinition von Seiten des ICOM eine Tendenz zur gesellschaftspolitischen Öffnung von Museen als umstrittene Orte anzeigt,
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bleibt das Bedürfnis, eine Definition zu erstellen, anscheinend bestehen. Anders gesagt: Sowohl die Ausdifferenzierung und Pluralisierung als auch die Absenkung von Standards und gemeinsamen Kriterien, verweisen letztlich beide Ansätze darauf, dass der Museumsdiskurs einer Essentialisierung des eigenen Gegenstands verhaftet bleibt. Im Folgenden möchte ich statt einer besseren, aktuelleren oder umfangreicheren Museumsdefinition einen Blick auf Museen ausführen, welcher sie nicht durch das bestimmt, was sie angeblich sind, sein wollen oder sollen, sondern nach dem schaut, was Museen tun. Anhand von politischen Theorien von Konf likt möchte ich die Streitigkeit des Museums als Objekt und Ort in den Vordergrund bringen und somit letztlich das, was ein Museum sei zugunsten einer konf likttheoretischen Betrachtung radikal in Frage stellen (vgl. Blank/Debelts 1997; vgl. Sternfeld 2018). Nachdem ich mithilfe einiger Theoretiker*innen und Definitionsansätze skizziert habe, wie Museen ihren Status als öffentliche und politische Räume ref lektieren, wende ich mich einem konkreten Museum zu, welches diese vielleicht allzu abstrakt erscheinenden Konf likt-Konzepte ent- und begründet, sich aneignet oder einfach: den Konf likt lebendig macht.
3. Konfliktraum Museum in Aktion: Das Conflictorium, Ahmedabad, Indien Umgeben von einem hinduistischen Tempel, einer Moschee, einer christlichen Kirche und Ahmedabads erster Handelshochschule steht das zweigeschossige Conf lictorium, Museum of Conf lict, mitten im Spannungsfeld säkularer und religiöser Institutionen. Ahmedabad ist bekannt für Konf likte zwischen Hindu*istinnen, die 82 Prozent der Einwohner*innen Ahmedabads ausmachen, und 14 Prozent Muslim*e und Muslim*a, die zuletzt 2002 gewaltsam ausbrachen (vgl. Bobbio 2015). Avni Sethi, die ursprünglich aus Ahmedabad stammt, war in ihren Zwanzigern und frischgebackene Absolventin der Bangalore Design-Hochschule, als sie im Jahr 2013 die sogenannte Gool Lodge, einen ehemaligen Haarsalon, übernahm. Avni ist seit Anbeginn künstlerische Leiterin des Conf lictoriums mit einem stets wechselnden Team von Kurator*innen und Künstler*innen; zudem seit Kurzem Leiterin einer eigenen Artist-in-Residency im Conf lictorium, die Künstler*innen im oberen Geschoss Arbeiten und Leben vor Ort ermöglicht. Als Teil der im Osten ge-
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legenen Altstadt von Ahmedabad, die heute im Gegensatz zur westlich gelegenen Neustadt wenig entwickelt ist, liegt das rund 90 Jahre alte Gebäude der Gool Lodge des heutigen Conf lictorium in der Nachbarschaft Mirzapur, der bei Bewohner*innen der Neustadt ein schlechter Ruf vorauseilt. Der Sabarmati-Fluss trennt die Stadtteile nicht nur räumlich, sondern entfernt sie auch gedanklich voneinander. Der Fluss habe sich in »eine Grenze verwandelt, die die heruntergekommene, arme Minderheit [der Altstadt; Anm.d.A.] von der modernen, gut dastehenden Mehrheitsgesellschaft [der Neustadt; Anm.d.A.] trennt« (Conf lictorium Facebook Page 2019). Dieses Vorurteil, welches nicht notwendigerweise auf Gegenseitigkeit beruht, drückt sich laut Avni bei Neustadtbewohner*innen, die das Conf lictorium besuchen, folgendermaßen aus: »Sie kommen auf die andere Seite, sie kommen ins Ghetto. Sie entdecken das Ghetto und sehen, dass es gar kein so furchtbarer Ort ist, und das Vieles davon in ihren Köpfen ist.« (Interview Sethi 2019, eigene Übersetzung). Kurz gesagt hat das Conf lictorium als Ort »eine spezifische Geopolitik«, wie Avni es treffend auf den Punkt bringt (ebd.). Ist es ebendiese spezifische Geopolitik, die sowohl im nachbarschaftlichen Raum als auch in Ausstellungspraktiken des Conf lictoriums verhandelt wird, die das vermutlich weltweit erste Konf likt-Museum zur Keimzelle und zum Nährboden vielschichtiger Konf likte macht? Abbildung 2: Conf lictorium, Innenansicht, Ausstellung Empathy Alley 2019 (Quelle: Conf lictorium)
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Avni definiert das Conf lictorium bewusst als Museum, obwohl es weder mit der indischen Kunstszene noch mit am internationalen Kunstmarkt orientierten Galerien viel zu tun hat. Auch eifert es repräsentativen Museen wie dem National Museum in Neu-Delhi nicht nach. Blicken wir wieder auf die nach wie vor bestehenden Museumsdefinitionskriterien des ICOM (vgl. ICOM Deutschland 2019) – Sammlung/Erwerb, Bewahrung, Forschung, Präsentation und Vermittlung – und wenden diese auf das Conf lictorium an: Das Museum besitzt auf den ersten Blick keine historische Kunst- oder Objektsammlung im engeren Sinne. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich jedoch eine Sammlungsfunktion in partizipativen Ausstellungsformaten wie dem Sorry Tree (»Baum der Entschuldigung«) oder dem Memory Lab (»Labor der Erinnerung«), die Spuren, Eindrücke und Geschichten von Besucher*innen sammeln und langfristig als Installationen ausstellen (vgl. Conf lictorium 2019). Neben der sich überschneidenden Sammlungs- und Bewahrungsfunktion ist auch die Vermittlung und Präsentation mit dieser ständig wachsenden Sammlung im Conf lictorium verwoben. Die Besucher*innen kommen nicht vorrangig als Konsument*innen von Geschichte und werden in eindeutigen Vermittlungsformaten mit Geschichte konfrontiert, sondern werden auch als Ko-Produzent*innen eigener Geschichten über Geschichte(n) angerufen und einbezogen. Die Stimmen und Erzählungen der Besucher*innen zeigt das Conf lictorium nicht als Dekoration oder Anhang – sondern als Herzstück von Ausstellungen. Andere Projekte wie die Conf lict Timeline (»Zeitstrahl des Konf likts«), Moral Compass (»Moralischer Kompass«) oder Empathy Alley (»Gasse des Mitgefühls«) verfolgen einen expliziteren Vermittlungsanspruch über die Geschichte von Gewalt und Unterdrückung in der Provinz Gujarat seit den 1960er Jahren (in Conf lict Timeline), die indische Friedens- und Unabhängigkeitsbewegung (in Empathy Alley) und die Entstehung der indischen Verfassung seit 1949/50 (in Moral Compass; vgl. Conf lictorium 2019). Besucher*innen können in dieser Ausstellung den längsten Verfassungstext der Welt anfassen, das Kennenlernen von Freiheitskämpfern wie Ghandi oder Ambedkar erfolgt über Silhouetten und deren Stimmen im Raum. Der Ausstellungstext der Gallery of Disputes (»Galerie des Streits«) ist emblematisch für das Konf liktverständnis des Conf lictoriums: »Während Konf likt unangenehm ist, wird unser Wegschauen Konf likt nicht entfernen. Der erste Schritt des Heilens einer Wunde ist, sie zu akzeptieren und anzuerkennen.« (Conf lictorium 2019) Laut Nayan Patel, Sozialarbeiter bei der Nichtregierungsorganisation
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Janvikas, welche die Gründung des Conf lictorium finanziell unterstützte und das Gebäude zur Verfügung stellte, liegt eine Funktion des Museums in der »Bereitstellung gewaltfreier Narrative« (Interview Patel 2019). So soll das offene Thematisieren politischer und sozialer Konf likte Raum für Verständigung und das Kennenlernen anderer, potenziell kontroverser Perspektiven geben. Auch wenn das Conf lictorium bislang nicht alle Nachbar*innen im Museum begrüßen konnte, helfen die Kinder der Nachbarschaft mit, ihre Eltern als Besucher*innen ins Museum zu bringen, wenn die Kinder das Auditorium für eigene Theateraufführungen oder Tanzshows in Anspruch nehmen. Der offene Outreach-Ansatz macht das Museum dann zu dem Ort, den die Nachbarschaft braucht, ohne dass das kuratorische Team dies vorher konkret geplant oder koordiniert hätte, oder hätte können. Avni begreift »das Erschaffen von Institutionen selbst als einen Modus von sozialer Transformation und Gerechtigkeit« (Interview Sethi 2019). Anstatt sich in bestehende Definitionen einzupassen, liegt im Erschaffen anderer Institutionen, anderer Museen vielleicht die Zukunftsfähigkeit des Conf lictoriums. Weiterhin erinnert das Institutionsverständnis des Conf lictoriums an Andrea Frasers (2005: 7; eigene Übersetzung) Aussagen zu institutioneller Kritik: »Es ist keine Frage des ›gegen‹ die Institution: Wir sind die Institution. Es ist eine Frage, welche Art von Institution wir sind, welche Werte wir institutionalisieren, welche Praktiken wir belohnen und nach welcher Anerkennung wir streben.« Avni und ihr Team streben nach der Institutionalisierung von Konf liktbewusstsein und einer Sensibilität für das Zeigen, Anerkennen und Aushalten von Konf likt als institutionellem Wert. Wie Fraser weiter ausführt, sind Innen und Außen von Institutionen keine fixen oder substanziellen Kategorien, sondern vermischen sich im ständigen Werden, im steten Verhandeln über Status, Position und Bedeutung des Museums. Obwohl die Kämpfe um Finanzierung und knappe Ressourcen zur Umsetzung kuratorischer Visionen auch Überlebenskämpfe darstellen, sind Museen wie das Conf lictorium befreit von einem herrschaftlichen Erbe, das es zu bewahren gilt (auch wenn das Bewahren von Kulturgütern natürlich eine wichtige Aufgabe von einigen Museen bleiben wird). Stattdessen strebt Avni an, dass Besucher*innen »im Museum ihre Stimme finden, und für sich selbst im Museum sprechen
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können« (Interview Sethi 2019). Das Conf lictorium ermutigt zur Aneignung von historischen Konf likten, zum persönlichen Erfahren, Nachdenken und Positionieren über sonst oft als »versteinerte Konf likte« dargestellte Szenarien im Museum (Sternfeld 2018: 121). Die persönliche Geschichte kann im Museum erfahren, erlebt, gespürt werden; sie wird nicht ins Private zurückgedrängt, sondern offen im öffentlichen Raum des Museums verhandelt. Im Gegensatz zum Ansatz des ›versteinerten‹ Museums, der auch Assoziationen mit dem verstaubten oder stehengebliebenen Museum weckt, aktualisiert das Conf lictorium vielleicht eine Form des Museums als Verf lüssigung von Konf likten (vgl. Cameron 2013), zeigt ein Museum Konf likt als Material, Materie, matter, zentrales Merkmal, der Museen zu dem macht, was sie werden (und nicht dem, was sie angeblich sind). Konf likt eröffnet so neue Perspektiven auf die Erzählung und (Re-)Präsentation von Geschichte(n) in Museen. Konf likte werden schließlich nicht ausschließlich als abgeschlossene, unkontroverse historische Tatsachen oder Wahrheiten erzählt. Stattdessen werden sie als streitbare, komplizierte, immer noch lebendige, dringende und drängende Aussagen über unser Miteinander in multiplen Gegenwartsund Zukunftskonstellationen erlebbar. Dieser Vorschlag soll keineswegs mit der Leugnung von Geschichten von historischer Gewalt, Ausbeutung und Unterdrückung einhergehen, oder den hochgradig gefährlichen Diskurs um ›alternative Fakten‹ befeuern. Stattdessen sollen Konf likte in ihrer grundlegenden Vielstimmigkeit, Komplexität und der Offenheit gegenwärtiger und zukünftiger Entwürfe von Gemeinschaft und Politik erfahrbar werden.
4. Ausblick: Museen voller Gespenster? Nach dem sorgfältigen Abtragen verschiedener Konf liktkonstellation in, durch und über Museumsdefinitionen und Museumsräume bleiben viele Fragen offen. Ein Kurator oder eine Museumsleiterin mögen an dieser Stelle wissen wollen: Was machen wir jetzt? Wir können doch keine Ausstellungen machen, in denen ständig Konf likt Thema ist? Wohin mit unseren Sammlungen? Wie sollen wir denn Konf likte vermitteln, ohne sie lösen zu wollen? Wie vereinen wir das mit unseren Vorstellungen, und teils auch externen Vorgaben, über Bildungs- und Partizipationsangebote im Museum? Eindeutige Antworten auf diese Fragen wird es nicht geben. Ich habe im Gegensatz zum innovationsorientierten Kulturmanagement, welches oft vorrangig positive
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Visionen und Beispiele der Herstellung diverser und partizipativer Museen anstrebt, vorgeschlagen, einen konf likttheoretischen Blick auf Museumsräume und -definitionen zu wagen. Betrachtet man Konf likt als notwendige Dimension für relevante und politische Museen der Zukunft, können neue Ausstellungs-, Sammlungs- und Versammlungspraktiken entstehen. Auch hierbei geht es nicht um eine konkrete Definition, sondern vielmehr um ein offenes Bekenntnis für das Ermöglichen und Aushalten von Konf likten. Diese Haltung kann also sowohl als Anlass zur Verständigung und Klärung dienen, dass nicht alle Entscheidungen im Museum immer allen gefallen können (und vielleicht auch nicht gefallen sollten, wenn agonistische Konf likte beibehalten werden sollen). Letztlich habe ich versucht, aufzuzeigen, dass Meinungsverschiedenheiten und Kontroversen sowohl Quelle als auch Resultat von Museumsinnovationen sein können. Abschließend möchte ich ausblickende Fragen aufwerfen, die zeigen sollen, inwiefern meine konzeptuellen Überlegungen konkrete Entscheidungsprozesse im Museum aufrütteln und mobilisieren können: • Was verändert sich für wen, wenn Konf likte im physischen und gedachten Ausstellungsraum mehr Raum einnehmen? Wessen Konf likte sind es, wer fühlt sich potenziell gestört und wer fühlt sich potenziell nun vom Museum angesprochen/gehört? • Was bedeutet es finanziell, emotional und architektonisch Konf likten im Museum mehr Raum zu geben? • Wie fühlt es sich an, zu langbestehenden Konf likten einen persönlichen Bezug aufzubauen? Wie können persönliche Bezüglichkeiten für diverse Publika vermittelt werden? Welche Risiken geht das Museum wirklich damit ein, aber auch: Welche Chancen für Gespräch, politische Aktion und Allianz entstehen aus der Öffnung für Konf likte? • Was wollen Museen ausstellen – und was nicht? Was für Konsequenzen haben Sichtbarkeit, Unsichtbarkeit, Ab- und Anwesenheiten von Macht, Objekten und Diversität für ein Museum als öffentlichem und politischem Ort? Ganz im Sinne einer Haltung, die Konf likte begrüßt, riskiere ich die offene Flanke, die diese Fragen hinterlassen mögen. Die Debatten um die Zukünfte von Museen, oder Museen der Zukunft, wird vielleicht unbequemer, vielleicht unordentlicher – es kommen neue Fragen, Perspektiven, Probleme,
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Akteur*innen ins Museum. Aber wenn Museen auf diesen Wegen zu Orten der gelebten Auseinandersetzung über Öffentlichkeit, Geschichte(n) und Repräsentation werden, denke ich, dass sich diese Unordnung lohnt.
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Die Zukunft im Museum ausstellen? Reinhold Leinfelder
1. Einleitung »Nur wer die Vergangenheit kennt, hat eine Zukunft« – dieses Zitat von Wilhelm von Humboldt ist gerade in Museumskreisen überaus geläufig (z.B. Fuchs 2010), dokumentieren doch Museen gerade auch diese Vergangenheit. Die Gegenwart wird damit insbesondere als Produkt abgelaufener Prozesse gesehen. Die Kenntnis dieser Prozesse wird als zukunftsrelevant betrachtet, Museen fördern also durch Kenntnisse von Vergangenheit und Gegenwart die persönliche Zukunftskompetenz ( futures literacy, vgl. Miller 2018). Die hohe Komplexität der Abläufe vergangener Zeiten wird traditionellerweise in spartenbasierte Museen aufgeteilt und isoliert behandelt. So zählen planetare und erdsystemare Abläufe, sowie die Erläuterung geologischer und biologischer evolutionärer Prozesse und Produkte zu den Kernthemen naturkundlicher Museen. Technische Innovationen auch längst vergangener Zeiten finden sich in Technikmuseen. Aufarbeitung, Veranschaulichung und Diskurs kultureller, sozialer und politischer Prozesse stehen bei den vielen Arten der historischen Museen im Fokus, um nur einige wesentliche Typen zu nennen (vgl. u.a. Leinfelder 2007, 2009, 2012; Leinfelder/Xylander 2012 für Naturkundemuseen sowie weitere Artikel in Graf/Rohdekamp 2012). Die Rolle des Menschen nicht nur bei kulturell-technischen, sondern auch bei Naturprozessen sowie zunehmend auch die heutigen und zukünftigen planetaren Auswirkungen menschlichen Handelns treten ebenfalls immer stärker in den Fokus, häufig in Form von Sonderausstellungen. Exemplarisch genannt seien
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nur die ab 2012 tourende Ausstellung Endstation Meer? Das Plastikmüll-Projekt1, die Willkommen im Anthropozän-Ausstellung2 am Deutschen Museum, München (Dez. 2014-Sept. 2016) oder die Artefakte-Ausstellung3 am Museum für Naturkunde Berlin (Okt. 2018-Sept. 2019). Manche naturkundlichen Häuser haben den Menschen schon seit langem mit im Museumsnamen, etwa das Landesmuseum Natur und Mensch in Oldenburg, oder das Museum Mensch und Natur in München (welches nun zum Biotopia4 transformiert, wobei das menschliche Tun wiederum von hoher Bedeutung sein wird)5. Bedeutet futures literacy nun aber auch, dass Museen die Zukunft vorhersagen können und diese gar durch Ausstellungen vorwegnehmen sollten? Der bewusst provokante Titel dieses Beitrags könnte dies vermuten lassen. Natürlich haben weder Zukunftswissenschaften, noch Museen die Fähigkeit in die Glaskugel zu sehen und die Zukunft exakt vorherzusagen. Allerdings bestehen gerade auch für Museen die Möglichkeiten, verschiedene Zukunftsszenarien, also verschiedene wahrscheinliche, mögliche und dann hoffentlich auch wünschbare »Zukünfte« (sensu futures) zu skizzieren und sie »auszuprobieren«. Ziel ist die Förderung der futures literacy und damit der generellen Bereitschaft, sich mit der Zukunft zu beschäftigen, sich auf Zukunftsdiskurse einzulassen, nach möglichen Zukunftswegen zu suchen und diese dann aktiv zu beschreiten.
1 U.a. Zürich 2012 https://www.plasticgarbageproject.org/zurich, Hamburg 2012/13 https:// www.mkg-hamburg.de/de/ausstellungen/archiv/2013/endstation-meer.html, Hongkong 2015/16 https://hk.science.museum/ms/ots2015/eintroduction.html, Turin 2018/19 https:// www.plasticgarbageproject.org/turin und viele weitere, siehe https://www.plasticgarba geproject.org 2 https://www.carsoncenter.uni-muenchen.de/events_conf_seminars/exhibitions/anthro pocene/index.html 3 https://www.museumfuernaturkunde.berlin/de/museum/ausstellungen/archiv-sonder ausstellungen/artefakte 4 https://www.biotopia.net/de/ 5 Inwieweit sich die Forschungs- und Sammlungsausrichtung der Häuser dazu ebenfalls ändern wird, bleibt abzuwarten und ist nicht Thema dieses Artikels. Vgl. hierzu Graf et al. (2012), das inzwischen beendete Förderprojekt »Forschung in Museen« der Volkswagenstiftung: https://www.volkswagenstiftung.de/unsere-foerderung/unser-foerderangebot-im-ueberblick/forschung-in-museen, sowie Publikationen des Instituts für Museumsforschung: https://www.smb.museum/museen-und-einrichtungen/institut-fuer-museumsforschung/forschung/publikationen.html
Die Zukunft im Museum ausstellen?
Interdisziplinarität und systemisches Denken sind hierbei unabdingbar. Bislang versuchen dies Museen meist über thematische Sonderausstellungen zu erreichen – wie etwa über Bionikausstellungen in Technikmuseen sowie über Tier- oder Pf lanzenzucht- und Umweltschutzausstellungen in naturkundlichen Häusern. Dauerhaft ist umfassende Interdisziplinarität allerdings eher selten angelegt und findet sich vor allem in manchen Mehrspartenhäusern. Zwischen den einzelnen Spartenmuseen werden erfreulicherweise zunehmend gegenseitige thematische Andockstellen eingerichtet. Manche Museen umfassen auch deutlich größere Themenbereiche und integrieren diese zu einem transdisziplinären Großthema, wie etwa das Übersee-Museum in Bremen, das Klimahaus in Bremerhaven, das Ozeaneum in Stralsund oder das Deutsche Bergbau-Museum Bochum. Dennoch sind zumindest auch in den Köpfen potenzieller Besucher die Spartenklischees von Museen vorhanden – in einem Naturkundemuseum werden von vielen Besucher*innen große Dinos, Paradiesvögel und Meteoriten erwartet, in einem Technikmuseum möglichst alte Autos, etwas zur Raumfahrt, sowie natürlich »coole« Roboter. Museen beteiligen sich auch in immer größerem Ausmaß mit Diskussionsrunden, Vortragsreihen, Artikeln oder öffentlichen Auftritten an zukunftsrelevanten Fragestellungen. So wurde die ScientistsForFuture-Bewegung als Unterstützung der FridaysForFuture-Schülerstreiks federführend von Biodiversitätsinformatiker Gregor Hagedorn vom Museum für Naturkunde Berlin initiiert (Hagedorn et al. 2019a,b). In diesem Museum gab und gibt es viele Gesprächsrunden zwischen Schüler*innen und Wissenschaftler*innen6. Viele ähnliche Beispiele könnten aufgezählt werden. Kann aber ein Museum die Zukunft nicht nur diskutieren und eventuell mögliche Handlungsoptionen ref lektieren, (vgl. Leinfelder 2007, 2010), sondern darüber hinaus auch ausstellen? Zwar wird dazu schon länger aufgerufen (z.B. Leinfelder 2012), aber ist das Museale – noch ein weiteres Klischee – nicht vor allem zur Aufarbeitung und Präsentation von Vergangenem gedacht? Sicherlich kann man aus der Vergangenheit für die Zukunft lernen, aber kann man die Zukunft auch präsentieren, sie also vorwegnehmen? Und wie sähe es mit der Authentifizierung aus? Originale gibt es ja noch nicht. Kann man Zukunft inszenieren? Müsste man sie dann nicht doch vorhersagen können? 6 https://www.museumfuernaturkunde.berlin/de/presse/pressemitteilungen/berlinernaturkundemuseum-unterstuetzt-weiter-friday-future-dialog
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Das hat ja noch nie geklappt, oder etwa doch? Nur drei Beispiele missglückter Prognosen seien erwähnt:7 • »Die weltweite Nachfrage an Kraftfahrzeugen wird eine Million nicht überschreiten – allein schon aus Mangel an verfügbaren Chauffeuren.« (Gottlieb Daimler, ca. 1900) • »Dieses ›Telefon‹ hat zu viele Mängel, als dass es ernsthaft als ein Kommunikationsmittel betrachtet werden kann.« (Telegrafenmonopolist Western Union Memo, 1876) • »Das Erdöl ist eine nutzlose Absonderung der Erde – eine klebrige Flüssigkeit, die stinkt und in keiner Weise verwendet werden kann.« (Akademie der Wissenschaften, St. Petersburg, 1806) Tatsächlich gibt es aber auch viele Beispiele, bei denen die Vorhersagen, insbesondere wenn sie von Zukunftsforscher*innen getroffen wurden, deutlich korrekter waren, zumindest in ihrer generellen Aussage. Die Zeitlichkeit der Vorhersage technologischer Entwicklungen war allerdings in der Regel unscharf bzw. falsch, da die soziale Komponente der Implementierung derartiger Techniken meist ungenügend berücksichtigt wurde (etwa bei der umfassenden Studie der US-Rand-Corporation der 1960 Jahre zur Technikentwicklung, bei der technologische Entwicklung, wie Erkundung erdnaher Planeten oder autonomes Fahren grundsätzlich korrekt vorhergesagt wurden, wegen der fehlenden Einbindung des sozialen Kontextes der Zeitpunkt der Umsetzung allerdings fast immer falsch war, vgl. Hellmer 1966; Opaschowski 2009; Popp 2012). Ein weiteres Problem der Vorstellbarkeit der Zukunft ist unser ganz unterschiedlicher, oft sehr emotionaler Bezug dazu. So nähert sich jeder, je nach beruf lichen und persönlichen Interessen und Erfahrungen, der Zukunft, wenn überhaupt, ganz unterschiedlich an: • Eine ganze Generation ist mit Science-Fiction-Comics und -Filmen aufgewachsen, die ja tatsächlich etliches vorweggenommen, wenn nicht gar 7 Aus einer Installation in der Sonderausstellung »Willkommen im Anthropozän – Unsere Verantwortung für die Zukunft der Erde«, am Deutschen Museum, Dez. 2012-Sep. 2016, verwendete Zitate fide Deutsches Museum. Für Abbildungen dazu siehe auch Leinfelder (2014a, Teil 3, Abb. 5). Vgl. auch Hehmerin (2016).
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getriggert haben, etwa kabellose Telefone, Roboter, digitale Assistenten, selbstfahrende Autos, Virtual Reality und vieles mehr (vgl. Steinmüller 1995, 2016, sowie viele Beiträge in Böhn/Metzner-Szigeth 2018). • Geolog*innen und Paläontolog*innen denken auch schon mal weit voraus in die Zukunft, dann aber gerne gleich 20-200 Millionen Jahre, so wie dies etwa bei der unter paläontologischer Fachberatung produzierten BBC-ZDF-Serie »The Future is Wild« geschah (Adams et al. 2002). Dort evolvierten unter bestimmten, plausiblen Annahmen manche Fische tatsächlich zum Dauerf lieger oder Riesenkraken zu an Land gegangenen Top-Räubern. Auch die Gruppierung der Kontinente zu einem weiteren einzigen Megakontinent in 250 Millionen Jahren ist basierend auf der möglichen Weiterführung bisheriger Prozesse durchaus plausibel. Die Geo-Kolleg*innen sind dabei auf der sicheren Seite, denn den Reality Check in 200 Millionen Jahren müssen dann andere vornehmen. • Andere denken beim Thema Zukunft eher an die politisch-gesellschaftlichen Herausforderungen, darunter vielleicht auch an die Umweltherausforderungen, wie sie etwa durch die 17 UN-Ziele für nachhaltige Entwicklung (UNSDGS 2015) und das Konzept der planetaren Grenzen (Rockström et al. 2009; Steffen et al. 2015) adressiert werden. • Und wenn die Wirtschaft davon schwärmt, die Zukunft würde dank Digitalisierung wunderbar, da uns Roboter und digitale Assistenten die ganze Arbeit abnehmen werden, bekommen viele eben doch ein beklemmendes Gefühl, was aus dem persönlichen Arbeitsplatz werden könnte (z.B. Groll 2016). Auch im Bildungssystem wird das Denken in kreativen Visionen oder Utopien bisher eher wenig trainiert. Kein Wunder, dass uns die Zukunft also wolkig erscheint. Die Zukunft ist eben kaum vorstellbar, da sie von zu vielen unvorhersagbaren Unabwägbarkeiten abhängig ist. Daher sehen wir uns oft lieber nach hinten um und verklären dabei schon gerne mal die Vergangenheit (siehe z.B. Leinfelder 2015). Ist nicht genau dies auch ein Antrieb ins Museum zu gehen, – dem »Musentempel«, so die Originalbedeutung (Pape 1914) – um dort Kunstwerke, Naturwunder, Kulturen und menschliche Technik vergangener Zeiten zu genießen, vielleicht sogar darin zu versinken, um das Hier und Jetzt, aber eben auch diese unklare Zukunft kurz zu vergessen? Zukunft museal? Ein Widerspruch an sich?
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Dass dies nicht so sein muss, sondern dass sich Museen zwingend mit Zukunftsaspekten auseinandersetzen müssten und diese auch in Form von Ausstellungen und weiteren Formaten darstellen sollten, dass insbesondere sie ein Potenzial haben, Zukunftsszenarien vorstellbar zu machen, soll im Folgenden näher ausgeführt werden. Dazu sind drei Voraussetzungen von Wichtigkeit, denen sich Museen verstärkt widmen sollen und können: • ein verbessertes systemisches Verständnis, wie alles mit allem zusammenhängt, und wie wir dabei insgesamt vom Erdsystem abhängig sind, gerade auch in der Zukunft: Das in Natur-, Technik-, Sozial-, Kultur-, und Geisteswissenschaften derzeit intensiv diskutierte Konzept des Anthropozäns erscheint hierzu besonders geeignet, um diese Zusammenhänge gerade auch im musealen Kontext darstellen zu können. • die Sinnhaftigkeit, nicht nur über wahrscheinliche, sondern über mögliche und dabei insbesondere wünschbare Zukünfte zu verhandeln. • die Notwendigkeit, solche Zukünfte zu visualisieren, um sie besser vorstellbar zu machen und damit überhaupt erst die Grundvoraussetzung zu schaffen, sie wünschbar zu machen.
2. Die räumlich-zeitliche Vernetzung der Welt – Das Zukunftspotenzial des Anthropozäns Als Geburtsstunde des Anthropozän-Begriffs und darauf auf bauend des Anthropozän-Konzepts wird allgemein eine Tagung der Erdsystemwissenschaftler*innen im Jahr 2000 in Mexiko angesehen (siehe auch Crutzen/ Stoermer 2000). Der Begriff Anthropozän bedeutet wörtlich übersetzt »das menschlich Neue« oder auch »das menschengemachte Neue« und steht begriff lich in einer Linie mit der geochronologischen Unterteilung der jüngeren Erdgeschichte wie Pliozän, Pleistozän und Holozän. Das Anthropozän-Konzept erscheint besonders geeignet, um das Heute als Produkt der Vergangenheit in systemischer, vernetzter Sicht zu analysieren und daraus Zukunftsverantwortung abzuleiten. So stellt es das Heute als integrales Produkt vergangener Prozesse unterschiedlicher zeitlicher und räumlicher Skalierung dar. Die Erkennung der dahinterliegenden Mechanismen und Verknüpfungen ist notwendig, um verschiedenste Zukunftsszenarien sowie
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dahin führende Zukunftspfade zu generieren. Das Anthropozän-Konzept sei daher im Nachfolgenden kurz dargestellt. Erdsystemwissenschaftler untersuchen die Prozesse des Erdsystems und damit die Interaktion von Lithosphäre, Pedosphäre, Hydrosphäre, Biosphäre und Atmosphäre. Zunehmend wird auch die Rolle des Menschen (Soziosphäre bzw. Anthroposphäre) auf diese Natursphären und damit auf die Stabilität des Erdsystems untersucht. Diese Erdsystemanalyse bildet die erste konzeptionelle Ebene des Anthropozän-Konzepts. Die von den Erdsystemwissenschaftlern festgestellten menschlichen Eingriffe sind inzwischen geradezu von gigantischem Ausmaß: Der Mensch ist zu einem dominanten Erdsystemfaktor geworden, indem er die feste Erdoberf läche, die Ozeane und die Atmosphäre massiv verändert und regionale wie globale Wasser-, Sediment-, Klima- und Stoff kreisläufe dominiert, die biologische Vielfalt enorm dezimiert und die Organismen durch Dominanz der von ihm gezüchteten Nutzpf lanzen und Nutztiere homogenisiert (vgl. Bar-On et al. 2019, Ellis et al. 2013, Leinfelder 2017a,b, Waters et al. 2016, Williams et al. 2016, WWF 2018, IPBES 2019). So hat der Mensch bislang mehr als drei Viertel der eisfreien festen Erde umgestaltet – eine Urnatur ist kaum mehr vorhanden (z.B. Ellis/Ramancutty 2008, Waters et al. 2016, Williams et al. 2016, Leinfelder 2017a,b, auch für weitere Referenzen). Die Unterscheidung der Antagonisten Natur und Kultur löst sich damit auf. Heutige Naturlandschaften sind ganz überwiegend auch Kulturlandschaften. In den Meeren sieht es ähnlich aus. Die Überfischung hat gewaltige Ausmaße erreicht. Korallenriffe und andere marine Ökosysteme sind zusätzlich durch Meereserwärmung, Versauerung, Überdüngung sowie andere Schadstoffe gefährdet (z.B. WBGU 2013; Leinfelder/Haum 2016a). Das Ausmaß der Nutzung nicht nachwachsender Ressourcen wird zudem oft übersehen – so verwendet der Mensch längst nicht nur fossile Energieträger, deren Verbrennung den anthropogenen Klimawandel bedingt, sondern auch gigantische Mengen anderer Rohstoffe, wie Sand, Kalk, Eisenerze oder seltene Erden, um daraus Gebäude, Infrastrukturen, Geräte, Maschinen und Designobjekte zu produzieren. Erstellung und Betrieb dieser Produkte benötigen dann insgesamt wiederum gewaltige Energiemengen. Die Menschheit produzierte bislang 30 Billionen Tonnen an Technosphäre. 40 Prozent dieser Technosphäre befinden sich in und unter
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den Städten dieser Welt (Zalasiewicz et al. 2017a.)8. Andere technische Produkte, wie insbesondere Kunststoffe verteilen sich über die ganze Erde. Die Menschheit hat bisher insgesamt etwa 8,3 Milliarden Tonnen Kunststoffe produziert. Während die Vorkriegsproduktion minimal war und 1950 erst etwa 1,5 Millionen Tonnen global produziert wurden, stieg die jährliche Produktion auf nunmehr 368 Millionen Tonnen. Dies entspricht in etwa der Biomasse aller lebenden Menschen. 2,5 Milliarden Tonnen des produzierten Plastiks sind derzeit noch in Gebrauch. Weltweit betrachtet wird allerdings nur ein sehr kleiner Teil recycelt oder verbrannt, während etwa 4,9 Milliarden Tonnen, also ca. 60 % allen bislang produzierten Plastiks in die Umwelt gelangt sind, sei es in geologisch nicht dauerhaften Deponien oder direkt in die Umwelt auf Land und im Meer (Zalasiewicz et al. 2016; Geyer et al. 2017; Leinfelder/Ivar do Sul 2019; PlasticsEurope 2020, vgl. auch Leinfelder 2019). Obwohl also die Umwelteingriffe durch den Menschen zwar grundsätzlich gut untersucht und allgemein bekannt sind, werden deren globale Auswirkungen und vor allem auch die Unumkehrbarkeit der meisten dieser Prozesse jedoch immer noch weitgehend verdrängt. Dabei ist es schlichtweg eine Tatsache, dass die umweltstabile Zeit des Holozäns bereits hinter uns liegt. Das Erdsystem verändert sich rasant, die Gefahr eines Kippens in einen völlig neuen Status ist groß, insbesondere wenn es nicht gelingt, die anthropogene Klimaerwärmung auf global höchstens 2°C zu begrenzen, wobei selbst eine Erwärmung um »nur« 2°C bereits deutlich außerhalb der Spannbreite des Holozäns liegt. Die Hypothese des Anthropozän-Konzeptes besagt auch, dass die Menschheit das Erdsystem bereits in einer Weise verändert hat, welche diese Veränderungen unumkehrbar macht. Durch alle vorliegenden Daten scheint dies inzwischen leider bestätigt. Wie weit sich das neue Erdsystem von dem des Holozäns entfernt, ob es berechenbar bleibt oder in einen dem modernen Menschen völlig unbekannten HothouseStatus kippt, wird jedoch durchaus noch von unserem zukünftigen Handeln abhängen (Steffen et al. 2016, 2018). Daraus ergibt sich eine zweite konzeptionelle Ebene. Diese besagt, dass sich die Veränderungen des Erdsystems auch dauerhaft niederschlagen, also 8 Verteilt würde damit jeder Quadratmeter der Erdoberfläche, egal ob festländisch oder marin, mit etwa 50 kg Techosphärenmaterialien bedeckt sein, während jeder lebende Mensch, größenordnungsmäßig ebenfalls im Durschnitt bei 50 kg liegend, statistisch verteilt fast 70.000 Quadratmeter, also fast zehn Fußballfelder Raum hätte.
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geologisch überlieferungsfähige Signaturen in den heutigen und zukünftigen Sedimenten liefern werden. In der von der Internationalen Kommission für Stratigrafie eingesetzten Working Group on the ›Anthropocene‹ untersuchen Geolog*innen und weitere Erdsystemwissenschaftler*innen mit Unterstützung aus vielen weiterer Fachdisziplinen derzeit, inwieweit die Veränderungen des Erdsystems sich auch in veränderten und damit für das Anthropozän charakteristischen sedimentären Signaturen manifestieren. Dem Vorschlag von Nobelpreisträger Paul Crutzen folgend, würde dann die bislang letzte erdgeschichtliche Epoche, das nacheiszeitliche, global so umweltstabile Holozän auch formal von einem Anthropozän abgelöst werden. Der aktuelle Diskussionsvorschlag der Arbeitsgruppe (zu der auch der Autor dieses Beitrags gehört) legt die Grenze zwischen beiden Erdzeitepochen in der Mitte des 20. Jahrhunderts. Diagnostische Geosignaturen dafür wären radioaktiver Fallout der Atombombentests, die seit 1950 stark beschleunigte Zunahme von Technofossilien wie Plastik, elementarem Aluminium, industriellen Ascheteilchen, Betonfragmenten und vielen weiteren geologisch überlieferungsfähigen Geosignaturen unserer Wegwerfgesellschaften, die dauerhaft in die Sedimente eingebettet und überliefert werden (Waters et al. 2016; Williams et al. 2016; Zalasiewicz et al. 2017). Zusätzlich zu Geowisssenschaftler*innen, verwenden zunehmend auch Ökolog*innen, Historiker*innen, Soziolog*innen, Kulturwissenschaftler*innen und Künstler*innen den Begriff des Anthropozäns und beschreiben damit übergreifend sämtliche Aspekte der teils zerstörerischen anthropogenen Umweltveränderung.9 Dies führt zur dritten konzeptionelle Ebene des Anthropozäns. Diese skizziert die Hoffnung, dass die zur immensen geologischen Kraft gewordene Menschheit, die das Erdsystem an den Rand eines möglichen Kippens gebracht hat, auf der Basis ihres Wissens auch in der Lage sein sollte, die Erde gleichsam wissensgärtnerisch und das Vorsorgeprinzip beachtend so zu gestalten, dass wir Menschen zu einem integrativen Teil eines funktionsfähigen anthropozänen Erdsystems werden. Im besten Falle wäre damit die Grundlage gerechter Entwicklungschancen für gegenwärtige und künftige Generationen geschaffen. Diese Hypothese beruht auf der Einsicht, dass die 9 Z.B. Beiträge in Möllers et al. (2015) sowie in Renn/Scherer (2015), siehe auch Hamann et al. (2014), Leinfelder et al. (2016). Siehe auch Beiträge in »Unswelt statt Umwelt«. Blog; Der Anthropozäniker, von R. Leinfelder (seit 2011: https://scilogs.spektrum.de/der-anthropo zaeniker/), siehe auch Leinfelder (2018).
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Menschheit sich zwingend als dem Erdsystem zugehörig begreifen muss. Wir können nicht vom Erdsystem, sondern nur mit dem Erdsystem leben. Als Metapher ausgedrückt: Erträge einer gut geführten Stiftung kann man dauerhaft nutzen; sobald man allerdings das eingelegte Stiftungskapital angreift, wird die Stiftung über kurz oder lang finanziell kollabieren. Auch das Erdsystem wirft genügend viel an verwendbaren Ressourcen ab, um damit auch ein gutes Leben für die Menschheit zu ermöglichen, allerdings nur, wenn die »Stiftung Erde« gut geführt und nicht übernutzt wird, und ihre Funktionsprozesse verstanden werden. Aus diesem Verständnis heraus ergibt sich ein Verantwortungsimperativ zu anthropozänem (Um-)Denken und Handeln: Politik oder Wirtschaft alleine können eine erdsystemische Integration der Menschheit nicht gewährleisten, da gerade auch individuelles Handeln in der Summe globale Auswirkungen hat. Daher sind alle zu einer verträglichen, nachhaltigen Nutzung der Erde verpf lichtet. Der derzeitige »Parasitismus« des Menschen an der Natur müsste sich wandeln zu einer echten Symbiose von Mensch und Natur, im Sinne eines gegenseitigen Nutzens, weg von einer uns gefühlt nur in Distanz umgebenden Umwelt hin zu einer uns als integrativen Teil des Erdsystems verstehenden Unswelt (vgl. Leinfelder 2011, 2013, 2016a, 2017a,b, 2018).
3. Quo Vadis? – anthropozäne Zukünfte in Museen Das Anthropozän-Konzept erscheint als Stimulus und Leitschnur für eine stärker zukunftsorientierte Themenausrichtung von Museen ideal. Zum Anthropozän-Ansatz gehören unter anderem folgende museumsrelevante Charakteristika: • die Einbindung der Anthroposphäre in die erdsystemaren Natursphären, • ein systemisches, integratives, alle Wissenssparten umfassendes Vorgehen, • ein Verständnis räumlicher und zeitlicher Dimensionen und deren Skalierung • die Verbindung von analytischem Befund und konsequenzialem Diskurs. Das Konzept hilft damit Museen, spartenübergreifend Vergangenheit mit Zukunft zu verbinden, aus großer Themenvielfalt auszuwählen, interdiszi-
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plinär vorzugehen, und Denkoffenheit und Perspektivwechsel einzuüben. Dies ist eine wesentliche gesellschaftliche Hilfestellung, um die Zukunft offener anzugehen. Der vorliegende Beitrag kann und will kein – sowieso nicht existierendes – Generalrezept geben, wie dies im Detail mit der Integration von Ausstellungen, Reallaboren, Realexperimenten und vielen weiteren Formaten erreicht werden kann, sondern setzt auf die Kreativität und Vielfalt von Museolog*innen, Kustod*innen, Ausstellungsmacher*innen und anderen Gestalter*innen. Stattdessen sollen einige, von persönlich gefärbten Erfahrungen ausgehende Empfehlungen und Vorschläge dazu dargelegt werden, wie sektorale Schranken aufgelöst, Zukunftsängste genommen, Perspektivwechsel erreicht und gemeinschaftliches lösungsorientiertes Nachdenken generiert werden können. Dies in der Hoffnung, die Diskussion zur Erreichung einer museumsgestützten futures literacy befruchten zu können.
3.1 Zukunft wagen ohne Dualismen und Populismen Die enge Verknüpfung von Vergangenheit und Zukunft im AnthropozänKonzept hebt die Notwendigkeit und Möglichkeit einer Zukunftsgestaltung entlang gesellschaftlich verhandelbarer, wünschbarer Wege hervor. Die Beschreitung dieser Wege muss allerdings hinsichtlich potenzieller Nebenwirkungen durchdacht sein und regional wie global durch Indikatoren- und Monitoringsysteme überwacht werden. Nicht wünschenswert ist in den meisten Fällen der Weg eines »weiter so wie bisher«, hier sind sich die meisten Wissenschaftler*innen und große Teile der Gesellschaft sowie der Politik und der Wirtschaft einig. Großer Diskussionsbedarf besteht aber über den »richtigen« Weg. Benötigen bzw. wünschen wir eine Postwachstum- oder gar Degrowth-Gesellschaft, oder doch eher eine weitere, wenn auch deutlich nachhaltigere Wachstums- und Konsumgesellschaft? Brauchen wir mehr Freiheit oder mehr Gesetze? Müssen wir global denken oder ist Globalisierung das Übel schlechthin? Zwischentöne gibt es wenige, Populismen dafür umso mehr. Diese lassen sich gerade bei der weit verbreiteten, angstbeladenen Unvorstellbarkeit der Zukunft auch leicht schüren. Unsere westliche Gesellschaft ist es gewohnt, dialektisch-dualistisch an Einordnungen, gerade auch von Neuem und Unbekannten, heranzugehen: gut oder böse, hübsch oder hässlich, richtig oder falsch. Dies gilt damit auch für neue Trends und Problemlösungsvorschläge. Erst wenn diese für uns eingeord-
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net sind, wenn wir dazu eine möglichst dauerhafte Haltung haben, sind wir wieder in der »richtigen« Gruppe, der »richtigen« Echokammer der gefühlt Besserwissenden, und unser Weltbild scheint wieder in Ordnung – zumindest für uns selbst. Auch wenn die Frage nach der persönlichen Verantwortung gestellt wird, sind stereotype, undifferenzierte, oftmals populistische Schwarz-Weiß-Schuldzuweisungen ein bewährter Weg, die Verantwortung auf andere zu übertragen. Damit eine Transformation zu einem zukunftsfähigen Anthropozän gelingen kann, hilft es jedoch nicht, mit dem Finger nur auf die anderen (etwa die Vereinten Nationen, die eigene Regierung, die Schwellenländer, den Kapitalismus, die Mitbürger*innen etc.) zu zeigen (vgl. Leinfelder 2014a: Teil 1, Leinfelder 2018). Wir benötigen ein neues, anthropozänes Verständnis der Zusammenhänge dieser Welt. Insbesondere ist die Einsicht wichtig, dass lokales Handeln globale Auswirkungen hat. So eröffnet globales Shoppen sowohl Chancen für Entwicklungsländer, kann aber auch viel lokales und regionales Leid verursachen, Weiterhin gilt es zu verdeutlichen, dass kurzfristiges Handeln Auswirkungen über geologische Zeiträume haben kann und dass wir insgesamt Teil des Erdsystems sind, also gleichermaßen von seiner Funktionsfähigkeit abhängen, als diese auch stark gefährden. Mit anderen Worten, wir brauchen so etwas wie einen Gesellschaftsvertrag für diese Transformation zur Zukunftsfähigkeit, bei der möglichst viele mitmachen, also neben der Politik und dezidierten Aktions- oder Umweltgruppen eben auch wissenschaftliche Einrichtungen, innovative Unternehmen, Bildungsinstitutionen, dezidierte Behörden, aber vor allem auch möglichst jede*r von uns (WBGU 2011, Hamann et al. 2013). Die dazu notwendige integrative Arbeit kann und sollte auch von Museen unterstützt werden, etwa durch Vorträge, Diskussionsrunden, Forschungswerkstätten, Reallabore oder Citizen-Science-Projekte (z.B. Gessner et al. 2012, Leinfelder 2010a, 2012, 2014b, 2016b, sowie nachfolgend), aber eben auch durch Ausstellungen. Dies kann aber nur funktionieren, wenn wir unsere generellen Sichtweisen auf die Welt inklusive unserer persönlichen Schwarz-Weiß-Muster und Denkschubladen immer wieder gezielt hinterfragen – auch dazu können Museen mit all ihren Formaten beitragen. Sicherlich wäre es zu viel verlangt, täglich Dinge neu zu bewerten. Vermutlich wüssten wir dann gar nicht mehr, was für uns gerade richtig oder falsch ist und würden damit erst recht nichts Neues anpacken. Es gilt also auch zu akzeptieren, dass wir uns nicht täglich neu definieren und neu erfinden können, denn natürlich brauchen wir
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auch Zugehörigkeit zu Gruppen, unsere Standpunkte und den Rückgriff auf unsere anscheinend bewährten Erfahrungen. Überlieferungen, unsere Erziehung und unser eingeübtes Sozialverhalten helfen uns, einigermaßen gut durch den Alltag zu kommen. Allerdings sollten wir diese Schubladen, also unsere Meinungen, Überzeugungen, Erfahrungen, aber auch unsere Emotionen, Befürchtungen und Ängste immer wieder einmal auf den Prüfstand stellen (Leinfelder 2014c). Vieles davon war zu seiner Zeit vermutlich berechtigt, vielleicht ist es das immer noch, vielleicht aber eben auch nicht? Mit den persönlichen Einstellungen könnte es doch wie bei der Technikentwicklung sein. Die Dampfmaschine, der Dieselmotor, die Erfindung von Plastik, die Grüne Revolution waren Meilensteine. Sie waren damals überaus sinnvoll, haben viel Neues bewirkt, vieles vereinfacht, was zuvor sehr mühsam war, viel weiteres Leid vermieden (vgl. Hamann et al. 2014). Allerdings bedeutet dies nicht, dass dies für immer und ewig so wäre. Die Aufskalierung der Motorisierung, der Nutzung von Plastik und der landwirtschaftlichen Produktion haben diese Techniken an ihre Grenzen gebracht, da sich auch die Nebenwirkungen aufsummiert haben. Wir sind daher auf der Suche nach neuen Lösungen, die es ja grundsätzlich bereits gibt10. Auch eine diesbezügliche, bewertende Retrospektive ist eine wichtige museale Aufgabe im Zusammenhang mit Zukunftsthemen, wie sie auch von vielen Technik- und Industriemuseen verfolgt wird11.
3.2 Zukünfte statt Zukunft – Ein Exkurs in Zukunftsszenarien Gleichzeitig Herausforderung und Chance gerade auch für Museen kann es sein, nicht die Zukunft (welche eben nicht vorhersagbar ist), sondern mögliche Zukünfte, also verschiedene Zukunftspfade und zugehörige Entwicklungsmöglichkeiten darzustellen. Dies kann auch durch Fragen ausgedrückt werden, etwa: Was kommt auf uns zu? Welche Gestaltungsmöglichkeiten haben Wissenschaften, Wirtschaft, Politik und die Zivilgesellschaft? Wie können wir selbst gestalten? Und vor allem: Wie wollen wir leben?
10 Hierzu etwa das Deutsche Museum mit Beiträgen in Möller et al. (2015) sowie das WBGUTransformationsgutachten (WBGU 2011). 11 Vgl. hierzu ggf. das Themenheft »Eine Frage der Haltung. Welche Werte vertreten Museen. Über die Zukunft der Technik- und Industriemuseen«, Museumskunde, 83/2/18.
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Um diese Fragen differenziert diskutieren zu können, ist es wichtig, Zukunftspfade als ein Set von Wahrscheinlichkeiten, von Möglichkeiten und von Wünschbarkeiten zu verstehen. Wissenschaftlicher ausgedrückt sollen Zukunftsszenarien dazu beitragen, nicht nur bestehende Trends in wahrscheinliche Zukünfte fortzuschreiben, sondern auch mögliche Zukünfte zu erkunden, und wünschbare Zukünfte identifizierbar zu machen. Sie helfen Debatten anzuregen, Zukunft diskutierbar und vorstellbar zu machen, sowie Orientierung für das Handeln aller Akteure zu geben.12 Wahrscheinliche Zukünfte ergeben sich aus explorativen, in wesentliche bestehende Trends weiterschreibenden Foresight-Ansätzen, etwa durch Expert*innenbefragungen in Delphi-Studien. Unter verschiedenen Grundannahmen können sich daraus auch mögliche Zukünfte ergeben, aus denen normativ wünschbare Zukünfte abgeleitet werden können. Solche Szenarien sind im wesentlichen Verlaufsszenarien, bei denen auch pfadbegleitende Situationsszenarien als Zeitschnitte dargestellt werden können. Wahrscheinliche und mögliche Zukunftspfade basieren auf vorhersagbaren subsequenten Schritten, während wünschbare Zukünfte auch von normativen Zielszenarien ausgehen können und dann durch backcasting versuchen, notwendige Meilensteinschritte für mögliche Verlaufsszenarien zu identifizieren. Dies kann durch Definition von dazwischenliegenden Situationsszenarien weiter visualisiert werden. Wünschbare Zielszenarien dürfen aber auch visionärer, utopischer Art sein. Sogenanntes backcasting kann hierbei ebenfalls helfen, die technischen Notwendigkeiten zur Erreichung solcher Szenarien zu identifizieren und ggf. zu initiieren.13
12 Es würde über die Zielsetzung dieses Beitrags hinausführen, eine detaillierte Einführung in die Zukunftsforschung und deren Methodik zu geben. Für allgemeine Einführungen sei, auch für weitere Literaturangaben, exemplarisch verwiesen auf Steinmüller (1997), Kreibich (2007), Popp (2012, 2016), Popp et al. (2016), Poli (2018); siehe auch Leinfelder (2014b, 2016b) für vertiefende Ausführungen. 13 Zusätzlich zur in der vorherigen Fußnote angegebenen Literatur hier noch ein Verweis auf einige weitere Ressourcen zur konkreteren Methodik und Szenarienbildung, ggf. im Hinblick auf Anwendbarkeit für Museen: Cuhls (2016), Grunwald (2016), Leinfelder (2016b), Steinmüller (2011, 2012, 2016), Werner (2016).
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3.3 Alltagszugänge – Lebenswelten als idealtypische Zukünfte Szenarien wie die oben geschilderten, sind vor allem dann von gesellschaftlichem Interesse, wenn sie sich auf Lebensweltthemen der Zukunft beziehen, also etwa auf Zukünfte des Wohnens, des Arbeitens und Wirtschaftens, der Mobilität, der Ernährung oder etwa der Gesundheit. In Ausstellungen könnten solche Zukünfte mit Objekten, räumlichen Inszenierungen, bildlichen Darstellungen, Augmented und Virtual-Reality-Methodik, performativen und partizipativen Methoden bzw. insbesondere auch Mischformen davon dargestellt werden. Leinfelder14 schlug dazu deren Darstellung entlang eines Spektrums idealtypischer Zukunftsszenarien und zugehöriger Pfade zu deren Erreichung vor, etwa dem vorherrschenden »Business as Usual«-Pfad, sowie als erdsystemfunktionskompatible Lösungsansätze auch reaktive, suffiziente, bioadaptive oder High-Tech-Pfade: 1. Ein Business as Usual-Pfad ist gesellschaftlich meist weniger entwicklungsfähig und steht nicht im Einklang mit Zielen für nachhaltige Entwicklung, gerade deshalb sollte ein weitermachen wie bisher natürlich auch hinsichtlich seiner kumulativen Zukunftskonsequenzen diskutiert werden. 2. Ein reaktiver Pfad ist eher abwartend und versucht auftretende Probleme mit klassischen Mitteln vor allem sektoral zu lösen, dabei jedoch keine neuen Problemkreise zu generieren (vgl. Klingholz 2014). 3. Ein suffizienter Pfad geht davon aus, dass weniger mehr darstellt, dass also insbesondere die Naturressourcen (biologische, energetische und sonstige mineralische Ressourcen) so geschont werden, dass sie noch lange verwendbar sind und durch die geringere Nutzung einen deutlich geringeren ökologischen Fußabdruck hinterlassen. Dies entspräche etwa lokalem Wirtschaften sowie einem Weggang von einer Überf lussgesellschaft hin zum wirtschaftlichem Ausgewachsensein oder gar Degrowth (vgl. Paech 2012. Siehe auch Wachstumsmetaphern von Kai Niebert in Gull 2016). 14 Zu diesen Themen und deren musealen Behandlungs- und »liquider« Darstellungsmöglichkeiten innerhalb eines Natur-, Kultur- und Gesellschaftsspannungsfelds sowie anhand idealtypischer Zukünfte siehe Gründungskonzept des Haus der Zukunft/Futurium (Leinfelder 2014a: Teil 3, 2014b, Leinfelder 2016b). Vgl. auch Zipf/Luckas (2019).
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4. Ein konsistenter bzw. bioadaptiver Pfad nimmt die Naturprozesse als Vorbild, favorisiert Wiederverwendung, also Kreislaufwirtschaft und kann damit durchaus auch einen Wachstumspfad darstellen, wobei der umfassende Energiebedarf dazu aus erneuerbaren Quellen stammen müsste. Im Idealfall würde sich eine Cradle-to-Cradle-Technosphäre entwickeln, die sich – vergleichbar der Biosphäre – nach Nutzung von selbst in Einzelbausteine zerlegt und daraus immer wieder selbst neue Artefakte unter Verwendung erneuerbarer Energien generiert (vgl. Haff 2014, Zalasiewicz et al. 2017). 5. Ein ausgeprägter High-Tech-Pfad fokussiert auf einer starken Trennung zwischen Natur und menschlicher Gesellschaft, um damit die Natur zu entlasten, sei es durch wesentliche Effizienzerhöhung der Ressourcenverwendung oder auch durch die Verwendung völlig neuartiger Materialien. Hier kämen neue Baustoffe, neue Formen der Lebensmittelproduktion, etwa in Farmscrapern, neue Techniken der Generierung abfall- und schadstofffreier Energien sowie Robotik und künstliche Intelligenz verstärkt zum Einsatz (vgl. Kaku 2012). Leinfelder gibt umfassende, auch visuelle Beispiele dieser Zukunftspfade für oben genannten Lebenswelten sowie weiterer Themenbereiche, die speziell auch für liquide, also thematisch leicht ergänz- und veränderbare Ausstellungen und begleitende Formate entwickelt wurden (Leinfelder 2014a: Teil 3, 2014b, Leinfelder 2016b, sowie u.a. Krause et al. 2017, S. 45-46. Leinfelder 2017a, 2018, Leinfelder et al. 2016: 203-204, Liebender et al. 2017). So wäre beim Themenkreis Ernährung der Zukunft der Business-as-usual-Pfad durch unethische und umweltschädliche Massentierhaltung, Antibiotikaresistenzen, Nutztierepidemien und Biodiversitätsverlust charakterisiert. In einem Suffizienz-Pfad stünden lokale, saisonale Ernährung, Verzicht auf Einwegverpackungen, aber ggf. auch möglichst weitgehender Verzicht von tierischen Produkten im Vordergrund. Der bioadaptive Pfad würde Nahrung mit möglichst geringem externen Ressourcenaufwand, also am besten in einer Kreislaufwirtschaft produzieren. Beispiele für diesen Pfad könnten Hydro- und Aquaponik sein (z.B. Kuhlemann 2017), aber auch Kompostierbarkeit von Verpackungen. Phosphor würde aus den Bewässerungssystemen und Abwässern zurückgewonnen. Tierische Proteine könnten auch durch für menschlichen Verzehr geeignete Insekten, die sehr ressourcenschonend züchtbar sind, zur Verfügung gestellt werden (VanHuis 2017). Deren Chitin-
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hüllen eignen sich zusätzlich für Bioplastikproduktion.15 Im High-Tech-Pfad könnte unser Essen gesundheitsoptimiert und prozessiert aus dem Labor kommen, seien es Rekombinate wie Soylent und ähnlichen prozessierten Flüssignahrungsmitteln (z.B. Ziegler 2014), Beyond-Meet-Produkte oder auch laborproduzierte Fleischmasse16. Die Rohstoffe könnten mit gentechnisch optimierten Sorten höchst effizient in Hightech-Fabriken produziert werden, am besten gleich dort, wo sie gebraucht würden, also mitten in den Großstädten in speziellen Farmscrapern, die mit erneuerbaren Energien betrieben werden. Aber auch eine uns vielleicht eher vorstellbare High-Tech-Landwirtschaft könnte Heckensysteme, Feuchtgebiete und Lerchenfenster aufgrund intelligenter Technologien nicht als Betriebshindernisse, sondern als Produktionsunterstützung begreifen, bei der Bestäuberinsekten gefördert oder Nistplätze zur Verfügung gestellt werden, damit Vögel ihrerseits Schädlinge in Schach halten (siehe auch Leinfelder 2017a, c, Hamann et al. 2017). Neben Diskursen sowie künstlerischen und ausstellungsbasierten Visualisierungen eignet sich auch kreatives Ausprobieren in Zukunftswerkstätten und Reallaboren (beim Thema Ernährung etwa Experimentierküchen mit Verkostungen), also Formate, die gerade auch in Museen zunehmend implementiert werden, besonders, um sich auf Neues einzulassen (siehe auch unten, Diskussion). Neben der Ernährung eignet sich hier zudem das Thema Wohnzukünfte ganz besonders. Wie wäre es mit entsprechenden musealen Installationen, etwa Probeliegen in einer Suffizienzschachtel, wie es sie mit Kapselhotel etwa in Flughäfen von Tokyo oder in Moskau bereits gibt? Oder wie riechen Gebäude, die aus bioadaptiven Baustoffen erstellt wurden, etwa aus Pilz und Kompost, komplett recyclebar und in anderer Form bzw. andernorts wiederauf baubar? Wie fühlt sich derartiges Material an, wie atmet es, wie ästhetisch ist es? (vgl. Hartman 2014). Oder doch eher eine Lösung aus dem Reaktiv-Portfolio ausprobieren? Ein Museum könnte an Meeresspiegelanstieg angepasste schwimmende Wohn- bzw. Arbeitsmodule zum Ausprobieren in einem künstlichen Teich oder einem benachbarten Gewässer zur Verfügung stellen. Die Niederländer machen es bereits vor, sie entwi15 Zu Kunststoff aus Chitin u.a. https://www.spiegel.de/wissenschaft/natur/forscher-ent wickeln-kompostierbare-kunststofffolie-a-1219931.html 16 Ohne dass diese Produkte bereits großmaßstäblich verfügbar wären, hat die Next-Nature-Initiative bereits Rezepte und ein Kochbuch dazu entwickelt, um die Vorstellbarkeit zu fördern: https://www.nextnature.net/projects/meat-the-future/
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ckeln als Reaktion an den steigenden Meeresspiegel bereits schwimmende Häuser, in Zukunft wohl auch ganze Dörfer und Städte (Greiner 2015). Vielleicht könnte ja in einem Hightech-Szenario sogar ein ganzes Museum oder eine Ausstellungshalle aus nanokarbon-verstärktem Material (vgl. GreenGru-Pilotstudie: Pavlidis 2012) gebaut werden, betrieben mit erneuerbarer Energie – irgendwann sogar aus künstlicher Photosynthese – und selbstverständlich mit KI-basiertem Smart-Home-Wohnungsmanagement, wie es bereits auf High-Tech-Messen gezeigt wird. Insbesondere die Zukünfte der Gesundheit zeigen gut auf, dass Mischungen aus verschiedenen Zukunftspfaden selbstverständlich notwendig sind. So wird es noch lange die klassische Medizin geben. Allerdings dürfen wir keinen Business-as-Usual-Kollaps des Gesundheitssystems durch alleiniges Setzen auf derartige Methoden riskieren. Wenn Resistenzen gegen Antibiotika und andere Arzneimittel dominieren, sich virale Epidemien entsprechend uneindämmbar ausbreiten oder das Pf legesystem wegen Arbeitskräftemangel zusammenbricht, wäre dies keinesfalls eine lebenswerte Zukunft. Dennoch wird reaktive Medizin in bestimmtem Umfang notwendig bleiben. Schmerzmittel, Antibiotika, Chemotherapien werden weiterhin notwendig sein, wenn bestimmte Krankheiten bereits ausgebrochen sind. Zurück zur Natur, also ein Suffizienz-Szenario wird aber ebenfalls immer wichtiger werden. Bei kleineren Infektionen müssen keine Antibiotika zum Einsatz kommen, denn es gibt hier auch wirksame Natursubstanzen. Sicherlich sollten wir auch alternative Behandlungspraktiken, wie Meditation und Entspannungstraining weiterentwickeln und wissenschaftlich auf Wirksamkeit testen. Bioadaptiv bzw. naturkonsistent beinhaltet Gesundheitsvorsorge, wie Sport, gesunde Ernährung, vielleicht auch vorsorgliche Gaben von Medikamenten, etwa bei der Gefahr eines Mangels an Vitamin A oder D. Self-Tracking-Applikationen für Smartphones werden uns ermöglichen, unseren Gesundheitszustand und unsere Fitness ständig zu überwachen und die Daten an unseren Gesundheitscoach weiterzugeben. Und vielleicht sollte das ganze medizinische Forschungssystem noch viel stärker auf die Erforschung von Zusammenhängen und Veranlagungen ausgerichtet werden, als heute noch vor allem auf das Erkennen und Kurieren von Symptomen. Medizinische Hightech-Visionen werfen insbesondere auch ethische Fragen auf, die es zu diskutieren gilt: Vieles ist jetzt schon möglich, aber wie weit sollten wir persönliche ärztliche Betreuung zugunsten digitaler Betreuung aufgeben? Und wollen wir basierend auf individuellen DNA- oder Bluttests tatsächlich wissen, welche Gesundheits-
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risiken, etwa für Krebs oder Demenz wir in uns tragen? Wie gehen wir mit diesem Wissen um? Wie weit lassen wir uns auf elektronische Prothetik und unterstützende Robotik in der Altenpf lege ein? Wie weit kann, soll und darf eine Verschmelzung von Mensch-Maschine gehen?17 Diese Pfade, von denen der Autor dieses Artikels noch weitere, etwa zu Zukünften der Energie, der Mobilität, des Städtebaus, der Ozeannutzung, des Naturschutzes oder von technischen Verfahren ausmalt, sind bewusst als idealtypische Zukunftsszenarien gedacht. Diese wären damit in jeder Konsequenz sowie in ihrer Machbarkeit durchzudenken, in Teilen auszuprobieren und insbesondere auch in Ausstellungen zu visualisieren, um mögliche Zukunftsszenarien vorstellbar und damit ggf. auch wünschbar oder eben verwerf bar zu machen. Begehbare Dioramen verschiedener Zukunftswelten, am besten thematisch sortiert, wären eine Möglichkeit. Eine weitere Option wären Darstellungen von Wegen und Zielszenarien als grafische Szenarien und Narrative, was sich nicht nur für gedruckte Formate, sondern ebenfalls für Ausstellungen anbietet. Ausprobieren oder gar Mitgestalten einiger Prototypen von Schlüsselobjekten aus solchen Szenarien kann in Reallaboren umgesetzt werden. Wünschbarkeiten müssen allerdings in einem erdystemund sozialverträglichen, also in einem durch die planetarischen Grenzen und die Sustainability Development Goals begrenzten Möglichkeitsraum liegen, der dennoch genügend groß für kreative Lösungen ist, um die Einbettung in den Anthropozän-Ansatz zu ermöglichen. Solche idealtypischen Zukunftsszenarien sollen die Diskussions- und Diskursfähigkeit stärken, Gestaltungskreativität fördern und Zukunftsängste nehmen, und damit zu einer futures literacy beitragen. Die Pfade sind jedoch keinesfalls als exklusiv und alternativ gedacht, sondern sollen gerade durch ihre Idealtypisierung ermöglichen, gemischte Portfolios zu erarbeiten, also Aspekte aus verschiedenen Szenarien zu f lexiblen Lösungsansätzen vereinen. Diese werden je nach Thema, Region, sowie kultureller und gesellschaftlicher Einbettung unterschiedlich sein und können sich auch im zukünftigen Zeitverlauf liquide ändern. Futures literacy bedeutet in diesem Sinne auch eine Achtsamkeit und Offenheit, um ggf. wieder umzusteuern, sobald Imponderabilien und negative Externalitäten offensichtlich werden, neue technische Anwendungen einsetzbar sind oder auch neue gesellschaftliche und kulturelle Entwicklungen vorliegen. 17 Ausführungen basierend auf Leinfelder 2014b, 2016, siehe dort auch weitere Ausführungen sowie Abbildungen.
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4. Diskussion und Ausblick 4.1 Zukunftsausstellungen und Zukunftsmuseen Immer mehr Museen und Ausstellungshäuser lassen sich auf Zukunftsthemen ein. Viele nutzen dabei direkt oder indirekt die Stärken des Anthropozän-Ansatzes, als integratives, Vergangenheit und Zukunft, aber auch lokal und global verbindendes, naturwissenschaftliches, technikrelevantes, kulturelles und gesellschaftliches Konzept. Startpunkt hierfür war möglicherweise die Buchvorstellung Menschenzeit von Wissenschaftsautor Christian Schwägerl im Herbst 2010 im Museum für Naturkunde Berlin, unter Beteiligung von Achim Steiner, dem damaligen Vorsitzenden des United Nations Environmental Programs (UNEP) (Schwägerl 2010, Leinfelder 2010b). Darauf hin entstand das lebende Zukunftsdiorama »Natural Habitat – The Anthropocene Epoch« von Laurie Young und Heike Schuppelius als Sonderschau im selben Museum. Gleichzeitig lief am Science Museum London die Sonderausstellung »In Future – Atmosphere – Who am I?« (Leinfelder 2012: 64-65). Es folgte »Das Anthropozän-Projekt«, ein Ausstellungs-, Diskurs- und Performations-Projekt am Haus der Kulturen der Welt, Berlin (2012 bis 2014). Das Thema Anthropozän wurde dadurch dauerhaft bis heute anhaltend an diesem Haus implementiert18. Die große und sehr erfolgreiche Sonderausstellung »Willkommen im Anthropozän. Unsere Verantwortung für die Zukunft der Erde« lief von Dezember 2014 bis September 2016 und band durch Sachcomic-Strips-Stelen vor herausragenden Objekten der Dauerstellung auch diese mit ins Thema ein. Außerdem verwendete sie erstmalig exemplarisch (speziell beim Thema Ernährung) auch das idealtypische Zukünfte-Konzept des Autors dieses Beitrags19. Von Oktober 2018 bis Septem18 Zum HKW-Projekt siehe https://www.hkw.de/de/programm/projekte/2014/anthropozaen/anthropozaen_2013_2014.php (Leitungsteam Bernd Scherer, Reinhold Leinfelder, Christian Schwägerl, Schirmherrschaft Paul Crutzen: https://www.hkw.de/de/ programm/projekte/2014/anthropozaen/partner_credits_anthropozaen/partner_an thropozaen.php). Vgl. auch Robin et al. (2014). 19 Zum DM Projekt siehe: https://www.carsoncenter.uni-muenchen.de/events_conf_seminars/exhibitions/anthropocene/index.html; Ausstellungskataloge Möllers et al. (2015), zu den Comics Hamann et al. (2014) sowie online https://www.environmentandsociety. org/exhibitions/welcome-anthropocene/milestones-anthropocene, Vgl. auch Robin et al. (2014).
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ber 2019 lief rund um das Thema Anthropozän die Ausstellung »Artefakte« im Museum für Naturkunde Berlin, in deren Zentrum großformatige Landschaftsbilder von Henry Fair stehen20. 2019 war die ebenfalls im anthropozänen Kontext stehende, auf dem gleichnamigen Bildband von Tom Hegen basierende Luftbildausstellung »Habitat«, im Luftmuseum Amberg21 sowie an weiteren Orten zu sehen. Weitere, oftmals in Verbindung mit Bildbänden oder Filmproduktionen stehende Ausstellungen, finden sich auch in vielen anderen Ländern22. Die interaktive Sonderausstellung »Menschenwelt« der Deutschen Bundesstiftung Umwelt lief bis Jahresende 2019 in Osnabrück und ging danach auf Wanderschaft23. Eine ICOM-Konferenz lief 2017 unter dem Motto »Anthropocene: Natural History Museums in the Age of Humanity« in Pittsburgh ab24. Das 2015 in einem fulminanten Neubau eröffnete Shanghai Natural History Museum hat eine Anthropocene Gallery fest in den Dauerausstellungen implementiert25. Aber selbstverständlich werden auch außerhalb des Anthropozän-Kontexts zukunftsorientierte Sonderausstellungen erstellt. So lief am Wilhelm-Hack-Museum in Ludwigshafen von Dezember 2015 bis Februar 2016 die Kunst- und Gestaltungsorientierte Sonderausstellung »Wie leben? Zukunftsbilder von Malewitsch bis Fujimoto«26. Auch eher thematische Häuser wie etwa das Klimahaus in Bremerhaven, das Technoseum in Mannheim oder die DASA-Arbeitswelten in Dortmund sind per se auch zukunftsorientiert, andere wie etwa das sich im Umbau zu »Biotopia« befindliche Museum Mensch und Natur in München sowie viele andere
20 https://www.museumfuernaturkunde.berlin/de/museum/ausstellungen/archiv-sonderausstellungen/artefakte 21 https://www.luf tmuseum.de/ausstellungen/archiv/detail/habitat-vom-mensch-gepra egte-lebensraeume-tom-hegen-muenchen 22 Exemplarisch genannt seien: The Anthropocene Project von Edward Burtynsky, https:// www.gallery.ca/whats-on/exhibitions-and-galleries/anthropocene, IAHI-Netzwerkprojekt »The Museum of the Anthropocene« https://anthropocenes.org/moa-1, Welcome to the Anthropocene im Carnegie Museum of Natural History: https://carnegiemnh.org/ welcome-to-the-anthropocene/ 23 w ww.ausstellung-menschenwelt.de/2881.html 24 http://thenaturalhistorymuseum.org/events/the-anthropocene-natural-history-muse ums-in-the-age-of-humanity/ 25 www.snhm.org.cn/eg/index.htm 26 https://www.wilhelmhack.museum/de/ausstellungen/archiv/2015/wie-leben, siehe auch Leinfelder/Zinfert (2015) sowie weitere Beiträge in Zechlin (2015).
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Museen, verstärken dies derzeit. Science Center, deren Grenzen zu klassischen Technikmuseen und anderen Museumssparten sich zunehmend verwischen, beschäftigen sich ebenfalls insbesondere mit zukunftsrelevanter Technologie und weiteren Zukunftsthemen bzw. bauen diese stark aus. Zu letzteren zählen die Science Museen in Amsterdam und London, Technikmuseen in Stockholm, Wien und Berlin, das Deutsche Museum in München und weitere (Isenbort, G. 2018, Kernbach, U. 2018). Ganze, sich dem Zukunftsthema widmende Häuser sind bislang allerdings noch eher selten, dazu gehören als Klassiker das Miraikan27 in Tokyo, seit 2015 auch das Museu do Amanhã (Museum of Tomorrow)28 in Rio de Janeiro. Neu dazu gesellt hat sich das im Herbst 2019 eröffnete Futurium – Haus der Zukünfte29 in Berlin. Das Deutsche Museum Nürnberg eröffnet als »Zukunftsmuseum« im September 2021.30.
4.2 Zukünfte visualisieren als Schlüsselelement Ein Schlüsselelement zur Zugänglichkeit des Zukunftsthemas ist das Sichtbarmachen von Unsichtbarem und damit Unvorstellbarem (Leinfelder/ Zinfert 2015). Ausstellungen sind dafür prädestiniert. Eigens geschaffene Objekte, räumliche Inszenierungen, in Verbindung mit Infografiken, Augmented und Virtual Reality bieten einen umfassenden Toolkit. Der Iconic Turn (vgl. Giuliani et al. 2005) bietet gemeinsam mit dem Digital Turn (DFG 2019) eine schier unerschöpf liche Fülle von Möglichkeiten. Ein ganzes universitäres Exzellenzcluster, das Berliner Cluster »Bild-Image-Gestaltung – Ein Interdisziplinäres Labor« hat sich über viele Jahre ausschließlich damit beschäftigt (Bredekamp/Schäffner 2015). Zur Vorstellbarmachung genügen oft einfache, gerne auch cartoon- oder comic-hafte Skizzen oder gar Scribbles (siehe bereits Steinmüller 2007). Sachcomics haben wegen ihrer Nonlinearität, ihrer Bildbasiertheit, ihrer Offenheit bei der Betrachtung und
27 https://www.miraikan.jst.go.jp/en/ 28 https://museudoamanha.org.br/en 29 https://futurium.de, Die zugrundeliegende Haus der Zukunft gGmbH benannte sich später zur Futurium gGmbH um. Zum von Autor eingebrachten, und in dieser Arbeit in Teilen dargestellten Gründungskonzept siehe u.a. auch Leinfelder (2014a,b, 2016b). Siehe auch Zipf/Luckas (2019). 30 Siehe https://www.deutsches-museum.de/Nuernberg
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ihres Vielebenenansatzes viele Ähnlichkeiten zu Ausstellungen, können mit letzteren als Slow-Media-Format bezeichnet werden (Leinfelder et al. 2015) und kommen auch bei Zukunftsausstellungen zunehmend zum Einsatz31. Im Unterschied zu fotorealistischen 3D-Renderings, welche von manchen als bedrohlich wahrgenommen werden, da bis ins Detail fremd erscheinend, wirken Skizzen, Cartoons und Scribbles offener und erlauben damit kreative eigene weitere Imagination. So legte der Autor sein Gründungskonzept für das Haus der Zukunft (später Futurium) auch als Scribble vor. Darin wurden viele Teile der auch in diesem Beitrag geschilderten Aspekte (darunter wahrscheinliche, mögliche, wünschbare Zukünfte; Schubladendenken; Gesellschaftsvertrag; Interaktion zwischen Natur-Kultur-Gesellschaft; idealtypische Zukunftspfade und die Bedeutung partizipativer Ansätze) mit wenigen Strichen und wenig Sprechblasentext auf nur vier Kartonseiten vorgestellt (Leinfelder/Föhr 2015). Eine Kombination von visueller Darstellung mit erzählerischem Narrativ eröffnet auch die Möglichkeiten, Narrative und Metaphern zu verknüpfen und in geeigneter Weise für Ausstellungs- und Museumszwecke mit einzubauen (vgl. Leinfelder 2017c).32
4.3 Zukünfte hinterfragen, ausprobieren, anmahnen Die auch in diesem Kapitel vielfach erwähnten, häufig aus dem ScienceCenter-Bereich übernommenen partizipativen Formate, wie Reallabore, Zukunftswerkstätten, Design-Thinking-Projekte, und museumsbasierte Citizen-Science-Projekt werden in anderen Beiträgen dieses Bandes ausführlicher behandelt. Sie gelten oft als Schlüsselformate für die Zukunftsfähigkeit von Museen, denn gerade bei Zukunftsthemen fördert die Vorstellbarkeit nichts so gut, wie an Problemanalysen, Lösungsansätzen und deren Umset-
31 Z.B. im September 2019 eröffneten Futurium, siehe Zipf/Luckas (2019) 32 Zu Narrativen siehe auch Dürbeck (2018). Dürbecks fünf Narrative haben, ohne näher erstellten Bezug, gewisse Ähnlichkeiten zu den fünf Zukunftspfaden Leinfelders, unterscheiden sich jedoch von diesen durch jeweils mehr oder weniger deutliche erzählerische Plots, welche bewusste Ähnlichkeiten mit Tätern, Opfer und Helden-Geschichten anderer Narrative haben, und damit auch in der ethischen Bewertung dieser Narrative. Leinfelder (2014b, 2016b) verwendet in seinen Zukünften keine Narrative, sondern betont den idealtypischen Charakter der fünf Zukunftspfade.
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zung selbst beteiligt zu sein. Auch im Kontext schulischer Bildung stehen gerade an Museen dazu geeignete Involvement-Formate zur Verfügung33. Nicht nur für ein anthropozänes gesamtheitliches Denken, sondern auch für die gesellschaftliche Legitimierung zum Einsatz sozialer und technischer erdsystemverträglicher Zukunftslösungen ist eine umfassende Kommunikation mit der Öffentlichkeit essenziell. Umweltproblematiken, aber auch weitere kulturelle, soziale, politische und technische Herausforderungen müssen diskutiert sowie Beteiligungs-, Ausprobier- und Mitgestaltungsmöglichkeiten geschaffen werden. Durch experimentelles Ausprobieren erarbeitete Wünschbarkeiten helfen, den Zukunftsherausforderungen angstfrei, kreativ und lösungsorientiert zu begegnen. Auch weiteren psychologischen Herausforderungen, etwa der Externalisierung von Schuldzuweisungen, aber auch von fehlender Selbstwirksamkeitserfahrung bis hin zu fehlender Sinngebung kann hierbei begegnet werden. So werden aus einer Vernetzung von Genussfähigkeit, Selbstakzeptanz und Selbstwirksamkeit mit Achtsamkeit, Sinnkonstruktion und Solidarität wesentliche Grundlagen zur persönlichen Verortung und zur individuellen Ausrichtung einer nachhaltigen, nicht von Verzicht und Geboten dominierten Lebensführung gestärkt (nach Hunecke 2013).34 Museen sollten sich hier beteiligen, allerdings auch Sorge dafür tragen, dass insbesondere ihre Dauerausstellungen nicht zu einer historischen Kulisse werden. Sie sollten also alles ihnen mögliche tun, um keinesfalls Gefahr zu laufen »müde Museen« (Tyradellis 2014) zu werden, sondern lebendige, kreative und zukunftsoffene Dritte Orte (sensu Oldenburg, R. 1999 and Tyradellis 2014) in denen Austausch, Hinterfragung, Diskurs, Experimente, Partizipation und Lösungsorientiertheit gepf legt und Museen damit zu einem wesentlichen, ja, unabdingbaren Pfeiler einer gesellschaftlichen Transformation in eine nachhaltige Zukunftsfähigkeit werden. Gerade zur Vorstellbarmachung potenzieller, nicht nur dystopischer, sondern auch wünschbarer Zukünfte könnten Ausstellungen wesentlich beitragen. Dies ist allerdings noch weitgehendes Neuland, welches bislang nur wenige Museen beschreiten. 33 Hier hingewiesen sei auf konzeptionelle Design-Thinking- und Werkstattunterlagen zum Thema Große Transformation in eine nachhaltige Gesellschaft (Zea-Schmidt/Hamann 2013) sowie zum Thema Ernährung der Zukunft u.a. mit Visionskarten (Hamann et al. 2017). 34 Für eine Vertiefung dieses Aspekts hinsichtlich von Zukunftsdenken siehe auch Popp et al. (2017).
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Im Kontext des Anthropozäns sollten Museen also durch eine Verknüpfung visueller, szenografischer, narrativer, explorativer und partizipativer Ansätze dazu beitragen können, das Potential eigener Gestaltungsfähigkeit zu unterstreichen und damit persönlichen Lebensgeschichten eine erweiterte Sinnhaftigkeit zu geben. Ein stärker systemischer Ansatz zum Verständnis der Zusammenhänge des Erdsystems auch hinsichtlich der Zukunftsfähigkeit der darin eingebetteten und interagierenden Anthroposphäre ist dazu unabdingbar. Museen haben ein großes Potenzial, aber auch eine große Verantwortung, diese Verknüpfung menschlichen Lebens und Handelns mit dem Erdsystem aufzuzeigen und dabei auch die Abhängigkeit der Gerechtigkeit zwischen heutigen und zukünftigen Generationen vom wissensbasierten gärtnerischen Umgang mit der Erde zu thematisieren (Leinfelder 2018). Die Ausrichtung unseres Handelns entlang einer symbiontischen Einbindung der Menschheit in das Erdsystem, böte vielfältige Ansätze zur dauerhaften Sicherung der menschlichen Lebensgrundlagen und würde unter der Prämisse der Teilhabe an Ressourcen und öffentlichen Gütern eine auf sozialer Gerechtigkeit und Funktionsfähigkeit des Erdsystems basierende Gestaltung der Zukunft ermöglichen (Leinfelder/Haum 2016b; Leinfelder 2017). Sich auf Zukunftsthemen verstärkt einzulassen, und vielleicht sogar das Abenteuer zu wagen, wahrscheinliche, mögliche und wünschbare Lebensweltzukünfte in Museen auszustellen, um sie explorieren, imaginieren, diskutieren und letztendlich mitgestalten zu können, sollte einer der wichtigsten Zukunftsaufgaben für Museen darstellen. (Hinweis: Einzelne Passagen dieses Artikels basieren auf früheren Blogbeiträgen und aktuellen Vortragspublikationen des Autors, dies ist jeweils durch entsprechende Zitate kenntlich gemacht)
Literatur Adams, J./Cadle, J./Dornan, C./Nicholls, S./Reddish, P. (2002): »The Future is Wild«, Jo Adams Television, in coop. with BBC, ARTE, ZDF etc. Bar-On, Y.M./Philipps, R./Milo, R. (2018): »The biomass distribution on Earth«, in: Proceedings of the National Academy of Sciences, 115 (25), S. 6506-6511, DOI: 10.1073/pnas.1711842115
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Die Zukunft im Museum ausstellen?
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Zukunftsweisende Zielgruppenarbeit durch Nicht-Besucher*innenforschung Bestandsaufnahme und Perspektiven Vera Allmanritter Besucher*innenforschung hat in Museen in den letzten Jahren einen immer zentraleren Stellenwert erhalten.1 Es steht außer Frage, dass Informationen zum Ist-Zustand und zu Veränderungen der aktuellen und potenziellen Besucherschaft hilfreich für die Weiterentwicklung oder Professionalisierung der eigenen Arbeit sind (bspw. für die Entwicklung von Zielgruppenansprachen oder für die Überprüfung, ob Maßnahmen erfolgreich sind). Auch wenn (noch) in den wenigsten Museen systematisch und kontinuierlich Besucher*innenforschung durchgeführt wird (vgl. Reuband 2016a: 2ff.), sind die eigenen Besucher*innen für viele von ihnen inzwischen zumindest über Einzelstudien sicherlich keine völlig unbekannte Größe mehr. Kenntnisse über die Gruppe derjenigen, die ihre Einrichtung nur sehr selten oder überhaupt nicht besuchen, liegen ihnen hingegen vergleichsweise spärlich vor. Bereits Anfang der 1980er Jahre beklagte Hans-Joachim Klein die mangelnden Kenntnisse über Nicht-Besucher*innen von Museen (vgl. Klein et al. 1981: 86) und diese Leerstelle ist offenbar in den letzten 30 Jahren nicht gefüllt worden. Explizite Nicht-Besucher*innen-Studien einzelner Häuser gibt es weiterhin nur selten und Befragungen über die generelle Nutzung- oder eben Nicht-Nutzung von Museen sind ebenfalls rar (vgl. Wegner 2016: 269; Renz 2016: 113ff.). Was lässt sich trotz dieser eher dünnen Ausgangslage zusammenfassend als aktueller Forschungsstand zu den Besucher*innen und Nicht-Besucher*innen von Museumsangeboten festhalten? Gibt es die Nicht1 I n diesen Beitrag flossen textlich überarbeitete und erweiterte Versionen von bereits veröffentlichten Texten der Autorin zum gleichen Thema ein (vgl. dazu Allmanritter 2018; Allmanritter 2019).
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Vera Allmanritter
Besucher*innen überhaupt? Mit welchen Methoden ist mehr über sie herauszufinden? Wie setzen sie sich soziodemografisch zusammen? Was hält sie von einem Besuch ab und mit welchen Strategien können sie für die Angebote von Museen begeistert werden?
Nicht-Besucher*innen – eine Annäherung an eine komplexe Begrifflichkeit Vor einer Beantwortung der Frage »Wer sind die Nicht-Besucher*innen von Museen?« ist eine Ref lexion dieser Begriff lichkeit äußerst hilfreich. Denn, wer diese sind, wird immer davon abhängen, wie sie genau begriff lich umfasst werden. Ob jemand zu den »Nicht-Besucher*innen« hinzugehört oder nicht, hängt beispielsweise stark davon ab, welches kulturelle Angebot in entsprechenden Untersuchungen in den Blick genommen wird. Wird ein enger Kulturbegriff verwendet, der kulturelle Angebote auf die sogenannte Hochkultur verengt, wird der Anteil der Nicht-Besucher*innen größer sein als bei einem weiteren Kulturbegriff. Geht es um Nicht-Besucher*innen einer Sparte wie beispielsweise Museen, Untergattungen innerhalb von Sparten wie einzelne Museumsarten und/oder nur um Angebote einer einzelnen Einrichtung? Vielleicht besucht eine Person ebenjene kulturellen Angebote nicht, stattdessen aber andere Sparten, bzw. andere Museumsarten oder Häuser. Oder sind wirklich diejenigen gemeint, die überhaupt keines der genannten Angebote besuchen? Auch von den konkreten Begriffen, die für Museumsangebote in Untersuchungen verwendet werden, hängt stark ab, wie viele zu den Nicht-Besucher*innen gehören. Wird beispielsweise nach dem Besuch von Museen/Ausstellungen gefragt, denken die Befragten sehr wahrscheinlich an ein breiteres Angebotsspektrum, als wenn nach dem Besuch von Museen/Galerien gefragt wird oder nach dem Besuch von Ausstellungen in einzelnen Museumsarten. Zudem: Sind die in den entsprechenden Befragungen verwendeten Begriffe für die Befragten eindeutig und entsprechen sie dem, was Forscher*innen sich bei deren Formulierung gedacht haben? Oftmals wird im Museumsbereich mit Bezeichnungen gearbeitet, die einer fachinternen Logik entsprechen, aber nicht gezwungenermaßen auch für Externe verständlich sind. So ist beispielsweise davon auszugehen, dass nicht jede*r Befragte einschätzen kann, was unter einer kulturgeschichtlichen Ausstellung zu verstehen ist und
Zukunftsweisende Zielgruppenarbeit durch Nicht-Besucher*innenforschung
entsprechend vielleicht nicht klar beantworten kann, ob und wenn ja, wie oft er*sie diese schon besucht hat. Dabei stellt sich sogleich die Frage, was in den Untersuchungen als konkreter Besuch gezählt wird. Sind gleichermaßen Besucher*innen gemeint, etwa von Dauer- und/oder Sonderausstellungen, Anwesende vor Ort vs. digitale Besucher*innen, Besucher*innen nur ab einer bestimmten Besuchsdauer/nur mit bestimmten Tickets, Individualbesucher*innen/Gruppen oder aktiv/passiv Teilnehmende? Und gleichermaßen elementar ist die Entscheidung, ab wie viel Besuchen in einem bestimmten Zeitraum jemand als Nicht-Besucher*in verstanden wird. Ist jemand bereits nach Ausbleiben von Besuchen innerhalb der letzten 12 Monate als Nicht-Besucher*in zu betrachten oder eher erst nach 10 Jahren Abstinenz? Ab welcher Frequenz wäre jemand Gelegenheitsbesucher*in oder gar Vielbesucher*in? Eine der bekanntesten Bevölkerungsbefragungen in Deutschland zur Kulturnutzung ist das wiederkehrend erscheinende KulturBarometer des Zentrums für Kulturforschung in Bonn. In beispielsweise der 2004/2005erStudie mit circa 2.000 Befragten finden sich Angaben zur Besuchshäufigkeit der Befragten von Museen/Ausstellungen. Dabei geben nur 17 Prozent der Befragten an, »noch nie« ein entsprechendes Angebot besucht zu haben. Bei diesen Personen handelt es sich entsprechend um wirkliche Nicht-Besucher*innen. Hingegen waren 19 Prozent der Befragten immerhin »einmal im Leben« und 65 Prozent »mehr als einmal im Leben« in Museen/Ausstellungen (vgl. Zentrum für Kulturforschung 2005; Keuchel 2005: 112). Streng genommen ist jemand, der immerhin einmal im Leben in einem Museum/ einer Ausstellung war, nicht voll und ganz Nicht-Besucher*in. Aber ist diese Person wirklich von entsprechenden Angeboten erreichbar? Wäre nicht eine etwas genauere Untergliederung derjenigen wünschenswert, die mehr als einmal im Leben dort hingehen, und ab wann jemand regelmäßig dort hingeht? Im Unterschied zu der oben genannten KulturBarometer-Studie mit den Besuchsfrequenzen »nie«, »einmal im Leben« und »mehrfach im Leben« unterscheiden andere Bevölkerungsbefragungen, wie das Eurobarometer Nr. 399, sehr eng gefasst in Besuche von Kulturangeboten innerhalb der letzten 12 Monate (= Besucher*innen) oder keine Besuche in diesem Zeitraum (= Nicht-Besucher*innen) (vgl. European Commission 2016). Einige wenige andere Studien wie die Allbus-Studie 2014 unterteilen diejenigen, die entsprechende Angebote seltener als in den letzten 12 Monaten besucht haben,
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noch weiter in Besuche »alle paar Jahre« (= Gelegenheitsbesucher*innen) und »nie besucht« (= Nicht-Besucher*innen) (vgl. Allbus 2015). Die jüngsten Daten in diesem Themenfeld entstammen einer Studie von Karl-Heinz Reuband mit circa 4.300 Befragten, in der die Häufigkeit von Museumsbesuchen den Museumsarten Museen für Kunst, Malerei, Stadt- oder Heimatmuseen und Naturwissenschaftliche, technische, historische Museen abgefragt wurden – allerdings mit etwas weniger detaillierten Zeitabständen als die Allbus-Studie (vgl. Reuband 2018a,b).2 Ein Blick in die Daten der aufgeführten Studien zeigt, dass der Anteil derjenigen, die in den letzten 12 Monaten entsprechende Angebote besucht haben (oder eben nicht), je nach Studie deutlich schwankt (siehe Tabelle 1).3 Während beispielsweise nach Eurobarometer von circa 1.500 Befragten in Deutschland 56 Prozent in den letzten 12 Monaten keine Museen/Galerien besucht haben, sind nach Allbus im gleichen Zeitraum 40 Prozent der circa 3.500 Befragten nicht in Museen/Ausstellungen gewesen. Zudem wird bei einem Blick in die Daten deutlich, dass diejenigen, die in den letzten 12 Monaten keine Angebote im Museumsbereich besucht haben, keinesfalls voll und ganz Nicht-Besucher*innen sind. Nicht wenige von ihnen – in der Allbus-Studie 12 Prozent, bei Reuband bis zu 40 Prozent der Befragten – gehen immerhin als Gelegenheitsbesucher*innen zu entsprechenden Angeboten und scheinen von diesen zumindest grundsätzlich erreichbar. Es lässt sich somit an dieser Stelle festhalten: Auch wenn die Definition von Nicht-Besucher*in auf den ersten Blick logisch erscheint, ist sie de facto Ergebnis begriff licher und empirischer Setzungen, die in verschiedenen 2 E rwähnt werden sollen hier beispielsweise auch die NEPS-Panelstudie »Bildungsverläufe in Deutschland« (2009-2020) des Leibniz-Instituts für Bildungsverläufe, die auch Informationen zu der Besuchshäufigkeit der Befragten von »Museen oder Kunstausstellungen« innerhalb der letzten 12 Monate enthält (vgl. Haag/Specht 2018; NEPS SC6 wave 7, n = ca. 10.000 Erwachsene). Die Studie »Freizeit und Kultur in Deutschland 2018« von Gunnar Otte (2016-2019) betrachtet die Kulturnutzung der deutschen Bevölkerung vertiefend. Auch der Bereich Museen wird darin beleuchtet, aufgeschlüsselt nach 11 Museumsarten (vgl. Johannes Gutenberg-Universität Mainz 2019, n = ca. 3.000 Befragte). Eine Befragung unter Studierenden in Berlin und Potsdam zur Nutzung und Nichtnutzung kultureller Angebote führte Martin Tröndle jüngst durch (2017, n = 1.264). Sie enthält Ergebnisse zu Besucher*innen und Nicht-Besucher*innen von »Kunstmuseum und Kunstausstellungen« (vgl. Tröndle 2019). 3 S ummen ungleich 100 Prozent basieren auf Rundungen. Abweichungen unter fünf Prozent zwischen Vergleichsdaten könnten aus statistischen Schwankungen resultieren.
Zukunftsweisende Zielgruppenarbeit durch Nicht-Besucher*innenforschung
Tabelle 1: Besucher*innen und Nicht-Besucher*innen nach Besuch in 12 Monaten Eurobarometer
ALLBUS
Museen/Galerien
Museen/Ausstellungen
Landeskulturbericht-Erhebung Drei Museumsarten* K
S
N
nie 29 %
nie
49 %
38 %
44 %
alle paar Jahre 12 %
seltener
29 %
39 %
35 %
≠ letzte 12 Mo. 56 %
≠ letzte 12 Mo. 40 %
≠ letzte 12 Mo.
78 %
77 %
79 %
= letzte 12 Mo. 44 %
= letzte 12 Mo. 60 %
= letzte 12 Mo.
22 %
23 %
20 %
davon 1-2x 28 %
davon 1x 30 %
davon 1x
12 %
17 %
15 %
davon 3-5x 9 %
davon mehrmals 19 %
davon >1x
10 %
6 %
5 %
davon > 5x 6 %
davon mind. 12x 11 % davon mind. 52x < 1 % davon 365x < 1 %
* K = Museen für Kunst, Malerei S = Stadt- oder Heimatmuseen N = Naturwissenschaftliche, technische, historische Museen
Studien sehr unterschiedlich ausfallen können. Überblicksdarstellungen zu Forschungsansätzen und empfehlenswerten Definitionen im Themenfeld Nicht-Besucher*innen gibt es für den Museumsbereich bislang nicht.
Besucher*innenforschung als Basis für Nicht-Besucher*innenforschung Jenseits aller begriff lichen Setzungen lassen sich konkretere Antworten auf die Fragen, wer die Nicht-Besucher*innen von Museen genau sind, und was sie von einem Besuch abhält, im Grunde nur mit einer Kombination aus Informationen zu Nicht-Besucher*innen und Besucher*innen geben (vgl. Reuband 2017: 78). Denn Besucher*innenforschung kann nicht nur als Mittel dienen, die aktuellen Besucher*innen besser kennenzulernen. Über Besucher*innenforschung ist auch das Feststellen von Leerstellen im Vergleich der Zusammensetzung der Besucherschaft mit der Zusammensetzung derjenigen möglich, die potenziell als Besucher*innen kommen könnten (bspw. im Vergleich mit anderen Kultureinrichtungen oder der Gesamtbevölkerung).
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Vera Allmanritter
Besucher*innenforschung kann zudem, je nachdem, welche Fragen sie stellt, auch hinsichtlich anderer Faktoren aufzeigen, inwiefern sich die eigene Besucherschaft von Nicht-Besucher*innen unterscheidet (bspw. Einstellungen, Verhalten). Und es kann über entsprechende Studien festgestellt werden, ob sich die Zusammensetzung der Besucherschaft verändert und vielleicht aus ehemaligen Nicht-Besucher*innen im Zeitverlauf Besucher*innen geworden sind. Ein erster Schritt in Richtung Nicht-Besucher*innenforschung ist für Museen entsprechend kontinuierliche Besucher*innenforschung. Eine Sichtung des aktuellen Stands der Besucher*innenforschung deutscher Museen, auf deren Basis ein Bild der Besucher*innen gezeichnet und evtl. sogar an Hinweise zu Nicht-Besucher*innen gelangt werden könnte, ist allerdings eher ernüchternd. Entsprechende Studien aus Museen sind zumeist einzelne Befragungsprojekte, deren Ergebnisse nicht öffentlich zugänglich sind. Zudem wird zumeist in jedem einzelnen Haus mit individuellem Fragebogen gearbeitet, was eine Vergleichbarkeit der Ergebnisse und übergreifende Aussagen zu Museumsbesucher*innen und Nicht-Besucher*innen erschwert. Großangelegte einrichtungsübergreifende und überregionale Studien von möglichst vielen Museen mit einheitlicher Befragungsmethode, die hierfür deutlich besser geeignet wären, sind hingegen äußerst selten (vgl. Reuband 2016a: 2ff.). Ein bekanntes Beispiel für eine solche einrichtungsübergreifende Herangehensweise ist die Studie »Der gläserne Besucher« von Hans-Joachim Klein, bei der in 33 Museen verschiedenster Sammlungsschwerpunkte aus dem Tätigkeitsbereich des Westfälischen Museumsamts und vier Museen in West-Berlin mehr als 50.000 Besucher*innen befragt wurden (vgl. Klein 1990). Allerdings ist diese Studie mit einem Erhebungszeitraum von 1984 bis 1986 inzwischen knapp 35 Jahre alt. In einer immerhin nur 20 Jahre alten Studie von Marlies Hummel wurden zwischen 1995 und 1996 etwas mehr als 12.000 Besucher*innen in 17 Museen unterschiedlicher Städte (Berlin, Bonn, Dresden, Hamburg, Karlsruhe und Köln) befragt (vgl. Hummel 1996). Jüngere überregionale Besucher*innenforschungsdaten von einer entsprechend großen Zahl von Museen (sowie von Gedenkstätten, Opern, Ballett, Tanztheater, Sprechtheatern, Festivals, Klassischen Konzerten) mit gleicher Erhebungsmethode liefert für Deutschland aktuell nur das in Berlin im Jahr 2008 etablierte Besucher-Monitoring-System KulMon. In dessen Rahmen wurden inzwischen ca. 340.000 Besucher*innenbefragungen durchgeführt, die in den meisten Einrichtungen kontinuierlich über
Zukunftsweisende Zielgruppenarbeit durch Nicht-Besucher*innenforschung
längere Zeiträume erhoben werden. Im KulMon-Datensatz befinden sich nur für den Standort Berlin zwischen 2008 und 2020 ca. 115.000 Befragte aus 20 Museen. Fragebögen bestehen bei KulMon für eine größtmögliche Vergleichbarkeit der Daten immer aus in allen teilnehmenden Einrichtungen einheitlichen Kernfragen und individuell zusammengestellten – aber ebenfalls vereinheitlichten – Zusatzfragen aus einem Fragenkatalog. Seit Beginn wurde im System zwischen verschiedenen Sparten unterschieden. Ab Herbst 2019 wurden diese noch weiter aufgegliedert, beispielsweise Museen nach verschiedenen Sammlungsschwerpunkten. Da KulMon sich derzeit geografisch im deutschsprachigen Raum ausweitet, verspricht es langfristig eine sehr gute Quelle für Vergleichsdaten zu Besucher*innen (auch) in Museen verschiedenster Art zu werden (vgl. IKTf 2021a).
Gezielt mehr über Nicht-Besucher*innen herausfinden Ohne Untersuchungen außerhalb von Museen ist aber logischerweise kaum an vertiefende Informationen über deren Nicht-Besucher*innen zu gelangen. Ein weiterer Schritt neben der Durchführung von Besucher*innenforschung liegt somit für Museen darin, Information über Nicht-Besucher*innen außerhalb des eigenen Hauses zu sammeln. Relevante Vergleichsfaktoren wie beispielsweise soziodemografische oder sozioökonomische Informationen sollten in diesen Nicht-Besucher*innen-Studien in gleicher Art und Weise abgefragt werden wie in den Besucher*innen-Studien. Bei solchen NichtBesucher*innen-Studien kann es sich beispielsweise um Erhebungen rund um das eigene Haus auf der Straße und/oder an anderen Orten rund um den Standort einer Einrichtung handeln. Für erste Eindrücke rund um das Themenfeld und Kenntnisse zu Nicht-Besucher*innen im Nahbereich der Einrichtung sind solche Erhebungen zu empfehlen. Diese Studien können aber nur Aussagen über Nicht-Besucher*innen treffen, die sich im Befragungszeitraum an den ausgewählten Orten befinden (bspw. zw. Januar und März im Umkreis von 500 m rund um ein Museum oder an fünf verschiedenen Orten in einer Stadt). Entsprechend wichtig ist hierbei, dass sehr genau geprüft wird, um welche Orte es sich hierbei handeln soll. An repräsentative Kenntnisse über Nichtbesucher*innen einer Einrichtung beispielsweise in einer gesamten Stadt oder gar Nichtbesucher*innen ganz allgemein, kann auf diesem Wege nicht gelangt werden.
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Vera Allmanritter
Eine Möglichkeit, eine solche Auswahl von Orten zu umgehen und an Daten zu den Nichtbesucher*innen innerhalb einer Stadt zu gelangen, liegt in Bevölkerungsbefragungen zur Kulturnutzung und Nicht-Kulturnutzung an diesem Standort per Zufallsauswahl (bspw. über EinwohnermeldeamtStichproben). Solche Befragungen sind jedoch oft nicht kostengünstig und vermutlich nur in den seltensten Fällen von einzelnen Einrichtungen nur bezogen auf die eigenen Nicht-Besucher*innen zu finanzieren. Sie lassen sich aber über Ko-Finanzierungsmodelle mit anderen Einrichtungen bewerkstelligen und/oder über Kulturpolitik-/Verwaltungen für mehrere Einrichtungen an einem Standort. Einige Studien dieser Art sind in den letzten Jahren vor allem in größeren Städten durchgeführt worden, wie beispielsweise in Leipzig (vgl. Stadt Leipzig 2019), Wiesbaden (vgl. Landeshauptstadt Wiesbaden 2019) und Berlin (vgl. IKTf 2021b; Allmanritter et al. 2020). Sie füllen vor allem vor Ort wichtige Wissenslücken. Sowohl für entsprechende Befragungen einzelner Häuser als auch für jene Bevölkerungsbefragungen gilt jedoch: Sie vergleichend auszuwerten, wird durch teils sehr unterschiedliche Abfragearten der Kulturnutzung und den darin logischerweise vorhandenen Lokalbezug erschwert. Für die Optimierung des Datenbestands zu Nicht-Besucher*innen fehlt bislang eine überregionale Zusammenarbeit möglichst vieler mit dieser Fragestellung beschäftigter Akteur*innen. An eine übergreifende Antwort auf die Frage, wer die Nicht-Besucher*innen von Museen sind, kann daher stattdessen derzeit vor allem auf anderem Wegen gelangt werden: über bundesweite Bevölkerungsbefragungen, die Informationen zum Kulturnutzungsverhalten von Besucher*innen und eben auch Nicht-Besucher*innen von Kulturangeboten sammeln. Auch von diesen Untersuchungen gibt es aus den letzten 10 bis 15 Jahren nur wenige, die sich in ihrer Methodik (bspw. Fragenkonstruktion, Stichprobenziehung) zudem teils deutlich unterscheiden. Es handelt sich dabei beispielsweise um die oben bereits erwähnten Studien Eurobarometer Nr. 399 sowie Allbus 2014. Informationen zu Museen wurden in ihnen aber nur am Rande erhoben und dies auch nur rudimentär, beispielsweise ohne Aufschlüsselung nach Museumsarten (vgl. Reuband 2016b). Deutschlandweite Bevölkerungsbefragung zu Besucher*innen und Nicht-Besucher*innen fokussiert speziell auf den Museumsbereich sind anscheinend in Deutschland seit einer Studie von Volker Kirchberg Mitte der 1990er Jahre nicht mehr durchgeführt worden (vgl. Kirchberg 2004). Für die weiteren Abschnitte dieses Beitrags wurden
Zukunftsweisende Zielgruppenarbeit durch Nicht-Besucher*innenforschung
zu Vergleichszwecken Eurobarometer- und Allbus-Daten zu Besucher*innen und Nicht-Besucher*innen von Angeboten von Museen ausgewertet.
Die soziodemografische Zusammensetzung von Besucher*innen und Nicht-besucher*innen von Museen Eine erste empirische Antwort auf die Frage, wer Besucher*innen von Museen sind, kann über soziodemografische oder sozioökonomische Faktoren gegeben werden, die zumindest für eine grobe Idee zu möglichen Zielgruppen für Museen hilfreich sein können. Es handelt sich dabei um vergleichsweise einfach zu erhebende Sachverhalte, die in Besucher*innen- und Bevölkerungsbefragungen zumeist als Standard enthalten sind (vgl. European Commission 2016, Allbus 2015). Der*die typische Museumsbesucher*in wird in der Forschungsliteratur wie folgt kurz und knapp charakterisiert: Frauen besuchen Museen leicht häufiger als Männer. Mit knapp über der Hälfte entspricht der Frauenanteil unter den Besucher*innen in etwa dem Bevölkerungsschnitt. Bei den von Frauen und Männern präferierten Museumsarten zeigt sich ein leichter Unterschied. Frauen zieht es beispielsweise vergleichsweise häufiger in Kunst- und Männer eher in Technikmuseen. Diese Verhältnisse haben sich anscheinend seit der Erhebung von Klein nicht maßgeblich verändert. In der Tendenz wächst seitdem der Frauenanteil unter den Besucher*innen leicht. Die Besucherschaft von Museen war zum Zeitpunkt der Studien von Klein und Hummel jünger als der Bevölkerungsschnitt, heute ist sie tendenziell älter als dieser (Ü50). Dies ist insbesondere bei kulturgeschichtlichen Museen und Kunstmuseen der Fall. In Technik- und Naturkundemuseen hingegen ist der Anteil des Familienpublikums höher, was zu einer im Durchschnitt jüngeren Besucherschaft führt. Museumsbesucher*innen sind im Vergleich zur Bevölkerung formal überdurchschnittlich hoch gebildet, was sich in einem Abiturient*innenanteil von bis zu zwei Dritteln und fast der Hälfte Akademiker*innen unter den Besucher*innen zeigt. Besonders hoch ist der Anteil von Akademiker*innen in Kunstmuseen (vgl. Wegner 2016; Wegner 2015). Eine Auswertung der Eurobarometer- und Allbus-Daten zeigt ein recht einheitliches Bild der Besucher*innen, die innerhalb der letzten 12 Monate bei Angeboten im Museumsbereich waren (siehe Tabelle 2 auf der nächsten Seite). Die Ergebnisse decken sich – bei leichten Abweichungen zwischen
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den beiden Studien – bezüglich der soziodemografischen oder sozioökonomischen Struktur im Großen und Ganzen mit den oben beschriebenen typischen Museumsbesucher*innen. In beiden Befragungen sind Männer und Frauen anteilig etwa gleichermaßen in den letzten 12 Monaten zu Angeboten im Museumsbereich gegangen, bei leichtem Frauenüberschuss. Die Befragten, die entsprechende Angebote besuchen, sind in den ausgewerteten Studien im Vergleich älter und formal höher gebildet als die deutsche Bevölkerung laut Statistischem Bundesamt (Statistisches Bundesamt 2019). Es überrascht daher auch nicht, dass in beiden Studien nur ein vergleichsweise geringer Anteil dieser Personen die eigene wirtschaftliche Lage als problematisch beschreibt. Studien der OECD kommen seit vielen Jahren wiederholt zu dem Ergebnis, dass ein höherer Bildungsstand in der Regel zu besseren Beschäftigungsmöglichkeiten und höheren Einkommen führt (vgl. OECD 2018). In der Kulturpartizipationsforschung werden die Nicht-Besucher*innen von Kulturangeboten oftmals abgeleitet von Daten zu Besucher*innen beschrieben (vgl. Kirchberg/Kuchar 2014). Wird in Studien nicht explizit nach Gelegenheitsbesuchen oder Niebesuchen von Museumsangeboten gefragt, lässt sich mit der Differenzmethode der Anteil von Nicht-Besucher*innen von Besucherquoten errechnen (vgl. Renz 2016). Wenn beispielsweise als Information nur vorliegt, dass 30 Prozent der Bevölkerung im letzten Monat mindestens ein Museum besucht haben (vgl. Klein 1981), wären nach der Differenzmethode 70 Prozent der Bevölkerung Nicht-Besucher*innen. Lassen sich über solch ein »argumentum e contrario« (Kirchberg/Kuchar 2014: 176f.) die Nicht-Besucher*innen von Museen als soziodemografisches beziehungsweise sozioökonomisches Gegenbild zu Besucher*innen beschreiben? Abgeleitet von den oben beschriebenen Ergebnissen würde dies bedeuten, dass sie gleichermaßen Männer wie Frauen sein müssten, eher niedriger formal gebildet, finanziell eher nicht so gut gestellt und eher jünger sind.
Alter Bildungsabschluss bis 15 Jahre 27 % 16-19 Jahren 52 % >20 Jahren 17 %
Problem mit Rechnungen Fast immer 5 % Ab und zu 21 % Fast nie 75 %
Problem mit Rechnungen Fast immer 2 % Ab und zu 11 % Fast nie 87 %
11 % 21 % 27 % 42 %
Alter Bildungsabschluss bis 15 Jahre 11 % 16-19 Jahre 35 % >20 Jahre 43 %
Alter 15-24 Jahre 25-39 Jahre 40-54 Jahre > 55 Jahre
15 % 18 % 30 % 37 % 7 % 25 % 30 % 38 %
Wirtschaftliche Lage < eher schlecht 8 % teils/teils 23 % > eher gut 69 %
Schulabschluss bis Volks-/Haupts. 23 % Reals.,/Mittels. 30 % (Fach) Hochschulreife 47 %
Alter 15-24 Jahre 25-39 Jahre 40-54 Jahre > 55 Jahre
51 %
Alter 15-24 Jahre 25-39 Jahre 40-54 Jahre > 55 Jahre
Geschlecht weiblich
Geschlecht weiblich
51 %
Geschlecht weiblich 52 %
Den Nicht-Besucher Besucher*innen *innen ≠ in letzten 12 Mon. = in den letzten 12 Mon.
10 % 21 % 32 % 37 %
50 %
Wirtschaftliche Lage < eher schlecht 9 % Teils/teils 28 % > eher gut 63 %
Schulabschluss bis Volks-/Haupts. 37 % Reals.,/Mittels. 29 % (Fach)Hochschulreife 34 %
Alter 15-24 Jahre 25-39 Jahre 40-54 Jahre > 55 Jahre
Geschlecht weiblich
Gelegenheitsbesucher*innen < als in letzten 12 Mon.
2014er Allbus-Bevölkerungsbefragung Museen/Ausstellungen
Besucher*innen = in den letzten 12 Mon.
2013er Eurobarometer-Bevölkerungsbefragung Museen/Galerien
Tabelle 2: Besucher- und Nicht-Besucher*innen soziodemografisch/-ökonomisch
8 % 20 % 24 % 48 %
50 %
Wirtschaftliche Lage < eher schlecht 20 % Teils/teils 34 % > eher gut 47 %
Schulabschluss bis Volks-/Haupts. 56 % Reals.,/Mittels. 28 % (Fach)Hochschulreife 16 %
Alter 15-24 Jahre 25-39 Jahre 40-54 Jahre > 55 Jahre
Geschlecht weiblich
Nicht-Besucher*innen nie
Zukunftsweisende Zielgruppenarbeit durch Nicht-Besucher*innenforschung 411
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Eine Betrachtung der Eurobarometer- und der Allbus-Daten verdeutlicht, dass der Ansatz Nicht-Besucher*innen als Gegenbild der Besucher*innen zu beschreiben, zumindest nicht 1:1 aufgeht (siehe Tabelle 2 auf der vorherigen Seite). Es zeigen sich kaum relevante Unterschiede, wenn man Besucher*innen und Nicht-Besucher*innen danach differenziert, ob sie mindestens einmal in den letzten 12 Montagen ein Museum besucht haben oder nicht. Etwas markanter werden die Unterschiede, vergleicht man die Besucher*innen mit jener Gruppe, die angibt, nie zu entsprechenden Angeboten zu gehen. Tatsächlich handelt es sich sowohl bei denjenigen, die keine Angebote im Museumsbereich besuchen, als auch bei Besucher*innen der Angebote jeweils in etwa hälftig Männer und Frauen. Nicht-Besucher*innen gehören jedoch nicht – wie vielleicht aufgrund des vergleichsweise hohen Alters der Besucher*innen zu erwarten wäre – vornehmlich der jüngeren Altersgruppen an. Der Anteil der über 55-Jährigen ist bei den Nicht-Besucher*innen höher als bei den Besucher*innen.4 Gleichzeitig sind auch die Nicht-Besucher*innen älter als dies über die Zusammensetzung der deutschen Bevölkerung nach Alter zu erwarten gewesen wäre (vgl. Statistisches Bundesamt 2019). Deutlichere Unterschiede zwischen Nicht-besucher*innen und Besucher*innen zeigen sich auch bei den formalen Bildungsabschlüssen.5 Diejenigen, die ein niedriges formales Bildungsniveau aufweisen, geben besonders häufig an, dass sie in den letzten 12 Monaten keine Angebote im Museumsbereich besucht haben. Im Vergleich noch niedriger sind die formalen Abschlüsse derjenigen, die nie zu solchen Angeboten gehen. Hierzu passt – wie auch schon bei der Beschreibung der Besucher*innen festgestellt – der im Vergleich hohe Anteil derjenigen, die sich als finanziell nicht so gut situiert beschreiben, unter den Befragten, die in den letzten 12 Monaten mindestens einmal oder sogar nie Museumsangebote besucht haben.6 Allerdings gibt es auch einen hohen Anteil von Personen unter den Nicht-Besucher*innen, die ihre eigene wirtschaftliche Lage als mindestens »eher schlecht« einschätzen. 4 Z ur Kulturnutzung von Altersgruppen von über 50 Jahre siehe beispielsweise Keuchel/ Wiesand 2008. Mit der Schwierigkeit Kulturbesuche über das Alter zu erklären beschäftigte sich jüngst vertiefend auch Karl-Heinz Reuband (vgl. Reuband 2018a). 5 E urobarometer: »Age when finished full-time education« (bspw. European Commission 1999); Allbus: Höchster Schulabschluss (ALLBUS 2015). 6 E urobarometer: »During the last twelve months, how often have you had difficulties in paying your bills at the end of the month […]?« (vgl. European Communities 2016); Allbus: Selbsteinschätzung der eigenen wirtschaftlichen Lage heute (vgl. ALLBUS 2015).
Zukunftsweisende Zielgruppenarbeit durch Nicht-Besucher*innenforschung
Eine ergänzende vertiefende Betrachtung der Daten bestätigt das bisherige Bild: Von den vier soziodemografischen beziehungsweise sozioökonomischen Faktoren zeigt sich im Eurobarometer und im Allbus der größte Zusammenhang zwischen der Besuchsfrequenz von Museumsangeboten mit dem formalen Bildungsniveau. Steigt dieses, steigt auch die Wahrscheinlichkeit eines Museumsbesuchs. Hierbei handelt es ich um einen Zusammenhang, der in der Forschung bereits seit vielen Jahren immer wieder (auch) für Kulturbesuche generell wiederholt beschrieben wird (bspw. in verschiedenen KulturBarometer-Studien, vgl. Keuchel 2012, Keuchel/Larue 2012). Ein leichter Zusammenhang – unabhängig vom Bildungsniveau – zeigt sich im Allbus zudem zwischen der Besuchswahrscheinlichkeit und der Einschätzung der eigenen wirtschaftlichen Lage. Tendenziell gehen diejenigen, die angeben gut situiert zu sein, häufiger zu Museumsangeboten als diejenigen, denen es finanziell schlechter geht. Im Eurobarometer ist der Einf luss in der Tendenz jedoch umgekehrt. Diejenigen, die seltener angeben, Schwierigkeiten beim Bezahlen von Rechnungen zu haben, gehen etwas häufiger zu entsprechenden Angeboten. Bezüglich des Alters und des Geschlechts der Befragten zeigen sich in beiden Studien im Grunde keine Zusammenhänge mit der Besuchsfrequenz.
Hinderungsgründe für (potenzielle) Besucher*innen Hinderungsgründe für Kulturbesuche liegen laut Forschungsliteratur grob unterteilt entweder in einer mangelnden Motivation entsprechende Angebote zu besuchen, beispielsweise aufgrund von Sozialisation und Vorbildung (bspw. die Vermutung, Angebote seien nichts für einen), von persönlichen Interessen und denen des sozialen Umfelds (bspw. keine Relevanz von Kulturangeboten für das eigene Leben sehen) oder schlechten Erfahrungen mit Kulturbesuchen in der Vergangenheit. Diese Hinderungsgründe können Kultureinrichtungen nur langfristig gemeinsam mit anderen Akteur*innen im Kultur- und Bildungsbereich abbauen. Oder es besteht eine grundsätzliche Besuchsmotivation, aber es kommen Hinderungsgründe zum Tragen, die einem Kulturbesuch entgegenwirken. Es handelt sich hierbei beispielsweise um Barrieren des Angebots (bspw. Qualität/Service ist schlecht), mangelnde Information (bspw. Kanäle, Frequenz, Sprache), physische Zugangsbarrieren (bspw. kein Parkplatz, keine Barrierefreiheit), durch Kosten und/
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oder durch Zeitpunkt und -planung oder durch andere persönliche Gründe (bspw. keine Begleitung, Familienumstände). Der Abbau dieser Hinderungsgründe liegt zumindest eher im unmittelbaren Gestaltungsbereich von Kulturschaffenden (siehe hierzu bspw. Allmanritter 2017: 75ff.; Renz 2016: 136ff.). Wichtig ist hier jedoch, sich erstens vorher ein klares Bild zu verschaffen, welche Barrieren für welche Zielgruppen tatsächlich zum Tragen kommen. Zweitens ist zu bedenken, dass ein reines Verringern der Barrieren noch nicht zu Kulturbesuchen führen wird. Die entsprechenden Zielgruppen müssen hierüber sehr wahrscheinlich aktiv informiert werden. Es ist davon auszugehen, dass bei grundsätzlich kulturaffinen im Vergleich zu (eher) nicht-kulturaffinen Bevölkerungsgruppen unterschiedliche Besuchsbarrieren besondere Relevanz haben und dass es vor allem bei Letzteren primär soziale oder subjektive Barrieren sind, die sie von einem Kulturbesuch abhalten. Dennoch werden von Befragten in empirischen Untersuchungen zu Hinderungsgründen für einen Kulturbesuch – unabhängig von ihrer Kulturaffinität – vor allem hohe Eintrittspreise und fehlende Zeit genannt, zum Teil auch zu wenig Kulturangebote in der Nähe des Wohnorts (siehe hierzu bspw. Renz 2016; Kay et al. 2009). Dies könnte darin begründet liegen, dass entsprechende Studien dazu tendieren vor allem Barrieren abzufragen, die durch Kultureinrichtungen selbst (innerhalb gewisser Grenzen) veränderbar sind und damit soziale und subjektive Hinderungsgründe oft auslassen. Eine weitere Ursache könnte sein, dass insbesondere Kosten- und Zeitbarrieren häufig keine tatsächlichen Hinderungsgründe für einen Kulturbesuch darstellen, sondern es sich bei ihnen oftmals um vorgeschobene Gründe für andere Prioritätensetzungen oder soziale und subjektive Barrieren handelt. Zu diesem Schluss kommen beispielsweise Birgit Mandel und Thomas Renz in qualitativen Studien (vgl. Mandel/Renz 2010). Es liegen aber leider keine Ergebnisse aus Bevölkerungsbefragungen vor, die diese Annahmen auf einer breiten Basis empirisch untermauern würden, vor allem nicht nach einzelnen Museumsarten. Gleichzeitig ist zu erwarten, dass die tatsächlichen Hinderungsgründe pro Haus sehr unterschiedlich sein dürften. Wenn beispielsweise kein Eintritt verlangt wird, kann der Ticketpreis per se kein Hinderungsgrund sein. Was lässt sich zu Hinderungsgründen für Museumsbesuche aus den Eurobarometer- und den Allbus-Daten ableiten?
Zukunftsweisende Zielgruppenarbeit durch Nicht-Besucher*innenforschung
Hinderungsgründe und soziodemografische oder sozioökonomische Faktoren Von den in diesem Beitrag verwerteten Bevölkerungsbefragungen fragt nur die Eurobarometer-Studie Hinderungsgründe für (häufigere) Besuche in Museen/Galerien ab, die hier wieder aufgeteilt nach der Häufigkeit von Besuchen im Museumsbereich »innerhalb der letzten 12 Monate« (= Besucher*innen) und »seltener als in den letzten 12 Monaten« (= Nicht-Besucher*innen) aufgezeigt werden (siehe Tabelle 3). Tabelle 3: Hinderungsgründe für Besuche im Museumsbereich nach Besuchshäufigkeit 2013er Eurobarometer-Bevölkerungsbefragung Museen/Galerien7
Zu wenig Interesse Zu wenig Zeit Zu teuer Zu wenig Information Geringe Auswahl/Qualität am Wohnort
Besucher*innen = in den letzten 12 Mon.
Nicht-Besucher*innen ≠ in den letzten 12 Mon.
17 % 51 % 5 % 3 % 13 %
54 % 21 % 7 % 3 % 8 %
Auf den ersten Blick zeigt sich in den Auswertungsergebnissen das oben beschriebene Bild, dass Gründe wie »zu wenig Interesse« und »zu wenig Zeit« am häufigsten von den Befragten als Gründe für nicht (noch) häufiger stattfindende Besuche angegeben werden. Bei denjenigen, die in letzten 12 Monaten Angebote im Museumsbereich besucht haben (= Besucher*innen), ist (zumindest subjektiv empfundene) mangelnde Zeit offenbar am ehesten das Problem, aber auch mangelndes Interesse an den Angeboten und eine geringe Auswahl/Qualität der Angebote am Wohnort spielen eine Rolle. Bei denjenigen, die in den letzten 12 Monaten kein entsprechendes Angebot besucht haben (Nicht-Besucher*innen), kehrt sich das Verhältnis in Teilen um. Vor 7 » And for each of the following activities, please tell me why you haven’t done it or haven’t done it more often in the last 12 months?« (European Communities 2016).
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allem mangelndes Interesse hält sie von häufigeren Besuchen ab, zu wenig Zeit spielt eine vergleichsweise geringere Rolle. Interessant ist zudem, was bei beiden Gruppen offenbar fast keine Rolle spielt: zu teure Angebote und zu wenig Informationen zu den Angeboten. An diesen beiden Stellschrauben könnten Museen per se drehen, beispielsweise über freien Eintritt und/oder ein Bespielen anderer Kommunikationskanäle, aber eine erfolgreichere Ansprache von Nicht-Besucher*innen wird hierdurch wohl eher nicht erreicht werden. Stehen diese Hinderungsgründe in Zusammenhang mit soziodemografischen oder sozioökonomischen Faktoren? Die in Tabelle 4 aufgeführten Ergebnisse zeigen, dass dies nur in Teilen der Fall ist. Augenscheinlich geben insbesondere Frauen an, dass sie Angebote als zu teuer empfinden. Bei allen anderen Hinderungsgründen zeigen sich aber kaum Effekte des Geschlechts der Befragten. Mangelnde Zeit wird grob eher von Jüngeren als von Älteren angegeben. Mangelnde Informationen werden vor allem in der jüngsten Altersgruppe fast nie als Hinderungsgrund genannt.8 Alle Hinderungsgründe fallen anscheinend für diejenigen weniger ins Gewicht, die über einen höheren Bildungsabschluss verfügen und nur selten Schwierigkeiten beim Bezahlen von Rechnungen angeben. Dies erscheint logisch, denn es handelt sich laut der obigen Ergebnisse um diejenigen, die die Angebote bereits häufiger besuchen. Der Grund »zu teuer« wird, wenig überraschend, tendenziell am ehesten von denjenigen genannt, die Probleme haben, Rechnungen zu bezahlen. Eine ergänzende und vertiefende Betrachtung der Daten bestätigt das bisherige Bild, dass bezüglich der Hinderungsgründe generell nur wenig Einf luss von soziodemografischen oder sozioökonomischen Faktoren auf das Antwortverhalten zu sehen ist. Zudem sind Gründe für beobachtbare Effekte sehr wahrscheinlich oftmals nicht bei den Befragten selbst zu suchen (Mikroebene), sondern in gesamtgesellschaftlichen Begebenheiten (Makroebene).9 Bei der Sichtung der vertiefenden Auswertungsergebnisse ist eine Unterteilung interessant in diejenigen, die Museen/Galerien in den 8 M öglicherweise sind die jüngeren Altersgruppen aufgrund ihrer großen Affinität Informationen im Internet zu suchen, besser mit diesen versorgt als Ältere (vgl. Frees/Koch 2018). 9 W ird auf Basis von Aggregatdaten (der Makroebene) unzulässiger Weise auf Individualdaten (die Mikroebene) geschlossen, wird in den Sozialwissenschaften von einem ökologischen Fehlschluss gesprochen (vgl. Schnell et al. 2005: 253).
Zukunftsweisende Zielgruppenarbeit durch Nicht-Besucher*innenforschung
Tabelle 4: Hinderungsgründe soziodemografisch/-ökonomisch 2013er Eurobarometer-Bevölkerungsbefragung Museen/Galerien Zu wenig Interesse
Zu wenig Zeit
Zu teuer
Zu wenig Information
Geringe Auswahl/ Qualität
Geschlecht weiblich
49 %
51 %
71 %
43 %
51 %
Alter 15-24 Jahre 25-39 Jahre 40-54 Jahre > 55 Jahre
15 % 22 % 25 % 37 %
13 % 23 % 36 % 28 %
12 % 13 % 27 % 49 %
1 % 26 % 44 % 30 %
10 % 16 % 26 % 48 %
Alter Bildungsabschluss bis 15 Jahre 16-19 Jahre >20 Jahre Studierend
23 % 51 % 17 % 8 %
12 % 44 % 36 % 9 %
31 % 44 % 20 % 5 %
9 % 37 % 50 % 6 %
22 % 40 % 33 % 5 %
Problem mit Rechnungen Fast immer Ab und zu Fast nie
3 % 21 % 76 %
4 % 16 % 81 %
12 % 26 % 62 %
2 % 24 % 75 %
3 % 10 % 87 %
letzten 12 Monaten besucht haben und diejenigen, für die dies nicht gilt. Bei den Besucher*innen in diesem Zeitraum verbleibt als sichtbarer Effekt einzig, dass »zu wenig Zeit« seltener von Älteren genannt wird, was vermutlich einfach darin begründet liegt, dass sie seltener noch voll im Arbeitsleben stehen als Jüngere. Ansonsten spielen bei den Besucher*innen soziodemografische oder sozioökonomische Faktoren offenbar keine bedeutsame Rolle für die Nennungswahrscheinlichkeit von Hinderungsgründen. Ein wenig anders sieht das Bild bei den Nicht-Besucher*innen in diesem Zeitraum aus. Auch hier sinkt mit steigendem Alter die Wahrscheinlichkeit, dass mangelnde Zeit der Grund ist, Angebote in Museen/Galerien nicht häu-
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figer besuchen. Gleichzeitig steigt mit dem Bildungsgrad die Wahrscheinlichkeit, dass Befragte »keine Zeit« als Grund nannten. Die könnte aber einfach darin begründet liegen, dass Bevölkerungsgruppen mit höheren Bildungsabschlüssen in der Regel stärker Teil der Arbeitswelt sind als diejenigen mit niedrigeren Abschlüssen (vgl. OECD 2018). Mit steigendem Alter steigt gleichzeitig die Wahrscheinlichkeit, dass eine geringe Auswahl/Qualität der Angebote am Wohnort eine Rolle spielt. Möglicherweise liegt dies aber einfach nur in der Tatsache begründet, dass in Städten in der Regel ein größeres Kulturangebot vorhanden ist als in ländlicheren Regionen (vgl. KuPoGe 2015). In Städten wohnen in der Tendenz aber eher jüngere Altersgruppen (vgl. Henger/Oberst 2019). Mangelnde Information wird interessanterweise als Hinderungsgrund bei den Nicht-Besucher*innen vor allem bei steigendem Bildungsgrad genannt. Bezüglich des Einf lussfaktors »zu teuer« ist der vergleichsweise größte Einf luss von soziodemografischen oder sozioökonomischen Faktoren zu erkennen. Bei den Nicht-Besucher*innen ist die Wahrscheinlichkeit, dass dieser genannt wird, bei Frauen höher als bei Männern. Tendenziell wird dieser Hinderungsgrund, wie zu erwarten, leicht häufiger genannt, wenn Probleme mit dem Zahlen von Rechnungen genannt werden. Doch Frauen haben im Datensatz im Vergleich aber nicht öfter Probleme Rechnungen zu zahlen als Männer. Bei steigendem Alter wird der Hinderungsgrund »zu teuer« seltener genannt. Hier könnte der Grund darin liegen, dass Ältere zumeist finanziell besser ausgestattet sind als Jüngere (vgl. OECD 2018).
Wie können Nicht-Besucher*innen für die eigenen Angebote begeistert werden Wenn es darum geht, wie Nicht-Besucher*innen für die eigenen Angebote begeistert werden können, ist zunächst die Überlegung wichtig, ob wirklich über Nicht- oder stattdessen über Gelegenheitsbesucher*innen nachgedacht werden soll. Wird auf das Themenfeld mit einer Kulturmarketing-Brille geblickt, sind sicherlich vor allem diejenigen als potenzielle Besucher*innen interessant, die zumindest als Gelegenheitsbesucher*innen eingestuft werden können. Erfolgt der Blick durch eine Kulturelle-Teilhabe-Brille, sind jedoch vor allem diejenigen interessant, die nur ganz selten oder nie Kulturangebote besuchen. Ebenjene Personen und damit ganz generell eine größere kulturelle Teilhabe zu erreichen, ist für Kultureinrichtungen deutlich schwieriger. Dies
Zukunftsweisende Zielgruppenarbeit durch Nicht-Besucher*innenforschung
gilt selbst für einen Abbau von Barrieren, die in ihrem unmittelbaren Gestaltungsbereich liegen. Denn während kulturaffine Personen beispielsweise über klassische Kommunikationswege zumeist gut erreicht werden können (bspw. Website, Printmaterial, Newsletter), ist dies bei Kulturangeboten fernen Personen nur äußerst eingeschränkt der Fall. Selbst wenn sie über die ebenjene Kommunikationswege erreicht werden – was oft nicht gegeben ist –, ist die Auswahl von Texten, Bildern und Design in der Regel auf die Kernbesucherschaft zugeschnitten. Die Art der Kommunikation kann auf nicht-kulturaffine Bevölkerungsgruppen entsprechend fremd oder gar abschreckend wirken – vor allem, wenn sie mehr Erklärungen oder einen »einfacheren« Einstieg in das Angebot benötigen (vgl. Allmanritter 2017; Renz 2016). Bezüglich der Frage, wie Kultureinrichtungen gezielter (auch) Nicht-Besucher*innen mit ihren Angeboten erreichen können, rückt seit Beginn des 21. Jahrhunderts mehr und mehr das aus den USA und Großbritannien stammende Begriffspaar Audience Development in den Blickwinkel des deutschsprachigen Kulturbereichs. Denn mit Audience Development liegt ein Management-Konzept und Instrumentarium vor, das Ansätze aus Kulturmarketing, Kulturvermittlung und künstlerischer Produktion kombiniert und sich sehr gut für die Ansprache von Personen eignet, die Kulturangebote bisher nicht häufig besuchen. Audience Development kann jedoch nur dann erfolgreich sein, wenn es erstens in einer Einrichtung wirklich langfristig gedacht und in der kompletten Auf bau- und Ablauforganisation verankert ist. Zweitens ist es mit Blick auf diejenigen, die selten oder nie zu Kulturangeboten gehen, nicht ausreichend, einfach bestehende Angebote beizubehalten und sie nur mit neuen/anderen Marketing- (Kommunikation, Preis, Distribution) und Vermittlungsmaßnahmen zu f lankieren. Besteht bei einer Person kaum oder sogar keine Besuchsmotivation, ist es zumeist das Angebot selbst, das sie von einem Besuch abhält (vgl. Allmanritter 2017; Renz 2016). An dieser Stelle lohnt ein Blick auf die Frage, aus welchen Gründen kulturelle Einrichtungen primär besucht werden. Für kulturaffine Personen steht hierbei vor allem der Wunsch, etwas zu lernen, neue Erfahrungen zu sammeln und etwas Sinnvolles/Wertvolles tun zu wollen, im Vordergrund. Für Personen, die Kulturangebote nur selten besuchten, liegen die Motive stattdessen jedoch vor allem in sozialer Interaktion, Interaktivität und Entspannung in angenehmer Umgebung. Um für breite Bevölkerungsgruppen kulturelle Teilhabe zu erreichen, könnten Kultureinrichtungen versuchen, sich dem Rezeptionsverhalten nicht-kulturaffiner Bevölkerungsgruppen stärker anzunähern. Dies hieße, sie
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müssten verstärkt auf populäre, vergleichsweise leicht zu rezipierende Angebote setzen, die sozialen Begegnungen in angenehmer Atmosphäre möglich machen (vgl. bspw. Mandel 2016, 2013, 2009). Ein reines Erproben verschiedener Kombinationen von Marketing- (Angebot, Kommunikation, Preis, Distribution) und Vermittlungsmaßnahmen – sprich: Audience Development in seiner klassischen Form – stößt jedoch schnell an seine Grenzen, wenn es um diejenigen geht, die Kulturangebote gar nicht besuchen. Insbesondere in Bezug auf den Abbau (potenzieller) Besuchsbarrieren für neue sowie Kulturangeboten wirklich komplett ferne Bevölkerungsgruppen wird die hohe Wirksamkeit von generellen (Neu-)Ausrichtungen von Kultureinrichtungen in Richtung partizipativerer Ansätze wie beispielsweise Audience Engagement, Community Building, Co-Creation sowie von Outreach betont. Diese Ansätze sind in Deutschland zum Teil noch ein recht junges Phänomen, werden aber beispielsweise in den USA und Großbritannien bereits seit vielen Jahren diskutiert und erprobt (siehe hierzu bspw. Scharf et al. 2018; Mandel 2016).
Ein erweiterter Blick – Informationen zu Lebensstilen von Besucher*innen und Nicht-besucher*innen Die aufgezeigte Zusammensetzung von Besucher*innen und Nicht-Besucher*innen von Museen und/oder Hinderungsgründe für Besuche im Museumsbereich nach soziodemografischen oder sozioökonomischen Faktoren kann einer ersten Annäherung an diese beiden Gruppen dienen. Die feststellbaren Unterschiede zwischen Besucher*innen und Nicht-Besucher*innen erscheinen allerdings in den hier verwendeten Studien teils nicht groß genug, um anhand nur dieser Angaben konkrete Überlegungen anzustellen, wie Museen für (Besucher*innen und) Nicht-Besucher*innen attraktiver werden könnten. Welche Perspektiven gibt es für die Nicht-Besucher*innenforschung? An dieser Stelle lohnt ein Blick über den fachlichen Tellerrand. Aus der soziologischen Forschung liegen bereits seit den 70er/80er Jahren alternative Ansätze vor, die helfen können, soziales Verhalten zu verstehen: Instrumente zur Feststellung von Lebensstilen (vgl. Otte 2008). Unter »Lebensstil« wird ein »regelmäßig wiederkehrender Gesamtzusammenhang der Verhaltensweisen, Interaktionen, Meinungen, Wissensbestände und bewertenden
Zukunftsweisende Zielgruppenarbeit durch Nicht-Besucher*innenforschung
Einstellungen eines Menschen« (Hradil 2005: 46) verstanden. Er ist quasi »Motor« des Handelns, kann aber auch nur im Rahmen von verfügbaren Handlungsspielräumen zum Tragen kommen (bspw. finanzielle Ressourcen). Somit können Lebensstile auch nicht als vollständiger Ersatz für soziodemografische oder sozioökonomische Strukturvariablen dienen, wohl aber als äußerst wertvolle Ergänzung (vgl. Otte 2008). Vor diesem Hintergrund wird (auch) in der Forschungsliteratur rund um die Bereiche Kultur- und Museumsmanagement als Denkansatz bereits seit den 80er Jahren empfohlen, für ein besseres Verständnis der Besucher*innen und Nicht-Besucher*innen von Kulturangeboten wie beispielsweise von Museen, den Blick stärker auf Lebensstile zu richten (siehe bspw. Hood 1991, 1983, in jüngerer Zeit bspw. Reuband 2017; Kirchberg/Kuchar 2012; Klein 2011). Doch entsprechende Typologien benötigen – so ihre Methodik überhaupt zugänglich ist – in der Regel eine hohe Anzahl von Items, um die einzelnen Lebensstile festzustellen. Zudem ist die Auswertungsmethode zumeist komplex und benötigt oft eine hohe Befragtenzahl. Die Erhebungen sind entsprechend teuer und zumindest für einzelne Museen kaum möglich. Des Weiteren sind Instrumente zur Feststellung von Lebensstilen, die in der Kulturnutzungsforschung bereits mehrfach Anwendung gefunden haben – wie beispielsweise von Peter Gluchowski und Gerhard Schulze (vgl. Gluchowski 1988; Schulze 1992) – oftmals mindestens 20 Jahre alt. Auch groß angelegte Wiederholungsstudien, die diese Typologien enthalten, wie beispielsweise durch Volker Kirchberg, finden sich seit den 1990er Jahren nicht mehr (vgl. Kirchberg 2004; Kirchberg 1996). Parallel gibt es Studien, die Lebensstil-Typologien enthalten, deren Methodik nicht öffentlich zugänglich ist und/oder deren Erhebung teuer bei Marktforschungsinstituten eingekauft werden muss. Das bekannteste Beispiel hierfür sind die Sinus-Milieus, zu denen rund um das Jahr 2010 eine Reihe von Publikationen erschien, die vertiefende Informationen zum Kultur- und Freizeitverhalten der Milieus von Menschen mit (und ohne) Migrationshintergrund enthielten (vgl. Der Ministerpräsident des Landes NRW 2010; Sinus 2008). Schon Anfang des neuen Jahrtausends versuchten sich Petra Schuck-Wersig und Gernot Wersig zwar an einer Kurztypologie zur Erfassung von Lebensstilen in Kombination mit Fragen zur Museumsnutzung. Diese Typologie wurde in der Forschung jedoch nicht weiter aufgegriffen (vgl. Wersig/Schuck-Wersig 2000). Eine Sichtung des aktuellen Forschungsstands zeigt entsprechend wenig überraschend, dass Lebensstilmodelle in der Kulturbesucher*innenforschung –
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sowohl in Besucher*innen-Studien als auch Nicht-Besucher*innen-Studien – ganz generell vergleichsweise selten verwendet werden (vgl. Renz 2016). Dabei sind deren Ergebnisse höchst aufschlussreich, zeigen verschiedene Lebensstile doch deutlich unterschiedliche Kulturinteressen, Nutzungsmotive und -muster sowie Ansprüche an Kultureinrichtungen auf, die teils quer zu soziodemografischen und sozioökonomischen Faktoren auftreten. Beispielsweise kommt Gerhard Schulze in seiner Studie über die Antworten von Befragten auf die drei unterschiedlichen alltagsästhetischen Schemata Hochkulturschema, Trivialschema und Spannungsschema. Auf deren Basis bildet er die fünf Erlebnismilieus: Niveaumilieu, Harmoniemilieu, Integrationsmilieu, Selbstverwirklichungsmilieu und Unterhaltungsmilieu (vgl. Schulze 1992). Dabei bestehen deutliche Korrelationen zwischen den Erlebnismilieus und dem Besuch von verschiedenen Museumsarten, beispielsweise besuchen Angehörige des Niveaumilieus überdurchschnittlich häufig Kunst- und Geschichtsmuseen, was im Vergleich am seltensten auf das Harmoniemilieu zutrifft, das am ehesten Interesse für Technikmuseen zeigt (vgl. Kirchberg 2004, 1996). Schulze bietet pro Milieu ausführliche Beschreibungen zu deren Freizeitverhalten und Unterhaltungs-Präferenzen (Musik, TV etc.) sowie zu allgemeinen Einstellungen und Alltagsverhalten. Er beschreibt damit (potenzielle) Besucher*innen von Museen deutlich differenzierter als rein über sozio-demografische Merkmale. Auch die Sinus-Milieus unterscheiden sich hinsichtlich des Kulturnutzungsverhaltens deutlich (vgl. Der Ministerpräsident des Landes NRW 2010). Da Museen auf Grundlage solcher Lebensstil-Beschreibungen Zielgruppen bestimmen und Strategien entwickeln können, wie sie (potenzielle) Besucher*innen gewinnen und binden, sei an dieser Stelle auf eine aktuelle Entwicklung hingewiesen, die in dieses Themenfeld Bewegung bringen dürfte: Im Zeitraum September 2017 bis Oktober 2018 förderte die Beauftragte für Kultur und Medien ein Pilotprojekt mit dem Thema »Kulturelle Teilhabe im ländlichen Raum« der Konferenz Nationaler Kultureinrichtungen (KNK). Teil des Projekts war ein Test einer Kurztypologie zur Messung von Lebensstilen innerhalb einer groß angelegten spartenübergreifenden Besucher*innenstudie, die über das oben beschriebene Besucher*innenforschungssystem KulMon aus Berlin durchgeführt wurde (vgl. Allmanritter 2019). Seit Anfang 2019 ist das innerhalb des Pilotprojekts erprobte Lebensstil-Instrument in den Fragebögen aller bei KulMon teilnehmenden Einrichtungen als verpf lichtende Kernfrage enthalten (vgl. IKTf 2021a). In 2019
Zukunftsweisende Zielgruppenarbeit durch Nicht-Besucher*innenforschung
und 2021 wurde das Lebensstil-Instrument darüber hinaus bereits in eine zweijährig in Berlin stattfindende Bevölkerungsbefragung zur Nutzung und Nichtnutzung von Kulturangeboten (inklusive Museen) eingebaut. Als zentrales Ergebnis der 2019er Befragung ist dabei festzuhalten: Die Lebensstile haben eine zum Teil höhere Erklärungskraft für kulturelle Teilhabe als soziodemografische und sozioökonomische Faktoren. Dabei »ticken« Angehörige verschiedener Lebensstile äußerst unterschiedlich. Möchten Museen Anknüpfungen an die Lebenswelt ihrer Besucher*innen und Nicht*Besucher*innen nach Lebensstil herstellen, lohnt sich daher ein vertiefender Blick auf die auf Basis der Studienergebnisse erstellten ausführlichen Steckbriefe zu deren Kultur- und Freizeitverhalten, inklusive deren Motivation, kulturelle Angebote zu besuchen und Hindernissen, die sie hiervon abhalten (vgl. Allmanritter et al 2020: 31ff.). Für die in Berlin an KulMon teilnehmenden Einrichtungen besteht über die Ergebnisse dieser Befragung zudem entsprechend spartenübergreifend die Möglichkeit, die Struktur ihrer Besucher*innen mit der Berliner Bevölkerung hinsichtlich der Lebensstile zu vergleichen. KulMon ist für eine Teilnahme von Kultureinrichtungen im deutschsprachigen Raum generell offen und es hat bereits eine hohe Anzahl an Einrichtungen in Deutschland, aber auch aus Österreich und der Schweiz Interesse geäußert. Erste Ergebnisse der 2021er Bevölkerungsbefragung werden voraussichtlich im Herbst 2021/Frühjahr 2022 vorliegen. Eine einrichtungsübergreifende Auswertungen der KulMon-Daten, inklusive von Ergebnissen zu den Lebensstilen ist für Sommer 2022 geplant. Es ist somit davon auszugehen, dass die oben dargestellte, aktuell noch eher dünne Kenntnislage zu Nicht-Besucher*innen von Museen generell, aber auch hinsichtlich ihrer Lebensstile, in naher Zukunft deutlich verbessert wird.
Literatur ALLBUS (2015): Allbus. Allgemeinen Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften (Studien-Nr. 5240, deutsche Version), GESIS Datenarchiv, Köln: https://www.gesis.org/allbus/inhalte-suche/studienprofile1980-bis-2018/2014/ vom 13.09.2021. Allmanritter, Vera (2017): Audience Development in der Migrationsgesellschaft. Neue Strategien für Kulturinstitutionen, Bielefeld: transcript.
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Evidenzbasierte Entwicklung innovativer Vermittlungsformate zur Unterstützung des Wissenserwerbs Peter Gerjets, Stephan Schwan
1. Einleitung Seit ihren Anfängen im 18. Jahrhundert hat die Institution Museum eine Vielzahl von Metamorphosen durchlaufen, beginnend mit der Präsentation des Reichtums und Wertes einer Sammlung, über die wissenschaftliche Ordnung und Klassifizierung der natürlichen Vielfalt bis hin zum provokanten Aufgreifen gesellschaftlich kontrovers diskutierter Inhalte (vgl. te Heesen 2012). Auch gegenwärtig befinden sich Museen in mehrfacher Hinsicht in einer Umbruchsituation: Bedingt durch den gesellschaftlichen und technologischen Wandel wird die Rolle der Museen neu verhandelt, das Verhältnis von Physischem und Digitalem verändert sich, der Status von Sammlungsobjekten wird kritisch ref lektiert, neue Besuchsgruppen mit ihren spezifischen Bedürfnissen und Ansprüchen werden erschlossen – abzulesen an virtuellen Museen ebenso wie an Provenienzdebatten und Maßnahmen zur Barrierefreiheit. Diese Umbrüche signalisieren mitnichten eine Krise der Museen; vielmehr belegt die Vielzahl an Neugründungen und aufwendigen Umgestaltungen ebenso wie die stetig wachsende Zahl der Besuche, dass Museen und Ausstellungen auch im 21. Jahrhundert einen hohen gesellschaftlichen Stellenwert haben (vgl. Institut für Museumsforschung 2018). Allen Veränderungen zum Trotz wurden Museen spätestens seit dem 19. Jahrhundert dauerhaft als Bildungsorte verstanden, und zwar nicht nur im Sinne der Ausbildung von ästhetischer Kennerschaft und der persönlichen Entwicklung, sondern vor allem auch als Medium des Lernens und Wissenserwerbs (vgl. Grünewald Steiger 2016). Bereits zu Beginn des 20. Jahrhun-
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derts wurden von Persönlichkeiten wie Alfred Lichtwark oder Oskar von Miller museumspädagogische Prinzipien formuliert, die in den 1970er und 1980er Jahren in einer umfassenden Didaktisierung von Ausstellungskonzepten einen Höhepunkt erreichten. Begleitend dazu entwickelte sich eine Besuchendenforschung mit dem Ziel, die besuchsbezogenen Wirkungen von Ausstellungen einer empirischen Prüfung zu unterziehen. Allerdings ist diese Besuchendenforschung bislang noch nicht in einem Umfang etabliert, der es ermöglichen würde, Vermittlungsangebote regelmäßig und gezielt auf Basis entsprechender empirischer Ergebnisse zu entwickeln. Die heutige Situation ist durch eine große Spannbreite von Vermittlungsformaten gekennzeichnet, die auch bedingt durch die rapiden Fortschritte im digitalen Bereich in Verbindung mit der großen Experimentierfreude vieler renommierter Häuser, kontinuierlich um neue und innovative Lösungen bereichert wird. Es soll im Folgenden kein Überblick über diese Vielfalt gegeben werden, auch keine Prognosen über deren zukünftigen Erfolg oder Misserfolg. Diskutiert werden sollen vielmehr methodische Ansätze, auf deren Grundlage beurteilt werden kann, ob es einem Vermittlungsformat – sei es bereits etabliert oder eine innovative Neuentwicklung – nachweisbar erfolgreich gelingt, bei Besuchenden von Museen und Ausstellungen Wissensprozesse zu initiieren und zu unterstützen. Im Folgenden wird dafür plädiert, zukünftig Vermittlung enger und systematischer mit der Besuchendenforschung zu verzahnen, als dies bisher (zumindest im deutschsprachigen Raum) der Fall ist. Zentral für unsere Argumentation ist hierbei das Konzept einer evidenzbasierten Entwicklung von Vermittlungsangeboten. Die Idee einer Evidenzbasierung hat in verwandten Bereichen, insbesondere bei Bildungsmaßnahmen im schulischen Bereich, in den letzten beiden Jahrzehnten einen hohen Stellenwert erhalten (vgl. Hattie 2009; vgl. Slavin 2002), denn sie bietet eine Reihe von Vorteilen. Erstens steht mit einer wissenschaftlich fundierten, empirischen Besuchendenforschung ein breites Methodenrepertoire zur Verfügung, das es erlaubt, den Einf luss eines Vermittlungsformats auf behaviorale, motivationale, kognitive und affektive Prozesse bei Besuchenden zu bestimmen. Zum Zweiten lassen sich die gewonnenen Datenmuster zu Befunden aus anderen Lernbereichen (beispielsweise schulischen Settings) sowie zu etablierten und empirisch abgesicherten Theorien und Modellen der Wissensvermittlung und des Wissenserwerbs in Beziehung setzen. Dies erlaubt drittens auch eine Abschätzung der Verallgemeinerbarkeit von Befunden. Sie können damit nicht nur ex post zur Evaluation einer
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bereits durchgeführten Vermittlungsmaßnahme genutzt werden, sondern darüber hinaus auch die Planung zukünftiger Ausstellungen und begleitender Vermittlungsformen unterstützen. Insbesondere durch die Betonung der Bezugnahme auf empirisch belegte Theorien und der Prüfung einer Generalisierbarkeit von Erkenntnissen geht der vorgeschlagene Ansatz deutlich über das traditionelle Verständnis von Besuchendenforschung als einem hausinternen Evaluationsinstrument hinaus (vgl. Deutscher Museumsbund 2019). Eine so verstandene Besuchendenforschung lässt sich am besten im Zusammenspiel von unmittelbar praxisbezogenen Anwendungsprojekten und universitärer Grundlagenforschung realisieren und umfasst auch den Austausch und die kritische Diskussion von empirischen Befunden und Erkenntnissen innerhalb einer breiten Community von Museen und Forschenden. Insgesamt erlaubt es der Einbezug von aktuellen Modellen des Wissenserwerbs im Zusammenspiel mit kognitionspsychologischen Methoden, in Zukunft eine stärker empirisch fundierte, besuchendenorientierte Gestaltung von Ausstellungsangeboten zu realisieren und damit einen wichtigen Baustein zu einem innovationsorientierten Kulturmanagement zu liefern. Dementsprechend ist das Ziel des folgenden Beitrags, den Ansatz einer empirischen Besuchendenforschung für die Beurteilung und Entwicklung von innovativen Vermittlungsformaten genauer zu beschreiben und zu exemplifizieren. In einem ersten Schritt wird hierfür ein Modell des Wissenserwerbs in Museen skizziert, das wiederum auf etablierten kognitiven und motivationalen Modellen aus der Instruktionspsychologie beruht, welche sich als Teilgebiet der Psychologie mit der Analyse und Verbesserung von Prozessen der Wissensvermittlung beschäftigt. Diese in vielen Studien empirisch gut belegten Modelle der Instruktionspsychologie bieten einen konzeptuellen Bewertungsrahmen sowohl für die Entwicklung neuer Vermittlungsformate als auch für die Auswahl von Messinstrumenten und Vergleichsbedingungen in entsprechenden empirischen Studien. Dies muss aber nicht zu einer Standardisierung und Verarmung der Vielfalt von Vermittlungsformen führen, denn innerhalb dieses Rahmens besteht weiterhin ein großer Spielraum für die Entwicklung innovativer Formate, die nach ihrer Implementation einer genauen empirischen Prüfung unterzogen werden müssen. Im Anschluss wird deshalb ein Projekt vorgestellt, in dem das Konzept der evidenzbasierten Entwicklung eines innovativen Vermittlungsformats praktisch umgesetzt wurde. Der vorliegende Beitrag schließt mit einer Reihe von Thesen, wie empirische Besuchendenforschung für die Museumsarbeit fruchtbar gemacht werden kann.
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2. Ausgangspunkt: Ein psychologisches Modell des Wissenserwerbs in Museen Aufgrund der Bedeutung von Museen für das lebenslange Lernen wurden in den vergangenen Jahren mehrere museologische Rahmenmodelle vorgeschlagen, die darauf abzielen, das Lernen und den Wissenserwerb von Besuchenden in Museen und Galerien zu beschreiben und zu erklären (vgl. Falk/ Dierking 2013; Hohenstein/Moussouri 2018; vgl. Hooper-Greenhill 2004; Kirchberg/Tröndle 2012). Das von Falk und Dierking vorgeschlagene kontextuelle Modell des Museumslernens beschreibt das Lernen von Besuchenden als ein komplexes Zusammenspiel des persönlichen, soziokulturellen und physischen Kontextes, in den ein einzelner Museumsbesuch eingebettet ist. Der persönliche Kontext bezieht sich auf die individuellen Eigenschaften jedes Besuchenden, einschließlich früherer Erfahrungen, Eigenschaften, Vorkenntnisse, Interessen und Motivationen. Der soziokulturelle Kontext umfasst nicht nur das kulturelle Milieu der individuellen Besuchenden und der Museumsinstitution, sondern auch die sozialen Interaktionen, die während des Besuchs stattfinden. Der physische Kontext umfasst die verschiedenen Merkmale einer Ausstellung, einschließlich ihrer Architektur, ihrer Atmosphäre und der Objekte und Medien, die die Ausstellung ausmachen. Durch Tiefeninterviews, erweiterte Umfragen und Konzeptmapping-Methoden ist es museologischen Studien gelungen, sowohl Prozesse der Bedeutungsgenerierung bei Museumsbesuchen sehr detailliert zu beschreiben als auch diese Ergebnisse zu Typologien von Besuchsmotiven und -verhalten zu aggregieren (vgl. Falk 2009; Falk et al. 1998; Pekarik et al. 1999). Museumsausstellungen weisen gegenüber anderen Lernkontexten einige einzigartige Merkmale auf, wie die Fokussierung auf authentische Objekte und die Bewegung von Besuchenden in einem inszenierten Raum. Zudem nutzen sie in größerem Umfang Strategien einer unterhaltsamen, Neugier weckenden Wissensvermittlung, beispielsweise durch narrative oder personalisierte Elemente. Ausstellungen teilen sich aber auch viele Merkmale mit anderen Lernkontexten. So konzentrieren sie sich beispielsweise auf wissenschaftliche Evidenz und Argumentation und nutzen ein breites Spektrum an verschiedenen Medien, das von Texten und Illustrationen bis hin zu physischen Modellen reicht (vgl. Schwan et al. 2014). Angesichts dieser Gemeinsamkeiten und der Annahme, dass Lernen und Verstehen auf einem gemeinsamen Satz von mentalen Prozessen beruhen, die sowohl für formale als auch für informelle
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Lernsituationen gelten, können etablierte psychologische Modelle, die Lernund Verstehensprozesse im Hinblick auf ihre kognitiven und motivationalen Voraussetzungen beschreiben, bestehende Modelle des Wissenserwerbs in Museen ergänzen und erweitern (vgl. Schwan et al. 2018). Im Folgenden sollen deshalb drei prominente psychologische Theorien zu Lernmotivation, zum Textverstehen und zum Multimedialernen in einem einheitlichen Rahmenmodell zusammengefasst werden, das eine vertiefende Analyse psychologischer Prozesse bei der Vermittlung in Museen und Ausstellungen erlaubt. Die Theorien beruhen ihrerseits auf der Synthese einer umfangreichen empirischen Forschungsliteratur zu Wissenserwerb und Wissensvermittlung und sind darüber hinaus empirisch gut validiert. Ziel des von uns vorgeschlagenen Rahmenmodells ist es, Vermittlungsangebote gleichzeitig unter einer motivationalen Perspektive (d.h. Informationsangebote, die Neugier wecken und von Besuchenden als bedeutsam und lohnend empfunden werden) und einer kognitiven Perspektive (d.h. möglichst verständliche, nachvollziehbare und sinnvoll multimedial unterstützte Abbildung 1: Ein kognitiv-motivational orientiertes Rahmenmodell zentraler psychologischer Prozesse bei der Vermittlung in Museen und Ausstellungen.
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Informationsangebote) optimieren zu können. Zwar werden diese beiden Prozessketten in der Instruktionspsychologie getrennt betrachtet und auch von unterschiedlichen Theorien beschrieben, für die museale Vermittlung ist eine Integration dieser Aspekte allerdings von hoher Wichtigkeit. Der motivationale als auch der kognitive Pfad des Modells umfassen jeweils vier zentrale psychologische Prozesskomponenten, die sowohl für die Entwicklung von Vermittlungsangeboten als auch für eine empirische Prüfung von Angeboten genutzt werden können (vgl. Abb. 1: im Zentrum der Abbildung ist beispielhaft ein Vermittlungsangebot aus dem später beschriebenen Projekt »EyeVisit« dargestellt).
2.1 Interesse und Neugier wecken und aufrechterhalten: Die motivationale Prozesskette In einer musealen »free choice learning«-Situation (vgl. Falk 2009) beginnt die motivationale Prozesskette üblicherweise mit besuchendenseitigen Interessen, z.B. an Themen der Ausstellung oder an einzelnen Objekten, auf die sich die Aufmerksamkeit eines Besuchenden richtet, weil sie spontan Neugier erzeugt haben und Fragen aufwerfen (Attention Catch, vgl. Serrell 1997; vgl. Serrell 1998). Ist dieses situationale Interesse (vgl. Hidi/Renninger 2009; vgl. Lewalter/Geyer 2009) an einem Ausstellungsobjekt oder -thema geweckt, kann sich mit Hilfe von Vermittlungsangeboten über die Zeit ein vertiefender motivationaler Prozess entfalten, der sich in vier Schritte gliedern lässt: Aufmerksamkeit, Relevanz, Erfolgszuversicht und Zufriedenheit. Diese Unterteilung ist der Kern des ARCS (Attention, Relevance, Confidence, Satisfaction) -Modells von Keller (vgl. Keller 1983, 1987, 2010), das eines der verbreitetsten Modelle zur motivationalen Unterstützung von Wissensvermittlungsprozessen ist. Im ersten Schritt gilt es dabei, die Aufmerksamkeit von Besuchenden vom Thema oder Exponat auf ein dazugehöriges Vermittlungsangebot zu übertragen. Dies kann z.B. gelingen, wenn das Angebot Informationen bietet, die sehr gut auf die aktuellen Informationsbedarfe oder Fragen von Besuchenden abgestimmt sind, oder wenn das Angebot Elemente enthält, die für Besuchende überraschend, unerwartet, neuartig oder konf likthaft sind. Dies schließt explizit auch unterhaltsame und erlebnisorientierte Elemente wie narrative oder personalisierte Formate ein. Das Gewinnen der Aufmerksamkeit für ein Vermittlungsangebot ist ein Prozess von kurzer zeitlicher
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Dauer, der durch die nachfolgenden motivationsbezogenen Schritte aufgegriffen werden muss, wenn er in eine dauerhaftere Auseinandersetzung mit einem Vermittlungsangebot im Sinne einer länger andauernden Aufmerksamkeit (Attention Hold, vgl. Serrell 1997, 1998) münden soll. Dazu muss im zweiten Schritt zunächst die Relevanz der vermittelten Informationen deutlich werden, z.B. indem das Vermittlungsangebot Bezüge zu eigenen Erfahrungen, Werten oder dauerhaften Interessen und Zielen herstellt. An dieser Stelle in der motivationalen Prozesskette müssen Besuchende erkennen, warum es über ihr zunächst möglicherweise eher oberf lächliches und spontanes Interesse hinaus wichtig und spannend für sie ist, sich mit den vermittelten Informationen ausführlicher zu beschäftigen. Im dritten Schritt sollen Besuchende, die sich auf eine zeitlich ausführlichere Auseinandersetzung mit Vermittlungsangeboten eingelassen haben, die Zuversicht behalten, dass sie diese Auseinandersetzung auch erfolgreich bewältigen können. Das Angebot sollte daher gut auf Besuchende abgestimmt sein, diese nicht überfordern und gegebenenfalls auch weitere Unterstützung anbieten (z.B. Zusatzinformationen, Visualisierungen oder variable Informationen auf verschiedenen Anspruchsniveaus). Weiterhin sollten die Besuchenden das Tempo der Vermittlung selbst steuern können und insgesamt möglichst viele Gelegenheiten für Erfolgserlebnisse geboten bekommen während sie ein Verständnis für Ausstellungsobjekte oder -themen entwickeln. Die abschließende vierte motivationale Komponente betrifft die Zufriedenheit von Besuchenden im Anschluss an die Rezeption eines Vermittlungsangebotes. Hier ist z.B. wichtig, dass Fragen oder Themen, die aufgeworfen wurden, um die Aufmerksamkeit von Besuchenden zu gewinnen oder die Relevanz von Informationen zu verdeutlichen, auch tatsächlich zufriedenstellend behandelt und beantwortet werden. Zudem sollten Besuchende mit dem erworbenen Verständnis positive Konsequenzen verbinden, z.B. indem sie neue Einsichten oder Fertigkeiten gewonnen haben, die sie im weiteren Ausstellungsbesuch oder auch in anderen Kontexten nutzen oder weitergeben können und wollen. Die abschließende Zufriedenheit mit einem Vermittlungsangebot ist entscheidend für die Absicht, weitere Vermittlungsangebote im Verlauf des Ausstellungsbesuchs zu nutzen. Zusammenfassend bestimmt die Motivation von Besuchenden, sich mit einem Vermittlungsangebot zu beschäftigen, ob es überhaupt zu tiefergehenden Verstehensprozessen im Sinne der kognitiven Prozesskette kommt.
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Das ARCS-Modell kann hier hilfreiche Unterstützung geben, sowohl bei der begriff lichen Analyse als auch bei der Entwicklung konkreter Ideen für die motivationale Verbesserung von Angeboten.
2.2 Verstehen fördern und Wissenserwerb ermöglichen: Die kognitive Prozesskette Des Weiteren enthält unser Rahmenmodell eine kognitive Prozesskette, die ebenfalls vier Schritte umfasst: Aktivieren von Vorwissen, Herstellen von TextKohärenz, Auswählen und Organisieren von Multimedia-Elementen sowie Integrieren von Informationen durch mentale Modellbildung. Diese Schritte beschreiben den eigentlichen Verstehensprozess, der durch die motivationalen Komponenten angestoßen, aufrechterhalten und vorangetrieben wird. Museale Vermittlung basiert zumeist auf Informationsangeboten, die neben geschriebenen Texten oder gesprochener Sprache ein breites Spektrum an Präsentationsformen und Aktionsmöglichkeiten umfassen, die von Besuchenden gelesen, angehört, betrachtet, berührt oder erkundet werden können. Dementsprechend füllen wir die kognitive Prozesskette inhaltlich mit Annahmen aus dem bekanntesten psychologischen Modell des Textverstehens, dem Konstruktions-Integrations-Modell (KIM) von Kintsch (vgl. Kintsch 1998), sowie dem in der Instruktionspsychologie dominanten Modell des Lernens mit multimedialen Materialien, der kognitiven Theorie des multimedialen Lernens (KTML) von Mayer (vgl. Mayer 2014). Beide Theorien fassen Lernen und Verstehen als aktive und konstruktive Prozesse der Bedeutungsgenerierung auf, die dauerhafte Veränderungen von Wissensstrukturen im Langzeitgedächtnis bewirken. Hierbei ist das bereits im Langzeitgedächtnis verfügbare Vorwissen von Besuchenden für das Verstehen von Vermittlungsangeboten von zentraler Bedeutung. Aus schriftlichen Texten oder gesprochener Sprache, die ja in vielen Vermittlungsangeboten eine wesentliche Rolle spielen, wird laut KIM in einer Konstruktionsphase zunächst eine mentale Repräsentation gebildet, die ihrerseits bereits vorhandenes Vorwissen aktiviert, so dass ein großes Netzwerk aktivierter Bedeutungen (Propositionen) resultiert. In der Integrationsphase werden aus den aktivierten Inhalten nur solche Inhalte ausgewählt, die viele Verbindungen zu anderen aktivierten Inhalten aufweisen und somit mutmaßlich zentrale Bedeutungselemente sind. Mithilfe von Inferenzen (Schlussfolgerungen) auf der Basis von Vorwissen werden zusätz-
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liche Inhalte eingefügt, die benötigt werden, um fehlende Verbindungen zwischen Bedeutungseinheiten herzustellen. Die Güte des Verstehens ergibt sich nach diesem Modell daraus, wie kohärent die einzelnen Informationen miteinander und mit dem Vorwissen verknüpft werden konnten. Das Ziel von Verstehensprozessen – und dementsprechend auch von Vermittlungsangeboten – besteht folglich in der Bildung eines kohärenten mentalen Modells von Inhalten. In Anlehnung an das KIM sind die hierfür erforderlichen ersten beiden Schritte der kognitiven Prozesskette die Aktivierung von Vorwissensinhalten und die Herstellung von Text-Kohärenz bzw. die bei mangelnder Text-Kohärenz nötige Bildung von Inferenzen. Über sprachliche Information hinaus umfasst Vermittlung eine Vielzahl weiterer multimedialer Elemente wie Grafiken, Bilder, Filme oder Modelle, mit denen vermittelte Inhalte für Besuchende wahrnehmbar gemacht werden sollen, veranschaulicht werden können, oder Schlussfolgerungen über diese Inhalte erleichtert werden sollen. Für deren mentale Verarbeitung stellt wiederum die KTML einen detaillierten Erklärungsansatz zur Verfügung. Nach diesem Modell werden die in den verschiedenen multimedialen Elementen präsentierten Informationen anhand ihrer Bedeutsamkeit zur Weiterverarbeitung im Arbeitsgedächtnis ausgewählt und so organisiert, dass sie in einem letzten Schritt miteinander und mit dem Vorwissen im Langzeitgedächtnis zu einem umfassenden und integrierten mentalen Modell verknüpft werden können. Das mit diesem Modell neu entstandene Verständnis wird anschließend dem bereits im Langzeitgedächtnis vorhandenen Vorwissen hinzugefügt und dort dauerhaft als Wissen gespeichert. Die in der KTML beschriebene Selektion und Organisation multimedialer Informationen im Arbeitsgedächtnis sowie ihre finale Integration ins Langzeitgedächtnis in Form eines integrierten mentalen Modells stellen somit die dritte und vierte Komponente der kognitiven Prozesskette unseres Rahmenmodells dar. Durch diese beiden Verarbeitungsschritte resultieren aus der multimedialen Vielfalt besonders reichhaltige Gedächtnisrepräsentationen, welche die Grundlage des lernförderlichen Effekts von multimedialen Informationen sind (vgl. Schmidt-Weigand/Scheiter 2011). Durch geeignete Maßnahmen können Vermittlungsangebote in Bezug auf alle vier Komponenten besonders verstehens- und lernförderlich gestaltet werden: Erstens sollten Vermittlungsinhalte so präsentiert werden, dass sie auf möglichst reichhaltige Assoziationen im Langzeitgedächtnis von Besuchenden stoßen. Unbekannte Begriffe und Aussagen müssen textlich so an be-
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kannte Begriffe und Aussagen angebunden werden, dass Besuchende ihr Vorwissen aktivieren und die zum Verständnis nötigen Inferenzen ziehen können. Zweitens wird das Verstehen durch eine hohe Kohärenz der Vermittlungsinhalte selber erleichtert, da so weniger Inferenzen erforderlich werden. Diese Kohärenz bezieht sich auf den inhaltlichen Gesamtzusammenhang – den roten Faden des Angebotes – sowohl auf einer lokalen Ebene unmittelbar benachbarter Informationen als auch auf einer globalen Ebene des Angebotes in seiner Gesamtheit. Treten dagegen Kohärenzbrüche auf, die nicht durch Vorwissen geschlossen werden können, besteht die Gefahr, dass kein integriertes mentales Modell (d.h. kein Verstehen) der Vermittlungsinhalte ermöglicht wird. Drittens sollten die Auswahl und Organisation multimedialer Elemente unterstützt werden. Beispielsweise können Besuchende durch Verzicht auf irrelevante Informationen (z.B. illustrative Bilder ohne verständnisfördernde Funktion) oder durch Kenntlichmachung von Korrespondenzen (z.B. durch räumliche Verknüpfung zusammenhängender Text- und Bildelemente) bei der Selektion relevanter multimedialer Informationen unterstützt werden. Allerdings hängt die Selektion von Informationen auch stark von den Interessen und Zielen der Besuchenden ab, so dass sich hier eine enge Verzahnung mit der motivationalen Prozesskette ergibt. Viertens sollten neben Texten auch die multimedialen Elemente so beschaffen sein, dass ihre Organisation und ihre Integration in ein umfassendes mentales Modell keine unnötigen Inferenzen zu Kohärenzbildung erfordern (bekanntes Negativbeispiel: Grafiken, die visuell identische Pfeile in mehreren verschiedenen Bedeutungen verwenden). Mayer nennt und begründet im Rahmen der KTML einige Dutzend Gestaltungsmaßnahmen, mit denen die Integration multimedialer Elemente in ein umfassendes mentales Modell unterstützt werden kann (vgl. Mayer 2014). Dazu gehört etwa die Nutzung von Hinweisreizen, um zu signalisieren, welche Text- und Bildinformationen komplementär sind und miteinander verknüpft werden sollen (z.B. durch Farbkodierung), oder die Präsentation korrespondierender Text- und Bildinformationen in enger zeitlicher und räumlicher Nachbarschaft. Die in unserem Rahmenmodell integrierten Ansätze (ARCS, KIM, KTML) beruhen jeweils auf Synthesen umfangreicher empirischer Forschungsliteraturen zu Wissenserwerb und Wissensvermittlung. Somit liegt bei der von uns vorgeschlagenen Rahmenkonzeption für die Gestaltung innovativer
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Vermittlungsformate ein hoher Grad von genereller Evidenzbasierung vor, die aber bei der konkreten Entwicklung und Umsetzung eines Vermittlungsformates gegebenenfalls um weitere empirische Evidenz für spezifische Annahmen ergänzt werden sollte. Dies wird im nächsten Abschnitt beispielhaft anhand eines Forschungs- und Entwicklungsprojekts beschrieben, das gemeinsam mit dem Herzog-Anton-Ulrich Museum (HAUM) in Braunschweig durchgeführt wurde.
3. Beispielprojekt EyeVisit: Evidenzbasierte Gestaltung eines Informationssystems für Besuchende Besuchende in Museen und Ausstellungen wünschen zwar einerseits generell Informationen zu Exponaten und empfinden Zusatzinformationen auch als hilfreich (vgl. Temme 1992), sie unterscheiden sich aber andererseits stark darin, zu welchen Themen, zu welchen Zeitpunkten und in welchem Umfang ihnen diese Informationen präsentiert werden sollten. Ausgangspunkt des EyeVisit-Projekts waren die daraus folgenden Fragen: Wie könnten etwa in einem Kunstmuseum die vielfältigen Informationsbedürfnisse von Besuchenden durch ein geeignetes digitales Vermittlungsangebot befriedigt werden? Wie können dabei die unterschiedlichen Kenntnisstände und auch die sozialen und räumlichen Situationen von Besuchenden berücksichtigt werden? Hat eine einzelne Person nicht möglicherweise andere Informationsbedürfnisse als eine Schulklasse? Interessieren direkt vor dem Kunstwerk nicht andere Dinge als im Foyer vor oder nach dem Ausstellungsbesuch? Und wie kann die nötige Informationsvielfalt in eine digitale Form gegossen werden, welche die Besuchenden nicht mit schwer verständlichen Bedienelementen und Auswahlmöglichkeiten überfordert oder gar verärgert? Diese Themen wurden in dem von der Leibniz-Gemeinschaft von 2011 bis 2014 geförderten Projektverbund EyeVisit von IWM, HAUM und Wilhelm-Schickard-Institut für Informatik der Universität Tübingen (WSI) auf der Basis des erläuterten Rahmenmodells sowie verschiedener empirisch-psychologischer Untersuchungen angegangen. Das Braunschweiger Museum gehört mit seinen rund 190.000 Werken aus über 3000 Jahren auf den Gebieten Gemälde, Skulptur, Grafik und Angewandte Kunst zu den renommiertesten Sammlungen seiner Art in Deutschland und zu den ältesten Museen Europas. Eine mehrjährige Generalsanierung des Hauptgebäudes wurde genutzt, um im Rahmen des
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EyeVisit-Projekts ein innovatives Besuchendeninformationssystem zu entwickeln und dieses bei der Neueröffnung 2016 einzuführen. Bei der Gestaltung dieses Besuchendeninformationssystems haben wir uns eng an unserem theoretischen Rahmenmodell orientiert, wie in Abschnitt 3.2 genauer erläutert wird. Das Herzstück von EyeVisit bildet ein Multi-Touch-Tisch, der sowohl von Einzelbesuchenden als auch von Gruppen nutzbar ist (siehe Abb. 2). An dem Tisch können zu Beginn oder am Ende eines Ausstellungsbesuchs vertiefende Informationen zu den Ausstellungsinhalten und Exponaten abgerufen werden. Diese multimedialen Materialien – Texte, Abbildungen, Videos – können individuell durch einfache und intuitive Steuergesten wie Drehen, Schieben oder Großziehen erkundet werden. Um die Bedienung möglichst einfach zu gestalten und eine digitale Überfrachtung zu vermeiden, wurde die Anzahl von Schaltf lächen und Informationsebenen drastisch beschränkt. Fast alle Funktionalitäten sind über Steuergesten aufruf bar, so dass eine komplexe Menüstruktur überf lüssig ist. Ergänzt wird der Multimediatisch durch zahlreiche Tablet-Computer, die das Informations- und Interaktionsangebot auf dem Tisch spiegeln und von Besuchenden als Multimedia-Guides mit in die Ausstellung genommen werden können. Abbildung 2: EyeVisit-Multimediatisch im Eingangsbereich des Herzog Anton Ulrich-Museums in Braunschweig
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Jedes der etwa 70 ausgewählten Exponate erscheint auf dem Tisch als vergrößerbares Bild, das umgedreht und erforscht werden kann. Auf der Bildrückseite befinden sich jeweils Themenkarten mit vertiefenden Erläuterungen und Veranschaulichungen zu einer Reihe von Inhalten (siehe Abb. 3). Diese reichen von Biografien der Kunstschaffenden über historische Vorbilder bis hin zum Umgang mit Licht und Komposition: Keine langen linearen Texte, vielmehr medienadäquat auf bereitete kurze Textpassagen angereichert durch zusätzliches Bild-, Karten- und Filmmaterial, liefern den schnellen Zugriff zur gewünschten Information. Fachvokabular wird auf Wunsch mit Pop-ups (eingeblendeten Sprechblasen) erklärt, mittels grafischer Überblendungen werden wichtige Bildelemente und Kompositionsprinzipien veranschaulicht. Zudem lassen sich bedeutsame Details von Kunstwerken per Berührung vergrößern und erläutern (siehe Abb. 4). Insgesamt ist das System so gestaltet, dass es sich deutlich von herkömmlichen Computerterminals unterscheidet. In Aufmachung und Bedienung soll es eher an das Stöbern in vielfältigen Materialien erinnern, die auf einem großen Bibliothekstisch ausgelegt sind. Abbildung 3: Bildrückseite mit Themenkarten und »Teasern«
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Abbildung 4: Themenkarte mit vergrößerten Bilddetails und grafischen Überblendungen
3.1 Evidenzbasierte Anpassung an Bedürfnisse von Besuchenden Ausgangspunkt der Konzeption eines Vermittlungsangebotes sollten die Bedürfnisse von Besuchenden sein. Daher wurden zu Projektbeginn in einer Fragebogenstudie, an der 300 Besuchende teilnahmen, die spezifischen Informationsbedürfnisse der Besuchenden erhoben, z.B. in Bezug auf Art, Zeitpunkt und Umfang von gewünschten Zusatzinformationen zu bestimmten Exponaten. Die Besuchendenbefragung zeigte, dass die Mehrzahl der Besuchenden über ein starkes Kunstinteresse verfügt, das eigene Kunstvorwissen aber nur als mittelmäßig einschätzt. Daraus ergab sich für die Konzeption von EyeVisit ein Fokus auf vorwissensunterstützende Maßnahmen wie Erläuterungen von Fachvokabular oder grafische Veranschaulichungen. Zudem zeigten sich Besuchende sehr heterogen in ihren Interessen – sie bevorzugten unterschiedliche Informationen zu unterschiedlichen Exponaten; dabei wünschte die Mehrzahl eine reichhaltige Informationsdarbietung
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direkt am Kunstwerk. Für die Konzeption ergab sich daraus einerseits die Entscheidung für einen multiperspektivischen Zugang mit Themenkarten, die einen individuellen Einstieg in Kunstwerke je nach Interessenskonstellationen ermöglichen. Andererseits wurde auf Basis dieser Befunde das ursprüngliche Konzept von EyeVisit weiterentwickelt: Dieses sah vor, auf den Multimedia-Guides für den Ausstellungsbesuch nur minimale Information zu Exponaten anzubieten, um die Mediennutzung im Museum selber gering zu halten. Basierend auf den Ergebnissen der Besuchendenforschung haben wir uns im Projektverlauf allerdings entschlossen, dieses Konzept aufzugeben zugunsten eines reichhaltigeren Multimedia-Guides auf Tablet-Basis, der die gleiche Informationsstruktur aufweist wie die Anwendung auf dem kollaborativ nutzbaren Multimediatisch. Aufgrund der Besuchendenbefragung erschien ein intuitiv bedienbarer mobiler Ausstellungsführer mit reichhaltigem Informationsangebot, das mit in die Ausstellung genommen werden und – je nach Besuchendeninteresse und Kunstvorwissen – verschiedene Informationen bereithält, als ideale Lösung. Um empirisch zu prüfen, ob Besuchende tatsächlich Tablets mit reichhaltigerer Information gegenüber handlicheren kleineren und leichteren Smartphone-Guides mit weniger Informationen vorziehen würden, wurde anhand von Protopyen eine Untersuchung mit 82 Besuchenden des HAUM durchgeführt. Die Studienteilnehmenden konnten für ihren Ausstellungsbesuch zwischen drei Informationsangeboten wählen: dem üblichen Ausstellungsführer (Begleitheft mit knapper Information), einem handlichen Multimedia-Guide auf Smartphone-Basis mit knapper Information oder einem Multimedia-Guide auf Tablet-Basis mit reichhaltiger Information. Das technische Informationsangebot wurde dabei klar bevorzugt (ca. 90 Prozent der Besuchenden), wobei die Präferenz eindeutig beim Tablet lag (ca. 60 Prozent der Besuchenden), unabhängig von Geschlecht, Alter oder Begleitpersonen. Die Smartphone-Variante wurde nur von ca. 30 Prozent der Besuchenden gewählt. Eine Befragung im Anschluss an die Nutzung ergab dazu ebenso gute Bewertungen für das Tablet wie für die beiden anderen Informationsangebote. Die Studie deutet damit in eine ähnliche Richtung wie die zuvor durchgeführte Fragebogenstudie und wurde zusammen mit dieser als empirischer Hinweis zugunsten einer Entscheidung für Multimedia-Guides auf Tablet-Basis gewertet.
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3.2 Evidenzbasierte Konzeption und Gestaltung von Vermittlungsangeboten Bei konzeptuellen Detailentscheidungen zur Gestaltung des Vermittlungsangebots haben wir uns eng an dem eingangs erläuterten Rahmenmodell orientiert. Da das Rahmenmodell auf empirisch gut abgesicherten Theorien zu Lernmotivation, Textverstehen und Multimedialernen basiert, kann so sichergestellt werden, dass bereits bei der konzeptuellen Ausgestaltung des Vermittlungsangebots Evidenzbasierung eine zentrale Rolle spielt. Einige Gestaltungsentscheidungen auf der Grundlage des Rahmenmodells sollen dies verdeutlichen. Motivationale Prozesskette: Der multiperspektivische Zugang über Themenkarten ergibt sich direkt aus der Interessensheterogenität der Besuchenden, die sich in der initialen Fragebogenstudie gezeigt hatte. Die Themenkarten zeigen auf ihrer Vorderseite als Teaser einen Kurztitel, mit dem beim Besuchenden Neugierde sowie passende Erwartungen zum Informationsangebot der Themenkarte geweckt werden sollen. Die Teaser der Themenkarten sind kurzgehalten und so formuliert, dass sie Aufmerksamkeit, Neugierde und Interesse wecken. Jede Themenkarte ist darauf angelegt, dass sie der Vermittlung einer im Teaser klar benannten Einsicht oder Geschichte dient. Auf diese Weise wird versucht, Besuchenden, die den Teaser interessant finden und umdrehen, eine über ihre anfängliche Neugier hinausgehende Relevanz des Informationsangebots zu vermitteln. Besonders viele Maßnahmen wurden ergriffen, um die Zuversicht von Besuchenden zu erhöhen, die dargebotenen Informationen verstehen zu können. Hier sind unter anderem auch alle unten genannten Schritte der kognitiven Prozesskette einschlägig: Zum Beispiel ist eine Anpassung des Informationsangebots an das Vorwissen einer Person nicht nur kognitiv, sondern auch motivational bedeutsam: Eine hohe Zuversicht, Inhalte verstehen zu können, und eine hohe Einschätzung der Relevanz von Inhalten entstehen nur dann, wenn die dargebotenen Informationen nicht zu weit vom eigenen Vorwissen entfernt sind. Im letzten Schritt der motivationalen Prozesskette wurde schließlich darauf geachtet, dass jede Themenkarte die in ihr beschriebene Einsicht oder Geschichte auf den Punkt bringt, damit für den Besuchenden am Ende der Rezeption ein Gefühl der Zufriedenheit mit dem Informationsangebot zurückbleibt.
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Kognitive Prozesskette: Bezüglich des kunstspezifischen Vorwissens ergab sich für die Zielgruppe von EyeVisit (Besuchende des HAUM) in der initialen Fragebogenstudie eine große Heterogenität, die durch das Informationsangebot möglichst kompensiert werden sollte. Daher wurden Fachbegriffe und Fremdwörter im Informationsangebot entweder vermieden oder über Hyperlinks (verbal bzw. bildlich) erläutert. Genauso wurden auch die Biographien aller genannten Personen über Hyperlinks erläutert. Das Verständnis einer Themenkarte setzt die Kenntnis der anderen Themenkarten nicht voraus, denn die Reihenfolge der Auswahl von Themenkarten wird den Besuchenden ja nicht vorgegeben. Ergänzend zu dieser Anpassung des Informationsangebots an das Vorwissen von Besuchenden bestand ein zweiter Schritt darin, eine möglichst hohe Kohärenz des Informationsangebots sicherzustellen. Das bedeutete vor allem, die Texte so zu gestalten, dass aufeinanderfolgende Sätze auch für Lesende mit geringem Vorwissen gut aufeinander auf bauen (lokale Kohärenz) und dass auch für diese Lesenden einzelne Textabschnitte ein klar erkennbares Thema besitzen (globale Kohärenz). Um diese beiden Kohärenzaspekte zu optimieren, wurden Sachverhalte in EyeVisit mit Hilfe einfacher Satzstrukturen konkret und anschaulich beschrieben. Des Weiteren wurde auf Überlappungen zwischen Sätzen und auf logische Schlüssigkeit geachtet. Längere Informationstexte sind zur Unterstützung der globalen Kohärenzbildung in kurze und thematisch zusammenhängende Abschnitte aufgeteilt, die jeweils mit zusammenfassenden Überschriften versehen sind. Neben den textlichen Möglichkeiten der Unterstützung von Verstehensprozessen wurde umfassend auch von Ansätzen Gebrauch gemacht, das Verständnis multimedial zu unterstützen. Dies ist angesichts der Tatsache, dass viele Zusatzinformationen zu kunsthistorischen Exponaten im Kern Aspekte von Sehen lernen vermitteln wollen, nicht nur instruktional sondern auch inhaltlich gut begründbar. So sind neben einer Vielzahl von präsentierenden und organisierenden Bildern (zum Teil mit grafischen Einzeichnungen wie z.B. Pfeilen) auch Videos in das Informationsangebot eingebunden. Wichtig für die Verständnisunterstützung ist dabei die Passung, räumliche Nähe und sinnvolle Integration von Informationen aus Text und Bild (sogenannte Text-Bild-Kohärenz). Eine besonders hohe Text-Bild-Kohärenz wurde dabei durch den vielfältigen Einsatz von Abbildungen mit interaktiven Zonen erreicht (Bild-Hyperlinks). Durch Berühren dieser Zonen (dargestellt als weiße Kreise auf Bild-
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elementen) können Pop-ups mit vertiefenden oder erläuternden Texten und Bildern abgerufen werden. So können vom Bild ausgehend passende textliche Informationen durch Pop-ups aktiviert werden. Die gleichen Informationen können aber über Hyperlinks auch vom Text aus aktiviert werden, wobei dann die Referenzstelle im Bild durch Vergrößerung des weißen Kreises über den interaktiven Zonen kenntlich gemacht wurde (vgl. Abb. 4). Auf diese Weise wird eine eng verzahnte Verarbeitung von Text- und Bildinformationen ermöglicht. Dies dient vor allem dem letzten Schritt der kognitiven Prozesskette, nämlich der Bildung eines umfassenden mentalen Modells auf Basis der Integration von Text- und Bildinformation mit dem eigenen Vorwissen.
3.3 Evidenzbasierte Qualitätssicherung Ein dritter und letzter Aspekt der Evidenzbasierung bestand in Untersuchungen zur Lernförderlichkeit und zur Akzeptanz des umgesetzten Konzeptes durch Besuchende. Denn trotz einer Orientierung an den empirisch erhobenen Bedürfnissen von Besuchenden und an einem empirisch fundierten Vermittlungskonzept, bleibt Evidenz dafür erforderlich, dass das umgesetzte Vermittlungsangebot auch tatsächlich seine Ziele erreicht. In einer Studie zur User Experience der EyeVisit-Anwendung wurden daher zunächst 21 Studierende gebeten, fünf Exponate für insgesamt 30 Minuten frei zu explorieren. Danach sollten sie die Anwendung anhand verschiedener Fragebogen-Inventare beurteilen. EyeVisit erhielt auf allen Skalen des Visual Aesthetics of Website Inventory und des Software Usability Measurement Inventory jeweils über 4 von 5 möglichen Punkten. Auf der System Usability Scale erhielt sie 87 von 100 möglichen Punkten. Die EyeVisit-Anwendung wurde damit insgesamt sehr positiv bewertet. In einem zweiten Schritt wurde der EyeVisit-Informationstisch in einer Testversion im Kooperationsmuseum im Rahmen einer Interimsausstellung für einen Praxistest aufgestellt. Um einen qualitativen Eindruck von der Akzeptanz des Systems im Anwendungskontext zu erhalten, wurden über drei Monate mit Hilfe von Gästebüchern systematisch Kommentare von über 200 Besuchenden zur Nutzung von EyeVisit gesammelt, die durchwegs positiv bis sehr positiv ausfallen. Gleichzeitig wurden alle am HAUM bislang erfolgten Interaktionen mit dem EyeVisit-System per Logfiles und Videokamera
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aufgezeichnet, um genauere Analysen zu Nutzungsstrategien und -problemen durchzuführen und für Verbesserungen zu nutzen. In einer experimentellen Studie sind wir der Frage nachgegangen, ob die gewählte multiperspektivische Informationsstruktur der Themenkarten die Aneignung verfügbarer Informationen besser unterstützt als eine herkömmliche Darbietung, wie sie etwa in einem linearen Dokument zu finden ist. Um dies zu überprüfen, wurden 40 Studierende in einer Studie mit Tablets gebeten, sich jeweils fünf Themenkarten für vier Exponate anzusehen und einzuprägen, wobei die Dauer der Beschäftigung mit dem Informationsangebot freigestellt wurde. Die Hälfte der Studienteilnehmenden konnte dabei die Informationsstruktur von EyeVisit nutzen, die andere Hälfte hatte ein informationsäquivalentes (aber lineares) PDF-Dokument auf dem Tablet zur Verfügung. Die Ergebnisse zeigten, dass die EyeVisit-Version effizienter zur Informationsaneignung genutzt werden konnte als eine vergleichbare lineare PDF-Bedingung, da mit EyeVisit deutlich kürzere Lernzeiten benötigt wurden, um vergleichbare Lernergebnisse wie in der linearen Bedingung zu erzielen. In einer weiteren experimentellen Studie sind wir der Frage nachgegangen, welcher kognitive und motivationale Mehrwert mit der Informationspräsentation auf interaktiven Touch-Oberf lächen (Tischen oder Tablets) einhergeht. Dabei wurden zwei Experimentalbedingungen im Hinblick auf die Aneignung von Informationen über vier Exponate (mit jeweils fünf Themenkarten) verglichen. In einer Experimentalbedingung konnten sich 20 Studienteilnehmende die Informationen mit der EyeVisit-Anwendung am Multi-Touch-Tisch ansehen. Die Vergleichsgruppe umfasste ebenfalls 20 Personen und erhielt die gleichen Informationen in einer Papierversion auf einem Holztisch dargeboten. Die Papierversion war dabei nicht nur informationsäquivalent, sondern weitestgehend auch interaktionsäquivalent. Zum Beispiel wurde die Informationsstruktur von EyeVisit erhalten und mit Hilfe papierbasierter Pop-ups nachgestellt. Die Ergebnisse zeigten, dass die digitale Version am MTT zu besseren Lernleistungen führte als die Papierversion. Schließlich wurde am HAUM eine Befragung von 160 Besuchenden zum finalen Prototyp der EyeVisit-Anwendung vorgenommen. Die Ergebnisse zeigen, dass die dargebotenen Inhalte von den allermeisten Besuchenden als wichtig wahrgenommen werden, und dass über alle Themenkarten hinweg zwischen 80 und 90 Prozent der Besuchenden die Auf bereitung der Informationen als sehr gut oder gut beurteilt haben. Weiterhin fanden über
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90 Prozent der Besuchenden den Umgang mit dem Medientisch sehr leicht oder leicht und gaben an, dass das Vermittlungsangebot ihr Verständnis für Kunst fördere und sie der Kunst näherbringe. Die Vermittlung von Zusatzinformation durch EyeVisit wurde genauso häufig als beste Vermittlungsform angegeben wie die personale Vermittlung durch eine Führung.
4. Fazit: Prinzipien der evidenzbasierten Begleitung von Vermittlungsformaten In seinen Standards für Museen formuliert der Deutsche Museumsbund das Diktum, dass sich das Vermittlungskonzept einer Ausstellung an den Bedürfnissen und Erwartungen von Besuchenden orientieren soll (Deutscher Museumsbund 2006). Diese Bedürfnisse und Erwartungen unterliegen potenziell einem schnellen Wandel, so dass ein intensives Eingehen auf die Besuchenden umso wichtiger wird. Museale Vermittlung sollte demzufolge Prinzipien der publikumsorientierten Gestaltung (Audience Design) berücksichtigen und das Informations- und Erlebnisangebot einer Ausstellung im Hinblick auf einen bestimmten Adressatenkreis entwerfen. Hierfür ist wiederum die Kenntnis grundlegender psychologischer Mechanismen der Besuchenden hilfreich. Theorien der psychologischen Grundlagenforschung zu Motivation, Textverstehen und Multimedialernen erlauben die Formulierung empirisch fundierter Randbedingungen, die dabei helfen, den Suchhorizont bei der Entwicklung innovativer Vermittlungsformate sinnvoll einzugrenzen und damit einen wichtigen Beitrag zu einem innovationsorientierten Kulturmanagement im Museum der Zukunft zu leisten. Zugleich stellt die psychologische Forschung zu diesen Theorien und darüber hinaus ein umfangreiches methodisches Repertoire zur Verfügung, das die Möglichkeit eröffnet, die motivations- und wissensbezogene Wirksamkeit solcher Formate empirisch zu prüfen. Die generelle Wirksamkeit von Formaten, die sich in dieser Hinsicht in einer Ausstellung bewährt haben, lässt sich wiederum durch vergleichende empirische Studien in verschiedenen Museen und Ausstellungen belegen. Diese Vorgehensweise bietet somit die Chance, dass kleinere Museen, die nicht über die Möglichkeiten einer eigenen Besuchendenforschung verfügen, von den Erkenntnissen und Erfahrungen anderer Häuser in einer wissenschaftlich begründeten Weise Gebrauch machen können.
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Im deutschsprachigen Raum hat sich in den letzten Jahren zunehmend eine Sensibilität für Fragen der Vermittlung und der Orientierung an Besuchenden entwickelt. Exemplarisch seien hier der Aktionsplan Forschungsmuseen und die Initiative »Hauptsache Publikum!« (vgl. Deutscher Museumsbund 2019) genannt. Zukünftig das Konzept der evidenzbasierten Entwicklung stärker zu berücksichtigen, stellt aus unserer Sicht einen weiteren wichtigen Schritt dar. Für die erfolgreiche Umsetzung sind hierbei drei Punkte besonders zu beachten: Stärkere Verschränkung von musealer Praxis und Grundlagenforschung. Audience Design setzt eine Kenntnis der Besuchenden und deren psychologischer Strukturen und Mechanismen durch Ausstellungsmachende, Kuratierende und Gestaltende voraus. Grundlagenwissenschaftliche Erkenntnisse zu diesen Themen aus der Psychologie werden im Museumsbereich bislang aber kaum rezipiert. Darüber hinaus ermöglicht Grundlagenforschung die systematische empirische Analyse spezifischer Fragestellungen und die Gewinnung generalisierbarer, theoretisch fundierter Erkenntnisse über die spezifische Einzelausstellung hinaus. Davon können auch kleinere Museen profitieren, die sich keine eigene Besuchendenforschung leisten können. Umgekehrt erlaubt eine enge Zusammenarbeit von Museen und universitärer Forschung, Forschungslücken zu identifizieren, die sich auf relevante besuchendenbezogene Lernphänomene beziehen, die bislang aber theoretisch und empirisch vernachlässigt wurden. Aktuelle Themen sind z.B. die Bedeutung authentischer Exponate für Motivation und Wissenserwerb, das Zusammenspiel mentaler und körperlicher Ressourcen bei Besuchenden oder die Rolle des räumlichen Ausstellungskontexts. Forschungsbefunde deuten etwa darauf hin, dass authentische Exponate für Besuchende nicht die zentrale Bedeutung haben, die ihnen von museologischer Seite aus zugeschrieben wird, was mit einer Reihe von Implikationen für die Ausstellungsgestaltung verbunden ist (vgl. Hampp/Schwan 2015). Idealerweise gehört zur stärkeren Verschränkung von musealer Praxis und Grundlagenforschung auch die Schaffung einer Infrastruktur für den Austausch von Forschungsergebnissen (bspw. regelmäßige Tagungen zur Besuchendenforschung, Internetplattform, Zeitschrift) sowie die Vermittlung von diesbezüglichen Kenntnissen in der museumsbezogenen Ausbildung. Erweiterung des Methodenrepertoires. Viele, insbesondere größere Museen führen in regelmäßigen Abständen Strukturanalysen ihrer Besuchenden durch. Sie umfassen typischerweise die Alters- und Geschlechts-
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verteilung, die örtliche Herkunft, die Größe der Besuchsgruppe, die Bekanntheit des Museums. Flankiert wird die Erhebung dieser demografischen Variablen durch allgemeine Fragebogen- oder Interview-basierte Breitbandverfahren (sei es individuell oder in Fokusgruppen). Eine genaue Aufschlüsselung der zugrunde liegenden kognitiven und motivationalen Mechanismen ist durch diese Verfahren aber nur bedingt möglich. Hier bieten Methoden eine sinnvolle Ergänzung, die nach Prinzipien der a-prioriHypothesen-formulierung, der Zufallszuweisung hinreichend großer Stichproben, der systematischen Variation sowie der standardisierten Messung von Verhaltensparametern, Einstellungen oder Wissensbeständen konzipiert sind. Diese Methoden erlauben zudem die Einbindung unterschiedlichster Erhebungstechnologien, einschließlich Blickbewegungsmessungen, Erhebung physiologischer Daten und Auswertung von Nutzungsdaten bei digitalen Vermittlungsangeboten. Als Fernziel sollte hierzu ein standardisiertes und feinkörniges Methodeninstrumentarium entwickelt werden, das über verschiedene Museen hinweg vergleichbar eingesetzt werden kann. Einheit von Ausstellung und Vermittlung. Folgt man dem International Council of Museums (ICOM), dann ist konzeptionell zu unterscheiden zwischen dem Ausstellen und dem Vermitteln als zwei der fünf Kernaufgaben von Museen (vgl. ICOM 2007; vgl. Walz 2016). Beim Ausstellen steht das Verhältnis zwischen Sammlung und deren öffentlicher Präsentation im Vordergrund, indem eine Auswahl von Sammlungsgegenständen im Hinblick auf eine bestimmte Absicht sinnvoll strukturiert präsentiert wird (vgl. Warnecke 2016). Beim Vermitteln liegt der Schwerpunkt hingegen auf dem Verhältnis zwischen den musealen Präsentationsweisen und den Besuchenden. Diese konzeptuelle Trennung spiegelt sich auch in der Arbeitsteilung zwischen Kuratierenden bzw. Ausstellungsmachenden, die primär für den Funktionsbereich Ausstellen zuständig sind, und museumspädagogischen Fachkräften bzw. Mitarbeitenden der Öffentlichkeitsarbeit, die für den Funktionsbereich Vermitteln verantwortlich sind. Während Ausstellungskonzept, Kommunikationsstrategie und didaktisches Programm deshalb im ungünstigsten Fall von den verschiedenen Beteiligten weitgehend unabhängig und mit nur minimaler wechselseitiger Abstimmung entwickelt werden, sind sie im Idealfall durch eine interdisziplinäre Zusammenarbeit eng miteinander verknüpft. Ausstellungstexte sollen eben nicht nur wissenschaftlich akkurat, sondern für das Museumspublikum auch gut verständlich sein; die Präsentation originaler Sammlungsobjekte nicht nur konservatorischen
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Ansprüchen genügen, sondern durch Begleitmedien für Besuchende auch nachvollziehbar kontextualisieren; Exponate nicht nur betrachtet werden, sondern Besuchenden auch Handlungs- und Explorationsmöglichkeiten eröffnen. Statt der einfachen Addition von Maßnahmen beruht Vermittlung im Idealfall also auf einem kohärenten und schlüssigen Gesamtkonzept aus physischer Ausstellung, begleitenden Medien (von Texttafeln über Medieninstallationen bis zu digitalen Ausstellungsführungen), personalen Vermittlungsangeboten und Begleitveranstaltungen, wobei dieses Konzept bereits in einem frühen Stadium von allen Stakeholdern – Kuratierenden, Ausstellungsgestaltenden, museumspädagogische Fachkräfte und Besuchendenforscher*innen – gemeinsam entwickelt wird. Abschließend sei darauf hingewiesen, dass die beschriebene evidenzbasierte Besuchendenorientierung mitnichten eine Didaktisierung von Ausstellungen durch deren Ausrichtung auf spezifische Lernziele bedeutet. Vielmehr bleibt Lernen und Wissenserwerb in Museen und Ausstellungen weiterhin free choice learning (Falk 2009), bei dem sich Besuchende Ausstellungsinhalte interessensgeleitet, selbstgesteuert und selektiv aneignen. Zudem trägt diese Besuchendenorientierung der Vielfältigkeit der Besuchsmotive (einschließlich Unterhaltung, Erholung, Geselligkeit) Rechnung. Evidenzbasierte Vermittlung bedeutet genauso wenig eine Verarmung der Ausstellungslandschaft zu einem (langweiligen) Ausstellungsstandardkonzept von der Stange. Gerade die grundlagenwissenschaftliche Forschung belegt die Rolle von Überraschung und Neugier für motiviertes Verhalten. Dies gilt für Unterrichtskontexte ebenso wie für Museumsbesuche: Auch in Zukunft müssen abwechslungsreiche Vermittlungsformate immer wieder neu erdacht und erprobt werden.
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Autor*innen
Allmanritter, Vera (Dr.) leitet das Institut für Kulturelle Teilhabeforschung (IKTF) in Berlin. Zuvor war sie u.a. Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Hildesheim und im Jüdischen Museum Berlin sowie Koordinatorin des Zentrums für Audience Development an der FU Berlin. Sie ist seit 2019 Vorstandsmitglied im Fachverband Kulturmanagement und seit 2021 Beiratsmitglied der Abteilung »Bildung und Diskurse« des Goethe-Instituts. Bauernfeind, Judith ist Kulturwissenschaftlerin und studierte an der Humboldt-Universität zu Berlin und der Universiteit van Amsterdam. Während ihres Studiums sammelte sie zudem langjährige Erfahrung im Vermittlungsbereich u.a. im Martin-Gropius-Bau Berlin. Von 2018 bis 2021 war sie Teil von »museeon. – Studio für Ausstellungen« und dort für Kuration, Redaktion und Koordination von Ausstellungsprojekten zuständig. Zudem entwickelte sie Vermittlungsformate und niederschwellige Workshop-Konzepte. Seit August 2021 ist sie Kuratorin für Outreach am Deutschen Technikmuseum Berlin. Beaury, Paul ist Ausstellungsgestalter und langjähriger Museumsmacher. Seit dem Studium am Fachbereich Design der Fachhochschule Potsdam arbeitet er als Gründungspartner und Teil der Basis von »museeon. – Studio für Ausstellungen« an neuen Zugängen zu kulturellen Angeboten. Er entwickelt in Workshops mit Kulturinstitutionen und in Lehraufträgen für den Studiengang Museumskunde und Museumsmanagement der Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin kommunikative und motivierende Formate.
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Birnkraut, Gesa ist Professorin für strategisches Management in Nonprofit Organisationen an der Hochschule Osnabrück (50 %) und berät mit ihrer Kulturberatung Birnkraut Consulting Kulturinstitutionen und Kulturverwaltung u.a. in den Bereichen Wirkungsmessung und strategische Positionierung. Sie ist weiter die erste Vorsitzende des Instituts für Kulturkonzepte Hamburg e.V. Föhl, Patrick S. (Dr.) ist Gründer und Direktor des »Netzwerks für Kulturberatung« in Berlin. Er ist ein internationaler Kulturentwicklungsplaner und Kulturmanagement-Trainer. Seit 2004 war er für über 30 partizipative Kulturplanungsprojekte verantwortlich. Als Redner und Trainer arbeitet er weltweit an Universitäten und Institutionen (z.B. Österreich, Ägypten, Bosnien-Herzegowina, Bulgarien, China, Chile, Luxemburg, Pakistan, Polen, Schweiz, Tunesien, Ukraine, Usbekistan, USA, Vietnam). Seit 2016 ist er Beiratsmitglied der Abteilung »Bildung und Diskurse« des Goethe-Instituts. Weitere Informationen: www.netzwerk-kulturberatung.de Geipel, Andrea (Dr.) ist Leiterin des VRlabs am Deutschen Museum und Projektkoordinatorin des Teilprojekts »3D-Visualisierung: Perspektiven in der musealen Vermittlung« im Rahmen des Verbundprojekts »museum4punkt0«. Sie promoviert am Munich Center for Technology in Society (MCTS) der Technischen Universität München am Beispiel von Wissenschaftskommunikation auf YouTube zur Frage wie Plattformlogiken die Wahrnehmung von Expertise beeinf lussen. Gerjets, Peter (Dr.) ist Leiter der Arbeitsgruppe Multimodale Interaktion am Leibniz-Institut für Wissensmedien (IWM) und Professor am Psychologischen Institut der Universität Tübingen. Er beschäftigt sich mit dem Potenzial digitaler Medien für die Entwicklung innovativer Informationsund Interaktionsangebote in unterschiedlichen Wissenskontexten. Greve, Anna (Dr.) ist Direktorin des Focke-Museums – Bremer Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte. Zudem ist sie Honorarprofessorin der Universität Bremen mit den Schwerpunkten Kritische Weißseinsforschung, Museumswissenschaft und Kulturpolitik.
Autor*innen
Hohmann, Georg war maßgeblich am Auf bau des digitalen Bildarchivs prometheus an der Universität zu Köln beteiligt und arbeitete u.a. in der Museumsinformatik am Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg. Er leitet am Deutschen Museum in München die für Digitalisierung, Dokumentation und digitale Vermittlung zuständige Abteilung »Deutsches Museum Digital«. Hoins, Katharina (Dr.) arbeitet an der Hamburger Kunsthalle als Referentin des Direktors. Zuvor war die Kunsthistorikerin für das Warburg-Haus in Hamburg, die Staatlichen Kunstsammlungen Dresden und das Bucerius Kunst Forum tätig. Klein, Armin (Dr.), arbeitete als Theaterdramaturg und Kulturreferent der Universitätsstadt Marburg; anschließend rund 25 Jahre Professor für Kulturmanagement und Kulturwissenschaft. Autor und Herausgeber zahlreicher Bücher zum Kulturmanagement und zur Kulturpolitik Konrad, Elmar D. (Dr.) hat seit 2010 die Professur für Interdisciplinary Startup Management and Creative Entrepreneurship an der Hochschule Mainz inne. Dort leitet er auch das iuh – Institut für unternehmerisches Handeln. Davor war er für das Zertifikatprogramm Kulturarbeit und Kreativwirtschaft an der TU Dortmund verantwortlich. Professor Konrad ist Mitglied des Scientific Board der IECER – Interdisciplinary European Conference for Entrepreneurship Research und leitet im Förderkreis Gründungsforschung (FGF) den Arbeitskreis Cultural and Creative Entrepreneurship. Landau-Donnelly, Friederike (Dr.) ist Stadtsoziologin, Kulturgeographin und politische Theoretikerin. Sie arbeitet als Assistenzprofessorin an der Radboud Universiteit, Nijmegen, in den Niederlanden und forscht zu strittigen Kunstprojekten im öffentlichen Raum. Ihre Dissertation Agonistic Articulations in the ›Creative‹ City – On New Actors and Activism in Berlin’s Cultural Politics erschien bei Routledge (2019), jüngst gab sie den raumtheoretischen Sammelban [Un]Grounding – Post-Foundational Geographies bei transcript heraus (2021). Leinfelder, Reinhold (Dr.) ist Geologe und Paläontologe, Anthropozänforscher und Wissenschaftskommunikator. Derzeit lehrt und forscht er am Institut für Geologische Wissenschaften sowie am Institut Futur der Freien
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Universität Berlin und ist u.a. Mitglied der internationalen Anthropocene Working Group. Von 1998 bis 2013 war er Mitglled im Wissenschaftlichen Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU). Frühere Professuren hatte er an der Humboldt Universität zu Berlin, der Ludwig-Maximilians-Universität München und der Universität Stuttgart inne. Des Weiteren war er u.a. Generaldirektor der Staatlichen Naturkundlichen Sammlungen Bayerns und des Museums für Naturkunde Berlin sowie Gründungsdirektor des Berliner Futuriums. Modarressi-Tehrani, Diana (Dr.) leitet die Stabsstelle Wissenschaftsmanagement am Deutschen Bergbau-Museum Bochum, ist ausgebildete systemische Organisationsberaterin und verantwortet den Aktionsplan für Forschungsmuseen. Die promovierte prähistorische Archäologin war Stipendiatin der Studienstiftung des deutschen Volkes. Lehrtätigkeiten in den Fachgebieten, Archäometrie, Anthropologie und Projektmanagement führen sie seitdem an Hochschulen in Kiel, Bochum und Berlin. Mohr, Henning (Dr.) ist Leiter des Instituts für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft e.V. in Bonn. Der Kultur- und Innovationsmanager arbeitete u.a. für das Deutsche Bergbau-Museum Bochum, die Staatlichen Kunstsammlungen Dresden und die Zukunftsakademie NRW. Von 20122016 promovierte er am DFG-Graduiertenkolleg »Innovationsgesellschaft heute« (TU Berlin, Institut für Soziologie) über die Innovationspotentiale künstlerischer Interventionen in Transformationsprozessen. Mucha, Franziska ist Doktorandin an der University of Glasgow und erforscht im Rahmen des »European Training Network: Participatory Memory Practices (POEM)« das co-kreative Potenzial von digitalisierten Museumssammlungen. Davor arbeitete sie u.a. als Kuratorin für digitale Museumspraxis im Historischen Museum Frankfurt und als Projektmanagerin beim Ars Electronica Festival in Linz. Neugebauer, Daniel verantwortet die Kommunikation und Kulturelle Bildung am Berliner Haus der Kulturen der Welt (HKW). Zuvor war er an der Entwicklung von (digitalen) Inklusionsprojekten im niederländischen Van Abbemuseum beteiligt und koordinierte die Marketing-Kampagnen der documenta 14 in Kassel und Athen.
Autor*innen
Oswald, Kristin studierte Geschichte und Archäologie in Jena und Rom sowie Social Media-Management in Berlin. Sie leitet die Online-Redaktion von Kultur Management Network, einem Fachmedium für Kulturschaffende. Daneben ist sie in der Beratung und Umsetzung digitaler und CitizenScience-Projekte für Museen und wissenschaftliche Einrichtungen tätig. Ihr Schwerpunkt ist die Ansprache und Einbindung verschiedener User*innengruppen in die geisteswissenschaftliche Arbeit. Scharf, Ivana ist Autorin, Beraterin und Outreach Expertin. Als Gründerin und Geschäftsführerin von create encounter gestaltet sie transformative Begegnungen. Zuvor war Sie für Museen, Universitäten, öffentliche Verwaltungen und Stiftungen in leitenden Positionen tätig. Im Jüdischen Museum Berlin etablierte sie die erste Outreach-Abteilung und führte das OutreachKonzept in die deutsche Museumslandschaft ein. Sie wirkte an Museumskonzeptionen mit, initiierte zahlreiche Outreach-Projekte und leitete bundesweite Netzwerkprojekte im Kultur- und Bildungsbereich. Schwan, Stephan (Dr.) ist Leiter der Arbeitsgruppe Realitätsnahe Darstellungen am Leibniz-Institut für Wissensmedien (IWM) und Professor am Psychologischen Institut der Universität Tübingen. Er beschäftigt sich mit der Rolle digitaler Medien und authentischer Exponate für das informelle Lernen in Museen und Ausstellungen. Seirafi, Kasra (Dr.) ist Mitbegründer und Gesellschafter der »Fluxguide Ausstellungssysteme GmbH«. Er ist für strategische Entwicklung, Business Development, Projekt- und Produkt-Manager verantwortlich. Er promovierte in Philosophie und Wissensmanagement an der Universität Wien und in Stanford University (USA). Szope, Dominika leitet die Abteilung Kommunikation und Marketing am ZKM | Zentrum für Kunst und Medien in Karlsruhe. Zu ihren Arbeitsschwerpunkten zählen u.a. neue Kommunikationsmodelle für Kulturinstitutionen, Audience Development und Besucher- und Nichtbesucher-Forschung. Vogel, Jasmin leitet das Kulturforum in Witten. Seit über einem Jahrzehnt ist sie im Kultursektor tätig und hat verschiedene Innovationsprogramme zur (digitalen) Transformation von Kultureinrichtungen verantwortet, dazu
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zählt u.a. das Projekt smARTplaces – European digital audience development, finanziert durch das Programm Creative Europe. Ihr Fokus liegt auf der praxisorientierten Erprobung neuer Governance- und Geschäftsmodelle für den Kultursektor, die ausgehend von der Agenda 2030 zu einer größeren Diversität, Digitalität und Transformationsfähigkeit innerhalb der Organisationen führen sollen. Wiencek, Florian (Dr.) ist Experte an der Schnittstelle von Digitalen Medien und Kunst- & Kulturvermittlung. Beim Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage (ACDH-CH) an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften arbeitet er schwerpunktmäßig im Bereich Wissenstransfer in den Digitalen Geisteswissenschaften. Zudem lehrt er an der Donau Universität Krems, ist Komponist und Sound-Designer und berät Kulturinstitutionen zum Thema der digitalen Vermittlung. Nähere Informationen zu Vorträgen, Publikationen und künstlerischen Projekten finden Sie unter www. f lorianwiencek.com. Wimmer, Michael (Dr.) ist Politikwissenschaftler und Musikerzieher. Er ist Gründer unund langjähriger Direktor des Instituts EDUCULT, zuvor Leiter des Österreichischen Kultur-Service. Als Dozent für Kulturpolitikforschung an der Universität für angewandte Kunst Wien beschäftigt er sich mit Fragen der österreichischen und vergleichenden europäischen Kultur- und Bildungspolitik. Er ist Berater der UNESCO, des Europarates und der Europäischen Kommission und hat an der Konzeption und Implementierung nationaler Programme der kulturellen Bildung und Kunst- und Kulturvermittlung mitgewirkt. Wolfram, Gernot (Dr.) arbeitet als Professor für Medien- und Kulturmanagement an der Macromedia Hochschule Berlin. Zahlreiche Lehraufträge, unter anderem an der Universität Basel, der Fachhochschule Kufstein und der Europa-Universität Viadrina/Frankfurt Oder. Vorträge und Workshops zu Empowerment und Internationalem Kulturmanagement in Indien, Uganda, Griechenland, Polen, Albanien und den Niederlanden. Zudem arbeitet er als externer Referent für das Themengebiet Kulturelle Bildung an der Bundeszentrale für politische Bildung in Berlin. Zahlreiche Publikation zu integrativer Partizipation, kultureller Bildung und internationalem Kulturmanagement.
Museum schnittpunkt, Joachim Baur (Hg.)
Das Museum der Zukunft 43 neue Beiträge zur Diskussion über die Zukunft des Museums 2020, 320 S., kart., Dispersionsbindung, 2 SW-Abbildungen, 55 Farbabbildungen 29,00 € (DE), 978-3-8376-5270-3 E-Book: PDF: 25,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5270-7
Sabine Maurischat
Konservierung und Pflege von Kulturgut Ein Leitfaden für die Praxis 2020, 208 S., kart., Dispersionsbindung, 57 Farbabbildungen, 15 SW-Abbildungen 29,00 € (DE), 978-3-8376-4914-7 E-Book: PDF: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4914-1
Anna Greve
Koloniales Erbe in Museen Kritische Weißseinsforschung in der praktischen Museumsarbeit 2019, 266 S., kart., Dispersionsbindung, 23 SW-Abbildungen, 4 Farbabbildungen 24,99 € (DE), 978-3-8376-4931-4 E-Book: PDF: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4931-8
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Museum Udo Andraschke, Sarah Wagner (Hg.)
Objekte im Netz Wissenschaftliche Sammlungen im digitalen Wandel 2020, 336 S., kart. 30,00 € (DE), 978-3-8376-5571-1 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-5571-5
Viviane Mörmann
The Corporate Art Index Twenty-One Ways to Work With Art 2020, 224 p., pb. 35,00 € (DE), 978-3-8376-5650-3 E-Book: PDF: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5650-7
Susanne Gesser, Nina Gorgus, Angela Jannelli (Hg.)
Das subjektive Museum Partizipative Museumsarbeit zwischen Selbstvergewisserung und gesellschaftspolitischem Engagement 2020, 234 S., kart., Dispersionsbindung, 8 Farbabbildungen 28,00 € (DE), 978-3-8376-4286-5 E-Book: PDF: 24,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4286-9
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