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German Pages [186] Year 2008
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MUMIEN HERz Teil 3 von
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Ravensburger Buchverlag
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet uber http://dnb.d-nb.de abrufbar.
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2008 Ravensburger Buchverlag Otto Maier GmbH
Umschlagdesign: Dirk Lieb Fotos: FlOnine/@URF; @ Bernd Schmidt; istockfoto Inc/@ Chris Schmidt; Corbis/@ Robert Harding World Imagery Karten und Abbildungen: lohannes Blendinger Redaktion: Ulrike Metzger ISBN 97r't-3-473-3s290-6
w.mumienherz.de rw.ravensburger.de
1.
Kairor tr'reitagr 9.
Kapitel
§overaber 2OOJ' 5 Uhr 40
to: Sajjid. fanafius, archeological bureau ior egyptian dutles, calror eg.ypt - pocken in mexico gehören end,gültig ausgerottet - stop - od.er ab,,.rarten? - ende -
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Tag der Toten. Dann wurde auf den Friedhofen getanzt, musi-
ten Gefängnis in Kairo, den er beinahe nicht überlebt hatte. Sid fröstelte noch mehr, als er daran zurückdachte. Doch er war sich nicht sicher, ob der Tod nicht gnädiger gewesen wäre als der Albtraum, in dem er seit einigen Monaten lebte. Obwohl Sid sich geweigert hatte aufzustehen, marschierte er jelzt hinter Rascal her an dieser lauten, verstopften Straße entlang. Sie gewann einfach immer. leder gewinnt immer gegen mich !, durchzuckte es ihn. Mit Schaudern dachte er an die Ereignisse der letzten Nacht. Konnte man ihm ansehen, was für ein Kampf in ihm tobte? Skeptisch kontrollierte er sein Spiegelbild im Schaufenster einer Bäckerei, in dem Totenkopfe aus Zuckerguss zu einer Pyramide aufgestapelt waren. Grinsende Münder mit Zähnen aus Liebesperlen lachten ihn aus. Vor einer Woche hatten sie hier den dia de los muertos gefeiert, wie ihm Rascal aus dem Reiseführer vorgelesen hatte, den
ziert und den Leichen von den Lebenden vorgesungen. Und die Zuckerschadel verschenkte man an Freunde und Kinder als Symbol frir die Dahingeschiedenen. Wie makaber! Bald würde auch er tot sein. Alles was Sid Martins, geboren am 26.luni 1992, ausmachte, würde ausgelöscht sein. Aber einen Leichnam würde es nicht geben. Außerlich sah er vielleicht noch immer aus wie ein normaler amerikanischer Tourist, aber in ihm drin ... - Sid weigerte sich, weiterzudenken, aber die Worte fanden doch in seinen Kopf -, .. . in ihm drin schlug das Herz eines jahrtausendealten Dämons, das ihm die Anhänger des altäglptischen Sethkultes eingepflanzt hatten. Das Herz einer Mumie. Das Mumienherz. Anjedem Tag, in jeder Stunde, jeder Minute saugte es sich mehr und mehr mit Sids Lebenskraft voll. Und gewann in jeder Sekunde ein Stlick mehr Gewalt tiber sein Bewusstsein. Sein Körper konnte sich mit jedem Atemzug mehr an die Erlebnisse des Dämons erinnern, und an die aller Menschen, denen das Herz in der Zwischenzeit eingepflanzt worden war. Zellgedachtnis nannten das die Wissenschaftler, wie er recherchiert hatte. Er roch und hörte so gut wie ein Hund, spürte Todesängste, die andere Menschen durchlebt hatten, die das Herz eine Zeit lang in ihrem Körper aufbewahrt hatten, hörte den Dämon in seinem Kopf lachen. Es wurde immer schlimmer. Wie lange noch konnte er selbst über seine Gefühle und Gedanken herrschen ? Sid stieß scharf die Luft aus und schüttelte den Kopf. Das konnte er doch schon lange nicht mehr ! Er sah Rascal hinterher, diesem irren Straßenmädchen, das in einem baufälligen Haus in der
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2. Kapitel
Mexj-co 15 Uhr
City, tr'reitagr 9.
Es war ein
Novenber
2OO7r
kalter Novembertag, Sid Martins fror. Missmutig
zog er sich die Kapuze seines Pullis über die viel zu langsam nachwachsenden blonden Stoppeln. Die Glatze war ein Andenken an seinen Aufenthalt im Tora Prison, dem gefürchte-
South-Bronx wohnte, und mit ihm von New York nach Kairo und jetzt nach Mexico City vor den Anhängern des Kults geflohen war. Ihre knallroten Haare wippten auf und ab in dem Meer der Passanten, als wollten sie die ganze Welt aufheitern. Als sich Rascal nach Sid umdrehte und seinen Blick bemerkte, warf sie ihm eine Kusshand zu. »Oh mein Gott, wie ich sie liebe!n, flüsterte Sid. Die Totenkopfe hinter der Scheibe grinsten. Als ob sie seine Zweifel kannten, ebenfalls die Stimme gehört hatten letzte Nacht. Die herrische Stimme des Dämons Setepenseth, der sein Ich Stück frir Strick auffraß. l)u spürst, dass du ihr nicht trauen kannst. Es wird dir nichts anderes tibrig bleiben, als sie aus dem Weg zu schaff-en. Da war sie wiedet die Stimme, tief in ihm drin. »fa, Rascal hat Geheimnisse vor mir!«, zischte Sid. »Aber ich will nicht darüber nachdenken. Es ist mir egal, weil ich sie liebe!« [)u lügst, mein sa, mein geliebter Sohn. Deine Gedanken kreisen um nichts anderes mehr, der Zweifel zerfiisst dich. Tue deinenr Vater einen großen Ciefällen: Finde eine schnelle
cin grolles Schlachten auf Erden stattfinden, denn ich muss nreine Schuld bei Anr-rbis begleichen. Der'Iag des Clrausens ist
dernder Mexikaner ließ seinen Maisfladen fallen. Verwirrt tippte er sich mit dem Finger an die Stirn. Sid achtete nicht auf ihn. »Und ich bin nicht der Auserwählte. Du hast dich im Körper geirrt ! Niemals werden wir zwei vereint, meine Seele kannst du nicht bezwingen.n Ein schauriges Lachen schallte durch Sids Schadel. I)eine Seele, dein Körper, mein Herz, meine Mumie. Es rvircl vereinigt werden, wie es Seths Wille ist. Und dann wird
nicht rnchr fcrn, nicht nrehr f-ern. »Das denkst du bloß! Ich werde die Mumie finden und zerstören, dann hat der ganze Spuk hier ein Ende, und ich bin endlich wieder ein freier Mensch !« Sid lagen noch ein paar deftige Flüche auf der Zunge, aber ein strahlendes Gesicht ließ ihn verstummen. »Kommst du?«, fragte Rascal. Ihre blauen Augen blitzten verführerisch. Ehe Sid sichs versah, hatte er ihr einen Kuss auf die Lippen gedrückt. Sie schmeckten nach der Mandelmilch, die sie in der Hand hielt. Die Schwermut wich ein kleines Stück aus seinem Körper, wenigstens ein paar eigene Geftihle waren ihm offenbar noch geblieben. »Warum stehst du hier wie angewurzelt? Wir wollen doch ntm Z6calo!« Rascal hakte sich unter und zog ihn Richtung Stadtplatz. »lch hab gerade an meinen Dad gedacht«, sagte Sid. Immerhin war das nicht ganz gelogen. Sein richtiger Vater war Immobilienmakler und innerhalb kurzer Zeit zum Multimillionär geworden. Noch vor sechzehn Iahren waren Bob Martins und seine Frau Caroline bettelarm gewesen, mit Sids Geburt hatte sich das schlagartig geändert. Sid hatte Hinweise im Safe seines Vaters gefunden, dass ihn die beiden als Gegenleistung für ihren rasanten gesellschaftlichen Aufstieg an den Kult verkauft hatten. »Ich frage mich, wie mein Patenonkel - Gott habe diesen Verräter selig - die Sache eingefädelt hat. Er operiert meinen Herzfehler, entdeckt dabei, dass ich fünf Herzkammern habe wie der wahnsinnige Gründer ihrer Sekte. Und dann ?
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Lösung.
»Du bist nicht mein Vater!«, brüllte Sid. Ein vorbeischlen-
Was sagt er? Ich biete euch fünf Millionen, dafür mache ich euer Baby zum Zombie?« Rascal lachte auf, ihre schneeweißen Zähne blitzten. ,Entschuldige ! Die Sache ist ernst, ich weiß. Aber die Vorstellung
ist absurd. Ich kenne deine Eltern zwar nicht, aber so
was
würde ich niemandem zutrauen.« Doch die Indizien, die ftir die Verstrickung seiner Eltern in die Machenschaften des Sethkultes sprachen, waren erdrückend. Sid konnte es nicht lassen, über die Kaltbltitigkeit seiner Erzeuger nachzugrübeln, bis sie den Stadtplatz erreicht hatten. Er war so grol3 wie acht Fußballfelder und betongrau. Weit und breit kein Baum. Das einzig Grüne war der Streifen in der überdimensionalen Nationalflagge. Rascal schielte in ihren Reiseführer. »So. Das ist der Z6calo, das Zentrum Mexikos. Links sehen
Sie die größte Kathedrale Lateinamerikas, direkt vor uns ist
der Nationalpalast mit Amtssitz des Präsidenten. Hier stand auch schon der Neue Palast von Moctezuma II., bevor Hernän Cortds die Stadt verwüsten ließ.« Sid sah sich um. Der rote Palast wirkte irgendwie sehr unbedeutend, dafür dass hier seit knapp fünfhundert |ahren die Politik des riesigen Landes gemacht wurde. Er stutzte. »Mo-
merlt. Du hast gesagt, hier standen auch die Paläste der Azteken. Heißt das, die Spanier haben die Stadt platt gemacht und auf den Trümmern alles wieder neu aufgebaut?« Rascal nickte. »So ist es doch immer. Erinnere dich an die abgeschlagenen Köpfe bei den Statuen der Pharaonen. Der neue König sorgt dafür, dass der alte vergessen wird. Hör zu !« Sie blätterte
in ihrem
Reiseführer. "Überwältigt stehen 1519 72
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Cortds und seine 'I'ruppcn vor eiltcr Stirdt, rlic rrrr ( ir'(ilie, Pracht, Einwohnerz.ahl uncl llaukunst alles r-ibcrtrilli, was sic aus der alten Welt kennen: 'l'cnochtitlii r.r nrit scincn I I tr ntlcrtcrr vcln Tempeln, Palästen, nrit seinen übcrclr.rellenclcn Miirkten, gebaut inmittcn der Lagunc, verbunden durch ein aLrsgckltigeltes System von L)ämmen uncl Brücken. Als Abgesandter Gottes wircl Cortds ntit Blumen überschüttet. l)anach hat die Gier nach Gold und Macht die reichste Stadt der Welt in Schutt und Asche gelegt ... So weit der Autor Ios6 Le6n Sänchez in seinem Wcrk'I'cnochtitlän. Die letzte Schlacht der Azteken. Was macht also der Eroberer beirn Anblick einer solch prächtigen Stadt?« Sid schuttelte rnissbilligend den Kopf. »Er macht sie dem Erclboden gleich I«
»l{ichtig ! Aber imrnerhin bekamen die Archäologen heraus, wie das alte Tenochtitlän ausgesehen haben muss. Und wir
tiber alles hinaus ragte eine grolle Pyramide im Zentrurn. Konnte es rvirklich sein, dass bartige Männer, die vor der Geburt der aztekischen Kultur tiber das Meer gekornmen waren, riiese'Iechnik rnitgebracht hatten? Die mit dern Mumienherz und den Dokumenten aus der Kammer cles Wissens, die unter der Sphinx lag, hierher geflohen waren, um eine neue G«rßrnacht nach dem Vorbild Agyptens aufzubauen? Die auch darnals schon versucht hatten, Setepenseth wiederzr,rbeleben ? Sid schüttelte sich. Der Geclanke war wirklich zu abstrus, aber dic Ilinweise, clie sie in Kairc und Luxor gelunden hatten, cleuteten alle darauf hin. Ilascal wehrte gerade einen fliegenden Hiindler ab, der ihr cine »echt antike« Aztekenkette mit Plastikfbdern anclrehen lvollte. ,No grrrclns, n() nte gusto!>Zwar bist du mein Onkel und Bruder«, so krächzte Horus, »aber sterben sollst du doch, denn du hast meinen Vater in Stücke gerissen !« Seth in der Gestalt eines Wildhundes aber bellte zurück: »Mein Bruder und Vater ist Osiris. Doch er wollte mich um meinen Teil des Königreichs betrügen ! So riss ich ihn in Stticke wie einen Lumpen. Und so werde ich es auch mit dir tun !« Dann verfinsterte sich der Himmel, denn selbst die Wolken wollten dem Streit beiwohnen. Noch in jedem Kampf hatte Seth gesiegt, das wusste der Falkengott. Trotzdem stellte er sich. Er breitete seine Schwingen aus und flog den ersten Angriff. Wieder und wieder wehrte ihn Seth mit seiner Tatze ab. Dann aber warf ihn Horus auf den Rücken und kniff Seth r6
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die Hoden ab. Seth brüllte nicht, wie es kein Mann von Stolz tut. Er schlug zurück und alle Vcilker der Welt erschraken vor diesem Hieb. Seine Krallen bohrten sich in den gefiederten Kopf seines Bruders und er riss ihm das rechte Auge aus. So sehr zitterten die Völker der Erde, dass sie in diesem Moment ihre Geschichtsschreibung begannen. Es war die Stunde null, und sie hießen das Datum den Tag des Grausens. Blutüberströmt und gezeichnet gingen die Brüder auseinander. Nicht entschieden ist der Kampf bis heute. Bald, schon sehr bald, wird fortgesetzt, was unterbrochen war: der Tag des Grausens. Und dann stirbt der einäugige Falke.
4. Kapitel
&lexico City, ?rei-tagr 9. November 200/1 21 Uhr 40 Birger Jacobsen schloss für einen kurzen Moment die Augen. Die
anderen siebzehntausend Zuschauer in der Arena de Mdxico
grölten und fluchten. Ein dünnes Rinnsal bahnte sich einen Weg über die tiefen Krater, die ihm als Kind die Pocken in sein Gesicht gefressen hatten. Die Luft war stickig und stank nach einer Mischung aus Schweiß - Arbeiterschweiß - und Tequila. Der Freitagabend gehörte den Malochern und das hier war ihr billiges Vergnügen. Aus voller Kehle feuerten die Machos ihre Helden an und johlten, wenn El Loco und Gringo Grande sich die ohnehi n schon ra m ponierten Köpfe einschlugen. Mehr als achtundvierzig Stunden war er jetzt auf den Beinen. Fast hätte er Sid in Kairo aus den Augen verloren, nachdem sie ihn wie einen Anfänger ausgetrickst hatten. Noch immer hätte er sich dafür in den Arsch beißen könnenl Doch wie jede Medaille hatte auch diese hier zwei Seiten: Die Kids hielten ihren Verfolger für tot, begraben unter der geheimnisvoll lächelnden Sphinx. Ein kleiner Vorteil, den er voll auszuspielen gedachte. Eine Zeit lang hatte er den Flughafen in Kairo beobachtet und einfach das 6lück des Tüchtigen gehabt, die beiden waren tatr8
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sächlich aufgetaucht, mit ihrem ägyptischen Fahrer und diesem
zwielichtigen Antiquitätenhändler Faux im schlepptau. über den beschwerlichen Umweg mit Zwischenstopp in San Diego hatte Birger Jacobsen schrießlich auch Mexico City erreicht und
mit seinen Methoden die Kinder wiedergefunden. Knarrrote Haare behielt eben einfach jeder Taxifahrer im cedächtnis seibst diese dämlichen chicanos. El Loco gab sich alle Mühe,
verrückt auszusehen. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er in die Menge und forderte sie auf, ihn anzufeuern. Jubel brandete auf, ein Hager Bierbecher traf den Koloss. cringo crande rag am Boden wie ein hirfloser Käfer
und wartete auf den finalen Stoß seines schwergewichtigen cegners. Die theatralischen cesten, das aufgesetzte cebrüil und die übertrieben gespierten schmerzen brachten Birger Jacobsen zum Schmu nzeln. Lucha Libre, die mexikanische Version von wrestling, war noch amüsanter ars die Firme von Buster Kea-
ton, die er so liebte.
I I t,oco wurde unter den Schmährufen seinerAnhänger auf einer
llahre aus dem Ring getragen. Ja, dachte Birger iacobsen, so kommt es
oft! Du liegst
am
Boden und niemand rechnet mehr mit dir, weil sie dich für einen
trlenden Wurm halten. Und dann schlägst du zu. Erbarmungslos. Und zerschmetterst den übermächtigen Gegner!
Plötzlich vibrierte es an seiner Brust. Birger Jacobsen zuckte zusammen: das rote Handy! Routinemäßig kontrollierte er die Zeit, in Kairo war es gerade 5 Uhr 5o, die sechste Morgenstunde,
5eths Stunde. Er zwang sich, sein Zittern zu unterdrücken, wühlte sich jetzt rücksichtslos durch die Reihen. Flüche begleiteten ihn in die Vorhalle. »ia?«, schnaufte er in die Muschel. Diese Nummer kannte nur ein Mensch, es war also überflüssig, sich nach dem Anrufer zu erkundigen. Die Stimme von Tanaffus war schneidend wie immer.
Mexikaner mit breitem Hut wie aus dem Birderbuch zerriss fluchend seinen wettschein und warf ihn wie Konfetti über seine Vordermänner. Cringo Crande hatte doch noch gewonnen,
"Mein lieber Birger, wie geht es dir in Kairo?" Dieses verdammte Schwein!, durchzuckte es Birger Jacobsen. Er zwang sich, ruhig zu bleiben. Es gelang nicht. Mit dem Armel seines beigen Anzugs wischte er sich die Stirn trocken. "lch hab... g...gute Nachrichten!", stotterte er los. "Der... der Junge war ... ist immer unter Kontrolle! Auch jetzt! Und Setepenseth durchdringt ihn. Aber wir .." ich ... musste den Plan ändern. lch bin in Mexiko City!" »Birger, Birger. Du winselst!u, höhnte Tanaffus. Er klang so klar, also stünde er hinter einem derTicketschalter und nicht am anderen Ende der Welt. "Du bist so leicht zu durchschauen. Kairo, Mexiko. Alles war so geplantl Der Junge wird die Mumie finden, zu der sein Herz gehört. Dann schlägst du zu, Birger.
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Er merkte,
wie die Anstrengungen der vergangenen Tage von ihm abfielen, der Nebel in seinem Kopf sich langsam verzog. Er konnte wieder klar denken.Jetzt wollte er sich noch einen dieser zuckersüßen Kaffees gönnen, die einem die Zähne fast beim Zu-
sehen auffraßen, und dann an einem lmbissstand scharf ge_ würzte Stücke eines gebratenen Zickleins verspeisen. Der per_ fekte Abschluss eines wirren Tages! Entschlossen stand Birger Jacobsen von seinem sitz auf und stieg über die Füße seiner Nachbarn hinweg. Ein dünnlippiger
Verstanden? Beides muss heil nach Manhattan gebracht werden, hörst du?" Bevor Birger Jacobsen antworten konnte, klickte es in seinem Ohr. Das Cespräch war beendet. Außerlich völlig beherrscht
verließ er das Cebäude. Nachdem er dreiTaxifahrer barsch abge-
wimmelt hatte, ließ man ihn endlich durch die Dunkelheit laufen und seinen Croll in die Nacht schreien. »So leicht zu durchschauen. lch!«, brüllte er auf Norwegisch. Er wusste nicht, was ihn tiefer verletzte, diese Worte - oder dass sie wahr waren. Wie hatte er nur glauben können, Tanaffus so plump überlisten zu können? Die Kammer des Wissens war sein Trumpf gewesen, hier hatte er sich Formeln erhofft, die selbst den Seth-Seher in
lm Süden von De Effe lebten die Reichen in ihren schicken Häusern. Diese waren von hohen Mauern umgeben, auf denen Classcherben einbetoniert waren, um Einbrecher abzuschrecken. Draußen patrouillierte die Privatpolizei. Auf den 5taat, auf den alle so stolz waren, wollte sich hier offensichtlich niemand verlassen
-
egal, ob arm oder reich.
brettartigen Rasterstadt, die nur Neza genannt wurde, und über der die Sonne kaum jemals die Smogwolken durchbrach.
Auch Birger iacobsen entschied, das letzte Kapitel aufzuschlagen, die ausgetretenen Wege zu verlassen. Lange genug lratte er nur fantasiert. Jetzt brauchte seine Rebellion ein Zeic hen, an dem er sich selber aufrichten konnte. Ein Zeichen seines Mutes und seiner Furchtlosigkeit. Tanaffus selbst hatte ihm die neue Trumpfkarte in die Hand gespielt. Die Mumiel Ohne sie war alles nichts. Der Junge würde sie finden, dafür sorgte das Zellgedächtnis. Und er, Birger Jacobsen, würde den toten Körper des Dämons nutzen, um hinter die wahre ldentität des Kultführers zu kommen. Und ihn ablösen! Er beschloss, sofort in die Offensive zu gehen. Das rote Handy, das er immer am Körper tragen musste, damit Tanaffus Befehle erteilen und Hohn über ihm auskippen konnte, wurde ausge,;chaltet. Birger Jacobsen wollte es in einen Brunnen schmeißen, a ber er besann sich. Er dachte nach. Was er bra uchte, wa r ein Zeichen! Schließlich zog er es wutentbrannt wieder aus der Hosentasche, kniete sich zwischen die letzten bummelnden Touristen auf den Bürgersteig und knallte das Telefon auf die Steine. lmmer und immer wieder schlug er zu, bis es zersprang und Splitter auf seinem Anzug hinterließ. Jetzt wa r er a llein ! Jetzt hatte er d ie Tü r h inter sich zugesch la gen, die sich nicht mehr öffnen ließ. Birger Jacobsen hatte den Seth-5eher abgeschüttelt. Am cajero automatico von Bancomer,
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die Knie zwingen konnten. Doch er fand sie leer, ausgeräumt vor langer Zeit. Verächtlich sah er sich auf den Straßen um. De Effe, wie sie von den Mexikanern genannt wurde, ist mit
fast zweiundzwanzig Millionen Einwohnern eine der größten Städte der Welt, sechzig mal fünfundzwanzig Kilometer groß. Und genau wie er stand sie vor unlösbaren Aufgaben: elftausend Tonnen Staub, ausgestoßen von über drei Millionen Fahrzeugen und riesigen lndustrieanlagen, rieselten täglich auf ihre Dächer nieder. De Effe,das war, mit eintausend bis zweitausend Neuankömmlingen jeden Tag, der Magnet aller Hoffnungslosen. An Leiden und Entbehrungen gewöhnt, ließen sie sich in einer der wilden Siedlungen nieder, immer auf der Suche nach einer Verdienstmöglichkeit. Doch bei vielen erfüllte sich der Traum vom Aufstieg und einem festen Job nicht. Die meisten von ihnen hausten in der östlichen Vorstadt Nezahualcoyotl, einer schach-
mit Pesos ein. Diese O_uelle würde bald versiegen, wenn Tanaffus hinter seine Pläne kam, also schöpfte er den Höchstbetrag aus. Der Apparat surrte. Birger Jacobsen nahm die Kreditkarte und ein großes Bündel Ecke Bollvar, deckte er sich großzügig
5. Kapitel
Scheine entgegen. Zeit, die Kinder zu besuchen! Jetzt arbeitete er endgültig auf eigene Rechnung, in De Effe, der Stadt der Hoff-
nungslosen.
triexico 11 Uhr
City,
Samstagr 10. November 2007,
Sid schreckte auf. Sein Herz raste, Schweiß lief ihm die Schla-
lcn herunter und tropfte auf das gebhimte Kissen. Er horte die 'ti-opfen auf dem Stoff aufschlagen. Dann hörte er Rascals l.achen. Sie hockte rittlings auf seinem Bauch und kitzelte ihn rnit einer schwarzbraunen Feder unterm Kinn. Der Ring durch ihren Nasenfltigel blitzte. »Na, ausgeschlafen
?«
Am liebsten hatte Sid ihre Hand weggeschlagen. Er hatte rvieder von Cheops vertrockneten Augen geträumt, wie sie ihn :rrrstarrten, bevor er den Leichnam des Pharao mit seinen Zähnen zerrissen hatte. Auf den Befehl seines selbst ernannten Vaters hin. Sid schloss noch einmal die Lider und atmete tief tlLrrch.Wie viel Macht das Mumienherz über ihn erlangte, lag rruch an ihm selbst. Verdränge den Hass!, schärfte er sich ein. Liclre I »fa«, antwortete er dann und setzte sich auf. Das Luxuszirnrner im Hotel Gillow war im Gegensatz zur geschmackvollcn l,obby wirklich schrecklich eingerichtet. Gardinen, l)ecken trrrcl die Bilder an der Wand quollen fast über von kitschigen lilumen. Im Reiseprospekt nannte man das wahrscheinlich 24
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»Kolonialstil«. Rascal trug nur einen grünen Rock und ein Muskelshirt mit dem Aufdruck I was a punk before you were. Von der Kette um ihren Hals baumelte ein massives silbernes Herz nt ihm herunter. Sid nahm es zwischen Daumen und Zeigefinger. Überrascht von seinem Gewicht drehte er es hin und her. »Das war das Letzte, was ich von dir wahrgenommen habe, bevor wir uns kannten«, sagte er in Gedanken versunken. »Wie bitte?« »Ich meine, als ich vor unserer Schule auf dem Bürgersteig lag, nachdem mich jemand über den Haufen gefahren hatte. Da warst du ja noch eine Fremde für mich. Und kurz vor meiner Ohnmacht habe ich rote Haare gesehen - und dieses Herz. Leg es bitte nie ab, okay?« Sid lachelte, dann fuhr er fort: »Willst du mir nicht doch sagen, wer es dir geschenkt hat?« Rascal starrte ihn amüsiert an. »So genau hast du dir das eingeprägt?« Sie ließ sich seitwärts auf die Matratze kippen. »Keine Angst - es steckt kein anderer Typ dahinter. Ist ein Geschenk meiner Mutter. Sie hat die Kette auf einer Schmuckbörse gefunden und sofort an mich gedacht, hat sie gesagt. Angeblich soll sie mich beschützen, aber wahrscheinlich ftillt es ihr einfach leichter, mir mein Leben zu erlauben, wenn ich etwas von ihr immer bei mir trage !« Sid zog sie zu sich hoch. »Dann brauche ich auch dringend etwas, das dich immer an mich erinnert.« Rascal schüttelte den Kopf. »Nicht nötig. Ich habe nicht vor, mich von dir zt trennen. - Aber du brauchst etwas von mir: einen neuen Haarschnitt!« Umgehend befahl sie Sid ins Bad und verließ das Zimmer, um nach einem elektrischen Rasierer z6
zrr liagen. Ein paar Minuten später
fuhr
sie
rnit dem Apparat
iibcr seine Kopfhaut. ,lch glaube, das reicht jetztl«, stellte Sid mit einem kritischcn Illick in den Spiegel fest. Rascal hatte seine kurzen Haare so sestutzt, dass nur noch ein ftinf Zentimeter breiter Streifen (ibrig geblieben war, von der Stirn bis zum Hinterkopf. »Für einen klassischen Iro noch ein bisschen kurz, aber in cinern lahr ...« Rascal stoppte mitten im Satz. »Cluck mich rricht so an, Sid. Ich glaube einfach fest daran, dass wir die N'Iun-rie fir-rder-r und zerstören, wie uns Monsieur Faux geraten hat. Du wirst leben l«
Sid sprang von dem klapprigen Badhocker auf,, der ihnen als Friseurstuhl gedient hatte. »|a, das werde ichl«, antwortete cr mirtt. »Aber nur, wenn ich in den nächsten drei Minuten was Ordentliches zu essen bekomme !« Als sie eine Viertelstunde später in etwas weniger provozierender Kleidung die holzgetäfelte Lobb,v mit clem gewaltigen Kronleuchter betraten, musste ihnen der Mann an der llezep-
tion leider, leider nritteilen, dass das im Übernachtungspreis inbegriffene Frtihstück nur bis zehn Uhr serviert würde. Also setzten sie sich ins angrenzende Restaurant, versuchten den Anblick des liebevoll gestalteten Innenhofs zu genießen und bestellten tacos doradosr was sicl-r als fiittierte Maisfladen mit FIühnchen entpuppte. Rascal ließ die Rechnung auf die Zimmernummer schreiben. »Sollten wir uns nicht langsarn Gedanken darüber ntachen, wer das alles bezahlt ?«, zischte ihr Sid zu, als der elegante Kellner verschwunden war. »Meine letzten Dollars habe ich jedenfalls gestern für clas Museum am Templo Mayor ausgegeben.u )1
wirklich rausgeschmissenes Geld war. Neuigkeiten habe ich da keine mehr erfahren. Und den Rest lass nur meine Sorge sein. Ich hab da noch die eine oder andere Idee, wie wir an ein bisschen Kleingeld kommen können. Dazu brauche ich nur mein Notebook und flinke Finger.u l{ascal stand auf. »Muchas graciaslr,Fray bedeutet so viel wie lJruder«, erklärte Rascal und hockte sich auf den Tisch neben ihm. Sid schämte sich, er hatte das Wort glatt für den Vornamen gehalten. »Warum ist es so schlver, etwas über die Azteken zu erfährenu, fiagte er schnell. ,Ich meine, aus der Zeit, bevor die Spanier kamen? Hatten sie keine Schrift?n Fray Pedro grifT nach dem weißen Strick, der seine Kutte zr-rsammenhielt. Geistesabwesend ließ er die Knoten durch seine Finger gleiten. »Doch, die Azteken hatten eine Hieroglyphenschrift. Sie haben auch bergeweise Dokumente hinterlassen, aber ...«, er seufzte. »Das Ganze ist leider kein Ruhrnesblatt für uns Europäer und für uns Franziskaner erst recht nicht. Was r-roch nicht von den conquistado res zerstört worden war, vernichteten die ihnen nachfolgenden Missionare. Eine Schande, was ftir ein Schatz dar-nals einfach so verbrannt worden istl« Fray Pedro verschränkte seine feingliedrigen Finger
grapschte nach seinem lJlock, die Bücher ließ er einfach liegen.
lretrübt drein. »Alles weg?«, stöhnte Sid. Rascal vert.og enttäuscht das Gesicht. »Nein!«, erwiderte Pedro. »Einer meiner C)rclensbrüder hatte auch vor fünfhundert Iahren schon ofTene Augen. irray Bernardino c1e Sahagtin, er machte es sich zur Aufgabe, die My'then der Azteken uncl den Ablauf der Eroberung aus ihrer Sicht aufzeichnen zu lassen. l)azu gründete er in Tlatelolco, der Zwillingsstadt von Tenochtitlän, einc Oberschule tür Azteken adliger Herkunft und christliche Priester. Die Bücher, die
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auf rnich und die Dame achten, oder?« Er lachte schallend, bis ein paar Besucher verärgert die Köpfe hoben. Als sie sahen, wer da so einen Krach machte, verbissen sie sich irgendwelche Bemerkungen.
»Kontntt, wir gehen in die Eingangshalle. L)a stören wir nietnanden bei clen sicher sehr wichtigen r'orschungenl« Dieletzten Worte schleuderte er den Lesenden geradezu entgegen. Sid
und
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so entstanden sind, nennt man cödices. Sein zwolfbandiges Hauptr,verk, die Historia General de las Cosas de la Nueya Espana, auch bekannt als Codex JTorentinus, wurde in Spanisch und Nähuatl, der Sprache der Azteken, geschrieben. Es zählt heute zu den wichtigsten frühkolonialen Zeugnissen dieser einmaligen Kultur.u
Sid horte täsziniert zu. Ihn begeisterte, dass es immer wieder Menschen gab, die ihrer Zeit weit voraus waren. Ohne Fray
Bernardino wären die Mythen der Azteken sicher in Vergessenheit gcraten. So gab es immerhin noch ein paar Aufz-eichnungcn, die hoffentlich auch ihm und Rascal weiterhelfen würden. Er sah zu ihr hinüber. Rascal zog die Nase kraus, irgendetwas schien sie zu beschäftigen. »L)urfte er das denn?«, fragte sie skeptisch. »Die Spanier wollten doch alles Aztekische zerstören.« Auf F'ray Pedros Gesicht zeigte sich ein sanftes Lächeln. Er schien den wachen Geist des Punkmädchens zu bewundern. Sid merkte, dass er ein kleines bisschen neidisch war. »Du hast völlig Recht, mein kluges Kind! I)er Codex florentinus wurde nicht veröffcntlicht. Die spanische r-ührungsschicht befürchtete, die Azteken würden sich angesichts ihrer glorreichen Vergangenheit gegen die Eroberer erheben. Zum Ghick wurde das Werk nicht gleich von der Incluisition als Teufelswerk verbrannt. L)as Manuskript geriet in Vergessenheit, erst zweihundertfünfzig lahre später wurde es in den Archiven des Klosters von Tolosa wiederentdeckt und ab 1829 in London veröffentlicht.u Der Mönch stand auf und lehnte sich leicht nach hinten. Mit den Fingern beider Hände massierte er sich die unteren 32
[{ückenrvirbel. »Entschuldigt mein schlechtes Benehmen, aber
lnein Ischias trringt r-nich fast um.« Er wandte sich zurn Ausgrrr-rg. »Es war schön, nr it so interessiertcn jungen Menschen zu diskutieren«,1obte er. »Die Arnis sind außerhalb dieser Bibliothek nicht gerade sonderlich beliebt, wie ihr sicher schon benrerkt habt. Sprecht möglichst gebrochen Englisch, darnn werdet ihr frerundlicher bedient.« Pedro zwinkerte schelmisch. ,Und solltet ihr je auf eine Kopie des CoclexJlorentinus stoßen, nehmt euch die Zeit, ihn in Ruhe anzusehen. Es lohnt sich rvirklich, sich diese bebilclerten Strgen und Legenden der Azteken, Informationen über Religion und Mythologie, den aztekischen Kalender, Flora und Fauna anzuschauen. Ein feil davor-r beschäftigt sich auch
rnit der Eroberung Mexikos durch
llernän Cortds. Aber aus der Sicht der Verlierer.« Fray Pedro tlehnte sich noch einmal, dann fiel er in seine ehrerbietende Haltung zurück. »Jetzt muss ich aber schnell zurn Busl« Mit grol3en Schritten ging cler hagere Mann auf den Ausgang zu, kurz bevor sich die Glastiir öffnete, drehte er sich noch einmal tum und winkte Sid und ll.ascalrvie ein Schuljunge zu.
Rascal winkte zurück und ließ sich cler-n bis eben
in den Stuhl fällen, in
der Mönch gesessen hatte. Sofort fuhr sie wieder
hoch und sah unter sich. ,Momentl Ihr Gebetbuch!« Mit cinem ledergebundenen Buch in der Hand rannte sie auf die Stralle. Sid ging lirngsam hinterher. Er malte sich aus, wie Irray llernardino mit den aztekischen Adeligen umgegangen war Lrnclihre Sprache ins Spanische übersetzt hatte. Der Franziska-
ncr rnusste von einer höheren Macht gelenkt worden sein, gcgen alle Widerstände ur-rbeirrbar an seineln Lebenswerk lc'stzuhalten.
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Zweihundert Meter von der Bibliothek entfernt hatte Rascal den Mönch endlich eingeholt. Beide blieben stehen und unterhielten sich. Auffallig lange. Sid spitzte die Ohren und konzentrierte sich auf ihre Unterhaltung, filterte den Straßenlärm heraus. Dennoch verstand er nichts: Die beiden sprachen
6.
Kapitel
Spanisch. Siehst du, Sohn! Sie sät Zweifel in unser Herz. Schmerzhaft
und todlich wie das Gift der Schlange.
Tlatelolco, Mexico City, Samstag, 10. November 2007, 15 Uhr
15
Birger Jacobsen war auf der Hut. Wie ein Wolf seiner Beute
folgte er den beiden Kids in einen unspektakulären Stadtteil Mexico-Citys. Cegen den Wind, damit ihn die Beute nicht wittern konnte. Obwohl er beinahe daran zweifelte, dass Sid ihn wahrnehmen würde, denn die zerbeulten Autos, die sich den Paseo de la Reforma Stoßstange an Stoßstange Richtung Norden quälten, ließen kaum Platz für andere Cerüche. Aber er blieb vorsichtig. Bei seiner Arbeit für das Nobelpreiskomitee war ihm vor zwei Monaten durch Zufall eine wegweisende Forschung zum Zellgedächtnis in die Hände gefallen.Wenn alldas stimmte, was Sefror Mendoza beobachtet und aufgezeichnet hatte Birger Jacobsen glaubte fest daran
-
-
und
dann konnte der sa die
Er-
innerungen der bisherigen Herzträger teilen. Und was noch viel
wichtiger war, er konnte riechen und hören wie ein Wildhund, denn das waren zwei der erstaunlichen Eigenschaften Setepenseths gewesen. Birger Jacobsen reckte den Hals. Wie eine Fackel hüpfte die
groteske rote Frisur nach links in eine Seitenstraße. Er lehnte sich einen Moment an eine Hausmauer, Putz bröckelte hinter 34
35
seinem Rücken ab und versaute ihm den Versace-Anzug. Vor sich
hinfluchend ging er hinter den beiden her. Mit jedem Meter, die sich die Straße von der Hauptverkehrsader entfernte, wurden
die Hochhäuser hässlicher und schmuddeliger. Keine gute Cegend, stellte Birger Jacobsen fest. Er kickte eine plastiktüte und eine leere Flasche in den Rinnstein, die beißend nach Benzin
tief in die mit Treibstoff gefüllte Tüte halten und einatmen, so machten es die Straßenkinder. Die giftigen
stanken. Den Kopf
Dämpfe ließen Hunger, Kälte und Einsamkeit vergessen, in Oslo, in New York, in Kairo und auch hier. Der menschliche Ausschuss, Plaza de Las
den keiner haben wollte, sogar noch von Polizisten beklaut. Bald würden sich diese armen Seelen ihm anvertrauen, als Nachfol-
ger von Tanaffus. Setepenseth würde sich um alle kümmern. Und den Rest vernichten. Fast wäre Birger Jacobsen blindlings auf die Plaza de las Tres Culturas gelaufen, so tief war er in Cedanken an sein Ziel versunken. Zum Clück schienen ihn der sa und seine Schlampe nicht gesehen zu haben, offenbar waren sie von dem platz ge-
Ires Culturas
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nauso abgestoßen wie er selbst. Drei Kulturen sollten sich dem Namen nach hier vereinen und
die Wurzeln des modernen Mexikos symbolisieren. Bauwerke aus der Zeit der Azteken, der spanischen Eroberer und moderne Zweckbauten standen verloren nebeneinander. Die Cebäude schienen sich zu langweilen und wussten nichts miteinander anzufangen wie Partygäste, denen die Themen zum Small Talk
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ausgegangen waren. Craue Wohnkästen, eine Kirche mit eingefallenem Turm, die
Crundmauern eines Tempels. Nichts wies darauf hin, dass sich in Tlatelolco einst der bedeutendste Markt im gesamten präko-
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lumbischen Amerika befunden hatte. Hernän Cort6s selbst hatte die Händler auf bis zu vierzigtausend geschätzt. Bei der Eroberung Tenochtitläns durch die spanischen Kon_
quistadoren am
August i521war Tlatelolco der letzte Rück_ zugsort der Azteken und ihres Führers Cuauhtemoc gewesen. Hier waren sie endgültig vernichtet worden. Birger Jacobsen sog die Luft ein. Mehr als vierzigtausend Männer, Frauen und Kinder hatten hier ihr Leben verloren, durch eine Handvoll Spanier. 13.
Studenten seien damals durch Kugeln getötet worden, hieß
wollte man zeigen. Eine Tat voller menschenverachtendem Crößenwahn, die auch Tanaffus zuzutrauen wäre. Seine Finger suchten in der Jackentasche den Flakon mit den Kümmelsamen. Cegen Menschen konnte er sich ganz leicht wehren. Eine Formel, ein paar Tropfen aus der Flasche, und sie sackten zusammen. Aber für den Seth-Seher brauchte es mehr.
Birger Jacobsen schüttelte enttäuscht den Kopf. Er roch nichts, das konnte nur der Auserwählte. Die Parallelen sprangen ihm wie eine hässliche Kröte !ns nar_
bige Gesicht. Tanaffus-Aztekenkönig, Birger-Cort6s. Auch er selbst war bei der Eroberung des übermächtigen Reiches von Tanaffus mehr oder weniger alleine, auch ihm würde es nur mit List gelingen, nicht mit Kraft, den Seth-Seher von seinem posten zu stoßen. Jahrelang hatte ihn der Unbekannte, der sich hinter
einer eisernen Maske und dem Namen Tanaffus versteckte, nur herumgeschubst und als Boten benutzt. Birger Jacobsen hatte alles über sich ergehen lassen, hatte gehorcht und gelernt, Wissen angehäuft. Nur noch die wahre ldentität Tanaffus,musste er
herausbekommen
-
und überleben. Dann würde ihn der auferstandene Setepenseth zum mächtigsten Mann auf Erden ma_ chen. Er würde zerstören, um eine bessere Welt zu errichten. Anders als Cortes, der der Bevölkerung nur Leid gebracht und dafür die ldentität genommen hatte. Aberseiauf der Hut!,ermahnte sich BirgerJacobsen noch ein-
mal. lm Oktober 1968, kurz vor dem Beginn der Olympischen Spiele, war dieser Ort Schauplatz eines Massakers gewesen. Die Polizei feuerte wahllos in eine protestkundgebung, vierhundert 38
es.
Ruhe wünschte man sich vor den Spielen in der Stadt, Macht
39
»Der erste Schritt zur Versöhnung ist also gemacht«, stellte Rascal lachend fest. »Und wer muss jetzt auf wen zugehen?u
7. Kapitel
>Vielleicht jeder die Hälfte?«, schlug Sid vor. »Gut. Aber nur, wenn deine Hälfte größer ist«, stimmte sie zu. Größere Halften ! So was konnte sich wirklich nur Rascal ausdenken.
,Abgemacht !« Sie trafen sich irgendwo auf der Plaza de las
T1atelolco, Mexico Cityl Samstag, I0. November ZOO7, 14 Uhr
tres culturas. Sid packte Rascal um die Taille und wirbelte sie 3O
Sid konnte es nicht ändern. Dann war sie eben sauer! Angeb-
lich hatte Rascal den alten Mönch nur gefragt, wo das Kloster von Sahagrin zu finden war. Aber er glaubte ihr kein Wort. Daftir musste man sich doch nicht fünf Minuten unterhalten ! Und dann hatte sie ihn einfach stehen lassen. euer durch diesen Moloch rannte sie ihm davon ! Eine Schnellstraße entlang, in ein mieses Wohngebiet. Als wenn die Metro noch nicht erfunden wäre ! Sid hätte heulen können vor Wut und Enttäuschung. Er biss die Zähne so fest zusammen, dass ihm die Kiefer schmerzten. Sonst hätte er sie angebrüllt.
»Wenn du aufhörst, dich wie ein kleines Kind zu benehmen, rede ich wieder mit dir«, rief Rascal zu ihm herüber.
Warum war sie nur so verdammt hübsch!, durchzuckte es Sid. Das ist ungerecht. Mädchen können von )ungen einfach immer alles haben, wenn sie nur mit den Augen klimpern. Und er war bestimmt keine Ausnahme. Nicht bei ihr. »Du redest doch schon mit mir«, antwortete er und versuchte seinen grimmigen Blick beizubehalten. Es gelang ihm nicht. 4o
herum, wie er es einmal in einem Film gesehen hatte. Das war
ftir ihn der Inbegriff der Liebe, sehnsuchtsvoll aufeinander zulaufen und sich herumwirbeln. Nach ein paar Dutzend Küssen und einer gehauchten Entschuldigung besann er sich darauf, warum sie hier waren. Aber es war enttäuschend. Der Platz wirkte planlos in ein heruntergekommenes Wohngebiet gepflanzt. Die Ruinenstummel der Aztekentempel waren gepflegt, aber wenig spektakulär. Und von dem Colegio de Santa Cruz de Tlatelolco, das der Mönch Sahagtin vor beinahe vierhundertfünfzig fahren aufgebaut hatte, um die Urtexte der Azteken ins Spanische zu übersetzen, fehlte jede Spur. Rascal ging auf einen Gärtner zu, der sich mehr auf seine
Harke stützte, als wirklich zu arbeiten. ,>No, no!>Gracias!« kehrte sie zu ihm zurück. »Also, die Schule stand tatsächlich hiern, berichtete sie. »Ge-
nau dort, wo jetzt die Kirche ist.« Sid musterte das verwahrloste Gotteshaus. Vor der Kulisse der riesigen Wohnblocke wirkte es winzig klein, der rechte Glockenturm war kürzer als 41
der andere. Wahrscheinlich eingefallen und nicht ersetzt worden. Ein bisschen hatte er über die Architektur der frühen
Neuzeit im Kunstunterricht gelernt, aber hier konnte er keinen klaren Bar-rstil erkennen. Rechts an die Kirche schloss sich ein zartrotes Gebäude an, das ehemalige Kloster. )e länger Sid die Kirche betrachtete, desto mehr Leben kam in den Gärtner. Aufgeregt leckte er sich über den akkurat gestutzten Bart auf der Oberlippe. »Wanna have a /ook i«, brabbelte er. Wie aus dem Nichts tauchte ein riesiger Schlüssel in sciner fältigen Hand auf. Ohne die Antwort abzuwarten, humpelte er über den Rasen aufden Eingang zu. »Looklook, beautiJuuuuul !«,leierte er mit gespielter Begeisterung herunter. Rascal drückte ihm ein paar Dollars in die Hand, was ihn vertrnlasste, die speckige Mütze zu ziehen und sich theatralisch zu verbeugen.
Die Kirche war kalt und düster, aber gewiss kein Schmucksttick, das war Sid schon auf den ersten tslick klar. Die gewölbte Decke war hoch, aber irgendwie beclrückencl. Sid hatte das Geftihl, den Kopf einziehen zu rnüssen. Die kleinen Fenster verstärkten den Eindruck noch, in einem Kerker zu sein. »l)u links, ich rechts«, schlug er vor. Rascal nickte. Um die tsär.rke im Mittelschiff herum ging Sid auf cien Altar zu. An den Wänden waren ein paar Heiligenbilder und Statuen, trber nichts Aullergewöhnliches. Nichts wies hier auf die Vergangenheit der Azteken hin. Wenn es an dieser Stelle einen Hinweis auf den Verbleib der Mumie von Setepenseth gegeben hirben sollte, dann war er bei der Auflösung der Schule von Sahagün vernichtet worden. Sid seufzte. »lch glaube, den Weg...« Er stutzte. I)a war 42
ctwas gewesen, ein Hinweis, den er gesehen, aber nicht richtig
wahrgenommen hatte. Aber wo? Auf dem Vorplatz? An den ? Hier in cler Kirche? »Sid? Alles klar mit dir?u, erkundigte sich Rascal. Sid hockte sich auf eine der Bänke und schloss die Augen. ,Pssst!«, zischte er nur. In Gedanken ging er noch einmal die lctzte Viertelstunde durch. Ihre Ankunft auf dem Platz, die Versöhnung, das Gespräch mit dem Gärtner ... »lch hab'slu, rief er plotzlich. Sein Schrei hallte gespenstisch von den Wänclen wider. »Komm mit!« Mit gespanntem Gesichtsausdruck folgte ihm Rascal bis zu einer hölzernen Marienligur in einer kleinen Aussparung in der Wand. Ihr blauer Umhang aus echtem Stoff war mit Goldläden durchwirkt. Sid schatzte ihre Größe auf etwa einen Meter, mit ausgestrecktem Arm konnte er gerade noch ihre nackten Zehen berühren. Viva Sonta Maria de Guadalupewar ir-r den Sandstein darunter gemeißelt. Und die Madonna hatte dunkle Haut. »Das ist doch etwas Resonderes, oder?«, sagte Sid stolz. »Eine einheimische Maria, nicht weil3 wie bei uns. Und was gehört zu Maria?« Rascal nickte. »Du hast Recht, das lesuskind fehlt. Und ihr '['empelruinen
N,lann.«
»Eben nicht!«, verbesserte sie Sid und stieg auf die Rücken-
lehne einer Bank. Mit dem Fuß schob er die Gebetbtlcher beiseite. Neber-r der Figur tippte er an die Mauer. IESUS hatte jernand rnit schnörkellosen Buchstaben in den Stein geritzt, sie waren kaum noch zu sehen. »Und wo steht Marias Ehemann auf den meisten Bildern?n Rascals Gesicht hellte sich auf.
43
»Hinter seiner Frau, um
sie
zu stützen!« Mit einem Satz war sie bei Sid. Er hatte erst ein bisschen Skrupel, an der Heiligenstatue herumzufummeln, dann aber fasste er ihr an den Hals und zog sie zu sich. Es ging erstaunlich leicht. Rascal lugte ungeduldig dahinter. Endlich sah Sid es auch, er hatte richtig kombiniert. Hinter Maria waren weitere Buchstaben zu erkennen. IOSZEF: LAS ONCE Y LAS DOCE MAS UNO »Ich fass es nicht l«, schnaufte Sid, als sie vor der Kirche saßen.
Rascal drehte irn ihrem Ntrsenring. »fa, es heißt ganz ein-
fach: die Elf und die Zwölf plus eins.n Sie sprang auf. »Irgendrvas
mit elf ist wichtrg. Zwölf plus eins ist dreizehn und
das
kann nur heil3en, dass da noch etwas f)reizehntes ist, wo alle nur zwölf vermuten, clarauf verwette ich meinen knackigen Hintern I« Sid merkte wie ihm das tslut in den Kopf schoss. Als Rascal über den Platz liel versuchte er ihr nicht auf den knackigen Hintern zu starren. Zum Gltick gelang ihn-r das nicht. »Oiga, sefior Diego /«, rief sie den Clärtner schon von Wei-
Ein paar Novembersonnenstrahlen schafften es, die Smogglocke über der Stadt zu durchdringen, sie kitzelten Sid auf der Haut. »Er war also hier. Nagy hat es tatsächlich geschafft, seine Schnitzeljagd mit seinem ungarischen Landsmann |oszef Pulitzer bis hierher durchzuziehen. Er ist vor dem Kult um die halbe Welt geflohen wie wir, um seinem Freund Hinweise auf die Machenschaften der Sethanhänger zu geben. Er hat darauf vertraut, dass Pulitzer ein brillanter |ournalist ist, und alles findet * ftir die Story des Jahrhunderts.« Rascal streichelte seinen Arm. »Richtig. Und wenn er sich so viel Mühe gegeben hat, kann am Ende dieses Rätselratens nur das Versteck der Mumie liegen, die er gefunden hat, aber selber nicht mehr zerstören konnte, wie aus seinem Tagebuch hervorgeht.« Anerkennend klopfte sie Sid auf die Schulter. »Das mit Maria und dem ungarischen loszeflagwirklich nicht auf der Hand. Gratuliere, Seraphinl« Sid zog sie an sich. »Danke. Aber jetzt sind wir wieder genauso schlau wie vorher. Was bedeutet der Rest eigentlich, ist
tem zu sich. Sid hörte das Gespräch, als würden die beiden neben ihm stehen, und nicht in hundert Meter Entfernung. Aber sie sprachen Spanisch. Sid spürte, wie das Misstrauen wieder in ihm aufkeimte. »Diego weiß nichts von einer EIf oder etwas Dreizehntem«, berichtete Rascal, als sie zurück auf der Treppe war. »Er hat keine Ahnung, wils das bedeuten könnte.« Sie machte ein be-
das Spanisch?«
schreibung
44
tretenes Clesicht.
»Mistl«, fluchte Sid. Er hatte es ja geahnt, sie waren der Mun-rie keinen Zentimeter näher gekommen. Plötzlich hellte sich Rascals Gesicht auf. »Guck nicht so verkniffen. Eines dieser Häuser beschaftigt sich auch heute noch nrit Texten auf Nähuatl. Und rat mal, wie es heißt ! Callejuela de los Once Patios. Na, was sagst du jetzt? Once Patios - elf Höfe ! Da ist unsere erste Zahl
!«
Sid nahn-r ihre Hand und ließ sich hochziehen. »lch sage, dass du ein Schatz bist ! Wir sollten diesem ehrwürdigen Haus dringend einen Besuch abstatten. I{trst du auch eine Wegbe?u
45
Rascal schüttelte den Kopf. »Nein, aber den
Ort, Pätzcuaro. Ziemlich übersichtlich, es rvird nicht schwierig sein, dort das Kloster zu finden. Aber wir sollten unser Gepäck mitnehmen. Wer weill, ob wir noch einmal nach Mexico City zurückmüsI
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Mit den-r Bus fuhren sie wieder in die Altstadt, schweigend, jeder hing seinen eigenen Gedanken nach. lJeirn Templcr Mayor stiegen sie aus und scl-rlenderten die Avenida 5 de Mayo herunter, bis zum Hotel Gillow. »Und jctzt?«, wollte Sid wissen. »Wir können nicht einfäch verschwinden, ohne zu zahlen. Ich habe keinen Clent mehr.« Rascal grinste. »Lass mich nur machen, ich habe da heute Morgen schon was vorbereitet.u Während Sid seine Kleidung und die Sachen aus dem Badezimmer im l{ucksack verstaute, machte sich Rascal an ihrem Notebook zu schaffen. Über WLAN wählte sie sich ins lnternet ein. Sie klickte ein paarmal, tippte lange Zahlenreihen ein und klappte clann ruckartig den Bildschirm herunter. ,Das war's, nur noch ein letztes kleines Detail. Mal sehen, ob cler Portier uns gehen lässt !u Sie steckte der-r Rechner in ihren Seesack und warf ein paar T-Shirts clarüber. Sid schulterte das Gepäck. An der Rezeption wurclen sie schon sehnsüchtig erwartet. >>Serore,s! Ihre Bank hat viel zu viel überwiesen.,, Rascal tat beim Blick auf den Hotelcorr-rputer iiberrascht. »Hmm, wie lösen wir jetzt das Problern?«, schien sie angestrengt nachzudenken. ,Wenn sie mir den überschüssigen Betrag auszahlen würden, könnte ich Ihncn fiinf Prozent als Trinkgeld geben.n 47
Die Augen des Mannes weiteten sich. Die Summe schien für einen mexikanischen Angestellten astronomisch hoch zu sein. Ohne zu zögern, öffhete er die Kasse, zählte Rascal ein dickes
Bündel Scheine auf den Tisch und vergaß auch nicht, einen weitaus dünneren Stapel frir sich danebenzulegen. ,,Muchas gracias!«,bedankte sich Rascal, machte einen braven Knicks und stopfte das Geld in die Taschen ihres hellblauen Kapuzenshirts. DraulSen streckte sie die Arme in den Himmel. »Die Straße hat uns wieder!«, jubelte sie wie ein Landstreicher, den man den Winter über in ein Haus gesperrt hatte. Schnell winkte sie cin Taxi heran. »Terminal de autobuses norte, por favor!" I)en ramponierten Käfer, der ihnen von der Kirche aus gefolgt war und nun am Straßenrand vor dem Hotel mit laufendem lvlotor wartete, bemerkten sie nicht. Und sein ehemaliger Fahrer im Kofferraum konnte nicht mehr auf sich aufmerksam machen.
8. Kapitel
NYC, Upper Manhattan/Earlem, §amstag, 10. November 2007, gegen Mittag Alex Whitfield gönnte sich einen kleinen Umweg durch den I{iversicle Park. Das W'etter war zwar nicht besonders einladcnd, es nieselte leicht, aber sie schlug den Kragen ihrer lacke hoch und zog sich den Schirm ihrer Ballonmütze bis über die Augen. Sie liebte das Glockenspiel der Riverside Church, auch wenn es ein Großkapitalist wie Rockef-eller für seine Mutter in clie von ihrn gestiftete Kirche hatte einbauen lassen. Sie sah auf die Uhr. Kurz vor zwölf, sie musste sich beeilen. Mit strammen Schritten durchquerte sie den herbstlichen Park. Die Blätter der Bäume waren längst zu einem braunen Matsch auf dern Pllaster zertreten. Ia I, dachte Alex Whitfield. Eine Kirche hatte ich dir auch gerne gebaut, du hättest sie verdient I Ihre Familie hatte schon Mühe gehabt, das Geld für ein schmales Grab auf dem Woodlawn Cemetery drüben in der llronx zusamlrlenzukratzen. Alex war der Ansicht, dass die Gleichberichtigung der Schwarzen in den USA noch immer in den Kinderschuhen steckte. Pardon!, dachte sie spöttisch lächelnd. Wir heißen ja jetzt Afroamerikaner I
Anderthalb fahre waren vergangen, seit sich ihre einhun48
49
dertundvier Iahre alte Urgroßmutter Rose Washington in den Hudson gestürzt hatte. Es war eine letzte Ehrerbietung an ihre Mutter gewesen, Sugar Washington, die genau ein Jahrhundert vorher auf dieselbe Art und Weise gestorben war. Mit einer Ausnahme: Sugar war nicht freiwillig ins Wasser gegangen. femand hatte ihr Worte in einer fremden Sprache zugeflüstert, das hatte Urgroßmutter Rose selbst gehört, damals, vierjährig, versteckt unter einem Tresen im ersten Madison Square Garden. Alex hatte sich geschworen, den Schuldigen zu finden, auch wenn er schon lange tot war. Ihr einziger Anhaltspunkt war ein Name auf einem Zettel, den Rose hundert Iahre aufbewahrt hatte und der nun den Weg zum Mörder ihrer
Mutter weisen sollte. Alex Whitfield fröstelte, als sie die imposante Kirche erreichte. Keine Sekunde zu früh, Wagners Parsifal ertönte, gespielt von vierundsiebzigBronzeglocken. Das Herz der jungen Frau zog sich zusammen. Es wurde wirklich Zeit herausrufinden, wer ihre Ururgroßmutter ermordet hatte. Nur wenige Minuten nach zwölf stieg Alex Whitfield die Low Library der schier endlosen Stufen der Freitreppe ^)r Columbia University hinauf. Die zehn Säulen vor dem Kuppelbau gaben der ganzen Anlage ein tempelartiges Aussehen. So hatten sich die Architekten McKim, Mead und White 1895 eben eine Universitätsbücherei vorgestellt, als Tempel des Wissens.
Wie man recherchiert, hatte Alex Whitfield längst gelernt. Ihre School of Journalism hier auf dem Campus gehörte zu den angesehendsten Instituten dieses Zweigs im ganzen Land, wenn nicht der Welt. Der von ihrem Gründer |oseph Pulitzer 5o
t
gestiftete Pulitzerpreis war die höchste Auszeichnung, die als Journalist zu ernten gab. Als man
ihr das Stipendium
es
ge-
währte, hatte sich Alex Whitlield vorgenommen, diesen Preis eines Tages entgegenzunehmen. Sie faltete den brüchigen Zettel auseinander, den
ihre Urur-
grollmr-rtter an diesem unseligen Tag von einem Fremden an der Theatergarderobe zugesteckt bekommen hatte. Er hatte
ihr einen unvollendeten Satz zugezischt, so fieundlich, wie man mit Niggern sprechen konnte: Wenn rnir heute etwas zustoßen sollte, Sugar, gib diesen Zettel ...
Nur ein Name befand sich auf dem vergilbten Papier, und Alex Whitfield war sich sicher, dass diese Person ein zweifacher Mörder war. Sie konnte
es
Datum, sie kannte den Ort, sie wusste sogar, was für ein Musical auf der Dachterrasse des Madison Square Garden gegeben worden war: Mam'selle Champagne.Und sie wusste, dass ein Mann erschossen worden war. Anhand dieser Daten fand sie nach wenigen Klicks die Identitat des Toten heraus. Sie stutzte. Es war Stanford White, der Architekt des Gebaudes, in dem sie sich gerade aufhielt. Worin war der gefeierte Star verwickelt gewesen? Alex Whitfield stand auf. Es gab einen Platz in New York, wo sie das mit Sicherheit herausfinden würde. Die junge Frau war so aufgeregt, dass sie sogar ihren Mantel vergaß.
kaum erwarten, das zugehörige Ge-
sicht auf einem Foto zu sehen. Alex Whitfield warf ihren f-euchten Mantel über einen der
wenigen freien Strihle im Cornputersaal. Ungeduldig, noch mit cler Mütze auf dem Kopf, hackte sie den Namen in die Suchmaschine. Nichts. Nicht ein einziger Treffer. Sie stutzte. l)ass das Internet etwas nicht wusste, war ihr neu. Mit ihrem Passwort loggte sie sich in den Katalog der Bibliothek ein. Es musste doch etwas zu frnden sein I Allein in der benachbarten Butler Library lagerten fast sieben Millionen Bücher. In einem von ihnen ... Nein, auch hier Fehlanzeige. Alex Whitfield schwitzte. Sie war in einer Sackgasse - nein, sie war Journalistin! »Wunderbarl«, hätte foseph Pulitzer in der aussichtslosen Lage sicher gerufen. Lasst uns mit der Arbeit beginnen I Also, was wusste sie über dic Nacht, in der Sugar Washingtot-r ir-t den Hudson getrieben worden war? Sie kannte das 52
53
den einzigen Gringos stürzten, die dem Bus entstiegen. Wäh-
9. Kapitel
Pdtzcuaro, Sonntag, 11. November 2007, f Uhr 10
rend Sid ihre Sachen von Dachgepäckträger entgegennahm, wimmelte Rascal sie mit ein paar derben Bemerkungen ab. »Ich weiß nicht, wie es dir geht«, sagte sie dann. »Aber mein Magen knurrt so laut, dass wir sicher auch den gutmütigsten Mönch verschrecken. Bevor ich nicht etwas gegessen habe, besuche ich auch kein Kloster.« Bei einer stark übergewichtigen Dame in traditioneller Kleidung, die ihre Waren auf einem Tuch ausgebreitet hatte, kaufte Rascal ein Büschel winziger grüner Bananen, eine Papaya,
Als sie am nächsten Morgen nach sieben Stunden F'ahrt aus dem holzgetäfelten Bus stiegen, dr(jhnten Sid die Ohren. Zur ersten Klasse gehörte in Mexiko oflernbar die nächtliche Dauer-
beschallung mit billigen Kung-Fu-Filmen in verwackelten Bildern. I)ass auch I(inder unter den Passagieren waren, schien niemanden zu stören. Sid hatte sich ernsthaft gewundert, dass kein Blut aus dem Fernseher getropft war. Nach dem Moloch Mexico City war er von der Schönheit der
Kleinstadt schier überwältigt. Pätzcuaro lag direkt an einem in tiber zweitausend Mctcrn Höhe, umgeben von einigen Indiodörfern. Oder nannte man sie politisch korrekt indigene
See
Bevölkerurrg? Wei{3 und rot gestrichene Lehmgebäude lagen an
den gepflasterten Wegen, Kirchen aller Grö13en mogelten sich zwischen die Wohnhäuser, koloniale Prachtbauten reihten sich
aneinander. Dazu die Menschen, die aus dem Reiseprospekt direkt ar,rf clie Stra{-le gefaller-r zu sein schienen. T'rotz der fitihen Morgenstunde war die Plaza Chica im Zentrum schon voller Einheimischer. Novernber war sicher nicht die klassische
Mangos und Apfel. Dann hockten sie sich unter einen der Bäume auf dem Platz, lehnten sich an ihren Seesack und machten sich über das Obst her. An einem vorbeirollenden Getränkewagen orderten sie noch zwei starke Kaffee. Sid sah dem Treiben zu, dem alltaglichen Leben alltaglicher Menschen mit alltaglichen Sorgen. Viele amerikanische Schriftsteller hatten sich in den letzten hundert Iahren nach Mexiko zurückgezogen, um neue Eindrücke aufzusaugen und in Ruhe an ihren Werken arbeiten zu können. Mr Wallace hatte ihnen davon erzählt, damals, als Sid noch ein normales Leben mit einem normalen Herzen führte. Er vermisste seinen Lehrer, der ihm näher gestanden hatte als seine eigenen Eltern. Nach einem kurzen Nickerchen brachen sie auf. Auf dem gut ausgeschilderten Weg zum Kloster checkten sie in einem gemütlichen Hotel ein.
Reisezeit der Touristen, weshalb sich alle Schlepper auf die bei-
Als sie um zehn Uhr vor der Callejuela de los Once Patios standen, wurde gerade das große Eingangstor geöffnet. Verblüfft zeigte Sid auf den hageren Mönch, der die wartenden Einheimischen herzlich begrüßte.
54
t5
»Das ist doch Fray Pedro !«, entfuhr es ihm. pedro schirmte mit einer Hand seine Augen ab und blinzelte gegen die Morgensonne zu ihnen herüber. Endlich schien auch er sie erkannt
zu haben.
Mit kleinen Schritten kam er auf
sie zugehumpelt, offensichtlich plagte ihn immer noch sein Ischias. »Ahl Meine amerikanischen Freunde sind zu Besuchl« Er gab beiden überschwänglich die Hand. »Was treibt euch in die-
hcute sowieso von der Arbeit befreit. Wenn es euch nicht stört, class
ich ein wenig langsamer bin?«
Sid schtittelte hastig den Kopf.
den uns gerne einmal das Kloster ansehen. Würden Sie uns führen ?« Der Mönch fuhr sich mit der Hand durch den Bart. »Selbstverständlich !«, stimmte er zu. »Wegen meines Rückens bin ich
Hinter dem Tor kamen sie in den ersten Hof. Sid sah sich crstaunt um. Mit einem Kloster, so wie er es sich vorstellte, hatte das Treiben hier drin wenig zu tun. Innerhalb der alten Mauern reihte sich ein Geschaft an das andere. Mit geschickten Ijingern schufen die Handwerker in den angrenzenden Werkstätten wahre Kunstwerke: Kupferarbeiten, Hüte aus Stroh, Musikinstrumente und Keramiken, die nichts mit dem üblichen Touri-Ramsch zu tun hatten. Die Menschen hinter den Verkaufstresen wirkten stolz und nicht wie unterwürfige Diener der Weißen, wie oft in anderen Ferienorten. »Nach schrecklichen Gemetzeln an den Azteken hier in der ()egend nahm ein Dominikanermönch das Ruder in die [{and«, erk]ärte Fray Pedro beim Eintritt in den vierten Hof. ,Zu Beginn baute er mit diesem Komplex eines der ersten Krankenhäuser Mexikos. Später besuchte er die Menschen rund um Pätzcuaro und brachte jedem Dorf ein anderes Ilandwerk bei. Was dabei herausgekommen ist, habt ihr gerade bewundern dürfen.« Der Mönch griff nach einem Tonkrug und ftillte ihn an einem Brunnen, der mitten im Hof vor sich hin sprudelte. Sid dachte an einen Teil der Inschrift, die er auf der Gedenktafel vor der Kirche in Tlatelolco gesehen hatte. Rascal hatte ihm übersetzt, was dort über die Eroberung des Aztekenreichs stand: Es war weder Sieg noch Niederlage. Es war die traurige ()eburt des Mestizen, der heute Mexiko verkörperr. Aus dem hcutigen Land waren die Einflüsse der Spanier tatsächlich
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ses Paradies?«
Rascal kam sofort sagte sie ehrlich.
zur Sache. »Immer noch die Codices«, ,Wir haben in der Hauptstadt erfahren, dass
die Mönche hier noch über Texten auf Nähuatl brüten. Dass wir Sie hier wiedertreffen, ist allerdings wirklich eine schöne Überraschung.u Sid sagte nichts. Ihm kam die Szene in den Sinn, wie sich die beiden zum Abschied vor der Bibliothek unterhalten hatten. Viele Sätze waren hin und her geflogen. War die überraschung wirklich so überraschend? Fray Pedro lachelte. »Ich finde es sehr ungewöhnlich, dass sich Jugendliche in eurem Alter für die Codices und die Arbeit
von uns Mönchen irrteressierten. Ich dachte, eure Generation lässt sich den ganzen Tag von MTV berieseln ?« Sid presste Luft zwischen den Zähnen heraus. Es klang wie ein kaputter Luftballon. »Nun ja, das tun die meisten unserer Altersgenossen sicher auch, aber wir . . . « - er schielte unsicher zu Rascal hinüber, die ihm aufmunternd zunickte - »wir wür-
nicht wegzudiskutieren. Was war von den ursprünglichen Azteken übrig geblieben ? Nur ein paar Codices ? »Haben Sie diesen Codex von Bernardino Sahagün hier?«, fragte Sid. Es sollte beiläufig klingen, aber Fray Pedro starrte
ihn verdutzt an. »Machst du Witze, |unge ? Von dem Werk existiert nur noch eine einzige Ausgabe, ihr Wert geht ins Unermessliche. Aber eine Kopie steht tatsächlich in unserer Bibliothek. Wir haben sie Hunderte Male studiert, nur ...« - er machte eine unheilschwangere Pause - »... die Codices sind leider nicht ganz so original, wie immer behauptet wird.« Sid war wie vor den Kopf gestoßen. Was suchten sie dann hier? War alles sinnlos? Fray Pedro schloss eine unscheinbare schmale Tür auf, die aussah, als würde sie in einen Stall führen. Hinter dem schartigen Holz verbarg sich jedoch eine Schreibstube, die sicher schon seit fast ftinfhundert Jahren in Benutzung war. Die Bodendielen waren ausgetreten und mit eingetrockneten Tintenklecksen übersät. In Zweierreihen standen Pulte hintereinandet breit genug, dass Kopisten alte Bücher und Manuskripte abschreiben konnten. Der wuchtige Schreibtisch an der Rückseite des Raumes war augenscheinlich jüngeren Datums. Fray Pedro humpelte zu dem bequemen Bürostuhl dahinter und ließ sich schnaufend auf das Lederpolster fallen. Die zwei Schemel, die er ihnen zuwies, waren weitaus härter. »Wie hat Sahagtrn gearbeitet?«, begann der Mönch. Aus einem Tonkrug ftillte er drei Becher und schob zwei über den Tisch. Sid ahnte, dass es ein längerer Vortrag werden würde, und rutschte auf dem Hocker herum, bis er einigermaßen be59
T
quem saß. »In seiner Schule befragte er die aztekischen Fürsten nach allem, was ihrn
in Neuspanien, wie das Gebiet olliziell
hieß, wichtig erschien. Man muss wissen, dass clie Azteken keine Schrift wie unsere kannten. Ihre eigenen Aufzeichnungen waren ausschließlich in Hieroglyphen und Bildern dargestellt. Sie beschrieben Mythen, Kriege mit den Nachbarvölken-r und wichtige Ereignisse wie die Zeremonie des Neuen F'euers, die alle zrveiundfünfzig lahre stattfand. Die Azteken glaubten nämlich, dass die Welt und mit ihr die Zett alle zweiundfänfzig fahre wiedergeboren werde. SahagLin lernte eifrig Nähuatl und versuchte, alles in l.autschrift zu Papier zu bringen. Die zwölf Bäncle wurden also zunächst in der Landessprache verfasst. I)ieses Manuskript wäre ein'fext, wie du ihn suchst. Aber trotz seiner einzigartigen Leistung darf man eins nicht vergessen: Sahagtin war kein Ethnologe, er war Missionar.« Der Mönch nippte an seinem Wasser, um den gewichtigen Worten Zeit zu geben, sich zu setzen. »Sie meinen, er hat die Texte verändert, bis sie in sein Weltbild prassten?«, erkundigte sich Rasca[. »Denkt daran, wir belinden uns in der frühen Neuzeit, das Mittelalter ist gerade erst vorüberl«, entfuhr es dem Mönch. »ln Europa tobt die Inquisition. Die dekadente Papstkirche wird von den Franziskanern für ihre weltlichen Ar"rsschweifr,rngen verachtet. Nun kommen sie nach Mexiko und finden eine neue Welt vor, wo sie ganz von vorne beginnen können. Die Konquistadoren sind in Sahagtins Darstellun g zwar grausam, irber im Dienste Gottes und sornit im Besitz der Wahrheit. Die Azteken aber sind verblendet und die von Satan Getäuschten ob das seine eigene Meinung ist oder er das so schreiben 6o
rnusste, um keinen Besuch vou den Inquisitoren zu bekomrncn, darüber kainnen wir heute nur spekulieren. Die Azteken, selbst wenn sie bereits zum Christentum übergetreten waren,
brachten natlirlich den Cllauben ihrer Väter in das Werk ein.
l)er
spanische Text ist deshalb auch keine Übersetzung im
eigentlichen Sinne, sondern ein Kommentar SahagLltns, utn clessen Wirkung bei seinen Landsleuten abzuschwächen. Er hiitte clen indianischen Text auch vernichten können, aber das hätte seinen eigentlichen Plan durchkreuzt: eine lnterpretation der Nähua-Kultur und ihrer Geschichte, die jedes kleinste I)etail berücksichtigt ur-rd im christlichen Sinne umdetttet.« Sid schwirrte der Kopf. Nach der durchwachtetr Nacht strengte es ihn unglaublich an, dem Monolog des Mönchs zu lolgen. Schließlich aber glaubte er, verstatrclen zu haben. ,Sie nreinen, es \l,ar niemals seine Absicht, das alte Wissen des Volkes ur-rd seine Kultur zu bewahren ? Er arbeitete es so lange um, bis es . . . u Sid suchte nach dem passenden Wort. ». . . bis es eine fianziskanische Propagirr-rdaschrift auf Nihhuatl war ?n Fray Pcdro t'reugte sich vor und klatschte in die Hände. ,l]ravo, t-nein ]ungel Du hast verstanclen, was den Matrtt antrieb. Er war und blieb Missionar. Alle Originaltexte cler Azteken wurden vernichtet, clie AufzeichnLrngen Sahagirns ebenso.
Wir haben nur die Abschrift einer Atrschrift einer Kopie.u Der Mönch öffnete die Schublade seines Schreibtischs. t.lnter allerhand Kleinkram, Stiften und Kerzenstummeln zog Pedro ein paar schn-rutzige B1ätter hervor. »l Iier ist ein Auszttg irus dem Codex llorentinus. Die Az-teken lreschreiben die Vorzeichen, die die Ankunft der Spanier ankündigten. Unsere Übersetzung steht daneben. Ihr dr-irli die lllatter behalten.u 6r
Sicl nahm den Papierstoß
mit einem Nicken entgegen, dann politik und der Angst in zeiten der Inquisition etwas zu schreiben, was der Kirche gar nicht recht war. Es war zeit, die entscheidende sah er Rascal lange an. Hier ging es also urn
10.
Kapitel
Frage zu stellen. »Wissen Sie etwas über, wie soll ich sagen, zwölf,die eigentlich dreizehn sind, weil es noch einen verborgenen dreizehnten
Teil gibt?«, erkundigte sich Sid ganz offen. Das Gesicht des Mönchs versteinerte augenblicklich: »El tredöcimo? No, no! No sö nada del tredöcimo!« Mit schmerz_ verzerrtem Gesicht wuchtete er sich aus dem Stuhl hoch. »Und
jetzt müsst ihr das Kloster verlassen. Ich muss zum Gebet ! Geht, geht l«
Mit einem Krachen fiel die Tür zur Bibliothek hinter sid und Rascal zu. Durch die wand hindurch hörte sid ihn schluchzen: »Santo Francisco! Ich habe einen großen Fehler gemacht!«
7. Inic ce capitub oflcan mifitoa in nez, in mottac in macfüotf ifruan in teuafiuit[, in ayamo fiua[fiui espano[es, in nican t[a[[i ipan, in ayamo no i4jmacfioa in ruican cfinneque. 7. Von denVorzzichzn, dte slch ze\gten vor der Anfrunft der Spanier, ak rcch frziner wusste) was gucheften wärde.
2. In ayamo fiua[[aci espanofes, oc mat[nc4jfiuit[, cent[amant[i teuafruit I acftto ntz, i [fiuicatitecfi, iufiquin t [ofruizca [[i, p ip i 4aufiticaca inic necia, iufiquiru i[fiuicat[ qukoticac: tzimpat[ahuac, cuapitzaoac: fiue[ inepant[a in iffiuicatf; ftuef yo[b in aciticac iffruicat[, fiue[ i[fruicayo[btitecfi aciticac, in iufi ittoya ompa t[apcopa: in fiua[moqueuayo oyufi onquk iftua[ruepant[a in necia t[atfiui[iaya, ipan t[atfiuia, quiru yefiuat[ quifiua[pobaya in tonatiuft, in icuac fiua[quizaya. 2. ZeftnJofve,6evor die Sponiu diuu Londbetroten, andere sagen e[f oder zwö[f Jofve vorher, erschLen etn gro$er Komet om östttchen Himme[, wie eine [eucfttende, Eunfr.en spruhen[e
E[wnme.
Jenu Komet hatte dte Eorm etner \ramt[e, unten
brett und sich tqüngend nach oben und tn einer Spitzr. mdend;
im Osten,
Mittematftt und 6heb da 6is anm Morgen; dann i\erstrohtte ihn die aufgefunde er erschien genau
frurz narh,
Sonne.
6z
63
i...1 9. Inic cfticont[amantfi teuafruit[:
ceppa tfatfamaya, ruatnzo t[amatfafiuiaya iru atfaca; centetf cacique tutot[ ne41ic, iuliquin tocuihoyot[: niman quittitito in Moteatzoma, t[i[[an, ,o7*r_ cac; ommotzcab in tonatiuft, oc t[aca, 9. Das siebteVorzztchenwar einVogetvon der Grö$e und Ge_ sto[t einu Adters, den dte Fischer tn ifuen Netzen fngen. Auf deyKopf trug er einen Spieget. Nocftnte hotte man ,oif,,o gisehen und so pries man
iftn a[s einwunds und mon 6taif*e ifmMoteuzoma, der in einem Saot sehnu po[nstu wet[te, dzr t[iffarucafmdcac Aehei$en wor; diu guchah frurz nach der
71. llnd Motecuzomo erscfvafr. und wondte den Btr"cfr" o6, ud ok er wiedtr in dzn Spteget ouf dem rcopf fus Vogek soh, er\[rcfrte er Männer auf Pferden; es worefl vie[e und sLe woren 1ewafuet. Ats er dtu soft, wor sein Scftrecfrennoch grö$er und er heJl setne Sterndeuter undweissoger rufen und fagte sie: Was Lst diues, was mir erschienen ist? Was 6e[eutet u? lfnd offe woren ste erscftrocften, doch do verscfwvond der Voget und sLe wussten nichts zu sogen.
Cofe4fbrentinus , L2. Buch,, Kopite[ 1, Die acht'lorzeicften der Eroberung Me4ifos
Mittogssonne.
10. Iufiquin tezcat[ icpac mani, mafacacfrtic, tefrui[acacfitic, iufiluin Xapotticac: offipa onflecia in i[fruicat[, in cicitfnt[in, in mama[fruazt[i. . I,lnd Moteatznma 6 etr acfttete den v o g e[ und er 6 etr ocf*ete den Spiege[, der rund und g[ibuend wor wtd er soh in iftm das Sternbi[d., das mon mama[fiuazt[i nannte. 70
11. Aufi in gV{otecuzoma, cenf,a quimoteuafiui in icuac qui_ mittac cicit[at[in, ifiuan mama[fruazt[i. Aufr inic oppa orutfn_ cfü4in icpac totot[, ene quittac, iufiqui on in ma acame) moqueque%tiftuitze, tepeufitifruiue, moyafiuacfücfiiufitifruue, quinmama mamoza. Aufi niman quinrntz in tkciufique, in tfamatinime: quimi[fiui: Amo anquimati iru tfeiru orwcinittac, iufiquiru acame mo quequeuti fruiue : aufi y e quinanqui [izquia, in conittaque, opo[iufr, aoc t[e quitoque. 64
65
1
1.
nachdachte. Sie schien nichts um sich herum mehr wahrzunehmen. »Nein, nein, nein«, murmelte sie vor sich hin, wenn offenbar wieder eine Seifenblase zerplatzt wan »Ich habe das
Kapitel
Pdtzcuarol Sonntag, 11. trlovember vormittags
Gefuhl, wir stecken so tief mit der Nase drin, dass wir nichts mehr riechen !« Sid dachte nach. Plötzlich fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. »Fray Pedro hat doch etwas von zwölf erzählt«, rief er aufgeregt. »Dieses Werk von Sahagrin, wie heißt das noch
ZOOT,
gleich?« >>Historia General de las Cosas de la Nueva Espafia, bekannt
Erschüttert vom plötzlichen Stimmungsumschwung
des
freundlichen Fray Pedro verließen Sid und Rascal den Klosterkomplex und schlenderten durch die Straßen von Pätzcuaro. Sid zitterte, obwohl es fast zwanzigGrad warm war. Die mehr als heftige Reaktion des Mönchs hatte eins bewiesen: Sie hatten voll ins Schwarze getroffen, es gab also ein Geheimnis, das
auch als Codex florentinusI'm your guide, Mista. First you pay me!« Er grinste so breit, dass eine große Zahnlücke sichtbar wurde. Sid zögerte keinen Moment
Cuautla
- wenn sie durch den geschäftstüchtigen kleinen Kerl an eine Übersetzung kamen, waren seine Dienste pures Gold wert. Er drückte Jos6 eine paar Pesoscheine in die Hand und versprach ihm noch eine Extrabelohnung, wenn sie erfolgreich waren. Für diesen Lohn sorgte Josd sogar noch dafur, dass ihr Gepäck sicher bei der zahnlosen Verkauferin untergestellt wurde - ein echter Guide eben. Nur mit der Umhängetasche samt Buch und drei Litern Wasser aus den Beständen der Greisin machten sie sich auf den Weg. Zwei Stunden später war die Flüssigkeit bis zum letzten Tropfen geleert. Trotzdem frihlte sich Sid, als habe er seit Tagen nichts mehr getrunken. Josd kannte nur eine Richtung: aufwärts. Und er wurde anscheinend nie müde. 93
Vor einem mehrsprachigen Schild blieb Rascal stehen. Das Schwarz ihres Lidstrichs lief mit dem Schweiß die Wange herunter. »Moment, Josdn, schnaufte sie. »Hier steht, dass die Besteigung des Popo im Moment strengstens verboten sei. Die Gefahr sei zu groß, dass er ausbricht
!«
)osd lachte und sagte etwas. »Popocatdpetl heißt Rauchender Krieger«, übersetzte Rascal. »Wenn er nicht rumort, sei der
Krieger krank!
-
Außerdem sind wir gleich bei seinem Groß-
vater !«
Mit verkniffenem Gesicht machte sich Sid auf die vermeintlich letzten Metet doch schnell mussten sie feststellen, dass das Verständnis von Entfernung bei den Völkern verschieden zu sein schien. Ohne ihnen eine Pause zu gönnen, marschierte der Junge den schattenlosen Pfad zum Krater des Vulkans hinauf.
Wann immer sie ihn nach der Hütte fragten, antwortete fos6: >>One minute!« Sid konzentrierte sich nur mehr auf den nächsten Schritt. Längst hatten Rascal und er aufgehört, sich zu unterhalten. Er sehnte sich nach Schatten, hätte sein letztes Hemd für einen Schluck verdrecktes Pfützenwasser gegeben. Ieder Knochen im Leib tat ihm weh, das Atmen fiel schwer, mittlerweile mussten
in weit mehr als viertausend Metern Höhe befinden. Mit weit offenem Mund wie ein Fisch auf dem Trockenen versuchte Sid den knappen Sauerstoff aus der Luft zu filtern. Ständig schreckte er zusammen, glaubte verfolgt zu werden, sah vertraute Menschen mit verzerrten Fratzen hinter dem Lavagestein hervorspringen. Doch so oft er auch herumfuhr, sie sich
da war nichts außer Steinen, Staub und Sonne.
Plötzlich war es dunkel und Sid fand sich auf einer Stein94
bank vor einer Einsiedlerkapelle wieder. Um ihn herum flackerte ein Halbkreis von Fackeln und tauchte das heruntergekommene Gebaude in ein gespenstisches Licht. Wie war er hierhergekommen ? Die Höhenkrankheit musste sein Bewusstsein ftir eine Weile schachmatt gesetzt haben, seine Füße ihn ohne Zttun seines Hirns automatisch weitergetragen haben. Eine andere Erklärung fiel ihm dazu nicht ein. Als er eine Hand auf seinem Arm spürte, blickte er nach links. Rascal wirkte auch nicht so, als könne sie zu diesem Rätsel eine Lösung anbieten. Ihr Brustkorb hob und senkte sich in einem viel zu schnellen Rhythmus, das Make-up war völlig verschmiert, ihr Gesicht wirkte eingefallen, selbst die roten Haare schienen ausgebleicht, fand Sid. Und wo war eigentlich los6? »This is my granddad!«, schrillte seine Stimme verzückt, aber zu sehen war ihr Guide nicht mehr. Durch die Fackeln hindurch wankte ein alter Mann in den Kreis. Sid schauderte bei seinem Anblick. Seine Wangen waren dermaßen eingefallen, dass man die verbliebenen Zähne bei geschlossenem Mund zählen konnte. Die Haut war zerfurcht wie die kargen Acker, an denen sich ihr Bus vorbeigequält hatte. Das fahle Licht vertiefte die Höhlen, in denen seine Augen lagen, zu alldem hinkte er auf dem rechten Bein, das kaum dicker war als ein Streichholz. Aber die gelben Augen strahlten eine Magie aus, wie sie sich Sid immer bei den Schamanen der Naturvölker vorgestellt hatte. Wie in Zeitlupe schlug Rascal ihre Umhängetasche auf und holte das verschollene Buch von Sahagtin heraus, das Buch, das hoffentlich einen Hinweis auf den Verbleib des Mumienherzens enthielt. Sonst war die ganze Plackerei umsonst gewesen. 95
Der Großvater zog eine Fackel aus dem Boden und verließ den Vorplatz der Kapelle, ohne sich den Text angesehen zu haben. Sid rappelte sich mit uner-rdlicher Mühe auf und folgte clem Alten in die Wildnis. Der ausgezehrte Mann stapfte zielstrebig auf eine eigenartige Pflanze zu, die aus dem blol3en Gestein herausbrach. Sie sah aus wie eine Art Kaktus. »Peyotl!,Historia General de las Cosas de
la Nueva
Espafia