Moskaus Fenster zur Welt: Die Nachrichtenagentur TASS und die Auslandsberichterstattung in der Sowjetunion, 1918–1941 [1 ed.] 9783412521882, 9783412521868


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Moskaus Fenster zur Welt: Die Nachrichtenagentur TASS und die Auslandsberichterstattung in der Sowjetunion, 1918–1941 [1 ed.]
 9783412521882, 9783412521868

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MOSK AUS FENSTER ZUR WELT DIE NACHRICHTENAGENTUR TASS UND DIE AUSLANDSBERICHTERSTAT TUNG IN DER SOW JETUNION, 1918–1941

ALEX ANDER RUSLAN SCHEJNGEIT

BEITRÄGE ZUR GESCHICHTE OSTEUROPAS BEGRÜNDET VON DIETRICH GEYER UND HANS ROOS HERAUSGEGEBEN VON JÖRG BABEROWSKI KLAUS GESTWA JOACHIM VON PUTTKAMER FRITHJOF BENJAMIN SCHENK BAND 54

Moskaus Fenster zur Welt DIE NACHRICHTENAGENTUR TASS UND DIE AUSLANDSBERICHTERSTATTUNG IN DER SOWJETUNION, 1918 –1941

VON ALEXANDER SCHEJNGEIT

BÖHLAU VERLAG WIEN KÖLN WEIMAR

Gedruckt mit Unterstützung des Förderungsfonds Wissenschaft der VG Wort. Zugl.: Dissertation, Universität Konstanz, 2017 Tag der mündlichen Prüfung: 03. 07. 2018 1. Gutachter: Prof. Dr. Bianka Pietrow-Ennker 2. Gutachter: Prof. Dr. Klaus Gestwa 3. Gutachter: Prof. Dr. Malte Griesse

Mit 19 Abbildungen und 30 Tabellen Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar. © 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Cie. KG, Lindenstraße 14, D-50674 Köln Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Das 1977 errichtete TASS -Gebäude am Twerskoi-Boulevard in Moskau. Quelle: TASS Korrektorat: Rainer Landvogt, Hanau Satz: le-tex publishing services, Leipzig Umschlaggestaltung: Michael Haderer, Wien

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-412-52188-2

Inhalt

Danksagung .........................................................................................

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Einleitung.............................................................................................

9

1. Die TASS als Medium der Auslandsberichterstattung im sowjetischen Informationssystem .................................................... 1.1 Die Russische Telegraphenagentur (ROSTA) und die Entstehung der Nachrichtenagentur TASS, 1918–1925.......................... 1.2 Die TASS in der Zwischenkriegszeit: Führungskader und Strukturwandel ............................................................................... 1.3 Die TASS und ihr institutionelles Umfeld: Gestaltungsräume und Einflussebenen.......................................................................... 1.4 Die Auslandsabteilung der TASS: Binnenstruktur und Redaktionskader... 1.5 Zwischen Ideologie und ‚Objektivität‘: Entscheidungsprogramme in der INO-TASS ....................................... 1.6 Informationsquellen und Themen der Auslandsberichterstattung ..........

23 23 33 45 54 73 84

Teil 1: Zwischenresümee....................................................................... 99 2. Die Auslandsbüros und die Auslandskorrespondenten der TASS ....... 2.1 Die Auslandsbüros der TASS und ihre geographische Verteilung ........... 2.2 Die Auslandsjournalisten der TASS: Sozialisation, Selbstverständnis, Arbeitsprogramme................................................. 2.3 Zwischen Kontrolle und Selbstständigkeit: zum Verhältnis von Auslandskorrespondenten und sowjetischen Botschaftern..................... 2.4 Die Auslandskorrespondenten und die Auslandsabteilung der TASS: die Welterzeugung als Kommunikationsprozess? ........................

101 101 112 136 146

Teil 2: Zwischenresümee....................................................................... 161 3. Die TASS, die außenpolitische Elite und ausgewählte Problemkomplexe der Auslandsberichterstattung in der Sowjetunion ................................................................................... 163 3.1 Stalin und die TASS: das mediale Weltbild, das Rezeptionsverhalten und die Anschlusskommunikation ....................... 163

6

Inhalt

3.2 Die TASS und die Sowjetdiplomaten: zwischen Fremd- und Selbstreferenz .................................................................................. 3.3 Die Sowjetzeitungen und die TASS: Konkurrenzen und Aktualitätsproblem .......................................................................... 3.4 Die stalinistische Geheimhaltung und die Auslandsberichterstattung der TASS................................................... 3.5 Die Geographie der Auslandsberichterstattung der TASS im außenpolitischen Kontext, 1923–1941 ................................................

181 194 215 227

Teil 3: Zwischenresümee....................................................................... 241 Schlussbetrachtung und Ausblick .......................................................... 243 Anhang ................................................................................................ 251 A-1: Statistische Daten zum Zentralapparat der TASS, 1926–1943 ................ 251 A-2: TASS-Büros und Korrespondentenstandorte im Ausland, 1920–1943 .... 252 Abkürzungsverzeichnis.......................................................................... 255 Tabellenverzeichnis .............................................................................. 257 Abbildungsverzeichnis........................................................................... 259 Quellen- und Literaturverzeichnis .......................................................... 261 Personenregister .................................................................................. 273

Danksagung

Die vorliegende Untersuchung ist eine geringfügig überarbeitete Fassung meiner im Dezember 2017 im Fachbereich Geschichte und Soziologie der Universität Konstanz eingereichten Dissertation. Sie ist ein Forschungs- und Schreibergebnis von mehreren Jahren, ein langer Weg, den ich alleine – ohne Hilfsbereitschaft, Interesse und Zuspruch vieler Kollegen und Freunde – nie hätte zurücklegen können. Zuallererst möchte ich meiner Doktormutter Prof. Dr. Bianka Pietrow-Ennker für ihre großzügige Unterstützung, Ermunterung und Geduld danken. In zahlreichen persönlichen Gesprächen und in Kolloquien habe ich stets wertvolle Ideen und positive Impulse bekommen, die mir als Orientierung und Quelle der Inspiration dienten. Ein besonderer Dank gebührt auch meinem Zweitgutachter Prof. Dr. Klaus Gestwa (Universität Tübingen), dessen wohlmeinende Ratschläge und vorzügliche Betreuung zum Gelingen des Buchprojektes entscheidend beigetragen haben. Das von mir gewählte Coverbild mit der markanten Weltkugel und dem TASS-Logo vom 1977 errichteten TASS-Gebäude war eine seiner zahlreichen Ideen. Fast zwei Jahre habe ich in den Moskauer Archiven geforscht. Es war eine Zeit, in der ich nicht nur die empirische Basis meiner Untersuchung schaffen, sondern auch vom großen Wissen von Dr. Oleg Ken und Dr. Sergej Slutsch profitieren konnte. Ihre Unterstützung ging auch über diese Zeit hinaus, wofür ich sehr dankbar bin. Zu Dank bin ich den Professoren Jan Kusber (Universität Mainz) und Stephan Merl (Universität Bielefeld) verpflichtet, in deren Kolloquien ich mein Projekt vorstellen durfte. Viele Fragen und Anregungen, die ich hier erhalten hatte, haben meine Argumentation geschärft und meinen Blickwinkel erweitert. Danken möchte ich den Herausgebern der „Beiträge zur Geschichte Osteuropas“, den Professoren Jörg Baberowski, Joachim von Puttkamer, Frithjof Benjamin Schenk und Klaus Gestwa, für die Aufnahme in die Reihe und wertvolle Kommentare. Den Mitarbeiterinnen des Böhlau Verlags, Dorothee Recker-Wunsch und Julia Roßberg, danke ich für vorzügliche und kompetente Betreuung in der Phase der Drucklegung. Dr. Rainer Landvogt gilt mein Dank für sein ausgezeichnetes Korrektorat. Viele Kollegen und Freunde haben mir in unterschiedlichen Phasen des Projektes in guten und schlechten Zeiten zur Seite gestanden, mir gute Ratschläge und nützliche Tipps gegeben, meine Arbeit mit ihren Vorschlägen und Ideen bereichert, mich ermuntert oder Korrektur gelesen. Mein Dank gilt Karoline Dick, Natascha Donig, Agata Nörenberg, Mariam Parsadanishvili, Carmen Scheide, Carola Tischler, Benno Ennker, Zaur Gasimov, Tobias Geiger, Carsten Gräbel, Malte Griesse,

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Danksagung

Nils Müller und Alois Stock. Zu einem ganz besonderen Dank bin ich verpflichtet Frauke und Ulrike Kersten, Jasper Heinzen, Andreas Köller, Fabian Konrad und Peter Marx, die sich Zeit genommen haben, große Teile des Manuskriptes kritisch zu lesen. Meine Dissertation wurde gefördert durch die Landesgraduiertenstiftung BadenWürttemberg, das Institut für Europäische Geschichte in Mainz sowie den Deutschen Akademischen Austauschdienst. Dem Förderungsfonds Wissenschaft der VG Wort danke ich für den Druckkostenzuschuss. Dieses Buch ist meiner Mutter gewidmet.

Würzburg, im Januar 2021

Einleitung

Am Montag, dem 24. August 1936, zu Beginn der Moskauer Schauprozesse, telegraphierte Josef Stalin von Soči nach Moskau: Die TASS ist eine große Angelegenheit, aber sie ist durch allerlei kleinbürgerliche Kreaturen verunreinigt. Als Stellvertreter des Leiters soll man jemanden ernennen, der von großem Format ist, die Sprachen beherrscht und fähig ist, die ganze Scheußlichkeit aus der TASS herauszusäubern, und der organisch mit der Zeitung „Pravda“ verbunden ist.1

Mit diesen Worten erteilte der Sowjetführer persönlich den Befehl zu umfassenden Säuberungen im Zentral- und Auslandsapparat der Telegraphenagentur der Sowjetunion (TASS): Bis Mitte 1937 wurden fast alle Auslandskorrespondenten zurückgerufen und erschossen; viele Redakteure in Moskau sowie der langjährige Leiter der TASS, Jakov Doleckij, kamen ebenso ums Leben. Stalin strebte nicht nur nach der physischen Vernichtung seiner ‚Feinde‘, sondern auch nach deren Löschung aus der kollektiven Erinnerung: Die Erwähnung ihrer Namen wurde verboten, sie wurden als „Bestien“ beschimpft, ihre Gesichter wurden auf Photos retuschiert und ihre Familien verfolgt.2 Die damnatio memoriae Stalins zeigt gewissermaßen bis heute ihre Wirkung: Über die TASS der Zwischenkriegszeit und ihre Mitarbeiter ist in wissenschaftlichen und publizistischen Diskursen kaum etwas bekannt. Auch die Erforschung des medialen Auslandsbildes der Sowjetunion und der Praktiken seiner Produktion bleiben Forschungsdesiderate.3 Die vorliegende Studie setzt sich daher das Ziel, anhand erstmals gesichteter Aktenbestände in den Moskauer Archiven diese Forschungslücke zu schließen. Im Vordergrund der Untersuchung steht die Nachrichtenagentur TASS, die seit 1925 über das Monopol auf Sammlung, Bearbeitung und Verbreitung von Auslandsinformationen verfügte und die sowjetische Auslandsberichterstattung maßgeblich

1 Stalin an Kaganovič, 24.08.1936, in: Oleg Chlevnjuk (Hrsg.), Stalin i Kaganovič. Perepiska. 1931–1936, Moskau 2001, S. 645. 2 Die Frau von Doleckij, Sofia Stanevič, wurde auch verhaftet und verbrachte 17 Jahre im GULAG. Mehr zu Doleckij und dem Schicksal seiner Familie: A. R. Schejngeit, Der Mann, der die sowjetische Auslandsberichterstattung organisierte. Jakov Doleckij, Leiter der Nachrichtenagentur TASS, 1921–1937, in: The International Newsletter of Communist Studies XVIII (2012), S. 79–87. 3 Vgl. Viktor Knoll, Das Volkskommissariat für Auswärtige Angelegenheiten im Prozeß außenpolitischer Entscheidungsfindung in den zwanziger und dreißiger Jahren, in: ders. und Ludmila Thomas (Hrsg.), Zwischen Tradition und Revolution. Determinanten und Strukturen sowjetischer Außenpolitik, 1917–1941, Stuttgart 2000, S. 80. Vgl. auch Paul Roth, Sow-Inform: Nachrichtenwesen und Informationspolitik der Sowjetunion, Düsseldorf 1980, S. 79.

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Einleitung

prägte. Forschungsleitend ist die Frage, wie die TASS das mediale Auslandsbild der Sowjetunion konstruierte, über welche Organisationsstrukturen und Ressourcen sie verfügte und welcher Programme und Codierungen sie sich bediente. Die Nachrichtenproduktion wird als ein Ensemble von Praktiken verstanden, deren strukturelle Prämissen und Kontexte genauer beleuchtet werden sollen. Alles, was Historiker und Journalisten bis 1991 über die sowjetische Auslandsberichterstattung zu erzählen wussten, vermittelte aufgrund einer unzureichenden empirischen Basis ein fragmentarisches und diffuses Bild.4 Aber auch nach 1991, als die russische Archivrevolution die Möglichkeiten der Erforschung der sowjetischen Geschichte wesentlich verbesserte, wurde die TASS nicht zum Gegenstand einer fundierten institutions- und kommunikationsgeschichtlichen Untersuchung. Man kann nur an die Befunde anknüpfen, die einige Teilaspekte der medialen Kommunikation, der journalistischen Kultur und des politischen Informationssystems der Stalin-Zeit beleuchten. Die finnische Medienwissenschaftlerin Terhi Rantanen analysierte die Beziehungen der TASS zu den amerikanischen Nachrichtenagenturen United Press und Associated Press und zeigte, dass diese gemeinsam eine neue Machtordnung auf dem Weltnachrichtenmarkt zu etablieren versuchten. Rantanen untersuchte auch in einer ersten Annäherung die politisch-journalistische Biographie des TASS-Leiters Doleckij.5 Der Berliner Historiker Viktor Knoll fragte im Rahmen seiner Institutionsgeschichte des Volkskommissariats für Auswärtige Angelegenheiten danach, aus welchen Quellen sich das Weltwissen der Kremlführung konstituierte. Wenngleich die Rolle der TASS dabei nicht näher untersucht wurde, so knüpfe ich an seinen Umriss des Informationssystems der sowjetischen Auslandsbeobachtung und -analyse an.6 Der Sankt Petersburger Historiker Oleg Ken untersuchte die Tätigkeit des von Karl Radek geleiteten Büros für Internationale Informationen, das Stalin direkt unterstand und sich auch der TASS-Nachrichten bediente.7 Er zeigte, wie eng politische und journalistische Akteure interagierten und wie wenig Stalin in der Lage war, Auslandsinformationen selbstständig systematisch auszuwerten. Die amerikanischen Historiker Jeffrey Brooks und Matthew

4 Vgl. Theodor Kruglak, The Two Faces of TASS, Minneapolis 1962; Niels Rosenfeldt, Knowledge and Power: The Role of Stalin’s Secret Chancellery in the Soviet System of Government, Kopenhagen 1978; Roth, Sow-Inform; Jonathan Haslam, Appendix 1: The Soviet Press and Soviet Foreign Policy, 1933–39, in: ders., The Soviet Union and the Struggle for collective Security in Europe, 1933–39, London 1984, S. 233–235. An Detail- und Insiderwissen blieb unübertroffen: Jakov Doletzky, Die Nachrichtenversorgung der Presse, in: Zeitungswissenschaft. Monatsschrift für internationale Zeitungsforschung, Berlin, den 15. April 1927, Nr. 4, S. 49–52. 5 Terhi Rantanen, Howard Interviews Stalin. How the AP, UP and TASS Smashed the International News Cartel, Bloomington 1994. 6 Knoll, Das Volkskommissariat, S. 80 ff. 7 Oleg Ken, Karl Radek i Bjuro Meždunarodnoj Informacii CK VKP(b), 1932–1934 gg., in: Cahiers du Monde russe 44/1 (2003), S. 135–178.

Einleitung

Lenoe, die den massenmedialen Diskurs in der Stalin-Zeit untersuchten, widmeten sich zwar nicht explizit der sowjetischen Auslandsberichterstattung, lieferten aber wichtige Hinweise und Anhaltspunkte.8 So zeigte Brooks an ausgewählten Stichproben, welche Bedeutung die außenpolitischen Themen in der „Pravda“ hatten und wie die Präsenz der Außenwelt in der öffentlichen Kommunikation der 1930er Jahre immer geringer wurde. Lenoe ging ausführlich auf das Phänomen des sowjetischen Massenjournalismus ein, der mit der kaderpolitischen ‚Revolution‘ in den Zeitungsredaktionen und mit der Aneignung von Mobilisierungssemantiken durch die Sowjetpresse Ende der 1920er Jahre korrespondierte. Schließlich zeigte die französische Historikerin Sabine Dullin einen engen Zusammenhang zwischen der diplomatischen Analyse und den medialen Orientierungsangeboten auf und wies auf die wichtige Rolle der TASS im außenpolitischen Informationssystem der Sowjetunion hin.9 Die vorliegende Untersuchung stützt sich auf einen breiten, vorwiegend erstmals erschlossenen Quellenkorpus von Archivdokumenten. Die Grundlage bildet der TASS-Bestand im Staatsarchiv der Russischen Föderation (GARF), der einige Tausend Akten umfasst. Vor allem die Dokumente des Sekretariats des verantwortlichen Leiters der TASS, der Auslandsabteilung und der Personalabteilung geben aufschlussreiche Einblicke sowohl in interne Kommunikations- und Entscheidungsprozesse als auch in die Beziehungskontexte der TASS zu den weiteren Institutionen des Sowjetstaates. Unter zahlreichen im GARF gesichteten Beständen erwiesen sich noch zwei Bestände als besonders nützlich: zum einen der Bestand des Rates der Volkskommissare, der für die Erforschung der Strukturgeschichte der TASS und ihrer finanziellen Basis von großer Relevanz ist, und zum anderen der Bestand der Russischen Telegraphenagentur, der Vorgängerin der TASS, der für die Frühgeschichte der sowjetischen Auslandsberichterstattung als primäre Quelle dient. Die zweite empirische Säule des Projektes bilden die Dokumente des Russischen Staatsarchivs für sozialpolitische Geschichte (RGASPI), die Auskunft nicht nur über das Verhältnis der TASS zur Kremlführung geben, sondern auch über die Fragen der Personal-, Redaktions- und Programmpolitik in der TASS. Als besonders ergiebig erwiesen sich im ehemaligen Parteiarchiv die Bestände des Politbüros, des Organisationsbüros und des Sekretariats des ZK sowie die Personalbestände von Stalin, Molotov und dem Volkskommissar für Auswärtige Angelegenheiten, Georgij Čičerin. Die Recherchen im Archiv des russischen Außenministeriums trugen schließlich dazu bei, die Kalküle der Sowjetdiplomaten und ihren Einfluss

8 Jeffrey Brooks, Thank You, Comrade Stalin!: Soviet Public Culture from Revolution to Cold War, Princeton 2000; Matthew Lenoe, Closer to the Masses: Stalinist Culture, Social Revolution and Soviet Newspapers, Harvard 2004. 9 Sabine Dullin, Des hommes d’influences. Les ambassadeurs de Staline en Europe, 1930–1939, Paris 2001. Auf Englisch: Men of Influence. Stalin’s Diplomats in Europe, 1930–1939, Edinburgh 2008.

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Einleitung

auf die Auslandsberichterstattung besser zu erfassen. Besonders wertvoll waren in dieser Hinsicht die Bestände des Volkskommissars für Auswärtige Angelegenheiten, Maxim Litvinov, und seines Stellvertreters Nikolaj Krestinskij. In Anlehnung an den Erfurter Politikwissenschaftler Kai Hafez wird unter Auslandsberichterstattung ein „massenmedial erzeugtes und vermitteltes Auslandsbild“ verstanden.10 In seiner „Theoriematrix“, deren Prämissen weitgehend gefolgt wird, unterscheidet er drei Untersuchungsebenen: 1. Auf der Mikroebene geht es um die Auslandsjournalisten und Redakteure, um ihre politischen und beruflichen Erfahrungshorizonte sowie Rollenkonzepte. Letztere werden als „Antizipationen der gesellschaftlichen Wirkung und Bedeutung von Auslandsbildern“ verstanden.11 Idealtypisch kann man zwischen zwei Rollenbildern unterscheiden: dem neutralen Informanten, der sich an die Objektivitätsnorm des Nachrichtenjournalismus gebunden fühlt, und dem Mitgestalter der Außenpolitik, der Einstellungen seines Publikums zu beeinflussen bzw. zu affirmieren sucht. Heuristisch wertvoll ist auch Hafez’ Hinweis darauf, dass zwischen individuellen Werten und beruflichen Rollenimperativen Konflikte entstehen können.12 2. Auf der Mesoebene werden organisatorische und soziale Einflüsse auf die Prozesse der Nachrichtenproduktion analysiert. Im Fokus stehen redaktionelle Hierarchien, Entscheidungsprogramme und Koordinationsmechanismen. Auch hier wird idealtypisch zwischen der Zweck- und der Konditionalprogrammierung unterschieden. Während Konditionalprogramme darauf ausgerichtet sind, Fakten und nicht Meinungen oder Bewertungen zu generieren, beinhalten Zweckprogramme eine ideologische Komponente und sind mit bestimmten Wirkungsabsichten verknüpft. Zum Organisationskontext gehört auch die Beziehung zwischen Redakteur und Auslandskorrespondent. Diese wird nach Hafez als Aushandlungsprozess verstanden, in dem gegenseitige Beeinflussungen und Konflikte eine wichtige Rolle spielen.13 3. Auf der Makroebene wird „das Zusammenspiel von Medien, Politik und Gesellschaft“14 unter die Lupe genommen. Hier fragt man zum einen danach, welchen Einfluss mediale Akteure auf die politische Agenda ausüben und inwiefern sie Orientierungshorizonte ihrer Rezipienten beeinflussen; zum anderen werden aber auch die Erwartungshaltungen des Publikums thematisiert, das grundsätzlich in der Lage ist, „Medienangebote selektiv zu nutzen“ und „vorgeprägte Programmstrukturen

10 Kai Hafez, Die politische Dimension der Auslandsberichterstattung. Bd. 1: Theoretische Grundlagen, Baden-Baden 2002, S. 50. 11 Ebd., S. 78. 12 Ebd., S. 83. 13 Ebd., S. 105–108. 14 Ebd., S. 34.

Einleitung

zu konterkarieren“.15 Die Erklärungskraft dieses Modells, das die Medialisierung des Politischen und die Politisierung der Medien problematisiert, beschränkt sich keinesfalls nur auf demokratische Gesellschaften. Zum einen wird Medialisierung, das heißt die Ausbreitung der modernen Massenmedien und die Entstehung einer neuartigen Öffentlichkeitssphäre, als ein offener, politisch ambivalenter Prozess verstanden.16 Diese Ambivalenz betrifft sowohl den Bereich der massenmedialen Bedeutungsproduktion als auch entsprechende Rezeptionsprozesse – denn selbst in Diktaturen lässt sich die Aneignung von Medieninhalten nicht im Einzelnen steuern.17 Zum anderen geht man in der historischen Kommunikationsforschung davon aus, dass auch diktatorische Regime, die sich auf massenmediale Propaganda stützen, plebeszitäre Tendenzen aufweisen und unter erheblichen Legitimationszwängen stehen.18 Deswegen ist es wichtig, mediale und politische Logiken in ihren Verschränkungen und gegenseitigen Wechselwirkungen zu betrachten. In funktionaler Hinsicht wird die Auslandsberichterstattung als zirkulärer Prozess der Nachrichtenproduktion verstanden, der drei Stufen umfasst: 1. Sammlung und Selektion von Nachrichten; 2. ihre Übersetzung und Bearbeitung; und 3. ihre Rezeption und Kommunikation durch die Leser. Dementsprechend werden drei Gruppen von Akteuren identifiziert, die sich an den Prozessen der Konstruktion und Aneignung des medialen Auslandsbildes beteiligten: 1. die Auslandskorrespondenten der TASS; 2. die Auslandsredaktion der TASS in Moskau; 3. das sowjetische Publikum, das die Parteiführung, die Sowjetdiplomaten und die wichtigsten Zeitungen des Landes einschloss. Die Akteure der dritten Gruppe werden aber nicht als passives Element der Kommunikationskette betrachtet, ganz im Gegenteil: Über das klassische SenderEmpfänger-Modell hinaus, das sich auf den Sender und seine Übertragungskanäle

15 Ebd., S. 125. 16 Frank Bösch/Norbert Frei, Die Ambivalenz der Medialisierung. Eine Einführung, in: dies. (Hrsg.), Medialisierung und Demokratie im 20. Jahrhundert, Göttingen 2006, S. 7. 17 Ebd., S. 13. 18 Christoph Classen/Klaus Arnold, Von der Politisierung der Medien zur Medialisierung des Politischen? Zum Verhältnis von Medien, Öffentlichkeiten und Politik im 20. Jahrhundert, in: Klaus Arnold u. a. (Hrsg.), Von der Politisierung der Medien zur Medialisierung des Politischen? Zum Verhältnis von Medien, Öffentlichkeiten und Politik im 20. Jahrhundert, Leipzig 2010, S. 17.

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Abbildung 1 Kommunikations- und Konfliktebenen in der sowjetischen Auslandsberichterstattung Quelle: Eigene Darstellung.

konzentriert, wird auf die „Decodierungsleistung der Rezipienten“19 geachtet, die mit ihren Erwartungen und Deutungsmustern die Selektionskriterien und Gestaltungsprogramme des Senders beeinflussen. In dieser Hinsicht wird die Praxis der Nachrichtenproduktion nicht auf die journalistische Logik reduziert, sondern in einen größeren Kontext politischer Kommunikation eingebettet. Auslandsberichterstattung wird so als Aushandlungsprozess und als Teil der Formierung eines gesellschaftlichen Diskurses über außenpolitische und internationale Fragen verstanden.20 Welche Kommunikationskontexte und Interaktionsebenen sich im sowjetischen Fall ergaben, veranschaulicht die Abbildung 1. In der vorliegenden Untersuchung werden mehrere für die mediale Bedeutungsproduktion signifikante Interaktions- und Konfliktfelder identifiziert und ausführlich behandelt: 1. zwischen der TASS-Zentrale und ihren Korrespondenten; 2. zwischen der TASS und dem Volkskommissariat für Auswärtige Angelegenheiten (dem NKID);

19 Michael Schenk, Schlüsselkonzepte der Medienwirkungsforschung, in: Angela Schorr (Hrsg.), Publikums- und Wirkungsforschung. Ein Reader, Wiesbaden 2000, S. 72. 20 Hafez, Die politische Dimension der Auslandsberichterstattung, S. 183. Die Spezifik des Sowjetjournalismus, der ideologisch und kaderpolitisch unter Kontrolle des Parteiapparates stand, wird hier nicht näher erläutert, sondern in einzelnen Kapiteln ausführlich behandelt. Hier geht es um ein Modell, das eine konflikttheoretische Annäherung an die gesellschaftlich-politische Praxis der Nachrichtenproduktion anstrebt.

Einleitung

3. 4. 5. 6.

zwischen der TASS und den Moskauer Massenzeitungen; zwischen der Parteiführung und der TASS; zwischen den Sowjetbotschaftern und den Auslandskorrespondenten der TASS; zwischen den Auslandsjournalisten der Zeitungen „Pravda“ und „Izvestija“ einerseits und den Korrespondenten der TASS andererseits.

In einer Parteidiktatur stellt sich selbstverständlich die Frage, inwiefern journalistische Programme und Themen durch Vorgaben und Prämissen der Herrschaftselite manipuliert und gesteuert wurden. In der Analyse wird allerdings nicht a priori davon ausgegangen, dass die sowjetische Auslandsberichterstattung nach einem Top-down-Prinzip organisiert war und journalistische Akteure sich wie passive Befehlsempfänger und Vermittler verhielten. Vielmehr wird versucht, das gestalterische Potential der TASS zu erkunden und die mediale Bedingtheit von politischgesellschaftlichen Orientierungshorizonten im Auge zu behalten. In dieser Hinsicht knüpft die Studie an die wichtige Debatte darüber an, welche Handlungsspielräume im Stalinismus existierten und wie sie methodisch erfasst werden können. Bis jetzt wurde diese Frage mit unterschiedlichen Ansätzen und auf unterschiedlichen Ebenen untersucht: 1. Herrschaftstheoretisch ist davon auszugehen, dass Handlungsspielräume auf der Ebene der Machthorizontale im Wesentlichen durch Ressortgrenzen und Kompetenzbereiche bestimmt wurden.21 Der neuesten Forschung zufolge war Stalin trotz seiner terroristischen und willkürlichen Herrschaftspraxis ein Diktator, der beratend und delegierend regierte.22 Die Mitglieder des „Stalin-Teams“ können als einflussreiche Akteure angesehen werden, die in der Lage waren, den Informationsund Problemhorizont ihres „Bosses“ zu beeinflussen. 2. Interessante Ergebnisse liefert der institutionelle bzw. bürokratische Ansatz, der die Rolle von Experten bzw. funktionalen Eliten im Prozess der Agenda-Setzung und Politikgestaltung thematisiert.23 Insbesondere im Forschungsfeld der sowjetischen Außenpolitik wurden wichtige Erkenntnisse gewonnen, die für die vorliegen-

21 Vgl. Oleg Khlevniuk, Master of the House: Stalin and His Inner Circle, New Haven/London 2009, S. 252 f. 22 Vgl. Benno Ennker, „Struggling for Stalin’s Soul“: The Leader Cult and the Balance of Social Power in Stalin’s Inner Circle, in: Klaus Heller/Jan Plamper (Hrsg.), Personality Cults in Stalinism – Personenkulte im Stalinismus, Göttingen 2004, S. 161–206; Stephen Wheatcroft, From Team-Stalin to Degenerate Tyranny, in: E.A. Rees (Hrsg.), The Nature of Stalin’s Dictatorship: the Politburo, 1924–1953, London 2004, S. 79–107; Sheila Fitzpatrick, Stalins Mannschaft. Teamarbeit und Tyrannei im Kreml, Paderborn 2017. 23 Besonders aufschlussreich: E.A. Rees (Hrsg.), Decision-Making in the Stalinist Command Economy, 1932–37, London 1997.

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Einleitung

de Untersuchung von großer Relevanz sind.24 Zum einen zeigen sie, dass Wissensbzw. Unwissenshorizonte und Ungewissheitszonen im Kreml unbedingt beachtet werden sollen. So bescheinigte Oleg Ken, einer der besten Kenner des außenpolitischen Entscheidungsdiskurses im Politbüro, der bolschewistischen Führung gravierende Konzept- und Planungsdefizite. Er griff sogar auf die Metapher eines führungslosen Schiffes zurück, dessen Kapitän über keine Seekarte verfügt und seinen Kurs durch situationsbedingte Ad-hoc-Entscheidungen gestaltet.25 Zum anderen verweisen diese Erkenntnisse auf begrenzte, aber reale Handlungsspielräume der Sowjetdiplomaten, die bis zum Großen Terror durchaus in der Lage waren, gestaltend in die Formulierung und Umsetzung sowjetischer Außenpolitik einzugreifen.26 3. Auf der Ebene des Zentrum-Peripherie-Verhältnisses werden Handlungsund Entscheidungsspielräume der regionalen Eliten im Zusammenhang mit der Durchsetzung von stalinistischen Ordnungsvorstellungen, mit forcierter Industrialisierung und mit der Herausbildung lokaler Patronage-Netzwerke mit eigenem Machtbewusstsein thematisiert.27 Vor diesem Hintergrund soll die These eines eigenständigen Handlungsspielraums der TASS im Bereich der sowjetischen Auslandsberichterstattung überprüft und im Hinblick auf die journalistische Praxis der Informationssammlung und Informationsverarbeitung mit konkreten Beispielen belegt werden. Das Innovationspotential der vorliegenden Untersuchung basiert nicht nur auf der Auswertung bislang unbekannter Archivdokumente, sondern auch auf einem konzeptionellen und methodischen Pluralismus, der handlungs- und strukturgeschichtliche, praxisorientierte und diskursive Zugänge zusammenführt. Darüber hinaus verfolgt die Analyse eine dezidiert interdisziplinäre Perspektive, die theoreti-

24 Vgl. Bianka Pietrow, Stalinismus – Sicherheit – Offensive: Das „Dritte Reich“ in der Konzeption der sowjetischen Außenpolitik 1933 bis 1941, Melsungen 1983; Knoll, Das Volkskommissariat; Oleg Ken/Alexander Rupasov, Politbjuro CK VKP(b) i otnošenija SSSR s zapadnymi sosednimi gosudarstvami (konec 1920–1930-h gg.). Problemy. Dokumenty. Opyt kommentarija, Sankt Petersburg 2000; Dullin, Men of Influence. 25 Ken/Rupasov, Politbjuro CK VKP(b), S. 68 ff. 26 Vgl. Pietrow, Stalinismus – Sicherheit – Offensive, S. 299; Knoll, Das Volkskommissariat, S. 97 f.; Dullin, Men of Influence, S. 18 f. 27 Vgl. Gerald Easter, Reconstructing the State: Personal Networks and Elite Identity in Soviet Russia, Cambridge 2000; James R. Harris, The Great Urals: Regionalism and the Evolution of the Soviet System, Ithaka/London 1999. Exemplarisch für die sowjetische Fernostpolitik der 1920er Jahre: Marina Fuchs, Die grauen Zonen einer Diktatur: Regionalismus und Außenpolitik im bolschewistischen Russland der frühen zwanziger Jahre, in: Thomas/Knoll (Hrsg.), Zwischen Tradition und Revolution, 285–369.

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sche Modelle und Hypothesen der Kulturgeschichte, der Organisationswissenschaft sowie der Medien- und Kommunikationswissenschaft nutzt.28 In kommunikationstheoretischer Sicht knüpfe ich an die Überlegungen von Stephan Merl an, denen zufolge eine strikte Kontrolle über die öffentliche Kommunikation in Diktaturen vor allem als die Kontrolle über die Themen verstanden wird.29 Daraus resultiert die Forschungsfrage, wie die Themen der sowjetischen Auslandsberichterstattung generiert und die Weltbilder der Massenzeitungen dirigiert wurden. Auf welche Selektionsfilter sowie Geheimhaltungspraktiken griff also der Kreml zurück, um die Legitimationsgrundlagen seiner Herrschaft und das semantische Repertoire der Mobilisierungsdiktatur zu stabilisieren? Der Stabilisierungsbedarf erforderte außerdem, wie Merl pointiert ausführt, bestimmte Zugeständnisse an einzelne Teilsysteme der Gesellschaft, deren „Codes“ nicht komplett außer Kraft gesetzt werden konnten.30 Ein solches Kommunikationsmodell, das einzelnen Institutionen und Medien ein gewisses Maß an Autonomie einräumt, grenzt sich vom Totalitarismus-Konzept ab: Es setzt nämlich nicht voraus, dass in den Machtkonfigurationen Asymmetrien bestehen und so das System a priori als stabil erscheint, sondern betrachtet Mehrdeutigkeiten, Ambivalenzen und das institutionelle Chaos als kontingente Faktoren, die den Prozessen der Informationsverarbeitung und der Systemerhaltung immanent sind.31 Organisationstheoretisch wird in Anlehnung an Karl Weick die Tätigkeit des Organisierens als spezifische Bedeutungsproduktionsleistung verstanden, die darauf ausgerichtet ist, „Mehrdeutigkeit mittels bewusst ineinandergreifender Handlungen“ zu reduzieren bzw. „stabile Interpretationen für mehrdeutige Vorlagen“ zu schaffen.32 Organisationsstrukturen und -programme werden als generalisierte Wissensschemata angesehen, die die Prozesse der Informationsverarbeitung steuern und routinisieren. In dieser Perspektive tritt Organisation als eine Art kognitive Meta-Struktur, als Rahmen für Sinngebungsprozesse, in Erscheinung. Wie Weick zugespitzt sagt, gestalten bzw. „züchten“ Organisationen ihre Umwelten.33 Der Gefahr, „die Rolle dominanter Umwelten“34 zu unterschätzen, begegnet die vorlie28 Vgl. als Einblick in die aktuelle Russland bezogene Diskussion: Bianka Pietrow-Ennker, Einleitung: Voraussetzungen und Formen des Perspektivwechsels, in: dies. (Hrsg.), Kultur in der Geschichte Russlands. Räume, Medien, Identitäten, Lebenswelten, Göttingen 2007, S. 11–39. 29 Stephan Merl, Politische Kommunikation in der Diktatur. Deutschland und die Sowjetunion im Vergleich, Göttingen 2012, S. 18. 30 Ebd., S. 20 f. 31 Vgl. zur Problematik der „totalitären Kommunikation“: Kirill Postoutenko (Hrsg.), Totalitarian Communication. Hierarchies, Codes and Messages, Bielefeld 2010. 32 Karl E. Weick, Der Prozeß des Organisierens, Frankfurt a.M. 1985, S. 11 und S. 327. 33 Ebd., S. 221. 34 Petra Hiller, Organisationswissen. Eine wissenssoziologische Neubeschreibung der Organisation, Wiesbaden 2005, S. 22.

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gende Arbeit damit, dass sie versucht, das institutionelle Umfeld der TASS und den gesellschaftspolitischen Kontext der Nachrichtenproduktion als manifeste Einflussgrößen im Auge zu behalten. In medientheoretischer Hinsicht wird an die Ansätze angeknüpft, die von der medialen Bedingtheit von Wissensordnungen und Weltbildern ausgehen. Maßgeblich sind dabei zwei Prämissen. Der ersten zufolge sind Medien nicht bloß Vermittlungsinstanzen, sondern ebenso Codierungsapparate, die durch spezifische Operationen und Formatierungsprozesse das Weltbewusstsein und die Aktualitätshorizonte erzeugen.35 Die zweite Prämisse besagt, dass die mediale Wirklichkeitserzeugung ein Beobachtungsprozess ist, der auf der Differenz von System und Umwelt basiert. Jedes beobachtende System hat eine eigene Welt, weil es jeweils eigene Differenzen zwischen sich und seiner Umwelt beobachtet.36 Wie ein Beobachter eine Wirklichkeit konstruiert, ist die zentrale Frage der konstruktivistischen Medienmodelle. Diese richten das Augenmerk auf den „Kontext, in dem die Arbeit der Korrespondenten erfolgt“; es geht also um politische, gesellschaftliche und kulturelle Konditionen von Nachrichtenproduktion, um die Frage nach der „Verortung“ und den „Perspektiven“ des Beobachtens.37 Im Anschluss an diese Überlegungen arbeitet die vorliegende Analyse die strukturellen und semantischen Rahmenbedingungen der sowjetischen Auslandsberichterstattung heraus, die die Antwort auf die Frage geben, wie die TASS ihre ‚Nachrichtenwelten‘ konstruierte.38 Die Rekonstruktion der in Bezug auf die Berichterstattung der TASS im Kreml abgelaufenen Entscheidungsprozesse ist nicht das Ziel der vorliegenden Untersuchung. Es wird nur auf solche Entscheidungen eingegangen, die in unmittelbarer Beziehung zur Institutionsgeschichte der TASS sowie zum Kommunikationskontext der sowjetischen Auslandsberichterstattung stehen. Das bedeutet keinesfalls,

35 Speziell zur Rolle der Nachrichtenagenturen als Global Players: Oliver Boyd-Barrett/Terhi Rantanen, The Globalization of News, in: dies. (Hrsg.), The Globalization of News, London 1998, S. 5. 36 Markus Kriener/Miriam Meckel, Internationale Kommunikation. Begriffe, Probleme, Referenzen, in: dies. (Hrsg.), Internationale Kommunikation: Eine Einführung, Opladen 1996, S. 14. Vgl. auch Stefan Weber, Doppelte Differenz. Schritte zu einer „konstruktivistischen Systemtheorie der Medienkommunikation“, in: Irene Neverla, Elke Grittmann, Monika Pater (Hrsg.), Grundlagentexte zur Journalistik, Konstanz 2002, S. 73. 37 Angela Dressler, Nachrichtenwelten. Hinter den Kulissen der Auslandsberichterstattung. Eine Ethnographie, Bilefeld 2008, S. 9 und S. 229 f. 38 Unter medialer Welterzeugung bzw. Konstruktion des medialen Auslandsbildes verstehe ich einen Prozess der journalistischen Selektion, Aneignung und Gestaltung von Informationen, einen Strukturierungs- und Kreierungsprozess von aktuellen Nachrichtenkarten, der von gesellschaftspolitischen, institutionellen und lebensweltlich-ideologischen Faktoren bestimmt wird. Der Begriff „mediale Welterzeugung“ wird als Gegenentwurf zum Abbildungsparadigma verstanden, das den Medien eine Abbildungsfunktion zuschreibt und von einem Koordinatensystem von „richtig“ und „falsch“ ausgeht.

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dass diese Rekonstruktion unmöglich oder nicht notwendig wäre: Sie würde jedoch den Rahmen der Analyse sprengen und den Fokus auf den außenpolitischen Entscheidungsprozess verlagern. Der Einfluss der TASS auf die Weltbilder der Sowjetleser wird vor allem auf der kognitiven Ebene der Themensetzung und der Nachrichtengeographie erfasst und problematisiert. Die Gliederung der Untersuchung folgt funktionalen und problemfeldorientierten Gesichtspunkten der journalistischen Bedeutungsproduktion. Im Fokus des ersten Teils steht die TASS-Zentrale in Moskau, der zweite Teil wendet sich ihrem Korrespondentennetz im Ausland zu und der dritte Teil stellt das Verhältnis der TASS zu ihrer Umwelt, den institutionell-gesellschaftlichen Kontext der Nachrichtenproduktion sowie ausgewählte Problemfelder der sowjetischen Auslandsberichterstattung in den Mittelpunkt. In jedem Teil wird zwischen den drei oben beschriebenen analytischen Ebenen – Mikro-, Meso- und Makroebene – gewechselt. Dieses Mehrebenenmodell hat den analytischen Vorteil, dass je nach der gewählten Problemstellung unterschiedliche Akteurskonfigurationen und Handlungszusammenhänge erfasst und thematisiert werden können.39 Der erste Teil der Untersuchung besteht aus sechs Kapiteln. In Kapitel 1.1 untersuche ich die Anfänge der sowjetischen Auslandsberichterstattung und die Entstehung der TASS als monopolistische Nachrichtenagentur. In Kapitel 1.2 werden die Organisationsstruktur der TASS und soziokulturelle Profile ihrer Mitarbeiter rekonstruiert, Beachtung finden auch die Macht- und Gestaltungsräume der TASS-Leiter. Das Kapitel 1.3 untersucht das institutionelle Umfeld der TASS: Zum einen wird danach gefragt, in welchem Maße die Parteiführung, die Diplomaten, die Regierung und die Sowjetpresse die Redaktionslinie sowie die Kader- und Strukturpolitik der TASS beeinflussten, zum anderen soll die Bedeutung der TASS als Informationsanbieter im System der sowjetischen Auslandsberichterstattung verdeutlicht werden. Im Fokus des Kapitels 1.4 steht die Auslandsabteilung der TASS: redaktionelle Hierarchie und Kompetenzverteilung, Rollenmodelle und Spezialisierungsprozesse. Ich frage danach, wie die redaktionelle Linie gebildet und wie der redaktionelle Konsens hergestellt wurde. Ein weiterer Aspekt des Kapitels betrifft journalistische Sozialisations- und Professionalisierungsprozesse. In Kapitel 1.5 wird die Informationsverarbeitung in der INO-TASS im Spannungsfeld von Informations- und Interpretationsjournalismus thematisiert. Ich gehe dabei ausführlich auf den redaktionellen Programmkonflikt der Jahre 1929–1931 ein, der durch die forcierte Industrialisierung und gesellschaftliche Mobilisierungsdiskurse ausgelöst wurde. Es wird gezeigt, wie die TASS mit der Ambivalenz der redaktionellen Programmierung

39 Vgl. Andrea Maria Dederichs/Michael Florian, Felder, Organisationen und Akteure – eine organisationssoziologische Skizze, in: Jörg Ebrecht/Frank Hillebrandt (Hrsg.), Bourdieus Theorie der Praxis. Erklärungskraft, Anwendung, Perspektiven, 2. Aufl., Wiesbaden 2004, S. 89.

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umging und welche Strategien sie entwickelte, um vorhandene Konfliktpotentiale in den Griff zu bekommen. In Kapitel 1.6 werden die Informationsquellen und die thematischen Schwerpunkte der Auslandsberichterstattung der TASS untersucht. Der zweite Teil behandelt die Arbeit des Auslandsapparates der TASS und besteht aus vier Kapiteln. Das Kapitel 2.1 untersucht die Struktur des Korrespondentennetzwerkes: seine Ausweitung, Dichte und geographischen Merkmale. Im Fokus des Kapitels 2.2 stehen die Auslandskorrespondenten der TASS: ihre politischen und beruflichen Sozialisationserfahrungen, ihre Rollenbilder, Arbeitsbedingungen und journalistischen Alltagspraktiken. Das Kapitel 2.3 thematisiert das Verhältnis zwischen den TASS-Korrespondenten und den Sowjetbotschaftern: Zum einen werden Interaktions- und Kooperationsformen untersucht, zum anderen wird die diplomatische Kontrolle bzw. Zensur näher beleuchtet. Letztere erzeugte Konflikte, deren Inhalte, Verlauf und Lösungsansätze ausführlich dargestellt werden. Das Kapitel 2.4 untersucht das Verhältnis zwischen der TASS-Zentrale in Moskau und den Auslandskorrespondenten. Ich zeige die jeweiligen Einflussräume auf, gehe der Frage nach, wie die TASS ihre Prämissen der Weltbeobachtung vermittelte und wie sie auf den Eigensinn ihrer Korrespondenten reagierte. Beachtung finden auch die Mechanismen und Instrumente der Konsensherstellung. Der dritte Teil der Untersuchung besteht aus fünf Kapiteln und befasst sich mit dem gesellschaftspolitischen Kontext der Nachrichtenproduktion. In Kapitel 3.1 werden die Machtstellung Stalins und sein Informationshorizont rekonstruiert. Ich gehe ausführlich auf seine Rezeption von TASS-Nachrichten ein und setzte diese in den Kontext der Anschlusskommunikation. Im Fokus des Kapitels 3.2 steht das Verhältnis der TASS zur Führung des Volkskommissariats für Auswärtige Angelegenheiten. Ich beleuchte die Dimensionen des diplomatischen Einflusses auf die Arbeit der TASS und rekonstruiere die drei wichtigsten Konfliktfelder, nämlich die Auseinandersetzungen um die Faktizität, die Themen und die Aktualität der Auslandsberichterstattung. In Kapitel 3.3 wird das Verhältnis der TASS zu den wichtigsten Multiplikatoren ihrer Auslandsberichterstattung – den Zeitungen „Pravda“ und „Izvestija“ – thematisiert. Ich erarbeite funktionale Unterschiede und betrachte gegenseitige Einflussmöglichkeiten, Rezeptionsprozesse, Konkurrenzund Konfliktsituationen genauer. In Kapitel 3.4 geht es um die Frage, wie die exzessive Geheimhaltung des Sowjetregimes die Produktion und die Verbreitung von Auslandsnachrichten beeinflusste. Im Kontext der Geheimhaltungspolitik gehe ich auf die wichtigsten Merkmale unterschiedlicher Auslandsbulletins der INO-TASS ein: ihren Umfang, ihren Empfängerkreis und ihren Aktualitätsgrad. Das letzte Kapitel der Untersuchung, 3.5, stellt die Zusammenhänge zwischen der Geographie der Auslandsberichterstattung der TASS und den außenpolitischen Präferenzen des Sowjetregimes her. Anknüpfend an den Forschungsstand zur Nachrichtengeographie untersuche ich in Form von Hypothesen unterschiedliche Einflussvariablen: den Regionalismus und den Faktor Grenze, die Ausrichtung auf die Großmächte,

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die Bedeutung transnationaler Kommunikationsnetzwerke sowie die Rolle von Handelsbeziehungen. In einer Schlussbetrachtung werden die wichtigsten Ergebnisse der Untersuchung zusammengefasst. Dabei wird die Frage nach der Interdependenz des Politischen und des Medialen noch einmal aufgeworfen und im Hinblick auf die Grenzen sowie die Produktionslogik von journalistischem Weltwissen in der Stalin-Diktatur erörtert. Es wird explizit auch auf weiterführende Fragen und Diskurse eingegangen, die sich im Rahmen der vorliegenden Untersuchung ergaben und als Desiderat künftiger Forschung anzusehen sind.

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1. Die TASS als Medium der Auslandsberichterstattung im sowjetischen Informationssystem

1.1 Die Russische Telegraphenagentur (ROSTA) und die Entstehung der Nachrichtenagentur TASS, 1918–1925 Als die Bolschewiki im November 1917 durch den militärischen Putsch die Macht im sich auflösenden Russischen Imperium eroberten, erhoben sie den Anspruch, eine grundlegend neue Gesellschafts- und Weltordnung zu schaffen. Doch überall, wo sie zum praktischen Handeln gezwungen waren, knüpften sie an alte, tradierte Strukturen und Institutionen an, die meistens durch kreative Verwaltungspraxis umgestaltet und an neue Realitäten angepasst wurden. Das galt auch für die Kommunikationspraxis: Zuallererst übernahm die bolschewistische Führung die Kontrolle über die Petrograder Telegraphenagentur (PTA), die im Zarenreich und in der Zeit der Provisorischen Regierung das mediale Auslandsbild maßgeblich prägte. Im Dezember 1917 wurde die PTA direkt der Regierung, dem Rat der Volkskommissare, unterstellt. Als man sie schließlich am 7. September 1918 mit dem Pressebüro beim Zentralen Exekutivkomitee (ZIK) zusammenlegte, entstand die Russische Telegraphenagentur (ROSTA), die dem ZIK unterstand und von Leonid Stark (1889–1937) geleitet wurde.1 Die Anfänge der sowjetischen Auslandsberichterstattung waren von Organisationschaos und Ressourcenknappheit geprägt. Die technische Ausstattung der ROSTA war mangelhaft und ihre Binnenstruktur krankte an vielen Unklarheiten bezüglich der Festlegung von Entscheidungsbefugnissen und Aufgabenbereichen.2 Platon Keržencev (1881–1940), der Leonid Stark im Mai 1919 ersetzte, bekam die Aufgabe, Ordnung im Apparat der ROSTA zu schaffen, den Informationsaustausch mit den Peripherien des umkämpften Reiches zu sichern und die Propagandaarbeit

1 Vgl. den Beschluss des Präsidiums des VZIK über die Russische Telegraphenagentur vom 07.09.1918, in: O partijnoj i sovetskoj pečati, radiovešanii i televidenii, Moskau 1972, S. 62 f. 2 Vgl. Der verantwortliche Leiter der ROSTA, Keržencev, an das ZK R.K.P., 28.08.1919, RGASPI 17/86/243/204. Aus Platzgründen bevorzuge ich eine Zitierweise von Archivquellen, die bei der Angabe der Archivaliensignatur auf die Worte „Bestand“, „Findbuch“, „Akte“ und „Blattzahl“ verzichtet. Für GARF und RGASPI bedeutet das, dass die erste Zahl auf den Bestand, die zweite auf das Findbuch, die dritte auf die Akte und die vierte auf die Blattzahl verweist. Für AVP RF gilt: Die erste Zahl verweist auf den Bestand, die zweite auf das Findbuch, die dritte auf die Mappe, die vierte auf die Akte und die fünfte auf die Blattzahl.

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Die TASS als Medium der Auslandsberichterstattung im sowjetischen Informationssystem

zu verbessern.3 Keržencev, geboren in einer Arztfamilie in Moskau, hatte vor der Revolution lange Zeit als politischer Emigrant in Paris, London und New York gelebt. Seine Weltkenntnis und Sprachkompetenz – er beherrschte Englisch, Französisch und Deutsch – konnte er jedoch nicht in Anwendung bringen, weil die Auslandsabteilung der ROSTA im Sommer 1919 aus dem Zentralapparat ausgegliedert und direkt dem Volkskommissar für Auswärtige Angelegenheiten, Georgij Čičerin, unterstellt wurde.4 Die Telegraphenagentur verwandelte sich immer mehr in eine Propagandainstanz und verlor schließlich ihre institutionelle Autonomie, als sie am 25. November 1920 in die Hauptverwaltung für die Volksaufklärung eingegliedert wurde. Die Kontrolle und die Steuerung der Auslandsberichterstattung gehörten in dieser Zeit in die ausschließliche Kompetenz der diplomatischen Führung. Čičerin zensierte persönlich alle Auslandsmeldungen, die die ROSTA telegraphisch erreichten; auch die Mitschriften abgehörter Radiosendungen sah er aufmerksam durch. Das Zensurverfahren war ein zweistufiger Prozess: Die Diplomaten selektierten zunächst Originaltelegramme, dann prüften sie die Übersetzungsqualität und die politische Tendenz von Nachrichten, die in der Sowjetpresse publiziert werden sollten.5 Es war die NKID-Führung, die die ersten Vorschläge zur Reform der sowjetischen Auslandsberichterstattung machte. Um das institutionelle Chaos zu reduzieren, schlug Lev Karachan, der Stellvertreter Čičerins, im März 1920 dem Politbüro vor, die Auslandsabteilung der ROSTA dem Narkomindel (NKID, Volkskommissariat für Auswärtige Angelegenheiten) „nicht nur in redaktioneller Hinsicht, sondern auch administrativ“ zu übergeben. Die bolschewistischen Führer blieben aber unentschlossen.6 Offenbar waren sie nicht bereit, die institutionellen Grundlagen der Auslandsberichterstattung dem NKID zu überlassen, dessen Einfluss auf mediale Weltbilder bereits sehr stark war. Andererseits hielt die politische Führung an der Lenkung der Auslandsberichterstattung durch das NKID nach wie vor fest, auf dessen Fachexpertise und Zensurfunktion sie angewiesen war. Im März 1921 bekräftigte das Politbüro noch einmal, dass die Auslandsabteilung der ROSTA „entsprechend den Direktiven von Čičerin verwaltet werden soll“.7

3 Am 02.05.1919 besprachen Keržencev und Lenin die desolate Lage in der ROSTA. Vgl. Paul Roth, Lenins Telegrafenagentur ROSTA: vor 60 Jahren gegründet, in: Publizistik 3 (1978), S. 257. 4 Keržencev an das ZK R.K.P., 28.08.1919, RGASPI 17/86/243/209. 5 Vgl. den Bericht des Chefs der Auslandsabteilung ROSTA, M. Braginskij, vom 20.05.1920, GARF 391/1/6/3. 6 Der Beschluss des Politbüros vom 17.03.1920, RGASPI 17/3/66/2. 7 Vgl. den Beschluss des Politbüros vom 19.03.192, „Der Vorschlag des Genossen Zinovjev, Radek als Redakteur der ROSTA zu ernennen“, RGASPI 17/163/121/14.

Die Russische Telegraphenagentur (ROSTA) und die Entstehung der Nachrichtenagentur TASS

Die Frage, welcher Quellen sich die Machtelite in der Zeit des Bürgerkrieges und des Kriegskommunismus bediente, um sich über Ereignisse im Ausland zu informieren, ist in der Forschung nicht hinreichend beantwortet worden. Allgemein lassen sich folgende Informationsquellen identifizieren: 1. „zufällige Berichte“8 von Emigranten, Emissären und Komintern-Leuten; 2. das Auslandsradio; 3. Auszüge aus der Auslandspresse, die in unregelmäßigen Abständen nach Moskau zugestellt wurde. Unklar ist jedoch, welche Rolle dem Auslandsapparat der ROSTA bei der Nachrichtenbeschaffung zukam. Belegt ist, dass die ersten sowjetischen Vertretungen in Berlin, Bern und Stockholm (1918) als Stützpunkte für den Aufbau des medialen Auslandsapparates dienten. Im Juli 1918 wurde in Berlin die erste Filiale der Russischen Telegraphenagentur eröffnet, die ihre Tätigkeit auch nach der Ausweisung der sowjetischen Vertretung fortsetzte.9 Doch bereits in der Frage, wie das Netzwerk der Auslandsbüros der ROSTA im Zeitraum 1918–1920 strukturiert war, gehen die Meinungen auseinander. Paul Roth spricht von der Existenz von ROSTA-Filialen in Riga (1919), Stockholm und Wien (1920).10 In Anlehnung an sowjetische Historiker verortet Terhi Rantanen die ersten ROSTA-Büros in Berlin, Stockholm, Kopenhagen und Oslo (1918–1919).11 Die vorhandenen Quellen verschaffen diesbezüglich keine Klarheit. Es kann aber als sicher gelten, dass die ersten Korrespondentenstandorte, die in der wirren Zeit des russischen Bürgerkrieges und des europäischen Systemwandels entstanden, recht instabile Institutionen waren. Ihre finanziellen, personellen sowie kommunikativen Ressourcen blieben ungesichert und ihre Informationsleistung wurde durch Improvisation und Ad-hocMöglichkeiten geprägt. Wie kontingent die sowjetische Auslandsberichterstattung in dieser Zeit war, zeigt die Praxis der Informationsübermittlung des ROSTA-Büros in Berlin. Für den Kurierdienst war die Zentrale der KPD zuständig, die jede Woche ihre Boten nach Moskau entsandte. Die Reise glich einem gefährlichen Abenteuer: Oft verschwanden die Boten spurlos oder mussten umkehren; im Sommer 1919 erreichte nur eine einzige Kurierin Moskau12 , gerade zum Zeitpunkt, als die Faceto-Face-Kommunikation mit ausländischen Genossen und Informanten wesentlich zur Lageeinschätzung und Situationsbewertung des Kremls beitrug.13

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Knoll, Das Volkskommissariat, S. 80. Roth, Sow-Inform, S. 58 f. Ebd., S. 60 ff. Rantanen, Howard Interviews Stalin, S. 10. Der Leiter des Büros der ROSTA in Berlin, Gornyj, an Čičerin, Karachan, Osinskij, Keržencev, Klinger, 10.08.1919, RGASPI, 495/18/3/28. 13 Vgl. Čičerin an Lenin, 06.02.1919, RGASPI 5/1/2053/2.

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Die TASS als Medium der Auslandsberichterstattung im sowjetischen Informationssystem

Doch es waren nicht die Komintern-Leute und Kuriere, die das mediale Weltbild in Moskau im Zeitraum 1919–1921 entscheidend prägten, sondern die Auslandsabteilung der ROSTA, deren Auslandsberichterstattung auf drei Quellen beruhte: 1. Sie hörte Radiosendungen in englischer, deutscher, französischer, italienischer und schwedischer Sprache ab; 2. sie nutzte Radiotelegramme aus den regionalen Zentralen der ROSTA in Nikolaev, Taschkent und Omsk; 3. sie griff auf Meldungen und Berichte des NKID und seiner Vertretung in Petrograd zurück. Die Auswertung der Auslandspresse war zweitrangig, weil diese der Redaktion selten aktuell zur Verfügung stand.14 Die fertiggestellten Bulletins wurden täglich an Lenin, Trockij, Kamenev, Zinovjev, Radek, Bucharin und andere bolschewistische Führer verschickt.15 Auch der Sekretär des ZK, Stalin, der die Informationspolitik im Parteiapparat maßgeblich gestaltete, stand mit dem verantwortlichen Leiter der ROSTA telephonisch – dienstlich und privat – rund um die Uhr in Verbindung.16 Die Verkündung der Neuen Ökonomischen Politik im März 1921 durch die bolschewistische Führung symbolisierte die grundsätzliche Bereitschaft, sich auf die Koexistenz und die Zusammenarbeit mit der kapitalistischen Welt einzulassen. Der Anschluss an die Weltkommunikation galt als zentrale Voraussetzung dafür, westliche Staaten als Kreditgeber und technische Helfer für den Wiederaufbau der zerrütteten Volkswirtschaft zu gewinnen. Die Ausgangssituation war katastrophal: Nach fast sieben Jahren der Kriege und Zerstörungen waren die Infrastruktur und die diplomatischen Beziehungen des Russischen Reiches fast komplett ruiniert. Das mediale Auslandsbild der politischen Elite schrumpfte auf ein Minimum und bestand aus Fremdbeobachtungen, die dem gesellschaftlichen Orientierungsbedarf nicht mehr genügten. Die ROSTA als Unterabteilung des Volkskommissariats für die Volksaufklärung war zu einer Propagandainstanz degradiert worden, die die Provinzpresse instruierte und das Agitationsmaterial bereitstellte. Das Volkskommissariat fürs Auswärtige, das diplomatische und journalistische Informationen zusammenführte, befand sich selbst in der Phase des institutionellen Konsolidierungsprozesses und konnte die Auslandsberichterstattung nicht mit Hilfe seiner Informations- und Presseabteilung organisieren.17 Die Gesamtsituation im Bereich der massenmedialen Kommunikation war durch die institutionelle Konkurrenz und durch widersprüchliche 14 Der Bericht des Chefs der Auslandsabteilung ROSTA, M. Braginskij, vom 20.05.1920, GARF 391/1/6/3. 15 Die Liste der ROSTA-Abonnenten (1921), GARF 391/11/24/17. 16 Das Sekretariat ROSTA an Stalin, 13.10.1921, GARF 391/11/24/16. 17 Vgl. Čičerin an Lenin, 05.05.1920, RGASPI 159/2/1/4.

Die Russische Telegraphenagentur (ROSTA) und die Entstehung der Nachrichtenagentur TASS

Zielsetzungen gekennzeichnet. Die Diplomaten kritisierten diese Missstände als „eine völlige Schlamperei“ (polnaja bezalaberšina) und schlugen bereits im April 1921 vor, einen „Einheitsapparat“ zu schaffen.18 Auch das Politbüro des ZK versuchte notwendige Reformen anzustoßen. Man brachte sogar Karl Radek als ZK-Mitglied und ausgewiesenen außenpolitischen Experten ins Gespräch. Der Vorschlag von Georgij Zinovjev, dem Komintern-Führer, Radek zum Leiter der Auslandsabteilung der ROSTA zu ernennen, fand die Zustimmung von Lenin, Stalin und Trockij19 , entsprach aber wohl nicht den Vorstellungen Radeks, der lieber Revolutionär und Weltpolitiker als Chefredakteur einer Medienorganisation sein wollte. Auch im Mai 1921 kam die politische Führung entweder zu keinem Ergebnis20 oder musste ihre Pläne aufgeben, wie etwa die Idee, Keržencev durch Komarovskij-Donskoj zu ersetzen, mit dem Auftrag, „die Presseabteilung des NKID und die INO-ROSTA neu zu organisieren“.21 Zu einem Durchbruch kam es schließlich, als man auf die Person von Jakov Doleckij kam. Womöglich war es Karl Radek, der auf seinen polnischen Kollegen aufmerksam machte. Doleckij kehrte gerade im August 1921 aus Polen zurück, wo er im Geheimauftrag des Kremls tätig gewesen war. Die Entscheidung, ihn zum Leiter der ROSTA zu ernennen, erwies sich – retrospektiv gesehen – als Glücksgriff: Obwohl Doleckij keine journalistische Erfahrung vorzuweisen hatte, verfügte er über ein großes Organisationstalent, ein starkes Durchsetzungsvermögen und sehr gute Fremdsprachenkenntnisse. Als Jacov Doleckij im September 1921 die Leitung der Russischen Telegraphenagentur übernahm, stand er sogleich vor zwei schwierigen Aufgaben. Zum einen ging es darum, die ROSTA zu modernisieren und von den atavistischen Funktionen eines Agitationsmediums zu befreien. Zum anderen ging es darum, ihre institutionelle Unabhängigkeit wiederherzustellen und den prägenden Einfluss der Diplomatie auf mediale Programm- und Zwecksetzungen zurückzudrängen. Acht Monate nach seinem Amtsantritt, im Mai 1922, präsentierte Doleckij dem Politbüro seine Reformvorschläge, die auf eine grundlegende Neuordnung der gesamten Praxis der sowjetischen Auslandsberichterstattung abzielten.22 Der Leiter

18 Vgl. der Mitarbeiter der Sonderabteilung des NKID, N. Lebedev, an das Kollegium des NKID, Kopie an ZK VKP(b), 25.04.1921, RGASPI 17/84/255/9 ff. 19 Vgl. den Beschluss des Politbüros vom 19.03.1921, RGASPI 17/163/121/14. Zwei Tage später beschäftigte sich das Politbüro wieder mit der „Lage in der ROSTA“ und beauftragte Jaroslavkij, einen Bericht diesbezüglich zu verfassen. Vgl. den Beschluss des Politbüros vom 21.03.1921, „Über die Lage in der ROSTA“, RGASPI 17/163/123/3. 20 Vgl. den Beschluss des Politbüros vom 07.05.1921, „Über die ROSTA“, RGASPI 17/3/160/2. 21 Vgl. den Beschluss des Politbüros vom 28.05.1921, „Über die Ernennung des Leiters der ROSTA”, RGASPI 17/03/171/2. 22 Doleckij an Molotov, 08.05.1922, RGASPI 17/84/427/39-45.

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Die TASS als Medium der Auslandsberichterstattung im sowjetischen Informationssystem

der ROSTA fokussierte zwei Problemfelder: Er kritisierte zum einen das Fehlen eigenständiger Quellen für Auslandsnachrichten und die Abhängigkeit von Nachrichtendiensten westlicher Nachrichtenagenturen. Um dies zu ändern, musste dringend ein Netzwerk von eigenen Auslandsbüros aufgebaut werden. Der zweite Kritikpunkt betraf die thematische Struktur des Auslandsbildes, das als Problem der Publikumsorientierung aufgefasst wurde. Doleckij ging es dabei darum, die redaktionelle Autonomie der Auslandsabteilung der ROSTA herzustellen und die Fremdprogrammierung durch das NKID zu beseitigen. Es gefiel ihm nicht, dass die Themen der Auslandsberichterstattung einseitig auf die Erwartungen der „hohen Diplomatie“ ausgerichtet waren und man deswegen kaum über ökonomische, technische und kulturelle Entwicklungsprozesse in der kapitalistischen Welt berichtete.23 Es war eigentlich nicht das erste Mal, dass Doleckij die Diplomaten dafür kritisierte, dass sie den Prozess der Nachrichtenproduktion ausschließlich ihren Kalkülen und Interessen unterordneten.24 In seinem Reformvorschlag machte der Leiter der ROSTA noch einmal klar, dass die Auslandsberichterstattung nicht einem „Dutzend Leiter unserer Außenpolitik“ dienen, sondern dem Orientierungsbedarf und den Erwartungen des sowjetischen Massenlesers gerecht werden sollte, die er mit „politischen und ökonomischen Interessen der Sowjetrepublik“ gleichsetzte.25 Im Kern seines Reformvorschlages lag die Forderung, das Verhältnis zwischen dem NKID und der ROSTA neu zu ordnen, Letztere mit einem „flexiblen und elastischen Apparat“ auszustatten und direkt der Regierung zu unterstellen. Neben der institutionellen Unabhängigkeit sollte der ROSTA ein freier Zugang zu allen technischen Kommunikationsmitteln des Landes garantiert werden.26 Zum ersten Mal tauchte auch die Idee auf, der ROSTA das Monopol auf Verbreitung von Auslandsnachrichten innerhalb der Russischen Föderation zu sichern.27 Einige Tage später präzisierte Doleckij in einem Brief an Stalin seine Zentralisierungspläne: Die angestrebte Monopolstellung bezweckte, „eine einheitliche politische Linie“ in der Auslandsberichterstattung zu sichern. Das Monopol implizierte auch die Bündelung aller Ressourcen, was in Doleckijs Vorschlag, die Informationsabteilung des NKID in die ROSTA zu integrieren, zum Ausdruck kam.28 Die Visionen, die der Leiter der ROSTA in seinen Vorschlägen entwickelte, entsprachen alles in allem westlichen Vorbildern einer „modernen Nachrichtenagentur“.29

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Ebd., 39. Doleckij an das ZK R.K.P., 01.12.1921, GARF 391/11/24/40 f. Doleckij an Molotov, 08.05.1922, RGASPI 17/84/427/41 und 44. Ebd., 44. Ebd., 45. Doleckij an Stalin, 13.05.1922, RGASPI 17/86/17/62. Rantanen, Howard Interviews Stalin, S. 9.

Die Russische Telegraphenagentur (ROSTA) und die Entstehung der Nachrichtenagentur TASS

Am 22. Juni 1922 diskutierte das Politbüro mit Doleckij, Radek und Karachan die Reorganisationsideen und beauftragte den ROSTA-Leiter, einen konkreten Entwurf für die Neuordnung der sowjetischen Auslandsberichterstattung auszuarbeiten.30 Gleichzeitig stellte das höchste politische Gremium wichtige Weichen: Man folgte dem Vorschlag von Doleckij und stimmte der Eingliederung der Informationsabteilung des NKID in den ROSTA-Apparat zu, dessen Auslandsabteilung ab sofort zur wichtigsten Stabsstelle für die Bearbeitung von Auslandsnachrichten wurde.31 Am 4. Juli 1922 legte Doleckij sein Reorganisationsprojekt dem Politbüro vor. Es stellte einen institutionellen Kompromiss zwischen dem Selbstprogrammierungsbestreben der ROSTA und den Lenkungsansprüchen des NKID dar. Die operative Führung des gesamten ROSTA-Apparates (der Auslands-, Kommerz-, Administrations- und „russischen“ Abteilung) stand Doleckij zu. Als Aufsichtsinstanz hatte der „ROSTA-Rat“ zu fungieren, dem Vertreter der Diplomatie, der Partei und der journalistischen Elite angehören sollten. Der Rat war ein Koordinationsgremium, in dem vor allem diplomatische Einfluss- und Kontrollansprüche artikuliert und formalisiert werden konnten. Die Kompetenzen des ROSTA-Rates umfassten die Begutachtung grundlegender Organisationsreformen, die Bewilligung des Budgets, die Lösung zwischenbehördlicher Konflikte sowie die Ernennung der Leiter aller republikanischen Nachrichtenagenturen. Den Vorsitz sollte Karl Radek übernehmen. Als reguläre Mitglieder waren Doleckij, Karachan, der Leiter der Agitationsabteilung des ZK, Andrej Bubnov, und das Mitglied des Obersten Rates der Volkswirtschaft, Nikolaj Ejsmont, vorgesehen.32 Die „Juli-Beschlüsse“ des Politbüros traten offiziell am 7. September 1922 durch das entsprechende Dekret des Allrussischen zentralen Exekutivkomitees (VZIK) in Kraft: Die ROSTA wurde aus dem Volkskommissariat für die Volksaufklärung ausgegliedert und erhielt den Status einer offiziellen Nachrichtenagentur beim ZIK.33 Als besonders signifikant für die Neuordnung der Auslandsberichterstattung erwies sich die Übergabe der Auslandsbüros der Informationsabteilung des NKID an die ROSTA im September 1922. Es handelte sich dabei nicht nur um die „Räume“, sondern um die gesamte „Einrichtung und das technische Personal“.34 Es entstand ein leistungsfähiger Auslandsapparat der ROSTA, dem eine Zentralredaktion zur 30 Der Beschluss des Politbüros vom 22.06.1922, „Über die ROSTA“, RGASPI 17/3/299/2. 31 Der Beschluss des Politbüros vom 22.06.1922, „Über die ROSTA“, RGASPI 17/3/299/2. Man bestätigte die Entscheidung des Organisationsbüros des ZK vom 09.06.1922. 32 Doleckij an das Politbüro, 04.07.1922, RGAPI 17/86/17/77 f. Vgl. auch den Beschluss des Politbüros vom 06.07.1922, „Über die ROSTA“, RGASPI 17/3/302/1 u. 6. Als der ROSTA-Rat im Herbst 1922 seine Tätigkeit aufnahm, blieb die avisierte Personalbesetzung gültig. Nur Ejsmont wurde durch I. Smirnov ersetzt. 33 Vgl. „Die ROSTA. Der historische Überblick“, 07.09.1922, GARF 391/11/27/1 ff. 34 Der Rundbrief der ROSTA vom 16.01.1923 (unterschrieben von Litvinov und Doleckij), GARF 4459/11/1/1. Doleckij hat retrospektiv von einem „Abkommen“ zwischen der ROSTA und dem

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Seite stand, deren Personal ständig wuchs: von 14 Mitarbeitern im August 1921 auf 25 im November 1923.35 Mit dem Inkrafttreten der allsowjetischen Verfassung im Dezember 1922 stellte sich zwangsläufig auch die Frage, wie der riesige Kommunikationsbereich des bolschewistischen Reiches zu konsolidieren und zu homogenisieren war. Wie sollte man diverse republikanische und regionale mediale Diskurse, die in ihren eigenen Lebenswelten verankert waren, unter semantische Kontrolle des Zentrums bringen? Denn die Situation, die Anfang der 1920er Jahre entstand, war aus Sicht des Kremls besorgniserregend: Die Ukraine, die kaukasischen Republiken und die fernöstliche Republik waren in der Lage, ihre eigene Informationspolitik zu betreiben. Die mediale Distanz zu Moskau erreichte solche Ausmaße, dass die ukrainische Telegraphenagentur „RATAU“ es im Herbst 1921 sogar ins Auge fasste, ihre „Auslandsfiliale“ in Moskau zu errichten.36 Die „Dalta“, die in Čita ansässige Fernöstliche Telegraphenagentur, erhob den Monopolanspruch auf die Berichterstattung aus China und Japan und die Sibirische Telegraphenagentur „SIBROSTA“ liebäugelte ebenso mit der Idee, die eigenständige Auslandsberichterstattung zu organisieren.37 Das Problem der Distanzüberwindung und der bürokratische Eigensinn regionaler Institutionen führten dazu, dass Moskau mit einem echten Machtbewusstsein regionaler Eliten konfrontiert war, die imstande waren, in die Entscheidungsprozesse des Kremls gestalterisch einzugreifen und diese nach eigenen Kalkülen zu beeinflussen.38 Die Parteiführung und die Diplomatie in Moskau waren hingegen von Anfang an bestrebt, den Produktionsprozess von Auslandsnachrichten rigoros zu kontrollieren und vom Zentrum aus zu steuern. Das NKID, das die Auslandsberichterstattung als eine Machterhaltungspraxis betrachtete, erwog bereits im Herbst 1921, bevor Doleckij seinen Reformplan präsentierte, die Schaffung einer monopolistischen Nachrichtenagentur.39 Die Sowjetverfassung vom Dezember 1922 stärkte die Position der Zentralisten: Die Sphäre der auswärtigen Beziehungen fiel in die ausschließliche Kompetenz der Zentralgewalt, die Republiken mussten bis Mitte 1923 ihre außenpolitischen

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NKID gesprochen. Vgl. Doleckij an alle Auslandsabteilungen und -korrespondenten der ROSTA, 28.02.1924, GARF 4459/11/5/5. Die Liste der Mitarbeiter der Auslandsabteilung, 23.08.1921, GARF 391/1/15/25; sowie die Daten zum Personalbestand der ROSTA vom November 1923, RGASPI 17/60/888/25 ff. Der stellvertretende Leiter der Zentral-ROSTA, D.V. Polujan, an das ZK R.K.P., 06.09.1921, GARF 391/11/24/9. Der Leiter der „Dalta“, Kolko, an den Leiter der Informationsabteilung des NKID, Stroev, 22.07.1921; vgl. auch seinen Entwurf über die Beziehungen zwischen der DALTA, der ROSTA, der SIBROSTA und dem NKID, 22.07.1921, GARF 391/11/22/11 und 13. Vgl. Fuchs, Die grauen Zonen einer Diktatur, S. 366. Doleckij an das ZK R.K.P., 21.10.1921, GARF 391/11/24/19.

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Aktivitäten einstellen und ihre diplomatischen Strukturen auflösen.40 Der Verlauf der Diskussion über die Schaffung einer gesamtstaatlichen Nachrichtenagentur und über die mediale Kompetenzverteilung zwischen Moskau und den nichtrussischen Republiken war damit präfiguriert. Im November 1923, als erste Planungen anliefen, leiteten die Zentralisten eine Offensive ein: Der Chef der Presseabteilung des NKID, Fedor Rothstein, verlangte „eine sehr strenge Kontrolle aller Auslandsmeldungen“ durch das NKID, wofür seiner Meinung nach „eine strikte Zentralisierung der Auslandsberichterstattung“ notwendig war.41 Doleckij wies das Auslandsnachrichtenangebot der ukrainischen Telegraphenagentur RATAU als „unzulässig“ zurück und grollte ebenso wegen ihrer Entscheidungsbefugnis, Auslandsmeldungen „ohne Erlaubnis des NKID zu publizieren“.42 Mehr kompromissbereit zeigten sich Parteifunktionäre: Der Mitarbeiter der Presseabteilung des ZK, Aron Solc, ging zwar auch davon aus, dass Moskau die Auslandsberichterstattung in der Sowjetpresse kontrollieren sollte, gestand jedoch der RATAU „ausnahmsweise“ zu, ausländische Radiosendungen in Charkov empfangen sowie eigene Auslandskorrespondenten nach Berlin und Warschau entsenden zu dürfen.43 Seit Februar 1924 beschäftigten sich das Politbüro und seine Kommissionen mit konkreten Planungen und Entwürfen zur Gründung einer gesamtstaatlichen Nachrichtenagentur. Die Schlüsselrolle in der Reform der sowjetischen Auslandsberichterstattung kam Doleckij und Čičerin zu. Am 11. Dezember 1924 präsentierten sie der Parteiführung einen Entwurf, der die Struktur und die Funktionen der allsowjetischen Telegraphenagentur (TASS) zum ersten Mal festlegte. Deren primäre Aufgabe bestand darin, so präzisierte man auf einer Politbürositzung, „die gesamte Auslandsberichterstattung der Sowjetunion zu lenken“.44 Um das Verhältnis zwischen der künftigen TASS und den republikanischen Telegraphenagenturen endgültig zu klären, wurde eine Sonderkommission des Politbüros gebildet. Dieser gehörten Doleckij (als Vorsitzender), Čičerin, der Leiter der Informationsabteilung des ZK, Wilhelm Knorin, und das Mitglied des Kollegiums des NKID, Adolf Petrovskij, an. Die Kommission reichte eine Woche später, am 18. Dezember 1924, das überarbeitete Organisationsstatut der TASS ein, das vom Politbüro einstimmig

40 Knoll, Das Volkskommissariat, S. 105. 41 Das Sitzungsprotokoll der Kommission über die Frage der Beziehungen zwischen der ROSTA und der RATAU sowie der Gründung der Telegraphenagentur der Union, 30.11.1923, RGASPI 17/60/888/6. 42 Ebd., 7. 43 Ebd., 7. Der Beschluss der Kommission protokollierte auch die „Sondermeinung“ von Rothstein und Doleckij, die anscheinend in der Minderheit waren. 44 Der Beschluss des Politbüros vom 11.12.1924, „Über die TASS“, RGASPI 17/163/467/8. Im Erstentwurf sprach man zunächst von der Aufgabe, „die gesamten Zeitungsinformationen zu steuern“. Vgl. das Original des Beschlusses vom 11.12.1924, „Über die TASS“, RGASPI 17/163/467/8.

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und mit kleinen Korrekturen angenommen wurde.45 Der Sieg der Zentralisten erwies sich als vollständig: Die TASS verfügte über „die ausschließliche Befugnis, telegraphische Informationen außerhalb der Sowjetunion zu sammeln und zu verbreiten“; den republikanischen Telegraphenagenturen räumte man lediglich ein, eigene Auslandskorrespondenten nur dann entsenden zu dürfen, wenn „zusätzliche Informationen“ für „spezifische Interessen der jeweiligen Republik“ benötigt wurden. Aber selbst dieses Zugeständnis bewegte sich im Rahmen des Kontrollanspruches Moskaus: Jeder sowjetische Journalist, der ins Ausland reiste, brauchte eine ausdrückliche Genehmigung des NKID.46 Die Monopolstellung der TASS und die Zentralisierung der Auslandsberichterstattung wurden auch durch eine negative Bestimmung untermauert, der zufolge es den republikanischen Nachrichtenagenturen ausdrücklich verboten war, abgefangene Radiomeldungen zu publizieren.47 Die Gründung der TASS wurde offiziell am 10. Juli 1925 durch entsprechende Beschlüsse des ZIK und des SNK verkündet. Die TASS nahm ihre Tätigkeit am 1. August 1925 auf und bezeichnete sich selbst als direkte „Erbin“ (preemnikom) der ROSTA. Die Verwaltungsstruktur und der Personalbestand des Zentralapparates blieben in der Tat unverändert. Auch die Auslandsabteilung und der Auslandsapparat unterlagen in ihrer „Arbeit und Struktur“ keinen Revisionen.48 Die Hauptveränderung betraf die Präsentation nach außen und die Rolle, die der TASS im sowjetischen Kommunikationssystem zugewiesen wurde. Sie war offiziell „das zentrale Informationsorgan der UdSSR“ und verfügte über „das ausschließliche Recht auf Sammlung und Verbreitung von Informationen außerhalb der UdSSR sowie auf Verbreitung von Auslands- und Allsowjetinformationen innerhalb der gesamten UdSSR“.49 Die TASS unterstand dem Rat der Volkskommissare (SNK) und war an seine Weisungen gebunden. Man gab sich Mühe, ihren neutralen Status zu betonen und jedes Indiz, das eine Verbindung zu parteipolitischen Zwecken nahelegte, zu beseitigen. Doleckij und die sowjetischen Führer im Kreml konnten mit der Bilanz der Entwicklungsjahre der sowjetischen Auslandsberichterstattung (1922–1925) durchaus zufrieden sein. Als die TASS im Sommer 1925 ihre ersten Auslandsmeldungen in

45 Der eigentliche Autor des Entwurfes war Doleckij. Vgl. den dem Beschluss des Politbüros vom 18.12.1924 beigefügten Entwurf der Kommission, RGASPI 17/163/468/13 f. 46 Vgl. den Beschluss des Politbüros vom 18.12.1924 über den „Bericht der Politbürokommission über die TASS“, RGASPI 17/3/481/2 u. 7. 47 Der Beschluss des Politbüros vom 18.12.1924, „Der Bericht der Politbüro-Kommission über die unionsweite Telegraphenagentur“, RGASPI 17/163/468/13R. 48 Der Leiter der Auslandsabteilung der TASS, Madjar, an alle Korrespondenten der ROSTA, 28.07.1925, GARF 4459/11/1/40. 49 Das Statut der TASS, 1925, GARF 4459/11/3/5.

Die TASS in der Zwischenkriegszeit: Führungskader und Strukturwandel

der Sowjetpresse publizierte, gehörte sie zum Kreis leistungsstarker und moderner Nachrichtenagenturen. Sie verfügte über einen Auslandsapparat, der imstande war, Informationen eigenständig zu sammeln und Moskau zeitnah zu informieren. Darin lag ein positiver Unterschied zum Zarenreich, dessen Auslandsberichterstattung sich größtenteils auf fremde Quellen stützte.50 Es gab aber auch klare Kontinuitätslinien, die auf imperiales Erbe, die geopolitische Lage und tradierte Elemente in der politischen Kultur zurückgingen. Sowohl in der Sowjetunion als auch im Zarenreich sah man im Medium Nachrichtenagentur ein wichtiges Instrument nationaler und internationaler Politik, insbesondere im Hinblick auf die Kontrolle und Inszenierung der öffentlichen Meinung. Auffallend war die kommunikative Nähe zum Deutschen Reich, wobei sie eine signifikante Umwertung erfuhr: War das Zarenreich vom Nachrichtenangebot von Wolffs Telegraphischem Bureau in Berlin (WTB) weitgehend abhängig gewesen, konnte die TASS dank des „Geistes von Rapallo“ ihr wichtigstes Auslandsbüro in der deutschen Hauptstadt errichten und dieses als Vorposten für weitere mediale Expansion nutzen. Der dritte Kontinuitätsstrang ergab sich aus der Lage der Sowjetunion in zwei Hemisphären, die zu einer gewissen Janusköpfigkeit der Auslandsberichterstattung führte: Europa lag unumstritten im Hauptfokus der medialen Aufmerksamkeit, aber auch Asien, insbesondere China, nahm im medialen Auslandsbild des Zarenreiches und der Sowjetunion einen bedeutenden Raum ein.51

1.2 Die TASS in der Zwischenkriegszeit: Führungskader und Strukturwandel Als die TASS im August 1925 ihre Tätigkeit aufnahm, bestand sie aus drei Abteilungen – der Abteilung für Auslands-, der für Sowjet- und der für Wirtschaftsinformationen – sowie aus der „administrativen Verwaltung“. Mit über 290 Mitarbeitern war die sowjetische Nachrichtenagentur der bedeutendste Informationsapparat der Sowjetunion (vgl. Tab. 1), was Doleckij im April 1927 sogar zum Vergleich mit „den größten amerikanischen Weltagenturen“ verleitete.52

50 Berechnet nach Terhi Rantanen, Foreign News in Imperial Russia. The Relationship between International and Russian News Agencies, 1856–1914, Helsinki 1990, S. 126 f. 51 Zur medialen Weltpräsenz des Zarenreiches vgl. Rantanen, Foreign News, 134. Zur Nachrichtengeographie der TASS vgl. die Kapitel 2.1 und 3.5. 52 Doletzky, Die Nachrichtenversorgung der Presse, S. 49.

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Tabelle 1 Anzahl der Mitarbeiter der TASS und der Auslandsabteilung, 1926–1940 1926

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1933

1937

1940

TASS

292

330

332

405

761

Auslandsabteilung

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43

45

69

145

Quelle: GARF 4459/11 und 17.

An der Spitze der TASS stand der TASS-Rat (vgl. Abb. 2), der als Aufsichtsgremium fungierte und dessen Kernkompetenz drei Sachbereiche umfasste: Strukturreformen, Kader- und Finanzpolitik. Er bestand aus dem Leiter der TASS, dem Volkskommissar für Auswärtige Angelegenheiten und seinen Stellvertretern sowie Mitarbeitern des Partei- und Regierungsapparates. Bis zu seiner Auflösung im Jahre 1934 führten im Rat drei Personen Vorsitz: das ZK-Mitglied Karl Radek (1922–1923), der Volkskommissar für Auswärtige Angelegenheiten, Georgij Čičerin (1924–1930), und das Regierungsmitglied Jan Rudzutak (1930–1934). Die Anzahl der Mitarbeiter im TASS-Rat fluktuierte ständig: von fünf Personen 1922 bis zu neun 1930. Neben Čičerin zählten zu seinen prominentesten Mitgliedern der Parteiführer Nikolaj Bucharin und der Leiter der Propagandaabteilung des ZK, Aleksej Steckij. Als Koordinationsinstanz hatte der TASS-Rat die Funktion, interinstitutionelle Konflikte zu lösen sowie zwischen diversen Erwartungen zu vermitteln. Er war ferner ein Medium der diplomatischen Einflussnahme auf journalistische Auslandsbilder: Čičerin, Rothstein, der Leiter der Presseabteilung des NKID, und Karachan, Mitglied des Kollegiums, nahmen in den 1920er Jahren regelmäßig an seinen Sitzungen teil und konnten diplomatische Interessen und Standpunkte geltend machen. Der Einfluss des Rates auf die Auslandsberichterstattung zeigte sich vor allem in der Errichtung von neuen Korrespondentenstandorten, der Entsendung von Auslandskorrespondenten sowie der Ernennung des Leiters der Auslandsabteilung.53 Die operative, „unmittelbare Führung des gesamten TASS-Apparates“ gehörte in den Kompetenzbereich des verantwortlichen Leiters.54 Es waren vier Männer, die die TASS bzw. die ROSTA in der Zwischenkriegszeit leiteten: Leonid Stark (1918–1919), Peter Keržencev (1919–1921), Jakov Doleckij (1921–1937) und Jakov Chavinson (1937–1943). Als Chefredakteure der wichtigsten Nachrichteninstanz gehörten sie zur Informationselite des Sowjetstaates und gestalteten seine Informationspolitik aktiv mit.

53 Das TASS-Statut, 1925, GARF 4459/11/3/7. 54 Vgl. das TASS-Statut vom Juli 1925, GARF 4459/11/19/4.

Die TASS in der Zwischenkriegszeit: Führungskader und Strukturwandel

Abbildung 2 Die Entscheidungshierarchie in der TASS, 1925 Quelle: Eigene Darstellung.

Wie ich im Kapitel 1.1 bereits zeigte, war es Jakov Doleckij, der die sowjetische Auslandsberichterstattung und die Organisationsstruktur der TASS maßgeblich prägte. Er wurde 1888 als Jakob Fenigstein in einer bürgerlichen Warschauer Familie geboren, studierte an der Technischen Hochschule in Wien (1907–1911) und trat 1904 der sozialdemokratischen Partei Polens und Litauens bei. Als Berufsrevolutionär wurde Doleckij zweimal von der zaristischen Polizei inhaftiert: 1912 in Warschau und 1914/1915 in Saratov, wo er sich nach seiner Entlassung niederließ und bis zur Russischen Revolution bei der Eisenbahn tätig war. Im August 1917 kam Doleckij nach Petrograd und nahm an der Machtergreifung der Bolschewiki teil. Die Oktoberrevolution markierte seine größte Lebenswende und eröffnete ihm die Möglichkeit zur politischen Karriere: Bis zu seiner Ernennung zum Leiter der ROSTA im September 1921 war Doleckij der Stellvertreter des Volkskommissars der Sowjetregierung Litauens und Weißrusslands und befand sich in einer geheimen Mission in Polen. Er sprach fließend Polnisch (Muttersprache), Deutsch und Russisch und konnte sich auch auf Englisch und Französisch verständigen. Von seinem Habitus und Kulturhorizont her gehörte Doleckij dem europäischen Bildungsbürgertum und dem westlichen Flügel der Bolschewiki an, den Stalin später fast komplett beseitigte.55

55 Vgl. Schejngeit, Der Mann, der die sowjetische Auslandsberichterstattung organisierte.

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Die TASS als Medium der Auslandsberichterstattung im sowjetischen Informationssystem

Als Leiter der TASS konnte Doleckij die Selektions- und Thematisierungsentscheidungen der Auslandsabteilung mitbestimmen, worauf sein Potential der Einwirkung auf den außenpolitischen Meinungsbildungsprozess beruhte. Die Gestaltungsmöglichkeiten des Leiters der TASS lassen sich gut an kritischen Äußerungen von Karl Radek von 1933 ablesen, der in dieser Zeit als außenpolitischer Berater Stalins fungierte und gegen konzeptionelle Prämissen der sowjetischen Diplomaten stark polemisierte. Dem führenden Publizisten der Sowjetunion gefiel nicht, dass die Auslandsberichterstattung der TASS bestimmte Weltsichten begünstigte und in der Presse verbreitete, die seinem außenpolitischen Konzept der Annäherung an Polen widersprachen. In einem Schreiben an Stalin kritisierte er deswegen Doleckij für seine angebliche Affinität zu „Rapallo-Traditionen“ und warf ihm vor, „ein polnisch-kommunistisches Syndrom“ zu haben.56 Doleckij verstand sich selbst als „politischer Leiter“ der TASS.57 Er beteiligte sich aktiv an der Steuerung von Auslandskorrespondenten und der Festlegung von redaktionellen Arbeitsprogrammen. Sein Einfluss auf die Auslandsberichterstattung war bisweilen so groß, dass der Leiter der Auslandsabteilung, Moisej Rafes, sich ironisch „Sekretär für auswärtige Angelegenheiten beim verantwortlichen Leiter“ nannte.58 Der Führungsstil von Doleckij war aber nicht autoritär. Er setzte auf teamorientierte Koordinationsmechanismen und delegierte große Verantwortungsbereiche an seine Stellvertreter und die Abteilungsleiter. Die Macht des verantwortlichen Leiters, verstanden als „Chance, den eigenen Willen gegen Widerstreben durchzusetzen“, beruhte vor allem auf seinem Vetorecht59 , der Möglichkeit, redaktionelle Entscheidungen revidieren und in die „richtige“ Richtung lenken zu können. Doleckij verfügte zwar über einen gewissen Wissensvorsprung gegenüber seinen Untergebenen, die sich darüber beklagten, vom Entscheidungswissen der politischen Führung ausgeschlossen zu sein, sowohl „im Allgemeinen“ als auch „konkret, in Bezug auf jede Frage und jeden Moment“.60 Sie überbewerteten jedoch den Kenntnisstand des TASS-Leiters wie auch seine Position innerhalb der Entscheidungselite. Denn Doleckij hatte keinen Zugang zu Politbürobeschlüssen und -sitzungen und auch seine Einblicke in die Entscheidungskalküle der diplomatischen Führung waren spärlich. Er profitierte vor allem von seinem guten Verhältnis zum Stellvertreter Litvinovs Krestinskij (1930–1937), der bereits in den 1920er Jahren als sowjetischer Botschafter in Berlin mit dem Leiter der TASS mehrmals

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Radek an Stalin, 03.12.1933, RGASPI 558/11/790/107. So der Leiter der Auslandsabteilung der TASS, David Ichok, 19.01.1934, GARF 4459/11/638/71. Der Leiter der Auslandsabteilung der TASS, Rafes, an Doleckij, 28.04.1927, RGASPI 17/113/296/229. Vgl. den Entwurf eines Rundschreibens an die TASS-Korrespondenten vom August 1926, der die Rolle von Doleckij als ‚Oberredakteur‘ anschaulich zeigt. GARF 4459/11/83/46. Zum Machtbegriff: Max Weber, Soziologische Grundbegriffe, 6. Aufl., Tübingen 1984, S. 89. 60 Der Leiter der Auslandsabteilung der TASS, Rafes, an Doleckij, 28.04.1927, RGASPI 17/113/296/229.

Die TASS in der Zwischenkriegszeit: Führungskader und Strukturwandel

dienstlich und privat zusammengekommen war61 . Krestinskij machte Doleckij mit streng geheimen Dokumenten bekannt, wie zum Beispiel mit seinen Aufzeichnungen über das Gespräch mit dem deutschen Botschafter in Moskau, Dirksen, und dem Tagebuch des sowjetischen Botschafters in Berlin, Chinčuk62 , die die von der Sowjetunion gegenüber dem Hitler-Regime verfolgte politische Linie verdeutlichten. Andere einflussreiche Politiker, die den Wissenshorizont von Doleckij informell erweiterten, waren seine Nachbarn und Trinkkumpane im berühmten „Haus der Regierung“, gegenüber dem Kreml am Ufer der Moskva (Serafimovič-Str. 2): das Politbüromitglied Valerian Kujbyšev, der Leiter der Propagandaabteilung des ZK, Aleksej Steckij, sowie Iosif Pjatnickij, Mitglied des Exekutivkomitees der Komintern und des ZK63 . Eine der wichtigsten Aufgaben, die in den Kompetenzbereich des verantwortlichen Leiters gehörten, war die Anpassung medialer Entscheidungsprogramme an politische Kalküle der Parteiführung. Im Hinblick auf diese Koordinationsrolle ärgerte sich Doleckij besonders darüber, dass ihm, wie dem Gros der Parteielite, streng geheime, in Sondermappen aufbewahrte Politbürobeschlüsse vorenthalten wurden. Der Leiter der TASS hatte lediglich die Möglichkeit, reguläre Protokolle „flüchtig kennenzulernen“, diese enthielten aber kaum Informationen zum außenpolitischen Entscheidungsprozess. Doleckij bezeichnete seinen Wissensstand als „eine gefährliche Konstellation“, die ihn daran hinderte, „die Interessen der Partei zu gewährleisten“ sowie „die Politik des ZK durchzuführen“.64 Symbolisch von Bedeutung, aber für die außenpolitische Orientierung wenig nützlich, war sein Recht, an den Sitzungen der Regierung mit beratender Stimme (s sovešatelnym golosom) teilzunehmen.65 Einblicke in den Machtdiskurs erlaubte ihm auch die Möglichkeit, den Plenarsitzungen des ZK beizuwohnen, die bis Anfang der 1930er Jahre noch als politische Kampf- und Aushandlungsarena fungierten. Eine weitere Informationsquelle war die Komintern: Der Leiter der TASS suchte regelmäßig die Sitzungen des Präsidiums auf und hatte ein gutes persönliches Verhältnis zur Führung der Internationale.66 Kapital konnte Doleckij aus seinem guten Verhältnis 61 Vgl. Krestinskij an Doleckij, 31.01.1927, GARF 4459/38/3/49. Im Sekretariat des ZK war man über das vertrauliche Verhältnis zwischen beiden informiert. Vgl. der Stellvertreter des Leiters der Presseabteilung des ZK, P. Judin, an den Sekretär des ZK, Nikolaj Ežov, 01.06.1937, RGASPI 671/1/252/9. 62 Vgl. der Leiter der Geheimabteilung der TASS, Grigorev, an Krestinskij, 14.07.1933 und 03.08.1933, GARF 4459/38/59/90 und 99. 63 Vgl. Schejngeit, Der Mann, der die sowjetische Auslandsberichterstattung organisierte, S. 83. 64 Doleckij an das Sekretariat des ZK VKP(b), 01.07.1932, GARF 4459/38/50/25. 65 Das Statut der TASS, 1925, GARF 4459/11/3/8. Im Januar 1931 bestätigte das Politbüro diese Berechtigung noch einmal. Vgl. den Beschluss des Politbüros vom 12.01.1931, „Über die Anwesenden bei den Sitzungen des SNK SSSR“, RGASPI 17/163/863/135. 66 Vgl. Doleckij an Čičerin, 06.09.1926, GARF 4459/38/3/39.

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Die TASS als Medium der Auslandsberichterstattung im sowjetischen Informationssystem

zu Čičerin schlagen, der aus eigenem Interesse die Erweiterung des Informationshorizontes des TASS-Leiters unterstützte. 1926 setzte der Volkskommissar für Auswärtige Angelegenheiten durch, dass Doleckij das „Politbulletin“ des NKID beziehen durfte, welches primär zur Orientierung der sowjetischen Botschafter diente67 und das weltpolitische Problembewusstsein der diplomatischen Führung widerspiegelte. Zugang zu operativen Dokumenten des NKID war aber nur ausnahmsweise möglich, nur dann, wenn sich diplomatische und mediale Interessen kreuzten oder die TASS-Korrespondenten in das außenpolitische Geschäft involviert waren. So übersandte die diplomatische Führung Doleckij im März 1936 ein chiffriertes Telegramm aus der Mandschurei, das sonst nur die Mitglieder des Politbüros, Stalin, Molotov, Vorošilov, Kaganovič und Ordžonikidze, erhielten.68 Eine der Säulen, auf denen die Hausmacht des TASS-Leiters ruhte, war die Personalpolitik: Bis August 1936 konnte Doleckij maßgeblich bestimmen, wer die Schlüsselpositionen in der TASS einnahm. Dies änderte sich unerwartet, als Stalin sich einmischte und befahl, Isaak Solc und Mavrikij Menkes, die Stellvertreter des TASS-Leiters, durch Boris Michajlov und Jakov Chavinson zu ersetzen69 , die er persönlich kannte. Die Einschleusung eigener Leute in den Apparat der sowjetischen Nachrichtenagentur bildete den Auftakt zu Säuberungsmaßnahmen in der TASS, die darauf abzielten, die Nachrichtenagentur zu ‚stalinisieren‘ und fester an die Parteiführung zu binden. Michajlov, der der Redaktion der Zeitung „Pravda“ angehörte und den der Diktator sehr schätzte, ließ sich auf Machtspiele aber nicht ein. Er blieb nur drei Monate bei der TASS und kehrte im Dezember 1936 zur „Pravda“ zurück. Chavinson (1901–1989) übernahm die Stelle des ersten Stellvertreters70 und wurde zum Vollstrecker der Säuberungsagenda. Stalin kannte Chavinson als einen treuen, aber kleinkarierten Parteibürokraten71 , dessen Karriere für die stalinistische Kulturrevolution mustergültig war: Er stammte aus einer armen Schneiderfamilie in der Ukraine, trat 1918 der bolschewistischen Partei bei und begann daraufhin sein Studium an der Moskauer Staatsuniversität.

67 Vgl. Doleckij an Krestinskij, Kopien an Litvinov und Karachan, 28.09.1931, GARF 4459/38/40/48. 68 Der sowjetische Konsul in Harbin, Smirnov, an Krestinskij, Stomonjakov, Stalin, Molotov, Vorošilov, Kaganovič, Ordžonikidze und Doleckij, 17.03.1936, GARF 4459/38/76/18. 69 Stalin an Kaganovič, 24.08.1936, in: Chlevnjuk (Hrsg.), Stalin i Kaganovič, S. 645. Am 01.09.1936 formalisierte das Politbüro die Direktive Stalins in einem Beschluss: Vgl. den Beschluss des Politbüros, „Über die Mitarbeiter der TASS“, RGASPI 17/03/980/71. 70 Vgl. den Beschluss des Politbüros vom 17.12.1936, „Über Michajlov und Chavinson“, RGASPI 17/3/982/79. 71 Ein „Stellvertreter von großem Format“ war für Stalin höchstens Michajlov, zu Chavinson äußerte er sich im oben zitierten Telegramm eher abwertend: „Vielleicht ist Michajlov dafür geeignet? Man braucht so einen Mann, wie Michajlov, plus zwei oder drei von solchen wie Chavinson“. Stalin an Kaganovič, 24.08.1936, in: ebd., S. 645.

Die TASS in der Zwischenkriegszeit: Führungskader und Strukturwandel

1927 übernahm Chavinson die Leitung des Sektors für die Partei- und Massenliteratur im Staatsverlag (GOSIZDAT), ab 1930 leitete er den Zeitschriftensektor der Propagandaabteilung des ZK und wurde schließlich 1935 durch die Parteiführung zum Propagandachef des Leningrader Stadtkomitees befördert. Das Aufbaustudium an der renommierten Geschichtsfakultät des Instituts der Roten Professur, die als Elitenschmiede diente, schloss Chavinson nicht ab, weil er seine Diplomarbeit nicht einreichte. Vier Monate nach der Ernennung zum stellvertretenden Leiter erstattete Chavinson dem Diktator einen Bericht über die Lage in der TASS, in dem redaktionelle Entscheidungsprogramme und Doleckij heftig kritisiert wurden. Noch sachlich bemängelte er, dass „die TASS keine Verbindung zu Zeitungen hat“ und „sich für ihre Informationsbedürfnisse nicht interessiert“.72 Dann startete Chavinson massive Angriffe gegen seinen Vorgesetzten und schnitt zum ersten Mal die Notwendigkeit von Säuberungsmaßnahmen an. Er diagnostizierte „eine schwere, an Zerfall grenzende Lage in der TASS“, vermisste „die bolschewistische Selbstkritik“ und unterstellte Doleckij „einen äußerst seltenen Subjektivismus“ und „eine permanente Hysterie“.73 Der Führungswechsel in der TASS wurde zur „Hauptfrage“ erhoben, wobei er dem obersten Ziel untergeordnet war, nämlich „den lebendigen, bolschewistischen Geist in alle Glieder des TASS-Apparates einzuhauchen“74 . Das Säuberungsprogramm umfasste zunächst zwei Schritte: die Überprüfung aller Mitarbeiter und die Entfernung von nichtsowjetischen Bürgern aus dem Auslandsapparat.75 Intern nutzte Chavinson die Parteiorganisation der TASS, die ihm ergeben war, als Kampfarena gegen Doleckij; als Hetz- und Einschüchterungsmittel diente die permanente Suche nach Trotzkisten und Verdächtigten. Doleckij, der seine Machtstellung immer zu verteidigen wusste, setzte sich zur Wehr: In seinen Briefen an die Parteiführung sprach er von der „Desorganisationsarbeit“ seines Stellvertreters76 , drohte mit dem Rücktritt und verlangte, dass „der kranke, verrückte Chavinson sofort entlassen werden sollte“.77 Richtig erkannte der Leiter der TASS, dass der

72 Chavinson an die Sekretäre des ZK, Stalin, Kaganovič, Andreev, Ždanov, Kopie an den Leiter der Presseabteilung des ZK, Tal, Januar 1937, GARF 4459/38/86/63. 73 Ebd., 56. 74 Ebd., 55. 75 Ebd., 54. 76 Doleckij an den Sekretär des ZK, Andreev, Kopien an Stalin, Molotov, Kaganovič, Ždanov und Ežov, 10.02.1937, RGASPI 82/2/907/13. 77 Doleckij an den Sekretär des ZK, Andreev, 02.02.1937, GARF 4459/38/87/152; Doleckij an den Sekretär des ZK, Andreev, Kopien an Stalin, Molotov, Kaganovič, Ždanov, Ežov, 10.02.1937, GARF 4459/38/87/141.

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entfesselte Chavinson eine Rückendeckung hatte: „irgendwelche vom Politbüro ihm erteilten Sonderprivilegien“.78 Über die Machtfrage sollte zunächst am 16. Februar 1937 im Sekretariat des ZK unter Anwesenheit der Sekretäre Andreev und Ždanov entschieden werden. Chavinson vermied es aber, die Entscheidung auf einer so hohen Parteiebene zu suchen, und die Sitzung fand nicht statt. Seine Hetze und seine Suche nach „Feinden“ gingen aber weiter. Es war eine typisch stalinistische Inquisitionspraxis, die darin bestand, potentielle Opfer im Ungewissen zu lassen und sie durch Machtkämpfe und Verdächtigungen physisch und psychisch zu zermürben. Doleckij adressierte am 16. März 1937 einen Brief an Stalin, in dem Chavinson und dem Leiter der Presseabteilung des ZK, Boris Tal, eine Machtintrige vorgeworfen wurde.79 Der Diktator antwortete aber nicht. Inzwischen beeinträchtigten die Säuberungen in der Auslandsabteilung der TASS die Nachrichtenproduktion: Im März 1937 fehlten fünf Redakteure und drei europäische Sektoren blieben ohne Leitung. Noch dramatischer war die Situation im Auslandsapparat, dessen 15 Büros vakant wurden.80 Ende April 1937 beschwerte sich Doleckij zum letzten Mal über die „Desorganisationsarbeit“ Chavinsons und bot seinen Rücktritt an.81 Das „Drama“ des Machtkampfes in der TASS wurde schließlich in der Nacht vom 10. auf den 11. Juni 1937 beendet: Als die Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes an der Wohnungstür von Doleckij standen, nahm er sich das Leben.82 Chavinson übernahm sofort die kommissarische Führung der TASS, die über zwei Jahre andauerte. Erst im Dezember 1939 ernannte das Politbüro ihn formal zum verantwortlichen Leiter der TASS83 , was darauf hindeutet, dass Stalin von der Führungskompetenz Chavinsons nicht unbedingt überzeugt war. Die ersten Entscheidungen des kommissarischen Leiters betrafen die Weiterführung von Säuberungsmaßnahmen: Mitte Juni 1937 informierte er Stalin darüber, dass man in den nächsten Tagen gezwungen sein werde, „die Leute in der Auslandsredaktion zu entlassen, die kein Vertrauen verdienen“.84 Drei Monate später berichtete Chavinson

78 Vgl. Doleckij an den Sekretär des ZK, Andreev, Kopien an Stalin, Molotov, Kaganovič, Ždanov und Ežov, 10.02.1937, GARF 4459/38/87/141. 79 Doleckij an Stalin, 16.03.1937, GARF 4459/38/87/140. 80 Doleckij an Stalin und Andreev, 31.03.1937, GARF 4459/38/87/158 f. 81 Doleckij an den Sekretär des ZK, Andreev, 30.04.1937, GARF 4459/38/87/137. 82 Diese Version des Todes von Doleckij geht auf den gut informierten Korrespondenten der „New York Times“ in Moskau, Louis Fischer, zurück: Louis Fischer, Men and Politics. An Autobiography, London 1941, S. 415. Das genaue Datum des Selbstmordes ist unbekannt, wird von mir aber auf die Nacht des 11.06.1937 datiert, weil Doleckij am 10.06. zum letzten Mal in seinem Dienstbüro erschien. Vgl. Schejngeit, Der Mann, der die sowjetische Auslandsberichterstattung organisierte, S. 86. 83 Der Beschluss des Politbüros vom 04.12.1939, „Über Chavinson“, RGASPI 17/3/1016/173. 84 Chavinson an Stalin, 19.06.1937, GARF 4459/38/87/32.

Die TASS in der Zwischenkriegszeit: Führungskader und Strukturwandel

Mechlis, dem neuen Leiter der Propagandaabteilung, über seine „Erfolge“: 13 Mitarbeiter der Auslandsabteilung seien entlassen worden, gegen fünf weitere liefe ein Prüfverfahren. Auch der Leiter der Auslandsabteilung, Lazar Berezov, der im Frühjahr 1937 vom NKID in die TASS wechselte, musste um sein Leben bangen. Seine „gute Beziehung zu den Volksfeinden“ Štern und Nazaretjan weckte großen Verdacht.85 Im Herbst 1937 befand sich die INO-TASS in der größten Personalkrise seit ihrem Bestehen: 14 Stellen blieben unbesetzt.86 „Wir haben im Zentralapparat der TASS eine große Säuberungsarbeit durchgeführt“, verkündete Chavinson im März 1938 vor Vertretern der Parteiführung stolz und er versprach, weiter nach „nicht entlarvten Elementen“ zu suchen, die „dem Umbau der TASS auf bolschewistische Gleise entgegenarbeiten“.87 Aus seiner Korrespondenz mit dem Staatssicherheitsdienst wird ersichtlich, dass diverse Überprüfungsverfahren bis 1941 liefen und das eigentliche Zeitfenster des Großen Terrors überschritten. Die Rolle, die Chavinson bei den „Säuberungen“ in der TASS spielte, beschränkte sich keineswegs nur auf die Vollstreckung von Parteidirektiven bzw. die Erfüllung von Vorgaben. Er war Antreiber, ergriff ständig Initiativen, suchte energisch nach „Feinden“, verlangte „sorgfältige Überprüfungen“ und drängte die politische Führung, „Entlassungen zu beschleunigen“.88 Die Gesamtbilanz der Säuberungsmaßnahmen im Zentralapparat der TASS lässt viele Fragen offen. Es gibt keine Statistiken und selbst die Eckdaten des Terrors stehen nicht fest. Nach meiner Einschätzung wurde etwa die Hälfte der Redakteure durch die stalinistische Inquisition beseitigt. Interne Untersuchungsprotokolle veranschaulichen, welcher Anklagen sich die Säuberungsmaschinerie bediente: Die Opfer des Terrors wurden als „Trotzkisten“, „Volksfeinde“ oder „Spione“ etikettiert und beschimpft. Man beschuldigte sie, Beziehungen zu Trotzkisten, zu bereits entlarvten Volksfeinden, verhafteten Verwandten oder allgemein zum Ausland zu haben. Auch eine Verwandtschaft außerhalb der sowjetischen Grenzen weckte Verdacht und Misstrauen.89 Der Große Terror als Social Engineering führte nur partiell zum gewünschten Ergebnis: Er beseitigte nicht das, was Stalin am meisten fürchtete – die soziale

85 Chavinson an den Leiter der Presseabteilung des ZK VKP(b), Mechlis, 19.09.1937, GARF 4459/38/87/43 f. 86 Die Liste der vakanten Stellen in der INO-TASS, September 1937, GARF 4459/38/87/50. 87 Chavinson auf der TASS-Konferenz unter Beteiligung von Vertretern des ZK VKP(b), des NKID und der Zentralzeitungen, 31.03.1938, GARF 4459/11/979/7, und am 02.04.1938, ebd., 156. 88 Vgl. Chavinson an Mechlis, Oktober 1937, GARF 4459/38/87/3. Vgl. auch sein Schreiben an den Sekretär des ZK, Andreev (01.09.1937), in dem er die Entlassung und in ihrer Konsequenz auch die Verurteilung des TASS-Korrespondenten in Polen, Postnikov, forderte. GARF 4459/38/87/33. 89 Die Liste der entlassenen Personen im Rahmen der Säuberung des TASS-Apparates, September 1937, GARF 4459/38/87/47 f.

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und kulturelle Ambivalenz. Auch nach 1938 entsprachen die Sozialisationsmuster und biographischen Erfahrungen vieler TASS-Mitarbeiter nicht dem Idealbild der Parteiführung. Im Dezember 1940 eröffnete der Staatssicherheitsdienst ein Prüfverfahren gegen 16 führende Mitarbeiter der INO-TASS, darunter auch den Leiter der Auslandsabteilung, David Monin, weil sie angeblich etliche Loyalitätsdefizite aufwiesen90 , die dem Anklagekatalog der Jahre 1937/1938 ähnlich waren: Erstens, die TASS-Journalisten hatten eine „falsche“ soziale Herkunft, das heißt, sie stammten entweder aus bürgerlichen Familien oder gehörten zu „Kulaken“; zweitens, sie hatten lange im Ausland gelebt; drittens, sie hatten Verwandte im Ausland; viertens, sie hatten Verwandte, die verhaftet worden waren, und schließlich – als das schlimmste Vergehen –, sie hielten Kontakte zu „Volksfeinden“. Chavinson blieb insgesamt sechs Jahre lang an der Spitze der TASS, bis er im Juni 1943 durch Nikolaj Palgunov (1898–1971), einen erfahrenen Journalisten und Diplomaten, ersetzt wurde.91 Dieser Machtwechsel markierte eine Rückkehr zum professionellen Medienmanagement: Palgunov hatte zwischen 1931 und 1940 als TASS-Korrespondent aus Teheran, Helsinki und Paris berichtet, von 1940 bis 1943 hatte er die Presseabteilung des NKID geleitet. Am Wandel von Sozialisationsmustern und Führungsstilen der Leiter der TASS kann man den Prozess der ‚Stalinisierung‘ des sowjetischen Journalismus gut beobachten. Verkörperte Doleckij noch einen bürgerlichen Typus des Nachrichtenmachers, der Fremdsprachen fließend sprach und welterfahren war, so gehörte Chavinson zu einer neuen Generation, die in der Sowjetunion sozialisiert worden war und stalinistische Weltbilder internalisiert hatte. Im Unterschied zu seinem Vorgänger war Palgunov, der aus einer Bauernfamilie stammte, kein Parteibürokrat und ‚Schreibtischtäter‘, sondern ein Spezialist, der durch seine Arbeitsamkeit die Bildungs- und Aufstiegschancen des bolschewistischen Zivilisationsprojektes nutzte. Die Tabelle 2 fasst die Unterschiede in den Führungsstilen von Doleckij, Chavinson und Palgunov zusammen. Der Klassifizierung liegt das von Peter Walgenbach und Alfred Kieser entwickelte Modell „Menschenbilder und Koordination“ zugrunde, dem zufolge technokratisch orientierte Organisationsgestalter eine Koordination durch Programmierung und Planung bevorzugen, demokratisch orientierte die Selbstabstimmung und autoritäre die Koordination durch persönliche Weisungen.92

90 Vgl. das Verzeichnis der Mitarbeiter des Zentralapparates der TASS (Stand 03.12.1940), das der Leiter der Geheimabteilung der TASS, Pašenko, seinem Schreiben an den Leiter der 1. Abteilung des GUGB NKVD beilegte, 13.12.1940, GARF 4459/38/104/247-254. 91 Vgl. die Beschlüsse des Politbüros vom 19.06.1943, „Über den verantwortlichen Leiter der TASS“, RGASPI 17/3/1047/85, und vom 27.06.1943, „Über den Genossen Chavinson“, RGASPI 17/3/1048/7. 92 Alfred Kieser/Peter Walgenbach, Organisation, 6. Aufl., Stuttgart 2010, S. 186.

Die TASS in der Zwischenkriegszeit: Führungskader und Strukturwandel

Tabelle 2 Die Leiter der TASS und ihre Führungsstile Die Leiter der TASS

Führungsstile

Jakov Doleckij (1921–1937)

technokratisch/demokratisch

Jakov Chavinson (1937–1943)

autoritär/technokratisch

Nikolaj Palgunov (1943–1960)

autoritär/technokratisch

Quelle: Eigene Darstellung.

In der Zwischenkriegszeit fanden in der TASS mehrere Organisations- und Strukturreformen statt. Die wichtigste war die vom November 1934, als der Rat der TASS aufgelöst und der Kompetenzbereich des verantwortlichen Leiters erweitert wurde. „Die Führung der TASS“, so hielt das Politbüro fest, „wird eigenhändig vom verantwortlichen Leiter verwirklicht“.93 Doleckij erhielt auch die Befugnis, die Abteilungsleiter einzusetzen.94 Dieser Strukturwandel entsprach der Organisationskultur des Stalin-Systems, die das Ein-Mann-Führungsprinzip auf Kosten kollegialer Entscheidungsformen privilegierte. 1934 wurden in allen Volkskommissariaten die Kollegien abgeschafft und auch das Politbüro fungierte nicht mehr als Forum für die kollektive Entscheidungsfindung. Die Reform der TASS von 1934 bedeutete auch eine Hyperzentralisierung von Informationspraktiken: Das halbherzige Zugeständnis an die republikanischen Telegraphenagenturen, das ihnen 1925 noch erlaubt hatte, eigene Sonderkorrespondenten ins Ausland zu entsenden, wurde zurückgenommen.95 Der Große Terror, der die stalinistische Diktatur in Despotie verwandelte, markierte zwei Strukturveränderungen im TASS-Apparat. Erstens, im August 1937 schuf Chavinson einen „Sektor für Informationen nicht für die Presse“96 , der ihm direkt unterstand und von der redaktionellen Programmierung der INO-TASS abgekoppelt war (vgl. Abb. 3). Die neue Struktureinheit, die das Geheimbulletin „Nicht für die Presse“ zusammenstellte, verkörperte die Institutionalisierung von Geheimhaltungsparanoia, der das Stalin-System 1937 endgültig erlag. Im Februar 1939, nach einer langen Konsolidierungsphase, wurde der Sektor in „Büro für Internationale Informationen der TASS“ umbenannt. Zweitens, es erfolgte eine bemerkenswerte Aufwertung der Geheimabteilung, die in der TASS seit Anfang der 1930er Jahre existierte und für die Einhaltung von internen Geheimhaltungsvorschriften zuständig war. Sie entwickelte sich zu einer omnipräsenten Überwachungsinstanz, die mit dem Staatssicherheitsdienst eng kooperierte und ihr wachsames Auge selbst

93 Der Anhang zum Beschluss des Politbüros vom 09.11.1934, „Über die TASS“, RGASPI 17/3/954/79. 94 Die Redaktionsleiter wurden bereits seit 1925 vom Leiter der TASS ernannt. Vgl. die entsprechende Verfügung vom 06.02.1926, GARF 4459/17/5/98. 95 Der Beschluss des Politbüros vom 09.11.1934, „Über die TASS“, RGASPI 17/3/954/32 u. 79. 96 Chavinson an Stalin und Ežov, 02.08.1937, GARF 4459/38/87/64 f.

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Die TASS als Medium der Auslandsberichterstattung im sowjetischen Informationssystem

Abbildung 3 Vereinfachte Darstellung der TASS-Struktur von 1937/1938 Quelle: Eigene Darstellung.

auf den Leiter der TASS richtete. Im Statut der Geheimabteilung von 1940 hielt man fest, dass sie „eine systematische Kontrolle über Zirkulation, Bearbeitung und Aufbewahrung“ von Auslandsinformationen ausüben sollte, die als geheim eingestuft wurden.97 Das bedeutete nichts anderes, als dass die Geheimabteilung fast die gesamte Kommunikation in der TASS überwachte. Die zweite große Reorganisation der TASS wurde im Mai/Juni 1940 ins Auge gefasst, im Frühjahr 1941 intensiv diskutiert, konnte aber bis zum Kriegsbeginn am 22. Juni 1941 nicht realisiert werden. Vor dem Hintergrund der Kriegsgefahr strebte die politische Führung an, die gesamte Informations- und Propagandapolitik zu zentralisieren, wofür ein „Koordinationszentrum“ bzw. ein „Volkskommissariat für Informationen“ geschaffen werden sollte. Als Vorbilder dienten das britische Informationsministerium und der Propagandaapparat des Dritten Reiches.98 Wie Chavinson Stalin und Molotov erläuterte, hatte die neue Institution die Aufgabe, „im Falle eines Krieges gegen die kapitalistische Einkreisung“ die informationspolitische Mobilmachung der Sowjetgesellschaft in Gang zu setzen.99 Entsprechende Maßnahmen waren in der TASS bereits angelaufen: Im Juni 1940 stellte die Sowjetregierung Mittel für einen Bunkerbau im TASS-Gebäude am Tverskoj Bulvar bereit, in dem die modernste Kommunikationstechnik und bis zu 45 Mitarbeiter untergebracht werden sollten.100 97 98 99 100

Das Statut der Geheimabteilung, 1940, GARF 4459/38/104/201. Chavinson an Stalin und Ždanov, Kopie an Molotov, 12.02.1941, RGASPI 17/121/94/18 ff. Chavinson an Stalin, Molotov, Ždanov, 12.02.1941, GARF 4459/38/115/10 ff. Chavinson an Molotov, 21.05.1940, und der Beschluss des SNK vom Juni 1940, GARF 5446/24a/423/5-8.

Die TASS und ihr institutionelles Umfeld: Gestaltungsräume und Einflussebenen

In diversen Reorganisationsentwürfen, die der Leiter der TASS der politischen Führung präsentierte, tauchte der künftige Propagandaapparat unter verschiedenen Namen auf: als „das Sondervolkskommissariat“, „das Komitee beim SNK“101 , „das Ministerium für Information und Propaganda“ oder als „Zentrales Informationsbüro beim SNK“.102 Aber auch im Kreml, dessen Propagandapolitik von „unkoordinierten, auseinanderstrebenden ideologischen Vektoren der verschiedensten Art“103 bestimmt wurde, herrschte offensichtlich keine Klarheit darüber, wie die mediale Mobilmachung am besten zu organisieren war. Als die Wehrmacht am 22. Juni 1941 die sowjetische Grenze überschritt, gab es in der Informationspolitik der Stalin-Diktatur einen erheblichen Reformstau. Im Schnelltempo, bereits am 25. Juni 1941, schuf die Parteibürokratie das Sowjetische Informationsbüro (SOWINFORMBÜRO), das zwar an die Ideen von Chavinson anknüpfte, aber im Ganzen als eigenständige Leistung anzusehen ist. Dem Leiter der TASS wurde die Führung der Abteilung für Gegenpropaganda anvertraut104 , eine Aufgabe, die seiner Sozialisationserfahrung wohl am besten entsprach.

1.3 Die TASS und ihr institutionelles Umfeld: Gestaltungsräume und Einflussebenen Die TASS als Weltbeobachter hatte eine doppelte Funktion: Täglich informierte sie ihr Publikum über die neuesten Entwicklungen im Ausland und lenkte Aufmerksamkeit auf bestimmte Problemfelder der Weltpolitik. Der Leiter der Auslandsabteilung der „Pravda“, Isaak Eruchimovič, verglich die INO-TASS mit „dem höchsten Turm“, von dem man „weiter und besser sehen“ könne „als von irgendeiner anderen Plattform“.105 Das mediale Auslandsbild, das die TASS konstruierte, war eine Orientierungsmatrix, die in Anlehnung an Bernard Cohen als „ein Atlas von Politikmöglichkeiten, Alternativen und Chancen“ beschrieben werden kann.106

101 Chavinson an den Leiter der Abteilung für Propaganda und Agitation des ZK, Aleksandrov, 25.12.1940, RGASPI 17/125/57/33. 102 Vgl. den Entwurf über ein Zentrales Informationsbüro beim SNK, 25.04.1941, RGASPI 17/125/57/25-28. 103 Vgl. Benno Ennker, Stalin-Regime 1939–1941: Politische Lähmung im Angesicht der kommenden Katastrophe, in: Bianka Pietrow-Ennker (Hg.), Präventivkrieg? Der deutsche Angriff auf die Sowjetunion, Frankfurt a.M. 2000, S. 140 ff. 104 Vgl. den Entwurf über die Struktur und das Personal des sowjetischen Informationsbüros, 25.06.1941, RGASPI 17/125/47/1. 105 Die Ansprache des Leiters der Auslandsabteilung der „Pravda“, Eruchimovič, auf der TASSKonferenz unter Beteiligung von Vertretern der Zentralzeitungen, der Presseabteilung des ZK und des NKID, 02.04.1938, GARF 4459/11/979/124. 106 Bernard C. Cohen, The Press and Foreign Policy, Princeton 1963, S. 13.

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Die TASS als Medium der Auslandsberichterstattung im sowjetischen Informationssystem

Aber die TASS war nicht nur eine Informationsinstanz, die den gesellschaftlichen Orientierungsbedarf befriedigte. Sie war ein politischer Akteur, der kognitive Schemata und das Problembewusstsein der Entscheidungselite beeinflusste. Die Redakteure der INO-TASS waren sich ihrer politischen Gestaltungsrolle durchaus bewusst: Sie sprachen von der „operativen Bedeutung“ ihrer Meldungen und gingen davon aus, dass redaktionelle Entscheidungen die Weltbilder der politischen Führung präfigurierten.107 Diese Einschätzung entspricht weitgehend dem Befund, den Kai Hafez in seinem Theorieentwurf zur Auslandsberichterstattung präsentiert. Seiner Meinung nach beruht „der prägende Einfluss der Nachrichtenagenturen“ auf Auslandsbilder von Rezipienten in der „Vorstrukturierung von Ereignissen und Themen“ sowie in der „Einflussnahme auf die Textgestaltung“.108 Die Nachrichtenproduktion in der TASS vollzog sich in einem gesellschaftlichen Kontext, dessen Wirklichkeits- und Sinnhorizonte maßgeblich von anderen Institutionen und Akteuren bestimmt wurden. Unter der Prämisse der „Verschränkung von Medien und Politik“109 wird die Auslandsberichterstattung als ein gemeinsames Unternehmen verstanden, das durch ein reziprokes Wirkungsverhältnis geprägt war. Einerseits beeinflusste die TASS mediale Weltbilder ihres Publikums, andererseits erzeugten politisch-diplomatische und medial-gesellschaftliche Publikumserwartungen einen latenten Druck auf die Selbstprogrammierung der Auslandsabteilung. Im Falle der Sowjetunion, die eine Diktatur mit einem verbindlichen Wertesystem und einer sakrosankten ‚Generallinie‘ war, kann man davon ausgehen, dass mediale Codierungen an politische Vorgaben gebunden waren und einer strengen sozialen Kontrolle unterlagen. Bevor man entsprechende Determinationsmechanismen beschreibt, soll zunächst das institutionelle Umfeld der TASS definiert werden: Ihm gehörten die Parteiführung, das Narkomindel, die Regierung und die Sowjetpresse an. Eine wichtige Nuance ist darin zu sehen, dass Erwartungen dieser Akteure sowohl in ihrer sachlichen als auch in ihrer temporalen Dimension differierten, sodass man auf keinen Fall von einem homogenen Publikumsbild der TASS ausgehen darf. Die Auslandsredaktion stand vor einem Dilemma: Sie musste einerseits ihre Entscheidungsprogramme auf Erwartungen der außenpolitischen Elite ausrichten, die bestrebt war, mit Hilfe von ‚objektiven‘ Informationen ihre Unsicherheit zu reduzieren und ihren Orientierungsbedarf zufriedenzustellen; andererseits hatte die INO-TASS die mediale Öffentlichkeit mit ihren spezifischen Interessen zu be-

107 Der Redakteur des Fernost-Sektors, Breman, auf der Konferenz der INO-TASS, 28.08.1934, GARF 4459/11/638/48. 108 Vgl. Hafez, Die politische Dimension, S. 95. 109 Winfried Schulz, Politische Kommunikation. Theoretische Ansätze und Ergebnisse empirischer Forschung, 3. Aufl., Wiesbaden 2010, S. 36. Vgl. auch Kai Hafez, Die Auslandsberichterstattung, in: Siegried Weischenberg (Hrsg.), Handbuch Journalismus und Medien, Konstanz 2005, S. 24.

Die TASS und ihr institutionelles Umfeld: Gestaltungsräume und Einflussebenen

rücksichtigen, deren Sinnfilter primär auf die gesellschaftliche Mobilisierung und Legitimation ausgerichtet waren. Das Publikumsbild der TASS kann als eine dynamische Erwartungsstruktur verstanden werden, die von verschiedenen institutionellen Interessen geprägt war. Letztere kollidierten oft und führten nicht nur im außenpolitischen Entscheidungsprozess, sondern auch in der Praxis der medialen Bedeutungsproduktion zu „bizarren Konfigurationen“.110 Ein markantes Beispiel dafür war die Zäsur von 1929, als Stalin die ‚Revolution von oben‘ forcierte und die sowjetischen Massenmedien ihre Mobilisierungskampagne einleiteten. In der TASS fand eine Neuprogrammierung statt, die die Auslandsberichterstattung an das semantische Repertoire des gesellschaftlichen Mobilisierungsdiskurses anpasste. „Die Rekonstruktion der Arbeit der INO-TASS“ hatte zum Ziel, so die interne Erklärung, „die Bedürfnisse der Sowjetpresse bei der Beleuchtung internationaler Fragen“ und die „Parteilinie“ besser zu berücksichtigen.111 Die Sowjetdiplomaten mussten auf ihre tradierten Kontrollund Gestaltungsansprüche weitgehend verzichten. Dies führte aber keinesfalls zur Eindeutigkeit, im Gegenteil: Die Ambivalenz der redaktionellen Weltprogrammierung wuchs noch mehr, wie ich im Kapitel 1.5 zeige. Man kann insgesamt drei Ebenen identifizieren, auf denen die Akteure aus dem institutionellen Umfeld der TASS die Auslandsberichterstattung beeinflussen konnten: Alimentierung, Kaderpolitik und Redaktionsprogrammierung (vgl. Tab. 3). Tabelle 3 Die TASS und potentielle Einflussbereiche ihres „Publikums“ Kaderpolitik

Finanz- und Strukturpolitik

Redaktionelle Entscheidungsprogramme







Parteiführung Rat der Volkskommissare NKID Moskauer Zentralpresse

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Quelle: Eigene Darstellung.

Die Sowjetregierung, der der Leiter der TASS rechenschaftspflichtig war und regelmäßig Berichte erstattete112 , legte jährlich das Budget und die Sonderausgaben

110 So Oleg Ken und Alexander Rupasov in Bezug auf die Verflechtung diverser institutioneller Interessenlagen im außenpolitischen Entscheidungsprozess: Politbjuro ZK VKP(b), S. 534. 111 Beschluss der Sitzung der Abteilungsleiter nach dem Bericht von Zaks-Gladnev über die Arbeit der INO-TASS, 24.01.1930, GARF 4459/11/372/11. 112 Das Statut der TASS vom Juli 1925, GARF 4459/11/19/4. Die entsprechende Passage, die die Rechenschaftspflicht festschrieb, wurde im publizierten Statut absichtlich ausgelassen, um nach außen die

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der sowjetischen Nachrichtenagentur fest. Auch alle Struktur- und Kaderreformen mussten mit dem Rat der Volkskommissare abgestimmt werden, dessen Entscheidungen primär von Kosten- und Sparkalkülen diktiert wurden. Die zweite Einflussebene war die Kaderpolitik, die in die Kompetenz des Parteiapparates fiel. 1934 gehörten 100 Stellen in der TASS zur „Nomenklatura“113 , einem Personenkreis, dessen Ernennung dem Sekretariat der Partei vorbehalten war. Die nach dem „Nomenklatura“-Prinzip organisierte Personalpolitik war ein effizienter Mechanismus der Loyalitätsherstellung und ermöglichte dem Kreml, den gesamten Sowjetjournalismus zu lenken.114 Die politische und die institutionelle Nähe des TASS-Apparates zur Parteiführung war aber im Vergleich zu den Massenzeitungen „Pravda“ und „Izvestija“ weniger ausgeprägt (vgl. Kap. 3.3); auch der Grad der Sozialkontrolle über die Sowjetdiplomatie unterschied sich gegenüber der TASS signifikant: Im NKID gehörten bereits 1924 45,6% des gesamten Kaders zur Nomenklatura.115 Für die Kaderpolitik in der TASS waren vor allem das Sekretariat der Partei und die Abteilung für Kultur und Propaganda des ZK zuständig, das Politbüro setzte formal den Leiter der TASS und die Mitglieder des Rates ein. Es bestätigte aber immer wieder die Entscheidungen des Sekretariats, die die Ernennung der Stellvertreter des Leiters, des Leiters der Auslandsabteilung und der Auslandskorrespondenten betrafen.116 So billigte das Politbüro am 17. Mai 1933 den Beschluss des Organisationsbüros des ZK, die TASS-Standorte in Berlin, Stockholm und Warschau neu zu besetzen.117 In einem anderen Fall ordnete die „Instanz“ an, den TASS-Korrespondenten in London, Andrew Rothstein, provisorisch zu entlassen; dieser Entscheidung war eine Beratung mit Doleckij vorausgegangen.118 Die dritte Einflussebene gehörte in den Bereich des informationspolitischen Kontextes: Die Partei, die Regierung, die Diplomatie und die Massenmedien waren Informationsapparate, die eigene institutionelle Präferenzen und Weltprogrammierungen (verstanden als ein Repertoire an Selektions- und Interpretationsmustern)

113 114 115 116

117 118

Neutralität der TASS zu demonstrieren. Vgl. der Volkskommissar für Auswärtige Angelegenheiten, Čičerin, an den SNK der UdSSR, 27.05.1925, GARF 4459/11/3/54. GARF 4459/11/644/2. Der gesamte Redaktionskader der Moskauer Massenmedien gehörte zur Nomenklatura. Vgl. die Sitzung des Sekretariats vom 01.03.1929, RGASPI 17/113/707/84. Knoll, Das Volkskommissariat, S. 113. Diese Stellen fielen formal in die kaderpolitische Hoheit des Sekretariats der Partei. Vgl. das Protokoll Nr. 103 der Sitzung des Sekretariats vom 01.03.1929, „Über die Nomenklatura“, RGASPI 17/113/707/83. Beschluss des Politbüros vom 17.05.1933, „Über die TASS-Korrespondenten im Ausland“, RGASPI 17/3/923/14. Doleckij an A. Rothstein, Kopie an den sowjetischen Botschafter in London, Rosengolc, GARF 4459/38/11/33.

Die TASS und ihr institutionelles Umfeld: Gestaltungsräume und Einflussebenen

hatten. Das Verhältnis der TASS zu diesen Institutionen wird in den einzelnen Kapiteln behandelt. Hier ist auf grundlegende Ressourcen hinzuweisen, die ihnen zur Verfügung standen, um in die Auslandsberichterstattung gestalterisch einzugreifen (vgl. Tab. 4). Tabelle 4 Das institutionelle Umfeld der TASS und seine Informationsressourcen Institutionen

Informationsressourcen

Das Politbüro und der Parteiapparat

1) Die Presseabteilung des ZK 2) Das Büro für Internationale Informationen (1932–1936)

Das NKID

1) Die Presseabteilung 2) Die Abteilung für Diplomatische Informationen in Berlin (1920–1927) 3) Die Botschafter

Die „Pravda“ und die „Izvestija“

1) Die Auslandskorrespondenten 2) Die Auslandsredaktionen

Die Regierung

(Keine)

Quelle: Eigene Darstellung.

Es waren nicht der Parteiapparat und die Regierung, die das mediale Auslandsbild – thematisch und inhaltlich – systematisch beeinflussten, sondern das Narkomindel und die Moskauer Zeitungen „Pravda“ und „Izvestija“. Diese verfügten über eigene Beobachter im Ausland und Expertenstäbe in Moskau, die es möglich machten, an Prozessen medialer Themenbildung zu partizipieren und sogar eigene ‚Nachrichtenkarten‘ zu entwerfen. Sabine Dullin, die die Institutionsgeschichte der sowjetischen Diplomatie in den 1930er Jahren untersuchte, kommt zu dem Schluss, dass nicht Stalin, sondern der Volkskommissar für Auswärtige Angelegenheiten, Litvinov, einen besseren Überblick über Auslandsinformationen hatte, die das Machtzentrum durch verschiedene Kanäle erreichten.119 Dem aktuellen Forschungsstand zufolge verfügte weder das Politbüro noch das Sekretariat der Partei über institutionelle Ressourcen, die es ihnen ermöglicht hätten, die Auslandsberichterstattung zu kontrollieren bzw. eigene Auslandsanalyse zu betreiben.120 Funktionelle Kandidaten dafür, die Presseabteilung bzw. der Pressesektor des ZK, waren personalmäßig schwach und mussten ein breites Aufgabenspektrum bewältigen.121

119 Dullin, Men of Influence, S. 20. 120 Vgl. Ken/Rupasov, Politbjuro ZK VKP(b), S. 550. 121 Zu ihrer Organisationsstruktur vgl. K. Eimermacher, Instituty upravlenij kulturoj v period stanovlenija. 1917–1930. Partijnoe rukovodstvo; gosudarstvennye organy upravlenija: Schemy, Moskau 2004, S. 23–50.

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Die TASS als Medium der Auslandsberichterstattung im sowjetischen Informationssystem

Als zwei Sonderakteure sind die Abteilung für Diplomatische Informationen (1920–1927) in Berlin und das Büro für Internationale Information (1932–1936) im Kreml anzusehen. Sie gehörten nicht zum primären Publikum der TASS und waren selbst in der Lage, das Weltbewusstsein der politischen Führung zu beeinflussen. Die Abteilung für Diplomatische Informationen (ODI, russisch otdel diplomatičeskoj informacii) wurde von Pavel Lapinskij (Michalskij) geleitet, dem mehrere talentierte Publizisten zur Seite standen, wie Stefan Rajevskij, Jacques Sadoul, Joseph Arens oder Georgij Astachov. „Die Aufgabe unserer Abteilung bestand darin, die umfassendsten Informationen aus allen möglichen Quellen zu besorgen“, erinnerte sich ihr Leiter zu Beginn des Großen Terrors.122 Zu diesen Quellen zählten die gesamte europäische Presse sowie zahlreiche publizistische und wissenschaftliche Neuerscheinungen im Bereich von Politik und Wirtschaft. Die „Abteilung“ verfügte außerdem über ein europaweites Informantennetzwerk und hatte gute Kontakte zu diplomatischen Kreisen. Die ODI publizierte Presseübersichten, Lageanalysen und Reportagen, die an das NKID, das Politbüro und die Komintern verschickt wurden. Der geographische Fokus der Berichterstattung richtete sich primär auf Europa, thematisch wurden alle Facetten der internationalen Politik erfasst und behandelt. Die Abteilung für Diplomatische Informationen unterstand direkt der Führung des NKID, pflegte aber auch Kontakt zur Parteielite: Lapinskij korrespondierte regelmäßig mit Stalin und erledigte seine Nachfragen.123 Rajevskij, der als bester „Kenner Polens“ galt, reiste mehrmals nach Warschau, um geheime Aufträge des Politbüros auszuführen.124 Wie sehr die Expertise von Lapinskij geschätzt wurde, zeigt eine Diskussion zwischen ihm und Stalin, in der es um das ehrgeizige Projekt ging, eine zentrale Instanz zur Auswertung von Auslandsinformationen zu schaffen.125 Die ODI erarbeitete sich in der Tat ein großes Renommee. Karl Radek versicherte Lenin, dass ihre Berichte qualitativ an die diplomatische Auslandsanalyse heranreichen würden.126 Čičerin ging noch weiter, als er behauptete, dass „alle Informationen der Botschafter so viel wert sind wie das Informationsmaterial der Abteilung“.127 In seinem politischen „Testament“ bezeichnete er die ODI nostalgisch als „eines der besten Produkte unseres Systems“.128

122 123 124 125 126 127 128

Pavel Lapinskij an Molotov, 08.09.1936, RGASPI 671/1/51/91. Lapinskij an die Sekretäre Stalins, Tovstucha und Rošal, 17.09.1926, RGASPI 17/85/138/32. Vgl. Lapinskij an Molotov, 08.09.1936, RGASPI 671/1/51/91. Lapinskij an Stalin, 24.03.1925, RGASPI 558/11/759/4. Radek an Lenin, März 1922, RGASPI 5/2/249/13. Čičerin an Molotov, 27.03.1925, RGASPI 159/2/1/70. Čičerins „Notizen für Kujbyšev“, Juli 1930, in: Vestnik Archiva Prezidenta Rossijskoj Federacii 6 (1995), S. 105.

Die TASS und ihr institutionelles Umfeld: Gestaltungsräume und Einflussebenen

Im Unterschied zur ODI befand sich das Büro für Internationale Informationen (BMI, russisch bjuro meždunarodnoj informacii) in Moskau und unterstand direkt Stalin.129 Die Geschichte des BMI ist die Geschichte der wechselvollen Beziehung zwischen dem sowjetischen Führer und Radek. Alles begann 1930, als Stalin den ehemaligen Trotzkisten begnadigte und aus der Verbannung nach Moskau zurückholte.130 Die Sowjetunion erlebte zu diesem Zeitpunkt eine ihrer schwersten Krisen: Die forcierte Industrialisierung und die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft führten zu Aufständen, Hungersnöten und einem millionenfachen Zustrom von Bauern in die Städte, auf den das Regime unvorbereitet war. Außenpolitisch bestimmten die Szenarien der unmittelbaren Kriegsgefahr die Weltwahrnehmung im Kreml und in den Massenmedien. Hinzu kam ein stark gestörtes Verhältnis zwischen Stalin und Litvinov: Der Volkskommissar für Auswärtige Angelegenheiten wurde in einer Reihe mit Bucharin als „Opportunist“ beschimpft und mit dem Vorwurf der „Germanophilie“ konfrontiert.131 Die Schaffung des BMI spiegelte offenbar eine Krise in der Beziehung zwischen Diplomatie und Parteiführung wider, die sowohl dem Vertrauensproblem als auch konzeptionellen Differenzen entsprang.132 In Karl Radek fand Stalin einen brillanten Publizisten und loyalen Gehilfen, der sich in der Weltpolitik gut auskannte und fähig war, hinter die „Kulissen“ des diplomatischen Spiels zu schauen.133 Am 1. April 1932 erklärte der sowjetische Führer im Politbüro, dass er ein „Informationsbüro beim ZK für internationale Fragen mit Radek an der Spitze“ schaffen möchte.134 Am 16. Mai 1932 trat das Statut des Büros für Internationale Informationen in Kraft135 , das seine Tätigkeit im Sommer 1932 aufnahm und „zu einer zentralen Schaltstelle der politikberatenden

129 Die Geschichte des BMI ist noch nicht hinreichend erforscht worden. Die beste Darstellung: Ken, Karl Radek. 130 Vgl. den Beschluss des Politbüros vom 10.04.1930, „Der Brief des Genossen Radek“, RGASPI 17/163/828/103. Bereits im August 1930 wurde Radek in das Redaktionskollegium der „Izvestija“ aufgenommen. Vgl. den Beschluss des Politbüros, „Über Radek“, 16.08.1930, RGASPI 17/163/844/94. 131 Stalin an Molotov, 01.09.1929, in: L. Košeleva (Hrsg), Pis’ma I. V. Stalina V. M. Molotovu, 1925–1936. Sbornik dokumentov, Moskau 1995, S. 158, und Kaganovič an Stalin, 16.09.1931, in: Chlevnjuk (Hrsg.), Stalin i Kaganovič, S. 107. 132 Viktor Knoll spricht von einer „anhaltenden Vertrauenskrise“ und „permanenten Konflikten“ zwischen der Parteiführung und den Diplomaten. Vgl. Knoll, Das Volkskommissariat, S. 136. 133 Radek an Stalin, 22.07.1931, RGASPI 558/11/789/28. 134 Der Beschluss des Politbüros vom 01.04.1932, „Über das Informationsbüro“, RGASPI 17/163/935/105. 135 Der Beschluss des Politbüros vom 16.05.1932, „Über das Informationsbüro“, RGASPI 17/162/12/143 f. Abgedruckt in: Ken/Rupasov, Politbjuro CK VKP(b), S. 566–568.

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Die TASS als Medium der Auslandsberichterstattung im sowjetischen Informationssystem

Auslandsanalyse“ avancierte136 . Das BMI als „informationsanalytische Superstruktur“137 hatte die Aufgabe, das gesamte Informationsmaterial, das diversen sowjetischen Institutionen zur Verfügung stand, zusammenzufassen und auszuwerten. Zur „Nachprüfung“ war ein „stationärer Stab von Reisekorrespondenten“ vorgesehen, die als „Beobachter“ im Rahmen spezieller Aufträge ins Ausland entsandt werden konnten.138 Im Fokus der Lageanalysen und Berichte des BMI stand das Beziehungsdreieck Berlin–Warschau–Moskau, aber auch die japanische Expansion im Fernen Osten fand große Beachtung. Am brisantesten war wohl, dass Radek nicht nur ein persönlicher Berater Stalins war, sondern auch dessen diplomatischer „Agent“, der mehrmals nach Warschau reiste, um dort zu sondieren.139 Im Frühjahr 1934 begann sich der politische Bedeutungsverlust des BMI abzuzeichnen: Die polnisch-sowjetische Annäherung, die Radek befürwortet hatte, scheiterte; Litvinov, der eine wichtige Rolle bei der Aufnahme der diplomatischen Beziehungen zu den USA spielte, gewann wieder das Vertrauen der politischen Führung, die seinem sicherheitspolitischen Konzept in Europa ausdrücklich zustimmte.140 Das BMI büßte, wie das Politbüro am 19. Mai 1934 festlegte, seine Beratungsfunktion vollständig ein. Es hatte nun hauptsächlich die Aufgabe, die Auslandspresse auszuwerten und entsprechende Informationsübersichten für das „Zentralkomitee“ der Partei zusammenzustellen.141 Die Abteilung für Diplomatische Informationen in Berlin und das Büro für Internationale Informationen im Kreml erweiterten den Informationshorizont der politischen Führung erheblich. Sie agierten aber nicht als direkte Konkurrenten der TASS. Ihren Informationsverarbeitungsprogrammen lag nicht das Aktualitätsprinzip des Nachrichtenjournalismus zugrunde, sondern eine profunde und zeitintensive Auswertung diverser Informationsquellen. Die ODI und das BMI verfügten außerdem über relativ kleine analytische Stäbe: Radek standen zum Beispiel

136 Knoll, Das Volkskommissariat, S. 81. 137 Ken, Karl Radek, S. 153. 138 Der Beschluss des Politbüros vom 16.05.1932, „Über das Informationsbüro“, in: Ken/Rupasov, Politbjuro CK VKP(b), S. 567. 139 Vgl. Ken, Karl Radek, S. 151 u. 166. Niels Rosenfeldt zufolge erstreckte sich der geographische Horizont der Berichterstattung des BMI auf Polen, Deutschland, Frankreich, Großbritannien und Ostasien. Vgl. Niels Rosenfeldt, The „Special“ World. Stalin’s Power Apparatus and the Soviet System’s Secret Structures of Communication, Kopenhagen 2009, Bd. 1, S. 210. 140 Vgl. den Beschluss des Politbüros vom 19.12.1933, „Über Frankreich“, in: G. Adibekov (Hrsg.), Politbjuro CK RKP(b)-VKP(b) i Evropa. Rešenija „osoboj papki“. 1923–1939, Moskau 2001, S. 305 f. 141 Der Beschluss des Politbüros, „Über das Informationsbüro“, 19.05.1934, RGASPI 17/162/16/61 f. Abgedruckt in: Ken/Rupasov, Politbjuro CK VKP(b), S. 574. Die „Bulletins“ der TASS wurden dabei ausdrücklich als eine der Informationsquellen genannt.

Die TASS und ihr institutionelles Umfeld: Gestaltungsräume und Einflussebenen

nur zwei Gehilfen sowie eine geringe Zahl von technischen Mitarbeitern (Übersetzer, Schreibkräfte) zur Seite.142 Auch die Dichte ihrer Berichterstattung konnte an das Informationsangebot der TASS nicht heranreichen: Radek präsentierte Stalin 1933 durchschnittlich zwei Berichte in der Woche.143 Eine Sonderrolle im System der sowjetischen Auslandsberichterstattung kam der Presseabteilung des NKID zu, die journalistische Publikationsentscheidungen koordinierte und diese an außenpolitische Kalküle und Zwecksetzungen anpasste.144 Als Vermittlungsinstanz zwischen diplomatischen und medialen Weltsichten war sie in der Lage, die Themenstruktur des medialen Auslandsbildes und redaktionelle Selektionsentscheidungen zu beeinflussen. Die kommunikative Nähe zum journalistischen Bereich ist gut an der Kreuzung von Karrierewegen abzulesen: Die Auslandsjournalisten der TASS bzw. der ROSTA, Joseph Arens, Konstantin Umanskij und Nikolaj Palgunov, wurden zu den Leitern der Presseabteilung. Sie alle erfüllten Voraussetzungen, die die diplomatische Führung erwartete: Journalistische Erfahrung, Kenntnis von Fremdsprachen (vor allem Deutsch, Englisch und Französisch) und kommunikative Kompetenz waren aus Sicht von Litvinov unentbehrlich.145 Die Presseabteilung des NKID war nicht nur eine Koordinationsinstanz, sondern auch ein „analytisches Zentrum“146 , das die Auslandspresse systematisch und nach thematischen Gesichtspunkten auswertete. Entsprechende Informationsübersichten konkurrierten wiederum nicht mit der Berichterstattung der TASS, sondern dienten der diplomatischen Führung als Zusatzquelle für ihre Lageanalysen.147 Čičerin hielt das Orientierungsangebot der Presseabteilung für nützlich, weil es zeitliche Entlastung garantierte148 , und Litvinov war der Meinung, dass die Presseabteilung „in politischer Hinsicht genauso wichtig ist wie die TASS selbst“.149

142 Knoll, Das Volkskommissariat, S. 135; Rosenfeldt, The „Special“ World, S. 214. 143 Vgl. die Berichte des BMI, die sich im Sekretariat des Stellvertreters des Leiters des NKID, Krestinskij, befinden: AVP RF 010/7/23a/6. 144 Vgl. als ein Praxisbeispiel die Ausführungen des Leiters der Presseabteilung des NKID, Evgenij Gnedin, „Über die Rede Hitlers“, 26.02.1938, AVP RF 82/22a/72/5/23. 145 Litvinov an Stalin, Kopien an Molotov, Vorošilov, Kaganovič, Ordžonikidze, 14.01.1936, AVP RF 05/16/114/1/17 f. 146 Ken/Rupasov, Politbjuro CK VKP(b), S. 541. 147 „Die Zusammenstellung der Übersichten der Auslandspresse“ gehörte zur formellen Aufgabe der Presseabteilung. Vgl. das Statut des NKID vom 1934, GARF 5446/22a/1437/18. 148 Čičerins „Notizen für Kujbyšev“, Juli 1930, S. 104. 149 Litvinov an den Sekretär des ZK, Andreev, 15.02.1937, AVP RF 05/17/126/1/53.

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Die TASS als Medium der Auslandsberichterstattung im sowjetischen Informationssystem

1.4 Die Auslandsabteilung der TASS: Binnenstruktur und Redaktionskader Die Auslandsabteilung der TASS bestand aus zwei Redaktionen: der „Redaktion für ausgehende Informationen für das Ausland“, die das Ausland über Ereignisse in der Sowjetunion informierte, und der „Redaktion für eintreffende Informationen“, die im Zentrum der Untersuchung steht und kurz – stellvertretend für die gesamte Abteilung – als die INO-TASS (inostrannyj otdel TASS) bezeichnet wird. Sie war die Stabsstelle der sowjetischen Auslandsberichterstattung. Rund um die Uhr – per Telegraph und Post – trafen in ihr Auslandsmeldungen aus allen Teilen der Welt ein, die schnellstens übersetzt und zu Nachrichten umgestaltet wurden. Die Aktualitätsherstellung war ein zentrales Moment der redaktionellen Programmierung, das die Entscheidungslogik und die Entscheidungspräferenzen in der INO-TASS maßgeblich bestimmte.150 Tabelle 5 Die Anzahl der Mitarbeiter der INO-TASS, 1931–1940 1931/1932

1933/1934

1935/1936

1937/1938

1939/1940

22

24

29/30

33/38

47/70

Quelle: GARF 4459/11 und 17.

Die dritte funktionale Struktureinheit der Auslandsabteilung war das Sekretariat, das zwei Hauptfunktionen erfüllte: 1. Es stellte die Verbindung zur „Außenwelt“, den Moskauer Massenmedien sowie den Partei- und Staatsinstitutionen, her und 2. es verwaltete das Archiv der INO-TASS, das als eine Art institutionelles Gedächtnis fungierte. Im Sekretariat wurden interne Statistiken zusammengestellt, die über quantitative und qualitative Aspekte der Auslandsberichterstattung wichtige Aufschlüsse gaben.151 Das Sekretariat unterstand direkt dem verantwortlichen Leiter der TASS und ermöglichte diesem, Prozesse der Nachrichtenproduktion zu beobachten und zu kontrollieren.152 In der Forschung existiert Konsens darüber, dass die redaktionelle Binnenstruktur, die Spezialisierungs- und Aufgabenbereiche festlegt, als eine Art Bedeutungsgenerator fungiert. Sie steuert „die nachrichtenwertliche Interpretation gesammelter Informationen“153 und konditioniert auf diese Weise die Strukturmerkmale des

150 Zu den Aufgaben und Funktionen der Auslandsabteilung der TASS vgl. das Verwaltungsstatut der TASS vom 06.02.1926, GARF 4459/17/5/89 ff. 151 GARF 4459/17/5/89 ff. 152 GARF 4459/11/3/146. 153 Vgl. Hafez, Die politische Dimension, S. 89.

Die Auslandsabteilung der TASS: Binnenstruktur und Redaktionskader

medialen Auslandsbildes.154 Man kann auch sagen, dass die Redaktionsstruktur ein Sinnbild für institutionell stabilisierte kognitive Schemata ist, mit denen die Welt beobachtet und das Weltwissen organisiert wird.155 Ich gehe zunächst auf Spezialisierungsprozesse in der INO-TASS ein, beschreibe dann formale Hierarchien und Kompetenzteilungen und zeige schließlich, wie redaktionelle Koordinationsmechanismen und Prüfprogramme funktionierten und angewandt wurden. Das aktuelle Kapitel untersucht institutionelle Rahmenbedingungen der Nachrichtenproduktion, das, was Stuart Hall als mediale „Produktionsverhältnisse und -praktiken“156 bezeichnet. Den wichtigsten Strukturwandel in der INO-TASS stellte die Ausdifferenzierung der Sektoren dar, die den redaktionellen Spezialisierungsprozess institutionalisierte und journalistische Professionalisierungstendenzen maßgeblich beschleunigte. Die Idee der redaktionellen Spezialisierung nach territorialem Prinzip tauchte zum ersten Mal im Januar 1930 auf, als die Führung der INO-TASS die ‚Welt‘ in einzelne geographische Bezirke aufteilte und diese den Redakteuren zuordnete.157 Die Zuweisung erfolgte primär nach Fremdsprachenkenntnissen. Der Redakteur Akos Nagy, der Ungarisch (Muttersprache) und Chinesisch beherrschte, war zum Beispiel für „China, Indochina, Indonesien, Ungarn und Rumänien“ zuständig; der Redakteur Palgunov, der Französisch sprach, bearbeitete Meldungen aus Frankreich, Belgien, Griechenland und der Türkei. Im August 1930 setzte die Führung der TASS ihren „Kurs auf eine enge Spezialisierung“ fort und fasste ins Auge, die Auslandsabteilung „nach dem Prinzip der Sektorenbildung“ zu reorganisieren (po principu razbivki na sektora).158 Im ersten Entwurf figurierten lediglich drei Sektoren: „West, Ost und Amerika“.159 Im Januar 1931 präsentierte man einen differenzierteren Spezialisierungsplan, der folgende Aufmerksamkeitsbezirke konstituierte: „England und Kolonien“, „Frankreich und Kolonien“, „Deutschland“, „Polen und westliche Grenzstaaten“, „Zentraleuropa“,

154 Vgl. Jürgen Wilke, Konstanten und Veränderungen der Auslandsberichterstattung, in: Christina Holtz-Bacha (Hrsg.), Wie die Medien die Welt erschaffen und wie die Menschen darin leben, Opladen 1998, S. 44. 155 Vgl. Schulz, Politische Kommunikation, S. 97. Vgl. auch Klaus Meier, Redaktion, in: Weischenberg (Hrsg.), Handbuch Medien und Journalismus, S. 395: „Die Einteilung der Welt in Politik, Wirtschaft, Kultur, Sport und Lokales ist die Wahrnehmungsstruktur des (Nachrichten-)Journalismus“. 156 Vgl. Stuart Hall, Kodieren/Dekodieren, in: Ralf Adelmann/Jan Hesse/Judith Keilbach (Hrsg.), Grundlagentexte zur Fernsehwissenschaft: Theorie – Geschichte – Analyse, Konstanz 2001, S. 106 f. 157 Das Protokoll der Sitzung der leitenden Troika der INO-TASS, 03.01.1930, GARF 4459/11/352/10. 158 Vgl. den Beschluss der Sitzung der Abteilungsleiter der TASS vom 26.08.1930, GARF 4459/11/372/78 f. 159 Vgl. den Bericht des Leiters der INO-TASS, B. Kocyn, „Über die Arbeit der INO-TASS“, 25.08.1930, GARF 4459/11/355/7.

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Die TASS als Medium der Auslandsberichterstattung im sowjetischen Informationssystem

„Nordamerika“, „Lateinamerika“, „Fernost“, „Nahost“, „Indien“, „die Weltkrise“, „der Völkerbund“ und „internationale politische Probleme“.160 Die Spezialisierung nach dem geographischen Prinzip setzte sich schließlich im September 1931 durch, als die INO-TASS in mehrere „Ländergruppen“ aufgeteilt wurde. Acht Monate später, im Mai 1932, wurden sie in die Sektoren umbenannt (vgl. Tab.6). Tabelle 6 Die Sektoren der INO-TASS, 1932–1941 1932–1938

November 1938

1939–1941

1) Der britisch-amerikanische Sektor

1) Der Sektor für Nord- und Südamerika

1) Der britische Sektor (Der englische Sektor)

2) Der Ostsektor

2) Der Sektor für England und Dominien

2) Der amerikanische Sektor

3) Der zentraleuropäische Sektor (Der erste europäische Sektor)

3) Der Sektor für baltische und skandinavische Länder

3) Der französisch-italienische Sektor (Der romanische Sektor)

4) Der romanische Sektor (Der zweite europäische Sektor)

4) Der Sektor für mitteleuropäische Länder

4) Der mitteleuropäische Sektor

5) Der Sektor für Fernostländer

5) Der fernöstliche Sektor

6) Der Sektor für Nahostländer

6) Der nahöstliche Sektor

7) Der Sektor für romanische Länder

7) Der baltische Sektor 8) Der Balkansektor

Quelle: GARF 4459/11 und 38.

Von 1932 bis 1938 existierten innerhalb der INO-TASS vier Sektoren, deren Aufmerksamkeitsgeographie wie folgt aussah: 1. Der britisch-amerikanische Sektor bearbeitete Nachrichten aus dem Britischen Empire, Ägypten, Palästina, Liberia, den Philippinen, Nord- und Südamerika; 2. der „Ostsektor“ war für Japan mit Kolonien, China, die Mongolei, Siam, den Iran, Afghanistan sowie „die Arabische Halbinsel“ zuständig; 3. der erste europäische Sektor (bis November 1934 „der zentraleuropäische Sektor“) berichtete über Deutschland, Polen, die baltischen Staaten, Skandinavien, die Tschechoslowakei, Jugoslawien, Rumänien, Österreich, Ungarn, Bulgarien, Griechenland, Albanien, die Türkei, die Niederlande und Luxemburg;

160 Der Arbeitsplan der INO-TASS für das Jahr 1931, Januar 1931, GARF 4459/11/444/6.

Die Auslandsabteilung der TASS: Binnenstruktur und Redaktionskader

4. der zweite europäische Sektor (bis November 1934 „der romanische Sektor“) informierte über „Frankreich mit Indochina, Syrien, Algerien, Tunesien, Marokko und anderen Kolonien“ sowie Belgien mit Kolonien, Spanien, Portugal, Italien mit Kolonien, Abessinien und die Schweiz. Die Sektorenbildung war die wichtigste Strukturreform der INO-TASS in der Zwischenkriegszeit. Sie stellte die institutionelle Antwort auf die gewachsene Weltkomplexität dar, die mit der Neuprogrammierung von 1929 verbunden war, als die TASS sich vom Einfluss des NKID emanzipierte und dem Mobilisierungsdiskurs der Massenmedien anschloss. Vor allem der Wegfall der täglichen diplomatischen Kontrolle verschärfte das Problem der politischen Steuerung der Auslandsberichterstattung: Die INO-TASS suchte offenbar danach, die Entscheidungsunsicherheit durch Spezialisierung in den Griff zu bekommen. Es ist bemerkenswert, dass die Redakteure ihre „politischen Fehler“ auf „eine falsche Organisation der Redaktionsarbeit“ zurückführen wollten.161 Eine Praxis, bei der „sich alle mit allem beschäftigen“, galt als überholt und ineffizient: Sie steigerte die Fehlerquote und die Entscheidungskontingenz.162 Angesichts des fehlenden Kontakts zur politischen Führung sah man im Spezialisierungsprozess sogar eine Art „Rettung“.163 Die Spezialisierung zielte primär darauf ab, ein Expertenwissen zu generieren und die Entscheidungsunsicherheit zu absorbieren. Die Sektorenstruktur spiegelte weitgehend die geographische und politische Aufmerksamkeitsverteilung wider, die der kognitiven Weltkarte der INO-TASS zugrunde lag. Es gab mehrere Versuche und Reformen, um die Sektorenstruktur zu optimieren und mit den außenpolitischen Interessen der Sowjetunion besser in Einklang zu bringen. Bereits im Dezember 1933 avisierte der Leiter der Auslandsabteilung, David Ichok, die Schaffung des fünften Sektors der INO-TASS, der für Nahost- und Balkanländer zuständig sein sollte.164 Im November 1936 beschäftigte man sich mit der Frage, wie die europäische Politik in medialer Hinsicht differenzierter erfasst werden konnte: Man beabsichtigte die Schaffung der Sektoren für Mittel- und Westeuropa sowie Ost- und Nordeuropa.165 161 Vgl. die Ansprache des Redakteurs Izakson auf der Konferenz der INO-TASS, 18.06.1931, GARF 4459/11/443/53. Doleckij teilte diese Ansicht und meinte auch, dass „allen Fehlern organisatorische Prämissen zugrunde liegen“. Ebd., 77. 162 Die Ansprache des Redakteurs der INO-TASS, Ilinskij, auf der Konferenz der INO-TASS, 11.06.1931, GARF 4459/11/443/29. 163 Die Ansprache des Redakteurs Lukjanov auf der Konferenz der INO-TASS, 18.06.1931, GARF 4459/11/443/57. 164 Vgl. D. Ichok: „Einige Überlegungen über die Arbeit der INO-TASS“, 02.12.1933, GARF 4459/11/579/2. 165 Vgl. den Entwurf über die Reorganisation des Zentralapparates der TASS, November 1936, GARF 4459/11/768/9.

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Bei seinen Reforminitiativen knüpfte Chavinson an diese Überlegungen und Vorschläge an. Im Mai 1938 schrieb er Molotov, dass die bestehende Struktur der INO-TASS für „eine differenzierte Beobachtung einer Reihe von europäischen Ländern“ ungeeignet sei.166 Neu war seine Idee, vier europäische und zwei asiatische Sektoren zu bilden. Im November 1938 unterbreitete der Interimsleiter der TASS der Sowjetregierung einen Vorschlag zur Reorganisation der Sektorenstruktur der INO-TASS. Dieser wurde mit einigen Korrekturen angenommen: Die politische Führung verwarf die Idee, einen Sektor für „südosteuropäische Länder“ zu bilden, und initiierte hingegen die Schaffung eines Sektors für baltische und skandinavische Länder167 , was ihren außenpolitischen Präferenzen in dieser Zeit am meisten entsprach. Nach dem Münchner Abkommen lag das Baltikum, das der sowjetischen Sicherheitssphäre zugerechnet wurde, unbestritten im Hauptfokus des Kremls. Ende 1938 existierten in der INO-TASS folgende Sektoren: 1. „England und Dominien“; 2. „Amerikanische Länder“; 3. „Nahost“; 4. „Romanische Länder“; 5. „Fernost“; 6. „Mitteleuropäische Länder“; 7. „Baltische und skandinavische Länder“.168 Der „Sektor für Balkanländer“ wurde im September 1939, nach dem MolotovRibbentrop-Vertrag, gebildet, als sich die sowjetische Expansion in Richtung Südosteuropa abzeichnete.169 1940 wurde die INO-TASS in acht Sektoren aufgeteilt, deren Aufmerksamkeitsgeographie wie folgt aussah: 1. Der erste europäische Sektor: Polen, Litauen, Lettland, Estland, Finnland, Schweden, Norwegen und Dänemark; 2. der zweite europäische Sektor: Deutschland, die Tschechoslowakei, Ungarn, die Schweiz und die Niederlande; 3. der dritte europäische Sektor: Frankreich, Belgien, Italien, Spanien, Portugal, Luxemburg und die französischen Kolonien; 4. der vierte europäische Sektor: Jugoslawien, Albanien, Griechenland, Bulgarien und Rumänien; 5. der englische Sektor: „England und seine Kolonien“;

166 Vgl. Chavinson an den Vorsitzenden des Rates der Volkskommissare, Molotov, 22.05.1938, GARF 4459/11/971/38. Vgl. auch die Vorschläge von Chavinson an Molotov und Čubar, 15.08.1937, GARF 5446/22/3694/13. 167 Vgl. die faktische Sektorendifferenzierung im November 1938, GARF 4459/17/68/340 ff. 168 Der Jahresbericht der TASS für das Jahr 1938, 13.04.1939, GARF 5446/23/2089/34. 169 Die Anordnung Nr. 110 vom 25.09.1939, GARF 4459/17/78/202.

Die Auslandsabteilung der TASS: Binnenstruktur und Redaktionskader

6. der Nahostsektor: die Türkei, der Iran, Afghanistan, „der arabische Osten“, Ägypten und Indien; 7. der Fernostsektor: Japan, China, die Mandschurei, die Mongolei, niederländische Kolonien und japanische Inseln; 8. der amerikanische Sektor: die USA und Südamerika.170 Die Sektoren der INO-TASS fungierten als „operative Einheiten“, die „die aktuelle und allumfassende Berichterstattung über alle Fragen der Innen- und Außenpolitik“ ihres geographischen Zuständigkeitsbereiches verwirklichten. Sie trugen auch entscheidend dazu bei, die redaktionelle Agenda auszuarbeiten.171 Das mediale Auslandsbild, das in den Sektoren konstruiert wurde, ging über den Beobachtungshorizont der Auslandskorrespondenten hinaus: Die Führung der TASS stellte den Sektoren explizit die Aufgabe, „neue Quellen zu erschließen“ und den geographischen Fokus der Auslandsberichterstattung zu erweitern.172 Die der Sektorenbildung zugrunde liegende Spezialisierung auf einzelne Weltregionen und Länder trug entscheidend zur Ausbildung des Expertenwissens bei. Die Redakteure der INO-TASS wurden zu Spezialisten, deren Meinungen und Deutungen nicht nur die TASS-Führung, sondern auch die politische Elite der Sowjetunion zur Kenntnis nahm und schätzte. Die Spezialisierung wurde explizit als Qualitätsmanagement verstanden. Man war überzeugt, dass sie die Sachkompetenz der Redakteure und ihre Entscheidungssicherheit steigerte.173 „Die Erfahrung zeigt“, berichtete Chavinson im Dezember 1940 dem Stellvertreter des Leiters der Abteilung für Propaganda und Agitation des ZK, Aleksej Puzin, dass „die Genauigkeit der Auslandsinformationen direkt davon abhängt, wie gut ein Redakteur das Land seiner Spezialisierung kennt“.174 Die Spezialisierung erwies sich aber als ein ambivalenter Prozess. Sie trug einerseits zum kognitiven Wachstum der Redaktion bei, erforderte andererseits eine größere Koordinationsleistung: Die Kompetenzabgrenzung zwischen einzelnen Sektoren und der INO-TASS als Gesamtredaktion war nicht immer klar definiert; die Sektoren tendierten grundsätzlich dazu, als Einzelgänger zu agieren, was die Ausbildung einer einheitlichen Redaktionslinie gefährdete.175 Um ihre Selbstpro-

170 Chavinson an den stellvertretenden Leiter des SNK, Čubar, o.D., GARF 4459/11/996/60. 171 Die Anordnung Nr. 2 vom 08.03.1941 über die INO-TASS-Redaktion, GARF 4459/38/15/84. 172 Vgl. den Beschluss des Leiters der TASS, „Über die Arbeit der INO-TASS“, 07.09.1934, GARF 4459/11/634/37. 173 Vgl. den Bericht des Leiters der Auslandsabteilung der TASS, L. Berezov, 01.04.1938, GARF 4459/11/979/105. 174 Chavinson an den Stellvertreter des Leiters der Verwaltung für Propaganda und Agitation des ZK, Puzin, 14.12.1940, RGASPI 17/125/57/102. 175 Vgl. Doleckij auf der Konferenz der INO-TASS, 28.08.1934, GARF 4459/11/638/61 ff.

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Die TASS als Medium der Auslandsberichterstattung im sowjetischen Informationssystem

grammierung unter Kontrolle zu halten und die Defragmentierung des Nachrichtenbildes zu verhindern, musste man zwischen sektoralen Programmierungen abstimmen und ihrer Abkoppelung von gesamtredaktionellen Zwecksetzungen entgegenwirken. Dafür nutzte man vor allem vertikale Koordinationsmechanismen: Leitende Redakteure und die Redaktionsführung verbrachten viel Zeit damit, „die Kontinuität und Komplexität“ der Auslandsberichterstattung, vor allem bezüglich „großer internationaler Probleme“, zu sichern.176 Jede Person, die in die INO-TASS aufgenommen wurde, lernte zunächst, redaktionelle Mitgliedsrollen und -regeln zu kennen und zu internalisieren. Eine zentrale normative Erwartung, die an die Mitarbeiter der Auslandsabteilung gestellt wurde, lag in der Anerkennung redaktioneller Entscheidungshierarchie, die maßgeblich dazu beitrug, die redaktionelle Integration nach innen und die Abgrenzung nach außen zu gewährleisten.177 Die redaktionelle Hierarchie, „das Grundgerüst jeder hierarchischen Organisation“178 , legte relativ feste Verhaltenserwartungen und Entscheidungskompetenzen fest. Die Abbildung 4 veranschaulicht die Struktur der vertikalen Befugnis- und Aufgabenverteilung in der INO-TASS. An der Spitze der INO-TASS stand der Redaktionsleiter, der für „die tägliche operative Führung“ zuständig war.179 Er bestimmte auch maßgeblich strategische Entscheidungen, wie die Festlegung der Redaktionslinie und die Ausarbeitung thematischer Pläne.180 Der Redaktionsleiter fungierte gleichzeitig als Gatekeeper- und als Prüfinstanz: Er sichtete alle eintreffenden Auslandstelegramme und legte den Dringlichkeitsgrad ihrer Bearbeitung fest und übte am Ende des Gestaltungsprozesses „die redaktionelle Kontrolle über das gesamte druckfertige Informationsmaterial“ aus.181 Der Redaktionsleiter trug die Hauptverantwortung für die Qualität der Auslandsmeldungen, die die INO-TASS publizierte. Begangen Redakteure gravierende Fehler, die als „politisch“ eingestuft wurden, mussten nicht nur sie, sondern auch ihr Vorgesetzter mit ernsthaften disziplinarischen Konsequenzen rechnen. Ein Beispiel dafür stellt die im November 1935 erfolgte Degradierung des Leiters der INO-TASS, Boris Kocyn, zum stellvertretenden Leiter dar.182 Der dritte wichtige Aufgabenbereich des Redaktionsleiters umfasste Koordination und Beratung: Er

176 Vgl. die TASS-Anordnung Nr. 158 vom 02.04.1934, GARF 4459/17/28/46. 177 Vgl. Manfred Rühl, Organisatorischer Journalismus: Tendenzen der Redaktionsforschung, in: Max Kaase/Winfried Schulz (Hrsg.), Massenkommunikation: Theorien, Methoden, Befunde, Wiesbaden 1989, S. 315. 178 Vgl. Niklas Luhmann, Funktionen und Folgen formaler Organisation; mit einem Epilog, 4. Aufl., Berlin 1994, S. 209 sowie S. 34 ff. 179 Vgl. die TASS-Anordnung Nr. 158 vom 02.04.1934, GARF 4459/17/28/44. 180 Die TASS-Anordnung Nr. 158 vom 02.04.1934, GARF 4459/17/28/44. 181 Ebd. 182 Die TASS-Anordnung Nr. 679, 25.11.1935, GARF 4459/17/35/125.

Die Auslandsabteilung der TASS: Binnenstruktur und Redaktionskader

Abbildung 4 Vereinfachte Darstellung der redaktionellen Hierarchie der INO-TASS, Stand Dezember 1933 Quelle: GARF 4459/17/25/152.

stimmte Pläne und Arbeitsprogramme zwischen den einzelnen Sektoren ab und beriet regelmäßig die Redakteure, wenn sie sich bei unsicheren Entscheidungssituationen an ihn wandten.183 Der Redaktionsleiter, der selektierte, koordinierte und prüfte, bewältigte ein immenses Arbeitspensum und war mit seiner Redaktion rund um die Uhr verbunden. Im Februar 1940 betrug seine Dienstschicht zwischen zwölf und 15 Stunden.184 Auch recht umfangreich waren die Befugnisse der zwei Stellvertreter des Redaktionsleiters. Neben redaktioneller Planung, Koordinations- und Kontrollaufgaben waren sie für die Außenbeziehungen der Zentrale zuständig: Sie pflegten Kontakt zu Partei- und Staatsinstanzen und unterzogen die Berichterstattung der Auslandskorrespondenten einer kritischen Begutachtung. Zu ihrem Aufgabenbereich gehörte außerdem die Auswertung der Auslandspresse, die die INO-TASS abonnierte. Entsprechende Übersichten dienten als Zusatz- und Kontrollwissen.185 Ab August 1937 existierte in der INO-TASS die Stelle des „Schichtleiters“, der für „die Selektion, Vorbereitung der Endversion und Herausgabe“ von Auslandsnachrichten zuständig war.186 In der Rolle des „Schichtleiters“ agierte meistens einer der Stell183 184 185 186

Das Protokoll der Sitzung der leitenden Troika der INO-TASS, 27.11.1929, GARF 4459/11/352/2. Der Interimsleiter der TASS, Chavinson, an Molotov, 14.02.1940, GARF 4459/38/106/192. Das Protokoll der Sitzung der leitenden Troika der INO-TASS, 27.11.1929, GARF 4459/11/352/1. Vgl. die Reorganisationsvorschläge Chavinsons an Molotov und Tschubar, 15.08.1937, GARF 5446/22/3694/12.

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Die TASS als Medium der Auslandsberichterstattung im sowjetischen Informationssystem

Abbildung 5 Vereinfachte Darstellung der redaktionellen Hierarchie der INO-TASS, Stand Juli 1940 Quelle: GARF 5446/24a/3214/1 f.

vertreter des Redaktionsleiters (vgl. Abb. 5). Ab 1938 avancierten die Schichtleiter zu Schlüsselakteuren des redaktionellen Gestaltens: Sie sichteten und selektierten eintreffende Auslandstelegramme, legten die Priorität ihrer Bearbeitung sowie den Grad ihrer Geheimhaltung fest. Die Führung der TASS sah im Schichtleiter „einen echten Kommandeur seiner Dienstschicht“187 und übertrug ihm umfangreiche Kontrollfunktionen.188 Die Entscheidungsprozesse in der Auslandsabteilung zeichneten sich durch einen hohen Grad an Delegierung von Entscheidungskompetenzen aus. Zwischen 1929 und 1934 existierte in der INO-TASS ein kollegiales Gremium leitender Redakteure, die von ihrem Aufgabenbereich her de facto zur Redaktionsführung zählten. In der Gehaltshierarchie setzte man sie sogar auf eine Stufe mit dem Redaktionsleiter.189 Zu den leitenden Redakteuren gehörten besonders erfahrene Journalisten, deren Funktion darin bestand, die Redakteure zu beraten und Entscheidungsabläufe in der Redaktion zu koordinieren. Auf diese Weise trugen sie maßgeblich dazu bei, eine gemeinsame redaktionelle Linie zu wahren und bei Meinungsdifferenzen einen Mindestkonsens zu sichern. Sie wirkten auch am Prüfprogramm mit und waren für

187 Vgl. die TASS-Anordnung Nr. 122 vom 10.10.1940, GARF 4459/17/97/74. 188 Die Anordnung Nr. 2 vom 08.03.1941 über die INO-Redaktion, GARF 4459/38/15/87. 189 Der Leiter der INO-TASS, Ichok: „Einige Überlegungen über die Arbeit der INO-TASS“, 02.12.1933, GARF 4459/11/579/1. Das Institut der leitenden Redakteure wurde zum 25.01.1934 aufgelöst. Vgl. den Anhang zum Protokoll Nr. 58 der Organisationssitzung vom 25.01.1934, „Über die Unifizierung der Stellen in den Zentralapparaten der TASS und ROSTA“, GARF 4459/11/635/39. Die redaktionelle Hierarchie sah danach so aus: Der Redaktionsleiter → Die Stellvertreter des Redaktionsleiters → Die Leiter der Sektoren → Die Redakteure → Die Referenten → Die Sekretäre.

Die Auslandsabteilung der TASS: Binnenstruktur und Redaktionskader

„eine sorgfältige stilistische und politische Korrektur von Informationen“ zuständig, die die Redakteure der INO-TASS ihnen vorlegten.190 An der Spitze der Sektoren der INO-TASS standen die Sektorenleiter, zu deren „Führungsfunktion“ die Ausarbeitung thematischer Pläne, die Verteilung von Aufgaben, die Prüfung von übersetzten Auslandsmeldungen sowie die Beteiligung an der Korrespondenz mit den Auslandskorrespondenten gehörte.191 Die Redakteure der INO-TASS, deren Aufgabe darin bestand, Auslandsmeldungen zu übersetzen und „gegebenenfalls“ zu „erläutern“, waren die Hauptgestalter des medialen Auslandsbildes der Sowjetunion.192 Im Rahmen des redaktionellen Konsenshorizontes konnten sie gestalterisch und kreativ agieren. Als Spezialisten kontrollierten sie bestimmte Ungewissheitszonen im Prozess der Weltübersetzung und Welterklärung, worauf ihre Macht- und Interpretationsräume beruhten.193 Die Redakteure verstanden sich selbst als „politische“ Akteure, deren Entscheidungen im nationalen und transnationalen Diskurs von Bedeutung waren. „Die Arbeit der INO-TASS“, erinnerte der Redakteur Tauber seine Kollegen, „wird nicht nur in der Sowjetunion, sondern auch – und mit sehr großer Aufmerksamkeit – in der ganzen kapitalistischen Welt beobachtet“.194 Gegenüber den Auslandskorrespondenten verfügten die Redakteure über einen entscheidenden Zeitvorteil. Ihre Position am Ende der Entscheidungskette versetzte sie in die Lage, in die Berichte und Meldungen ihrer Kollegen im Ausland korrigierend eingreifen zu können. Der Gestaltungsumfang umfasste neben dem Übersetzen vor allem stilistische Korrekturen, Erklärungen und Kurzkommentare.195 Die Konstruktion der Weltnachrichtenkarte war ein schöpferischer Prozess, in dem individuelle Präferenzen und Einstellungen redaktionelle Selektionen und Sinngebungsprozesse beeinflussten. Um das subjektive Moment des redaktionellen Gestaltens einzuschränken, appellierte die Führung der TASS fortwährend an berufliche Objektivitätsnormen und die professionelle Ethik: „Die politische Verantwortung“ und „die Gewissenhaftigkeit“ der Redakteure fungierten als zentrale

190 Die TASS-Anordnung Nr. 158 vom 02.04.1934, GARF 4459/17/28/45. 191 Vgl. die Anordnung Nr. 2 vom 08.03.1941 über die INO-TASS-Redaktion, GARF 4459/38/15/84 f. 192 Der Beschluss der Sitzung der Abteilungsleiter der TASS nach der Anhörung des Berichtes des Leiters der Auslandsabteilung der TASS, Madjar, 07.09.1926, GARF 4459/11/3/103. 193 Zum Konzept der Kontrolle über die „Ungewissheitszonen“ in einer Organisation siehe Michael Crozier/Erhard Friedberg, Macht und Organisation: Die Zwänge des kollektiven Handelns, Königstein/Ts. 1979, S. 43 ff. 194 Vgl. die Ansprachen der Redakteure Izakson und Tauber auf der Konferenz der INO-TASS, 11.06.1931, GARF 4459/11/443/3 f. 195 Der Beschluss der Sitzung der Abteilungsleiter der TASS nach Anhören des Berichts des Leiters der Auslandsabteilung, Madjar, 07.09.1926, GARF 4459/11/3/104.

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Die TASS als Medium der Auslandsberichterstattung im sowjetischen Informationssystem

Schlagworte, die zu „Axiomen“ des journalistischen Handelns stilisiert wurden.196 Die Bedeutung individueller Überzeugungen im Prozess der Nachrichtenherstellung soll jedoch nicht überbewertet werden. Redaktionelle Entscheidungen – so die Bilanz der empirischen Studien – hängen in signifikanter Weise von formalen, prozeduralen und ökonomischen Voraussetzungen ab.197 Informationsverarbeitung wird durch Erwartungen und Programme der Organisation konditioniert, redaktionelle Entscheidungen sind an die Logik des sozialen Kontextes gekoppelt.198 Eine andere wichtige Säule, auf der die Konsensherstellung und die Homogenität von Wertvorstellungen ruhten, war die ideologische Konformität der Mitarbeiter der Auslandsabteilung. Sie wurde vor allem durch die Kaderpolitik der Parteiführung gesichert, die mehrere Versuche unternahm, den TASS-Apparat zu ‚kommunisieren‘, das heißt, die Anzahl der Kommunisten in der Redaktion zu erhöhen. Die erste Zäsur stellte die industrielle ‚Revolution von oben‘ Ende der 1920er Jahre dar, die dem Mobilisierungsjournalismus Vorschub leistete. Es ging um das Ersetzen bürgerlicher, parteiloser Spezialisten durch junge Menschen, die ideologisch absolut zuverlässig waren und beruflich sowie politisch in der Sowjetunion sozialisiert worden waren. Nikolaj Palgunov, der 1943 die Führung der TASS übernahm, gehörte zu dieser neuen Journalistengeneration der stalinistischen Mobilisierungsdiktatur. Die Mitgliedschaft in der bolschewistischen Partei war aber noch keine zwingende Voraussetzung für die Aufnahme in das Redaktionsteam: 1935/1936 war die Hälfte der Redakteure parteilos. Das Protokoll der „Überprüfung“ des redaktionellen Teams vom 22. Dezember 1934199 gewährt einen guten Einblick in den politischen und soziokulturellen Sozialisationshorizont der 30 Mitglieder der Auslandsabteilung, es erfasst alle redaktionellen Positionen – vom Redaktionsleiter bis zu Praktikanten. Die Tabelle 7 fasst die Auswertung der wichtigsten Daten zusammen.

196 Der Leiter der Auslandsabteilung, David Ichok, auf der Konferenz der INO-TASS, 11.06.1931, GARF 4459/11/443/38. 197 Vgl. Schulz, Politische Kommunikation, S. 105. 198 Vgl. Manfred Steffens, Das Geschäft mit der Nachricht. Agenturen, Redaktionen, Journalisten, Hamburg 1969, S. 277 f. 199 GARF 4459/38/39/59-63.

Die Auslandsabteilung der TASS: Binnenstruktur und Redaktionskader

Tabelle 7 „Profile“ der Mitarbeiter der Auslandsabteilung, Stand Dezember 1934 Ausgewählte Kriterien

Ergebnisse

Geschlecht

73% Männer/27% Frauen

Altersdurchschnitt

36 Jahre

Durchschnittliches Dienstalter

3 Jahre

Parteimitglieder

63%

Akademiker

65%

Bürgerliche Herkunft

80%

Früherer Auslandsaufenthalt

36%

Quelle: GARF 4459/38/39/59-63.

Das durchschnittliche Alter der Redaktionsmitglieder, das bei 36 Jahren lag, ist ein Indiz dafür, dass der redaktionelle Kader eine ausgewogene Mischung aus erfahrenen und jungen Mitarbeitern darstellte; das durchschnittliche Dienstalter lässt die Schlussfolgerung zu, dass die Kaderfluktuation relativ hoch war, wobei der Hauptgrund dafür vor allem in einem schlechten Verhältnis der Bezahlung zum Arbeitspensum zu sehen ist. Die Daten zur Parteimitgliedschaft, die das Protokoll festhält, sind unvollständig und müssen nach unten korrigiert werden: Im Dezember 1935 verfügten lediglich 44% der Redaktionsmitarbeiter über das Parteibuch200 , im Dezember 1936 waren es 50%.201 Die Angaben zur beruflichen Sozialisation und sozialen Herkunft verdeutlichen, dass die meisten Mitarbeiter der INO-TASS ihre journalistische Karriere bereits in den 1920er Jahren begonnen hatten und dem Idealbild eines ideologisch konformen, aus dem proletarisch-bäuerlichen Milieu stammenden Journalisten in keiner Weise entsprachen: 80% der Mitarbeiter waren bürgerlicher und 10% adliger Herkunft. Auch die Tatsache, dass 36% der Redaktionsmitglieder lange Zeit im Ausland gelebt hatten, erwies sich in der Zeit des Großen Terrors als fatal: Die INO-TASS wurde zur Zielscheibe von massiven Säuberungsmaßnahmen, die das Ziel hatten, eine sozial und kulturell homogene Journalistenelite zu formen. Der Große Terror als Politik des Social Engineering führte in der Tat zur nachhaltigen ‚Stalinisierung‘ des journalistischen Kaders. Im Erwartungskatalog vom Mai 1940 rangierte die parteipolitische Loyalität an erster Stelle: Als „Hauptbedingung für die Eignung zum redaktionellen Mitarbeiter“ wurde die Kenntnis des „Kurzen Lehrgangs der Geschichte des VKP(B)“ genannt; erst nach Erfüllung dieser Prämisse erwartete man von den Redakteuren auch das Wissen über die interna-

200 GARF 4459/17/36/161. 201 GARF 4459/17/46/248.

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Die TASS als Medium der Auslandsberichterstattung im sowjetischen Informationssystem

tionalen Beziehungen im 20. Jahrhundert und die Außenpolitik der Sowjetunion, die Fremdsprachenkompetenz sowie die journalistische Schreibfertigkeit.202 Die Verankerung stalinistischer Weltbilder in den Köpfen der TASS-Mitarbeiter kann als Politik der Loyalitätsherstellung verstanden werden, die das Ziel hatte, eine restlose Identifikation mit dem sowjetischen Zivilisationsprojekt und seinem Wertehimmel zu erreichen. Die Zäsur von 1937/1938 markierte auch einen grundlegenden Wandel biographischer Erfahrungen: Es gab immer weniger Redakteure, die im bürgerlichen Milieu sozialisiert worden waren, im Ausland gelebt oder studiert hatten und daher die Welt-Codierung des Stalin-Regimes kritisch hinterfragen konnten. Dabei entstand zwangsläufig ein dramatischer Konflikt zwischen ideologischer Zuverlässigkeit und Professionalismus, da die neuen Redakteure, die aus dem proletarischen und bäuerlichen Milieu stammten, über keine Erfahrung im Bereich der Auslandsberichterstattung verfügten. Exemplarisch kann man dies an einem Brief von Chavinson an den Leiter der Presseabteilung des ZK, Mechlis, zeigen. Es ging um den Leiter der Redaktion für Informationen für das Ausland, Černov, den man wegen angeblicher Defizite in seiner ideologischen Loyalität „entlassen“ wollte: Er hatte von 1930 bis 1935 als Auslandskorrespondent im Ausland gelebt und war mit einer Ausländerin verheiratet. Die Berufserfahrung und die professionelle Kompetenz – man schätzte Černov sehr als einen herausragenden Journalisten, der die Fremdsprachen „großartig“ beherrschte – reichten nicht mehr aus, um in der Redaktion zu bleiben. Gesucht wurde nach einem Nachfolger, der vor allem „politisch absolut zuverlässig“ seine sollte; erst dann kamen berufliche Qualitäten und Kompetenzen zur Geltung.203 Es gab drei grundlegende Voraussetzungen und Qualifikationskriterien, die man von den Redakteuren im untersuchten Zeitraum zwingend erwartete: Fremdsprachenkenntnisse, journalistische Fertigkeiten und politisches Wissen.204 Der Leiter der Administrationsabteilung, Grunin, fasste sie im April 1930 wie folgt zusammen: „Der Redakteur soll redigieren können, über einen politischen Wissenshorizont verfügen und Fremdsprachen beherrschen“.205 Andere positive Eigenschaften, die von der Führung der INO-TASS gepriesen wurden, waren die „Kenntnis“ der poli-

202 203 204 205

Die TASS-Anordnung Nr. 42 vom 22.05.1940, GARF 4459/17/95/229. Chavinson an den Leiter der Presseabteilung des ZK, Mechlis, 08.10.1937, GARF 4459/38/87/6. D. Ichok: „Einige Überlegungen über die Arbeit der INO-TASS“, 02.12.1933, GARF 4459/11/579/1. Das Protokoll Nr. 10 der Sitzung der Administrationsverwaltung der TASS, 18.04.1930, GARF 4459/11/353/28.

Die Auslandsabteilung der TASS: Binnenstruktur und Redaktionskader

tischen Weltkarte, Tüchtigkeit und Zuverlässigkeit206 , der „Meisterjournalismus“, „Schnelligkeit, Sorgfältigkeit und Wachsamkeit“.207 Gute Fremdsprachenkenntnisse galten als zentrale Schlüsselqualifikation für den Eintritt in die Auslandsabteilung. Man bezeichnete die Redakteure explizit als „Übersetzer“208 und erwartete von ihnen im Idealfall die Beherrschung des Französischen, Englischen und Deutschen209 , die jedoch selten vorlag: Durchschnittlich beherrschte ein Redakteur der INO-TASS zwei Fremdsprachen. Der redaktionelle Erwartungskatalog schloss darüber hinaus das stetige Erlernen und Verbessern von Fremdsprachen ein, wobei eine autodidaktische Bereitschaft vorausgesetzt wurde.210 Obwohl die INO-TASS über hochkarätige Fremdsprachenspezialisten verfügte, gehörte das Fremdsprachenproblem in der gesamten Zwischenkriegszeit zu den kritischen Fragen der redaktionellen Agenda. Insbesondere nach 1937/1938 fehlte es – infolge von Säuberungsmaßnahmen – an „politisch zuverlässigen“ Mitarbeitern mit guten Fremdsprachenkenntnissen, ganz prekär war die Situation in Bezug auf Chinesisch und Japanisch.211 Um die Redakteure zum Sprachenlernen zu motivieren, griff man in der TASS auf das Anreizmodell des NKID zurück212 , dem zufolge jede beherrschte Fremdsprache extra prämiert wurde. Am 6. November 1938 nahm die Sowjetregierung einen Vorschlag von Chavinson an und belohnte „die Kenntnis und Anwendung“ einer Fremdsprache mit einem Gehaltszuschlag von 20%, jede weitere Fremdsprache wurde mit 10% prämiert.213 Die drei erwähnten Qualifikationsmerkmale – die Kenntnis der Fremdsprachen, journalistische Erfahrung und politisches Wissen – fungierten als zentrale Distinktionskriterien, die die redaktionelle Hierarchie und die Verteilung von Entscheidungsbefugnissen strukturierten. Ab 1934 lagen sie der kategorialen Aufteilung 206 Die TASS-Anordnung Nr. 240, 26.04.1935, GARF 4459/17/33/41. Es ging um die Charakteristik des Redakteurs Lukjanov, der die TASS verlassen sollte. 207 So Doleckij über den Leiter der „Redaktion für ausgehende Informationen für das Ausland“, Kovalskij: Die TASS-Anordnung Nr. 680, 25.11.1935, GARF 4459/17/35/127. 208 Vgl. den Bericht des Leiters der INO-TASS, B. Kocyn, „Über die Arbeit der INO-TASS“, 25.08.1930, GARF 4459/11/355/8. 209 Der Entwurf der TASS-Anordnung Nr. 79 vom 16.02.1933, GARF 4459/17/23/97. Die Beherrschung von drei Fremdsprachen wurde spätestens 1929 zur normativen Erwartung erhoben: Vgl. die Sitzung des Sekretariats des ZK am 20.09.1929, Protokoll Nr. 154, RGASPI 17/113/777/53. 210 Das Protokoll Nr. 10 der Sitzung der Administrationsverwaltung, 18.04.1930, GARF 4459/11/353/28. 211 Der Beschluss der Konferenz der Sektorenleiter der INO-TASS, 03.06.1938, GARF 4459/38/15/o. A. 212 Vgl. Litvinov an Molotov, 11.04.1937, sowie der Stellvertreter des Leiters des SNK Čubar an Potemkin, 16.09.1937, GARF 5446/20a/892/7 u. 8. Das ‚Belohnungssystem‘ für Fremdsprachenkenntnisse trat ab Oktober 1937 in Kraft. 213 Der stellvertretende Leiter des SNK, Bolšakov, an Chavinson, 06.11.1938, GARF 4459/17/67/156; die TASS-Anordnung Nr. 42 vom 27.11.1938, GARF 4459/17/67/155.

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der Redakteure zugrunde, die bestimmte Erwartungen formalisierte und diese an eine leistungsgerechte Bezahlung koppelte (vgl. Tab. 8). Das Modell der kategorialen Aufteilung setzte sich gegen andere Konzepte der Qualitätssicherung und -bewertung durch, die im Zeitraum von 1931–1934 erprobt wurden: Es handelte sich zum einen um die Festlegung von Arbeitseinheiten, die als Leistungsindikatoren dienten, und zum anderen um die Berechnung von Fehlerquoten, die die Gehaltsabrechnung beeinflussten. Beide Modelle erwiesen sich jedoch als zu kompliziert und willkürlich und man gab sie nach kurzer Zeit auf.214 Tabelle 8 Die kategoriale Aufteilung der Redakteure der INO-TASS, Stand 29. März 1934 1. Kategorie

2. Kategorie

3. Kategorie

4. Kategorie

Gehalt in Rubel

350

325

300

275

Kenntnis von Fremdsprachen

3

2

1

1

Berufserfahrung in Jahren

5

3

1–2

0–1

gründlich

ausreichend

ausreichend

nicht vorausgesetzt

„Politische Orientierung“

Quelle: GARF 4459/17/28/36 f.

Die redaktionelle Hierarchie stellte einen formalen Rahmen dar, in dem sich die Nachrichtenproduktion gestaltete. Sie zeigt jedoch nicht auf, wie Entscheidungsprozesse funktionierten und Unsicherheiten absorbiert wurden. Um diese Fragen zu beantworten, muss man redaktionelle Koordinationsmechanismen und Prüfprogramme in Betracht ziehen, die in der Auslandsabteilung angewendet wurden und die als Technologien der Bedeutungsproduktion zu verstehen sind. Koordinationen sind Regelungen, deren Funktion darin besteht, zwischen einzelnen Handlungen und Entscheidungen Abstimmung zu schaffen. Die Nachrichtenproduktion ist in hohem Maße eine Koordinationsleistung215 , die darauf ausgerichtet ist, Interessenkonflikte zu lösen und einen (Mindest-)Konsens herzustellen, um letztendlich den redaktionellen Zusammenhalt zu erhalten und zu stärken. Grundsätzlich kann man zwischen folgenden Koordinationsformen unterscheiden216 :

214 Vgl. die TASS-Anordnung Nr. 563 vom 22.12.1932, GARF 4459/17/21/135. 215 Das ist die Hauptthese der Studie von Philip Schlesinger, Putting „Reality“ Together. BBC News, London 1978; Klaus-Dieter Altmeppen spricht von der „Austarierung labiler Gleichgewichtszustände“. Vgl. ders., Medienmanagement als Redaktions- und Produktionsmanagement, in: Irene Neverla, Elke Grittmann, Monika Pater (Hrsg.), Grundlagentexte zur Journalistik, Konstanz 2002, S. 394. 216 Kieser/Walgenbach, Organisation, S. 100.

Die Auslandsabteilung der TASS: Binnenstruktur und Redaktionskader

1. 2. 3. 4.

Koordination durch persönliche Weisungen; Koordination durch Selbstabstimmung; Koordination durch Programme; Koordination durch Pläne.

In der INO-TASS waren alle Koordinationsmechanismen vertreten, der Selbstabstimmung, einem teamorientierten Entscheidungsprozess, und der Koordination durch Programme kam aber die Schlüsselrolle zu. Die „Koordination durch Pläne“ war nicht unwichtig, aber man tat sich schwer, langfristige Pläne und Themenkataloge auszuarbeiten, die über einen unmittelbaren Erwartungshorizont hinausgingen. An eine Fünfjahresplanung, die das Sowjetsystem favorisierte, war nicht zu denken: Zu dynamisch, zu wechselhaft war der Horizont der Weltereignisse. In der INOTASS entwarf man vielmehr detaillierte Quartals- und Jahrespläne, die in erster Linie thematische Schwerpunkte festlegten und auf diese Weise die mediale Aufmerksamkeitspolitik bestimmten. Eine wichtige Funktion der „Koordination durch Pläne“ bestand darin, die Kontinuität der Auslandsberichterstattung zu sichern und die Konsistenz des Nachrichtenbildes zu festigen. Die Selbstabstimmung, die man intern als „kollegiale Konsultationen“217 bezeichnete, war die wichtigste Koordinationsform. Sie wurde in Form von Redaktionskonferenzen und Kurzbesprechungen realisiert, die als diskursive Arenen fungierten: Man hörte Berichte an, tauschte Meinungen aus und traf Entscheidungen, die auf dem Primat der Konsensfähigkeit beruhten. Teamorientierte Koordinationsmechanismen wurden erst in der Zeit des Großen Terrors vorübergehend zurückgedrängt. Chavinson, der anfangs einen autoritären Führungsstil pflegte, erließ am 17. Juli 1937 eine Direktive, der zufolge in der Auslandsabteilung zwischen 12 und 18 Uhr keine Konferenzen und Besprechungen stattfinden sollten, angeblich um – so seine Begründung – die redaktionelle Arbeit nicht zu stören.218 Doch bereits nach wenigen Monaten machte der kommissarische Leiter der TASS indirekt ein Zugeständnis an diskursive Meinungsbildungsund Entscheidungsprozesse: „Einige Genossen sind der Meinung, dass ich den Leuten verbieten würde zu diskutieren (rassuzhdat’)“, rechtfertigte er sich vor den TASS-Mitarbeitern. „Das ist ein Quatsch. Bei allen Unzulänglichkeiten meines Charakters und Temperaments – das ist ein Quatsch“.219 In der Tat wandte sich Chavinson schrittweise vom ‚diktatorischen‘ Prinzip der Anweisungen von oben ab und lernte – quasi als Ergebnis seiner redaktionellen Sozialisation – kollektive

217 Vgl. die Ansprache des Redakteurs der INO-TASS, Ilinskij, auf der Konferenz der INO-TASS, 11.06.1931, GARF 4459/11/443/30. 218 Die Anordnung Nr. 479 vom 19.07.1937, GARF 4459/17/50/197. 219 Vgl. die Ansprache Chavinsons auf der TASS-Versammlung, 10.10.1937, GARF 4459/11/848/32.

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Die TASS als Medium der Auslandsberichterstattung im sowjetischen Informationssystem

Entscheidungsformen zu respektieren und zu praktizieren. Er übernahm die übliche Konferenz- und Besprechungspraxis und zeigte sich sogar bereit, die TASS kollegial zu führen. Im Juli 1940 legte man fest, dass die TASS-Führung zweimal in der Woche zusammenkommen sollte, um redaktionelle und organisatorische Fragen zu besprechen und gemeinsam zu entscheiden.220 Vertikale Koordinationsmechanismen gewannen in der Zeit des Zweiten Weltkrieges dann wieder an Bedeutung: Nikolaj Palgunov, der die TASS seit Juni 1943 leitete, agierte als autoritärer Chefredakteur, der für teamorientierte Entscheidungen wenig Verständnis zeigte.221 In der TASS gab es mehrere Typen von Konferenzen und Besprechungen, deren Entscheidungsumfang, Teilnehmerzahl und Frequenz sich stark unterschieden. Die gesamte Auslandsabteilung kam sowohl in den 1920er als auch in den 1930er Jahren in der Regel zweimal in der Woche zusammen, um „laufende Fragen“ zu besprechen“.222 Zur Tagesordnung gehörten Organisations-, Kader- und Informationsfragen. Strategische Entscheidungen wurden meistens auf der „Konferenz beim verantwortlichen Leiter“ getroffen, die ein- bis zweimal in der Woche stattfand und an der in der Regel die gesamte Führung der Auslandsabteilung teilnahm. Das Agenda-Spektrum war recht breit: Neben aktuellen Fragen, die die Informationsund Personalpolitik betrafen, beschäftigte man sich ausführlich mit der Berichterstattung der Auslandskorrespondenten und arbeitete redaktionelle Richtlinien aus, die in Form von Vorgaben den Standpunkt der Zentrale repräsentierten. Seit November 1930 existierte in der TASS die „Organisationskonferenz“, die vom Leiter der TASS geleitet wurde und an der sich die Abteilungsleiter und der Sekretär der Parteiorganisation beteiligten. Sie übernahm zum einen die operative Kontrollfunktion und hatte zum anderen die Aufgabe, „organisatorische und zwischenbehördliche Fragen“ zu koordinieren.223 Man besprach Quartalspläne und traf Personalentscheidungen. Ebenso zur Abstimmung zwischen einzelnen Abteilungen der TASS dienten die Konferenz der Sektorenleiter der INO-TASS und die Konferenz der Abteilungsleiter, die ca. zweimal im Monat stattfand. In der TASS gab es auch Sonntagskonferenzen. Sie waren das größte Forum für den Meinungsaustausch – anwesend waren sowohl der gesamte Führungskader als auch die meisten Redakteure.224 Man besprach laufende Fragen der Re-

220 Das Protokoll Nr. 25 der Sitzung beim verantwortlichen Leiter, 11.07.1940, GARF 4459/11/1127/60. 221 Vgl. der Sekretär des Parteibüros der TASS, Efremov, an Malenkov, 23.11.1945, RGASPI 17/125/346/112. 222 Das Sitzungsprotokoll über die Arbeit der Auslandsabteilung der TASS, 04.11.1925, GARF 4459/11/23/64. 223 Das Protokoll der Sitzung beim verantwortlichen Leiter vom 06.11.1930, GARF 4459/11/376/1. 224 Das Protokoll der Sitzung der Leiter der INO-TASS, 25.03.1930, GARF 4459/11/352/23.

Die Auslandsabteilung der TASS: Binnenstruktur und Redaktionskader

daktionsarbeit, viel Raum nahm dabei die kritische Auseinandersetzung mit der Berichterstattung der Auslandskorrespondenten ein. Die Selbstabstimmung spielte auch in den Sektoren eine wichtige Rolle. Wöchentlich fanden Besprechungen statt, bei denen man über die Themen der Berichterstattung und über Entscheidungsprämissen diskutierte.225 Redaktionelle Konferenzen und Kurzbesprechungen hatten zwei Schlüsselfunktionen: 1. Sie waren diskursive Arenen zur Generierung der Redaktionslinie. Doleckij schärfte den Redakteuren zwar ein, „einmal und für alle Male zu verstehen“, dass „die politische Linie in der TASS vom Leiter bestimmt wird und sonst von niemandem“226 , war aber de facto nicht imstande, diese Linie als Set von verbindlichen Handlungsanweisungen zu konzipieren. Die Redaktionslinie wurde nicht präskriptiv vorgegeben, sondern war vielmehr das Ergebnis eines Aushandlungsprozesses. In einem argumentationsbasierten Austauschprozess formulierte man gemeinsam Zielsetzungen und Erwartungen, setzte Normen und legte thematische Schwerpunkte fest. Dabei ging man über den Horizont von Detailfragen hinaus und beschäftigte sich auch ausführlich mit den großen Themen der Weltpolitik. Man setzte Ereignisse in Kontexte, entwickelte Deutungsmuster und schuf dadurch ein gemeinsames Weltbewusstsein, das zur Orientierung und Ausbildung konsistenter und konsensgestützter Redaktionsprogrammierung entscheidend beitrug. Die Rolle von Konferenzen und Besprechungen für die Entwicklung von reflexivem Organisationswissen wird besonders deutlich, wenn man berücksichtigt, dass es während der Informationsverarbeitungsprozesse so gut wie keine (Zeit-)Räume zum Nachdenken und Austauschen gab: Die Redakteure beschwerten sich darüber, „buchstäblich in Details zu ertrinken“, und empfanden es als „seltsam“, dass man „am wenigsten über die internationale Politik“ sprach.227 2. Koordination durch Selbstabstimmung versetzte die Mitarbeiter der INOTASS in die Lage, sich in redaktionelle Belange einzubringen und sich als vollwertige Redaktionsmitglieder zu fühlen. Es war nicht nur erlaubt, sondern man war geradezu aufgefordert, die Eigenmeinung zu vertreten und Eigeninitiative zu ergreifen. Der teamorientierte Entscheidungsprozess erweiterte zum einen den politischen und beruflichen Orientierungshorizont der Redakteure – stärkte also ihre professionelle Identität. Zum anderen erwies er sich als wichtiges Sozialisationsmedium, das eine aktive Aneignung redaktioneller Erwartungen und Normen begünstigte

225 Die Anordnung Nr. 2 vom 08.03.1941 über die INO-TASS, GARF 4459/38/15/l. 85. 226 Vgl. die Ansprache von Doleckij auf der Konferenz der INO-TASS, 11.06.1931, GARF 4459/11/443/41. 227 Vgl. die Ansprache des Redakteurs Goldberg auf der Konferenz der INO-TASS, 11.06.1931, GARF 4459/11/443/32.

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und entscheidend dazu beitrug, ein institutionelles Zusammengehörigkeitsgefühl auszubilden. Nicht nur der Koordinationsablauf, sondern auch die unmittelbare Steuerung der INO-TASS war eine Kollektivleistung, die durch Konsultationen und ein breites Delegieren von Aufgaben geprägt war. Anfang der 1930er Jahre sprach man von einer „leitenden Troika“, der der Leiter Auslandsabteilung und seine Stellvertreter angehörten. Diese erledigte „laufende Verwaltungsangelegenheiten“ und stellte redaktionelle „Quartalspläne“ fertig.228 Der Begriff „leitende Troika“ tauchte zum ersten Mal 1929 auf, gerade in der Zeit, als die Redaktion sich von der Bevormundung durch das NKID zu emanzipieren begann. Die teamorientierte Führung war ein Teil des institutionellen Selbstfindungsprozesses und sie kann als eine Antwort auf die gewachsene Unsicherheit interpretiert werden, die mit der Aufwertung der redaktionellen Selbstprogrammierung und den Herausforderungen des Mobilisierungsdiskurses der ‚Revolution von oben‘ verbunden war. Ein anderer wichtiger Mechanismus der Unsicherheitsreduktion war das redaktionelle Prüfprogramm, das hierarchisch organisiert war und an dem, wie bereits in der Beschreibung der Redaktionsstellen angedeutet wurde, mehrere Akteure teilnahmen: der Redaktionsleiter und seine Stellvertreter, die Leiter der Sektoren (1932–1941) sowie leitende Redakteure (1929–1934). Das Prüfprogramm in der INO-TASS wurde spätestens seit 1932 nach dem Vier-Augen-Prinzip gestaltet. Es handelte sich um ein hierarchisch organisiertes Gegenlesen, das darauf abzielte, eventuelle Übersetzungs- und Interpretationsfehler der Redakteure aufzuspüren und zu beseitigen. Die Arbeit unter Zeitdruck führte allerdings oft dazu, dass die Vorgesetzten bearbeitete Nachrichten „nicht einmal gelesen hatten“.229 Es entwickelte sich sogar eine Verantwortungsdebatte: Die Redakteure, die für ihre politischen Fehler mit ernsten Konsequenzen rechnen mussten, waren der Meinung, dass die Führung der Auslandsabteilung „mehr Verantwortung tragen sollte als der Redakteur“. Sie kritisierten auch die Tatsache, dass das Prüfen sich meistens auf einen oberflächlichen Vergleich zwischen „dem gestalteten Dokument und dem Originaltelegramm“ reduzierte.230 Vieles spricht dafür, dass die Sozialkontrolle in Form des Prüfprogramms bis zur Zeit des Großen Terrors nicht immer konsequent angewendet wurde. Um „politische Abweichungen“ zu vermeiden, setzte man vielmehr auf die Herstellung isomorpher Weltbilder und die professionelle Ethik der Selbstkontrolle. Es ist bezeichnend, dass der Redakteur Goldenberg der Führung der INO-TASS in 228 Ebd. 229 Vgl. die Ansprache des Redakteurs der INO-TASS, Lukjanov, auf der Konferenz der INO-TASS, 11.06.1931, GARF 4459/11/443/17. 230 Die Ansprache des Redakteurs der INO-TASS, Leonovič, auf der Konferenz der INO-TASS, 11.06.1931, GARF 4459/11/443/24.

Zwischen Ideologie und ‚Objektivität‘: Entscheidungsprogramme in der INO-TASS

dieser Hinsicht unterstellte, lieber „die Hirne“ der Mitarbeiter „zu kontrollieren“ als Prüfprogramme sorgfältig auszuüben.231 Letztere wurden ab 1936 viel akkurater angewendet: Man verpflichtete die Leiter der Sektoren dazu, in alle Sachverhalte „politischer Natur“ korrigierend einzugreifen.232 Ab 1938 waren sie persönlich dafür verantwortlich, dass alle „Zahlen, Fakten, Namen und Zitate“ im übersetzten Text und im Original übereinstimmten.233 Der Schichtleiter prüfte anschließend noch einmal „alle Fakten“ und „wesentliche politische Momente“. Diese Doppelzensur, die sehr ernst genommen wurde, wirkte sich offensichtlich negativ auf die Aktualitätsdimension der sowjetischen Auslandsberichterstattung aus. Der Leiter der Presseabteilung des NKID, Evgenij Gnedin, kritisierte das Tempo der Informationsverarbeitung und bezeichnete die Prüfpraxis, bei der Informationen „von Redakteur zu Redakteur wanderten“, als „bürokratisch“.234 Diese sachlich berechtigte Kritik kollidierte jedoch frontal mit normativen Erwartungen des stalinistischen Kommunikationssystems, in dem vertikalen Koordinations- und Überwachungsmechanismen die Schlüsselbedeutung zukam. Es war retrospektiv gesehen geradezu von symbolischer Bedeutung, dass Gnedin – ein bürgerlicher Journalist und Diplomat – im Mai 1939 verhaftet wurde und viele Jahre, bis zum Tod Stalins, im Lager verbrachte.

1.5 Zwischen Ideologie und ‚Objektivität‘: Entscheidungsprogramme in der INO-TASS Mediale Informationsverarbeitung, die unter Bedingungen knapper Ressourcen – begrenzter Zeit-, Umfangs- und Personalvorgaben – stattfindet235 , kann als ein Sinngebungsprozess verstanden werden, der darauf ausgerichtet ist, die „Mehrdeutigkeit mittels koordinierter Handlungen“ zu reduzieren.236 Diese „koordinierten Handlungen“ werden durch relativ stabile und flexible Entscheidungsprogramme präfiguriert und hervorgebracht. Es handelt sich um redaktionelle Selbstprogramme, generalisierte Handlungsmuster (Routinen), die gegenüber der Einzelentscheidung

231 So der Redakteur Goldenberg auf der Konferenz der INO-TASS, 11.06.1931, GARF 4459/11/443/34. 232 Der Beschluss des Leiters der TASS, „Über die Wachsamkeit in der Redaktion“, 27.04.1936, GARF 4459/11/767/27 ff. 233 Vgl. das Protokoll der INO-TASS-Konferenz vom 09.04.1938, GARF 4459/11/972/96. 234 Die Ansprache von Gnedin auf der TASS-Konferenz am 02.04.1938, GARF 4459/11/979/145. 235 Vgl. Hafez, Die politische Dimension, S. 91; Leon V. Sigal, Reporters and Officials. The Organization and Politics of Newsmaking, Lexington u. a. 1973, S. 10 ff. 236 Weick spricht über eine „durch Konsens gültig gemachte Grammatik für die Reduktion von Mehrdeutigkeit mittels koordinierter Handlungen“. Vgl. Weick, Der Prozeß des Organisierens, S. 11 u. 15.

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als Prämissen allgemeine Gültigkeit besitzen237 . Die Entscheidungsprogramme haben die wichtige Funktion, die Identität der Organisation zu stabilisieren. Sie sichern „gleichmäßige Zustände des Systems“, die „nicht durch jede Schwankung in der Umwelt durcheinandergeworfen werden“.238 Idealtypisch kann man zwischen zwei Typen von Entscheidungsprogrammen unterscheiden: 1. Das Zweckprogramm richtet die Informationsverarbeitung nach ideologisch fundierten Vorgaben und Wirkungsabsichten aus. Es handelt sich um einen aktiven Interpretationsprozess, der auch im Nachrichtenjournalismus primär das Ziel verfolgt, kognitive Landkarten und Deutungsmuster des Publikums zu beeinflussen. 2. Konditionalprogramme sind „informelle und elastische Entscheidungsprämissen einer Redaktion, auf bestimmte Ereignisse der Umwelt in bestimmter Weise zu reagieren“.239 Sie entspringen professionellen Normen und Techniken der Informationsverarbeitung. Im Nachrichtenjournalismus wird die Konditionalprogrammierung aus zwei Gründen bevorzugt: Sie entspricht dem berufsethischen Objektivitätspostulat und orientiert sich maßgeblich am Aktualitätscode des ‚News Making‘, dessen Erfolgskriterium es ist, den Leser möglichst zeitnah zu informieren. Man versucht dabei verständliche, klare und eindeutige Nachrichten zu produzieren. Bereits in den 1920er Jahren unterschied man in der INO-TASS zwischen zwei Programmierungsoptionen, die als „Methoden der Informationsbearbeitung“240 bezeichnet wurden: einem „passiven Redigieren“, das heißt einer faktenorientierten Berichterstattung, und einem „aktiven Redigieren“241 , das in Form von Kommentaren und Erklärungen realisiert wurde und das Ziel verfolgte, „politische Abweichungen“ zu vermeiden.242 Das Zweckprogramm der INO-TASS orientierte sich stark am Erziehungs- und Aufklärungsdiskurs der sowjetischen Massenmedien, seine Hauptfunktion bestand darin, wie 1931 retrospektiv bemerkt wurde, „die Hirne der Leser aufzuklären“ (prosvjašat’ mozgi čitatelej).243

237 Hafez, Die politische Dimension, S. 101; Manfred Rühl, Die Zeitungsorganisation als organisiertes soziales System, Freiburg 1979, S. 280. 238 Niklas Luhmann, Die Programmierung von Entscheidungen und das Problem der Flexibilität, in: Renate Mayntz (Hrsg.), Bürokratische Organisation, Köln/Berlin 1968, S. 324. 239 Hafez, Die politische Dimension, S. 102. 240 Vgl. den Vortrag des Leiters der Auslandsabteilung der TASS, Madjar, „Über Methoden der Redaktionsarbeit der INO-TASS“, 01.07.1926, GARF 4459/11/81/55. 241 Die Ansprache von Doleckij auf der Konferenz der INO-TASS am 01.07.1926, GARF 4459/11/81/55R. 242 Der Beschluss der Konferenz der Abteilungsleiter über die Arbeit der INO-TASS, 07.09.1926, GARF 4459/11/81/78. 243 Die Ansprache des Redakteurs Lukjanov auf der Konferenz der INO-TASS, 11.06.1931, GARF 4459/11/443/17.

Zwischen Ideologie und ‚Objektivität‘: Entscheidungsprogramme in der INO-TASS

Die Informationsverarbeitung in der TASS entfaltete sich in den 1920er Jahren in einem Spannungsfeld von Konditional- und Zweckprogrammierung, wobei der Informationsjournalismus einen klaren Vorrang hatte. Dieser zeichnete sich aus durch das Bemühen um eine authentische Wiedergabe von Nachrichtenquellen, die Technik des Zitierens und eine ablehnende Haltung gegenüber wertenden Kommentaren. Der Volkskommissar für Auswärtige Angelegenheiten, Čičerin, der sich bis 1929 in die Arbeit der INO-TASS aktiv einmischte, war ein glühender Verfechter des Konditionalprogramms und forderte die sowjetische Nachrichtenagentur immer wieder auf, sich an Fakten zu halten, „zu übersetzen und nicht zu gestalten“.244 Das bedeutet jedoch nicht, dass die Redaktion sich mit einem „passiven Redigieren“ zufriedengab und sich gegenüber politischen Zwecksetzungen neutral verhielt. Auch Čičerin wollte das nicht. Die Zweckprogrammierung wurde vielmehr auf der Ebene der Aufmerksamkeitspolitik bzw. der Themensetzung realisiert. Die Position der Zentrale brachte man in einem Brief an die Berliner Korrespondentin auf den Punkt: „Das wichtigste wäre, die Ereignisse – so zu sagen – nicht mit Berliner, sondern mit Moskauer Augen zu beurteilen“.245 Es ging um den Anspruch der INOTASS, Perzeptions- und Selektionsschemata, mit denen die Welt beobachtet und Ereignisse in die mediale Wirklichkeit transformiert wurden, selbstständig festzulegen. Die Moskauer Redaktion ging von einem politischen Auftrag aus und verstand sich selbst als eine Gestaltungsinstanz und nicht als „ein Übersetzungsbüro“.246 Worauf man aber explizit verzichtete, war die Anwendung von Interpretationsprogrammen, die dem Leser erklärten, wie er zu denken und zu bewerten hatte. Diese Funktion übernahmen in erster Linie die sowjetischen Massenzeitungen, die der Parteiführung nahestanden und die Auslandsberichterstattung als Propagandadiskurs gestalteten. Es war die ‚Revolution von oben‘ (1929/1930), die einen schweren Programmkonflikt in der Zentralredaktion auslöste und das Selbstverständnis der INO-TASS nachhaltig erschütterte. Als Stalin und seine Mannschaft die forcierte Industrialisierung und die gewaltsame Kollektivierung der Landwirtschaft in Gang setzten, nutzten sie die Sowjetpresse als Mobilisierungsmedium für ihre Zwecke. Im Zeitraum 1928–1930 kam es zu einer grundlegenden Umcodierung des sowjetischen Mediendiskurses, dessen funktionaler Wandel an zwei Veröffentlichungen von Sergej Ingulov, dem Leiter des Zeitungssektors des ZK, gut beobachtet werden kann. In seiner ersten Publikation von 1928 wurde die Sowjetpresse vor allem als 244 Vgl. Čičerin an Doleckij, 25.11.1924, GARF 391/1/164/60. 245 Die ROSTA an die Korrespondentin in Berlin, Keith, 26.09.1924, GARF 391/1/48/165 (Deutsch im Original). 246 Der Leiter der Auslandsabteilung der TASS, Madjar, an Doleckij, 16.06.1926, GARF 4459/11/87/111 f.

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Aufklärungs- und Erziehungsinstrument dargestellt, die Bauernschaft fungierte dabei (noch) als ein wichtiger Adressat.247 Ganz andere funktionale Zuschreibungen erfolgten in der zweiten Publikation von 1930: Die Hauptaufgabe der Sowjetpresse bestand jetzt darin, „die Massen“ für die Industrialisierungspläne der Parteiführung und „den Kampf gegen Hindernisse auf dem Weg des Aufbaus des Sozialismus“ zu mobilisieren.248 Bemerkenswert war, dass Ingulov dem außenpolitischen Aspekt viel Aufmerksamkeit widmete. Er erwähnte die „Kriegsgefahr“, die der Sowjetunion angeblich drohte, und verlangte von den Medien, dass sie nicht nur informieren, sondern „den breiten Massen“ „eine richtige Wahrnehmung“ der Weltpolitik vermitteln.249 Der Informationsjournalismus, den die INO-TASS in den 1920er Jahren favorisierte, wurde vom Leiter der Presseabteilung des ZK direkt angegriffen: „Informationen an sich reichen nicht mehr aus“, behauptete er. „Einzelne, nicht zusammenhängende Fakten lassen nicht über Ursachen und Bedeutung von Ereignissen urteilen“. Ingulov forderte die Sowjetpresse auf, den Massen Widersprüche zwischen kapitalistischen Staaten, zwischen Imperialisten und Kolonialländern, zwischen sozialen Klassen innerhalb kapitalistischer Staaten und schließlich zwischen der kapitalistischen Welt und der UdSSR aufzuzeigen.250

Matthew Lenoe spricht von der Evolution des „Massenjournalismus“ (1927–1930), einem Prozess der Umorientierung der Presse auf die Bedürfnisse und Zielsetzungen der Mobilisierungsdiktatur; dieser war durch den Aufstieg junger, parteitreuer Journalisten, einen gravierenden Wandel der Sprache und der Inhalte der Zeitungen sowie des journalistischen Selbstverständnisses gekennzeichnet.251 Der „Massenjournalismus“ war ein Mobilisierungsjournalismus: Unter Verwendung „martialischer Sprache“ inszenierte man sozialistische Wettbewerbe, präsentierte den Arbeitsalltag als Kampf und deckte verborgene Feinde und Saboteure auf.252 Die Erzeugung eines „künstlichen Kriegszustandes“ durch die sowjetischen Massenmedien hatte Dietmar Neutatz zufolge eine Doppelfunktion: Der Sowjetbevölkerung wurde täglich suggeriert, sich innenpolitisch „im industriellen Krieg“ zu befinden und außenpolitisch „in einer belagerten Festung“ zu leben.253

247 248 249 250 251 252 253

Sergej Ingulov, Kulturnaja revolucija i pečat’, Moskau/Leningrad 1928. Sergej Ingulov, Rekonstruktivnyj period i zadači pečati, Moskau/Leningrad: Gosizdat, 1930, S. 9. Ebd., S. 3. Ebd., S. 3. Lenoe, Closer to the Masses, S. 139 und 150. Ebd., S. 160 f. Vgl. Dietmar Neutatz, Die Suggestion einer „Front“. Überlegungen zu Wahrnehmungen und Verhaltensweisen im Stalinismus, in: Brigitte Studer, Heiko Haumann (Hrsg.), Stalinistische Subjekte. Individuum und System in der Sowjetunion und der Komintern, 1929–1953, Zürich 2006, S. 68 f.

Zwischen Ideologie und ‚Objektivität‘: Entscheidungsprogramme in der INO-TASS

Die ‚Revolution von oben‘ und die mediale Mobilisierungskampagne beeinflussten die INO-TASS auf drei Ebenen: 1. Es kam zu der bereits erwähnten Kommunisierung des Redaktionskaders. 2. Es erfolgte eine grundlegende Restrukturierung des Publikumsbildes: Die Entscheidungs- und Selektionsprogramme der Auslandsredaktion richteten sich nicht mehr auf die Bedürfnisse und Erwartungen des NKID, sondern auf die der sowjetischen Massenmedien, die ab 1929/1930 als Hauptadressat des Nachrichtenangebotes betrachtet wurden. 3. Der Wandel des Publikumsbildes korrespondierte mit der Aufwertung des Zweckprogramms und der Neucodierung der Auslandsberichterstattung. Im Januar 1930 fasste die Führung der TASS einen programmatischen Beschluss, der von der INO-TASS „eine verstärkte Politisierung von eintreffenden Informationen“ forderte.254 Damit reihte sich die Auslandsredaktion in den Mobilisierungsdiskurs der Massenzeitungen ein. Diese, allen voran die „Pravda“ und die „Izvestija“, waren bemüht, ein dualistisches Weltbild zu kreieren, in dem die Sowjetunion und die feindliche kapitalistische Welt zwei konträre Pole bildeten und der industrielle Aufbau zur Verteidigungs- und Überlebensstrategie stilisiert wurde. Die Redakteure der INO-TASS sahen die Aufgabe des Zweckprogramms dementsprechend darin, den „Imperialismus kapitalistischer Regierungen aufzudecken“. Auf Selektionsebene bedeutete dies, „aus allen Informationen solche auszuwählen, die der kapitalistischen Welt zum Nachteil gereichen“ konnten.255 Einige vertraten die Meinung, dass die Nachrichtenproduktion nichts weniger als „eine Form des Klassenkampfes“ sei.256 Die Neucodierung der Auslandsberichterstattung erschütterte das Selbstverständnis der TASS und führte zu einem schweren Konflikt zwischen der faktenorientierten Konditionalprogrammierung und dem ideologisch fundierten Mobilisierungsjournalismus. Die Krise wurde verstärkt durch eine einseitige Ausrichtung auf die Erwartungen der Sowjetpresse, was der thematischen und programmatischen Neuorientierung der TASS eine zusätzliche Dynamik verlieh. Man kann dabei zwei Faktoren identifizieren, die den institutionellen Selbstfindungsprozess erschwerten und die Entscheidungsunsicherheit massiv steigerten. Zum einen ging es um das Definitionsproblem und die Unschärfe des Politisierungsbegriffes. Unter „Politisierung“ bzw. „Aktivierung von Informationen“ verstand man allgemein eine journalistische Strategie, die darauf ausgerichtet war, „leitende politische Tendenzen“ bei der Konstruktion des medialen Auslandsbildes zu „schärfen“. Wie man dabei vorgehen sollte, wurde nicht konkretisiert, man verwies nur darauf, dass

254 Der Beschluss der Sitzung der Leiter der TASS-Abteilungen nach dem Anhören des Berichtes des Leiters der INO-TASS, Zaks-Gladnev, 24.01.1930, GARF 4459/11/372/11. 255 Vgl. die Ansprache des Redakteurs der INO-TASS, Izakson, auf der Konferenz der INO-TASS, 18.06.1931, GARF 4459/11/443/56. 256 Vgl. die Ansprache des Redakteurs der INO-TASS, Čerepanov, auf der Konferenz der INO-TASS, 11.06.1931, GARF 4459/11/443/27.

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Die TASS als Medium der Auslandsberichterstattung im sowjetischen Informationssystem

„Auslandsmeldungen bei Bedarf zu präzisieren und zu korrigieren sind“.257 Zum anderen erwies sich die kommunikative Distanz zur politischen Führung, die sich nach dem Weggang von Čičerin aus der Politik noch vergrößerte, als nachteilig: Die Redakteure rätselten oft, was genau von ihnen erwartet wurde und von welchen kurz- und mittelfristigen Kalkülen die sowjetische Außenpolitik geleitet wurde. Der Konflikt zwischen den beiden Programmierungsmustern, der im Zeitraum Januar 1930 bis Juni 1931 seinen Höhepunkt erreichte, spaltete die Redaktion, die es nicht schaffte, sich programmatisch zu stabilisieren. Die Meinungen darüber, welche Rolle der Prämisse des „Klassenkampfes“ im medialen Interpretationsprozess zukommen sollte, gingen auseinander. Es kam zu mehreren interpretativen Exzessen, die außenpolitische Komplikationen verursachten und die TASS als eine „unabhängige“ Nachrichtenagentur diskreditierten. Den größten Skandal stellte der Fall „Valden“ dar: Es handelte sich um einen jungen TASS-Korrespondenten in Warschau, Valden, der sich seit kurzem im Ausland befand und eine vom Revolutionseifer geprägte, antipolnische Berichterstattung betrieb. Valden war ein typischer Vertreter des Massenjournalismus. Im Mai 1931 sandte er mehrere „verzerrte“ Berichte nach Moskau, die die INO-TASS auch abdruckte. Zum Politikum wurde aber seine Mitteilung vom 20. Mai 1931 über die Hintergründe der Reise des polnischen Politikers und Publizisten Stanisław Mackiewiecz in die Sowjetunion. Valden zufolge fand die Reise im Auftrag des polnischen Generalstabes statt, was sich allerdings als Erfindung herausstellte.258 Die diplomatische Führung, die die programmatische Umorientierung der TASS schon lange mit Groll und Ablehnung betrachtete, zeigte sich empört. Nikolaj Krestinskij, der Stellvertreter Litvinovs, schrieb einen Brief an Doleckij, der in Kopie auch an Stalin ging. Der ranghohe Diplomat kritisierte vehement „parteiische Kommentare“ und erinnerte die TASS an ihren Informationsauftrag, die Partei- und Staatsführung genau und zuverlässig zu informieren.259 Am 16. Juni 1931 diskutierte das Politbüro in Anwesenheit von Krestinskij und Doleckij über den Fall Valden und Interpretationskonflikte in der Auslandsabteilung. Die politische Führung und die Sowjetdiplomaten zeigten sich einig, dass die TASS ihr Mobilisierungsexperiment auf Kosten der faktenorientierten Berichterstattung sofort beenden sollte. „Der Fehler“, den Valden und die INO-TASS begangen hatten, wurde im Beschluss als „politisch“ bezeichnet. Man

257 Vgl. den Bericht des Leiters der INO-TASS, B. Kocyn, „Über die Arbeit der INO-TASS“, 25.08.1930, GARF 4459/11/355/2. 258 Vgl. Ken/Rupasov, Politbjuro CK VKP(b), S. 236. 259 Krestinskij an Doleckij (Kopie an Stalin), 08.06.1931, in: Ken/Rupasov, Politbjuro CK VKP(b), S. 235 f.

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wies die INO-TASS an, „entsprechende Maßnahmen zu ergreifen, um in Zukunft ähnliche Fehler zu vermeiden“.260 Zwei Tage später diskutierte die gesamte Auslandsabteilung über ihre programmatische Ausrichtung, ihr redaktionelles Selbstverständnis und die „Politisierung“ als zentralen Begriff der Zweckprogrammierung. Die Diskussion zeigte, dass die Redakteure durchaus verschiedene Meinungen bezüglich der Auslegung des Politisierungskonzeptes hatten. Dem ersten Standpunkt zufolge, der sich am Modell des aktiven Gestaltens orientierte, war die „Politisierung“ eine „Fähigkeit“, „Fakten so zu organisieren (vypjatit’), dass sie zweckorientiert und politisch gesättigt wirken“.261 Die andere Meinung, die sich stärker an professionellen Normen des Nachrichtenjournalismus orientierte, begriff die „Politisierung“ als die kritische Haltung, „immer an allem zu zweifeln“.262 Einig war man sich aber in der Vorstellung, dass die INO-TASS sich – in semantischer und inhaltlicher Hinsicht – dem Mobilisierungsdiskurs der Massenmedien nicht anschließen sollte. Die Aufgabe der Redaktion sah man darin, „dem Leser politisch klare und verständliche“ Nachrichten zu bieten.263 Entscheidend für die Klärung des redaktionellen Selbstverständnisses war die Ansprache des verantwortlichen Leiters. Doleckij wandte sich dezidiert gegen die radikale Version der „Politisierung“, die mit Etikettierungen und Semantiken aus dem Repertoire der Sowjetpresse operierte. Er machte deutlich, dass man „Aussagen“ auf keinen Fall so „umdeuten“ durfte, dass dabei „Sinnintentionen ihrer Urheber verdunkelt wurden“. Interpretationen und Kommentare, die zum „Täuschen, Verzerren, Verfälschen und Erfinden“ führten, bezeichnete der Leiter der TASS als „einen politischen Fehler“ und als „eine Verflachung der Politisierung“.264 Seine Definition des redaktionellen Gestaltens rückte pragmatische und situative Elemente der medialen Wirklichkeitserzeugung in den Vordergrund. Die INOTASS war zwar eine Interpretationsinstanz, die sich am Erwartungshorizont der Massenzeitungen zu orientieren hatte, die „Politisierung“ sollte sich aber primär auf der Selektionsebene entfalten: Es ging um eine kalkulierte Faktenauswahl und „geschickte Themensetzung“. Doleckij machte auch klar, dass die INO-TASS davon Abstand nehmen sollte, mit Weltbildern und Suggestionen des gesellschaftlichen

260 Der Beschluss des Politbüros vom 16.06.1931, „Über das Telegramm des TASS-Korrespondenten in Warschau“, RGASPI 17/3/830/4. 261 Die Ansprache des Redakteurs Gofman auf der Konferenz der INO-TASS, 11.06.1931, GARF 4459/11/443/8. 262 Die Ansprache des Redakteurs Lukjanov auf der Konferenz der INO-TASS, 11.06.1931, GARF 4459/11/443/14. 263 Ebd., 16. 264 Die Ansprache von Doleckij auf der Konferenz der INO-TASS, 18.06.1931, GARF 4459/11/443/43 f. und 79.

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Mediendiskurses unkritisch, leichtfertig umzugehen. Er bezeichnete die TASS als „Organ des politischen Lavierens“265 , das seine Strategie des „Auswählens“ und „Verschweigens“ auf den politischen „Vorteil“ und auf „die Interessen“ der Sowjetunion ausrichten sollte.266 „Die Kunst des Redakteurs“ und „des Journalisten“, so der Leiter der TASS, „besteht darin, den jeweiligen Kontext, Zeitpunkt und Ort“ von Ereignissen „unbedingt zu berücksichtigen“.267 Seine Ansprache beendete Doleckij mit einer in ihrer Eindeutigkeit bemerkenswerten Absage an die ideologisch fundierte Zweckprogrammierung: „die TASS ist ein Informationsorgan, und das ist eine hundertprozentige Verpflichtung“.268 Ähnlich argumentierte auch der Leiter der INO-TASS, der die Bedeutung des situativen Aspekts im Interpretationsprozess hervorhob: „Alles dreht sich darum, wie zu politisieren: wann, in Bezug auf welches Land und in welchem Maße“.269 Die Konferenz der INO-TASS vom 18. Juni 1931 markierte eine grundlegende Wende in der Programmkontroverse. Die Führung der TASS und die Mehrheit der Redaktionsmitglieder lehnten jene Art der Politisierung ab, die mit dem Negativbegriff „Subjektivierung“ verknüpft wurde und sich am Mobilisierungsdiskurs der Sowjetpresse orientierte.270 Einen Tag später wurden die Ergebnisse der Diskussion in einem Beschluss formalisiert: „Beim Redigieren von Auslandstelegrammen“, so war die normative Forderung, „ist es obligatorisch, Fakten, Zitate und Meinungen absolut genau wiederzugeben“.271 Man distanzierte sich damit vom „Massenjournalismus“ der „Pravda“ und der „Izvestija“, die mit Hilfe eines suggestiven und militanten Vokabulars ein Zwei-Lager-Weltbild und übertriebene Bedrohungsszenarien inszenierten, und korrigierte gleichzeitig den eigenen Politisierungsbegriff. Die Zweckprogrammierung wurde als ein relativ flexibles Interpretationsprogramm verstanden, das sich maßgeblich an der „politischen Linie und der aktuellen politischen Position der Sowjetunion“ zu orientieren hatte.272 Obgleich ab Juni 1931 eine programmatische Stabilisierungsphase folgte und das Primat des Informationsjournalismus nicht mehr ernsthaft in Frage gestellt wurde, blieb das redaktionelle Selbstverständnis nach wie vor ambivalent. Auch in den 1930er Jahren gab es in der INO-TASS programmatische Kontroversen, die das

265 266 267 268 269

Ebd., 77. Ebd., 45 u. 79. Ebd., 47. Ebd., 47 f. Der Leiter der INO-TASS, Kocyn, auf der Konferenz der INO-TASS, 18.06.1931, GARF 4459/11/443/64. 270 Die Ansprache des Redakteurs der INO-TASS, Dalin, 18.06.1931, GARF 4459/11/443/62. 271 Vgl. den Beschluss der INO-TASS, „Über die Fehler beim Redigieren von Auslandsmeldungen“, 19.06.1931, GARF 4459/11/443/83. 272 Ebd., 83.

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Verhältnis von Konditional- und Zweckprogrammierung sowie die Auslegung und Operationalisierung des Politisierungsbegriffs betrafen. Widersprüchliche Aussagen und Forderungen, Konflikte und das Bemühen um die Konsensherstelllung prägten den Prozess der Nachrichtenproduktion und den redaktionellen Alltag. Einerseits hielt man am Grundsatz der faktenorientieren Berichterstattung fest und kritisierte die Redakteure dafür, die Meldungen der Auslandskorrespondenten zu „verzerren“ und zu „verändern“.273 Die Aufforderung, „die maximale Genauigkeit bei der Bearbeitung von Mitteilungen, insbesondere bei der Wiedergabe von Zitaten“ einzuhalten, hatte einen normativen Charakter. Auch stilistisch orientierte man sich an Darstellungsformen des Nachrichtenjournalismus: Erwartet wurden „verständliche“, „knappe“ und „zielgerichtete“ Meldungen, die Verwendung von Fremdwörtern und verschachtelten Satzkonstruktionen sollte möglichst vermieden werden.274 Die Missachtung der Objektivitätsverpflichtung führte zu Disziplinarverfahren, bei denen Einzelnen vorgeworfen wurde, „eigenwillig und falsch zu ergänzen“, „eigenmächtig“ zu handeln oder „Fakten zu verzerren“. Auch der Begriff „politischer Fehler“ als Todsünde der Zweckprogrammierung findet sich in der Sprache der Rügeerklärungen.275 Der erfahrene Redakteur Jakobson ermahnte seine Kollegen ausdrücklich, Auslandsmeldungen „auf keinen Fall in verzerrter Form“ wiederzugeben, und vertrat sogar die Meinung, dass die Politisierungshoheit in die ausschließliche Kompetenz der Redaktionsleitung gehörte.276 Andererseits belegen vorhandene Quellen eindeutig, dass die INO-TASS ihren Gestaltungsanspruch nie aus den Augen verlor. Man kritisierte eine passive Haltung gegenüber dem Informationsinput und betrachtete die Informationsverarbeitung als einen hoch kontingenten Selektions-, Thematisierungs- und Interpretationsprozess. Die Nachrichtenproduktion kann in der Tat auf allen basalen Handlungsebenen (selektieren, übersetzen, interpretieren) als eine aktive Sinngebung verstanden werden.277 Bereits das Auswählen von Auslandsmeldungen war eine Praxis der Bedeutungszuweisung, ein Weltinterpretationsprogramm, das darüber entschied, welche medialen Inhalte überhaupt zum Gegenstand der politischen Kommunikation wurden. Selektionskriterien als Nachrichtenwerte waren nicht schriftlich

273 Der Redakteur der INO-RASS, Jakobson, auf der Konferenz der INO-TASS, 28.08.1934, GARF 4459/11/638/41. 274 Der Beschluss des Leiters der TASS, „Über die Arbeit der INO-TASS“, 07.09.1934, GARF 4459/11/634/40. 275 Vgl. die TASS-Anordnungen vom 22.12.1933, GARF 4459/17/25/212, und vom 26.06.1934, GARF 4459/17/29/64. 276 Die Ansprache des Redakteurs Jakobson auf der Konferenz der INO-TASS, 28.08.1934, GARF 4459/11/638/41. 277 Zum organisationstheoretisch fundierten Sinngebungs- bzw. Sinnerzeugungsbegriff vgl. Hiller, Organisationswissen, S. 16 ff.

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fixiert, sie gehörten vielmehr zum impliziten Wissen der Redaktion. Es gibt auch kaum Daten zur Anzahl der ausgewählten Informationen. Die Angaben für das Jahr 1923 zeigen, dass nur ein Drittel aller Auslandsmeldungen, die die INO-TASS zu ihrer Verfügung hatte, publiziert wurde.278 Das Übersetzen von Auslandsmeldungen, das die meiste Zeit der Redakteure beanspruchte, war kein mechanisches Übertragen fremder Texte ins Russische, sondern stellte vielmehr ein „Sinn-Übersetzen“, einen Aneignungs- und Umcodierungsprozess dar.279 Roger Silverstone beschreibt ihn als eine Praxis der „Umund Aufwertung“ von medialen Inhalten280 ; in der Sprache der Akteure ging es um eine Art Weltbilder- und Lebensweltübersetzung: Man transformierte „bürgerliche“ Semantiken „in die sowjetische Sprache“.281 Dabei wurden selbstverständlich auch Kürzungen, Ergänzungen und stilistische Anpassungen vorgenommen. Der Interpretationsprozess, den man mit dem Begriff „Politisierung“ verknüpfte, unterschied sich, wie bereits erwähnt wurde, grundlegend von Mobilisierungspraktiken der Massenzeitungen. Den Redakteuren der INO-TASS wurde zum Beispiel „strengstens“ verboten, ausländische Politiker wertend zu charakterisieren.282 Man setzte nicht auf Kommentare und Etikettierungen, sondern nutzte eher Selektions- und Thematisierungsinstrumente, um die Aufmerksamkeit und das Problembewusstsein der Leser zu lenken. Die „Politisierung“ war eine recht nuancierte Angelegenheit, die nicht zwingend auf Wertungen und Zuschreibungen angewiesen war. Manchmal reichte es schon, wie der Redakteur Rosenberg erläuterte, einfach das Wort „angeblich“ in die Übersetzung aufnehmen283 , um den Sinngehalt einer Mitteilung zu manipulieren und die Meinung des Lesers zu beeinflussen. 1934 tauchte im redaktionellen Programmierungsdiskurs der Begriff „komplexe Mitteilungen“ auf, der objektive und ideologische Komponenten der Nachrichtenproduktion verzahnte: Man wählte mit Hilfe thematischer Sinnfilter einzelne Fakten aus und fügte diese in übergeordneten Kontexten zusammen.284 Die Herstellung von „komplexen Mitteilungen“ war ein Weltcodierungsprozess, der das 278 „Die ROSTA: Die historische Übersicht“, Anfang 1923, GARF 391/11/24/8. 279 Vgl. Stuart Hall, Kodieren/Dekodieren, S. 109. Einen ähnlichen Standpunkt vertreten auch Hafez, Die politische Dimension, Bd. 1, S. 186, und Eckhard Marten, Das Deutschlandbild in der amerikanischen Auslandsberichterstattung. Ein kommunikationswissenschaftlicher Beitrag zur Nationenbildforschung, Wiesbaden 1989, S. 370. 280 Vgl. Roger Silverstone, Anatomie der Massenmedien. Ein Manifest, Frankfurt a.M. 2007, S. 35 f. 281 Die Ansprache des Redakteurs der INO-TASS, Remizov, auf der TASS-Konferenz, 02.04.1938, GARF 4459/11/979/147 f. 282 Doleckij auf der Konferenz der INO-TASS, 18.06.1931, GARF 4459/11/443/78. 283 Die Ansprache Rosenbergs auf der Konferenz der INO-TASS, 11.06.1931, GARF 4459/11/443/18. 284 Vgl. den Bericht des Leiters der Auslandsabteilung auf der INO-Konferenz, 28.08.1934, GARF 4459/11/638/31.

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Ziel verfolgte, „Probleme von langer Dauer“ zu konstruieren.285 Dieses „Verweben von Kontexten und Mitteilungen“286 erfüllte eine Erklärungsfunktion. Man wollte den sowjetischen Leser nicht nur informieren, sondern ihm, wie der Leiter der Auslandsabteilung, L. Berezov, im April 1938 erläuterte, „die Bedeutung von Ereignissen erklären“ und „die Möglichkeit bieten, sich in der internationalen Politik zu orientieren“. Der Interpretationsanspruch der INO-TASS manifestierte sich in der Überzeugung, dass die Redakteure geradezu verpflichtet waren, „synthetische“, „komplexe Mitteilungen“ herzustellen.287 Bilanzierend kann man feststellen, dass die Konstruktion des medialen Auslandsbildes in der Auslandsabteilung der TASS sich in einem Spannungsfeld von Konditional- und Zweckprogrammierung entfaltete, wobei die meisten Redaktionsmitglieder für einen Kompromiss plädierten. Bereits im Juni 1931, als die INO-TASS eine Identitätsdebatte führte, ermahnte der leitende Redakteur Sergej Lukjanov seine Kollegen dazu, „keinem Extrem zu verfallen“, sondern „eine Mittellinie zu finden, sowohl inhaltlich als auch stilistisch“.288 Ähnlich argumentierte der stellvertretende Leiter der INO-TASS, Boris Kocyn, im August 1934, als er die folgende Regel aufstellte: „Man soll ein Telegramm nicht als einen unantastbaren Text behandeln, man darf es aber auch nicht entstellen (urodovat’)“. In unsicheren Entscheidungssituationen hatten die Redakteure die TASS-Führung zu konsultieren.289 Neben dem Informationsauftrag waren es zwei Faktoren, die den Raum für die „Politisierung“ bzw. die Herstellung von „komplexen Mitteilungen“ einschränkten: 1. Die Arbeit unter Zeitdruck begünstigte die Konditionalprogrammierung. Die INO-TASS, die ihre Arbeitsprogramme nach festgesetzten Deadlines ausrichtete, war verpflichtet, die politische Führung und die Sowjetpresse über die neuesten Entwicklungen im Ausland schnellstens zu informieren. „Jedes Telegramm“, so beschrieb der Redakteur Vermel das tägliche Entscheidungsdilemma vor dem Hintergrund des Aktualitätszwanges, „ist eine komplizierte stilistische, politische und ideologische Aufgabe“, die „innerhalb von 20–25 Minuten erledigt werden“ müsse.290 Dabei war der Arbeitsumfang der Redakteure gewaltig: Man verbrachte bis 285 Doleckij auf der Konferenz der INO-TASS, 28.08.1934, GARF 4459/11/638/64. 286 Vgl. Gregory Bateson, Double bind, in: ders., Ökologie des Geistes: anthropologische, psychologische, biologische und epistemologische Perspektiven, Frankfurt a.M. 1997, S. 358. 287 Vgl. den Bericht des Leiters der Auslandsabteilung TASS, Berezov, 01.04.1938, GARF 4459/11/979/101 und 106. 288 Die Ansprache des Redakteurs der INO-TASS, Lukjanov, auf der Konferenz der INO-TASS, 11.06.1931, GARF 4459/11/443/16. 289 Der stellvertretende Leiter der INO-TASS, Kocyn, auf der Konferenz der INO-TASS, 28.08.1934, GARF 4459/11/638/52. 290 Die Ansprache des Redakteurs Vermel auf der Konferenz der INO-TASS, 11.06.1931, GARF 4459/11/443/9.

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zu zwölf Stunden in der Redaktion und hatte oft das Gefühl, wie am „Fließband“ zu arbeiten.291 2. Das Fehlen von klaren politischen Vorgaben erschwerte die „Politisierung“ und machte sie sogar zu einem Abenteuer mit ungewissem Ausgang. Die Deutungsunsicherheit konnte vor allem durch Redaktionsbesprechungen und die Lektüre der Zentralzeitungen reduziert werden.292 Besonders erfahrene Redakteure waren imstande, Signale in der Zentralpresse, die die Parteiführung aussandte, aufzunehmen und richtig zu deuten. Selbst das „Fehlen von Leitartikeln“ diente ihnen als Orientierung.293 Die Unsicherheit nahm aber immer dann zu, wenn man in außenpolitischen Kommentaren der „Pravda“ oder der „Izvestija“ kurzfristige, unerwartete Kursänderungen registrierte, deren Motive und Gründe jedoch nicht kannte. Der Leiter der INO-TASS, Kocyn, erläuterte diese Situation so: Zum Beispiel: Man durfte gestern auf diesen oder jenen Politiker schimpfen, heute darf man aber nicht mehr, heute veränderte sich das Verhältnis irgendwie. Wenn Sie mich diesbezüglich fragen, wann man politisieren darf oder nicht darf, dann antworte ich Ihnen, dass ich es nicht weiß.294

Die INO-TASS war, so einer der wichtigsten Befunde, kein Propaganda- und Mobilisierungsmedium, wie es die Zeitungen „Pravda“ oder „Izvestija“ waren. Die faktenorientierte Berichterstattung hatte das Primat, sie entsprach der funktionalen Codierung des Informationsjournalismus. Man erwartete von der TASS „verständliche“, informative und nicht wertende Meldungen und Berichte. Gleichzeitig war die INO-TASS kein neutraler Beobachter: Die Zweckprogrammierung als Praxis der ‚Welterzeugung‘ wurde in Form von Selektionen, Themensetzungen und „komplexen Mitteilungen“ realisiert. Das mediale Auslandsbild, das die Auslandsabteilung konstruierte, reflektierte weitgehend Erwartungen, Projektionen, Weltbilder und Ängste des Sowjetsystems.

1.6 Informationsquellen und Themen der Auslandsberichterstattung Wie im Kapitel 1.1 bereits gezeigt wurde, war die ROSTA in der Frühphase des Sowjetstaates (1918–1921), der politisch und medial vom Ausland abgeschnitten war, 291 Die Ansprache des Redakteurs der INO-TASS, Remizov, auf der TASS-Konferenz, 02.04.1938, GARF 4459/11/979/147. 292 Die Ansprache des Redakteurs Čirejkin auf der Konferenz der INO-TASS, 11.06.1931, GARF 4459/11/443/12 f. 293 Vgl. die Replik des Redakteurs Kovalskij auf der Konferenz der INO-TASS, 11.06.1931, GARF 4459/11/443/16. 294 Die Ansprache des Leiters der INO-TASS, B. Kocyn, auf der Konferenz der INO-TASS, 11.06.1931, GARF 4459/11/443/20.

Informationsquellen und Themen der Auslandsberichterstattung

stark auf das Auslandsradio angewiesen. Abgehörte Radiosendungen dienten als Hauptquelle der sowjetischen Auslandsberichterstattung. Diese strukturell-mediale Abhängigkeit von der kapitalistischen Welt und das Fehlen eigener Beobachtungsinstanzen im Ausland waren die Hauptgründe für den dringenden Reorganisationsbedarf der ROSTA und enorme Ressourceninvestitionen der Sowjetführung in die Kommunikationstechnik. Zwischen 1921 und 1924 konnte sich die Sowjetunion sukzessiv an die Weltkommunikation anschließen. Die wichtigsten Schritte waren der Abschluss des Konzessionsvertrages mit der Großen Nördlichen Telegraphengesellschaft zur Nutzung der Unterseekabel zwischen Russland einerseits und Dänemark, Japan und China andererseits, der Moskau unter anderem mit London, Paris und Schanghai verkabelte295 , sowie die Kooperationsabkommen mit der Berliner TelegraphenUnion (T.U.) (September 1922)296 und mit der United Press (Dezember 1922). Die amerikanische Nachrichtenagentur erklärte sich dabei bereit, Kleinschmidtapparate an die ROSTA zu verkaufen.297 Der endgültige Durchbruch erfolgte 1924, als entsprechende Verträge mit den Global Players, der britischen Reuters und der französischen Havas, abgeschlossen wurden. Mitte der 1920er Jahre betrachtete die TASS sich selbst zu Recht als eine feste Größe „auf dem Weltinformationsmarkt“.298 Es sind insgesamt vier Hauptquellen für die Konstruktion des medialen Auslandsbildes zu unterscheiden, die der TASS zur Verfügung standen: 1. Die Berichterstattung eigener Auslandskorrespondenten; 2. die Informationsdienste ausländischer Nachrichtenagenturen; 3. die Auslandspresse; 4. das Auslandsradio. Es war keine Übertreibung, als Doleckij im Juli 1926 feststellte, dass „der Korrespondent die wichtigste Informationsquelle ist“.299 Bereits 1922–1923, mit dem Ausbau des Korrespondentennetzwerkes, konnte die ROSTA ihre Abhängigkeit vom Auslandsradio signifikant verringern: Ca. 50% aller Informationen, die der Zentralredaktion zur Verfügung standen, stammten von eigenen Auslandsjournalisten (vgl. Tab. 9).

295 Vgl. Werner Markert/Dietrich Geyer, Osteuropa-Handbuch. Sowjetunion. Verträge und Abkommen, Köln/Graz 1967, S. 27. 296 Der Beschluss des Politbüros vom 21.09.1922 „über den Vertrag mit der deutschen Telegraphenagentur ‚Telegraphen-Union‘“, RGASPI 17/3/313/1. 297 Boyd-Barrett, The International News Agencies, S. 162. 298 Vgl. die Thesen des Vortrages über die Arbeit der Redaktion für ausgehende Auslandsinformationen, 01.07.1926, GARF 4459/11/81/62R. 299 Die Ansprache von Doleckij auf der Konferenz der INO-TASS, 01.07.1926, GARF 4459/11/81/56.

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Tabelle 9 Informationsquellen der ROSTA, Mai 1923 Telegramme der Auslandskorrespondenten

Auslandsradio

Briefe der Auslandskorrespondenten

Diplomatische Quellen

43%

47%

6%

4%

Quelle: GARF 391/11/34/117 f.

Dabei zeigte die ROSTA eine klare Präferenz dafür, auf selbst generierte Quellen zurückzugreifen und primär sie als Grundlage für die Konstruktion des medialen Auslandsbildes zu nutzen (vgl. Tab. 10). Tabelle 10 Die Quellenprovenienz der publizierten Auslandsnachrichten der ROSTA, Juni 1923 Auslandskorrespondenten

Auslandsradio

Informationen des NKID

92%

3%

5%

Quelle: GARF 391/11/34/117 f.

Im Unterschied zum Zarenreich war die politische und mediale Elite der Sowjetunion bestrebt, die Auslandsberichterstattung nach eigenen Sinnkriterien und Themenkatalogen zu organisieren. Die Fähigkeit zur Eigenbeobachtung fungierte zum einen als eine Abgrenzungsstrategie gegenüber der feindlichen kapitalistischen Welt und ihren Semantiken, zum anderen diente das Netzwerk der Korrespondentenstandorte als eine Art Frühwarnsystem und sorgte für eine zuverlässige Lagebeschreibung. Die Berichterstattung der Auslandskorrespondenten der TASS blieb bis zum Großen Terror (1937) mit Abstand die wichtigste Quelle für Informationen über Ereignisse im Ausland (vgl. Tab. 11). Tabelle 11 Hauptquellen der Auslandsberichterstattung der TASS, Januar–Juli 1933–1935 (die Anzahl der Wörter und prozentuale Anteile) Auslandskorrespondenten der TASS

Ausländische Nachrichtenagenturen

1933

1.355.536 (89%)

169.218 (11%)

1934

1.134.399 (90%)

119.408 (10%)

1935

3.905.328 (93%)

290.515 (7%)

Quelle: GARF 4459/11/638/103; GARF 5446/18/2819/17.

Man unterschied grundsätzlich zwischen telegraphischen und postalischen Meldungen und Berichten der Auslandskorrespondenten der TASS. Die meisten In-

Informationsquellen und Themen der Auslandsberichterstattung

formationen, die als „wichtig“ und „eilig“ eingeschätzt wurden300 , erreichten die Zentrale per Telegraph, der eine zeitnahe Berichterstattung ermöglichte und die Aktualität als Code der Nachrichtenproduktion herstellte. Alles, was nicht dringend zu erfahren war, übersandte man per Post: Es handelte sich um Hintergrundberichte, Recherchen, spezielle thematische Übersichten oder auch als geheim eingestufte Quellen, die zum Zwecke der „Ergänzung und Erläuterung“ telegraphischer Informationen dienten und „eine bessere Orientierung“ in der Weltpolitik ermöglichen sollten.301 Postalische Informationen unterlagen einer „sorgfältigen Auswahl“302 durch die INO-TASS und wurden meistens in geheimen Auslandsbulletins publiziert. Die Auslandskorrespondenten der TASS hatten die Möglichkeit, den Kurierdienst des NKID in Anspruch zu nehmen; auf diese Weise konnten sie sowohl die Zensur ihres Aufenthaltslandes umgehen als auch streng vertrauliche Informationen an die Zentrale übermitteln. Die zweitwichtigste Quelle der sowjetischen Auslandsberichterstattung war das Nachrichtenangebot der ausländischen Nachrichtenagenturen. 1934 abonnierte die INO-TASS 19 Nachrichtendienste, wobei über 50% aller Informationen aus London und Paris kamen. Die Machtstellung von Reuters und Havas, die als Monopolisten auf dem Weltnachrichtenmarkt agierten, war noch ungebrochen, wenn auch die TASS in der Allianz mit den amerikanischen Nachrichtenagenturen Associated Press (AP) und United Press (UP) gerade die Absicht zeigte, die mediale Weltordnung zu revidieren.303 Tabelle 12 Die wichtigsten Nachrichtendienste der TASS, Januar–Juli 1934 (ohne AP und UP) Reuters / England 34,8%

Havas / Frankreich

PAT / Polen

27,9%

6,5%

Stefani / Italien

Anatolische / Türkei

ČTK / Tschechoslowakei

5,9%

4,2%

3,7%

Wolff / Deutschland 3,4%

Quelle: GARF 4459/11/638/102.

300 Doleckij an alle Abteilungsleiter und Korrespondenten der ROSTA im Ausland (Rundschreiben), 05.09.1924, GARF 4459/11/1/9. 301 Der Beschluss des Leiters der TASS, „Über postalische Informationen der INO-TASS“, 24.03.1927, GARF 4459/11/160/72. 302 Der Beschluss der Konferenz der Abteilungsleiter über die Arbeit der INO-TASS, 07.09.1926, GARF 4459/11/81/77. 303 Vgl. die Beschlüsse des Politbüros vom 26.05.1934, „Über die Beziehungen der TASS mit den amerikanischen Nachrichtenagenturen“, RGASPI 17/3/945/54 f., und vom 23.09.1934, „Über die Verhandlungen der TASS mit den amerikanischen Nachrichtenagenturen“, RGASPI 17/3/952/3. Zum Kontext: Rantanen, Howard Interviews Stalin.

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Die Rolle der ausländischen Nachrichtenagenturen als Informationszulieferer wurde durch die Folgen des Großen Terrors stark aufgewertet. Da die meisten Auslandskorrespondenten der Säuberung zum Opfer fielen und die Büros unbesetzt blieben, griff die INO-TASS verstärkt auf das Informationsangebot ihrer westlichen Kontrahenten zurück. Selbst die wichtigen TASS-Standorte in London und Paris, die ihre Tätigkeit fortsetzen konnten, generierten nicht wesentlich mehr Informationen als die von der TASS abonnierten Dienste der Reuters und Havas (vgl. Tab. 13) Tabelle 13 Quellen der Berichterstattung aus London und Paris, Stand Sommer 1939 (Anzahl der monatlich übermittelten Wörter) London

Paris

TASS-Korrespondenten

56.000

10.000

Reuters/Havas

34.000

14.000

Quelle: GARF 5446/23a/1043/7 f.

Vieles spricht dafür, dass die Folgen des Großen Terrors, die die TASS hinderten, das mediale Auslandsbild auf der Grundlage eigener Beobachtungen zu konstruieren, im Zeitraum 1939–1941 nicht beseitigt werden konnten. Im November 1940 beruhten nach Berechnung des Leiters der Presseabteilung des NKID, Palgunov, sogar 92% aller im geheimen „Dienstbulletin“ abgedruckten Meldungen auf fremden Quellen.304 Der Anteil der westlichen Nachrichtenagenturen am Informationsaufkommen der TASS lag Ende 1940 bei ca. 30%, nach dem „Hitler-Stalin-Pakt“ veränderte sich auch ihre Bedeutungshierarchie als Informationsanbieter: 11,2% aller Auslandsmeldungen, die der INO-TASS im November 1940 zur Verfügung standen, stammten vom „Deutschen Nachrichtenbüro“, ihm folgten die britische Reuters (10,9%) sowie amerikanischen United Press (5,6%) und Associated Press (4,5%).305 Die Auslandspresse, die die INO-TASS abonnierte, spielte eine marginale Rolle in der sowjetischen Auslandsberichterstattung. Der Hauptgrund dafür ist im Aktualitätsfaktor zu sehen: Bis die Zeitungen Moskau per Luftpost erreichten und ausgewertet wurden, vergingen manchmal einige Tage. Die wichtigsten Luftrouten waren Berlin–Moskau und Königsberg–Moskau. Es war dementsprechend die deutsche Presse, die in der TASS am schnellsten eintraf. Als 1930 die Nachtflüge aus Berlin organisiert wurden, erreichte die Luftpost Moskau bereits um 5 Uhr morgens. Die INO-TASS wies ihre Auslandskorrespondenten sogar an, das „Berliner

304 Der Interimsleiter der Presseabteilung des NKID, Palgunov, an den Leiter der Verwaltung für Propaganda und Agitation, Aleksandrov, 04.01.1941, RGASPI 17/125/57/1. 305 Ebd.

Informationsquellen und Themen der Auslandsberichterstattung

Tageblatt“, die „Vossische Zeitung“ und die „Deutsche Allgemeine Zeitung“ nicht mehr auszuwerten, da dies auch rechtzeitig in der Zentrale geschehen konnte.306 Die Anzahl der abonnierten Zeitungen stieg im untersuchten Zeitraum kontinuierlich an: von 19 im Jahr 1921 auf 124 1938.307 Die meisten kamen aus Deutschland, Frankreich und England. 1934 wertete die INO-TASS zum Beispiel 22 deutsche Zeitungen aus.308 „Eine maximale und rechtzeitige Auswertung der Auslandspresse“ gehörte zum Aufgabenbereich der INO-TASS309 und hatte zwei Funktionen: Erstens, die Auslandszeitungen fungierten als „Zusatzquelle“ zur regulären Berichterstattung der Auslandskorrespondenten und trugen nicht nur zur Wissensvertiefung, sondern auch zur Erweiterung des kognitiven Horizontes der Redaktion bei. Diese konnte auch über Länder etwas in Erfahrung bringen, in denen keine TASS-Büros stationiert waren. Zweitens, die Auslandspresse diente als Kontrollmaterial. Man verglich die Berichte der Auslandskorrespondenten mit originalen Presseinhalten und spürte auf diese Weise eventuelle thematische und faktische Auslassungen auf. Die Auslandspresse war ein Instrument der Qualitätssicherung und stattete die INOTASS mit dem notwendigen Wissen aus, um „die Arbeit der Korrespondenten zu kontrollieren“, „Kritik“ zu üben und notwendige „Anweisungen zu erteilen“.310 Freilich hatte die Lektüre der Auslandszeitungen auch eine Bildungsfunktion. Die Redakteure lernten neue Inhalte und andere Deutungsmuster kennen und profilierten sich als Spezialisten, denn kaum jemand in der Sowjetunion hatte einen direkten Zugang zu den wichtigsten Massenmedien der Welt, zu medialen Diskursen im Ausland. Was aber die Rezeption der Auslandspresse behinderte, war der Zeitfaktor: Die oberste Priorität kam der Übersetzung und Auswertung der Auslandstelegramme zu. Die Notwendigkeit der regelmäßigen Zeitungslektüre wurde in der INO-TASS als „eine leidvolle Frage“ diskutiert, im Zeitbudget der Redaktionsmitarbeiter gab es dafür jedenfalls kaum Freiräume.311 Die vierte Quelle der Auslandsberichterstattung war das Auslandsradio. In der Zeit des Kriegskommunismus und des Bürgerkrieges (1918–1920) stellte es das einzige Fenster in die Welt dar. Das mediale Auslandsbild bestand weitgehend aus 306 Doleckij an den Interimsleiter des TASS-Büros in Berlin, Rosinger, 12.07.1930, GARF 4459/38/35/205. 307 Vgl. die Presseübersicht der INO-ROSTA vom Juni 1921, GARF 391/1/15/3, und den Jahresbericht der TASS für das Jahr 1938, 13.04.1939, GARF 5446/23/2089/31. 308 Die Leiterin des Sekretariats des verantwortlichen Leiters der TASS, Trofimova, an den TASSKorrespondenten in Berlin, Bespalov, 27.11.1933, GARF 4459/11/602/38. 309 Vgl. den Arbeitsplan der INO-TASS für das Jahr 1930, GARF 4459/11/372/12. 310 Der Leiter der Auslandsabteilung der TASS, Madjar, an Doleckij, 15.07.1926, GARF 4459/11/80/38. 311 Vgl. die Ansprache der Redakteurin der INO-TASS, Miziano, auf der Konferenz der INO-TASS, 22.03.1937, GARF 4459/11/866/43, sowie die Ansprache des Leiters der INO-TASS, Berezov, auf der TASS-Konferenz, 21.03.1937, GARF 4449/11/865/39.

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Die TASS als Medium der Auslandsberichterstattung im sowjetischen Informationssystem

„Radiotelegrammen“, die in fünf Fremdsprachen empfangen wurden – Englisch, Deutsch, Französisch, Italienisch und Schwedisch.312 Die Rückkehr in die Weltgemeinschaft und der Aufbau des Korrespondentennetzwerkes führten dazu, dass das Auslandsradio als Informationsmedium stark an Bedeutung verlor. Man sah in ihm sogar ein Einfallstor für „die Politik ausländischer Regierungen in der Sowjetpresse“.313 Deswegen wurde die redaktionelle Prämisse aufgestellt, ausländische Radiosendungen „sehr vorsichtig zu benutzen“.314 Der Radioempfang diente der INO-TASS primär zur internen „Orientierung“315 , wurde aber auch dazu benutzt, „feindliche Meldungen und Fakten“ zu registrieren, die ausschließlich im geheimen Bulletin „Nicht für die Presse“ publiziert wurden.316 In der öffentlichen Auslandsberichterstattung spielte der Auslandsfunk als Informationsquelle ab 1923 keine nennenswerte Rolle: Sein Anteil am Auslandsbild der Massenmedien lag 1923/1924 unter 1%.317 Es waren mehrere Faktoren, die dazu führten, dass das Abhören ausländischer Radiosendungen zu Beginn des Zweiten Weltkriegs wieder an Bedeutung gewann: Das Netzwerk der Korrespondentenstandorte, bis 1937 die wichtigste Quelle der Auslandsberichterstattung, war weitgehend zerstört; das Verhältnis zu westlichen Mächten war angespannt und man schloss in Moskau nicht mehr aus, dass die Berichterstattung aus London, Paris und New York unterbrochen werden konnte.318 Hinzu kamen gravierende technische Modernisierungsdefizite. Die TASS schaffte es nicht, rechtzeitig zur drahtlosen Telegraphie überzugehen, sodass im Kriegsfall eine Abkoppelung von Kabelnetzwerken und kommunikativ-mediale Isolation drohten. Die erste Warnung erfolgte bereits 1935, als Doleckij Stalin und die sowjetische Führung auf eine „technische Revolution“ im Westen und „die technische Rückständigkeit der TASS“ Reuters, Havas und dem Deutschen Nachrichtenbüro (DNB) gegenüber hinwies.319 Auch der sowjetische Botschafter in der Türkei, Karachan, versuchte den sowjetischen Führer zu überzeugen, dass die Anschaffung von Fernschreibern und die Nutzung drahtloser Informationsübertragung zwin-

312 Der Bericht des Leiters der Auslandsabteilung der ROSTA, Braginskij, 20.05.1920, RGASPI 391/1/6/3. 313 Der Vortrag des Leiters der Auslandsabteilung, Madjar, „Über Methoden der Redaktionsarbeit der INO-TASS“, 01.07.1926, GARF 4459/11/81/42. 314 Der Leiter der Auslandsabteilung, Madjar, an Doleckij, 16.06.1926, GARF 4459/11/87/113. 315 Der Rechenschaftsbericht der Auslandsabteilung der ROSTA, 07.07.1923, GARF 391/11/35/2. 316 Vgl. den Beschluss der Konferenz der Abteilungsleiter über die Arbeit der INO-TASS, 07.09.1926, GARF 4459/11/81/77. 317 Der Bericht über die Arbeit der INO-ROSTA, Mai 1923–Februar 1924, GARF 391/11/42/21. 318 Vgl. Chavinson an Molotov, 09.01.1940, GARF 4459/38/106/213. 319 Doleckij an Stalin, Kopien an Molotov, Meżlauk, Tal’, Litvinov, 09.07.1935, GARF 5446/20a/534/17.

Informationsquellen und Themen der Auslandsberichterstattung

gend notwendig seien, um im Kriegsfall den Anschluss an die Weltkommunikation nicht zu verlieren.320 Das 1936 entworfene Modernisierungsprogramm, das in den Jahren 1937–1939 eine grundlegende Erneuerung des sowjetischen Telekommunikationssektors vorsah321 , wurde durch den Großen Terror durchkreuzt. Es war symbolisch, dass Doleckij zehn Tage vor seinem tragischen Tod noch einmal den technischen Modernisierungsbedarf ins Blickfeld führte und vor einem Kommunikationsdesaster warnte.322 Sein Nachfolger Chavinson beurteilte die Situation nicht viel anders: Seiner Meinung nach lag die TASS in ihren technischen Möglichkeiten der Havas, Reuters und dem DNB gegenüber „4–5 Jahre“ zurück.323 Trotz einiger Investitionen in moderne Telekommunikationstechnik324 , die die Nutzung drahtloser Telegraphie ermöglichten, bemühten sich die TASS und die politische Führung seit Frühjahr 1940 verstärkt um den Ausbau von Empfangskapazitäten für den ausländischen Funk. Am 14. April 1940, zeitgleich mit dem Beginn der deutschen Offensive im Westen, ordnete Chavinson an, „ab sofort den Empfang von Radiosendungen aus London, Paris, Rom, Ankara, Bukarest, Belgrad, Afghanistan, Indien, Norwegen, Schweden, den Niederlanden, der Schweiz und Dänemark“ zu organisieren.325 Technisch konnte das jedoch nicht realisiert werden. Bis Juni 1941 hörte die TASS in nennenswertem Umfang nur Sender aus London, Berlin, Rom, Paris und Saigon ab.326 Man griff daher bereitwillig auf das Informationsangebot des Radiokomitees beim Rat der Volkskommissare zurück, das 1940 monatlich zwischen 600 und 700 Radioberichte verfasste. Die Schwerpunkte des Abhörens lagen in Südosteuropa (Budapest, Bukarest, Belgrad, Ankara) sowie in den Hauptstädten der Kriegsmächte: London, Berlin, Rom und Tokio.327 320 Der sowjetische Botschafter in Istanbul, Karachan, an Stalin, 30.12.1936, GARF 5446/20a/534/76 ff. Karachan pries insbesondere die technischen Möglichkeiten des Deutschen Nachrichtenbüros: „zuverlässig und schnell“. 321 Der stellvertretende Leiter der GOSPLAN, E. Kviring, an den SNK, 17.05.1936, GARF 5446/20a/534/38. 322 Doleckij an den stellvertretenden Leiter des SNK, Antipov, 01.06.1937, GARF 5446/20a/534/106 f. 323 Chavinson an Stalin und Molotov, 16.04.1938, GARF 5446/22a/397/7. 324 Im März 1938 plante man, 800.000 Rubel in den Ankauf von Fernschreibern zu investieren: Vgl. der Vorsitzende der GOSPLAN, Voznesenskij, an den SNK, 29.03.1938, GARF 5446/22a/396/3234. Am 01.06.1938 bekräftigte das Politbüro den Beschluss des Rates der Volkskommissare, dem zufolge „Teletype“-Geräte für die TASS im Wert von 526.000 Rubel zu importieren waren. Vgl. den Beschluss des Politbüros vom 01.06.1938, „Über die Ausrüstung (oborudovanie) für die TASS“, RGASPI 17/162/23/38. 325 Das Protokoll der Sitzung beim verantwortlichen Leiter über die Arbeit der Radiostation der TASS, 14.04.1940, GARF 4459/11/1127/231 f. 326 Das Empfangsschema des Auslandsfunks, 30.05.1941, GARF 4459/38/115/33 f. 327 Vgl. Carola Tischler, Funk in Fesseln. Der deutschsprachige Rundfunk aus Moskau zwischen revolutionärem Anspruch und staatlicher Reglementierung (1929 bis 1941), in: Karl Eimerma-

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Die TASS als Medium der Auslandsberichterstattung im sowjetischen Informationssystem

Bilanzierend kann man feststellen, dass das Auslandsradio erst nach dem offiziellen Eintritt der Sowjetunion in den Zweiten Weltkrieg (wieder) zur wichtigen Informationsquelle der sowjetischen Auslandsberichterstattung wurde (vgl. Tab. 14). Es handelte sich um einen 1937 einsetzenden Prozess der Quellenumstrukturierung, der mit der Stagnation eigener Beobachtungsmöglichkeiten und den aus der „technischen Rückständigkeit“ resultierenden Sachzwängen korrespondierte. Tabelle 14 Informationsquellen der TASS, 1940 und 1943 (Anzahl der Wörter täglich) Auslandsbüros der TASS

Ausländische Nachrichtenagenturen

Auslandsradio

1940

ca. 8700

ca. 60.000

ca. 5000

1943

20.000

200.000

100.000

Quelle: RGAPI 17/125/191/71; GARF 5446/24a/757/14.

Solange die TASS über ein interkontinentales Netzwerk von Auslandsbüros verfügte, war sie imstande, die Auslandsberichterstattung nach eigenen Sinnkriterien und Erwartungen zu programmieren und zu steuern. Man kann diesen Steuerungsprozess als Aufmerksamkeitspolitik verstehen, die sich in Form von Themen gestaltete und maßgeblich dazu beitrug, ein konsistentes, am eigenen Orientierungsbedarf ausgerichtetes Auslandsbild zu konstruieren. Der prägende Einfluss der Nachrichtenagenturen auf politische und gesellschaftliche Weltvorstellungen basiert vor allem auf der Vorstrukturierung von Ereignissen und Themen.328 Die Themenstrukturierung, die in der INO-TASS unter Rekurs auf gesellschaftliche Erwartungen und Einstellungen erfolgte, war ein zentrales Element der redaktionellen Entscheidungsprogrammierung.329 Dabei gehe ich davon aus, dass die Themenbildung an der Schnittstelle zwischen Umweltvorgaben und redaktioneller Zweckprogrammierung stattfand. Es handelte sich um eine Verknüpfung von Binnen- und Außenperspektive, von nationalen und transnationalen Diskursen. Einerseits orientierte man sich an Agenden und Aufmerksamkeitspräferenzen der sowjetischen Leitmedien, die ihre Darstellungsprogramme mit der politischen Führung abstimmten; andererseits hatte die TASS als monopolistischer Weltbeobachter eine Vermittlungsfunktion, die darin bestand, den medialen

cher/Astrid Volpert (Hrsg.), Stürmische Aufbrüche und enttäuschte Hoffnungen. Russen und Deutsche in der Zwischenkriegszeit, München 2006, S. 1059 f. 328 Vgl. Hafez, Die politische Dimension, S. 95. Vgl. auch Siegfried Weischenberg/Armin Scholl, Was Journalisten denken und tun. Befunde aus der Studie „Journalismus in Deutschland“, in: Irene Neverla, Elke Grittmann, Monika Pater (Hrsg.), Grundlagentexte zur Journalistik, Konstanz 2002, S. 487. 329 Vgl. den Beschluss des Leiters der TASS, „Über die Arbeit der INO-TASS“, 07.09.1934, GARF 4459/11/634/41.

Informationsquellen und Themen der Auslandsberichterstattung

Anschluss der Sowjetunion an die Weltkommunikation zu sichern. Die Auslandsredaktion beobachtete aufmerksam Themenkataloge ausländischer Massenmedien: Die Auslandskorrespondenten der TASS waren verpflichtet, alle zwei Monate ihre Themenvorschläge einzusenden, die in die redaktionelle Themensetzungspolitik einflossen.330 Idealtypisch kann man von zwei Modellen der Themenentstehung ausgehen, die ein Top-down- und ein Bottom-up-Prinzip wiedergeben: 1. Die politische Führung → Die Massenmedien → Die TASS → Die Auslandskorrespondenten der TASS. 2. Die Auslandskorrespondenten der TASS → Die TASS → Die Massenmedien und die politische Führung. Die INO-TASS übernahm in beiden Fällen eine Scharnierfunktion und vermittelte zwischen internen und externen Thematisierungsprozessen, wobei davon auszugehen ist, dass Erwartungen und Präferenzen der außenpolitischen Führung die Thematisierung und Nichtthematisierung von bestimmten Ereigniskomplexen stark beeinflussten.331 Ein Beispiel dafür war die Kritik Doleckijs an der Themensetzung der INO-TASS. Er warf ihr im August 1934 auf einer Konferenz vor, „die wichtigsten Phänomene totzuschweigen, die die Errungenschaften der Kultur, Technik sowie das Alltagsleben betreffen“.332 Der Leiter der TASS behauptete, dass „die Arbeiter“, die er während einer Kur kennengelernt hatte, sich bei ihm beschwert hätten: „Sie füttern uns mit reiner Politik, haben vergessen, dass wir ein Kulturleben führen und wissen wollen, wie die anderen leben, was dort gut und schlecht ist“.333 Diese wahrscheinlich fiktive Erzählung spiegelte jedoch thematische Interessen der Zeitungen „Izvestija“ und „Pravda“ wider, auf die sich Doleckij auch explizit berief. Im September 1934 wurden die Auslandskorrespondenten der TASS dementsprechend angewiesen, den Themen des Alltags, der Kultur, der Wissenschaft und der Technik mehr Raum in ihrer Berichterstattung einzuräumen.334 Die thematische Programmierung der Auslandsberichterstattung war ein Gestaltungsprozess, der die Mehrdeutigkeit des Weltgeschehens reduzierte, die daraus resultierte, dass es grundsätzlich „ungewiss“ war, „welches Ereignis welche Bedeutung bekommt“.335 Themen fungierten in diesem Sinne als Interpretations- und Ordnungsschemata: „Unser Kampf für den Frieden“, „das Problem der Aufrüstung

330 Vgl. den „Plan der Arbeit der INO-TASS für das Jahr 1930“, 20.01.1930, GARF 4459/11/355/149. 331 Vgl. Hafez, Die politische Dimension, S. 111 f. Diese Annahme ist besonders plausibel aufgrund des Fehlens unabhängiger Massenmedien und der Machtlosigkeit nichtstaatlicher Akteure und Organisationen. 332 Doleckij auf der Konferenz der INO-TASS, 28.08.1934, GARF 4459/11/638/60. 333 Ebd., 64. 334 Doleckij an alle TASS-Korrespondenten im Ausland, September 1934, GARF 4459/11/640/2 f. 335 Die Replik von Doleckij während der Erörterung des Arbeitsplanes der INO-TASS für die Jahre 1928–1929, November 1928, GARF 4459/11/251/10.

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Die TASS als Medium der Auslandsberichterstattung im sowjetischen Informationssystem

der kapitalistischen Welt“ und „die Vorbereitung eines neuen imperialistischen Krieges“, so der Leiter der Auslandsabteilung über Leitthemen der INO-TASS, „entscheiden im Wesentlichen über die ganze Ausrichtung und Bewertung unserer Information“.336 Themen waren auch Selektionsschranken: Sie ermöglichten, die Redundanz des Informationsstromes zu reduzieren und „aus der ganzen Menge von Informationen so wenig wie möglich auszuwählen“337 bzw. „unnötige Hülsen“ zu beseitigen.338 In Thematisierungsprozessen wurde mediale Aufmerksamkeit gebündelt, gelenkt und temporär stabilisiert. Es ging um die Herstellung der Kontinuität von Ereignissen als Sinngebungsprozess, man kritisierte daher eine Ereignisvermittlung ohne thematisch organisierte Dauer, die dazu führte, dass „der Leser nicht wusste, wie sich alles weiterentwickelte“.339 Die INO-TASS hatte nicht nur einen Themenkatalog. Es existierten kurz- und mittelfristige, länderspezifische Agenden, die meistens in thematischen Quartalsplänen der Auslandsabteilung festgehalten wurden.340 In den Themen spiegelte sich gewissermaßen die mediale Planbarkeit der Welt, die von Monats- bis zu Jahresagenden reichte. Ein Fünfjahresplan, den die INO-TASS 1929 in Abstimmung mit der Presseabteilung des NKID zu konstruieren versuchte341 , wurde jedoch nicht realisiert, weil er sich für die Dynamik politischer Entwicklungen als unrealistisch erwies. Ich werde hier auf große Themen der Auslandsberichterstattung eingehen, die global angelegt und von langer Dauer waren. Diese Themen prägten die Konjunktur und die Inhalte des medialen Auslandsbildes der Sowjetunion am nachhaltigsten. Die INO-TASS unterschied in ihren Themenkatalogen von 1929 und 1930 sechs Sachbereiche, die sie folgendermaßen beschrieb: 1. „Die Politik: Regierungskrisen, Zustand feindlicher Parteien, Kriegsvorbereitung, politische Nachrichten im Allgemeinen“; 2. „revolutionäre Arbeiterbewegung: Lohnreduzierung, revolutionäre Offensive des Proletariats, Bauernbewegung in Westeuropa“; 3. „revolutionäre Bewegung in kolonialen und halbkolonialen Ländern“ (vor allem in Indien und in China);

336 Der Bericht des Leiters der Auslandsabteilung der TASS, Menkes, 28.08.1934, GARF 4459/11/638/25. 337 Vgl. die Ansprache des Redakteurs der INO-TASS, Goldenberg, auf der Konferenz der INO-TASS, 11.06.1931, GARF 4459/11/443/32. 338 Der Bericht des Leiters der Auslandsabteilung, Menkes, 26.08.1934, GARF 4459/11/638/21. 339 Der Bericht des Leiters der Auslandsabteilung, L. Berezov, 01.04.1938, GARF 4459/11/979/101. 340 Der Beschluss der Sitzung der Abteilungsleiter der INO-TASS vom 26.08.1930, GARF 4459/11/372/77. 341 Vgl. die Sitzung der TASS bezüglich des Fünfjahresplanes, Oktober 1929, GARF 4459/11/354/8 f.

Informationsquellen und Themen der Auslandsberichterstattung

4. „Wirtschaft: Weltkrise, Handel, Finanzen“; 5. „Sensation: Katastrophen, Überschwemmungen usw.“; 6. das Verhältnis anderer Staaten zur Sowjetunion.342

Tabelle 15 Prozentuale Anteile der wichtigsten Themenbereiche in der Auslandsberichterstattung der TASS, 1929 und 1930 1929

1930

44%

36%

27,5%

31%

Revolutionäre Bewegung in kolonialen Ländern

3%

15%

Wirtschaft

4%

8%

Sensation

6%

2%

13,5%

7%

Politik Revolutionäre Arbeiterbewegung

Verhältnis kapitalistischer Staaten zur UdSSR Quelle: GARF 4459/11/355/16.

Aus den in der Tabelle 15 präsentierten Daten ergeben sich folgende Befunde: 1. Die Auslandsberichterstattung der TASS war eindeutig politikzentriert. 2. 1929/1930 vollzog sich ein grundlegender Wandel in der funktionalen Codierung journalistischer Bilder: Die Unterhaltungsdimension der Auslandsberichterstattung (Sachbereich „Sensation“) verlor praktisch an Bedeutung, gleichzeitig kam es zu einer signifikanten Zunahme von Krisen- und Revolutionsszenarien. „Informationen über den Klassenkampf “ in der kapitalistischen Welt rückten seit 1929/1930 in den Vordergrund der thematischen Agenda der INO-TASS.343 3. Man kann auch die ersten Anzeichen der Isolationsneigung der Sowjetunion, die mit einem ausgeprägten Zwei-Lager-Weltbild korrelierte, feststellen. Die Außenwelt wurde immer mehr im Fokus der Kriegsgefahr gesehen: In Anlehnung an den Mobilisierungsdiskurs der sowjetischen Massenmedien thematisierte die TASS alles, was die kapitalistische „Vorbereitung einer Intervention gegen die UdSSR“ belegen konnte.344 Insgesamt ist festzuhalten, dass die Auslandsberichterstattung der TASS im Zeitraum 1929–1932 von einem Krisenbewusstsein geprägt war und solche Sinnmuster wie „(Welt-)Krise“ und „Kriegsvorbereitung“ die mediale Weltwahrnehmung immer stärker prägten. Die Entstehung der stalinistischen Diktatur ging mit einer

342 GARF 4459/11/355/16. 343 Der Beschluss der Konferenz der Abteilungsleiter vom 24.01.1930 nach Anhörung des Berichts von Zaks-Gladnev über die Arbeit der INO-TASS, GARF 4459/11/372/11. 344 Vgl. den Arbeitsplan der INO-TASS für das Jahr 1931, Januar 1931, GARF 4459/11/444/1.

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Die TASS als Medium der Auslandsberichterstattung im sowjetischen Informationssystem

grundlegenden Umcodierung des medialen Weltbildes einher. Programmatisch war in dieser Hinsicht der Bericht des Leiters der Auslandsabteilung, Menkes, vom August 1932, der „Die UdSSR und die äußere Welt“ betitelt wurde und drei Leitperspektiven entwarf. Die erste konzentrierte sich auf das das Themenfeld „Die UdSSR und ihre Einkreisung“, man ging dabei von einer dualistischen Grundunterscheidung „bei uns und bei ihnen“ aus. Die INO-TASS sollte zuverlässig darüber informieren, was „die kapitalistische Welt über den sozialistischen Aufbau in der UdSSR“ berichtete. Die zweite Perspektive war darauf ausgerichtet, alle antisowjetischen Tendenzen und Intentionen zu registrieren. So wie im Mai 1932 ermahnte die TASS mehrmals ihre Auslandskorrespondenten, die Kriegsvorbereitungen und Interventionsabsichten der kapitalistischen Staaten gegen die UdSSR zu registrieren und dabei genau zu beobachten, welche Rolle jedem einzelnen Land in diesen Interventionsplänen zukommen sollte.345 Diese thematische Ausrichtung diente offensichtlich der Inszenierung einer „äußeren Gefahr“, die aber mehr als reine Propaganda war, sondern, wie die neueste Forschung nachweist, „reale, wenngleich übersteigerte Ängste und Unsicherheiten“ der sowjetischen Führung widerspiegelte.346 Die dritte Perspektive demonstrierte einen Verständigungswillen der sowjetischen Außenpolitik, der sicherheitspolitischen Erwägungen entsprang. Die INO-TASS sollte alle friedlichen Bestrebungen in der kapitalistischen Welt registrieren, konkret ging es um einen Umbruch der Stimmung gegenüber der Sowjetunion in Frankreich und Polen, Entspannungstendenzen im Fernen Osten und die „Symptome“ des sukzessiven Kurswechsels in amerikanischen Kreisen.347 1934 ging die sowjetische Führung nicht mehr von einer akuten Kriegsgefahr aus, behielt aber die Prämisse einer grundlegenden Krise der kapitalistischen Welt bei, die zwangsläufig zu Umverteilungs- und Revisionskriegen führen musste. Im Fokus der medialen Aufmerksamkeit standen „die Probleme der Vorbereitung eines neuen imperialistischen Krieges“, „faschistische Tendenzen“ in Europa sowie die „Umgruppierung im Lager der kapitalistischen Staaten“. Zu den entsprechenden Protagonisten zählte man Japan, Amerika, Frankreich, England, Polen und Deutschland.348 Im Themenkatalog von 1934 kam der Beobachtung von Spannungen und Widersprüchen im ‚kapitalistischen Lager‘ die oberste Priorität zu (vgl. Tab. 16). Auffallend ist auch die mediale Präferenz für die Außenpolitik des Auslandes: Das Verhältnis von außen- zu innenpolitischen Themen lag bei 57% zu 43%.

345 Vgl. das von Doleckij und dem Leiter der Auslandsabteilung, Menkes, unterschriebene Rundschreiben (17 Exemplare) an die Abteilungsleiter und Korrespondenten der TASS im Ausland, 29.05.1932, GARF 4459/38/9/57. 346 Knoll, Das Volkskommissariat, S. 127. 347 Der Beschluss der TASS-Konferenz vom 16.09.1932 bezüglich des Berichtes des Leiters der Auslandsabteilung, Menkes, über „die UdSSR und die äußere Welt“, GARF 4459/11/513/95. 348 Der Bericht des Leiters der Auslandsabteilung, Menkes, 26.08.1934, GARF 4459/11/638/20.

Informationsquellen und Themen der Auslandsberichterstattung

Keine Rolle mehr spielten Revolutionsszenarien, die in den thematischen Agenden von 1929/1930 noch so prominent vertreten gewesen waren. Gleichzeitig wurde aber die kulturelle Brücke zum Ausland fast komplett abgebrochen: „Wissenschaft, Technik, Sport, Literatur und Kunst“ als Vermittlungs- und Verständigungsthemen machten nur 3,3% aller Meldungen aus. Tabelle 16 Themenstruktur der Auslandsberichterstattung der INO-TASS und Rezeptionsverhalten der Sowjetpresse, Januar–Juli 1934 Anzahl der von der INO-TASS zur Verfügung gestellten Meldungen

Anzahl der von der Sowjetpresse übernommenen Meldungen

Beziehungen zwischen den kapitalistischen Staaten

3843

1943

Vorbereitungen zum Krieg

1188

667

Innenpolitik der kapitalistischen Staaten

1910

978

Kampf der Arbeiterklasse

1169

803

Das innenpolitische Leben der kommunistischen Parteien

196

139

Beziehungen der kapitalistischen Staaten mit der UdSSR

806

713

Repressionen und Terror

766

489

Wissenschaft, Technik, Sport, Literatur, Kunst

340

224

Quelle: GARF 4459/11/638/108.

Der Tabelle 16 ist zu entnehmen, dass die Abdruckquote der Auslandsmeldungen der TASS in der Sowjetpresse bei 57% lag. Das zeigt, dass das mediale Auslandsbild, das die Massenzeitungen präsentierten, eine sorgfältige Selektion aus dem Nachrichtenangebot der TASS darstellte (vgl. Kap. 3.3). Vom quantitativen Standpunkt aus kann man aber die These vertreten, dass die sowjetische Nachrichtenagentur das außenpolitische Themenbewusstsein der sowjetischen Leser stark prägte. Dies entspricht auch der Selbstwahrnehmung der INO-TASS: „Wir sind nicht nur die Telegraphenagentur“, behauptete ihr Leiter, sondern auch „zum Teil die Auslandsabteilung unserer Presse“.349 Bis 1937, bis der Große Terror die eigenständige Auslandsberichterstattung lahmlegte, konnte die TASS eine aktive Thematisierungspolitik betreiben und ein mediales Auslandsbild kreieren, das Erwartungen und Weltbilder des sowjetischen

349 Der Vortrag des Leiters der Auslandsabteilung, Madjar, „Über Methoden der Redaktionsarbeit der INO-TASS“, 01.07.1926, GARF 4459/11/81/43.

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Die TASS als Medium der Auslandsberichterstattung im sowjetischen Informationssystem

Publikums berücksichtigte. Man ist dabei verführt, eine stark konfliktorientierte Auslandsberichterstattung auf ideologisch fundierte Zweckprogrammierung zurückzuführen. Aber „Kriegsvorbereitungen“, „Krisen“ und „faschistische Bewegungen“ waren nicht nur programmatische und thematische Erfindungen der Auslandsabteilung der TASS und der Sowjetführung. Die Thematisierung war ein Codierungsprozess, in dem externe Wirklichkeiten mit eigenen Zuschreibungen und Deutungsmustern verknüpft wurden. In diesem Sinne kam der Themensetzung eine Verstärkungsfunktion zu: Sie konstituierte auf Grundlage realer Tatsachen „ein Weltbild, das den sozialen und politischen Bedürfnissen der Mediennutzer“ am meisten entgegenkam.350

350 Vgl. Schulz, Politische Kommunikation, S. 76.

Teil 1: Zwischenresümee

Die institutionellen Grundlagen der sowjetischen Auslandsberichterstattung wurden 1922, nach der Zeit des Bürgerkrieges und der Intervention, geschaffen, als Jakov Doleckij die grundlegenden Reformen der Russischen Telegraphenagentur (ROSTA) in Angriff nahm. Diese zielten auf die Wiederherstellung der institutionellen Unabhängigkeit der ROSTA und die Schaffung eines leistungsfähigen journalistischen Auslandsapparates. Die Planungen für die Gründung der allsowjetischen Telegraphenagentur (TASS) liefen intensiv seit Februar 1924 an. Doleckij und dem Volkskommissar für Auswärtige Angelegenheiten, Georgij Čičerin, die sich energisch für das Informationsmonopol der künftigen Nachrichtenagentur einsetzten, kam dabei die Schlüsselrolle zu. Die Gründung der TASS im Sommer 1925 symbolisierte die mediale Entmachtung der Sowjetrepubliken sowie die Zentralisierung und Konsolidierung des sowjetischen Informationsraums. Die Auslandsabteilung der TASS (INO-TASS) war die Stabsstelle der sowjetischen Auslandsberichterstattung. Rund um die Uhr trafen in ihr – per Telegraph und per Post – Auslandsmeldungen aus allen Teilen der Welt ein, die schnellstens übersetzt und an die Zentralpresse sowie die außenpolitische Führung weitergeleitet wurden. Den wichtigsten Strukturwandel der INO-TASS stellte 1932 die Ausdifferenzierung der Sektoren dar. Der Sektorenbildung lag die Spezialisierung auf einzelne Weltregionen und Länder zugrunde, die entscheidend zur Ausbildung des Expertenwissens beitrug. Die Redakteure der INO-TASS wurden zu Spezialisten, deren Ansichten und Deutungen nicht nur die TASS-Führung, sondern auch die politische Elite der Sowjetunion zur Kenntnis nahm und schätzte. Die meisten Mitarbeiter der INO-TASS waren bürgerlicher Herkunft. Auch die Tatsache, dass viele von ihnen lange Zeit im Ausland gelebt hatten, erwies sich in der Zeit des Großen Terrors als fatal: Die INO-TASS wurde zur Zielscheibe von massiven Säuberungsmaßnahmen, die das Ziel verfolgten, eine sozial und kulturell homogene Journalistenelite zu formen. Die Zäsur von 1937/1938 markierte auch einen grundlegenden Wandel biographischer Erfahrungen: Es gab immer weniger Redakteure, die im bürgerlichen Milieu aufgewachsen waren, im Ausland gelebt oder studiert hatten und das Weltbild des Stalin-Regimes kritisch hinterfragen konnten. Die Entscheidungsprozesse in der INO-TASS zeichneten sich durch einen hohen Grad der Delegierung von Kompetenzen und eine teamorientierte Entscheidungsfindung aus. Die Selbstabstimmung, die man intern als „kollegiale Konsultationen“ bezeichnete, war die wichtigste Koordinationsform. Sie wurde in Form von Redakti-

100

Teil 1: Zwischenresümee

onskonferenzen und Kurzbesprechungen realisiert. Die Bildung der Redaktionslinie war das Ergebnis eines Kommunikationsprozesses: In einem argumentationsbasierten Austauschprozess formulierten die Redaktionsmitarbeiter gemeinsam Zielsetzungen und Erwartungen, setzten Normen und legten thematische Schwerpunkte fest. Dabei gingen sie über den Horizont von Detailfragen hinaus und beschäftigten sich auch ausführlich mit den großen Themen der Weltpolitik. Die Programmsetzung der INO-TASS gestaltete sich im Spannungsfeld von Informations- und Meinungsjournalismus. Im Kontext der stalinistischen ‚Revolution von oben‘ beschloss die TASS im Januar 1930, „eine verstärkte Politisierung von eintreffenden Informationen“ vorzunehmen, was das redaktionelle Selbstverständnis der 1920er Jahre erschütterte und zu einem schweren Konflikt mit der Sowjetdiplomatie führte. Im Juni 1931, nach einer eingehenden Diskussion im Politbüro, wurde das Primat des Informationsjournalismus jedoch wiederhergestellt. Die „Politisierung“ sollte sich primär auf der Selektionsebene entfalten: Es ging um eine kalkulierte Faktenauswahl und „geschickte Themensetzung“. Die INO-TASS distanzierte sich vom „Massenjournalismus“ der „Pravda“ und der „Izvestija“, die mit Hilfe eines suggestiven und militanten Vokabulars ein Zwei-Lager-Weltbild kreierten sowie übertriebene Bedrohungsszenarien inszenierten. Bis zur Zeit des Großen Terrors diente die Berichterstattung der Auslandskorrespondenten der TASS als Hauptquelle des sowjetischen Auslandsbildes, das noch durch Informationen der ausländischen Nachrichtenagenturen, der Auslandspresse und des Auslandsradios erweitert wurde. Der Vorrang der Eigenbeobachtung ermöglichte es der INO-TASS, ein mediales Weltbild zu erzeugen, dessen Themenstruktur und geopolitische Schwerpunkte den diskursiven Vorgaben und außenpolitischen Präferenzen der bolschewistischen Diktatur weitgehend entsprachen. In Anlehnung an den Mobilisierungsdiskurs der sowjetischen Massenmedien thematisierte die TASS alles, was die feindliche Haltung der kapitalistischen Umkreisung bestätigte sowie Widersprüche und Spannungen im kapitalistischen Lager aufdeckte. Die Thematisierung war ein Codierungsprozess, in dem externe Wirklichkeiten mit eigenen Zuschreibungen und Deutungsmustern verknüpft wurden. In diesem Sinne kam der Auslandsberichterstattung eine Verstärkungsfunktion zu: Sie affirmierte und reproduzierte grundlegende gesellschaftliche Erwartungen und Weltbilder, deren Sinnmuster im sowjetischen Gegenentwurf zur kapitalistischen Welt verankert waren.

2. Die Auslandsbüros und die Auslandskorrespondenten der TASS

2.1 Die Auslandsbüros der TASS und ihre geographische Verteilung Die Jahre 1922–1923 können als Zeit des Aufbaus der sowjetischen Auslandsberichterstattung gelten. In Moskau entstand ein leistungsstarker Informationsapparat, der sich auf die Berichterstattung eigener Auslandsbüros stützen konnte, deren Anzahl von vier im Jahre 1920 auf 18 drei Jahre später anstieg (vgl. Tab. 17 und Anhang A-2). Tabelle 17 Anzahl der TASS-Büros und Korrespondentenstandorte im Ausland, 1920–1943 1920

1923

1927

1929

1934

1935

1936

1939

1940

1943

4

18

23

24

26

27

30

23

28

14

Quelle: GARF 4459/11 und 38.

„Das Korrespondentennetz der TASS“, das man in der Zentrale als „den wichtigsten Teil“ der Nachrichtenagentur bezeichnete1 , ermöglichte eine eigenständige, nach selbst kreierten Selektionsmustern und Themen gestaltete Weltbeobachtung, die nicht nur für Auslandsbilder in der Presse, sondern auch für den außenpolitischen Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozess maßgeblich war. „Wir verlassen uns ganz und gar auf die Korrespondenten der TASS“2 , behauptete Čičerin. Dabei war der Auslandsapparat der TASS sowohl in Bezug auf die Anzahl der Standorte als auch der Mitarbeiter im Vergleich zu westlichen Konkurrenten relativ bescheiden. Während bei Reuters, Havas oder Associated Press Hunderte von Berichterstattern im Ausland beschäftigt waren, sah der Personalplan der TASS im Juli 1926 54 und im Dezember 1940 94 reguläre Stellen vor. Reuters verfügte 1940 über 70 Auslandsvertretungen und das Deutsche Nachrichtenbüro hatte 1939 54 Korrespondentenstandorte, darunter 31 in Europa3 – mehr als die sowjetische Nachrichtenagentur in der ganzen Welt.

1 Die Thesen zum Bericht des Leiters der Auslandsabteilung, Zaks-Gladnev, 24.01.1930, GARF 4459/11/355/144. 2 Čičerin an Doleckij, 27.12.1924, GARF 391/1/164/64. 3 Vgl. Jürgen Reitz, Das Deutsche Nachrichtenbüro, in: Jürgen Wilke (Hrsg.), Telegraphenbüros und Nachrichtenagenturen in Deutschland: Untersuchungen zu ihrer Geschichte bis 1949, München 1991, S. 242 ff.

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Die Auslandsbüros und die Auslandskorrespondenten der TASS

Die meisten Korrespondentenstützpunkte der TASS befanden sich in Europa, das dem Kreml in geopolitischer und wirtschaftlicher Hinsicht am nächsten stand (vgl. Tab. 18). Die transkontinentale Lage der Sowjetunion bedingte auch eine relativ starke mediale Präsenz in Asien, wo ca. ein Drittel aller Beobachtungsposten stationiert war. Im Hauptfokus der medialen Aufmerksamkeit lag dabei vor allem China, wo im Lauf der Zeit bis zu acht journalistische Standorte existierten – Peking, Schanghai, Harbin, Hankou (Wuhan), Kanton, Mukden (Shenyang), Nanking und Tientsin. In Afrika, Südamerika und im Südpazifik hatte die TASS keine Büros, was dazu führte, dass diese Kontinente bzw. diese Region nur marginal auf der Nachrichtenkarte der TASS vertreten waren.4 Tabelle 18 Die kontinentale Verteilung der TASS-Standorte (1927/1934/1940) 1927

1934

1940

Europa

14

17

18

Asien

8

8

8

Amerika (USA)

1

1

2

Quelle: GARF 4459, 11 und 38.

Man kann mehrere Faktoren identifizieren, die die Geographie der Errichtung von Auslandsbüros beeinflussten. Die Machtstellung eines Staates im politischen Weltsystem (Fokussierung auf „Elitenationen“), die Intensität von Außenhandelsbeziehungen und die „Einbindung in die Kommunikationstechniken“5 (Telegraphenund Telephonleitungen) erwiesen sich als wichtige Determinanten. Besonders hervorzuheben sind aber zwei Merkmale: Die TASS hatte ihre Standorte 1. in Metropolen, in denen sich Informationsflüsse kreuzten und weltpolitische Kommunikation gestaltete (zum Beispiel London, Paris, Berlin, New York), und 2. in den Ländern, die an die Sowjetunion grenzten: Von Nordeuropa bis China zog sich entlang der Grenze eine Schleife von Beobachtungsposten, die die einzigartige Lage des Sowjetstaates in zwei Hemisphären widerspiegelte. Diese Art der Aufmerksamkeitsverteilung implizierte eine imperial-ideologisch bedingte Wahrnehmung der Grenze als Verletzlichkeits- und Unsicherheitszone. Die geographische Nähe kann als eine zentrale Determinante der sowjetischen Auslandsberichterstattung gelten: Bis zu 50% aller Auslandsinformationen kamen aus dem nahen Ausland. Die TASS hatte ihre Vertretungen in Finnland (Helsinki), Estland (Tallinn), Lettland (Riga), Polen (Warschau/Lemberg), der Türkei (Istanbul/Ankara), dem Iran (Teheran), Afghanistan (Kabul), der Mongolei (Ulan-Bator), China (Peking/Schanghai/Har-

4 Siehe das Kapitel 3.5. 5 Vgl. Wilke, Konstanten und Veränderungen, S. 41.

Die Auslandsbüros der TASS und ihre geographische Verteilung

bin) und Japan (Tokio). Das Auslandsbüro in Bukarest wurde erst 1934, nach der Aufnahme der diplomatischen Beziehungen mit Rumänien, errichtet. Die Gründung von Auslandsbüros erfolgte in Abstimmung mit der diplomatischen und politischen Führung. Die Initiative ging meistens von der TASS und dem NKID aus, die als Weltbeobachter ein institutionelles Interesse daran hatten, den geographischen Horizont der sowjetischen Auslandsberichterstattung zu erweitern. Der Leiter der Presseabteilung des NKID, Evgenij Gnedin, erkannte richtig einen direkten Zusammenhang zwischen der Dichte und Vollständigkeit der Auslandsberichterstattung einerseits und der Anzahl der Auslandskorrespondenten der TASS andererseits.6 Das Politbüro nahm eine ambivalente Position ein: Zum einen war die politische Führung bestrebt, ihr Nachrichtenbild zu verbessern, zum anderen behielt sie die Ressourcenfrage ständig im Auge und verließ sich im Zweifelsfalle auf kritische Gutachten der Regierung und des Volkskommissariats für Finanzen, die einen rigorosen Valutasparkurs verfolgten und das Bestreben der TASS nach medialer Expansion ausbremsten. Es war für die institutionelle Identität der TASS bezeichnend, den Anspruch auf die Rolle einer „Weltagentur“ zu erheben7 und gleichzeitig ein waches Bewusstsein für die Strukturschwächen des Auslandsapparates zu haben. Die INO-TASS betrachtete „weiße Flecken“ auf ihrer Nachrichtenkarte sehr kritisch. Bereits 1930 plante man die Errichtung der Auslandsbüros in Südamerika8 , Indien, Australien und „im arabischen Osten“9 , die aber erst nach dem Zweiten Weltkrieg realisiert wurde. „Weiße Flecken“ existierten nicht nur auf entfernten Kontinenten, sondern waren auch in Europa vorhanden. Als besonders prekär galt das Fehlen journalistischer Stützpunkte in Südosteuropa und auf der Iberischen Halbinsel, die erst in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre in den medialen Fokus der Sowjetunion rückten.10 In der TASS existierte eine nominale Unterscheidung zwischen den Hauptbüros und den gewöhnlichen Korrespondentenstandorten, der ressourcenspezifische (Budget, Personalplan), kommunikationstechnische (telegraphische und telephonische Verbindung mit Moskau) und quantitative Aspekte (Informationsquoten)

6 Der Leiter der Presseabteilung des NKID, Evgenij Gnedin, auf der TASS-Konferenz am 02.04.1938, GARF 4459/11/979/143 und 145. 7 Vgl. den Bericht des Leiters der Auslandsabteilung, Zaks-Gladnev, 08.07.1929, GARF 4459/11/251/193. 8 Der Arbeitsplan der INO-TAS für das Jahr 1930, GARF 4459/11/372/12. 9 Vgl. den Beschluss der Sitzung der Abteilungsleiter der TASS, 03.04.1930, GARF 4459/11/372/37. 10 Bereits im Januar 1930 hielt die TASS die Errichtung von Auslandsbüros in Jugoslawien, Ungarn und Rumänien für notwendig und konfrontierte die außenpolitische Führung mit entsprechenden Initiativen. Vgl. den „Plan der Arbeit der INO-TASS für das Jahr 1930“, 20.01.1930, GARF 4459/11/355/149.

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Die Auslandsbüros und die Auslandskorrespondenten der TASS

der Auslandsberichterstattung zugrunde lagen. Insgesamt kann man die Beobachtungsposten der TASS in drei Kategorien einteilen: 1. Hauptbüros, die „Schlüsselbeobachtungsposten“11 , „Metropolen“12 oder „Knoten- und Führungsstandorte“ (uzlovye, komandnye punkty)13 genannt wurden; 2. Stützpunkte, von denen aus eigene, hauptberuflich tätige Auslandskorrespondenten berichteten; 3. Standorte, wo es nebenamtliche Informanten gab. Letztere waren im Unterschied zu regulären Korrespondenten relativ schwach an redaktionelle Zwecksetzungen gebunden. Diese Distanz zu Erwartungen und Themen der Zentralredaktion setzte nebenberufliche Berichterstatter oft dem Vorwurf der „Initiativlosigkeit“, „Unselbstständigkeit“ und einer fragmentarischen Berichterstattung aus.14 Zu den „Knotenpunkten“ der sowjetischen Auslandsberichterstattung zählte man 1927 die Büros in London, Paris, Berlin, Wien und New York, die fast die Hälfte aller Nachrichten des Korrespondentennetzwerkes der TASS generierten.15 Zu dieser Zeit hatte die TASS zehn hauptamtliche Korrespondenten und neun nebenberufliche Berichterstatter, die in der Regel in einer Doppelfunktion als Diplomaten und Journalisten tätig waren (vgl. Tab. 19).

11 Der Begriff „Beobachtungsposten“ wurde auch von medialen und diplomatischen Akteuren benutzt: Vgl. der Botschafter der UdSSR in Bulgarien, F. Raskolnikov, an die TASS, 30.08.1937, GARF 4459/38/88/138. 12 Vgl. den Beschluss der Abteilungsleiter der TASS, 03.04.1930, GARF 4459/11/372/38. 13 Vgl. den Beschluss der Sitzung beim verantwortlichen Leiter der TASS „über die Arbeit der Auslandskorrespondenten“, 15.11.1931, GARF 4459/38/39/29. 14 Die Thesen des Vortrages des Leiters der Auslandsabteilung der TASS, Rafes, April 1927, RGASPI 17/113/296/232. 15 Ebd., 234.

Die Auslandsbüros der TASS und ihre geographische Verteilung

Tabelle 19 Die Hierarchie der TASS-Standorte, 1927 Hauptbüros

Hauptamtliche Korrespondenten

Nebenberufliche Berichterstatter

London

Warschau

Athen

Paris

Prag

Helsinki

Berlin

Rom

Kaunas

Wien

Tokio

Istanbul

New York

Teheran

Tallinn

Ankara

Riga

Stockholm

Harbin

Peking

Ulan-Bator

Schanghai Hankou Quelle: GARF 4459/11/160/127.

Die Hauptbüros der TASS, die sich in Metropolen der Weltkommunikation befanden, waren mediale Organisationen mit einem Stab von Mitarbeitern, formalisierter Arbeitsteilung und – in der Regel – guten Umweltkontakten. Einige von ihnen verfügten über eigene Subkorrespondenten und Informanten, die auf Honorarbasis arbeiteten und speziellen Aufträgen nachgingen. Der Berliner TASSStandort unterhielt in den 1920er Jahren einen Subkorrespondenten in Jaffa, der über die Lage in Palästina, Syrien, im Irak und Transjordanien informierte.16 Das Pariser TASS-Büro hatte Subkorrespondenten in Spanien und Belgien, in New York bezahlte man Informanten in Süd- und Lateinamerika und das Wiener Büro erhielt regelmäßig Nachrichten aus Jugoslawien und Bulgarien. Außer regulären Korrespondenten verfügte die TASS noch über Berichterstatter auf Zeit, die als Sonderkorrespondenten in Konflikt- und Krisenregionen entsandt wurden. Dies geschah immer mit Zustimmung des Politbüros oder Stalins. Hier einige Beispiele: Nach dem Einfall der Japaner in die Mandschurei im September 1931 wurde der TASS-Korrespondent in Peking „provisorisch“ nach Mukden (Shenyang) versetzt.17 Im Oktober 1935, als Italien einen Eroberungskrieg in Abessinien entfesselte, entsandte man einen TASS-Korrespondenten nach Addis Abeba.18 Im Juli 1936 brach in Spanien der Bürgerkrieg aus und die TASS beorderte ihren Pariser Vertreter Mark Gelfand nach Madrid, ab Oktober 1936 stand ihm die Journalistin

16 Doleckij an die TASS-Korrespondentin in Berlin, A. Keith, 18.07.1925, GARF 4459/38/6/74; das Protokoll Nr. 6 der Sitzung der Abteilungsleiter der TASS vom 30.05.1931, GARF 4459/11/377/26. 17 Der Beschluss des Politbüros vom 04.10.1931, „Über den TASS-Korrespondenten in Mukden“, RGASPI 17/3/852/10. 18 Der Beschluss des Politbüros vom 15.10.1935, „Über die Abkommandierung des TASSKorrespondenten nach Addis Abeba“, RGASPI 17/3/972/30.

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Die Auslandsbüros und die Auslandskorrespondenten der TASS

Mirova zur Seite, die von der Auslandsredaktion der „Izvestija“ an die TASS für „2–3 Monate“ verliehen wurde19 , um aus Barcelona und Valencia zu berichten. Am 15. September 1939, kurz vor dem Einmarsch der Roten Armee in Ostpolen, beschloss das Organisationsbüro des ZK, drei TASS-Korrespondenten in die „Westukraine“ und nach „Weißrussland“ zu entsenden.20 Die Aufmerksamkeitsräume vieler TASS-Standorte, insbesondere der Hauptbüros, überschritten nationale Grenzen und Diskurse: Aus Berlin berichtete man regelmäßig nicht nur über das Deutsche Reich, sondern auch über die Niederlande und die Schweiz; aus New York über den gesamten amerikanischen Kontinent; aus Wien über den Balkanraum und Südosteuropa; aus London über das gesamte Britische Empire und die Kolonien (unter anderem auch Indien, für das man sich in Moskau sehr interessierte, von dem man aber akutell wenig wusste); aus Paris über französische Kolonien und Spanien. Die INO-TASS forderte und prämierte explizit eine transnationale Berichterstattung, die über den Horizont nationaler Mediendiskurse hinausging. Immer wieder wurden die Auslandskorrespondenten ermahnt, einzelne nationalstaatliche „Fakten und Prozesse“ in den Kontext „internationaler Probleme“ zu stellen und mit „Fragen der Weltwirtschaft und Weltpolitik“ zu verknüpfen; dementsprechend kritisierte und verwarf man national orientierte Perspektiven und Deutungsmuster als Neigung zum „Provinzialismus“.21 Die INO-TASS bemühte sich darüber hinaus, wichtige politische Ereignisse und Themen, die transnationale Bedeutung hatten, aus verschiedenen medialen Perspektiven zu beleuchten. Über den Bürgerkrieg in Spanien berichteten nicht nur die TASS-Korrespondenten in Valencia, Barcelona und Madrid, sondern auch die TASS-Büros in London, Paris und New York. Nach der Machtergreifung Hitlers und der Gleichschaltung der deutschen Presse erfolgte die Berichterstattung über das Deutsche Reich verstärkt aus den angrenzenden Büros in Prag, Wien, Stockholm, Paris und Genf.22 Komplementär wurde auch die Beobachtung einzelner Weltregionen organisiert, die zu „weißen Flecken“ der sowjetischen Auslandsberichterstattung zählten: Die TASS-Standorte in London, Paris, Berlin und Rom rückten Afrika und den Nahen Osten ins Blickfeld medialer Aufmerksamkeit. Die ganze koloniale Komponente der Auslandsberichterstattung der TASS verdankte ihre Existenz der journalistischen Präsenz in den Metropolen der Kolonialmächte

19 Doleckij an den TASS-Korrespondenten in Madrid, Gelfand, 19.10.1936, GARF 4459/38/79/177. 20 Der Beschluss des Organisationsbüros des ZK vom 15.09.1939, RGASPI 17/116/13/69. 21 Der Beschluss der Sitzung beim verantwortlichen Leiter „über die Arbeit des Korrespondentennetzes im Ausland“, 15.11.1931, GARF 4459/38/39/28. Vgl. auch den Beschluss über die Arbeit des TASSBüros in Wien, 17.01.1933, GARF 4459/11/584/23. 22 Vgl. den Jahresbericht der TASS für das Jahr 1935, Anfang 1936, GARF 5446/18/2819/22.

Die Auslandsbüros der TASS und ihre geographische Verteilung

(London, Paris, Rom, Amsterdam, Brüssel, Tokio), die als „Informationssammelpunkte“23 entsprechende mediale Diskurse produzierten. Wesentliche Veränderungen in der Struktur des Korrespondentennetzwerkes fanden in den 1930er Jahren statt. Die Anzahl der „Hauptbüros“ wuchs von fünf auf sieben: Zu Paris, London, Berlin, Wien und New York kamen Schanghai und Genf hinzu. Obwohl Genf in quantitativer Sicht nicht in einer Reihe mit den führenden Beobachtungsposten der TASS stand, gehörte es qualitativ zu den wertvollsten Informationszentren des Korrespondentennetzwerkes. Als Sitz des Völkerbundes und Drehachse des internationalen Journalismus war die schweizerische Stadt der Ort, an dem sich diplomatische und mediale Weltbeschreibungen kreuzten und verdichteten.24 Das TASS-Büro in Genf, das Moskau mit solchen journalistischen ‚Stars‘ wie Stefan Rajevskij, Konstantin Umanskij, Vladimir Romm und Andrew Rothstein besetzte, berichtete regelmäßig über zentrale Problemkomplexe der Weltpolitik, darunter über die Innen- und Außenpolitik des Deutschen Reiches sowie deren Wahrnehmung in der internationalen Öffentlichkeit.25 Es waren zunächst exogene Faktoren, außenpolitische Erschütterungen, die die Bedeutungshierarchie der TASS-Standorte transformierten. Ab 1931, als Japan in die Mandschurei einfiel, nahm die Berichterstattung aus Tokio merklich zu. 1935 rückte das TASS-Büro in der japanischen Metropole sogar an die dritte Stelle in der quantitativen Rangordnung der Beobachtungsposten der TASS (vgl. Abb. 6). Ein bedeutender Einschnitt in der informationspolitischen Sonderstellung des TASS-Büros in Berlin stellte die Machtergreifung Hitlers dar. Die Gleichschaltung der deutschen Presse und restriktive Bedingungen für die Informationssammlung26 führten sukzessiv dazu, dass der Berliner TASS-Standort, der in den 1920er Jahren der wichtigste Nachrichtengenerator gewesen war, seine herausragende Rolle als journalistischer Beobachtungsposten einbüßte (vgl. Abb. 6). Gleichzeitig avancierte das TASS-Büro in London zum Leitmedium der sowjetischen Auslandsberichterstattung, das sowohl über die „Schlüsselprobleme der Weltpolitik“ als auch – „falls notwendig“ – über „die wichtigsten Ereignisse in anderen Ländern“27 informierte. Die These von Sabine Dullin, dass London nie eine 23 Jürgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009, S. 430. 24 Auch Sabine Dullin hebt die Verflechtung diplomatischer und journalistischer Beobachtungen in Genf hervor. Vgl. Men of Influence, S. 188. 25 Vgl. die Stellungnahme der INO-TASS zum Vortrag des TASS-Korrespondenten in Genf, Romm, 03.01.1934, GARF 4459/11/584/63. 26 Zu Repressionen des Nazi-Regimes den Auslandskorrespondenten gegenüber: Martin Herzer, Auslandskorrespondenten und auswärtige Pressepolitik im Dritten Reich, Wien/Köln/Weimar 2012, S. 73 ff. 27 Die Stellungnahme der INO-TASS zum Vortrag des Leiters des TASS-Büros in London, A. Rothstein, 18.12.1933, GARF 4459/11/584/52.

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Die Auslandsbüros und die Auslandskorrespondenten der TASS

Abbildung 6 Prozentuale Anteile der Auslandsbüros der TASS an der Auslandsberichterstattung, 1935 Quelle: GARF 5446/18/2819/21 f.

gute Basis für wertvolle Informationen war28 , kann aus medialer Perspektive nicht aufrechterhalten werden (vgl. Tab. 20). Die vor kurzem publizierten Tagebücher von Ivan Majskij, dem sowjetischen Botschafter in London, zeigen, dass auch in diplomatischer Hinsicht von einem differenzierten Urteil auszugehen ist.29 Tabelle 20 Anteile der wichtigsten Auslandsbüros der TASS an der Auslandsberichterstattung, 1927, 1934, 1938

Berlin London

1927

1934

1938

16%

17,8%

(Keine Daten)

8%

20,2%

22%

Paris

7,4%

13%

12,3%

New York

7,1%

5,6%

10,1%

Tokio

2,7%

11,2%

17,6%

Schanghai

14,4%

6,6%

7,4%

Quelle: RGASPI 17/113/296/234; GARF 4459/11/995/101 ff.; GARF 4459/11/971/97.

Die Neuordnung der politischen Karte Europas ab 1938 beeinflusste auch die Struktur des Korrespondentennetzwerkes der TASS. Das Büro in Wien wurde im März 1938, nach dem „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich, geschlos-

28 Dullin, Men of Influence, S. 159. 29 Ivan Majskij, Dnevnik diplomata. London, 1934–1943: v 2 kn., Moskau 2006/2009.

Die Auslandsbüros der TASS und ihre geographische Verteilung

sen.30 Als das Baltikum im Sommer 1940 der Sowjetunion einverleibt wurde, hörten entsprechende journalistische Vertretungen in Riga, Tallinn und Kaunas auf zu existieren. Die größte Zäsur in der medialen Weltpräsenz der TASS hatte aber endogene Ursachen. Der Große Terror führte dazu, dass die meisten Auslandsbüros der TASS im Sommer/Herbst 1937 ihre Arbeit einstellten. Funktionsfähig blieben nur die Vertretungen in London und New York, deren Mitarbeiter mehrheitlich Amerikaner und Briten waren, sodass sie vom Zugriff der stalinistischen Inquisition verschont wurden. Die TASS-Büros in Paris, Tokio und Hankou, die jeweils nur über einen einzigen Mitarbeiter verfügten, konnten ihre Berichterstattung nur eingeschränkt fortsetzen. 19 andere Beobachtungsposten der TASS existierten de facto nur noch auf dem Papier.31 Was Stalin und seine Henker anrichteten, verdeutlicht eine Bemerkung des Redakteurs der „Deutschen Zentralzeitung“ in Moskau, Gofman. „Man kann sich kein Bild der Ereignisse in Deutschland aufgrund von TASS-Informationen machen“, behauptete der ehemalige Mitarbeiter der INO-TASS und Auslandskorrespondent der „Pravda“ in Berlin am 2. April 1938 vor Vertretern der Parteiführung, der Diplomatie und der Moskauer Presse.32 Zwei Wochen später informierte Chavinson Stalin und Molotov über die Folgen der Säuberung im Auslandsapparat der TASS. Seit Monaten, so die Bestandsaufnahme, hatte die TASS keine Auslandskorrespondenten mehr in Berlin, Rom, Warschau, Ankara, Barcelona, Schanghai, Tallinn, Kaunas, Helsinki, Teheran, Athen, Oslo, Kopenhagen, Stockholm, Brüssel, Riga, Budapest, Sofia und Kanton.33 Der Interimsleiter der TASS legte gleichzeitig einen realitätsfernen und aktionistischen Plan vor, dem zufolge innerhalb von acht Wochen 28 Mitarbeiter ins Ausland entsandt werden sollten, um die Büros zu besetzen.34 Die Frage nach Rekrutierungsquellen wurde dabei ausgeklammert. Es vergingen fast drei Monate, bis Molotov und Stalin den Volkskommissar fürs Auswärtige um eine Stellungnahme zu dem Brief von Chavinson baten. „Zurzeit“, schrieb Litvinov am 11. Juli 1938 an die sowjetischen Führer, „kann man vom Korrespondentennetz der TASS nicht sprechen, weil es nicht existiert“.35 Er schlug vor, zunächst vakante Stellen in zwölf „Hauptstädten“ zu besetzen, und zwar in

30 Der Beschluss des Politbüros vom 26.03.1938, „Über das Büro der TASS in Wien“, RGASPI 17/3/997/60. 31 Vgl. die Ansprache des Leiters der Auslandsabteilung der TASS, L. Berezov, auf der TASS-Konferenz, 01.04.1938, GARF 4459/11/979/99 f. 32 Die Ansprache des Redakteurs der „Deutschen Zentralzeitung“, Gofman, auf der TASS-Konferenz, 02.04.1938, GARF 4459/11/979/132. 33 Chavinson an Stalin und Molotov, 16.04.1938, GARF 5446/22a/397/9. 34 Ebd. 35 Litvinov an Molotov, Kopie an Stalin, 11.07.1938, GARF 5446/22a/397/3.

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Die Auslandsbüros und die Auslandskorrespondenten der TASS

der folgenden „Reihenfolge“: „1. Berlin, 2. Warschau, 3. Rom, 4. Ankara. 5. Riga, 6. Kaunas, 7. Tallinn, 8. Helsinki, 9. Teheran, 10. Barcelona, 11. Brüssel, 12. Stockholm“.36 Der Volkskommissar für Auswärtige Angelegenheiten hatte aber wenig Grund zum Optimismus. Mit Sorge und Hilflosigkeit musste er die Auflösung des ihm unterstehenden diplomatischen Auslandsapparates beobachten. Mehrmals warnte er Stalin – wie im November 1937 beim Hinweis auf unbesetzte Botschafterstellen in Deutschland, Polen, Finnland, Lettland, Litauen, Griechenland, Afghanistan und China37 –, dass die außenpolitische Handlungsfähigkeit der Sowjetunion durch ein langes Wegbleiben sowjetischer Diplomaten von ihren Dienstorten stark eingeschränkt war. Im Januar 1939, rund vier Monate vor seiner Entlassung, präsentierte Litvinov Stalin die letzte Bilanz der Säuberung: Die Sowjetunion verfügte zu diesem Zeitpunkt über keine Botschafter in Washington, Tokio, Warschau, Bukarest, Barcelona, Kaunas, Kopenhagen, Budapest und Sofia; vakant waren noch 107 Stellen, die zu Führungspositionen des Botschaftskaders zählten.38 Auch dieses Mal erfolgte keine Reaktion des sowjetischen Führers, der es bei der Vernichtung der ‚fünften Kolonne‘ offensichtlich in Kauf nahm, dass informationelle und wissensspezifische Grundlagen der sowjetischen Auslandsanalyse fast komplett zerstört wurden.39 Die „Lähmung“ der diplomatischen Kommunikation im Zeitraum 1937–193940 korrespondierte mit dem Zusammenbruch medialer Beobachtungsapparate, was schließlich zu einer nach 1921 beispiellosen Abkapselung von der Außenwelt führte. Anfang 1939 waren es die TASS-Büros in New York, London, Paris, Tokio und Prag, die Moskau noch informierten. Der künftige Leiter der TASS, Nikolaj Palgunov, der fast zwei Jahre lang aus Paris allein berichtet hatte, zeigte sich im Februar 1939 dermaßen verzweifelt, dass er die Zentrale ernsthaft mit dem Vorschlag konfrontierte, „den Rest des Korrespondentennetzes im Ausland zu liquidieren“.41 Nicht einmal der Etat seines Büros für die Jahre 1938 und 1939 wurde aufgestellt.42 Auch der TASS-Korrespondent in Tokio, der ohne Mitarbeiter auskommen musste, sprach resignierend vom „Unmöglichen“.43 36 Ebd. 37 Litvinov an Stalin, Kopie an Molotov, 15.11.1937, AVP RF 05/17/126/1/354. Im Oktober 1937 ging es um neun vakante Botschafterstellen: Litvinov an Stalin, 27.10.1937, AVP RF 05/17/126/1/341. 38 Litvinov an Stalin, 03.01.1939, in: Dokumenty vnešnej politiki, Bd. 22/1, S. 10. 39 Vgl. Pietrow, Stalinismus – Sicherheit – Offensive, S. 301; Haslam, The Soviet Union and the Struggle, S. 235. 40 Dullin, Men of Influence, S. 224. Zur Bilanz der Säuberung: ebd., S. 213 und S. 306. 41 Der Interimsleiter des TASS-Büros in Paris, Palgunov, an Chavinson, 10.02.1939, GARF 4459/38/102/57. 42 Ebd. 43 Der TASS-Korrespondent in Tokio, Mering, an Chavinson, 15.06.1939 und 25.11.1939, GARF 4459/38/102/292 f. u. 271.

Die Auslandsbüros der TASS und ihre geographische Verteilung

Erste Bemühungen, die Folgen des Großen Terrors zu bewältigen und den Auslandsapparat der TASS wiederaufzubauen, begannen nach dem Nichtangriffspakt mit dem Deutschen Reich im August 1939. Um die Jahreswende 1939/1940, als die Sowjetunion Finnland angriff und aus dem Völkerbund ausgeschlossen wurde, wurden konkrete Pläne zur medialen Rückkehr in die Weltpolitik ausgearbeitet. In Moskau ging man dabei davon aus, dass die TASS-Büros in London, Paris und „anderen Zentren“ kriegsbedingt geschlossen werden könnten. Daher plante man, „verstärkte Korrespondentenstützpunkte“ in Berlin, Stockholm, Kopenhagen, Budapest, Sofia, Athen, Brüssel, Tokio und Schanghai zu errichten. Zum Knotenpunkt der sowjetischen Auslandsberichterstattung in Europa sollte die Hauptstadt des Dritten Reiches werden: Der entsprechende Personalplan sah den Einsatz von „mindestens“ fünf Redakteuren und zahlreichen Hilfskräften mit Kenntnissen des Deutschen, Englischen, Französischen und anderer Sprachen vor.44 „Für den Fall der Verschlechterung der Beziehungen zu Amerika“ beabsichtigte die TASS, vor allem mit Hilfe ihrer Büros in Japan und China den gesamten pazifischen Raum im Blick zu behalten.45 Bis Juli 1940 entsandte die TASS 22 Mitarbeiter ins Ausland, weitere 24 Personen standen kurz vor ihrer journalistischen Mission.46 Es wurden auch neue Beobachtungsposten errichtet: im Februar 1940 in Budapest und Oslo, im März in Kopenhagen, Ende Mai in Bratislava, Anfang Juni in Istanbul und im Juli 1940 in Belgrad. Zum ersten Mal avisierte die TASS, ihre Büros in Kanada und Mexiko zu eröffnen.47 Im September 1940 zählte der Auslandsapparat der TASS 111 Personalstellen48 – so viel wie nie zuvor. 1940 wurde Schanghai zum wichtigsten journalistischen Standort in Asien ausgebaut. Bereits im Januar 1940 konfrontierte Chavinson Molotov mit der Idee, von der Hafenmetropole aus die gesamte Berichterstattung über China, Japan und Indochina zu koordinieren.49 Im September 1940 legte er einen Plan vor, dem zufolge ein Netzwerk von Korrespondentenstützpunkten in Niederländisch-Indien (Sumatra, Java, Borneo, Neuguinea), Singapur, Siam, Indochina, Hongkong, Formosa sowie in der Mandschurei und in anderen von Japan okkupierten Teilen Chinas aufgebaut werden sollte, das von Schanghai zu steuern war und das Ziel

44 Chavinson an Molotov, 09.01.1940, GARF 4459/38/106/213. 45 Vgl. die von Chavinson für Molotov verfassten Entwürfe „über die Organisationsmaßnahmen der TASS im Zusammenhang mit der gegenwärtigen internationalen Situation“ (Januar 1940), GARF 4459/38/106/188 f., und die Endversion des Schreibens über die „Neuorganisation“ der Auslandsberichterstattung: Chavinson an Molotov, 09.01.1940, GARF 4459/38/106/213-215. 46 Chavinson an den Wirtschaftsrat beim SNK, 10.08.1940, GARF 5446/24a/757/7. 47 Chavinson an Molotov und Stalin, 07.12.1940, GARF 4459/38/107/23 f. 48 GARF 5446/24a/757/19. 49 Chavinson an Molotov, 09.01.1940, GARF 4459/38/106/214.

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Die Auslandsbüros und die Auslandskorrespondenten der TASS

hatte, „jeden Schritt Japans in Richtung der Südmeere“ zu registrieren.50 Am 12. November 1940, gerade als Molotov mit Hitler und Ribbentrop in Berlin über die Neuaufteilung von Einflusssphären verhandelte, fasste das Politbüro den Beschluss, dem TASS-Büro in Schanghai einen monatlichen Etat von 20.000 Rubel zur Verfügung zu stellen, der für den Aufbau eines Informantennetzwerkes vorgesehen war, wobei man vor allem auf Dienstleistungen europäischer und amerikanischer Journalisten zurückgreifen wollte. Dass man in der chinesischen Metropole noch einen Propagandaapparat (Radiostationen, Zeitungen) mit dem Zweck der Verbreitung sowjetischer Informationen im pazifischen Raum errichten wollte51 , deutete an, dass der Kreml sich auf die Eventualität eines globalen Weltkrieges einstellte. Die Wiederherstellung des Korrespondentennetzes 1940 etablierte eine neue Hierarchie in der Rangordnung der TASS-Büros. Die am besten mit Personal ausgestatteten Beobachtungsposten lagen nicht mehr in Europa, sondern in Amerika und China (vgl. Tab. 2152 ), was darauf schließen lässt, dass die sowjetische Auslandsberichterstattung nicht mehr europazentriert organisiert war, sondern eine globale Ausrichtung bekam, die jedoch erst nach dem Zweiten Weltkrieg voll zur Geltung kam. Tabelle 21 Die Anzahl der Mitarbeiter in den Auslandsbüros der TASS, Stand 1. Dezember 1940 TASS-Büros

Anzahl der Mitarbeiter

New York

16

Tientsin

13

Schanghai

7

London

6

Berlin

5

Bukarest

5

Quelle: GARF 4459/38/104/231 ff.

2.2 Die Auslandsjournalisten der TASS: Sozialisation, Selbstverständnis, Arbeitsprogramme Die Auslandskorrespondenten der TASS waren journalistische Weltbeobachter, die das mediale Auslandsbild der Sowjetunion von 1923 bis 1937 entscheidend prägten.

50 Chavinson an Molotov und Berija, 18.09.1940, GARF 4459/38/107/183; Chavinson an Vyšinskij, 23.09.1940, GARF 4459/38/107/175. 51 Der Beschluss des Politbüros vom 12.11.1940, „Über das Büro der TASS in Schanghai“, RGASPI 17/162/30/8. 52 Das Personenverzeichnis der Mitarbeiter des Auslandsapparates der TASS, Stand 01.12.1940, GARF 4459/38/104/231 ff.

Die Auslandsjournalisten der TASS: Sozialisation, Selbstverständnis, Arbeitsprogramme

Die Sowjetpresse druckte täglich ihre Meldungen und Berichte ab, auch die Volkskommissare für Auswärtige Angelegenheiten, Čičerin und Litvinov, sowie Stalin und andere Mitglieder des Politbüros griffen im Rahmen des außenpolitischen Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozesses regelmäßig auf ihre Berichterstattung zurück.53 Im aktuellen Kapitel werden drei Fragenkomplexe behandelt: Erstens, welche politischen und beruflichen Sozialisationsmuster waren für die Auslandskorrespondenten der TASS typisch und welchem Wandel unterlagen sie in der Zwischenkriegszeit? Zweitens, welche Rollenbilder pflegten die TASS-Journalisten und wie beeinflussten diese die Praxis der Nachrichtenproduktion sowie journalistische Darstellungsprogramme? Drittens, welcher Informationsquellen bedienten sich die Korrespondenten und durch welche Faktoren sowie Sachzwänge wurden ihre Informationssammlungsprogramme konditioniert? Die Anforderungen, die die TASS an Kandidaten für die Arbeit im Ausland und Redakteure in Moskau stellte, waren recht ähnlich: Journalistische Erfahrung und gute Fremdsprachenkenntnisse galten als grundlegende Qualifikationskriterien. Man erwartete eine vorzügliche Allgemeinbildung sowie ein profundes Wissen in der Landeskunde und der Weltpolitik.54 Dies entsprach im Ganzen der Selbstbeschreibung der TASS-Journalisten, die solche Qualitäten wie „die Sprachkompetenz, die Orientierung in der internationalen Lage sowie die Kenntnis der Landeskunde und politischer Akteure“ als Schlüsselqualifikationen betrachteten.55 Im idealtypischen Eigenschaftskatalog, der sich an „ausländischen Kollegen“ orientierte, hob Chavinson noch die „Operativität“, „Durchtriebenheit“ (pronyrlivost’) sowie „Feinfühligkeit“ (čut’e) hervor.56 Die berufliche Sozialisation begann meistens in der Zentralredaktion, entweder im Rahmen regulärer Redaktionstätigkeit oder in Form eines Praktikums bzw. eines „Vorbereitungskurses“. In dieser Zeit lernten angehende Auslandskorrespondenten professionelle Normen und Werte kennen und hatten die Möglichkeit, ihre journalistischen und sprachlichen Kompetenzen zu verbessern.57

53 Zum Beispiel Litvinov an Stalin, Kopien an Molotov, Vorošilov, Ordžonikidze, 22.02.1936, AVP RF 05/16/114/1/46. Kaganovič und Molotov an Stalin, 15.09.1935, in: Chlevnjuk (Hrsg.), Stalin i Kaganovič, S. 567. 54 Vgl. den Beschluss der Sitzung beim verantwortlichen Leiter der TASS „über die Arbeit der Auslandskorrespondenten“, 15.11.1931, GARF 4459/38/39/29; Doleckij an den Botschafter in Wien, Jurenev, 09.01.1931, GARF 4459/38/40/146; der Botschafter in Berlin, Krestinskij, an Doleckij, Kopien an Litvinov und Kaganovič, 15.01.1930, GARF 4459/38/35/14 f. 55 Der Korrespondent der TASS in Berlin, A. Karnit, an Chavinson, 16.11.1937, GARF 4459/38/89/78. 56 Chavinson an alle Auslandskorrespondenten der TASS, 15.03.1941, GARF 4459/38/103/1. 57 Vgl. zum redaktionellen Sozialisationsprozess: Warren Breed, Soziale Kontrolle in der Redaktion: eine funktionale Analyse, in: Jörg Aufermann (Hrsg.): Gesellschaftliche Kommunikation und Information: Forschungsrichtungen und Problemstellungen, Frankfurt a.M. 1973, S. 361.

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Die Auslandsbüros und die Auslandskorrespondenten der TASS

Die INO-TASS rekrutierte ihre künftigen Auslandsbeobachter in erster Linie an den Moskauer Universitäten und Instituten, die sehr gute Fremdsprachenkenntnisse und landeskundliches Wissen vermittelten (unter anderem das Moskauer Institut für Fremdsprachen, das Institut für Orientkunde, das Institut der Roten Professur und das Staatsinstitut für Journalistik). Eine zweite Rekrutierungsquelle stellte die Provinz- und Lokalpresse dar. Die Parteiführung förderte ab 1928/1929 mit Nachdruck junge, kommunistische Journalisten, die dem bäuerlich-proletarischen Milieu angehörten und den Wertehorizont der Parteiführung teilten. Sie hatten die Aufgabe, bürgerliche Spezialisten aus den Redaktionen der Massenmedien zu verdrängen und den gesellschaftlichen Mobilisierungsprozess voranzutreiben. Im Herbst 1929, zu Beginn der forcierten Industrialisierung, traten der INO-TASS zum ersten Mal ca. 15 Jungjournalisten bei, die innerhalb von zehn bis zwölf Monaten auf die journalistische Arbeit im Ausland vorbereitet werden sollten. Unter ihnen befand sich auch der künftige Leiter der TASS, Nikolaj Palgunov, der die Vorbereitungsphase wie folgt beschrieb: Man lernte Fremdsprachen, übersetzte Telegramme, sichtete Auslandszeitungen und stellte Presseübersichten zusammen. Vier bis sechs Wochen vor der Entsendung ins Ausland wurden Anwärter von allen operativen Aufgaben in der Redaktion befreit und konnten sich ausschließlich auf ihr künftiges Berichterstattungsland spezialisieren.58 Auch Palgunov entging es nicht, dass ein knappes Jahr in der Zentralredaktion kaum dafür ausreichte, um sich notwendige Routinen und Fertigkeiten anzueignen. „Die Defizite professioneller Vorbereitung“59 wurden erst im Ausland abgebaut, als man unter Realbedingungen, in der Rolle des Auslandskorrespondenten, lernte, „journalistisch zu lesen“ und „Zugänge zur massenmedialen und politischen Welt“ zu erschließen.60 In der INOTASS kursierte über den Vorbereitungsstand angehender Berichterstatter sogar ein Witz: Um Auslandskorrespondent zu werden, so munkelt man, braucht man keine Fremdsprachenkenntnisse, kein landeskundliches Wissen und muss überhaupt nicht schreiben können.61

Die Rekrutierungsoffensive vom Herbst 1929 war der erste Versuch der Parteiführung, auf politische Sozialisationsmuster der Auslandskorrespondenten Einfluss zu nehmen. Es folgte eine Welle von Ersetzungen bürgerlicher Journalisten, von der elf

58 Nikolaj Palgunov, Tridcat let. Vospominanija žurnalista i diplomata, Moskau 1964, S. 7. 59 Ebd. 60 Der Botschafter in Prag, Aleksandrovskij, an den Interimsleiter der TASS, Chavinson, Kopie an den Leiter der Presseabteilung des NKID, Gnedin, 30.09.1937, GARF 4459/38/88/101. 61 Die Redakteurin der INO-TASS, Miziano, auf der TASS-Konferenz, 22.03.1937, GARF 4459/11/866/41.

Die Auslandsjournalisten der TASS: Sozialisation, Selbstverständnis, Arbeitsprogramme

TASS-Standorte, darunter die Hauptbüros in London, Berlin und Paris, betroffen waren.62 Der soziopolitische und kulturelle Hintergrund der TASS-Journalisten war heterogen und man kann mehrere Dichotomien feststellen: in staatsbürgerlicher Hinsicht – Sowjetbürger/Ausländer, in Bezug auf die soziale Herkunft – bürgerlich/proletarisch, hinsichtlich politischer Sozialisation – stalinistisch/nichtstalinistisch. Einige, wie Andrew Rothstein in London und Kenneth Durant in New York, die im Milieu des britischen bzw. amerikanischen Journalismus sozialisiert worden waren, hatten überhaupt keinen Bezug zur Lebenswirklichkeit der Sowjetunion und verfügten über einen anderen politischen und kulturellen Erfahrungshorizont als ihre sowjetischen Kollegen. Dabei galten sie als ‚Stars‘ unter den TASSJournalisten und wiesen die längsten Dienstzeiten als Büroleiter auf. Kenneth Durant (1899–1972), der das TASS-Büro in New York von 1923 bis 1944 leitete, stammte aus einer wohlhabenden amerikanischen Familie in Philadelphia, hatte 1921 das Harvard College absolviert und danach bei „The Philadelphia Bulletin“ gearbeitet. Zu seinen Freunden zählten die weltweit bekannten Journalisten John Reed und Walter Lippmann. Zu den amerikanischen Botschaftern in der Sowjetunion, William Bullitt (1933–1936) und Joseph Davies (1936–1938), hatte Durant ein ausgesprochen vertrauliches Verhältnis und er beteiligte sich regelmäßig am diplomatischen Kommunikationsprozess.63 Andrew Rothstein (1898–1994), geboren in London als Sohn des politischen Emigranten Fedor (Theodore) Rothstein, stand von 1921 bis 1939 an der Spitze des TASS-Büros in der britischen Hauptstadt und berichtete als Sonderkorrespondent aus Genf (1935–1938) und Barcelona (1936–1937). Mit seinem Vater, der zwischen 1923 und 1930 die Presseabteilung des NKID leitete, teilte er nicht nur das marxistische Weltbild, sondern auch herausragende journalistische und analytische Fähigkeiten, die ihm eine außerordentliche Wertschätzung seitens der Sowjetdiplomaten einbrachten. Čičerin, der vom Sachverstand Rothsteins sehr angetan war, hatte die Gewohnheit, ihn liebevoll „Andrjuscha“ zu nennen.64 Auch Litvinov kooperierte eng mit dem TASS-Korrespondenten, der regelmäßig seine Ansprachen vor dem Völkerbund in Genf redigierte.65 In der TASS selbst galt Rothstein als Musterkorrespondent. Doleckij hielt die Berichterstattung des Briten

62 Die Sitzung des Sekretariats des CK am 20.09.1929, RGASPI 17/113/777/56. 63 Der Leiter des TASS-Büros in New York, Kenneth Durant, an Doleckij, 23.12.1936, in: G. Sevostjanov (Hrsg.), Sovetsko-amerikanskie otnošenija. 1934–1939, Moskau 2003, S. 517–519. 64 Čičerin an den stellvertretenden Leiter der TASS, Komarovskij, 13.08.1925, GARF 4459/38/6/31. 65 Vgl. Zinovij Schejnis, Maksim Maksimovič Litvinov: revoljucioner, diplomat, čelovek, Moskau 1989, S. 326.

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Die Auslandsbüros und die Auslandskorrespondenten der TASS

für „außerordentlich wertvoll“66 und hatte immer ein offenes Ohr für seine Bitten und Ratschläge. Rothsteins journalistische Mission nach Barcelona im Dezember 1936 kann als politischer Informationsauftrag Stalins verstanden werden67 , der dem Bürgerkrieg in Spanien höchste Aufmerksamkeit schenkte und sich gründlich informieren wollte. Der Große Terror, der bereits als Politik des Social Engineering beschrieben wurde, verschärfte den für die Stalin-Zeit typischen Konflikt zwischen politischer Loyalität und professioneller Kompetenz und etablierte schließlich das Primat des Ideologischen, einer uneingeschränkten Identifikation mit dem stalinistischen Weltbild. Die Treue zum Regime und zum Führer stand über allem.68 Die erste Säuberungswelle rollte im Frühling 1937 über das Korrespondentennetz der TASS hinweg. Im Sommer, als Chavinson die Führung in der Nachrichtenagentur übernahm, erreichte sie ihren Höhepunkt. Am 19. Juni 1937 richtete der provisorische Leiter der TASS ein Schreiben an Stalin, in dem er darauf drängte, die Mitarbeiter der TASS-Büros in Berlin, Paris, Brüssel, Tokio, Rom, Wien, Stockholm, Schanghai, Peking, Istanbul, Prag, Riga und Amsterdam zu „überprüfen“ oder zu „ersetzen“.69 Es war ein tiefes „Misstrauen“, das die sowjetische Führung zur Abberufung und Entlassung von Auslandsjournalisten veranlasste.70 Ende November 1937 gab es nur drei Korrespondenten der TASS, die als Sowjetbürger aus dem Ausland berichteten: Rogov in Nanking, Palgunov in Paris und Bodrov in Bukarest.71 Ihre Berichterstattung fand in einer Atmosphäre statt, die von Angst und immenser Unsicherheit geprägt war. Die Hexenjagd-Mentalität, die sich breitmachte, verwischte weitgehend die Grenze zwischen einem „politischen Fehler“ und der „Schädlingstätigkeit“. Dies reflektierte auch Palgunov, als er sich beschwerte, dass die Möglichkeit einer Fehlleistung ihn „unaufhörlich“ belaste und er ständig daran denke, welche „schwerwiegende Folgen“ seine Fehler für die Sowjetunion nach sich ziehen könnten.72

66 Doleckij an Andrew Rothstein, die Kopie an den sowjetischen Botschafter in London, Rosenholz, 19.05.1926, GARF 4459/38/11/33. 67 Vgl. den Beschluss des Politbüros vom 27.12.1936, „Über den Genossen A.F. Rothstein“, RGASPI 17/3/982/6. 68 Vgl. Dullin, Men of Influence, S. 228. 69 Chavinson an Stalin, 19.06.1937, GARF 4459/38/87/30-32. Publiziert in: L. Maksimenkov (Hrsg.), Bolšaja cenzura: Pisateli i žurnalisty v Strane Sovetov. 1917–1956, Moskau 2005, S. 472–474. 70 Vgl. Molotovs Notiz zum Schreiben von Chavinson an Stalin vom 19.06.1937, in: Maksimenkov (Hrsg.), Bolšaja cenzura, S. 474. 71 Chavinson an den Sekretär des CK, Andreev, und den Leiter der Presseabteilung des CK, Mechlis, 21.11.1937, GARF 4459/38/86/21. 72 Der TASS-Korrespondent in Paris, Palgunov, an den Interimsleiter der TASS, Chavinson, 07.03.1938, GARF 4459/38/94/201.

Die Auslandsjournalisten der TASS: Sozialisation, Selbstverständnis, Arbeitsprogramme

Die Jahre 1937–1938 markierten einen sozialisationsspezifischen Paradigmenwandel: Fast alle Auslandsjournalisten mit bürgerlichem Hintergrund und einer politischen Sozialisationserfahrung außerhalb der stalinistischen Mobilisierungsdiktatur wurden beseitigt. An ihre Stelle traten – wenn auch mit Verzögerung – junge Journalisten, die in einer Diktatur aufgewachsen waren und in ihrem Denkund Perzeptionshaushalt über keine Alternativen zum stalinistischen Weltbild verfügten. Auch Sozialisationsformen und -maßstäbe wandelten sich grundlegend: Chavinson fasste ins Auge, künftige Auslandsjournalisten an einer Fachhochschule in Moskau unter Kontrolle der Parteiführung auszubilden. Als zentrale Aufnahmekriterien nannte er die Parteimitgliedschaft von mindestens fünf Jahren und die Kenntnis einer Fremdsprache.73 Seine Vorschläge wurden ohne Zweifel von kaderpolitischen Vorstellungen des sowjetischen Führers inspiriert, der bestrebt war, eine loyale journalistische Elite mit einem homogenen Wertehorizont zu kreieren. Aufschlussreich für die Sozialisationszäsur, die der Große Terror markierte, ist ein Vergleich zwischen zwei Generationen der Auslandskorrespondenten der TASS. Die Vertreter der alten Generation waren in der Regel vor 1900, in bürgerlichen Familien geboren. Ein Sample aus dem Jahr 1925, das die Angaben zu 17 Auslandskorrespondenten der TASS enthält, zeigt, dass 90% von ihnen zum Bildungsbürgertum gehörten und nur 10% aus Arbeiterfamilien stammten.74 Viele Journalisten hatten im Ausland gelebt oder dort studiert und beherrschten mehrere Fremdsprachen. Die durchschnittliche Dauer der Zugehörigkeit zur bolschewistischen Partei betrug 1925 8,5 Jahre, was darauf hindeutet, dass sich die meisten bereits während der Revolution der Partei angeschlossen hatten und mit bolschewistischen Werten durchaus identifizierten. Die neue Generation von Auslandskorrespondenten war relativ jung (nach 1900 geboren), überwiegend russischer Herkunft und politisch in der Sowjetunion sozialisiert. Sie stammte aus Bauern- und Arbeiterfamilien, war nie im Ausland gewesen und beherrschte kaum Fremdsprachen. Einige Vertreter der stalinistischen Avantgarde hatten zwar journalistische Erfahrungen in lokalen und regionalen Zeitungen gesammelt, die Praxis des Auslandsjournalismus blieb ihnen jedoch unbekannt.75 Da junge Korrespondenten das Ausland nur aus dem bizarren und äußerst selektiven Bild der Sowjetpresse kannten, neigten sie besonders in der ersten Phase ihrer journalistischen Mission dazu, mit Denkfiguren und Erwartungsmustern

73 Chavinson an Stalin und Molotov, 22.07.1937, GARF 4459/38/87/70 f. 74 RGASPI 671/1/16/174. 75 Vgl. exemplarisch die Personalunterlagen der neu ernannten TASS-Korrespondenten in Berlin, Prag und Kowno, 06.10.1938, RGASPI 17/114/882/246-256, 283-285. Die Parallelen zur neuen Diplomatengeneration sind offensichtlich: Vgl. Derek Watson, Molotov: a Biography, Hampshire/New York 2005, S. 156.

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Die Auslandsbüros und die Auslandskorrespondenten der TASS

der sowjetischen Massenmedien zu operieren. Paradigmatisch hierfür war die Berichterstattung des Journalisten Sverlov, der im Herbst 1939 nach London entsandt wurde. In einem seiner ersten Berichte informierte er die Zentralredaktion darüber, dass England „einen großen Krieg gegen die Sowjetunion vorbereitet“.76 Selbst Chavinson gingen solche Vorhersagen zu weit: Der Leiter der TASS kritisierte die Analyse von Sverlov als „äußerst oberflächlich“ und ermahnte ihn mit Nachdruck, sich an „Fakten, Fakten und noch einmal Fakten“ zu halten.77 Aber wie konnte der unerfahrene Korrespondent überhaupt sachlich informieren, wenn er auch nach einem halben Jahr in London die Sprache seines Berichterstattungslandes nach wie vor schlecht beherrschte?78 In dem oben zitierten Brief an Stalin machte Chavinson noch darauf aufmerksam, dass von 57 Angestellten des Auslandsapparates der TASS 26 ausländische Staatsangehörige waren.79 Das Problem, ob man ihnen vertrauen konnte oder nicht, verschärfte sich in der Zeit des Großen Terrors, wurde aber auch vor 1937 als großes Dilemma betrachtet, das einer Lösung bedurfte. Doleckij teilte die Sicht, dass ausländische Mitarbeiter nicht auf Dauer die Schlüsselpositionen einnehmen durften. Als man Ende 1933 über die Besetzung des neu errichteten TASS-Standortes in Washington diskutierte, lehnte der Leiter der TASS dezidiert die Kandidatur des amerikanischen Journalisten Laurence Todd ab, der jahrelang dem New Yorker Büro angehört hatte und von Litvinov favorisiert wurde. Die Argumente von Doleckij spiegelten das bolschewistische Misstrauensdispositiv wider: Der Amerikaner wurde als „nicht unser Mensch“ und „parteilos“ bezeichnet. Auch die Möglichkeit seiner Arbeit für ausländische Spionagedienste wollte man nicht ganz ausschließen.80 Mehr Vertrauen brachte Doleckij Durant entgegen, den er mit einem Hauch von Paradoxie wie folgt charakterisierte: „bekannt, bewährt, wenn auch parteilos“.81 Insgesamt kann man die Tendenz beobachten, dass die TASS und das NKID die repressive Personalpolitik der Parteiführung, die darauf ausgerichtet war, die Anzahl der Nichtsowjetbürger in diversen Auslandsapparaten zu reduzieren, nicht unbedingt unterstützten und auch nicht krampfhaft am Primat der ideologischen Zuverlässigkeit festhielten. Der sowjetische Botschafter in Prag, Aleksandrovskij, scheute sich nicht, seinen Unmut über die Entlassung eines tschechischen Mitarbeiters des TASS-Büros offen zu artikulieren, indem er Moskau davor warnte, einen „politisch gebildeten“ Journalisten mit guten Russisch- und Deutschkenntnissen

76 77 78 79 80 81

Der TASS-Korrespondent in London, Sverlov, an Chavinson, 10.12.1939, GARF 4459/38/98/51. Vgl. Chavinson an Sverlov, 28.12.1939, GARF 4459/38/98/90. Der Leiter des TASS-Büros in London, Rothstein, an Chavinson, 10.03.1940, GARF 4459/11/1214/19. Chavinson an Stalin, 19.06.1937, in: Maksimenkov (Hrsg.), Bolšaja cenzura, S. 472. Vgl. Doleckij an den Sekretär des CK, Kaganovič, 19.12.1933, GARF 4459/33/58/6. Doleckij an den Sekretär des CK, Kaganovič, 19.12.1933, GARF 4459/38/58/6.

Die Auslandsjournalisten der TASS: Sozialisation, Selbstverständnis, Arbeitsprogramme

leichtfertig zu verlieren.82 Auch Doleckij wusste ausländische Mitarbeiter zu schätzen, die, wie er beobachten konnte, besonders „nützlich“ bei der Herstellung von Kontakten zu Informanten waren.83 Die Parteiführung wendete auf die Mitarbeiter des Auslandsapparates der TASS offenbar das gleiche Toleranzprinzip an, das ausländische Mitarbeiter des NKID betraf: Solange diese politisch als „absolut zuverlässig“ galten, durften sie weiterbeschäftigt werden, vorausgesetzt, es waren keine Sowjetmenschen mit vergleichbaren Qualifikationen zu finden.84 Im Februar 1928 legte eine Kommission des Politbüros fest, dass die TASS-Korrespondenten „unbedingt“ Sowjetbürger sein sollten. Man erhob aber „keine Einwände“, auch „Ausländer“, egal ob Kommunisten oder nicht, als technische Mitarbeiter im „Auslandsapparat der TASS“ zu beschäftigen.85 Der Beschluss hatte dennoch keine Auswirkung auf die Zusammensetzung des Auslandskaders: Anfang der 1930er Jahre waren die meisten Mitarbeiter der „Hauptbüros“ in London, Berlin und New York nicht Sowjetbürger.86 Einen Sonderfall stellte dabei die TASS-Vertretung in der amerikanischen Metropole dar, der zwischen 1923 und 1939 ausschließlich amerikanische Journalisten angehörten.87 Paradoxerweise löste der Große Terror nicht die ‚Ausländerfrage‘ in der TASS, die die stalinistische Kaderpolitik lange Zeit beschäftigte und umtrieb. Der Hauptgrund dafür ist im Fehlen qualifizierter sowjetischer Auslandsjournalisten zu sehen, das die Parteiführung dazu veranlasste, die Beschäftigung von Ausländern weiterhin zu dulden und ihre Auswechslung dilatorisch zu behandeln. Im Dezember 1940 waren die Leiter der TASS-Büros in New York und Washington nach wie vor Ausländer (Durant und Todd), die Sowjetbürger stellten eine Minderheit in New York (zwei zu 15), London (eins zu fünf) sowie in den TASS-Standorten in China (sieben zu 13) dar.88 Von 94 Personen, die zu dieser Zeit dem Auslandsapparat der TASS angehörten, waren insgesamt nur 51 (54%) sowjetische Staatsbürger.89 Das Defizit

82 Der sowjetische Botschafter in Prag, Aleksandrovskij, an den Stellvertreter des Volkskommissars für Auswärtige Angelegenheiten, Krestinskij, 29.09.1936, GARF 4459/38/76/98. 83 Doleckij an Čičerin, 16.02.1928, GARF 4459/38/3/110. 84 Vgl. den Beschluss des Politbüros vom 11.12.1935, „Über ausländische Mitarbeiter des NKID“, RGASPI 17/162/19/13. 85 Čičerin an Doleckij, 20.02.1928, GARF 4459/38/3/117. Der entsprechende Beschluss des Politbüros konnte nicht ermittelt werden. 86 Der verantwortliche Sekretär der Landsmannschaft der Berliner Botschaft, Krasnov, an Doleckij (Kopie an die Abteilung für Kultur und Propaganda des CK), 05.08.1931, GARF 4459/38/43/312. 87 Vgl. Rantanen, Howard Interviews Stalin, S. 6. 88 Die Führung der Propagandaabteilung des ZK, Aleksandrov, Puzin, Polikarpov, sowie der Leiter der Presseabteilung des NKID, Palgunov, an Malenkov, 17.01.1941, RGASPI 17/121/94/6. Vgl. auch Chavinson an Molotov, 16.01.1940, GARF 4459/38/106/210. 89 Das Personenverzeichnis der Mitarbeiter des Auslandsapparates der TASS, Stand 01.12.1940, GARF 4459/38/104/231 ff.

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an versierten Auslandsjournalisten blieb auch während des Zweiten Weltkrieges bestehen und es dauerte bis 1949 an, als die Sowjetisierung der wichtigen TASSStandorte in New York und London konkrete Formen annahm.90 Die politische und berufliche Sozialisation, die die journalistische Identität formt, spiegelt sich primär im professionellen Rollenverständnis. Dieses beinhaltet „distinkte Werthaltungen“91 und kann im Sinne des Habitus-Konzeptes von Bourdieu als „Erzeugungsgrundlage für Praktiken“92 verstanden werden. In der Forschung unterscheidet man idealtypisch zwischen zwei Rollenvorstellungen: einem neutralen Beobachter, der als „Mittler eines faktischen Weltgeschehens“ agiert, und einem Mitgestalter der Außenpolitik, dessen Berichterstattung mit konkreten Wirkungsabsichten verbunden ist.93 Beide Rollenbilder entsprechen gewissermaßen der redaktionellen Konditional- und der redaktionellen Zweckprogrammierung, die sich in der INO-TASS im Spannungsfeld von Informations- und Mobilisierungsjournalismus entfalteten (vgl. Kap. 1.5). Das journalistische Selbstverständnis der TASS-Korrespondenten war ambivalent: Als Vertreter eines Staates, der seine Werte und Zukunftsvisionen als Gegenentwurf zur bürgerlichen Welt formulierte, verstanden sie sich einerseits als kritische Beobachter des kapitalistischen Auslandes. Die politische, lebensweltliche Dimension ihres Rollenbildes wurde vor allem durch Erfahrungen der Revolutionszeit und des ‚großen Umbruchs‘ von 1929–1930 geprägt. Die berufliche Sozialisation in der TASS trug andererseits wesentlich zur Aneignung des Rollenbildes eines neutralen Beobachters bei. Wie unterschiedlich Doleckij und Chavinson von ihrem Sozialisationshintergrund und ihrem Weltbild her auch waren, sie orientierten sich doch in gleichem Maße an der Berufsethik des Informationsjournalismus. Im April 1927 kritisierte Doleckij den Leiter des Berliner TASS-Büros, Menkes, wie folgt: „Der TASS-Korrespondent hat kein Recht, wichtige Mitteilungen zu verschärfen oder zu ändern. Er täuscht dadurch die gesamte Sowjetpresse und die politischen Führer“.94 Zwölf Jahre später wies Chavinson den medialen Vertreter der TASS in Tallinn in ähnlichem Sinne an: Berücksichtigen Sie, dass Ihre Artikel aus der estnischen Presse über die internationale Politik in die Bulletins aufgenommen werden, die die Leiter der Partei und der Regierung informieren. Hier ist die absolute Genauigkeit gefragt.95

90 Der Leiter der TASS, Palgunov, an Stalin, 09.02.1949, RGASPI 82/2/907/42. 91 Vgl. Hafez, Die politische Dimension, S. 73. 92 Vgl. Pierre Bourdieu, Strukturen, Habitusformen, Praktiken, in: ders., Sozialer Sinn: Kritik der theoretischen Vernunft, Frankfurt a.M. 1993, S. 98. 93 Hafez, Die politische Dimension, S. 79. Vgl. auch Cohen, The Press and Foreign Policy, S. 20. 94 Doleckij an Menkes, 31.03.1927, GARF 4459/38/16/82. 95 Chavinson an den TASS-Korrespondenten in Estland, Ismestjev, 13.07.1939, GARF 4459/38/102/188.

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Seine Aufforderung, „Ereignisse wahrhaftig zu beleuchten, so, wie sie tatsächlich geschahen“96 , zeigt, dass er zudem zu einer naiven Auslegung des Objektivitätsbegriffs neigte, die eine Realität außerhalb des Beobachters voraussetzte. Die Objektivitätsverpflichtung als berufsethischer Imperativ implizierte einen Verzicht auf Wertungen und Kommentare und sorgte dafür, dass ideologische Präferenzen „im Zustand der Selbstkontrolliertheit“97 verblieben. Doleckij, der die institutionelle Identität der TASS am nachhaltigsten prägte, definierte das Neutralitätsgebot folgendermaßen: „Die offizielle Nachrichtenagentur kann nicht die deutsche Regierung aus dem Blickwinkel der ‚Roten Fahne‘ beurteilen“.98 Seiner Meinung nach hatten die Auslandskorrespondenten nicht so sehr „einen revolutionären Eifer“, sondern vielmehr „die politische Vernunft“ unter Beweis zu stellen.99 Der Leiter der TASS erwartete „eine sorgfältige und strenge Überprüfung“ von Meldungen100 , einen sachlichen Berichterstattungsstil sowie eine originalgetreue Wiedergabe von Zitaten.101 Die Faktenverzerrung und -erfindung galt dementsprechend als grobe Verletzung des professionellen Verhaltenskodex. Der sowjetische Botschafter in Belgien, Evgenij Rubinin, verteidigte den Korrespondenten in Brüssel, Pule, dem die INO-TASS vorwarf, die redaktionelle Linie nur ungenügend zu befolgen, mit dem Argument, dass er „bis jetzt keinen lebendigen Menschen für tot erklärte und keinen Mann in eine Frau verwandelte, wie es Ihre anderen Korrespondenten tun“.102 Die Berichterstattung der Auslandsjournalisten der TASS bzw. ROSTA war bereits in den frühen 1920er Jahren durch die Neutralitätsnorm geprägt. Die sowjetische Nachrichtenagentur hatte dabei offensichtlich keine Bedenken, auf Distanz zu Erwartungen und Prämissen der Presseabteilung des ZK zu gehen, die die Objektivität mit Parteiinteressen gleichsetzte und am Dogma der Weltrevolution festhielt. Als im August 1923 in Moskau Hoffnungen auf eine kommunistische Revolution in Deutschland aufflammten, stellte sich die Führung der ROSTA hinter ihren Korrespondenten in Berlin und lobte ihn ausdrücklich dafür, „eine ausführliche Antwort auf haltlose Bemerkungen des Genossen Vardin“, des Leiters der Presseabteilung 96 Chavinson an den TASS-Korrespondenten in Estland, Ismestjev, 02.11.1939, GARF 4459/38/102/152. 97 Vgl. Hafez, Die politische Dimension, S. 79. 98 Doleckij an Menkes, 02.02.1927, GARF 4459/38/16/68. 99 Doleckij an den sowjetischen Botschafter in Deutschland, Krestinskij, 27.01.1930, GARF 4459/38/35/13. 100 Doleckij und der Leiter der Auslandsabteilung der TASS, Madjar, an alle Abteilungsleiter und die Korrespondenten der TASS im Ausland, 24.03.1926, GARF 4459/11/83/4. 101 Doleckij an alle Büroleiter und Auslandskorrespondenten im Ausland, Februar 1933, GARF 4459/11/583/2. 102 Der Botschafter in Belgien, Rubinin, an Doleckij, Kopien an Litvinov und Astachov, 11.11.1936, GARF 4459/38/79/3 f.

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des Parteiapparates, gegeben zu haben, der „offenbar wünscht, dass in unseren Telegrammen alles brennt“. Die Zentralredaktion war „strikt dagegen, dass der Kriegskommunismus im Informationsbereich wiederaufersteht“.103 Nicht anders war die Haltung der INO-TASS, die propagandistische Semantiken und Umdeutungsversuche stets als „Biertischpolitik“ und „Agitation“ entschieden ablehnte.104 Der Begriff „objektive Darstellung“ war nicht nur normativ als Qualitätsmerkmal der Berichterstattung besetzt105 , sondern erfüllte die Funktion eines strategischen Rituals, sich vor Kritik zu schützen sowie eigene Entscheidungen und Wirklichkeitsdefinitionen zu legitimieren.106 Der Führungs- und Weltdeutungsanspruch der INO-TASS manifestierte sich unter anderem in Objektivitätsvorschriften, die es den Korrespondenten zur Pflicht machten, „eine absolute Genauigkeit“ bei der Quellenwiedergabe zu wahren107 , mit Fakten „sorgfältig“ und „gewissenhaft“ umzugehen sowie „zwischen den Behauptungen des Autors und den Schlussfolgerungen“ der TASS-Journalisten „streng zu unterscheiden“.108 Aber auch die Korrespondenten verteidigten ihre Berichterstattung mit Rekurs auf die Objektivitätsnorm. Der TASSVertreter in Teheran, dessen Meldungen in öffentlichen Bulletins der TASS nicht gedruckt wurden, polemisierte gegen das Publikationsveto seiner Redaktion: Darf man wahrscheinlich meine Informationen angesichts der freundschaftlichen Beziehungen zwischen dem Iran und der UdSSR nicht verwenden? Ich versuche dieses oder jenes Ereignis, das ich beobachte, objektiv zu bewerten. Die Wirklichkeit verschönern kann ich nicht (priukrašivat’ dejstvitelnost’ ja ne mogu).109

Ähnlich argumentierte der TASS-Korrespondent in Berlin, Sitkovskij, dessen Auslegung des Objektivitätsbegriffs dem Rollenverständnis eines kritischen Beobachters nahe war. Auf den Vorwurf der INO-TASS, man könne aus seiner Berichterstattung nicht verstehen, wie „die Faschisten sich überhaupt noch an der Macht halten“, erwiderte er mit dem Argument, dass „Informationen objektiv, aber nicht objektivistisch

103 Die ROSTA an den Korrespondenten in Berlin, Kamenskij, 25.08.1923, GARF 391/1/48/23. 104 Der Bericht des Leiters der Auslandsabteilung der TASS, Madjar, an Doleckij über die Arbeit der TASS-Büros in Berlin, London und Paris, 24.03.1926. GARF 4459/11/88/57. 105 Ebd. 106 Vgl.Christoph Neuberger, Objektivität, in: Weischenberg (Hrsg.), Handbuch Journalismus und Medien, S. 327. Der Begriff „strategisches Ritual“ geht auf Gaye Tuchman zurück: Objectivity as Strategic Ritual: An Examination of Newsmen’s Notions of Objectivity, in: American Journal of Sociology 4 (1971–1972), 600–679. 107 Doleckij an alle TASS-Büros (außer New York), 15.12.1925, GARF 4459/11/1/79. 108 Vgl. das Rundschreiben an alle Abteilungsleiter und TASS-Korrespondenten im Ausland, 16.06.1931, GARF 4459/38/9/42. 109 Der TASS-Korrespondent in Teheran, Jakovlev, an Doleckij, 09.12.1936, GARF 4459/38/79/125.

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sein sollten“. Es gehe ihm nicht darum, „Fakten für und gegen den Faschismus“ zu registrieren, sondern ihn zu „entlarven“.110 Die Neutralitätsnorm schloss neben berufsethischen und programmbezogenen Aspekten auch eine Schutzfunktion ein. Die meisten Auslandskorrespondenten der TASS berichteten unter restriktiven Bedingungen politischer Zensur, die die inhaltliche Ausgestaltung von Nachrichten beeinflusste und zu einem vorsichtigen Umgang mit eigenen Urteilen und Deutungen zwang. Als Hitler am 30. Januar 1933 an die Macht kam und die Pressezensur gegen die Auslandskorrespondenten in Berlin drastisch verschärft wurde, beeilte sich Doleckij, die TASS-Korrespondentin Annenkova an ihren Status als Vertreterin der staatlichen Nachrichtenagentur zu erinnern, und ermahnte sie, „äußerst vorsichtig mit Bewertungen umzugehen“, um sich selbst und die TASS nicht „in Misskredit zu bringen“.111 Im April 1933, als das Nazi-Regime durch Diskriminierungen und Boykotte immer mehr eine antisowjetische Pogromstimmung erzeugte, wies der Leiter der TASS Annenkova noch einmal an, „alle Bewertungen der Hitler-Regierung zu vermeiden“, die sie „in eine schwierige Lage versetzen könnten“. „Von außen gesehen“ sollte sie sich an das Neutralitätspostulat halten, mit „echten Bewertungen“ vorsichtig umgehen, nur in einem Maße, das „unter gegebenen Umständen“ möglich sei. Eine Einmischung in die deutsche Politik in jeglicher Form lehnte Doleckij ab und meinte, dass dies „den Interessen der UdSSR“ schaden würde.112 Eine wirklich zensurfreie Berichterstattung war in der Zwischenkriegszeit lediglich aus London, Paris, Stockholm und Genf möglich, wobei die Situation sich zu Beginn des Zweiten Weltkrieges deutlich verschlechterte. Selbst im liberalen England sah Andrew Rothstein sich gezwungen, „oft mit Nuancen und Andeutungen das auszudrücken, was man nicht direkt mitteilen kann“.113 Die Neutralitätsnorm als berufliche Handlungsmaxime war mit der Darstellungsform Nachricht eng verknüpft. Es ging um eine Strategie der Formatierung von Inhalten, die bestimmte, wie man die Welt beobachtete, beschrieb und erklärte.114 Der Meldungsstil stand nie zur Disposition: Informationen sollten „genau“, „klar“ und „kompakt“ sein, Telegramme „kurz und bündig“.115 Die TASS erwartete „kurze,

110 111 112 113 114

Der TASS-Korrespondent in Berlin, Sitkovskij, an Doleckij, 13.02.1936, GARF 4459/38/79/88. Doleckij an die Korrespondentin der TASS in Berlin, Annenkova, 04.02.1933, GARF 4459/11/602/9. Doleckij an die Korrespondentin der TASS in Berlin, Annenkova, 29.04.1933, GARF 4459/38/61/76. Rothstein an Chavinson, 10.03.1940, GARF 4459/11/1214/18. Vgl. Siegfried Weischenberg, Nachricht/Bericht, in: ders. (Hrsg.), Handbuch Journalismus und Medien, S. 306. 115 Der Bericht des Leiters der Auslandsabteilung der TASS, Menkes, auf der TASS-Konferenz, 28.08.1934, GARF 4459/11/638/30; Doleckij an den TASS-Korrespondenten in Spanien, Gelfand, 19.12.1936, GARF 4459/38/79/162; Doleckij an die TASS-Korrespondentin in Barcelona, Mirova, 14.11.1936, GARF 4459/38/79/175.

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einfache Phrasen, ohne Prophezeiungen, Vermutungen, Anmerkungen und Polemik“116 , kritisierte dementsprechend die „Weitschweifigkeit“117 und drohte ihren Korrespondenten an, „alles auszuschneiden“, was sie in Form von Eigenmeinung „hinzufügten“.118 Die TASS-Korrespondenten, die sich explizit als Mitgestalter der Außenpolitik verstanden und es wagten, ohne Abstimmung mit der Zentrale in den außenpolitischen Meinungsbildungsprozess einzugreifen, mussten mit Sanktionen rechnen. Ein Konflikt zwischen politischen und beruflichen Sozialisationseinflüssen bzw. zwischen individuellen Präferenzen und institutionellen Erwartungen war dabei vorprogrammiert. Der TASS-Korrespondent in Warschau, Valden, dessen Weltbild vom Wertehorizont und Begriffsvokabular der stalinistischen Mobilisierungsdiktatur geprägt war, erklärte sein (Rollen-)Dilemma gegenüber Doleckij wie folgt: Wie Sie wissen, gibt es keine absolute, objektive Wahrheit, sondern nur eine Klassenwahrheit […]. Ich kann mich nicht mit der Rolle eines unparteiischen Registrators von Fakten abfinden, mit der Rolle eines Beobachters von Ereignissen, die sich im uns feindlichen Polen ereignen.119

Wie bereits beschrieben wurde, setzte das Politbüro Valden am 16. Juni 1931, nur einige Monate nach seiner Ankunft in Warschau, wegen der Diffamierung des polnischen Politikers und Publizisten Mackiewiecz ab.120 Die Art und Weise, wie dies geschah, schockierte selbst erfahrene Diplomaten. „Per Telegraph und mit sofortiger Wirkung“ würden nur „zersetzte Personen“ oder jene entlassen, die „eine Antiparteilinie führen“, berichtete der Geschäftsträger der sowjetischen Botschaft in Warschau, Brovkovič, seinem Vorgesetzten.121 Dem Rollenbild eines neutralen Beobachters entsprach ferner ein strenges Verbot, sich im Ausland einer „aktiven politischen Tätigkeit“ zu widmen.122 Paradigmatisch hierfür war die Ingulov-Affäre. Der ehemalige Leiter der Presseabteilung des ZK, der

116 Die ROSTA an den Korrespondenten in Berlin, Kamenskij, 08.08.1924, GARF 391/1/48/149. 117 Doleckij an den TASS-Korrespondenten in Wien, Brun, 10.01.1928, GARF 4459/38/22/1. 118 Der TASS-Korrespondent in Prag, Sitkovskij, auf der Konferenz der INO-TASS, 28.08.1934, GARF 4459/11/638/39. 119 Doleckij an den Stellvertreter des Leiters des NKID, Krestinskij, Kopie an Stalin, 12.06.1931, GARF 4459/38/40/1. 120 Der Beschluss des Politbüros vom 16.06.1931 „über das Telegramm des Warschauer Korrespondenten der TASS“, RGASPI 17/3/830/4. Vgl. auch Ken/Rupasov, Politbjuro CK VKP (b), S. 235. Der Stellvertreter des Leiters des NKID, Krestinskij, an Doleckij, Kopie an Stalin, 06.06.1931, GARF 4459/38/40/4. 121 Der Geschäftsträger der sowjetischen Botschaft in Polen, Brovkovič, an das Mitglied des Kollegiums des NKID, Stomonjakov, 26.06.1931, GARF 4459/38/40/7. 122 Doleckij an Čičcerin, 16.02.1928, GARF 4459/38/3/110.

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bis 1929 die Propagandapolitik der Sowjetunion aktiv mitgestaltet hatte, berichtete seit 1931 als TASS- Korrespondent aus London. Er ließ sich scheinbar bedenkenlos auf die Zusammenarbeit mit britischen Kommunisten ein und stellte ihnen sogar „den Apparat sowjetischer Instanzen“ für „Parteizwecke“ zur Verfügung.123 Als Ingulovs Aktivitäten ins Visier des Scotland Yard gerieten, flüchtete er nach Berlin, um einer möglichen Verhaftung zu entgehen.124 Das alarmierte Politbüro bildete am 29. Oktober 1931 eine Untersuchungskommission, der der stellvertretende Leiter des NKID, Krestinskij, der sowjetische Botschafter in London, Sokolnikov, Doleckij und der Vertreter der Komintern, Pjatnickij, angehörten. Zwei Wochen später, nach eingehender Prüfung des Vorfalls, wurde Ingulov als TASS-Korrespondent abgesetzt und dem Volkskommissariat für Versorgung zugeteilt.125 Die Ereignisse in London veranlassten die TASS-Führung dazu, ihre Auslandskorrespondenten noch einmal daran zu erinnern, „bei jedem Kontakt zur Außenwelt und insbesondere zu kommunistischen Kreisen äußerste Vorsicht“ walten zu lassen. Dabei machte man ganz deutlich, dass „alle Mitarbeiter der TASS auf Parteiarbeit jeder Art verzichten müssen“.126 Die Erwähnung von „Kontakten zur Außenwelt“ spielte möglicherweise auch auf einen heiklen Aspekt der Tätigkeit der Auslandsjournalisten an, der die Verstrickung in die Propaganda- und Spionagearbeit tangierte. Im TASS-Bestand selbst finden sich diesbezüglich keine Hinweise. Die Frage, inwiefern die Korrespondenten in sowjetische Spionageaktivitäten involviert waren, kann daher nicht umfassend beantwortet werden. Zweifellos stand die Führung der TASS allen Versuchen, ihre journalistischen Beobachter in illegale Geschäfte zu verwickeln, negativ gegenüber. Als die Komintern im Mai 1926 an Doleckij mit der Bitte herantrat, im Pariser TASS-Büro einen Informanten unterzubringen, reagierte er ablehnend und verwies darauf, dass „jeder Schritt“ des Korrespondenten aufmerksam beobachtet werde, um „etwas Kompromittierendes zu finden“.127 Bekannt ist jedoch, dass im Oktober 1935 mehrere Offiziere des militärischen Aufklärungsdienstes unter dem Deckmantel der TASS-Journalisten nach Äthiopien entsandt wurden, um die Kriegshandlungen der italienischen Armee zu beobachten.128 Dem dänischen Historiker Niels Rosenfeldt zufolge gehörte auch

123 Die Ingulov-Affäre stand auf der Politbüro-Agenda unter dem Tagesordnungspunkt „Die Mitteilung von Sokolnikov“, 29.10.1931, RGASPI 17/162/11/40 f. 124 Der TASS-Korrespondent in London, Ingulov, an Doleckij, 25.10.1931 (aus Berlin), GARF 4459/38/35/240. 125 Vgl. den Beschluss des Politbüros, „Über Ingulov“, vom 15.11.1931, RGASPI 17/3/860/13. 126 Doleckij an die Leiterin des TASS-Büros in Berlin, Annenkova, 26.11.1931, GARF 4459/38c/43/4. 127 Doleckij an Pjatnickij, Kopien an Čičerin und Rakovskij, 18.05.1926, GARF 4459/38/3/30. 128 Der Vorschlag ging von Gamarnik, dem stellvertretenden Leiter des Volkskommissariats für Verteidigung, aus und wurde von Stalin unterstützt. Vgl. Kaganovič und Molotov an Stalin, 11.10.1935, und Kaganovič an Stalin, 14.10.1935, RGASPI 558/11/54/23 und 35.

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der Gehilfe des TASS-Korrespondenten in Schanghai, Lev Lidov, der sowjetischen Militärspionage an.129 Eine skeptische Haltung der INO-TASS gegenüber dem außenpolitischen Mitgestaltungsanspruch ihrer Auslandskorrespondenten suggeriert die Vorstellung, dass mediale Beobachter der TASS vor allem als Vermittler agierten und auf die Interpretation von Ereignissen weitgehend verzichten mussten. Die Realität der Berichterstattung war jedoch viel komplexer, die Nachrichtenproduktion der TASSKorrespondenten entfaltete sich im Spannungsfeld von Fakten und Kommentaren. Zur interpretativen Dimension des ‚News Making‘, die man als „Methode der komplexen Aufbereitung von Informationen“ bezeichnete130 , gehörte neben „Erklärungen“ und „Zusammenfassungen“ vor allem eine nach thematischen Gesichtspunkten organisierte Selektionspolitik, die darin bestand, „gleichartige Fakten“ zu aggregieren.131 Meldungen sollten einerseits „klar“ und „verständlich“ sein, andererseits aber „zielgerichtet und systematisch“132 . Es handelte sich um einen strukturierenden Bedeutungszuweisungs- und Kontextsetzungsprozess, der Fakten zu „politisch durchdachten“ Informationen transformierte.133 Der TASS-Korrespondent in Berlin, Sitkovskij, beschrieb ihn wie folgt: In Telegrammen sei eine kurze Erläuterung eines einzelnen Ereignisses ausreichend, wofür man es „in Beziehung zu diesem oder jenem Phänomen als Ganzem“ setzte. Er ging dabei von keinem weiteren Interpretations- und Erklärungsbedarf aus und war der Meinung, dass man sich auf die Rezeptionskompetenz des „Sowjetlesers“ verlassen sollte, der klüger als viele Redakteure sei und es nicht nötig habe, dass man ihm jedes Wort erkläre (ne nuždaetsja, čtoby emu razževali každoe slovo).134 Auch der Volkskommissar für Auswärtige Angelegenheiten, Čičerin, der „die Aufgabe des TASS-Korrespondenten“ darin sah, „Fakten mitzuteilen, sie keinesfalls künstlich zu schmücken oder zum Zweck subjektiver Polemik zu kombinieren“135 , und sich sogar zu der Behauptung verstieg, dass es besser sei, „überhaupt keinen Auslandskorrespondenten zu haben, als einen, dessen Nachrichten die Wirklichkeit

129 Rosenfeldt, The „Special“ World, S. 200. Es handelte sich um Lev Borovič („Aleks“), der bereits in den 1920er Jahren in der Aufklärungsabteilung der Roten Armee tätig war. Von 1932 bis 1935 stand er Karl Radek im Büro für Internationale Informationen als Sekretär zur Seite, 1936–1937 fungierte er als Gehilfe des TASS-Korrespondenten in Schanghai. 130 Der Bericht der INO-TASS über die Arbeit des TASS-Büros in London, 18.12.1933, GARF 4459/11/584/53. 131 Doleckij an alle Auslandskorrespondenten der TASS, 16.05.1933, GARF 4459/11/583/4. 132 Vgl. die Stellungnahme der INO-TASS zum Vortrag des Leiters des TASS-Büros in Wien, Mariinskij, 25.06.1933, GARF 4459/11/584/36 ff. 133 Doleckij an alle Auslandskorrespondenten der TASS, 16.05.1933, GARF 4459/11/583/4. 134 Der TASS-Korrespondent in Berlin, Ippolit Sitkovskij, an Doleckij, 13.02.1936, GARF 4459/38/79/88. 135 Čičerin an Doleckij, 05.09.1926, GARF 4459/38/4/11.

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verzerren“136 , betrachtete die Berichterstattung als einen Sinngebungsprozess, in dem es darum ging, „das Wichtige vom Unwichtigen zu unterscheiden“.137 Die Ambivalenz der Entscheidungsprogrammierung zeigte sich besonders deutlich in der Kontroverse um die Trennung von „Nachricht“ und „Kommentar“ bzw. um das Verhältnis von „Zitat“ und „Eigenmeinung“. In ihr spiegelte sich ein basaler Konflikt zwischen der Neutralitätsnorm als „Orientierung an Fakten“ und dem Interpretationsansatz, der darin bestand, „in wenigen Worten alles Wesentliche und Interessante“ wiederzugeben.138 Es war die TASS-Führung selbst, die diese Doppeldeutigkeit von Erwartungen und Weltcodierungen permanent erzeugte und verstärkte. Doleckij bezeichnete „die faktische Methode der Informationsaufbereitung“ als „Hauptmethode der Agenturarbeit“ und erteilte „einem überflüssigen Subjektivismus“, der „eine gewisse Verdünnung des Quellenmaterials“139 zur Folge hatte, eine klare Absage. Er forderte jedoch die Korrespondenten gleichzeitig dazu auf, sich nicht nur an „quellennahen Informationen“ und „überzeugenden Fakten“ zu orientieren, sondern sich auch um „eigene Zusammenfassungen“ zu bemühen.140 Der Übergang zwischen einem Tatsachenbericht und einer interpretativen Faktenaufbereitung, „einer kritischen Analyse“ von Ereignissen141 , war fließend. Der Informationsbedarf war eng mit dem Orientierungsproblem verknüpft, woraus sich eine Doppelcodierung von Nachrichtenproduktion als Vermittlungs- und Gestaltungsprozess ergab. Dies kann man an den Äußerungen von Doleckij gut beobachten. Am 1. Februar 1933 schrieb er an Annenkova in Berlin, dass „Fakten“ „die Hauptsache“ seien, bemängelte gleichzeitig, dass eine Erwähnung des Schleicher-Putsches ohne Hintergrundinformationen dazu führe, dass „niemand sich orientiert, was in der Wirklichkeit geschehen ist“.142 Im März 1934 kritisierte Doleckij Ivan Bespalov, den Nachfolger von Annenkova, dafür, dass er über den Besuch von Eden in Deutschland „zu ausführlich“ berichtet und „allzu objektiv den deutschen Standpunkt“ wiedergegeben habe. „In diesem Fall bevorzugen wir kritische Informationen“143 , erläuterte er eine veränderte Erwartungshaltung der TASS.

136 Čičerin an den stellvertretenden Leiter der ROSTA, Komarovskij, 14.04.1924, GARF 391/1/164/75. 137 Vgl. Čičerin an Doleckij, Kopien an Karachan, Volin, Kozlovskij, 17.07.1928, GARF 4459/38/3/144. 138 Doleckij und der Leiter der Auslandsabteilung der TASS, Madjar, an die TASS-Korrespondenten, 05.06.1926, GARF 4459/11/83/24. 139 Doleckij an den TASS-Korrespondenten in Rom, Čarnyj, 07.04.1936, GARF 4459/38/79/215. 140 Doleckij an den TASS-Korrespondenten in Rom, Čarnyj, 17.03.1935, GARF 4459/38/73/120. 141 Doleckij an den TASS-Korrespondenten in London, Lasjan, 04.02.1937, GARF 4459/38/89/65. Vgl. auch die Stellungnahme der INO-TASS zum Bericht des Leiters des TASS-Büros in Rom, Kin, 15.08.1933, GARF 4459/11/584/47. 142 Doleckij an die TASS-Korrespondentin in Berlin, Annenkova, 01.02.1933, GARF 4459/38/61/153. 143 Doleckij an den TASS-Korrespondenten in Berlin, Bespalov, 01.03.1934, GARF 4459/38/68/129.

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Die Auslandsbüros und die Auslandskorrespondenten der TASS

Die Auslandskorrespondenten selbst empfanden derartig widersprüchliche Anweisungen der Zentrale als äußerst irritierend. Nikolaj Palgunov, der aus Helsinki berichtete, beschrieb im August 1934 auf einer Konferenz in Moskau sein Dilemma so: Im Sektor verlangt man kategorisch, von Zitaten Abstand zu nehmen und mehr zu verallgemeinern und zu bewerten, damit jedes Telegramm einem kleinen politischen Artikel gleichkommt. Der Genosse Menkes stellt aber die Frage ganz anders: „Dokumentieren Sie mehr und verallgemeinern weniger“, sagt er. Es wäre gut, wenn man in dieser Frage eine einheitliche Regelung schaffen würde.144

Die anschließende Diskussion zeigt, dass man in der INO-TASS von einem konvergenten Modell der Nachrichtenproduktion ausging und an der herkömmlichen Trennung von Fakten und Kommentaren nicht eigensinnig festhielt. Der Leiter der INO-TASS, Kocyn, war der Meinung, dass „das Zitieren in bestimmten Fällen notwendig, unvermeidlich“ sei; aber einen ganzen Artikel zu zitieren – das ist reine Geldverschwendung. Wenn alles ein Zitat ist, wird nichts hervorgehoben. Der Korrespondent soll das Wichtigste herausstellen (samoe sušestvennoe vydelit’).145

Auch der Leiter der Auslandsabteilung, Menkes, wies auf das nötige „Gespür“ hin, verstehen zu können, wann man „zitiert“ und wann man „beschreibt“. Die grundsätzliche Frage, ob die Korrespondenten eine kritische oder eine neutrale Beobachterrolle einnehmen sollten, ließ er offen: „Wir können nur das Rezept geben, keine besondere Vorliebe für die eine oder die andere Herangehensweise zu entwickeln“.146 Auch wenn die Berufsbilder der TASS-Korrespondenten durchaus ambivalent waren, unterschieden sie sich doch stark vom Selbstverständnis der Auslandsjournalisten der „Izvestja“ und der „Pravda“, die sich als Mitgestalter des außenpolitischen Prozesses verstanden und am Mobilisierungsdiskurs ihrer Zentralredaktionen orientierten. Die ideologische Funktion der TASS-Korrespondenten war subtiler. In der Rolle von Gatekeepern wählten und ordneten sie „Fakten“, behielten aber auch die Option, diese im Rahmen „einer kritischen Analyse“ durch Einbindung in Kontexte und Erhellung von Hintergründen zu erklären und zu deuten. Es handelte

144 Der TASS-Korrespondent in Helsinki, Palgunov, auf der Konferenz der INO-TASS, 28.08.1934, GARF 4459/11/638/49. 145 Der stellvertretende Leiter der INO-TASS, Kocyn, auf der Konferenz der INO-TASS, 28.08.1934, GARF 4459/11/638/52. 146 Der Leiter der Auslandsabteilung der TASS, Menkes, auf der Konferenz der INO-TASS, 28.08.1934, GARF 4459/11/638/54 f.

Die Auslandsjournalisten der TASS: Sozialisation, Selbstverständnis, Arbeitsprogramme

sich um einen Sinngebungsprozess, den die INO-TASS als eine „zielgerichtete“ Faktenübermittlung beschrieb, die sich auf „Kernereignisse“ konzentrierte und „perspektivisch“ war.147 Dementsprechend kritisierte man eine Berichterstattung, die nicht über „eine Masse von Mitteilungen über belanglose und isolierte Fakten“ hinausging bzw. „unsystematische, vereinzelte Informationen“ präsentierte. Der journalistische Auftrag war eindeutig: „Fakten zu sammeln und sie zu einem schlüssigen Gesamtbild (edinuju zel’nuju kartinu) zusammenzufügen“.148 Es ging um eine strukturierte Vermittlung von Ereignissen, die Stuart Hall als „eine komplexe Praxis“ der Bedeutungsproduktion beschreibt. Sie basiert auf Vorstellungen, was „bedeutend, wichtig und dramatisch“ ist.149 Die Kontinuitätsherstellung war ein zentrales Moment dieses Sinngebungsprozesses: Nichts wurde als störender empfunden als ein „plötzliches“ Auftreten und Verschwinden von Ereignissen. Die Zentralredaktion lenkte die Aufmerksamkeit ihrer Korrespondenten explizit darauf, „die Folgerichtigkeit und Kohärenz von Meldungen“ zu beachten.150 Es lassen sich zwei Informationssammlungsprogramme unterscheiden, die die TASS-Korrespondenten zur Informationsgewinnung nutzten: ein ‚passives‘ Modell der Presseauswertung, das im Rückgriff auf „Selbstbilder des Berichterstattungslandes“151 bestand, und ein ‚kreatives‘ Modell der Kontaktherstellung zur Außenwelt, das auf unmittelbarer Beobachtung bzw. Recherchen „vor Ort“ basierte.152 Entsprechend ist zwischen formellen und informellen Informationskanälen zu differenzieren153 , die zwei Wege des Sich-Informierens beschreiben: Es geht einerseits um das reguläre Nachrichtenangebot von Massenmedien und andererseits um Informationen, die auf Kontakte zu Informanten und Institutionen zurückgehen. Wenn auch das Gros an Informationen aus regulären Quellen stammte, fand die Darstellungsform Reportage wegen ihrer „lebendigen Darstellungsweise“

147 Vgl. die Thesen zum Bericht des Leiters der INO-TASS, Zaks-Gladnev, „Über das Korrespondentennetz der TASS im Ausland“, vom 08.07.1929, GARF 4459/11/251/194 f. 148 Doleckij an die Leiterin des TASS-Büros in Berlin, Annenkova, 26.11.1931, GARF 4459/38c/43/2. Vgl. auch die Überlegungen des Leiters der Auslandsabteilung der ROSTA, Gofman, vom 05.03.1924, GARF 391/1/59/133. 149 Stuart Hall, Die strukturierte Vermittlung von Ereignissen, in: Ralf Adelmann (Hrsg.), Grundlagentexte zur Fernsehwissenschaft: Theorie – Geschichte – Analyse, Konstanz 2002, S. 353. 150 Der Bericht des Leiters der Auslandsabteilung, Madjar, an Doleckij über die Arbeit der TASS-Büros in Berlin, London und Paris, 24.03.1926, GARF 4459/11/88/62. 151 Kai Hafez, Auslandsberichterstattung, in: Weischenberg (Hrsg.), Handbuch Journalismus und Medien, S. 23. 152 Vgl. Cohen, The Press and Foreign Policy, S. 81. 153 Vgl. Sigal, Reporters and Officials, S. 106, 111. Vgl. auch Barbara Baerns, Öffentlichkeitsarbeit oder Journalismus? Zum Einfluss im Mediensystem, Köln 1985.

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eine besondere Wertschätzung in der TASS.154 Für Doleckij war sie „die höchste literarische Form“, die zu seinem Bedauern nur wenige Auslandskorrespondenten gut beherrscht hätten.155 Das Reportage-Schreiben war eng mit der Informationssammlung außerhalb des Büros, vor Ort, verknüpft.156 In der INO-TASS sprach man von der „Berührung mit dem realen Alltag“, die eine Berichterstattung aus „authentischen Quellen“ symbolisierte.157 Es gab jedoch drei Gründe dafür, warum die TASS-Korrespondenten reguläre Informationskanäle bevorzugten: Diese boten aktuelle Nachrichten (Aktualität), waren leicht zugänglich (Publizität) und standen regelmäßig, zu einem bestimmten Zeitpunkt, zur Verfügung (Periodizität). Der Arbeitstag der Auslandsjournalisten begann in der Regel mit der Sichtung und Auswertung der tagesaktuellen Presse. Der sowjetische Botschafter in Deutschland, Nikolaj Krestinskij, beobachtete im Januar 1930, dass im Berliner TASS-Büro morgens „in aller Eile“ über 30 Zeitungen durchgesehen wurden. Man fasste ausgewählte Informationen in einem „Telegraphenbulletin“ zusammen und übermittelte es sofort nach Moskau.158 Der TASS-Korrespondent in Paris, Palgunov, der im Januar 1938 alle Bürotätigkeiten alleine erledigen musste, bearbeitete von 7:00 bis 10:30 Uhr ca. 40 französische Zeitungen und über 200 Seiten des Informationsbulletins der Agentur Havas. Sein Nachrichtendossier, das die INO-TASS zur Mittagszeit erreichte, umfasste 1500 bis 1800 Wörter.159 Insgesamt kann man feststellen, dass die Auslandskorrespondenten der TASS die meiste Dienstzeit in ihren Büros verbrachten, manchmal sogar bis zu zwölf Stunden am Tag, wie Bespalov in Berlin.160 Die Haupttätigkeiten waren Recherchieren, Selektieren, Texten (Verfassung von Meldungen und Berichten) sowie Verwaltungsaufgaben.

154 Das Rundschreiben an die Auslandskorrespondenten der TASS, 29.05.1932, GARF 4459/38/9/59. Auch der sowjetische Botschafter in Deutschland, Krestinskij, sprach von „lebendigen Informationen“. Vgl. Krestinskij an Doleckij, Kopien an Litvinov und Kaganowič, 15.01.1930, GARF 4459/38/35/14 f. 155 Im März 1937 behauptete Doleckij auf einer TASS-Konferenz, dass lediglich drei Korrespondenten gute Reportagen hätten schreiben können: Gelfand in Madrid/Valencia – „einer der besten unserer Literaten“, Durant in New York – „ihm muss man nur erklären, was man will“ und Nagy in Tokio – „bietet hervorragende Berichte an“. Vgl. die Ansprache Doleckijs auf der TASS-Konferenz, 26.03.1937, GARF 4459/11/869/24. 156 Vgl. Bernd Blöbaum, Journalismus als soziales System, Opladen 1994, S. 226. 157 Der Leiter der Auslandsabteilung der TASS, Madjar, an Doleckij, 24.03.1926, GARF 4459/11/88/106. Der Bericht des Leiters der Auslandsabteilung der TASS, L. Berezov, 01.04.1938, GARF 4459/11/979/100. 158 Krestinskij an Doleckij, Kopien an Litvinov und Kaganowič, 15.01.1930, GARF 4459/38/35/14 f. 159 Palgunov an Chavinson, 16.01.1938, GARF 4459/38/94/202. 160 Der TASS-Korrespondent in Berlin, Ivan Bespalov, an Doleckij, 25.08.1933, GARF 4459/11/602/30.

Die Auslandsjournalisten der TASS: Sozialisation, Selbstverständnis, Arbeitsprogramme

Eine einseitige Ausrichtung auf die Massenmedien des Berichterstattungslandes, die für viele TASS-Büros ein strukturelles Merkmal der Berichterstattung war, stieß oft auf die Kritik der INO-TASS und der diplomatischen Führung. Chavinson beschimpfte die Korrespondenten als „Bürochefs für Zeitungsausschnitte“161 , der Leiter der Auslandsabteilung, Madjar, meinte rigoros, dass die TASS „eine Zusammenstellung von Zeitungsberichten“162 nicht brauche. Auch die Redakteure waren der Ansicht, dass „das Zitieren von Zeitungen“ nicht davon befreien sollte, „mit eigenem Kopf zu arbeiten“ und „andere Quellen“ heranzuziehen.163 Eine maßgeblich an Presseinhalten orientierte Informationsaufbereitung wurde als „primitiv“ und „oberflächlich“ bezeichnet sowie als Zeichen für eine mangelnde Integration der Korrespondenten in mediale und politische Netzwerke des Gastlandes interpretiert. Was man in Moskau vermisste, waren „eigenständige Informationen“ und „das System des Interviews“, die intensive Kontakte zur Außenwelt voraussetzten.164 Im Anschluss an die Umwelt sah die INO-TASS eine herausragende Möglichkeit, sich „von tendenziösen Auslegungen der Landespresse“ zu befreien sowie den Informationshorizont der Berichterstattung zu erweitern.165 Die Strategien der Quellenauswahl und -auswertung hingen jedoch nicht so sehr von individuellen Präferenzen der Korrespondenten ab, sondern in signifikantem Maße von ressourcen- und umweltspezifischen „Kommunikationschancen“166 , bestimmte Informationsquellen überhaupt erreichen und effizient nutzen zu können. Man kann mehrere Determinanten identifizieren, so die gesellschaftspolitische Ordnung und die Struktur des Mediensystems des jeweiligen Berichterstattungslandes (Leitdifferenz demokratisch/autoritär) sowie die finanzielle und personelle Ausstattung des jeweiligen TASS-Büros. Über die besten Informationschancen verfügte man in demokratischen Ländern mit einer pluralistischen Medienlandschaft. Insbesondere London, Paris, New York oder Berlin (bis 1933) als Informationsmetropolen und Knotenpunkte der internationalen Kommunikation boten die besten Aussichten auf Informationsgewinnung aus formellen und informellen Kanälen. Wollte die TASS beispielsweise etwas über die Einstellung britischer Konservativer zum aktuellen Stand der deutsch-englischen Beziehungen in Erfahrung bringen, 161 Chavinson auf der TASS-Konferenz, 25.03.1937, GARF 4459/11/868/74. 162 Der Leiter der Auslandsabteilung, Madjar, an Doleckij, 24.03.1926, GARF 4459/11/88/106. 163 Der Redakteur der INO-TASS, Breman, auf der Konferenz der INO-TASS, 28.08.1934, GARF 4459/11/638/48. 164 Die Thesen zum Vortrag des Leiters der Auslandsabteilung der TASS, Rafes, April 1927, RGASPI 17/113/296/232. Vgl. auch Čičerin an Doleckij, 24.07.1925, GARF 4459/38/6/27. Der Volkskommissar fürs Auswärtige zitierte den sowjetischen Botschafter in London, Rakovskij. 165 Vgl. die Stellungnahme der INO-TASS zum Bericht des Leiters des TASS-Büros in Rom, Kin, 05.08.1933, GARF 4459/11/584/47. 166 Vgl. Alfred Lugert, Auslandskorrespondenten im internationalen Kommunikationssystem. Eine Kommunikator-Studie, Pullach bei München 1974, S. 130 f.

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reichte es schon, den TASS-Korrespondenten in London anzuweisen, einschlägige „Aussagen“ von „Times“, „Daily Telegraph“ und „Morning Post“ „aufmerksam zu studieren“.167 Doleckij glaubte sogar, dass man in England auf der „Grundlage solider Pressequellen“ die „Bedeutung“ von Ereignissen „entziffern“ könne.168 Palgunov, der von 1935 bis 1940 aus Frankreich berichtete und einen Vergleich zu Teheran (1931–1932) und Helsinki (1932–1935) ziehen konnte, schreibt in seinen Erinnerungen, dass man in Paris, wo über 600 Auslandsjournalisten akkreditiert waren, Zugang zu „sehr vielen – französischen und internationalen – Informationen“ hatte: Täglich fanden „Dutzende Pressekonferenzen von nationaler und transnationaler Tragweite“ statt; „inoffizielle Gespräche im Parlament“ generierten „einen unversiegbaren Fluss an aktuellen Nachrichten“; die öffentliche Organisation „L’accueil français“, die die Auslandskorrespondenten betreute, organisierte wöchentliche „Cocktails“, an denen neben „60–70 Auslandskorrespondenten“ regelmäßig prominente Politiker und Intellektuelle Frankreichs teilnahmen. In Erinnerung blieben Palgunov auch private Empfänge des französischen Außenministers Georges Bonnet, die sich durch „eine ungezwungene Atmosphäre“ auszeichneten und von solchen journalistischen „Stars“ wie Alexander Werth, Edgar Mowrer, John Chamberlain, André Géraud („Pertinax“) oder Geneviève Tabouis frequentiert wurden.169 Für sehr informativ hielt der TASS-Korrespondent auch die französische Presselandschaft, deren tägliche Gesamtauflage sich auf elf Millionen Exemplare belief. Französische Zeitungen, die „sehr operativ“ waren und „über jedes Ereignis“ zeitnah berichteten, teilte er in zwei Gruppen ein – „die Informations- und die Meinungspresse“. Gemeinsam sei ihnen eine Neigung zum bürgerlichen Unterhaltungsjournalismus gewesen, den der stalinistisch geprägte Palgunov dafür kritisierte, „die Aufmerksamkeit des Lesers“ zu fesseln und das „Klassenbewusstsein der Werktätigen zu vernebeln“.170 Eine ganz andere Situation in Bezug auf Informationssammlungsprogramme fand man in autoritären und totalitären Staaten vor, in denen die Presse und mediale Diskurse kontrolliert und gesteuert wurden. Besonders schlechte Informationschancen hatte man auch in Ländern, deren journalistische Systeme wenig ausdifferenziert waren und die gesellschaftliche Selbstbeobachtung nicht leisteten. Ein Beispiel dafür stellte der Iran dar. Als Palgunov im März 1931 nach Teheran kam, stellte er fest, dass die einheimische Presse kaum Nachrichten publizierte. Auch viele unermüdliche Versuche, Kontakte mit Journalisten, Geschäftsleuten und Diplomaten zu knüpfen, trugen nur wenig zur Erweiterung seines Informationsho-

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Doleckij an den TASS-Korrespondenten in London, Lasjan, 04.03.1937, GARF 4459/38/89/53. Doleckij an den TASS-Korrespondenten in London, Lasjan, 04.01.1937, GARF 4459/38/89/74. Palgunov, Tridcat let, S. 151 f. Ebd., S. 154 f.

Die Auslandsjournalisten der TASS: Sozialisation, Selbstverständnis, Arbeitsprogramme

rizontes bei.171 Nicht anders ging es Jakovlev, einem Nachfolger von Palgunov, der sich selbst als „Handwerker-Eremit“ (kustar’ odinočka) bezeichnete und dessen einzige Kontaktperson ausgerechnet „ein Vertreter des Deutschen Nachrichtenbüros“ in Teheran war.172 Die Herstellung von Kontakten zur Außenwelt war strukturell von Budgets bestimmt, die die TASS für jedes einzelne Auslandsbüro festlegte. Ganz oben in der Ausgabenhierarchie für „Sonderzwecke“ standen die TASS-Standorte in London, Berlin, Paris, New York und Schanghai, deren Mitarbeiter relativ viel reisen und Informanten bezahlen konnten. Knappe Ressourcen zum Aufbau personeller Netzwerke galten dementsprechend als „Hauptdefizit“ der journalistischen Arbeit.173 Als sich Mitte der 1930er Jahre die Abkapselung der Sowjetunion von der Außenwelt abzeichnete und die Etats vieler TASS-Büros gekürzt wurden, beklagten die Korrespondenten den „Sparsamkeitskurs“ der Zentrale, der sie dazu gezwungen haben soll, „auf wichtige Informationen aus nicht regulären Quellen sowie interessante Treffen zu verzichten“.174 Die Struktur und die Größe personeller Netzwerke sowie die Rolle informeller Informationskanäle in der Berichterstattung der TASS-Korrespondenten lassen sich anhand vorhandener Archivdokumente nicht genau rekonstruieren. Bekannt ist, dass Andrew Rothstein in London in vielen Zeitungsredaktionen (unter anderem bei „Yorkshire Post“, „News Chronicle“, „United Press“, „Financial News“, „Daily Mirror“, „Tribune“, „Times“, „Daily Telegraph“, „Sunday Times“175 ) über „eigene Leute“, „Verbündete“, verfügte, die ihn regelmäßig informierten und die er jederzeit anrufen konnte.176 Der TASS-Korrespondent hatte gute Informanten auch im Foreign Office sowie in der Labour-Partei.177 Sein Wissensstand war so gut, dass er durchaus imstande war, Handlungsentwürfe und Reaktionen der britischen Regierung vorwegzunehmen und damit auch auf den Entscheidungsprozess in Moskau Einfluss zu nehmen.178

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Ebd., S. 25 f. und 37. Der TASS-Korrespondent in Teheran, Jakovlev, an Doleckij, 21.09.1936, GARF 4459/38/79/133. Der TASS-Korrespondent in Wien, Brun, an Doleckij, 26.11.1927, GARF 4459/38/16/32. Der TASS-Korrespondent in Rom, Čarnyj, an Doleckij, 26.09.1936, GARF 4459/38/79/201. Vgl. der Leiter des TASS-Büros in London, Rothstein, an Chavinson, 09.05.1939, GARF 4459/11/1076/50. 176 Rothstein an die TASS-Zentrale, o.D. (1938), GARF 5446/22a/398/4. 177 Der TASS-Korrespondent in London, Rothstein, an Chavinson, 23.11.1939, GARF 4459/38/98/30 ff. 178 Vgl. den Beschluss des Politbüros, „Über England“, vom 20.10.1929, RGASPI 17/162/7/183, sowie den Anhang zum Beschluss vom 12.11.1929, „Über Gerüchte über die Ernennung Kamenevs“ (die TASS vom 11.11.1929), RGASPI 17/162/8/6 und 11. Die Berichterstattung Rothsteins veranlasste den Kreml dazu, seine Entscheidung, Lev Kamenev als Botschafter nach London zu entsenden, zu revidieren.

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Den Wandel von Praktiken der Informationsgewinnung in der Zwischenkriegszeit kann man an der Berichterstattung des TASS-Büros in Berlin gut beobachten. Der Korrespondent Menkes verbrachte in den 1920er Jahren noch viel Zeit außerhalb des Büros: Er suchte regelmäßig Parteitage, „kämpferische“ Reichstagssitzungen und Gerichtsprozesse auf, nahm an wöchentlichen Empfängen des Auswärtigen Amtes für Auslandsjournalisten teil und verreiste sogar ins Ausland, nach Den Haag und Genf, um sich vor Ort zu informieren.179 Die Machtergreifung Hitlers verschlechterte zwar die Informationschancen des Berliner TASS-Büros, zerstörte aber sein Informantennetzwerk nicht komplett. Ippolit Sitkovskij konnte sich auch Mitte der 1930er Jahre auf „gute deutsche“ und „private Quellen“ berufen, die ihn in die Lage versetzten, wichtige Entscheidungen der Führung des Dritten Reiches zu antizipieren.180 Sein Stellvertreter Karnit, der nach der Abberufung und Hinrichtung von Sitkovskij ab Juni 1937 alleine aus Berlin berichtete, hatte allerdings keine Kontakte mehr zum deutschen Umfeld. Seine Informanten waren hauptsächlich französische, britische, amerikanische und tschechische Kollegen und Diplomaten. Der TASS-Korrespondent verbrachte „die meiste Zeit“ im Büro, „gefesselt“ an seinen Schreibtisch, sichtete „große Berge von Zeitungen und Zeitschriften“ und beschwerte sich darüber, „von Tag zu Tag in dem Schmutz“ wühlen zu müssen (kopat’sja v toj grjazi), „der die faschistische Presse genannt wird“.181 Ab 1939 wurde die Informationsbearbeitung durch schlechte Fremdsprachenkenntnisse massiv erschwert. Die neue Generation der TASS-Korrespondenten tat sich schwer, Zeitungen zu lesen und sich mit Informanten zu unterhalten. Obwohl die Mitarbeiter des TASS-Büros in Berlin, Filippov und Lavrov, fast „den ganzen Tag“ damit verbrachten, die deutsche Presse auszuwerten, waren sie nicht imstande, „große“ thematische Übersichten zu erstellen.182 Die Journalisten mussten regelmäßig auf die Übersetzungshilfe ihres Deutschlehrers zurückgreifen, was zum Ausfall des Sprachunterrichts führte183 und Chavinson zu giftigen Bemerkungen bezüglich ungenügender Fortschritte im Erlernen des Deutschen veranlasste.184 Das Sprachproblem beeinträchtigte auch die Kommunikation mit der Außenwelt. Die Korrespondenten verschanzten sich buchstäblich im Büro. Der Leiter der TASS

179 Der sowjetische Botschafter in Deutschland, Krestinskij, an Doleckij, Kopien an Litvinov und Kaganovič, 15.01.1930, GARF 4459/38/35/14 f. 180 Sitkovskij an den stellvertretenden Leiter der TASS, Menkes, 19.09.1935, GARF 4459/38/73/20. 181 Der stellvertretende Leiter des TASS-Büros in Berlin, A. Karnit, an den Leiter der INO TASS, Berezov, 12.09.1937, GARF 4459/38/89/81. 182 Vgl. der Leiter des TASS-Büros in Berlin, Filippov, an Chavinson, 12.10.1930, GARF 4459/38/99/69 f., und der TASS-Korrespondent in Berlin, Lavrov, an Chavinson, 15.01.1940, GARF 4459/38/110/3. 183 Filippov an Chavinson, 10.08.1940, GARF 4459/38/110/189. 184 Chavinson an Filippov, 21.12.1940, GARF 4459/38/110/4.

Die Auslandsjournalisten der TASS: Sozialisation, Selbstverständnis, Arbeitsprogramme

ärgerte sich darüber, dass Filippov und Lavrov „nicht auf die Straße“ gingen, und appellierte eindringlich an beide, endlich „aufzuhören, Übersetzer zu sein!“185 Um persönliche Netzwerke aufzubauen, mussten die TASS-Korrespondenten ihr soziales (Beziehungen), kulturelles (Sprachkenntnisse) sowie symbolisches Kapital (Informationen, Wissen) einsetzen und effizient verwerten. Sie griffen dabei gerne auf Gefälligkeiten ihrer journalistischen Kollegen sowie der Diplomaten zurück und nutzten jede Chance, ins Gespräch mit potentiellen Informanten zu kommen. Nikolaj Palgunov erinnerte sich, dass er während seines Aufenthaltes in Helsinki (1932–1934) keine Gelegenheit zur Unterhaltung ausließ: Bei five o’clocks, Empfängen in diplomatischen Missionen, Kulissengesprächen im Parlament, Besuchen in Zeitungsredaktionen, Pausen während Theatervorstellungen und Konzerten, Kaffeerunden in privaten Häusern – überall sprach ich mit Menschen, die ich aufgrund ihrer Tätigkeit oder gesellschaftlichen Position kannte.186

Hilfreich für den Netzwerkausbau waren auch Kontakte zu ausländischen Journalisten, die aus Moskau berichteten und durch ihre Hilfsbereitschaft auf ein Entgegenkommen sowjetischer Behörden hofften. So traf der TASS-Journalist Dmitrij Volkenstejn (Bucharcev) kurz nach seiner Ankunft in Wien Nikolaus Basseches, den Auslandskorrespondenten der Wiener „Neuen Freien Presse“ in Moskau, der sich ihm gegenüber „sehr höflich“ verhielt und versprach, „alle möglichen Empfänge und Kontakte – mit wem man auch nur will“ – zu organisieren.187 Neben guten Fremdsprachenkenntnissen war die Anpassungskompetenz gefragt, die sich darin manifestierte, die politische Kultur und die Lebensphilosophie des Berichterstattungslandes zu respektieren sowie sich mit Weltbildern und mentalen Dispositionen von Gesprächspartnern zu arrangieren. Nach einigen Wochen in Barcelona musste die TASS-Journalistin Mirova feststellen, dass man in Spanien mit der „Logik“ nicht „operieren“ könne: „Alles fußt auf Emotionen und Psychologie“.188 Der sowjetische Botschafter in Berlin, Krestinskij, warnte explizit vor proletarischen Attitüden und Verhaltensweisen und betonte, dass ein an Außenkontakten interessierter TASS-Korrespondent auf bürgerliche Normen und Etikette unbedingt achten sollte.189 Andrew Rothstein wies noch auf zwei wichtige Eigenschaften des Korrespondenten hin, die zum Erfolg einer aktiven Informationssammlung maßgeblich beitrugen. Zum einen hatte man bei „privaten Treffen“ mit Informanten, die sich in Form von

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Chavinson an Filippov, 02.01.1941, GARF 4459/38/118/204-210. Palgunov, Tridcat let, S. 75. Der TASS-Korrespondent in Wien, Volkenstejn, an Doleckij, 17.12.1929, GARF 4459/38/22/95 f. Die TASS-Korrespondentin in Barcelona, Mirova, an Doleckij, 18.11.1936, GARF 4459/38/79/166. Krestinskij an Doleckij, Kopien an Litvinov und Kaganowič, 15.01.1930, GARF 4459/38/35/14.

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gemeinsamen Frühstücken, Mittag- und Abendessen sowie „Cocktails“ gestalteten, möglichst spendabel und trinkfest zu sein. Sein eigenes Erfolgsrezept lautete wie folgt: „So viel wie möglich Informationen – bei so wenig wie möglich Alkoholkonsum“.190 Ansonsten konnte man so enden wie der TASS-Korrespondent in Rom, Kurnosov, der wegen „Trunksucht und Radau“ (debošej) abberufen wurde.191 Ähnlich erging es dem TASS-Vertreter in Belgrad, Poletaev, der von Berija persönlich, dem Innen- und Staatssicherheitsvolkskommissar, „der Saufgelage im Kreis jugoslawischer Journalisten“ bezichtigt wurde.192 Zum anderen durfte man das Prinzip der Gegenseitigkeit, das den TASS-Korrespondenten die Doppelrolle des Zuhörers und des Informanten abverlangte, keinesfalls außer Acht lassen. „Der Journalist kann sich nicht in Schweigen hüllen oder mit höflichen Antworten davonkommen“193 , bilanzierte Rothstein seine Erfahrung im Umgang mit Informanten. Die Empfehlungen des erfahrenen Journalisten gingen jedoch an der neuen Wirklichkeit des sowjetischen Auslandsjournalismus vorbei. Dieser wurde in den Jahren 1937–1938 zum Opfer der stalinistischen Misstrauensparanoia und konnte sich bis zum Kriegsbeginn nicht mehr erholen. Als die Propagandaführung im Januar 1941 besorgt feststellte, dass die Auslandskorrespondenten „keine Kontakte zur Außenwelt haben, nicht reisen und keine Verabredungen treffen“194 , gab sie damit indirekt zu, dass der Kreml unzureichend informiert war und seine Außenpolitik sich vor dem Hintergrund eines fragmentarischen Nachrichtenbildes und einer defizitären Weltanalyse gestaltete.

2.3 Zwischen Kontrolle und Selbstständigkeit: zum Verhältnis von Auslandskorrespondenten und sowjetischen Botschaftern Neben den TASS-Korrespondenten waren die Sowjetbotschafter195 die wichtigsten Beobachter des Auslandes. Täglich informierten sie ihre Leser über die neuesten Ereignisse, nahmen Interpretationen vor und erarbeiteten Handlungsentwürfe. Das 190 Der TASS-Korrespondent in Genf, Andrew Rothstein, an die TASS-Zentrale, o.D. (Anfang 1938), GARF 5446/22a/398/4 f. Vgl. auch Chavinson an den Leiter der Valutakommission beim CIK UdSSR, Anastas Mikojan, GARF 5446/22a/398/7. 191 Doleckij an Čičerin, 03.08.1926, GARF 4459/38/4/8. 192 Der Volkskommissar für Innere Angelegenheiten, Berija, an den Volkskommissar für Auswärtige Angelegenheiten, Molotov, 07.07.1940, GARF 4459/38/104/135. 193 Der Leiter des TASS-Büros in London, Rothstein, an Chavinson, 09.05.1939, GARF 4459/11/1076/48 f. 194 Der Leiter und die Stellvertreter des Leiters der Propagandaabteilung des ZK, Aleksandrov, Puzin, Polikarpov, sowie der Leiter der Presseabteilung des NKID, Palgunov, an Malenkov, 17.01.1941, RGASPI 17/121/94/3. 195 Im zeitgenössischen Sprachgebrauch hießen sie „die Bevollmächtigten Vertreter“.

Zwischen Kontrolle und Selbstständigkeit

Politbüro bezeichnete seine in Europa, Asien und Amerika stationierten Diplomaten als „Hauptberichterstatter“ über „gesellschaftlich-politische Ereignisse“196 , als „Ratgeber“197 , mit dem Auftrag, „Moskau sorgfältig zu informieren“198 sowie „eine gründliche Analyse“ von „politischen und wirtschaftlichen Faktoren“ durchzuführen.199 Auch Stalin wies den Sowjetbotschaftern „eine zentrale Rolle“ im außenpolitischen Kommunikationsprozess zu, in seinem Weltbild galten sie als „legale Agenten des ZK in den wichtigen Nestern der Feinde der Sowjetunion“.200 Die diplomatischen Beobachter waren gleichwohl viel mehr als Informanten und Ausführende von Direktiven. Sie verstanden sich als aktive Mitgestalter des außenpolitischen Entscheidungsprozesses201 , vertraten eigene Meinungen und setzten sich manchmal sogar über formalisierte Dienstwege hinweg, um Stalin und die Kremlführung direkt, vorbei am Narkomindel, zu informieren und im eigenen Sinne zu beeinflussen.202 Im Unterschied zu den TASS-Korrespondenten, die sich in erster Linie als Pressebeobachter verstanden und sich an Grundsätzen des Informationsjournalismus orientierten (vgl. Kap. 2.2), fungierten die Botschafter als interpretierende Beobachter. Sie verfügten zudem über einen anders strukturierten Kommunikationshorizont, ein grundverschiedenes System von Außenbeziehungen. Die Sowjetdiplomaten trafen sich regelmäßig mit ausländischen Kollegen, Politikern und diversen Informanten, nutzten aktive Informationssammlungsprogramme und agierten als PR-Agenten, die sich nach Kräften bemühten, Einfluss auf Meinungen und Deutungen ihrer Kontrahenten zu nehmen.203 Die NKID-

196 Der Beschluss des Politbüros vom 31.08.1922, „Über ungenügende Informationen seitens der Botschafter“, RGASPI 17/3/310/2. 197 Das Rundschreiben an die Botschafter der UdSSR, 23.08.1923, RGASPI 17/3/375/9. 198 Vgl. den Beschluss des Politbüros vom 25.09.1931 „über China“, RGASPI 17/162/11/12. 199 Vgl. den entsprechenden Beschluss des Politbüros vom 23.08.1923, „Die Fragen des NKID“, dem ein Entwurf von Čičerin zugrunde lag, RGASPI 17/3/375/8. 200 So wurde Stalin vom sowjetischen Botschafter in Prag, Arosev, zitiert. Vgl Arosev an Stalin, 31.07.1931, RGASPI 558/11/695/60. 201 Vgl. Litvinov an Stalin, Kopien an Molotov, Vorošilov, Kaganovič, 22.06.1937, AVP RF 05/17/126/1/252. Einige Monate später beschwerte sich Litvinov erneut über das eigenwillige Handeln des Botschafters Maiski in London: Litvinov an Stalin, Kopien an Molotov, Kaganovič, Vorošilov, Ežov, 28.10.1937, AVP RF 05/17/126/1/347 f. 202 Dieser interessante Aspekt der sowjetischen Diplomatiegeschichte wird angeschnitten bei Ken/Rupasov, Politbjuro CK VKP(b), S. 44 ff. Vgl. auch Sergej Slutsch/Carola Tischler, Deutschland und die Sowjetunion 1933–1941. Dokumente aus russischen und deutschen Archiven. Bd. 1: 30. Januar 1933–31. Dezember 1934, München 2014, S. 45 sowie entsprechende Dokumente dort. Exemplarisch auch: Čičerin an den Botschafter in Italien, Keržencev, 05.07.1926, RGASPI 159/2/4/50. 203 Vgl. die von Čičerin entworfenen „Verhaltensrichtlinien für die sowjetischen Botschafter“, Juli 1924, RGASPI 159/2/4/42. Die Kongruenz bestand aber im Gebot der „Nichteinmischung in die Angelegenheiten“ des Gastlandes. Vgl. Čičerin an das Politbüro, 25.07.1924, RGASPI 159/2/4/38 und 40.

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Führung ermunterte ihre Botschafter stets zur Intensivierung von Kontakten zur Außenwelt sowie zum Aufbau von Personalnetzwerken, deren Radius und Kommunikationsdichte gewissermaßen als Indikatoren für die Tiefe und Originalität der diplomatischen Analyse galten. Čičerin, der seit 1921 die außenpolitische Öffnung der Sowjetunion entscheidend vorantrieb, meinte – und formalisierte seine Auffassung durch einen Beschluss des Politbüros –, dass „die Verhaltenslinie der Botschafter […] keinesfalls durch das Sich-Abkapseln und die Angst vor Kontakten zur Außenwelt“ bestimmt werden dürfte.204 Trotz funktionaler und programmatischer Differenzen ergaben sich in der diplomatischen und der journalistischen Berichterstattung mehrere Schnittmengen.205 Man teilte thematische Horizonte und diskursive Leitperspektiven, griff auf zum Teil identische Informationsquellen zurück und ging von ähnlich strukturierten Publikumserwartungen aus. Das Arbeitsprogramm der Botschafter beinhaltete auch typisch journalistische Aufgaben, wie die Presseauswertung sowie die Herstellung von Kontakten zu medialen Akteuren und Institutionen.206 In einigen Fällen, wenn die TASS keine Beobachter vor Ort hatte, agierten die Sowjetdiplomaten in einer Doppelfunktion und berichteten sowohl für das NKID als auch für die sowjetische Nachrichtenagentur, wie etwa Vladimir Potemkin in Istanbul, Michail Karskij in Kaunas oder Aleksandr Barmin in Athen. In der Zeit des Großen Terrors, als die meisten Auslandskorrespondenten abberufen wurden, gab es sogar eine Welle von Hilferufen an das Botschaftspersonal, unter anderem in Berlin, Oslo, Kopenhagen, Sofia, Ankara, Warschau, London und in Spanien. Positive Rückmeldungen darauf207 wurden jedoch durch die Eskalation des stalinistischen Terrors, die eine fast vollständige Vernichtung der bestehenden Diplomatenriege zur Folge hatte, zunichtegemacht. Die arbeitsprogrammatische Nähe kam besonders deutlich auf der Ebene der Informationssammlung zum Ausdruck. Die Sowjetdiplomaten beobachteten aufmerksam das Nachrichtenangebot der Massenmedien ihres Aufenthaltslandes, das unter Isolationsbedingungen in der Regel zur wichtigsten Quelle der Berichterstattung wurde. Paradigmatisch hierfür war die Situation im Dritten Reich: Der 204 „Die Verhaltensrichtlinien für die sowjetischen Botschafter“, Juli 1924, RGASPI 159/2/4/46. 205 Vgl. zur Verflechtung von medialen und diplomatischen Perzeptionen: Cohen, The Press and Foreign Policy, S. 211. 206 Die sowjetische Botschaft in Paris erhielt 1935 220.000 Rubel für PR-Aufgaben, die unter anderem darin bestanden, einheimische Massenmedien und Journalisten zu bestechen bzw. zur Zusammenarbeit zu bewegen. Vgl. entsprechende Beschlüsse des Politbüros vom 27.02.1935, „Über die Pariser Botschaft“, und 03.04.1935, „Über die Ausgaben des NKID“, RGASPI 17/162/17/135. Vgl. auch Dullin, Men of Influence, S. 177 f. 207 Der Botschafter in Bulgarien, Raskolnikov, an Doleckij, 28.05.1937, GARF 4459/38/88/91. Der Interimsleiter der TASS, Chavinson, an den Bevollmächtigten der UdSSR in Polen, Vinogradov, 27.11.1937, GARF 4459/38/88/106.

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Botschafter Jakov Suric (1934–1937) hatte keinen Zugang zu deutschen Politikern und Informanten, deswegen musste er seine „Schlussfolgerungen“ über die Innen- und Außenpolitik des Hitler-Regimes „vorwiegend auf der Grundlage von Zeitungsinformationen und Gesprächen mit Kollegen“ ziehen.208 Die Formen der Interaktion zwischen den Botschaftern und den Auslandskorrespondenten waren facettenreich und vom Prinzip der Gegenseitigkeit geprägt. Man tauschte Informationen und Meinungen aus, diskutierte über aktuelle Entwicklungen, vermittelte Kontakte zu Informanten und stand bei der Bewältigung von Tagesaufgaben zur Seite. Die Diplomaten profitierten vor allem vom medialen Nachrichtenaufkommen, das ihren Informationshorizont erweiterte und sie bei Recherchen entlastete. Deswegen setzten sie sich in der Regel tatkräftig für die Entsendung von Korrespondenten bzw. für die Aufstockung der Etats und Sonderausgaben für journalistische Standorte ein. Als Aleksandr Arosev, der Botschafter in Prag, mehr Valutaausgaben für das TASS-Büro in der Tschechoslowakei anforderte, glaubte er, der diplomatischen Führung somit mehr Informationen generieren zu können.209 Von der Errichtung neuer medialer Beobachtungsposten erwartete man viel: Der sowjetische Generalkonsul in der Mandschurei stellte „wertvolle politische Informationen“ in Aussicht210 , der Botschafter in Brüssel, Rubinin, versprach eine bessere „Beleuchtung der Politik Belgiens“.211 Ein langes Fernbleiben der Korrespondenten von ihren Dienstorten kritisierten die Sowjetdiplomaten hingegen als unbefriedigend. Sie befürchteten, dass die betroffenen Länder weniger Raum auf der sowjetischen Weltnachrichtenkarte einnehmen und entsprechend auch weniger Beachtung im außenpolitischen Entscheidungsprozess finden würden.212 Auch die Führung des NKID, deren Nachrichtenbild sich maßgeblich auf die Auslandsmeldungen der TASS stützte, förderte diese Kooperationen. Die Botschafter wurden angewiesen, die Korrespondenten „nach allen Kräften zu unterstützen“ sowie „über den politischen Kurs der Sowjetregierung“ zu informieren.213 Die Zusammenarbeit wurde als Koordinationsleistung verstanden: Es ging darum, journalistische Arbeitsprogramme an die Weltprogrammierung des Narkomindel zu koppeln und die politische Zweckausrichtung der Auslandsberichterstattung zu

208 Der Botschafter in Berlin, Suric, an Litvinov, 02.01.1936, AVP RF 05/16/118/45/1. 209 Der Botschafter in Prag, A. Arosev, an Doleckij, Kopie an den Leiter der II. Westabteilung des NKID, Stern, 21.11.1931, GARF 4459/38/40/27. 210 Der Stellvertreter des Volkskommissars fürs Auswärtige, Karachan, an Doleckij, 18.02.1931, GARF 4459/38/40/105. 211 Der Botschafter in Belgien, Rubinin, an Doleckij, Kopien an Krestinskij, Nejman, 26.06.1936, GARF 4459/38/79/8. 212 Die Botschafterin in Stockholm, Kollontaj, an Doleckij, 02.02.1931, GARF 4459/38/40/111. 213 Doleckij an alle Abteilungsleiter und Korrespondenten der TASS im Ausland, 04.02.1926, GARF 4459/38/9/1.

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steuern. Vor diesem Hintergrund begründete Čičerin die Notwendigkeit der diplomatischen Zensur wie folgt: „Die Vertreter der TASS kennen nicht die Zickzacks (zigzagi) der Politik, von diesen Zickzacks aber hängt die Beleuchtung der Ereignisse (osvešenie sobytij) ab“.214 Doleckij stimmte seiner Sichtweise grundsätzlich zu, in einer internen Besprechung schnitt er die Koordinationsproblematik folgendermaßen an: „Die politische Linie unserer Korrespondenten wird äußerst aufmerksam beobachtet und festgelegt. Sie muss mit der Linie der Botschaft übereinstimmen“.215 Klare Vorteile aus der Zusammenarbeit mit dem NKID ergaben sich auch für die TASS und ihre Korrespondenten. Auf struktureller Ebene profitierte man von der diplomatischen Welterschließung. Die sowjetischen Botschaften fungierten als Anschlussstellen, als strategische Stützpunkte für den Aufbau journalistischer Beobachtungsposten und Informantennetzwerke. Als besonders wertvoll erwies sich das soziale Kapital der Diplomaten, ihre Kontakte und Beziehungen. Es erleichterte den Anschluss an das neue Arbeitsumfeld und die Erschließung von Informationskanälen. Vor allem in der ersten Phase ihrer journalistischen Tätigkeit waren die Korrespondenten auf diese Netzwerke und das Insiderwissen des Botschaftspersonals angewiesen. So wandte sich Doleckij im Februar 1931, unmittelbar vor der Entsendung Palgunovs nach Teheran, an den Botschafter Adolf Petrovskij mit der Bitte, dem jungen Korrespondenten „die uneingeschränkte Unterstützung“ zukommen zu lassen und ihn „mit allen Informationen der Botschaft bekannt zu machen“, die für „eine produktive Arbeit“ und die Ausrichtung an „der politischen Linie des Botschafters“ unentbehrlich wären.216 Als Petrovskij und Palgunov sich am 2. März 1931 zum ersten Mal begegneten, zeigte sich der sowjetische Botschafter in der Tat sehr kooperativ. Er erläuterte zunächst „die allgemeinen Grundlagen der sowjetischen Außenpolitik“, ging dann zur Besprechung der Lage im Iran über und beantwortete schließlich „gut und gern alle Fragen“, die der neue TASS-Vertreter ihm stellte. Dabei blieb Palgunov noch Jahrzehnte später in Erinnerung, dass der Botschafter „äußerst rücksichtsvoll war und seine eigene Lagebewertung nicht aufdrängte“.217 Auf der Programmebene stellten diplomatische Ratschläge und Erklärungen eine Orientierungshilfe dar. Sie trugen dazu bei, Unsicherheiten im journalistischen Entscheidungsprozess zu reduzieren sowie Erwartungen und Kalküle der Kremlführung besser zu antizipieren. Im Prozess des Dialogs mit den Botschaftern eigneten sich die Korrespondenten neue Perspektiven und Deutungsmuster an und lernten komplexe Sachverhalte verstehen.218 Mitunter bekamen sie Zugang zu internen 214 215 216 217 218

Čičerins „Notizen für Kujbyšev“, Juli 1930, S. 102. Die Ansprache von Doleckij auf der Konferenz der INO-TASS, 01.07.1926, GARF 4459/11/81/56. Doleckij an den Botschafter im Iran, Adolf Petrovskij, 17.02.1931, GARF 4459/38/40/113. Palgunov, Tridcat let, S. 27. Der TASS-Korrespondent in Wien, Brun, an Doleckij, 07.01.1928, GARF 4459/38/22/3.

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Entscheidungsprozessen, wie in Wien unter Konstantin Jurenev (1927–1933), der dem TASS-Vertreter gestattete, an „den Besprechungen der Botschaft über laufende politische Fragen“ teilzunehmen.219 Ähnlich kooperativ waren die Botschafter in Rom, Potemkin, und in Brüssel, Rubinin, die mit ihren journalistischen Kollegen in engem Kontakt standen.220 Der Grundstein zur strukturell-programmatischen Verflechtung von diplomatischer und journalistischer Berichterstattung wurde bereits im September 1922 gelegt, als gemäß einer Vereinbarung durch Čičerin und Doleckij die Informationsabteilungen der Botschaften an die ROSTA übergeben und in journalistische Büros umgewandelt wurden.221 Diese räumliche Nähe begünstigte die Einbindung der TASS-Standorte in die Organisationsstruktur der diplomatischen Informationskontrolle und -auswertung, vor allem aber erleichterte sie auch die Zensurimplementierung durch die Botschafter. Čičerin und seine Mitarbeiter tendierten dazu, die TASS-Korrespondenten als integrale Mitglieder der sowjetischen Vertretungen zu betrachten222 , was die problematische Situation von ambivalenten Verpflichtungen schuf: Einerseits waren journalistische Beobachter gehalten, die Redaktionslinie der INO-TASS zu befolgen, andererseits wurden sie durch die diplomatische Kontrolle beeinflusst und umprogrammiert. Die Tiefendimension von Konflikten zwischen den TASS-Korrespondenten und den Sowjetbotschaftern spiegelte die Differenz von institutionellen Zielsetzungen, Programmierungen und Publikumsbildern wider. Es handelte sich zugleich um Machtkonflikte. Diese ergaben sich aus der politischen Führungsrolle der Botschafter, die verpflichtet waren, die Tätigkeit anderer Sowjetinstitutionen im Ausland zu koordinieren und deren Informationen im Rahmen einer kritischen Gesamtanalyse auszuwerten.223 Die dabei geführten Kontroversen können im Sinne von Stuart Hall als Auseinandersetzungen um Bedeutungsmuster, als Sinnkonflikte, verstanden werden. Sie spiegelten Unstimmigkeiten in Bezug auf „die politische Zwecksetzung von Auslandsnachrichten“224 wider, kreisten um ‚richtige‘ Interpretationen und Codierungen und entschieden darüber, welche Realitätsdefinitionen sich durchsetzten.225 Paradigmatisch hierfür sind die Eintragungen im Dienstta219 Der TASS-Korrespondent in Wien, Volkenstejn, an Doleckij, 17.12.1929, GARF 4459/38/22/95 f. 220 Der TASS-Korrespondent in Rom, Čarnyj, an Doleckij, 05.07.1935, GARF 4459/38/73/107, sowie der Botschafter in Belgien, Rubinin, an Doleckij, 11.11.1936, GARF 4459/38/79/3 f. 221 Das Zirkular an alle Abteilungen und Korrespondenten der ROSTA vom 16.01.1923, GARF 391/11/56/5. 222 Der Vortrag des Leiters der Auslandsabteilung der TASS, „Über das Korrespondentennetz der TASS im Ausland“, 08.07.1929, GARF 4459/11/251/194. 223 Vgl. Dullin, Men of Influence, S. 68 f. 224 Vgl. Doleckij an alle Abteilungsleiter und Korrespondenten der TASS im Ausland, 04.02.1926, GARF 4459/38/9/1. 225 Vgl. Hall, Die strukturierte Vermittlung von Ereignissen, S. 353, 356.

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gebuch von Alexandra Kollontaj, der Botschafterin in Stockholm: Sie kritisierte mehrmals die Perzeptionsschemata der TASS-Korrespondenten, die aus ihrer Sicht „ein falsches Bild“ erzeugten.226 Journalistischen Codierungen misstraute auch der Generalkonsul in Barcelona, Vladimir Antonov-Ovseenko, der sich für „den einzigen Informanten“ des Kremls hielt und keine „alternativen Berichterstatter“ duldete.227 Gleichwohl zeigte er sich an Informationen der Korrespondentin Mirova sehr interessiert und forderte sie auf, ihm zweimal täglich darüber zu berichten, was man „in journalistischen Kreisen“ zu hören bekam.228 Die politische Einflussnahme durch die Botschafter nahm verschiedene Formen an: Sie reichte von einer sorgfältigen Prüfung einzelner Meldungen, die dem Qualitätsmanagement der INO-TASS ähnelte, bis zu einem Beratungsangebot, das sich als kollegialer Meinungsaustausch gestaltete. Arkadij Rozengolc, der Botschafter in London (1925–1928), pflegte „alle TASS-Telegramme in der Regel persönlich“ zu sichten.229 Anders verlief die Zusammenarbeit zwischen dem Botschafter in Berlin, Krestinskij, und dem Korrespondenten Menkes (1921–1930), die ihre Beobachtungen einvernehmlich koordinierten.230 Ähnlich gut war das Verhältnis zwischen Palgunov und Suric in Paris (1936–1939). Sie trafen sich jede Woche, um „Meinungen über die Lage und Ereignisse“ auszutauschen. Dabei ging man auch über die politische „tour d’horizon“ hinaus und unterhielt sich gerne über künstlerische Vorlieben und Interessen.231 Es existierten offensichtlich unterschiedliche Vorstellungen darüber, wie umfassend und streng die diplomatische Zensur sein sollte. Čičerin befürwortete eine tägliche, zeitnahe Kontrolle über journalistische Entscheidungen. Viele Botschafter teilten sein Zensurverständnis aber nicht, sie zogen eine Beraterfunktion vor, die sich auf Ratschläge und die Beantwortung von Anfragen beschränkte. Diese Art von Zensur war weniger zeitaufwendig als ein nach dem Top-down-Prinzip organisiertes Prüfprogramm. Dies verstand auch der Leiter des NKID, als er seinem Ärger über Krestinskij, den ehemaligen Botschafter in Berlin, Luft machte: Dieser „hat sich beharrlich davor gedrückt“ (uporno otlynival), die journalistische Berichterstattung zu zensieren, weil er keine „zusätzliche Arbeit und Verantwortung“ 226 Vgl. die Einträge vom März 1933 und November 1939, in: Alexandra Kollontaj, Diplomatičeskie dnevniki, Bd. 2, Moskau 2001, S. 158 und S. 474. 227 Die TASS-Korrespondentin in Barcelona, Mirova, an Doleckij, 01.11.1936, GARF 4459/38/79/167. 228 Die TASS-Korrespondentin in Barcelona, Mirova, an Doleckij, 18.11.1936, GARF 4459/38/79/163 ff. 229 Der Botschafter in London, Rozengolz, an Doleckij (Kopie an Rothstein), 22.04.1927, GARF 4459/38/16/57. 230 Der Korrespondent TASS in Berlin, Menkes, an Doleckij, 12.02.1926, GARF 4459/38/11/114. Man sprach von „einem ziemlich engen Kontakt“. 231 Der TASS-Korrespondent in Paris, Palgunov, an Chavinson, 10.02.1939, GARF 4459/38/102/58; Palgunov, Tridcat let, S. 174.

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habe übernehmen wollen.232 Nicht anders war die Situation in Wien: Der TASSKorrespondent Brun wandte sich an den Botschafter Jurenev nur „in besonders wichtigen Fällen, die die Innen- und Außenpolitik Österreichs“ betrafen233 ; auch sein Nachfolger Volkenstejn legte „telegraphische Informationen in absoluten Ausnahmefällen“ zur Prüfung vor.234 Eine durch horizontale Abstimmungen geprägte Zensurpraxis könnte den Vorstellungen der TASS durchaus entsprochen haben. Obgleich die Führung der sowjetischen Nachrichtenagentur die Zusammenarbeit mit den Botschaftern befürwortete und von einem recht umfangreichen Koordinationsbedarf ausging, hielt sie an ihrer Weisungshoheit fest und kritisierte jede Abweichung von der Redaktionslinie scharf. Doleckij forderte seine Korrespondenten auf, „der Nachrichtenagentur und nur ihr rechenschaftspflichtig“ zu sein235 ; eine „umfassende Zensur“, die die Vorgaben der INO-TASS in Frage stellte, lehnte er entschieden ab.236 Gefragt war eine wechselseitige Kompromisshaltung. Die diplomatische Überkontrolle erwies sich als genauso problematisch wie die Ablehnung jeder „Vorzensur“ (predvaritel’naja censura) durch die Korrespondenten, die sich auf „die Selbstständigkeit der Berichterstattung“ der TASS237 bzw. die bindende Kraft der „TASS-Instruktionen“ beriefen.238 Eine einzigartige Konstellation entstand aber im Zeitraum 1938–1941, als die neue, im Beruf und in der Welt unerfahrene Generation von Auslandsjournalisten ihren Dienst antrat. Journalistische Defizite und stalinistische Codierungen erzeugten zwangsläufig Konfliktsituationen, wie Kollontaj, die Botschafterin in Stockholm, sie mehrmals in ihrem Tagebuch dokumentierte. Im November 1939 trug sie ein: „Ich führe Gespräche mit dem neuen Mitarbeiter der TASS, streite mit ihm, erkläre ihm die wirkliche Lage. Man soll ihn anleiten“. Drei Monate später, im Februar 1940, thematisierte Kollontaj erneut ihre Auseinandersetzungen mit dem Korrespondenten: „Ich musste seine pessimistischen Berichte nach Moskau berichtigen. Eine Diskussion mit ihm hat mich müde gemacht“.239 Die TASS-Zentrale stellte

232 233 234 235 236 237 238

Čičerins „Notizen für Kujbyšev“, Juli 1930, S. 102. Der TASS-Korrespondent in Wien, Brun, an Doleckij, 07.01.1928, GARF 4459/38/22/6. Der TASS-Korrespondent in Wien, Volkenstejn, an Doleckij, 17.12.1929, GARF 4459/38/22/95 f. Doleckij an den TASS-Korrespondenten in Berlin, Menkes, 05.03.1926, GARF 4459/38/11/54. Doleckij an den TASS-Korrespondenten in Wien, Brun, 20.12.1927, GARF 4459/38/16/41. Der Korrespondent in Wien, Brun, an Doleckij, 07.01.1928, GARF 4459/38/22/11. Der Botschafter in Prag, Aleksandrovskij, an den Interimsleiter der TASS, Chavinson, Kopie an den Leiter der Presseabteilung des NKID, Gnedin, 30.09.1937, GARF 4459/38/88/100. 239 Kollontaj, Diplomatičeskie dnevniki, Bd. 2, S. 474 und S. 495. Es handelte sich um Daniil Kraminov (1910–1994), der diese Konfliktsituationen in seinen detailreichen Erinnerungen jedoch nicht thematisierte. Vgl. Daniil Kraminov, V orbite vojny: Zapiski sovetskogo korrespondenta za rubežom, 1939–1945, Moskau 1986, S. 83 ff.

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sich in dieser Zeit meistens auf die Seite der Sowjetdiplomaten und befürwortete selbst eine gründliche Kontrolle der journalistischen Berichterstattung.240 Insgesamt kann man feststellen, dass der diplomatische Einfluss auf journalistische Wirklichkeitskonstruktionen sich nicht primär in Form von Verboten und Vorschriften, sondern maßgeblich im Rahmen eines diskursiven Meinungsbildungsprozesses gestaltete. Das diplomatische Prüfprogramm war als Nachzensur konzipiert: Die Botschafter sichteten telegraphische Meldungen und intervenierten erst dann, wenn sie Verstöße gegen die außenpolitische Linie der Sowjetführung entdeckten oder mit journalistischen Perspektiven grundsätzlich nicht einverstanden waren. Man kann sagen, dass die Botschafter als Beobachter zweiter Ordnung fungierten: Sie beobachteten, wie die Auslandsjournalisten beobachteten. Dabei richtete sich der Fokus der diplomatischen Zensur weniger auf einzelne Fakten, sondern vielmehr auf journalistische Selektionsschemata und Thematisierungen. Es ging darum, Agenden anzugleichen, und darum, diplomatische Codes in die mediale Nachrichtenproduktion zu integrieren. Die Botschafter reagierten in der Regel verärgert, wenn ihre thematischen Präferenzen unberücksichtigt blieben.241 Ein spezifischer Bereich der diplomatischen Kontrolle umfasste solche Informationen, deren Publikation die Demaskierung von Informanten oder die Belastung von Beziehungen zu anderen Staaten nach sich ziehen konnte. So verbot der sonst ‚liberale‘ Krestinskij dem Leiter des TASS-Büros in Berlin, Menkes, vertrauliche Berichte über die Sitzungen des Auswärtigen Ausschusses des deutschen Reichstages nach Moskau zu versenden, weil er „eine schwere Kompromittierung der Kommunistischen Partei und ihrer Parlamentsfraktion“ befürchtete.242 Die Interpretationshoheit der Botschafter manifestierte sich in ihrem Vetorecht, das sie befugte, die Bereiche des Sagbaren festzulegen und unerwünschte Interpretationsschemata zu verbannen. Entstanden aber Situationen, bei denen das diplomatische Vetorecht mit den Vorgaben der INO-TASS kollidierte, dann standen den Korrespondenten grundsätzlich zwei Optionen zur Verfügung: Sie konnten sich entweder der Meinung der Botschafter anschließen und nachgeben oder auf ihrem Standpunkt beharren und an das Schiedsgericht der Zentralredaktion appellieren. Auf diese Weise wanderten viele Konflikte in den 1920er Jahren nach Moskau und wurden von Doleckij und Čičerin beigelegt. Die Leiter des NKID und der TASS versuchten mehrmals, gegenseitige Erwartungen zu formalisieren. Den ersten Kompromiss handelte man bereits im September 1922 aus, als die ROSTA zur

240 Chavinson an den Botschafter der Sowjetunion in Estland, Nikitin, 13.07.1939, GARF 4459/38/102/189. 241 Čičerin an Doleckij, 24.07.1925, GARF 4459/38/6/27. Der Volkskommissar rekurrierte auf die Beschwerde des sowjetischen Botschafters in London, Rakovskij. 242 Der TASS-Korrespondent in Berlin, Menkes, an Doleckij, 26.02.1926, GARF 4459/38/11/53.

Zwischen Kontrolle und Selbstständigkeit

Hauptinstanz der sowjetischen Auslandsberichterstattung wurde. Ihm zufolge hatten die Korrespondenten „ausschließlich im Auftrag und gemäß den Anweisungen“ der ROSTA zu berichten; den Botschaftern wies man „die politische Kontrolle“ über die Nachrichtenproduktion zu, sie übten ferner Aufsicht über „alle Verhandlungen“ und „Abkommen“ aus, die die TASS-Vertreter führten bzw. abschlossen.243 Das Hauptdefizit dieser Vereinbarung lag darin, dass sie den Umfang und den Implementierungsmodus der diplomatischen Zensur nicht genau definierte, was immer wieder neue Spannungen und Kontroversen auslöste. Eine nächste Kompromisslösung bahnte sich im Januar 1926 an, als Čičerin und Doleckij auf einer Sitzung des TASS-Rates dem grundlegenden Koordinationsproblem zwischen journalistischen und diplomatischen Weltbeschreibungen nachgingen. Man stellte fest, dass „politische Linien“ der TASS und des NKID „nicht übereinstimmten“, und bekräftigte noch einmal die politische Führungsrolle der Sowjetbotschafter. Diese hätten die Aufgabe, die journalistische Nachrichtenproduktion mittels „politischer Anweisungen, Direktiven und Kontrolle“ zu lenken. Zugleich brachte man auch das Problem der diplomatischen Überkontrolle zur Sprache und kritisierte „die Bestrebungen einiger Botschafter, die Selbstständigkeit der Korrespondenten komplett zu beseitigen und sich in deren Arbeitsroutinen einzumischen“. Man beanstandete ferner, dass die TASS-Vertreter „sogar Aufgaben erhielten, die nicht in ihren Kompetenzbereich gehörten“.244 Dem neuen Kompromiss zufolge sollte die diplomatische Zensur auf solche Inhalte und Themen der Nachrichtenproduktion beschränkt werden, die die Außenpolitik der Sowjetunion unmittelbar betrafen.245 In praktischer Konsequenz bedeutete das, dass viele Informationen, die die Korrespondenten zur Weitergabe nach Moskau bereitstellten, aus dem Veto-Bereich der Botschafter herausgenommen wurden und keinem Prüfprogramm vor Ort mehr unterlagen. Beide Parteien stimmten dem Grundsatz zu, dass „die allgemeine Kontrolle“ seitens der Botschafter nicht mit Richtlinien der TASS-Zentrale kollidieren und das „Arbeitstempo“ der Korrespondenten verlangsamen sollte.246 Insgesamt kam ein tragfähiger Kompromiss zustande, der den Interventionsbereich der diplomatischen Zensur präzisierte. Wie der Leiter der TASS seinen Auslandskorrespondenten erläuterte, 243 Das Zirkular an die Botschafter vom 15.01.1923 (unterschrieben von Litvinov und Doleckij), in: GARF 4459/11/1/1. 244 Ebd., 26. 245 „Über die Beziehungen der TASS-Korrespondenten mit den Botschaftern“. Die Sitzung des TASSRates am 15.01.1926, GARF 4459/11/76/26. 246 Doleckij an alle Abteilungsleiter und Korrespondenten der TASS im Ausland, 04.02.1926, GARF 4459/38/9/1. Ein Rundschreiben mit dem gleichen Inhalt verschickte auch die NKID-Führung an die Botschafter. Sie betonte dabei stärker die Koordinationsdefizite: Man verwies auf „die mangelhafte Abstimmung zwischen der politischen Ausrichtung der TASS-Meldungen und unserer staatlichen politischen Linie“. Čičerin befürchtete „einen außerordentlichen Schaden für unsere Außenpolitik“. Vgl. Čičerin an alle Botschafter, 01.02.1926, GARF 4459/38/3/48.

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Die Auslandsbüros und die Auslandskorrespondenten der TASS

erstreckte diese Zensur sich auf alle Nachrichten, die „die internationale Politik der UdSSR“ unmittelbar betrafen.247 Es blieb aber unklar, wie die außenpolitische Relevanz von Auslandsmeldungen objektiv zu ermitteln war, denn es gab dafür keine allgemeingültigen Kriterien und Maßstäbe. Diese definitorische Unschärfe verstärkte vorhandene, durch institutionelle Eigenprogrammierungen bedingte Konfliktpotentiale, die den Prozess der Nachrichtenproduktion nach wie vor stark prägten. In Bezug auf die 1930er Jahre ist schließlich festzuhalten, dass die Struktur der Konflikte sich nicht erheblich änderte. Ihre Anzahl ging jedoch zurück. Dafür waren zwei Gründe ausschlaggebend: Erstens emanzipierte sich Ende 1920er Jahre die INO-TASS institutionell und programmatisch weitgehend von der Bevormundung des Narkomindel (vgl. Kap. 3.2). Zweitens änderte sich die Position der diplomatischen Führung: Im Unterschied zu Čičerin, der den Botschaftern zur Pflicht machte, „die Telegramme der TASS-Vertreter zu prüfen“, sah Litvinov keinen zwingenden Bedarf für eine regelmäßige Zensur journalistischer Nachrichtenbilder. Seinen Standpunkt erläuterte er dem Botschafter in Berlin, Chinčuk, gegenüber wie folgt: „Die TASS soll über alles berichten, was geschieht und was für uns Interesse hat […] Wir werden später hier selbst entscheiden, was an die Presse geht und was man zurückhält“.248 Angesichts der Tatsache, dass die Sowjetpresse die Weltpolitik immer weniger thematisierte und das mediale Auslandsbild der sowjetischen Öffentlichkeit sukzessiv schrumpfte, hielt Litvinov es für ausreichend, die Auslandsberichterstattung von Moskau aus zu kontrollieren und publizistisch zu steuern.

2.4 Die Auslandskorrespondenten und die Auslandsabteilung der TASS: die Welterzeugung als Kommunikationsprozess? In den vorangegangenen Kapiteln wurde die gestalterische, aktive Rolle der INOTASS und der Auslandskorrespondenten im Prozess der Konstruktion des medialen Auslandsbildes thematisiert. Dabei stellte sich heraus, dass Koordinationsund Abstimmungsfragen viel Raum in der redaktionellen Entscheidungsprogrammierung einnahmen und intensiv diskutiert wurden.249 Im diesem Kapitel wird

247 Doleckij und der Leiter der Auslandsabteilung der TASS, Madjar, an alle Abteilungsleiter und Korrespondenten der TASS im Ausland, 24.03.1926, GARF 4459/11/83/4. Vgl. auch Doleckij an den TASS-Korrespondenten in Wien, Brun, 14.01.1928, GARF 4459/38/22/10. 248 Litvinov an Chinčuk, Kopien an Krestinskij, Štern, Umanskij, Doleckij, 01.04.1933, AVP RF 010/8/27/23/99. 249 Vgl. exemplarisch den Bericht des Leiters der INO-TASS, B. Kocyn, „Über die Arbeit der INOTASS“, 25.08.1930, GARF 4459/11/355/2 f.

Die Auslandskorrespondenten und die Auslandsabteilung der TASS

die Beziehungsproblematik zwischen der Auslandsabteilung in Moskau und den Auslandskorrespondenten konkretisiert. Der Untersuchungsfokus richtet sich auf entsprechende Einflussräume, Konfliktfelder und Steuerungsmechanismen. Im Vordergrund steht die Frage, wie die redaktionelle Linie durchgesetzt und eingehalten sowie auf welche Koordinationsinstrumente zurückgegriffen wurde, um einen gemeinsamen Deutungshorizont zu schaffen. Die Auslandskorrespondenten der TASS verstanden sich als Weltbeobachter mit einer Signalfunktion.250 Dieses Selbstverständnis spiegelte ihren realen Einfluss auf die redaktionelle Agenda-Bildung wider: Neben Ad-hoc-Thematisierungen waren sie verpflichtet, jedes Quartal thematische Pläne vorzulegen, die die INO-TASS in die redaktionelle Entscheidungsprogrammierung integrierte.251 Man kann drei Faktoren identifizieren, die die Einflussmöglichkeiten der Auslandskorrespondenten begründeten und markierten252 : Erstens, sie verfügten durch ihren Einsatz vor Ort, in unmittelbarer Nähe zu den Ereignissen und Informationsquellen, über ein viel detaillierteres Wissen als die Zentralredaktion. Diese „Einbindung in lokale Meinungsführungsmilieus“253 stattete sie mit einem großen Gestaltungspotential aus und ermöglichte ihnen, an redaktionellen Deutungsprozessen zu partizipieren. Ein Beispiel für die Komplexität und die Ambivalenz der Informationsverarbeitung in der INO-TASS stellte eine Meldung des Berliner Korrespondenten vom Oktober 1930 dar, in der die Begriffe „Pflichtarbeiter“ und „Wohlfahrtsarbeiter“ auftauchten. Ihre Bedeutung konnte die Auslandsredaktion auch nach einer stundenlangen Beratung nicht entschlüsseln; schließlich musste sie den Korrespondenten in Berlin um die Erläuterung und Übersetzung unbekannter Termini bitten.254 Unmittelbarer Zugang zu fremden Diskursen versetzte die TASSKorrespondenten in die Lage, als Transferleister und Weltübersetzer aufzutreten und redaktionelle (De-)Codierungsprozesse mitzugestalten. Zweitens: Da die Entscheidungsprogramme der Zentralredaktion von festen Deadlines konditioniert und auf die Herstellung von aktuellen Nachrichten ausgerichtet wurden, konnten die Auslandsjournalisten mit ihrem Nachrichten-Timing Publikationsentscheidungen der INO-TASS beeinflussen. Drittens, die TASS-Korrespondenten konnten sich bei Thematisierungsinitiativen auf prominente Medien bzw. exklusive Quellen berufen und so die Akzeptanz der Zentralredaktion für ihre Selektionsentscheidungen manipulieren.

250 Der TASS-Korrespondent in Prag, Sitkovskij, sprach von der „Signalsetzung“. Vgl. die Konferenz der INO-TASS am 28.08.1934, GARF 4459/11/638/39. 251 Vgl. den Arbeitsplan der INO-TASS für das Jahr 1930, GARF 4459/11/372/13, sowie den Arbeitsplan der INO-TASS für das Jahr 1931, Januar 1931, GARF 4459/11/444/59 f. 252 Sigal, Reporters and Officials, S. 23. 253 Hafez, Die politische Dimension, S. 183. 254 Doleckij an den Leiter des TASS-Büros in Berlin, Menkes, 06.10.1930, GARF 4459/38/35/232.

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Die Auslandsbüros und die Auslandskorrespondenten der TASS

Wenig spricht aber dafür, die Auslandsjournalisten im Sinne des GatekeeperAnsatzes als „unabhängige Einzelgänger“255 zu betrachten. Die Orientierung an redaktionellen Vorgaben und Programmen gehörte genauso zur beruflichen Norm wie die Fähigkeit, die Erwartungshaltungen der Leser zu antizipieren. Die Macht- und Einflussräume der INO-TASS basierten vor allem auf ihrem Korrektur- und Vetorecht. Eingetroffene Auslandsmeldungen konnten gekürzt, geändert, ergänzt und in andere Kontexte gesetzt werden. Man sprach intern von der „politischen Bearbeitung“ von Nachrichten, die darauf ausgerichtet war, „mögliche Abweichungen (uklony) bei der Faktenpräsentation zu vermeiden“.256 Ähnlich wie die Sowjetbotschafter, aber mit einem noch größeren Interventionspotential ausgestattet, fungierte die INO-TASS als Beobachter zweiten Grades: Sie beobachtete, wie die Auslandsjournalisten „beobachten“.257 Es war eine kritische, bewertende und auf Steuerungsprozesse ausgerichtete Beobachtung. Der interpretative Vorsprung der INO-TASS resultierte aus der kommunikativen Nähe zum sowjetischen Publikum. Fast täglich kommunizierte die Führung der sowjetischen Nachrichtenagentur mit Zeitungsredaktionen und Vertretern des Parteiund Staatsapparates. Die Auslandsredaktion war eine Art Transmissionsinstanz. Sie vermittelte zwischen nationalen und transnationalen Diskursen, zwischen systeminternen Erwartungen und systemfremden Weltbeschreibungen. Wie Litvinov der Kremlführung erläuterte, fielen alle Entscheidungen – „worüber und wie viel aus dem Ausland berichtet werden sollte“258 – ausschließlich in der TASS-Zentrale. Diese Aussage entsprach der Selbstwahrnehmung der Redakteure, die den Anspruch erhoben, den „Blickwinkel“ der Berichterstattung zu bestimmen.259 Der kognitive Vorsprung der Auslandsabteilung resultierte aus ihrem kollektiv generierten Wissenshorizont. Die Redaktionsführung legte im Rahmen der teamorientierten Programmplanung fest, dass sich an der kritischen Begutachtung der Berichterstattung der Auslandskorrespondenten „so viele Mitarbeiter der INO-TASS wie möglich“ beteiligen sollten.260 Die Konflikte zwischen der Zentralredaktion und den Auslandskorrespondenten waren vielschichtig. Sie betrafen sowohl die Programmebene von Selektions-, 255 Vgl. Stefan Frerichs, Gatekeeping, in: Weischenberg (Hrsg.), Handbuch Journalismus und Medien, S. 74. 256 Der Beschluss der Sitzung der Abteilungsleiter der TASS nach dem Anhören des Berichts des Leiters der Auslandsabteilung, Madjar, 07.09.1926, GARF 4459/11/3/104. 257 Vgl. das Protokoll der Sitzung der leitenden Troika der INO-TASS, 27.11.1929, GARF 4459/11/352/2. 258 Litvinov an Molotov, Kopien an Stalin, Kaganovič, Andreev, Ždanov, Ežov, 14.02.1937, AVP RF 05/17/126/1/49. 259 Der Redakteur des fernöstlichen Sektors, Breman, auf der Konferenz der INO-TASS, 28.08.1934, GARF 4459/11/638/47. 260 Das Protokoll der Sitzung der leitenden Troika der INO-TASS, 14.06.1930, GARF 4459/11/352/30 f.

Die Auslandskorrespondenten und die Auslandsabteilung der TASS

Thematisierungs- und Interpretationsprozessen als auch die Koordinationsebene von Steuerungspolitik und Anpassungsbereitschaft. Hinzu kam das Problem der Aktualitätsherstellung: Auf jede „Verspätung von Informationen“ reagierte die INO-TASS mit Missmut und Kritik.261 Der arbeitsprogrammatische Konsens setzte die Isomorphie von thematischen und interpretativen Horizonten voraus, die jedoch durch die räumliche Distanz zwischen der Zentralredaktion und ihren Beobachtern im Ausland schwer zu erreichen war. Das Hauptdilemma der Auslandsberichterstattung brachte Doleckij lakonisch so auf den Punkt: „Wir haben mit den Leuten zu tun, die von Moskau entfernt sind“.262 Es handelte sich um eine doppelt codierte Entfernung, die der sowjetische Botschafter in China, Adolf Joffe, Lenin gegenüber wie folgt beschrieb: Während Sie die von mir per Kurier aufgegebenen Briefe über die Lage in China lesen, hat sich die Situation bereits wieder drastisch verändert, vielleicht sogar in ihr Gegenteil verkehrt. So beziehen sich Ihre viel zu seltenen Anweisungen häufig auf Vorgänge, die bereist nicht mehr aktuell sind.263

Kommunikation unter Distanzbedingungen rief eine Differenz von Zeit- und Orientierungshorizonten hervor. Der Leiter der INO-TASS musste zugeben, dass es „sehr schwer“ war, die TASS-Standorte in China „vom Zentrum aus zu steuern“.264 Nicht anders beurteilte der TASS-Korrespondent in Schanghai, Pavlov, die Situation, als er feststellte, dass „zehntausend Kilometer von Moskau entfernt zu arbeiten, […] nicht das Gleiche ist, wie aus Paris oder Berlin zu berichten“.265 Es dauerte oft wochenlang, bis Direktiven aus Moskau, die per diplomatischen Kurierdienst verschickt wurden, bei Korrespondenten eintrafen. Ein zweites Konflikt- und Problemfeld der sowjetischen Auslandsberichterstattung stellten die „fundamental verschiedenen Außenbeziehungen“266 der TASSKorrespondenten und der Zentralredaktion dar. Es ging um eine grundlegende Differenz von diskursiven Orientierungen, thematischen Präferenzen und lebensweltlichen Horizonten. Der INO-TASS galten die TASS-Korrespondenten als systemfremde Beobachter, deren Berichte und Deutungen erst mit Hilfe von Koordinations- und Steuerungsmaßnahmen der Zentrale an die redaktionelle Linie 261 Der Leiter der INO-TASS, Nejgoldeberg, an Doleckij, 12.11.1926, GARF 4459/38/11/9 ff. 262 Die Ansprache Doleckijs auf der TASS-Konferenz am 26.03.1937, GARF 4459/11/869/27. 263 Der sowjetische Botschafter in China, Adolf Joffe, an Lenin, 27.01.1923, zitiert nach Fuchs, Die grauen Zonen einer Diktatur, S. 365. 264 Der Bericht des Leiters der Auslandsabteilung, Menkes, auf der TASS-Konferenz, 28.08.1934, GARF 4459/11/638/31. 265 Der TASS-Korrespondent in Schanghai, Pavlov, auf der Konferenz der INO-TASS, 28.08.1934, GARF 4459/11/638/45. 266 Vgl. Hafez, Die politische Dimension, S. 108.

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und die Erwartungsstrukturen des einheimischen Publikums zurückgebunden werden mussten. Vor diesem Hintergrund verstand sich die Auslandsabteilung als Weltcodierungsinstanz: Sie legte Themenkataloge und Perspektiven fest, die die journalistische Beobachtung steuerten. Die Zielsetzung der redaktionellen Codierung wurde in einem Brief an die Korrespondentin in Berlin, Lili Keith, wie folgt beschrieben: Das wichtigste wäre, die Ereignisse – sozusagen – nicht mit Berliner, sondern mit Moskauer Augen zu beurteilen. Dies ist nicht leicht, Sie müssen aber danach streben, die Berliner Information von den augenblicklichen Berliner Stimmungen zu befreien.267

Die mediale Weltcodierung war darauf ausgerichtet, ein kohärentes, nach aktuellen Themen geordnetes und temporal von bestimmten Kontinuitätssträngen geprägtes Auslandsbild zu kreieren. Dafür stellte die INO-TASS verbindliche Sinnkriterien und Perzeptionsschemata zur Verfügung, lenkte Aufmerksamkeitsmuster und leistete Deutungshilfe. Der Umfang und die Gewissenhaftigkeit der Umsetzung von redaktionellen Vorgaben und Prämissen galten als Qualitätsmerkmal der Auslandsberichterstattung.268 Journalistischer Eigensinn wurde dagegen kritisiert: Über den „Leiter des Pariser Büros“ machte man die ironische Bemerkung, er fasse Anweisungen aus Moskau als persönliche Beleidigung auf; noch schwerer wog aber der Vorwurf des „Fehlens einer politischen Orientierung“269 , der mit der Kritik korrespondierte, dass das Auslandsbüro eine eigene „politische Linie“ verfolge.270 Die Abkoppelung von redaktionellen Vorgaben und Themen beschrieb die Auslandsabteilung mit Hilfe von Begriffen, die auf Dissonanz, Desorientierung und Nichtanschlussfähigkeit hindeuteten. Man sprach von „Nervosität, Sprüngen und Brüchen“271 , von „Fadennudeln (Vermicelli) widersprüchlicher Fakten“272 sowie von einer „impulsiven, unselbstständigen Berichterstattung“.273

267 Die ROSTA an die Korrespondentin in Berlin, Lili Keith, 26.09.1924, GARF 391/1/48/165 (Original deutsch). 268 Der Bericht des Leiters der Auslandsabteilung der TASS, Madjar, über die Arbeit des TASS-Büros in Berlin, 27.03.1926, GARF 4459/11/88/19. 269 Der Bericht des Leiters der Auslandsabteilung, Madjar, an Doleckij über die Arbeit der TASS-Büros in Berlin, London und Paris, 24.03.1926, GARF 4459/11/88/61-62. 270 Ebd., 57. 271 „Die Thesen zum Vortrag“ des Leiters der Auslandsabteilung der TASS, Rafes, April 1927, RGASPI 17/113/296/231. 272 Der Beschluss der INO-TASS „über die Arbeit des TASS-Büros in Schanghai“, Januar 1934, GARF 4459/11/584/60. 273 „Die Thesen zum Vortrag“ des Leiters der Auslandsabteilung der TASS, Rafes, April 1927, GARF 4459/11/160/123 f.

Die Auslandskorrespondenten und die Auslandsabteilung der TASS

Auf den Eigensinn ihrer Auslandskorrespondenten reagierte die Zentralredaktion in der Regel mit verstärkten Selektionen.274 Doleckij sprach sogar von einem „buchstäblichen Auspressen“ des Nachrichtenmaterials.275 Wurden aber redaktionelle Vorgaben systematisch ignoriert, dann beorderte die TASS ihre Vertreter aus dem Ausland zurück, wie im Fall der Korrespondenten Valden und Ingulov bereits beschrieben wurde. Viel Aufsehen erregte auch der Fall des TASS-Vertreters in Teheran, Vardin, der im Sommer/Herbst 1926 „absurde Theorien“276 , Revolutionsszenarien, entwickelte und sie direkt an die Kremlführung adressierte. Weder Doleckij noch Čičerin noch der sowjetische Botschafter im Iran konnten den TASSKorrespondenten zur Räson bringen. Der Leiter der TASS vermutete, dass Vardin, der ehemalige Leiter der Presseabteilung des ZK, seinen Eigensinn aus der Bekanntschaft mit Stalin geschöpft habe.277 Dieses symbolische Kapital nützte ihm aber nicht lange: Am 19. November 1926 beschuldigte der TASS-Rat Vardin, „eine falsche politische Linie“ zu verfolgen, und zog seine Absetzung in Betracht 278 , die etwas später auch erfolgte. Die Selektionspolitik der Auslandsabteilung, deren Kalküle und deren Logik den Auslandsjournalisten in der Regel unbekannt blieben, wurde auch zum Gegenstand von Kontroversen. Journalistische Beobachter waren nicht immer damit einverstanden, wie die INO-TASS mit ihren Meldungen und Berichten umging, was sie auswählte, wie das Ausgewählte bearbeitet und welche Publikationsentscheidungen getroffen wurden. Exemplarisch war die Unmutsäußerung des Korrespondenten in Schanghai, Pavlov, der das Gestaltungsmonopol der Zentralredaktion kritisierte: Hier in der INO-TASS ist man gewohnt, dass der Korrespondent ein Mensch ist, der das Rohstoffmaterial liefert, welches man dann beliebig zuschneiden und zerschneiden kann279 ,

führte er auf einer Konferenz in Moskau aus. Seiner Meinung nach wiesen die Auslandskorrespondenten eine bessere Situationskenntnis vor Ort auf und sollten deshalb größere „Verantwortung“ bei Gestaltungsprozessen übernehmen.280 Besonders viel Konfliktstoff erzeugten die Publikationsentscheidungen der Auslandsabteilung, die darüber bestimmten, welche Inhalte und Themen zum Gegen274 Vgl. den Kommentar des Leiters der Auslandsabteilung der TASS, Berezov, auf der TASS-Konferenz vom 26.03.1937, GARF 4459/11/869/27. 275 Doleckij an den TASS-Korrespondenten in London, Lasjan, 18.01.1937, GARF 4459/38/89/72. 276 Čičerin an Doleckij, 09.09.1926, GARF 4459/38/4/10. 277 Doleckij an Čičerin, 09.09.1926, GARF 4459/38/4/18. 278 Die Sitzung des TASS-Rates am 19.11.1926, GARF 4459/11/77/21. 279 Der TASS-Korrespondent in Schanghai, Pavlov, auf der Konferenz der INO-TASS, 28.08.1934, GARF 4459/11/638/44. 280 Ebd., 44 f.

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stand öffentlicher Kommunikation wurden und damit überhaupt auf die kognitive Landkarte des sowjetischen Massenlesers gelangten. Die Billigung oder Ablehnung der Publikation einer Meldung gab der INO-TASS die Macht, ihr Weltbild durchzusetzen und die Antizipationsbereitschaft der Auslandskorrespondenten zu mobilisieren. Die Kritik der TASS-Journalisten an der Politik des Sichtbarmachens durch die Zentralredaktion zeigt, dass die Korrespondenten oft von anderen politischen Landkarten ausgingen und dass besonders das systematische Nichtweiterleiten von zumeist kritischen Fakten an die Sowjetpresse Protest hervorrief.281 Die Publikationsentscheidungen der INO-TASS kreierten eine Bedeutungslandschaft, deren Struktur und Hierarchie ein kontroverses Thema war. So wies der TASS-Korrespondent in Wien, Brun, auf die temporale Asymmetrie von Entscheidungskontexten hin und äußerte kritisch: „Es gibt nichts Einfacheres, als im Nachhinein festzustellen, dass das Ereignis nicht wert war, in 500 Wörtern behandelt zu werden“.282 Sein Kollege in Teheran, Jakovlev, ging noch ein Schritt weiter: Das Nichtpublizieren seiner Meldungen in den öffentlichen Bulletins der TASS führte er auf die Differenz von kognitiven Landkarten zurück und warf den Redakteuren der INO-TASS vor, „sich für den Iran nicht zu interessieren und das Land auch nicht zu kennen“ sowie „Patrioten Chinas und Japans“ zu sein.283 Ein anderes Mal fragte Jakovlev enttäuscht nach, „warum denn ein leichtes Erdbeben in der Türkei oder in Kolumbien interessanter ist als ein solches im Iran“.284 Trotz aller oben erwähnten Differenzen bestand zwischen der Zentralredaktion und den Auslandskorrespondenten Konsens darüber, dass ein kohärentes und sinnvolles Auslandsbild nur einvernehmlich konstruiert werden konnte. Der TASSKorrespondent in Berlin, Sitkovskij, brachte diese Sichtweise wie folgt auf den Punkt: „Notwendig ist ein harmonisches Zusammenwirken (polnoe vzaimodejstvie) von beiden Teilen: dem Korrespondentennetz und dem Zentralapparat“.285 Der Koordinations- und Steuerungsprozess, der auf die Vermittlung zwischen unterschiedlichen Perspektiven und die Kreierung eines gemeinsamen Orientierungshorizontes ausgerichtet war, hatte mehrere Dimensionen. Auf sprachlicher Ebene ging es um die Übereinstimmung von grundlegenden Bezeichnungen. Die INO-TASS arbeitete ein Lexikon aus, das „Transkriptionen ausländischer Wörter,

281 282 283 284

Der TASS-Korrespondent in Rom, Čarnyj, an Doleckij, 06.03.1935, GARF 4459/38/73/121 f. Der TASS-Korrespondent in Wien, Brun, an Doleckij, 28.04.1928, GARF 4459/38/22/37. Der TASS-Korrespondent in Teheran, Jakovlev, an Doleckij, 21.09.1936, GARF 4459/38/79/133. Der TASS-Korrespondent in Teheran, Jakovlev, an den Leiter des Ostsektors der INO-TASS, Breman, 21.03.1936, GARF 4459/38/79/158. 285 Der TASS-Korrespondent in Berlin, Ippolit Sitkovskij, an Doleckij, 24.04.1936, GARF 4459/38/79/72.

Die Auslandskorrespondenten und die Auslandsabteilung der TASS

Namen und geographischer Toponymien“ enthielt.286 Auf der beruflichen Sozialisationsebene stand die Aneignung redaktioneller Normen und Werte im Mittelpunkt. „Eine langjährige Berufserfahrung in der UdSSR“287 galt als Voraussetzung für eine publikumsorientierte Berichterstattung. Diese manifestierte sich darin, „die allgemein-politische Bedeutung“ einzelner Ereignisse „für die politischen Führungsorgane und die Presse“288 zu erkennen und die Schwerpunktsetzung darauf auszurichten. Das Leben und Arbeiten im Ausland wurde in der Sowjetunion oft aus der Perspektive der Entfremdungsproblematik thematisiert (vgl. Kap. 2.2). Nicht nur die Parteiführung, sondern auch die TASS interpretierte „die Distanz zur sowjetischen Wirklichkeit“289 als ideologisches Codierungsproblem, das angeblich dazu führte, dass die Auslandskorrespondenten sich ungenügend an „den Interessen der sowjetischen Presse und des sowjetischen Lesers“290 orientierten. Eine lange Berufserfahrung in der Sowjetunion galt auch als Indikator für die politische Zuverlässigkeit. Zu Beginn der stalinistischen ‚Revolution von oben‘, die die interpretative, ideologische Dimension der Auslandsberichterstattung aufwertete, musste die INO-TASS ihren Steuerungsprozess intensivieren und neue Anforderungen an berufliche Sozialisationsmuster stellen. Man formulierte die Erwartung, dass die Auslandskorrespondenten „nicht weniger als einen Monat“ im Jahr in der INO-TASS arbeiten sollten.291 Es gab zudem Pläne, eine jährliche „Fortbildung“ „im Apparat der INOTASS“ einzuführen.292 Stalinistischen Hardlinern in der TASS gingen aber solche ‚Resozialisierungsmaßnahmen‘ nicht weit genug: Sie bestanden darauf, alle TASSJournalisten, die sich schon lange Zeit im Ausland aufhielten, endgültig in die Sowjetunion zurückzurufen und zu ersetzen.293 Die Führung der TASS förderte einen gegenseitigen Perspektiven- und Rollenwechsel. Die Auslandskorrespondenten hatten die Möglichkeit, sich für einige

286 Der Arbeitsplan der INO-TASS für das Jahr 1930, GARF 4459/11/372/12. 287 Doleckij an den Sekretär des ZK, Kaganovič, 19.12.1933, GARF 4459/38/58/6. 288 Das Rundschreiben an die Abteilungsleiter und Korrespondenten der TASS im Ausland, 29.05.1932, GARF 4459/38/9/59. 289 Vgl. den Beschluss des Politbüros vom 28.02.1938 „über die Auslandsmitarbeiter des NKID und NKVT“, RGASPI 17/3/997/5. 290 Doleckij an den Interimsleiter des TASS-Büros in Berlin, Rosinger, 23.08.1931, GARF 4459/38/43/113. 291 Der Beschluss der Sitzung beim verantwortlichen Leiter „über die Arbeit des Korrespondentennetzes“ vom 15.11.1931, GARF 4459/38/39/29. 292 Die Thesen zum Bericht des Leiters der Auslandsabteilung, Zaks-Gladnev, 24.01.1930, GARF 4459/11/355/145. 293 Der Leiter der Kaderabteilung der TASS, Čerepanov, an den Kadersektor der Abteilung für Kultur und Propaganda des ZK VKP(b) (1932), GARF 4459/38/50/14.

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Die Auslandsbüros und die Auslandskorrespondenten der TASS

Wochen in den redaktionellen Alltag zu integrieren und lebensweltliche Verbindungen zum Sowjetsystem herzustellen.294 Aber auch „meist erfahrene“ Redakteure sollten für kurze Zeit ins Ausland gehen, um dort die Arbeitsbedingungen und das mediale Umfeld ihrer Kollegen kennenzulernen.295 Die Führung der INO-TASS versprach sich davon eine Erweiterung des beruflichen Erfahrungshorizontes und eine effizientere Informationsverarbeitung.296 Für ausländische Mitarbeiter der TASS wurden besonders lange Sommerferien in der UdSSR vorgesehen, die zur Internalisierung von sowjetischen Weltbildern sowie beruflichen Normen und Orientierungsmustern dienen sollten. So verbrachte der Leiter des TASS-Büros in New York, Durant, 1932 zweieinhalb Monate in Moskau.297 Einen anderen wichtigen Mechanismus zur Optimierung von Koordinationsprozessen stellten jährliche Konferenzen in Moskau dar. Sie wurden im August, während der Urlaubssaison, abgehalten und boten den Auslandskorrespondenten und den Mitarbeitern der Zentralredaktion ein Forum für einen offenen „Meinungsaustausch“.298 Die Teilnehmer übten Kritik, unterbreiteten Vorschläge und artikulierten Erwartungen. Auf diesen gemeinsamen Konferenzen, die seit 1926 unregelmäßig stattfanden, standen auch aktuelle Fragen der Weltpolitik zur Diskussion. Das Arbeitsprogramm aus dem Jahr 1926 gibt Einblick in das Fragenspektrum solcher Zusammenkünfte: 1. Die internationale Lage der UdSSR; 2. Der Bericht der TASS; 3. Die Berichte der Auslandskorrespondenten; 4. Die Beziehungen der Auslandskorrespondenten mit den Botschaftern; 5. Die Beziehungen der Auslandskorrespondenten mit kommunistischen Parteien; 6. Die Beziehungen der Auslandskorrespondenten mit Nachrichtenagenturen; 7. Die Verwaltungsfragen.299

294 Im Parteiapparat existierten sogar Erwägungen, die Auslandsjournalisten während ihrer Urlaubszeit in Moskau in die Fabriken zu schicken. Vgl. die Sitzung des Sekretariats des ZK am 20.09.1929, RGASPI 17/113/777/3 f. 295 Vgl. den Beschluss der Sitzung der Abteilungsleiter der TASS vom 26.08.1930, GARF 4459/11/372/79. 296 Vgl. den Arbeitsplan der INO-TASS für die Jahre 1928–1929, November 1928, GARF 4459/11/251/7. 297 Die TASS-Anordnung Nr. 153 vom 07.04.1932 und Nr. 264 vom 17.06.1932, GARF 4459/17/19/7 und 148. 298 Die Ansprache von Doleckij auf der TASS-Konferenz am 26.03.1937, GARF 4459/11/869/28. 299 Diese Konferenz sollte ursprünglich in Berlin stattfinden, um die Anreise der Auslandskorrespondenten zu erleichtern. Vgl. den Beschluss der Sitzung des TASS-Rates vom 15.01.1926, „Über die Konferenz der TASS-Korrespondenten in Berlin“, GARF 4459/11/76/30.

Die Auslandskorrespondenten und die Auslandsabteilung der TASS

Die dritte Ebene des Koordinationsprozesses tangierte die operative Steuerung der Arbeit der Auslandsjournalisten. Es ging um ein formalisiertes System von Direktiven und Rückmeldungen, deren Problempalette recht breit war. Die INOTASS schlug Themen vor, hinterfragte einzelne Deutungsmuster, diskutierte über journalistische Rollenmodelle und startete Anfragen.300 So sind vor allem zwei Dimensionen des journalistischen Steuerungsprozesses zu unterscheiden: eine quantitative, die den Umfang und die Dichte der Berichterstattung betraf, und eine qualitative, die sich in thematischen Vorgaben, Interpretationsangeboten und kritischen Bemerkungen der INO-TASS manifestierte. Die Sichtbarkeit, die Präsenz einzelner Weltregionen auf der sowjetischen Nachrichtenkarte, wurde in Moskau in der TASS-Zentrale bestimmt und verwaltet. Dies geschah mit Hilfe von Wörterquoten, die man für jeden TASS-Standort gesondert festlegte. Quantitative Vorgaben konditionierten journalistische Aufmerksamkeitsmuster und waren ein wichtiges Instrument zur Erzeugung von kognitiven Landkarten. Als der Korrespondent in Wien, Brun, die Zentralredaktion dafür kritisierte, die Wörterquoten für seinen Standort reduziert zu haben, machte er „die Indifferenz“ der INO-TASS dem Balkanraum gegenüber dafür verantwortlich, dass „die Balkanfrage nicht im Zentrum der Aufmerksamkeit der sowjetischen Öffentlichkeit und der Führungsorgane“301 gestanden haben soll. Wörterquoten als Säulen der Aufmerksamkeitspolitik strukturierten und stabilisierten Erwartungen. Sie waren jedoch keine starren Vorschriften, sondern konnten von der INO-TASS bei Bedarf geändert und variiert werden. Selektionsspezifisch konditionierten sie journalistische Gestaltungsräume und zwangen zur Einschränkung, zur Reduktion und zu einem sparsamen Umgang mit Ressourcen. Setzten sich die Auslandskorrespondenten über quantitative Vorgaben hinweg, dann wurden sie mit dem Vorwurf konfrontiert, die Schwerpunktsetzungen der Zentralredaktion zu untergraben. Selbst bei Ereignissen von überregionaler Tragweite sah die INOTASS in der Regel „keine objektiven Gründe“ für eine eigenwillige Überschreitung von festgelegten Quoten.302 Die Weltcodierung, die als qualitative Dimension der Auslandsberichterstattung verstanden wird, verwirklichte die INO-TASS mit Hilfe von Direktiven, die im Zeitfenster von zehn bis 14 Tagen an einzelne Auslandsbüros, seltener an alle gleichzeitig, versandt wurden. Die Grundsätze der Steuerungspolitik beschrieb die Auslandsabteilung in ihren Arbeitsplänen für die Jahre 1929–1931 wie folgt: Die Arbeit der Auslandskorrespondenten sollte „systematisch“ durch „klare Anweisun-

300 Die Ansprache des TASS-Korrespondenten in Rom, Čarnyj, auf der Konferenz der INO-TASS, 28.08.1934, GARF 4459/11/638/35. 301 Der TASS-Korrespondent in Wien, Brun, an Doleckij, 28.04.1928, GARF 4459/38/22/37. 302 Der Bericht des Leiters der Auslandsabteilung, Menkes, am 28.08.1934, GARF 4459/11/638/29.

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gen“ gelenkt werden, das redaktionelle Feedback hatte jeden Monat „brieflich, mit ausführlicher Bewertung der Tätigkeit“ einzelner TASS-Standorte, zu erfolgen.303 Die Direktiven der Auslandsabteilung vermittelten als „Aufträge des Zentrums“304 die konkreten, spezifischen Erwartungen und redaktionelle „Richtlinien“305 journalistischer Entscheidungen. Aus Sicht der Auslandskorrespondenten hatten die Anweisungen der INO-TASS „eine praktische Bedeutung“: Sie erklärten, „in welche Richtung zu blicken war“306 , und gaben eine zuverlässige Auskunft darüber, „wofür Moskau sich interessieren könnte“.307 Der Botschaftsrat in Rom, Lev Gelfand, beurteilte die Funktion von Direktiven nicht anders. Ihm zufolge übermittelten diese die „Zukunftswünsche“ der Zentralredaktion und erleichterten es den TASS-Korrespondenten, sich in der Arbeit richtig zu orientieren, die Existenz spezieller Interessen in Moskau bezüglich verschiedener Problemfelder zu berücksichtigen und die Quantität von Informationen zu variieren.308

Die mediale Weltcodierung basierte aber nicht nur auf vertikalen Koordinationsformen. Der „Methode der Aktivierung“309 , wie man den reflexiven, mehrstufigen und zentral gesteuerten Konstruktionsprozess von Nachrichten nannte, stand ein horizontaler Informationsfluss gegenüber. Die „Instruktionsbriefe“ aus Moskau gewährten aufschlussreiche Einblicke in die „Arbeitsmethoden“ der Zentrale, erläuterten „die Situation in der INO-TASS und in der TASS im Allgemeinen“ einschließlich kaderpolitischer Entscheidungen. Noch mehr: Sie nahmen Bezug auf die Berichterstattung und die Vorschläge der Korrespondenten und integrierten deren Perspektiven in den Koordinationsprozess. Die Ausarbeitung redaktioneller Prämissen setzte ein gegenseitiges Beobachten und Bewerten voraus. So wurden die Auslandsjournalisten angewiesen, die Führungsqualität der INO-TASS regelmäßig

303 Vgl. den Arbeitsplan der INO-TASS für das Jahr 1931, Januar 1931, GARF 4459/11/444/5, sowie den Bericht des Leiters der Auslandsabteilung, Zaks-Gladnev, 08.07.1929, GARF 4459/11/251/194 und 196. 304 Der Leiter der Auslandsabteilung, Madjar, an Doleckij über die Arbeit des TASS-Büros in Paris, 27.03.1926, GARF 4459/11/88/29. 305 Vgl. die Ansprache des TASS-Korrespondenten in Peking, Slepak, auf der Konferenz der INO-TASS, 28.08.1934, GARF 4459/11/638/42. 306 Der TASS-Korrespondent in Warschau, Kovalskij, auf der Konferenz der INO-TASS, 28.08.1934, GARF 4459/11/638/38 f. 307 Der TASS-Korrespondent in Prag, Jakovlev, an Chavinson, Kopie an den Leiter der Presseabteilung des NKID, Gnedin, 29.04.1939, GARF 4459/38/102/105. 308 Der Botschaftsrat in Rom, L. Gelfand, an Chavinson, 11.12.1937, GARF 4459/38/88/131. 309 Der Beschluss der Sitzung der Abteilungsleiter der TASS nach Anhören des Berichts des Leiters der Auslandsabteilung, Madjar, 07.09.1926, GARF 4459/11/3/103.

Die Auslandskorrespondenten und die Auslandsabteilung der TASS

zu beurteilen sowie die Verwertung ihrer Informationen durch die Sowjetpresse zu beobachten.310 Die Steuerung der Auslandskorrespondenten gehörte in den Kompetenzbereich der Leitung der Auslandsabteilung, an ihr beteiligte sich auch der Leiter der TASS. In den 1920er Jahren betreute der erste Stellvertreter des Leiters der Auslandsabteilung alle europäischen Standorte der TASS (außer London); der zweite Stellvertreter war für alle außereuropäischen Auslandsbüros und London zuständig.311 Im Juni 1930 verteilte man die Führungsaufgaben wie folgt: Der Leiter der Auslandsabteilung steuerte die Arbeit der TASS-Büros in Berlin, Wien, Prag, Stockholm, Helsinki, Warschau, Riga, Kaunas und Tallinn; seine Stellvertreter koordinierten die Berichterstattung aus Tokio, Schanghai, Peking, Ulan-Bator, Teheran, Kabul, Istanbul, London (mit britischen Kolonien), New York, Bombay, Lateinamerika, Paris und Rom.312 Nach der Ausdifferenzierung der Sektoren in der INO-TASS wurden auch ihre Leiter in den Prozess der Bewertung der Arbeit der Auslandskorrespondenten einbezogen.313 Die Intensität des journalistischen Steuerungsprozesses beschrieb Doleckij der Kremlführung gegenüber wie folgt: „[…] die Korrespondenten der TASS werden täglich per Telegraph, Telephon, diplomatischer Post und oft auch mit Hilfe von chiffrierten Telegrammen gesteuert“.314 Auch Evgenij Gnedin, der Leiter der Presseabteilung des NKID, sprach von einem „täglichen“ und „äußerst operativen Kontakt zu journalistischen Standorten“.315 Die vier Kommunikationswege, die Doleckij erwähnte, beeinflussten die inhaltliche Ausgestaltung des Steuerungsprozesses und seine Aktualitätshorizonte. Per diplomatischer Post kommunizierte man sicher, offen, aber nicht aktuell; das Telephon und der Telegraph ermöglichten einen operativen Kontakt und ein unmittelbares Feedback, garantierten aber keine Abschirmung nach außen und keine Einhaltung von Geheimhaltungsvorschriften. Dementsprechend unterschied man in der TASS zwischen „offenen“ und „geschlossenen“316 Kommunikationskanälen.

310 Der Arbeitsplan der INO-TASS für das Jahr 1930, 20.01.1930, GARF 4459/11/372/14. 311 Vgl. das Protokoll der Sitzung des TASS-Leiters mit der leitenden Troika der INO-TASS, 02.12.1929, GARF 4459/11/352/2. 312 Das Protokoll der Sitzung der leitenden Troika der INO-TASS, 14.06.1930, GARF 4459/11/352/30 f. 313 Die Leiter der Sektoren sollten ihre Koordinationsfunktion nicht nur „persönlich“, sondern auch „mit Hilfe anderer Mitarbeiter des Sektors“ verwirklichen. Vgl. die TASS-Anordnung Nr. 158 vom 02.04.1934, GARF 4459/17/28/44. 314 Doleckij an den Sekretär des ZK, Kaganovič, 20.05.1932, GARF 4459/38/50/24 f. 315 Die Ansprache von Gnedin auf der TASS-Konferenz am 02.04.1938, GARF 4459/11/979/145. 316 Chavinson an den TASS-Korrespondenten in Berlin, Karnit, 26.09.1937, GARF 4459/38/89/86.

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Das Telephon, das kostengünstigste Kommunikationsmedium, das durch „die Möglichkeit des Sprechens“317 Abstimmungen im Echtzeitmodus erlaubte, wurde Mitte der 1930er Jahre sowohl bei der Nachrichtenübermittlung als auch bei Koordinationsprozessen immer mehr eingesetzt. Zu dieser Zeit hatte die INOTASS direkte telephonische Verbindungen zu ihren Beobachtungsposten in Berlin, London, Warschau, Riga, Genf, Paris, Wien, Prag und Tallinn.318 Dennoch erreichten die meisten Direktiven die Auslandskorrespondenten per diplomatischer Post. Nur brieflich, ‚verschlüsselt‘, konnte die INO-TASS ihre Erwartungen, Motive und Deutungen artikulieren, die einen klaren Bezug zu außenpolitischen Präferenzen und Zielsetzungen der Sowjetführung hatten. Selbst die Erwähnung der „Instanz“ – also des Politbüros – war im Briefverkehr möglich.319 Wie vertraulich die TASS-Direktiven behandelt wurden, zeigt eine Anweisung des Leiters der TASS an die Korrespondenten, erhaltene „Instruktionen und Aufgaben“ ausschließlich in der Botschaft aufzubewahren und sie „in keinem Fall in die Notizbücher zu übertragen“.320 Die Anweisungen der INO-TASS waren für die Auslandskorrespondenten nicht die einzige Orientierungsquelle. Auch „ein aufmerksames Lesen“321 der Sowjetpresse ermöglichte es, einheimische Erwartungen und Diskurse zu beobachten und notwendige „Selbstkorrekturen“322 vorzunehmen. Bemerkenswert war in dieser Hinsicht die Aussage des TASS-Korrespondenten in Rom, er fühle sich in der Hauptstadt Italiens aufgrund des schwierigen Zugangs zur aktuellen Moskauer Presse „viel entfernter von der Sowjetunion als in Paris“.323 Gleichwohl war die publizistische Auswertung von Auslandsnachrichten in der Sowjetpresse kein sicheres Indiz für die politische Relevanz einzelner Meldungen und Berichte sowie ganzer thematischer Stränge. Denn mit der zunehmenden Geheimhaltung wurde auch die Diskrepanz zwischen dem öffentlichen Auslandsbild und dem Weltbewusstsein der sowjetischen Entscheidungselite immer größer.

317 Die Ansprache des TASS-Korrespondenten in Warschau, Kovalskij, auf der Konferenz der INOTASS, 28.08.1934, GARF 4459/11/639/58. Vgl. auch den Bericht des Leiters der Auslandsabteilung, Menkes, 26.08.1934, GARF 4459/11/638/15. 318 Der Bericht des Leiters der Auslandsabteilung, Menkes, 26.08.1934, GARF 4459/11/638/24. Vgl. auch den Beschluss des Leiters der TASS, „Über die Arbeit des TASS-Büros in London“, 18.11.1936, GARF 4459/11/767/82, sowie statistische Angaben zu den Hauptmedien der Nachrichtenübermittlung (1935), GARF 5446/18/2819/17. 319 Doleckij an den TASS-Korrespondenten in Berlin, Menkes, 15.10.1927, GARF 4459/38/16/171. 320 Chavinson an die Auslandskorrespondenten der TASS, März 1941, GARF 4459/38/103/6. 321 Der Redakteur der INO-TASS, Jakobson, auf der Konferenz der INO-TASS, 28.08.1934, GARF 4459/11/638/40. 322 So der Korrespondent der TASS in Peking, Slepak, auf der Konferenz der INO-TASS am 28.08.1934, GARF 4459/11/638/43. 323 Der TASS-Korrespondent in Rom, Čarnyj, an Doleckij, 14.02.1935, GARF 4459/38/73/128.

Die Auslandskorrespondenten und die Auslandsabteilung der TASS

Die sorgfältige Lektüre der „Pravda“ und der „Izvestija“ versetzte die Auslandskorrespondenten nicht immer in die Lage, sicher beurteilen zu können, wie anschlussfähig und politisch bedeutsam ihre Berichterstattung in Moskau tatsächlich war.324 Die zuverlässigen Maßgaben konnte nur die INO-TASS geben. So versuchte Doleckij im Februar 1933 die Korrespondentin in Berlin, Julia Annenkova, wie folgt zu beruhigen: Sie haben wohl bemerkt, dass eine Reihe interessanter Mitteilungen, die antifaschistische Proteste betreffen, von uns zurzeit vorübergehend nicht an die Presse weitergegeben werden. Das bedeutet aber nicht, dass Ihre Aufmerksamkeit auf dieses Themenfeld nachlassen sollte.325

Am 4. März 1933 unterstrich er noch einmal die politische Brisanz ihrer Berichterstattung: „Wir sind hier alle wegen der deutschen Ereignisse mobilisiert. Jede Ihrer Mitteilungen gelangt sofort durch alle Kanäle an die Verbraucher“.326 Übereinstimmend mit dem Kommunikationsmodell von Hafez muss also an dieser Stelle festgehalten werden, dass die Auslandsabteilung „prinzipiell größere Steuerungsmöglichkeiten in Bezug auf die Inhalte“327 der Berichterstattung der Auslandskorrespondenten hatte. Der Koordinationsprozess gestaltete sich aber nicht nur nach dem Top-down-Prinzip. Die INO-TASS, die den Auslandskorrespondenten gegenüber als Direktivorgan fungierte, nutzte sowohl vertikale als auch horizontale Abstimmungsmechanismen. Sie legte Themen und Perzeptionsschemata fest, war aber gleichzeitig auf die Themensetzung und kreative Quellennutzung ihrer Korrespondenten angewiesen, die die fremden Diskurse aus unmittelbarer Nähe beobachteten. Der räumlichen Differenz von Zeit- und Diskurshorizonten begegnete die Zentralredaktion mittels eines formalisierten Direktiven-Systems, das darauf abzielte, die Übereinstimmung von Perzeptionen und Fokussierungen zu erreichen. Das journalistische Antizipationspotential wurde zudem durch die einheitliche politische und berufliche Sozialisation gestärkt: Ungeachtet langer Auslandsaufenthalte blieben die meisten Auslandskorrespondenten der TASS im sowjetischen Journalismus mit seinen Weltbildern, Symbolen und Wertorientierungen fest verankert. Die Eingangsfrage, ob die Konstruktion des medialen Auslandsbildes als Kommunikationsprozess, als gemeinsames Unternehmen, zu verstehen ist, kann eindeutig beantwortet werden: Es ging – um den chilenischen Neurowissenschaftler Fran-

324 325 326 327

Der TASS-Korrespondent in Teheran, Jakovlev, an Doleckij, 09.12.1936, GARF 4459/38/79/125. Doleckij an die TASS-Korrespondentin in Berlin, Annenkova, 13.02.1933, GARF 4459/38/61/152. Doleckij an die TASS-Korrespondentin in Berlin, Annenkova, 04.03.1933, GARF 4459/38/61/135. Hafez, Die politische Dimension, S. 105.

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Die Auslandsbüros und die Auslandskorrespondenten der TASS

cisco Varela zu zitieren – um „die wechselseitige Gestaltung und Formung einer gemeinsamen Welt durch gemeinsames Handeln“.328

328 Vgl. Francisco J. Varela, Kognitionswissenschaft – Kognitionstechnik. Eine Skizze aktueller Perspektiven, Frankfurt a.M. 1990, S. 113.

Teil 2: Zwischenresümee

Die meisten Auslandsbüros der TASS befanden sich in Europa, was den Europazentrismus der sowjetischen Auslandsberichterstattung bedingte. In Afrika, Südamerika und im Südpazifik hatte die TASS keine Vertretungen, deswegen waren diese Kontinente bzw. diese Region nur marginal auf der Nachrichtenkarte der TASS vertreten. Man kann zwei Hauptmerkmale in der Verteilung der Auslandsbüros der TASS identifizieren: Zum einen hatte die sowjetische Nachrichtenagentur ihre Standorte in Metropolen, in denen sich Informationsflüsse kreuzten und weltpolitische Kommunikation gestaltete, wie zum Beispiel London, Paris, Berlin, New York, und zum anderen in den Ländern, die an die Sowjetunion grenzten: Von Nordeuropa bis China zog sich entlang der Grenze eine Schleife von Korrespondentenstützpunkten. Die größte Zäsur in der medialen Weltpräsenz der TASS stellte der Große Terror dar, der dazu führte, dass die meisten Auslandsbüros der TASS im Sommer/Herbst 1937 ihre Arbeit einstellten. Anfang 1939 waren es die TASS-Büros in New York, London, Paris, Tokio und Prag, die Moskau noch informierten. Bis zum Kriegsbeginn konnte sich der sowjetische Auslandsjournalismus nicht mehr erholen. Der Große Terror etablierte das absolute Primat des Ideologischen, einer uneingeschränkten Identifikation mit dem stalinistischen Weltbild. Die Jahre 1937–1938 markierten einen sozialisationsspezifischen Paradigmenwandel: Fast alle Auslandsjournalisten mit bürgerlichem Hintergrund und einer politischen Sozialisationserfahrung außerhalb der stalinistischen Mobilisierungsdiktatur wurden beseitigt. An ihre Stelle traten junge Journalisten, die in einer Diktatur aufgewachsen waren und in ihrem Denk- und Perzeptionshaushalt über keine Alternativen zum stalinistischen Weltbild verfügten. Das journalistische Selbstverständnis der TASS-Korrespondenten war ambivalent. Es oszillierte zwischen dem Rollenbild eines neutralen Berichterstatters und dem eines kritischen Beobachters des kapitalistischen Auslandes. Darin spiegelte sich ein basaler Konflikt zwischen politischer und beruflicher Sozialisation wider, zwischen dem Wertehimmel des sowjetischen Zivilisationsprojektes und berufsethischen Postulaten des Nachrichtenjournalismus. Die wichtigste Quelle der Berichterstattung der TASS-Korrespondenten war die tagesaktuelle Presse ihres Aufenthaltslandes. Die Herstellung von Kontakten zur Außenwelt war von Budgets abhängig, die die TASS für jedes einzelne Auslandsbüro festlegte. Besonders privilegiert in dieser Hinsicht waren die Auslandsbüros in London, Berlin, Paris, New York und Schanghai, deren Mitarbeiter relativ viel reisen und Informanten bezahlen konnten.

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Teil 2: Zwischenresümee

Die Auslandskorrespondenten der TASS verstanden sich als Weltbeobachter mit einer Signalfunktion. Exklusiver und unmittelbarer Zugang zu fremden Diskursen versetzte sie in die Lage, als Gatekeeper und Weltübersetzer aufzutreten. Die Machtund Einflussräume der INO-TASS basierten vor allem auf ihrem Korrektur- und Vetorecht. Für die TASS-Zentrale galten die TASS-Korrespondenten als systemfremde Beobachter, deren Berichte und Deutungen erst mit Hilfe von Koordinations- und Steuerungsmaßnahmen der Zentrale an die redaktionelle Linie gekoppelt werden mussten. Die INO-TASS legte Themenkataloge und Perspektiven fest, die die journalistische Beobachtung lenkten. Der Steuerungsprozess hatte mehrere Dimensionen: Auf sprachlicher Ebene ging es um die Übereinstimmung von grundlegenden Bezeichnungen; auf der beruflichen Sozialisationsebene stand die Aneignung redaktioneller Normen und Werte im Mittelpunkt; die dritte Ebene des Koordinationsprozesses tangierte die operative Steuerung der Arbeit der Auslandsjournalisten. Es ging um ein formalisiertes System von Direktiven und Rückmeldungen, deren Problempalette recht breit war: Die INO-TASS legte den Umfang und die Dichte der Berichterstattung fest, schlug Themen vor, hinterfragte einzelne Deutungsmuster, diskutierte über journalistische Rollenmodelle und startete Anfragen. Die Interaktionsformen zwischen den Botschaftern und den Auslandskorrespondenten waren vielfältig und vom Prinzip der Gegenseitigkeit geprägt. Man tauschte Informationen und Meinungen, diskutierte über aktuelle Entwicklungen, vermittelte Kontakte zu Informanten und stand bei der Bewältigung von Tagesaufgaben zur Seite. Die Diplomaten profitierten vor allem vom journalistischen Informationsaufkommen, das ihren Wissenshorizont erweiterte und sie bei Recherchen entlastete. Die Einflussnahme der Botschafter auf die Berichterstattung der TASSKorrespondenten nahm verschiedene Formen an: Sie reichte von einer sorgfältigen Prüfung einzelner Meldungen bis zu einem Beratungsangebot, das sich als kollegialer Meinungsaustausch gestaltete. Die meisten Botschafter zogen eine Beraterfunktion vor, die sich auf Ratschläge und die Beantwortung von Anfragen beschränkte.

3. Die TASS, die außenpolitische Elite und ausgewählte Problemkomplexe der Auslandsberichterstattung in der Sowjetunion

3.1 Stalin und die TASS: das mediale Weltbild, das Rezeptionsverhalten und die Anschlusskommunikation Im Fokus des vorliegenden Kapitels steht das Verhältnis zwischen Stalin und der TASS. Es soll folgenden Fragestellungen nachgegangen werden: In welchem Maße prägte die sowjetische Nachrichtenagentur das mediale Auslandsbild des sowjetischen Führers und wie rezipierte er ihre Nachrichten? Wie eng war die Anbindung der TASS an die Partei-Agenda und inwiefern bzw. durch welche Kanäle beeinflusste Stalin journalistische Entscheidungsprogramme? Welche Rolle spielte der Kremlchef im Diskurs über Publikation, Dementierung und Zensur von Auslandsmeldungen? Um diese Fragen im Kontext der damaligen Machtpraktiken und Diskursordnungen zu beantworten, ist es zunächst nötig, die Entwicklung der Sowjetdiktatur, Stalins Stellung im außenpolitischen Entscheidungsprozess sowie seinen weltpolitischen Informationshorizont kurz zu skizzieren. Seit April 1922, nach der Wahl zum Generalsekretär der Partei, war Stalin in der Lage, die Kommunikations- und Wissenspolitik der Kremlführung entscheidend zu gestalten und nach eigenen Kalkülen zu manipulieren. Er verfügte über einen quantitativen und temporalen Informationsvorsprung gegenüber den anderen Politbüromitgliedern und kontrollierte die Kaderpolitik des ZK der Partei. Auf diese Weise schuf er sich treue Gefolgschaften in verschiedenen Staats- und Parteiinstitutionen.1 Die These der älteren Forschung, Stalin habe dem außenpolitischen Entscheidungsprozess wenig Aufmerksamkeit geschenkt2 , wurde in den 1990er Jahren nach der Archivrevolution in Russland grundlegend revidiert. Neuerer Forschung nach soll „der Generalsekretär bereits in den frühen zwanziger Jahren regen Anteil an der außenpolitischen Beschlussfassung genommen“ haben.3 Ein anschauliches Bild von Stalins Rolle in den Entscheidungsdebatten des Politbüros vermittelt Alexandra

1 Vgl. E.A. Rees, Stalin as Leader 1924–1937: From Oligarch to Dictator, in: ders. (Hrsg.), The nature of Stalin’s dictatorship, S. 31. 2 Jonathan Haslam, Soviet Foreign Policy, 1930–1933. The Impact of the Depression, London 1983, S. 18 f. 3 Knoll, Das Volkskommissariat, S. 152.

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Die TASS, die außenpolitische Elite und ausgewählte Problemkomplexe der Auslandsberichterstattung

Kollontaj, die im Herbst 1927 einer Sitzung beiwohnte. Die Sowjetbotschafterin in Mexiko hielt ihre Eindrücke wie folgt fest: Er (Stalin) ist ruhig und zurückhaltend, spricht weniger als alle. Mehr hört er aufmerksam zu. Er hört zu, lässt aussprechen und debattieren, aber das letzte, klare und gewichtige Wort bleibt ihm vorbehalten.4

Anfang der 1930er Jahre war die Autorität Stalins bereits so groß, dass im Kreml ohne seine Stellungnahme und Zustimmung nichts mehr entschieden wurde. Selbst im Urlaub, in Sotschi, zog der Sowjetführer die Fäden der Politik5 : Er gab Direktiven aus, präsentierte verbindliche Deutungsmuster und intervenierte in die Arbeit der Regierungsapparate. Da Stalins Macht keiner Kontrolle unterlag, war er in der Lage, den außenpolitischen Kurs abrupt und eigenwillig zu ändern, ohne dabei bei seinen Kollegen auf Widerstand zu stoßen.6 „Das System der personalen Diktatur“7 , das sich zwischen 1929 und 1934 herausbildete, führte zum Niedergang des Politbüros als kollektives Entscheidungsgremium. Die Zäsur markierte das Jahr 1933, von dem an die höchste politische Instanz nur noch halb so oft wie im Vorjahr zusammentrat.8 Die Sowjetunion wurde von einer „informellen politischen Elite“9 regiert, deren Mitglieder sich um Stalin scharten und die ihre Machtstellung einzig und allein ihm verdankte. In der Zeit des Großen Terrors verwandelte sich die Stalin-Diktatur in eine Tyrannei. Das Politbüro kam im Zeitraum 1937–1940 lediglich 15-mal zusammen und führte eine randständige Existenz. Auch der Zusammenhalt der Mannschaft wurde erschüttert: Die Massenverhaftungen von Untergebenen, aber auch die Verfolgung von Verwandten des harten Kerns der Kremlführer erzeugten Angst und Unsicherheit. Georgij Ordžonikidze, Stalins treuer Begleiter seit 1926, beging im Februar

4 Der Eintrag im diplomatischen Tagebuch von Kollontaj, Herbst 1927, RGASPI 558/11/749/77. 5 Als Hauptquelle: Chevnjuk (Hrsg), Stalin i Kaganovič. Perepiska. 1931–1936; vgl. auch Knoll, Das Volkskommissariat, S. 152. 6 Stalin annullierte am 25.08.1931 per Telegramm „alle vorangehenden Beschlüsse“ des Politbüros, die seiner neuen Direktive widersprachen. Vgl. den Beschluss des Politbüros „über die Bestellungen in Amerika“, RGASPI 17/162/10/170 und 173. 7 Rees, Stalin as Leader, 1924–1937, S. 39 und S. 54. 8 Ebd., S. 26. Rees spricht vom Ende der „oligarchischen Herrschaft“ und der „kollektiven Führung“, S. 40. 9 Wheatcroft, From Team-Stalin to Degenerate Tyranny, S. 91. Vgl. auch Oleg Chlewnjuk, Stalin. Eine Biographie, München 2015, S. 21. Sheila Fitzpatrick bezeichnet diese Elite als „Mannschaft“ und betont ihren starken Zusammenhalt in bedrohlichen Situationen. Fitzpatrick, Stalins Mannschaft, S. 7 ff. In der neuesten und wohl faktenreichsten Biographie Stalins bevorzugt Stephen Kotkin den Begriff „der innere Zirkel“. Stephen Kotkin, Stalin: Waiting for Hitler, 1929–1941, London 2017.

Stalin und die TASS

1937 – als Akt des Widerstandes – Selbstmord. Die Entscheidungsprozesse im Zeitraum 1937–1941 sind noch nicht genügend erforscht, aber vieles spricht dafür, dass die Mannschaft als Ganzes von wichtigen Entscheidungen komplett ausgeschlossen war, wie zum Beispiel im Falle des Nichtangriffspaktes mit Nazi-Deutschland, als nur Stalin und Molotov die Außenpolitik beherrschten. Doch weder das Urteil, Stalin sei ein „Psychopath“10 gewesen, noch der allgegenwärtige Führerkult dürfen darüber hinwegtäuschen, dass Stalin auf seine Gefolgsleute angewiesen war.11 Täglich führte er stundenlange Besprechungen mit seinen Parteifreunden und Informanten. Die Auswertung der Besucherjournale im Kreml durch Stephen Wheatcroft zeigt, dass Stalin zwischen 1930 und 1952 in seinem Büro 2800 Personen empfing und mit ihnen fast 11.000 Stunden beratend verbrachte. Keiner war so oft dabei wie Viačeslav Molotov, der sich an mehr als drei Viertel aller Konsultationen beteiligte.12 Als Stalins engster Vertrauter spielte er auch im außenpolitischen Entscheidungsprozess eine wichtige Rolle. Molotov galt als Kenner der Weltpolitik, hatte einen exklusiven Zugang zu relevanten Informationen und scheute sich nicht davor, eigene Konzepte und Vorstellungen zu artikulieren.13 Selbst der kritische Čičerin bescheinigte ihm, „die internationale Politik lange und ernsthaft zu beobachten“14 – und dies bereits 1928. Aber nicht nur Molotov, sondern auch andere einflussreiche Politbüromitglieder, wie etwa Kaganovič, Vorošilov oder Ordžonikidze, waren in ihren Kompetenzbereichen imstande, Stalin darin zu beeinflussen, was er als Problem definierte und wie er Entscheidungen traf.15 Der Sowjetführer stand zwar im Mittelpunkt aller Entscheidungsprozesse, konnte jedoch nur eine begrenzte Menge an Informationen verarbeiten. Paul Gregory verweist in seiner grundlegenden Untersuchung der stalinistischen Kommandowirtschaft pointiert darauf, dass Stalin auf unvollständige, „verzerrte“ Informationen seiner „Agenten“ angewiesen war. Er habe oft „im dicken Schleier des Unwissens“ begrenzt rational gehandelt.16 Seine Macht war diktatorisch, aber nicht absolut.17 Stalin war nicht nur ein Diktator, der auf Beratungen angewiesen war, sondern auch ein delegierender Diktator, der Kompetenzen und Zuständigkeiten verteilte. 10 Jörg Baberowski, Verbrannte Erde. Stalins Herrschaft der Gewalt, München 2012, S. 10. 11 Wheatcroft, From Team-Stalin to Degenerate Tyranny, S. 90; grundlegend zur Regierungsgruppe um Stalin: Fitzpatrick, Stalins Mannschaft. 12 Wheatcroft, From Team-Stalin to Degenerate Tyranny, S. 93. 13 Vgl. Watson, Molotov, S. 125, 148–151. 14 Čičerin an den Sekretär des ZK, Kosior, 22.01.1928, RGASPI 159/2/7/60. Vgl. auch Čičerin an das Politbüro, 13.02.1928, RGASPI 159/2/1/49. 15 Vgl. Ennker, „Struggling for Stalin’s Soul“, S. 193. 16 Paul R. Gregory, The Political Economy of Stalinism. Evidence from the Soviet Secret Archives, Cambridge 2004, S. 266. 17 Vgl. Rees, Stalin as Leader, 1924–1937, S. 46.

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Oleg Chlevnjuk beschreibt ihn in einem solchen Sinne als „aktive Superinstanz“18 : Der Kremlführer übertrug große, systemrelevante Entscheidungsbereiche an seine Vertrauensmänner. Selbstverständlich aber beobachtete er ihre Tätigkeit kritisch aus dem Hintergrund. Von Zeit zu Zeit intervenierte er, um Korrekturen vorzunehmen und Aufgaben neu zu verteilen. In der Forschung sieht man Stalin hier auch als einen neutralen Schiedsrichter, der bei institutionellen Konflikten vermittelnd und koordinierend eingriff.19 Man kann insgesamt sechs zentrale Politikbereiche identifizieren, die Stalin in den 1930er Jahren persönlich kontrollierte und lenkte: innere Sicherheit, Verteidigung, Außenpolitik, Wirtschaftspolitik, parteiinterne Organisationsfragen und Kaderpolitik.20 Der Sowjetführer überwachte die gesamte Kommunikation mit dem Ausland: Als Chefredakteur und Zensor korrigierte und sanktionierte er diplomatische Noten, Kommuniqués, TASS-Dementis, schriftliche und mündliche Antworten an ausländische Diplomaten sowie Direktiven an die sowjetischen Diplomaten.21 Ebenso steuerte er die sowjetische Auslandspropaganda einschließlich der journalistischen PR-Arbeit.22 Die Gestaltungsräume der Sowjetdiplomaten im letztgenannten Feld wurden im April 1939 endgültig beseitigt, als Stalin die Publikation von „Le Journal de Moscou“ – einer wöchentlichen Zeitschrift, die unter Aufsicht des NKID stand und sowjetische Informationen in frankophonen Ländern verbreitete – einstellen ließ.23 Die Urlaubskorrespondenz Stalins verschafft aufschlussreiche Einblicke in Machtdiskurse und Meinungsbildungsprozesse im Kreml. Nach Robert W. Davies, Melanie Ilič und Oleg Chlevnjuk sind in ihr drei große Entscheidungsbereiche zu unterscheiden: Innenpolitik, Wirtschaft und Außenpolitik (vgl. Tab. 22).

18 Vgl. Oleg Khlevniuk, Master of the House: Stalin and His Inner Circle, New Haven/London 2009, S. 261. 19 Vgl. R.W. Davies, Melanie Ilič, Oleg Khlevnyuk, The Politburo and Economic Policy-Making, in: Rees (Hrsg.), The Nature, S. 113 und S. 120. Vgl. auch Ennker, „Struggling for Stalin‘s Soul”, S. 181 f. 20 Rees, Stalin as Leader, 1924–1937, S. 55. 21 Vgl. Slutsch/Tischler (Hrsg.), Deutschland und die Sowjetunion 1933–1941, S. 20, sowie Rees, Stalin as Leader, 1924–1937, S. 53. 22 Vgl. Litvinov an Stalin, Kopien an Molotov, Kaganovič, Vorošilov, 02.11.1936, AVP RF 05/16/114/1/257. 23 Vgl. den Beschluss des Politbüros vom 04.04.1939, „Über die Zeitungen“, RGASPI 17/162/25/6.

Stalin und die TASS

Tabelle 22 Grundbereiche der politischen Agenda der Kremlführung (nach der Urlaubskorrespondenz Stalins, 1931–1936), in % Politische Felder

Anteil in der Korrespondenz

Wirtschaft (Landwirtschaft, Industrie, Transport usw.)

32,7

Innenpolitik (Politik, Medien, Sicherheit, Verteidigung usw.)

39,9

Außenpolitik und Außenhandel

27,4

Quelle: Davies, Ilič, Khlevnyuk, The Politburo, S. 124.

Richtet man den Fokus auf einzelne Themen innerhalb dieser politischen Felder, dann wird deutlich, dass die Außenpolitik und die Kommunikation mit der Außenwelt den größten Raum im Zeitbudget der sowjetischen Entscheidungselite einnahmen (vgl. Tab. 23). Tabelle 23 Themenhierarchie in der Urlaubskorrespondenz Stalins, 1931–1936 (in %) Außenpolitik

18,8

Landwirtschaft

16,1

Innenpolitik (unter anderem Kader- und Organisationsfragen)

15,7

Außenhandel

8,6

Massenmedien

7,5

Quelle: Davies, Ilič, Khlevnyuk, The Politburo, S. 124 f.

Nicht nur im Entscheidungs-, sondern auch im Informationsverarbeitungsprozess widmete Stalin dem Auslandsgeschehen viel Aufmerksamkeit. Die kapitalistische Welt jenseits der sowjetischen Grenzen war für ihn eine Quelle von Furcht und Hoffnung, von Faszination und Verachtung, aber auch eine Fläche für Projektionen und Vergleiche. Wie viele andere bolschewistische Führer nahm er das Ausland durch das Prisma der Bedrohung und der Kriegsgefahr wahr.24 Diese Haltung war zum einen ideologisch codiert, zum anderen ging sie auf die traumatische Erfahrung des Bürgerkrieges und der ausländischen Intervention der Jahre 1918–1920 zurück. Stalins Sicht- und Denkweisen waren von einem dualistischen, konfliktgeladenen Weltbild geprägt. Sheila Fitzpatrick spricht vom „Schrecken des Auslandes“25 – eine Metapher, die die basale Codierung des bolschewistischen Regimes widerspiegelt.

24 Alfred Rieber, Stalin as Foreign Policy-Maker: Avoiding War, 1927–1953, in: Sarah Davies/James Harris (Hrsg.), Stalin. A New History, Cambridge 2005, S. 141. 25 Vgl. Sheila Fitzpatrick, Stalin und sein Team. Jenseits der Gewalt, in: Osteuropa 4 (2012), S. 63.

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Abbildung 7 Stalins Nachrichtenquellen Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an RGASPI 558/11/67-96.

Stalin legte viel Wert darauf, sich über aktuelle Entwicklungen im Ausland gründlich zu informieren. Er war ein besessener, „unersättlicher Leser“26 , was ihm auch möglich machte, eine relativ große Menge an Informationen selbstständig zu verarbeiten. Diese bezog er aus verschiedenen Quellen: aus den Auslandsbulletins der TASS, aus den Berichten der diplomatischen Führung, der Sowjetbotschafter und des Geheimdienstes sowie aus diversen Dokumenten anderer Institutionen und Informanten (vgl. Abb. 7).27 Die Nachrichtenagentur TASS war ein tagesaktuelles Medium der Auslandsberichterstattung und prägte das Nachrichtenbild Stalins sowohl in seiner thematischen als auch in seiner geographischen Dimension entscheidend. Wegen der Schwerpunktsetzung der TASS fehlten deshalb auf der kognitiven Landkarte des Sowjetführers Südamerika, Afrika und große Teile Asiens, außer China und Japan, fast vollkommen.28 Die TASS verschickte an Stalin nicht nur ihre täglich gedruckten Auslandsbulletins, sondern auch „politische“ bzw. „geheime Briefe“ ihrer Auslandskorrespondenten. Da diese Kommentare enthielten und sich an Darstellungsformen des Interpretationsjournalismus orientierten, erreichten sie Moskau ausschließlich per

26 Service, Stalin. A Biography, London 2004, S. 379. Simon Montefiore bezeichnet den jungen Stalin als „autodidaktischen Büchernarren“: Vgl. Simon Sebag Montefiore, Der junge Stalin, Frankfurt a.M. 2007, S. 119. Vgl. auch Jürgen Zarusky, Herrschaftsstellung und Herrschaftsstil der Diktatoren, in: ders. (Hrsg.), Stalin und die Deutschen. Neue Beiträge der Forschung, München 2006, S. 242. 27 Stalins Nachrichtenquellen wurden anhand von Dokumentenverzeichnissen zu seiner Urlaubskorrespondenz rekonstruiert. Diese Verzeichnisse umfassen den Zeitraum 1923–1936 und vermitteln einen guten Einblick in die Informationslage des Sowjetführers: RGASPI 558/11/67-96. 28 Vgl. auch Service, Stalin, S. 384. Mehr dazu in Kapitel 3.5.

Stalin und die TASS

diplomatischer Post.29 Zum Empfängerkreis gehörten die Führung des NKID und die Mitglieder des Politbüros.30 Unklar ist, wie oft und in welchem Umfang Stalin sich mit Interpretationen journalistischer Weltbeobachter auseinandersetzte. Aus seiner Urlaubskorrespondenz geht aber zum Beispiel hervor, dass er allein im Juli 1932 zwei Berichte des Auslandskorrespondenten in Tokio gelesen hatte.31 Die TASS übersandte Stalin ferner diverse Artikel und Photos aus ausländischen Zeitschriften32 sowie alle Berichte aus der Auslandspresse, die sein Privatleben und seine Gesundheit behandelten.33 Einen großen Einfluss auf das Nachrichtenbild des Sowjetführers übte zudem das Volkskommissariat für Auswärtige Angelegenheiten aus, das ihn täglich und detailliert informierte. Besonders aufmerksam verfolgte Stalin die Berichterstattung aus Berlin, London, Paris, Tokio und Washington.34 Die Rolle des Geheimdienstes als Nachrichtenlieferant bleibt dagegen unklar. Sicher ist, dass die Aufgabe der Sowjetspionage darin bestand, hinter die Kulissen der Politik zu blicken, und nicht darin, offizielle Informationen zu beschaffen. Die Herstellung von Aktualität als spezifische Praxis der journalistischen Informationssammlung und -bearbeitung spielte in der Berichterstattung des INO-NKVD eine zweitrangige Rolle.35 Welchen Weltgegenden Stalin besondere Beachtung schenkte und auf welche Weltgegenden sich seine Handlungsdirektiven folglich besonders bezogen, kann 29 Doleckij an den TASS-Korrespondenten in Berlin, Menkes, 09.11.1925, GARF 4459/38/6/88. Vgl. den Brief des TASS-Korrespondenten in Tokio, der am 14.12.1933 an Stalin, Molotov, Kaganovič und Kujbyšev weitergeleitet wurde. GARF 4459/38/58/11. 30 1937 gehörten zum Empfängerkreis neben Stalin Molotov, Kaganovič, Ždanov, Ežov und Andreev. Vgl. die Adressatenliste im Anschreiben von Doleckij vom 21.04.1937, GARF 4459/38/87/147. 31 RGASPI 558/11/79/107 und 118. 32 Am 08.02.1934 übersandte man an Poskrebyšev „44 illustrierte Zeitschriften“, am 09.04.1934 25 Zeitschriften und am 08.05.1934 20 „illustrierte Zeitschriften“. Der Sekretär von Doleckij, Žarinov, an Poskrebyšev, GARF 4459/38/57/12, 21, 34. 33 Vgl. der Sekretär des verantwortlichen Leiters, Grigorjev, an Poskrebyšev, 03.12.1930 und 05.12.1930, RGASPI 558/11/726/165a, 173.; ders. an Poskrebyšev, 08.03.1936, RGASPI 558/11/1542/5; Chavinson an Poskrebyšev, 05.05.1939 und 01.02.1941, RGASPI 558/11/1542/21 und 28. Man informierte auch Molotov: Vgl. die TASS-Meldung aus New York, 12.02.1945, RGASPI 558/11/1542/103. 34 Das geht aus den Dokumentenverzeichnissen zur Urlaubskorrespondenz Stalins hervor. Vgl. einschlägige Akten im RGASPI 558/11. 35 Eine umfassende institutionsgeschichtliche Untersuchung über die Sowjetspionage und ihren Einfluss auf den Entscheidungsprozess im Kreml steht noch aus. Instruktiv zum Organisationsgefüge mit dem Fokus auf die USA: Vladimir Poznjakov, Sovetskaja razvedka v Amerike, 1919–1941, Moskau 2005. Sarah Davies und James Harris behaupten, dass Stalins „verzerrte Wahrnehmung der Außenwelt“ maßgeblich von ideologisch gefärbten Informationen der Sowjetspionage geprägt war. Vgl. dies., Stalin’s World: Dictating the Soviet Order, New Haven/London 2014, S. 94 f., 130 und 161. Diese These lässt sich allerdings empirisch nicht verifizieren. Auch die Frage, wie Stalin die Informationen des Geheimdienstes interpretierte und in welchem Maße sie seine Lageeinschätzung in bestimmten Situationen beeinflussten, bleibt unbeantwortet.

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Die TASS, die außenpolitische Elite und ausgewählte Problemkomplexe der Auslandsberichterstattung

durch den partiellen Vergleich des geographischen Fokus diverser Informationsquellen rekonstruiert werden. Tabelle 24 Die geographischen Schwerpunkte der politischen Agenda, der Spionagequellen, der TASS-Nachrichten und des Büros für Internationale Informationen von Karl Radek, 1925–1936 Urlaubskorrespondenz Stalins, 1931–1936

Spionagequellen, 1925–1936

Auslandsberichterstattung der TASS, 1934

BMI, 1932–1934

1. Japan

1. Deutschland

1. England

1. Polen

2. Deutschland

2. USA

2. Deutschland

2. Japan

3. USA

3. Japan

3. Frankreich

3. Deutschland

4. China

4. China (Mandschurei)

4. Japan

4. USA

Quellen: GARF 4459, RGASPI 558/11/67-96, RGASPI 558/11/79-83 und die Auswertung der Urlaubskorrespondenz Stalins nach Davies, Ilič und Khlevnyuk, S. 130.

Aus der Tabelle 24 wird ersichtlich, dass die Agenda des außenpolitischen Entscheidungsprozesses die geographischen Schwerpunktsetzungen medialer, diplomatischer und geheimdienstlicher Berichterstattung in großem Maße reflektierte. Daraus lassen sich folgende Erkenntnisse gewinnen: 1. Stalins Aufmerksamkeit war in der ersten Hälfte der 1930er Jahre vor allem auf Deutschland, Japan und die USA ausgerichtet. 2. Im Fokus der Weltbeobachtung standen Länder, die zu Konfliktzonen bzw. Unruheherden der Weltpolitik zählten (zum Beispiel Japan, Deutschland, Polen). Darin bestand eine strukturelle Verbindung zu Negativerwartungen in der Themenstruktur der Auslandsberichterstattung dieser Zeit (vgl. Kap. 1.6). 3. Dass viele Informationsquellen der TASS aus London und Paris kamen, widerspricht diesem Befund keinesfalls: Weltkonflikte und weltpolitische Verflechtungen konnten aus den Informationsmetropolen am besten im Blick behalten und beleuchtet werden. Das Verhältnis Stalins zur sowjetischen Nachrichtenagentur gestaltete sich ambivalent. Obwohl er täglich ihre Nachrichten rezipierte, nahm er keinen Einfluss auf die Grundlinien und Themenschwerpunkte der redaktionellen Arbeit; und obwohl Doleckij nie zu seinem Vertrauenskreis gehörte, stellte er die Hausmacht des TASS-Leiters bis August 1936 nicht in Frage. Am unmittelbarsten konnte Stalin die TASS als Medienorganisation durch kaderpolitische Entscheidungen beeinflussen – durch die Ernennung der Redaktionsleitung und der Auslandskorrespondenten, wobei die Parteibürokratie die Vorschläge und Wünsche des TASS-Leiters durchaus einkalkulierte (vgl. Kap. 1.3). Die Anzahl der Politbürobeschlüsse, die die Themensetzung der TASS steuerten, ist überschaubar. Am 3. Dezember 1925 wies die Kremlführung „die TASS und die

Stalin und die TASS

Presse“ an, die Kriegsgefahr im Fernen Osten weniger zu thematisieren, mit der Absicht, „den kapitalistischen Staaten keine zusätzlichen Trümpfe in die Hand“ zu geben.36 Nachdem Großbritannien im Mai 1927 die diplomatischen Beziehungen zur Sowjetunion abgebrochen hatte, zeigte sich das Politbüro alarmiert und beauftragte seine journalistischen und diplomatischen Auslandsbeobachter, „alle Fakten der Kriegsvorbereitung gegen die UdSSR zu registrieren“.37 Stalin wirkte auf die Auslandsberichterstattung der TASS überwiegend indirekt ein, durch seinen Einfluss auf die redaktionelle Linie der Zeitungen „Pravda“ und „Izvestija“38 , deren Auslandsdiskurse – ihre thematischen Präferenzen und interpretativen Konjunkturen – die INO-TASS wiederum aufmerksam beobachtete. Es war kein Geheimnis, dass Leitartikel, Kommentare und selektierte Nachrichten in der Zentralpresse die Stimmungslage im Kreml reflektierten. Dies galt auch für bewusste Unterlassungen, für ein von oben angeordnetes Nichtthematisieren. Eine andere Möglichkeit für die TASS, Stalins Erwartungen und Intentionen in Erfahrung zu bringen, ergab sich aus dem Kontakt zur diplomatischen Führung, die als Zensurinstanz die politische Ausrichtung der Auslandsberichterstattung in der Sowjetpresse überwachte. Doleckij hatte ein gutes Verhältnis zu Čičerin, der ihm immer wieder Einblicke in die Politik der Kremlführung verschaffte. Anders verhielt sich aber Litvinov, der seine, zum Teil persönlich begründete, Feindseligkeit dem TASS-Leiter gegenüber kaum verhehlte (vgl. Kap. 3.2). Nach Doleckijs Auffassung aber sollte der Kontakt zu Stalin und der Parteiführung viel unmittelbarer sein. Er betrachtete die redaktionelle Anbindung an die Agenda des Kremls als eine unabdingbare Voraussetzung dafür, dass die politische Relevanz von Nachrichten und ihre Anschlussfähigkeit an den außenpolitischen Entscheidungsdiskurs sichergestellt werden konnten. Der TASS-Leiter wollte genau wissen, welche Themen und Ereignisse die Kremlführung beschäftigten und von welchen strategischen Überlegungen und situationsbedingten Kalkülen diese ausging. Verstärkt wurde der Koordinationswunsch durch institutionelle Konflikte mit der NKID-Führung, die sich immer wieder in die Arbeit der INO-TASS einmischte. Es ging dabei sowohl um einzelne Korrekturen als auch um strukturellen Einfluss auf die Themensetzung der Auslandsredaktion.39

36 Vgl. den Beschluss des Politbüros vom 03.12.1925, „Die Direktive an die Presse und die TASS“, RGASPI 17/3/533/7. Die Initiative ging dieses Mal nicht vom NKID, sondern von Bucharin aus. 37 Vgl. den Beschluss „Der Vorschlag der Genossen Bucharin und Rykov über die Pressedirektiven“, 04.07.1927, RGASPI 17/162/5/63 f. 38 Vgl. Davies/Ilič/Khlevnyuk, The Politburo, S. 121; Jan Plamper, The Stalin Cult: a Study in the Alchemy of Power, New Haven/London, 2012, S. 33. Ausführlicher dazu in Kapitel 3.3. 39 Die Formen und das Ausmaß des diplomatischen Einflusses auf die Auslandsberichterstattung der TASS werden eingehend in den Kapiteln 1.1, 1.3, 2.3 und 3.2 behandelt.

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Die TASS, die außenpolitische Elite und ausgewählte Problemkomplexe der Auslandsberichterstattung

Doleckij unternahm mehrere Versuche, Kontakte mit der Kremlführung zu knüpfen. Bereits im Oktober 1923, als der institutionelle Konsolidierungsprozess noch im Gange war, wandte er sich an das Sekretariat der Partei mit der Bitte, ihm Zugang zu „Beschlüssen und Entscheidungen des ZK“40 zu verschaffen. Der Leiter der ROSTA schrieb unter anderem: In meinen Gesprächen mit Genossen Stalin, Molotov und schließlich vor kurzem mit Rudzutak machte ich darauf aufmerksam, dass ich ohne irgendwelche Direktiven politischen Charakters die politische Führung innehaben und die Arbeit der Nachrichtenagentur verantworten muss. Diese Lage führt natürlich zu eklatanten politischen Fehlern in unseren Informationen und schadet der Partei in der Republik sehr.41

Im Februar 1925 richtete Doleckij ein persönliches Schreiben an Stalin, in dem er sich darüber beschwerte, über „die Haltung des ZK zu Fragen unserer Innenund Außenpolitik aktuell nie informiert zu sein“. Diese „Losgelöstheit“ von der Parteiführung, von ihren „Direktiven und Anweisungen“ habe seine Arbeit stark erschwert.42 Der Orientierungs- und Koordinationsbedarf wurde Ende der 1920er Jahre noch akuter: Mobilisierungsdiskurse in der Sowjetpresse, die mit der Ankündigung eines forcierten Industrialisierungsprogramms verbreitet wurden, führten zur Neucodierung des medialen Auslandsbildes sowie zur Aufwertung interpretativer Darstellungsprogramme (vgl. Kap. 1.5). Doleckij bat Stalin im April 1929, über die außenpolitische Positionierung der Sowjetunion regelmäßig und aktuell unterrichtet zu werden.43 Auch die Mitarbeiter der INO-TASS forderten regelmäßige Informationen ein. Sie kritisierten den Mangel an politischer Führung und drängten Doleckij, ihnen „mindestens einmal im Monat konkrete Anweisungen und allgemeine Direktiven“ zu erteilen.44 Im Juli 1932 appellierte der TASS-Leiter erneut an die Parteiführung, ihm Zugang zu den Politbürositzungen und allen Protokollen der höchsten Parteigremien zu gewähren. Er knüpfte an bekannte Argumentationsmuster an und schrieb: Der Leiter der TASS hat in internationalen Fragen keine Vorstellung davon, was das ZK entscheidet und beabsichtigt, und ist gezwungen, die politische Linie in der Auslandsbe-

40 Doleckij an das Sekretariat des ZK, Kopien an Bucharin und Bubnov, 08.10.1923, RGASPI 17/84/612/115. 41 Ebd. 42 Doleckij an Stalin, 27.02.1925, RGASPI 17/184/827/o.S. 43 Doleckij an Stalin, 29.04.1929, GARF 4459/38/22/145. 44 Vgl. die Ansprache des Redakteurs Izakson auf der Konferenz der INO-TASS, 18.06.1931, GARF 4459/11/443/53, und die Ansprache des Leiters der INO-TASS, B. Kocyn, auf der Konferenz der INO-TASS, 18.06.1931, GARF 4459/11/443/65 f.

Stalin und die TASS

richterstattung nach eigenem Ermessen festzulegen. […] Wenn man berücksichtigt, dass die TASS unmittelbare Anweisungen und Direktiven äußerst selten bekommt, dann wird es ganz deutlich, unter welchen schwierigen und mitunter gefährlichen Bedingungen die TASS-Führung an der Erledigung ihrer Hauptaufgabe arbeitet, die Parteiinteressen zu sichern und die Politik des ZK zu implementieren.45

Der nächste Anlass, Stalin zu kontaktieren, ergab sich am 16. Mai 1933, als Mechlis, der Chefredakteur der „Pravda“, Doleckij nachts anrief und von einem gerade geführten Gespräch mit Stalin berichtete. Der sowjetische Führer habe sich unzufrieden gezeigt, wie die TASS über die neuesten Ereignisse in Deutschland informiere. Gleich darauf verfasste Doleckij einen Brief an Stalin, in dem er auf die programmatische Distanz zur Parteiführung aufmerksam machte. Er schrieb unter anderem: Im letzten Halbjahr erhielt ich unmittelbar so gut wie keine Direktiven des ZK, sondern nur selten einige Anweisungen durch den Genossen Litvinov oder die Mitarbeiter der Redaktion der „Pravda“. Was Informationen über die Lage in Deutschland überhaupt angeht, bitte ich Sie zu beachten, dass seit Machtantritt Hitlers die gesamte Berichterstattung über Deutschland ausschließlich so gestaltet und redigiert wurde, wie die TASS selbst die Ereignisentwicklung und die Parteiinteressen bei der Darstellung dieser Ereignisse verstanden hat.46

Der Leiter der TASS erinnerte Stalin daran, dass die Entscheidungen des Politbüros „ein absolutes Geheimnis für diejenigen blieben und bleiben, die für die politische Linie in der Redaktionsarbeit der TASS verantwortlich sind“. „In dieser Konstellation“ sah er sogar „ernste Gefahren“ für die sowjetische Außenpolitik. Sein Appell war eindeutig: Der Sowjetführer sollte „die politische Steuerung der TASS-Informationen“47 übernehmen. Trotz dieser vielfachen Aufforderungen hielt sich Stalin damit zurück, die Auslandsberichterstattung der TASS zu lenken und in ihre Nachrichtenpolitik korrigierend einzugreifen. Seine distanzierte Haltung spiegelte zum einen den Wesenszug des sowjetischen Pressesystems wider, in dem Redakteure und Reporter im Rahmen der Parteivorgaben über große Gestaltungsmöglichkeiten verfügten (vgl. Kap. 3.3). Zum anderen betrachtete er die TASS primär als ein Informationsmedium und nicht als „Instrument zur Beeinflussung und Erziehung der Masse“48 , wie es für andere Massenmedien galt. Die sowjetische Nachrichtenagentur war für Stalin

45 46 47 48

Doleckij an das Sekretariat des ZK VKP(b), 01.07.1932, GARF 4459/38/50/25. Doleckij an Stalin, 17.05.1933, GARF 4459/38/58/21. Ebd. Artur W. Just, Die Presse der Sowjetunion. Methoden diktatorischer Massenführung, Berlin 1931, S. 28.

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das Fenster zur Welt.49 Sie verschaffte Einblicke in aktuelle politische und mediale Diskurse des Auslandes. Zu diesen Einblicken hatte aber freilich in der Sowjetunion nur die diplomatische Elite einen unmittelbaren Zugang. Ein weiterer Grund lag in der bereits erwähnten Vertrauensproblematik: Der im Westen sozialisierte Doleckij war kein Mann der Parteibürokratie; deswegen war Stalin a priori nicht bereit, ihm seine Absichten und Kalküle mitzuteilen. Der Machtwechsel in der TASS vom Juni 1937, als Doleckij durch Chavinson abgelöst wurde, trug unter anderem dazu bei, die kommunikative Distanz zur Parteiführung zu reduzieren.50 Das bewusste Nichtlenken Stalins ist jedoch nicht als Ignorieren der TASS misszuverstehen. Ganz im Gegenteil: Im Privatarchiv Stalins befinden sich einige Hundert Seiten aus den Auslandsbulletins der TASS, die die Spuren seiner Lektüre und Rezeptionsarbeit enthalten. Mit farbigen Bleistiften unterstrich er Überschriften, zog senkrechte Doppelstriche, umrandete einzelne Sätze, machte Kommentare und Anmerkungen. Dies zeigt, wie Stalin im Prozess der Nachrichtenrezeption den Inhalten eigenständig Bedeutungen zuwies bzw. deren Bedeutung markierte. Manchmal schrieb Stalin einfach „wichtig“, offenbar nur für sich selbst, als Gedächtnisstütze.51 Meistens löste er aber eine Anschlusskommunikation aus: durch publizistische Entscheidungen, Dementis, Gegendarstellungen, Überprüfungen oder diplomatische Handlungsinitiativen. Stalins Kommentare geben dabei auch Aufschluss über seine Argumentationsund Deutungsmuster, seine Erwartungen und seine Einschätzungen der jeweiligen politischen Lage. Diese Kommentare flossen, direkt oder nuanciert, in den publizistischen Diskurs ein und prägten die öffentliche Kommunikation. So notierte er zu einer Meldung der polnischen Telegraphenagentur (PAT) über die Wahlen zum Obersten Rat der UdSSR, die den demokratischen Charakter der Abstimmung in Frage stellte: Man muss in der Presse sagen: Die Wähler können beliebige Kandidaten vorschlagen und wählen; wenn sie aber keine alternativen Kandidaten vorschlagen, dann bedeutet das, dass sie es nicht wollen.52

49 Dieser Befund gilt auch für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Vgl. Chlewnjuk, Stalin, S. 159. 50 Chaninson sah seine primäre Aufgabe darin, die TASS „in einen der engsten Helfer der Presseabteilung des ZK VKP(b) zu verwandeln“. Vgl. seine Ansprache auf der TASS-Konferenz unter Beteiligung der Vertreter des ZK VKP (b), des NKID und der Zentralzeitungen, 01.04.1938, GARF 4459/11/979/93. 51 Vgl. sein „wichtig“ zum Artikel der britischen Zeitschrift „Economist“ über den Sowjettransport. „Das Bulletin der TASS für Militärinformationen“, 06.04.1940, RGASPI 558/11/207/98. 52 Stalins Anmerkungen im „Bulletin nicht für die Presse“ vom 14.11.1937, RGASPI 558/11/206/144.

Stalin und die TASS

Auf einer TASS-Meldung vom 8. Mai 1939, die über einen Wortwechsel zwischen dem Labour-Politiker Arthur Henderson und dem Premier Chamberlain im britischen Unterhaus informierte, unterstrich Stalin zunächst die Worte „die Zusammenarbeit mit der Sowjetunion […] fundiert auf gegenseitigen Garantien“, dann kritzelte er seine Sicht der Dinge: „1) Das ist keine Zusammenarbeit; 2) Es gibt keine gegenseitigen Garantien“.53 Auf dem Bericht der TASS „Die englische Presse über die Position Englands in den sowjetisch-britischen Verhandlungen“ vom 2. Mai 1939 machte er zwei Mal nacheinander die Bemerkung: „Das Geschwätz über die Unteilbarkeit des Friedens“.54 Unter diversen Anmerkungen und Kommentaren fallen besonders Stalins Publikationsbefehle auf, die er mit „veröffentlichen“ bzw. „an die Presse“ artikulierte. Sie wurden dann auch in der Regel von Poskrebyšev, seinem Sekretär, entweder direkt an die Zeitungsredaktionen der „Pravda“ und „Izvestija“ oder seltener an die TASS übermittelt, oft mit einem zusätzlichen Vermerk „im Auftrag der verantwortlichen Instanz“ bzw. „obligatorisch zu veröffentlichen“.55 Manchmal legte der Sowjetführer auch fest, in welcher Zeitung und an welcher Stelle die von ihm ausgewählten Nachrichten abgedruckt werden sollten.56 Bemerkenswert ist, dass Stalin auch während seiner Urlaubszeit keine Auszeit davon nahm, Publikationsentscheidungen zu treffen.57 Seine Publikationsmotive und -absichten waren vielschichtig. Innenpolitisch ging es vor allem darum, durch die Propaganda Stereotypen und Feindbilder zu generieren und zu festigen und so den gesellschaftlichen Mobilisierungsprozess anzuheizen. Daneben dienten Publikationen auch dazu, außenpolitische Signale zu setzen. Oft handelte es sich um ein Zusammenspiel von komplexen Motiven, wie bei der Publikationsentscheidung vom 23. August 1939, als Stalin eine TASSMeldung aus Paris, die über den „bevorstehenden Besuch Hendersons bei Hitler“

53 Vgl. das Kommentar Stalins im „Dienstbulletin“ der TASS vom 08.05.1939, RGASPI 558/11/207/52. 54 RGASPI 558/11/207/42 und 43. 55 Der Leiter der INO-TASS, Ichok, erinnerte den Sekretär Stalins daran, solche Direktiven „hundertfach“ bekommen zu haben. Vgl. Ichok an Poskrebyšev, 19.12.1933, GARF 4459/38/58/7 f. 302. Vgl. auch Stalins Anweisung, einen Artikel der französischen Journalistin Tabouis, der in der amerikanischen Zeitschrift „Nation“ erschien und im Bulletin „Nicht für die Presse“ vom 30.01.1939 publiziert wurde, in der „Pravda“ und der „Izvestija“ abzudrucken. Am 31.01.1939 bestätigte Poskrebyšev die Ausführung: „Chavinson mitgeteilt“. RGASPI 558/11/207/26. 56 „Publizieren an prominenter Stelle“, schrieb Stalin am 08.05.1932 auf einer Meldung aus Paris, die im „Bulletin für telegraphische Informationen der TASS“ abgedruckt wurde. RGASPI 558/11/206/31. 57 Vgl. seine Anmerkungen zur „Mitteilung der Baseler Nationalzeitung über das deutsch-polnische Angriffsbündnis“ im „Bulletin nicht für die Presse“ vom 21.09.1934 und die Notiz des stellvertretenden Leiters des Sondersektors des ZK, Dvinskij: „Doleckij wurde mitgeteilt, zu veröffentlichen. 27.09.1934“. RGASPI 558/11/206/86.

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Die TASS, die außenpolitische Elite und ausgewählte Problemkomplexe der Auslandsberichterstattung

informierte, publik machte.58 Damit wollte er dem sowjetischen und dem ausländischen Lesepublikum das „Doppelspiel“ der Briten noch einmal vor Augen führen – eine Intention, in der sich Stalins Misstrauenslogik und seine propagandistische Rechtfertigung für den Nichtangriffspakt mit Berlin manifestierten. Am publizistischen Diskurs waren zwar verschiedene Akteure, wie die Politbüromitglieder, Diplomaten oder Journalisten, beteiligt, doch die Publikationshoheit Stalins, die sich in seinem Vetorecht manifestierte, blieb sakrosankt. Keine Ausnahme ließ man hierin für die Führung des NKID gelten, die in Publikationsfragen über signifikante Gestaltungsräume verfügte und an medialen Signalsetzungen gegenüber dem Ausland partizipierte.59 Als Čičerin sich im Januar 1926 erlaubte, ein Publikationsverbot der ‚Instanz‘ zu ignorieren, und eigensinnig entschied, einen Bericht der TASS über Verhandlungen in Mukden zu publizieren, stieß er auf die heftige Reaktion der Parteiführung. Stalin und der Regierungschef Rykov beriefen eine Sonderbesprechung des Politbüros ein, die den Volkskommissar für Auswärtige Angelegenheiten tadelte und die Publikationshoheit der Kremlführung ausdrücklich bekräftigte.60 Für Doleckij und Chavinson war Stalin ganz selbstverständlich die oberste publizistische Entscheidungsinstanz. Gelegentlich erfragten sie auch direkt seine Meinung.61 Auch im Dementi-Diskurs behielt Stalin die Entscheidungshoheit. In seinem Privatarchiv finden sich ferner Hinweise, dass er einige Gegendarstellungen eigenständig schrieb und sie als „TASS-Dementis“ an die Moskauer Zeitungen weiterleitete.62 Stalin war ein aktiver, eigensinniger und umdeutender Leser, der mit einem selektiven Blick Informationen aufnahm und in sein eigenes Weltbild einpasste. Beispielhaft hierfür war ein Bericht der INO-TASS vom 11. Oktober 1934, in dem die Presseübersichten aus Paris, Berlin und Warschau über die Ermordung des französischen Außenministers Louis Barthou und des jugoslawischen Königs Alexander I. in Marseille zusammenfasst wurden. Am nächsten Tag legte der Sowjetführer seine Version des Attentats vor, die gleichzeitig ein verbindliches Deutungsmuster

58 Vgl. Stalins Anmerkung im „Dienstbulletin“ der TASS vom 23.08.1939, RGASPI 558/11/207/68. 59 Litvinov an Doleckij, 01.10.1931, GARF 4459/38/40/47. Vgl. auch Kommentare des Volkskommissars für Auswärtige Angelegenheiten im Bulletin „Nicht für die Presse“ und entsprechende Anweisungen an die TASS: Doleckij an Krestinskij, Kopien an Litvinov und Karachan, 28.09.1931, GARF 4459/38/40/48. 60 Der Beschluss des Politbüros vom 26.01.1926, „Chinesische Frage“, RGASPI 17/3/544/15. 61 Vgl. Doleckij an Stalin, 08.05.1932, RGASPI 558/11/206/30; Chavinson an Poskrebyšev, 24.09.1937, ebd., 135; Chavinson an Stalin, 11.08.1937, GARF 4459/38/87/61. Chavinson an Stalin, 05.11.1937, GARF 4459/38/86/12. 62 Vgl. das „TASS-Dementi“ vom 08.05.1941 über die massive Konzentration der Sowjettruppen an der Westgrenze. Stalin stimmte seinen Entwurf mit Molotov ab. Als Grundlage diente ihm eine Meldung in der „Dienstausgabe“ der TASS vom 07.05.1941. RGASPI 558/11/203/164 f.

Stalin und die TASS

präsentierte: „Meiner Meinung nach ist die Ermordung von Barthou das Werk eines deutsch-polnischen Agenten“63 , schrieb er an Molotov und Ždanov. Stalins Privileg, Wirklichkeiten zu definieren und diese Definitionen als letzte Wahrheiten in den politischen und medialen Diskurs einzubringen, war eine der Säulen seiner außerordentlichen Macht. Der Diktator achtete ebenfalls darauf, dass seine Interpretationen im journalistischen Implementierungsprozess nicht von anderen Deutungen überlagert oder abgeschwächt wurden.64 Sein Monopol darauf, wie in der Sowjetunion die Welt gedeutet wurde, erstreckte sich auch auf alle Kommentare und Analysen zur Weltpolitik, die in den Moskauer Massenmedien zu publizieren waren.65 Stalin blieb trotz seiner Machtstellung selbstverständlich eingebunden in die bestehenden Informationsflüsse der Sowjetunion. Teilweise lieferten erst die TASSNachrichten ihm die Impulse für seine Initiativen, bestimmte Themen aufzugreifen und sie propagandistisch auszuschlachten. Auf diese Weise steuerte Stalin journalistische Aufmerksamkeit und strukturierte gesellschaftliche Erwartungen. So hatte er am 3. November 1932 zwei Meldungen aus London gelesen, die über neue Buchveröffentlichungen zur britischen und europäischen Wirtschaftskrise informierten. Die erste, unter dem Titel „Arbeit in England ist Mord“, berichtete über die Publikation von Fenner Brockway, „Hungry England“, die zweite über „Das Buch von Tiltman über die Krise“.66 Stalin wollte, dass der sowjetische Leser mehr davon erfährt. Auf die erste Meldung kritzelte er daher: „das Buch beschaffen und unverzüglich übersetzen, dann teilweise in der ‚Pravda‘ und in Zeitschriften abdrucken“; auf der zweiten Meldung wurde vermerkt: „das Buch beschaffen und unverzüglich übersetzen, teilweise in ‚Novyj Mir‘, ‚Bol’ševik‘ und in der ‚Pravda‘ abdrucken“.67 Acht Jahre später notierte Stalin auf einer TASS-Meldung vom 5. Dezember 1940, die als „Das Gespräch Bismarcks mit Heimerl über Russland“ betitelt war und auf das Buch von Wolfgang Windelband, „Bismarck und die europäischen Großmächte 1879–1885“, rekurrierte: „anschaffen, übersetzen und auf Russisch drucken“.68

63 Stalin an Molotov und Ždanov, 12.10.1934, RGASPI 558/11/86/89. 64 Vgl. die TASS-Meldung über „die Ergebnisse der Kanton-Wahlen in Frankreich“ vom 20.10.1937, RGASPI 558/11/206/139, und das Schreiben von Poskrebyšev an den Leiter der Presseabteilung des ZK, Mechlis, ebd., 138. 65 Vgl. den Beschluss des Politbüros vom 14.06.1928, „Über provokative Erfindungen der japanischen Presse“, RGASPI 17/163/734/22 f. Der Beschluss ging auf die schriftliche Initiative Stalins zurück, der abweichende Kommentare unterbinden wollte. Die Adressaten des Beschlusses waren Čičerin, Doleckij und die Chefredakteure der „Pravda“ und der „Izvestija“. 66 Es handelte sich um das Buch von Hubert Hessell Tiltman, „Slump! A Study of Stricken Europe Today“ (1932), das die europäische Wirtschafts- und Sozialkrise in pessimistischen Tönen behandelte. 67 RGASPI 558/11/206/50 und 52. 68 Vgl. Stalins Anmerkungen im „TASS-Bulletin nicht für die Presse“, 05.12.1940, RGASPI 558/11/208/33.

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Stalin war ein Meinungsführer, der Nachrichten für seine Untergebenen filterte und kommentierte.69 Als Bezugsgruppen können die Parteielite, die Sowjetdiplomaten, die Journalisten und der sowjetische Massenleser identifiziert werden. Nur einige Beispiele: Am 24. Juli 1935 unterstrich Stalin die Überschrift einer Meldung über eine geplante Konferenz der Auslandsorganisation der NSDAP, machte zwei senkrechte Randstriche und wies die TASS an: „Diese Angelegenheit systematisch beobachten“.70 Auf einem TASS-Bericht vom 17. Dezember 1931 über „die Verschärfung des Zollweltkrieges“, in dem das Deutsche Konjunkturinstitut zitiert wurde, notierte er: „Zu verschicken an die Mitglieder des Politbüros zur Kenntnisnahme“.71 Am 14. April 1941 übermittelte er Georgij Žukov, dem Chef des Generalstabes der Roten Armee, eine Meldung der United Press, „Über neue Kriegsmethoden auf dem Balkan und in Nordafrika“, mit der Bitte, diese unbedingt zu lesen.72 An die Meinungsvorgaben Stalins schloss sich weitergehende Kommunikation an: Diese Vorgaben zirkulierten und die Bezugspersonen tauschten sich darüber aus. Dies erzeugte soziale Kontexte, wirkte integrativ und bedingte, dass gemeinsame Orientierungshorizonte geschaffen und Aufmerksamkeitspolitik koordiniert wurde. Stalins Kommentare und Hinweise konnten ganz unmittelbar auf die Gestaltung der Außenpolitik einwirken. So notierte er auf einer TASS-Meldung vom 24. Dezember 1939 unter dem Titel „Aufruf der britischen Presse zur Intervention in Finnland“ lapidar: „Potemkin soll mit Schweden und Norwegen sprechen“.73 Der Rezeptionsprozess von Nachrichten war ein selektiver Aufnahme- und Adaptionsvorgang, in dem Unsicherheiten, Ungewissheiten und Unwissen einen festen Platz hatten. Konfrontiert mit einer „ambivalenten Welt“74 verlangte Stalin Überprüfungen, die dazu dienten, seinen Orientierungshorizont zu stabilisieren. Oft notierte er: „Stimmt es? Prüfen“ bzw. „Richtig? Man sollte überprüfen“.75 Als Veri-

69 Vgl. aufschlussreiche Überlegungen zur Selektivität und Reflexivität von Anschlusskommunikation: Schenk, Schlüsselkonzepte, S. 79. 70 Das TASS-Bulletin „Nicht für die Presse“, 24.07.1935, RGASPI 558/11/206/95. 71 RGASPI 558/11/206/9. Der Bericht erschien in der Morgenausgabe des TASS-Bulletins für Auslandsinformationen am 15.12.1931. 72 Vgl. die von Stalin bemalte Seite aus dem „Dienstbulletin“ vom 14.04.1941 und die Mitteilung Žukovs an Poskrebyšev vom 16.04.1941, RGASPI 558/11/208/64 f. 73 „Das Dienstbulletin“ der TASS, 24.12.1939, RGASPI 558/11/207/85. 74 Vgl. die Überlegungen zur Rezeptionsproblematik bei Jörg Matthes, Framing-Effekte. Zum Einfluss der Politikberichterstattung auf die Einstellungen der Rezipienten, München 2007, S. 206. 75 Vgl. die TASS-Bulletins vom 19.02.1932, RGASPI 558/11/206/17, und vom 08.05.1939, RGASPI 558/11/207/57.

Stalin und die TASS

fizierungsinstanz fungierte in der Regel die Führung des Narkomindel76 , die für Stalin nicht nur einzelne Sachverhalte prüfte, sondern auch bei Bedarf Gegendarstellungen und Dementis entwarf, die dann ‚anonym‘ als TASS-Verlautbarungen publiziert wurden.77 Die Quellenauswertung zeigt, dass die Sowjetdiplomaten im Dementi-Diskurs eine tragende Rolle spielten.78 Sie initiierten, gestalteten und implementierten Widerlegungen, organisierten mediale Inszenierungen in der Sowjetpresse und lancierten Informationen für ausländische Massenmedien. Dennoch mussten sie jeden ihrer Schritte mit Stalin abstimmen, Litvinov selbst benutzte den Begriff „sanktionieren“.79 Im Rahmen des Prüfprozesses ordnete Stalin auch Untersuchungsaufträge an, die auf systeminterne, innenpolitische Kontexte verwiesen. So schrieb er auf einer TASS-Meldung vom 20. Februar 1936, die über „einen neuen modernisierten Typ des Triebwagens in Deutschland“ informierte: „Wozu haben wir die Triebwagen gekauft? Was haben wir davon? Warum schweigt Vorošilov?“80 Auch Stalins Emotionalität beeinflusste die Art und Weise, wie der Sowjetführer in den publizistischen Diskurs einwirkte. Er polemisierte gegen ausländische Politiker und Massenmedien und machte sich über sie lustig, wurde wütend, ja rachsüchtig, und witterte „Provokationen“.81 Nicht nur im Leben, sondern auch bei der Rezeption von Nachrichten war Stalin ein notorischer Flucher. Die französische Nachrichtenagentur Havas und die jugoslawische Presse beschimpfte er als „Gesindel“ (svoloč)82 ; italienische Journalisten nannte er „Schurken“ (merzavcy) und wies die Sowjetpresse an, sie „herunterzumachen“ (obrugat’).83

76 Vgl. die Anweisung an Krestinskij, eine Meldung der polnischen Nachrichteagentur PAT „zu überprüfen“, in der auf die Verhandlungen zwischen der Sowjetunion und baltischen Staaten Bezug genommen wurden. Das TASS-Bulletin „Nicht für die Presse“ vom 13.04.1935, RGASPI 558/11/206/94. 77 Vgl. den Prüfauftrag Stalins zur Meldung der japanischen Nachrichtenagentur „Rengo“ und die anschließende Bitte an Stomonjakov, diese zu dementieren. Vgl. das Bulletin „Nicht für die Presse“ vom 17.06.1934, RGASPI 558/11/206/85. Vgl. auch seine Verfügung „dementieren durch die TASS“: Es ging um eine Mitteilung der Reuters, die die TASS am 08.05.1939 publizierte. RGASPI 558/11/207/51. 78 Vgl. Dementi-Erwägungen Stalins zur Meldung der TASS, „Über die Lage auf der KVŽD“, vom 23.12.1931, RGASPI 558/11/206/13. 79 Litvinov an Stalin, Kopie an Molotov, 15.06.1937, AVP RF 05/17/126/1/235. 80 RGASPI 558/11/206/98. 81 Auf einer TASS-Meldung aus Tokio im „Dienstbulletin“ vom 19.06.1932, die über eine angebliche Diversion der Agenten der OGPU in Korea berichtete, schrieb er: „Dem Genossen Kaganovič. Ist das eine Provokation oder ein Streich des Aufklärungsdienstes?“, RGASPI 558/11/206/46. 82 Vgl. die Meldung der Havas über „Militäroperationen in Finnland“ im „Dienstbulletin“ vom 11.01.1940, RGASPI 558/11/207/88. Stalin gefiel es auch nicht, wie die jugoslawische Presse über das Friedensabkommen zwischen der Sowjetunion und Finnland berichtete. Vgl. „das Dienstbulletin der TASS“ vom 18.03.1940, RGASPI 558/11/207/96. 83 „Das Dienstbulletin“ der TASS vom 01.03.1940, RGASPI 558/11/207/52.

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Die TASS, die außenpolitische Elite und ausgewählte Problemkomplexe der Auslandsberichterstattung

Emotionale Reaktionen, die der Sowjetführer im Kontext der Informationsverarbeitung zeigte, können als Selektionsfilter und Interventionsmechanismen aufgefasst werden; sie generierten Aufmerksamkeit und standen „in engem Zusammenhang zur Handlungsbereitschaft“.84 So notierte er auf einer Meldung aus Schanghai über „die Republik Huadun“85 , die das chinesische Außenministerium zitierte: An den Genossen Sokolnikov. Was soll das? Was für eine Republik ist das? Man sollte die Mitteilung überprüfen und, falls sie sich als falsch erweist, die Autoren der „Republik“ in der Presse auslachen.86

„Dem Spott preisgeben“ bzw. „auslachen“ waren die häufigsten Befehle aus dem publizistischen Straf- und Vergeltungsarsenal Stalins. Seine höhnische, maliziöse Haltung gegenüber bestimmten Sachverhalten und Personen drückte er oft mit einem „Ha-Ha“ aus, das auch einen Anflug von Überheblichkeit transportierte. Ein „Ha-Ha“ galt zum Beispiel dem folgenden Satz aus einer Presseschau aus Warschau vom 4. Juli 1939: „Polen ist der wahre Freund und Verteidiger der baltischen Staaten gegen Aggressionsabsichten (pritjazanij) aus West und Ost“. Einige Zeilen darunter unterstrich Stalin die Worte „die Rolle des polnischen Staates als Faktor des Gleichgewichts in Mittel- und Osteuropa“ und machte am Rande wieder ein „HaHa“. Im nächsten Absatz wurde der Satzteil „wenn die Tschechen damals verstanden hätten, dass Polen der wahre Verteidiger schwacher Nachbarn ist, dann hätten sie die traurige Tragödie nicht erlebt“ unterstrichen und wie folgt kommentiert: „Und warum haben die Polen die Tschechoslowakei angegriffen?“87 Gegen einige ausländische Politiker, Journalisten, Presseagenturen sowie Zeitungsredaktionen führte Stalin regelrechte Pressekriege. Den Kölner Journalisten Arthur Just, der Ende der 1920er Jahre aus der Sowjetunion verbannt worden war, bezeichnete der Sowjetführer im März 1934 als einen „reaktionären Schmierer, der frech genug ist, die Außenpolitik der Sowjetunion als ‚reaktionär‘ zu bezeichnen“. Die „Pravda“ bekam den Auftrag, ihn „gnadenlos zu verspotten“.88 Nicht anders

84 Hannah Früh, Emotionalisierung durch Nachrichten. Emotionen und Informationsverarbeitung in der Nachrichtenrezeption, Baden-Baden 2010, S. 82. 85 In der Meldung ging es um eine angeblich neu gegründete Republik „Huadun“ in der Mandschurei. 86 RGASPI 558/11/206/79. Georgij Sokolnikov war zu dieser Zeit der Stellvertreter des Volkskommissars für Auswärtige Angelegenheiten und für die Fragen der Fernostpolitik zuständig. 87 Das Dienstbulletin der TASS vom 04.07.1939, RGASPI 558/11/207/64. 88 Vgl. die TASS-Meldung „Just über die deutsch-sowjetischen Beziehungen“, die der „Kölnischen Zeitung“ entnommen war und im „Bulletin nicht für die Presse“ am 12.03.1934 publiziert wurde. RGASPI 558/11/206/82. Der Sekretär Stalins, Poskrebyšev, teilte dem Chefredakteure der „Pravda“, Mechlis, mit, dass entweder die „Pravda“ oder die „Izvestija“ („entscheidet selbst“) den Auftrag „in ihrer morgigen Ausgabe“ erledigen sollte. Vgl. Poskrebyšev an Mechlis, 13.03.1934, ebd., 81.

Die TASS und die Sowjetdiplomaten: zwischen Fremd- und Selbstreferenz

erging es im Juli 1936 der italienischen Presse und dem spanischen General Franco wegen ihrer „antisowjetischen“ Äußerungen.89 Dem türkischen Journalisten Yunus Nadi (1880–1945), der behauptete, dass die sowjetischen U-Boote ein spanisches Schiff versenkt hätten, „einen Klaps zu versetzen“ (otšlepat’) ordnete Stalin zwei Mal innerhalb von zehn Tagen an.90 Die Überschrift von künftigen Pamphleten, die in der „Pravda“ publiziert werden sollten, legte der Kremlchef persönlich fest: „Yunus Nadi in der Rolle des Verleumders der UdSSR“. Zusammenfassend kann man also feststellen, dass die TASS das Nachrichtenbild Stalins maßgeblich bestimmte und er ihre Nachrichten selektiv und kreativ rezipierte. Das Grundmuster des Rezeptionsprozesses stellten seine Publikationsentscheidungen und Dementis dar. Offen bleibt aber die Frage, inwiefern die TASSInformationen außenpolitische Entscheidungsprozesse im Kreml beeinflussten. Man kann davon ausgehen, dass sie als eine Art „Initialzündung“91 fungierten und die politische Aufmerksamkeit auf bestimmte Themen und Personen lenkten. Die programmatische Distanz des Sowjetführers zur INO-TASS verdeutlicht, dass er auch an ‚objektiven‘ Darstellungsprogrammen des Informationsjournalismus interessiert war. Sein mediales Weltbild war kein Wunschbild. Die Auslandsberichterstattung sollte irritieren, Sachzwänge erzeugen und zu Reaktionen animieren. Stalins Orientierungsbedarf und seine Erwartungen blieben aber nicht auf der Strecke: Die TASS war im sowjetischen Wirklichkeitsdiskurs fest integriert, auf ihre Art und Weise reproduzierte und stabilisierte sie seine semantischen und thematischen Strukturen. Stalins mediales Auslandsbild war daher ein kulturell angepasstes Nachrichtenbild, dessen Horizonte, Sprache und Symbole er als oberste Zensur- und Deutungsinstanz mitgestaltete.

3.2 Die TASS und die Sowjetdiplomaten: zwischen Fremd- und Selbstreferenz Als David Ichok, der Leiter der Auslandsabteilung, von TASS-Nachrichten als „Prämissen“ sprach, die „eine ganze Reihe von sehr wichtigen Entscheidungen“ der diplomatischen Führung präfiguriert hätten92 , übertrieb er kaum. Denn nicht

89 Stalin verfügte am 23.07.1936, „Franco und die Italiener zu verspotten“. Poskrebyšev wies Mechlis an, dies „in der morgigen Ausgabe“ der „Pravda“ zu erledigen. Vgl. das Bulletin „Nicht für die Presse“ vom 23.07.1936, RGASPI 558/11/206/103. 90 So Stalin auf den TASS-Meldungen vom 24.08.1937 und 04.09.1937, die im Bulletin „Nicht für die Presse“ abgedruckt wurden. RGASPI 558/11/206/120 und 122. 91 Vgl. Schenk, Schlüsselkonzepte, S. 82. 92 Die Ansprache des Leiters der Auslandsabteilung, David Ichok, auf der Konferenz der INO-TASS, 11.06.1931, GARF 4459/11/443/34.

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Die TASS, die außenpolitische Elite und ausgewählte Problemkomplexe der Auslandsberichterstattung

anders als Stalin waren auch die Volkskommissare für Auswärtige Angelegenheiten, Grigorij Čičerin und Maxim Litvinov, aufmerksame Leser und kritische Rezipienten von TASS-Informationen. In der Korrespondenz der diplomatischen Führung finden sich etliche Hinweise darauf, wie sehr sie auf das Nachrichtenangebot der TASS angewiesen war. Als die Auslandsbulletins an die Mitglieder des NKID-Kollegiums mehrmals nicht verschickt wurden, warf Čičerin Doleckij vor, „die außenpolitische Meinungsbildung“, ja „die Leitung der Außenpolitik“ zu gefährden93 . Litvinov wies der Auslandsberichterstattung der TASS „eine erstrangige politische Bedeutung“94 zu und sein Stellvertreter, Nikolaj Krestinskij, bezeichnete die TASS als „die wichtigste Wissensquelle über außenpolitische Fakten und Ereignisse sowohl für das NKID als auch für die Führungsinstanzen“.95 Da den Sowjetdiplomaten alternative Nachrichtenkanäle fehlten, wird von der Konstellation der „medialen Informationsabhängigkeit“96 ausgegangen. Aus dieser sind vor allem zwei Einflussbereiche der TASS auf die Arbeit des diplomatischen Apparates abzuleiten97 : 1. Die Journalisten kreierten den aktuellen Ereignishorizont der außenpolitischen Führung und lenkten Aufmerksamkeit auf bestimmte Themen; 2. sie beeinflussten – durch die Herstellung von Aktualität – das Tempo des außenpolitischen Entscheidungsprozesses. Im Hinblick auf die Kommunikationsprozesse im Kreml fungierte das mediale Auslandsbild der TASS als gemeinsamer Orientierungshorizont, auf den die Parteiführer und die Sowjetdiplomaten regelmäßig Bezug nahmen.98 Es handelte sich um einen diskursiven Weltinterpretationsprozess: Man sprach von „Diskussionen“99 ,

93 Čičerin an Doleckij, 06.10.1926, GARF 391/1/164/116. 94 Litvinov an den Rat für Arbeit und Verteidigung der Sowjetunion, Kopie an Doleckij, 27.05.1927, GARF 4459/38/3/55. 95 Der Stellvertreter des Volkskommissars für Auswärtige Angelegenheiten, Krestinskij, an den TASS-Leiter Doleckij, Kopie an den Generalsekretär des ZK VKP(b), Stalin, 06.06.1931, GARF 4459/38/40/4. 96 Vgl. Hafez, Die politische Dimension, S. 121. 97 In Anlehnung an die Kommunikationsmodelle von Hafez, Die politische Dimension, S. 132, und Schulz, Politische Kommunikation, S. 32 f. 98 Vgl. Litvinov an Stalin, Kopien an Molotov, Vorošilov, Ordžonikidze, 22.02.1936, AVP RF 05/16/114/1/46. Vgl. auch Litvinov an Stalin, 02.11.1936, AVP RF 05/16/114/1/256. Vgl. auch Slutsch/Tischler, Deutschland und die Sowjetunion 1933–1941, S. 976 f. 99 Vgl. Čičerin an das Politbüro des ZK VKP(b), 10.12.1923, RGASPI 159/2/1/20.

Die TASS und die Sowjetdiplomaten: zwischen Fremd- und Selbstreferenz

vom „Meinungsaustausch“ bzw. „allgemeinen Gedankenaustausch“100 sowie von der Entscheidungsfindung „auf der Grundlage des Meinungsaustausches“.101 Im Rezeptionsprozess von Auslandsinformationen traten die Sowjetdiplomaten in der Rolle einer Selektions- und Deutungsinstanz auf. Sie lenkten Aufmerksamkeit auf bestimmte Ereignisse, kommentierten diese und stellten Zusammenhänge her. Ihre Expertise und ihr Weltwissen wurden von der Kremlführung geschätzt und prämiert: Čičerin erhielt eine Sondergenehmigung, „an allen Politbürositzungen bezüglich aller Fragen teilzunehmen“102 ; Litvinov wurde gestattet, die Ergebnisse seiner Beratungen mit Stalin eigenständig als Politbürobeschlüsse zu formalisieren.103 Insgesamt kann man der NKID-Führung eine politische Sozialisationsfunktion einräumen. Die Sowjetdiplomaten erweiterten den außenpolitischen Horizont der Politbüromitglieder, prägten ihre Frames und Deutungsschemata und vermittelten das grundlegende Wissen über rechtliche, kulturelle und historische Rahmenbedingungen von internationalen Konflikten und Krisen. Der diplomatische Rezeptionsprozess von Auslandsnachrichten wies zwei grundlegende Dimensionen auf. Zum einen wurden Auslandsmeldungen im Rahmen der Auslandsanalyse selektiert, interpretiert und bewertet. Die NKID-Führung fertigte interne Informationsdossiers an und verteilte Aufträge an die Abteilungen und Referate; ihre wichtigste Aufgabe bestand aber darin, der Kremlführung außenpolitische Lageanalysen vorzulegen und Entscheidungsoptionen aufzuzeigen.104 Es ging um die Verpflichtung, „diplomatische Maßnahmen auszuarbeiten und die Ereignisse der internationalen Politik vor dem Politbüro zu beleuchten“.105 Im Kreml wurde auch von der „Ausarbeitung politischer Fragen“106 sowie von „Handlungsanleitungen“ gesprochen.107

100 Vgl. Litvinov an Stalin, Kopien an Molotov, Vorošilov, Kaganovič, 28.04.1936, AVP RF 05/16/114/1/119; Litvinov an Stalin, Kopien an Molotov und Vorošilov, 19.02.1937, AVP RF 05/17/126/1/62; Litvinov an Stalin, Kopie an Molotov, 29.04.1937, AVP RF 05/17/126/1/209. 101 Vgl. die Erinnerungen von Evgenij Gnedin, zitiert nach Derek Watson, The Politburo and Foreign Policy in the 1930s, in: Rees (Hrsg.), The Nature, S. 140. 102 Stalin an Čičerin, 22.05.1925, RGASPI 558/11/824/46. 103 Vgl. Litvinov an Stalin, Kopien an Molotov, Kaganovič, Vorošilov, Ežov, 22.10.1937, AVP RF 05/17/126/1/328. 104 Zum diplomatischen Selbstverständnis: Litvinov an Stalin, Kopie an Molotov, 11.03.1937, AVP RF 05/17/126/1/112. Vgl. auch Watson, The Politburo and Foreign Policy in the 1930s, S. 140. 105 Vgl. den Beschluss des Politbüros vom 03.01.1929, „Erklärung des Genossen Menžinskij“, RGASPI 17/162/7/21. 106 Vgl. den Beschluss des Politbüros vom 28.02.1924, „Über die Fragen des NKID“, RGASPI 17/3/422/1. 107 Vgl. Stalin an die Politbüro-Mitglieder und Kandidaten für das Politbüro, Kopien an Čičerin und Litvinov, 23.02.1924, RGASPI 82/2/1028/25.

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Zum anderen verarbeitete die NKID-Führung die TASS-Nachrichten aus dem Blickwinkel einer Zensurinstanz: Sie filterte Informationen, sprach Publikationsgebote und -verbote aus, die darauf abzielten, die Thematisierungspolitik der Zeitungsredaktionen zu lenken.108 Das diplomatische Zensurprogramm gestaltete sich in Form des hierarchischen Gegenlesens und wurde in den 1920er Jahren von Čičerin persönlich verwirklicht. Um der Parteiführung „systematische Übersichten über die internationale Lage und Politik“109 präsentieren zu können, waren die Sowjetdiplomaten auf aktuelle, zuverlässige und politisch relevante Nachrichten angewiesen. Deswegen versuchten sie bereits in der Frühphase des Sowjetstaates einen programmatischen Einfluss auf den Prozess der Nachrichtenproduktion zu nehmen. Eine strukturelle Voraussetzung dafür ergab sich aus der räumlichen Nähe: Die INO-TASS bzw. die INO-ROSTA befand sich von 1919 bis 1929 im Gebäude des NKID; sie war in den diplomatischen Verwaltungsbetrieb integriert und orientierte sich zwangsläufig an seinen Programmen und Arbeitsläufen. Das Ausmaß der diplomatischen Beeinflussung beschrieb der Leiter der Auslandsredaktion, Mark Braginskij, im Mai 1920 wie folgt: „Die tägliche operative Arbeit verläuft im engsten Kontakt mit dem NKID und wird von diesem politisch kontrolliert“.110 Die Einbindung der INO-TASS in den diplomatischen Apparat erzeugte das Dilemma von Selbstbestimmung und Fremdreferenz – mit ambivalenten Folgen: Einerseits profitierte die Redaktionsführung vom politischen Wissensvorsprung der Sowjetdiplomaten, die über Diskurse und Kalküle des Kremls bestens informiert waren; von Vorteil war auch, dass die journalistische und die diplomatische Agenda in Echtzeit koordiniert werden konnten. Andererseits wurde die Autonomie der INO-TASS ernsthaft in Frage gestellt, denn die redaktionelle Linie war mit dem diplomatischen Erwartungshorizont und Handlungsfeld eng verknüpft. In einer ähnlichen Situation befanden sich auch die Auslandsbüros der TASS, die meist an die Sowjetbotschaften angeschlossen waren und unter Kontrolle der „Bevollmächtigten Vertreter“ standen.111 Die Gründung der TASS im Sommer 1925 konsolidierte zwar das institutionelle Gefüge der sowjetischen Auslandsberichterstattung, änderte jedoch wenig am diplomatischen Führungsanspruch, am etablierten Grundsatz, dass „das NKID

108 Vgl. Čičerin an Doleckij, 06.10.1926, GARF 391/1/164/116. 109 Der Beschluss des Politbüros vom 26.03.1925 „über die Konferenz“, RGASPI 17/162/2/92. 110 Der Bericht von Braginskij, dem Leiter der INO-ROSTA, bei der 1. Allrussischen Konferenz der Mitarbeiter der ROSTA, 20.05.1920, GARF 391/1/6/3. 111 Vgl. das Zirkular an die Botschafter der RSFSR, unterschrieben durch Litvinov und Doleckij, 16.01.1923, GARF 4459/11/1/1.

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die Kontrolle über die TASS ausüben sollte“.112 Offiziell unterstand die Moskauer Nachrichtenagentur der Sowjetregierung und war nur ihr rechenschaftspflichtig. In der Wirklichkeit waren es aber die Sowjetdiplomaten, die die institutionellen, kaderpolitischen und programmatischen Grundlagen der sowjetischen Auslandsberichterstattung maßgebend prägten. Idealtypisch kann man zwischen zwei Dimensionen des diplomatischen Einflusses unterscheiden. Die erste, formalisierte Dimension verkörperte der TASS-Rat (vgl. Kap. 1.1). Er fungierte als interinstitutionelle Arena, die die NKID-Führung dazu nutzte, ihre Wünsche und Interessen zu artikulieren sowie auf redaktionelle Arbeitsprogramme Einfluss zu nehmen. Zur nicht formalisierten Dimension gehörten häufige und spontane Besuche Čičerins bei der INO-TASS, dessen Büro nicht weit von ihr entfernt war. Als neugieriger Leser und der wichtigste Berater des Kremls griff Čičerin anscheinend bedenkenlos in den Redaktionsablauf ein und verursachte dadurch empfindliche Störungen. Es kam zum Beispiel vor, dass einige Auslandsmeldungen erst mit einer Verspätung von mehreren Stunden verarbeitet werden konnten, weil Čičerin Originaltelegramme mitgenommen hatte, um sie in seine Berichte vor dem Politbüro einzuarbeiten.113 Die INO-TASS unterwarf sich jedoch nicht bedingungslos. Es regte sich immer wieder Widerstand, manchmal recht kurioser Art. So entschloss sich der Leiter der Auslandsabteilung, Madjar, zeitweilig dazu, die Arbeit seiner Redaktion von zu Hause aus zu steuern. Mehrere Wochen lang erschien er in seinem Büro nur für kurze Zeit, von 9 bis 11 Uhr, ausschließlich dafür, um schriftliche Verfügungen zu erledigen.114 Trotz Čičerins massiver Eingriffe in die Prozesse der Nachrichtenproduktion kann allerdings nicht belegt werden, dass er die Arbeit der INO-TASS in systematischer Weise zu lenken beabsichtigte und ihr seine Sichtweisen aufzwingen wollte. Bei seinen Interventionen handelte es sich eher um Ad-hoc-Einmischungen, um zeitlich und inhaltlich begrenzte Korrektive.115 Viel mehr Energie und Zeit investierte Čičerin in das diplomatische Zensurprogramm, das an der Schnittstelle zwischen der Auslandsberichterstattung der TASS und den Auslandsdiskursen der Massenzeitungen platziert war. Dieses Programm war darauf ausgerichtet, alle TASS-Nachrichten „auf Fehler“ zu überprüfen, bevor sie die Zeitungsredaktionen erreichten.116 Das diplomatische Gatekeeping bezog

112 Čičerins Notizen für Kujbyšev, Juli 1930, in: Vestnik Archiva Prezidenta Rossijskoj Federacii 6 (1995), S. 107. 113 Der Leiter der Auslandsabteilung der ROSTA, Levidov, an Doleckij, 09.10.1924, GARF 391/11/57/14. Ein Redakteur der Auslandsabteilung an Doleckij, 18.10.1924, GARF 391/11/57/15. 114 Der Leiter der Auslandsabteilung, Madjar, an Doleckij, o.D. (1926), GARF 4459/11/80/37. 115 Čičerin an den Stellvertreter des Leiters der ROSTA, Komarovskij, 14.07.1923, GARF 391/1/164/20. 116 Čičerins Notizen für Kujbyšev, Juli 1930, S. 106 f.

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sich sowohl auf einzelne Fakten als auch auf journalistische Interpretationen und Bewertungen. Čičerin verstand sich explizit als politische Deutungsinstanz. War er nicht in Moskau anwesend, dann übernahm der Leiter der Presseabteilung des NKID die Zensurfunktion.117 Das Verhältnis zwischen der TASS und dem NKID war von zahlreichen Konflikten geprägt. Sie resultierten größtenteils aus der Diskrepanz von institutionellen Zielsetzungen, Aufgaben und Publikumsorientierungen. Eine zentrale Funktion der TASS bestand nämlich darin, die Sowjetpresse über die aktuellsten Ereignisse im Ausland zu informieren. Dieser Auftrag zwang zur Anpassung an thematische, semantische und perzeptive Präferenzen der Massenmedien. Die Logik der Sowjetpresse, die vom Erziehungs- und Mobilisierungsauftrag ausging, unterschied sich aber substantiell von der Logik der Sowjetdiplomatie, die sich als Informations- und Beratungsinstanz verstand. Die Entscheidungsprogrammierung der INO-TASS gestaltete sich im Spannungsfeld von „konfligierenden Fremderwartungen“.118 Dies spiegelte sich auch in ambivalenten Strategien der Informationsverarbeitung, die einen Prozess der Ausbalancierung von „passiven“ und „aktiven“ Methoden der Nachrichtenproduktion darstellten (vgl. Kap. 1.5) Es gab drei Hauptkonfliktfelder zwischen der TASS und dem NKID, die immer wieder Kontroversen auslösten und zu Auseinandersetzungen führten. Sie betrafen die Faktizität, die Themenstruktur und die Aktualität der Auslandsberichterstattung. Die Erwartung der Sowjetdiplomaten war eindeutig: Die INO-TASS sollte Fakten sammeln und nicht Meinungen generieren. Čičerin hielt konsequent am Primat des Informationsjournalismus fest und kritisierte jede ideologische Umdeutung und Verfärbung von Nachrichten scharf. Für ihn war die TASS eine Art Transmissionsinstanz, die die Welt weder erklären noch deuten, sondern neutral berichten sollte. Dementsprechend wies er den Redakteuren der INO-TASS die Rolle der passiven Vermittler, der „Übersetzer“, zu. Wie er unmissverständlich formulierte, sei es „die Aufgabe der Übersetzer zu übersetzen und nicht zu gestalten“.119 Eine ähnliche Meinung vertraten Litvinov und seine Mitarbeiter. Auch sie kritisierten „die Verzerrung von Fakten und Texten“ sowie „die eigenwillige Umgestaltung von Telegrammen“120 , die sich aus ihrer Sicht negativ auf die Qualität der diplomatischen Analyse auswirkten. Krestinskij erläuterte diesen Sachverhalt folgendermaßen:

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Der Leiter der Auslandsabteilung der ROSTA, Madjar, an Doleckij, 06.02.1925, GARF 4459/11/7/3. Vgl. Hiller, Organisationswissen, S. 34. Čičerin an Doleckij, 25.11.1924, GARF 391/1/164/60. Krestinskij an Doleckij, Kopie an Stalin, 06.06.1931, GARF 4459/38/40/5.

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Eine falsche Darstellung dieser oder jener Fakten kann diese oder jene Entscheidung der Instanzen oder des NKID hervorrufen, welche für die Sowjetunion ungünstige Konsequenzen nach sich ziehen kann.121

Das zweite Konfliktfeld betraf die Themenstruktur des medialen Auslandsbildes. Es ging um die Prämissen der redaktionellen Aufmerksamkeitspolitik, die mit der Fremdreferenz der journalistischen Kommunikation eng verknüpft waren. Thematische Konflikte manifestierten sich primär in der Frage, worüber und mit welchem Aufmerksamkeitsaufwand die Auslandskorrespondenten zu berichten hatten. Latent ging es aber um die Relevanzstrukturen der Nachrichtenproduktion, um die Frage, wie die Wirklichkeit definiert und strukturiert werden sollte. Es ging, pointiert gesagt, um die kognitive Ordnung der Welt. Čičerin reagierte jedes Mal verärgert, wenn die INO-TASS sich über seine Agenda hinwegsetzte und – aus seiner Sicht – wichtige Ereignisse nicht thematisierte. In seinen Negativreaktionen kam die Befürchtung zum Ausdruck, ungenügend, fragmentarisch informiert zu sein und letztendlich im Entscheidungsprozess von falschen Annahmen auszugehen. Beispielhaft hierfür war seine Reaktion im Sommer 1925, als das TASS-Büro in London der „Mosul-Frage“, die er für „eine der wichtigsten Fragen für die Türkei und für die internationale Politik des heutigen Moments“ hielt, keine Aufmerksamkeit schenkte. Čičerin bezeichnete die Arbeit der Auslandskorrespondenten als „unerträglich und skandalös“ und warf ihnen grollend vor, „keine Ahnung von der Politik zu haben“.122 Auch Litvinov brachte das Nichtbeachten „bedeutender Ereignisse im Ausland“ mit der Gefährdung der außenpolitischen Handlungsfähigkeit in Verbindung. Er behauptete, dadurch weder „diplomatisch“ noch „in der Presse“ reagieren zu können.123 Dabei befanden sich Čičerin und Litvinov in ganz unterschiedlichen Situationen. Die enge Anbindung der INO-TASS an das NKID trug in den 1920er Jahren dazu bei, dass die journalistische Agenda-Bildung sich weitgehend unter Beachtung diplomatischer Interessen und Erwartungen gestaltete. Auch der regelmäßige Austausch zwischen Doleckij und Čičerin begünstigte den thematischen Verständigungsprozess. Dem Volkskommissar fürs Auswärtige blieb jedenfalls in Erinnerung, man habe mit dem TASS-Leiter gut übereinkommen können.124 Es gab aber noch einen Faktor, der sich für die thematische Konsensfindung als entscheidend erwies: nämlich das klare Bekenntnis der TASS zur Objektivitätsnorm

121 Ebd., S. 4. 122 Čičerin an den stellvertretenden Leiter der TASS, Komarovskij, 13.08.1925, GARF 4459/38/6/31. 123 Litvinov an Molotov, Kopien an Stalin, Kaganovič, Andreev, Ždanov, Ežov, 14.02.1937, AVP RF 05/17/126/1/49. 124 Čičerins Notizen für Kujbyšev, Juli 1930, S. 102.

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des Informationsjournalismus, die als Verpflichtung zu einer neutralen, faktenorientierten Berichterstattung verstanden wurde. Aus diesem Grund fiel es der Auslandsredaktion nicht besonders schwer, diplomatischen Perzeptionsmustern und Sinnhorizonten folgen zu können. Im Sommer 1928, als der Gesundheitszustand Čičerins sich deutlich verschlechterte und er sich zur Behandlung nach Deutschland und Frankreich begab, trat das Verhältnis zwischen der TASS und dem NKID in eine neue Phase, die durch die Schwächung der diplomatischen Kontrolle gekennzeichnet war. Die endgültige Zäsur markierte der Auszug der INO-TASS aus dem NKID-Gebäude am 29. September 1929. Er symbolisierte nicht nur eine räumliche, sondern auch eine programmatische Trennung. Bereits im Januar 1930 konnte man in der TASS „die endgültige Loslösung von Ressortinteressen des NKID“ feststellen.125 Die Stärkung der journalistischen Selbstreferenz korrespondierte mit dem grundlegenden Wandel des Publikumsbildes. Die „Bedürfnisse“ der Sowjetpresse rückten zunehmend in den Vordergrund und die INO-TASS setzte sich das Ziel, „die maximale Annäherung an den Massenleser“ zu erreichen.126 Damit reihte sie sich in den massenmedialen Mobilisierungsdiskurs der Stalin-Diktatur ein, der darauf ausgerichtet war, einen permanenten Ausnahmezustand zu erzeugen. Die Nachrichtenproduktion wurde immer mehr zu einer an Konflikten und Krisen orientierten Inszenierungsstrategie (vgl. Kap. 1.5). Die INO-TASS entwickelte im Zeitraum 1929–1931 ein neues Selbstverständnis, in dem die gestalterische Rolle der Redakteure zu einem wichtigen Merkmal der redaktionellen Identität wurde. Der Leiter der INO-TASS, Boris Kocyn, brachte dies wie folgt auf den Punkt: „Vorbei sind die Zeiten, als wir Übersetzer waren!“127 Auch der Umgang mit der Fremdreferenz des journalistischen Thematisierungsprozesses änderte sich grundlegend. Das NKID war nicht mehr die primäre Bezugsinstanz, deren kognitive Horizonte unbedingt beachtet werden sollten. Die INO-TASS verstand sich als unabhängiger Informationsanbieter, der andere Agenden und Frames zwar berücksichtigte, über die Themen der Auslandsberichterstattung jedoch selbstständig entschied. Der Leiter der Auslandsabteilung beschrieb dieses Selbstverständnis so: „Wir vertreten weder den Standpunkt des NKID noch den der Komintern. Wir sind ein Organ der sowjetischen Regierung. Wir haben keine Fremdausrichtung“.128

125 Vgl. die Thesen zum Bericht des Leiters der Auslandsabteilung der TASS, Zaks-Gladnev, 24.01.1930, GARF 4459/11/355/143. 126 Vgl. den Bericht des Leiters der INO-TASS, B. Kocyn, am 25.08.1930, GARF 4459/11/355/6. 127 Der Leiter der INO-TASS, Boris Kocyn, auf der Konferenz der INO-TASS, 18.06.1931, GARF 4459/11/443/64. 128 Die Ansprache des Leiters der Auslandsabteilung, David Ichok, auf der Konferenz der INO-TASS, 11.06.1931, GARF 4459/11/443/35.

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Die Sowjetdiplomaten reagierten auf diese Entwicklung mit Befremden und Ablehnung. Insbesondere der erkrankte Čičerin kam mit den neuartigen Semantiken des ‚Großen Umbruchs‘ nicht klar. Von Wiesbaden aus, wo er sich zur Kur aufhielt, wandte er sich mehrmals an Stalin und machte ihm deutlich, dass „die Wirklichkeit nicht einzig aus Schemata besteht“.129 Čičerin hielt die mediale Wirklichkeit für dermaßen verzerrt, dass er dem Kremlchef sogar vorschlug, „sich zu verkleiden und mit einem guten, nicht tendenziösen Übersetzer für einige Zeit ins Ausland zu reisen“.130 Auch in seinem politischen Testament vom Juli 1930 ging Čičerin auf den kognitiven Wandel in der Auslandsberichterstattung ein: Er sprach vom „unbekannten Druck“ auf die Sowjetpresse und die TASS, der diese zu „Gemeinheiten“ veranlasst habe.131 Eine andere Meinung vertrat man freilich in der TASS. Die Abkoppelung vom NKID wurde „politisch gesehen“ als „positives Ergebnis“ bewertet.132 Man proklamierte das Ende einer „alten Tradition“, in der die INO-TASS in der Rolle „einer Organisationseinheit des NKID“ fungiert und sich „zu drei Vierteln“ an dessen Agenda orientiert habe.133 Als Litvinov im Sommer 1930 die Führung des NKID übernahm, musste er sich damit abfinden, dass sein Apparat die Kontrolle über die INO-TASS weitgehend verloren hatte. Allerdings blieb auch er ein kritischer Beobachter ihrer Auslandsberichterstattung und nutzte jede Gelegenheit, die Distanz der Journalisten zur diplomatischen Agenda zu beanstanden. Besonders missfiel ihm der thematische Eigensinn der TASS, der von Mobilisierungsszenarien der Massenzeitungen inspiriert war und mit der kognitiven Landkarte der Sowjetdiplomaten immer wieder in Konflikt geriet. Die Differenzen in der Weltwahrnehmung waren im Frühjahr 1931 so groß, dass Litvinov der TASS unterstellte, „das NKID und die Sowjetpresse“ bewusst zu „täuschen“ und die diplomatische Führung „im Unwissen über sehr wichtige Ereignisse im Ausland“ zu lassen.134 Wie sehr er aufgebracht war, zeigte seine Bitte an die Parteiführung, entweder der TASS „geeignete Mitarbeiter zur Verfügung zu stellen“ oder „dem NKID zu erlauben, eine eigene Informationsagentur im Ausland zu schaffen“.135 129 Čičerin an Stalin, 20.06.1929, in: A. Kvašonkin (Hrsg.), Sovetskoe rukovodstvo. Perepiska, 1928–1941, Moskau 1993, Dokument Nr. 41. 130 Ebd. 131 Čičerins Notizen für Kujbyšev, Juli 1930, S. 102. 132 Die Thesen zum Bericht des Leiters der Auslandsabteilung der TASS, Zaks-Gladnev, 24.01.1930, GARF 4459/11/355/143. 133 Der Bericht des Leiters der Auslandsabteilung der TASS, Zaks-Gladnev, „Über das Korrespondentennetz der TASS im Ausland“, 08.07.1929, GARF 4459/11/251/194. 134 Litvinov an den Sekretär des CK, Steckij, Kopien an Stalin und Postyšev, 01.04.1931, GARF 4459/38/40/98. Konkret beschwerte sich Litvinov über die Berichterstattung aus Paris. 135 Ebd.

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Im Juni 1931, als die Sowjetdiplomaten die Kommentarpraxis der INO-TASS und ihre „politischen Fehler“ auf die Tagesordnung des Politbüros brachten136 , erreichte die Krise im Verhältnis zwischen dem NKID und der TASS ihren vorläufigen Höhepunkt. Die darauffolgende Selbstverständigungsdebatte in der Auslandsredaktion zeigt, dass es auch selbstkritische Stimmen gab, die das Fehlen des diplomatischen Prüfprogramms und vertikaler Kontrollmechanismen bedauerten. Die Feststellung des Leiters der INO-TASS klang fast wie eine Hommage an alte Zeiten: „Früher haben Litvinov und Rotstein auf unsere Fehler hingewiesen. Jetzt haben sie uns nicht angerufen“.137 Doch die Defensive, in die die TASS geriet, dauerte nicht lange. Doleckij gab zwar zu, dass die Redakteure „die Methoden des Redigierens falsch verstanden“ hätten138 , ließ aber keine Zweifel an der Richtigkeit der journalistischen Weltprogrammierung gelten. Im Mai 1932 richtete er ein kritisches Schreiben an die Parteiführung, in dem die schweren Vorwürfe Litvinovs als „lächerlich“ und „falsch“ bezeichnet wurden.139 Der Leiter der TASS ging auf die Unterschiede in den kognitiven Landkarten beider Institutionen ein und warf den Diplomaten seinerseits vor, wichtige Themen des massenmedialen Auslandsdiskurses, wie „die Arbeiter- und Revolutionsbewegung, die Tätigkeit der Kommunistischen Parteien, Streiks usw.“, systematisch auszublenden. „Die Ansprüche des Genossen Litvinov“ interpretierte Doleckij als Versuch, „die TASS in ein Ressort des Narkomindel zu verwandeln, das sich hauptsächlich an seinen Interessen und Bedürfnissen orientieren sollte“. Doch „die Rückkehr zu einem Zustand, als die Auslandsabteilung der TASS sich im Narkomindel befand und als Instanz Čičerins fungierte“, hielt er „nun“ für nicht mehr möglich.140 Die TASS entwickelte in der Tat ein neues Identitätsverständnis, das wesentlich auf der Abgrenzung zum NKID und seiner Agenda basierte. Doleckij drückte es so aus: Die TASS ist eine zentrale Informationsinstanz der Sowjetunion, die Instanz des ZK der Partei. Sie hat die Aufgabe, unsere Presse und unsere Führungsgremien mit umfassenden, politisch relevanten Informationen zu versorgen. Sie kann nicht als Instanz einer Behörde fungieren und sich um ihre kleinbehördlichen Interessen kümmern.141

136 Vgl. Ken/Rupasov, Politbjuro CK VKP(b), S. 235 f. Mehr dazu in Kapitel 1.5. 137 Die Ansprache des Leiters der INO-TASS, B. Kocyn, auf der Konferenz der INO-TASS, 11.06.1931, GARF 4459/11/443/19. 138 Doleckij an Krestinskij, Kopie an Stalin, 12.06.1931, GARF 4459/38/40/2. 139 Doleckij an Kaganovič, 20.05.1932, GARF 4459/38/50/24R. 140 Ebd. 141 Ebd.

Die TASS und die Sowjetdiplomaten: zwischen Fremd- und Selbstreferenz

Formalisierte Einflussräume, über die die Diplomaten verfügten, wurden immer kleiner. Als Zäsur kann die Auflösung des TASS-Rates im Juni 1934 gelten: Damit war nicht nur eine etablierte Arena für diplomatische Interessenartikulation beseitigt, sondern auch der Kompetenzbereich des TASS-Leiters wesentlich erweitert (vgl. Kap. 1.2). Litvinov war mit dieser Entwicklung sehr unzufrieden. Noch im Februar 1937 sehnte er sich nach der Zeit zurück, als „die TASS faktisch ein Teil des NKID war“ und von „Čičerin persönlich gesteuert wurde“. Explizit bedauerte er dabei auch die Abschaffung des TASS-Rates.142 In dieser Zeit, als die erste Säuberungswelle anzurollen begann und Doleckij sich in einem Machtkampf mit Chavinson befand, fasste Litvinov „ein Projekt der Leitdirektiven“ an die Auslandskorrespondenten ins Auge, das mit Hilfe des Politbüros legitimiert werden sollte. Darin wollte er festlegen, „worüber und wie viel“ die Korrespondenten zu berichteten hatten.143 Dieser Versuch, in die Aufmerksamkeits- und Themenpolitik der TASS direkt einzugreifen, blieb jedoch ohne Erfolg. Die Gründe dafür lagen wohl in der Dynamik des Großen Terrors: Bereits im Sommer 1937 waren die Auslandsapparate der TASS und des NKID so gut wie menschenleer. Litvinovs Möglichkeiten des Einflusses auf die Auslandsberichterstattung der TASS blieben eher indirekt und basierten in den 1930er Jahren vor allem auf der Lenkung der Redaktionslinie der Zeitung „Izvestija“ sowie auf der Mitwirkung am Prozess der Auswahl der Auslandskorrespondenten. Selbstverständlich konnte Litvinov seine Wünsche Doleckij auch persönlich mitteilen, es blieb aber dem TASS-Leiter vorbehalten, inwieweit er ihnen Folge leisten wollte. Die programmatische Distanz zwischen dem NKID und der TASS spiegelte sich gewissermaßen im gestörten Verhältnis zwischen Litvinov und Doleckij, das von gegenseitigen Vorwürfen und Sticheleien geprägt war.144 Die vergiftete Atmosphäre übertrug sich zum Teil auf andere Mitarbeiter des NKID. So notierte Ivan Majskij, der sowjetische Botschafter in London und ein Vertrauter Litvinovs, am 11. Dezember 1934 in seinem Tagebuch Folgendes: Gestern gab es in der Botschaft einen Empfang für Journalisten anlässlich der Durchreise des Genossen Doleckij aus den USA nach Moskau via London. Anwesend waren ca. 100 Gäste. Zum ersten Mal kam Sir Arthur Willert, der Leiter des Pressebüros des FO [Foreign Office], bei der Botschaft vorbei. Im Ganzen lief alles gut […] Doleckij scheint zufrieden gewesen zu sein. Übrigens, wer kennt ihn schon? Er hat hier doch überall erzählt, dass man ihn in den USA besser empfangen habe als Litvinov und R. Macdonald. Er hat

142 Litvinov an Molotov, Kopien an Stalin, Kaganovič, Andreev, Ždanov, Ežov, 14.02.1937, AVP RF 05/17/126/1/49. 143 Ebd. 144 Vgl. Doleckij an Krestinskij, Kopien an Litvinov und Karachan, 28.09.1931, GARF 4459/38/40/48, und Litvinov an Doleckij, 01.10.1931, GARF 4459/38/40/47.

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auch eine ziemlich durchsichtige Anspielung gemacht, dass Litvinov, als er letztes Jahr in Amerika war, „etwas Verwirrung anrichtete“ und dass, wenn man anstatt Litvinov ihn, Doleckij, entsandt hätte, die Sache viel besser gelaufen wäre. Bei einem so hohen Maß an Selbstverliebtheit könnte wohl unser bescheidener Empfang Doleckij als seines Ranges und Status unwürdig erscheinen.145

An der ‚Fehde‘ zwischen Litvinov und Doleckij beteiligten sich aber nicht alle Mitarbeiter des NKID. Der TASS-Leiter hatte zum Beispiel ein kollegiales Verhältnis zu den Stellvertretern Litvinovs, Krestinskij und Stomonjakov, sowie zum Leiter der Ostabteilung des NKID, Kozlovskij146 , mit denen er sich bereits in der Čičerin-Zeit oft austauschte. Das dritte Konfliktfeld betraf die Aktualität der Auslandsberichterstattung. Die Sowjetdiplomaten legten großen Wert darauf, über die neuesten Entwicklungen im Ausland zeitnah informiert zu werden. Um seinen Aktualitätshorizont zu optimieren, scheute sich Čičerin nicht davor, auf Informationsquellen der TASS direkt zuzugreifen. Daran erinnerte er sich so: im Laufe des Tages schaute ich mehrmals bei der INO-TASS vorbei (und wenn es einen Nachtdienst gab, dann auch am Tage und in der Nacht); sofort konnte ich alle Nachrichten erfahren.147

Diese Praxis, Breaking News unmittelbar im Redaktionsraum zur Kenntnis zu nehmen, etablierte sich bereits zu Lenins Zeit.148 Sie verwies sowohl auf die Dringlichkeit der Entscheidungsprozesse als auch auf die zeitlich bedingten Sachzwänge der diplomatischen Zensur. Anders als Čičerin informierte sich Litvinov ausschließlich aus den Auslandsbulletins der TASS. Sein Nachrichtenbild wurde mehrmals täglich aktualisiert: Während seiner Arbeitszeit, bis 17 Uhr, erhielt er zwei Ausgaben der TASS-Nachrichten; danach erreichten ihn die neuesten Meldungen in seiner Privatwohnung, in Spiridonjevskaja 17. Die Zustellungszeit betrug in der Regel ca. 40 Minuten.149 Dennoch zeigte Litvinov sich oft unzufrieden mit der Frequenz der Reaktualisierung seines Nachrichtenbildes. Er stellte die Forderung, „unverzüglich“, „nicht seltener als alle 2–3 Stunden“ informiert zu werden.150 Nur im Rahmen dieses Timings glaubte der Volkskommissar für Auswärtige Angelegenheiten seinen Zensuraufgaben gerecht

145 Majskij, Dnevnik diplomata, S. 43. 146 Der Leiter der Auslandsabteilung der TASS, David Ichok, auf der Konferenz der INO-TASS, 18.06.1931, GARF 4459/11/443/73. 147 Čičerins Notizen für Kujbyšev, Juli 1930, S. 107. 148 Čičerin an Lenin, 05.05.1920, RGASPI 159/2/1/1. 149 Die TASS-Anordnung Nr. 317 vom 21.05.1937, GARF 4459/17/49/200 f. 150 Litvinov an Doleckij, 19.12.1930, GARF 4459/38/35/62.

Die TASS und die Sowjetdiplomaten: zwischen Fremd- und Selbstreferenz

werden und die operative Lenkung der Sowjetbotschafter durch „Antworten und Direktiven“ verwirklichen zu können.151 In die Aktualitätskontroverse wurde sogar Stalin eingeschaltet. Im April 1936 beschwerte sich Litvinov bei ihm darüber, „die TASS-Bulletins viel später als die Mitglieder des Politbüros“ zu erhalten, mit der Konsequenz, seine Anfragen nicht „rechtzeitig“ beantworten zu können. Litvinov wollte Doleckij per Politbürobeschluss dazu „verpflichten, die TASS-Bulletins sowohl für die Presse als auch nicht für die Presse dem Volkskommissar für Auswärtige Angelegenheiten unverzüglich zuzustellen“.152 Als Chavinson im Juni 1937 die Führung der TASS übernommen hatte, änderte sich an der Aktualitätsproblematik nicht viel. Auch ihn musste Litvinov auf „die nicht akkurate und verspätete Zustellung der TASS-Bulletins“ aufmerksam machen. Die Sachzwänge seiner Situation beschrieb er so: Täglich erhalte ich Anrufe von den Zeitungsredaktionen, ebenso von der Presseabteilung des NKID und dem ZK der Partei bezüglich dieser oder jener Auslandsmeldungen der TASS, von denen ich aufgrund der verspäteten Zustellung der Bulletins keine Ahnung habe.153

Litvinov sprach von einem „unerträglichen Zustand“ und beanspruchte für sich, „einer der Ersten zu sein, die die Bulletins bekommen“.154 Dass diplomatische Aktualitätserwartungen oft enttäuscht wurden, lag allerdings nicht nur an kontingenten Faktoren der Nachrichtenproduktion, wie Ressourcenund Koordinationsdefiziten, sondern auch an der bereits angedeuteten Ambivalenz von Fremderwartungen. Denn das redaktionelle Timing war maßgeblich auf die Deadlines und die Aktualitätshorizonte der Massenzeitungen ausgerichtet (vgl. Kap. 3.3). Zusammenfassend kann man festhalten, dass sich das Verhältnis zwischen der TASS und dem NKID im Spannungsfeld von Fremd- und Selbstbestimmung gestaltete und durch die Entwicklungsdynamik des Sowjetsystems geprägt war. Eine wichtige Zäsur stellte das Jahr 1929 dar, als die INO-TASS aus dem NKID auszog und sich programmatisch auf die Mobilisierungsdiskurse der Stalin-Diktatur ausrichtete. Die Stärkung der journalistischen Selbstreferenz korrespondierte mit der Aufwertung interpretativer Gestaltungsprogramme, wodurch auch vorhandene Konflikte zwischen der TASS und dem NKID verschärft wurden. Im gesamten Be-

151 152 153 154

Ebd. Litvinov an Stalin, 26.04.1936, AVP RF 05/16/114/1/114. Litvinov an den Interimsleiter der TASS, Chavinson, 22.06.1937, GARF 4459/38/88/79. Ebd.

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Die TASS, die außenpolitische Elite und ausgewählte Problemkomplexe der Auslandsberichterstattung

trachtungszeitraum kreisten diese Konflikte um die Faktizität, die Themenstruktur und die Aktualität der Auslandsberichterstattung. Generell kann die Wechselbeziehung zwischen der TASS und dem NKID in zwei ‚Epochen‘ eingeteilt werden: in die Čičerin- und die Litvinov-Zeit. In den 1920er Jahren übten die Sowjetdiplomaten einen prägenden Einfluss auf institutionelle und programmatische Grundlagen der sowjetischen Auslandsberichterstattung aus. In den 1930er Jahren emanzipierte sich die INO-TASS weitgehend von der diplomatischen Agenda und Programmkontrolle. Die Entwicklungen seit 1937 deuten aber darauf hin, dass dieses Emanzipationsnarrativ keinesfalls alternativlos ist. 1939 wurde Litvinov durch Molotov abgelöst und der NKID-Apparat unter unmittelbare Kontrolle des Kremls gestellt. Auch die TASS unterlag einem Säuberungsprozess, der ihre Anbindung an die Parteiführung festigte. Als Molotov, Politbüromitglied und Außenminister, im März 1946 die Aufgabe erhielt, die Arbeit der TASS zu „überwachen“155 , waren die Konfliktlinien und Beziehungskonfigurationen der Zwischenkriegszeit längst überholt.

3.3 Die Sowjetzeitungen und die TASS: Konkurrenzen und Aktualitätsproblem Im Fokus des aktuellen Kapitels steht das Verhältnis der TASS zur Sowjetpresse, die vielleicht die wichtigste Referenz- und Rezeptionsinstanz ihrer Auslandsberichterstattung war. Es wird danach gefragt, durch welche Konflikte und gegenseitigen Erwartungen dieses Verhältnis geprägt war, in welchem Maße die TASS die Auslandsberichterstattung der sowjetischen Leitzeitungen „Pravda“ und „Izvestija“ beeinflusste und inwiefern diese in der Lage waren, konkurrierende Nachrichtenbilder zu produzieren. Im Publikumsbild der TASS, das als „die Summe der Beobachter journalistischer Beobachter“156 verstanden wird, nahm die Sowjetpresse eine Sonderstellung ein: Zum einen galten ihre Diskurse, Themen und Semantiken als Orientierungsmaßstäbe; zum anderen agierte sie als Medium für die gesellschaftliche Verbreitung und Rezeption von TASS-Nachrichten und überführte diese in den Haushalt sowjetischer Weltbilder. Die Sowjetpresse bildete einen Kommunikationsraum, der Tausende Zeitungen und Millionen Leser umfasste (vgl. Tab. 25).

155 Vgl. den Beschluss des Ministerrates der Sowjetunion Nr. 674, 28.03.1946, in: Oleg Chlevnjuk (Hrsg.), Politbjuro CK VKP(b) i Sovet Ministrov SSSR. 1945–1953, Moskau 2002, S. 32. 156 Vgl. Weber, Doppelte Differenz, S. 85.

Die Sowjetzeitungen und die TASS: Konkurrenzen und Aktualitätsproblem

Tabelle 25 Die Anzahl der Sowjetzeitungen und ihre Gesamtauflage Jahr

Anzahl der Zeitungen

Gesamte Auflage (in Millionen pro Tag)

1925

1120

8,1

1928

1197

9,4

1932

7536

35,5

1935

9900

35,7

1937

8521

36,2

1940

8806

38,4

1945

6455

23,2

Quelle: A.V. Vvedenskaja (Hrsg.), Pečat’ SSSR za sorok let, 1917–1957. Statističeskie materialy, Moskau 1957, S. 123.

Das Nachrichtenbild der TASS entfaltete seine gesellschaftliche Relevanz und Wirkung jedoch maßgeblich durch die Rezeptionspolitik der Moskauer Leitzeitungen, die Millionen Leser quer durch das Land erreichten: 1931 betrug die Auflage der „Pravda“ 2 Millionen Exemplare und die der „Izvestija“ 1,5 Millionen. Die beiden Zeitungen waren auch die Hauptreferenten der Auslandsberichterstattung der TASS, die die Welt primär vom Moskauer Standpunkt aus beobachtete und kein spezielles Informationsangebot für die Regionalpresse bereitstellte. Dabei war sich die TASS regionaler Differenzen bewusst und wollte auf diese im Rahmen ihrer Programmplanung mit „zusätzlichen Informationen“ reagieren. Die ukrainische Presse sollte zum Beispiel mehr über „das politische und wirtschaftliche Leben sowie die Revolutionsbewegung“ in Polen erfahren, die Zeitungen im mittelasiatischen Raum mehr über Indien, Afghanistan und die Türkei und die Massenmedien in Sibirien mehr über China und Japan.157 In den 1920er Jahren, als die INO-TASS in die Verwaltungs- und Programmstruktur des NKID eingebunden war, blieb ihr Verhältnis zur Moskauer Presse äußerst angespannt. Die Koordinationsdefizite und Agenda-Differenzen waren so groß, dass die „Izvestija“ sich am 9. Januar 1924 dazu entschloss, einen kritischen Artikel zu publizieren, in dem die Schaffung einer „sowjetischen Associated Press“ gefordert wurde.158 Dies brachte jedoch Čičerin auf, der darin einen Angriff auf die informationspolitische Deutungshoheit der Sowjetdiplomaten witterte. Der Volkskommissar für Auswärtige Angelegenheiten legte beim ZK Protest gegen „die Diskreditierung der ROSTA“ ein und warf dabei der „Izvestija“ vor, „den Informationsapparat der zentralen Partei- und Regierungsorgane in irgendein Kooperativ

157 Vgl. Die TASS-Anordnung vom 03.01.1930, GARF 4459/11/372/6. 158 Vgl. Doleckij an Enukidze, Kopien an Stalin und Čičerin, 14.01.1924, GARF 391/11/41/13.

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Die TASS, die außenpolitische Elite und ausgewählte Problemkomplexe der Auslandsberichterstattung

der Journalisten verwandeln“ zu wollen.159 Der Kreml schloss sich vorerst seiner Meinung an und der Status quo blieb bis 1928 erhalten. 1928/1929, während der Forcierung des Industrialisierungsprogramms, vollzog sich gleichwohl ein grundlegender Wandel in der Publikumsausrichtung der TASS, die sich der Kontrolle durch das NKID entzog und sukzessiv auf die Mobilisierungsdiskurse der Sowjetpresse ausrichtete. Die Initialzündung hierfür gab die Parteiführung im August 1928, als sie die Berichterstattung über den Abschluss des Briand-Kellogg-Pakts zum Anlass nahm, die Darstellungsformen und die Neutralität der TASS zu kritisieren. Man beanstandete die Fokussierung auf Details und „Förmlichkeiten“ und vermisste gleichzeitig „die kritische Analyse der Ursachen, Perspektiven und Folgen des Paktes“.160 Angestrebt wurde eine grundlegende Umcodierung der sowjetischen Auslandsberichterstattung, die die Sowjetjournalisten mit dem Codewort „Politisieren von Informationen“ auf einen Nenner brachten.161 Der Kreml setzte einen Prozess in Gang, der die sowjetischen Massenmedien in Mobilisierungsinstrumente verwandelte. Intern wurden auch die Moskauer Leitzeitungen dafür kritisiert, „die sogenannte öffentliche Meinung der kapitalistischen Staaten“ in Sowjetdiskurse zu transferieren; man verlangte von ihnen eine „kritische“ Haltung sowie eine „sorgfältigere Auswahl und Bearbeitung“ von Auslandsinformationen.162 Die TASS verstand ihre programmatische Neuausrichtung als Selbstverpflichtung, „schnell, korrekt und bolschewistisch über alle Fakten und Ereignisse zu informieren“.163 Das Adjektiv „bolschewistisch“ verwies dabei unmissverständlich auf die ideologische Komponente des journalistischen Informationsauftrages. Es ging um die Orientierung an den Sinnhorizonten und dem Vokabular der „Partei“, der „Arbeiterklasse“ und „der gesamten Parteipresse“.164 Aus der Restrukturierung des Publikumsbildes ergaben sich vor allem zwei Implikationen: Zum einen sollte die TASS die thematischen Schwerpunkte der „Pravda“ und der „Izvestija“ besser beachten; zum anderen stand sie unter Druck, ihren eigenen Darstellungsstil, der von der politisch-journalistischen Sprache der Quellen und der Begriffswelt ausländischer Diskurse geprägt war, an den spezifischen 159 Čičerin an Enukidze, Kopien an Stalin und Doleckij, 14.01.1924, GARF 391/11/41/15. 160 Palgunov, Tridcat’ let, S. 6. Bereits im November 1928 hielt Doleckij am Primat des Massenjournalismus fest. Vgl. seine Äußerungen bei der Erörterung des Arbeitsplanes der INO-TASS, November 1928, GARF 4459/11/251/10. 161 Ebd. Mehr dazu in Kapitel 1.5. 162 Der Stellvertreter des Leiters der APPO ZK, Ingulov, an das Sekretariat des ZK, August 1928, RGASPI 17/113/655/106 f.; vgl. auch seinen Entwurf der Direktiven an alle Zeitungsredaktionen (August 1928), in dem die Richtlinien zur Nutzung von TASS-Informationen festgelegt wurden. RGASPI 17/113/655/108 f. 163 Doleckij an Kaganovič, 20.05.1932, GARF 4459/38/50/24R. 164 Ebd.

Die Sowjetzeitungen und die TASS: Konkurrenzen und Aktualitätsproblem

kognitiven Welthorizont des sowjetischen Massenlesers anzupassen. Der stilistische Normenkatalog verlangte „eine klare und allgemein verständliche Darstellung“ bzw. „einen populären Darstellungsstil“, „die Vermeidung von Fremdwörtern und die richtigen Schlagzeilen“.165 Der Prozess der Weltübersetzung, deren Hauptelemente „die stilistische Ausgestaltung und politische Zuspitzungen“166 waren, gestaltete sich jedoch ambivalent. Die Sprache der TASS, von Zitaten geprägt und nüchtern, unterschied sich grundlegend von der Repräsentationstechnik der Massenzeitungen, die sich suggestiver Formeln und Etikettierungen sowie affektiver Rhetorik bedienten. Der TASS-Korrespondent in Paris, Čarnyj, meinte ironisch, dass die Redakteure in der Auslandsredaktion „nur drei Verben akzeptieren – hinweisen, feststellen, unterstreichen“.167 Ähnlich äußerte sich Doleckij, als er das Fehlen von „lebendigen Informationen“ kritisierte und seinen Redakteuren „ein verächtliches, stümperhaftes und nachlässiges Verhalten“ dem sowjetischen Massenleser gegenüber unterstellte.168 Strukturell gesehen ging die Nichtkongruenz von Sprachstilen auf funktionale Unterschiede zwischen der TASS und der Sowjetpresse zurück, die über die Zäsur von 1928/1929 hinaus fortbestanden. Das Selbstverständnis der sowjetischen Nachrichtenagentur war maßgeblich von der Ethik des Informationsjournalismus geprägt. Sie zeigte sich zwar bereit, „die Einschätzung und Meinung der Zeitungsredaktionen“ zur Kenntnis zu nehmen, lehnte es aber entschieden ab, als „Enthüllungsmedium“ zu agieren.169 Darin lag ein entscheidender Unterschied zur programmatischen Ausrichtung der „Pravda“ und der „Izvestija“, den systemrelevanten Instrumenten der Machtkonsolidierung, die durch Produktion und Verbreitung von wirkmächtigen Symbolen, Bildern und Metaphern, mit denen die Sowjetmenschen ihre Welt beschrieben und verstanden, die Landschaft des sowjetischen Imaginären kreierten.170 Als Agenten des gesellschaftlichen Mobilisierungsprogramms standen die „Pravda“ und die „Izvestija“ in einem engen Kontakt mit der Kremlführung, die ihre

165 Vgl. den Bericht des Leiters der Auslandsabteilung der TASS, Menkes, 26.08.1934, GARF 4459/11/638/23. Vgl. auch den Bericht des Leiters der INO-TASS, B. Kocyn, „Über die Arbeit der INO-TASS“, 25.08.1930, GARF 4459/11/355/11. 166 Der Beschluss der INO-TASS „über die Arbeit des TASS-Standortes in London“, 18.12.1933, GARF 4459/11/584/53. 167 Die Ansprache des TASS-Korrespondenten in Paris, Čarnyj, auf der TASS-Konferenz vom 28.08.1934, GARF 4459/11/638/36. 168 Doleckij auf der Konferenz der INO-TASS, 28.08.1934, GARF 4459/11/638/60 ff. 169 Doleckij an Stalin, 17.05.1933, GARF 4459/38/58/21R. 170 Vgl. Thomas C. Wolfe, Governing Soviet Journalism: the Press and the Socialist Person after Stalin, Bloomington 2005, S. 2. Man kann diesen Prozess auch als „innere Sowjetisierung“ bezeichnen. Vgl. Malte Rolf, Das sowjetische Massenfest, Hamburg 2006, S. 37.

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Die TASS, die außenpolitische Elite und ausgewählte Problemkomplexe der Auslandsberichterstattung

Redaktionspolitik überwachte und mitgestaltete. Es war eine permanente Wechselwirkung, ja Verschmelzung von Politik und Journalismus, eine Praxis, die das Wesen des sowjetischen Pressesystems ausmachte und nicht zuletzt mit seiner pädagogischen Funktion verknüpft war. Die Sowjetjournalisten waren „die Technologen des Selbst“171 , die danach strebten, das Denken und Handeln der Sowjetmenschen zu bestimmen. Diese Ideologisierung des Medialen, das in die Logik der Diktatur intregiert war, verlief in der TASS anders, viel subtiler. Die sowjetische Nachrichtenagentur stand zwar unter Kontrolle der Partei, genoss aber in redaktioneller Hinsicht Gestaltungsfreiheit. Der Sonderstatus der TASS zeigte sich auch darin, dass ihr Leiter, zumindest bis 1937, in die Tätigkeit der Regierungsapparate wenig involviert war, obgleich er zur Informationselite der Sowjetunion gehörte. Anders war es aber bei der „Izvestija“ und der „Pravda“, deren Chefredakteure in der Regel Mitglieder des ZK der Partei waren; einige von ihnen, wie die Leiter der „Pravda“, Nikolaj Bucharin (1917–1929) und Lev Mechlis (1931–1937), gehörten sogar zum Stalin-Team, einem kleinen, informellen und außerordentlich machtvollen Kreis der Herrschaftselite, dessen Mitglieder ein besonderes Vertrauen seitens des Sowjetführers genossen. Wie eng die journalistische und die politische Sphäre verflochten waren, kann man gut am Beispiel der Auslandsredaktion der „Izvestija“ beobachten, deren Auslandskorrespondenten zum investigativen Stab des Büros für Internationale Informationen gehörten, das im Zeitraum 1932–1934, unter Führung von Karl Radek, einen maßgeblichen Einfluss auf die außenpolitische Lageeinschätzung Stalins ausübte (vgl. Kap. 1.3). Auch die Redaktionsleitung der „Izvestija“, die traditionell ein vertrauliches Verhältnis zur diplomatischen Führung hatte, galt in dieser Zeit als „kremlnah“: Ivan Gronskij, der Chefredakteur, beriet Stalin in Angelegenheiten des „Fernen Ostens und des nahen Westens“; Stefan Rajevskij, der Leiter der Auslandsabteilung, erledigte als „Reisekorrespondent“ in Europa „die Sonderaufträge“ des Sowjetführers.172 Auch Mitte der 1930er Jahre, nachdem das Büro für Internationale Informationen stark an Einfluss verloren hatte, wurde die Entsendung der Auslandskorrespondenten der „Izvestija“ weiterhin mit Stalin abgestimmt.173 Die kommunikative persönliche Nähe zum Diktator kann auch an der Anzahl der Besuche seines Kabinetts im Kreml abgelesen werden: Im Zeitraum 1932–1933

171 Wolfe, Governing Soviet Journalism, S. 18. 172 Vgl. Ken/Rupasov, Politbjuro ZK VKP(b), S. 52, 393 und 552. Vgl. auch: Chefredakteur der „Izvestija“, Gronskij, an Stalin, 26.04.1932, RGASPI 17/114/297/163, sowie den Beschluss des Sekretariats vom 15.05.1932 über die Auslandskorrespondenten der „Izvestija“, RGASPI 17/114/297/160. 173 Vgl. Bucharin an Stalin, 27.06.1935, RGASPI 671/1/52/27 f.

Die Sowjetzeitungen und die TASS: Konkurrenzen und Aktualitätsproblem

suchte ihn Mechlis 26-mal auf, Gronskij achtmal, Radek 13-mal und Doleckij nur zweimal.174 Die Entwicklungsjahre des Mobilisierungsjournalismus (1928–1933), des medialen Grundgerüstes der Industrialisierungsdiktatur, zeichneten sich nicht nur durch den grundlegenden Wandel im Layout und in der Sprache der Sowjetpresse aus175 , sondern auch durch einen Prozess der Domestizierung der Moskauer Leitzeitungen, die kaderpolitisch und ideologisch unter Kontrolle Stalins gerieten. Besonders konfliktreich gestaltete sich dieser Prozess in der „Pravda“, dem Hauptmedium des Kremls. War es im Dezember 1929 noch möglich, dass die Parteizeitung einem Ratschlag Stalins nicht gefolgt war176 , bestand ein Jahr später kein Zweifel mehr an der Autorität des Sowjetführers, der die Organisationsstruktur der „Pravda“ reformierte und die Redaktionsleitung mit Parteigenossen besetzte, die ihm ergeben waren.177 Das Problem der ideologischen Steuerung der journalistischen Entscheidungsprozesse wurde damit freilich noch nicht gelöst. Die Urlaubskorrespondenz Stalins zeigt, wie sehr er über die Ausrichtung der „Pravda“ besorgt war, die immer wieder ihren Eigensinn demonstrierte und von der Generallinie abwich. Anfang August 1931, kurz nach seiner Abreise aus Moskau, wies der Sowjetführer Kaganovič an, die „Pravda“ zu „überwachen“ und ihr „systematisch zu helfen“.178 Einige Wochen später, am 21. August, beschwerte er sich über die Auslandsberichterstattung der „Pravda“ und wies Kaganovič an, Nikolaj Popov, ein Mitglied des Redaktionskollegiums, „zur Ordnung zu rufen“.179 Stalins Stellvertreter versprach, „Popov einen Rüffel zu geben und die Pravda in Zukunft sorgfältiger zu überwachen“.180 Zwei Tage später, „nach einem langen und gründlichen Gespräch mit Popov“, berichtete Kaganovič ausführlich über die Verwirrungen der Mobilisierungsjournalisten: über „die Grenzüberschreitungen bezüglich sowohl des Selbstlobes als auch des Tones und des Charakters der Berichterstattung“, über „das ununterbrochene Getrommel“ (splošnoj barabannyj boj) sowie über die Defizite „in der Erziehung von Millionen von Menschen“.181 Am 20. September musste Kaganovič Popov wieder „eine große

174 Vgl. A. Černobaev (Hrsg.), Na prieme u Stalina. Tetradi (žurnaly) zapisej lic, prinjatyh I.V. Stalinym (1924–1953). Spravočnik, Moskau 2008. 175 Vgl. Lenoe, Closer to the Masses, S. 11. 176 Vgl. Stalin an Molotov (Dezember 1929), in: Maksimenkov, Bolšaja censura, S. 166. 177 Vgl. den Beschluss des Politbüros vom 12.01.1931 „über die Pravda“, der von Stalin persönlich verfasst wurde. Abgedruckt in: Maksimenkov, Bolšaja censura, S. 143. 178 Stalin an Kaganovič, Anfang August 1931, in: Chlevnjuk (Hrsg.), Stalin i Kaganovič. Perepiska, S. 37. 179 Stalin an Kaganovič, 21.08.1931, in: ebd., S. 57. 180 Kaganivič an Stalin, 22.08.1931, in: ebd., S. 59. 181 Kaganovič an Stalin, 23.08.1931, in: ebd., S. 62.

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Rüge erteilen“, dessen Interpretationen des Kolchossystems in einem Leitartikel der „Pravda“ den Ansichten der Parteiführung offenbar nicht entsprachen.182 Bemerkenswert ist, dass die gleichen Konfliktszenarien sich auch in der Urlaubskorrespondenz des nächsten Jahres finden. Am 5. Juni 1932 erhob Stalin „Einspruch gegen die Publikation in der ‚Pravda‘“ eines Artikels über die Arbeiterunruhen in Ivanovo-Voznesensk, den er für „faktisch unrichtig und politisch schädlich“ hielt.183 Am 7. Juni 1932 kritisierte Stalin die Verteilung des publizistischen Raums in der „Pravda“, die Struktur des Zeitungslayouts. Dabei beschimpfte er die Zeitungsführung als „Bürokraten“, die riskierten, „die Verbindung mit lebendigen Menschen in Werken und Kolchosen komplett zu verlieren“.184 Von Stalin veranlasst, „den Bürokraten in der ‚Pravda‘ Zügel anzulegen“, hatte Kaganovič am 13. Juni „einen heftigen Zank mit Mechlis und Popov“, die sich zur Wehr setzten.185 In diesen Kontext der Domestizierungs- und Unterwerfungspolitik kann man auch den Beschluss des Politbüros vom 8. Mai 1932 einordnen, der von Stalin verfasst und unter dem Vermerk „dringend“ an die Politbüromitglieder verschickt wurde. Darin erhielt Kaganovič den Auftrag, „die Arbeit der Presseabteilung des NKID und der Auslandsredaktionen der Pravda und der Izvestija zu überprüfen“.186 Die oben beschriebenen Konflikte zeigen, dass sich die Rolle der Moskauer Massenzeitungen keinesfalls auf die passive Ausführung von Parteidirektiven und die Verbreitung von offiziösen Dokumenten reduzieren lässt. Im Rahmen von vorgegebenen Richtlinien agierten sie als gestalterische, kreative Agenten des gesellschaftlichen Erziehungs- und Mobilisierungsprozesses. Auch im Bereich der Auslandsberichterstattung verfügten sie über gestalterisches Potential.187 Es stellt sich aber die Frage, wie und in welchem Maße ihre Auslandsberichterstattung kontrolliert und gesteuert wurde. In den Quellen finden sich keine Hinweise auf ein formalisiertes System der Vorzensur. Alles deutet darauf hin, dass die Vorzensur primär als Selbstzensur funktionierte. Bei Unsicherheiten und Zweifeln bestand selbstverständlich die Möglichkeit, die politische und diplomatische Füh-

182 Kaganovič an Stalin, 21.09.1931, in: ebd., S. 113. 183 Stalin an die Mitglieder des Politbüros, 05.06.1932, in: ebd., S. 139. Der Artikel wurde vom Redaktionsmitglied Emeljan Jaroslavskij verfasst, den Stalin daraufhin aus der „Pravda“ verbannte. 184 Stalin an Kaganovič, 07.06.1932, in: ebd., S. 149. 185 Kaganovič an Stalin, 14.06.1932, in: ebd., S. 167. 186 Vgl. den Beschluss des Politbüros vom 08.05.1932, „Über die Auslandsinformation in unserer Presse“, der von Stalin mit dem Vermerk „dringend“ an die Adressaten (Mechlis, Gronskij, Kaganovič) verschickt wurde. RGASPI 17/163/940/5. 187 Vgl. konkrete Beispiele bei Alexander Golubev, „Der bleistiftbewaffnete Wachposten“. Deutschland und die Deutschen in der sowjetischen politischen Karikatur (1922–1939), in: Karl Eimermacher/Astrid Volpert (Hrsg.), Stürmische Aufbrüche und enttäuschte Hoffnungen. Russen und Deutsche in der Zwischenkriegszeit, München 2006, S. 112.

Die Sowjetzeitungen und die TASS: Konkurrenzen und Aktualitätsproblem

rung zu konsultieren.188 Als potentielle Zensurinstanzen, die einen kritischen Blick auf die Publikationspolitik der „Pravda“ und der „Izvestija“ richteten, lassen sich Stalin, die NKID-Führung sowie die Presse- bzw. Propagandaabteilung des ZK identifizieren.189 Anfang der 1930er Jahre war jedoch keine Institution mit der Auslandsberichterstattung der „Pravda“ und der „Izvestija“ so sehr beschäftigt wie der Generalsekretär der Partei, der die Rolle des Oberzensors einnahm.190 Er beobachtete die massenmedialen Diskurse aufmerksam191 und griff in diese – korrigierend und lenkend – ständig ein. In seiner Urlaubskorrespondenz finden sich diesbezüglich aufschlussreiche Beispiele: Am 23. September 1931 wies Stalin Kaganovič und Molotov an, sich in der Presse so zu verhalten, dass nicht die geringsten Zweifel bestünden, dass wir von ganzem Herzen gegen die Intervention sind. Möge die „Pravda“ auf die japanischen Okkupanten schimpfen, was das Zeug hält, auf den Völkerbund als Instrument des Krieges und nicht des Friedens, auf den Kellogg-Briand-Pakt als Instrument zur Rechtfertigung der Okkupation, auf Amerika als Verfechter der Teilung Chinas. Möge die „Pravda“ schreien, was das Zeug hält, dass die imperialistischen Pazifisten Europas, Amerikas und Asiens China aufteilen und versklaven. Die „Izvestija“ soll die gleiche Linie verfolgen, aber in einem gemäßigteren und äußerst vorsichtigen Ton. Der vorsichtige Ton ist für die „Izvestija“ absolut unerlässlich.192

Am 5. Juni 1932 beschwerte sich Stalin darüber, dass unsere Zeitungen einen falschen Ton in Bezug auf die neue deutsche Regierung angeschlagen haben. Sie beschimpfen und schmähen diese. Das ist eine falsche Position, die auf den

188 Diese Konsultationen bezogen sich nicht nur auf die Publikation von Leitartikeln zu außenpolitischen Themen, sondern auch auf einzelne Meldungen der Auslandskorrespondenten. Vgl. Mechlis an Stalin über eine Mitteilung des Korrespondenten der „Pravda“ in London über Göring, 02.03.1933, in: Maksimenkov, Bolšaja cenzura, S. 278 f. 189 Zur Rolle der Presseabteilung des ZK als (Nach-)Zensurinstrument vgl. das Schreiben des stellvertretenden Leiters der Presseabteilung des ZK, Pavel Judin, an Kaganovič, 04.10.1935, in: Maksimenkov, Bolšaja cenzura, S. 399. 190 Vgl. das Kapitel 3.1. Die Rolle Stalins als Oberzensor manifestierte sich vor allem in seinen zahlreichen publizistischen Entscheidungen und in der Korrektur von Leitartikeln zu außenpolitischen Themen. Nicht nur die „Pravda“, sondern auch die „Izvestija“, die über gute Kontakte zur NKIDFührung verfügte, konsultierte den Sowjetführer regelmäßig. Vgl. das Schreiben des Chefredakteurs der „Izvestija“, Bucharin, an Stalin vom 15.09.1936, in dem er um die Korrektur seines Artikels über den Nürnberger Parteitag der NSDAP bat. RGASPI 558/11/710/143. 191 Dies lässt sich auch anhand seiner Urlaubskorrespondenz nachweisen. Vgl. Davies/Ilič/Khlevnyuk, The Politburo, S. 128. 192 Stalin an Kaganovič und Molotov, 23.09.1931, in: Chlevnjuk, Stalin i Kaganovič. Perepiska, S. 116.

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Die TASS, die außenpolitische Elite und ausgewählte Problemkomplexe der Auslandsberichterstattung

Revolutionseifer abgestellt ist, aber in Wirklichkeit denen nützt, die den Bruch zwischen der Sowjetunion und Deutschland anstreben. Diesen Fehler muss man korrigieren.193

Auch sieben Jahre später, als das Stalin-Regime sich in eine Tyrannei verwandelte und keine Dissonanzen in der monologischen Stimme des Sowjetjournalismus mehr zu erkennen waren, griff der Sowjetführer immer wieder lenkend in die Berichterstattung der Massenmedien ein.194 Umso paradoxer war die Selbstwahrnehmung der Kremlführung, die journalistische Bedeutungsproduktion nicht komplett unter Kontrolle zu haben. So rief Stalin im Dezember 1938 die Redaktion der „Pravda“ an und beschwerte sich über ihre mangelnde Anbindung an das ZK.195 Zu gleicher Zeit und im Hinblick auf das gesamte Pressesystem stellte Ždanov, der ‚Propagandachef ‘ der Sowjetunion, lapidar fest, dass „es keine zentralisierte Lenkung gibt“.196 Wie lassen sich diese Beobachtungen erklären? Zum einen resultieren sie aus dem Umstand, dass in der Sowjetunion in der Tat keine formalisierte Praxis von Presseanweisungen existierte. Die Lenkung der Auslandsberichterstattung basierte auf Ad-hoc-Entscheidungen, die das Politbüro bzw. Stalin meistens aus außenpolitischem Kalkül trafen.197 Die Anzahl dieser Entscheidungen ist übersichtlich; sicher ist aber, dass viele Direktiven in mündlicher Form übermittelt wurden und nicht in den schriftlichen Diskurs des Politbüros eindrangen, insbesondere in den 1930er Jahren, als Stalin zum Diktator wurde. Zum anderen entsprangen diese Beobachtungen einer Besonderheit des sowjetischen Journalismus, in dem politische und journalistische Rollen verquickt waren. Artur Just, der Moskauer Korrespondent der „Kölnischen Zeitung“ und ein guter Kenner der Sowjetunion, beschrieb die Sowjetjournalisten als Machtmenschen, deren Selbstverständnis durch Doppelrollen geprägt war. Er sprach vom „permanenten Austausch zwischen Partei und Presse“ und sah keinen „theore-

193 Stalin an Kaganovič, 05.06.1932, in: ebd., S. 140. Am gleichen Tage lud Kaganovič Mechlis, Popov, Gronskij, Doleckij und Steckij ein und gab ihnen entsprechende Anweisungen. 194 Vgl. die Notizen Stalins vom 19.06.1939, die einen guten Einblick darin geben, wie er Diskurse lenkte und wie eng seine publizistischen Strategien mit außenpolitischen Kalkülen verknüpft waren. RGASPI 558/11/28/26. 195 Vgl. die Ansprache des Redakteurs der Auslandsabteilung der „Pravda“, Davidjuk, auf der Redaktionskonferenz der „Pravda“, 27.12.1938, RGASPI 17/120/315/135. 196 Vgl. die Notizen Ždanovs vom Dezember 1938, RGASPI 77/1/871/38. 197 Paradigmatisch: Die Beschlüsse des Politbüros vom 13.07.1925, „Über die Pressehaltung im Zusammenhang mit dem Überfall der Polen auf unsere Grenze“, RGASPI 17/3/511/6 und 13, sowie vom 03.03.1927, „Über die Pravda und die Izvestija“, RGASPI 17/162/4/1. Den Moskauer Zeitungen wurde darin verboten, aus Rücksicht auf England kritisch aus China und Indien zu berichten. Vgl. auch den Beschluss des Politbüros vom 16.07.1932 „über Norwegen“, RGASPI 17/162/13/41, der für die 1930er Jahre insofern typisch ist, als die Initiative in der Regel von Stalin ausging.

Die Sowjetzeitungen und die TASS: Konkurrenzen und Aktualitätsproblem

tischen Unterschied zwischen Beamten und Publizisten, zwischen Minister und Chefredakteur, zwischen außenpolitischem Redakteur und Botschafter“.198 Die Journalisten der Moskauer Leitzeitungen waren Insider, die einen privilegierten Zugang zu den Entscheidungsdiskursen des Kremls hatten. Für Bucharin, den Chefredakteur der „Izvestija“ und ehemaliges Mitglied des ZK, war es selbstverständlich, die Politbürositzungen aufsuchen und Politbüroprotokolle erhalten zu dürfen.199 Diese Praxis schuf die Voraussetzung dafür, dass die Sowjetjournalisten ein hohes Maß an Selbstkoordination zeigten, die vor allem in der breit praktizierten Selbstzensur zum Ausdruck kam.200 Zusammenfassend kann man festhalten, dass die Gestaltung der Auslandsberichterstattung in den Moskauer Leitzeitungen ein rekursiver Prozess war, der auf Direktiven, Antizipationen, Eigeninitiativen, Selbstzensur und Fremdkorrekturen basierte. Der Kreml, dessen institutionelle Ressourcen im Zensurbereich beschränkt waren, setzte auf die journalistische Partizipation. Paradigmatisch hierfür war der Beschluss des Politbüros vom 13. September 1933, in dem die Koordination der Berichterstattung über den „Reichstagsbrandprozess“ geregelt wurde. Man bildete eine „Kommission zur Presselenkung“, die aus dem Leiter der Kultur- und Propagandaabteilung des ZK, Steckij, dem Präsidiumsmitglied der Komintern, Pjatnickij, dem Leiter des NKID, Litvinov, dem Leiter der TASS, Doleckij, sowie den Chefredakteuren der „Pravda“ und der „Izvestija“, Mechlis und Gronskij, bestand.201 In der TASS hatte man keine Zweifel an der Insiderrolle der Moskauer Leitmedien. Doleckij zufolge wusste die „Pravda“ über „die Einstellungen und Direktiven“ Stalins Bescheid.202 Auch der Leiter der INO-TASS, David Ichok, der in den 1920er Jahren an der Spitze der Auslandsabteilung der „Pravda“ gestanden hatte, berichtete seinen Kollegen, dass die Redaktionslinie der Parteizeitung von der „höchsten Instanz“ beeinflusst werde.203 Die Lektüre der außenpolitischen Leitartikel der „Pravda“ und der „Izvestija“ wurde in der TASS als ein Decodierungsprozess verstanden, der wichtige „Hinweise“ und „Indizien“ auf außenpolitische Kalküle des Kremls liefern konnte.204 Diese Beobachtung der Auslandsberichterstattung der Moskauer

198 Artur Just, Die Presse der Sowjetunion. Methoden diktatorischer Massenführung, Berlin 1931, S. 30. 199 Bucharin an Stalin, Februar 1935, RGASPI 558/11/710/4. 200 Zur Selbstzensur als Hauptform der Zensurpraxis im sowjetischen Journalismus vgl. Arkadij Gaev, Cenzura sovetskoj pečati, München 1955, S. 15. 201 Vgl. den Entwurf des Beschlusses des Politbüros „über die Presse im Zusammenhang mit dem Reichstagsbrandprozess“, 13.09.1933, in: Maksimenkov, Bolšaja cenzura, S. 300 f. 202 Vgl. Doleckij an Stalin, 17.05.1933, GARF 4459/38/58/21R. 203 Die Ansprache des Leiters der Auslandsabteilung der TASS, David Ichok, auf der Konferenz der INO-TASS, 11.06.1931, GARF 4459/11/443/34. 204 Ebd., S. 34.

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Die TASS, die außenpolitische Elite und ausgewählte Problemkomplexe der Auslandsberichterstattung

Massenzeitungen war eine wichtige Säule des Koordinationsprozesses, der in den 1920er Jahren maßgeblich von Čičerin gesteuert wurde.205 Anfang der 1930er Jahre musste Koordination aber neu geregelt werden. Vor dem Hintergrund der Mobilisierungsdiskurse bemängelte man in der INO-TASS, „keine direkte Verbindung mit dem Leser“ zu haben, ein Defizit, dessen Ursache in „einem schwachen Kontakt zu den Redaktionen der Moskauer Zeitungen“ gesehen wurde.206 Auch die Auslandskorrespondenten der TASS betrachteten „das Verhältnis zu Konsumenten als ungelöstes Problem“; sie wollten wissen, was „der Konsument“ möchte, und plädierten einmütig dafür, „sich den Zeitungen anzunähern“.207 Die TASS reagierte darauf mit mehreren Koordinationsinitiativen: Im August 1930 fasste man ins Auge, reguläre Besprechungen mit den Zeitungsredaktionen abzuhalten, die zur Abstimmung von Themen und zur Anhörung „kritischer Anmerkungen“ der Provinzpresse dienen sollten208 ; vier Jahre später wurde beschlossen, mit den Leitern der Auslandsabteilungen der Moskauer Zeitungen alle zwei Monate zu konferieren.209 Diese Pläne blieben jedoch unrealisiert, was in der Zeit des Großen Terrors von Chavinson als „einer der übelsten Mängel der TASS“ und als das Ergebnis der Schädlingstätigkeit der alten Führung stilisiert wurde.210 Im April 1938 startete er schließlich einen neuen Versuch: Die einzelnen Redakteure der INO-TASS wurden den 18 Zentralzeitungen zugeordnet, mit der Aufgabe, sich mit ihren Kollegen „nicht seltener als alle zwei Monate“ zu treffen und „thematische Bestellungen“ entgegenzunehmen.211 In den Quellen findet man aber keine Hinweise darauf, dass auch dieses Vorhaben umgesetzt wurde. Es ergibt sich insgesamt das Bild, dass sowohl vertikale als auch horizontale Koordinationsmechanismen defizitär waren. Das Fehlen von institutionalisierten Interaktionsmustern, wie Konferenzen und Besprechungen, bedeutete aber nicht,

205 Vgl. Doleckij an Čičerin, Kopien an die Mitglieder des Kollegiums des NKID, 24.07.1928, GARF 4459/38/3/146. 206 Der Bericht des Leiters der INO-TASS, B. Kocyn, „Über die Arbeit der INO-TASS“, 25.08.1930, GARF 4459/11/355/4. 207 Der TASS-Korrespondent in Schanghai, Pavlov, auf der Konferenz der INO-TASS, 28.08.1934, GARF 4459/11/638/43; der TASS-Korrespondent in Helsinki, Palgunov, auf der Konferenz der INO-TASS, 28.08.1934, GARF 4459/11/638/50. 208 Vgl. den Beschluss der Sitzung der Abteilungsleiter der TASS vom 26.08.1930, GARF 4459/11/372/78, sowie den Bericht des Leiters der INO-TASS, B. Kocyn, „Über die Arbeit der INO-TASS“, 25.08.1930, GARF 4459/11/355/4 f. 209 Der Beschluss des Leiters der TASS, „Über die Arbeit der INO-TASS“, 07.09.1934, GARF 4459/11/634/41. 210 Die Ansprache von Chavinson auf der TASS-Konferenz unter Beteiligung der Vertreter des ZK (VKP)b, des NKID und der Zentralzeitungen, 31.03.1938, GARF 4459/11/979/7. 211 Das Protokoll der Konferenz der INO-TASS vom 09.04.1938, GARF 4459/11/972/96.

Die Sowjetzeitungen und die TASS: Konkurrenzen und Aktualitätsproblem

dass die journalistischen Akteure aufeinander keinen Bezug nahmen und unkoordiniert agierten. Hier bietet das Modell von Stuart Hall einen guten Erklärungsansatz: Produktion, Zirkulation und Rezeption von Nachrichten können als miteinander verbundene Aspekte einer gemeinsamen Praxis von Bedeutungsproduktion verstanden werden.212 Trotz aller Differenzen in der Formatierung und Präsentation von Inhalten verfügten die TASS und die Sowjetpresse über einen ähnlich strukturierten kognitiven Horizont und semantischen Haushalt. Man kann dies als Management bzw. Koordination durch Ideologie bezeichnen.213 Neben geteilten ideologischen Überzeugungen und Perzeptionsschemata spielte auch eine gemeinsame professionelle Ethik eine wichtige Rolle, und zwar sowohl im Sinne impliziter Berufsnormen als auch im Sinne geteilter Berufserfahrungen. Der gemeinsame Sozialisationshorizont erleichterte es, Fremderwartungen zu antizipieren. Nur einige Beispiele: David Ichok leitete von 1921 bis 1929 die Auslandsredaktion der „Pravda“, stand dann fünf Jahre lang an der Spitze der INO-TASS und wechselte 1935 schließlich zur „Izvestija“; bevor Josef Kovalskij im November 1935 auf den Wunsch von Karl Radek zum Leiter der Auslandsredaktion der „Izvestija“ ernannt wurde, war er 14 Jahre lang für die TASS tätig gewesen, als Auslandskorrespondent und Redaktionsleiter; Stefan Raevskii gehörte von 1921 bis 1927 dem Büro für Diplomatische Informationen in Berlin an, berichtete ein Jahr lang für die TASS aus Paris und übernahm 1928 die Leitung der Auslandsabteilung der „Izvestija“; auch der Leiter der Auslandsabteilung der Zeitung „Trud“, A. Leonovič, sammelte zwischen Mai 1931 und Juli 1932 seine journalistischen Erfahrungen in der INO-TASS. Zusammenfassend kann man festhalten, dass der Abstimmungsprozess zwischen der TASS und der Zentralpresse sich weniger als Vorauskoordination – durch Programme und Pläne – gestaltete, sondern vielmehr als Feedbackkoordination.214 Es handelte sich um einen Prozess der Beobachtung publizistischer Entscheidungen der Massenzeitungen. Die INO-TASS registrierte genau, anhand statistischer Methoden, wie und in welchem Umfang ihre Nachrichten abgedruckt wurden. Die ermittelten Rezeptionsquoten dienten als Indikatoren, mit deren Hilfe die Auslandsredaktion die Relevanz und Anschlussfähigkeit ihrer eigenen Selektionsentscheidungen bewertete.215 Aus der in der TASS geführten Rezeptionsstatistik ist ersichtlich, dass die Moskauer Nachrichtenagentur starken Einfluss auf die Auslandsberichterstattung der

212 Hall, Kodieren/Dekodieren, S. 108. 213 Vgl. Kieser/Walgenbach, Organisation, S. 124. 214 Zur Unterscheidung von Voraus- und Feedbackkoordination siehe Kieser/Walgenbach, Organisation, S. 114. 215 Diese Ansicht teilten auch die Auslandskorrespondenten der TASS. Vgl. die TASS-Korrespondentin in Barcelona, Mirova, an Doleckij, 18.11.1936, GARF 4459/38/79/165.

205

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Die TASS, die außenpolitische Elite und ausgewählte Problemkomplexe der Auslandsberichterstattung

Moskauer Presse ausübte. Die durchschnittlichen Abdruckquoten, bezogen auf die nichtgeheimen Bulletins der TASS, lagen stets über 50%: 1930 75%, 1933 51%, 1934 57% und 1935 60%.216 Diese Abdruckquoten geben jedoch keine Auskunft darüber, welchen tatsächlichen Beitrag die TASS zum medialen Auslandsbild der Massenzeitungen leistete. Die Stichproben bei der „Pravda“ zeigen, dass dieser Beitrag signifikant war und die TASS den aktuellen, ereignisbezogenen Welthorizont des sowjetischen Massenlesers wesentlich prägte (vgl. Tab. 26). Tabelle 26 Auslandsnachrichten in der „Pravda“, erste Oktoberwoche 1926/1929/1932/1935/1938

Alle Auslandsnachrichten und -berichte Die TASS als Quelle

1926

1929

1932

1935

1938

221

130

154

171

202

186 (84%)

100 (77%)

104 (67%)

117 (68%)

184 (91%)

Quelle: Die „Pravda“ Nr. 226–232 (1.–8. Oktober 1926), Nr. 226–232 (1.–8. Oktober 1929), Nr. 272–278 (1.–7. Oktober 1932), Nr. 271–277 (1.–7. Oktober 1935), Nr. 271–277 (1.–7. Oktober 1938).

Die Moskauer Zeitungen selbst betrachteten das Nachrichtenangebot der TASS als eine Art Fakten-Reservoir, das hauptsächlich zu Recherchen und zur „Orientierung“ diente.217 Die Aneignung von TASS-Nachrichten gestaltete sich als ein hoch selektives, schöpferisches Auswahlverfahren, dem eigene redaktionelle Prämissen und Perzeptionsschemata zugrunde lagen. Dieses gestalterische Potential der Massenzeitungen äußerte sich auch in der Möglichkeit, Nachrichten zu redigieren, sie zum Beispiel zu kürzen, zu ergänzen oder neu zu kombinieren. Die „Pravda“ und die „Izvestija“ verstanden sich explizit als Weltinterpreten, die als kremlnahe Medien ihren Anspruch auf die Deutungshoheit nie aus den Augen verloren. Dem Leiter der Auslandsabteilung der „Pravda“, Eruchimovič, zufolge sollte die TASS „hauptsächlich Fakten“ liefern und sich nicht „die Aufgabe des Kommentierens“ anmaßen. Die Welterklärungen der sowjetischen Nachrichtenagentur tat er als „Verdünnung“ und „Geschwätz“ ab.218

216 Vgl. den Bericht des Leiters der INO-TASS, B. Kocyn, vom 25.08.1930, GARF 4459/11/355/4; vgl. den Bericht des Leiters der Auslandsabteilung der TASS, Menkes, 28.08.1934, GARF 4459/11/638/30; vgl. den Bericht der INO-TASS vom 26.08.1934, GARF 4459/11/638/99, sowie die Vergleichsliste der Abdruckquoten, GARF 4459/11/638/106. 217 Vgl. die Ausführungen des TASS-Korrespondenten in Wien, Boris Volin, der einst zum Redaktionskader der „Pravda“, der „Izvestija“ und der „Rabočaja Moskva“ gehörte: Volin an den Interimsleiter der TASS, Jablonskij, 06.08.1927, GARF 4459/38/16/25. 218 Die Ansprache des Leiters der Auslandsabteilung der „Pravda“, Eruchimovič, auf der TASSKonferenz unter Beteiligung der Vertreter der Zentralzeitungen, der Presseabteilung des ZK und des NKID, 02.04.1938, GARF 4459/11/979/101 und 126.

Die Sowjetzeitungen und die TASS: Konkurrenzen und Aktualitätsproblem

Die Sonderstellung der „Izvestija“ und der „Pravda“ im System der sowjetischen Auslandsberichterstattung ging aber nicht nur auf ihre Kremlnähe zurück, sondern – und wesentlich – auf ihr Privileg, eigene Korrespondenten ins Ausland entsenden zu dürfen. Daraus resultierte eine gewisse Unabhängigkeit vom Informationsangebot der TASS, das kreative Potential, die Themen und Schwerpunkte der journalistischen Weltbeobachtung eigenständig setzen zu können. Die sowjetische Nachrichtenagentur betrachtete die Moskauer Leitzeitungen in der Tat als „gefährliche Konkurrenten“219 , selbst die Metapher von „zwei feindlichen Lagern“220 war im Spiel. Verschärft wurde die Konkurrenz-Konstellation aber auch durch das selbstbewusste Agieren der TASS, die sich keineswegs dazu „verpflichtet“ sah, sämtliche „Wünsche“ der Leitzeitungen zu erfüllen und ihre Auslandsberichterstattung zu „kopieren“.221 In der TASS behielt man stets eine kritische Distanz zum Auslandsdiskurs der Sowjetpresse. Die reflexive, mit dem Korrekturanspruch verknüpfte Haltung seiner Nachrichtenagentur beschrieb Doleckij so: Wir sollen den Zeitungen zuhören und ihre Interessen berücksichtigen, wenn sie Recht haben; falls das nicht zutrifft, sollen wir uns darum bemühen, sie auf den richtigen Weg zu bringen.222

Intern, ohne dass es nach außen transportiert wurde, hatte er nicht einmal Bedenken, der renommierten „Izvestija“ „eine fragwürdige Qualität“223 und „politische Fehler“ zu attestieren.224 Auch dem Politbüro ließ er immer wieder entsprechende Hinweise zukommen.225 Das Konkurrenzdenken erstreckte sich auch auf die Arbeit der Auslandskorrespondenten. Die TASS-Journalisten wurden angewiesen, „aufmerksam zu registrieren“, worüber „die Konkurrenz“ berichtete.226 Diese Vergleiche sollen jedoch nicht als Profilierungsstrategien verstanden werden, sondern als wichtige Instrumente des Koordinations- und Qualitätsmanagements. Denn der Berichterstattung der

219 Vgl. die Ansprache des Redakteurs der INO-TASS, Jakobson, auf der Konferenz der INO-TASS, 28.08.1934, GARF 4459/11/638/41. 220 Der Stellvertreter des Leiters der INO-TASS, Kocyn, auf der Konferenz der INO-TASS, 28.08.1934, GARF 4459/11/638/52. 221 Ebd.; vgl. auch die Ansprache von Doleckij auf der Konferenz der INO-TASS, 28.08.1934, GARF 4459/11/638/65. 222 Doleckij auf der Konferenz der INO-TASS, 28.08.1934, GARF 4459/11/638/63 f. 223 Doleckij an den TASS-Korrespondenten in Rom, Čarnyj, 27.06.1935, GARf 4459/38/73/112. 224 Doleckij auf der Konferenz der INO-TASS, 28.08.1934, GARF 4459/11/638/l. 63 f. 225 Ebd., S. 63. 226 Vgl. Doleckij an den TASS-Korrespondenten in Wien, Ebel, 12.10.1928, GARF 4459/38/22/47.

207

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Die TASS, die außenpolitische Elite und ausgewählte Problemkomplexe der Auslandsberichterstattung

Zeitungskorrespondenten kam grundsätzlich eine Vorbild- und Orientierungsfunktion zu, und zwar sowohl in thematischer als auch in stilistischer Hinsicht.227 Obwohl die TASS ihre Korrespondenten dazu ermunterte, mit den Vertreten der „Pravda“ und der „Izvestija“ zu kooperieren228 , gestaltete sich das journalistische Verhältnis nicht immer kollegial. Selbst im fernen Schanghai, wo die Bedingungen für die Informationssammlung als ungünstig galten, scheiterte die Zusammenarbeit an institutioneller Konkurrenz. Wie der TASS-Korrespondent Pavlov berichtete, beschränkte sich sein Kollege von der „Pravda“, Gartman, auf eine „trockene, offiziöse Beziehung“ zu ihm und hatte „Angst, etwas zu erzählen oder mitzuteilen“.229 Dabei wünschte sich Pavlov, wie wohl die meisten TASS-Korrespondenten, einen anderen Umgangsstil, ein Verhältnis, in dem „die Arbeitsteilung, der gegenseitige Respekt, die Unterstützung und die Zusammenarbeit“ einen festen Platz hätten.230 Richtet man den Blick auf strukturelle Rahmenbedingungen des journalistischen Kommunikationsprozesses, dann fallen zwei Faktoren ins Auge, die das Konkurrenzdenken abschwächten und die grundsätzliche Disposition zur Zusammenarbeit begründeten. Zum einen ging es um das unterschiedliche Rollenverständnis der Auslandskorrespondenten: Während die Auslandsjournalisten der TASS sich als Informationsanbieter verstanden und mit Kommentaren und Bewertungen sparsam umgingen, agierten ihre Zeitungskollegen als politische Berichterstatter, die sich am Rollenbild des kritischen Beobachters orientierten. Ein anschauliches Beispiel für dieses Selbstverständnis findet man in den Ausführungen des Korrespondenten der „Pravda“ in Berlin, Gofman, der dem Referatsleiter der Presseabteilung im Auswärtigen Amt, von Saucken, gegenüber auf seinem „Recht“ insistierte, „so zu interpretieren“, wie er es für „richtig“ hielt; es ging dem sowjetischen Journalisten sowohl um das „Recht auf Kritik“ als auch um die eigenständige „Themenauswahl“.231 Zum anderen wurden journalistische Gestaltungsräume und Erwartungshaltungen durch die asymmetrische Ressourcenverteilung konditioniert, die sich aus der Monopolstellung der TASS ergab. In den 1930er Jahren nahm diese strukturelle Asymmetrie infolge der Isolationsneigung des Sowjetregimes noch mehr zu. Die 227 Der Leiter der Auslandsabteilung der TASS, Berezov, schwärmte zum Beispiel von „brillanten Reportagen“ der Zeitungskorrespondenten. Vgl. seine Ansprache auf der TASS-Konferenz, 21.03.1937, GARF 4459/11/865/38. 228 Das Rundschreiben an die Abteilungsleiter und Auslandskorrespondenten der TASS im Ausland, 29.05.1932, GARF 4459/38/9/60. 229 Der TASS-Korrespondent in Schanghai, Pavlov, auf der Konferenz der INO-TASS, 28.08.1934, GARF 4459/11/638/43 f. 230 Ebd. 231 Vgl. seine Aufzeichnung der Unterredung mit dem Referatsleiter der Presseabteilung im Auswärtigen Amt, von Saucken, 16.03,1934, in: Slutsch/Tischler, Deutschland und die Sowjetunion 1933–1941, S. 1073 f.

Die Sowjetzeitungen und die TASS: Konkurrenzen und Aktualitätsproblem

Abbildung 8 Die Themenstruktur der Leitartikel der „Pravda“, 1924–1939 Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Brooks, Thank You, Comrade Stalin!, S.150.

Zäsur markierte die Zeit des ‚Großen Umbruchs‘, als das Ausland als journalistischer Sinnbereich kontinuierlich zu schrumpfen begann – eine Entwicklung, deren Dynamik Jeffrey Brooks anhand der Auswertung der Themenschwerpunkte der Leitartikel der „Pravda“ aufzeigte (vgl. Abb. 8). Die tiefgreifende Diskurstransformation der sowjetischen Auslandsberichterstattung korrespondierte mit dem Abbau der journalistischen Präsenz im Ausland. Bereits im Mai 1930 bildete das Sekretariat der Partei eine Kommission, die sich aus dem Stellvertreter des Leiters der Abteilung für Agitation und Propaganda, Gusev, dem Leiter der Geheimabteilung des ZK, Poskrebyšev, sowie Doleckij zusammensetzte. Ihre Aufgabe bestand darin, Vorschläge zur Reduzierung der Anzahl der Zeitungsvertreter im Ausland auszuarbeiten.232 Einen Monat später billigte die Parteiführung den vorgelegten Reorganisationsentwurf, dem zufolge die „Pravda“ ihre Auslandskorrespondenten nur in Deutschland (Berlin), Frankreich (Paris), England (London) und den USA behalten sollte. Die Standorte der „Izvestija“ waren auf Deutschland, Frankreich, England und Polen beschränkt. Der Hinweis der Kommission darauf, dass die Korrespondenten der „Pravda“ und der „Izvestija“ die Auslandsberichterstattung der TASS „berücksichtigen“ und „nicht wiederholen“ sollten233 , trug vermutlich die Handschrift von Doleckij. Insgesamt stärkte der Beschluss die Monopolstellung der TASS, die von den Abschottungsmaßnahmen des Kremls profitieren konnte. Vieles spricht dafür, dass Stalins Aufmerksamkeit

232 Vgl. den Beschluss des Sekretariats des ZK vom 28.05.1930 „über den TASS-Korrespondenten in Wien“, RGASPI 17/113/857/163. 233 Der Beschluss des Sekretariats, „Über die Reduzierung der Anzahl der eigenen Zeitungskorrespondenten im Ausland“, 21.06.1930, RGASPI 17/113/862/4. Während der Sitzung äußerten sich Doleckij und der Leiter der Geheimabteilung, Poskrebyšev, gegen die Entsendung des „Pravda“-Korrespondenten nach Amerika. Ihre Sondermeinung wurde im Original des Beschlusses festgehalten. Ebd., 99.

209

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Die TASS, die außenpolitische Elite und ausgewählte Problemkomplexe der Auslandsberichterstattung

in dieser Zeit primär dem forcierten Industrialisierungsprojekt und der mit ihm verbundenen Mobilisierung der Sowjetbevölkerung galt. Die Bereitschaft des Sowjetführers, in die Auslandsberichterstattung der Massenzeitungen zu investieren, war dementsprechend begrenzt. Selbst nach dem Einfall Japans in die Mandschurei, im November 1931, ging Stalin nicht auf den Vorschlag des Chefredakteurs der „Pravda“, Mechlis, ein, einen Berichterstatter nach China zu entsenden. Stalin zufolge sollten „die Korrespondenten lieber nach Wolga, Kasachstan, Westsibirien und Fernost“ reisen.234 Einen vorübergehenden Kurswechsel markierten die Jahre 1932/1933, als Stalin mit der Gründung des Büros für Internationale Informationen auf die journalistische Expertise zurückgriff. Am meisten profitierte davon die „Izvestija“, deren Auslandsredaktion in engem Kontakt mit der diplomatischen Führung stand und über die meisten Auslandsjournalisten verfügte. Auch die „Pravda“ durfte ihre Korrespondenten nach Tokio und Schanghai entsenden.235 Das journalistische Beobachtungspotential der 1920er Jahre konnte jedoch nicht mehr erreicht werden, wie die Tabelle 27 am Beispiel der Zeitung „Izvestija“ zeigt.236 Tabelle 27 Die Anzahl der regulären Auslandskorrespondenten der „Izvestija“, 1929–1936 1929

1930

1933

1936

8

4

6

5/4

Quelle: RGASPI 17/112-116 und GARF 1244.

Stellt man die Frage nach dem geographischen Fokus der Auslandsberichterstattung der Moskauer Presse, dann sind zwei Bemerkungen notwendig: Erstens, das mediale Weltbild der „Pravda“ und der „Izvestija“, geprägt durch die Berichte ihrer Büros in Berlin, London und Paris, war eindeutig europazentriert.237 Zweitens, die Investitionsreduzierung und der Ressourcenabbau der 1930er Jahre schränkten ihren Welthorizont noch mehr ein. Wollten die sowjetischen Leitzeitungen in ihrer Agenda über die Grenzen der europäischen Politik hinausgehen, dann waren sie auf das Nachrichtenangebot der TASS zwingend angewiesen. Mit dem Beginn des Großen Terrors, in dessen Moloch fast alle sowjetischen Auslandsjournalisten

234 Vgl. Mechlis an Stalin, 10.11.1931, und die Anmerkung Stalins, RGASPI 558/11/773/54. 235 Der Beschluss des Politbüros vom 28.10.1933, „Über den Korrespondentenstandort der ‚Pravda‘ im Fernen Osten“, RGASPI 17/162/15/120. 236 Im August 1936, am Vorabend des Großen Terrors, verfügte die „Izvestija“ über sieben Mitarbeiter in der Auslandsredaktion und fünf Auslandsjournalisten – in Berlin, London, Paris, Washington und Ilja Ehrenburg als „Reisekorrespondenten“. Vgl. das Mitglied des Kollegiums der „Izvestija“, Karl Radek, an Ežov, Steckij, Mechlis, Kopie an Stalin, 14.08.1936, RGASPI 671/1/49/45 f. 237 Vgl. Brooks, Thank You, Comrade Stalin!, S. 33 und S. 258.

Die Sowjetzeitungen und die TASS: Konkurrenzen und Aktualitätsproblem

gerieten238 , erstreckte sich diese Abhängigkeit auch auf das gesamte europäische Ausland. Die Rückkehr in die Weltpolitik, markiert durch den Nichtangriffspakt mit dem Deutschen Reich, zwang das Stalin-Regime zum Wiederaufbau der sowjetischen Auslandsberichterstattung. Nichts änderte sich aber an der asymmetrischen Ressourcenverteilung. Eine Kostenaufstellung vom September 1939, in der die Sowjetregierung und das Politbüro die Wörterquoten und Ausgaben für telegraphische Informationen der Auslandsjournalisten festlegten, zeigt, dass die TASS nach wie vor die wichtigste Informationsquelle über Ereignisse in der Welt war (vgl. Tab. 28).239 Tabelle 28 Anteile von TASS, „Pravda“ und „Izvestija“ an der telegraphischen Informationsübermittlung (Wörter pro Monat), Stand September 1939 TASS

„Pravda“

„Izvestija“

73.000

6000

21.000

73%

6%

21%

Quelle: RGASPI 17/3/1013/62.

Die festgelegten Quoten sind jedoch nicht als Spiegelbild realer Verhältnisse zu verstehen, sondern als normative Planziffern, die auf dem Valutaverteilungsschlüssel basierten. Tatsächlich war die Dominanz der TASS noch größer. Wie aus den Personalplänen für das Jahr 1940 hervorgeht, standen den Auslandsabteilungen der „Pravda“ und der „Izvestija“ mit „3–4 Redakteuren“ über 80 Mitarbeiter der INO-TASS gegenüber.240 Die prekäre personelle Situation wirkte sich auch negativ auf die Interpretationsleistung der Zeitungsredaktionen aus, die sich nach 1937 meistens darauf beschränkten, die TASS-Nachrichten „buchstabengetreu“ abzudrucken.241 Bis jetzt wurden mehrere Faktoren identifiziert, die gegenseitige Einflussräume strukturierten: Aus der Nähe der Moskauer Zeitungen zum Kreml ergab sich ihre Leitrolle im Prozess der journalistischen Weltinterpretation und Themensetzung; die TASS verfügte über das größte Korrespondentennetzwerk, dessen Nachrichtenbilder die kognitive Weltkarte der Zeitungsredakteure, ihr Faktenwis-

238 Außer Ilja Ehrenburg scheint kein einziger Zeitungskorrespondent die Säuberungszeit von 1936–1938 überlebt zu haben. 239 Vgl. den Beschluss des Politbüros vom 01.09.1939 „über Aufwendungen für Telegramme der Auslandskorrespondenten der TASS, ‚Pravda‘ und ‚Izvestija‘“, RGASPI 17/3/1013/62. 240 Chavinson an die Sekretäre des ZK, Ždanov und Malenkov, 28.06.1940, GARF 5446/24a/3214/5. 241 Chavinson an den Stellvertreter des Volkskommissars fürs Auswärtige, Vyšinskij, 17.05.1940, GARF 5446/24a/3196/2.

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Die TASS, die außenpolitische Elite und ausgewählte Problemkomplexe der Auslandsberichterstattung

sen, prägten. Es gab jedoch noch eine Dimension der Auslandsberichterstattung, die für journalistische Erwartungshaltungen und Sachzwänge von großer Bedeutung war, nämlich die Dimension der Aktualitätsherstellung; es ging um eine tägliche, stündliche Reaktualisierung des gegenwärtigen Ereignishorizontes. Das redaktionelle Ziel der INO-TASS bestand darin, die Zeitspanne zwischen Geschehen und Veröffentlichung so klein wie möglich zu halten.242 Auch die Arbeitsabläufe der Auslandskorrespondenten wurden vom Aktualitätscode dirigiert.243 Die Aktualitätsproblematik war ein Teil des Konkurrenzdiskurses244 und die INO-TASS beschäftigte sich fortwährend mit der Frage, wie die Nachrichtenproduktion optimiert und beschleunigt werden konnte. In die Aktualitätsdebatte griffen auch die Auslandskorrespondenten ein, die den Handlungsbedarf bei der Zentralredaktion sahen: Kritisiert wurden das redaktionelle Timing, langwierige Prüfprogramme und technische Modernisierungsdefizite.245 Die Aktualitätsvorstellungen der INO-TASS waren keinesfalls diffus, man ging von einem konkreten Zeithorizont aus, dessen Eckpfeiler die redaktionellen Deadlines der „Pravda“ und der „Izvestija“ waren. Die Herstellung von Aktualität gestaltete sich in diesem Sinne als ein Koordinationsprozess, an dem sich die Auslandskorrespondenten der TASS, die INO-TASS und die Zeitungsredaktionen beteiligten. Der TASS-Korrespondent in Wien, Volkenstejn, sprach zum Beispiel von „den drei Gipfeln eines eigenartigen Dreiecks“.246 Damit deutete er drei miteinander verknüpfte Handlungsebenen von Aktualitätsherstellung an, nämlich die Ebenen von Selektion, Vermittlung und Rezeption von Nachrichten. Denn Aktualität als Relationsgröße verweist nicht nur auf einen zeitlichen Aspekt des Sich-Informierens,

242 Zur Aktualität als operativer Code des Nachrichtenjournalismus vgl. Hannes Haas, Aktualität, in: Weischenberg (Hrsg.), Handbuch Journalismus und Medien, S. 18 f. Vgl. auch Blöbaum, Journalismus als soziales System, S. 263. 243 Doleckij an den TASS-Korrespondenten in Wien, Boris Volin, 17.11.1926, GARF 4459/38/11/6; der Leiter der Auslandsabteilung der TASS, Madjar, an Doleckij über die Arbeit der TASS-Büros in Berlin, London und Paris, 24.03.1926, GARF 4459/11/88/61; vgl. auch die Diskussion über die verspätete Übermittlung einer Ansprache Hitlers vom 07.03.1936: das Konferenzprotokoll beim verantwortlichen Leiter vom 08.03.1936, GARF 4459/11/703/51. 244 Die Thesen zum Bericht des Leiters der Auslandsabteilung, Zaks-Gladnev, 24.01.1930, GARF 4459/11/355/145. Vgl. auch den Bericht von David Ichok: „Einige Überlegungen über die Arbeit der INO-TASS“, 02.12.1933, GARF 4459/11/579/2. 245 Die Ansprache des TASS-Korrespondenten in Warschau, Kovalskij, auf der Konferenz der INOTASS, GARF 4459/11/638/38; die Ansprache des TASS-Korrespondenten in Prag, Sitkovskij, auf der Konferenz der INO-TASS, 28.08.1934, GARF 4459/11/638/40; der Leiter des TASS-Büros in Berlin, Sitkovskij, an Doleckij, 24.04.1936, GARF 4459/38/79/72; die Ansprache des Auslandskorrespondenten der TASS in Paris, Čarnyj, auf der Konferenz der INO-TASS, 28.08.1934, GARF 4459/11/638/37. 246 Der TASS-Korrespondent in Wien, Volkenstejn, an Doleckij, 17.12.1929, GARF 4459/38/22/95 f.

Die Sowjetzeitungen und die TASS: Konkurrenzen und Aktualitätsproblem

sondern auch auf einen kommunikativen Zusammenhang von Bedeutungsproduktion, in dem solche Kriterien wie Relevanz, Interesse und Aneignung bzw. Publikation von Nachrichten eine wichtige Rolle spielen.247 Das Timing der Informationsverarbeitung in der INO-TASS war auf die Deadlines der Moskauer Massenzeitungen ausgerichtet (vgl. Tab. 29). Sie wurden explizit als publizistische Selektionsschranken angesehen.248 Tabelle 29 Die Deadlines für die Herausgabe der Auslandsnachrichten der INO-TASS (Uhrzeiten) Jahr

„Tagesnachrichten“

„Spätnachrichten“

1931

20:00

22:00

1932

18:30

19:30

1934

19:00

23:00

1936

18:30

22:00

1937

18:00

21:30

1940

20:00

23:30

Quelle: GARF 4459/11.

Der Zeitraum von 16:30 bis 19:30 Uhr galt als „heiße Stunden“249 : In ihm generierte die INO-TASS die meisten Meldungen, über 60%, die das Auslandsbild der Moskauer Zeitungen am nächsten Tag prägten. Ergänzt und aktualisiert wurde dieses Nachrichtenbild durch „Spätnachrichten“, deren Umfang sich auf ein Drittel der „Tagesnachrichten“ belief.250 Alle Auslandsmeldungen, die die INO-TASS im Zeitraum von 21 bis 24 Uhr sowie von 8 bis 10 Uhr bearbeitete, wurden den Zeitungen als „Morgennachrichten“ präsentiert. Quantitativ machten sie die Hälfte der „Tagesnachrichten“ aus.251 Abschließend ist auf das informelle Verhältnis zwischen den Redakteuren der INO-TASS und den Zeitungsjournalisten einzugehen. In den Quellen findet man Hinweise darauf, dass im sowjetischen Pressesystem ein gewisser Schwarzmarkt

247 Vgl. Klaus Beck, Aktualität, in: Günter Bentele (Hrsg.), Lexikon Kommunikations- und Medienwissenschaft, Wiesbaden 2006, S. 11–13. 248 Vgl. den Beschluss der Konferenz der TASS mit den Zeitungsredaktionen vom 04.04.1931, in dem die Deadlines der Informationsübermittlung festgelegt wurden, GARF 4459/11/376/49 f. Vgl. auch die Ansprache des Leiters der Auslandsabteilung der TASS, Berezov, auf der TASS-Konferenz, 21.03.1937, GARF 4459/11/865/38. 249 Der Leiter der INO-TASS, David Ichok: „Einige Überlegungen über die Arbeit der INO-TASS“, 02.12.1933, GARF 4459/11/579/2. Vgl. die TASS-Anordnung Nr. 4 vom 04.07.1938, GARF 4459/17/67/10. 250 Vgl. die TASS-Anordnung Nr. 158 vom 07.04.1931, GARF 4459/17/15/193. 251 Vgl. die TASS-Anordnung Nr. 188 vom 07.04.1936, GARF 4459/17/42/58, und die TASSAnordnung Nr. 639 vom 27.08.1937, GARF 4459/17/51/161.

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Die TASS, die außenpolitische Elite und ausgewählte Problemkomplexe der Auslandsberichterstattung

von Nachrichten existierte, der als Ergebnis restriktiver Informationspolitik und ungleicher Informationschancen anzusehen ist. Einige Redakteure der INO-TASS nutzten ihren Wissens- und Aktualitätsvorsprung und verkauften Nachrichten an ihre Zeitungskollegen. Wie verbreitet diese Praxis war, ist unklar; die aufgedeckten Fälle können aber als die Spitze des Eisbergs angesehen werden. Die TASS reagierte auf die Verletzung redaktioneller Normen jedes Mal mit drastischen Sanktionen: Im Juni 1933 wurde der Redakteur Šapir mit sofortiger Wirkung entlassen, weil er Auslandsmeldungen an die Zeitung „Večernjaja Moskva“ „systematisch“ weitergeleitet hatte252 ; im September 1933 erhielt der leitende Redakteur der INO-TASS, Jakobson, eine Rüge, weil er der Zeitung „Pravda“ eine Nachricht „privat“ (v častnom porjadke) übergeben hatte253 ; im Dezember 1936 wurde der Redakteur Erenberg suspendiert, weil er Nachrichten aus New York an die englischsprachige Zeitung „Moscow Daily News“ verkauft hatte.254 Fasst man die Ergebnisse des Kapitels zusammen, dann sind vor allem drei Aspekte hervorzuheben: 1. Die TASS übte einen prägenden Einfluss auf die Nachrichtenbilder der Moskauer Presse aus. Diese stand dem Informationsinput aber keinesfalls passiv gegenüber, sondern ging bei ihren Rezeptionsentscheidungen von eigenen publizistischen Kalkülen, Interpretationsmustern und thematischen Präferenzen aus. Die Erzeugung des öffentlichen Auslandsbildes war das Ergebnis einer doppelten Selektion, ja einer doppelten Codierung, der trotz einiger Programmdifferenzen ein gemeinsamer ideologischer Kern des journalistischen Weltbildes zugrunde lag. 2. Dieser Kern diente als wichtiges Instrument des journalistischen Koordinationsprozesses. Als ein Set von unantastbaren Prämissen glich er Abstimmungsdefizite aus, die sich aus dem Fehlen institutionalisierter Koordinationsmechanismen ergaben. Dass der Kreml einige Meinungs- und Themendifferenzen in der journalistischen Bedeutungsproduktion tolerierte, lag aller Wahrscheinlichkeit nach an seinem Interesse, ‚neutrale‘ Informationen zu bekommen, die gleichwohl an der sensiblen Schnittstelle zwischen Informations- und Propagandajournalismus konstruiert wurden. Neben der ‚Koordination durch Ideologie‘ spielte die ‚Koordination durch Aktualität‘ eine wichtige Rolle: Die TASS richtete ihre Entscheidungsabläufe auf die redaktionellen Deadlines der Moskauer Presse aus. 3. Die sowjetische Auslandsberichterstattung wurde nur in einem gewissen Maße durch die Zensur von oben korrigiert und gesteuert, parallel zu dieser findet man eine breite Praxis der journalistischen Selbstzensur vor, die nicht nur unter dem Blickwinkel der Konformität zu betrachten ist: Die Sowjetjournalisten, sowohl die

252 Die TASS-Anordnung Nr. 284 vom 25.06.1933, GARF 4459/17/24/61. 253 Die TASS-Anordnung Nr. 413 vom 07.09.1933, GARF 4459/17/24/228. 254 Die TASS-Anordnung Nr. 739 vom 08.12.1936, GARF 4459/17/45/107.

Die stalinistische Geheimhaltung und die Auslandsberichterstattung der TASS

Zeitungs- als auch die TASS-Vertreter, waren in Machtdiskurse verstrickte Menschen, die den semantischen Haushalt des Sowjetregimes und seine Weltbilder mit kreierten. In diesem Sinne sind sie nicht nur als Befehlsempfänger, sondern auch als Gestalter zu verstehen, deren Konflikte und Widersprüche die Ambivalenzen und Paradoxien des Sowjetsystems und des Sowjetjournalismus der Vorkriegszeit widerspiegelten. Dabei muss die eigentliche Zäsur nicht im Krieg, sondern, präziser, im Großen Terror der Jahre 1937/1938 gesehen werden, der von Stalin entfesselt und, so weit wie möglich, persönlich gelenkt wurde.

3.4 Die stalinistische Geheimhaltung und die Auslandsberichterstattung der TASS Geheimhaltung und das Problem der Wissens- bzw. Informationsverteilung können zweifellos als zentrale Aspekte der sowjetischen Auslandsberichterstattung angesehen werden, und zwar nicht nur in systemtheoretischer Perspektive der Kommunikationseinschränkung und Isolationsneigung, sondern auch in machtpolitischer Perspektive der Wissenspolitik und Entscheidungsmonopole. Denn auch das Monopol der TASS auf die Auslandsberichterstattung kann als Politik der Wissenskontrolle verstanden werden, die der sowjetische Machtapparat dazu anwendete, seine Deutungs- und Informationshoheit zu stabilisieren. Das aktuelle Kapitel fragt danach, wie sich das System der sowjetischen Geheimhaltung entwickelte und welche Besonderheiten es aufwies, wie der Kreml die Produktion und Verteilung von aktuellen Auslandsinformationen steuerte und wie sich die Praxis der Geheimhaltung auf die Nachrichtenproduktion in der TASS auswirkte. Die Disposition der Bolschewiki zur exzessiven Geheimhaltung hatte zweifellos eine Schutzfunktion und ging auf ihre Erfahrungen der Untergrundtätigkeit im Zarenreich und des Überlebenskampfes im Bürgerkrieg zurück. In der Geheimhaltung manifestierte sich ein Perzeptionsparadigma, das mit dem dualen Weltbild der Kremlführer eng verknüpft war. Ein zentrales Element dieses Weltbildes war ein tief verankertes Gefühl des Bedrohtseins durch die kapitalistische Welt, ein Gefühl, das identitätsstiftend war und das Leben der Gesellschaft in einem permanenten Ausnahmezustand rechtfertigte. Wenn die Parteiführung auch die Metapher von Außen- und Kriegsgefahr für innenpolitische Zwecke instrumentalisierte und als Mobilisierungsinstrument einsetzte, besteht kein Zweifel daran, dass sie an die große Verschwörung gegen die Sowjetunion tatsächlich glaubte.255

255 Vgl. Baberowski, Verbrannte Erde, S. 347; Knoll, Das Volkskommissariat, S. 125 ff.; vgl. auch eine scharfsinnige zeitgenössische Beobachtung von Isaiah Berlin: Why the Soviet Union Chooses to

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Die TASS, die außenpolitische Elite und ausgewählte Problemkomplexe der Auslandsberichterstattung

Geheimhaltung war aber auch ein wichtiges Instrument der sozialen Grenzziehung und Hierarchiebildung. Als Exklusionstechnik markierte sie kommunikative Grenzen und Informationschancen. Die sowjetische Machtpyramide war eine rigide Informationspyramide, in der jeder so viel wissen sollte, wie zur Ausübung seines Amtes notwendig war. Die Politik der Geheimhaltung, der Nichtmitteilung, diente der Kremlführung als Strategie der Machtsicherung und Machtakkumulation. Sie verschleierte Dissens und trug zur Sakralisierung von Machtdiskursen bei.256 Keiner der Parteiführer scheint von der Geheimhaltung so besessen gewesen zu sein wie Stalin. Politisch sozialisiert in einer Welt, in der „Agenten, Doppelagenten und Dreifachagenten Versprechen abgaben, Verrat übten, die Seiten wechselten und ihren Verbündeten erneut untreu wurden“257 , zeigte er eine besondere Neigung zur Praxis der konspiracija, einem kommunikativen Modus, in dem Misstrauen und Verschwörungsmentalität eine wichtige Rolle spielten. Bereits im November 1919 beschwerte sich Stalin im Politbüro darüber, dass „einige Informationen über die Sitzungen des ZK, wenn auch in einer sehr verzerrten Form, auf irgendeine Weise unsere Feinde erreichen“.258 Es wurde beschlossen, den Empfängerkreis der Politbüroprotokolle auf „eine minimale Anzahl der Genossen“ zu reduzieren sowie die Entscheidungen des Kremls „vorsichtig und kurz“ zu formulieren.259 „Bei wichtigen Fragen“ war man sogar bereit, auf Eintragungen ins „offizielle Protokoll“ zu verzichten260 – eine Bestimmung, die das grundlegende Misstrauen der Schrift gegenüber zum Ausdruck brachte und die Praxis mündlicher Absprachen als Geheimhaltungsstrategie anbahnte. Als Stalin im April 1922 zum Generalssekretär des ZK avancierte, erlangte er die unmittelbare Kontrolle über die Agenda-Bildung und die Informationskanäle des Parteiapparates. Sein Einfluss auf die restriktive Wissenspolitik wurde noch größer. Im August 1922 lehnte Stalin – im Gegensatz zu Trockij – ab, dass die Kandidaten für das ZK Politbüroprotokolle erhielten.261 Im Dezember 1925 versuchte er, wenn auch vergeblich, einen Beschluss des Politbüros zu annullieren, der Josif Unšlicht,

256 257 258 259 260 261

Insulate itself, in: Henry Hardy (Hrsg.), The Soviet Mind: Russian Culture under Communism, Washington, D.C. 2004, S. 90–97. Zur Geheimhaltung als Schutzmechanismus vgl. Burkard Sievers, Geheimnis und Geheimhaltung in sozialen Systemen, Opladen 1974, S. 17. Vgl. Ken/Rupasov, Politbjuro CK VKP (b), S. 30 f. Montefiore, Der junge Stalin, S. 134. G.M. Adibekov (Hrsg.), Politbjuro CK VKP(b)-VKP(b). Povestki dnja zasedanij. 1919–1952/Bd.1. 1919–1929, Moskau 2000, S. 44. Vgl. den Beschluss des Politbüros vom 08.11.1919, in: Vladimir Lebedev, Pravjašaja partija ostavalas’ podpol’noj, Istočnik 5–6 (1993), S. 88. Ebd., S. 89. Der Beschluss des Politbüros vom 15.08.1922 (per Befragung), „Die Bitte der Kandidaten für das ZK um die Verschickung von Protokollen der Politbürositzungen und des ZK-Plenums“, RGASPI 17/163/291/37.

Die stalinistische Geheimhaltung und die Auslandsberichterstattung der TASS

Mitglied mehrerer außenpolitischer Politbüro-Kommissionen und der stellvertretende Leiter des Revolutionären Militärrates, zum Erhalt chiffrierter Telegramme des NKID berechtigte.262 Am 7. April 1927, nach dem Überfall auf die sowjetische Botschaft in Peking, kündigte Stalin im Politbüro an, „äußerst radikale Maßnahmen zur Wahrung der maximalen Geheimhaltung im Umgang mit geheimen Dokumenten“ ergreifen zu müssen.263 Es wurde eine Sonderkommission gebildet, der Vertreter der Parteibürokratie, des Militärs, des Staatssicherheitsdienstes und der Diplomatie angehörten. Am 5. Mai 1927 billigte das Politbüro die Vorschläge der Kommission, die die wichtigsten Bestimmungen der sowjetischen Geheimhaltung zusammenfassten und verschärften. Vier Aspekte sind hervorzuheben264 : 1. Geheimhaltung wurde nach dem Adressaten-Prinzip organisiert, das bedeutet, dass Zugang zu geheimen Dokumenten „nur persönlich“ möglich war und nicht von Amts wegen. Der Adressat von Politbüro-Direktiven durfte sein Wissen mit niemandem teilen. 2. Alle Unterlagen, die als geheim eingestuft wurden, durften auf keine Art und Weise verbreitet oder reproduziert werden; das Verbot des Zitierens und Abschreibens galt selbst für die Mitglieder des Politbüros. 3. Kommunikation unter Bedingungen der Distanzüberwindung sollte möglichst verschlüsselt ablaufen; alle Instanzen, insbesondere wenn sie transnational kommunizierten, waren verpflichtet, „zu chiffrieren oder in Geheimschrift zu schreiben“. 4. Das Politbüro und alle anderen Regierungsinstitutionen waren gehalten, „geheime Fragen“ im Rahmen „geschlossener Sitzungen“, unter Ausschluss von Sekretären und Referenten, zu behandeln.

262 Vgl. den Beschluss des Politbüros vom 12.12.1925, „Über chiffrierte Telegramme des NKID“, und die durchgestrichene Sondermeinung von Stalin und Molotov: „Man braucht keinen Politbürobeschluss. Er soll selbst das NKID dazu überreden“. RGASPI 17/163/522/22. In ähnlichem Sinne stimmte Stalin bereits am 26.11.1926 ab, als er Unšlicht den Zugang zu chiffrierten Telegrammen des NKID verweigern wollte, sich aber bereit zeigte, für Vorošilov, seinen Gefolgsmann, eine Ausnahme zu machen. Auf dem Abstimmungszettel notierte er: „Nur an Vorošilov zu verschicken“. Vgl. den Beschluss des Politbüros vom 26.11.1925, „Über chiffrierte Telegramme des NKID“, und die Erklärung von Vorošilov vom 25.11.1925 mit Entscheidungsvermerken der Politbüromitglieder. RGASPI 17/163/519/50 f. 263 Vgl. den Beschluss des Politbüros vom 07.04.1927, „Die Erklärung des Genossen Stalin“, RGASPI 17/162/4/1. 264 Vgl. den Beschluss des Politbüros vom 05.05.1927, „Über geheime Dokumente“, RGASPI 17/3/633/13 f. Vgl. auch den Beschluss des Politbüros vom 16.05.1929, „Über die Geheimhaltung“, in dem die meisten Regelungen vom Mai 1927 übernommen wurden: RGASPI 17/3/740/13 ff. Vgl. auch den Beschluss des Politbüros, „Über geschlossene Sitzungen des Politbüros“, 29.07.1927, RGASPI 17/163/656/55.

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Die TASS, die außenpolitische Elite und ausgewählte Problemkomplexe der Auslandsberichterstattung

Als Stalin das Politbüro schrittweise in seine Hausmacht verwandelte, konnte er vom „umfassenden Informationsmonopol“265 des höchsten politischen Gremiums profitieren. Denn das Politbüro war nicht nur der Demiurg des sowjetischen Geheimhaltungssystems, sondern verkörperte selbst das Telos der konspiracija. Sogar in streng geheimen Dokumenten wurde es nicht namentlich genannt, sondern meistens als „Instanz“ oder als „das ZK VKP(b)“ umschrieben.266 Die Besprechungen und Debatten im Politbüro wurden in der Regel nicht protokolliert267 , die Teilnehmer der Politbürositzungen unterlagen dem Schweigegebot.268 Eine wichtige Institution im System der sowjetischen Geheimhaltung stellten sogenannte „Sondermappen“ (osobye papki) dar, in denen streng geheime Beschlüsse des Politbüros aufbewahrt wurden. Die Praxis der Sondermappen etablierte sich endgültig im Sommer 1923 im Zusammenhang mit geheimen Planungen zum revolutionären Umsturz in Deutschland. Alsbald wurden fast alle Beschlüsse des Politbüros, die von außenpolitischer Relevanz waren, den Sondermappen zugeteilt.269 In regulären Politbüro-Protokollen, die zu Informationszwecken noch hundertfach an die Partei- und Staatsfunktionäre verschickt wurden, konnte man zu diesen Beschlüssen keine Angaben finden. Dies hatte zur Folge, dass große Teile der bolschewistischen Machtelite von vielen wichtigen Fragen und Problemfeldern der Kremlpolitik keine Kenntnis hatten. Bewusst wurden sie in Unwissenheit gehalten, was das Politbüro machtstrategisch zur Konsolidierung seines Deutungsmonopols und zur Legitimierung seiner Diskurspolitik nutzte. Niels Rosenfeldt nennt diese restriktive Informationspolitik des Kremls „Herrschaft durch Wissen“.270 Anfang der 1930er Jahre, als Stalin zum Diktator aufstieg, bildete sich um ihn eine privilegierte Informationselite, die mit der offiziellen, „zeremoniellen“ Elite der Parteigremien nicht identisch war.271 In der Forschung spricht man vom sogenannten ‚Stalin-Team‘, einer mafiaähnlichen Gruppenbildung, der zwischen fünf

265 Vgl. Knoll, Das Volkskommissariat, S. 79. 266 Ken/Rupasov, Politbjuro CK VKP(b), S. 23. Vgl. auch exemplarisch den Vorschlag des NKID zur Aufbewahrung der Geheimkorrespondenz: der Beschluss des Politbüros vom 25.06.1921, RGASPI 17/3/179/3, und der Beschluss des Politbüros vom 05.05.1927, „Über geheime Dokumente“, RGASPI 17/3/633/4 f. 267 Die Regel, in die Sitzungsprotokolle „nichts außer Beschlüsse“ einzutragen, war unumstößlich. Vgl. den Beschluss des Politbüros vom 08.12.1923, „Über Eintragungen in die Protokolle des Politbüros“, RGASPI 17/3/398/2. 268 Georgij Čičerin wurde zum Beispiel strengstens verboten, seine engsten Mitarbeiter im NKID über den Verlauf der Politbürositzungen zu informieren. Vgl. die Sitzung des Politbüros vom 31.07.1920, RGASPI 17/163/83/4. 269 Zur Praxis der Sondermappen vgl. Ken/Rupasov, Politbjuro CK VKP(b), S. 32 ff.; Knoll, Das Volkskommissariat, S. 84 f. 270 Rosenfeldt, The „Special“ World, S. 106. 271 Wheatcroft, From Team-Stalin to Degenerate Tyranny, S. 83 f.

Die stalinistische Geheimhaltung und die Auslandsberichterstattung der TASS

und neun Personen angehörten und die das Land eigenmächtig regierte.272 Nur die Mitglieder des ‚Stalin-Teams‘, die aufgrund einer rigiden Geheimhaltungspolitik über einen exklusiven Informationshorizont verfügten, waren in der Lage, politische, soziale und wirtschaftliche Zusammenhänge in ihrer Komplexität zu überblicken und zu beurteilen.273 Wie bereits angedeutet, war das notorische Misstrauen der Schrift und der Schriftlichkeit gegenüber ein prägendes Merkmal der sowjetischen Geheimhaltung. Denn was schriftlich festgehalten wurde, hinterließ Spuren, konnte in die Hände von Unbefugten geraten. Wie paranoisch die Kremlführer in dieser Hinsicht waren, zeigte sich in den Beschlüssen des Politbüros vom April 1923, als die Volkskommissariate für Auswärtige Angelegenheiten, für Kriegs- und für Marinewesen sowie der Staatssicherheitsdienst (GPU) angewiesen wurden, „besonders geheime Fragen“ nicht in schriftlicher Form, sondern mündlich, durch Absprachen mit dem Sekretariat des ZK, auf die Entscheidungsagenda zu bringen.274 Der Kreml ordnete immer wieder an, über bestimmte Themen keinen schriftlichen Diskurs zu führen, sondern persönlich, unter Anwesenden, zu verhandeln. Als Litvinov sich einmal über diese Regel hinwegsetzte, wurde er von Stalin daran erinnert und in die Schranken gewiesen.275 Misstraut wurde selbstverständlich auch der Fernkommunikation, selbst wenn diese durch das Geheimnis der diplomatischen Post geschützt war. So wies das Politbüro seine Vertreter und Emissäre im Ausland an, geheime Fragen aus der regulären Berichterstattung herauszunehmen und sie gesondert, nach Möglichkeit sogar nur in Moskau, zu behandeln.276

272 Vgl. Chlewnjuk, Stalin, S. 21; Fitzpatrick, Stalins Mannschaft, S. 7; Baberowski, Verbrannte Erde, S. 28 f. 273 Vgl. Watson, Molotov, S. 125. Der Entscheidungsstil der Stalin-Gruppe war von Face-to-FaceKommunikation geprägt. Ihre wichtigsten Vertreter können auch anhand von Besucherlisten rekonstruiert werden, in denen Gesprächsteilnehmer und Gesprächszeiten im Kremlbüro Stalins festgehalten wurden. Nach der Auswertung von Wheatcroft verbrachte Stalin im Zeitraum 1930–1952 die meiste Zeit mit Molotov, Malenkov, Vorošilov, Kaganovič, Berija, Mikojan, Ždanov, Bulganin, Ežov und Ordžonikidze. Vgl. Wheatcroft, From Team-Stalin to Degenerate Tyranny, S. 94. 274 Der Beschluss des Politbüros vom 12.04.1923, „Über die Setzung von geheimen Fragen auf die Politbüro-Agenda“, RGASPI 17/3/347/3, sowie der Beschluss des Politbüros vom 21.05.1923, „Über die Verschickung von Dokumenten zu den Politbürositzungen“, RGASPI 17/3/355/2. 275 Vgl. die Kritik an Litvinov seitens Stalins und die Verpflichtung des NKID, den Regeln der „konspiracija“ zu folgen: der Beschluss des Politbüros vom 24.02.1927 über „die Erklärung des Genossen Litvinov“, RGASPI 17/162/4/68. 276 Vgl. den Beschluss des Politbüros vom 26.06.1932, „Über Information des Genossen Eliava“, RGASPI 17/162/13/8. Bereits im September 1927 wurde ähnlich festgelegt, dass die Sowjetbotschafter „geheime Fragen“ aus ihren regulären Berichten herausnehmen sollten: Vgl. den Beschluss des Politbüros vom 08.09.1927, „Über die Berichte der Botschafter“, RGASPI 17/3/650/7.

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Die TASS, die außenpolitische Elite und ausgewählte Problemkomplexe der Auslandsberichterstattung

Es war aber nicht nur die Kremlführung, die dem Geheimwahn verfiel. Selbst der pragmatische Čičerin, der so unter der ideologisch bedingten Misstrauenskultur der Parteiführung litt, war von der Geheimhaltung besessen. Am 18. Januar 1925 übersandte er zum Beispiel dem Politbüro seine „ultrageheime“ Aufzeichnung des Gespräches mit dem deutschen Botschafter mit der Bitte, diese nach der Kenntnisnahme „unverzüglich zu vernichten“.277 Wie wirkte sich aber die exzessive Geheimhaltung der Stalin-Diktatur auf die Praxis der Nachrichtenproduktion in der TASS aus? Wie und wann wurden die strengen Regeln der konspiracjia institutionalisiert bzw. verschärft? Man kann zwei Zäsuren unterscheiden. Die erste fiel mit der Entstehung der Stalin-Diktatur zeitlich zusammen. Ende 1932 wurde im TASS-Apparat eine „Geheimabteilung“ geschaffen, die vom Sekretariat des verantwortlichen Leiters unabhängig war und direkt der Sonderabteilung beim Staatssicherheitsdienst (specotdel OGPU) unterstand. Ihre Aufgabe bestand darin, die gesamte schriftliche Kommunikation und den Zugang zu geheimen Informationen in der TASS zu überwachen. Die Geheimabteilung führte ein Register über „geheime und streng geheime Dokumente“ – über ihre Zirkulation, Nutzung und Archivierung.278 Als Überwachungsinstanz verkörperte sie ‚die Strategie des Misstrauens‘279 , die das Stalin-Regime gegen jede Form von politisch relevanter Bedeutungsproduktion anwendete. Vom wachsamen, misstrauischen Auge der Geheimhaltung war niemand, nicht einmal der Leiter der TASS, verschont.280 Die zweite Zäsur wurde vom Großen Terror markiert. Die entfesselte Hexenjagd gegen vermeintliche Volksfeinde und Spione erzeugte das allgegenwärtige Misstrauen, das die sowjetische Geheimhaltungsparanoia ins Unermessliche trieb. Im Sommer 1937 wurde in der TASS ein „Sektor für Informationen nicht für die Presse“ geschaffen, der zwei Jahre später in das „Büro für Internationale Informationen“ (BMI-TASS) umbenannt wurde. Das BMI-TASS, räumlich getrennt von der INO-TASS, unterstand direkt dem Leiter der TASS und hatte die Aufgabe, geheime Auslandsbulletins herauszugeben. Die Mitarbeiter des BMI-TASS unterlagen einer strengen Überprüfung durch den Staatssicherheitsdienst, der sich auf eine enge Kooperation mit der neuen TASS-Führung verlassen konnte. Chavinson beschränkte sich dabei nicht nur auf Denunziationen und Verdachtsbekundungen, sondern

277 Čičerin an Stalin, 18.01.1925, RGASPI 82/2/1161/1. 278 Die Untersuchungsakte des TASS-Apparates, verfasst von der Sonderabteilung bei der OGPU, 14.10.1932, GARF 4459/38/50/10 f. 279 Vgl. Ennker, „Struggling for Stalin’s Soul”, S. 189 ff. 280 Selbst Chavinson, dem TASS-Leiter von Stalins Gnaden, wurde einmal vorgeworfen, „die Regelungen über die Wahrung der Staatsgeheimnisse“ verletzt zu haben. Vgl. der Leiter der Geheimabteilung der TASS, Pašenko, an den Leiter der 7. Abteilung des GUGB NKVD, Kopytcev, 19.12.1940, GARF 4459/38/104/258 f.

Die stalinistische Geheimhaltung und die Auslandsberichterstattung der TASS

unterbreitete Berija, dem Chef des Geheimdienstes, regelmäßig seine Vorschläge zum Schutz der „Staatsgeheimnisse in der Presse“.281 Anfang der 1930er Jahre wurden die Gestaltungsräume der Sowjetpresse im Bereich der Auslandsberichterstattung sukzessiv eingeschränkt. Zunächst, im Juni 1930, reduzierte der Kreml die Anzahl der Auslandskorrespondenten der „Pravda“ und der „Izvestija“ (vgl. Kap. 3.3). Die eigentliche Zäsur erfolgte aber zwei Jahre später, im August/September 1932, als das Politbüro beschloss, „die Zahl der Zeitungen mit den Auslandsredaktionen bis auf ein Minimum“ zu reduzieren282 sowie die Publikation aller Auslandsbulletins durch die Zeitungsredaktionen, die zur internen Orientierung und Wissensakkumulation dienten, einzustellen.283 Daran knüpfte auch die Entscheidung des Sekretariats des ZK vom 26. September 1932 an, die sämtliche Zentral-, Republik- und Lokalzeitungen – außer der „Izvestija“ und der „Pravda“ – dazu verpflichtete, ausschließlich auf TASS-Nachrichten zurückzugreifen; die Nutzung anderer Quellen wurde untersagt.284 Die INO-TASS gab mehrere Auslandsbulletins heraus, die sich nach Umfang, Aktualität und Grad der Geheimhaltung unterschieden. Ihr Adressatenkreis blieb stets übersichtlich, was die Frage aufwirft, wie sich der Rest der Partei- und Staatselite über das Auslandsgeschehen überhaupt informieren konnte. Existierte zwischen einem kleinen Nukleus der Staatsführung und einer breiten Masse der Parteifunktionäre sowohl im Zentrum als auch in den Regionen eine gewaltige Informationskluft? Alles spricht dafür, dass es sich tatsächlich um frappante Asymmetrien in der Verteilung des außenpolitischen Wissens handelte, die mit der Entstehung der Stalin-Diktatur noch größer wurden. In den 1920er Jahren vermittelte die Sowjetpresse noch ein umfassendes, wenn auch politisch tendenziöses und geographisch fragmentarisches Bild von Ereignissen im Ausland. Aus dem Vergleich zwischen der Auslandsberichterstattung der „Pravda“ und der der „New York Times“, den Peter Kenez für das Jahr 1923 anstellte, geht zum Beispiel hervor, dass die Parteizeitung über alle wichtigen Weltthemen

281 Vgl. Chavinson an Berija, 02.10.1940, GARF 4459/38/104/153; vgl. auch Chavinson an Berija, 17.04.1940 und 17.05.1940, GARF 4459/38/104/48 und 78. 282 Vgl. den Beschluss des Politbüros vom 20.08.1932, „Die Mitteilung von Steckij“, RGASPI 17/163/954/89. Vgl. auch den Beschluss des Sekretariats des ZK vom 02.03.1933, „Über die Leiter der Auslandsabteilungen der Zentralzeitungen“, RGASPI 17/114/336/218-223. 283 Vgl. den Beschluss des Politbüros vom 08.09.1932, „Über die Bulletins für Auslandsinformationen“, RGASPI 17/162/13/90. 284 Der Beschluss des Sekretariats des ZK vom 26.09.1933, RGASPI 17/114/364/18. Als Anlass diente die Publikation einer Erklärung der KPD über den Reichstagsbrand, die die „Leningradskaja Pravda“ aus der Züricher Zeitung „Der Kämpfer“ abdruckte. Vgl. der stellvertretende Leiter der Abteilung für Kultur und Propaganda des ZK, Chavinson, an Kaganovič, 21.09.1933, RGASPI 17/114/364/158.

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berichtete und darin der prominenten amerikanischen Zeitung kaum nachstand.285 Das mediale Auslandsbild der Moskauer Massenzeitungen war nicht nur für die Sowjetbevölkerung, sondern auch für die meisten Parteifunktionäre die Orientierungsquelle ersten Ranges. Aus dem Konsolidierungskalkül heraus bemühte sich der Kreml freilich auch darum, den weltpolitischen Wissenshorizont seines Machtapparates zu erweitern und ihm auch solche Informationen zukommen zu lassen, die als geheim galten und im zensurbereinigten Diskurs der Sowjetpresse nicht zu lesen waren. Zu diesem Zweck publizierte die Geheimabteilung des ZK seit 1927 die „Übersichten der weißen Presse“, die mit Themen und Deutungsmustern der russischen Emigrantenwelt bekannt machten. Die Auflage der „Übersichten“ lag zwischen 300 (1927) und 500 Exemplaren (1930); zu den Adressaten zählten die Mitglieder des ZK, die Leiter der Volkskommissariate, die Moskauer Massenmedien sowie die Vertreter der regionalen und lokalen Parteielite – bis hin zum Okrug (Kreis). Der Empfängerkreis wurde vom Sekretariat des ZK festgelegt. 1930 wurden die „Übersichten der weißen Presse“ durch zwei neue Bulletins abgelöst: durch das Bulletin „Über die Auslandspresse“ und durch das Bulletin „Über die Sektionen der Komintern“, die von einer Mitarbeiterin der Geheimabteilung, E. Stasova, und dem Leiter der Presseabteilung des ZK, S. Gusev, bzw. von Stasova und Pjatnickij, einem Mitarbeiter der Komintern, herausgegeben wurden.286 Im November 1933 wurde die Geheimabteilung des ZK reorganisiert und in „Sondersektor des ZK“ umbenannt. Bei diesem entstand die „Gruppe für Internationale Informationen“, die für die Publikation der oben genannten Bulletins zuständig war. Im April 1934 wurde die „Gruppe für Internationale Informationen“ jedoch aufgelöst und das Erscheinen der Bulletins „Über die Auslandspresse“ und „Über die Sektionen der Komintern“ eingestellt.287 Als Begründung diente der Hinweis auf die Existenz des „Büros für Internationale Informationen“ (BMI) unter Karl Radek288 , das im Mai 1934 seine Rolle als Beratungsinstanz Stalins eingebüßt hatte und seitdem hauptsächlich für thematische Auswertungen der Auslandspresse zuständig war.289 Das von Radek herausgegebene „Bulletin der Auslandspresse“ existierte aber nicht lange: Bereits im Juni 1935 stellte das Politbüro sein Erscheinen 285 Peter Kenez, The Birth of the Propaganda State. Soviet Methods of Mass Mobilization, 1917–1929, Cambridge 1985, S. 230. 286 Vgl. den Beschluss des Sekretariats des ZK vom 11.02.1930, „Über Übersichten bezüglich der Auslandsparteien und -presse“, RGASPI 17/113/823/13. 287 Vgl. den Beschluss des Sekretariats vom 01.04.1934, „Über die Gruppe für Internationale Informationen beim Sondersektor des ZK“, RGASPI 17/114/560/9. 288 Vgl. den Anhang zum Beschluss des Sekretariats, „Über die Gruppe für Internationale Informationen beim Sondersektor des ZK“, 31.03.1934, RGASPI 17/114/664/78. An der Abstimmung nahmen Stalin, Molotov, Kaganovič, Vorošilov und Ždanov teil. 289 Der Beschluss des Politbüros vom 19.05.1934, „Über das Informationsbüro“, RGASPI 17/162/16/61 f. Vgl. auch Ken/Rupasov, Politbjuro ZK VKP(b), S. 574–576.

Die stalinistische Geheimhaltung und die Auslandsberichterstattung der TASS

ein.290 Diese Entscheidung markierte eine informationspolitische Zäsur in der parteiinternen Wissenspolitik der Kremlführung. Als das Politbüro im Oktober 1935 auch die Publikation von insgesamt elf Auslandsbulletins diverser Volkskommissariate und Institutionen einstellte, in denen die Auslandspresse mit jeweils spezifischem Fokus auf Politik, Wirtschaft, Sport, Kultur, Justiz, Handel, Technik, Technologie und Wissenschaft ausgewertet wurde291 , blieben die TASS und das NKID die einzigen Apparate im gesamtsowjetischen Maßstab, die eine systematische, medial gestützte Weltbeobachtung organisieren konnten. Eine Erklärung für diese restriktiven Maßnahmen ist vor allem im Wandel des Stalin-Regimes zu sehen, das nach der Ermordung des Politbüro-Mitgliedes Sergej Kirov im Dezember 1934 ein noch größeres, an Paranoia grenzendes Misstrauen gegenüber dem Ausland und gegenüber allen sowjetischen Instanzen, die das Wissen über das Ausland produzierten, entwickelte. Spionagemanie und Xenophobie griffen um sich, die Säuberungen liefen an und erst im Großen Terror erreichten sie ihren Höhepunkt. Die Stimmung im Kreml zeigte sich beispielhaft in den Angriffen gegen das von Eugen Varga geleitete Institut für Weltwirtschaft und Weltpolitik. Im März 1935 konfrontierte Nikolaj Ežov, Sekretär des ZK und Leiter für Kaderpolitik der Partei, Varga mit dem Vorwurf, dass in seinem Institut „Volksfeinde sich frei einnisteten und hausen“. Ein konkretes Misstrauen richtete sich gegen „Politemigranten und diejenigen, die das Ausland besuchten“. Ežov zitierte auch Stalin: „Die Wachsamkeit verlangt unbedingt, parteifeindliche Elemente aufzudecken, und säubert sie“.292 Als Varga dem Säuberungsauftrag nicht nachging, wurde er im September 1935 von Ežov wieder aufgefordert, „bei der Enthüllung des konterrevolutionären Untergrundes zu helfen“. Dieses Mal bezeichnete Stalins Säuberungsvollstrecker die Mitarbeiter des Instituts als „dunkle Persönlichkeiten, die mit dem Ausland verbunden sind“, als „Spitzel und Verschwörer“.293 Die Bulletins, die die INO-TASS herausgab, können in zwei Kategorien eingeteilt werden: in ‚öffentliche‘ und geheime. Zu den öffentlichen Bulletins, die die Zeitungsredaktionen uneingeschränkt nutzen konnten, gehörten: 1. Das „Bulletin für eintreffende Postinformationen“, das hauptsächlich Hintergrundberichte enthielt und dreimal pro Woche erschien. 1926 wurden diesem Bulletin ca. 20% aller TASS-Informationen zugeordnet, seine Auflage lag bei 100

290 Der Beschluss des Politbüros vom 20.06.1935, „Über das Bulletin der Auslandspresse des BMI“, RGASPI 17/3/965/204. 291 Vgl. den Beschluss des Sekretariats des ZK vom 15.10.1935, „Über Übersichten und Bulletins der Auslandspresse“, RGASPI 17/114/596/6. 292 Alexander Solov’ev, Tetradi krasnogo professora (1912–1941), Eintrag vom 25.03.1935, in: N. Zelov (Hrsg.), Neizvestnaja Rossija. XX vek: archivy, pis’ma, memuary, Moskau 1993. 293 Ebd., Eintrag vom 14.09.1935.

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Die TASS, die außenpolitische Elite und ausgewählte Problemkomplexe der Auslandsberichterstattung

Exemplaren.294 Zu den Abonnenten des „Bulletins für Postinformationen“ gehörten neben den Zentralzeitungen diverse Regierungsbehörden, Gewerkschaften, das Narkomindel und die Parteiführung selbst. Im Mai 1936 wurde es in „Bulletin für ausländische Zusatzinformationen“ umbenannt, was seine sekundäre, komplementäre Rolle als Informationsanbieter unterstrich. 2. Das „Bulletin für telegraphische Auslandsinformationen“, 1936 umbenannt in „Bulletin für Auslandsinformationen der TASS“, war eine der wichtigsten und aktuellsten Informationsquellen sowohl für die Sowjetpresse als auch für die außenpolitische Führung der Sowjetunion. 1926 wurden ca. 70% aller Auslandsinformationen der TASS in diesem Bulletin abgedruckt.295 Es erschien dreimal am Tage, zwischen 4 und 5, 15 und 16 und 22 und 23 Uhr.296 Die umfangreichste Ausgabe war die Tagesausgabe (zwischen 15 und 16 Uhr), die das Nachrichtenbild der Massenzeitungen am nächsten Tag maßgeblich prägte. Das „Bulletin für telegraphische Auslandsinformationen“ wurde der Kremlführung unverzüglich nach seinem Erscheinen per Kurier geliefert. Im Juli 1937 gehörten zum Abonnentenkreis 38 Personen, sechs Institutionen und acht Vertreter der ausländischen Nachrichtenagenturen in Moskau.297 Die meisten Exemplare gingen an die Politbüromitglieder und die Abteilungsleiter des ZK, zwölf Exemplare an das NKID. Stalin, Molotov, Litvinov und die Presseabteilung des NKID erhielten je zwei Exemplare. Zu den geheimen TASS-Bulletins gehörten: 1. Das „Bulletin nicht für die Presse“, dessen Inhalte die Massenzeitungen zur Kenntnis nehmen, jedoch nicht abdrucken durften. Nach welchem Code bzw. Verteilungsschlüssel Auslandsinformationen als geheim/nichtgeheim eingestuft wurden, ist unklar. Eine schriftliche Gebrauchsanweisung hierfür gab es offensichtlich nicht. Intern, im Rahmen der redaktionellen Planung, wurden jedoch bestimmte Schwerpunkte angedeutet, die eine gewisse Orientierung boten: Nicht publik gemacht werden sollten alle Berichte der Auslandspresse, die sowjetkritisch waren und die Außenpolitik der Sowjetunion sowie das komplexe Feld der internationalen Beziehungen betrafen.298 Dem „Bulletin nicht für die Presse“ wurden auch alle Berichte der TASS-Korrespondenten zugeordnet, die Eigenkommentare und -analysen enthielten, also der Sphäre des interpretativen Journalismus angehörten. Für die Herausgabe des „Bulletins nicht für die Presse“ war der Leiter der Auslandsabteilung persönlich verantwortlich, im Prozess der Auswahl und des Redigierens von Nachrichten standen ihm seine Stellvertreter sowie die leitenden

294 RGASPI 17/113/296/235. 295 RGASPI 17/113/296/235. 296 Das Sitzungsprotokoll über die Arbeit der Auslandsabteilung der TASS vom 04.11.1925, GARF 4459/11/23/64. 297 Die Abonnentenliste der TASS-Informationen in Moskau, 01.07.1937, GARF 4459/11/863/23 f. 298 Die Sitzung der INO-TASS vom 16.09.1932, GARF 4459/11/513/92.

Die stalinistische Geheimhaltung und die Auslandsberichterstattung der TASS

Redakteure der INO-TASS zur Seite.299 Ende 1938 wurde die redaktionelle Betreuung des Bulletins an das „Büro für Internationale Informationen“ (BMI-TASS) übertragen, die Kompetenz der INO-TASS beschränkte sich auf die Übersetzung von Nachrichten.300 Das „Bulletin nicht für die Presse“ war nur einem exklusiven Kreis der sowjetischen Machtelite zugänglich. Die Anzahl der Adressaten, die zwischen ca. 40 und 60 Personen variierte, wurde in den 1920er Jahren vom Sekretariat der Partei und in den 1930er Jahren von Stalin persönlich festgelegt.301 Zu den Adressaten gehörten 1927 Politbüromitglieder, Sekretäre und Abteilungsleiter des ZK, ZK-Mitglieder, Volkskommissare, die Spitzenführung des Militärs, des Staatssicherheitsdienstes, der Sowjetdiplomatie sowie die Chefredakteure der wichtigen Massenzeitungen „Pravda“, „Isvestija“, „Komsomolskaja Pravda“, „Rabočaja gazeta“, „Bednota“, „Torgovo-promyšlennaja gazeta“, „Rabočaja Moskva“ und „Gudok“.302 Die Anzahl der gedruckten Exemplare des „Bulletins nicht für die Presse“ in den 1930er Jahren verdeutlicht (vgl. Tab. 30), dass das Sowjetregime mit als geheim eingestuften Auslandsnachrichten immer restriktiver umging und offenbar bestrebt war, den Kreis potentieller Empfänger so klein wie möglich zu halten. Tabelle 30 Anzahl der gedruckten Exemplare des „Bulletins nicht für die Presse“, 1932–1940 Jahr

1932

1934

1935

1937

1939

1940

Exemplare

200

200

74

63

54

75

Quelle: RGASPI 558/11/206-208.

2. Das zweite geheime Bulletin der TASS hieß „Bulletin für Dienstinformationen“. In der Hierarchie der Geheimhaltung von Auslandsnachrichten stand es ganz oben: Während die im „Bulletin nicht für die Presse“ präsentierten Meldungen als „vertraulich“ galten, waren seine Inhalte als „geheim“ eingestuft. Das „Bulletin für Dienstinformationen“ erschien täglich und präsentierte „Eilinformationen“, eine Art Breaking News, die für die Situationsbewertung und die operative Leitung der Außenpolitik von Bedeutung waren.303 299 Vgl. die TASS-Anordnung vom 14.05.1932, GARF 4459/38/39/20. 300 Die TASS-Anordnung vom 25.12.1939, GARF 4459/38/15/2. 301 Doleckij an Molotov, 05.05.1927, RGASPI 17/113/296/132; der Beschluss des Sekretariats vom 23.09.1927 „über die Ergänzung der Liste der verantwortlichen Personen, die die TASS-Bulletins ‚nicht für die Presse‘ erhalten“, RGASPI 17/113/331/10; Doleckij an den Leiter des Sondersektors, Poskrebyšev, Mai 1937, GARF 4459/38/87/118. 302 Das Protokoll Nr. 116 der Sitzung des Sekretariats vom 27.05.1927, „Die Liste der verantwortlichen Personen, berechtigt zum Erhalt des Bulletins der TASS ‚Nicht für die Presse‘“, RGASPI 17/113/296/18. 303 Der Jahresbericht der TASS für das Jahr 1938, 13.04.1939, GARF 5446/23/2089/34.

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Die TASS, die außenpolitische Elite und ausgewählte Problemkomplexe der Auslandsberichterstattung

Abbildung 9 Das Verhältnis von nichtgeheimen und geheimen Auslandsinformationen der TASS Quelle: GARF 391/11/34/117 f.; RGASPI 17/113/296/235; GARF 4459/11/638/105; GARF 4459/38/92/40; RGASPI 17/125/191/72.

Zum Abonnentenkreis gehörten die Mitglieder des Politbüros und der Regierung, das Führungspersonal des ZK-Apparates, des NKID, des NKVD, des Militärs sowie die Chefredakteure der Zentralzeitungen – insgesamt zwischen 53 (1939) und 66 (1941) Personen.304 Im Zuge der ‚Liberalisierung‘ der Informationspolitik während des Krieges gegen Nazi-Deutschland wurde der Empfängerkreis auf 92 Personen vergrößert. Stalin, Molotov, Ždanov und Vyšinskij erhielten dabei je zwei Exemplare.305 Ab November 1940 erschien eine Sonderbeilage des „Bulletins für Dienstinformationen“, in der die INO-TASS publizistische Werke übersetzte, für die die Kremlführung Interesse gezeigt hatte. Die erste Sonderbeilage enthielt das Buch von Hermann Rauschning über Hitler und wurde an 35 Adressaten verschickt.306 In den 1930er Jahren wurden immer mehr TASS-Nachrichten den geheimen Bulletins zugeordnet (vgl. Abb. 9307 ) – eine Entwicklung, die die Disposition des Sowjetsystems zur Einschränkung von Produktion, Zirkulation und Kommunikation von Auslandswissen widerspiegelte.308

304 305 306 307

Ermittelt nach RGASPI 558/11/206-208. Die von Palgunov erstellten Empfängerlisten, 02.06.1943 u. 03.07.1943, RGASPI 17/125/191/14-19. GARF 4459/38/109a/1. Die statistische Auswertung nach GARF 391/11/34/117 f.; RGASPI 17/113/296/235; GARF 4459/11/638/105; GARF 4459/38/92/40; RGASPI 17/125/191/72. 308 Bereits im Oktober 1922, als das Primat der Integration in die Weltpolitik unumstritten war, musste Čičerin Lenin eindringlich davor warnen, „sich der Außenwelt zu verschließen“. Vgl. Čičerin an Lenin, 15.10.1922, RGASPI 5/1/2060/13.

Die Geographie der Auslandsberichterstattung der TASS im außenpolitischen Kontext, 1923–1941

Die geringe Präsenz des Auslandes in der öffentlichen Kommunikation und das Nichtthematisieren vieler Aspekte und Problemfelder der Weltpolitik in der Sowjetpresse können als grundlegende Merkmale der stalinistischen Diskursordnung angesehen werden. Welche bizarren Relevanzstrukturen und Aufmerksamkeitsmuster diese Diskursordnung erzeugte, zeigte sich exemplarisch an der Berichterstattung über den Beginn des Zweiten Weltkrieges: Auf die Kriegserklärung Englands an das Deutsche Reich ging die „Pravda“ auf der Seite 5 mit einem Fünfzeiler ein.309 Der Rückgang der Auslandsberichterstattung in der Sowjetpresse, die restriktive, von der exzessiven Geheimhaltung geprägte Informationspolitik der Kremlführung und das Entwicklungsverhältnis von geheimen und nichtgeheimen TASSInformationen deuten darauf hin, dass in der Sowjetunion zwei Versionen des medialen Auslandsbildes existierten, zwei unterschiedliche ‚Welten‘, die eine unüberbrückbare wissenspolitische Kluft zwischen dem kleinen Machtzirkel des Diktators und den durch Propaganda und Terror beherrschten Sowjetuntertanen erzeugten.

3.5 Die Geographie der Auslandsberichterstattung der TASS im außenpolitischen Kontext, 1923–1941 Das mediale Auslandsbild der TASS, das im Modus der Selbst- und Fremdreferenz erzeugt wurde, kann als „kognitive Landkarte der Bevölkerung“310 bezeichnet werden. Das aktuelle Kapitel untersucht die geographischen Strukturmerkmale dieser Landkarte und fragt danach, welche Faktoren und Determinanten die journalistische Aufmerksamkeitsverteilung beeinflussten. Das Hauptinteresse gilt dem Problem, wie die in der medialen Tiefenstruktur des sowjetischen Weltbildes ermittelten Kontinuitäten, Präferenzen und Brüche uns helfen können, die Außenpolitik der Sowjetunion, ihre Schwerpunkte und Sachzwänge zu bestimmen und zu deuten. Die statistische Auswertung des sowjetischen Auslandsbildes geschieht in kritischer Beleuchtung des Forschungsstandes zur Geographie der Auslandsberichterstattung.

309 Vgl. Brooks, Thank You, Comrade Stalin!, S. 152. Vgl. die „Pravda“, Nr. 245, 04.09.1939, S. 5. Auf der ersten Seite dieser Zeitung konnten sich die Sowjetleser hingegen ausführlich über die Stoßarbeit in der Landwirtschaft und über den Weltjugendtag informieren. 310 Vgl. Winfried Schulz, Die Konstruktion von Realität in den Nachrichtenmedien: Analyse der aktuellen Berichterstattung, Freiburg/München 1976, S. 121. Vgl. auch Werner A. Meier, Ungleicher Nachrichtenaustausch und fragmentarische Weltbilder. Eine empirische Studie über Strukturmerkmale in der Auslandsberichterstattung, Bern 1984, S. 136 f.

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Die TASS, die außenpolitische Elite und ausgewählte Problemkomplexe der Auslandsberichterstattung

Die Nachrichtengeographie ist in historischer Forschung ein relativ schlecht erforschtes Phänomen.311 Dafür sind vor allem zwei Gründe verantwortlich: In den 1960er und 1970er Jahren widmete man sich dem Thema aus der kritischen Perspektive der Hinterfragung der Dominanz der westlichen Medien und der „Asymmetrie“ des Nachrichtenflusses im Weltinformationsordnungssystem.312 Man ist dabei mehr der normativ geleiteten „Verbesserung der Verhältnisse“ nachgegangen als der medien- und kommunikationstheoretisch orientierten Untersuchung des Phänomens der Geographie der Auslandsberichterstattung.313 Der zweite Grund liegt im Design dieser Studien, aber auch in der Quellenlage. Meistens geht es um die Beobachtung zeitgenössischer Presse, wobei man aufgrund der Anzahl von Auslandsmeldungen ausgewählter Medien das Problem der medialen Geographie der Auslandsberichterstattung untersucht. Dieses methodische Vorgehen ist wenig auf historische Perspektive ausgerichtet und kann nicht erklären, welche Bedeutung mediale Ressourcen und Organisationsstrukturen sowie außenpolitische Präferenzen und Interessen in der Konstruktion des medialen Auslandbildes haben. Im Anschluss an den Forschungsstand über die Nachrichtengeographie möchte ich einige Befunde und Hypothesen am Beispiel der sowjetischen Auslandsberichterstattung überprüfen. Die Regionalismus-These besagt, dass am häufigsten über Staaten aus der eigenen Region berichtet wird.314 Der Machtstatus einzelner Staaten in der Struktur internationaler Beziehungen wird als „absolute Koordinate“ im Modus der medialen Aufmerksamkeitsverteilung bezeichnet.315 Ebenso betrachtet man die Bevorzugung von Elite-Nationen in der langfristigen Dimension als nicht relative Konstante.316 Es wird darüber hinaus angenommen, dass die Intensität ökonomischer Beziehungen (unter anderem Handelsbeziehungen)

311 Vgl. Winfried Schulz, Nachrichtengeographie. Untersuchungen über die Struktur der internationalen Berichterstattung, in: Rühl, Manfred/Stuiber, Heinz-Werner (Hrsg.), Kommunikationspolitik in Forschung und Anwendung: Festschr. für Franz Ronneberger, Düsseldorf 1983, S. 282. 312 Vgl. Robert L. Stevenson/Donald Lewis Shaw (Hrsg.), Foreign News and the New World Information Order, Chapel Hill 1984. 313 Vgl. kritisch hierzu: Schulz, Nachrichtengeographie, S. 281 ff. 314 Meier, Ungleicher Nachrichtenaustausch, S. 218. Winfried Schulz spricht vom „universellen Regionalismus“. Schulz, Nachrichtengeographie, S. 283. Vgl. auch Lutz Hagen, Harald Berens, Reimar Zeh, Daniela Leidner, Ländermerkmale als Nachrichtenfaktoren. Der Nachrichtenwert von Ländern und seine Determinanten in den Auslandsnachrichten von Zeitungen und Fernsehen aus 28 Ländern, in: Christina Holtz-Bacha (Hrsg.), Wie die Medien die Welt erschaffen und wie die Menschen darin leben, Opladen 1998, S. 60. 315 Hagen u. a., Ländermerkmale, S. 78. 316 Nach Jürgen Wilke ist die Bevorzugung von Elite-Nationen in der medialen Aufmerksamkeit eine Konstante, die „über Jahrzehnte und Jahrhunderte“ Geltung hat. Vgl. Wilke, Konstanten und Veränderungen, S. 56.

Die Geographie der Auslandsberichterstattung der TASS im außenpolitischen Kontext, 1923–1941

als weiterer bedeutender Faktor in der Nachrichtengeographie anzusehen ist.317 Eine oft unbeachtete, aber vermutlich zentrale Determinante in der Geographie der Auslandsberichterstattung stellt die Struktur des internationalen Mediensystems dar.318 Es wird von der These ausgegangen, dass zwischen der strukturbedingten Schwerpunktsetzung des medialen Auslandsbildes einerseits und den außenpolitischen Präferenzen und Interessenkonstellationen der sowjetischen Führung andererseits eine Interdependenz besteht. Daraus leitet sich die Möglichkeit ab, Debatten und Kontroversen zur sowjetischen Außenpolitik der Zwischenkriegszeit319 durch eine mediale Blickerweiterung mit neuen Inhalten und Deutungsmustern zu bereichern. Analytisch wird auf Reinhart Kosellecks Begriffe von „Erfahrungsraum und Erwartungshorizont“ als zentrale Kategorien der historischen Erklärung zurückgegriffen.320 Der Erfahrungsraum wird als pragmatische Dimension der medialen Weltbeobachtung definiert. Unter dieser Dimension werden mehrere Aspekte subsumiert, die die sowjetische Weltwahrnehmung beeinflussten: globale Strukturen des Medienverbundsystems (Anschlüsse an Kabelnetzwerke, telegraphische Verbindungen, Verträge mit ausländischen Nachrichtenagenturen), Handelsbeziehungen, politisch stabilisierte Erwartungen (Nichtangriffsverträge, kongruente Interessen auf vertraglicher Basis), eine positive Fokussierung auf „Elite-Nationen“, wenn im Erwartungshorizont der sowjetischen Protagonisten die Kooperationserwartung eindeutig die Furcht vor einem Krieg dominierte. Der Erwartungshorizont wird als symbolische Dimension der medialen Weltwahrnehmung verstanden. Diese Dimension schloss vor allem zwei Erwartungskategorien ein: Angst vor Kriegsgefahr und Revolutionserwartung. Während die zweite Kategorie in der Forschung breit rezipiert wurde und zur Metapher der Doppelgleisigkeit der sowjetischen Außenpolitik verleitete, blieben die Bedeutung und die Rolle der Kriegserwartung in der sowjetischen Weltperzeption lange umstritten. Man schrieb der Kriegserwartung oft einen instrumentellen Charakter zu und sah

317 Hagen u. a., Ländermerkmale, S. 78. 318 Vgl. Wilke, Konstanten und Veränderungen, S. 41 und S. 43. 319 Grundlagentexte in meiner Auswahl: Dietrich Geyer, Voraussetzungen sowjetischer Außenpolitik in der Zwischenkriegszeit, in: ders. (Hrsg.), Osteuropa-Handbuch. Sowjetunion. Außenpolitik 1917–1955, Köln/Wien 1972, S. 1–85; Bianka Pietrow, Stalin-Regime und Außenpolitik in den dreißiger Jahren. Eine Zwischenbilanz des Forschungsstandes, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 33 (1985), S. 495–517; Gabriel Gorodetsky, (Hrsg.), Soviet Foreign Policy, 1917–1991: a Retrospective, London 1994; Knoll, Das Volkskommissariat. 320 Reinhart Koselleck, Erfahrungsraum und Erwartungshorizont – zwei historische Kategorien, in: ders., Vergangene Zukunft: zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a.M. 1979, S. 349–375.

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Die TASS, die außenpolitische Elite und ausgewählte Problemkomplexe der Auslandsberichterstattung

Abbildung 10 Die Nachrichtengeographie der ROSTA im September/Oktober 1923, in % Quelle: RGASPI 17/60/888/34.

ihre Funktion in der gesellschaftlichen Mobilisierung.321 Nachdem die postsowjetische „Archivrevolution“ den Zugang zu vielen als geheim eingestuften Dokumenten der außenpolitischen Führung der Sowjetunion ermöglicht hatte, betonte die Forschung nunmehr nicht nur die Ernsthaftigkeit der sowjetischen Kriegsangst322 , sondern wies überzeugend nach, dass die Kriegserwartung ein treibendes Moment in den sowjetischen Mobilisierungs- und Kriegsvorbereitungsmaßnahmen war.323 Die Aufmerksamkeitsstruktur des sowjetischen Auslandsbildes in den Jahren 1923, 1927, 1934 und 1940 lässt sich aus einem Koordinatensystem ablesen, dessen Achsen Erfahrungsraum und Erwartungshorizont sind. Beide Dimensionen sind selbstverständlich nur idealtypisch scharf zu trennen, da sie immer präsent und aufeinander bezogen sind. Abbildung 10 zeigt die quantitative Bedeutung der zwölf wichtigsten Auslandsbüros der ROSTA, der Vorläuferin der TASS, im September und Oktober 1923. Auf den ersten Blick kann die herausragende Stellung der deutschen Hauptstadt in der sowjetischen Auslandsberichterstattung im Kontext der Rapallo-Politik gelesen werden.324 Verstärkt wurde diese pragmatische Komponente durch die traditionel-

321 Vgl. Alexander Erlich, Die Industrialisierungsdebatte in der Sowjetunion 1924–1928, Frankfurt a.M. 1971; Manfred von Boetticher, Industrialisierungspolitik und Verteidigungskonzeption der UdSSR. Herausbildung des Stalinismus und „äußere Bedrohung“, Düsseldorf 1979. 322 Vgl. Knoll, Das Volkskommissariat, S. 127; Oleg Khlevniuk, The Reasons for the „Great Terror“: the Foreign-Political Aspect, in: Silvio Pons (Hrsg.), Russia in the Age of Wars 1914–1945, Mailand 2000, S. 159–169. 323 Vgl. Oleg Ken, Mobilizacionnoe planirovanie i političeskie rešenija (konec 1920-seredina 1930-ch godov), Sankt Petersburg 2002. 324 Zum Rapallo-Vertrag: Horst Günther Linke, Der Weg nach Rapallo. Strategie und Taktik der deutschen und sowjetischen Außenpolitk, in: Historische Zeitschrift 264 (1997), S. 55–109.

Die Geographie der Auslandsberichterstattung der TASS im außenpolitischen Kontext, 1923–1941

le Bedeutung von Informationsnetzwerken zwischen Deutschland und Russland, die in der ersten Hälfte der 1920er Jahre Berlin zu einem Knoten- und Transmissionspunkt der sowjetischen Außenpolitik in Europa verwandelte. In der Tat stellte Berlin bis August 1923 die bedeutendste pragmatische Achse in der medialen Aufmerksamkeitsstruktur des Sowjetstaates dar: 13,5% aller Auslandsmeldungen kamen im Juli 1923 aus dem Berliner Büro der ROSTA.325 Von August bis Oktober 1923 vollzog sich aber eine dramatische Verschiebung im medialen Aufmerksamkeitsfokus der Sowjetunion: Die Anzahl von Auslandsmeldungen aus Berlin stieg um 15% an. Das kann eindeutig der symbolischen Dimension der Revolutionserwartung zugerechnet werden. Als 1923 die Ruhrkrise das Deutsche Reich in eine Katastrophe zu stürzen drohte, kamen in Moskau neue Hoffnungen auf die Revolution in Deutschland auf. Im August 1923 fasste das Politbüro einen Beschluss, in dem es hieß: „das deutsche Proletariat steht unmittelbar vor den entscheidenden Kämpfen um die Macht“. Am 4. Oktober wurde in einem anderen Beschluss der zuständigen Kommission des Politbüros sogar das Datum des „Aufstandes“, der 9. November 1923, genannt.326 Welcher Dimension des medialen Weltbildes kann aber die Auslandsberichterstattung aus London und Paris zugerechnet werden? England galt in bolschewistischer Sicht als Weltmacht und Anführer des feindlichen ‚kapitalistischen Lagers‘, Frankreich erlitt durch die Russische Revolution die größten Kapitalverluste auf dem russischen Markt und fungierte als wichtigster Garant des Versailler Systems, das im Kreml explizit abgelehnt wurde. Die militärische Schwäche des Sowjetstaates bedingte eine stark ausgeprägte Ungewissheit und Unsicherheit in der Wahrnehmung beider kapitalistischer Mächte durch die bolschewistische Führung. Jedoch wird man die symbolische Dimension von Kriegsangst und -erwartung nicht als die einzige – und vielleicht auch nicht als die wichtigste – Determinante ansehen können, die die Bedeutung von London und Paris in der sowjetischen Aufmerksamkeitsverteilung bestimmte. London war bis in die 1940er Jahre das unumstrittene Weltkommunikationszentrum, von dem aus praktisch die ganze Welt beobachtet werden konnte.327 Die französische Nachrichtenagentur Havas gehörte mit der britischen Reuters zu den leistungsstärksten Informationsanbietern auf dem Auslandsnachrichtenmarkt. Die pragmatische Dimension der Integration in das globale Medienverbundsystem und des Anschlusses an die Weltkabel als wichtigstes

325 GARF 391/11/53/13. 326 Vgl. die Beschlüsse des Politbüros vom 22.08.1923 und vom 04.10.1923, in: Adibekov (Hrsg.), Politbüro CK RKP(b)-VKP(b) i Evropa, S. 19 f. und S. 22. Die Dokumentensammlung zu diesem Ereigniskomplex: Bernhard H. Bayerlein, Leonid G. Babičenko (Hrsg.): Deutscher Oktober 1923. Ein Revolutionsplan und sein Scheitern, Berlin 2003. 327 Hierzu: Dwayne R. Winseck, Robert M. Pike, Communication and Empire. Media, Markets, and Globalization, 1860–1930, London 2007.

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Die TASS, die außenpolitische Elite und ausgewählte Problemkomplexe der Auslandsberichterstattung

Abbildung 11 Die Nachrichtengeographie der TASS im März 1927, in % Quelle: RGASPI 17/113/296/234.

Übertragungsmedium von Auslandsinformationen war für die Aufmerksamkeitsstruktur des medialen Weltbildes der Sowjetunion maßgeblich. Der Eintritt der Sowjetunion in die Weltpolitik erfolgte in dieser Hinsicht im Sommer 1921, als die Verträge mit der Großen Nördlichen Telegraphengesellschaft (Konzessionsvertrag zur Nutzung der Unterseekabel zwischen Russland einerseits und Dänemark, Japan und China andererseits) und mit England über die Nutzung des anglo-russischen Unterseekabels abgeschlossen wurden. Das mediale Weltbild der Sowjetunion im März 1927 erlaubt eine plastische Interpretation der pragmatischen und symbolischen Komponente in der bolschewistischen Weltwahrnehmung (vgl. Abb. 11). Die Auslandberichterstattung aus Berlin und Wien kann klar der pragmatischen Dimension des medialen Weltbildes der Sowjetunion zugeordnet werden. Die Rahmenbedingungen des deutschsowjetischen Verhältnisses wurden von den Grundsätzen der Rapallo-Politik und dem Kreditabkommen von 1925 gebildet.328 Neu und für den Zusammenhang von medialer Aufmerksamkeitsverteilung und außenpolitischer Interessenlage aufschlussreich ist die mediale Schwerpunktverla-

328 Programmatisch für die sowjetische Erwartungshaltung gegenüber Deutschland in den 1920er Jahren war der Beschluss des Politbüros vom 24.12.1924. Man hielt darin fest, dass „der Gedankenaustausch mit Deutschland nicht nur die Beziehungen zu Polen, sondern auch zu England und überhaupt die gesamte Außenpolitik beider Staaten betreffen sollte“. In: Adibekov (Hrsg.), Politbüro CK RKP(b)-VKP(b) i Evropa, S. 57. Zu den deutsch-sowjetischen Beziehungen in der Zwischenkriegszeit vgl. Segej Slutsch, Deutschland und die UdSSR 1918–1939. Motive und Folgen außenpolitischer Entscheidungen. Eine neue russische Perspektive, in: Hans-Adolf Jacobsen u. a. (Hrsg.), Deutsch-russische Zeitenwende. Krieg und Frieden 1941–1995, Baden-Baden 1995, S. 28–90.

Die Geographie der Auslandsberichterstattung der TASS im außenpolitischen Kontext, 1923–1941

gerung nach dem Fernen Osten. Die Außenpolitik und die Weltwahrnehmung des Kremls wurden seit Mitte der 1920er Jahre endgültig von der Zwei-HemisphärenLage der Sowjetunion konditioniert. Der Grad der Aufmerksamkeitsverschiebung nach Asien – von 10% im Jahr 1923 auf 32% im März 1927 – war situativ bedingt und spiegelte die symbolische Dimension der Revolutionserwartung wider: Stalin setzte auf die Machtergreifung der chinesischen Kommunisten und den Beginn einer Befreiungsbewegung der Völker Asiens gegen den europäischen und amerikanischen Imperialismus. Am 23. September 1926 kritisierte er in einem Brief an Molotov den sowjetischen Botschafter: „Karachan wird nie verstehen, dass Hankou bald chinesisches Moskau wird“.329 Während die bolschewistische Perzeption Europas durch eine Mischung aus Kriegsangst (Abbruch der diplomatischen Beziehungen durch England im Juli 1927) und Faszination (technischer Vorsprung und Handelsmöglichkeiten) bestimmt wurde, kam in China aber „der Organisation des Proletariats und der Revolution“330 die Hauptbedeutung zu. Die Aufmerksamkeitsstruktur der sowjetischen Auslandsberichterstattung im Jahr 1934 zeigt eine klare Dominanz der pragmatischen Dimension der Weltwahrnehmung (vgl. Abb. 12). Die pragmatische Dimension der sowjetischen Außenpolitik manifestierte sich besonders deutlich im Beitritt der UdSSR zum Völkerbund im September 1934 und im Abschluss der Beistandspakte mit Frankreich und der Tschechoslowakei im Mai 1935. Dass London weiterhin seine Position als Knotenpunkt für Weltnachrichten behauptete, trug auch dazu bei, dass das TASS-Büro in der britischen Hauptstadt seit 1934 zum wichtigsten Beobachtungsposten aufstieg. Die Ausrichtung des medialen Beobachtungsfokus auf Tokio und zum Teil auf Warschau kann der symbolischen Dimension der perzipierten Kriegsgefahr zugeschrieben werden. Seit Mitte der 1920er Jahre wurden die angeblichen polnischen Kriegspläne gegen die UdSSR immer wieder im engsten Führungskreis thematisiert. Am 1. September 1930 schrieb Stalin Molotov: Die Polen sind ganz bestimmt dabei, einen Block baltischer Staaten (Estland, Lettland, Finnland) zu schaffen, um einen Krieg gegen die UdSSR zu führen. Ich denke, solange sie diesen Block nicht geschaffen haben, werden sie keinen Krieg gegen die UdSSR führen.331

Nach dem Einfall Japans in die Mandschurei im September 1931 gehörte die Befürchtung des Zweifrontenkrieges zum Standardrepertoire der Situationsbeurteilung im Kreml. Der von Stalin forcierte Nichtangriffspakt mit Polen vom Juli 1932

329 Stalin an Molotov, 23.09.1926, in: L. Košeleva u. a. (Hrsg.), Pisma I.V. Stalina V.M. Molotovu 1925–1936 gg. Sbornik dokumentov, Moskau 1995, S. 94. 330 Stalin an Molotov, 27.06.1927, in: Košeleva (Hrsg.), Pis’ma Stalina Molotovu, S. 104. 331 Stalin an Molotov, 01.09.1930, in: Košeleva (Hrsg.), Pis’ma Stalina Molotovu, S. 209.

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Die TASS, die außenpolitische Elite und ausgewählte Problemkomplexe der Auslandsberichterstattung

Abbildung 12 Die Nachrichtengeographie der TASS im Zeitraum Januar–Juli 1934, in % Quelle: GARF 4459/11/595/101-104.

(„die Frage des Friedens in den nächsten 2–3 Jahren“332 ) und die Schaffung eines dem sowjetischen Diktator direkt unterstellten Büros für Internationale Informationen unter Leitung von Karl Radek waren sowjetische Reaktionen auf das gestiegene Gefühl der Unsicherheit der außenpolitische Lage und den Bedarf einer fokussierten, eventuell sogar alternativen Auslandsanalyse.333 Die Machtergreifung Hitlers führte zur langsamen Transformation der pragmatischen Dimension der sowjetischen Wahrnehmung Deutschlands (Bestellungswünsche gegenüber der deutschen Industrie und bis September 1934 erfolgte Werbung des Dritten Reiches für den Ostpakt) in die symbolische Dimension der Kriegsgefahrsemantik.334 Die Aufmerksamkeits- und Erwartungsstruktur des medialen Auslandsbildes der TASS in der zweiten Hälfte des Jahres 1940 spiegelte die Globalisierung der sowjetischen Außenpolitik wider, wobei eher von der Dominanz der symbolischen Dimension auszugehen ist (vgl. Abb. 13). Der Aufstieg des New Yorker Korrespondentenstandortes der TASS zum wichtigsten Auslandsbüro markierte die transantlantische Verschiebung im medialen Weltbild der Sowjetunion und hatte mehrere Gründe: Die amerikanische Metropole löste London als Drehscheibe für Globalnachrichten ab, die Entwicklung der

332 Stalin an Kaganovič, 30.08.1931, in: Chlevnjuk (Hrsg.), Stalin i Kaganovič. Perepiska, S. 71. 333 Knoll, Das Volkskommissariat, S. 135; Ken, Karl Radek, S. 135–170. 334 Erst seit 1935 erschien das Deutsche Reich in den operativen Plänen der Roten Armee als potentieller Kriegsgegner. Zu unterschiedlichen Deutungen der sowjetischen Deutschlandpolitik: Pietrow, Stalinismus – Sicherheit – Offensive; Sergej Slutsch, Stalin und Hitler 1933–1941: Kalküle und Fehlkalkulationen des Kreml, in: Jürgen Zarusky (Hrsg.), Stalin und die Deutschen. Neue Beiträge der Forschung, München 2006, S. 59–88.

Die Geographie der Auslandsberichterstattung der TASS im außenpolitischen Kontext, 1923–1941

Abbildung 13 Die Nachrichtengeographie der TASS und operative Ausgaben im 2. Halbjahr 1940, in % Quelle: GARF 5446/24a/757 (die Nachrichten-Angaben für das TASS-Büro in Berlin fehlen).

drahtlosen Telegraphie ermöglichte und verbilligte die transkontinentale Kommunikation, während man im Kreml die USA zugleich immer mehr als Hauptakteur in globalpolitischen Zusammenhängen betrachtete.335 Dieses Perzeptionsmuster und die Fokusausrichtung der sowjetischen Weltwahrnehmung auf Asien (mit fast 30% der medialen Aufmerksamkeit) machen die Schlussfolgerung plausibel, dass die Sowjetunion sich auf einen globalen Krieg einstellte und im Falle der Realisierung ihrer sicherheitspolitischen Ziele – Kontrolle über die Dardanellen und Einbeziehung Bulgariens in die sowjetische Interessensphäre – durchaus bereit war, ihn auf der Seite der Achsenmächte zu beenden. In „einigen Direktiven zur Berliner Reise“, die Stalin Molotov am 9. November diktiert haben soll, wurden globale Konturen der neuen Weltordnung entworfen: Neben der Neuabgrenzung der Interessensphären in Europa sollte „ein Ehrenfrieden für China“ angestrebt, „Indonesien als Einflusssphäre Japans“ anerkannt und „eine Friedensaktion in Form einer offenen Deklaration der vier Mächte“ (Sowjetunion, Deutschland, Japan und Italien) gestartet werden. „Unter Voraussetzung der Nichteinmischung in die europäischen Belange und des sofortigen Abzugs aus Gibraltar und Ägypten“ sollte England eine Garantie für die „Erhaltung des Großbritischen Reiches (ohne Mandatsterritorien)“ gegeben werden.336

335 Einerseits könnten sich die USA an die Seite Englands schlagen und das Weltumgestaltungsprogramm der Achsenmächte verhindern, andererseits waren sie aber eine bedeutende Gegenmacht gegen japanische Expansionsbestrebungen im Fernen Osten. 336 RGASPI 82/2/1161/153-154. Zu unterschiedlichen Erwartungshaltungen Hitlers und Stalins vgl. Sergej Slutsch, Die Motive für die Einladung Molotovs nach Berlin im November 1940: Fakten, Vermutungen, vorläufige Schlussfolgerungen, in: Klaus Hildebrand u. a. (Hrsg.), Geschichtswissen-

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Die TASS, die außenpolitische Elite und ausgewählte Problemkomplexe der Auslandsberichterstattung

Abschließend möchte ich einige Ergebnisse über die Aufmerksamkeitsstruktur des sowjetischen medialen Weltbildes im Kontext des Forschungsstandes zur Nachrichtengeographie und der Deutungskontroversen zur sowjetischen Außenpolitik auswerten und diskutieren. 1. Man kann deutlich eine Interdependenz zwischen medialer Weltwahrnehmung und außenpolitischen Präferenzstrukturen feststellen. Mediale Kommunikation schafft für die Politik Orientierungshorizonte, eine kognitiv-mediale Weltkarte mit Handlungsräumen und Zeitstrukturen.337 Die Außenpolitik kann durch Signalund Themensetzung338 ihrerseits mediale Kommunikation mitbestimmen, aber auch durch ihre Deutungsmuster und Aneignungsstrategien die Anschlussfähigkeit medialer Weltbilder kontrollieren. Eine einseitige, lineare Kommunikationskette im medialen Diskurs der Auslandsberichterstattung der Sowjetunion gab es nicht. Die Nachrichtenproduktion der TASS besaß eine strukturelle Kopplung zu Erwartungsund Bedeutungsstrukturen des sowjetischen „Publikums“; die Fokusausrichtung und den Umfang der Berichterstattung legte die INO-TASS aber meistens intern im Rahmen ihrer Redaktionsplanung fest.339 2. Die Intensität und die Struktur der Außenhandelsbeziehungen können als relativer, aber sehr wichtiger Indikator der medialen Aufmerksamkeit bezeichnet werden (vgl. Abb. 14 und 15). Für das Verständnis der Sachzwänge und der Konzeptbildung der sowjetischen Außenpolitik hat das weitreichende Konsequenzen: Die Korrelation zwischen der Aufmerksamkeitsstruktur des medialen Weltbildes und dem Intensitätsgrad des Wirtschaftsverkehrs mit dem Ausland weist der pragmatischen Dimension der sowjetischen Politik eine zentrale Bedeutung zu. Nicht umsonst gehören viele außenpolitisch relevante Entscheidungen des Politbüros des ZK VKP(b) in der Zwischenkriegszeit in den Bereich der Außenhandelsbeziehungen. Ihr Einfluss auf die Motivlage und die Gestaltung der sowjetischen Außenpolitik sowie auf die Logik der Entscheidungsprozesse verdient es, von der Forschung stärker berücksichtigt zu werden. Dabei soll nicht außer Acht gelassen werden, dass das Problem der pragmatischen Dimension der Handelsbeziehungen immer einer Konkretisierung in Bezug auf Land, Zeithorizont und Konstellation im Feld der internationalen Beziehungen bedarf. An zwei Beispielen zeige ich, dass die mediale Fokusausrichtung und die

schaft und Zeiterkenntnis: von der Aufklärung bis zur Gegenwart; Festschr. zum 65. Geburtstag von Horst Möller, München 2008, S. 253–276. 337 Vgl. Terhi Rantanen, When News Was New, Hongkong 2009, S. 83 ff. Vgl. auch Kap. 1.3. 338 Die „Signalsetzung“ gehörte zu einem spezifischen Kommunikationsstil der Stalin-Diktatur. Vgl. Sheila Fitzpatrick, Everyday Stalinism. Ordinary Life in Extraordinary Times: Soviet Russia in the 1930s, New York/Oxford 1999, S. 26; Ken/Rupasov, Politbjuro CK VKP(b), S. 30. 339 Zur Ambivalenz von Selbstprogrammierung und Fremdbeeinflussung vgl. die Kapitel 1.3, 1.5, 2.3, 3.1, 3.2 und 3.3.

Die Geographie der Auslandsberichterstattung der TASS im außenpolitischen Kontext, 1923–1941

Abbildung 14 Vergleich der kontinentalen Verteilung von TASS-Nachrichten und der Außenhandelsbilanz der UdSSR, 1923, in % Quelle: RGASPI 17/60/888/34; Vnešnjaja torgovlja SSSR za 1918–1940 gg. Statističeskij obzor, Moskau 1960.

Abbildung 15 Vergleich der kontinentalen Verteilung von TASS-Nachrichten und der Außenhandelsbilanz der UdSSR, 1934, in % Quelle: GARF 4459/11/595/101-104; Vnešnjaja torgovlja SSSR za 1918–1940 gg. Statističeskij obzor, Moskau 1960.

Aufmerksamkeitsverteilung jenseits des ökonomischen Kalküls erfolgen und durch die symbolische Dimension der Kriegserwartung (Kriegsgefahr) konditioniert werden kann, wie es für Polen in der Zwischenkriegszeit und für Japan ab 1931 gilt (vgl. Abb. 16 und 17).

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Die TASS, die außenpolitische Elite und ausgewählte Problemkomplexe der Auslandsberichterstattung

Abbildung 16 Polen: Anteil an der Auslandsberichterstattung und am Export/Import der UdSSR, in % Quelle: RGASPI 17/60/888/34; 17/113/296/234; GARF 4459/11/595/101-104; 5446/24a/757; Vnešnjaja torgovlja SSSR za 1918–1940 gg. Statističeskij obzor, Moskau 1960.

3. Was die Regionalismus-These und das Problem der geographischen Nähe in der Erforschung des medialen Weltbildes angeht, soll zunächst eine begriffliche Präzisierung vorgenommen werden. Da die Sowjetunion ein eurasisches Land war, ist der Begriff „Region“ anders zu fassen. Ihm können zunächst alle Staaten der unmittelbaren geographischen Umgebung der Sowjetunion zugerechnet werden, aber auch der europäische Kontinent, der der sowjetischen Hauptstadt und den wirtschaftlich bedeutendsten Teilen des Landes am nächsten lag. Wenn man diesem Definitionskriterium folgt, dann kann der Befund medienwissenschaftlicher Studien bestätigt werden, dass am meisten über die eigene Region berichtet wird (vgl. Abb. 18). 4. Was solche Determinanten wie „Elite-Nation“ und „Machtstatus“ angeht, sind hier Differenzierungen und konzeptuelle Revisionen notwendig. Einflussreiche Nationen standen zwar im Zentrum der Aufmerksamkeit, mediale Strukturen waren aber transnational angelegt. Bezugsräume und Standorte der Beobachtung sind nicht Nationalstaaten, sondern „kosmopolitische Städte“, global cities als Knotenpunkte der weltweiten Kommunikation. In diesen Städten verdichteten sich Informationsnetzwerke zu medialen Weltstrukturen. Kommunikationszentren wie London, Paris, New York, Schanghai (oder auch Berlin in den 1920er Jahren) überschritten nationale Diskurse und Räume; aus diesen medialen Knotenpunkten berichteten die TASS-Büros über die gesamte Welt oder über Weltregionen. Daher erweist sich der Machtstatus eines Staates als relative Konstante: England und Frankreich waren in den 1920er Jahren die einflussreichsten europäischen Nationen, zu den bedeutendsten Beobachtungsposten der Sowjetunion in Europa zählten

Die Geographie der Auslandsberichterstattung der TASS im außenpolitischen Kontext, 1923–1941

Abbildung 17 Japan: Anteil an der Auslandsberichterstattung und am Export/Import der UdSSR, in % Quelle: RGASPI 17/60/888/34; 17/113/296/234; GARF 4459/11/595/101-104; 5446/24a/757; Vnešnjaja torgovlja SSSR za 1918–1940 gg. Statističeskij obzor, Moskau 1960.

Abbildung 18 Anteil Europas und der Nachbarstaaten an der Auslandsberichterstattung der TASS, in % Quelle: RGASPI 17/60/888/34 und 17/113/296/234; GARF 5446/18/2819 und 5446/24a/757.

aber Berlin und Wien. In der zweiten Hälfte der 1930er Jahre gehörten die USA, England und das Deutsche Reich zu den Weltmächten. Die größte Aufmerksamkeit lenkte aber in der Berichterstattung China auf sich (1940). 5. Bemerkenswert ist die kontinentale Verteilung der Auslandsberichterstattung der TASS. Anfang der 1920er Jahre richtete sich der mediale Fokus des sowjetischen Weltbeobachtens auf Europa. Obwohl der europäische Kontinent in der Zwischenkriegszeit stets die größte Aufmerksamkeit auf sich lenkte, kam es doch zu einer gewissen Defragmentierung des sowjetischen Weltbildes (vgl. Abb. 19).

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Die TASS, die außenpolitische Elite und ausgewählte Problemkomplexe der Auslandsberichterstattung

Abbildung 19 Kontinentale Nachrichtenprovenienz der TASS, in % Quelle: RGASPI 17/60/888/34; 17/113/296/234; GARF 4459/11/595/101-104; 5446/24a/757.

Mitte der 1920er Jahre haben sowjetische Beobachtungsposten in Asien an Bedeutung gewonnen und Mitte der 1930er begann der Aufstieg von New York zum bedeutendsten Informationsbüro der TASS. Diese Entwicklung zeigt einerseits die Globalisierung der sowjetischen Außenpolitik und eine Erweiterung des medialen Welthorizontes. Andererseits kann sie aber auch mit gutem Grund als Zeichen des nachlassenden macht- und informationspolitischen Einflusses Europas in der Weltpolitik gelten. Das Fehlen des afrikanischen Kontinents sowie Südamerikas und großer Teile des Pazifiks im Wahrnehmungsfokus der Sowjetunion kann auf strukturelle Defizite des medialen Auslandsapparates der TASS zurückgeführt werden. In machtpolitischer Sicht ist aber die Deutung zulässig, dass die Sowjetunion zu dieser Zeit im Aufstieg zur Weltmacht begriffen war – aber dieses Ziel noch nicht erreicht hatte. Gegenüber der weltweiten Kommunikationsleistung der USA oder auch des Britischen Empires und des Deutschen Reiches blieb die Sowjetunion rückständig.

Teil 3: Zwischenresümee

Die Nachrichtenagentur TASS war ein tagesaktuelles Medium der Auslandsberichterstattung und prägte das Nachrichtenbild Stalins entscheidend. Der sowjetische Führer wirkte auf die Entscheidungsprogramme der TASS überwiegend indirekt ein, durch seinen Einfluss auf die redaktionelle Linie der Zeitungen „Pravda“ und „Izvestija“, deren Themen und Interpretationen die INO-TASS wiederum aufmerksam beobachtete. Stalin betrachtete die TASS primär als ein Informationsmedium und nicht als Instrument zur Beeinflussung und Erziehung der Massen. Seine Rezeption von TASS-Nachrichten löste oft eine Anschlusskommunikation aus, deren wichtigste Grundmuster publizistische Entscheidungen und Dementis waren. Stalin agierte als Meinungsführer, der Nachrichten für seine Untergebenen filterte, kommentierte und deutete. Das Verhältnis zwischen der TASS und dem Volkskommissariat für Auswärtige Angelegenheiten war von zahlreichen Konflikten geprägt. Sie resultierten größtenteils aus der Diskrepanz von institutionellen Zielsetzungen, Aufgaben und Publikumsorientierungen. Die drei Hauptkonfliktfelder betrafen die Faktizität, die Themenstruktur und die Aktualität der Auslandsberichterstattung. Die Sowjetdiplomaten forderten das Primat des Informationsjournalismus und kritisierten den thematischen Eigensinn der TASS, die sich maßgeblich am Weltbild der Sowjetpresse orientierte. Nach dem Abgang von Čičerin aus der Politik verlor die diplomatische Führung die Kontrolle über die TASS weitgehend. Eine wichtige Zäsur stellte das Jahr 1929 dar, als die INO-TASS aus dem NKID-Gebäude auszog und sich programmatisch auf die Mobilisierungsdiskurse der Stalin-Diktatur ausrichtete. Im Publikumsbild der TASS nahm die Sowjetpresse eine Sonderstellung ein. Zum einen galten ihre Diskurse und Themen als Orientierungsmaßstäbe; zum anderen agierte sie als Medium für die gesellschaftliche Verbreitung und Rezeption von TASS-Nachrichten. Die Sprache der TASS, von Zitaten geprägt und nüchtern, unterschied sich jedoch grundlegend von der Repräsentationstechnik der Massenzeitungen, die sich suggestiver Etikettierungen und affektiver Rhetorik bedienten. Das Selbstverständnis der sowjetischen Nachrichtenagentur war maßgeblich von der Ethik des Informationsjournalismus geprägt. Die Lektüre der außenpolitischen Leitartikel der „Pravda“ und der „Izvestija“ wurde in der TASS als ein Decodierungsprozess verstanden, der wichtige „Hinweise“ auf außenpolitische Kalküle des Kremls liefern konnte. Diese Beobachtung der Auslandsberichterstattung der Moskauer Massenzeitungen war eine wichtige Säule

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Teil 3: Zwischenresümee

des Koordinationsprozesses. Die INO-TASS registrierte genau, mit Hilfe statistischer Methoden, wie und in welchem Umfang ihre Nachrichten übernommen und abgedruckt wurden. Die TASS übte einen prägenden Einfluss auf die Auslandsberichterstattung der Moskauer Presse aus. Diese ging aber bei ihren Rezeptionsentscheidungen von eigenen publizistischen Kalkülen und thematischen Präferenzen aus. Die Erzeugung des öffentlichen Auslandsbildes war das Ergebnis einer doppelten Selektion, der trotz einiger Programmdifferenzen ein gemeinsamer ideologischer Kern des journalistischen Weltbildes zugrunde lag. Neben der ‚Koordination durch Ideologie‘ spielte die ‚Koordination durch Aktualität‘ eine wichtige Rolle: Das Timing der Informationsverarbeitung in der INO-TASS war auf die Deadlines der Moskauer Massenzeitungen ausgerichtet. Die INO-TASS gab mehrere Auslandsbulletins heraus, die sich nach Umfang, Aktualität und Grad der Geheimhaltung unterschieden. Ihr Adressatenkreis blieb stets übersichtlich. In den 1930er Jahren wurden immer mehr TASS-Nachrichten den geheimen Bulletins zugeordnet – eine Entwicklung, die die fundamentale Disposition des Sowjetsystems zur Einschränkung von Produktion, Zirkulation und Kommunikation von Auslandswissen widerspiegelte. Das Monopol der TASS auf die Auslandsberichterstattung kann als Politik der Wissenskontrolle interpretiert werden, die der sowjetische Machtapparat anwendete, um seine Deutungs- und Informationshoheit zu stabilisieren. Der Rückgang der Auslandsberichterstattung in der Sowjetpresse und die restriktive, von der exzessiven Geheimhaltung geprägte Informationspolitik der Kremlführung deuten darauf hin, dass in der Sowjetunion zwei Versionen des medialen Auslandsbildes existierten, die eine unüberbrückbare wissenspolitische Kluft zwischen dem kleinen Machtzirkel des Diktators und den Sowjetuntertanen erzeugten. Man kann eindeutig eine Interdependenz zwischen medialer Weltwahrnehmung und außenpolitischen Präferenzstrukturen feststellen. Die Intensität und die Struktur der Außenhandelsbeziehungen können als relativer, aber sehr wichtiger Indikator der medialen Aufmerksamkeit bezeichnet werden. Der Machtstatus eines Staates erweist sich allerdings als relative Konstante: England und Frankreich waren in den 1920er Jahren die einflussreichsten europäischen Nationen, zu den bedeutendsten TASS-Büros in Europa zählten jedoch Berlin und Wien. Ende der 1930er Jahre gehörten die USA, England und das Deutsche Reich zu den Weltmächten, die TASS richtete aber die größte Aufmerksamkeit auf China.

Schlussbetrachtung und Ausblick

Als die TASS im Sommer 1925 ihre Tätigkeit aufnahm, gehörte sie zum Kreis moderner Nachrichtenagenturen und war in der Lage, ihre Auslandsberichterstattung nach eigenen Selektionskriterien und Themen zu organisieren. Zu den Global Players auf dem Nachrichtenmarkt, den Kreisen der britischen Agentur Reuters und der französischen Havas, gehörte sie jedoch nicht. Das Korrespondentennetzwerk der TASS beschränkte sich hauptsächlich auf Europa und Asien. Aus diesem Grund fehlten auf der kognitiven Landkarte der sowjetischen Auslandsberichterstattung ganze Kontinente – wie Afrika, Südamerika und Australien. Die Weltwahrnehmung der TASS war durch Europazentrismus und Regionalismus geprägt und erst zu Beginn des Zweiten Weltkrieges zeichneten sich Globalisierungstendenzen in der sowjetischen Auslandsberichterstattung ab, als die TASS-Standorte in New York und Schanghai zu den wichtigsten Beobachtungsposten ausgebaut wurden. Neben diesen gehörten zu den bedeutendsten TASS-Korrespondentenstützpunkten in der Zwischenkriegszeit die Büros in London, Berlin und Paris. Sie generierten das Gros an Auslandsnachrichten und waren in der Lage, über den Quellenhorizont der Presseauswertung hinauszugehen und Informationen aus informellen Kanälen, wie zum Beispiel von Informanten, zu generieren. Die Geographie des medialen Weltbildes der TASS spiegelte im Ganzen die außenpolitischen Präferenzen der Sowjetunion wider. Im Fokus der Auslandsberichterstattung befanden sich die kapitalistischen Großmächte – England, USA, Deutschland und Frankreich; unter besonderer Beobachtung standen auch die Nachbarstaaten, besonders die, die der Kreml durch das Prisma der Kriegsgefahr perzipierte, wie Polen in der Zwischenkriegszeit oder Japan in den 1930er Jahren. Neben dem Faktor ‚Grenze‘ kam in der sowjetischen Weltwahrnehmung auch China – als dem größten Kampfplatz der antikolonialen Befreiungsbewegung – eine wichtige Rolle zu. Die Auslandsberichterstattung der INO-TASS stützte sich nicht nur auf das Nachrichtenangebot ihrer Auslandskorrespondenten, sondern auch auf die Informationsdienste ausländischer Nachrichtenagenturen, auf das Auslandsradio sowie – im Rahmen des redaktionellen Qualitätsmanagements – auf die Rezeption ausländischer Zeitungen. Zwei Zäsuren werteten die Rolle fremder Quellen in der sowjetischen Auslandsberichterstattung immens auf: Die erste Zäsur stellte der Große Terror dar, dem die meisten Auslandskorrespondenten der TASS zum Opfer fielen; die zweite der Angriff des Dritten Reiches auf die Sowjetunion, der die Existenz aller TASS-Büros in Europa außer London und Stockholm beendete.

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Schlussbetrachtung und Ausblick

Als tagesaktuelles Medium der Auslandsberichterstattung nahm die TASS eine herausragende Stellung im sowjetischen Informationssystem ein. Sie beeinflusste maßgeblich das weltpolitische Nachrichtenbild des Kremls, der diplomatischen Führung und der Sowjetpresse. Die Beziehung der TASS zu ihrem Publikum war von ambivalenten, widersprüchlichen Erwartungen geprägt. Die Sowjetdiplomaten wollten objektiv, sachlich informiert werden. Georgij Čičerin und Maxim Litvinov verlangten von der TASS in gleichem Maße eine faktenorientierte Berichterstattung und standen dem Meinungsjournalismus kritisch gegenüber. Bis September 1929, solange die INO-TASS in den Verwaltungsapparat des Narkomindel integriert war, konnte die diplomatische Führung die redaktionelle Programmgestaltung der INO-TASS wesentlich beeinflussen. Dieser Einfluss ging jedoch zu Beginn der stalinistischen ‚Revolution von oben‘ stark zurück. Ab 1929/1930 orientierte sich die TASS thematisch, semantisch und sprachlich immer mehr an Mobilisierungsdiskursen der Massenzeitungen, die dem Sowjetleser suggerierten, sich in einem industriellen ‚Krieg‘ unter Bedingungen der außenpolitischen Bedrohung zu befinden. Die Auslandsberichterstattung der Zentralpresse und der TASS wurde zu einem wichtigen Moment der innenpolitischen Mobilisierung. Diese Entwicklung führte nicht nur zu einer latenten Konfliktsituation mit der Sowjetdiplomatie, sondern erschütterte und veränderte das redaktionelle Selbstverständnis der INO-TASS. Das Primat des Informationsjournalismus wurde jedoch bereits im Juni 1931 wiederhergestellt, als dem „Verzerren“ und „Fälschen“ von Fakten eine klare Absage erteilt wurde. Die ideologische Codierung von Nachrichten, intern als „Politisierung“ bezeichnet, erfolgte weniger auf der Ebene der Deutungsvorgaben, sondern vielmehr auf der Ebene der Themensetzung und Faktenauswahl. In dieser Hinsicht reflektierte die TASS das Weltbild der sowjetischen Massenmedien, sie war jedoch kein Propaganda- und Mobilisierungsmedium, wie es zum Beispiel die Zeitungen „Pravda“ und „Izvestija“ waren. Die redaktionelle Programmsetzung der INO-TASS verknüpfte externe Diskurse mit sowjetischen Wahrnehmungsmustern und Erwartungshorizonten, die als Selektionsfilter fungierten und die Komplexität des Weltgeschehens reduzierten. Das mediale Auslandsbild, das daraus entstand, war in sich vielleicht konsistent und perspektivisch, jedoch keinesfalls klar und eindeutig. Nicht umsonst wurden in den 1930er Jahren die meisten Nachrichten als geheim eingestuft. Ihre Rezeption und Kommunikation war einem kleinen Kreis der Herrschaftselite vorbehalten, der sich im Unterschied zur Sowjetbevölkerung und zum Gros der Partei- und Staatsfunktionäre ein umfassendes, facettenreiches Bild von aktuellen Ereignissen im Ausland machen sollte. Die Quellenauswertung zeigte, dass Stalin und das Politbüro sich intensiv mit den Fragen der Nachrichtenpolitik beschäftigten. Allerdings war die Parteiführung keineswegs in der Lage, die Berichterstattung der Moskauer Leitmedien permanent zu zensieren und zu dirigieren. Eine wichtige Rolle im Zensurprozess der Auslandsberichterstattung spielten die Sowjetdiplomaten, die den publizistischen

Schlussbetrachtung und Ausblick

Diskurs der Zentralpresse aufmerksam beobachteten und durch entsprechende Hinweise lenkten und korrigierten. Als die oberste Deutungs- und Korrekturinstanz galt selbstverständlich das Politbüro, dessen Befugnisse sich Stalin spätestens Anfang der 1930er Jahre aneignete. Der sowjetische Führer definierte die Grenzen des Sagbaren, legte verbindliche Deutungsmuster fest und intervenierte immer wieder in die Berichterstattung der Massenzeitungen. Seine Einmischung in die Redaktionsarbeit der TASS blieb jedoch aus. Der Hauptgrund dafür ist in der Sonderstellung der TASS als Informationsmedium zu sehen, dessen Nachrichten in der Zentralpresse größtenteils nicht abgedruckt wurden. Die Praxis der Nachrichtenproduktion war von zahlreichen Konflikten geprägt: zwischen der INO-TASS und ihren Auslandskorrespondenten um Entscheidungen bei der Auswahl von Fakten und Darstellungsweisen, zwischen der TASS und dem NKID um die Themenstruktur des medialen Auslandsbildes, zwischen der TASS und den Moskauer Leitzeitungen um die Aktualität und die Schwerpunkte der Auslandsberichterstattung, zwischen den Auslandskorrespondenten der TASS und den Sowjetbotschaftern um die Deutungshoheit. Diese Konflikte zeigen, dass es auch in einer Parteidiktatur, die eine rigide Informationspolitik verfolgte, unterschiedliche institutionelle Interessen und Perzeptionsmuster gab. Die sowjetische Auslandsberichterstattung gestaltete sich als ein mehrere Ebenen umfassender Koordinationsund Aushandlungsprozess, der auf die Herstellung von Konsens ausgerichtet war. Als hochgradig kontingenter Einfluss auf die Erzeugung des medialen Auslandsbildes erwies sich der Kommunikationsprozess zwischen der TASS-Zentrale und ihren Auslandskorrespondenten. Es handelte sich um eine reziproke Beeinflussung, wobei die INO-TASS als Codierungs- und Korrektivinstanz fungierte. Mit Hilfe eines systematischen Feedbacks und verbindlicher Direktiven versuchte sie ihre Deutungsmuster und thematischen Schwerpunkte durchzusetzen. Es ging darum, die Auslandskorrespondenten als ‚systemfremde‘, in Diskurse des Auslandes verstrickte Beobachter an die Sinnhorizonte und Semantiken der Sowjetgesellschaft zurückzubinden. Gleichwohl galten die Auslandsjournalisten der TASS als Weltbeobachter mit Signalfunktion: Sie sollten genau registrieren, welche Entwicklungen im Ausland vor sich gingen und wie die Auslandspresse darüber berichtete. Während die INO-TASS über einen Interpretationsvorsprung verfügte, resultierte das Einflusspotential der Auslandskorrespondenten aus ihrer Nähe zu den Ereignissen und Informationsquellen. Die Konstruktion des medialen Auslandsbildes war ein gemeinsames Unternehmen, dem ein Verständigungsprozess hinsichtlich der Erwartungen, Deutungsmuster und Themen zugrunde lag. Ein zentraler Aspekt der journalistischen Koordinationsleistung betraf die Herstellung von Aktualität, die als spezifischer Code des Nachrichtenjournalismus redaktionelle Arbeitsabläufe, Programme und Deadlines determinierte. Es ging um die zwingende Verpflichtung, über Ereignisse zeitnah zu berichten, was die Auslandskorrespondenten der TASS und die Zentralredaktion in Moskau unter im-

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Schlussbetrachtung und Ausblick

mensen Zeitdruck setzte. Im Faktor Aktualität verdichtete sich der kommunikative Zusammenhang von Nachrichtenproduktion und Nachrichtenrezeption; aktuell zu berichten bedeutete, sich auf die Deadlines der Moskauer Leitzeitungen sowie auf die Informationsbedürfnisse der diplomatisch-politischen Führung auszurichten. Die Herstellung von Aktualität war eine politische Angelegenheit. Sie bestimmte das Timing des außenpolitischen Entscheidungsprozesses und strukturierte den Zeithorizont des massenmedialen Diskurses. Wie die Auslandsredaktionen der „Pravda“ und der „Izvestija“ selbst mit dem Zeitdruck umgingen und wie ihre Entscheidungsprogramme im Hinblick auf die Aktualitätsherstellung funktionierten, ist ein Desiderat der Forschung. Diese Aspekte, wie auch die Frage nach ihrer Agenda-Bildung im Sinne sozialer Praxis, bedürfen weiterer Untersuchungen. Die Brisanz dieser Fragenkomplexe liegt auch darin, dass das gestalterische Potential der Sowjetjournalisten als innovativer Erzeuger von system- und herrschaftsrelevanten Semantiken und Deutungsmustern in der Forschung wenig berücksichtigt wurde. Für die TASS gilt, dass sie über ein hohes Maß an Selbstreferenz verfügte und die redaktionelle Linie in der Regel intern in einem teamorientierten Beratungsprozess festgelegt wurde. Regelmäßige Redaktionskonferenzen und Kurzbesprechungen dienten als Sozialisationsräume und diskursive Arenen. Die Mitarbeiter hörten Berichte, Vorschläge und Kritiken an, tauschten Meinungen aus und trafen gemeinsam Entscheidungen. Die Arbeit der INO-TASS zeichnete sich durch ständige Beobachtung eigener Entscheidungsprämissen und Handlungsoptionen aus; diese Beobachtung generierte ein reflexives Organisationswissen, das unter anderem dazu beitrug, Unsicherheiten im Prozess der Informationsverarbeitung zu reduzieren sowie den redaktionellen Zusammenhalt und die professionelle Identität der Redakteure zu stärken. Ein breites Delegieren von Entscheidungskompetenzen und die Bereitschaft zum selbstverantwortlichen Handeln waren wichtige Elemente der redaktionellen Organisationskultur der TASS. So verfügten einzelne Redakteure in ihren Zuständigkeits- und Spezialisierungsbereichen über beträchtliche Gestaltungsspielräume. Unsichtbar für alle Außenstehenden konnten sie Inhalte und Tendenzen einzelner Nachrichten – bereits durch ihre Übersetzungsleistung – beeinflussen. Dieser Einfluss hatte eine politische Dimension, denn die TASS war aufgrund ihrer Monopolstellung sowohl für Stalin als auch für die NKID-Führung das eigentliche Fenster zur Welt, sie vermittelte Einblicke in aktuelle Diskurse des Auslandes, auf die die Sowjetführer im Rahmen des außenpolitischen Entscheidungsprozesses regelmäßig Bezug nahmen. Die TASS war für die politische Führung aber nicht nur eine Informationsinstanz, sondern auch ein Instrument der Informationskontrolle im gesamtsowjetischen Maßstab. Die TASS verkörperte den Anspruch Moskaus auf die Deutungshoheit, sie war ein Medium der Homogenisierung und Konsolidierung des sowjetischen Informationsraums. Die Gründung der TASS im Sommer 1925 beschleunigte den

Schlussbetrachtung und Ausblick

Prozess der medialen Entmachtung der Sowjetrepubliken, vor allem im Bereich der Auslandsberichterstattung. Wie, was und in welchem Umfang über das Ausland berichtet werden sollte, darüber zu entscheiden lag in der ausschließlichen Kompetenz der TASS. Alle anderen Massenmedien, außer der „Pravda“ und der „Izvestija“, durften sich spätestens seit 1933 nur auf das Nachrichtenangebot der sowjetischen Telegraphenagentur verlassen. Paradoxerweise war es nicht der Kreml, der die Entscheidungsprogramme der INO-TASS am meisten beeinflusste, sondern die Sowjetdiplomaten und die Zentralpresse. Dieser Einfluss war nur zum Teil formalisiert, meistens gestaltete er sich in Form der Beobachtung publizistischer Entscheidungen der Massenzeitungen, die die INO-TASS für ihre eigenen Themensetzungen aufgriff. Selbstverständlich spiegelten sich in publizistischen Auslandsdiskursen der „Pravda“ und der „Izvestija“ die Perzeptions- und Deutungsmuster der Kremlführung, die in die redaktionelle Programmsetzung der Zentralpresse oft – lenkend und korrigierend – eingriff. In der TASS sprach man von „Indizien“ und „Hinweisen“, auch das Nichtthematisieren von bestimmten Ereignissen galt als eine Art Information, die jedoch keine sichere Orientierung ermöglichte. Die Wendungen, die Brüche und das bewusste Auslassen ganzer Ereigniskomplexe in den Diskursen der Moskauer Leitzeitungen lösten in der INO-TASS immer wieder große Unsicherheiten aus. So gesehen gestaltete sich die Nachrichtenpolitik der TASS im Spannungsfeld von Aneignung diskursiver Vorgaben und Notwendigkeit der Eigendeutung. Wichtig für die Agenda-Bildung der TASS waren auch informelle Gespräche, vor allem mit den Sowjetdiplomaten, die jedoch aufgrund der Quellenlage nicht hinreichend rekonstruiert werden können. Insgesamt gilt es hier festzuhalten, dass personale Netzwerke als Koordinations-, Informationsaustausch- und Entscheidungsarenen im Sowjetsystem eine große Rolle spielten; ihre weitere Erforschung – auch über den Bereich medialer Bedeutungsproduktion hinaus – scheint vielversprechend zu sein. Der Kreml verwirklichte die ideologische Kontrolle des Sowjetjournalismus vor allem durch die Kaderpolitik. Auch in der TASS gehörten bis zu 100 Stellen zur Nomenklatura, einem Personenkreis, dessen Ernennung im Kompetenzbereich der Parteibürokratie lag. Die Kaderpolitik des bolschewistischen Regimes war sowohl ein maßgebliches Instrument der Loyalitätsherstellung als auch ein Medium der Koordinationspolitik. Das gemeinsame bolschewistische Credo, das politische und journalistische Akteure teilten, erleichterte ungeachtet aller Konfliktsituationen und institutionellen Differenzen die Konsensfindung. Die Koordination durch Ideologie hatte zwei wichtige Konsequenzen: Zum einen erlaubte sie es der Parteiführung, durch das Management von Delegierungen auf die operative Zensur der Auslandsberichterstattung zu verzichten; zum anderen erweiterte sie journalistische Handlungsspielräume, die grundsätzlich auf der Kontrolle über Ungewissheitszonen basierten, also auf der Beherrschung eines spezifischen Sachwissens, das

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Schlussbetrachtung und Ausblick

in Prozessen der Erzeugung des medialen Auslandsbildes zur Anwendung kam. Generalisierend, bezogen auf die gesamte stalinistische Kommunikationspraxis, kann man sagen, dass die Grenzen dieser Handlungsspielräume oft nicht definiert und deswegen auch nicht kalkulierbar waren. Die Intervention des Führers war jederzeit möglich, wie zum Beispiel im August 1936, als Stalin die Stellvertreter von Doleckij absetzte und seine eigenen Leute in den TASS-Apparat einschleuste. Es war nicht eine Laune des Diktators, sondern ein programmatischer Akt. Fast scheint es, als wollte er die verloren gegangene Kontrolle über journalistische Spezialisten wiedergewinnen, tradierte Gestaltungsräume einschränken und alte Loyalitäten für ungültig erklären. Der Große Terror förderte ein Klima des Misstrauens, das die Praxis der Nachrichtenproduktion grundlegend veränderte. Die Redakteure arbeiteten unter Aufsicht, die meisten Auslandskorrespondenten – aufgrund ihrer Entfernung von Moskau schwer zu überwachen – wurden zurückgerufen und verurteilt. Egal wie absurd die Anklagen waren, sie erzeugten einen Inquisitionsdiskurs, in dem alte Bekanntschaften und Netzwerke, längst vergessene Äußerungen und Tatsachen des öffentlichen und privaten Lebens fatale Folgen für Betroffene haben konnten. In diesem Diskurs der ‚Säuberung‘ wurde das kapitalistische Ausland dämonisiert: Wer im Ausland geboren war oder eine Zeit lang gelebt hatte, wer ausländische Verwandte oder Freunde hatte, wer Fremdsprachen beherrschte und potentiell über den Sinnhorizont des stalinistischen Zivilisationsprojektes hinauszublicken in der Lage war, der weckte Misstrauen und wurde sorgfältig überprüft. Der Große Terror mag irrational und – bezogen auf Einzelschicksale – vom Zufallsprinzip geprägt erscheinen, er hatte jedoch eine klare Zielsetzung: Die alte Generation der Journalisten, die von bürgerlicher Kultur geprägt und welterfahren war, wurde beseitigt; an ihre Stelle trat eine junge Generation, die in der Sowjetunion sozialisiert worden war und Semantiken sowie Weltbilder des stalinistischen Modernisierungsprojektes, mit all seinen Nöten und Grausamkeiten, verinnerlicht hatte. Damit schuf Stalin neue Grundlagen für das immer noch prekäre Loyalitätsverhältnis. Die Folgen für den sowjetischen Auslandsjournalismus waren katastrophal: Kurzfristig – bis Juni 1941 – konnte die TASS ihre Auslandsberichterstattung nur partiell nach eigenen Selektionskriterien gestalten; vieles spricht dafür, dass auch in der Zeit des Zweiten Weltkrieges und selbst um 1950 immer noch ein großer Mangel an fähigen und erfahrenen Auslandsjournalisten vorherrschte. Wie die Auslandsberichterstattung in diesen Zeiten organsiert war, welche Konkurrenzen und Konflikte bestanden und wie sich das Verhältnis zwischen den Journalisten und der Kremlführung gestaltete, bleibt weitgehend unerforscht. Die Institutionsgeschichte des Sowjetischen Informationsbüros (1941–1961) sowie der wichtigsten Massenzeitungen „Pravda“ und „Izvestija“ bildet ebenso ein Forschungsdesiderat. Im Fokus der vorliegenden Untersuchung standen die Praktiken der Nachrichtenproduktion, der institutions- und kommunikationsgeschichtliche Kontext der

Schlussbetrachtung und Ausblick

sowjetischen Auslandsberichterstattung. Diskursgeschichtliche Aspekte des medialen Auslandsbildes der Sowjetunion, wie beispielweise Themenkataloge, der Wandel von Perzeptions- und Deutungsmustern sowie die Mechanismen der Diskurskontrolle und -lenkung, konnten hier nur am Rande behandelt werden. Eine vergleichende Analyse dieser Aspekte, vor allem in der Longue durée, könnte weitergehende Erkenntnisse im Hinblick auf das semantische Repertoire des sowjetischen Journalismus sowie die Dynamik seiner Weltbilder bieten. Als Medium der Weltbeobachtung verkörperte die Nachrichtenagentur TASS während der Zwischenkriegszeit die Traditionen und Sachzwänge des russischen Staates: Sie wollte mit den besten Massenmedien der Welt konkurrieren und sich deren Organisationskultur und Kommunikationstechnik aneignen, dabei blieb sie jedoch in einem Zustand des latenten Modernisierungsbedarfs gefangen; sie war nicht global, sondern lediglich regional-hemisphärisch präsent. Auch das Publikum der TASS war national, die Verbreitung sowjetischer Weltbilder und Sichtweisen scheiterte an der ideologisierten Sprache und ihr zugrunde liegenden kognitiven Schemata. Der Anschluss an die Weltkommunikation blieb für das Stalin-Regime stets eine prekäre Angelegenheit, vielleicht auch deswegen, weil die gesamte mediale Produktion einschließlich der Auslandsberichterstattung der TASS sich nicht an Sinnhorizonten einer pluralistischen, dynamischen Gesellschaft orientierte, sondern an der Logik und dem Legitimationsdilemma einer Diktatur. Vor allem darin äußerte sich die Politisierung des Medialen. Die ideologischen Codes, Weltbilder und Erwartungen des bolschewistischen Regimes bestimmten die mediale Welterschließung. Sie dienten als Prämissen, mit denen die journalistische Wirklichkeit erschaffen wurde. Diese Prämissen formten die institutionelle Identität der Massenmedien und prägten die Denkweisen der Journalisten. Das Regime kultivierte sie nicht nur mit der Modellierung von (Berufs-)Rollen und der Formulierung von verbindlichen Normen, sondern auch mit dem Konzept der Lebenswelt. Die Journalisten aus dem proletarisch-bäuerlichen Milieu wurden gefördert. Die Nähe zu ‚Werktätigen‘ galt als Indikator für ideologisch konforme Einstellungen, Denk- und Verhaltensweisen. Das Arbeiten im Ausland wurde dagegen unter dem Gesichtspunkt der Entfremdung thematisiert. Um die „Distanz zur sowjetischen Wirklichkeit“ zu reduzieren, verpflichtete die TASS ihre Auslandskorrespondenten, jährlich mehrwöchige Aufenthalte in der Zentralredaktion zu absolvieren; für ausländische Mitarbeiter wurden lange Sommerferien in der UdSSR vorgesehen. Diese ‚Resozialisierungspolitik‘ zielte darauf, den Journalisten ideologische und berufsethische Imperative zu vermitteln; es ging um die Aneignung der sowjetischen Perzeptions-, Denk- und Sprachmuster, die helfen sollten, die Welt „mit Moskauer Augen zu beurteilen“. Das Objektivitätspostulat und die Neutralitätsnorm, die die berufliche Sozialisation der TASS-Mitarbeiter prägten, dienten vielmehr als strategische Rituale. Sie implizierten zwar den Verzicht auf Wertungen und Interpretationen, befreiten

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Schlussbetrachtung und Ausblick

jedoch nicht von einer Positionierung. Im Gegenteil: Unter Objektivierung verstand man eine perspektivische Berichterstattung, die sich ihrer Selektionsmuster bewusst war und diese auf die Interessen der Sowjetunion ausrichtete. Die interpretative Dimension der Auslandsberichterstattung der TASS bestand vor allem in einem thematisch organisierten Selektionsprozess von Nachrichten, dessen Logik und Sinnmuster in den gesellschaftspolitischen Diskursen des sowjetischen Zivilisationsprojektes verankert waren. Die Themensetzung der TASS war ein Weltinterpretationsprozess. Themen fungierten in diesem Sinne als Selektionsfilter und Ordnungsschemata, die das Problembewusstsein der Leser, ihren kognitiven Wirklichkeitshorizont, formten. Die thematisch organisierte Nachrichtenauswahl war ein subtiler Codierungsprozess, der ein Weltbild kreierte, welches die Erwartungen und Dispositionen des Regimes affirmierte und fortschrieb. Jeder Leser, egal ob im Kreml oder in einer kleinen Provinzstadt, bekam das Gefühl vermittelt, von einer grundsätzlich feindlichen, von Widersprüchen und Konflikten gespaltenen kapitalistischen Welt umzingelt zu sein. Der Auslandsberichterstattung der TASS kam in dieser Hinsicht eine Verstärkungsfunktion zu: Im Rückgriff auf ideologische Prämissen erzeugte sie eine mediale Realität, die präfigurierte, worüber die Leser nachdachten, was sie kommunizierten und wie ihre Einstellungen sowie Weltbilder von Tag zu Tag bestätigt und stabilisiert wurden. Darin wiederum zeigte sich die fundamentale Medialisierung des Politischen. Stalin und seine Gefolgsleute lebten in ihrer eigenen medialen Realität und vieles spricht dafür, dass sie nie an ihr zweifelten. Jedenfalls beschwerte Stalin sich zu keinem Zeitpunkt, schlecht informiert zu sein, was auch darauf hindeutet, dass die Sphären des Politischen und des Medialen dicht verwoben waren und ihre kognitiven Schemata sich kaum unterschieden. Es war eine gegenseitige Verstärkung. Die Kremlführer lebten in einer medial inszenierten Realität, der sie nicht mehr entfliehen konnten. Haben sie aber je an die Flucht aus dieser vorgeprägten Wirklichkeit gedacht? Kaum denkbar. Denn dann hätten sie auch die Prämissen ihrer Politik und ihrer Ideologie in Frage stellen und damit zwangsläufig auf ihre Herrschaftsansprüche und ihr Machtmonopol verzichten müssen.

Anhang

A-1: Statistische Daten zum Zentralapparat der TASS, 1926–1943

Tab. 1 Geschlechterverhältnisse im TASS-Apparat, 1930–1939 (in%) Jahr

Frauen

Männer

1930

30

70

1935

60

40

1939

67

33

Quelle: GARF 4459/17.

Tab. 2 Quote der Parteimitglieder im TASS-Apparat (in %) Jahr

Parteimitglieder

Parteilose

1930

33

67

1935

28

72

1943

38

62

Quelle: GARF 4459/17.

Tab. 3 Fremdsprachenkenntnisse im Führungs- und Redaktionskader der TASS. Stand März 1937 Sprachen

Anzahl der Sprachträger

Prozentualer Anteil

Deutsch

54

51%

Englisch

35

33%

Französisch

27

25%

Japanisch/Chinesisch

6

5%

Andere Sprachen

5

4%

Quelle: GARF 4459/11/868/45.

252

Anhang

A-2: TASS-Büros und Korrespondentenstandorte im Ausland, 1920–1943

1920

1923

1930

1935

1940

Berlin

Berlin

Berlin

Berlin

Berlin

1943

Wien

Wien

Wien

Wien

Stockholm

Stockholm

Stockholm

Stockholm

Riga

Riga

Riga

Riga

London

London

Paris

Paris

Warschau

Warschau

Warschau

New York

New York

New York

New York

New York

Tokio

Tokio

Tokio

Tokio

Tokio

Peking

Peking

Peking

Stockholm

Stockholm

London

London

London

Paris

Paris

Prag

Prag

Prag

Prag

Rom

Rom

Rom

Rom

Helsinki

Helsinki

Helsinki

Helsinki

Teheran

Teheran

Teheran

Teheran

Teheran

Kaunas

Kaunas

Kaunas

Ankara

Ankara

Ankara

Ankara

Ankara

Tallinn

Tallinn

Tallinn

Kabul

Kabul

Kabul

Kabul

Schanghai

Schanghai

Schanghai

Schanghai

Ulan-Bator

Ulan-Bator

Kabul

Harbin

Athen

Athen

Athen

Washington

Washington

Sofia

Sofia

Bukarest

Bukarest

Amsterdam

Amsterdam

Sofia

Genf Brüssel

Brüssel Tientsin

Tientsin

Hongkong Oslo Budapest Belgrad Kopenhagen Istanbul

Istanbul Bratislava Bern

Istanbul

A-2: TASS-Büros und Korrespondentenstandorte im Ausland, 1920–1943

1920

1923

1930

1935

1940

1943 Delhi Sydney Ottawa Mexiko

4

18

Quelle: GARF 4459/11-17-38.

23

27

28

14

253

Abkürzungsverzeichnis

AP AVP RF BMI BMI-TASS

CK VKP(b)

DALTA DNB GARF GOSIZDAT GOSPLAN GPU GUGB NKVD

INO-NKVD INO-ROSTA INO-TASS Komintern KPD Narkomindel NKID NKVD

Associated Press Archiv vnešnej politiki Rossijskoj Federacii (Außenpolitisches Archiv der Russischen Föderation) Bjuro meždunarodnij informacii (Büro für Internationale Informationen) Bjuro meždunarodnoj informacii telegrafnogo agentstva Sovestkogo Sojuza (Büro für Internationale Informationen der Telegraphenagentur der Sowjetunion) Centralnyj Komitet Vsesojuznoj Kommunističeskoj Partii(bolševikov) (Zentralkomitee der Allsowjetischen Kommunistischen Partei) (Bolschewiki) Dalnevostočnoe telegrafnoe agentstvo (Fernöstliche Telegraphenagentur) Deutsches Nachrichtenbüro Gosudarstvennyj archiv Rossijskoj Federacii (Staatsarchiv der Russischen Föderation) Gosudarstvennoe Izdatelstvo (Staatsverlag) Gosudarstvennyj planovyj komitet (Staatliches Planungskomitee) Gosudarstvennoe političeskoe upravlenie (Staatliche Politische Verwaltung) Glavnoe upravlenie gosudarstvennoj bezopasnosti narodnogo kommisariata vnutrennich del (Hauptverwaltung für Staatssicherheit beim Volkskommissariat für innere Angelegenheiten) Inostrannyj otdel narodnogo kommisariata vnutrennich del (Auslandsabteilung des Volkskommissariats für innere Angelegenheiten) Inostrannyj otdel Rossijskogo telegrafnogo agentstva (Auslandsabteilung der Russischen Telegraphenagentur) Inostrannyj otdel telegrafnogo agentstva Sovestkogo Sojuza (Auslandsabteilung der Telegraphenagentur der Sowjetunion) Kommunistische Internationale Kommunistische Partei Deutschlands Narodnyj kommissariat inostrannych del (Volkskommissariat für Auswärtige Angelegenheiten) Narodnyj kommissariat inostrannych del (Volkskommissariat für Auswärtige Angelegenheiten) Narodnyj kommissariat vnutrennich del (Volkskommissariat für innere Angelegenheiten)

256

Abkürzungsverzeichnis

Otdel diplomatičeskoj informacii (Abteilung für Diplomatische Informationen) OGPU Objedinennoe gosudarstvennoe političeskoe upravlenie (Vereinigte Staatliche Politische Verwaltung) PR Public Relations PTA Petrograder Telegraphenagentur RATAU Radio-telegrafnoe agentstvo Ukrainy (Radiotelegraphenagentur der Ukraine) RGASPI Rossijskij gosudarstvennyj archiv socialno-političeskoj istorii (Russisches Staatsarchiv für sozialpolitische Geschichte) ROSTA Rossijskoe telegrafnoe agentstvo (Russische Telegraphenagentur) SIBROSTA Sibirsko- rossijskoe telegrafnoe agentstvo (Sibirisch-russische Telegraphenagentur) SNK Sovet narodnych komissarov (Rat der Volkskommissare) Sowinformbüro Sovetskoe informacionnoe bjuro (Sowjetisches Informationsbüro) UdSSR Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken UP United Press VZIK Vserossijskij centralnyj isponitelnyj komitet (Allrussisches zentrales Exekutivkomitee) WTB Wolffs Telegraphisches Bureau ZIK Centralnyj ispolnitelnyj sovet (Zentrales Exekutivkomitee) ZK Centralnyj komitet (Zentralkomitee) ZK RKP(b) Centralnyj komitet rossijskoj kommunističeskoj partii(bolševikov) (Zentralkomitee der Russischen Kommunistischen Partei) (Bolschewiki) ODI

Tabellenverzeichnis

Tabelle 1 Tabelle 2 Tabelle 3 Tabelle 4 Tabelle 5 Tabelle 6 Tabelle 7 Tabelle 8 Tabelle 9 Tabelle 10 Tabelle 11 Tabelle 12 Tabelle 13 Tabelle 14 Tabelle 15 Tabelle 16 Tabelle 17 Tabelle 18 Tabelle 19 Tabelle 20 Tabelle 21 Tabelle 22 Tabelle 23

Anzahl der Mitarbeiter der TASS und der Auslandsabteilung, 1926–1940 .. Die Leiter der TASS und ihre Führungsstile ........................................... Die TASS und potentielle Einflussbereiche ihres „Publikums“ .................. Das institutionelle Umfeld der TASS und seine Informationsressourcen .... Die Anzahl der Mitarbeiter der INO-TASS, 1931–1940 ........................... Die Sektoren der INO-TASS, 1932–1941 ............................................... „Profile“ der Mitarbeiter der Auslandsabteilung, Stand Dezember 1934 ..... Die kategoriale Aufteilung der Redakteure der INO-TASS, Stand 29. März 1934 ........................................................................... Informationsquellen der ROSTA, Mai 1923 ........................................... Die Quellenprovenienz der publizierten Auslandsnachrichten der ROSTA, Juni 1923 .......................................................................................... Hauptquellen der Auslandsberichterstattung der TASS, Januar–Juli 1933–1935 (die Anzahl der Wörter und prozentuale Anteile)... Die wichtigsten Nachrichtendienste der TASS, Januar–Juli 1934 (ohne AP und UP) ..................................................... Quellen der Berichterstattung aus London und Paris, Stand Sommer 1939 (Anzahl der monatlich übermittelten Wörter) ........... Informationsquellen der TASS, 1940 und 1943 (Anzahl der Wörter täglich) ........................................... Prozentuale Anteile der wichtigsten Themenbereiche in der Auslandsberichterstattung der TASS, 1929 und 1930...................... Themenstruktur der Auslandsberichterstattung der INO-TASS und Rezeptionsverhalten der Sowjetpresse, Januar–Juli 1934 .................... Anzahl der TASS-Büros und Korrespondentenstandorte im Ausland, 1920–1943 ........................................................................................ Die kontinentale Verteilung der TASS-Standorte (1927/1934/1940) .......... Die Hierarchie der TASS-Standorte, 1927 .............................................. Anteile der wichtigsten Auslandsbüros der TASS an der Auslandsberichterstattung, 1927, 1934, 1938 ................................ Die Anzahl der Mitarbeiter in den Auslandsbüros der TASS, Stand 1. Dezember 1940...................................................................... Grundbereiche der politischen Agenda der Kremlführung (nach der Urlaubskorrespondenz Stalins, 1931–1936), in % ..................... Themenhierarchie in der Urlaubskorrespondenz Stalins, 1931–1936 (in %) ...............................................................................

34 43 47 49 54 56 65 68 86 86 86 87 88 92 95 97 101 102 105 108 112 167 167

258

Tabellenverzeichnis

Tabelle 24 Die geographischen Schwerpunkte der politischen Agenda, der Spionagequellen, der TASS-Nachrichten und des Büros für Internationale Informationen von Karl Radek, 1925–1936 .................. Tabelle 25 Die Anzahl der Sowjetzeitungen und ihre Gesamtauflage ........................ Tabelle 26 Auslandsnachrichten in der „Pravda“, erste Oktoberwoche 1926/1929/1932/1935/1938 .................................... Tabelle 27 Die Anzahl der regulären Auslandskorrespondenten der „Izvestija“, 1929–1936 ........................................................................................ Tabelle 28 Anteile von TASS, „Pravda“ und „Izvestija“ an der telegraphischen Informationsübermittlung (Wörter pro Monat), Stand September 1939 ..... Tabelle 29 Die Deadlines für die Herausgabe der Auslandsnachrichten der INO-TASS (Uhrzeiten) ....................................................................................... Tabelle 30 Anzahl der gedruckten Exemplare des „Bulletins nicht für die Presse“, 1932–1940 ........................................................................................

170 195 206 210 211 213 225

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1 Kommunikations- und Konfliktebenen in der sowjetischen Auslandsberichterstattung .................................. Abbildung 2 Die Entscheidungshierarchie in der TASS, 1925 ................................ Abbildung 3 Vereinfachte Darstellung der TASS-Struktur von 1937/1938 ............... Abbildung 4 Vereinfachte Darstellung der redaktionellen Hierarchie der INO-TASS, Stand Dezember 1933 .................................................................... Abbildung 5 Vereinfachte Darstellung der redaktionellen Hierarchie der INO-TASS, Stand Juli 1940.............................................................................. Abbildung 6 Prozentuale Anteile der Auslandsbüros der TASS an der Auslandsberichterstattung, 1935 ............................................ Abbildung 7 Stalins Nachrichtenquellen ............................................................. Abbildung 8 Die Themenstruktur der Leitartikel der „Pravda“, 1924–1939 .............. Abbildung 9 Das Verhältnis von nichtgeheimen und geheimen Auslandsinformationen der TASS............................... Abbildung 10 Die Nachrichtengeographie der ROSTA im September/Oktober 1923, in %................................................... Abbildung 11 Die Nachrichtengeographie der TASS im März 1927, in % .................. Abbildung 12 Die Nachrichtengeographie der TASS im Zeitraum Januar–Juli 1934, in % ................................................. Abbildung 13 Die Nachrichtengeographie der TASS und operative Ausgaben im 2. Halbjahr 1940, in % ............................ Abbildung 14 Vergleich der kontinentalen Verteilung von TASS-Nachrichten und der Außenhandelsbilanz der UdSSR, 1923, in % .......................... Abbildung 15 Vergleich der kontinentalen Verteilung von TASS-Nachrichten und der Außenhandelsbilanz der UdSSR, 1934, in % .......................... Abbildung 16 Polen: Anteil an der Auslandsberichterstattung und am Export/Import der UdSSR, in % .......................................... Abbildung 17 Japan: Anteil an der Auslandsberichterstattung und am Export/Import der UdSSR, in % .......................................... Abbildung 18 Anteil Europas und der Nachbarstaaten an der Auslandsberichterstattung der TASS, in % .............................. Abbildung 19 Kontinentale Nachrichtenprovenienz der TASS, in % .........................

14 35 44 61 62 108 168 209 226 230 232 234 235 237 237 238 239 239 240

Quellen- und Literaturverzeichnis

Archivdokumente Staatsarchiv der Russischen Föderation (GARF) Bestände: – – – –

391: Russische Telegraphenagentur (ROSTA) 1244: Zeitung „Izvestija“ 4459: Telegraphenagentur der Sowjetunion (TASS) Findbücher: – 11 – Sekretariat des verantwortlichen Leiters – 17 – Kaderabteilung – 38 – Auslandsabteilung

– 5446: Rat der Volkskommissare

Russisches Staatsarchiv für sozialpolitische Geschichte (RGASPI) Bestände: – 17: ZK der KPSS – Findbücher: – 3, 162, 163, 166 – Politbüro – 60 – Abteilung für Propaganda und Presse – 84 – Büro des Sekretariats – 85 – Geheimabteilung – 112–118 – Sekretariat und Organisationsbüro des ZK – 121 – Technisches Sekretariat – 125 – Verwaltung für Agitation und Propaganda – – – – – –

5: Sekretariat V.I. Lenins 73: Andrej Andreev 77: Andrej Ždanov 81: Lazar Kaganovič 82: Viačeslav Molotov 159: Georgij Čičerin

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Quellen- und Literaturverzeichnis

– 359: Maxim Litvinov – 558: Josif Stalin – 671: Nikolaj Ežov

Außenpolitisches Archiv der Russischen Föderation (AVP RF) Bestände: – – – – –

05: Sekretariat des Volkskommissars für Auswärtige Angelegenheiten Litvinov 06: Sekretariat des Volkskommissars für Auswärtige Angelegenheiten Molotov 010: Sekretariat des Stellvertreters des Volkskommissars Krestinskij 082: Deutschland-Referentur 165: Botschaft der UdSSR in Deutschland

Publizierte Dokumente, Memoiren und zeitgenössische Publikationen Adibekov, Georgij (Hrsg.): Politbjuro CK VKP(b)-VKP(b). Povestki dnja zasedanij. 1919–1952, 3 Bde., Moskau 2000/2001. Adibekov, Georgij (Hrsg.): Politbjuro CK RKP(b)-VKP(b) i Evropa. Rešenija „osoboj papki“. 1923–1939, Moskau 2001. Černobaev, A. (Hrsg.): Na prieme u Stalina. Tetradi (žurnaly) zapisej lic, prinjatyh I.V. Stalinym (1924–1953). Spravočnik, Moskau 2008. Chlevnjuk, Oleg (Hrsg.): Stalin i Kaganovič. Perepiska. 1931–1936, Moskau 2001. Chlevnjuk, Oleg (Hrsg.): Politbjuro CK VKP(b) i Sovet Ministrov SSSR. 1945–1953, Moskau 2002. Doletzky (Doleckij), Jakov: Die Nachrichtenversorgung der Presse, in: Zeitungswissenschaft. Monatsschrift für internationale Zeitungsforschung, Berlin, den 15. April 1927, Nr. 4, S. 49–52. Durant, Kenneth: Soviet News in the American Press, in: Journalism Quarterly XIII (1936), 148–156. Eimermacher, Karl (Hrsg.): Instituty upravlenij kulturoj v period stanovlenija. 1917–1930. Partijnoe rukovodstvo; gosudarstvennye organy upravlenija: Schemy, Moskau 2004. Fischer, Louis: Men and Politics. An Autobiography, London 1941. Ingulov, Sergej: Kulturnaja revolucija i pečat, Moskau/Leningrad 1928. Ingulov, Sergej: Rekonstruktivnyj period i zadači pečati, Moskau/Leningrad 1930. Just, Artur W.: Die Presse der Sowjetunion. Methoden diktatorischer Massenführung, Berlin 1931. Kollontaj, A. M.: Diplomatičeskie dnevniki, 2 Bde., Moskau 2001. Košeleva, Ljudmila (Hrsg): Pisma I. V. Stalina V. M. Molotovu, 1925–1936. Sbornik dokumentov, Moskau 1995.

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Personenregister

A Aleksandrovskij, Sergej 114, 118 Alexander I., König von Jugoslawien Andreev, Andrej 40, 169 Annenkova, Julia 123, 127, 159 Antonov-Ovseenko, Vladimir 142 Arens, Joseph 50, 53 Arosev, Aleksandr 137, 139 Astachov, Georgij 50

176

B Barmin, Aleksandr 138 Barthou, Louis 176, 177 Basseches, Nikolaus 135 Berezov, Lazar 41, 83, 94 Berija, Lavrentij 136, 221 Bespalov, Ivan 127, 130 Bodrov, V. 116 Braginskij, Mark 184 Brockway, Fenner 177 Brooks, Jeffrey 10, 11, 209 Brovkovič, Faddej 124 Brun, Julian 143, 152, 155 Bubnov, Andrej 29 Bucharcev s. Volkenstejn Bucharin, Nikolaj 26, 34, 51, 171, 198, 203 Bullitt, William 115 C Čarnyj, Markus 133, 197 Černov, I. 66 Chamberlain, John 132 Chamberlain, Neville 175 Chavinson, Jakov 34, 38–45, 58, 59, 66, 67, 69, 91, 109, 111, 113, 116–118, 120, 131, 134, 174–176, 191, 193, 204, 220

Chinčuk, Lev 37, 146 Chlevnjuk, Oleg 166 Čičerin, Georgij 11, 24, 31, 34, 38, 50, 53, 75, 78, 99, 101, 113, 115, 126, 137, 138, 140–142, 144–146, 151, 165, 171, 176, 177, 182–187, 189, 191, 192, 194, 195, 204, 218, 220, 226, 241, 244 Cohen, Bernard 45 D Davies, Joseph 115 Dirksen, Herbert 37 Doleckij, Jakov 9, 10, 27–40, 42, 43, 48, 71, 78–80, 85, 90, 91, 93, 99, 115, 118–121, 123–125, 127, 130, 132, 139–141, 143–145, 149, 151, 157, 159, 170–177, 182, 187, 190–193, 196, 197, 199, 202, 203, 205, 207, 209, 248 Dullin, Sabine 11, 49, 107 Durant, Kenneth 115, 118, 119, 130, 154 E Ehrenburg, Ilja 210, 211 Ejsmont, Nikolaj 29 Erenberg 214 Eruchimovič, Isaak 45, 206 Ežov, Nikolaj 169, 223 F Filippov, I. F. 134, 135 Fitzpatrick, Sheila 164, 167 Franco, Francisco 181 G Gartman, Abram 208 Gelfand, Lev 156 Gelfand, Mark 105, 130

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Personenregister

Géraud, André 132 Gnedin, Evgenij 73, 103, 157, 183 Gofman, Karl 79, 109, 208 Goldenberg, Ja. Z. 72, 94 Gregory, Paul 165 Gronskij, Ivan 198–200, 202, 203 Grunin 66 Gusev, Sergej 222 H Hafez, Kai 12, 46, 159 Hall, Stuart 55, 129, 141, 205 Henderson, Arthur 175 Hitler, Adolf 37, 88, 112, 123, 139, 175, 226 I Ichok, David 57, 64, 175, 181, 188, 203, 205 Ingulov, Segej 75, 76, 124, 125, 151, 196 J Jakobson, Ilja 81, 214 Jakovlev, L. I. 122, 133, 152, 156 Jaroslavskij, Emeljan 200 Joffe, Adolf 149 Jurenev, Konstantin 141, 143 Just, Arthur 180, 202 K Kaganovič, Lazar 38, 165, 169, 179, 199–201 Kamenev, Lev 26, 133 Karachan, Lev 24, 29, 34, 90, 233 Karnit, Arnold 113, 134 Karskij, Michail 138 Keith, Lili 150 Ken, Oleg 10, 16 Kenez, Peter 221 Keržencev, Platon 23, 24, 27, 34 Kieser, Alfred 42 Kirov, Sergej 223

Knoll, Viktor 10 Knorin, Wilhelm 31 Kocyn, Boris 60, 78, 80, 83, 84, 128, 188, 190 Kollontaj, Alexandra 142, 143, 164 Komarovskij-Donskoj 27 Kotkin, Stephen 164 Kovalskij, Iosif 67, 84, 156, 205 Kozlovskij, Boris 192 Kraminov, Daniil 143 Krestinskij, Nikolaj 12, 36, 37, 78, 130, 135, 142, 144, 179, 182, 186, 192 Kujbyšev, Valerian 37 Kurnosov 136 L Lapinskij, Pavel 50 Lavrov, I. M. 134, 135 Lenin, Vladimir 26, 27, 50, 149, 226 Lenoe, Matthew 11, 76 Leonovič, A.K. 205 Lidov, Lev 126 Lippmann, Walter 115 Litvinov, Maxim 12, 49, 51–53, 109, 110, 113, 115, 118, 137, 146, 148, 171, 173, 179, 182, 183, 186, 187, 189–194, 203, 219, 224, 244 Lukjanov, Sergej 67, 74, 79, 83 M Mackiewiecz, Stanisław 78, 124 Madjar, Ludwig 75, 97, 129, 131, 150, 185 Majskij, Ivan 108, 191 Mechlis, Lev 41, 66, 173, 180, 181, 198–200, 202, 203, 210 Menkes, Mavrikij 38, 94, 96, 120, 128, 134, 142, 144, 149 Mering, B. I. 110 Merl, Stephan 17 Michajlov, Boris 38 Mirova, Elena 106, 135, 142

Personenregister

Miziano, K. F. 114 Molotov, Vjačeslav 11, 38, 44, 58, 109, 111, 112, 165, 169, 172, 176, 177, 194, 201, 217, 224, 226, 233, 235 Monin, David 42 Mowrer, Edgar 132 N Nadi, Yunus 181 Nagy, Akos (Aleksej) 55, 130 Nazaretjan, Amajak 41 Neutatz, Dietmar 76 O Ordžonikidze, Grigorij

38, 165

P Palgunov, Nikolaj 42, 53, 55, 64, 70, 88, 110, 114, 116, 128, 130, 132, 133, 135, 140, 142 Pavlov, A. A. 149, 151, 208 Petrovskij, Adolf 31, 140 Pjatnickij, Iosif 37, 125, 203, 222 Poletaev 136 Popov, Nikolaj 199, 200, 202 Poskrebyšev, Aleksandr 175, 178, 180, 181, 209 Potemkin, Vladimir 138, 141, 178 Pule 121 Puzin, Aleksej 59 R Radek, Karl 10, 26, 27, 29, 34, 36, 50–53, 126, 170, 198, 199, 205, 222, 234 Rafes, Moisej 36, 104, 150 Rajevskij, Stefan 50, 107, 198 Rantanen, Terhi 10, 25 Rauschning, Hermann 226 Reed, John 115 Remizov, T. Ja. 82, 84 Ribbentrop, Joachim von 58, 112 Rogov, Vladimir 116

Romm, Vladimir 107 Rosenberg, I. E. 82 Rosenfeldt, Niels 52, 125, 218 Roth, Paul 25 Rothstein – Andrew (Andrej) 48, 107, 115, 123, 133, 135, 136 – Fedor (Theodore) 31, 34, 115 Rozengolc, Arkadij 142 Rubinin, Evgenij 121, 139, 141 Rudzutak, Jan 34, 172 Rykov, Aleksej 176 S Sadoul, Jacques 50 Šapir 214 Silverstone, Roger 82 Sitkovskij, Ippolit 122, 126, 134, 147, 152 Sokolnikov, Grigorij 125, 180 Solc, Aron 31 Solc, Isaak 38 Stalin, Josef 9–11, 15, 21, 26–28, 35, 36, 38, 40, 41, 43–45, 47, 49–51, 53, 66, 75, 78, 88, 90, 99, 109, 110, 113, 116, 118, 137, 151, 163–183, 188, 189, 193, 198, 200–202, 210, 211, 215–221, 223–226, 233, 235, 241, 244–246, 248–250 Stanevič, Sofia 9 Stark, Leonid 23, 34 Stasova, Elena 222 Steckij, Aleksej 34, 37, 202, 203 Štern, David 41 Stomonjakov, Boris 179, 192 Suric, Jakov 139, 142 Sverlov, A. 118 T Tabouis, Geneviève 132 Tal, Boris 40 Tauber, M. 63 Tiltman, Hubert Hessell 177

275

276

Personenregister

Todd, Laurence 118, 119 Trockij, Lev 26, 27, 216 U Umanskij, Konstantin 53, 107 Unšlicht, Josif 216, 217 V Valden, I. A. 78, 124, 151 Vardin, Ilja 121, 151 Varela, Francisco 160 Varga, Eugen 223 Vermel, F. M. 83 Volkenstejn (Bucharcev), Dmitrij 135, 141, 143, 212 Vorošilov, Kliment 38, 165, 179, 217

W Walgenbach, Peter 42 Weick, Karl 17 Werth, Alexander 132 Wheatcroft, Stephen 165 Windelband, Wolfgang 177 Z Zaks-Gladnev, Samuil 101, 188, 189 Ždanov, Andrej 40, 169, 177, 202, 226 Zinovjev, Grigorij 26, 27 Žukov, Georgij 178