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German Pages 299 [300] Year 2007
Michael von Grundherr Moral aus Interesse
W DE G
Ideen 6t Argumente Herausgegeben von Wilfried Hinsch und Lutz Wingert
Walter de Gruyter · Berlin · New York
Michael von Grundherr
Moral aus Interesse Metaethik der Vertragstheorie
Walter de Gruyter · Berlin · New York
© Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.
ISBN 978-3-11-019356-5 ISSN 1862-1147 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Copyright 2007 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Umschlaggestaltung: +malsy, kommunikation und gestaltung, Bremen
Vorwort Moralische Normen damit zu rechtfertigen, dass sie vorteilhaft sind, ist ein strittiges Verfahren. Befürworter nehmen oft selbstverständlich an, dass moralische Normen dem Vorteil aller dienen müssen. Was wäre das, fragen sie, für eine Moral, die einigen oder vielen systematisch Nachteile bringt? Auf der anderen Seite stehen diejenigen, die einwenden, Moral und Interesse so eng zu verknüpfen sei schon im Ansatz verfehlt, es werde der moralischen Praxis und der Autonomie der Moral nicht gerecht. In Fragen der Moral solle man auf Interessen und Vorteile gar nicht achten. Beide Positionen erscheinen nicht unplausibel und damit steht man vor der Frage, wie man mit diesen widersprüchlichen Intuitionen umgehen soll. Genau an diesem Punkt möchte ich ansetzen und zeigen, dass der Widerspruch auf einem Missverständnis oder einer Unklarheit beruht. Philosophische Moraltheorie behandelt in verschiedenen Rollen nämlich unterschiedliche Fragen. Neben den Fragen der normativen Ethik, die Teil der moralischen Praxis ist, sind das vor allem die zwei Komplexe unter den Leitfragen: Wie kann man die moralische Praxis analysieren? Und: Ist diese moralische Praxis gerechtfertigt? Ich werde dafür argumentieren, dass interessenbasierte Moralbegründung ausschließlich zur Rechtfertigung der moralischen Praxis von einem nicht-moralischen Standpunkt aus dienen kann - und auch das nur, wenn man für die Analyse dieser Praxis eine ganz bestimmte, nämlich eine anti-realistische Metaethik entwickelt. Die typischen Einwände greifen in diesem Fall nicht mehr. Aber auch die Vertreter interessenbasierter Moralbegründung mahnt diese Einsicht zur Bescheidenheit, denn sie
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Vorwort
müssen sich bewusst machen, dass ihr Instrumentarium zur Analyse der gewöhnlichen moralischen Praxis nicht taugt. Meine Argumentation stützt sich wesentlich auf zwei Theorietraditionen, nämlich auf den interessenbasierten oder Hobbesschen Kontraktualismus und den metaethischen Anti-Realismus. Wenn ich mein Ziel erreiche, kann ich zeigen, dass diese Ansätze gut zusammenspielen. Bei zwei akademischen Lehrern konnte ich diese beiden Theorien in den letzten Jahren aus erster Hand kennen lernen. Karl Homann hat mit seinem eigenen Ansatz zentrale Anstöße zu meiner Diskussion des Kontraktualismus gegeben. Viele Gespräche und Diskussionen in Seminaren haben meine Wahrnehmung der damit zusammenhängenden Probleme immer wieder geschärft. Dafür und für sehr hilfreiche Kommentare zu früheren Versionen dieser Arbeit bin ich ihm zu großem Dank verpflichtet. In Graduiertenseminaren in Cambridge hatte ich das Glück, von Simon Blackburn als einem profunden Kenner der Metaethik zu lernen. Seine Arbeit über den Anti-Realismus ist ein unverzichtbarer Ausgangspunkt meiner metaethischen Argumentation. Danken möchte ich auch meinen akademischen Lehrern Andreas Edmüller, Luke Pursehouse und Hallvard Liliehammer, die sich bemüht haben, mir das Handwerkszeug der analytischen Philosophie zu vermitteln, ohne das ich diese Arbeit nie hätte in Angriff nehmen können. Zu Dank verpflichtet bin ich allen Diskussionspartnern. Den zahlreichen Gesprächen mit Peter Ullrich verdanke ich wichtige Anstöße. Bruno Haas hat mich durch kritisches Nachfragen gezwungen, meine Position zu klären. Diskussionen mit Mailan Thai haben mir am Ende meiner Arbeit die Humeschen Wurzeln meines Projekts wieder bewusst gemacht. Die Teilnehmer der Oberseminare am Lehrstuhl für Philosophie und Ökonomik in München waren ein geduldiges und diskussionsfreudiges Publikum für die oft unfertigen Ideen und Argumente, die ich ihnen vorgestellt habe. Gleiches gilt für die Teilnehmer meiner Münchner Arbeitsgruppe für Doktoranden und Magistranden.
Vorwort
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Meinen Eltern und Bettina Hils danke ich dafür, dass sie den gesamten Text redaktionell durchgearbeitet, mich auf viele Unklarheiten hingewiesen und so enorm zur Lesbarkeit des Ergebnisses beigetragen haben. Die Studienstiftung des deutschen Volkes hat mich in den letzten zwei Jahren mit einem Stipendium unterstützt und mir auf mehreren Tagungen die Möglichkeit gegeben, meine Arbeit zu diskutieren. Der vorliegende Text wurde im Sommer 2006 als Dissertation an der Ludwig-Maximilians-Universität in München angenommen.
München, im März 2007
Inhaltsverzeichnis 1 Einleitung und Überblick 1.1 Interessenbasierte Moralbegründung 1.2 Überblick 1.3 Argumentationsstrategie und Ziele
l l 5 10
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12 12 23
Moral und Moralphilosophie 2.1 Moral 2.2 Moralphilosophie
3 Interessenbasierter moralischer Kontraktualismus 3.1 Ein Zustand ohne Moral 3.2 Wahl von Sanktionen 3.3 Moralischer Status und Verteilung 3.4 Vier metaethische Einwände
...
43 43 59 71 76
4 Rechtfertigung moralischer Normen 4.1 Der Begriff der Rechtfertigung 4.2 Rechtfertigung gegenüber anderen 4.3 Interne und archimedische Rechtfertigung 4.4 Kontraktualismus als Methode der Rechtfertigung
86 86 99 116 121
5 Metaethischer Anti-Realismus 5.1 Antirealismus 5.2 Kontraktualismus und Anti-Realismus 5.3 Antworten auf die vier Einwände
135 135 159 171
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181 181 193
Metaethischer Realismus 6.1 Realismus 6.2 Realismus und Kontraktualismus
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Inhaltsverzeichnis
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Objektivität und Relativismus 7.1 Objektivität 7.2 Relativismus
213 214 221
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Humesche Einsichten
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Amerkungen
. 251
Literaturverzeichnis
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Index
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Kapitel l Einleitung und Überblick 1.1 Interessenbasierte Moralbegründung Moralische Reaktionen sind uns in den meisten Fällen selbstverständlich. Wir fühlen uns schuldig, wenn wir Versprechen nicht halten, und wir strafen andere mit Verachtung, wenn sie lügen. Wir sind auch empört über Taten, die Menschen auf der ganzen Welt in Kriegen oder im Auftrag repressiver Regimes begehen. In vielen Fällen motivieren uns diese Reaktionen zu moralischem Handeln. Sozialer Druck durch die anderen Mitglieder unserer Gemeinschaft verstärkt diese Motivation üblicherweise. Ich möchte damit nicht behaupten, dass wir deswegen immer moralisch handeln. Gelegentlich tun wir das Falsche. Aber auch dann gibt es einen gewissen, vielleicht sehr schwachen Impuls, der unsere Entscheidung in die Richtung der moralischen Handlung lenkt. Dieser Impuls kann mehrere Komponenten haben: Falsch zu handeln kostet uns Überwindung, wir antizipieren unser schlechtes Gewissen und fürchten, entdeckt und mit Verachtung gestraft zu werden. Bewusst müssen uns diese Komponenten nicht werden. Moralisch richtig zu handeln ist gelegentlich mühsam und es bedeutet in manchen Situationen große Einschnitte in das eigene Wohlergehen. Nichtsdestotrotz sind wir meistens davon überzeugt, dass wir uns bei Verfehlungen zu Recht schuldig fühlen und dass die anderen mit Recht Druck auf uns ausüben, wenn wir falsch handeln. Moral scheint wichtiger zu sein als unser eigenes Wohlergehen, und der motivierende Druck daher berechtigt.
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Einleitung und Überblick
Aber diese Überzeugung kann ins Wanken geraten, etwa wenn moralische Forderungen in manchen Situationen sehr große Opfer verlangen, wenn man sich vergegenwärtigt, dass andere Kulturen mit anderen, vielleicht großzügigeren, Normen leben, oder wenn die üblichen moralischen Normen in neuen Problemfällen nicht mehr greifen. Wer in dieser Weise zweifelt, wird zumindest vorübergehend zu einem moralischen Skeptiker. Dieser Skeptiker fragt nicht, ob er sich in den schwierigen Situationen an die Regeln seiner Gesellschaft halten soll oder nicht; sein Problem ist vielmehr, dass er feststellt, dass er sich wegen seiner unvermeidbaren moralischen Reaktionen und wegen des sozialen Drucks ohnehin an diese Regeln hält und dadurch manchmal Nachteile hat. Er möchte wissen, ob es gerechtfertigt ist, dass die anderen Druck auf ihn ausüben, und ob er langfristig nicht besser versuchen sollte, sich die moralischen Gefühle abzugewöhnen (wie eine Sucht). Er fragt auch nicht primär die Frage des Trittbrettfahrers: Ist es für mich nicht am besten, wenn sich die anderen an die Regeln halten, ich aber nicht? Er sucht nicht nach einer Strategie, sich in einer vorhandenen moralischen Praxis möglichst geschickt zu verhalten. Er möchte vielmehr wissen, ob die moralische Praxis selbst und damit das, was er und die anderen Mitglieder seiner moralischen Gemeinschaft selbstverständlich tun, sinnvoll ist. Auf diese Frage des moralischen Skeptikers antwortet das Argument, dem mein Interesse gilt, nämlich der interessenbasierte moralische Kontraktualismus (IMK). Eine erste Konfrontation der beiden könnte, wenn alles nach Wunsch des Kontraktualisten geht, folgendermaßen verlaufen: Skeptiker:
Ist es gerechtfertigt, dass die Mitglieder meiner Gemeinschaft von mir erwarten und mich zwingen, mich an moralische Regeln zu halten, also zum Beispiel nicht zu lügen oder Verträge einzuhalten? Soll ich mir meine moralischen Reaktionen langfristig nicht besser abgewöhnen?
Interessenbasierte Moralbegründung
Kontraktualist: Gäbe es den sozialen Druck und die moralischen Reaktionen nicht, hättest du dich aus eigenem Interesse dafür eingesetzt, sie - und keine anderen - einzuführen. Denn ... (Hier führt er ein langes Argument aus, das ich in Kapitel 3 darstellen werde.) Ja, das wäre in meinem Interesse geweSkeptiker: sen. Ich wäre dafür gewesen, diese Mechanismen einzuführen und damit eine soziale Praxis zu etablieren. Kontraktualist: Das ist der Grund, den du genauso wie die anderen Mitglieder deiner Gemeinschaft hast, den sozialen Druck aufrechtzuerhalten und die moralischen Reaktionen zu kultivieren. Wenn du diese Mechanismen jetzt nicht akzeptierst, verwickelst du dich in einen Selbstwiderspruch: Du wärst dann bereit, eine soziale Praxis einzuführen, die du eigentlich ablehnst. Skeptiker: (Gibt sich geschlagen)
Das kontraktualistische Argument (IMK) ist deswegen stark, weil es auf sehr wenig anspruchsvollen Voraussetzungen beruht. Es kann nicht nur Skeptiker überzeugen, die eine bestimmte Weltanschauung haben. Es reicht, dass der Skeptiker ein Interesse daran hat, dass das, was er für (nicht-moralisch) gut hält oder wünscht, geschieht, und dass er elementare logische Regeln akzeptiert. In Kapitel 4 werde ich die Überzeugungskraft von IMK als Rechtfertigungsargument ausführlich analysieren. Im Moment interessiert mich zunächst ein anderer, sehr grundlegender Einwand: ob IMK nämlich, unabhängig von seiner Überzeugungskraft, ein geeignetes Argument für die Rechtfertigung von Moral ist. Eine überzeugte moralische Person kann durch IMK nämlich leicht irritiert sein. Sie wird dann einwenden, der Kontraktua-
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Einleitung und Überblick
list habe ja nicht Moral gerechtfertigt, sondern nur gezeigt, dass die moralische Praxis zufälligerweise auch aus Vorteilserwägungen heraus wünschenswert sei. Das erleichtere dem Skeptiker vielleicht das Leben - immerhin habe er keine Nachteile, wenn er sich weiterhin den moralischen Erwartungen füge -, aber es könne ihm keinen Grund zum echten Moralisch-Sein liefern. Leicht fassbar wird dieser Einwand an folgendem Beispiel: Angenommen der Kontraktualist kann zeigen, dass die moralischen Regeln, die entsprechenden moralischen Reaktionen und die Mechanismen des sozialen Drucks in einer bestimmten menschenverachtenden oder rassistischen Gesellschaft, etwa im nationalsozialistischen Deutschland, nicht vorteilhaft sind bzw. waren und von den Mitgliedern der Gesellschaft bei vollem Wissen um die Folgen nicht eingeführt worden wären. Er schließt daraus, die moralische Praxis dieser Gesellschaft sei nicht zu rechtfertigen. Darauf wird die moralische Person einwenden, es sei zwar überzeugend dargelegt, dass die fragliche Praxis nicht vorteilhaft sei. Aber das sei überhaupt nicht der entscheidende Grund, aus dem man sie ablehnen sollte. Es erscheine sogar empörend, hier in der kontraktualistischen Weise zu argumentieren, da man offensichtlich das Wesentliche, das manifeste Unrecht nämlich, übersehe oder gar auf eine Stufe mit Nutzenerwägungen stelle. Ähnliches gilt für Fälle, in denen die Rechtfertigung bestimmter Normen durch IMK scheitert. Angenommen, man kann Menschenrechte mit einem interessenbasierten Argument nicht rechtfertigen, dann wird die moralische Person erwidern, das sei überhaupt kein Grund, die Menschenrechte nicht zu beachten. Ob man moralischen Normen folgen sollte und ob die entsprechenden moralischen Reaktionen und gesellschaftlichen Sanktionsmechanismen eingesetzt werden sollten, hänge nämlich nicht von Vorteilserwägungen ab. Ein interessenbasiertes Argument könne also keine moralische Autorität beanspruchen. Zusammengefasst lautet der Einwand der moralischen Person: Das interessenbasierte Argument gehe entweder am entscheidenden Punkt vorbei oder es mache die falsche implizite Annahme,
Überblick
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Moral sei auf Eigeninteresse reduzierbar. Der Kontraktualist habe ein moralisches Scheinargument geliefert. Mehr als den anekdotischen Hinweis darauf, dass eine bestimmte Moral unter bestimmten historischen Umständen ähnliches Verhalten fordere wie ein nützliches Regel- und Sanktionssystem, könne man daraus nicht gewinnen. Ich werde in den folgenden Kapiteln versuchen, diese Einwände genau zu verstehen und eine Antwort darauf zu geben. Dazu gehe ich von zwei Seiten vor: Ich versuche einerseits, die gewöhnliche moralische Praxis besser zu verstehen, und andererseits zu erklären, welche Art von Argument IMK ist. Ich werde zeigen, dass bei einem plausiblen Verständnis der moralischen Praxis der Einwand der moralischen Person entkräftet werden kann und IMK sich als ein starkes Argument erweist.
1.2 Überblick Ich möchte zunächst einen Überblick über die zentralen Gedanken geben, die ich in den folgenden Kapiteln entwickle. Kapitel 2 (Moral und Moralphilosophie) Zunächst erkläre ich, was ich im Folgenden unter Moral verstehe und in welcher Weise ich philosophisch darüber nachdenken will. Ich beschäftige mich mit Moral im engen Sinne und meine damit Regeln des Zusammenlebens, die hauptsächlich aus Schutzrechten und dem Gebot der Vertragstreue bestehen. Moral kann nur in einer moralischen Gemeinschaft realisiert werden, deren Mitglieder diese Regeln kennen, üblicherweise befolgen und andere für Regelbrüche mit Sanktionen belegen. Sind diese Verhaltensweisen etabliert, spreche ich von einer moralischen Praxis. Die Moralphilosophie kann sich einerseits innerhalb der moralischen Praxis an einer Diskussion um die richtige moralische Bewertung verschiedener Handlungen oder Zustände beteiligen. Sie betreibt dann normative Ethik. Mich interessieren aber an-
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Einleitung und Überblick
dere, nämlich metaethische Prägen: Welchen ontologischen Status haben moralische Werte? Drückt man mit moralischen Urteilen ein Gefühl aus oder beschreibt man die Welt? Welche Art von Argument ist geeignet, um die Regeln einer moralischen Praxis zu rechtfertigen? Mein Ziel ist es, eine Antwort auf diese Fragen zu finden, die für sich genommen plausibel ist und darüber hinaus dem moralischen Kontraktualismus einen angemessenen Platz einräumt. Im Anschluss argumentiere ich dafür, dass sowohl der Kontraktualist als auch seine stärksten Gegner von einer naturalistischen Grundhaltung ausgehen. Ich kläre dann, warum Zweifel an der Möglichkeit, analytische und synthetische Urteile zu unterscheiden, nahe legen, zwischen Philosophie und Erfahrungswissenschaften keine strenge Trennung zu machen. Kapitel 3 (Interessenbasierter moralischer Kontraktualismus, IMK) Anschließend erkläre ich im Detail das Argument des moralischen Kontraktualisten. Es beginnt mit einem Gedankenexperiment, in dem man sich vorstellt, die Mitglieder der betreffenden moralischen Gemeinschaft befänden sich in einem Zustand ohne Moral. Zudem nimmt man an, dass alle Personen vollkommen rational entscheiden und sich dabei nur von ihren Interessen, die auch altruistisch sein können, lenken lassen. Ohne Moral sind die Versuchspersonen nicht vor Gewaltanwendung geschützt und können auch nicht kooperieren, da immer unsicher ist, ob Versprechen und Verträge eingehalten werden. Man kann diese Situation spieltheoretisch als Gefangenendilemma modellieren. Im nächsten Schritt zeigt das Argument, dass die Versuchspersonen eine Maschine einschalten würden, die Verstöße gegen moralische Regeln abschreckend sanktioniert und damit Kooperation ermöglicht. Die Maschine steht für die moralischen Reaktionen und den sozialen Druck, sich moralisch zu verhalten. Da die Mitglieder der moralischen Gemeinschaft die Maschine und damit diese Mechanismen gewählt hätten, seien diese, so IMK, gerechtfertigt.
Überblick
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Anschließend stelle ich die metaethischen Einwände der moralischen Person gegen IMK detailliert vor: (1) IMK habe ein falsches Bild moralischer Motivation, weil er annehme, man handle aus Angst vor Sanktionen moralisch. (2) IMK habe ein falsches Bild der Verbindlichkeit moralischer Regeln, weil er nicht erklären könne, warum man jemandem etwas vorwerfen kann, der eine Regel bricht und geschickt der Strafe entgeht. (3) IMK reduziere Moral fälschlicherweise auf Eigeninteresse. (4) IMK habe ein falsches Bild von moralischer Überlegung. Zwischen den Argumenten des IMK und moralischen Argumenten bestehe eine unüberbrückbare Lücke. Mit diesen vier Einwänden ist die Problemexposition vollständig und ich entwickle im Folgenden die Ressourcen, um IMK gegen diese Einwände zu verteidigen.
Kapitel 4 (Rechtfertigung
moralischer Normen) Im
nächsten Schritt entwickle ich eine Analyse des Begriffs der Rechtfertigung und wende diese auf IMK an. X ist demnach gerechtfertigt für P, wenn P über ausschlaggebende Gründe für X verfügt und X aus diesen Gründen glaubt oder tut. Ausschlaggebend sind Gründe für X, wenn sie stärker sind als die Gründe, die gegen X sprechen. Gründe analysiere ich mit Hilfe des Begriffs der Normakzeptanz und bleibe so im naturalistischen Bild. Ich führe den Begriff der öffentlichen Rechtfertigung als Rechtfertigung gegenüber jedem einzelnen Mitglied einer Gemeinschaft ein. Eine weitere wichtige Unterscheidung ziehe ich zwischen interner Rechtfertigung, die moralische Prämissen voraussetzt, und externer oder archimedischer Rechtfertigung, die von einem nichtmoralischen Standpunkt aus argumentiert. Ich zeige dann, dass IMK ein Argument der öffentlichen archimedischen Rechtfertigung ist. Dabei weise ich auf darauf hin, dass man IMK als hypothetische Entstehungsgeschichte lesen kann, die auf die Funktionalität der moralischen Praxis hinweist und damit einen überzeugenden Grund für deren Akzeptanz liefert.
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Einleitung und Überblick
Kapitel 5 (Metaethischer Anti-Realismus) Anschließend entwickle ich eine anti-realistische Theorie als Antwort auf die Fragen nach dem metaphysischen Status moralischer Eigenschaften und nach der Bedeutung moralischer Urteile. Moralische Eigenschaften sind demnach Projektionen moralischer Gefühle auf die Welt und moralische Urteile drücken diese Gefühle aus (Expressivismus). Moralische Gefühle analysiere ich als eine Art von Wahrnehmungen, die mit der Motivation zu entsprechendem Handeln verknüpft sind. Ich verteidige meine anti-realistische Theorie gegen die klassischen Einwände, sie werde (a) der Oberflächenstruktur der moralischen Sprache nicht gerecht und sie könne (b) nicht erklären, wie normlogische Ableitungen möglich seien. Dazu verwende ich sprechakttheoretische Überlegungen und greife auf Gibbards Mögliche-Welten-Semantik für normative Urteile zurück. Der metaethische Anti-Realismus ist der Rahmen, den ich für IMK vorschlage. Die beiden Theorien spielen nämlich gut zusammen. Deutlich wird das an der Rolle moralischer Gefühle. Der projektivistische Anti-Realismus beschreibt Verhalten und moralische Wahrnehmung aus Sicht eines Teilnehmers der moralischen Praxis: Wenn dieser ein moralisches Gefühl hat, es ausdrückt und ihm entsprechend handelt, bemerkt er nicht, dass dieses Gefühl die Grundlage der moralischen Eigenschaften ist, die er in der Welt wahrnimmt. Das Gefühl ist für ihn sozusagen durchsichtig. Er sieht nur, dass etwas in der Welt moralisch gut oder schlecht ist, und ist dadurch motiviert. IMK hingegen führt man von einem Standpunkt außerhalb der moralischen Praxis durch: Aus dieser Perspektive sind die moralischen Gefühle sichtbar und werden als Sanktionen betrachtet. Mit Hilfe der Ergebnisse aus Kapitel 4 kann man nun die Einwände der moralischen Person gegen IMK entkräften. Zusammengefasst beruht die Verteidung auf der Einsicht, dass IMK weder ein internes moralisches Rechtfertigungsargument ist noch in Konkurrenz zu einer plausiblen Theorie über die Natur der moralischen Praxis steht. IMK hat also gar kein, und deswegen auch kein
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falsches Bild über moralische Motivation und über Verbindlichkeit aus Sicht der Teilnehmer der moralischen Praxis (Einwände l und 2). IMK ist nicht reduktionistisch, weil es die moralische Praxis von außen rechtfertigen, aber nicht erklären oder ersetzen kann (Einwand 3). Allerdings besteht tatsächlich eine Lücke zwischen moralischer Argumentation und IMK (Einwand 4) - aber das ist eine Stärke von IMK als externem Rechtfertigungsargument. Kapitel 6 (Metaethischer Realismus) Im Gegensatz zum metaethischen Anti-Realismus nimmt der Realismus an, dass moralische Eigenschaften in der selben Weise real sind wie die natürlichen Eigenschaften der Welt. Ich zeige, dass große Schwierigkeiten entstehen, wenn man IMK im Rahmen verschiedener Varianten des Realismus betrachtet. Das liegt hauptsächlich daran, dass eine interessenbasierte archimedische Rechtfertigung vor dem realistischen Hintergrund nicht nahe liegend oder sogar irrelevant ist. Stark und natürlich ist vor diesem Hintergrund nur ein Argument, das auf einer Einsicht in die tatsächlich vorhandenen moralischen Werte beruht oder überzeugend auf diese Werte hinweist. Bei dieser Diskussion stellt sich heraus, dass die Einwände der moralischen Person vor einem intuitiven Bild des moralischen Realismus entstehen und vor diesem Hintergrund schlagkräftig sind. Kapitel 7 (Objektivität und Relativismus) In diesem Kapitel möchte ich der Kombination aus IMK und dem metaethischen Anti-Realismus zwei Intuitionen gegenüberstellen und daran ihre Leistungsfähigkeit noch aus einer anderen Perspektive testen. Es handelt sich dabei erstens um die Auffassung, Moral sei objektiv; was moralisch richtig oder falsch sei, hänge nicht davon ab, was wir darüber denken. Zweitens werde ich mich mit der Meinung beschäftigen, Moral sei höchstens zu einem gewissen Grad relativ, es gelte also nicht für jede Gruppe oder gar jede Person eine andere Moral. Ich möchte zeigen, dass die Kombination aus IMK und dem metaethischen Anti-Realismus beiden Intuitionen
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Einleitung und Überblick
gerecht werden kann. Allerdings schlage ich für beide Thesen eine etwas differenziertere Formulierung vor. Ich diskutiere abschließend die Legitimität von Interventionen und mache einen Vorschlag, wie der Umgang mit Menschen aus anderen moralischen Gemeinschaften durch eine Kombination aus Toleranz und Brückennormen in vielen Fällen funktionieren kann. Sowohl ein normatives Toleranzgebot als auch die Einführung von Brückennormen können durch IMK gerechtfertigt werden. Kapitel 8 (Humesche Einsichten) Abschließend skizziere ich, wie sich ein von Hume ausgehender Gedanke als roter Faden durch meine Überlegungen zieht. Ich erkläre, dass man bei Hume eine methodologische Einsicht findet, von der aus man die grundlegende Unterscheidung zwischen Rechtfertigung und Analyse der moralischen Praxis entwickeln kann.
1.3 Argumentationsstrategie und Ziele Ich möchte abschließend vor falschen Erwartungen an mein Argument warnen und darauf hinweisen, was es leistet und was es nicht behandelt. Drei Punkte dazu: • Ich betrachte es als Vorteil des interessenbasierten Kontraktualismus, dass man ihn vor einem naturalistischen Hintergrund am besten verstehen kann. Falls ein Gegner auf der Basis eines nicht-naturalistischen Weltbildes Einwände gegen den Kontraktualismus vorbringt (etwa auf der Basis nicht-natürlicher moralischer Werte), dann bürdet er sich meines Erachtens die Last auf, zunächst gegen die naturalistische Grundhaltung argumentieren zu müssen. Sollte ihm das gelingen, so liefert die vorliegende Arbeit wahrscheinlich kein vollständiges Argument gegen ihn. Ein solches zu entwickeln wäre eine Aufgabe für eine gesonderte Untersuchung. Ich setze mich dann aber vor allem mit Gegnern auseinander, die für den Kontraktualismus gefährlicher sind:
Argumentationsstrategie und Ziele
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Diese teilen das naturalistische Weltbild und können gegen den Kontraktualismus einwenden, er sei sogar innerhalb seines bevorzugten weltanschaulichen Rahmens nicht haltbar. • Ich zeige, wie man den Kontraktualismus verteidigen könnte. Wenn man dabei erfolgreich sein will, so argumentiere ich, muss man für einen bestimmten metaethischen Rahmen plädieren und den Kontraktualismus in der von mir vorgeschlagenen Weise integrieren. Ich werde andeuten, warum dieser Rahmen nicht unplausibel ist - aber ich kann nicht letzt gültig zeigen, dass man ihn notwendigerweise annehmen muss. • Dieses Ziel ist allerdings nicht so schwach, wie es zunächst den Anschein haben mag: Denn es ist ein wichtiges Kriterium für einen philosophischen Ansatz, dass er auf mehrere verwandte Fragen eine zusammenhängende Antwort geben kann. Die einzelnen Teile stützen sich gegenseitig und erhalten auf diese Weise insgesamt eine höhere Glaubwürdigkeit (vgl. zur philosophischen Analyse den Abschnitt 2.2.1). Ich denke, dass ich eine zusammenhängende Antwort auf folgende Fragen geben kann: Wie sollte man die moralische Alltagspraxis und moralische Gefühle verstehen? Wie kann man eine moralische Praxis rechtfertigen? Was bedeuten moralische Äußerungen? Wie verhalten sich Moral und Interesse zueinander? Sind moralische Urteile objektiv? Gelten moralische Normen relativ zu einer moralischen Gemeinschaft oder absolut?
Kapitel 2 Moral und Moralphilosophie Worüber streiten der Kontraktualist und seine Gegner eigentlich, wenn sie über Moral diskutieren? Welche konkreten moralischen Normen die richtigen sind, ist eigentlich nicht die Frage, die mich beschäftigt. Nichtsdestotrotz kann man den moralischen Skeptiker, das kontraktualistische Argument und die moralische Person nur verstehen, wenn man sich klarmacht, was zur Debatte steht. Immerhin stellt der Skeptiker die Moral seiner Gesellschaft in Frage und der Kontraktualist versucht, genau diese Moral zu rechtfertigen. Ich will deswegen zunächst eine Bestimmung von Moral geben.
2.1 Moral Moralische Reaktionen sind ein wichtiger Bestandteil unseres Lebens. Wir fühlen uns für einige unserer Handlungen schuldig und sind in anderen Fällen empört darüber, was unsere Mitmenschen tun. Wir beurteilen Personen und Handlungen als moralisch gut oder schlecht und streiten uns mit anderen darüber, welches dieser Urteile das richtige ist. Moralische Urteile beeinflussen unsere Entscheidungen und strukturieren Beziehungen zu anderen Menschen. Eine moralische Verurteilung durch die Gruppe, in der man lebt, kann den Ausschluss aus zentralen Bereichen des gemeinsamen Lebens bedeuten.
Moral
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2.1.1 Inhalt der Moral Im Alltag ist der Begriff Moral sicher nicht eindeutig. Spontan verstehen viele darunter restriktive Vorschriften und teils überkommene Werte, etwa die Regeln konventioneller Sexualmoral. Um diese Art von Moral geht es mir hier nicht. Auf der anderen Seite kann man mit „»Moral« einen Komplex von Normen, Werten oder Idealen [bezeichnen], der jedem Individuum einen allgemeinen Leitfaden für die Gestaltung seines Lebens bereitstellt" (Bayertz 2004: 34).1 Diese weite Auffassung versteht Moral als Anleitung zum guten Leben und umfasst eine Reihe konkreter Handlungsanweisungen: Man solle zum Beispiel seine Fähigkeiten und sein Können perfektionieren, nach Wissen streben, ein ausgeglichenes Gemüt entwickeln und Freundschaften pflegen. Auch das Verhalten gegenüber Gott oder den Göttern ist hier geregelt. Moral in diesem Sinne schreibt vor, was für eine Art von Mensch man werden soll, um ein gelungenes Leben zu führen. Zu diesem umfassenden Konzept gehören aber auch Vorschriften darüber, was man anderen Menschen gegenüber auf keinen Fall tun darf (vgl. Bayertz 2004: 38f.), etwa bis auf wenige Ausnahmefälle Versprechen oder Verträge nicht einhalten oder körperliche Gewalt anwenden. Diese Regeln ergänzen die Regeln des guten Lebens. In westlichen Gesellschaften hat sich dieser letzte Bereich am Übergang zur Moderne in der Theorie, aber auch immer mehr in der gesellschaftlichen Praxis, von den Regeln des guten Lebens getrennt. Heute erscheint es uns auf der einen Seite zum Beispiel angebracht, kompromisslos dafür einzutreten, dass man Verträge halten muss, und wir sind bereit, Verstöße gegen diese Regel auch öffentlich anzuprangern. Im Gegensatz dazu halten wir es für eine unangebrachte Einmischung in das private Leben anderer, wenn jemand sich mit der gleichen Vehemenz für eine bestimmte Form familiären Zusammenlebens oder eine religiöse Lebensführung einsetzt. Ähnliches kann man auch über die Theorie der Moral sagen. Dort kann man eine Verschiebung hin zu einer strengen Pflichtethik beobachten, die Fragen des guten Lebens
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Moral und Moralphilosophie
nur noch am Rande behandelt.2 Beispielhaft dafür steht Kants Ethik: Der kategorische Imperativ ist ein Gebot, das dem individuellen Handeln eine unbedingte Schranke setzt, aber offen lässt, was man innerhalb dieser Schranke tun solle (vgl. von Grundherr 2003: 33ff.). In Anlehnung an Mackies Terminologie (1977: 133), möchte ich Moral im engen Sinne von Moral im weiten Sinne unterscheiden. (Moral im engen Sinn) Moralische Normen im engen Sinn regeln Interaktionen. Sie bestimmen, was man anderen Menschen gegenüber auf keinen Fall tun darf. Typischerweise schützen sie Individuen vor Gewalt und zwingen zur Einhaltung von Verträgen. Diese Analyse liefert einen generischen Begriff. Es sind verschiedene Systeme von Normen denkbar, die ihn füllen können. In verschiedenen Gesellschaften kann es durchaus unterschiedliche Systeme moralischer Normen geben, die alle unter diesen Begriff fallen.3 Zudem zeigt die Analyse bisher nur eine notwendige Eigenschaft moralischer Normen auf, liefert aber keine vollständige Bestimmung. Auch einige rechtliche Normen können zum Beispiel den selben Inhalt haben, ohne dadurch schon Moral zu sein. Zur Moral im weiten Sinn gehören neben den Regeln der Moral im engen Sinn auch die oben angesprochenen Regeln des guten Lebens. Es ist die Moral im engen Sinn, die der Skeptiker vor allem anzweifelt. Die Regeln des guten Lebens bieten ihm keinen ähnlich guten Angriffspunkt: Die Frage, warum er die Regeln des guten Lebens beachten sollte, ist wenig prekär. Denn wenn es wirklich Regeln des guten Lebens sind, dann kann man ihm entgegnen, er habe vielleicht gerade keine Lust, das zu tun, was im Augenblick aufwändig erscheine, letztlich aber langfristig seinem Wohlergehen diene; doch wenn er es recht bedenke, dann gebe es kaum einen besseren Grund als die Aussicht auf ein gutes Leben.
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Vorrang Es ist eine weit verbreitete Auffassung, dass die moderne ausdifferenzierte Moral im engen Sinne eine zusätzliche charakteristische Eigenschaft hat. Man schreibt ihren Forderungen im Allgemeinen Vorrang vor entgegenstehenden Wünschen oder Geboten zu (vgl. Bayertz 2004: 59ff.). Dass man gerade lieber ungestört Spazierengehen möchte, statt einem Ertrinkenden zu Hilfe zu kommen, sollte dieser Auffassung zufolge gar nicht als entgegenstehender Grund in Betracht gezogen werden; wenn die Moral etwas fordere, dann könne keine nicht-moralische Stimme Einspruch erheben. Kant formuliert das so: „die reine praktische Vernunft will nicht, man solle die Ansprüche auf Glückseligkeit aufgeben, sondern nur, sobald von der Pflicht die Rede ist, darauf gar nicht Rücksicht nehmen" (Kant 1788: 166). Damit ist nicht nur gemeint, dass die These vom Vorrang moralischer Forderungen gegenüber allen anderen Forderungen zum Inhalt der Moral gehört. Natürlich ist es unmoralisch, gegen Gebote der Moral zu verstoßen, ganz egal, welcher Grund einen dazu bewegt. Vom moralischen Standpunkt aus, so könnte man anders sagen, haben moralische Gründe immer Vorrang. Das gilt auch für alle anderen Arten von Gründen; Dancy bringt das auf den Punkt, wenn er sagt: „but horticultural reasons are horticulturally paramount, and so on" (1993: 44). Dass auch diese schwächere These im Fall der Moral auf den ersten Blick interessant erscheint, weist darauf hin, dass es viele mögliche Konflikte zwischen moralischen und anderen Forderungen gibt. Die Vorrangthese zielt allerdings darauf, dass moralische Forderungen immer oder aus allen Perspektiven stärkere Gründe liefern als andere Forderungen. Kants obige These kann man so verstehen und man kann, ohne ins Detail zu gehen, aus Kantischer Sicht einen Grund für diesen globalen Vorrang der Moral geben: Moralische Forderungen entspringen der reinen Vernunft, die als höchstes kognitives Vermögen den Vorrang vor allen anderen kognitiven Vermögen verdient.4 Nach Shiffrin (1999) ist es das am weitesten verbreitete Vorgehen, den Vorrang moralischer
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Forderungen aus der Verbindung der Rationalität und der Moral abzuleiten (773). Diese Argumente systematisieren sicherlich ein Denkmuster, das auch im Alltagsverständnis der Moderne verbreitet ist. Sie hängen letztlich allerdings von einer anspruchsvollen Theorie der Moral ab, auf die ich im Rahmen meiner Untersuchung, wie sich zeigen wird, nicht zurückgreifen kann. In einer umfassenden Moral im weiten Sinne werden die Regeln der Moral im engen Sinne diesen Vorrang, den sie nach dem Kantischen Moralverständnis besitzen, nicht haben: Als Forderungen sind sie von der gleichen Art wie die Anweisungen zum guten Leben, eine Abwägung zwischen den beiden Arten von Forderungen ist denkbar.5 Ich kann hier aber festhalten, dass im Alltagsverständnis irgendeine Art von Vorrang moralischer Normen verankert ist und dass deswegen eine Theorie, die dieser Intuition nicht gerecht werden kann, eine gewisse Last trägt. Um eine in dieser Hinsicht plausible Theorie zu entwickeln, muss man aber nicht zeigen, dass es aus jeder Sicht irrational ist, nicht moralisch zu handeln. Ich plädiere für einen anderen Weg, der etwas weniger anspruchsvoll ist, aber den Intuitionen trotzdem entspricht. Die zentrale These dieses Ansatzes lautet, o/s moralische Person müsse man der Moral unbedingten Vorrang einräumen. Shiffrin formuliert das so: „If one is and remains a moral agent, certain structural features of morality make morality's ultimate demands conclusive and contrary to reason to defy." (Shiffrin 1999: 774)6 Eine moralische Person zeichnet sich demnach dadurch aus, dass für sie Moral selbstverständlich diesen Vorrang hat. Man kann, heißt das, nicht ein bisschen moralisch sein, etwa wenn es gerade bequem ist. Instrumentalismus
Ich habe moralischen Normen im engen Sinne die Funktion zugeschrieben, Menschen zu schützen. Das dürfte als grobe Charakterisierung des Gehalts von Moral fast jedem einleuchten. Wir sind auch geneigt zuzustimmen, dass moralische Normen, die in einer Gesellschaft weitgehend befolgt werden, nützlich sind und für
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Wohlstand sorgen. Die wenigsten Menschen allerdings sind bereit und in der Lage, eine weitergehende instrumentalistische Analyse der Normen zu geben, die ihren moralischen Urteilen zugrunde liegen. Eine solche Analyse würde zeigen, dass die Beachtung moralischer Regeln nicht an sich wertvoll ist, sondern nur insofern sie einem anderen Zweck, etwa dem Vorteil aller Beteiligten, dient. Darüber hinaus könnte diese Analyse dann zeigen, dass es für moralische Normen wesentlich ist, diesem Zweck zu dienen; Normen, die diesem Zweck nicht dienten, wären keine moralischen Normen. Auch an der Frage der Abgrenzung moralischer Normen gegenüber anderen gesellschaftlichen Regeln, etwa Konventionen der Höflichkeit, rechtlichen Regeln, Spielregeln im Sport oder Codes of Governance, zeigt sich, dass eine instrumentalistische Charakterisierung moralischer Normen unvollständig ist. Diese Regeln erfüllen alle eine sehr ähnlich Funktion wie moralische Regeln: Sie ermöglichen reibungslose Kooperation zum Vorteil der Beteiligten. Trotzdem ist es möglich, sie von moralischen Normen abzugrenzen. Diese Abgrenzung ist nicht deswegen klar, weil sich die Regeln auf verschiedene Bereiche beziehen. Denn auch im Sport oder im Berufsleben kann man unmoralisch handeln, vielleicht sogar, ohne gegen eine Spielregel oder gegen einen Code of Governance zu verstoßen. Wäre der gewöhnliche Begriff von Moral instrumentalistisch geprägt, dann hätte man große Schwierigkeiten, wesentliche Unterschiede zwischen rechtlichen, moralischen und vielen anderen sozialen Normen zu finden. Das Ergebnis dieser Überlegung kann man allgemeiner fassen: Moralische Forderungen liefern intrinsische Handlungsgründe; das heißt, dass diese Gründe unabhängig von anderen Gründen bestehen. Man hat nicht nur einen Grund, moralisch zu handeln, weil man einen weiteren Grund hat, etwas anderes zu tun (etwa auf seinen Vorteil zu achten), und moralisches Handeln dafür hilfreich ist. Moralische Gründe sind nicht von nicht-moralischen Gründen oder Zielen abgeleitet.7 Es kann nicht sein, dass eine moralische Forderung einfach wegfällt, weil ein nicht-moralisches Ziel, von dem sie abgeleitet war, wegfällt. Unabhängig davon, welchen For-
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derungen man sonst gegenübersteht, spielen moralische Forderungen immer eine Rolle. Um zusammenzufassen: (Kraft moralischer Forderungen) (1) Für moralische Personen haben die Forderungen der Moral Vorrang vor anderen Forderungen. (2) Moralische Forderungen liefern intrinsische Handlungsgründe.
2.1.2 Die moralische Praxis Eine soziale Praxis ist eine kollektive Art, etwas zu tun. Sie besteht dann, wenn eine Gruppe von Menschen bestimmte Regeln akzeptiert und sich nach ihnen richtet. Diese Regeln muss niemand explizit kennen oder bewusst anwenden. Aber jeder, der an der Praxis teilnimmt, ist in der Lage, abweichendes Verhalten zu erkennen und darauf - etwa durch Sanktionen - zu reagieren. Jedem Teilnehmer der Praxis sind paradigmatische Fälle regelkonformen Verhaltens vertraut und selbstverständlich. Unter den Begriff der sozialen Praxis fallen zum Beispiel die sprachliche Kommunikation, der Straßenverkehr, Geschäftsabschlüsse, Spiele, die Wissenschaft, Musik oder eben moralisches Handeln. Als moralische Gemeinschaft bezeichne ich im Folgenden eine Gruppe von Personen, die an der selben moralischen Praxis teilnehmen. Moralische Urteile In vielen Fällen sind unsere moralischen Reaktionen spontan und eindeutig. Obwohl der Prozess, aus dem sie entstehen, uns meistens nicht bewusst ist und wir Schwierigkeiten hätten, ein zugrunde liegendes Prinzip exakt zu formulieren, denken wir nicht, dass sie willkürlich sind. Andere Fälle sind schwieriger: Viele Menschen sind unsicher, wie sie darauf reagieren sollen, dass eine Frau eine Abtreibung durchführen lässt oder dass Ärzte auf Verlangen Angehöriger die
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Geräte abschalten, die die Körperfunktionen eines komatösen Patienten aufrecht erhalten. In solchen Fällen versuchen wir, aus unserer Haltung zu ähnlichen Fällen oder aus allgemeinen Prinzipien abzuleiten, was eine angemessene Reaktion wäre. Wir führen darüber ausführliche Diskussionen und bemühen dabei zum Beispiel Gedankenexperimente, die uns auf Implikationen und Voraussetzungen bestimmter moralischer Haltungen hinweisen. Dabei sind wir uns sicher, dass manche Positionen nicht vereinbar sind und sich andere zwangsweise als Konsequenz aus weiteren Überzeugungen ergeben. Bei solchen Ableitungen spielt oft auch nicht-moralisches Wissen eine Rolle. Wenn man zum Beispiel wissen möchte, ob das Tötungsverbot ein Verbot der Abtreibung zur Folge hat, muss man einerseits klären, wen das Tötungsverbot schützt (eine moralische Frage), und andererseits, ob Embryonen im fraglichen Stadium dazugehören (nicht-moralisches Wissen). Das zeigt, dass ein System moralischer Haltungen ähnlich wie eine wissenschaftliche Theorie eine logische Struktur hat. Manche moralischen Urteile und Forderungen erscheinen uns als unberechtigt. Wenn wir mit einer solchen Forderung konfrontiert sind, fragen wir, warum diese Forderung besteht oder worauf sie sich gründet. Dann erwarten wir üblicherweise ein Argument, das aus unstrittigen moralischen Normen und einer korrekten Beschreibung der Situation ableitet, dass man das Verlangte doch von uns fordern darf. Ansonsten lehnen wir die Forderung ab. Moralische Urteile sind also von Gründen abhängig, wenngleich sie in vielen Fällen nicht das Ergebnis eines expliziten Begründungsarguments sind. Wenn wir ein moralisches Urteil fällen, dann meinen wir meist, dass es für den Adressaten, also entweder für uns selbst oder für andere, einen motivierenden Grund gibt, in einer bestimmten Weise zu handeln. Zumindest in diesem minimalen Sinn verstehen wir unsere Alltagsurteile als verbindlich. In der anglo-amerikanischen Literatur fasst man diese These oft unter dem Begriff des Internalismus. Damit ist gemeint, dass eine notwendige Verbindung zwischen einem moralischen Urteil und der entsprechenden Hand-
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lungsmotivation besteht; das Urteil, dass man selbst etwas tun sollte, schließt die Motivation dazu bereits ein. Diese Motivation kann sehr schwach sein und von anderen Motiven überwogen werden. So wenig kontrovers diese These in einer allgemeinen Formulierung als Beschreibung unserer Alltagsintuition ist, so heftig ist sie andererseits in einer hochspezialisierten Diskussion umstritten.8 Ich werde später eine Position zur moralischen Motivation entwickeln, die in einem qualifizierten Sinn internalistisch ist. Pflichten, Tugenden und Sanktionen Man kann sich vorstellen, dass die Mitglieder einer moralischen Gemeinschaft moralische Qualität vor allem Personen, die sich durch bestimmte langfristige Verhaltensdispositionen auszeichnen, zuschreiben. In moralischen Urteilen werden sie Menschen als tugendhaft bezeichnen oder ihnen einen Mangel an Tugend vorwerfen. Jemand kann dabei tugendhaft sein und trotzdem einmal falsch handeln; eine einzelne Handlung erlaubt noch kein abschließendes Urteil über den Akteur. Es ist aber auch möglich, dass eine regelgeleitete Pflichtethik die Grundlage alltäglichen moralischen Urteilens bildet. Die Mitglieder einer solchen Gemeinschaft bewerten vor allem Handlungen, und zwar danach, ob diese bestimmten moralischen Normen entsprechen. Ob eine Tugend zu dem jeweiligen Verhalten geführt hat, ist dann zweitrangig. Ich will das als reine Beschreibung verstehen, ohne mich in die Diskussion zwischen Tugend- und Pflichtethik zu vertiefen.9 Hier will ich nur festhalten, dass beide Typen möglich sind und im Alltag vorkommen - de facto trifft man wahrscheinlich meistens Mischformen zwischen Tugend- und Pflichtethiken an. Je nach Typ der Praxis werden die Mitglieder der moralischen Gemeinschaft also sensibel entweder darauf reagieren, dass jemand sich in einem bestimmten Fall falsch verhalten hat, oder darauf, dass er keine Zeichen einer motivational wirksamen moralischen Grundhaltung (Tugend) erkennen lässt. Bei einer solchen wahrgenommenen Verfehlung muss ein Teilnehmer einer intakten
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moralischen Praxis mit Konsequenzen rechnen, die ich dem üblichen Sprachgebrauch folgend als Sanktionen bezeichnen werde. Genauer gesagt: Als Sanktionen möchte ich nur solche Folgen der Handlung verstehen, die die moralische Gemeinschaft inklusive des Handelnden selbst hervorbringt. Man könnte auch davon sprechen, dass die Sanktionen Reaktionen der Gemeinschaft sind.10 Zu den Sanktionen gehören moralische Gefühle des Handelnden. Dieser hat ein schlechtes Gewissen, fühlt sich schuldig oder bereut seine Handlung. Diese so genannten inneren Sanktionen können sehr unangenehm sein; das schlechte Gewissen plagt einen, Schuld empfindet man oft als drückende Last. Doch in fast allen Fällen greifen auch äußere Sanktionen, also Sanktionen, die von den anderen Mitgliedern der moralischen Gemeinschaft ausgehen. Dazu gehören wesentlich Mechanismen der Ausgrenzung. Andere begegnen jemandem, der schon einmal betrogen hat, mit großer Skepsis und werden sich nicht ohne weiteres auf eine Zusammenarbeit mit ihm einlassen. Das kann aus eigenem Interesse geschehen, aber Boykott-Aktionen gegenüber Firmen, die sich der öffentlichen Meinung nach unmoralisch verhalten haben, zeigen, dass viele Menschen auch gegen den direkten eigenen Vorteil handeln, um Verfehlungen zu bestrafen: Viele derjenigen, die sich am Boykott beteiligen, verzichten darauf, beim für sie günstigsten oder vom Angebot her attraktivsten Anbieter zu kaufen.11 Auch der Entzug der Anerkennung, die für die meisten Menschen ein konstitutiver Bestandteil des gelungenen Lebens ist, gehört zu den äußeren Sanktionen. Für den Betroffenen können die entgangenen Kooperations- und Interaktionschancen einen dramatischen Einschnitt bedeuten. Auch bei den reaktiven Dispositionen, die den sozialen Druck lenken, spielen Gefühle eine große Rolle. Man bricht zum Beispiel die Zusammenarbeit mit jemandem ab, weil man über sein Verhalten empört ist, oder man meidet jemanden, weil man ihm gegenüber Verachtung verspürt. Sanktionen beschränken sich meiner Auffassung nach nicht auf Strafen. Im Fall regelkonformen oder über strikte Forderungen
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hinausgehenden guten Handelns kann der Akteur mit der Anerkennung der anderen rechnen. Darüber hinaus werden diese gerne mit ihm zusammenarbeiten. Auch wenn Sanktionen zentraler Bestandteil jeder moralischen Praxis sind, spielen sie in den meisten alltäglichen Überlegungen keine Rolle. Man entscheidet sich üblicherweise nicht für eine moralische Handlung, weil man befürchtet, sich andernfalls schuldig zu fühlen. Noch weniger würde man diese Angst als Rechtfertigung für die Handlung angeben. Das hat mehrere Gründe: Gerade zu den inneren Sanktionen hat man üblicherweise keine hinreichende Distanz, um bewusst über sie zu reflektieren. Dafür werde ich ausführlich in Abschnitt 5.2.1 argumentieren. Es ist zudem ein moralisches Gebot (zumindest in den meisten Moralsystemen), dass man nicht nur aus Angst vor schlechtem Gewissen oder externen Sanktionen moralisch handeln sollte. Diese Angst kann also nicht in einem korrekten moralischen Begründungsargument auftauchen. Und letztlich entsteht alltägliches moralisches Verhalten oft aus Gewohnheit, man handelt nach bestimmten Mustern, die sich in ähnlichen Situationen bewährt haben. Wir handeln eben einfach moralisch, das Moralische „versteht sich fast immer von selbst", wie Bayertz (2004: 13) sagt. Alles andere wäre viel zu aufwändig und würde die Akteure überfordern.12 Eine Frage drängt sich nach dieser Betrachtung auf: Verstärken die Sanktionen eine immer schon vorhandene natürliche moralische Motivation, die jedem moralischen Urteil folgt, oder sind sie die einzige Motivation, moralisch zu handeln, auch wenn es den Akteuren nicht bewusst ist? Beide Positionen finden starke Fürsprecher. Später werde ich eine Antwort auf diese Frage geben, die versucht, zwischen den beiden Positionen zu vermitteln. Abgrenzung der moralischen Praxis Die bisherige Analyse weist auf Eigenschaften hin, die spezifisch für die moralische Praxis sind und diese von anderen sozialen Praktiken unterscheiden. Die Regeln, an die sich die Mitglieder der moralischen Praxis halten, sind einerseits die Regeln der Mo-
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ral im engen Sinne, die typischerweise den Schutz vor Verletzungen und Vertragstreue zum Inhalt haben. Andererseits sind es Regeln für Sanktionen, mit denen die Mitglieder der Praxis auf Verfehlungen reagieren. Mitglieder der Praxis können moralisches Verhalten erkennen, ihnen sind typische Fälle vertraut, in denen dieses gefordert ist und sie handeln in diesen Fällen meist automatisch moralisch richtig. Wichtig ist auch, dass die Teilnehmer der moralischen Praxis moralische Gefühle entwickelt haben und so in einer spezifischen Form auf moralisch richtiges bzw. falsches Verhalten reagieren. Das trägt zentral dazu bei, wie es sich anfühlt, im Rahmen der Praxis zu handeln. Aus Sicht der Teilnehmer gibt es moralische Werte. Argumente, die man innerhalb der Praxis zur Rechtfertigung eigenen oder fremden Verhaltens verwendet, basieren auf moralischen Prämissen. Diese Abgrenzung der moralischen Praxis ist stipulativ; man könnte sicher auch einen etwas anderen Ausschnitt aus der gesamten sozialen Praxis des Zusammenlebens in einer Gesellschaft herausgreifen. Die Diskussion der Moral im weiten Sinne ist nur ein Beispiel dafür. Bei einer solchen Bestimmung kann man kaum in Konflikt mit vortheoretischen Überzeugungen geraten. Das liegt daran, dass die meisten Menschen - auch wenn sie kompetente moralische Akteure sind - höchstens eine diffuse Vorstellung davon haben, was unter den Begriff Moral fällt und was nicht. Im Laufe meiner Untersuchung wird sich allerdings herausstellen, dass die Bestimmung, die ich hier getroffen habe, eine hohe analytische Kraft besitzt. Sie rechtfertigt sich dadurch, dass sie hilft, eine klare Antwort auf die Frage nach der Rolle des moralischen Kontraktualismus zu geben.
2.2 Moralphilosophie Welche Art von philosophischer Diskussion beginnen der Kontraktualist und seine Gegner, wenn sie darüber streiten, ob der mo-
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rausche Kontraktualisraus ein Argument des richtigen Typs entwickelt? Natürlich können verschiedenste philosophische Grundhaltungen hinter den jeweiligen Positionen des Skeptikers, des Kontraktualisten und der moralischen Person stehen. Ich halte es aber für wahrscheinlich, dass sich die typischen Vertreter aller Seiten auf ein gemeinsames Fundament einigen können. Argumente auf dieser Basis kann ein Kontraktualist aufrichtig vorbringen und er macht dabei nur Annahmen, die sein typischer skeptischer Gegenspieler auch akzeptieren muss. Diese Basis ist der Naturalismus. Die moralische Person muss sich dieser Haltung anschließen, wenn sie in dieselbe Diskussion einsteigen will. Dass auch sie das ohne Bedenken tun kann und sollte, werde ich unten zeigen.
2.2.1 Naturalismus und Analyse Moral-skeptische Fragen sind oft durch einen Zweifel an metaphysischen Annahmen motiviert, die nicht in unser naturwissenschaftlich geprägtes modernes Weltbild passen. Gott als moralischer Gesetzgeber oder moralische Werte als Entitäten einer eigenen, nicht-natürlichen Art waren in einem vormodernen Weltbild oft selbstverständliche Gründe, die Forderungen der Moral zu akzeptieren. Diese Basis ist heute zumindest für die meisten Menschen weggebrochen, da sie sich nicht in ein modernes Weltbild einfügt. Auch der Optimismus der Aufklärung, moralische Normen aus der reinen Vernunft gewinnen zu können, trägt heute zumindest eine schwere Hypothek. Typischerweise erwartet der Skeptiker deswegen eine Antwort, die nur auf Ressourcen oder Prämissen aus der Welt zurückgreift, die wir täglich erleben und wahrnehmen und die die empirischen Wissenschaften mit großer Präzision beschreiben. Er erwartet also eine Antwort, die sich in einen naturalistischen Rahmen einfügt. Diese Art von Naturalismus ist keinesfalls mit der unplausiblen These des physikalistischen Reduktionismus zu verwechseln. Dafür werde ich unten ausführlich argumentieren.
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Der moderne Kontraktualismus teilt diese Grundhaltung. Er möchte ein Argument geben, das unabhängig ist von der Annahme eigenständiger platonischer Werte oder eines göttlichen Willens. Hierin steht er in direkter Nachfolge der Kontraktualisten der Aufklärung, die darauf reagierten, dass eine Naturrechtslehre oder ein theologischer Voluntarismus nicht mehr akzeptabel erschienen (vgl. Schmidt 2003: 120). Hobbes selbst zum Beispiel macht bereits im Vorwort seines Leviathan klar, dass er seine Theorie innerhalb des damals in der Wissenschaft aktuellen mechanistischen Weltbildes entwickeln wird. Ganz deutlich denkt er in seinem gesamten Werk in diesen Kategorien. So charakterisiert er den Leviathan als übergroße menschenartige Maschine, die man zum eigenen Schutz aus Klugheitsgründen bauen sollte (Hobbes 1651: 9). Aber auch der Einwand der moralischen Person gegen den Kontraktualismus ist am stärksten und interessantesten, wenn man ihn vor einem naturalistischen Hintergrund versteht. Denn wäre es ein Einwand gegen diese Grundhaltung - etwa der Einwand, dass man in einem naturalistischen Rahmen die Moral nicht adäquat rechtfertigen könne -, dann wäre er relativ unspezifisch und trüge zudem aus eben genannten Gründen die schwere Last, dass er vor dem Hintergrund eines modernen Weltbildes unplausibel wäre. Ich möchte mich deswegen mit dem gefährlicheren Gegner auseinander setzen, der dem Kontraktualisten vorwirft, auch eine naturalistisch verstandene Moral mit seinem Argument zu verfehlen. Unabhängig von diesen Überlegungen legt die philosophische Diskussion der letzten Jahrzehnte eine naturalistische Haltung nahe. Diese Entwicklung und ihre Folgen für die philosophische Methode möchte ich jetzt skizzieren. Naturalismus Im allgemeinsten Sinn behauptet ein naturalistischer Ansatz in Bezug auf X, dass X und insbesondere Aspekte von X, von denen
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man es gemeinhin nicht erwartet, Teil der Natur sind. So schreibt Williams: Naturalism is a general outlook which, in relation to human beings, is traditionally, if very vaguely, expressed in the idea that they are „part of nature" - in particular, that they are so in respects, such as their ethical life, in which this is not obviously true. (Williams 2002: 22)
Diese Bestimmung ist zunächst sehr vage, da nicht klar ist, was man unter Natur verstehen soll. Der Naturalismus wird uninteressant, wenn man annimmt, dass Natur all das ist, was es gibt. Deswegen muss man den Begriff enger bestimmen. Zumindest in der Diskussion der Metaethik fasst man klassischerweise all das, was empirisch wahrnehmbar ist, unter den Begriff der Natur, Copp zum Beispiel formuliert: „I shall assume that natural properties are such that our knowledge of them is fundamentally empirical, grounded in observation" (Copp 2000: 31). Das stimmt überein mit Moores klassischer Definition, der zufolge moralische Naturalisten behaupten: „Ethics is an empirical or positive science: its conclusions could all be established by means of empirical observation and induction" (1903: 39). Aus beiden Bestimmungen wird aber auch klar, dass nicht nur das, was ohne weitere Hilfsmittel oder theoretischen Aufwand empirisch erfassbar ist, als Natur zählen sollte, sondern auch alles, was aus solchen Beobachtungen zum Beispiel durch induktives Schließen abgeleitet ist. Alles andere wäre auch sehr unplausibel, da zum Beispiel Bakterien, die man nicht mit bloßem Auge sehen kann, oder Atome dann keine Teile der Natur wären. Es liegt daher nahe, den Gegenstandsbereich der empirischen Wissenschaften als Kriterium heranzuziehen: Natur ist dann das, was diese Wissenschaften im Prinzip beschreiben können. Der Naturalismus behauptet nicht, das meine ich mit der Qualifizierung „im Prinzip", dass nur das, was aktuelle wissenschaftliche Theorien beschreiben können, Teil der Natur sei. Bei manchen Typen von Dingen ist derzeit noch unklar, ob sie von einer empirischen wissenschaftlichen Theorie erfasst werden können; das kann
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sich aber ändern. Vor der Entwicklung der modernen Biologie war zum Beispiel nicht klar, ob es eine empirische Theorie über das Leben geben kann oder ob man sich zu dessen Erklärung auf empirisch nicht-wahrnehmbare Entitäten wie eine Lebenskraft (vis vitalis] berufen müsse (vgl. Williams 2002: 23). Heute kann man erklären, wie Leben auf der Basis chemischer Prozesse entstanden ist und funktioniert. Tiere im Sinn der Biologie können deswegen als Teil der Natur gelten. Zudem ist klar, dass die Biologie in einem Kontinuum mit den anderen Naturwissenschaften steht. Damit ist allerdings nicht gemeint, dass diese Erklärung eine eigenständige Theorie über das fragliche Phänomen überflüssig macht; dass man die Biologie zugunsten der Chemie aufgeben könnte, folgt nicht. Der Naturalismus ist also keine These über die Möglichkeit von Reduktion, sondern eine These über Erklärungsmöglichkeiten (vgl. Williams 2002: 23). Das möchte ich im Folgenden erläutern. Eine naturalistische Haltung zu einem Aspekt der Welt erzwingt keinen reduktionistischen Ansatz. Nur wenn man annimmt, dass die naturwissenschaftliche Theorie, in deren Bereich der untersuchte Aspekt fällt, auf eine andere Theorie reduzierbar ist, nimmt man als Naturalist implizit in Kauf, dass dieser Aspekt auch in den Bereich der reduzierenden Theorie fällt. Ist man zum Beispiel Naturalist in Bezug auf psychische Prozesse, so heißt das zunächst bloß, dass man glaubt, diese Prozesse ließen sich von einer wissenschaftlichen psychologischen Theorie beschreiben und erklären. Nimmt man aber zudem an, dass sich die Psychologie auf eine neurophysiologische Theorie reduzieren lässt, dann ist man auch zu einer reduktionistischen Auffassung psychischer Prozesse gezwungen. Dass empirische Theorien in großem Umfang aufeinander reduzierbar sind, ist aber eine starke und nach der philosophischen Diskussion der letzten Jahrzehnte wenig vertretene Meinung. Um eine Theorie B auf eine Theorie A zu reduzieren, muss man nach klassischer Auffassung zunächst eine Übersetzung zwischen den Sprachen der beiden Theorien finden. Wenn das gelingt, dann verfügt man über so genannte Brückengesetze, die bestimmen, wie
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man die Sätze von B im begrifflichen Rahmen von A fassen kann.13 In einem zweiten Schritt muss man dann alle (nun übersetzten) Sätze von B aus A ableiten. Ein solches Projekt steht vor großen Schwierigkeiten, von denen ich nur auf die wichtigsten hinweisen möchte: • Explanatorische Mehrleistung durch Abstraktion: Höherstufige wissenschaftliche Theorien haben wie alle Theorien ihr eigenes begriffliches Schema (vgl. von Grundherr 2005). Dieses enthält Begriffe, die im Allgemeinen abstrakter sind als die Begriffe der elementareren Theorien. In dieser abstrakten Begrifflichkeit gelingt es ihnen, funktionale Zusammenhänge, kausale Abhängigkeiten oder andere Beziehungen zu beschreiben und zu erklären, die aus Sicht der elementareren Theorie nicht zu sehen oder zumindest nicht offensichtlich sind. Railton erläutert das an folgendem Beispiel (Railton 1998: 179). Die Biologie erkläre das auffällige Erscheinungsbild von Männchen verschiedenster Tierarten, indem sie darauf hinweise, dass dieses Aussehen den Weibchen körperliche Fitness signalisiere und so die Paarungschancen erhöhe. Auf der Ebene der Physik könnte man das Aussehen dieser Tiere auch durch gesetzmäßige Anordnung und Bewegungen von Atomen beschreiben - nur ist diese Beschreibung viel zu detailliert und sie erklärt nicht, warum Tiere bestimmte Muster aufweisen, sondern warum bestimmte Moleküle an bestimmten raum-zeitlichen Stellen auftreten. • Multiple Realisierbarkeit: Diese Probleme werden dadurch verschärft, dass die Eigenschaften, die die höherstufige Theorie beschreibt, auf verschiedene Weise durch elementarere Mechanismen implementiert sein können. Dabei entsteht das generellere Problem, eine gesetzesförmige Übersetzung (eine ein-eindeutige Zuordnung von Aussagen der beiden Theorien) zu finden, wenn es unbestimmt viele mögliche Realisierungen gibt (Kincaid 1990: 576f.). Tiere könnten auf einem anderen Planeten aus ganz anderen chemischen Ver-
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bindungen bestehen und trotzdem dasselbe Verhalten bei der Auswahl des Partners zeigen. Es könnte deswegen sein, dass man für ein und dasselbe untersuchte Phänomen sehr unterschiedliche Erklärungen durch eine elementarere Theorie erhält. Das schmälert deren Erklärungswert erheblich. Die Art der Implementierung ist letztlich irrelevant für die höherstufige Erklärung. Anders gesagt: Die Biologie hat ihre eigene spezifische Frage. Die Antworten der Physik sind zu detailliert, um darauf eine Antwort zu geben. • Brückengesetze implizieren oft die höherstufige Theorie: Nun könnte man sagen, genau diese Lücke zu überbrücken sei ja die Aufgabe der Brückengesetze. Aber gerade bei funktionalen Begriffsbestimmungen - etwa beim Begriff der Wirkung auf sexuelle Partner - ist das ein Problem. Denn hier implizieren die Gesetze oft die höherstufige Theorie (vgl. Kincaid 1990: 577f.). Offensichtlich ist das, wenn man zum Beispiel sexuelle Attraktivität physikalisch definiert als diejenige Anordnung von Molekülen, die den sexuellen Partner anzieht. Solche - meist erheblich besser versteckten - Bezüge auf die zu reduzierende Theorie zu vermeiden, ist eine sehr große Schwierigkeit bei der Formulierung der Brückengesetze. Nach diesen Argumente spricht viel dafür, dass höherstufige Theorien einen genuinen explanatorischen Mehrwert bringen. Davon unberührt ist allerdings eine ontologische Aussage über die Reduzierbarkeit der Substanz, aus der die Natur besteht; etwa die These, alles bestehe aus Materie, die die Physik beschreibt. Aber nur weil auch Tiere aus Atomen zusammengesetzt sind, geht die Fragestellung der Biologie noch nicht in der der Atomphysik auf. Was die moderne Biochemie für die Naturalisierung des Lebens geleistet hat, könnten die Kognitionswissenschaften für mentale Zustände leisten, indem sie erklären, welche neuro-physiologischen Prozesse ihnen zugrundeliegen. Wir müssen nicht im Detail verstehen, wie Gehirne funktionieren, um einzusehen, dass es im Prin-
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zip eine naturwissenschaftliche Erklärung für diese Funktionsweise gibt. Wiederum zeigen die Kognitionswissenschaften damit noch nicht, dass andere Theorien über das Denken hinfällig sind, oder dass Gedanken mit bestimmten physiologischen Prozessen identisch sind.14 Aber es folgt, wie Blackburn (1998b: 52) sagt: „States of minds are natural states." Zu diesem Ergebnis führt auch ein zweiter Weg. Man kann argumentieren, dass man mentale Zustände über ihre Auswirkungen auf Verhalten indirekt empirisch wahrnehmen kann (so wie man Elementarteilchen indirekt wahrnehmen kann, etwa Elektronen über Spuren in einer Nebelkammer). Die Begriffe mentaler Zustände würden dann als theoretische Begriffe in einer Theorie menschlichen Verhaltens auftauchen, so wie die Begriffe Elektron oder Energie theoretische Begriffe der Physik sind.15 Auch damit lägen mentale Zustände im Gegenstandsbereich einer empirischen Theorie. Diese beiden Argumente ergänzen sich. Zusammengenommen liefern sie eine stabile Basis für die nicht-reduktive Naturalisierung mentaler Zustände. Aber was bedeutet das für mein eigentliches Thema, die Moral? Sobald eine Theorie der Moral nur über mentale Zustände und unstrittig natürliche Dinge spricht, kann sie als naturalistische Theorie betrachtet werden. Ich werde in den folgenden Kapiteln eine solche Theorie entwerfen. Gelingt mir das auf überzeugende Weise, sollte man Moral als Teil der Natur verstehen. Analyse
Für den Kontraktualisten und seine Gegner bedeutet das also, dass sie sich mit ihren Argumenten im Rahmen der empirischen Wissenschaften bewegen müssen. Damit scheint auf den ersten Blick kein Platz mehr zu sein für die zentrale philosophische Methode begrifflicher Analyse, die keine empirischen Beobachtungen oder Experimente durchführt. Doch das ist bei genauerem Hinsehen ein Trugschluss; denn man muss nicht die Methode philosophischer Analyse aufgeben, sondern nur einen ohnehin unhaltbaren
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Anspruch. Sieht man begriffliche Analyse nämlich als abstraktes Werkzeug empirischer Wissenschaft an, so ist sie mit dem Naturalismus verträglich und entgeht zugleich dem starken Vorwurf, sie setze eine unhaltbare Unterscheidung zwischen analytischen und synthetischen Urteilen voraus. Dafür möchte ich nun argumentieren. Die Analyse von Begriffen scheint unabdingbar zu sein, wenn man genau verstehen will, was mit philosophischen Fragen gemeint ist und ob eine bestimmte Art von Antwort überhaupt zu einer bestimmten Frage passt. Der Streit zwischen dem Kontraktualisten und seinen Gegnern scheint genau von dieser Art zu sein. Denn die Kontrahenten müssen unter anderem klären, was man unter moralischen Normen versteht, welche Art von Argument der Kontraktualist liefert und was als Rechtfertigung gelten kann. Nach der klassischen Vorstellung von Analyse kann und muss man all diese Fragen beantworten, ohne die Erfahrung zu Rate zu ziehen. Denn, so diese Position, es gehe hier nicht darum, wie die Welt beschaffen sei; eine Antwort könne nur eine Untersuchung der Begriffe selbst liefern. Deren Ergebnis bestünde dann in so genannten analytischen Sätzen, die, weil unabhängig von jeglicher Erfahrung, unanfechtbar wahr seien. Der klassischen Auffassung zu Folge stehen den analytischen Sätzen klar getrennt erfahrungsabhängige synthetische Sätze gegenüber, wie sie zum Beispiel die Naturwissenschaften liefern. Allein synthetische Sätze erscheinen dann aus naturalistischer Sicht respektabel. Daher verbietet die naturalistische Grundhaltung auf den ersten Blick, die oben genannten zentralen (analytischen) Fragen zu beantworten. Doch dieser Schluss ist voreilig; er berücksichtigt nicht, dass es ein anderes Verständnis von philosophischer Analyse gibt. Tatsächlich hat die Diskussion seit etwa 50 Jahren gezeigt, dass das klassische Verständnis von Analyse nur schwer zu verteidigen ist. Es basiert auf einem Mythos der Bedeutung, der nach Quines (1951) Attacke schwer angeschlagen ist. Quine argumentiert, dass es kein trennscharfes Kriterium gebe, um zwischen analytischen
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und synthetischen Sätzen zu unterscheiden. „It is nonsense, and the root of much nonsense, to speak of a linguistic component and a factual component in the truth of any individual statement. Science has its double dependence on language and experience; but this duality is not significantly traceable into the statements of science taken one by one."(39) Wenn es aber keine rein linguistische Komponente einer Aussage gibt, kann es auch keine reine Analyse geben, die mit Sicherheit zu wahren Ergebnissen führt. Für die Fragen des Kontraktualisten und seiner Gegner bedeutet das: Eine Antwort kann nicht ohne Rückgriff auf die Empirie gegeben werden. Sie wird deswegen weniger verlässlich sein, als es die vermeintlich a priorischen Antworten einer klassischen Analyse sind; aber sie steht auch nicht im Widerspruch zum Naturalismus. Als Gegenentwurf zum klassischen Bild, in dem analytische und synthetische Sätze klar getrennt sind, zeichnet Quine das bekannte Bild eines Netzes des Wissens. Zwischen einigen von der Erfahrung vorgegebenen Punkten spannten wir ein Netz aus Meinungen, die über Ableitungs- oder Rechtfertigungsbeziehungen verknüpft seien: The totality of our so-called knowledge or beliefs, from the most casual matters of geography and history to the profound laws of atomic physics or even of pure mathematics and logic, is a man made fabric which impinges on experience only along the edges. (Quine 1951: 39) Die Punkte, an denen dieses Netz aufgehängt sei, bestimmten nicht, welche Struktur es haben müsse. Deswegen könne man das Netz in verschiedener Weise gestalten. Die Entscheidung für eine Architektur entspricht der Entscheidung für eine Theorie, mit der man an die Welt herangeht: Man entscheidet sich dabei ja, welche Begriffe man verwenden will und welche zentralen Sätze über die Beziehungen zwischen diesen Begriffen man annimmt. An Quines Bild kann man das alternative Verständnis von Analyse gut erklären. Eine Analyse ist demnach ein Vorschlag, das Innere des Netzes in einer bestimmten Weise zu gestalten. Einen Begriff analysiert man, indem man angibt, an welcher Position er in dem Netz
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Verwendung findet, in welchen Sätzen er dort also vorkommt und in welchen Beziehungen diese Sätze zu anderen Sätzen und zu den empirischen Randpunkten stehen. Was er bedeutet, hängt also sowohl von der Theorie als auch von der Erfahrung ab. Auch im Licht neuer Erfahrungen kann man punktuell an jeder (Teil-)Analyse festhalten, wenn man bereit ist, andere Teile des Netzes zu revidieren; nur in diesem schwachen Sinn kann eine Analyse unabhängig von der Erfahrung sein. Eine Analyse kann auch nicht absolut falsch oder richtig sein, aber sie kann eventuell in interessanten Bereichen des Netzes eine klarere Struktur erzeugen als eine andere Analyse. Manche Analysen bedeuten im Lichte aktueller Theorie und Erfahrung immer eine stärkere Belastung des Netzes als andere. Und wenn sie nur mit sehr großen Revisionen an anderen Teilen aufrecht erhalten werden können, ohne dass sie einen noch größeren Beitrag zur Klarheit in ihrem Bereich liefern, sollte man sie aufgeben.16 Gibbard schließt sich dieser Auffassung an und folgert für die Methode seiner Moralphilosophie: An analysis can be offered not as a bald statement of fact about what people mean, but as a proposal. Where a term is problematical, a new and clearer sense may serve its purpose - or some of them. [...] There may be an analysis that is clearly best for certain purposes, and there may not. Even if not, trying out top candidates is bound to reveal something about the term. (1990: 32) Naturalisten können mit dieser Auffassung von Analyse sehr gut leben. Denn ihr zufolge gibt es keine eindeutige Grenze zwischen philosophischer Analyse und empirischer Wissenschaft. Sicher sind philosophische Argumente im Innern des Netzes angesiedelt - aber das ist nur ein gradueller Unterschied zu den empirischen Wissenschaften, die weiter an der Peripherie liegen. Wenn ich in den folgenden Kapiteln Analysen vorschlage, dann möchte ich sie in diesem Sinn verstehen. Messlatte für den Erfolg ist letztlich die Tauglichkeit für die Systematisierung der Erfahrung und der vortheoretischen Überzeugungen. Das begriffliche
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Werkzeug der Philosophie muss helfen, sich in der Welt zurechtzufinden. Kein Kriterium für den Erfolg ist es hingegen, ob andere Theorien endgültig widerlegt werden; das wäre ein zu hoher Anspruch. Es kann oft, wie Gibbard sagt, mehrere Analysen geben, die ähnlich leistungsfähig sind. Abschließend möchte ich noch zwei konkretere Hinweise zur Methode der Analyse geben: (i) Neben der nahe liegenden expliziten17 Analyse (was bedeutet X, was versteht man am besten unter X) hat eine pragmatistische Form der Analyse an Bedeutung gewonnen. Sie fragt nicht direkt danach, was ein Begriff bedeutet, sondern danach, was man tut, wenn man ihn korrekt anwendet. In der Ethik haben Non-Kognitivisten solche Ansätze entwickelt. Sie greifen damit eine Idee des Wittgensteinschen Pragmatismus auf.18 Es wird sich später herausstellen, dass sich diese Form der Analyse gut eignet, um alltägliches moralisches Sprechen zu verstehen. Moralische Urteile sind in die moralische Praxis einer Gemeinschaft eingebettet; sie erhalten Ihre Bedeutung über die Rolle, die sie in dieser Praxis spielen. (ii) Quines Bild zeigt auch, dass scheinbar direkte Erfahrungen und theoretisch unbelastete Intuitionen revidierbar sind. Um eine sparsame und allgemeine Theorie mit hoher Erklärungskraft aufzustellen, kann es nötig sein, kontraintuitive Theorieentscheidungen zu treffen.19 Diesem Ansatz entsprechend kann man mit vortheoretischen Intuitionen argumentativ überzeugend umgehen, indem man erklärt, wie sie entstehen und sie somit als Fiktionen oder stark perspektivische Wahrnehmungen entlarvt. Eine Theorie, die erklärt, warum es uns so erscheint, dass sich die Sonne um die Erde dreht, muss diese Intuition nicht mehr als Gegenargument nehmen. Normakzeptanz In der Diskussion zwischen dem Skeptiker und dem Kontraktualisten geht es darum, welche Sanktionen man akzeptieren sollte,
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was es heißt, moralisch richtig zu handeln, oder was als moralischer Grund gelten kann. Um diese Fragen richtig zu verstehen und zu beantworten, muss man sich klar darüber werden, wie man die zentralen normativen Begriffe sollen, richtig oder Grund versteht. Diese Begriffe sind verwandt und es bietet sich deswegen an, sie mit Hilfe eines zentralen Begriffs zu analysieren. Für diese Rolle empfiehlt sich der Begriff der Norm. Denn man kann sagen, ob es Sinn mache oder richtig sei X zu tun, ob es einen Grund für X gebe und ob man X tun solle, hänge jeweils davon ab, ob X einer Norm entspreche. Normen stellen den Naturalisten vor Probleme. Regelmäßigkeiten kann man empirisch erfassen, aber Normen scheinen sich diesem Zugriff zu entziehen. Man kann sie weder direkt wahrnehmen noch braucht man sie innerhalb einer Theorie zur Erklärung von Verhalten. Eine Möglichkeit, diesem Problem zu entgehen, besteht darin, nicht Normen selbst, sondern die Akzeptanz von Normen als Basis der Theorie zu verwenden. Den Zustand der Normakzeptanz kann man als mentalen Zustand naturalistisch verstehen. Er kann auch eine zentrale Rolle in einer empirischen Theorie der Gesellschaft oder individuellen Verhaltens spielen. Man liefert auf diese Weise eine indirekte Analyse: Man erklärt nicht, was eine Norm ist, sondern was man tut, wenn man eine Norm akzeptiert.20 Was kann man über den psychologischen Zustand sagen, in dem man ist, wenn man eine Norm akzeptiert? Gibbard ist zu Recht skeptisch und meint, man sei weit davon entfernt, diesen Zustand genau zu verstehen (1990: 55). So kann man bestenfalls daraufhinweisen, wie er sich, etwa im Verhalten, bemerkbar macht und in welchen Beziehungen er zu anderen mentalen Zuständen, etwa Gefühlen, steht. Damit gibt man eine funktionalistische Analyse des Begriffs der Normakzeptanz. Als erste Annäherung kann man folgende kurze Liste verstehen. Später werden viele Punkte noch klarer werden, etwa wenn ich im vierten Kapitel moralische Gefühle diskutiere.21 (i) Wenn man eine Norm akzeptiert, ist man geneigt, sie in einer offenen oder gewaltfreien Diskussion zu vertreten.
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(ii) Wenn man eine Norm akzeptiert, ist man geneigt, ihr entsprechend zu handeln. (iii) Viele Gefühle setzen die Akzeptanz von Normen voraus. Das gilt vor allem für soziale Gefühle: Wenn man sich zum Beispiel gekränkt fühlt, dann sieht man die Situation als eine, in der man nicht in der Weise behandelt wurde, die einem zusteht. Akzeptiert man keine Norm über das richtige Verhalten anderer gegenüber einem selbst, ist diese Sichtweise gar nicht möglich. Genauso setzen moralische Gefühle die Akzeptanz von Normen voraus. Nur wer eine moralische Norm für das eigene Verhalten akzeptiert, kann sich bei einem Verstoß gegen diese Norm schuldig fühlen. Dass keine genauere Analyse des psychologischen Zustande verfügbar ist, ist kein Problem für eine philosophische Theorie. Hier liegt eine Schnittstelle zu einer stärker empirischen Wissenschaft. Sollte eine gute psychologische Theorie des Zustande der Normakzeptanz entwickelt werden, könnte man sie einfügen. Es wäre ungeschickt, in der Philosophie das zu tun, was die Psychologie ungleich besser kann. Die funktionalistische Analyse ist zudem neutral gegenüber verschiedenen substantiellen psychologischen Thesen und so relativ stabil gegenüber neuen Entwicklungen in der Psychologie, solange diese nicht abstreiten, dass es einen Zustand mit der angegebenen Funktion überhaupt geben kann. Normen können sich auf verschiedenste Bereiche beziehen. Einige Normen schreiben vor, was man in bestimmten Situationen tun sollte. Darunter fallen moralische Normen, aber auch Normen, die aus Wünschen oder allgemeiner aus Pro-Einstellungen entstehen: Wenn man wünscht reich zu sein, dann sollte man Mittel ergreifen, von denen man weiß, dass sie zu Reichtum führen. Auf der anderen Seite stehen Normen, die vorschreiben, was man glauben soll. Darunter fallen logische oder epistemische Regeln; letztere schreiben zum Beispiel vor, etwas nicht ohne weitere Prüfung zu glauben, wenn man es aus einer unsicheren Quelle erfahren hat.
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Neben diesen Normen, die vorschreiben, was man tun oder glauben soll, spielt eine weitere Schicht von Normen eine entscheidende Rolle: Normen für die Akzeptanz von Normen schreiben vor, welche Normen man akzeptieren sollte. Nur auf der Basis dieser Normen ist eine rationale Kontrolle der Normen möglich, die das eigene Verhalten und Denken leiten.
2.2.2 Drei Fragen der Metaethik Die Diskussion zwischen dem Kontraktualisten und der moralischen Person beschäftigt sich nicht mit der Frage, was zu tun in bestimmten Situationen moralisch richtig oder falsch ist. Die beiden streiten darüber, was man eigentlich tut oder tun sollte, wenn man ein Argument zur Rechtfertigung moralischer Forderungen aufstellt. Damit stellen sie eine Frage der Metaethik. Obwohl die Frage nach der richtigen Art der Rechtfertigung zentral ist, müssen sie sich auch mit den anderen beiden Kernfragen der Metaethik, den Fragen nach Metaphysik und Semantik der Moral, auseinandersetzen. Hier werde ich einen kurzen Überblick bieten, der die Orientierung in den folgenden Kapiteln erleichtern soll. Dort werde ich die jeweils relevanten Aspekte der Fragen systematisch und im Detail angehen. Metaphysik der Moral Wo haben moralische Werte oder Normen in der Welt ihren Platz? Sind sie in der selben oder in einer analogen Weise real wie die natürlichen Eigenschaften und Dinge? Auf diese Fragen antwortet eine Metaphysik der Moral. Der moralische Realismus vertritt die These, es gebe reale moralische Werte oder Normen.22 Es gibt viele Formen des Realismus; ich werde mich in Kapitel 6 mit einigen auseinander setzen, aber das Feld ist so weit, dass ich nicht alle erfassen und angemessen würdigen kann. Wesentlich unterscheiden sich die Varianten dadurch, wie sie moralische Werte oder moralische Eigenschaften
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jeweils charakterisieren: Werte können entweder Entitäten sui generis oder identisch mit natürlichen Dingen sein. Genauso können moralische Eigenschaften eine eigene Art bilden oder identisch mit natürlichen Eigenschaften, zum Beispiel mit der Eigenschaft nützlich für jeden, sein. Reale moralische Werte sind in diesem Ansatz Basis für Gründe, die für jeden gelten. Wer rational ist, hat demnach Gründe, moralisch zu handeln. So schreibt Raz: „valuable aspects of the world constitute reasons" (Raz 1999a: 22). Dabei sind die moralischen Werte oder Normen (z.B. das Gebot, Bedürftigen zu helfen) nicht unbedingt selbst Gründe; weil es sie gibt, sind bestimmte Sachverhalte (die Not eines Bedürftigen und die Chance, ihm zu helfen) Gründe. Anti-Realisten lehnen die These ab, dass es moralische Tatsachen oder reale moralische Werte gibt. Trotzdem möchten die meisten nicht abstreiten, dass es sinnvoll ist, moralische Urteile zu fällen: Der metaethische Nihilismus ist keine verbreitete Position und wäre auch kaum in Einklang mit unserem vortheoretischen Verständnis zu bringen. Typischerweise vertreten Anti-Realisten deswegen eine projektivistische Theorie, die behauptet, moralische Eigenschaften seien Projektionen unserer moralischen Haltungen oder Gefühle in die Welt. Das bedeutet, dass wir moralische Eigenschaften in der Welt wahrnehmen; aus der Sicht des moralisch Handelnden wirken moralische Eigenschaften wie reale Eigenschaften der Welt. Reale Werte können in diesem Bild nicht die Basis von Gründen sein. Ich werde in den Kapiteln 4 und 5 dafür argumentieren, dass die Akzeptanz von Normen als notwendiger Bestandteil der projizierten moralischen Gefühle zugleich moralische Gründe konstituiert. Ich werde die These verteidigen, dass der Anti-Realismus der metaethische Hintergrund ist, der sich für den interessenbasierten Kontraktualismus am besten eignet. Dazu werde ich in Kapitel 4 einen Ansatz im Detail ausarbeiten und verteidigen.
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Semantik moralischer Urteile Was bedeuten moralische Urteile? Sind sie Beschreibungen oder drückt man mit ihnen mentale Zustände aus? Diese Prägen sind verschieden, aber nicht unabhängig von den eben diskutierten metaphysischen Fragen. Für Realisten liegt es nahe, moralische Urteile als Tatsachenfeststellungen analog zu deskriptiven Urteilen zu sehen. Mit moralischen Urteilen beschreibt man dann direkt die moralischen Eigenschaften der Welt. Aus Sicht der Anti-Realisten gibt es keine moralischen Tatsachen, die man in einem moralischen Urteil beschreiben könnte. Deswegen geben sie typischerweise eine expressivistische Analyse moralischer Äußerungen: Mit der Äußerung eines moralischen Urteils drücke man eine Haltung, eine Einstellung oder ein Gefühl aus. Es ist wichtig, diese These von einem Subjektivismus zu unterscheiden: Das Urteil, das ein moralisches Gefühl ausdrückt, beschreibt dieses nicht. Wenn jemand sagt, es sei gut, Menschen in Notlagen zu helfen, dann drückt er damit ein entsprechendes Gefühl aus. Aber er sagt nicht, er empfinde, dass man Menschen in Notlagen helfen solle, und er denkt auch nicht, dass dies deswegen gut sei, weil er ein solches Gefühl habe. Theorie der Rechtfertigung moralischer Urteile Welche Art von Rechtfertigung muss man für moralische Urteile geben? Darf oder muss man sogar moralische Prämissen verwenden? Ist nur eine Rechtfertigung möglich, die die innere Kohärenz eines moralischen Systems zeigt, oder kann man es auch von einem externen Standpunkt aus rechtfertigen? An wen muss sich diese Rechtfertigung richten und kann man verschiedenen Menschen verschiedene Argumente zur Rechtfertigung geben? Ist moralische Rechtfertigung praktisch, motiviert also zum Handeln? Unterscheidet sie sich von theoretischer Rechtfertigung? Zwischen diesen Fragen und den Fragen nach Bedeutung und Metaphysik besteht kein offensichtlicher Zusammenhang.
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Trotzdem sind die Antworten nicht unabhängig voneinander. Ich möchte auf die zwei wichtigsten Fälle hinweisen, die für die weitere Diskussion um die Rolle des moralischen Kontraktualismus von Bedeutung sind. (Realismus) Wenn es, reale moralische Werte gibt, dann scheint die natürlichste oder kanonische Antwort auf die Frage, warum man die Sanktionen der moralischen Praxis akzeptieren sollte, zu lauten, diese Sanktionen trügen dazu bei, dass Menschen moralisch handelten und so die moralischen Werte realisierten. In diesem Bild sind nämlich, wie ich oben erwähnt habe, moralische Werte die Basis von Gründen, die für alle gelten. Sollte jemand diese Gründe nicht akzeptieren oder sehen, dann ist es der natürlichste Weg, ihn durch einen überzeugenden Hinweis auf die moralischen Werte zur Einsicht zu bringen, statt nach Gründen zu suchen, aus denen zufälligerweise das selbe folgt und die der Adressat zufälligerweise akzeptiert. Ein interessenbasiertes Argument hat in diesem Kontext einen schweren Stand. (Anti-Realismus) Gibt es hingegen keine realen moralischen Werte, auf die man einen Skeptiker nur hinweisen muss, dann muss eine Rechtfertigung nach anderen natürlichen und starken Gründen suchen, sobald der Skeptiker nicht nur Details einer Praxis, sondern die gesamte Praxis selbst in Frage stellt. Diese Gründe müssen dann nicht-moralische Gründe sein. Ich werde später argumentieren, dass Gründe auf der Basis des eigenen Interesses diese Rolle erfüllen können. Diese These kann man mit einer Analogie zu der Praxis sprachlicher Kommunikation plausibilisieren. Urteile über Grammatik drücken die Akzeptanz der grammatischen Regeln aus; und es gibt ganz analog zur Moral auch Sanktionen: Wenn jemand falsch spricht, wird er korrigiert, ausgelacht, nicht ernst genommen etc. Wenn man an der sprachlichen Praxis teilnimmt, dann sind die Regeln für einen festgesetzt. Trotzdem kann man heraustreten und fragen, ob die gesamte Praxis des Sprechens (und der entsprechenden Sanktionen) in dieser Art überhaupt zu rechtfertigen ist. Näher liegen solche Zweifel bei künstlichen Sprachen, z.B.
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Programmiersprachen, Fachsprachen etc. Wenn man einen Schritt zurücktritt, gibt es in gewisser Weise keinen Halt mehr, denn innersprachliche Gründe sind aufgebraucht. Im Fall der Sprache fällt es aber relativ leicht, Argumente zu finden, die für diese oder eine sehr ähnliche Praxis sprechen.23 Der zentrale Grund dürfte einfach sein, dass man auf diese Weise am besten Informationen übertragen kann. Aber man wird keinen linguistischen Grund finden, der für die sprachliche Praxis spricht: Dass man eine Vergangenheitsform im Deutschen nur auf eine bestimmte Weise bilden darf, rechtfertigt in keiner Weise eine sprachliche Praxis, in der diese Vorschrift besteht.24 Metaethischer Minimalismus Der metaethische Minimalismus ist eine klassische Position für Vertragstheoretiker. Wie Blackburn (1999a) beobachtet, gibt es in allen Teilbereichen der Debatte um Realismus und Anti-Realismus eine dritte Option. Wenn man die Diskussion über solche Fragen als unergiebig ansieht, kann man sie für sinnlos oder zu schwierig erklären und sich stattdessen der Diskussion der nicht-reflexiven substantiellen Fragen zuwenden, im Fall der Vertragstheorie also einfach normative Ethik betreiben. Dass viele Vertragstheoretiker diese minimalistische Haltung einnehmen, hat auch historische Gründe. Vor Rawls' Theory of Justice (1971) hatte sich die Debatte der akademischen Ethik vor allem mit metaethischen Fragen beschäftigt und besaß keine Ressourcen mehr, sich um die normative Ethik zu bemühen. Die neuere Vertragstheorie gewann an Bedeutung, nachdem Rawls ihre Unabhängigkeit von den damals aus der Sicht vieler unergiebigen metaethischen Theorien behauptet hatte (explizit dazu Rawls 1975). So konnte man die Vertragstheorie einfach als Beitrag zu einer moralischen Diskussion sehen, wie auch immer diese metaethisch einzuordnen wäre. Rawls' metaethische Zurückhaltung ermöglichte zwar einen Neubeginn der politischen Philosophie und der normativen Ethik, sie hatte aber auch zur Folge, dass metaethische Implikationen aller Formen des Kontraktualismus kaum diskutiert wurden.
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Da hingegen mehrere Metaethiker selbst25 eine Form des Utilitarismus vertreten, ist dessen metaethische Einordnung recht gut diskutiert. Vertragstheoretikern fällt es vergleichsweise schwer, ihren Ansatz gegen einige grundlegende Einwände zu verteidigen es gibt kaum argumentatives Material, wie es anderen normativen Theorien zur Verfügung steht. Rawls' Theorie selbst, die kohärentistisch argumentiert und vortheoretische moralische Intuitionen als Prämissen verwendet, ist freilich erheblich weniger anfällig für metaethische Kritik als ein interessenbasierter moralischer Kontraktualismus und hat daher auch keinen so großen Bedarf an metaethischer Einordnung. Der Dialog zwischen dem Kontraktualisten, dem Skeptiker und der moralischen Person zeigt, dass der metaethische Minimalismus sich wichtigen Fragen versperrt. Ich werde dafür argumentieren, dass man den moralischen Kontraktualismus in eine substantielle metaethische Theorie einordnen und damit zeigen kann, wo seine größte Stärke liegt und welchen Status seine Argumente haben.
Kapitel 3 Interessenbasierter moralischer Kontraktualismus Bisher habe ich das kontraktualistische Argument nur skizziert. Auf dieser Basis kann man die metaethischen Anfragen des Skeptikers nicht beantworten. Im Folgenden stelle ich deswegen eine paradigmatische Version einer interessenbasierten Vertragstheorie zur Moralbegründung vor. Sie dient als Ausgangsbasis aller weiteren Argumente. Vorbilder sind bestehende Theorien, wie sie Hobbes (1651), Gauthier (1986) oder Stemmer (2000) entwickelt haben. Ich möchte aber keine Rekonstruktion dieser bekannten Ansätze liefern und konzentriere mich in der Darstellung auf die Züge der Theorie, die für das weitere Argument wesentlich sind. Ich verzichte bewusst auf technische Details wie etwa eine spieltheoretische Formalisierung, der Gauthier viel Raum gibt. Mein Schwerpunkt liegt darauf, die begrifflichen Grundlagen eines vertragstheoretischen Arguments herauszuarbeiten, das man gegen die Einwände der moralischen Person verteidigen kann.
3.1 Ein Zustand ohne Moral Das kontraktualistische Argument beruht auf einem Gedankenexperiment. Der Untersuchungsgegenstand ist eine Gruppe von rationalen Akteuren, aber man kann und soll sich darunter die Mitglieder einer moralischen Gemeinschaft vorstellen. Die Versuchsbedingungen sehen vor, dass es in dieser Gruppe keine morali-
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sehen Regeln gibt; die Versuchspersonen haben keine moralischen Überzeugungen, Einstellungen oder Gefühle und sie sind in ihren Handlungen nur durch ihre eigenen Interessen motiviert. Zudem gibt es keine politischen Institutionen oder ein Rechtssystem. Alle anderen Bedingungen gleichen denen der wirklichen Welt. Der Experimentator lässt die Gruppe nun so lange zusammenleben, bis sie die Vor- und Nachteile ihrer Situation genau kennt. Dann eröffnet er ihnen die Möglichkeit, durch eine einstimmige Entscheidung eine Maschine einzuschalten, die alle Verstöße gegen bestimmte Normen mit abschreckenden Strafen sanktioniert. Als Ergebnis des Experimentes hält er fest, bei welchen Normen eine solche Entscheidung zustande kommt. Hobbes (1651) hat ein ähnliches Gedankenexperiment als einer der ersten entwickelt. Später haben es viele wiederholt und sind üblicherweise zu dem Ergebnis gekommen, dass Sanktionen für einen großen Teil unserer Alltagsmoral, etwa die Regel, Verträge und Versprechen einzuhalten, die Zustimmung der Versuchspersonen finden würden. Der eigentliche Zweck des Experiments erschließt sich allerdings erst, wenn man eine weitere Prämisse hinzuzieht: (MK) (1) Sanktionsmechanismen einer moralischen Gemeinschaft sind dann legitim (gerechtfertigt), wenn die Mitglieder dieser Gemeinschaft sie in einer vor-moralischen Situation einstimmig wählen würden. (2) Moralische Normen einer Gemeinschaft sind genau dann legitim (gerechtfertigt), wenn die entsprechenden Sanktionen legitim sind. Zusammen mit dieser Brückenthese (MK) dient das Gedankenexperiment als Rechtfertigung moralischer Sanktionen und entsprechender Normen. Man kann es natürlich auch verwenden, um Normen und Sanktionen zurückzuweisen: Sollten Sanktionen für eine Norm in dem vormoralischen Zustand nicht zustimmungsfähig sein, dann müssten diese Norm und die entsprechenden Sanktionen abgelehnt werden. Der Brückenthese zufolge werden primär Sanktionen gerechtfertigt, Normen aber nur in einem abgeleiteten
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Sinn. Das hat einerseits mit der Struktur des Gedankenexperimentes zu tun, in dem eben die Sanktionen zur Wahl stehen. Andererseits entspricht es aber auch dem typischen Fragemotiv des Skeptikers: Er fühlt sich dadurch eingeschränkt, dass die moralische Praxis ihn zwingt, sich in einer bestimmten Weise zu verhalten, und fragt, wie dieser Zwang oder Druck gerechtfertigt werden kann. Unten (Abschnitt 3.2.2) werde ich noch ausführlicher diskutieren, warum in dem Gedankenexperiment nicht die moralischen Regeln selbst zur Wahl stehen.
3.1.1 Rationalität Die Personen in der Versuchssituation entscheiden rational. Ich möchte diese Forderung in folgendem Sinn verstehen: (Rationales Handeln) Rational handelt eine Person genau dann, wenn sie sich für Handlungen entscheidet, die ihrem aktuellen Wissen nach dazu führen, dass ihre Interessen im größtmöglichen Umfang realisiert werden. Wer feststellen will, unter welchen Umständen die meisten Interessen erfüllt sind, muss zunächst in der Lage sein, alle möglichen Sachverhalte in eine Ordnung zu bringen, die den Grad der Interessenrealisierung widerspiegelt. Aus dieser Ordnung muss sich eindeutig ergeben, ob einer, und wenn ja welcher von zwei Sachverhalten vorzuziehen ist oder ob beide gleichwertig sind. Formaler gesagt muss eine solche Ordnungsrelation vollständig, reflexiv und transitiv sein.1 Man nennt diese Ordnung auch Präferenzordnung. Bei Personen, die ihre Interessen nicht im Sinn einer Präferenzordnung strukturieren können, kann man nicht von Rationalität sprechen. Bei ihnen läuft die obige Analyse leer, denn man kann nicht entscheiden, wann die Person so handelt, dass ihre Interessen in größtmöglichem Umfang realisiert sind. Die Interessen der rationalen Personen in dem vertragstheoretischen Gedankenexpe-
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riment müssen daher im Sinn einer Präferenzordnung strukturiert sein.2 Solange die Interessen einer Person allerdings diesem formalen Kriterium genügen, können sie jeden Inhalt haben; die Analyse folgt hier Humes bekanntem Diktum ,,'Tis not contrary to reason to prefer the destruction of the whole world to the scratching of my finger" (Hume 1739: 2.3.3.6). Es handelt sich bei dieser Bestimmung von Rationalität um ein Ideal. Die meisten wirklichen Personen können nämlich eine solche perfekte Präferenzordnung nicht aufstellen. In vielen Fällen fehlen ihnen die nötigen Informationen, zum Beispiel wenn sie zwei komplizierte Systeme der Sozialversicherung vergleichen müssen. In anderen Fällen haben sie ihre Wünsche nicht ausreichend reflektiert: Man kann sich durchaus vorstellen, dass jemand lieber viel Geld verdient, als einer interessanten Arbeit nachzugehen, die interessante Arbeit wichtiger findet als seine Familie, aber letztlich auf sein glückliches Familienleben nicht verzichten möchte, um viel Geld zu verdienen. Die Präferenzen dieser Person sind zirkulär und verletzen damit die Forderung nach Transitivität; eine rationale Entscheidung ist auf dieser Basis nicht möglich. Das vertragstheoretische Gedankenexperiment muss dieses Ideal von Rationalität verwenden. Seine Überzeugungskraft stützt sich ja gerade darauf, dass es zeigt, wofür sich perfekt rationale Personen entscheiden würden. Wichtig ist, dass die Adressaten des Arguments diese Art von Rationalität als Ideal betrachten und nicht, dass sie selbst immer rational sind (vgl. dazu Abschnitt 4.4.2). Ich möchte im Folgenden zwei sicher kontroverse Aspekte der bisher gegebenen Analyse von Rationalität detaillierter aufzeigen und verteidigen. Subjektive Interessen bestimmen rationale Präferenzen Meine Analyse betont, dass Rationalität darauf zielt, die Erfüllung eigener Interessen zu maximieren. An diese Interessen habe ich keine inhaltlichen Anforderungen gestellt. Aber setzt Rationalität
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nicht auch voraus, dass die Interessen der Personen von einem objektiven Standpunkt aus sinnvoll oder richtig sind? Rational würde man dann nur handeln, wenn man Interessen maximiert, die aus der Einsicht in eine objektive Wertordnung abgeleitet sind. Dabei müsste der Einsichts- oder Erkenntnisprozess zuverlässig und korrekt durchgeführt werden. Im Prinzip ist die Vertragstheorie auch mit einem solchen Ansatz vereinbar. Gauthier (1991: 19) zum Beispiel räumt explizit ein, dass eine objektive Werttheorie („objective interests") mit seinem Argument kompatibel ist, obwohl er sie aus anderen Gründen ablehnt. Formal ergibt sich ebenfalls kein Problem: Auch von objektiven Wertordnungen kann man fordern, dass sie in einer vollständigen, reflexiven und transitiven Weise geordnet sind. Ansonsten könnten sie keine Basis für Entscheidungen sein - das veranschaulicht das obige Beispiel der zirkulären Präferenzen. Allerdings gibt es zwei gewichtige Gründe, aus denen ein Vertreter von IMK eine objektive Werttheorie ablehnen sollte. (1) Objektive Interessen oder Werte sind im Rahmen des Naturalismus (vgl. Abschnitt 2.2.1) theoretisch schwer zu erfassen. Um mit dem Naturalismus kompatibel zu bleiben, müsste man annehmen, dass objektive Klugheitswerte auf natürliche Eigenschaften oder Dinge reduziert werden können. Ansonsten müsste man sie als Entitäten annehmen, die nicht empirisch erfassbar und damit nicht Teil der Natur sind. Nun bietet es sich natürlich an, die Pro-Einstellungen der betreffenden Personen als Reduktionsbasis zu verwenden: Objektiv wertvoll wäre dann das, was diesen Pro-Einstellungen entspricht. Damit hat man sich aber nicht substantiell vom Subjektivismus entfernt, denn ob etwas gut ist, bestimmen nach wie vor subjektive Einstellungen. Dass das objektiv der Fall ist, möchte auch eine subjektivistische Werttheorie nicht abstreiten. Man muss also eine andere Reduktionsbasis suchen. Man könnte zum Beispiel von bestimmten festgelegten Werten wie Freundschaft oder Erfolg bei eigenen Projekten ausgehen. Ein solcher Ansatz passt in ein ideologisches Weltbild, demzufolge für jedes
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Wesen festgelegt ist, was sein natürliches Ideal oder sein vollkommenster Zustand ist. Klug wäre dann, das zu tun, was zu diesem Ideal gehört oder zu ihm führt. In einem aristotelischen Verständnis wäre das sogar eine naturalistische Begründung (die Ziele gehören ja zur Natur), aber vor dem Hintergrund unseres von modernen Naturwissenschaften geprägten Weltbildes muss man die Rede von natürlichen Zielen oder Idealen ablehnen.3 Meines Wissens gibt es deswegen keine plausible naturalistische Lesart der These, dass eine bestimmte Liste von Dingen objektiv wertvoll sei.4 (2) Zudem verliert die interessenbasierte Vertragstheorie an Stärke, wenn sie mit einer objektivistischen Werttheorie verbunden wird. Zum Zweck des Arguments nehme ich einmal an, es sei eine objektive Tatsache, was für bestimmte Personen gut ist, und diese können diese Werttatsache erkennen und daraus Präferenzen bilden. Wenn jemand ideal rational ist, spiegeln seine Entscheidungen folglich die objektiven Werte. Der Experimentator in dem vertragstheoretischen Gedankenexperiment schreibt den Versuchspersonen ideale Rationalität und deswegen auch die richtigen Präferenzen zu. Dazu ist er aber nur in der Lage, wenn er selbst Einsicht in die objektiven Werttatsachen hat. Warum sollte er dann aber den Umweg über die Einstellungen der Vertragsparteien gehen? Er könnte aus der Einsicht in die objektiven Werttatsachen auch direkt Normen ableiten, die die objektiven Interessen aller Beteiligten berücksichtigen. Die Vertragstheorie ist in dieser Version also äquivalent mit dem Prinzip, dass moralische Regeln die objektiven Interessen jeder Person berücksichtigen müssen. Sie wäre nur ein ziemlich umständliches Mittel, dieses einfachere Prinzip darzustellen. So sollte man dem Skeptiker vor diesem Hintergrund am besten antworten, die moralische Praxis mit ihren Sanktionsmechanismen führe dazu, dass das tatsächlich Gute und damit seine objektiven Interessen auf diese Weise bestmöglich verwirklicht werden könnten. Es ist zwar richtig, dass er sich im Idealfall auch für die Einführung dieser Praxis entscheiden würde, aber ein Hinweis darauf hat keine zusätzliche Überzeugungskraft.
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In Verbindung mit einer subjektivistischen Werttheorie hat IMK keines der unter (1) und (2) genannten Probleme. Diese Werttheorie ist ontologisch sparsam und passt in das naturalistische Weltbild. Ihr zufolge sind subjektive Interessen selbst die Quelle von Werten und müssen deswegen in dem vertragstheoretischen Argument als Prämissen auftauchen. Interessen lenken unmittelbar die Entscheidungen rationaler Personen. Daher hat man mit einem Gedankenexperiment, in dem man Entscheidungen beobachtet, einen sehr direkten Zugang zu den Interessen und damit zu den relevanten Werten. Ich habe mich von Anfang an implizit auf ein vertragstheoretisches Argument bezogen, das von einer subjektivistischen Werttheorie ausgeht. Hier hat sich noch einmal gezeigt, dass die beiden Komponenten - die Vertragstheorie und die subjektivistische Werttheorie - gut zusammenspielen. Wenn ich im Folgenden von interessenbasiertem moralischem Kontraktualismus (IMK) spreche, dann beziehe ich mich auf genau diese Kombination. Entscheidung auf der Basis verfügbaren Wissens In meiner Analyse von Rationalität behaupte ich, man müsse um rational zu sein, das tun, von dem man nach bestem Wissen annehme, dass es zur bestmöglichen Erfüllung der eigenen Interessen führe. Diese These muss man gegen eine Auffassung verteidigen, die sich auf die Intuition beruft, man sei rational, wenn man das bestmögliche Ergebnis erreiche. Man könnte sagen, diese Gegenthese zu meinem Ansatz vertrete einen objektivistischen Begriff von Rationalität.5 Die objektivistische Auffassung von Rationaltät ist meines Erachtens deswegen unplausibel, weil sie impliziert, dass eine rationale Person oft etwas tun sollte, von dem sie überhaupt nicht weiß, dass es möglich ist, oder das sie im Lichte der vorhandenen Informationen nach reiflicher Überlegung für ungünstig hält. Gibbard (1990: 18ff.) illustriert das überzeugend mit dem Beispiel eines Wanderers, der sich im Wald verirrt hat. Natürlich würde es dem Interesse des Wanderers am besten entsprechen, den Wald
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auf dem kürzesten Weg zu verlassen. Nach dem objektivistischen Rationalitätsbegriff wäre folglich allein das rational. Allerdings liegt das Problem gerade darin, dass der Wanderer den kürzesten Weg nicht kennt. Rational ist es nach üblichem Verständnis deswegen eher, eine tatsächlich verfügbare bzw. bekannte Alternative zu wählen. Der Wanderer sollte zum Beispiel immer geradeaus gehen. Tut er das, bezeichnet man ihn auch dann als rational, wenn er den Wald nicht auf dem kürzesten Weg verlassen sollte. Das legt nahe, Rationalität, so wie ich es vorgeschlagen habe, am Vorgehen und nicht am Erfolg eines Akteurs zu messen. Rational ist es demnach, so zu handeln, dass man gemäß den verfügbaren Informationen die Erfüllung der eigenen Interessen maximiert. Genau das tut der Wanderer, der immer geradeaus geht. Auch wenn ein Akteur sich im Sinne meines oben eingeführten subjektivistischen Verständnisses (vgl. These Rationales Handeln, S. 45) vollkommen rational verhält, schließt das nicht aus, dass er sich im Lichte neuer Informationen rückblickend wünscht, er hätte anders gehandelt. Eine Stärke des subjektivistischen Rationalitätsbegriffs liegt gerade darin, dass er erlaubt klar zu unterscheiden, ob mangelnde Information (Unwissen) oder mangelnde Informationsverwertung (Irrationalität) für einen Misserfolg verantwortlich ist.
3.1.2 Randbedingungen - Einschränkungen Moralische und altruistische Präferenzen Die Versuchsbedingungen des vertragstheoretischen Gedankenexperiments erfordern, dass - anders als im tatsächlichen rationalen Handeln - einige Präferenzen keine Beachtung finden dürfen. Oben habe ich schon erwähnt, dass die Versuchspersonen keine moralischen Überzeugungen haben dürfen, obwohl diese bei vielen Entscheidungen realer Menschen eine wichtige Rolle spielen. In Kapitel 2 habe ich angegeben, was der Inhalt moralischer Normen
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ist. Unter moralischen Präferenzen verstehe ich nun Präferenzen, die auf dem Interesse daran basieren, diesen Normen zu folgen. Wenn die Personen in dem Gedankenexperiment ihre Entscheidungen durch moralische Präferenzen lenken ließen, wäre das vertragstheoretische Argument zirkulär oder sehr schwach - je nachdem, wie stark die motivierende Kraft dieser Überzeugungen wäre. Denn einerseits könnte es den Versuchspersonen selbstverständlich sein, für Regeln und eine Sanktionsmaschine zu stimmen, die ihren moralischen Überzeugungen entsprechen. Angenommen, man führt das Experiment für Menschen durch, die fest von den zehn Geboten in einer wörtlichen Lesart überzeugt sind. Wegen dieser moralischen Einstellung werden sie in dem Gedankenexperiment eine Sanktionsmaschine einschalten, die Verstöße gegen die zehn Gebote ahndet. Doch dieses Argument liefert keinesfalls eine Rechtfertigung für die zehn Gebote und es kann niemanden überzeugen, der diese Regeln nicht ohnehin schon akzeptiert. Insofern ist es zirkulär. Andererseits könnte es passieren, dass die Versuchspersonen die zehn Gebote so internalisiert haben, dass sie sich immer daran halten. Ihr Zusammenleben funktioniert deswegen vielleicht so gut, dass sie gar keine Sanktionsmaschine einschalten würden. Es ist aber aus diesem Versuch nicht ersichtlich, dass das Zusammenleben wegen der internalisierten moralischen Regeln so gut funktioniert. Viele andere Faktoren könnten diesen Effekt haben. Insofern ist das Argument sehr schwach. Nur wenn man die moralischen Überzeugungen ausschließt, kann das aufschlussreiche Ergebnis herauskommen, dass die Menschen in einer Gesellschaft, in der es keine moralischen Überzeugungen gibt, für die Durchsetzung bestimmter Regeln votieren würden. Einen weiteren prima facie problematischen Fall stellen Präferenzen dar, die andere Personen betreffen, etwa die Präferenz von Eltern dafür, dass ihre Kinder erfolgreich oder glücklich sind. Präferenzen sind ja nicht prinzipiell selbstbezogen wie Gauthier treffend bemerkt: „it is not interests in the self, that take oneself as object, but interests of the self, held by oneself as a subject, that provide the basis for rational choice and action" (1986: 7).
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Auf den ersten Blick könnte man nun meinen, die Vertragstheorie verliere an Kraft, wenn sie moralische Regeln nicht aus egoistischen Interessen ableiten könne. Diesem Einwand liegt aber ein zweifaches Missverständnis zu Grunde. Denn erstens geht es dem Kontraktualismus nicht darum, altruistische Regeln aus egoistischen abzuleiten, also gegen einen Egoisten zu argumentieren. Vielmehr ist der moralische Skeptiker, der sehr wohl altruistisch sein kann, der paradigmatische Adressat des kontraktualistischen Arguments. Zweitens betreffen die altruistischen Präferenzen Beziehungen, die für die meisten Menschen einen wichtigen Teil ihres Lebens ausmachen und konstitutiv für ihr Selbstverständnis sind. Würde die Entscheidung in dem Gedankenexperiment ohne Berücksichtigung dieser Präferenzen getroffen, so wäre sie für viele Menschen nicht nachvollziehbar. Das vertragstheoretische Argument wird also schwach, wenn altruistische Präferenzen keine Berücksichtigung finden, nicht wenn sie einbezogen werden. Einige dieser Präferenzen leiten sich allerdings aus moralischen Einstellungen ab und müssen deswegen ausgeschlossen werden. Analoges gilt für böswillige Präferenzen, etwa eine Präferenz dafür, dass ein persönlicher Feind krank wird oder sein Vermögen verliert oder dass Angehörige einer bestimmten Religionsgemeinschaft keine gleichberechtigten Mitglieder einer Gesellschaft sein dürfen. Wenn man solche Präferenzen ausschlösse, dann würden wichtige Motive der Adressaten des Arguments nicht beachtet. Die in dem Gedankenexperiment gewählten Regeln sollen ja Regeln für die Menschen sein, wie sie sind. Beachtet man das nicht, ist als Antwort zu erwarten: Das sind vielleicht vorteilhafte Regeln für jemanden, der anders als ich keinen Hass kennt und niemandem etwas Böses wünscht, aber warum sollte ich sie akzeptieren? Sowohl altruistische als auch böswillige Präferenzen haben oft eine Eigenschaft, die man Abhängigkeit nennt: Es sind Präferenzen dafür, dass die Präferenzen einer anderen Person in einer bestimmten Weise enttäuscht oder erfüllt werden. Ein Typ von Altruisten möchte zum Beispiel, dass andere etwas bekommen, das
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sie schätzen, ganz egal, was das ist: Ein solcher Altruist würde jemandem, dem nichts an Geld liegt, keinen Lottogewinn wünschen. Abhängige Präferenzen erzeugen eine Reihe von Schwierigkeiten. Sie erschweren es, allgemeine Aussagen darüber zu treffen, ob bestimmte Regeln und Sanktionen für alle vorteilhafte Kooperation ermöglichen und deswegen im Gedankenexperiment gewählt werden würden. Gerade bei böswilligen Präferenzen fällt das ins Auge: Zusammenarbeit zum gegenseitigen Vorteil ist nicht unbedingt von Interesse für jemanden, dem darin liegt, dass andere keine Vorteile haben. Und jemand, dem - im anderen Extremfall - der Vorteil der Mitmenschen über alles andere wichtig ist, wird normale kooperative Arrangements für seinen Begriff als zu egoistisch betrachten. Aus technischen Gründen schließen moderne Vertragstheorien abhängige Präferenzen oft aus und verlangen, dass die Personen wechselseitiges Desinteresse am Vorteil der anderen zeigen.6 Diese Annahme ist meines Erachtens voreilig. Denn wie ich oben argumentiert habe, sollten außer moralischen Präferenzen keine Präferenzen ausgeschlossen werden. Aber auch, wenn man abhängige Präferenzen zulässt, wird das vertragstheoretische Argument kaum zu anderen Ergebnissen kommen. Zwei Gründe sind zentral dafür, dass die abhängigen Präferenzen in den meisten Fällen keinen großen Einfluss haben: • Bei fast allen Menschen ist das Interesse am eigenen Wohlergehen so stark ausgeprägt, dass es das Interesse am Schaden anderer deutlich überwiegt. Nur wenige Menschen sind bereit, ihr eigenes gutes Leben zu opfern, um anderen zu schaden. Die abhängigen böswilligen Präferenzen sind bei den meisten Menschen nicht so stark, dass Kooperation für sie nicht sinnvoll ist. Hirschman (1977) zeigt, dass diese Idee in den klassischen Texten aus der Frühphase marktwirtschaftlicher Theorie eine wichtige Rolle spielt. Das Eigeninteresse, so die These in diesen Texten, sei stark genug, um die böswilligen Wünsche oder Triebe zu zähmen. Es müsse zu diesem Zweck instrumentalisiert werden.
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• Viele der abhängigen Präferenzen, gerade die altruistischen, sind von recht begrenzter Reichweite. Die meisten basieren auf persönlicher Sympathie oder Antipathie, die man nur zu einer begrenzten Zahl von Menschen aufbauen kann. Bei Hume (vgl. 1739: 3.2.5.8) findet man eine sehr treffende Analyse der begrenzten Reichweite dieser Gefühle. Antipathien, die auf bestimmten weltanschaulichen oder religiösen Überzeugungen beruhen, können allerdings eine erheblich größere Reichweite haben und sich auch gegen anonyme Mitglieder einer großen Gruppe richten. Trotzdem ist es für meine Untersuchung wichtig, Folgendes festzuhalten: Es ist zumindest möglich, dass für manche Personen gesellschaftliche Arrangements, die für fast alle anderen Menschen vorteilhaft sind, nicht wünschenswert sind. Das ist vornehmlich bei Personen der Fall, die sehr ausgeprägte (abhängige) böswillige Präferenzen haben. Um zusammenzufassen: Außer Präferenzen, die auf moralischen Einstellungen beruhen, gehen bei dem vertragstheoretischen Gedankenexperiment alle Präferenzen in die Entscheidungen der rationalen Personen ein. Rationale und voll informierte Personen entscheiden sich dann immer so, dass möglichst viele ihrer Präferenzen erfüllt werden. Wissen um die eigene Position in der Gesellschaft Seit Rawls in seiner Theorie der Gerechtigkeit den „Schleier des Nichtwissens" (Rawls 1971: 159ff.) einführte, durch den die Personen in dem Gedankenexperiment nicht sehen können, welche Position in der realen Gesellschaft sie einnehmen und welche Fähigkeiten sie besitzen, müssen Vertragstheorien dazu Stellung beziehen, mit welcher Absicht sie den Versuchspersonen welche Informationen geben oder belassen. Rawls möchte explizit moralisch irrelevante Faktoren ausschließen: „Die Willkür der Welt muß in Form der ursprünglichen Vertragssituation zurechtgerückt werden." (165) Damit trifft er eine substantielle moralische Entschei-
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düng, denn dass etwa die Begabung oder der soziale Status der Eltern keinen Einfluss auf die gesellschaftliche Verteilung von Gütern haben dürfen, sind starke und zum Teil umstrittene moralische Positionen (vgl. Edmüller 1999: 213ff.). Für Rawls' kohärentistischen Ansatz, der eine normative Theorie mit unserem normativen Alltagsverständnis in ein Überlegungsgleichgewicht bringen möchte, ist das nicht problematisch. Die interessenbasierte Vertragstheorie muss aber konsequenterweise nicht nur moralische Präferenzen ausschließen, sondern darf auch in keiner anderen Weise moralische Werte in ihr Gedankenexperiment integrieren. Ihr zentrales Ziel ist es ja, Moral gegenüber realen Menschen zu begründen. Es soll gezeigt werden, dass die Regeln für jede Person in ihrer aktuellen Lage vorteilhaft sind. Mit dieser Absicht verbietet sich ein Argument der Art: Wenn es keine Moral gäbe und niemand seine Stellung in der Gesellschaft und seine Fähigkeiten kennen würde, dann sollte man vernünftigerweise moralische Regeln einführen und durchsetzen. Dieses Argument ist nicht relevant, denn man kann einfach erwidern, dass man seine Position in der Gesellschaft sehr wohl kenne und es deswegen nicht interessant sei, was für jemanden vernünftig sei, der seine Position und seine Fähigkeiten nicht kenne. Rawls stützt sich an dieser Stelle auf ein moralisches Argument, das der interessenbasierten Vertragstheorie nicht zur Verfügung steht. IMK muss also davon ausgehen, dass die Personen im Naturzustand über ihre Position in der Gesellschaft voll informiert sind. Allerdings wird in vielen (und besonders in den interessanten) Fällen diese aktuelle Gesellschaft im Gedankenexperiment sehr schnell zerbrechen, denn ohne eine moralische Praxis ist sie nur sehr eingeschränkt stabil und funktionsfähig. Und mit der Gesellschaft selbst verliert natürlich auch die gesellschaftliche Position an Bedeutung. Bedeutsamer ist es deswegen in den meisten Fällen, dass IMK den Versuchspersonen ihre Fähigkeiten, ihr Wissen und auch ihren Besitz belässt. Was davon den Übergang in einen nichtmoralischen Zustand unbeschadet übersteht, ist eine wichtige Frage für eine im Detail durchgeführte Vertragstheorie.
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Interessenbasierter moralischer Kontraktualismus 3.1.3 Koordinations- und Kooperationsprobleme
Die so charakterisierten Personen setzt der Experimentator nun in eine Welt, die alle relevanten Merkmale der wirklichen Welt besitzt: Es herrscht zum Beispiel mäßige Güterknappheit und die Menschen leben so eng zusammen, dass sie nicht einfach, ohne die anderen zu beachten, ihre Ziele verfolgen können. Nach diesen Klärungen steht der Versuchsaufbau und man kann beobachten, wie sich die Versuchspersonen verhalten. Jeder wird versuchen, so zu handeln, dass er damit die Erfüllung seiner Präferenzen maximiert. Dabei kann es durchaus vorteilhaft sein, Gewalt anzuwenden, um seine Interessen durchzusetzen - was wiederum andere dazu motiviert, sich gegen erwartete Gewaltanwendung zu schützen. Das Verhalten der anderen ist für den einzelnen zudem oft schwer vorhersehbar; da es nach Annahme weder eine moralische noch eine rechtliche Institution des Versprechens gibt, lassen auch Absichtserklärungen nicht darauf schließen, wie sich jemand tatsächlich verhalten wird. Hume erzählt eine kurze Geschichte, die zeigt, dass der Mangel an Verlasslichkeit der gegenseitigen Verhaltenserwartungen Zusammenarbeit zum gegenseitigen Vorteil unmöglich machen kann: Your corn is ripe to-day; mine will be so to-morrow. 'Tis profitable for us both, that I shou'd labour with you to-day, and that you shou'd aid me to-morrow. I have no kindness for you, and know you have as little for me. I will not, therefore, take any pains upon your account; and shou'd I labour with you upon my own account, in expectation of a return, I know I shou'd be disappointed, and that I shou'd in vain depend upon your gratitude. Here then I leave you to labour alone: You treat me in the same manner. The seasons change; and both of us lose our harvests for want of mutual confidence and security. (Hume 1739: 334) Auch in vielen anderen Fällen könnten die Akteure so wie die beiden Humeschen Bauern bessere Ergebnisse erzielen, würden sie zusammenarbeiten oder ihre Handlungen zumindest aufeinander
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abstimmen. So könnten sie sich zum Beispiel spezialisieren und durch Arbeitsteilung erheblich effizienter verschiedene Güter produzieren. Sie könnten auch gegenseitig auf Gewalt zu verzichten, so dass niemand in aufwendige aber unproduktive Verteidigungsund Schutzmaßnahmen investieren müsste. In einem Teil der Fälle geht es nur darum, die Handlungen der Einzelnen zu koordinieren. Für jeden wäre es vorteilhaft, wenn sich alle an eine einheitliche Regel halten würden, und niemand hätte einen Vorteil, wenn er von dieser Regel abweichen würde, wäre sie einmal etabliert. Ein klassisches Beispiel ist die Regel, im Straßenverkehr auf einer bestimmten Seite zu fahren. Wenn diese Regel einmal in Kraft ist, wird jeder vermeiden, von ihr abzuweichen, um sich nicht selbst zu gefährden. Die Menschen in dem Gedankenexperiment werden sich wahrscheinlich auf einige Regeln dieses Typs einigen. Für niemanden sind hohe Kosten damit verbunden und alle haben einen deutlichen Vorteil davon. Solche Regeln möchte ich Koordinationsregeln nennen. Problematischer sind die Fälle, in denen Zusammenarbeit zwar für alle vorteilhaft ist, es sich aber für Einzelne lohnt, von der etablierten Regel oder Vereinbarung abzuweichen: für jeden ist es dann am besten, wenn sich alle bis auf ihn an die Regel halten. Das Humesche Beispiel fällt in diese Kategorie; denn für jeden der beiden Bauern ist es am vorteilhaftesten, wenn ihm zwar sein Nachbar beim Einfahren der Ernte hilft, er selbst seinen Nachbarn aber nicht unterstützt. Dieser Struktur begegnet man allgemeiner in allen Fällen, in denen die Interaktionspartner sowohl gemeinsame als auch konfligierende Interessen haben (vgl. Homann und Suchanek 2000: 99ff.). Typisch sind dafür Verträge und Versprechen. Denn an einem verlässlichen Vertrag sind beide Parteien nur interessiert, weil sie sich dadurch jeweils Vorteile versprechen. Deswegen haben sie ein gemeinsames Interesse an der Erfüllung des Vertrags. Der Vertrag wäre aber unnötig, könnte man nicht auf Kosten des Vertragspartners einen noch größeren Vorteil erzielen. So ist es vorteilhaft, wenn nach einem Kaufvertrag ein vereinbarungsgemäßer Austausch der Ware gegen eine entsprechende
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Geldsumme stattfindet. Noch besser ist es für den Käufer aber, wenn er die Ware bekommt, ohne dafür zu bezahlen. Ohne weitere motivierende Faktoren, wie etwa Strafen, hat, wie Hume es beschreibt, niemand ein Interesse daran, Verträge einzuhalten. Denn jeder weiß, dass jeder rationale Vertragspartner versuchen wird, den Vertrag zu brechen, solange er dafür nicht bestraft wird. Wer in diesem Fall regeltreu handelt, lädt die anderen ein, dieses Verhalten auszubeuten. Ich will in diesem Fall von Kooperationsproblemen sprechen.7 Kooperationsprobleme treten natürlich nicht nur zwischen zwei Parteien auf. Typischerweise entstehen sie in Gruppen, in denen es gemeinsame Ziele oder Ressourcen gibt. Ein klassisches Beispiel dafür ist das Schwarzfahren in der U-Bahn. Jeder profitiert davon, dass die U-Bahn durch die Einnahmen aus dem Fahrkartenverkauf finanziert werden kann. Den größten Vorteil hat aber der Schwarzfahrer, der, ohne selbst zu zahlen, die U-Bahn benutzt, die aus den Beiträgen der anderen finanziert wird. Der Annahme nach gibt es in dem vertragstheoretischen Gedankenexperiment weder formale (rechtliche) noch informelle Sanktionen wie ein schlechtes Gewissen oder sozialen Druck, die zur Einhaltung moralischer Regeln zwingen. Die Versuchspersonen sehen deswegen zwar ein, dass Regeln, die Kooperationsprobleme lösen, indem sie verbieten kooperatives Verhalten auszubeuten, für alle vorteilhaft wären. Aber es wäre für sie irrational, sich an diese Regeln zu halten; damit würden sie nur den anderen die Möglichkeit geben, die eigene Regeltreue auszunutzen. Die Regeltreuen würden dem Nachbarn beim Ernten helfen, während ihre eigene Ernte auf dem Feld dem schlechten Wetter zum Opfer fällt, sie würden bezahlen, aber keine Ware bekommen, oder die U-Bahn finanzieren, die andere kostenlos benutzen. Da alle Versuchspersonen immer rational handeln, folgt unter den Bedingungen des vertragstheoretischen Gedankenexperiments zunächst niemand Kooperationsregeln.
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3.2 Wahl von Sanktionen Die Versuchspersonen können in dem Gedankenexperiment also nicht kooperieren und sind deswegen auf sich allein gestellt. Das hat einerseits zur Folge, dass ihnen alles, was nur durch Zusammenarbeit erreichbar ist, verwehrt bleibt. Man muss keine detaillierte sozial Wissenschaft liehe Analyse anstellen, um mit Sicherheit sagen zu können, dass das ein großer Teil dessen ist, was den Lebensstandard moderner Gesellschaften ausmacht. Wissenschaft und Technik, aber auch arbeitsteilige Produktion von Gütern sind unter diesen Versuchsbedingungen zum Beispiel undenkbar. Zudem ist das Leben sehr unsicher, da jeder damit rechnen muss, dass ihn jemand mit Gewalt um die Früchte seiner Arbeit bringen möchte - es gibt ja keine Instanz, die Eigentum oder körperliche Unversehrtheit garantiert. Auf diesen Zustand trifft Hobbes' bekannte Beschreibung zu: In such condition, there is no place for Industry; because the fruit thereof is uncertain: and consequently no Culture of the Earth; no Navigation, nor use of the commodities that may be imported by Sea; no commodious Building; no Instruments of moving, and removing such things as require much force; no Knowledge of the face of the Earth; no account of Time; no Arts; no Letters; no Society; and which is the worst of all, continuall feare, and danger of violent death; And the life of man, solitary, poore, nasty, brutish, and short. (Hobbes 1651: 89)
3.2.1 Die Sanktionsmaschine Nun nimmt man in dem Gedankenexperiment an, dass es eine Maschine gibt, die jeden bestraft, der sich nicht an bestimmte Regeln hält. Der Maschine kann niemand entgehen und die Strafen sind so hoch, dass es sich nicht lohnt, Regeln zu brechen. Diese Maschine ist zunächst ausgeschaltet und kann nur aktiviert werden, indem jedes Mitglied der Gesellschaft persönlich einen Schalter umlegt.
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Letzteres, nehme ich an, ist ungefährlich und mit minimalem Aufwand verbunden. Erst wenn alle ihren Schalter umgelegt haben, springt die Maschine an - und kann nicht wieder ausgeschaltet werden. Läuft die Sanktionsmaschine einmal, so ist es für alle rational, sich an die Regeln zu halten, auf deren Durchsetzung sie programmiert ist. Denn für einen Regelbruch bestraft zu werden, macht alle Vorteile, die dieser bringt, wieder zunichte. Nun ist es offensichtlich für jeden Einzelnen rational, seinen Schalter umzulegen, wenn ihm damit die Möglichkeit der Kooperation eröffnet wird und er sich besser stellen kann. Die Nachteile, die durch die Einschränkung der Freiheit entstehen, sind kleiner als die Vorteile, die durch Kooperation realisiert werden können.8 Hätten die Bauern in Humes Beispiel eine Maschine zur Verfügung, die jeden bestraft, der das Versprechen, bei der Ernte zu helfen, bricht, dann würden sie diese Maschine einschalten. Denn dann könnten sie bindend gegenseitig versprechen, sich bei der Ernte zu helfen. Der, der zuerst hilft, braucht dann keine Angst mehr zu haben, dass der andere ihm nicht helfen wird. Deswegen helfen sich beide und beide können ihre Ernte, die sonst verloren gegangen wäre, vollständig einfahren. Wahl zwischen verschiedenen Sanktionsmaschinen In der bisher beschriebenen einfachsten Version der Vertragstheorie hatten die Versuchspersonen nur die Wahl, entweder die einzige vorgegebene Maschine einzuschalten oder ganz auf eine Sanktionsmaschine zu verzichten. Dieses Vorgehen zeigt zwar, dass die so eingeführte soziale Praxis für jedes Mitglied der Gemeinschaft besser ist als ein Zustand ohne moralische Praxis, und weist damit darauf hin, dass es überhaupt einen Grund für deren Akzeptanz gibt. Aber, so kann man einwenden, damit ist noch lange nicht klar, dass es nicht viele bessere Regelsysteme geben könnte. Es ist eine wichtige Aufgabe einer detailliert ausgearbeiteten Vertragstheorie, darauf zu antworten. Hier kann ich nur skizzieren, wie man dabei vorgehen könnte.9
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Eine ausgearbeitete Vertragstheorie muss die Wahl zwischen verschiedenen Sanktionsmaschinen zulassen. Solange diese Maschinen sich in einer Weise der Qualität nach ordnen lassen, mit der alle aus ihrer Sicht übereinstimmen, ist der Fall nicht weiter kompliziert: Es gibt eine einzige Maschine, die für jeden besser ist als jede andere Maschine. Die Wahl einer anderen Maschine würde für jeden eine Verschlechterung bedeuten. Deswegen fällt die Wahl sofort einstimmig auf diese eine Maschine. Nur in seltenen Ausnahmefällen werden sich die Maschinen in dieser Weise ordnen lassen, zum Beispiel, wenn es nur Koordinations- und keine Kooperationsprobleme zu lösen gibt. In allen anderen Fällen werden für verschiedene Personen unterschiedliche Maschinen die beste Wahl darstellen. Man stelle sich in einer Gesellschaft von 100 Personen eine Maschine vor, die bei 99 Personen die Einhaltung von Verträgen erzwingt, bei einer Person aber nicht. Es sind 100 verschiedene solche Maschinen möglich, und jede Person bevorzugt die Maschine, die ihr den Vertragsbruch erlaubt. Insgesamt stellt jede dieser Maschinen immer noch eine deutliche Verbesserung gegenüber dem Zustand ohne irgendeine Maschine dar. Für jeweils 99 Personen ist sie aber schlechter als die Maschine, die von allen die Vertragseinhaltung erzwingt. In solchen Fällen ist eine Verhandlung notwendig. Man kann sich das in dem Gedankenexperiment so vorstellen, dass in jeder Runde der Verhandlung jede Person einen Schalter an einer beliebigen Maschine umlegen darf. In der ersten Runde wählt jeder die Maschine, die ihm allein den Vertragsbruch erlaubt, also die für ihn beste Maschine. Da keine Maschine von allen eingeschaltet wurde, werden in der nächsten Runde alle die für sie zweitbeste Maschine einschalten. Erst bei einer Maschine, die von allen die Vertragseinhaltung erfordert, werden, eventuell nach einigen Zwischenstufen, alle ihren Schalter umlegen. Es lohnt sich für niemanden, die Verhandlung länger zu boykottieren, da der Zustand ohne Regel sonst nur länger dauern würde und auch ihm Nachteile brächte. Dieses Verhandlungsverfahren liefert als Ergebnis das für jeden produktivste System gleicher durch Sanktionen garantierter
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Rechte. Diese Gleichheit ist eine Folge der Festlegung, dass die Sanktionsmaschine nur anspringt, wenn alle ihren Schalter umgelegt haben. Gründe für diese Festlegung diskutiere ich ausführlich später (Abschnitt 3.3.1). Wenn es um Schutzrechte, also den Kerninhalt der Moral im engeren Sinne geht, sind mit diesem Verfahren die meisten möglichen Verhandlungen über Sanktionsmaschinen abgedeckt (vgl. zu Fragen der sozialen Gerechtigkeit Abschnitt 3.3.2). Rechtfertigung einzelner Regeln und Sanktionen Bisher bin ich implizit immer davon ausgegangen, dass man mit Hilfe der interessenbasierten Vertragstheorie ein komplettes System moralischer Regeln und Sanktionen auf den Prüfstand stellt. Mit dem Verfahren zur Wahl zwischen verschiedenen Sanktionsmaschinen kann man verstehen, wie auch einzelne Sanktionen und Regeln untersucht werden können. Wie eine Sanktion sich auswirkt, hängt davon ab, wie sie mit anderen Sanktionen zusammenspielt. Man erhält deswegen kein aussagekräftiges Ergebnis, wenn man eine Sanktion isoliert untersucht, etwa indem man in dem Gedankenexperiment eine Maschine einführt, die ausschließlich diese eine Sanktion durchführt. Doch man kann sinnvollerweise fragen, ob eine bestimmte Sanktion SQ im Kontext eines festgehaltenen Systems der restlichen Sanktionen S vorteilhafter ist als eine Sanktion si. Im Gedankenexperiment muss man dann untersuchen, ob eine Sanktionsmaschine, die SQ und S durchführt vorteilhafter ist als eine Maschine, die si und S durchführt. Mit IMK muss man also sinnvollerweise immer das gesamte System der Sanktionen und Regeln einer Praxis untersuchen. Aber man kann auch einzelne Sanktionen und Regeln als Teil dieses Systems beurteilen und mit Alternativen vergleichen.
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3.2.2 Wahl von Sanktionen oder Wahl von Regeln In dem Gedankenexperiment entscheiden sich die Versuchspersonen primär für bestimmte Sanktionen, nicht für die dahinter stehenden Regeln. Das ist, wie ich zeigen werde, keine ungewöhnliche Position, wohl aber eine, die ich begründen muss. Wahl von Regeln Auf den ersten Blick scheint es das Ziel des Kontraktualismus zu sein, Regeln oder Prinzipien zu finden und zu begründen. Nach diesem Verständnis ist eine Regel dann gerechtfertigt, wenn die Mitglieder der betreffenden Gemeinschaft einen Zustand, in dem alle diese Regel befolgen, jedem Zustand, in dem sie die Regel nicht befolgen, vorziehen. Einer wichtigen Debatte innerhalb der vertragstheoretischen politischen Philosophie scheint dieses Verständnis zu Grunde zu liegen: In der Auseinandersetzung um die richtigen Prinzipien der Verteilungsgerechtigkeit, wie sie etwa Rawls, Nozick oder Gauthier10 führen, geht es primär darum, nach welcher Regel Güter an die Mitglieder einer Gesellschaft verteilt werden sollten. Verschiedene Charakterisierungen des vormoralischen Zustandes führen dazu, dass die Vertragspartner jeweils anderen Regeln den Vorzug geben. Bestimmte Sanktionen sind in diesem Bild dann gerechtfertigt, wenn sie dazu dienen, rechtfertigbare Normen durchzusetzen, ohne dabei diese Normen selbst zu verletzen. Zudem hält man intuitiv die Frage danach, welche moralischen Regeln begründbar sind, für grundlegender als die Frage, zu welchem Verhalten man andere gerechtfertigterweise zwingen darf. In diesem Sinn scheint es dem natürlichen Argumentationsgang zu entsprechen, zunächst die Regel selbst zu wählen und sich danach Gedanken darüber zu machen, wie sie sanktioniert werden könne. Man kann in diesem Rahmen zudem in unkomplizierter Weise davon sprechen, dass eine Regel zwar gerechtfertigt, nicht aber durch Sanktionen implementiert ist. Da das eine wichtige Klasse von Regeln ist - sie ermöglichen, über wünschenswerte Verände-
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rungen nachzudenken - ist es sicher ein Vorteil, wenn man sie ganz direkt erfassen kann. Allerdings ist es schwer zu erklären, was es heißen soll, dass sich die Personen in dem vormoralischen Zustand für eine Regel entscheiden. Sicher werden sie sich als rationale Nutzenmaximierer entscheiden, bestimmten Regeln zu folgen, die Koordinationsprobleme lösen (vgl. Abschnitt 3.1.3). Das ist deswegen unproblematisch, weil keine Gefahr besteht, dass ihre Regeltreue von anderen ausgenutzt wird. Die meisten der paradigmatischen moralischen Regeln betreffen aber Interaktionsstrukturen, bei denen einseitige Kooperation ausgenutzt werden kann. Die Entscheidung zu treffen, sich an Regeln zu halten, obwohl man weiß, dass man ausgenutzt wird, ist immer irrational. Die Versuchspersonen können also nur eine theoretische Überlegung darüber anstellen, dass es besser wäre, wenn sich alle an eine bestimmte Regel hielten. Das hat erstens den Nachteil, dass aus der selben Überlegung natürlich folgt, dass es noch besser wäre, wenn alle außer dem betreffenden Akteur die Regel befolgten. Da beide Regelsysteme ohne Sanktionen, die hier ausgeschlossen sind, überhaupt keine Chance auf Befolgung haben, kann der Grad ihrer Realisierbarkeit bzw. ihre Chance auf einstimmige Akzeptanz kein Kriterium sein, eines dieser Systeme zu wählen. Bei der Wahl von Sanktionen ist das, wie ich unten zeigen werde, anders. Die Festlegung auf die Wahl von Regeln schränkt zudem die Leistungsfähigkeit der Vertragstheorie in entscheidender Weise ein. Denn naturgemäß können dann eben nur Regeln gerechtfertigt werden. In vielen Fällen stellt sich aber die Frage, wie denn die Regeln durchgesetzt werden sollten. Auch diese Frage kann man vertragstheoretisch beantworten - allerdings nur mit einer Vertragstheorie, die vorsieht, dass sich die Personen im vormoralischen Zustand für bestimmte Arten von Sanktionen entscheiden können.
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Wahl von Sanktionen Unter Sanktionen verstehe ich diejenigen systematischen Verhaltensanreize, die die Mitglieder der betreffenden Gemeinschaft selbst kontrollieren können und die dazu motivieren(vgl. z.B. Stemmer 2000: 118, oben Abschnitt 2.1.2). Das ist ein sehr weiter Begriff: Er umfasst unter anderem Mechanismen des sozialen Drucks, moralische Emotionen und staatliche Zwangsgewalt, wobei die ersten beiden Typen von Sanktionen für moralische Normen zentral sind. In der politischen Philosophie ist die Frage nach der Rechtfertigung von staatlicher Zwangsgewalt zentral. In ihren Antworten auf diese Frage lassen Vertragstheoretiker die Personen im vormoralischen Zustand über eben diese Gewalt entscheiden. So beinhaltet die Vertragsformel bei Hobbes allein die Aufgabe des individuellen Rechts auf Selbstverteidigung und die Unterwerfung unter den Leviathan: I Authorise and give up my Right of Governing my selfe, to this Man, or to this Assembly of men, on this condition, that thou give up thy Right to him, and Authorise all his Actions in like manner. (Hobbes 1651: 120, im Original kursiv) Natürlich ist die Absicht, die dahinter steht, eine Instanz zu schaffen, die für die Einhaltung der natürlichen Gesetze sorgt (vgl. Hobbes 1651: 117). Aber im Vertrag geht es allein um die allmächtige Sanktionsinstanz. Nach Hobbes' Auffassung ist es nicht möglich, den Leviathan durch Regeln zu beschränken oder ihm bestimmte kontrollierbare Aufgaben - etwa die korrekte Sanktionierung der natürlichen Gesetze - vorzuschreiben. Da er kein Vertragspartner ist, können ihm keinerlei Beschränkungen auferlegt werden. Aus Hobbes' Perspektive spricht für einen solchen unbeschränkten Souverän vor allem, dass allein eine solche Institution Stabilität garantieren kann (ebd. 121 ff.). Auch wenn man wie die meisten modernen Vertragstheoretiker letztere Meinung nicht teilt, kann man an der argumentativen Grundstruktur festhalten: Die Ver-
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suchspersonen stimmen dann immer noch primär über eine, wenn auch beschränkte und kontrollierbare, Sanktionsinstanz ab. Viele Vertreter des modernen moralischen Kontraktualismus kann man klar hier einordnen. Stemmer sieht es als zentrale Frage seiner Theorie an, den Druck, den eine moralische Gemeinschaft auf den einzelnen ausübt, zu rechtfertigen: Die Verwendung der Vertragstheorie in der Moralphilosophie ist deswegen so naheliegend, weil auch die Moral in Form von Forderungen an uns herantritt, auch sie nötigt uns zu bestimmten Handlungen, auch sie schränkt damit unsere Freiheit ein. Hier ist es [...] die moralische Gemeinschaft, in der wir leben, die [...] uns im Falle des Anders-Handelns sanktioniert [...]. Natürlich stellt sich auch hier die Frage, was „den anderen" das Recht gibt, die Freiheit und die Handlungsmöglichkeiten des Einzelnen in dieser Weise einzuschränken. (Stemmer 2002: 2)
Diese Einschätzung teilt Morris (1996), wenn er schreibt, die meisten Vertragstheoretiker sähen ihre Aufgabe darin, „to evaluate or to justify moral or social practices" (216, ohne Hervorhebungen des Originals). Auch er sieht also nicht die Rechtfertigung von Regeln als primär, sondern die Rechtfertigung einer sozialen Praxis, die ganz zentral Sanktionsmechanismen enthält. Um einem Missverständnis vorzubeugen: Auch wenn man primär Sanktionen begründet, muss das nicht heißen, dass man moralische Regeln als Anweisung für korrektes Sanktionieren versteht. Ganz abwegig wäre diese Idee freilich nicht, wenn man eine Analogie aus dem Recht herbeizieht: Der Text des Strafgesetzbuchs enthält keine Handlungsanweisungen für die Rechtssubjekte, etwa den Satz 'Du sollst nicht stehlen', sondern gibt nur an, welche Tatbestände mit welchen Strafen belegt sind. Man kann es also als ein Handbuch für die sanktionierende Instanz, in diesem Fall Judikative und Exekutive des Staates, verstehen (vgl. Seebaß 2003: 165f.). Ganz ähnlich äußert sich Hobbes an einer Stelle: Penal [laws] are those, which declare, what Penalty shall be inflicted on those that violate the Law; and speak to Ministers and Officers
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ordained for execution. For though every one ought to be informed of the Punishments ordained beforehand for their transgression; neverthelesse the Command is not addressed to the Delinquent, (who cannot be supposed to faithfully punish himselfe,) but to publique Ministers appointed to see the Penalty executed. (Hobbes 1651: 197)
Hobbes bestreitet hier allerdings nicht, dass Regeln („Law") sich an die Personen selbst richten, nur könne man eben nicht von den Akteuren erwarten, dass sie sich selbst sanktionierten. Ich denke, es ist nützlich, den Begriff der moralischen Regel vom Begriff der Regel für eine moralische Sanktion zu trennen. Auch wenn primär die Struktur einer Sanktionspraxis beschlossen wird, so enthält diese doch Sanktionen für Handlungsregeln. In das Gedankenexperiment fügt sich die Entscheidung für Sanktionen deutlich besser ein als die für Regeln. Denn für die Versuchspersonen ist es rational, die Sanktionsmaschine einzuschalten. Natürlich würde jeder lieber eine Sanktionsmaschine einschalten, die nur die anderen davon abhält, gegen bestimmte Kooperationsregeln zu verstoßen. Aber eine solche Maschine würden niemals alle Mitglieder der Gesellschaft einschalten. Auch wenn man die Begründung von Regeln nicht als primär ansieht, kann man diese im abgeleiteten Sinne begründen. Eine Regel ist genau dann gerechtfertigt, wenn eine Sanktion für diese Regel gerechtfertigt ist. So ist es auch möglich, von gerechtfertigten, aber nicht implementierten Regeln zu sprechen: Es handelt sich dabei um Regeln, zu deren Durchsetzung man eine Sanktionsmaschine einschalten würde, die aber de facto nicht sanktioniert sind. In diesem Sinn habe ich bereits in Abschnitt 3.1 argumentiert. Zudem kann die Vertragstheorie dann klären, ob bestimmte Sanktionen gerechtfertigt werden können, etwa Dispositionen zu bestimmten moralischen Gefühlen (und damit eine bestimmte Art von moralischer Erziehung) oder die Art, wie eine moralische Gemeinschaft bestimmte Personen aus der Kooperation ausschließt. Es liegt für Vertragstheoretiker nahe, ein explizit sanktionistisches Verständnis moralischer Regeln zu vertreten,11 das Tugendhat folgendermaßen charakterisiert:
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Interessenbasierter moralischer Kontraktualismus Daß eine Regel in einer Gesellschaft gilt, heißt, daß die Personen, die zu dieser Gesellschaft gehören, ihr gemäß handeln müssen in dem Sinn, daß sie, wenn sie nicht so handeln, sanktioniert werden. Das „sollen/müssen" dieser Art von Regeln ist also in seiner Bedeutung definiert durch eine soziale Sanktion. (1986: 28)
Und weiter: „Was für begründet bzw. legitim gehalten wird, ist gerade die Sanktion; wenn es die Sanktion nicht gäbe, gäbe es nichts, was zu begründen wäre." (Tugendhat 1986: 29) Genau das sei damit gemeint, wenn man sage, eine Regel oder Norm sei durch Sanktionen konstituiert. Stemmer (2000: 102f.) etwa macht sich diesen Begriff von Normen zu eigen. Ich werde später dafür argumentieren, dass dieses Verständnis im Rahmen des interessenbasierten Rechtfertigungsarguments gute Dienste leistet, dass es aber bei der Analyse der Deliberation moralischer Akteure irreführend ist (vgl. Kapitel 5).
3.2.3 Hypothetische Zustimmung Die Theorie, die ich bisher eingeführt habe, wird der Bezeichnung „Vertragstheorie" nicht mehr offensichtlich gerecht, denn es spielt keine Rolle, dass die Mitglieder einer moralischen Gemeinschaft tatsächlich einen bindenden Vertrag schließen. Trotzdem gibt es meines Erachtens gute Gründe, an der Bezeichnung festzuhalten: Denn einerseits möchte IMK durchaus in der Tradition der hypothetischen Vertragstheorien stehen, andererseits weist diese Bezeichnung auf einige wichtige Merkmale des Begründungsarguments hin. Hypothetische Vertragstheorie In der Diskussion um Vertragstheorien zur Begründung rechtlicher Normen oder politischer Autorität taucht immer wieder die Frage auf, ob die Betroffenen einer Norm wirklich zustimmen müssen, oder ob man nur zeigen muss, dass sie in bestimmten idealisierten Bedingungen zustimmen würden. Im ersten Fall spricht man
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von Theorien aktualer Zustimmung, im zweiten Fall von hypothetischen Vertragstheorien.12 Im Fall der Moralbegründung spricht vieles dafür, sich für die zweite Alternative zu entscheiden und damit den Weg zu gehen, den IMK mit der These (MK) (vgl. S. 44) und der Charakterisierung des Arguments als Gedankenexperiment eingeschlagen hat. Es wäre unplausibel zu fordern, dass eine moralische Norm nur für diejenigen gerechtfertigt sei, die sich mit ihr explizit, etwa durch aufrichtige Äußerung von Zustimmung, einverstanden erklärt haben. Die meisten Menschen haben das für die meisten Normen, die sie im Alltag befolgen, nicht getan. Wären diese Regeln nur nach expliziter Zustimmung gerechtfertigt, dann würden wir im Alltag unbegründeten Phantomregeln folgen. Wir lassen es gemeinhin auch nicht gelten, wenn jemand als Entschuldigung für unmoralisches Verhalten vorbringt, er habe dieser Moral nie zugestimmt und deswegen könne sie keine gerechtfertigten Forderungen an ihn stellen (vgl. Stark 2000: 318). Nun könnte ein Verfechter der aktualen Zustimmung seine Position etwas abschwächen und fordern, dass eine moralische Norm nur gerechtfertigt sei, wenn die betroffenen Personen ihr implizit zugestimmt haben. Als implizite Zustimmung gilt es bereits, wenn man sich nicht offen gegen die Regel zu stellt oder sie ohne Klage befolgt. Diese Position muss der Vertragstheoretiker ablehnen, weil sie sein Argument in folgender Weise sehr schwach machen würde. Der aktuell etablierten Moral stimmen die meisten Mitglieder einer Gesellschaft implizit zu: Dass diese Moral aktuell etabliert ist, bedeutet nichts anderes, als dass die meisten Mitglieder der Gesellschaft sie akzeptieren. Wenn nun aktuale implizite Zustimmung ausreicht, um eine Norm zu rechtfertigen, dann sind fast alle tatsächlichen gesellschaftlichen Normen gerechtfertigt. Die Vertragstheorie könnte in fast keinem Fall moralische Normen kritisieren. Sie reduziert sich dann weitgehend auf eine deskriptive Theorie, die untersucht, welchen Regeln die Menschen in bestimmten Gesellschaften tatsächlich folgen. Bei rechtlichen Normen ist das übrigens etwas komplizierter. Dass eine rechtli-
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ehe Regel etabliert ist, ist nicht gleichbedeutend damit, dass die meisten Menschen sie akzeptieren. Es macht also Sinn zu fragen, ob die Mitglieder einer Gesellschaft den aktuell etablierten rechtlichen Regeln tatsächlich zustimmen; in Diktaturen ist das vielleicht oft nicht der Fall, da viele Menschen den Regeln nur widerwillig folgen und sie verletzen, so oft es geht. Sowohl explizite als auch implizite aktuale Zustimmung können irrational sein. Das schränkt ihre rechtfertigende Kraft sehr stark ein. Die Forderung nach aktualer Zustimmung ist vor allem sinnvoll, wenn es, zum Beispiel in einer Demokratie, einen bereits etablierten Wert der Autonomie oder Selbstbestimmung gibt. Bevor überhaupt Moral etabliert ist, kann man davon aber nicht sprechen. Der Name „Kontraktualismus " In der Beschreibung des gesamten Gedankenexperimentes kommt der Vertragsschluss zwischen den Mitgliedern der moralischen Gemeinschaft nicht vor. In den klassischen Theorien seit Hobbes spielt das Bild der Menschen, die einen Vertrag über die Grundregeln und Institutionen ihrer zukünftigen Gesellschaft abschließen, hingegen eine so große Rolle, dass es der gesamten Theorietradition den Namen gegeben hat. Ich halte das Bild des Vertrags für möglich, aber verwirrend. Es provoziert die Frage, wie ein bindender Vertrag ohne bereits bestehende Moral und damit ohne Regeln der Vertragstreue und entsprechende Sanktionen geschlossen werden kann. Das spricht zum Beispiel Hume an, wenn er - im analogen Kontext der politischen Philosophie - argumentiert, dass Vertragstreue und die von dieser vermeintlich ableitbare Gehorsamspflicht gegenüber der Regierung tatsächlich den gleichen Ursprung haben: „The obligation to allegiance being of like force and authority with the obligation to fidelity, we gain nothing by resolving the one into the other. The general interests or necessities of society are sufficient to establish both." (Hume 1748: 197)13 IMK teilt Humes Auffassung, dass nicht ein Versprechen im Rahmen einer bestehenden normativen
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Ordnung die Forderungen und Sanktionen der moralischen oder politischen Praxis rechtfertigt, sondern allein die Vorteilhaftigkeit dieser Praxis. So folgert auch Stemmer: „Man kann die Idee des Vertrages also ganz fallen lassen." (Stemmer 2002: 9) Indem man den Begriff des Vertrags verwendet, weist man allerdings auf wichtige Eigenschaften hin, die auch mein interessenbasiertes Argument besitzt. Man betont, dass die moralische Praxis selbstgewählt sein könnte; wenn das Argument erfolgreich ist, dann empfinden die Mitglieder der moralischen Gemeinschaft die moralischen Forderungen und Sanktionen nicht als aufgezwungen, despotisch oder „erpresserisch", wie Stemmer (2002: 7) sagt. Der Begriff des Vertrags macht auch klar, dass die moralische Praxis aus Sicht jedes Beteiligten vorteilhaft ist. Denn nur, wenn man sich Vorteile erwartet, unterzeichnet man einen Vertrag. In einem interessenbasierten Argument kann die Rolle des Vertragsschlusses nur darin bestehen, dass die Personen bestimmten Sanktionen zustimmen, die durch diese Zustimmung wirksam werden. Das kann man sich so vorstellen, dass die Personen durch die Zustimmung (unter der Bedingung, dass alle anderen auch zustimmen) bestimmte Rechte - etwa das Recht auf Selbstverteidigung - an eine Sanktionsinstanz übertragen. Diese Charakterisierung muss metaphorisch bleiben, aber eine wohlverstandene interessenbasierte Vertragstheorie im eigentlichen Sinne ist letztlich äquivalent mit der Theorie über das Einschalten einer Sanktionsmaschine. Deswegen halte ich es für vertretbar, an der üblichen Bezeichnung festzuhalten.
3.3 Moralischer Status und Verteilung Gegen eine Theorie, wie ich sie bisher entwickelt habe, gibt es wichtige Einwände von Seiten der normativen Ethik. IMK führe zu kontraintuitiven Ergebnissen, weiche also in seinen Empfehlungen von den gewöhnlich akzeptierten Regeln der Alltagsmoral ab. Besonders Kritiker, die mit IMK methodologische Prämissen teilen,
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etwa Vertragstheoretiker anderer Ausrichtung, werden solche Argumente vorbringen. Für meine Zwecke reicht es, diese Einwände und mögliche Antworten kurz zu skizzieren.
3.3.1 Moralischer Status Ein klassischer, vielleicht der zentrale Einwand gegen eine interessenbasierte Vertragstheorie besteht darin, dass sie das Problem des moralischen Status nicht adäquat löse. Sie rechtfertige nicht notwendigerweise gleiche moralische Normen für starke und schwache Mitglieder der Gemeinschaft (vgl. Tugendhat 1999: 179ff.). Denn manche Personen seien willkürlich oder aus moralisch irrelevanten Gründen von dem Vertrag - und damit vom Schutz moralischer Regeln - ausgenommen. Es lohne sich nämlich nur, den Vertrag zu schließen, wenn man sich von der dadurch ermöglichten Kooperation Vorteile verspreche, die die Nachteile, die Sanktionen und entsprechend eingeschränkte Handlungsmöglichkeiten nach sich zögen, überwögen. Einige Personen haben aber nicht die Möglichkeit, zur gesellschaftlichen Kooperation beizutragen. Typischerweise denkt man dabei an kranke, behinderte oder sehr alte und junge Menschen - im Grenz- bzw. Extremfall, der in der Bioethik wichtig ist, an Embryonen. Niemand hätte, so Gegner der Vertragstheorie, einen Grund, mit ihnen einen Vertrag zu schließen. Das widerspreche aber sehr deutlich unserer vortheoretischen Meinung, dass alle Menschen in gleicher Weise moralische Rechte hätten.14 In meiner Version des Vertragsarguments kann eine Sanktionsmaschine nur von allen und für alle eingeschaltet werden; der Vertragsschluss ist also ohnehin nur mit allen Mitgliedern der Gemeinschaft möglich. Die Möglichkeit, dass einzelne ausgegrenzt werden, ist damit ausgeschlossen. Allerdings trifft der Einwand in leicht abgewandelter Form trotzdem: Man kann meiner Theorie vorwerfen, die Annahme, die Maschine sanktioniere entweder alle oder keinen, sei nicht gut begründet. Denn angenommen, in einer Gesellschaft seien einige von der Kooperation ausgeschlos-
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sen; dann können die anderen ihre Praxis rechtfertigen, indem sie sagen, sie hätten in einer vormoralischen Situation eine Sanktionsmaschine eingeschaltet, die zwar Regelbrüche, die zu ihren Lasten gehen, bestraft, nicht aber solche, die zu Lasten der diskriminierten Minderheit gehen. Was zeichnet mein ursprüngliches Argument gegenüber diesem Argument aus? Freilich, das Argument der Unterdrücker kann den Unterdrückten gegenüber die diskriminierende Praxis nicht rechtfertigen - diese hätten eine entsprechende Sanktionsmaschine nicht eingeschaltet. Für die Bevorzugten kann es trotzdem die vorteilhafteste Sanktionsmaschine sein; warum sollten sie, nur um die Praxis für die anderen begründet erscheinen zu lassen, Nachteile in Kauf nehmen, indem sie eine nicht-diskriminierende Sanktionsmaschine einschalten? Natürlich zeigt das Argument, dass die diskriminierte Gruppe einen Grund hätte, sich für eine andere Praxis einzusetzen. Solange sie aber keine Macht hat, eine Aufnahme in den Vertrag zu erzwingen, haben die Privilegierten keinen Grund, sie aufzunehmen. Es ist also begründungsbedürftig, warum man in dem Gedankenexperiment nicht annimmt, dass es eine Sanktionsmaschine gibt, die eine oder wenige Personen ohne Hilfe der anderen einschalten können und die nur eine diskriminierte Minderheit von Regelverstößen abhält. Zwei Antwortstrategien sind möglich; die erste wendet sich gegen die Prämisse, dass es Personen gibt, die man langfristig ohne Nachteil ausschließen kann, die zweite weist auf den Wert einer Rechtfertigung gegenüber allen Mitgliedern einer Gemeinschaft hin. (a) Bereits Hobbes hat das Problem wohl gesehen und skizziert eine Lösung, die die Prämisse ablehnt, Unterschiede in der natürlichen Ausstattung benachteiligten einige Personen deutlich. Zumindest den anderen schaden könne eigentlich jeder: Sogar der Schwächste könne einen Starken, der ganz auf sich gestellt sei, im Schlaf töten (Hobbes 1651: 86f.). Jeder habe also ein Drohpotential, mit dessen Hilfe er die Aufnahme in den Vertrag erzwingen könne. Gerade in modernen Gesellschaften, in denen eine starke gegenseitige Abhängigkeit besteht, ist das ein treffendes Bild.15
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Ökonomisch detaillierter kann man in diesem Sinn argumentieren, eine solche diskriminierende Maschine könne es auf unserer Welt, zumindest zu Kosten, die ihren Betrieb dauerhaft noch lohnend erscheinen lassen, gar nicht geben. Denn das resultierende einseitige Zwangssystem sei nicht einmal für die Ausbeuter effizient. Zum Beispiel könne der einseitige Zwang zwar Regelverletzungen vermeiden, aber nicht Motivation und Kreativität der Unterdrückten mobilisieren; ein erfolgreicher Unternehmer in einer sozialen Marktwirtschaft fahre, so könnte man plakativ sagen, im Schnitt besser als jeder Sklavenhalter.16 Man kann das in das Gedankenexperiment einbauen, indem man erstens annimmt, dass andere Sanktionsmaschinen (langfristig) Kosten verursachen, und dass sie umso teurer werden, je mehr Menschen unterdrückt sind. Zudem kann man argumentieren, dass letztlich jeder auf die engagierte Mitarbeit der anderen Mitgliedern der Gemeinschaft angewiesen ist.17 Allein ein System der gleichen Freiheiten bzw. Rechte kann diese garantieren. Deswegen, so kann man dann argumentieren, ist es für niemanden attraktiv, eine Sanktionsmaschine einzuschalten, die ein System der Ausbeutung implementiert. Es ist demnach keine Einschränkung, dass die Sanktionsmaschine im ursprünglichen Argument nur bei Einstimmigkeit anspringt. Andere Maschinen würden sowieso nicht gewählt werden. Dieses Argument beruht natürlich auf kontingenten Prämissen (vgl. auch von Grundherr 2003: 74), schließt also eine einseitige Sanktionsmaschine nicht mit Notwendigkeit aus. Aber das ist bei einem interessenbasierten Argument ohnehin nicht zu vermeiden; Interessen sind kontingente Prämissen: Gerade, wenn einige Präferenzen abhängig sind, ist nicht garantiert, dass es Kooperationsmöglichkeiten gibt, die allen vorteilhaft erscheinen, und es kann sein, dass einige sogar bereit sind, Opfer in Kauf zu nehmen, um eine bestimmte Gruppe zu diskriminieren (vgl. Abschnitt 3.1.2). (b) Das Argument (a) berücksichtigt nicht, dass Rechtfertigung gegenüber allen Mitgliedern der Gemeinschaft an sich ein wichtiger (auch nicht-moralischer) Wert sein kann. Rechtfertigung gegenüber jedem Mitglied der moralischen Gemeinschaft kann
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IMK aber nur leisten, wenn die Sanktionsmaschine im Gedankenexperiment erst anspringt, nachdem jeder seinen Schalter umgelegt hat. Ansonsten können manche Adressaten der Rechtfertigung immer sagen, sie hätten die Maschine nicht eingeschaltet und sähen deswegen immer noch keinen Grund, die betreffenden moralischen Regeln zu akzeptieren. Möchte man nicht, wie Buchanan (1975: 2) das tut, das einstimmige Wahlverfahren damit begründen, dass die Achtung vor dem Willen jedes Individuums eine axiomatische moralische Prämisse sei, dann kann man zum Beispiel von einer diskursethischen Position aus argumentieren. Diese Art von Rechtfertigung sei uns ein wesentliches, aber nicht moralisches, Bedürfnis.18 Damit werde ich mich im Rahmen der Theorie der Rechtfertigung ausführlicher beschäftigen (Abschnitt 4.2.4). Je nachdem, mit wem er diskutiert, wird der Kontraktualist eine der beiden Antworten (a) oder (b) vertreten. Aber sie schließen sich nicht aus, sondern spielen zusammen. Denn eine Praxis, die aus Sicht aller Beteiligten gerechtfertigt ist, lädt einzelne viel weniger dazu ein, die Abhängigkeit der anderen von ihrer Kooperation auszunutzen, um ein für sie vorteilhafteres System zu erzwingen. Jedem kann leicht bewusst gemacht werden, dass jeder etwas verliert, wenn das System zusammenbricht. Die Möglichkeit, ein System gegenüber allen zu rechtfertigen, macht es also stabiler (vgl. zu diesem Zusammenhang auch 4.2.4). Für meine eigentliche Frage ist es nicht zentral, wie die Einstimmigkeitsforderung begründet wird. Wichtig ist für die weitere Diskussion nur, dass beide Argumente ohne moralische Prämissen auskommen.
3.3.2 Verteilungsfragen Ein verwandtes Problem kann bestehen bleiben, auch wenn die Frage des moralischen Status geklärt ist. Auch bei kooperativen Lösungen, die allen die gleichen Rechte einräumen, werden die Gewinne der Kooperation in den meisten Fällen nicht gleich verteilt
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werden. Früher oder später wird sich ein Ungleichgewicht im Besitz der Mitglieder der moralischen Gemeinschaft einstellen. Damit entsteht die Frage, ob die Verteilung von Gütern in der Gesellschaft gerecht ist. Die moralische Praxis ermöglicht Kooperation muss sie dann nicht auch die Verteilung der Kooperationsgewinne regeln? Man kann sich vorstellen, dass man an der Sanktionsmaschine verschiedene Parameter einstellen kann, bevor sie von allen eingeschaltet werden muss. Mit allen Einstellungen ermöglicht die Maschine eine für alle vorteilhafte Kooperation, aber bei fast jeder Einstellung werden einige Personen bevorzugt, andere benachteiligt. Je nach Einstellung wird die Maschine mehr oder weniger in die Verteilung der Güter eingreifen. In einem Extremfall garantiert sie vielleicht bloß die Vertragsfreiheit. Unter welchen Bedingungen Personen zusammenarbeiten, müssen sie dann im Einzelfall und bedingt durch die jeweilige Verhandlungsmacht klären. Im anderen Extremfall regelt sie sehr genau, unter welchen Bedingungen Verträge zustande kommen können.19 Die Mitglieder der moralischen Gemeinschaft müssen im Gedankenexperiment dann eine Verhandlung darüber führen, mit welchen Parametern sie die Sanktionsmaschine einschalten. Darüber, welches Ergebnis bei einer solchen Verhandlung herauskommt, gibt es mehrere detaillierte Theorien (z.B. Gauthier (1986), Binmore (1994)). Für den Zweck meines Argumentes ist es nicht von Bedeutung, welche Verteilung rationale Personen wählen würden. Meine zentrale Frage lautet ja: Was ist damit gezeigt, wenn Normen des Inhalts X bei dem vertragstheoretischen Argument herauskommen?
3.4 Vier metaethische Einwände Die zuletzt vorgestellte Kritik an der Vertragstheorie ist ein Teil der normativen Ethik. Sie setzt voraus, dass die Ergebnisse des moralischen Kontraktualismus einen Beitrag zu dieser Diskussion
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leisten. Der Skeptiker, den ich zu Beginn vorgestellt habe, bezweifelt genau diese Annahme und fragt, ob die Ergebnisse des moralischen Kontraktualismus kategorial vom richtigen Typ sind, um einen Beitrag zur Diskussion um Moral leisten zu können. Mit Hampton fragt er den Vertragstheoretiker, „whether or not what we get [...] is really morality" (1988: 331). Die Behauptung, dass die Ergebnisse der interessenbasierten Vertragstheorie nicht vom richtigen Typ seien, um einen Beitrag zur Moral zu leisten, kann man noch genauer formulieren. Sie besteht aus zwei zentralen Teilen: (i) IMK habe einen verfehlten Begriff der moralischen Praxis und spreche deswegen nur scheinbar über die tatsächliche moralische Alltagspraxis. Die Praxis, die IMK beschreibe, unterscheide sich von einer tatsächlich moralischen Praxis wesentlich. IMK habe für eine angemessene ethische Theorie einen falschen begrifflichen Rahmen. Es geht hier nicht darum, welche Regeln und Sanktionen IMK rechtfertigen kann. Vielmehr lautet der Vorwurf, tatsächliche moralische Regeln und von IMK rechtfertigbare Regeln unterschieden sich in ihrer motivierenden Kraft und in der Art der Forderung, die aus ihnen entstünde. In der tatsächlichen moralischen Praxis gebe es Regeln, die von sich aus motivierten und immer verbindlich seien; laut IMK hätten moralische Regeln aber nur durch die entsprechenden Sanktionen, also in einem abgeleiteten Sinn, motivierende Kraft und seien nicht in jedem Fall verbindlich. (ii) IMK müsse also aus einem anderen begrifflichen und theoretischen Rahmen eine Brücke in den Bereich der Moral schlagen. Das gelänge aber nur mit einem reduktionistischen Ansatz, der zeigt, dass moralische Normen nichts anderes sind als kontraktualistisch begründbare Normen. Dieser Reduktionismus, den IMK vertrete und vertreten müsse, sei aber unplausibel. Auch aus der Sicht des alltäglichen moralischen Überlegens komme man zu dem selben Ergebnis: Die kon-
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traktualistische Überlegung schließe nicht an die moralische Überlegung an und könne deswegen nicht überzeugen. Ich stelle zu jedem der Punkte (i) und (ii) je zwei Thesen vor. Dabei werde ich mich an der Kritik orientieren, die sich auf die Positionen von Gauthier (1986) und Stemmer (2000) bezieht.20 Das ist insofern repräsentativ, als es sich dabei um die in der gegenwärtigen angelsächsischen beziehungsweise deutschen Diskussion paradigmatischen Ansätze handelt. Zu bemerken ist dabei, dass sich die Einwände speziell gegen den interessenbasierten moralischen Kontraktualismus richten. Gegen andere Formen des Kontraktualismus, etwa gegen eine Rawlssche Theorie, kann man sie nicht schlüssig vorbringen.
3.4.1 Verbindlichkeit Der erste Einwand argumentiert, gerechtfertigte moralische Normen seien verbindlich. Verbindlich seien Normen genau dann, wenn sie in jeder Situation, auf die sie zuträfen, eine bestimmte Handlungsweise erforderten und motivierten.21 Mit dem kontraktualistischen Argument könne man Normen mit diesen Eigenschaften aber nicht ableiten. Deswegen könnten moralische Normen kein Ergebnis einer interessenbasierten Vertragstheorie sein. Moralische Motivation Im idealisierten Fall des Gedankenexperiments funktioniert die Sanktionsmaschine perfekt. Ist die Sanktionsmaschine einmal eingeschaltet, dann sorgen moralische Gefühle und sozialer Druck dafür, dass es immer vorteilhaft ist, den entsprechenden moralischen Regeln zu folgen. Die Einsicht in die gesellschaftliche Vorteilhaftigkeit einer Regel für Kooperationsprobleme allein motiviert hingegen nicht dazu, dieser Regel zu folgen. Sie liefert nur einen Grund, die Sanktionsmaschine einzuschalten. Wenn jemand im kontraktualistischen Gedankenexperiment zum Beispiel herausfindet, dass eine Regel, die therapeutisches Klonen verbietet,
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vorteilhaft für seine Gesellschaft wäre, so motiviert ihn das noch nicht, sich selbst an diese Regel zu halten. Diese Erklärung moralischer Motivation widerspricht der vortheoretischen internalistischen Position (vgl. Abschnitt 2.1.2), der zufolge die moralischen Urteile selbst untrennbar mit der entsprechenden Handlungsmotivation verbunden sind. Nach der kontraktualistischen Erklärung hingegen, so der Einwand, sei man erst motiviert, seine Handlungen nach einem Urteil auszurichten, wenn dieses Urteil ein entsprechendes Gefühl auslöse oder die anderen Mitglieder der moralischen Gemeinschaft entsprechenden Druck ausübten. In Kants Terminologie könne man sagen, dass wir dann nie aus Pflicht, sondern immer bloß pflichtgemäß handelten.22 Gegen eine Theorie, die moralische Motivation als sanktionskonstituiert ansieht, kann man zudem einwenden, sie konstruiere die Überlegungen moralischer Akteure falsch (Seebaß 2003: 173ff.). Da die Einsicht in moralische Normen selbst keinen Beitrag zur moralischen Motivation leiste, flössen allein die negativen Folgen, die Sanktionen bedeuteten, in die Handlungsplanung ein. So isoliert könne ein rationaler Akteur die Sanktionen nur als bloße Kaufpreise verstehen. Die unmoralischen Handlungen seien aus seiner Sicht dann eben einfach teurer als die moralischen Handlungen, aber nicht per se zu vermeiden. Das aber werde unserer Selbstwahrnehmung nicht gerecht.23 Um eine Analogie aus der politischen Philosophie zu bemühen: Gelänge dort die Trennung von Sanktionen und Preisen nicht, dann müsste man Strafen als eine Art von Steuern betrachten. Das Problem folgenlosen Regelbruchs Die in Wirklichkeit möglichen Sanktionsmechanismen sind bei weitem nicht perfekt. Zwar sind gerade moralische Emotionen und sozialer Druck sehr umfassend. Aber natürlich haben auch sie, nicht nur in pathologischen Fällen, Lücken. Der nächste Einwand gegen IMK lautet nun, man könne jemandem, der eine solche Lücke ausnutze, um ungestraft moralische Regeln zu brechen, auf der Basis von IMK keinen Vorwurf machen.24
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Dafür kann ein Vertreter des Einwands folgendermaßen argumentieren: Berechtigterweise vorwerfen könne man einer Person nur dann etwas, wenn sie einen Grund gehabt hätte, anders zu handeln. IMK zufolge habe man nur einen Grund, moralischen Regeln zu folgen, wenn man andernfalls wirksame Sanktionen zu befürchten habe. In Fällen, in denen die Sanktionsmechanismen Lücken aufwiesen, habe man daher keinen Grund, der entsprechenden moralischen Regel zu folgen, auch wenn sie sich vertragstheoretisch ableiten lasse.25 Breche jemand in diesem Fall die Regel, dann könne man ihm dieses Verhalten nicht vorwerfen. Man kann diese Problematik am Beispiel eines Diebes veranschaulichen, dem es gelingt, unbemerkt etwas zu stehlen, ohne dabei ein schlechtes Gewissen zu haben. Intuitiv halten wir einen Vorwurf an diese Person ohne Zögern für angebracht. Schließlich hat sie ja gegen eine wichtige moralische Regel verstoßen. Aber, so der Einwand, vor dem Hintergrund des Kontraktualismus sei diese selbstverständliche Reaktion nach obigem Argument verfehlt. Nach dem kontraktualistischen Verständnis sei ein Vorwurf beim Verstoß gegen moralische Regeln nur dann gerechtfertigt, wenn es mit den erwarteten negativen Sanktionen nicht-moralischen Gründe gegeben hätte, sich moral-konform zu verhalten. Das sei eine sehr unplausible Konsequenz von IMK.
3.4.2 Reduktionismus und Deliberation Kritiker werfen Vertragstheoretikern immer wieder vor, sie verträten die unhaltbare Position, dass moralische Regeln zu den Regeln der klugen Verfolgung des Eigeninteresses gehörten, also auf diese reduziert werden könnten.26
Reduktionismus Das vertragstheoretische Gedankenexperiment zeigt, dass bestimmte allgemein eingehaltene Normen für jedes Mitglied einer Gesellschaft so vorteilhaft sind, dass es sich für jeden lohnt, ent-
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sprechenden Sanktionen zuzustimmen und damit einen Teil seiner Freiheit aufzugeben. Diese sanktionierten Normen erfüllen also eine Funktion: Sie ermöglichen Kooperation und geben den Menschen dadurch die Chance, ihre Ziele in größerem Umfang zu erreichen, als ihnen das alleine möglich wäre. Daher sind die Regeln aus Sicht der Rationalität empfehlenswert. Ich werde deswegen von rationalen Kooperationsregeln sprechen. IMK sei nun, so der Kritiker, darauf angewiesen zu zeigen, dass moralische Regeln notwendigerweise rationale Kooperationsregeln seien oder sich aus diesen ableiten ließen. IMK wäre dann als das autoritative Instrument der Wahl erwiesen, um zu entscheiden, welches die richtigen moralischen Regeln seien. Gebe es hingegen kein überzeugendes Argument für den Zusammenhang moralischer und rationaler Regeln, sei die Antwort auf die Frage nach den richtigen moralischen Regeln unabhängig davon, welche Regeln IMK empfehle. Wie könnte IMK für den fraglichen Zusammenhang argumentieren?27 Wahrscheinlich sind die tatsächlichen Regeln der Alltagsmoral einer Gesellschaft in einem großen Umfang, wenn auch nicht vollkommen, mit den (besten) rationalen Regeln für diese Gesellschaft deckungsgleich. Auf dieser Basis könnte man argumentieren, die beste Erklärung für die weitgehende Übereinstimmung der meisten tatsächlichen Systeme moralischer Regeln mit rationalen Regeln sei, dass die Vertragstheorie die zentralen Bewertungsprinzipien, die der Alltagsmoral implizit zugrunde liegen, explizit anwende. Solange man keine bessere Erklärung für die Übereinstimmung habe, könne man also annehmen, dass die Resultate der Vertragstheorie eine präzisere Variante der alltäglichen Moral seien. Leichte Abweichungen erklärten sich dadurch, dass sich die für Moral relevanten Bedingungen manchmal sehr schnell änderten und die Alltagspraxis (anders als die Vertragstheorie) zu träge sei, um sofort auf diese Veränderungen zu reagieren. Nach Meinung des Kritikers beruht dieses Argument auf einem voreiligen Schluss. Es unterschlage den wichtigen Punkt, wie wir auf die erwähnten, teils deutlichen, Abweichungen reagierten:
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Diese kämen uns nämlich nicht unbedingt wie Fehler der von uns akzeptierten Moral vor. Denn dem gewöhnlichen Verständnis zufolge sei es möglich oder denkbar, dass eine moralische Regel nicht dem Vorteil aller Mitglieder der moralischen Gemeinschaft diene. Wenn man sage, A sei unmoralisch, so sage man das vielleicht meistens in Situationen, in denen man auch berechtigterweise sagen könnte, A widerspreche rationalen Regeln; aber es sei nicht notwendigerweise falsch, A für moralisch zu erklären und gleichzeitig zu behaupten, A widerspreche rationalen Regeln. In vielen alltäglichen Situationen würden Menschen wahrscheinlich diese Kombination von Urteilen vertreten. Um zusammenzufassen: (Moral und Vorteil) Dem gewöhnlichen Verständnis von Moral zufolge ist es möglich, dass eine moralische Praxis nicht dem Vorteil aller Mitglieder der moralischen Gemeinschaft dient. Zudem gibt es eine gute alternative Erklärung dafür, dass moralische Regeln oft die gleichen Vorschriften machen wie rationale Kooperationsregeln. Denn es kann einfach eine substantielle und auch sanktionierte moralische Norm geben, die fordert, so zu handeln, dass es für die anderen Mitglieder der moralischen Gemeinschaft vorteilhaft ist. Das ist eine moralische Vorschrift und nicht wie die Reduktionsthese eine Analyse dessen, was es heißt, eine moralische Vorschrift zu sein. Diese Hypothese erklärt sogar besser, warum es keine vollständige Übereinstimmung zwischen moralischen Regeln und rationalen Kooperationsregeln gibt: Andere substantielle und sanktionierte moralische Normen zielen nicht darauf, den allgemein Nutzen zu erhöhen. Das Argument für die Reduktionsthese ist damit stark geschwächt. Da sie zudem eine starke Revision unseres moralischen Selbst Verständnisses erfordert, spricht nicht mehr viel für sie. IMK könnte, so lautet die Kritik zusammengefasst, nur dann einen Beitrag zur Moral liefern, wenn moralische Regeln auf rationale Regeln reduzierbar wären. Das aber ist sehr unplausibel.
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Instrumentalistische Begründungspraxis Der letzte Einwand beleuchtet das selbe Problem von einer anderen Seite: Die kontraktualistische Begründungspraxis schließe nicht an moralisches Überlegen an, weil letzteres nicht als eine Art eigeninteressierten rationalen Überlegens verstanden werden könne.28 Deswegen könnten kontraktualistische Argumente keine moralischen Argumente sein. Ich habe oben bereits dafür argumentiert, dass die Alltagspraxis moralischen Überlegens nicht in überzeugender Weise instrumentalistisch verstanden werden kann. Übliches moralisches Überlegen ist nicht darauf gerichtet, möglichst vorteilhafte Lösungen für Interaktionsprobleme zu finden. Im gewöhnlichen moralischen Überlegen spielen Vorteil und Interesse keine wichtige Rolle, d.h. es ist nicht wesentlich, ob eine Handlung oder Norm dem Vorteil dient.29 Für die kontraktualistische Argumentation ist hingegen genau das die zentrale Frage. In diesem Sinn kann der Gegner des Kontraktualismus argumentieren, es gebe eine deutliche Lücke zwischen der vertragstheoretischen Argumentation und der Begründunspraxis der Alltagsmoral. Man kann an der moralischen Diskussion über unklare Fälle besonders gut sehen, wo die Lücke entsteht. Angenommen zwei Leute diskutieren über therapeutisches Klonen. In aktuellen Fragen aus der Bio- oder Medizinethik sind sich viele Menschen recht unsicher und daher ist es kein Wunder, wenn sie zunächst zu keiner Lösung kommen. Zufällig hört ein Vertragstheoretiker diesem Gespräch zu und wirft ein, man müsse sich doch nur überlegen, ob voll informierte und rationale Personen einer Regel zustimmen würden, die therapeutisches Klonen verbietet. Der Vertragstheoretiker ist zufälligerweise ein Fachmann aus der medizinischen Forschung. Deswegen führt er ohne Schwierigkeit das Gedankenexperiment durch und kommt vielleicht zu dem Ergebnis, dass die Versuchspersonen die Sanktionsmaschine für diese Regel einschalten würden. Damit sei klar, so schlussfolgert er, dass therapeutisches Klonen moralisch falsch sei. Ich glaube, man kann gut verstehen, wenn einer der ursprünglichen Diskutanten jetzt antwortet, es sei
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zwar zweifelsfrei gezeigt, dass therapeutisches Klonen irrational oder nachteilig sei, aber ob das auch schon heiße, dass es unmoralisch sei, sei doch eine weitere Präge. In einem anderen Beispiel möchte jemand die Position verteidigen, es sei moralisch geboten, Menschen in einer akuten lebensbedrohlichen Notlage zu helfen, solange man sich dabei nicht selbst gefährde. Nun kommt ihm ein Vertragstheoretiker zu Hilfe und argumentiert, eine solche Regel lasse einen recht geringen Aufwand für jeden Einzelnen erwarten. Erstens komme man nicht sehr oft in die Lage, jemandem aus einer solch gefährlichen Situation retten zu müssen. Zweitens sei diese Hilfe in vielen Fällen auch einfach zu leisten - indem man zum Beispiel einem Ertrinkenden einen Rettungsring zuwerfe oder den Notarzt rufe, wenn man Zeuge eines schweren Verkehrsunfalls geworden sei. Für denjenigen, der aus der Notlage gerettet werde, könne eine solche kleine Hilfeleistung aber über Leben und Tod entscheiden. Jeder müsse damit rechnen, einmal auf derartige Hilfe angewiesen zu sein. Die zu erwartenden Vorteile, die man daraus habe, dass man sich auf Hilfe im Notfall verlassen könne, überwögen bei weitem die Nachteile, die daraus entstünden, dass man gelegentlich selbst Hilfe leisten müsse. In dem vertragstheoretischen Gedankenexperiment würden also alle einer Sanktionsmaschine zustimmen, die Leute bestraft, die anderen in akuten Notlagen nicht helfen, obwohl es ungefährlich wäre. Welche Antwort kann der Vertragstheoretiker erwarten? Es wäre nicht verwunderlich, wenn sein Gesprächspartner erwiderte, es sei zwar interessant, dass die Moral, die sowieso gelte, zudem auch noch nützlich sei. Nur sei das für sein Argument irrelevant. Er wolle doch zeigen, dass die Regel moralisch gültig sei. Nächste Schritte Diese metaethischen Einwände sind stark. Trotzdem kann man sie, wie ich zeigen werde, entkräften. Dazu ist es notwendig, genau zu klären, welche Rolle ein kontraktualistisches Argument spielt und in welcher Beziehung es zur moralischen Alltagspraxis steht. In den nächsten Kapiteln werde ich mich diesen Aufgaben widmen.
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Zunächst werde ich eine Theorie der Rechtfertigung vorstellen und argumentieren, dass IMK ein starkes Argument der Rechtfertigung darstellt, allerdings nicht Teil der moralischen Praxis ist. Danach werde ich zeigen, dass IMK gerade vor dem Hintergrund einer anti-realistischen Metaethik interessant und wichtig ist. Schließlich stellt sich heraus, dass die vier metaethischen Einwände dann nicht mehr einschlägig sind.
Kapitel 4 Rechtfertigung moralischer Normen Bisher habe ich in einem vortheoretischen Sinn von moralischer Rechtfertigung gesprochen. Um die Rolle von IMK genau zu bestimmen, muss man aber eine Reihe spezifischerer Fragen beantworten: In welchem Verhältnis stehen Rechtfertigungsargumente zur moralischen Praxis? Auf welche Art von Gründen können sie sich berufen? Welchen Anforderungen müssen sie genügen, um Zweifler oder Skeptiker anzusprechen? Wie kann man eine Norm einer ganzen moralischen Gemeinschaft gegenüber rechtfertigen?
4.1 Der Begriff der Rechtfertigung Der größte Teil der philosophischen Untersuchungen zum Thema Rechtfertigung beschäftigt sich mit der Rechtfertigung theoretischer Überzeugungen, nicht mit der Rechtfertigung von Handlungsnormen oder gesellschaftlichen Institutionen. Aber die entsprechenden Rechtfertigungsargumente gleichen sich in den wichtigen Punkten (vgl. Gaus 1996: 5ff.). Deswegen mache ich in der allgemeinen Analyse keinen Unterschied zwischen theoretischer und praktischer Rechtfertigung. Vom intuitiven Verständnis her erscheint das nicht weiter problematisch: Warum sollte man etwas grundlegend anderes meinen, wenn man einerseits davon spricht, dass eine Überzeugung, und andererseits, dass eine Handlung gerechtfertigt sei? Meine Analyse wird diese Vermutung untermau-
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ern.1 Die Beweislast liegt dann beim Verfechter einer Trennung von theoretischer und praktischer Rechtfertigung.
4.1.1 Gründe geben Im ersten Schritt gehe ich in meiner Analyse vom gewöhnlichen Sprachgebrauch aus. Eine übliche intuitive Begriffsbestimmung macht vom Begriff des Grundes Gebrauch. Verfügbare Gründe Üblicherweise rechtfertigt man etwas, indem man Gründe dafür angibt: Wenn Herr Schmidt rechtfertigt, warum er Herrn Müller nicht als Mitarbeiter einstellt, dann kann er als Grund angeben, dass Herr Müller nicht ausreichend qualifiziert sei. Man kann in diesem Sinn sagen, dass eine Handlung oder eine Meinung gerechtfertigt ist, wenn man über Gründe für diese verfügt, die man zur Rechtfertigung angeben könnte. Diese Gründe müssen, das sollte unkontrovers sein, stärker oder besser sein als die Gründe, die gegen die Handlung oder Meinung sprechen. Ansonsten müsste man sagen, es gebe zwar schon einen Grund für diese, nach umfassender Abwägung lasse sie sich aber nicht rechtfertigen. Dabei ist es nicht nötig, dass man diese Gründe tatsächlich einer anderen Person gegenüber ausspricht. Aber es ist entscheidend, dass man die Handlung aus diesem Grund durchführt oder die Meinung aus diesem Grund akzeptiert.2 Man kann sich Fälle vorstellen, in denen jemand eigentlich über gute Gründe verfügt, aber diese Gründe nicht zu seiner Meinung oder Handlung führen. Zum Beispiel kann Herr Schmidt Herrn Müller einfach unsympathisch finden, gar nicht über Weiteres nachdenken und ihn deswegen ablehnen. Angenommen Herr Schmidt muss nie persönlich mit Herrn Müller zusammenarbeiten, dann ist das kein guter Grund für die Ablehnung. Tatsächlich hätte Herr Schmidt einen guten Grund gehabt, Herrn Müller wegen seiner mangelnden Qualifikation abzulehnen. Aber von diesem Grund macht er keinen Ge-
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brauch: Deswegen sind weder die Ablehnung noch die schlechte Meinung über Herrn Müller als Mitarbeiter gerechtfertigt. Ob man das „aus diesem Grund" kausal verstehen sollte, kann ich offen lassen; die kausale Sichtweise ist allerdings weit verbreitet.3 Damit ist übrigens nicht gemeint, dass man die Meinung oder Absicht X ursprünglich bereits aus dem richtigen Grund angenommen hat. Herr Schmidt könnte zuerst wie oben beschrieben dazu neigen, Herrn Müller wegen seiner persönlichen Abneigung abzulehnen, sich aber dann anders besinnen und noch einmal über die Qualifikation des Bewerbers nachdenken. Er wird seine Meinung über Herrn Müller deswegen letztlich nicht ändern; nach wie vor denkt er, dieser solle abgelehnt werden. Aber er hat jetzt einen anderen, diesmal guten, Grund dafür. Deswegen sind seine Meinung und die Absicht, Herrn Müller abzulehnen, jetzt gerechtfertigt. Im Fall der moralischen Entwicklung kann man ähnlich argumentieren: Empirische Studien über die Entstehung eines moralischen Bewusstseins bei Kindern zeigen, dass sich zwar deren Haltungen in einigen Bereichen relativ wenig ändern, wohl aber die Gründe, die sie für diese Haltungen angeben (Keller und Edelstein 1993: 315f.). Hier würde man sicher sagen, dass die Überzeugungen im Sinne der jeweils höchsten Entwicklungsstufe gerechtfertigt sind, auch wenn die Person sie als kleines Kind aus einem ganz anderen Grund, etwa wegen der fraglos akzeptierten Autorität der Eltern, angenommen hat. Entscheidend ist also, aus welchem Grund man Meinungen und Absichten beibehält und welche Gründe man auf Nachfrage hin angeben würde. Hier besteht eine leichte Asymmetrie im Fall von Handlungen. Wenn man in einer Weise handelt, die zum Zeitpunkt der Handlung nicht gerechtfertigt ist, dann kann man die Handlung im Nachhinein nicht im vollen Sinne rechtfertigen. Man hat ja nicht aus guten Gründen gehandelt. Angenommen Herr Schmidt lehnt Herrn Müller ab, weil er ihn unsympathisch findet, und denkt gar nicht weiter über die Qualifikation des Bewerbers nach. Am nächsten Tag, vor der Besprechung mit seinem Vorgesetzten, fällt sein Blick auf den Lebenslauf von Herrn Müller und er erinnert
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sich, diesen gelesen zu haben. Erst jetzt denkt er aber darüber nach und kommt zu der Einsicht, Herr Müller sei sowieso nicht geeignet gewesen. Auf diese Weise kann er seine Handlung vom Vortag rationalisieren, aber nicht im vollen Sinn rechtfertigen. Man kann in solchen Fällen - und Herr Schmidt wird es in der Besprechung mit seinem Vorgesetzten tun - allerdings feststellen, dass man jetzt, im Lichte neuer Überlegungen, wieder so handeln würde, und gute Gründe dafür angeben. Die Handlung war aber höchstens im Prinzip rechtfertigbar; unten werde ich das unter der Überschrift normative oder potentielle Gründe behandeln. Für meine weitere Diskussion ist dieser Fall nicht besonders wichtig, deswegen muss ich es bei dieser Skizze belassen. Die bisherigen Überlegungen möchte ich so zusammenfassen: (Rl) X ist gerechtfertigt für P, wenn P über ausschlaggebende Gründe für X verfügt und X aus diesen Gründen glaubt oder tut. Ausschlaggebend sind Gründe für X, wenn sie stärker sind als die Gründe, die gegen X sprechen. Ich habe die Idee des Zugangs zu den rechtfertigenden Gründen hier sehr stark gemacht. In einem schwachen Sinn könnte man diese Position schon als internalistisch bezeichnen; rechtfertigende Gründe müssen ja Gründe sein, über die das Subjekt selbst verfügt. Ob allerdings nur mentale Zustände als rechtfertigende Gründe gelten können, ist damit noch nicht gesagt. Das behauptet eine stärkere Form des Internalismus, die ich später verteidigen will (Abschnitt 4.1.2).4 Potentielle, motivierende und vermeintliche Gründe Gelegentlich spricht man in einem Sinn von Rechtfertigung, der nicht zu der bisherigen Analyse passt. Man sagt zum Beispiel, Herrn Schmidts Meinung über Herrn Müller sei gerechtfertigt, auch wenn er sie nicht aus einem guten Grund vertrete. Denn schließlich gebe es einen guten Grund dafür. Herr Schmidt wisse im Prinzip ja, dass Herrn Müller bestimmte Qualifikationen, die
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für die ausgeschriebene Stelle unverzichtbar sind, fehlen; er mache nur nicht den richtigen Gebrauch von diesem Wissen. Trotzdem sei die Ablehnung richtig. Man könnte auch noch weiter gehen und behaupten, auch wenn Herr Schmidt Herrn Müllers Bewerbungsunterlagen gar nicht gelesen hätte oder Herr Müller die Unterlagen sehr geschickt in seinem Sinne gefälscht hätte, sei die Ablehnung gerechtfertigt. Denn es sei schließlich eine Tatsache, dass Herr Müller sich nicht für die Stelle eigne, auch wenn Herr Schmidt das gar nicht wisse. Auch hier möchte man sagen, dass die Ablehnung eigentlich richtig war.5 Ich halte diese Fälle für wichtig, möchte aber davor warnen, den Begriff der Rechtfertigung zu weit auszudehnen. In beiden genannten Fällen sind Herrn Schmidts Meinung und die Ablehnung meines Erachtens rechtfertigbar, aber nicht gerechtfertigt. Ich möchte mich hier Gibbards Sprachgebrauch anschließen und von potentiellen Gründen sprechen, also Gründen, die man für eine Rechtfertigung verwenden könnte (vgl. Gibbard 1990:161f.). Es gibt demnach einen potentiellen Grund für Herrn Schmidt, Herrn Müller abzulehnen, auch wenn er von diesem Grund tatsächlich keinen Gebrauch macht. In einigen Fällen ist die Frage danach, ob etwas rechtfertigbar ist, ob es also potentielle Gründe dafür gibt, tatsächlich wichtiger als die Frage, ob es gerechtfertigt ist. Rein potentielle Gründe können keine Rolle bei der Erklärung einer Handlung oder eines Überzeugungswandels spielen. Man kann sie daher mit motivierenden Gründen kontrastieren. Motivierende Gründe sind Gründe, die die jeweilige Person für gute verfügbare Gründe hält (darunter fallen natürlich auch verfügbare wirklich gute Gründe). Gibbard schreibt dazu: Even available reasons need to be distinguished from merely putative reasons: what a person takes to be available reasons. When a person does something we think ill considered, we distinguish „his reason" for doing it from „a reason" to do it. [...] Call this kind of reason a motivating reason. (Gibbard 1990: 162)
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Gründe und Wahrheit Allein weil ein Grund motivierend ist, rechtfertigt er eine Handlung oder Überzeugung nicht. Einen Grund, der zwar motiviert, aber kein potentieller Grund ist, möchte ich als vermeintlichen Grund bezeichnen. Aber sogar, wenn man über einen tatsächlich guten Grund für etwas verfügt, heißt das noch nicht, dass es tatsächlich wahr oder empfehlenswert ist. Wenn Herr Müller professionell gefälschte Bewerbungsunterlagen eingereicht hat, die Herr Schmidt genau studiert, dann kann dieser sehr wohl einen sehr guten Grund haben, Herrn Müller einzustellen. Wenn Herr Schmidt noch nie schlechte Erfahrungen mit gefälschten Bewerbungsunterlagen gemacht hat und es in der Branche auch nicht üblich ist, Bewerbern zu misstrauen, dann handelt es sich nicht bloß um einen vermeintlichen, sondern um einen tatsächlichen Grund, der besser ist als entgegenstehende verfügbare Gründe. Freilich gibt es immer noch einen potentiellen Grund, der gegen die Einstellung von Herrn Müller spricht - aber das zeigt bloß, dass auch die Ablehnung rechtfertigbar ist. Was heißt es, etwas zu rechtfertigen? Auf der Basis der bisherigen Analyse kann man über das Gedankenexperiment von IMK Folgendes sagen: Es gibt einen potentiellen Grund für die Akzeptanz von Sanktionen, wenn die Personen im kontraktualistischen Gedankenexperiment über einen Grund für diese Akzeptanz verfügen. Das bedeutet aber nicht, dass die Sanktionen für die realen Mitglieder der moralischen Gemeinschaft gerechtfertigt sind. Das ist nämlich erst dann der Fall, wenn die Adressaten der Rechtfertigung diese Gründe auch kennen und die Sanktionen wegen dieser Gründe akzeptieren. Die zentrale Aufgabe eines Rechtfertigungsarguments besteht also darin, den Adressaten zu zeigen, dass es bestimmte Gründe gibt, und sie so dazu zu bringen, diese Gründe als Gründe für die Akzeptanz der Sanktionen zu sehen. Das motiviert folgende Analyse des Begriffs rechtfertigen:
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(R2) X gegenüber A rechtfertigen heißt, dem Adressaten A zeigen, dass es für P ausschlaggebende potentielle Gründe für X gibt. Ein Argument der Rechtfertigung kann korrekt sein, ohne dass der Adressat die Gründe, auf die der Rechtfertigende hinweist, tatsächlich akzeptiert. Natürlich ist das pragmatische Ziel einer Rechtfertigung damit verfehlt. In welcher Weise der Rechtfertigende Einfluss auf den Adressaten hat, diskutiere ich unter der Überschrift „Autorität" in Abschnitt 4.2.2. Hier zähle ich zunächst einige wichtige Situationstypen auf, in denen Rechtfertigungsargumente vorkommen: (i) P rechtfertigt seine Überzeugung oder Handlung X gegenüber A. Gelingt das, dann kann A nachvollziehen, aus welchen Gründen P die Überzeugung oder Handlung X hat bzw. durchführt. Es bedeutet aber nicht, dass A X auch annehmen oder gutheißen sollte. Nur in dem Fall, in dem A zudem alle relevanten Hintergrundüberzeugungen (und im praktischen Fall Pro-Einstellungen) mit P teilt, ist X auch für A gerechtfertigt. Bei der Rechtfertigung von Überzeugungen meint A nach gelungener Rechtfertigung, dass es für P Sinn mache, X zu glauben. Im Fall von Handlungen kommt er zu dem Schluss, er würde X tun, wäre er in PS Situation und hätte dessen Ziele. (ii) A rechtfertigt X gegenüber sich selbst. Er überlegt also, welche Gründe er für X hat und sucht eventuell auch nach weiteren Gründen. Man könnte am besten sagen, dass A sich vergewissert. In dieser Weise denkt man nach, wenn man eigene Zweifel ausschließen möchte oder wenn man feststellt, dass eine bestimmt Überzeugung eine ganz neue Bedeutung für einen bekommen hat - wenn man etwa tatsächlich in eine Situation kommt, in der man für eine moralische Überzeugung einstehen muss, die man bisher eher automatisch vertreten hat. Aber auch um sich auf eine Diskussion mit
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anderen (vgl. (iii)) vorzubereiten, vergewissert man sich der eigenen Überzeugungen auf diese Weise. (iii) Eine dritte Person rechtfertigt X gegenüber A für A, zeigt A also, dass er Gründe für das zu Rechtfertigende hat. In diesem Sinn kann man A zeigen, dass er Gründe dafür hat, eine Überzeugung oder eine (moralische) Haltung anzunehmen. Gewöhnlich spricht man in diesem Fall davon, dass der Rechtfertigende A von X überzeugt. Im Idealfall einer wissenschaftlichen Debatte oder einer Wertediskussion versuchen die Teilnehmer gegenseitig, sich von bestimmten Positionen auf diese Weise zu überzeugen. Was ich bisher über Rechtfertigung gesagt habe, ist verträglich mit verschiedenen Analysen davon, was man unter Gründen versteht. Ich werde im nächsten Schritt vorstellen, wie man Gründe in den naturalistischen Rahmen, den ich in Kapitel 2 entwickelt habe, einordnen kann.
4.1.2 Gründe und Normen Ich möchte eine Analyse des Begriffs des Grundes durch den Begriff der Normakzeptanz verteidigen. Dieses Verständnis passt zu der naturalistischen Grundhaltung (vgl. Abschnitt 2.2.1). Es ist inspiriert durch Gibbard (1990: 160-64). Ich werde es meiner metaethischen Einordnung des Kontraktualismus in diesem und im nächsten Kapitel zugrunde legen.6 Warum Tatsachen allein keine Gründe sein können Auf den ersten Blick liegt es nahe, Gründe in die Kategorie der Tatsachen einzuordenen. Man sagt zum Beispiel, der Grund dafür, dass man einen Regenschirm aufspannen sollte, sei die Tatsache, dass es regne (vgl. Raz 1990: 38). Allerdings führt diese Analyse in große Schwierigkeiten, denn sie kommt nicht gut damit zurecht,
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dass es gerechtfertigte, aber falsche Überzeugungen oder Handlungen gibt. Wenn ein Physiker nach langer Forschung auf dem aktuellen Stand seines Fachs zu einer richtigen Meinung über die Masse eines Elementarteilchens kommt, würde man in den meisten Fällen sagen, er habe einen Grund für diese Annahme. Dieser Grund besteht nach der Tatsachen-These in der Tatsache, dass er die Messgeräte richtig abgelesen hat und dass diese verlässliche Indikatoren für die tatsächliche Masse des Teilchens sind. Kommt er nach einem sehr ähnlichen Prozess zu einem falschen Ergebnis, würden wir trotzdem sagen, er habe einen Grund für seine falsche Überzeugung. Dieser Grund kann aber nicht darin bestehen, dass die Messgeräte verlässliche Indikatoren sind (denn sie sind es gar nicht). Ein Grund für diese Annahme könnte eher sein, dass der Physiker glaubt, richtig vorgegangen zu sein und verlässliche Geräte verwendet zu haben (Gaus 1996: 33f.). Gaus fasst zusammen: „This account implies that reasons for true beliefs and reasons for false beliefs are, ontologically, deeply different." (Gaus 1996: 33) Denn Gründe für wahre Meinungen sind demnach vom Subjekt unabhängige Tatsachen, während Gründe für falsche Meinungen weitere Meinungen sind. Das macht die Tatsachen-Hypothese unplausibel, denn wir glauben üblicherweise nicht, dass sich Gründe für wahre und Gründe für falsche Meinungen so unterscheiden. Zu einem analogen Ergebnis kommt man über den Gedanken, dass Überzeugungen weiterhin als gerechtfertigt betrachtet werden sollten, auch wenn ein cartesischer Geist die Welt, die Gegenstand dieser Überzeugungen ist, nur vorgaukelt (vgl. Audi 1990: 228). Es gibt in diesem Fall gar keine (geist-unabhängigen) Tatsachen, die Gründe für diese Überzeugungen sein könnten. Behauptet man anderes, so verwechselt man wahrscheinlich das Verhältnis zwischen Rechtfertigung und Wahrheit. Welche Alternativen gibt es dann? Es ist meines Erachtens vielversprechend, Gründe als mentale Zustände aufzufassen. Welche mentalen Zustände kommen in Frage? Überzeugungen spie-
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len sicher eine Rolle, etwa die Überzeugung, dass es regnet oder dass ein bestimmtes wissenschaftliches Verfahren verlässlich ist. Eine faktische Überzeugung allein hat allerdings nicht die richtige Passrichtung. Um einen Grund zu erhalten, braucht man eine weitere Komponente, die angibt, wie man sich der Überzeugung gegenüber verhalten sollte. Das gilt sowohl im theoretischen als auch im praktischen Fall: Eine Überzeugung wird nur in Kombination mit der Akzeptanz von bestimmten epistemischen und logischen Regeln zu einem Grund für eine andere Überzeugung. Diese Regeln schreiben zum Beispiel vor, dass man - zumindest auf Nachfrage hin - die logischen Implikationen der eigenen Überzeugungen auch glauben sollte. Genauso werden Überzeugungen nur in Kombination mit Wünschen (oder allgemeiner Pro-Einstellungen) zu einem Handlungsgrund. Die Überzeugung, dass ich schon länger nichts mehr gegessen habe, ist erst in Verbindung mit dem Wunsch oder der akzeptierten Regel, dass man regelmäßig essen sollte, ein Grund zu essen. In diesem Ansatz kann man nicht streng zwischen theoretischen und praktischen Gründen unterscheiden. Zwar entsprechen Gründe, deren Zusatzkomponente aus Wünschen oder der Akzeptanz moralischer oder sozialer Regeln besteht, eher den klassischen praktischen Gründen und Gründe, die aus Überzeugungen und der Akzeptanz epistemischer Normen bestehen, sind wahrscheinlich eher theoretische Gründe. Aber solche theoretischen Gründen können durchaus auch Handlungsgründe sein, etwa Gründe, bestimmte wissenschaftliche Experimente durchzuführen, die letztlich wieder zu Überzeugungen führen. Genauso kann man aber einen moralischen Grund haben, etwas zu glauben - zum Beispiel wenn man der moralischen Regel gerecht werden will, niemanden ohne triftige Beweise als schuldig zu betrachten. In diesem Sinn besteht kein kategorialer Unterschied zwischen theoretischen und praktischen Gründen, wie ich es oben schon angedeutet habe.
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Gründe und Normakzeptanz Diese Vorbemerkung deutet bereits an, wie man den Begriff des Grundes mit den Begriffen der Norm und der Akzeptanz von Normen erklären kann. Folgende Bestimmung kann man sowohl auf theoretische als auch auf praktische Gründe anwenden. Die Variable läuft daher sowohl über Handlungen als auch über Überzeugungen:
(Nl) Wenn man (gerechtfertigterweise) glaubt, dass man sich in der Situation w befindet, hat man einen Grund, vom Typ zu tun oder zu glauben, wenn man (a) eine Norm N für akzeptiert und (b) (zumindest implizit) weiß, dass N fordert, man solle unter den Umständen w etwas vom Typ tun. Vorausgesetzt es ist möglich, eine gerechtfertigte Meinung über den aktuellen Weltzustand zu gewinnen, dann hat man einen potentiellen Grund für bereits dann, wenn man eine Norm akzeptiert, die vorschreibt, in der aktuellen Situation zu tun oder zu glauben. Denn dann ist es möglich, den Grund verfügbar zu machen, indem man sich Wissen über den aktuellen Weltzustand und darüber, dass die Norm N unter diesen Umständen fordert, aneignet. Letzteres ist wahrscheinlich weitgehend unproblematisch, da zum Zustand der Normakzeptanz bereits gehört, dass man geneigt ist, die Norm in einzelnen Fällen anzuwenden (vgl. Abschnitt 2.2.1, S. 35f.). Im Rahmen meiner funktionalistischen Herangehensweise an diesen mentalen Zustand will und kann ich darüber allerdings nicht mehr sagen. Vor diesem Hintergrund ist es ein typischer Fall rein potentieller Gründe, wenn man wie Herr Schmidt im ersten Beispiel keinen Gebrauch von seinem Wissen macht, beziehungsweise durch psychische Mechanismen (etwa die starke persönliche Abneigung gegen Herrn Müller) daran gehindert ist, davon Gebrauch zu machen. Auch wenn man sich über die Situation täuscht, also falsche faktische Annahmen macht (wie im Fall der gefälschten Bewer-
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bungsunterlagen), gibt es potentielle Gründe, die nicht verfügbar sind. Als ein guter Grund zählt ein Grund, der nicht auf einem der genannten Irrtümer beruht. Gründe für X sind besser als Gründe für Y, wenn das gesamte System von Normen empfiehlt, eher X als zu tun oder zu glauben. In diesem Fall hat die Norm, die X empfiehlt, einen festen Platz im System der Normen, wird von Normen über Normakzeptanz gestützt und ist verträglich mit den anderen Normen. Es gehört zum Zustand der Normakzeptanz, dass man bereit ist, die Norm in einer Diskussion zu vertreten. In einer solchen Diskussion kann es passieren, dass man dazu kommt, neue Normen zu akzeptieren - etwa weil jemand diese Norm überzeugend gerechtfertigt hat oder weil man zu eigener Reflexion angeregt wurde. In beiden Fällen hat man eingesehen, dass die neue Norm sich in das bisherige System von Normen und Metanormen einfügt. In diesem Prozess entstehen mit der neu akzeptierten Norm auch neue Gründe. Dabei kann es nicht passieren, dass man überredet wird, eine Norm zu akzeptieren, die zwar mit den anderen Normen zusammenpasst und deswegen überzeugend wirkt, aber eigentlich gar nicht die richtige Norm ist. Dieser Punkt wird eine wichtige Rolle bei der Verteidigung von IMK spielen. Rechtfertigung Ob etwas gerechtfertigt ist, hängt, wie ich oben ausgeführt habe, davon ab, ob die Gründe dafür die Gründe dagegen überwiegen. Das ist äquivalent damit, dass nicht eine einzelne Norm, sondern das gesamte relevante System von Normen fordert, es zu tun. Zudem muss man das Gerechtfertigte auch aus diesen ausschlaggebenden Gründen tun oder glauben. (N2) vom Typ zu tun oder zu glauben ist für eine Person P gerechtfertigt, wenn P gerechtfertigterweise glaubt, dass er sich in der Situation w befindet, ein System von Normen N für akzeptiert und N fordert, dass man unter den Umständen w etwas vom
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Typ tut, und die Akzeptanz von N zusammen mit dem Wissen um W dazu führt, dass P tut oder glaubt. Nur vermeintlich gerechtfertigt, wenn auch motivierend ist etwas, wenn die Meinung über die aktuelle Situation und relevante Fakten ihrerseits nicht gerechtfertigt ist, wenn man sich über die akzeptierten Normen täuscht oder nicht das gesamte System der akzeptierten Normen im Blick hat. Auch letzteres kann leicht vorkommen, da Normensysteme sehr komplex werden können. Internalismus Mit dieser Analyse vertrete ich eine starke internalistische Position von Rechtfertigung. Denn ob man einen verfügbaren Grund für etwas hat, hängt allein von introspektiv zugänglichen mentalen Zuständen ab.7 Audi schreibt dazu: In its most general form, epistemological internalism is the view that what justifies a belief is something to which the believer has introspective (thus internal) access, in the sense that by introspective reflection the believer could become aware of it. (Audi 1990: 227f.)
Gegen die gesamte bisherige Analyse kann man einwenden, sie werfe mit den problematischen auch die plausiblen Seiten des Gründe-Externalismus über Bord. Denn ob etwas gerechtfertigt sei oder nicht, hänge ihr zufolge nur von mentalen Zuständen des Adressaten ab. Das habe zur Folge, dass dieser eine Rechtfertigung einfach ungültig machen könne, indem er sich weigere, eine bestimmte Norm zu akzeptieren. Dieser Einwand ist prinzipiell berechtigt und ich werde die bisher unvollständige Theorie der Rechtfertigung in den folgenden Abschnitten so ergänzen, dass sie nicht zu dieser schwer haltbaren Form des Relativismus führt.
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4.2 Rechtfertigung gegenüber anderen Im Folgenden betrachte ich den Fall der Rechtfertigung gegenüber anderen und kläre damit die begrifflichen Grundlagen für die Analyse der Rechtfertigung moralischer Normen und Sanktionen gegenüber einer Gemeinschaft.
4.2.1 Offene und geschlossene Rechtfertigung Alle Gründe basieren also darauf, dass eine Person bestimmte Normen akzeptiert und bestimmte Überzeugungen hat. Diese Sichtweise hat den Vorteil, dass sie nur minimale metaphysische Annahmen macht und so in das naturalistische Weltbild passt. Allerdings handelt man sich, wie eben erwähnt, ein Problem ein. Nach dieser Analyse sind nämlich alle Gründe aktorrelative Gründe, also Gründe, die nur für eine bestimmte Person Gründe sind, für andere aber gewöhnlich nicht.8 Ganz offensichtlich ist das bei den Gründen, die auf Pro-Einstellungen (und entsprechenden Normen) beruhen: Angenommen A wünscht X und denkt, dass die Handlung H zu X führt. Das ist für A direkt ein (vollständiger) Grund, H zu tun, nicht aber für eine andere Person B, die X nicht wünscht. Ganz analog gilt das aber auch für die unterschiedlichen Hintergrundüberzeugungen und logischen Ableitungsregeln, die verschiedene Adressaten der Rechtfertigung akzeptieren, obwohl man hier größere Einheitlichkeit erwarten kann. Rechtfertigung auf der Basis aktorrelativer Gründe muss immer Rechtfertigung gegenüber einer bestimmten Person sein, da man die Rechtfertigung auf Gründen aufbauen muss, die für den jeweiligen Adressaten auch tatsächlich Gründe sind. Die angeführten Gründe müssen Gründe sein, die der Adressat im Prinzip nachvollziehen kann (im Fall der Rechtfertigung einer eigenen Handlung oder Überzeugung gegenüber einer anderen Person wie im Fall (R2.i)) oder die er teilt (in den Fällen, in denen man eine Handlung oder Überzeugung des Adressaten diesem selbst gegenüber rechtfertigt wie in den Fällen (R2.ii) und (R2.iii)). Etwas
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zu glauben oder zu tun kann für eine Person gerechtfertigt sein, für eine andere aber nicht. Das ist einsichtig und mit der allgemeinen Begriffsbestimmung gut vereinbar. Zugleich bedeutet es aber, dass diese Rechtfertigung prinzipiell relativ ist, also nur bei bestimmten Personen schlüssig oder erfolgreich. Kann eine Rechtfertigung folglich als verfehlt kritisiert werden, wenn sich der Adressat weigert, bestimmte leicht zugängliche zusätzliche Informationen zur Kenntnis zu nehmen, oder wenn er dubiose epistemische oder logische Ableitungsregeln akzeptiert?9 Mit einer weiteren Differenzierung des Rechtfertigungsbegriffs, die Gaus einführt, kann man dieses Problem erfolgversprechend angehen. Gaus unterscheidet zwischen geschlossener und offener Rechtfertigung („open justification" und „closed justification", Gaus 1996: 30ff.). Die Prädikate „offen" und „geschlossen" beziehen sich dabei jeweils auf das relevante Hintergrund wissen. Im Fall der geschlossenen Rechtfertigung zählen dazu genau die aktuellen Überzeugungen des Adressaten. Im Fall der offenen Rechtfertigung wird das relevante Hintergrundwissen aus dem aktuellen Wissen des Adressaten konstruiert; dazu überlegt man sich, ob es relevante Überlegungen und neue Informationen gibt, die den Adressaten bewegen könnten, das System seiner Überzeugungen zu revidieren. Genauer gesagt: Man überlegt sich, ob er sich rationalerweise einer Revision seiner Überzeugungen widersetzen könnte. Dabei ist es nicht wichtig, ob er tatsächlich die neuen Überzeugungen annimmt oder vielleicht wegen eines psychologischen Mechanismus (Trägheit) bei seinen alten Meinungen bleibt. Gaus fasst das in folgender Frage über den Adressaten zusammen: Put somewhat more elegantly, if [...][his] beliefs were subject to extensive criticism and additional information, does his viewpoint commit him to revise his beliefs? (Gaus 1996: 32)
Analoges gilt für die Normen, die ein Adressat akzeptiert. Sollten diese inkonsistente Forderungen stellen oder mit akzeptierten Meta-Normen nicht übereinstimmen, dann könnte man im Rahmen der offenen Rechtfertigung von einem konsistent gemachten
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System dieser Normen ausgehen. Plausibel an der Idee der offenen Rechtfertigung ist es, dass ihr zu Folge eine Rechtfertigung nicht zunichte gemacht werden kann, indem sich der Adressat (wider besseres Wissen) Argumenten widersetzt, die eigentlich auf seinen eigenen Überzeugungen und Prinzipien beruhen. Nicht ausschließen kann man allerdings, dass jemand ein vollkommen konsistentes und abgeschlossenes System von Überzeugungen, epistemischen und logischen Regeln und Pro-Einstellungen hat, das aus Sicht des Rechtfertigenden aber falsch ist. In diesem Fall findet auch die offene Rechtfertigung keinen Ansatzpunkt.
4.2.2 Autorität Von einem sehr anspruchsvollen Standpunkt aus könnte man eine Rechtfertigung nur dann als erfolgreich betrachten, wenn der Adressat das Argument vollständig nachvollzieht und so selbst zu der fraglichen Überzeugung gelangt. Gibbard spricht von sokratischem Einfluss des Rechtfertigenden: The speaker may prod hearers to think along certain lines and come to their own conclusions. Call this Socratic influence [...]. Socratic influence, in short, is influence that could be exercised simply by asking appropriate questions. (Gibbard 1990: 174f.) In diesem Fall hat der Adressat alle Prämissen und Ableitungsregeln zur Verfügung, um aus eigener Kraft zur fraglichen Überzeugung zu gelangen. Im Prinzip kann sich der Rechtfertigende also darauf beschränken, nur Fragen zu stellen, die den Adressaten auf das Problem stoßen und ihn auf Fehler in seinen Überlegungen hinweisen. Er muss keine weiteren Informationen geben. Sokratischer Einfluss ist deswegen der Idealfall der Rechtfertigung gegenüber einem anderen. Wenn sie gelingt, akzeptiert der Adressat das zu Rechtfertigende letztlich als Ergebnis seines eigenen Nachdenkens. Er kann sich vollkommen sicher sein, dass es sich tatsächlich in sein System von Überzeugungen und akzeptierten
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Normen einfügt. Sokratische Rechtfertigung ist sehr anspruchsvoll: In vielen Fällen ist es für den Adressaten extrem aufwändig, das gesamte Argument nachzuvollziehen. Wenn er genau verstehen soll, warum sich kein Körper schneller als mit Lichtgeschwindigkeit bewegen kann, muss er sich zum Beispiel die Relativitätstheorie aneignen. Das übersteigt sicher die zeitlichen oder intellektuellen Ressourcen vieler Menschen. Es wäre allerdings unplausibel, nur sokratisch gerechtfertigte Meinungen und Handlungen als gerechtfertigt anzusehen: Wenn eine Person mit guter Allgemeinbildung die Meinung hat, dass die Lichtgeschwindigkeit nicht überschritten werden kann, ist diese Überzeugung nicht zufällig, sondern beruht auf einer elementaren, wenn auch bruchstückhaften, Kenntnis der physikalischen Theorie und der Überzeugung, dass diese Überzeugung der allgemeinen Ansicht unter Physikern entspricht. Auch solche Meinungen betrachten wir üblicherweise als gerechtfertigt. In den meisten Fällen empfiehlt sich deswegen ein schwächerer Begriff der Rechtfertigung. Für diese Fälle bietet es sich an, die Rechtfertigung von X als gelungen anzusehen, wenn der Adressat die Autorität des Rechtfertigenden anerkennt und glaubt, dass dieser ausschlaggebende Gründe für X hat, auf die er mit seinem Argument hinweist. Man kann mit Gibbard von kontextueller Autorität sprechen. Der Adressat tritt dabei seine Entscheidungskompetenz an einen Experten ab: Die oben erwähnte Person, die glaubt, dass die Lichtgeschwindigkeit nicht überschritten werden kann, hat das nie selbst überprüft. Letztlich besteht ihr Grund, es zu glauben, darin, dass Physiker es ihres Wissens glauben (vgl. Gibbard 1990: 174). Dahinter steht die Überlegung, dass Physiker genauso wie sie selbst daran interessiert sind, die Welt möglichst genau zu beschreiben, und auch elementare epistemische und logische Normen teilen. Sie teilen mit ihr also einen Kontext von Zielen und Normen. Daher stammt Gibbards Bezeichnung dieser Art von Autorität. Da die Wissenschaftler aber erheblich mehr Ressourcen als ein Laie zur Verfügung haben, etwa Vorwissen, Zeit, Arbeitskraft und Labors, sind ihre Ergebnisse ungleich verlässlicher als
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alles, was der Laie erreichen kann. Dieser glaubt nun, dass er zum selben Ergebnis wie professionelle Physiker kommen würde, wenn er die selben Ressourcen hätte. Deswegen akzeptiert er ihre Untersuchung als Stellvertreter für eigene Forschung und erkennt somit ihre Autorität an. In der moralischen Praxis ist Rückgriff auf kontextuelle Autorität weithin akzeptiert und verbreitet. Die Details und Auswirkungen neuer technischer oder medizinischer Verfahren sind für Laien kaum verstehbar. Man verlässt sich deswegen oft auf das Urteil von Experten, die grundlegende moralische Normen teilen, aber viel eher bewerten können, ob diese Normen in einem bestimmten Fall verletzt werden oder nicht. Auch hier denken die technischen Laien, sie hätten mit hinreichender Fachkenntnis genauso geurteilt wie der Experte, und erkennen deswegen seine Autorität an. Festzuhalten ist aber, dass kontextuelle Autorität nur dann eine Rechtfertigung liefert, wenn der Adressat der Rechtfertigung von der Kompetenz des Experten überzeugt ist. Die Unterscheidung zwischen kontextueller Autorität und sokratischem Einfluss und die zwischen offener und geschlossener Rechtfertigung (vgl. Abschnitt 4.2.1, S. 99) sind nicht unabhängig voneinander. Zielt man auf sokratischen Einfluss, dann kann offene Rechtfertigung nur insofern erfolgreich sein, als man im Prozess der Rechtfertigung den Adressaten dazu bringt, seine Überzeugungen und die Normen, die er akzeptiert, tatsächlich zu revidieren. Erst dann kann er ein Argument nachvollziehen, das sich auf Gründe stützt, die er seinen eigenen Überzeugungen nach haben sollte, vor der Rechtfertigung aber nicht hat. Es reicht nicht aus, dass ein idealisierter Adressat von dem vorgebrachten Argument überzeugt wäre. Sokratische Rechtfertigung ist also immer erst dann abgeschlossen, wenn man die These dem Adressaten gegenüber in geschlossener Weise rechtfertigen kann und dieser das Argument selbst nachvollzieht. Begnügt man sich dagegen mit kontextueller Autorität, dann kann offene Rechtfertigung auch erfolgreich sein, wenn sie an Gründe appelliert, die der Adressat aus seinen aktuellen Über-
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zeugungen und Normen heraus nicht nachvollziehen kann; wichtig ist nur, dass der Adressat akzeptiert, dass der Rechtfertigende korrekt beurteilen kann, dass die vorgebrachten Gründe sich aus seinen eigenen Überzeugungen ableiten ließen. Ich habe zum Beispiel sicher einige falsche Überzeugungen über physikalische Zusammenhänge und viele Lücken in meinem physikalischen Wissen, so dass ich eine Begründung, die mir ein Physiker für eine These gibt, nicht im Detail nach vollziehen kann oder sogar finde, dass sie einigen meiner Überzeugungen widerspricht. Geschlossen könnte sie also nicht gerechtfertigt werden. Obwohl ich nicht alle Hintergrundthesen, die der Physiker vorbringt oder impliziert, in mein Überzeugungssystem einbaue (in diesem Fall wäre ihm sokratische Rechtfertigung gelungen), akzeptiere ich seine kontextuelle Autorität. Die fragliche These ist mir gegenüber offen gerechtfertigt, solange das Argument des Physikers konsistent erscheint und ich den Eindruck habe, dass dieser mir auf Nachfrage hin die Voraussetzungen erklären und mich von ihnen überzeugen könnte. Kontextuelle Autorität grenzt Gibbard von fundamentaler Autorität ab. Diese wird in dem Fall relevant, in dem zwei Personen mit jeweils in sich stimmigen aber unterschiedlichen Systemen von Überzeugungen und Normen aufeinandertreffen. Kontextuelle Autorität kann dann keiner beanspruchen, da keiner den jeweils anderen als Experten ansehen kann. In diesem Fall muss derjenige, der einer Diskussionspartnerin gegenüber doch Autorität beansprucht, von sich sagen: I claim rather to be 'seeing' something that she doesn't: that the fundamental norms she accepts just don't make sense. I am claiming a kind of fundamental authority, an authority that does not stem from any common acceptance of more fundamental norms. (Gibbard 1990: 175) Sobald der Adressat keine Norm akzeptiert, auf die der Sprecher sich in seinem Argument beruft, ist Rechtfertigung nicht mehr möglich. Der Sprecher kann dem Adressaten keinen Grund geben, seine Meinung zu ändern. Gibbard spricht davon, dass man dieser
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Art von Autorität in vielen Fällen oft unbewusst unterliege: „We may have little choice in the matter; we simply are influenced by what those around us think." (Gibbard 1990: 177) Er argumentiert dann, dieser Einfluss sei letztlich unumgänglich und deswegen könne man jemandem, der ihm unterliege, nicht bereits als irrational bezeichnen. Denn zu einem gewissen Grad sei letztlich jeder davon abhängig. Werfe man nämlich alle Überzeugungen und akzeptierten Normen, die durch fundamentalen Einfluss entstanden seien, und Normen, die von diesen Normen abgeleitet seien, über Bord, dann bleibe zu wenig übrig, um wieder eine neues Überzeugungssystem aufzubauen. Wenn der Einfluss tief genug gehe (was sehr wahrscheinlich sei), dann wisse man zudem nicht einmal, von welchen Überzeugungen man sich befreien sollte. Denn auch die Normen für die Akzeptanz von Normen seien nicht unabhängig von fundamentalem Einfluss. Gibbard fährt fort, dass man aus Analogiegründen auch zukünftige fundamentale Einflüsse als rational akzeptierten sollte; man halte sich, so wie man durch vergangene fundamentale Einflüsse geformt worden sei, fähig zu vernünftigen Urteilen. Warum sollten zukünftige solche Einflüsse nicht weiter zu dieser Kompetenz beitragen? - „There is nothing special about now as now." (Gibbard 1990: 180) Ich halte Gibbards Schluss für etwas voreilig, obwohl ich die zugrunde liegende Beobachtung durchaus teile. Es ist richtig, dass man irgendwo mit dem Begründen anfangen muss. Naheliegend und unvermeidbar ist es, mit den Überzeugungen und Normen zu beginnen, die man zunächst unreflektiert aufgenommen hat. Wahrscheinlich entstehen viele moralische Einstellungen und Haltungen durch Einfluss fundamentaler Autorität; viele werden zunächst überhaupt nicht auf dem Weg der Rechtfertigung vermittelt, etwa wenn Eltern kleine Kinder erziehen. Dasselbe gilt auch für einige Metanormen zur Normakzeptanz. Zunächst gibt es zu diesem Vorgehen keine Alternative: Erst in diesem Lernprozess bildet sich eine Grundlage von Normen, auf deren Basis man anfangen kann, rational zu denken, zu begründen und nach Gründen zu fragen. Schließlich ist man in der Lage, alles, auch
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die Normen zur Normakzeptanz, nach und nach (nicht auf einmal, wie Gibbard fordert) in Frage stellen - natürlich zunächst immer auf dem Fundament der übernommenen Normen. In diesem Prozess wird eine rationale Person ihr Überzeugungssystem und das System der akzeptierten erst- und zweitstufigen Normen nach und nach kohärent machen. Spätestens ab diesem Zeitpunkt ist es für sie nicht mehr rational, sich fundamentaler Autorität zu unterwerfen, wenn sie vor der Entscheidung steht, ob sie eine bestimmte neue Norm oder Überzeugung akzeptieren soll oder nicht. Es ist dann irrational, eine Überzeugung anzunehmen, die nicht vor dem Hintergrund der bereits bestehenden Überzeugungen und den bereits akzeptierten Normen gerechtfertigt werden kann. Nur weil es rational ist, bestimmte übernommene Normen und Überzeugungen nicht zu verwerfen, sind nicht alle Normen und Überzeugungen, die man auf dem selben Wege angenommen hat und in Zukunft annehmen wird, rational oder begründet. Es ist bei einer entwickelten rationalen Person nämlich rational, einige der anfänglichen Überzeugungen nicht zu verwerfen, weil sie begründet werden können; und das hat nichts damit zu tun, wie sie entstanden sind.10 Festhalten lässt sich also, dass Rechtfertigung auf zwei Arten möglich ist: Entweder im Rahmen des sokratischen Einflusses oder auf der Basis kontextueller Autorität. Vom Standpunkt der fundamentalen Autorität aus kann man dem Adressaten hingegen keine Gründe geben und folglich ihm gegenüber auch nichts rechtfertigen.
4.2.3 Öffentliche Rechtfertigung Es ist zwar denkbar, dass man eine gesellschaftliche Norm nur für eine Person, etwa einen ganz speziellen moralischen Skeptiker, rechtfertigen muss. Der Anspruch einer allgemeinen Theorie zur Moralbegründung ist aber höher: Eine solche Theorie fragt, ob man die Normen für die gesamte moralische Gemeinschaft rechtfertigen kann. Was man darunter verstehen kann, will ich mit ei-
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nem Rückgriff auf Theorien über öffentliche Rechtfertigung („public justification"), analysieren. Später werde ich zeigen, dass IMK als Argument zur öffentlichen Rechtfertigung moralischer Normen geeignet ist. Rechtfertigung gegenüber jedem Einzelnen Zunächst gilt es zu klären, wer der Adressat eines solchen Rechtfertigungsarguments ist. Auf den ersten Blick könnte man meinen, die Rechtfertigung sei an die Gesellschaft als Ganze gerichtet. Damit eine moralische Norm gegenüber der ganzen Gesellschaft gerechtfertigt ist, müsste die Gesellschaft eine Norm für die Akzeptanz solcher Normen akzeptieren und überzeugt sein, dass diese Metanorm die Akzeptanz der fraglichen moralischen Norm vorschreibt. Sowohl die Akzeptanz einer Norm als auch eine Überzeugung sind aber mentale Zustände. Nur Individuen kommen als Träger oder Inhaber dieser Zustände in Frage. Deswegen beginge man einen Kategorienfehler, würde man sie einer Gesellschaft als Ganzer zuschreiben. Es ist also gar nicht sinnvoll zu sagen, eine moralische Norm sei einer Gesellschaft als Ganzer gegenüber gerechtfertigt.11 Da man moralische Normen also nur gegenüber Individuen rechtfertigen kann, sollte man Rechtfertigung gegenüber einer Gesellschaft als Rechtfertigung gegenüber jedem einzelnen Mitglied einer Gesellschaft verstehen. Mit diesem Thema haben sich, meist im Kontext der politischen Philosphie, Theorien zur öffentlichen Rechtfertigung auseinandergesetzt. D'Agostino charakterisiert die grundlegende Idee wie folgt: „The concept of public justification is best expressed in this way: No regime is legitimate unless it is reasonable from every point of view." (D'Agostino 1996: 30) Obwohl die meisten Autoren diese These akzeptieren würden, besteht Uneinigkeit über ihre genaue Interpretation. Im Folgenden werde ich zwei für die Moralphilosophie wichtige Interpretationsansätze vorstellen. Dabei gehe ich nach einer Unterscheidung vor, die Nagel zwar auch für die Rechtfertigung staatlicher Institutionen macht,
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die man aber genauso im Fall der Rechtfertigung moralischer Normen verwenden kann: Defenses of political legitimacy are of two kinds: those which discover a possible convergence of rational support for certain institutions form the separate motivational standpoints of distinct individuals; and those which seek a common standpoint that everyone can occupy, which guarantees agreement on what is acceptable. (Nagel 1987: 218) Theorien der zweiten Gruppe („common standpoint" - Theorien) fordern, dass die öffentliche Rechtfertigung moralischer Normen nur an Gründe appellieren darf, die für jedes Mitglied der Adressaten-Gemeinschaft Gründe sind. Ist die Rechtfertigung erfolgreich, dann akzeptieren die Mitglieder der Gemeinschaft die Norm aus den selben Gründen. Oft wird eine solche Rechtfertigungspraxis als konsensuell bezeichnet (so D'Agostino 1996: 30). Die Norm ist diesem Ansatz zu Folge von jedem Standpunkt aus gerechtfertigt, weil jeder den selben Standpunkt einnimmt, wenn er über moralische Normen nachdenkt. Habermas ist ein Vertreter dieses Ansatzes. Er argumentiert, dass sich Menschen, die über moralische Frage streiten, unvermeidlich in eine Position begeben, in der sie ihre Gründe teilen: Sie diskutieren in einer (annähernd) idealen Diskurssituation, in der sie die Gründe anderer wie ihre eigenen Gründe behandeln.12 Alle Teilnehmer einer solchen Diskussion sind für den gleichen Pool geteilter Gründe empfänglich; was einem von ihnen gegenüber gerechtfertigt ist, ist deswegen allen gegenüber gerechtfertigt.13 Ohne weiteres ist vor dem Hintergrund, den ich bisher entwickelt habe, allerdings nicht klar, warum moralische Rechtfertigung anders als andere Formen der Rechtfertigung so funktionieren sollte. Der Habermassche Ansatz konfligiert nämlich mit der Rechtfertigungstheorie, die ich oben entwickelt habe, da er behauptet, dass in bestimmten Kontexten die allgemeine Aktorrelativität, für die ich plädiert habe (Abschnitt 4.2.1, S. 99), aufgehoben ist. Ein solcher Ansatz ist aus meiner Sicht also auf weitere
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starke Argurnente angewiesen, die ihn plausibilisieren. Ich möchte kurz skizzieren, welchen Problemen man dabei gegenübersteht. Habermas geht davon aus, dass wir kontingenterweise so sind, dass wir moralische Normen in einem gewalt- und herrschaftsfreien Diskurs begründen wollen.14 Dieser Beobachtung stimme ich als soziologischer Einsicht bedingt zu, insofern sie die Teilnehmer einer bestimmten, vielleicht brüchigen, moralischen Praxis beschreibt, die durch die Aufklärung und kantisches Gedankengut geprägt ist. Ein konsensueller Begründungsdiskurs ist Teil dieser moralischen Praxis, und es ist verständlich, wenn er auch nach dem Zerbrechen geteilter moralischer Überzeugungen weiter besteht und im Sinne der Diskursethik produktiv ist. Damit beruht der Habermassche Begründungsdiskurs auf moralischen Grundannahmen und dient zur internen Rechtfertigung (siehe Abschnitt 4.3.1). Aber es gilt nicht im Allgemeinen, dass jede Art von Rechtfertigung einer Gruppe gegenüber nach den Regeln dieser speziellen moralischen Praxis erfolgen sollte. Wir können, das zeigt unter anderem Brandom in seiner Kritik an Habermas, durchaus eine Praxis rationaler Argumentation und kooperativer Zusammenarbeit haben, in der wir anderen Gründe mitteilen und unser Verhalten nachvollziehbar machen, ohne dass wir bei unseren eigenen Entscheidungen alle Gründe der anderen berücksichtigen müssen.15 Die Konvergenz-Theorien der öffentlichen Rechtfertigung hingegen verlangen nicht, dass die Individuen ihre persönlichen Standpunkte aufgeben. Gerechtfertigt ist ihnen zufolge eine moralische Norm genau dann, wenn jedes Mitglied der Gemeinschaft einen Grund hat, sie zu akzeptieren. Dabei kann es sein, dass jedes der Mitglieder einen anderen Grund hat. Nagel schreibt dazu: A convergence theory may begin from motives that differ widely from person to person, or it may begin from a single type of motive, like self-interest, which differs from person to person only because it is self-referential. In either case, the difference of starting points means that the motivational base itself does not guarantee that
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there is a social result which everyone will find desirable. (Nagel 1987: 218)
Wie kann es sein, dass trotzdem eine Regel jedem Mitglied einer Gemeinschaft gegenüber gerechtfertigt werden kann? Am Beispiel der Norm der Religionsfreiheit kann man das gut illustrieren. Anhänger jeder Religion möchten diese praktizieren; es liegt ihnen aber wenig daran, dass andere ihre jeweilige Religion ausüben können. Atheisten haben wahrscheinlich gar kein Interesse daran, dass irgendjemand - sie eingeschlossen - eine Religion ausüben darf, wohl aber wünschen sie gesellschaftlichen Frieden. Anhänger der Religion A werden der Norm der Religionsfreiheit deswegen zustimmen, weil sie die Chance haben, A auszuüben, Anhänger der Religion B, weil sie dann B ausüben können, Atheisten, weil sie denken, dass sie mit A- und B-Anhängern unter dieser Regel so am friedlichsten zusammenleben können. Einen von allen geteilten Grund für allgemeine Religionsfreiheit gibt es aber nicht.16 Nagel sieht sehr genau, dass es nicht notwendigerweise eine Norm gibt, auf die die Interessen der einzelnen Mitglieder der Gesellschaft konvergieren. Es könnte sein, dass einige der religiösen Menschen Fundamentalisten in dem Sinne sind, dass es aus ihrer Sicht sehr schlecht wäre, wenn Menschen nach anderen religiösen Vorstellungen lebten. Wenn die fundamentalistische Gruppe sehr groß ist und Macht in der Gesellschaft hat, dann kann es gut sein, dass ihre Anhänger keinen Grund sehen, die Norm der Religionsfreiheit zu akzeptieren. Dass eine Einigung überhaupt möglich ist, ist also kontingent - und gerade im Fall der Religionsfreiheit kann es sehr lange dauern, sie zu finden. Konvergenz-Theorien machen weniger starke Annahmen über die Arten von Gründen, die die Mitglieder der AdressatenGemeinschaft akzeptieren müssen. Sie funktionieren mit aktorrelativen Gründen und passen deswegen gut in die bisher entwickelte allgemeine Theorie der Rechtfertigung.
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Unabhängig davon, ob man eine Rechtfertigung auf Konsens- oder Konvergenzbasis anstrebt, kann man an Argumente der öffentlichen Rechtfertigung bestimmte allgemeine Anforderungen stellen. Zugänglichkeit Will man eine Norm vor einer heterogenen Gruppe rechtfertigen, sollte das vorgebrachte Argument allen Mitgliedern der Gruppe weitgehend verständlich oder zugänglich sein. Rawls zum Beispiel fordert, dass man nur Methoden der Argumentation verwenden sollte, die andere nachvollziehen können; insbesondere fallen darunter „commonsense reasoning" und die allgemein akzeptierten Ergebnisse der Wissenschaft (Rawls 1993: 76, 162f., 229). Macedo (1991: 50) sagt von öffentlicher Rechtfertigung: „it does not aim to identify what are simply the best reasons, where best is a function of only the quality of the reasons as reasons leaving aside the constraints of wide accessibility". Die Forderung nach Zugänglichkeit ergibt sich daraus, dass öffentliche Rechtfertigung Rechtfertigung gegenüber jedem einzelnen Mitglied der Gemeinschaft ist. Ein Rechtfertigungsargument muss ja jedem zeigen, dass er Gründe hat, die fragliche Überzeugung, Norm oder Sanktion zu akzeptieren. Das kann aber nur gelingen, wenn jeder das Argument auch versteht und die Prämissen akzeptiert. Vertreter der Zugänglichkeitsforderung sehen üblicherweise als wichtigste praktische Implikation dieser These, dass öffentliche Rechtfertigung keine allzu komplizierten Argumente enthalten, sich also auf eine minimale „theory of reason" (Gaus 1996: 132) stützen sollte. Ist das nun in dem Sinn zu verstehen, dass öffentliche Rechtfertigung auf den Ableitungsregeln und Überzeugungen basieren müsse, die die Adressaten im Moment wirklich haben? Dabei wäre, wie Gaus betont, nicht ausgeschlossen, dass diese Prämissen zwar weithin akzeptiert, aber zum Beispiel grundlegend falsch, inkohärent oder widersprüchlich wären (vgl. Gaus 1996: 132ff.). Ein vermeintliches öffentliches Rechtfertigungsargument, das auf solchen fehlerhaften Annahmen aufbaut, könnte sicher nicht dau-
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erhaft überzeugen: Die Normen, die es rechtfertigt, würden sich in der Praxis mit großer Sicherheit als untauglich entpuppen. Zudem ist es wahrscheinlich, dass auch die falschen Prämissen früher oder später entlarvt werden. Es kann also immer nur höchstens prima facie eine Rechtfertigung liefern. Ich schlage deswegen in Anlehnung an Gaus vor, einerseits von der öffentlichen Rechtfertigung zu verlangen, dass sie den Adressaten durch Verständlichkeit entgegenkommen muss, ihr aber andererseits zu gestatten, die Überzeugungen der Adressaten durch Bildung oder Aufklärung zu entwickeln oder kohärent zu machen, also im Sinne der offenen Rechtfertigung zu argumentieren. Zur öffentlichen Rechtfertigung moralischer Normen können also auch Aufklärungsarbeit und Bildung gehören. Zum Beispiel muss man in vielen Bereichen der angewandten Ethik den Adressaten die Sachlage erklären und sie auf Zusammenhänge hinweisen, die ihnen nicht bewusst sind. In der Bio- oder Medizinethik muss man zum Beispiel klären, was man unter Präimplantationsdiagnostik versteht, und wenn es um Gerechtigkeitsfragen geht, sollte man darauf hinweisen, wie Verteilung und Produktion von Gütern zusammenhängen. Dazu kommt, dass viele Menschen einige moralische Haltungen aus Gewohnheit vertreten, obwohl diese mit ihren übrigen Überzeugungen oder Haltungen nicht mehr zusammenpassen. Auch auf solche Widersprüche hinzuweisen und zu motivieren, sie auszuräumen, ist im Rahmen der offenen Rechtfertigung möglich.
Ausschluss partikularer weltanschaulicher
Argumente
Es ist eine Folge der allgemeinen Zugänglichkeitsforderung, dass Argumente, die auf partikularen weltanschaulichen Prämissen basieren, nicht zur öffentlichen Rechtfertigung geeignet sind. Dazu gehören zum Beispiel Begründungen auf der Basis bestimmter religiöser Überzeugungen, die nur ein Teil der Adressaten akzeptiert. Aber auch weiter nicht begründete konventionelle Ansichten über ein gutes Leben, etwa ein Ideal der Familie, die nicht allgemein geteilt sind, müssen als Prämissen ausgeschlossenen werden. Denn
Rechtfertigung gegenüber anderen
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diese weltanschaulichen Argumente liefern nicht für alle Mitglieder der Gemeinschaft Gründe. Autorität Eng mit der Forderung nach Zugänglichkeit verknüpft ist die Präge, welche Art von Autorität der Rechtfertigende im Rahmen der öffentlichen Rechtfertigung beanspruchen kann. Ideal wäre, wie bei allen Arten der Rechtfertigung, sokratischer Einfluss. Zumindest in Grundlagenfragen ist es auch im Interesse der Stabilität der gerechtfertigten sozialen Praxis sicher wünschenswert, sokratischen Einfluss anzustreben - denn nur dann hat jedes Mitglied der Gemeinschaft die Möglichkeit, gegenüber sich und auch anderen ein vollständiges Argument zur Rechtfertigung der gesellschaftlichen Grundstruktur vorzubringen. Gerade bei Fragen, die viel Wissen erfordern, ist das nicht oder nur um den Preis sehr hoher Kosten möglich. Sobald man, wie Rawls das plausiblerweise tut, die unkontroversen Erkenntnisse der Wissenschaft als allgemeine Basis für öffentliche Rechtfertigung akzeptiert, hat man die kontextuelle Autorität von Experten anerkannt. Hoher Standard der Beweiskraft Das Wissen und die intellektuelle Kapazität auch der vernünftigsten und gebildetsten Menschen sind beschränkt. Gerade wenn es um hochkomplexe Fragen der Gestaltung einer Gesellschaft geht, kann es verschiedene vernünftige Wege geben, Wahrscheinlichkeiten einzuschätzen und Argumente zu gewichten. Viele der Begriffe, die wir dabei verwenden, sind nicht ganz scharf umrissen, so dass immer individuelle Interpretation und daher divergente Ergebnisse möglich sind. Rawls weist auf diese Probleme unter dem Schlagwort burdens of reason (Rawls 1989: 475-478) hin. Sie führen zu Divergenzen zwischen vernünftigen Mitgliedern einer Gesellschaft und haben auch zur Folge, dass viele Menschen im Laufe der Zeit in vollkommen vernünftiger Weise ihre Meinungen und Haltungen ändern. Die Argumente, die gegenüber allen Mitgliedern einer moralischen Gemeinschaft schlüssig sein sollen, müssen deswegen sehr
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Rechtfertigung moralischer Normen
stabil und aus allen vernünftigerweise möglichen Blickwinkeln stark sein. Ansonsten wird ein solches Argument nie nachhaltig nahezu alle Mitglieder einer Gemeinschaft überzeugen. Ein Argument, das in einer Diskussion zwischen zwei Personen eine gelungene Rechtfertigung darstellt, kann deswegen als Argument der öffentlichen Rechtfertigung eventuell zu schwach sein.
4.2.4 Warum öffentliche Rechtfertigung? Warum ist öffentliche Rechtfertigung wichtig? Diese Frage hat strukturelle Ähnlichkeit mit der Frage, warum IMK Einstimmigkeit beim Einschalten der Sanktionsmaschine verlangt (vgl. Abschnitt 3.3.1). Später werde ich zeigen, dass IMK wegen dieser Einstimmigkeitsforderung als Argument der öffentlichen Rechtfertigung gelten kann (Abschnitt 4.4.1, S. 122). In der Literatur findet man verschiedene Argumente, von denen sich viele hauptsächlich auf die Rechtfertigung politischer Normen beziehen (vgl. D'Agostino 1996: 26-30). Für die Moralphilosophie kann man sie in zwei große Gruppen einteilen: Die Argumente der einen Gruppe berufen sich auf moralische Gründe oder Motive, während sich die der anderen Gruppe auf außermoralische Motive stützen. Aus einer bereits moralisch geprägten Sicht kann man argumentieren, öffentliche Rechtfertigung drücke unsere moralische Persönlichkeit aus. Indem wir unsere Handlungen und die Normen, die wir akzeptieren, vor den anderen Mitgliedern unserer moralischen Gemeinschaft rechtfertigten, zeigten wir, dass wir uns als Mitglieder einer Gemeinschaft von Freien und Gleichen verstünden (vgl. Rawls (1997)). Mit einem leicht anderen Akzent kann man sagen, dass der Wunsch nach öffentlicher Rechtfertigbarkeit unseres Verhaltens ausdrücke, dass wir die Autonomie der Anderen achteten. Drittens besteht die Möglichkeit, es direkt als moralisches Gebot anzusehen, dass man nur in einer Weise handeln solle, die man vor der moralischen Gemeinschaft öffentlich rechtfertigen könne. Eine solche Norm ist freilich nicht selbst-
Rechtfertigung gegenüber anderen
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evident, aber innerhalb einer moralischen Praxis kann sie durchaus einen hinreichenden Handlungsgrund liefern. In unterschiedlichen moralischen Gemeinschaften sind diese (internen) Motive und möglichen Begründungen für öffentliche Rechtfertigung verschieden. Möchte man auf moralische Prämissen verzichten, kann man erstens argumentieren, das Bedürfnis nach öffentlicher Rechtfertigung unserer Handlungen sei Ausdruck eines nicht moralischen aber wesentlichen Teils unserer Persönlichkeit, etwa unserer Identität als rationale Wesen. Die Grundidee der Diskursethik geht in diese Richtung: Als unvermeidbar diskursive Wesen seien wir immer schon auf die Normen des gleichberechtigten und zwanglosen Diskurses verpflichtet. Naturgemäß handelten wir diskursiv, also so, dass wir unsere Handlungen in einem idealen öffentlichen Diskurs rechtfertigen könnten, wenn wir davon abwichen, sei das nur eine parasitäre Form. Moralische Normen, die uns ganz entsprächen, müssten dementsprechend immer in einem idealen Diskurs rechtfertigbar sein und deswegen empfehle es sich, sie in einem realen, dem idealen möglichst ähnlichen, Diskurs zu entwickeln und zu rechtfertigen17 Diese beiden Argumente tragen, wenn sie wirklich frei von moralischen Prämissen sein wollen, eine schwere Beweislast. Oben habe ich argumentiert, dass Habermas' Ansatz nur plausibel ist, wenn man ihn in einer schwächeren Version liest und das Bedürfnis nach diskursiver Rechtfertigung doch als moralisches Bedürfnis auffasst. Dann liefert er freilich auch keine nicht-moralische Begründung für öffentliche Rechtfertigung mehr.18 Alternativ dazu kann man argumentieren, dass öffentliche Rechtfertigung für moralische Normen aus Klugheitsgründen geboten ist. D'Agostino formuliert die zentrale Idee so: „Unless social arrangements are reasonable for all, it is possible that none will enjoy their benefits." (D'Agostino 1996: 27) Nur öffentlich rechtfertigbare Normen können mit Sicherheit garantieren, so die Idee, dass die Normen überhaupt vorteilhaft sind, da die Kooperation aller erforderlich ist - auch die von Natur aus besser
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Rechtfertigung moralischer Normen
gestellten, stärkeren oder mächtigeren Gruppen in einer Gemeinschaft könnten am meisten von einer Praxis profitieren, die für die schwächeren Gruppen attraktiv ist und sie somit zur gesellschaftlichen Zusammenarbeit motiviert. Ein analoges Argument habe ich im Rahmen der Diskussion um Einstimmigkeit im kontraktualistischen Gedankenexperiment bereits ausgeführt (Abschnitt 4.4.1). Zu bemerken bleibt, dass Argumente vom moralischen und vom außermoralischen Standpunkt sich nicht widersprechen müssen. Man kann zum Beispiel vom außer moralischen Standpunkt (mit einem Klugheitsargument) zeigen, dass eine von diesem externen Standpunkt aus durchgeführte Rechtfertigung öffentlich sein muss und vom innermoralischen Standpunkt aus, dass eine interne Rechtfertigung öffentlich sein muss (vgl. Abschnitt 4.3).
4.3 Interne und archimedische Rechtfertigung 4.3.1 Interne Rechtfertigung Man kann sich in Auseinandersetzungen über Moral zwei Arten von Diskussionspartnern vorstellen.19 Diskussionspartner der ersten Art akzeptieren bestimmte moralische Normen. Sie können für neue Probleme Normen vorschlagen, die ihrer Ansicht nach aus den bestehenden Normen folgen. Sie können auch bezweifeln, dass manche der in ihrer Gesellschaft akzeptierten Normen die moralisch richtigen Normen sind. Diese Positionen setzen substantielle moralische Überzeugungen voraus. Will man moralische Urteile einem Diskussionspartner gegenüber rechtfertigen, dann kann man auf die moralischen Überzeugungen zurückgreifen, die er besitzt. Auf diesem Weg lässt sich eventuell zeigen, dass seine Zweifel nicht mit seinen sonstigen Überzeugungen und seinen moralischen Einstellungen übereinstimmen.
Interne und archimedische Rechtfertigung
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In dieser Diskussion versuchen beide Diskussionspartner, ihre moralischen Überzeugungen möglichst kohärent zu machen. Deskriptive Überzeugungen fungieren dabei als Randbedingungen; ein Beispiel ist die Berücksichtigung medizinischen Wissens bei der Rechtfertigung neuer Normen der Bio- und Medizinethik. Ich möchte ein Argument dieser Art interne Rechtfertigung nennen (vgl. Dworkin 1996: 90). Auch im Rahmen der internen Rechtfertigung können einige der anfangs akzeptierten Normen revidiert werden. Interne Rechtfertigung findet also nicht in einem gegebenen Rahmen fester Normen statt, obwohl sie versucht, möglichst viele der Anfangsüberzeugungen zu erhalten. Rawls' Methode des Überlegungsgleichgewichts (Rawls 1971: 38f., 68-71), die darauf zielt, vortheoretische Intuitionen und theoretische Reflexion aufeinander abzustimmen, ist ein typisches Verfahren der internen Rechtfertigung. Über die Zeit hinweg führt eine fortgesetzte Praxis interner Rechtfertigung dazu, dass die Normen einer moralischen Gemeinschaft evoluieren. Sie passen sich immer wieder neuen Rahmenbedingungen an. In aktuellen Diskussionen über angewandte Ethik versuchen die Teilnehmer typischerweise ihre Positionen intern zu rechtfertigen. Sie versuchen zu zeigen, dass ein neues Problem so gesehen werden kann, dass es unter bereits akzeptierte Normen fällt. Dazu ist es nötig, die Beschreibung der Situation zu präzisieren und auf relevante Merkmale hinzuweisen. Zudem muss man erklären, dass diese Sichtweise mit den bisherigen moralischen Überzeugungen verträglich ist oder keine allzu großen Anpassungen erfordert. Eine typische Methode der internen Rechtfertigung ist das Gedankenexperiment, mit dem man Intuitionen testet. Am Beispiel der bioethischen Diskussion über das Klonen für medizinische Zwecke wird das deutlich. Hier findet man alle genannten Elemente: Zunächst ist eine genaue Beschreibung der Situation nötig, bei der man zu Beispiel Fragen danach klärt, was genau bei einem bestimmten Verfahren geschieht, welche Eigenschaften ein Embryo im Frühstadium hat etc. Dann versucht man, den so präzisierten Sachverhalt in bestehende prima facie plausible
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Rechtfertigung moralischer Normen
Moralsysteme einzuordnen, etwa in eine christliche, eine utilitaristische oder eine liberale Moral. Man wird dabei feststellen, dass die neue Situation auch erfordert, gewöhnliche Begriffe zu verfeinern: Zum Beispiel kann es nötig sein, den Begriff der Person genauer zu fassen oder präziser abzugrenzen. Zugleich muss man die Ergebnisse dieser abstrakten Überlegung mit vortheoretischen Intuitionen abstimmen; dabei kann sich herausstellen, dass ein bestimmter theoretischer Rahmen, etwa der Utilitarismus, zu unhaltbaren Ergebnissen führt und deswegen nicht weiter verwendet werden sollte. Nach und nach kann man so ein Ergebnis finden, das sowohl den Tatsachen als auch den konkreten wie abstrakteren Intuitionen oder moralischen Haltungen entspricht. Die Kohärenz der akzeptierten Normen und Einzelfallbewertungen, auf die interne Rechtfertigung zielt, ist unabdingbar für eine rationale moralische Entscheidung. Natürlich gehört zum moralischen Überlegen immer das Abwägen zwischen gegensätzlichen, aber legitimen moralischen Ansprüchen und Verpflichtungen, etwa zwischen der Pflicht, einer Person in Lebensgefahr zu helfen und dem Recht auf eigene körperliche Unversehrtheit. Wichtig ist aber, dass eine Abwägung überhaupt möglich ist und dass es ein Verfahren gibt, die verschiedenen Ansprüche jeweils so abzugrenzen, dass sie mit den anderen Ansprüchen und Verpflichtungen verträglich sind. Genau das leistet die interne Rechtfertigung. Sobald es unvermittelbare Widersprüche innerhalb eines Systems akzeptierter moralischer Normen gibt, können diese keine Handlungen mehr leiten. Eine funktionierende interne Rechtfertigungspraxis ist deswegen notwendige Bedingung dafür, dass moralische Normen Handlungen und Interaktionen strukturieren und lenken.
4.3.2 Archimedische Rechtfertigung Man kann sich eine zweite, radikalere Art von Diskussionspartner vorstellen. Dieser akzeptiert keine moralischen Prämissen, die im diskutierten Fall einschlägig wären. Diese Haltung kann er aus folgenden Gründen einnehmen:
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(i) Er glaubt, dass es in der moralischen Praxis, an der er teilnimmt, keine moralischen Normen für den fraglichen Fall gibt und dass solche Normen auch nicht aus bestehenden Normen abgeleitet werden können. (ii) Er bezweifelt, dass die moralischen Normen, die er üblicherweise befolgt, sich nicht nur gegenseitig stützen, sondern auch einer Überprüfung von außen standhalten. Er könnte zum Beispiel den Verdacht haben, dass die Normen seiner moralischen Gemeinschaft veraltet sind. Oder er fragt, wie der in Kapitel l eingeführt Skeptiker, mit welchem Recht er dem Zwang der in sich stimmigen moralischen Praxis unterworfen ist. (iii) Er steht vielleicht ohnehin außerhalb der moralischen Praxis, die Gegenstand der Diskussion ist, vielleicht weil er Mitglied einer anderen moralischen Gemeinschaft ist. Dieser Diskussionspartner distanziert sich also zumindest zum Zweck des Arguments zunächst von allen moralischen Normen, die entweder selbst auf den diskutierten Fall anwendbar sind oder einschlägige Normen implizieren könnten. Er blickt damit von außen auf den fraglichen Bereich der Moral. Eine solche Person will ich archimedischen Skeptiker nennen (vgl. Dworkin 1996: 92ff.). Wie kann man einem archimedischen Skeptiker antworten? Aus obigen Erläuterungen zur Rechtfertigung ergibt sich, dass man für ihn ausschlaggebende Gründe finden muss, die fraglichen moralischen Normen und Sanktionen zu akzeptieren, die unabhängig von moralischen Voraussetzungen sind. Anders gesagt: Man muss mit dem archimedischen Skeptiker zusammen aus der moralischen Praxis heraustreten und ihm zeigen, dass es nichtmoralische Gründe für die Akzeptanz einer bestimmten Form dieser Praxis gibt. Es liegt nahe, dieses Argument auf Vorteilserwägungen zu stützen. Aber auch eine kantianische Begründung, die das Selbstverständnis eines Vernunftwesens als Prämisse annimmt, eignet sich zum Beispiel als Argument gegen einen solchen Skeptiker.
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Rechtfertigung moralischer Normen
Archimedische Rechtfertigung ist für die moralische Alltagspraxis nicht zentral. Ich kann mir aber drei Fälle vorstellen, in denen man sie benötigt: (i) In einigen Fällen ist interne Rechtfertigung nicht mehr produktiv genug, um auf neue Herausforderungen zu reagieren. Es kann sein, dass die Fragen der Bioethik intern gelöst werden können, etwa durch Analogieschlüsse aus bestehenden Regeln oder durch deren langsame Evolution. Wenn das aber zu keinem Ergebnis führt, ist man auf ein Verfahren angewiesen, das ganz neue Regeln produziert. Diese neuen Regeln können nicht intern gerechtfertigt werden, da sie weitgehend unabhängig von dem alten Regelsystem sind; wenn sie oder auch ihr Gegenteil sich aus den alten Regeln hätten ableiten lassen, dann hätte man nicht auf ein neues Verfahren zur Regelfindung zurückgreifen müssen. Daher sind die neuen Regeln auf archimedische Rechtfertigung angewiesen.20 (ii) Man muss sich mit radikalen Kritikern der aktuellen Gesellschaft und Kultur auseinandersetzen oder man möchte selbst solche Kritik üben. Hier ist man direkt darauf angewiesen, Gründe für oder gegen die gegenwärtig akzeptierten moralischen Regeln zu geben, die unabhängig von allen moralischen Prämissen sind. (iii) Man muss mit Menschen umgehen, deren Moralvorstellungen von der eigenen moralischen Einstellung sehr stark abweichen. Unter Umständen gibt es in diesem Fall keinen Ansatzpunkt für eine gemeinsame interne Rechtfertigungspraxis, in der man sich auf Normen einigen kann. Hier kann ein archimedisches Rechtfertigungsargument dazu dienen, Normen zu finden, die eine Basis für Kooperation darstellen. Ausführlich beschäftige ich mich in Abschnitt 7.2.3 mit diesem Thema. Lokale vs. globale archimedische Rechtfertigung Der paradigmatische moralische Skeptiker, den ich in Kapitel l ein-
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geführt habe, verlangt nach einer globalen archimedischen Rechtfertigung der moralischen Praxis. Ihm gegenüber muss man das gesamte System der moralischen Regeln und Sanktionen mit nichtmoralischen Gründen rechtfertigen. Es ist aber, wie zum Beispiel in Fall (i), durchaus möglich, nur einzelne Teile einer moralischen Praxis, also nur Regeln und Sanktionen für einen bestimmten Bereich, archimedisch zu hinterfragen und zu diskutieren. Allerdings muss man man dabei Folgendes beachten: Die diskutierten Normen und Sanktionen haben vielleicht keinen moralischen Zusammenhang mit den bestehenden Normen; Regeln für bioethische Fragen lassen sich nach obiger Annahme ja gerade nicht aus den bestehenden moralischen Regeln ableiten. Aber aus archimedischer Sicht können sie trotzdem in funktionalen Beziehungen zu anderen Normen und Sanktionsmechanismen stehen - etwa weil es nur beschränkte Ressourcen gibt, die sehr aufwändige Sanktionsmechanismen in allen Bereichen verbieten, obwohl diese jeweils für sich betrachtet wünschenswert wären. Folglich muss ein archimedisches Argument die diskutierten Regeln und Sanktionen im Kontext der gesamten moralischen Praxis sehen. Nur wenn dieses Paket archimedisch gerechtfertigt werden kann, ist auch die einzelne fragliche Norm oder Sanktion rechtfertigbar. Betonen möchte ich, dass die nicht angezweifelten Normen und Sanktionen trotzdem keine moralischen Gründe zu dem archimedischen Argument beisteuern. Auch sie betrachtet man im Rahmen des archimedischen Arguments nur von außen - sonst würde man dem archimedischen Skeptiker nicht gerecht werden.21
4.4 Kontraktualismus als Methode der Rechtfertigung Nun möchte ich zeigen, dass der moralische Kontraktualismus als Argument zur Rechtfertigung moralischer Regeln und Sanktionen geeignet ist.
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Rechtfertigung moralischer Normen
4.4.1 IMK und öffentliche Rechtfertigung Wie ordnet sich der moralische Kontraktualismus in die Typologie von Rechtfertigungsargumenten ein, die ich oben aufgestellt habe, und erfüllt er die Voraussetzungen, um als Argument zur öffentlichen Rechtfertigung von Moral erfolgreich zu sein? Rechtfertigung einer moralischen Praxis Der paradigmatische Skeptiker, gegen den der Kontraktualist argumentiert, fragt, ob die Sanktionen, der soziale Druck und sein gelegentlich auftretendes schlechtes Gewissen im Allgemeinen gerechtfertigt sind (vgl. Kapitel 1). Er fragt nicht primär, ob einzelne Instanzen, also etwa die Verachtung, mit der ihn jemand für eine Lüge straft, moralisch oder im Rahmen der moralischen Praxis gerechtfertigt sind. Der Skeptiker möchte vielmehr wissen, ob die moralische Praxis selbst aus seiner Sicht gerechtfertigt ist. Zunächst muss ich einen kategorialen Punkt klären. Man kann im strengen Sinn nicht sagen, man habe einen Grund für eine moralische Praxis. Diese gehört also nicht zu den Dingen, die man direkt rechtfertigen kann. Was man hingegen rechtfertigen kann, ist die Akzeptanz einer moralischen Praxis. Wer eine Praxis akzeptiert, ist geneigt, für ihre Etablierung und ihren Erhalt einzutreten und wird deswegen auch nichts unternehmen, um sie zu zerstören. Er akzeptiert ihre Regeln, das heißt, er wird sie in gewaltfreien Diskussionen als richtig verteidigen, ist ceteris paribus geneigt, ihnen zu folgen und Verstöße gegen sie zu ahnden. Zudem ist er emotional entsprechend disponiert; er wird sich zum Beispiel schuldig fühlen, wenn er die Regeln verletzt hat (vgl. auch Abschnitt 2.2.1, S. 35). Zu den Regeln der Praxis gehören auch die Regeln des Sanktionierens. Wer die Praxis akzeptiert, sieht es folglich als richtig an, wenn andere ihn für die Missachtung moralischer Regeln bestrafen und er sich schuldig fühlt. Der Skeptiker, der die moralische Praxis in Frage stellt, bezweifelt, dass er Gründe für diesen komplexen Zustand der Akzeptanz hat. Er konzentriert sich dabei besonders auf die Regeln
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des Sanktionierens, denn die Auswirkungen der Sanktionen sind der Ausgangspunkt für seinen Zweifel. Adressaten der Rechtfertigung Wie alle Rechtfertigungsargumente richtet sich der interessenbasierte moralische Kontraktualismus nur an vernünftige Personen, also Personen, die empfänglich für Gründe sind. Darüber hinaus stellt er aber nur geringe Anforderungen, denn es genügt, wenn die Adressaten auf Gründe ansprechen, die auf Eigeninteresse im weiten Sinn basieren. Das garantiert eine weite Zugänglichkeit des Arguments. Andere Rechtfertigungsargumente sind deutlich anspruchsvoller. Die Diskursethik zum Beispiel setzt voraus, dass die Adressaten die Regeln des gleichberechtigten Diskurses akzeptieren und moralische Normen in einem solchen Diskurs finden wollen.22 Scanions Vertragstheorie basiert auf der Prämisse, dass man einen motivierenden Grund dafür sieht, nur so zu handeln, dass niemand die Regel, der man folgt, vernünftigerweise zurückweisen könnte.23 Theorien, die Moral religiös begründen wollen, funktionieren nur, wenn die Adressaten gläubig sind. IMK basiert allerdings auf Gründen, die Menschen nur kontingenterweise haben. Ich habe in Kapitel 324 darauf hingewiesen, dass Personen mit bestimmten abhängigen Präferenzen eventuell kein Interesse an einer moralischen Praxis haben. Ihnen gegenüber kann IMK keine erfolgreiche Rechtfertigung liefern. Allerdings denke ich, dass sich mit diesem Problem letztlich alle Rechtfertigungsargumente abfinden müssen. Da Rechtfertigung wesentlich aktor- bzw. adressatenrelativ ist, kann es immer vorkommen, dass der Adressat eines Arguments bestimmte Eigenschaften hat, die ihn gegen dieses Argument immunisieren. Dieses Ergebnis ist zunächst beunruhigend, aber IMK hat eine bescheidene und doch effektive Möglichkeit, mit ihm umzugehen. IMK basiert auf Gründen, die kontingenterweise fast alle Menschen haben: Gründe, die auf nicht-böswilligem Eigeninteresse beruhen. Ich habe im erwähnten Abschnitt 3.1.2 dafür argumentiert, dass
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Rechtfertigung moralischer Normen
auch das Vorhandensein abhängiger böswilliger Präferenzen IMK nur in Ausnahmefällen scheitern lässt.25 Interne oder archimedische Rechtfertigung IMK habe ich als Antwort auf einen Skeptiker entwickelt, der moralische Werte nicht akzeptiert. Dementsprechend handelt es sich um ein archimedisches Rechtfertigungsargument. Es setzt nicht voraus, dass die Adressaten moralische Gründe irgendeiner Art haben. Man kann sich gut vorstellen, dass IMK in einem der typischen Fälle archimedischer Rechtfertigung Anwendung findet: Wenn man mit Menschen diskutiert, deren Moral Vorstellungen von den eigenen sehr stark abweichen, hat man eine Chance, mit Gründen auf der Basis von Eigeninteresse eine Grundlage zu finden, um sich für gemeinsame Regeln zu entscheiden. Auch die Auseinandersetzung mit radikalen Kritikern der eigenen Gesellschaft kann der Kontraktualist von einem Standpunkt aus führen, der ganz unabhängig von der jeweiligen Gesellschaft und Kultur ist. Im Prinzip ist es auch möglich, Regeln für neue Probleme etwa in der Bioethik - zu finden, obwohl IMK hier wegen der Komplexität der Probleme auf weitere Theorien angewiesen ist. Öffentliche
Rechtfertigung
IMK rechtfertigt moralische Normen gegenüber jedem Mitglied einer Gemeinschaft. Das Argument hat den Anspruch, jedem einen Grund zu geben, die fragliche moralische Praxis zu akzeptieren. Damit qualifiziert es sich als Mittel der öffentlichen Rechtfertigung. Da die vorgebrachten Gründe auf Eigeninteresse beruhen, handelt es sich bei IMK um eine konvergenzorientierte Theorie der Rechtfertigung. Ich möchte im Folgenden darlegen, wie IMK die oben erwähnten Anforderungen an Argumente der öffentlichen Rechtfertigung erfüllt. IMK liefert ein leicht zugängliches Argument. Die Gründe aus Eigeninteresse, auf denen IMK basiert, sind jedem alltäglich vertraut. Auch die Art von Argumentation, die IMK enthält, ist
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im Prinzip den meisten Menschen geläufig. Freilich ist zum Beispiel der Teil des Arguments, der sich mit Kooperationsproblemen und Dilemmastrukturen beschäftigt, den meisten der Adressaten wahrscheinlich fremd und es wird einige Zeit dauern, bis sie sich eingedacht haben. Das ist aber kein grundlegendes Problem; mit etwas argumentativer Mühe kann man dieses Argument einem sehr weiten Kreis vermitteln. IMK basiert auf den üblichen und im Prinzip weithin akzeptierten logischen Schlussregeln. Das Gleiche gilt für die verwendeten Regeln der rationalen Entscheidung. Natürlich würden einige der Adressaten Fehler machen, sollten sie diese Regeln anwenden (vgl. Gaus 1996: 54-59), und einige der Regeln würden sie vielleicht nur mit Mühe oder gar nicht explizit akzeptieren. Allerdings ist es meines Erachtens möglich, sie mit einem Argument der offenen Rechtfertigung, das auf sokratischen Einfluss zielt, davon zu überzeugen, dass einige Grundprinzipien, die sie mit hoher Wahrscheinlichkeit akzeptieren, etwa das Prinzip: Ich möchte, dass es mir in meinem Leben möglichst gut geht, die Akzeptanz und Befolgung dieser Regeln erzwingen oder zumindest nahe legen. Macht sich der Kontraktualist auch Aufklärung in diesem Sinne zur Aufgabe, dann ist das Gesamtpaket seiner Argumente für nahezu alle Adressaten zugänglich. Oben habe ich von öffentlicher Rechtfertigung gefordert, dass sie einen hohen Standard an Beweiskraft und Schlüssigkeit erfüllen muss, um trotz der unvermeidlichen burdens of reason nachhaltig zu überzeugen. IMK kommt dieser Forderung durch eine minimalistische Argumentation entgegen. Das Argument ist kurz und einfach nachzuvollziehen, der komplexeste Teil besteht aus einem schwer angreifbaren mathematischen bzw. spieltheoretischen Argument. Offene Rechtfertigung und Autorität Hypothetische Vertragstheorien sind Theorien der offenen Rechtfertigung. In der hypothetischen Situation verfügen alle über volle Information und sind rational. Auch im schwächsten Sinn, in
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Rechtfertigung moralischer Normen
dem ich diese Forderung verstehen will, bedeutet das, dass die Versuchspersonen nicht gegen ihre eigenen logischen und epistemischen Regeln verstoßen und dass sie alle Implikationen glauben, die sich aus ihren Überzeugungen und den erhältlichen Informationen ergeben. Damit ist klar, dass die hypothetische Vertragstheorie nicht zeigt, dass ein bestimmtes System von Normen und Sanktionen auf der Basis der aktuellen Überzeugungen der Adressaten gerechtfertigt werden kann. Als Basis nimmt sie vielmehr ein idealisiertes und kohärent gemachtes System von Überzeugungen an. Schwieriger ist die Frage zu beantworten, ob IMK sich mit kontextueller Autorität zufrieden geben kann oder ob er sokratischen Einfluss anstreben sollte. Oben habe ich dafür argumentiert, dass sokratischer Einfluss im Rahmen der offenen Rechtfertigung nur dann möglich ist, wenn man den Adressaten tatsächlich dazu bringt, seine Überzeugungen und Normen auf die vorgeschlagene rationale Weise zu revidieren. Möchte der Vertragstheoretiker also sokratischen Einfluss ausüben, dann muss er seinen Adressaten davon überzeugen, das Wissen der idealisierten Versuchspersonen, etwa über praktische Rationalität und ökonomische Zusammenhänge, anzunehmen. Dann muss er ihm zeigen, dass sowohl das Argument selbst als auch alle seine Prämissen sich aus den kohärent gemachten Überzeugungen des Adressaten ergeben. Insbesondere muss der Adressat danach in der Lage sein, die zentrale These des Kontraktualimus vollständig nachzuvollziehen: Er muss einsehen, dass er in einem vormoralischen Zustand die zu rechtfertigenden Sanktionen gewählt hätte und sie deswegen jetzt nicht ablehnen kann. Der Adressat würde dann aus eigener Kraft zu der Einsicht kommen, dass er die moralische Praxis als gerechtfertigt betrachten muss. Wie bei allen Arten der Rechtfertigung ist dieses Ergebnis auch im Fall des Kontraktualismus ideal. Erreichbar ist es sicher nicht immer. Aber gerade in sehr elementaren Fragen, die die Grundordnung der moralischen Gemeinschaft betreffen, kann ein Vertragstheoretiker versuchen, seine Adressaten auf sokratischem Wege zu überzeugen. Wegen der guten Zugang-
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lichkeit des Arguments (siehe oben) kann das gelingen. Die rhetorische Form des kontraktualistischen Arguments spiegelt dieses Ziel: IMK fordert seinen Adressaten auf, das Gedankenexperiment nachzuvollziehen und dann selbst zu entscheiden, welche Sanktionen er einführen würde. Geht es allerdings darum, Normensysteme für detailliertere Fragen zu rechtfertigen, stoßen sokratische Argumente schnell an ihre Grenze. Die Beantwortung von Fragen der Bio-, Medizin- oder Wirtschaftsethik erfordert hohe Sachkenntnis. Kaum jemand hat die Ressourcen, entsprechende Kenntnisse zu erwerben und die Argumente im Detail nachzuvollziehen. In den meisten Fällen tut man deswegen gut daran, die kontextuelle Autorität von Experten anzuerkennen. IMK behält auch hier seine einfache Struktur bei. Aber die Überlegungen, die die Versuchspersonen anstellen müssen, werden erheblich komplizierter.
4.4.2 Hypothetische Entstehungsgeschichten Bisher habe ich gezeigt, dass das vertragstheoretische Argument die formalen Voraussetzungen erfüllt, um ein Argument der öffentlichen Rechtfertigung zu sein. Aber sind die substantiellen Gründe, die es gibt, wirklich gut und zwingend? In Kapitel 3 habe ich das Vorgehen der Vertragstheorie mit dem Bild des wissenschaftlichen Experiments erklärt. Im Folgenden will ich von einer anderen Charakterisierung ausgehen: Der Vertragstheoretiker erzählt eine hypothetische Entstehungsgeschichte der moralischen Praxis, indem er berichtet, dass Menschen in einem vorgestellten nicht-moralischen Zustand bestimmte moralische Sanktionen auswählen und etablieren. Die Mitglieder dieser Gemeinschaft erkennen früher oder später, so berichtet er, dass sie dauernde Konflikte und mangelnde Planungssicherheit nur aus der Welt schaffen können, wenn sie bestimmte Verhaltensregeln einführen und diese sanktionieren. Deswegen institutionalisieren sie, wenn sich die Gelegenheit bietet, solche Regeln. Das kann zum Beispiel durch Erziehung und Kultivierung morali-
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Rechtfertigung moralischer Normen
scher Gefühle geschehen. Auf diese Weise entsteht eine moralische Praxis, die der unseren sehr ähnlich ist oder ihr sogar gleicht. Was hypothetische Entstehungsgeschichten zeigen Eine hypothetische Entstehungsgeschichte ist eine Geschichte, die erklärt, wie ein tatsächlicher Zustand entstanden ist, und die eine korrekte Erklärung für diese Entstehung wäre, wenn alles, was in ihr vorkommt, richtig wäre (vgl. Nozick 1974: 7). Sie erklärt im Fall des moralischen Kontraktualismus, wie die moralische Praxis hätte entstehen können. Von einer realen Entstehungsgeschichte kann sie sich in verschiedener Hinsicht unterscheiden. Entweder geht sie von falschen Annahmen aus oder sie verwendet falsche Gesetze. Nozick spricht im ersten Fall von „fact-defective" und im zweiten von „law-defective explanations" (ebd.).26 Die Entstehungsgeschichte, die der moralische Kontraktualismus erzählt, beruht auf falschen Annahmen, da es den moralfreien Zustand und die Sanktionsmaschine in dieser Form mit großer Sicherheit nie gegeben hat. Auch die Annahme, dass die Menschen in einem vorgesellschaftlichen Zustand vollkommen rational und perfekt informiert sind, ist historisch gesehen sicher falsch. Als „law-defective" hingegen kann man die Annahme bezeichnen, dass soziale Institutionen (abgebildet durch die Sanktionsmaschine) direkt durch eine Entscheidung der Individuen eingerichtet werden können - de facto bilden sich Institutionen wohl eher in nur teilweise intentionalen Prozessen heraus. Nozick macht sich für potentielle Erklärungen stark: „A fundamental potential explanation (an explanation that would explain the whole realm under consideration were it the actual explanation) carries important explanatory illumination even if it is not the correct explanation." (Nozick 1974: 8) Allerdings argumentiert er selbst nicht weiter für diese Behauptung. Man könnte anführen, dass solche Erklärungen oft eine hohe Vorhersagekraft haben. So war etwa die Ptolemäische Astronomie in ihren Vorhersagen lange genauer als die Kopernikanische, deren Grundannahmen und Gesetze wir heute als erheblich korrekter einstufen. Die Planeten be-
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wegen sich fast so, als ob sie den Ptolemäischen Gesetzen folgten. Die potentielle Erklärung beschreibt also wahrnehmbare Phänomene annähernd genau und weist eventuell auf Zusammenhänge und Details in den empirischen Daten hin, die man zuvor so nicht wahrgenommen hat. Eine weitere Leistung könnte darin bestehen, dass eine potentielle Erklärung, wenn sie genau ausgearbeitet ist, auch offensichtlich macht, was sie nicht erklärt, und wo man deswegen eine ergänzende oder auch eine ganz neue Theorie braucht. Bei einer astronomischen Theorie können das zum Beispiel Unstimmigkeiten mit Messdaten sein, die die Richtung für weitere Forschung weisen. Wie kann man diese Einsichten für die Frage nach der rechtfertigenden Kraft hypothetischer Entstehungsgeschichten nutzbar machen? Hier hilft zunächst nicht Nozick selbst, sondern eine Idee von Bernard Williams weiter. Auch Williams (2002) sieht, dass hypothetische Entstehungsgeschichten explanatorische Kraft haben, weil sie darauf hinweisen, dass das Untersuchte eine funktionale Eigenschaft hat, die man zuvor nicht bemerkt hat: „An imaginary genealogy [...] is explanatory because it represents as functional a concept, reason, motivation, or other aspect of human thought and behaviour, where that item was perhaps not previously seen as functional" (34). Für den Fall der Moral nennt Williams Humes Argument zur Entstehung der künstlichen Tugenden als Beispiel. Hume beschreibt, wie eigeninteressierte Personen mit einem begrenzten Mitgefühl („sympathy") die Konventionen der Gerechtigkeit (zum Beispiel der Achtung von Privateigentum) herausbilden. Während dieses Prozesses ließen sie sich noch nicht von der Tugend der Gerechtigkeit leiten. Dieses Argument, so Williams, weist darauf hin, dass die Tugend der Gerechtigkeit die Funktion besitzt, die natürlichen Präferenzen der Menschen zu befriedigen. Dieser Zusammenhang war dem Adressaten von Humes Argument zuvor vielleicht nicht bewusst. Ein solches Argument liefert für sich genommen noch keine Rechtfertigung des Zustandes, dessen Entstehung beschrieben wird. Aber es kann als erklärende These in einem Rechtfertigungs-
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Rechtfertigung moralischer Normen
argument eine Rolle spielen. Es weist darauf hin, in welcher Hinsicht der moralische Zustand wünschenswert sein kann. Williams spricht davon, dass eine solche Geschichte „vindicatory" sei (Williams 2002: 36). So zeigt Humes Entstehungsgeschichte, dass die Verbreitung der Tugend der Gerechtigkeit dann wünschenswert ist, wenn man die natürlichen Präferenzen der Menschen in dem vorgesellschaftlichen Zustand, also Eigeninteresse und begrenztes Mitgefühl, teilt.27 Nozicks selbst verwendet die hypothetische Entstehungsgeschichte in einer etwas anderen Weise als rechtfertigendes Argument. Man kann sein Vorgehen in der Tradition von Lockes Vertragstheorie verstehen. Es zeichnet zunächst einen Zustand, in dem bestimmte Normen gelten: Menschen haben umfassende Freiheitsrechte, ihnen stehen „life, liberty, and estate" (Locke 1690: §87) zu und sie dürfen in jeder Weise handeln, solange sie damit nicht die Rechte anderer verletzen. Aus diesem Zustand entwickle sich, so Nozick, in einem Prozess, der diese Rechte erhält, ein Staat. Folglich stehe der Staat in Einklang mit den vorgegebenen Normen und sei daher gerechtfertigt. Nozick führt damit eine Rechtfertigung innerhalb des moralisch-politischen Bereichs durch; er rechtfertigt die Autorität des Staates auf der Basis moralischer Normen. Für die Rechtfertigung moralischer Normen selbst kann man dieses Verfahren offensichtlich nicht anwenden. Die Idee des Prozesses, in dem sich bestimmte Qualitäten erhalten, kann aber auch in einem solchen Argument Verwendung finden. Das Argument des interessenbasierten moralischen Kontraktualismus kann man im Sinn dieser Übergangsthese verstehen. IMK argumentiert, dass jemand, der die moralischen Sanktionen nicht akzeptiert, sich in einen Selbstwiderspruch verstrickt. Es zeigt ihm, dass er gute Gründe hätte, bestimmte Regeln und die entsprechenden Sanktionen einzuführen, wenn es sie nicht gäbe. Zusammen mit den anderen würde er also die Sanktionen etablieren. Wenn die Sanktionen aus dieser Sicht aber wünschenswert waren, welchen Grund kann es dann geben, sie jetzt abzulehnen? Der Skeptiker wäre motiviert, etwas zu tun (nämlich Sanktio-
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nen einzuführen), das er danach nicht gutheißt. Am drückendsten ist dieser Widerspruch, wenn der Vertragstheoretiker sokratischen Einfluss auf den Skeptiker ausübt. Denn dann wird dieser eine Unstimmigkeit seiner skeptischen Position mit einer Meinungen feststellen, die er für sich selbst vollkommen schlüssig begründen kann. Damit zeigt dieses Argument, dass sich die Eigenschaft der Rationalität in dem Prozess der Sanktionsetablierung erhält, dass also, wenn die Menschen in dem vorgesellschaftlichen Zustand rational sind, auch die im Gedankenexperiment gewählte Praxis rational ist. Ähnlich wie Humes Argument zeigt IMK damit auch, dass die moralische Praxis funktional ist, indem er sie als dem Eigeninteresse dienlich ausweist. IMK erfüllt somit die Aufgabe, auf eine versteckte Funktionalität hinzuweisen, und ist damit, wie Williams sagt „vindicatory". Warum eine tatsächliche Entstehungsgeschichte keine Rechtfertigung liefert Nietzsche meinte, man könne nur mit Blick auf die tatsächliche Geschichte der Moral erkennen, dass diese nichts Gutes „im Sinne der Förderung, Nützlichkeit, Gedeihlichkeit in Hinsicht auf den Menschen überhaupt (die Zukunft des Menschen eingerechnet)" (Nietzsche 1887: 182) sei. [Wjir haben eine Kritik der moralischen Werte nötig, der Wert dieser Werte ist selbst erst einmal in Frage zu stellen - und dazu tut eine Kenntnis der Bedingungen und Umstände not, aus denen sie gewachsen, unter denen sie sich entwickelt und verschoben haben [...]. (Nietzsche 1887: 181) Ich will dagegen argumentieren, dass die tatsächliche Geschichte der Moral keine geeignete Basis für Rechtfertigung oder Ablehnung einer moralischen Praxis sein kann und dass nur eine hypothetische Entstehungsgeschichte der Moral diese argumentative Leistung erbringen kann. Ich nenne im Folgenden drei Bedingungen dafür, dass eine Entstehungsgeschichte als Rechtfertigung gel-
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ten kann; die hypothetische Geschichte, die IMK erzählt, erfüllt sie alle, während fast alle realen Geschichten daran scheitern. Es ist erstens entscheidend, dass sich der moralische Skeptiker in der Geschichte wiederfindet - und zwar in einer Form, die er gutheißt, nämlich als vollkommen rationale Person. Das kontraktualistische Argument funktioniert nicht, wenn man dem Skeptiker nur zeigt, dass jemand, der wenig Ähnlichkeit mit ihm hat, moralische Normen eingeführt hätte. Es scheitert genauso, wenn es nur zeigt, dass der Skeptiker in irrationalen Momenten diese Regeln gewählt hätte. Der Skeptiker muss die Entscheidung der Personen in dem Gedankenexperiment als seine eigene akzeptieren. Ansonsten sind weder sokratischer Einfluss noch kontextuelle Autorität möglich. All das kann ein historisches Argument nur in seltensten Ausnahmefällen zeigen. Denn wahrscheinlich hat niemand je eine moralische Norm tatsächlich selbst beschlossen und eingeführt: In der tatsächlichen Geschichte muss man die Entstehung der Normen oft Systemprozessen und nicht individuellen Entscheidungen zurechnen. Zudem beschreibt die tatsächliche Geschichte gleichberechtigt sowohl rationale als auch irrationale Entscheidungen. Es besteht also kaum Identifikationspotenzial für den Skeptiker. Wichtig ist zweitens, dass die rationalen Handlungen in der Entstehungsgeschichte tatsächlich die Folgen haben, die beabsichtigt waren. Nur auf diese Weise überträgt sich die Rationalität der einzelnen Entscheider auf die eingeführten Sanktionen. Wichtig ist ja, dass die Sanktionen in der Form, in der sie jetzt bestehen, von den rationalen Entscheidern gewählt worden wären. Ansonsten droht dem Skeptiker kein Selbstwiderspruch, wenn er eine Sanktion in einer bestimmten Situation eingeführt hätte, das Ergebnis dann aber ablehnt. In der tatsächlichen historischen Entwicklung waren vielleicht oft rationale Entscheider am Werk; nur hatte der Versuch, bestimmte Sanktionen einzuführen, oft unerwartete Wirkungen. Das liegt daran, dass Sanktionen de facto nie perfekt sind. Eine unvollständig eingeführte Sanktion kann aber unerwartete Folgen haben. So verleiht das nie wirklich umfassend durchzuset-
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zende Verbot von Drogen diesen eine besondere Attraktivität. Das könnte dazu führen, dass trotz des Verbots ähnlich viel konsumiert wird wie zuvor, allerdings unter erheblich schlechter kontrollierbaren Bedingungen und mit teilweise fatalen Folgen für die Betroffenen, etwa durch verunreinigte Substanzen aus dubioser Herkunft, hohe Preise und den Druck zur Beschaffungskriminalität. In diesem Fall hätte, was als Schutz vor Abhängigkeit gedacht war, das Ziel verfehlt und ein erheblich größeres Übel produziert. In einer tatsächlichen Entstehungsgeschichte der moralischen Praxis kommen wahrscheinlich viele derartige Entwicklungen vor. Es wäre dann kein Problem für den Skeptiker zu sagen, er hätte eine solche Sanktion zwar zunächst gewählt, aber jetzt lehne er sie ab, da er durch die Erfahrung eines besseren belehrt worden sei. Drittens kann man bei der hypothetischen Erklärung sicherstellen, dass sie keine moralischen Prämissen enthält. Unter moralischen Prämissen verstehe ich etwa die Annahme eines angeborenen Sinnes für moralisches Verhalten, dessen Bestehen man in der historischen Betrachtung nicht ausschließen kann. Es kann sein, dass Menschen immer schon einen bestimmten moralischen Sinn haben und deswegen in der Gesellschaft moralische Regeln etablieren. Mit einer Geschichte, die das beschreibt, kann man diese Normen aber nicht archimedisch rechtfertigen. Der Skeptiker könnte einfach weiterfragen, wie denn der moralische Sinn gerechtfertigt sei. Das vertragstheoretische Argument wäre also zu schwach. Man kann sich vorstellen, dass diese drei Argumente in manchen Fällen nicht greifen. Vielleicht gibt es tatsächlich eine Gesellschaft, deren Mitglieder sich in einem rationalen Prozess, in dem moralische Haltungen keine Rolle spielten, auf ihre jetzigen moralischen Regeln und Sanktionen geeinigt und diese mit den intendierten Folgen etabliert haben. Eine Geschichte, die die Entstehung der moralischen Normen in dieser Gesellschaft beschreibt, kann man mit gleichem Recht wie eine hypothetische Geschichte in einem Rechtfertigungsargument verwenden. Aber seine Kraft gewinnt das Argument auch dann nicht daraus, dass sich die Mo-
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ral tatsächlich so entwickelt hat. Letzteres ist vielmehr ein Zufall, der aus der Perspektive der Rechtfertigung irrelevant ist. Denn die tatsächlich Entstehungsgeschichte der Moral zeigt, welche kausalen Ursachen es für die Entstehung der heutigen Überzeugungen gab. Sie zeigt, dass die Menschen einer bestimmten moralischen Gemeinschaft wegen bestimmter natürlicher Gegebenheiten und Veranlagungen gar nicht anders können, als moralische Haltungen zu entwickeln und eine Sanktionspraxis zu etablieren. Der Skeptiker hatte aber nach einer Rechtfertigung, nicht nach der Ursache dieser Haltungen und Konventionen gefragt. Der realen Entstehungsgeschichte kann der Skeptiker vorhalten, dass etwas noch nicht gerechtfertigt sei, nur weil es in einer bestimmten Weise entstanden sei. Das ist letztlich eine Variante der These, dass aus dem Sein kein Sollen folgt. Rechtfertigende Kraft hat die reale Geschichte nur deswegen, weil sie zufälligerweise mit der idealen hypothetischen Geschichte zusammenfällt. Die wirkliche Geschichte der Moral taugt in den meisten Fällen ohnehin eher zur Verunsicherung und damit zur Bestätigung des Skeptikers. Sie zeigt, dass die tatsächliche moralische Praxis ein Produkt vieler Zufälle ist und sich vielleicht unter nur etwas anderen Bedingungen in eine ganz andere Richtung entwickelt hätte. Williams beobachtet: „a truthful historical account is likely to reveal the radical contingency in our current ethical conceptions" (2002: 20). Um zusammenzufassen: Eine reale Entstehungsgeschichte der moralischen Praxis ist nie notwendig für deren Rechtfertigung und nur in Ausnahmefällen hinreichend - nämlich dann, wenn sie der idealen hypothetischen Geschichte gleicht. Für die philosophische Rechtfertigungstheorie ist es also ausreichend, sich mit letzterer zu beschäftigen.
Kapitel 5 Metaethischer Anti-Realismus Bisher habe ich gezeigt, dass der interessenbasierte moralische Kontrakt ualismus ein gutes Argument zur archimedischen Rechtfertigung moralischer Normen ist. Aber nicht vor jedem Hintergrund kann ein solches Argument seine Stärken voll ausspielen. In diesem Kapitel werde ich zeigen, dass der metaethische AntiRealismus ihm einen zentralen Platz einräumen kann.
5.1 Antirealismus Offensichtlich haben wir eine Beziehung zu moralischen Eigenschaften, zum Beispiel zu der Eigenschaft moralisch gut. Wir sprechen über sie und lassen uns durch sie motivieren. Aber wir haben Schwierigkeiten, sie in unser naturalistisch geprägtes Weltbild einzuordnen, denn in den empirischen Wissenschaften spielen sie keine Rolle. Ob etwas moralisch gut oder schlecht ist, hat dort keinen explanatorischen Wert; es ist nur interessant, ob Menschen etwas für gut oder schlecht halten (vgl. Abschnitt 2.2.1). Der metaethische Anti-Realismus löst dieses Problem auf eine elegante Art. Er argumentiert, man müsse die moralischen Eigenschaften überhaupt nicht in der Welt lokalisieren, da es sie aus metaphysischer Sicht gar nicht gebe. Mit moralischen Urteilen drückten wir moralische Haltungen oder Gefühle aus, beschrieben aber nicht Sachverhalte in der Welt.
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Metaethischer Anti-Realismus
5.1.1 Kernthesen und Herausforderungen Der Anti-Realismus, wie ich ihn verstehe, behauptet, dass moralische Eigenschaften oder Werte nicht in der selben Weise real sind wie die natürlichen, also empirisch erfassbaren Eigenschaften und Dinge.1 (AR) Moralische Eigenschaften sind nicht in der selben Weise real wie die natürlichen Eigenschaften der Welt. Moralische Werte sind nicht in der selben Weise real wie natürliche Dinge. Diese negative These wird ergänzt durch zwei substantielle Theorieteile, nämlich eine expressivistische Semantik und den Projektivismus. Expressivismus (AR) impliziert, dass moralische Urteile keine Beschreibungen der realen Welt sein können, wenn sie nicht auf einem Irrtum beruhen. Anti-Realisten müssen deswegen erklären, welche Rolle alltägliche moralische Urteile stattdessen haben. Ich werde im Verlauf dieses Kapitels eine expressivistische Semantik für moralische Urteile verteidigen. Kurz skizziert vertrete ich damit die Position, dass man mit moralischen Urteilen moralische Gefühle oder Haltungen ausdrückt.2 Damit ist nicht gemeint, dass man über ein Gefühl spricht oder es beschreibt; vielmehr kann ein Gegenüber aus der Äußerung des Urteils darauf schließen, dass dieses Gefühl vorliegt. In gleicher Weise kann man durch eine Umarmung Zuneigung ausdrücken oder durch demonstratives Schweigen in manchen Kontexten Ablehnung oder Verachtung. Als Expressivist kann man leicht erklären, warum man motiviert ist, eigenen moralischen Urteilen entsprechend zu handeln. Denn diese Urteile sind Ausdruck von motivierenden mentalen Zuständen, etwa von Gefühlen. Man kann deswegen kein moralisches Urteil fällen, ohne ein moralisches Gefühl zu haben und durch dieses motiviert zu sein. Das bedeutet nicht, dass die mo-
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rausche Motivation stärker ist als andere motivierende Faktoren. Es kann durchaus sein, dass viele entgegengesetzte motivierende Zustände stärker sind und die moralische Handlung verhindern: Jemand kann zum Beispiel prima facie durch eine moralische Empfindung motiviert sein, einer ertrinkenden Person zu helfen, dies aber aus Angst vor dem kalten Wasser doch nicht tun. Aber die notwendig vorhandene, wenn auch schwache Motivation reicht aus, um dem vortheoretisch plausiblen motivationalen Internalismus gerecht zu werden. Es ist vielleicht die größte Stärke des expressivistischen Anti-Realismus gegenüber anderen metaethischen Theorien, dass er auf diese Weise eine unkomplizierte Erklärung der motivierenden Kraft moralischer Urteile liefert. Projektivismus Wie kann der Anti-Realismus erklären, dass wir uns im Alltag, wenn wir nicht die Perspektive des distanzierten Theoretikers einnehmen, oft so verhalten und so sprechen, als ob es moralische Werte in der Welt gäbe? Der Anti-Realismus hat auf diese Frage eine Antwort parat, die auf eine Idee Humes zurückgeht. Dieser unterscheidet zwei mentale Vermögen, nämlich Verstand (reason) und Geschmack (taste). Die Aufgabe des Verstandes sei es, Wissen über Sachverhalte zu gewinnen, der Geschmack hingegen übertrage die inneren Empfindungen (sentiments) von Schönheit oder moralischer Qualität auf die äußeren Sachverhalte: The one [i.e. reason] discovers objects, as they naturally stand in nature, without addition or diminution: The other [i.e. taste] has a productive faculty, and gilding or staining all natural objects with the colours, borrowed from internal sentiment, raises, in a manner, a new creation. (1751: Appx. 1.21) Wir projizieren nach Hume also unsere moralischen Empfindungen auf die natürliche Welt, ohne dass diese tatsächlich moralische Eigenschaften hat. Genauso wie Hume gehen moderne Anti-Realisten davon aus, dass die projizierten mentalen Zustände konative Zustände sind, sich also dadurch auszeichnen, dass sie Einfiuss auf Verhalten
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haben (vgl. Blackburn 1993: 168). Anders als Hume, der letztlich alle moralischen Empfindungen auf das Mitfühlen (sympathy) zurückführt, lassen sie oft eine breite Palette solcher Zustände zu. An dem psychologischen Mechanismus, der zu einer Handlungswahl führt, können Gefühle wie Stolz, Scham oder Schuld genauso wie Wünsche beteiligt sein. Ich werde unten dafür argumentieren, dass man moralische Urteile als Ausdruck von Gefühlen verstehen sollte. So charakterisiert fügt sich die anti-realistische Position sehr gut in das naturalistische Weltbild ein. Sie betrachtet moralische Eigenschaften als Projektionen von mentalen Zuständen; und mentale Zustände sind Teil der Natur, wie ich in Abschnitt 2.2.1 argumentiert habe. Realistische Positionen müssen, wie ich im nächsten Kapitel zeigen werde, einen ungleich höheren Aufwand betreiben, um den Anforderungen des Naturalismus gerecht zu werden. Minimalistische Wahrheitstheorie und moralisches Wissen Der Anti-Realismus behauptet, es gebe keine moralischen Tatsachen, die man analog zu natürlichen Tatsachen erkennen könne.3 Das bedeutet aber nicht, dass er abstreiten muss, dass moralisches Wissen möglich ist oder dass moralische Urteile wahr oder falsch sein können. Diese Folge hat der Anti-Realismus nur vor dem Hintergrund einer bestimmten Wahrheitstheorie. Betrachtet man Sätze nur dann als wahr, wenn sie mit der Realität übereinstimmen oder dieser in gewisser Weise entsprechen, dann können moralischen Urteile nie wahr sein, wenn es keine moralische Realität gibt. In Verbindung mit einer minimalistischen Wahrheitstheorie erlaubt die anti-realistische Position aber, moralischen Urteilen Wahrheit oder Falschheit zuzusprechen. In Horwichs Version besteht diese Theorie im Kern aus der These: [I]n order for the truth predicate to fulfil its function we must acknowledge that
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(MT) The proposition that quarks really exist ist true if and only if quarks really exist, the proposition that lying is bad is true if and only if lying ist bad. ... and so on, but nothing more about truth need be assumed. The entire conceptual and theoretical role of truth may be explained on this basis. (Horwich 1998: 5) Das Wahrheitsprädikat ist nach Horwich trotzdem nützlich, etwa um eine Einstellung zu einer Proposition ausdrücken, die man entweder nicht genau kennt oder die man wegen ihrer (möglicherweise unendlichen) Länge nicht Wort für Wort wiederholen möchte. Diese Rolle kann es auch in moralischen Diskursen erfüllen, etwa wenn man Zustimmung zu den zehn Geboten ausdrücken will, obwohl man vielleicht vergessen hat, wie einzelne Gebote lauten, sich aber erinnert, dass man ihnen vor einiger Zeit zugestimmt hat. Dann kann man sagen: „Die zehn Gebote sind wahr". Dem wahrheitstheoretischen Minimalismus zufolge nimmt man damit nicht automatisch schon an, dass die zehn Gebote real sind.4 In Kombination mit der minimalistischen Wahrheitstheorie kann der Anti-Realismus so der Intuition gerecht werden, dass moralische Urteile wahrheitsfähig sind.5 Ich habe mich bewusst entschieden, die grundlegende metaethische Unterscheidung zwischen Realismus und Anti-Realismus zu ziehen, weil sie - anders als die Unterscheidung zwischen Kognitivismus und Non-Kognitivismus - von der Diskussion um Wahrheit weitgehend unabhängig verständlich ist. Ich sympathisiere mit einer minimalistischen Auffassung von Wahrheit; für die aktuelle Frage nach der Rolle des Kontraktualismus ist diese Diskussion aber nicht wichtig.6 Anti-realistische Theorien müssen sich gegen zwei wichtige Herausforderungen behaupten. Dabei erhalten sie ihre typische Ausprägung: Herausforderung 1: Oberflächenstruktur der Sprache Alltägliche moralische Urteile formulieren wir meist in deklarativen Sätzen. Sätze von dieser Art verwendet man sonst, um Tat-
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Sachen festzustellen. Wir formulieren zum Beispiel die Aussagen „Menschen in lebensbedrohlichen Situationen zu helfen, ist moralisch gut" analog zu dem Satz „Jeden Tag eine Stunde lang zu joggen, verbessert die Kondition". Um Gefühle oder Haltungen auszudrücken, verwenden wir hingegen oft andere Mittel. Gefühle wie Furcht zeigen sich in unserem Gesichtsausdruck oder wir verwenden einen Ausruf wie „Hurrah!", um Freude auszudrücken. Und wenn wir einen Befehl geben wollen, benutzen wir die Imperativform. Expressivisten müssen nun erklären, warum man sich im moralischen Diskurs nicht der gewöhnlichen Mittel bedient. Sie müssen zeigen, warum man nicht ausruft 'Menschen in Lebensgefahr helfen, hurrah!'.7 Auffällig ist dabei auch, dass man den Hurrah-Ruf nicht als moralische Äußerung empfindet. Wie kann es sein, dass moralische Aussagen ihre spezifische Eigenart verlieren, wenn man sie in die grammatische Form übersetzt, die ihrem Wesen am ehesten entspricht?8 Herausforderung 2: Normlogische Ableitungen Expressivistische Theorien müssen sich gegen ein klassisches Argument behaupten, das strukturell auf Frege zurückgeht und von Geach (1965: 462-65) einflussreich formuliert wurde.9 Freges Punkt ist es, dass man ein und den selben Satz10 sowohl behaupten als auch als bloße Hypothese vorbringen kann. Man kann sagen: „Die Sonne scheint" und damit eine Behauptung aufstellen oder: „Wenn die Sonne scheint, dann ist warm", ohne zu behaupten, dass die Sonne scheint. In beiden Fällen, so geht das Argument weiter, kann der Satz „die Sonne scheint" das selbe bedeuten. Er muss sogar das selbe bedeuten, wenn man folgende Ableitung als gültig betrachtet: Die Sonne scheint. Wenn die Sonne scheint, dann ist es warm. =>· Es ist warm.
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Ansonsten würde man einen Fehlschluss durchführen, der auf einer Zweideutigkeit beruht. Wendet man diese Überlegung auf moralische Urteile an, so geraten Expressivisten in Schwierigkeiten. Beispiele des folgenden Typs (vgl. Geach 1965: 463) gelten daher als Prüfstein expressivistischer Theorien: Es ist moralisch schlecht zu lügen. Wenn es moralisch schlecht ist zu lügen, dann ist es moralisch schlecht, jemanden zum Lügen zu verleiten. =4- Es ist schlecht, seinen kleinen Bruder zum Lügen zu verleiten. Expressivisten behaupten, mit der ersten Prämisse drücke derjenige, der diese Ableitung durchführe, eine bestimmte moralische Haltung oder eine Abneigung gegen das Lügen aus. Dasselbe kann aber nicht auch für den ersten Teil des Konditionals in der zweiten Prämisse gelten: Der Sprecher drückt damit keine Abneigung gegen das Lügen aus. Er könnte diesen Konditionalsatz äußern und zugleich das Lügen bewundern. Man kann zudem nicht sinnvollerweise sagen, er drücke die Abneigung gegen das Lügen hypothetisch aus. Wenn der Satz „Es ist schlecht zu lügen" in der ersten Prämisse ausschließlich Ausdruck einer Einstellung oder Abneigung ist und keinen deskriptiven Gehalt hat, in der zweiten aber offenbar nicht diese Funktion besitzt, dann haben die beiden Sätze nicht die selbe Bedeutung. Die Ableitung ist dann ungültig. Das ist aber ein sehr unplausibles Ergebnis. Damit stehen Expressivisten vor der Herausforderung, dass sie erklären müssen, wie moralische Sätze auch in Nicht-Behauptungs-Kontexten dieselbe expressivistisch verstehbare Bedeutung haben können wie in Behauptungs-Kontexten.
5.1.2 Moralische Gefühle Expressivisten können diesen beiden Herausforderungen begegnen. Dazu muss man die expressivistische Theorie aber genau-
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er spezifizieren. Ich möchte einen Vorschlag machen, der sich auf die ausführliche Debatte zu diesem Thema stützt und sich zudem als tragfähiger Hintergrund für den moralischen Kontraktualismus eignet. Philosophische Psychologie Expressivistische Theorien unterscheiden sich wesentlich dadurch, wie sie den Zustand charakterisieren, den man mit moralischen Urteilen ausdrückt. Gefühle, moralische Haltungen, Einstellungen oder die Akzeptanz von Normen sind klassische Kandidaten. Eine philosophische Theorie kann dabei keine psychologische Analyse dieser Zustände liefern. Deswegen bauen viele Expressivisten ihre Theorie auf einer weitgehend funktionalistischen Charakterisierung auf, die den fraglichen Zustand über seine Rolle im moralischen Überlegen und Handeln bestimmt. Eine empirische psychologische Theorie kann dann im Detail beschreiben, welche intrinsischen Eigenschaften der so gekennzeichnete Zustand hat. Ich werfe zunächst einen Blick auf die beiden wichtigsten aktuellen Theorien des Express:vimus, nämlich die Ansätze von Gibbard (1990) und Blackburn (z.B. 1998b). Blackburn geht von dem Zustand, etwas zu schätzen (valuing), aus (Blackburn 1998b: 59). Er betrachtet valuing als einen einfachen mentalen Zustand, dessen Instanzen in keinem logischen Verhältnis zueinander und zu anderen Zuständen stehen können. Er sieht es als eine besondere Stärke seiner Theorie, dass sie trotzdem mit dem Frege-Geach Einwand umgehen und erklären könne, wie die Urteile, die den Zustand des valuing ausdrückten, in logischen Beziehungen zueinander stehen könnten.11 Blackburns Charakterisierung dieses Zustands ist ein Musterbeispiel funktionalistischer Analyse: To hold a value, then, is typically to have a relatively stable disposition to conduct practical life and practical discussion in a particular way: it is to be disposed or set in a way, and notably to be set against change in that respect. (Blackburn 1998b: 67)
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Er erspart sich mit diesem funktionalistischen Ansatz eine ausführliche Analyse verschiedener komplexer moralischer Gefühle und Haltungen und gibt seiner Theorie damit gleichzeitig eine allgemeinere Form. Aus der Perspektive der ersten Person können sich diese Zustände je nach kulturellem Umfeld nämlich sehr unterschiedlich anfühlen: The precise 'feel' of such a stance may be a function of local culture in its scope, or of some of its interactions with other pressures and other beliefs. [...] The essence lies in its practical import, but the feelings that surround that can vary considerably. (Blackburn 1993: 169)
Zwei Dinge kann man von Blackburns Vorgehen lernen: Erstens tut eine philosophische Theorie gut daran, in Fragen der Psychologie so weit wie möglich funktionalistisch zu argumentieren. Sie wird dadurch anschlussfähig für psychologische Theorien, ohne dass sie leicht durch empirische Forschung widerlegt werden kann oder an Plausibilität verliert. Zweitens: Eine Funktion, die die betreffenden mentalen Zustände haben müssen, ist die motivierende Kraft. Der Expressivismus würde ansonsten eine zentrale Stärke verlieren, da er keine vergleichbar gute Erklärung mehr für moralische Motivation hätte. Gibbard (1990) teilt die Auffassung, dass die Zustände motivieren müssen, geht aber von einem anspruchsvoller strukturierten Zustand aus, nämlich von dem ebenfalls funktional bestimmten Zustand der Akzeptanz eines Systems von Normen für moralische Gefühle.12 Fälle man ein Urteil, dann drücke man die Akzeptanz dieses Systems von Normen aus: „to think an act morally reprehensible is to accept a system of norms that prescribe, for such a situation, guilt on the part of the agent and resentment on the part of the others" (47). Da die ausgedrückten Zustände nach Gibbard schon deutlich mehr Struktur haben, kann man erwarten, dass es einer solchen Theorie leichter fällt, dem von Geach vorgebrachten Einwand zu
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begegnen. Ich möchte deswegen ähnlich wie Gibbard vorgehen. Im ersten Kapitel (v.a. Abschnitt 2.2.1) habe ich schon argumentiert, dass die Akzeptanz von Normen in eine plausible Version des naturalistischen Weltbilds passt. Ich lasse es offen, ob man auch von noch sparsameren Voraussetzungen im Sinne Blackburns ausgehen kann13 - an meinem zentralen Argument zur Einordnung des Kontraktualismus würde sich dadurch nichts ändern. Um die Lehren zusammenzufassen, die ich von Gibbard und Blackburn übernehme: Eine expressivistische Theorie sollte auf einer funktionalistischen Analyse eines motivierenden mentalen Zustands beruhen. Für das weitere Vorgehen ist es sehr hilfreich, wenn man Instanzen dieses Zustands als logisch strukturiert annehmen kann. Obwohl ich zentrale Aspekte der Ansatz von Blackburn und Gibbard teile, möchte ich meine Analyse im Folgenden ganz spezifisch zuschneiden und sie um einen Zentralbegriff gruppieren, der zwar klassisch, aber etwas aus dem Fokus geraten ist. Ich möchte dafür argumentieren, dass wir mit paradigmatischen moralischen Urteilen moralische Gefühle ausdrücken. Diese Analyse setzt ein bestimmtes - wie ich meine sehr plausibles - Bild von Gefühlen voraus. Diesem Bild zufolge sind Gefühle identisch mit oder konstituiert durch einen Komplex von mentalen Prozessen und Zuständen, zu denen eine Grundhaltung zur Interpretation der Welt, die Akzeptanz bestimmter Normen, Wahrnehmung und Motivation gehören. Grob gesagt hat man ein moralisches Gefühl genau dann, wenn eine mit Motivation verknüpfte Wahrnehmung der Übereinstimmung mit oder der Abweichung von einer akzeptierten Norm vorliegt. Auch dieser Ansatz bleibt funktionalistisch: Ich sage nichts zu der Empfindungsqualität und zu internen Mechanismen, etwa zu der Verbindung von Wahrnehmung und Motivation.
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Moralische Gefühle als Wahrnehmungen Die Theorie der Gefühle, die ich entwickeln will, bewegt sich zwischen zwei entgegengesetzten und jeweils problematischen Positionen, der Empfmdungs- und der Urteilstheorie der Gefühle.14 Die erste Position versteht Gefühle analog zu körperlichen Empfindungen15 und schreibt ihnen ähnliche intrinsische Eigenschaften zu; es seien nicht-propositionale mentale Zustände, die unwillkürlich auftreten. Von körperlichen Empfindungen unterscheide sie aber ihre Rolle im Verhältnis zu körperlichen und anderen mentalen Zuständen. Man könnte Gefühle im Rahmen dieses Ansatzes zum Beispiel als Reaktionen auf Gedanken oder Wahrnehmungen betrachten und körperliche Empfindungen als Reaktionen auf körperliche Veränderungen ansehen. Gegen diese Position gibt es zwei starke Einwände. Erstens sind Gefühle typischerweise auf ein Objekt gerichtet, also intentional. Man fühlt sich schuldig für eine Handlung und man hat Angst vor etwas. Körperliche Empfindungen wie Kopfschmerzen sind hingegen nicht intentional. Kopfschmerzen empfindet man zwar im Kopf, sie sind aber keine Schmerzen über den Kopf.16 Zweitens kann man von Gefühlen sagen, dass sie angemessen oder unangemessen sind. Wenn sich jemand schuldig fühlt, obwohl er nichts Falsches getan hat, kann man vorwerfen, er habe ein unangemessenes Gefühl. Dagegen ist es nicht sinnvoll, jemanden, der Kopfweh hat, deswegen zu kritisieren oder seine Schmerzen als unangemessen zu bezeichnen. Körperliche Empfindungen kann man, anders als Gefühle, nicht rechtfertigen. Es ist lediglich möglich, ihre Ursachen anzugeben. Es gibt also gute Gründe, dieses Bild von Gefühlen abzulehnen. Die zweite Position analysiert Gefühle als Urteile. So verteidigt Nussbaum die These, das Gefühl der Trauer zu empfinden, heiße zu urteilen, dass ein Mensch gestorben sei, der Mensch einem wichtig war, dass man diesen Menschen nie wieder sehen werde etc. (Nussbaum 2003: 280). Sich schuldig zu fühlen bedeutet in diesem Bild zu urteilen, dass man etwas getan hat, das man nicht tun sollte, und dass man auch anders hätte handeln können. Das
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ist deswegen nicht unplausibel, weil man sich schwer vorstellen kann, dass jemand trauert, ohne zu denken, er habe jemanden verloren, oder dass jemand sich schuldig fühlt und nicht meint, er habe etwas Verbotenes getan. Gerade soziale Gefühle (Schuld, Scham, Neid, Stolz, Empörung etc.) setzen solche propositionalen Einstellungen voraus. Auch Intentionalität und rationale Kritisierbarkeit von Gefühlen erklären sich im Rahmen dieser Theorie recht einfach: Beides sind zentrale Eigenschaften von Urteilen. In einem Punkt unterscheiden sich Urteile und Gefühle allerdings deutlich (vgl. Roberts 1999). Man kann ein Gefühl haben, das man selbst zugleich für unangemessen hält. Jemand kann sich schuldig fühlen, aber überzeugt sein, dass er nichts Falsches getan hat. Zum Beispiel kann jemand, der von sehr konservativen Eltern erzogen worden ist, deren Moralvorstellungen später ablehnen; allerdings wirkt seine Erziehung eventuell noch so nach, dass er sich wider bessere Überzeugung schuldig fühlt, wenn er zum Beispiel für Abtreibung eintritt. Ein Urteil zu fällen, das man für unangemessen hält, ist hingegen nicht möglich. Man kann nicht urteilen, dass man etwas Falsches getan hat, und zugleich überzeugt sein, dass das, was man getan hat, richtig war. Wenn man ein Urteil bewusst ablehnt, dann fällt man es auch nicht; von Gefühlen kann man sich nicht so einfach befreien. Die mentalen Zustände, die man als Gefühle identifizieren will, müssen also drei formale Kriterien erfüllen: Sie müssen (a) intentional sein, (b) als angemessen oder unangemessen bewertet werden können und (c) auch ohne Akzeptanz des Subjekts bestehen können. Ich möchte Gefühle deswegen als eine Art von Wahrnehmungen betrachten (1995: 324ff., 1996: 147ff.). Wahrnehmungen erfüllen die drei Kriterien: (a) Sie sind intentional: Das, was man wahrnimmt, ist ihr intentionales Objekt, (b) Wahrnehmungen können angemessen oder unangemessen sein: Wenn ein Stab im Wasser geknickt aussieht, dann ist diese Wahrnehmung unserem Wissen nach fehlerhaft und man kann sie zu Recht kritisieren, (c) Aber auch wenn man überzeugt ist, dass der Stab gerade ist, wird es nicht gelingen, die Wahrnehmung zu verändern. So kann
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man gut erklären, wie man Urteile fällen kann, die Wahrnehmungen - und damit auch Gefühle korrigieren ohne sie aufzuheben. Um diesen Ansatz überzeugend auszugestalten, muss man angeben, um welche Art von Wahrnehmungen es sich bei Gefühlen handelt. In Anlehnung an die klassische Position von James (1884) vertritt zum Beispiel Damasio (2003: 83-133) die Position, Gefühle seien Wahrnehmungen körperlicher Reaktionen. Angst zu haben hieße demnach, wahrzunehmen, dass man zittert, sich die Pupillen verengen etc. Problematisch ist daran, dass man die Intentionalität von Gefühlen falsch konstruiert. Das Objekt der Angst vor einer Schlange wären nach Damasio nämlich die entsprechenden körperlichen Veränderungen und nicht die Schlange. Hier kann eine Einsicht der Urteilstheorie der Gefühle weiterhelfen; Gefühle haben demnach äußere Situationen als Objekte. Analog zu Nussbaum kann man sagen: Wenn man trauert, dann nimmt man wahr, dass jemand gestorben ist, dass diese Person einem wichtig war etc. Allerdings fällt man nicht notwendigerweise die entsprechenden Urteile. Wie zeichnen sich Gefühle gegenüber anderen Wahrnehmungen aus? Nicht alle Wahrnehmungen sind ja Gefühle. Ein wesentliches Kriterium ist die enge Verbindung zum Verhalten. Manche Gefühle verursachen spontan typische Reaktionen; wenn man Angst hat, werden die Pupillen eng, kalter Schweiß bricht aus und man zittert. Auch wenn die Folgen anderer Gefühle weniger offensichtlich sind, so haben doch alle haben einen Einfluss auf die Motivation dessen, der das Gefühl hat. Wer traurig ist, ist weniger geneigt zu lachen, sucht in vielen Fällen sozialen Kontakt, bemüht sich, den wahrgenommenen Verlust auszugleichen etc.17 Den Ausdruck ein Gefühl haben kann man dann analysieren als: Die Situation in einer bestimmten Weise wahrnehmen und motiviert sein, entsprechend zu handeln. Moralische Gefühle sind erlernt Gefühle treten unwillkürlich auf und lassen sich nicht einfach abschalten. Trotzdem sind sie auf längere Sicht veränder- und erlern-
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bar. Beispielhaft ist dafür das Schuldgefühl der erwähnten konservativ erzogenen Person. Im Rahmen der Wahrnehmungstheorie der Gefühle kann man das gut verstehen. Einzelne Wahrnehmungen enthalten mehr Information als die Sinne in dieser Situation liefern (vgl. Strawson 1979, Roberts 1996: 148ff.). Wir nehmen ja nicht nur episodisch auftretende Farben oder sieht- und ertastbare Oberflächen wahr, sondern dauerhafte solide Gegenstände. Diese Wahrnehmung konstruieren wir, indem wir die elementaren Informationen im Rahmen unserer Alltagsauffassung über die physische Welt verarbeiten.18 Diesen Übergang vollziehen wir in fast allen Fällen unwillkürlich und es ist uns meistens sogar unmöglich, davon zu abstrahieren. Das zeigt sich an den entsprechenden Wahrnehmungsurteilen: Die natürlichste und einfachste Art anzugeben, was wir wahrnehmen, enthält Sätze über die soliden Gegenstände, die uns im Alltag umgeben: Tische, Stühle, Bäume oder Bücher {vgl. Strawson 1979). Einen großen Teil der Alltagsauffassung über die Welt müssen wir erlernen. Die später kaum mehr veränderbare Überzeugung, dass es solide physische Objekte gibt, nehmen die meisten Menschen sicher früh in ihre Alltagsauffassung auf. Bei den Dingen, die sie später lernen, ist eine erheblich größere Variationsbreite möglich. Ein deutschsprachiges Kind, das noch nicht lesen kann, kann Buchstaben in einem Text vielleicht geometrisch beschreiben. Wenn es aber lesen gelernt hat, dann wird es unwillkürlich den senkrechten Strich mit einem Punkt darüber als ein 'i' sehen und den kleinen Kreis als ein '. Wäre das Kind in China aufgewachsen, dann hätte es nicht oder vielleicht erst im Englischunterricht gelernt, diese Formen so zu interpretieren. Unsere Wahrnehmungsurteile sind also von unserer Alltagsauffassung der Welt geprägt: Nur weil wir diese Auffassung haben, sehen wir bestimmte Dinge in einer bestimmten Weise oder als etwas. Da Gefühle Wahrnehmungen sind, verarbeiten wir auch, wenn wir ein Gefühl haben, die sinnlichen Informationen im Rahmen einer Auffassung. Je nachdem, wie elementar der relevante Teil
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dieser Auffassung ist, sind Gefühle mehr oder weniger veränderbar. Die meisten komplexen sozialen Gefühle haben eher Gemeinsamkeit mit dem Fall der Wahrnehmung von Buchstaben. Kinder lernen zum Beispiel, eine Situationen als eine zu sehen, in der sie etwas falsch gemacht haben (und damit, sich schuldig zu fühlen) genauso wie sie lernen, eine bestimmte Form als den Buchstaben 'i' zu sehen. Das selbe gilt für Neid, Stolz, Empörung oder Liebe. In verschiedenen Kulturen haben diese Gefühle folglich auch unterschiedliche Ausprägungen.19 Internalisierung Auch wenn Gefühle über eine Anpassung der Hintergrundauffassung er- und verlernbar sind, ist dieser Prozess einer gewissen Trägheit unterworfen. Gerade beim Verlernen eines Gefühls kann es passieren, dass man immer noch regelmäßig mit diesem Gefühl reagiert, obwohl man sich eigentlich schon davon distanziert hat. Eine sehr konservativ erzogene Person wird sich immer wieder schuldig fühlen, wenn sie für Sex vor der Ehe eintritt, auch wenn sie das entsprechende Verbot eigentlich nicht mehr als Teil ihrer Weltauffassung akzeptiert. Auch für diese Beobachtung kann ich keine Erklärung im Sinne einer empirischen psychologischen Theorie geben. Aus dem funktionalistischen Ansatz ergibt sich aber, dass die eigentlich abgelehnte Norm in gewisser Weise noch Teil der Weltauffassung der Person ist und bei der Entstehung von Gefühlen eine Rolle spielt. Ich möchte in diesem Fall davon sprechen, dass diese Norm nur internalisiert, nicht aber akzeptiert ist.20 Der Zustand der Internalisierung unterscheidet sich von dem der Akzeptanz wesentlich dadurch, dass man nicht geneigt ist, eine bloß internalisierte Norm in einer gewaltfreien Diskussion zu vertreten (vgl. Abschnitt 2.2.1, S. 35f.). Die Analyse von Gefühlen muss ich also noch um ein Detail ergänzen: Ein moralisches Gefühl hat man demnach auch, wenn eine mit Motivation verknüpfte Wahrnehmung der Übereinstimmung mit oder der Abweichung von einer bloß internalisierten Norm vorliegt. Deswegen kann man oft widersprüchliche Gefühle haben - nämlich einerseits solche, die auf bloß internali-
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sierten alten Normen beruhen, andererseits solche, die auf neuen, akzeptierten Normen basieren. Schuld Das Gefühl der Schuld ist ein paradigmatisches moralisches Gefühl. Deswegen möchte ich mich kurz etwas intensiver damit auseinander setzen, um später über ein Beispiel zu verfügen. Natürlich spielen auch andere Gefühle, etwa Scham oder Empörung eine zentrale Rolle in fast jeder moralischen Praxis. Das Gefühl der Schuld entsteht dann, wenn man wahrnimmt, dass man eine soziale, meist moralische Norm nicht beachtet hat. Wer sich schuldig fühlt, nimmt die Situation als eine wahr, in der er (moralisch) falsch gehandelt hat und in der eine andere Handlung möglich gewesen wäre. Typischerweise ist das Gefühl der Schuld mit dem Wunsch verbunden, anders gehandelt zu haben und das Geschehene auszugleichen oder wieder gutzumachen. Ein Schuldgefühl kann man auch hervorrufen, wenn man sich die betreffende Situation lediglich vorstellt. Das ist die Basis für viele Gedankenexperimente in der Ethik. Schuld kann deswegen nicht nur nach einem Regelbruch zu Handlungen motivieren. Antizipierte Schuldgefühle motivieren dazu, sich (moralischen) Regeln entsprechend zu verhalten.21 Das Gefühl der Schuld tritt typischerweise in Situationen auf, in denen durch die Handlung (oder Unterlassung) des Subjekts ein anderer Mensch geschädigt oder verletzt wird. Diese These vertreten gleichermaßen Hume und aktuelle psychologische Ansätze. So schreibt zum Beispiel Fabricius: „Feelings of guilt tell us that we have hurt someone and cause us both to avoid revenge and to render compensation." (2004, vgl. auch Lindsey 2005: 454) Mit diesem Ansatz kann man erklären, warum sich bei der Verletzung moralischer Normen oft das spezifische Gefühl der Schuld einstellt. Moralische Normen im engen Sinn dienen ja typischerweise dazu, Menschen vor Verletzungen zu schützen (vgl. 2.1.1, S. 13). Die Missachtung moralischer Normen verletzt daher gewöhnlich andere Personen.
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Aber bereits Hume hat klar gesehen, dass der Mechanismus des Schuldgefühls auch unabhängig von der direkten Wahrnehmung der Schädigung anderer greifen kann. Es reicht, gelernt zu haben, dass moralische Normen andere Personen schützen, auch wenn man das in den komplexen Zusammenhängen großer Gesellschaften in vielen Einzelfällen nicht direkt bemerkt. Trotzdem ist es einer moralisch erzogenen Person selbstverständlich, eine Situation, in der eine moralische Norm verletzt wird, als eine Situation zu sehen, in der eine andere Person geschädigt wird. Das implizite Wissen um diesen Zusammenhang gehört bei der moralischen Person zur allgemeinen Hintergrundauffassung über die Interpretation der Welt (vgl. oben). In einem weiteren Schritt könnte auch die Verletzung der moralischen Norm selbst als Schädigung der anderen Mitglieder der moralischen Gemeinschaft erscheinen.22 Eine in der Psychologie verbreitete These kann man, wie es scheint, tatsächlich als eine Füllung meines abstrakten philosophischen Ansatzes sehen. In ihrer Zusammenfassung der aktuellen Literatur zum Thema schreibt Lindsey (Lindsey 2005: 454): Thus, guilt provides information about one's behavior and serves to motivate actions to reduce such feelings [...]. If people perceive that they have control over the situation, believe that they can expiate guilt through an action, and feel assured that engaging in these behaviors will attenuate feelings of guilt, they are likely to engage in guilt-reducing behaviors [...]. Moreover, research has shown that increased feelings of guilt lead to increased compliance [...]. Damit bewegt sie sich in dem Rahmen, den ich in der philosophischen Analyse vorgeschlagen habe: Schuld ist demnach eine mit Motivation verknüpfte Wahrnehmung - so lese ich den Passus „provides information" - des eigenen Verhaltens. Aus einer sozialpsychologischen Perspektive hat der Mechanismus des Schuldgefühls wichtige soziale Funktionen. Erstens bewirkt er über motivierende Antizipation von Schuld, dass moralische Normen zu einem höheren Grad eingehalten werden. Darüberhinaus kann er aber dazu dienen, den Zusammenhalt der
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Gemeinschaft zu sichern. Fabricius (2004) schreibt dazu: „The sense of guilt can contribute to social cohesion by integrating the guilty person into the community." (312) Derjenige, der sich schuldig fühle, komme durch den Willen zur Wiedergutmachung der Rache des Geschädigten zuvor; und sollte dieser doch agressiv reagieren, dann sei der Schädiger zu einem gewissen Grad bereit, das hinzunehmen. Dieses Wechselspiel verhindere eine Spirale der Rache. Einen besonderen Vorteil hat der Schuldmechanismus wegen seiner vergleichsweise großen Flexibilität. Das kommt besonders in sehr komplexen Situationen zum Tragen, in denen im voraus noch nicht klar ist, welche Handlungen zu Schädigungen anderer führen. In diesen Fällen ist es fast unmöglich, genaue Regeln einzuführen und mit abschreckenden Sanktionen zu belegen. Der Schuldmechanismus dient zur Reparatur entstandener Schäden und verhindert, dass die moralische Gemeinschaft an solchen Problemen zerbricht.
5.1.3 Expressivismus Nach dieser Vorarbeit kann man aus der anti-realistischen Metaphysik, der philosophischen Psychologie und einer expressivistischen Semantik ein komplettes Bild moralischen Verhaltens und Urteilens zusammenfügen: Wenn man ein moralisches Urteil äußert und eventuell entsprechend handelt, dann drückt man ein moralisches Gefühl aus. Damit ist nicht gemeint, dass man über das Gefühl spricht oder es beschreibt; vielmehr kann ein anderer von dem Komplex aus Äußerung und Verhalten darauf schließen, dass dieses Gefühl vorliegt, so wie er von einer Umarmung auf Zuneigung schließen könnte. Am Beispiel der Schuld bedeutet das nach der bisherigen Analyse: Wenn man sagt, dass man selbst moralisch falsch gehandelt hat, dann drückt man das Gefühl der Schuld aus. Man drückt also aus, dass man in einem Zustand ist, in dem man wahrnimmt, dass eine Norm, die man akzeptiert, verletzt wurde (und dass eine andere Person direkt dadurch oder als Folge davon geschädigt
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wurde) und dass man motiviert ist, entsprechend zu handeln, also zum Beispiel Wiedergutmachung anzustreben. Ist diese Motivation stark genug, um tatsächlich zu entsprechendem Handeln zu führen, dann drückt die Kombination aus Äußerung und Handlung noch deutlicher aus, dass der Komplex von Norm-Akzeptanz, Wahrnehmung und Motivation vorliegt.23 Obwohl ich einen etwas anderen begrifflichen Rahmen als Gibbard gewählt habe, stellt sich heraus, dass zwischen beiden Analysen weitreichende Übereinstimmung besteht. Zwar nennt Gibbard seine Theorie TVorm-Expressivismus. Er spricht, wenn er in dem technischen Teil seines Buches (Gibbard 1990: 94-102) am genauesten ist, aber davon, dass man eine Kombination aus einer Wahrnehmung der Welt (also einem faktischen Anteil) und einer Norm ausdrücke. Er formuliert das dann so, dass man mit einem moralischen Urteil eine Menge faktisch-normativer Welten ausdrücke; nämlich die Menge der Welten, in denen die betreffende Handlung oder Situation von einer Art ist, die den Normen dieser Welt entoder widerspricht: I shall still say the speaker expresses his acceptance of a system of norms. Cryptically, but accurately, I could say instead that he expresses a set of factual-normative worlds. Better, I could say he expresses his ruling out certain combinations of factual possibilities with norms. (Gibbard 1990: 102) Die Rede von „Welten" ist etwas verwirrend und kommt wahrscheinlich aus dem Sprachgebrauch der modallogischen Semantik. Gibbard meint mit Welt soviel wie eine Art, wie die Welt sein könnte. Ich finde es hilfreicher, seinem alternativen Vorschlag zu folgen und unter Welten „completely opinionated credalnormative states of mind" (Gibbard 1990: 95 Fn.) zu verstehen. Auch der motivationale Aspekt kommt implizit ins Spiel, denn nach Gibbards Verständnis beinhaltet die Akzeptanz einer Norm eine Neigung, dieser Norm entsprechend zu handeln. Auch Gefühle in meinem Sinn sind demnach „credal-normative states of mind", da sie Komplexe aus einer Wahrnehmung der Welt, der Akzeptanz einer Norm und der entsprechenden Motivation sind. Wegen
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dieser kategorialen Übereinstimmung kann man Gibbards Argumentation auch für die Verteidigung meines Ansatzes verwenden, obwohl dieser inhaltlich etwas anders aufgebaut ist. Auf einen Punkt muss ich noch hinweisen: Beim Ausdruck des komplexen Zustande, der ein Gefühl ausmacht, tritt eine gewisse Unscharfe auf. Man kann ohne weitere Informationen nicht auf die genaue Form der Komponenten schließen. So ist zum Beispiel bei einem einzelnen Urteil der Form 'ich habe gerade moralisch falsch gehandelt' nicht bestimmt, die Akzeptanz welcher allgemeinen Norm und welche faktische Wahrnehmung ausgedrückt werden. Vielmehr drückt der Sprecher nur aus, dass irgendeine von ihm akzeptierte Norm mit dem Sachverhalt, so wie er ihn wahrgenommen hat, kollidiert. Gibbard spricht deswegen davon, dass man eine Menge von Welten ausdrücke. Zu dieser Menge gehören alle Welten, also Kombinationen von akzeptierten Normensystemen und Wahrnehmungen der Welt, die zu dem fraglichen Urteil geführt haben könnten. Dadurch dass ich vom Ausdruck des komplexen Zustands des moralischen Gefühls spreche, kann ich diese etwas umständliche Formulierung vermeiden. Diese expressivistische Theorie hat die Ressourcen, um mit den beiden klassischen Einwänden gegen projektivistische und expressivistische Theorien umzugehen. Oberflächenstruktur der Sprache und Quasi-Realismus Der erste Einwand gegen expressivistische Theorien lautete, sie würden der Oberflächenstruktur der moralischen Sprache nicht gerecht werden. Darauf kann man erwidern, dass die Oberflächenstruktur der Sprache in vielen Fällen täuscht. Mit Hilfe der sprechaktanalytischen Herangehensweise kann man zeigen, dass die Oberflächenstruktur noch nicht bestimmt, was man tut, wenn man einen bestimmten Satz äußert. Auf dieser Basis kann man eine expressivistische Interpretation scheinbar deskriptiver Urteile stark machen. Nach der zentralen These der Sprechakttheorie vollzieht man mit sprachlichen Äußerungen immer auch Handlungen.24 Trivia-
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lerweise ist bereits das Sprechen selbst eine Handlung (ein so genannter lokutionärer Akt). Darüber hinaus tut man mit Äußerungen aber auch mehr: Man beschreibt etwas, man drückt etwas aus, man warnt oder ermahnt jemanden, man befiehlt etwas oder entschuldigt sich. In den meisten Fällen weist man nicht explizit darauf hin, dass die Äußerung diese Funktion hat. Diesen Aspekt der Äußerung bezeichnet man als ülokutionäre Rolle. Eine Äußerung kann zugleich verschiedene ülokutionäre Rollen haben: Wenn ich sage „Hier ist es kalt" kann ich einen Sachverhalt beschreiben und zugleich jemanden auffordern, das Fenster zu schließen. Auf den ersten Blick erscheint die deskriptive Rolle einer Äußerung als zentral, aber es kommt vor, dass eine Äußerung gar keine deskriptive Komponente hat; Beispiele sind rein performative Äußerungen wie „Entschuldigung!" aber auch Befehle. Die Oberflächenstruktur eines Satzes ist oft kein guter Indikator für die illokutionären Rollen, die der Satz hat oder haben kann. Auf den ersten Blick legt die Oberflächenstruktur des Satzes „Ich wünsche X" zum Beispiel nahe, es sei ein Bericht über den eigenen mentalen Zustand. Die meisten Adressaten würden die Aussage aber als Ausdruck einer Empfindung oder eines Wunsches verstehen. Je nachdem wofür X steht, kann es natürlich sein, den Satz als Aufforderung zu sehen - etwa wenn man sagt „Ich wünsche, dass du tust". Gerade im weitesten Sinn normative oder wertende Aussagen versteht man oft am besten als Aussagen, die nicht primär eine deskriptive Rolle haben. Der Einwand, die expressivistische Metaethik sei unplausibel, weil sie die Oberflächenstruktur der moralischen Sprache missachte, verliert damit an Kraft. Denn die syntaktische Oberfläche einer Aussage täuscht gerade im Fall wertender Urteile, zu denen moralische Urteile gehören, oft über deren ülokutionäre Rolle. Damit ist gezeigt, dass es, ohne gegen Grundprinzipien der Alltagssprache zu verstoßen, möglich ist, die sprachliche Form konstativer Sätze zu verwenden, um moralische Gefühle auszudrücken. Ob das sinnvoll und nützlich ist, bleibt allerdings noch offen.
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Hier könnte eine schwächere Variante des Einwands angreifen: Warum, könnte man fragen, verwendet man für Aussagen, die im Regelfall nicht deskriptiv sind, eine sprachliche Form, die paradigmatisch für deskriptive Aussagen ist? Warum greift man nicht auf eine einfachere Ausdrucksweise zurück, etwa indem man sagt „X, buh!" oder „X, hurrah!". Diese Ausdrücke können Zustimmung zu oder Ablehnung von X ausdrücken, aber nicht berichten. Sie haben also ausschließlich die illokutionäre Rolle, die ein Expressivist moralischen Äußerungen zuschreibt. Blackburns Programm des Quasi-Realismus zeigt einen Weg, wie man sich diesem Problem stellen kann (Blackburn 1993). Er argumentiert, dass wir die Ausdruckskraft und logische Struktur der gewöhnlichen Sprache brauchten, um die Struktur unserer moralischen Empfindungen (sensibilities] auszudrücken. Blackburn lehnt ja ab, dass die Empfindungen selbst in einem strengen Sinn logische Struktur haben. Aber er argumentiert, dass sie, um ihre praktische Rolle erfüllen zu können, einen hohen Grad an Kohärenz aufweisen müssen. Es sei mit dieser Kohärenz zum Beispiel nicht vereinbar, das Lügen zu verabscheuen und es zugleich positiv zu empfinden, wenn man jemanden zum Lügen verleite. Wir hätten, so fährt Blackburn fort, eine (zweitstufige) Empfindung für die Kohärenz moralischer Empfindungen, die wir auch ausdrücken wollten. Dafür reiche eine Sprache, die nur über Ausrufe wie „Hurrah!" verfüge, nicht mehr aus: „In short, [... the moral language] needs to become an instrument of serious, reflective, evaluative practice, able to express concern for improvements, clashes, implications, and coherence of attitudes. Now, one way of doing this is to become like ordinary English." (Blackburn 1984: 195) Wir sprächen deswegen so, als ob wir moralische Sachverhalte in der Welt beschrieben. Blackburns minimale Annahmen über die Struktur der ausgedrückten mentalen Zustände zwingen ihn bei diesem Argument zu einer Gratwanderung, auf der er erklärt, wie jene Zustände über ein Kohärenzgefühl doch zu einer genaueren Struktur kommen. Ich möchte vor allem die Idee festhalten, dass wir die volle
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Ausdruckskraft der natürlichen Sprache brauchen, um die komplexen mentalen Zustände auszudrücken, die einem moralischen Urteil zu Grunde liegen. Über diese Struktur selbst kann ich aber auf unproblematischere Weise mehr sagen, da ich ja bereits den Zustand der Norm-Akzeptanz als Komponente der moralischen Gefühle eingeführt habe. Eingebettete Kontexte und moralisches Schlussfolgern Gibbards Analyse ist ein mächtiges Instrument, um Geachs Einwand zu entkräften. Gibbard entwickelt eine Theorie des Gehalts normativer Urteile und klärt, wie man auch komplexe, logisch strukturierte normative Urteile expressivistisch verstehen kann und wie Ableitungsbeziehungen zwischen ihnen bestehen können (Gibbard 1990: 94-102). Ich rekonstruiere im Folgenden Gibbards Vorschlag und wende ihn auf meinen Ansatz an. Der Gehalt einer normativen Aussage ist nach Gibbard die Menge aller faktisch-normativen Welten, in denen die Aussage gilt. Eine faktisch-normative Welt ist formal gesehen ein Paar aus einer vollständigen Beschreibung der Welt w und einem vollständigen System von Normen n. Wie ich oben erklärt habe, passt das zu meiner Analyse moralischer Aussagen als Ausdruck von Gefühlen: Wenn man ein moralisches Gefühl ausdrückt, drückt man die vorhandene oder fehlende Passung einer akzeptierten Norm n mit der wahrgenommenen Welt w aus. Da verschiedene Kombinationen aus n und w Konstituenten des selben Gefühls sein können, muss man, genau wie Gibbard das tut, sagen, man drücke mit einem Urteil eine Menge dieser Paare (w, n) aus. n ordnet jeder Handlung eine der Eigenschaften erlaubt, verboten oder geboten zu. Ob etwas von n erlaubt oder verboten ist, ist eine rein faktische Frage. Deswegen kann man rein deskriptive Prädikate definieren, die Gibbard -erlaubt etc. nennt. Unter das Prädikat -erlaubt fallen dann alle Handlungen, die von n erlaubt sind. Auf diese Weise kann man - ein moralisches Normensystem n vorausgesetzt - zu allen moralischen Aussagen analoge deskripti-
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ve Aussagen erstellen: (AI) „Lügen ist moralisch verboten" wird zu (Aln) „Lügen ist -verboten". Eine moralische Aussage gilt genau dann in einer faktisch-normativen Welt (w,n), wenn die entsprechende deskriptive -Aussage in w gilt. Diese Übertragung kann man auch für beliebig komplizierte moralische Aussagen durchführen: So wird die Aussage (A2) „Wenn es moralisch schlecht ist zu lügen, dann ist es moralisch schlecht, jemanden zum Lügen zu verleiten" zu der Aussage: (A2n) „Wenn es in allen Fällen -verboten ist zu lügen, dann ist es -verboten, jemanden zum Lügen zu verleiten." Soweit handelt es sich nur um einen terminologischen Formalismus. Die wichtige Leistung erbringt die Einsicht, dass jede normative Aussage nur in einer bestimmten Menge von faktischnormativen Welten erfüllt ist. Der Gehalt einer Aussage besteht dann in der Menge dieser Welten. Anders gewendet: Äußert man eine moralische Aussage, dann drückt man aus, dass man eine der Welten in dieser Menge akzeptiert. Durch weitere Aussagen verkleinert sich diese Menge - ein Gegenüber kann einem nur die Akzeptanz der Welten zuschreiben, in der alle bisher getroffenen Aussagen erfüllt sind. Je kleiner die Menge der einem zuschreibbaren Welten ist, umso genauer ist bestimmt, welche Welt man tatsächlich akzeptiert. Besonders gut geeignet, um die Menge zu verkleinern, sind logisch strukturierte Aussagen: Indem man das konditionale Urteil (A2) äußert, drückt man aus, dass man eine ganze Gruppe von faktisch-normativen Welten nicht akzeptiert, nämlich die Welten, in denen es -verboten ist zu lügen, aber nicht -verboten, andere zum Lügen zu verleiten. Damit verfügt man über eine expressivistische Analyse dieses Konditionals. Für alle (w,n), die einem nach der Äußerung von (AI) und (A2) noch zugeschrieben werden können, gilt jetzt, dass in w dann auch (A3n) gilt, nämlich „Es ist -verboten, jemanden zum Lügen zu verleiten." Es gibt kein (w,n), das man dem Sprecher zuschreiben kann und in dem es erlaubt ist, jemanden zum Lügen zu verleiten - das heißt, dass man kein einziges konsistentes System von Normen und keine kohärente Weltsicht finden kann, unter der man
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(AI), (A2) und nicht-(AS) vertreten kann. Auf diese Weise kann man verstehen, wie zwischen normativen Sätzen Ableitungsbeziehungen bestehen können, und so das Kern-Argument des FregeGeach-Einwands entkräften (vgl. Abschnitt 5.1.1, S. 140). Dass der modus-ponens hier gilt, kommt daher, dass jedes System von Normen n logisch konsistent ist. Dabei handelt es sich um ein praktisches Erfordernis: „True, the authority of logic is not here the authority of avoiding necessary falsehood. It is the authority of not both permitting p and requiring not p, and this is simply built into a condition on a coherent credal normative state. But in turn we can give excellent reason, from considering the very point of having norms at all, why it should be built in." (Blackburn 1992b: 350) Wäre n nicht logisch kohärent, dann wäre es nicht möglich, eindeutige -Eigenschaften zu bestimmen: Denn bei den n-Eigenschaf ten handelt es sich um ganz gewöhnliche faktische Eigenschaften der Welt. Und wenn man über solche Eigenschaften sprechen möchte, muss man sich an die Regeln der klassischen Logik halten, will man nicht unvermeidbar Falsches sagen. Könnte man die -Eigenschaften nicht bestimmen, dann könnte n nicht als Bewertungs- und Handlungsrichtlinie dienen. Wie soll man sich verhalten, wenn eine fragliche Handlung -geboten, aber nicht -erlaubt ist? Auf diesem pragmatischen Weg überträgt sich die Autorität der Logik auf akzeptierte Normensysteme und gilt damit für Aussagen, in denen man Normen als Konstituenten von Gefühlen ausdrückt.
5.2 Kontraktualismus und Anti-Realismus 5.2.1 Gefühle, Gründe und Sanktionen Die moralische Alltagspraxis und interne Rechtfertigung Die eben entwickelte expressivistische Theorie zeichnet folgendes Bild der moralischen Alltagspraxis. Mit moralischen Urteilen, die man im Alltag als Teilnehmer einer moralischen Praxis
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fällt, drückt man moralische Gefühle aus, die sich als Reaktionen auf bestimmte Sachverhalte einstellen. Diese moralischen Gefühle motivieren zu entsprechendem Verhalten. Oder genauer gesagt: Die Motivation zu entsprechendem Verhalten ist ein konstitutiver Teil dieser Gefühle. Deswegen ist man notwendigerweise motiviert, entsprechend zu handeln, wenn man in einem Urteil ein solches Gefühl ausdrückt (motivationaler Internalismus). Moralische Urteile der moralischen Alltagspraxis sind, anders gesagt, immer verbindlich für denjenigen, der sie äußert. Wer ein moralisches Gefühl hat, ausdrückt und ihm entsprechend handelt, bemerkt im paradigmatischen Fall nicht, dass dieses Gefühl seinem Verhalten zu Grunde liegt. Vielmehr besteht das Gefühl darin, dass er eine bestimmte Situation als moralisch gut oder schlecht wahrnimmt und dieser Wahrnehmung entsprechend motiviert ist. Er handelt aus seiner Sicht nicht, weil er ein Gefühl hat, sondern weil die moralische Qualität der Welt diese Handlung erfordert. Es wäre falsch zu sagen, dass eine solche moralische Person zum Beispiel aus Angst vor Schuld handle. Man könnte moralische Gefühle deswegen als transparent bezeichnen: Der moralisch Handelnde sieht gewissermaßen durch sie hindurch auf die Welt. In die naturalistische Interpretation von Gründen (Abschnitt 4.1.2) fügt sich diese These sehr gut ein. Wenn moralische Personen über ihre Handlungen reden und sie rechtfertigen, werden sie nicht die moralischen Gefühle als Gründe angeben. Sie werden nicht sagen, sie hätten einem Ertrinkenden geholfen, weil sie andernfalls ein Gefühl der Schuld zu befürchten gehabt hätten. Vielmehr werden sie den Grund angeben, der konstituiert ist aus der Norm, die man als Teil des moralischen Gefühls akzeptiert, und der Weltwahrnehmung, die ebenso Teil des Gefühls ist. Angenommen Herr Schmidt hat ein ertrinkendes Kind gerettet. Zunächst wird er vielleicht sagen, er habe es getan, weil er in dieser Situation moralisch dazu verpflichtet war; das ist ein Ausdruck seines Gefühls des Verpflichtetseins oder eines antizipierten Schuldgefühls, das ihn zuvor zu der Handlung motiviert hat. Auf ge-
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nauere Nachfrage kann er aber als Begründung geben, das Kind sei in Not gewesen und man müsse Menschen in Not helfen. Wenn man ein moralisches Gefühl hat, dann verfügt man immer auch schon über die Ressourcen, einen moralischen Grund für das eigene Verhalten anzugeben. Man könnte auch sagen: Wenn man einen Grund für moralisches Verhalten gibt, dann mache man die „credal-normative states of mind" (Gibbard 1990: 95 Fn.) explizit, die man in moralischen Urteilen ausdrückt. Es wäre nicht nahe liegend, einen anderen Grund zu geben. Ich habe oben erwähnt, dass moralische Gefühle auch entstehen können, wenn sie auf einer bloß internalisierten, nicht aber akzeptierten Norm beruhen. Das ist zum Beispiel der Fall, wenn man gerade dabei ist, sich eine bestimmte anerzogene Reaktion abzugewöhnen. Dann tritt das Gefühl zwar zunächst auf, man hat aber eine gewisse Distanz dazu. Trotzdem kann es sein, dass man motiviert ist und auch entsprechend handelt. In diesen Fällen liefert das Gefühl höchstens die Ressourcen, um einen vermeintlichen Grund anzugeben. Interne Rechtfertigung Innerhalb der moralischen Praxis ist auch eine gesellschaftliche Diskussion auf der Basis moralischer Gründe möglich, die zur Begründung und Akzeptanz neuer moralischer Normen führt. Auch grundlegende Normen können sich dabei im Laufe der Zeit ändern. Das entspricht dem allgemeinen Muster einer internen Rechtfertigungspraxis, die zwar hauptsächlich auf Kohärenz zielt, dabei aber zum Beispiel durch Veränderungen nicht-moralischer Überzeugungen und Haltungen oft dazu gezwungen wird, das gesamte System moralischer Normen anzupassen. Trotzdem handelt es sich immer noch um eine Veränderung von innen, denn keiner der Beteiligten tritt aus der moralischen Praxis heraus und stellt diese selbst in Frage. Deswegen ist das Argument des interessenbasierten moralischen Kontraktualismus in dieser Situation nicht als Rechtfertigungsargument geeignet; es lehnt ja explizit alle moralischen Prämissen ab und sucht nicht-
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moralische Gründe für die gesamte moralische Praxis (vgl. Abschnitt 4.4.1, S. 124). Die Sicht von außen: Moralische Gefühle als Sanktionen Aus Sicht des moralischen Kontraktualismus habe ich moralische Gefühle in den ersten Kapiteln als Sanktionen eingeführt. Der Skeptiker, auf den der moralische Kontraktualist antwortet, stellt unter anderem die Berechtigung genau dieser Gefühle als Sanktionen in Frage. Er möchte wissen, ob er einen Grund hat, das schlechte Gewissen oder seine Disposition, sich bei bestimmten Handlungen schuldig zu fühlen, zu akzeptieren. Hier tut sich auf den ersten Blick ein Widerspruch zu der eben entwickelten Theorie moralischer Gefühle auf. Denn einerseits habe ich moralische Gefühle im Rahmen von IMK als motivierende Handlungs/oigen beschrieben, andererseits aber als Teil des Deliberationsprozesses des moralischen Akteurs charakterisiert, der diesem üblicherweise gar nicht bewusst wird. Genauer gesagt: Das Paradigma einer Sanktion im allgemeinen Sinn ist eine von der Gemeinschaft geschaffene abschreckende Handlungsfolge. Die Akteure sind sich in diesem Fall bewusst, dass ein bestimmtes, ansonsten vorteilhaftes Verhalten die Sanktion provoziert. Das ist oft bei rechtlichen Regeln der Fall. Die Akteure entscheiden sich, wenn die Sanktion stark genug ist, bewusst deswegen gegen das fragliche Verhalten, weil sie nur so die Sanktion vermeiden können. Bei meiner Beschreibung des interessenbasierten Kontraktualismus habe ich im Prinzip mit diesem Bild von Sanktionen gearbeitet, wenn ich von der Sanktionsmaschine gesprochen habe, die Regelbrüche bestraft. Widerspricht das nicht dem Bild von moralischen Gefühlen, das ich oben gezeichnet habe? Der Kontraktualismus wirft eine gesellschaftstheoretische Sicht auf die moralische Praxis. Er spricht von Sanktionen in einem rein funktionalistischen Sinn und betrachtet sie sozusagen als Black Box. Sanktionen sind demnach alle funktionalen Äquivalente der eben beschriebenen paradigmatischen Sanktionen, also Mechanismen, die von der moralischen Gemeinschaft im Prinzip steuerbar
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sind und die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass sich Akteure moralischen Regeln entsprechend verhalten. Auf welchem Weg dabei die Motivation zu moralischem Handeln entsteht oder wie die Teilnehmer der moralischen Praxis diese Mechanismen wahrnehmen, bleibt dabei offen. Weil es für das Kern-Argument des Kontraktualismus nicht wichtig ist, habe ich in Kapitel 3 die Black Box nicht gefüllt und mit dem einfachsten oder paradigmatischen Fall von Sanktionen, nämlich mit abschreckenden Handlungsfolgen, gearbeitet.25 Die Unterscheidung zwischen einer funktionalistischen externen Beobachter-Perspektive und der Perspektive der Teilnehmer der moralischen Praxis löst den scheinbaren Widerspruch also auf. Die genauere Analyse bestätigt, dass moralische Gefühle die funktionalen Eigenschaften von wirksamen Sanktionen haben, obwohl die Teilnehmer der moralischen Praxis sie im Regelfall nicht als solche wahrnehmen. Sanktionen haben ja die Aufgabe, die Befolgung einer Regel für einen Handelnden in einer Situation vorteilhaft zu machen, in der ohne die Sanktion ein Bruch der Regel den größten Vorteil versprechen würde. Könnte der Handelnde nun in jeder Situation die Sanktion einfach ausschalten, dann wäre es für ihn am besten, das genau dann zu tun, wenn ein Regelbruch vorteilhaft erscheint - also genau in den Fällen, für die man die Sanktion braucht. Wenn sich also alle Mitglieder einer Gemeinschaft rational verhalten, hat eine ausschaltbare oder in jeder Situation individuell wählbare Sanktion überhaupt keine Wirkung mehr. Bei moralischen Gefühlen besteht diese Gefahr nicht: Man kann sie nicht in jedem Einzelfall kontrollieren: Wahrnehmung der Situation und Motivation stellen sich automatisch ein. Dieser Automatismus ist eine erste wichtige Eigenschaft, die moralische Gefühle als Sanktionen qualifiziert. Typisch an funktionierenden Sanktionsmechanismen für moralische Normen ist allerdings auch, dass sie in einem anderen Sinn steuerbar sind: Die Mitglieder der moralischen Gemeinschaft können sie gemeinsam verändern (vgl. Abschnitt 2.1.2). In einer gesellschaftlichen Diskussion wandeln sich zum Beispiel nach und
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nach bestimmte Haltungen und Konventionen, die zum strafenden Ausschluss einzelner aus der gesellschaftlichen Zusammenarbeit führen. Das kann ein langwieriger Prozess sein. Moralische Gefühle verändern sich, wie oben erläutert, im Prozess der internen Rechtfertigung, der zu einer gewöhnlichen moralischen Praxis immer gehört. Auf diese Weise passen sich moralische Gefühle der aktuellen Praxis an. Man könnte gegen den letzten Punkt einwenden, das Beispiel der konservativ erzogenen Person (vgl. S. 146) zeige, dass moralische Gefühle zwar im Einklang mit der allgemeinen gesellschaftlichen Meinung erlernt seien, dass man sie aber, auch wenn sich diese allgemeine Meinung verändere, nur schwer wieder verlernen könne. Insbesondere sei es schwer, eine neue Gefühlsdisposition zu erlernen, die einer alten widerspreche. In diesem Fall seien moralische Gefühle also doch nicht hinreichend unter unserer Kontrolle. Ich stimme zu, dass die Dispositionen zu moralischen Gefühlen träge sind.26 Letztlich ist das nur die Kehrseite der Beobachtung, dass man Gefühle nicht von Situation zu Situation verändern kann. Doch das ist bei anderen informellen Sanktionen nicht anders. Die Mechanismen des sozialen Drucks sind ähnlich träge. Eine schnellere Anpassung kann man nur von formaleren Institutionen erwarten, etwa von der Gesetzgebung und den entsprechenden Instanzen der Judikative und Exekutive eines gut organisierten Staates. Um sich als Sanktion qualifizieren zu können, muss ein Mechanismus plausiblerweise also nur im Prinzip veränderbar sein. Leitsanktionen Moralische Gefühle spielen eine besondere Rolle, die sie gegenüber anderen Sanktionen auszeichnet. Ich möchte sie deswegen als Leitsanktionen bezeichnen. Damit ist erstens gemeint, dass moralische Gefühle auch die anderen Sanktionen in erheblichem Umfang steuern. Mechanismen des sozialen Drucks, etwa die Drohung der Ausgrenzung aus der gesellschaftlichen Kooperation, basieren zu einem großen Teil auf dem Gefühl der Empörung oder Entrüstung über Fehlverhalten. Zweitens möchte
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ich mit dem Begriff der Leitsanktion darauf hinweisen, dass moralische Gefühle im expressivistischen Sinn die Bedeutung moralischer Urteile festlegen. Urteile, deren Gehalt durch andere Sanktionen bestimmt wird (also zum Beispiel Beschreibungen der Mechanismen des sozialen Drucks oder Warnungen vor solchen Mechanismen27), wären keine moralischen Urteile im eigentlichen Sinn. Drittens sind moralische Gefühle konstitutiv dafür, wie der Akteur seine moralische Überlegung erlebt. Trotz dieser wichtigen Rolle, die moralische Gefühle spielen, sind sie in den meisten Fällen allein wahrscheinlich nicht stark genug, um einen Akteur zu moralischem Handeln zu bewegen. Das kann daran liegen, dass zentrale nicht-moralische Wünsche oder Haltungen oder auch andere Gefühle gegenteilige motivationale Wirkung haben. Moralisch zu handeln, kann in einigen Situationen erfordern, sehr viel aufzugeben. Um einen Akteur zuverlässig zu moralischem Handeln zu bewegen, muss wahrscheinlich ein großer Teil der Palette informeller Sanktionen greifen. Nur durch dieses Zusammenspiel verschiedener Sanktionen wird die moralische Praxis stabil. In diesen Punkten stimme ich mit Hume überein: [A] sympathy with the public interest is the source of the moral approbation, which attends that virtue. This latter principle is too weak to controul our passions; but has sufficient force to influence our taste, and give us the sentiments of approbation or blame. (Hume 1739: 3.2.2.24) Obwohl die moralischen Gefühle die Grundlage für moralische Urteile sind und das Erleben des moralischen Akteurs bestimmen, sind sie in den meisten Fällen zu schwach, um zum moralischen Handeln zu motivieren. Diese Beobachtung stellt man natürlich nur aus der externen oder funktionalistischen Perspektive an, wie sie zum Beispiel ein Sozialwissenschaftler einnehmen würde. Aus Sicht des moralischen Akteurs motivieren ja weder das moralische Gefühl noch der soziale Druck zum moralischen Handeln, sondern die moralische Qualität der wahrgenommenen Situation.28
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5.2.2 Reflexion und externe Rechtfertigung Einen Schritt zurücktreten Von der so beschriebenen moralischen Praxis kann man einen Schritt zurücktreten und fragen, ob sie gerechtfertigt ist.29 Das tut zum Beispiel jemand, der vor einer sehr schwierigen moralischen Entscheidung steht, jemand, dem moralisches Verhalten sehr viel abverlangt, oder jemand, der mit Moralsystemen fremder Kulturen konfrontiert ist. Eine Antwort auf eine solche Frage kann nicht auf moralische Gründe zurückgreifen, denn das würde voraussetzen, dass der Adressat bestimmte moralische Normen akzeptiert. Aber genau das tut er in der Situation, aus der heraus er nach der Rechtfertigung der moralischen Praxis selbst fragt, gerade nicht. Hier muss man also ein Argument der archimedischen Rechtfertigung anbringen, das nur nicht-moralische Gründe als Prämissen verwendet.30 Der Skeptiker kann vom archimedischen Standpunkt aus zwei verwandte Fragen stellen, (a) Erstens kann er fragen, ob die aktuelle Form der moralischen Praxis gerechtfertigt ist. (b) Zweitens kann er die grundlegendere Frage danach stellen, ob überhaupt eine moralische Praxis gerechtfertigt werden kann. Der interessenbasierte moralische Kontraktualismus kann auf diese beiden Fragen eine Antwort geben. Er zeigt und das mit einem Argument öffentlicher Rechtfertigung gegenüber allen Mitgliedern der moralischen Gemeinschaft -, dass es gute Gründe gibt, eine bestimmte moralische Praxis gegenüber einem Zustand ohne Moral zu akzeptieren. Damit hat er eine Antwort auf die Frage (b) gegeben, indem er zeigt, dass vielleicht nicht jedes, aber ein bestimmtes System von Sanktionen gerechtfertigt werden kann. Auch auf die Frage (a) kann IMK antworten. In Abschnitt 3.2.1 (S. 60) habe ich erläutert, wie man IMK verwenden kann, um die Auswahl einer bestimmten moralischen Praxis zu rechtfertigen. IMK ist nicht das einzige denkbare archimedische Argument; man könnte zum Beispiel versuchen, eine Rechtfertigung von einem religiösen oder anthropologischen Standpunkt aus zu geben. Aber IMK ist ein
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mögliches und wegen seiner sparsamen Voraussetzungen erfolgversprechendes Verfahren der öffentlichen archimedischen Rechtfertigung (vgl. Abschnitt 4.4.1). Mit seinem Argument gibt der Kontraktualist keine moralische Bewertung ab. Er will ja zeigen, dass die moralische Praxis aus Überlegungen des individuellen Interesses heraus begründet ist, nicht aber, dass sie aus moralischer Sicht gerechtfertigt ist. Er sagt also nichts über die moralische Qualität eines Systems. Zudem kann man mit dem kontraktualistischen Argument nicht einzelne Handlungen oder ein bestimmtes Verhalten in einzelnen Situationen bewerten. Das einzige, was gerechtfertigt werden kann, ist ein System von Sanktionen, also hauptsächlich ein System von moralischen Gefühlen. Zusammengefasst bedeutet das, dass der moralische Kontraktualismus keine moralischen Urteile im klassischen Sinn, also Urteile, die ein Teilnehmer an der moralischen Praxis fällt, hervorbringt. Kommt beim vertragstheoretischen Argument Moral heraus? Ob es sich bei der Praxis, nach deren Rechtfertigung der Skeptiker fragt, um eine genuin moralische Praxis handelt, bestimmt das vertragstheoretische Argument nicht. Als moralisch zeichnet sich die Praxis dadurch aus, dass die Normen, die sie steuern, sich auf Interaktionen beziehen und für die Teilnehmer in starker Weise verbindlich sind, dass sie bestimmte Formen der Kommunikation verwendet, dass die Beteiligten bestimmte Gefühle entwickeln und dass spezifische Mechanismen des sozialen Drucks eine Rolle spielen (vgl. Abschnitt 2.1.2). Hier kann man schon die allgemeine Frage, ob bei dem vertragstheoretischen Argument Moral herauskomme, beantworten: Die Frage basiert auf einem Missverständnis; denn die Schlüsse aus dem Argument können und sollen gar keine moralischen Urteile sein. Und ob es sich bei der Praxis, die IMK untersucht und gegebenenfalls mit interessenbasierten Gründen rechtfertigen kann, um eine moralische Praxis handelt, ist ganz unabhängig von dem Ergebnis, zu dem IMK kommt.
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Diese Auffassung hat eine auf den ersten Blick vielleicht unplausible Konsequenz: Es gibt ihr zufolge moralische Urteile, die nicht rechtfertigbar sind. A fortiori kann es deswegen auch sein, dass man etwas korrekterweise, also den Regeln der aktuellen Praxis entsprechend, als moralisch gut beurteilt, obwohl die Praxis selbst archimedisch nicht zu rechtfertigen ist. Allerdings hat diese Sprechweise auch einen großen Vorteil: Würde man Rechtfertigbarkeit und Moralität gleichsetzen, dann hätte man das Problem, dass eine nicht-rechtfertigbare Praxis automatisch keine moralische Praxis mehr wäre, obwohl sie alle oben genannten Merkmale einer moralischen Praxis aufweist. Freilich könnte man dann von einer Pseudo-Moral sprechen, aber ich denke, das nicht-moralische Verständnis des Begriffs moralisch, das ich vorschlage, ist analytisch aufschlussreicher.31
5.2.3 Der Einwand des Hineintäuschens in die Moral An dieser Stelle könnte ein Gegner noch einmal einhaken und argumentieren, die starke Entkoppelung von IMK und der Teilnehmerperspektive der moralischen Praxis sei über das Ziel hinausgeschossen. Denn wenn IMK ein externes Rechtfertigungsargument sei, dann müsse es mehr zeigen, um überhaupt ein Rechtfertigungsargument für die moralische Praxis zu sein. Eine moralische Praxis sei, so der Gegner, nämlich wesentlich eine Begründungspraxis. Gültige moralische Forderungen seien nur solche Forderungen, die man anderen und sich selbst gegenüber mit guten moralischen Gründen rechtfertigen könne. Deswegen müsse eine Rechtfertigung einer moralischen Praxis zeigen, dass moralische Gründe wirklich gute und nicht bloß vermeintliche Gründe seien. Schmidt formuliert den Einwand dann so: Nehmen wir [...] an, daß es gelänge, dem Dritten gegenüber einsichtig zu machen, daß er insgesamt besser fahren würde, würde er sich der moralischen Praxis [...] anschließen. [...] Gelingt dieser Nachweis [...], so wäre dem Außenstehenden gezeigt, daß er besser daran tut,
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sich zu der Meinung zu bringen, daß die Gründe und Argumente, die er zuvor nicht als solche anerkannt hat, eben doch Gründe sind. Jedoch gilt: Daraus, daß es vernünftig ist, sich dazu zu bringen, etwas als einen Grund anzuerkennen, folgt nicht, daß es sich um einen Grund handelt. (Schmidt 2003: 152)
IMK könne also nicht zeigen, dass moralische Gründe echte Gründe seien, weil er von seinem externen Standpunkt aus nur darauf hinweisen könne, dass eine Praxis, in der man moralische Gründe akzeptiert, von außen gesehen vorteilhaft sei. Dieser Einwand kann den Kontraktualismus vor dem Hintergrund einer realistischen Werttheorie sicher treffen, in deren Rahmen es sinnvoll ist, davon zu sprechen, dass etwas wirklich oder absolut ein Grund sei, der durch bestimmte feststehende Werte konstituiert sei. Nur weil jemand etwas als einen Grund akzeptiere, so der Realist, sei es noch lange kein Grund. Man könne sich also leicht über Gründe täuschen und der Kontraktualismus sei ein ausgefeiltes Täuschungsmanöver. Ausführlich diskutiere ich diesen Fall in Abschnitt 6.2.1. Dieses Argument funktioniert hingegen nicht, wenn man die Theorie von Gründen und Rechtfertigung akzeptiert, die ich in Kapitel 4 entwickelt habe. Nach meiner Theorie der Gründe konstituiert die Akzeptanz einer Norm N durch eine Person P einen Grund. Es kann sein, dass dieser Grund kein besonders starker Grund ist oder dass es viele Gründe gibt, die ihm entgegenstehen. Es kann auch sein, dass P eine Norm für Normakzeptanz akzeptiert, die empfiehlt N abzulehnen. Wenn P rational ist, wird er N deswegen nicht mehr akzeptieren (obwohl es sein kann, dass er N weiterhin internalisiert hat). Schmidts Ausdruck „etwas als einen Grund anerkennen" kann man meines Erachtens am besten in diese Terminologie übersetzen als: „eine Norm akzeptieren, die in Situationen, in denen dieser Grund greift, vorschreibt, das zu tun oder zu glauben, wofür dieser Grund ein Grund ist". Dann versucht IMK nach Schmidt zu zeigen, dass es vernünftig ist, sich dazu zu bringen, eine moralische Norm zu akzeptieren. Und tatsächlich ist es das, was IMK
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tut: Denn IMK zeigt, dass es vernünftig ist, sich dazu zu bringen, moralische Gefühle (als Sanktionen) zu haben, wenn andere das auch tun. Will man sich dazu bringen, ein moralisches Gefühl zu haben, muss man auch dafür sorgen, dass man die zugrunde liegende moralische Norm akzeptiert. IMK stimmt zu, dass zu einer moralischen Praxis immer eine Praxis der Rechtfertigung mit Hilfe moralischer Gründe gehört. IMK möchte allerdings gar nicht zeigen, dass es sich bei moralischen Gründen um echte Gründe handelt, sondern nur, dass es Gründe gibt, moralische Gründe zu akzeptieren. Dabei kann man zwei typische Anwendungssituationen unterscheiden. Erste Situation: Jemand ist schon Mitglied der moralischen Praxis. Für ihn sind moralische Gründe deshalb Gründe, weil er die entsprechenden Normen akzeptiert. Er kann zwar aus der Praxis für einen Moment heraustreten und fragen, ob es vom Standpunkt des eigenen Interesses gerechtfertigt werden kann, dass er diese Normen akzeptiert. Gelingt die Rechtfertigung, dann finden die Gründe, die ohnehin schon bestanden, eine Bestätigung. Es ist geklärt, dass die moralischen Gründe nicht im Konflikt mit wichtigen anderen Gründen stehen und dass sie auch bei rationaler Reflexion aufrechterhalten werden können. Aber es waren vor und nach der kontraktualistischen Rechtfertigung Gründe. Zweite Situation: Jemand ist noch nicht oder nicht mehr Mitglied der moralischen Praxis. Dann kann der Kontraktualist ihm einen ausschlaggebenden Grund geben, die moralischen Gefühle und damit die Normen der Praxis zu akzeptieren. Das hat bei einem rationalen Adressaten zur Folge, dass er diese Normen tatsächlich akzeptiert. Auf diese Weise entstehen neue Gründe für P - nämlich Gründe, das zu tun, was diese Normen empfehlen oder vorschreiben. Es gibt keine weiteren Ressourcen, um zu beurteilen, ob es sich dabei um „echte" Gründe handelt. Dieser Weg ist ein rationaler und unter Reflexion stabiler Weg, neue Gründe zu schaffen. Wenn es vernünftig ist, sich dazu zu bringen, etwas als Grund anzuerkennen, heißt das, dass es ein guter Grund ist. Im Rah-
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men meiner Auffassung von Gründen kann man Schmidts Einwand nicht überzeugend formulieren. Anders ist das vor dem Hintergrund einer realistische Werttheorie. Das ist einer der Gründe, warum IMK mit einem solchen Ansatz nicht gut verträglich ist.
5.3 Antworten auf die vier Einwände Jetzt stehen die Ressourcen zur Verfügung, um im Detail zu zeigen, wie IMK den vier metaethischen Einwänden, die ich in Abschnitt 3.4 herausgearbeitet habe, begegnen kann.
5.3.1 Verbindlichkeit In Abschnitt 3.4.1 (S. 78) habe ich den Einwand vorgestellt, IMK habe einen verfehlten Begriff der moralischen Praxis. Die Praxis, auf die sich IMK beziehe, sei von einer tatsächlich moralischen Praxis wesentlich verschieden. Tatsächliche moralische Regeln und von IMK rechtfertigbare Regeln unterschieden sich in ihrer motivierenden Kraft und in der Art der Forderung, die aus ihnen entstünde. Der Kontraktualismus hat ein falsches Bild moralischer Motivation Der erste Teil des Einwands lautet, IMK unterstelle ein falsches Bild moralischer Motivation; denn IMK zu Folge handelten moralische Akteure nur aus Angst vor der Sanktionsmaschine und verrechneten Sanktionen als Kosten eines bestimmten Vorgehens mit dessen Vorteilen. Sie handelten, so der Einwand, also nicht aus moralischer Einsicht oder wegen ihres eigenen moralischen Urteils. Das sei eine falsche Annahme über die tatsächliche moralische Praxis, in der es Urteile gebe, die von sich aus motivierten. Dieser Einwand basiert, wie man nach der obigen Diskussion in Abschnitt 5.2.1 leicht zeigen kann, auf einem Missverständnis. Die
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Urteile des moralischen Kontraktualismus selbst sind keine moralischen Urteile. Sie erheben deswegen gar nicht den Anspruch, wie typische moralische Urteile zu motivieren. Es sind Urteile darüber, ob eine bestimmte moralische Praxis aus der externen Sicht des individuellen Interesses wünschenswert ist. Genauso wenig möchte IMK die Deliberation der moralischen Akteure beschreiben; IMK sagt nichts darüber, ob die rechtfertigbaren Sanktionen als Sanktionen und damit ökonomisch gesprochen als Kosten in typischen moralischen Überlegungen eine Rolle spielen. Nach meiner anti-realistischen Theorie motivieren die moralischen Urteile, die Teilnehmer einer moralischen Praxis fällen, in einem Sinn, der mit dem vortheoretischen Internalismus vereinbar ist: Diese gewöhnlichen moralischen Urteile sind Ausdruck von Gefühlen und ipso facto notwendig mit Motivation verbunden. Ein moralischer Akteur bemerkt üblicherweise überhaupt nicht, dass moralische Gefühle im Spiel sind. Ein Gefühl zu haben bedeutet ja, die jeweilige Situation in einer bestimmten Weise zu sehen und durch die wahrgenommenen Eigenschaften der Situation motiviert zu sein. Das Problem folgenlosen Regelbruchs Der zweite Teil des Einwands lautete, der moralische Kontraktualismus könne nicht erklären, dass moralische Normen auch dann verpflichtenden Charakter haben, wenn die Sanktionen punktuell versagen. Denn, so das Argument, der einzige Grund, moralisch zu handeln, bestünde ja in einer andernfalls zu erwartenden Sanktion und diese versage eben. Habe jemand aber keinen Grund, in einer Weise zu handeln, dann könne man ihm auch nicht vorwerfen, dass er es nicht getan habe. Zunächst muss man auch hier betonen, dass der moralische Kontraktualimus selbst im Fall einer moralischen Verfehlung keinen Vorwurf machen will und kann. Er liefert weder moralische Urteile noch Bewertungen einzelner Handlungen - und damit auch keine Basis für Vorwürfe an einen Regelbrecher. Auf der Basis von IMK kann man allerdings argumentieren, dass die Praxis des Vor-
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werfens als Sanktion gerechtfertigt ist, da zu erwartende Vorwürfe motivieren, sich moralisch zu verhalten. Moralische Vorwürfe innerhalb der Praxis Innerhalb der moralischen Praxis ist, ganz unabhängig von und deswegen verträglich mit IMK, ein moralischer Vorwurf in den Fällen, in denen ein Regelbrecher Lücken in den Sanktionsmechanismen ausnutzt, meist gut begründbar. Hier ist entscheidend, dass aus Sicht der Teilnehmer der moralischen Praxis nicht eine Sanktion als Sanktion, sondern der als moralisch relevant wahrgenommene Sachverhalt motivierender Handlungsgrund ist. Es ist sinnvoll, hier zwei Typen der moralischen Praxis getrennt zu behandeln (vgl. Abschnitt 2.1.2, S. 20). Pflichten-basierte moralische Praxis Man muss zunächst unterscheiden, ob der Regelbrecher sich als Mitglied der moralischen Gemeinschaft versteht oder nicht. Versteht er sich als Mitglied der moralischen Gemeinschaft, dann akzeptiert er seine moralischen Gefühle sowie die Normen und Wahrnehmungen, die diese konstituieren. Wenn er über einen Regelbruch nachdenkt, wird er das Gefühl der Schuld antizipieren und akzeptieren. Es kann aber sein, dass die motivierende Komponente des Schuldgefühls auch zusammen mit allen anderen Sanktionen zu schwach ist, um ihn von dem Regelbruch abzuhalten.32 Aber allein dadurch, dass er das Gefühl der Schuld hat, gibt es für den Regelbrecher auch einen potentiellen Grund, den Regelbruch zu unterlassen; das habe ich oben gezeigt (Abschnitt 5.2.1, S. 160). Dazu kommt, dass die meisten moralischen Normen für moralische Personen Vorrang vor anderen Normen haben (Abschnitt 2.1.1, S. 15). Der Regelbrecher wird die Situation also als eine wahrnehmen, in der er etwas beabsichtigt, was er auf keinen Fall tun sollte. Wenn er aber einen solchen Grund hat, den Regelbruch zu unterlassen, dann können die anderen Mitglieder der moralischem Gemeinschaft ihm seinen Verstoß auch berechtigterweise vorwerfen. Er selbst kann sein Verhalten - auch sich selbst gegenüber
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- nicht rechtfertigen. Freilich kann es sein, dass der Regelbrecher sich dieser Einsicht verschließt: Vielleicht verdrängt er den moralischen Grund oder ein anderer psychischer Mechanismus macht diesen nicht in voller Stärke verfügbar. Aber allein die Tatsache, dass der Regelbruch keinem Mitglied der moralischen Gemeinschaft gegenüber rechtfertig bar ist, legitimiert einen Vorwurf. Denn - das hatte auch der ursprüngliche Einwand so gesehen ein Vorwurf ist nur dann unberechtigt, wenn es für den Adressaten keinen Grund gab, anders zu handeln, und nicht schon, wenn er keinen Grund dafür sah. Steht der Regelbrecher außerhalb der moralischen Gemeinschaft, dann akzeptiert er die moralischen Gefühle nicht (mehr). In diesem Fall können die Mitglieder der moralischen Gemeinschaft ihm gegenüber eventuell mit der Hilfe von IMK rechtfertigen, dass sie versuchen, die Sanktionspraxis aufrechtzuerhalten, und ihn zwingen, sich an die fragliche Regel zu halten. Das allerdings ist keine Diskussion innerhalb der moralischen Gemeinschaft mehr. Um dem Regelbrecher einen moralischen Vorwurf machen zu können, muss man ihn erst in die moralische Gemeinschaft hineinholen. Tugend-basierte moralische Praxis Auch im Fall einer Tugend-basierten moralischen Praxis gilt: Ein genuin moralischer Vorwurf ist nur gegenüber einem Teilnehmer dieser Praxis möglich. Darüber hinaus steht man allerdings vor einem kleineren Problem, wenn es um Sanktionslücken geht. Die Basis der Zuschreibung moralischer Qualität ist ja eine langfristige Disposition, sich moralisch zu verhalten, und nicht moralisches Verhalten in einzelnen Fällen. Nicht unbedingte Forderungen, sondern ein guter Charakter sind Gegenstand des moralischen Alltagsdiskurses. Das bedeutet, dass zumindest ein schwerwiegender moralischer Vorwurf bei einem einmaligen Regelbruch ohnehin nicht nötig ist. Wenn das Fehlen moralischer Gefühle jemandem unmoralisches Verhalten aber systematisch ermöglicht, dann kann man ihm ein charakterliches Defizit zum Vorwurf machen. Denn als
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Teilnehmer der moralischen Praxis schätzt auch der Regelbrecher bestimmte Tugenden und akzeptiert Normen, die empfehlen, ein tugendhafter Mensch zu werden. Er wird sich also, wenn er eine Tugend nicht besitzt, als mangelhaft wahrnehmen und einen Grund sehen, sich zu ändern.
5.3.2 Reduktionismus und Deliberation Reduktionismus Der dritte Einwand gegen IMK behauptet, IMK müsse die unhaltbare Position vertreten, dass moralische Regeln als rationale Kooperationsregeln zu den Regeln der klugen Verfolgung des Eigeninteresses gehörten, also auf diese reduziert werden könnten. Ansonsten könne IMK keinen einschlägigen Beitrag zur Moral leisten. Keine der beiden Thesen ist richtig, wie ich zeigen werde: Weder vertritt IMK eine reduktionistische Ansicht, noch muss er diese Ansicht vertreten, um einschlägig zu sein. Im allgemeinsten Fall sagt man, ein Bereich (von Gegenständen, Eigenschaften, Begriffen oder Gesetzen) lasse sich auf einen anderen Bereich reduzieren, wenn man zeigen kann, dass er ein Teil dieses anderen Bereichs ist oder sich aus ihm ableiten lässt.33 Im Fall moralischer und rationaler Regeln würde das bedeuten, dass moralische Regeln entweder rationale Kooperationsregeln sind oder sich als logische Folge aus diesen ergeben. Ich habe oben bereits argumentiert, dass moralische Regeln nicht wesentlich vorteilhaft sind (Abschnitt 5.2.2, insbes. S. 167). Vielleicht machen sie in vielen Fällen die selben Vorschriften wie rationale Kooperationsregeln. Aber sie wären auch moralische Regeln, wenn sie von diesen abwichen. Deswegen können moralische Regeln nicht notwendigerweise ein Teilbereich der rationalen Kooperationsregeln und auch keine logische Folge dieser Regeln sein.34 Soweit stimme ich dem Einwand zu. Warum widerspricht IMK dieser Einsicht nicht, obwohl er eine gewisse Art von Ableitungsbeziehung zwischen rationalen Koope-
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rationsregeln und moralischen Regeln herstellt? IMK zeigt, dass es rational ist, bestimmte moralische Regeln und entsprechende Sanktionen zu akzeptieren und gegebenenfalls zu implementieren. Die moralischen Regeln folgen nicht aus den rationalen Kooperationsregeln, sondern letztere empfehlen, bestimmte moralische Regeln und Sanktionen zu akzeptieren. IMK leitet nicht Regeln des einen Typs von Regeln des anderen Typs ab, sondern wendet Regeln des einen Typs auf Sanktionen für Regeln des anderen Typs an. Analog kann man sagen: Wenn man zeigen kann, dass rechtliche Regeln und die entsprechenden staatlichen Sanktionen moralischen Kriterien genügen, dann heißt das noch nicht, dass rechtliche Regeln moralische Regeln sind. Es ist nicht das Ziel von IMK, an die Stelle von Moral zu treten oder eine bessere Moral zu sein. IMK kann sogar argumentieren, dass sich die Mitglieder der moralischen Gemeinschaft aus eigenem Interesse entscheiden würden, in der Art der üblichen moralischen Praxis zu denken und zu reden - und eben nicht kontraktualistisch oder im Sinne der Interessenverfolgung. Entstehungsgeschichten und Reduktionismus Eine hypothetische Entstehungsgeschichte, wie IMK sie erzählt, passt genau zu diesem nicht-reduktionistischen Anliegen (vgl. Abschnitt 4.4.2, S. 127). In dieser Form wird klarer, dass IMK nicht das Ziel haben kann und auch nicht darauf angewiesen ist, die moralische Praxis auf eine Praxis der Verfolgung des eigenen Interesses zu reduzieren. Weder hypothetische noch aktuelle Vorgänger eines Zustandes sind notwendigerweise identisch mit diesem Zustand. Erstens ist der aktuelle moralische Zustand nicht qualitativ identisch mit dem vormoralischen Zustand, aus dem er entstanden ist; es ist ja gerade der Sinn einer Entstehungsgeschichte, dass sie qualitativen Wandel zeigt. Numerisch identisch sind die Zustände auch nicht, denn einer der Zustände ist real und den anderen stellt man sich nur vor. Typischerweise erklären Entwicklungsgeschichten also, wie etwas Neues entsteht, das von dem ursprünglich Vorhandenen verschie-
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den ist. Beachtet man das nicht, kommt man zu absurden Ergebnissen, etwa dass die Evolutionstheorie zeige, dass Menschen Affen seien. Analog behauptet IMK nicht, dass die aktuelle moralische Praxis eine Praxis der Verfolgung des Eigeninteresses ist, obwohl er argumentiert, dass sie aus einer solchen Praxis entstanden sein könnte. Die Evolutionstheorie zeigt wie alle Entstehungsgeschichten zudem nicht, was wesentliche Eigenschaften des Entstandenen sind. Sie weist darauf hin, dass Menschen Eigenschaften haben, mit denen sie in bestimmten Umweltbedingungen gut zurechtkommen; sie zeigt also die Funktionalität unserer physiologischen Ausstattung. Aber sie zeigt nicht, dass wir keine Menschen wären, wäre unsere Ausstattung nicht in dieser Weise funktional (etwa weil die Umweltbedingungen andere wären). Analog zeigt IMK auch nicht, dass die moralische Praxis wesentlich funktional ist oder wesentlich dem eigenen Interesse aller ihrer Mitglieder dient. Mit Williams kann man sagen, dass eine einfache funktionalistische Erklärung der moralischen Praxis einfach falsch wäre: „One [error] is that of going straight to our actual society with the apparatus of functional explanation; this would distort our understanding of our own cultural situation, debar us from seeing what is peculiar to it as opposed to others, and lead us to stupid reductionism." (Williams 2002: 35) Instrumentalistische Begründungspraxis Die Antwort auf den letzten der vier Einwände ist im letzten Abschnitt schon angedeutet. Der Einwand lautete, IMK reduziere moralisches Überlegen fälschlicherweise auf rationales Überlegen. IMK müsse behaupten, dass, wer Moral richtig verstehe, in moralischen Überlegungen immer das eigene Interesse im Auge habe, bzw. moralische Überlegungen als eine Kurz- oder Sonderform ausführlicher Klugheitserwägungen sehe. Das sei nicht vereinbar mit dem moralischen Alltagsverständnis. Es gebe also eine deutliche Lücke zwischen der vertragstheoretischen Argumentation und dem üblichen moralischen Überlegen der Alltagsmoral.
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Dieser Einwand trifft den moralischen Kontraktualismus, wie man jetzt leicht sehen kann, nicht, da er diesem einen Anspruch unterstellt, den er nicht hat. Der moralische Kontraktualismus will als externe Rechtfertigungstheorie zwar etwas über Moral sagen und dazu beitragen, die moralische Praxis zu stärken. Aber er ist nicht selbst Teil der alltäglichen moralischen Deliberationspraxis. Gerade dadurch gewinnt der moralische Kontraktualismus als archimedisches Rechtfertigungsargument seine spezifische Stärke. Denn wäre er Teil der Praxis, dann könnte er keine unabhängigen Gründe für deren Akzeptanz geben und so auch keinen Skeptiker überzeugen, der sich außerhalb der moralischen Praxis platziert. Die Kombination aus IMK und Anti-Realismus akzeptiert also, dass es diese Lücke gibt, und sieht sie sogar als Stärke. Deswegen läuft die Kritik ins Leere. Weder kann man das genuin moralische Überlegen durch eine eine Vorteilsabwägung ersetzen noch schlägt IMK vor, das zu tun. Wenn die Rolle von IMK als externer Rechtfertigungstheorie allerdings nicht geklärt ist, dann liegen Missverständnisse nahe. Autonomie der moralischen Praxis Nach dieser detaillierten Diskussion möchte ich noch einmal einen Schritt weiter zurücktreten und einen allgemeineren Blick auf das Verhältnis zwischen moralischer Praxis und kontraktualistischer Rechtfertigung werfen. Wenn die moralische Praxis einmal etabliert ist, dann besitzt sie weitgehende Autonomie. Brandom schreibt analog über die sprachliche Praxis: Linguistic Practice is not for something [...] [it is not] a means to secure some other end specifiable in advance of engaging in linguistic practice - not adaptation to the environment, survival, reproduction, nor co-operation - though it may serve and promote these ends. Even if [...] those functions explain, why we came to have language, once we did have it, our transformation into discursive creatures swept all such considerations aside. For discursive prac-
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tice is a mighty engine for the envisaging and engendering of new ends. (Brandom 2000: 363) Analog entsteht für die Teilnehmer der moralischen Praxis ein neuer Typ von Ziel, nämlich sich moralisch zu verhalten bzw. eine moralisch integre oder tugendhafte Person zu sein. Die moralischen Gefühle, die konstitutiv für die moralische Praxis sind, entstehen gegenüber dem vormoralischen Zustand neu. Im Sinne der Wahrnehmungstheorie der Gefühle ist es eine andere Weltsicht ihrer Mitglieder, die die moralische Praxis auszeichnet. Für moralische Normen ist es nicht wesentlich, dass sie dem Vorteil aller in einer Gesellschaft dienen. Die moralische Praxis kann weiterbestehen, auch wenn eine kontraktualistische archimedische Rechtfertigung wegen mangelnder Funktionalität nicht möglich ist. Die moralische Praxis verliert dadurch keines ihrer wesentlichen Merkmale. Diese Autonomie der moralischen Praxis ist kein Problem für IMK. Denn auch eine autonome Praxis kann hinterfragt und sogar abgelehnt werden. Man kann in einem Rechtfertigungsargument Gründe geben, alle Regeln der Praxis abzulehnen. Voraussetzung dafür ist nur, dass die Adressaten entsprechende Regeln für Normakzeptanz akzeptieren, etwa die Regel, die empfiehlt, nur Systeme von Normen und soziale Praktiken zu akzeptieren, die in ihrer Gesamtheit zu einem Ergebnis führen, das man persönlich für wünschenswert erachtet. Die Autonomie der moralischen Praxis wäre allerdings ein Problem, wollte IMK einzelne moralische Urteile fällen oder korrigieren. Denn die Überlegungen von IMK sind aus der internen Sicht der moralischen Praxis wegen deren Autonomie nicht einschlägig. Dann hätte der ursprüngliche Gegner Recht, der wie in Abschnitt 3.4.2 (S. 80) argumentiert, IMK müsse seine Aussagen erst in moralische Aussagen übersetzen, um einschlägige Urteile zu fällen.
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5.3.3 Methodologische Bemerkung In der Moralphilosophie muss man Bedeutungstheorie und Metaphysik auf der einen Seite von verschiedenen Typen der Rechtfertigung auf der anderen Seite begrifflich trennen. Die Diskussion hat gezeigt, dass es vor allem zu Missverständnissen führt, wenn man archimedische Rechtfertigung nicht von einer Theorie trennt, die eine moralische Praxis beschreibt. Denn die archimedische Rechtfertigungstheorie ist gerade deswegen interessant, weil sie sich von der moralischen Praxis distanziert und eine Art des Überlegens sowie Prämissen verwendet, die in der gewöhnlichen moralischen Praxis nicht gebräuchlich sind. Wollte man sie daher als philosophische Analyse dieser Praxis verstehen, wäre der Konflikt vorprogrammiert.
Kapitel 6 Metaethischer Realismus Im vorigen Kapitel habe ich gezeigt, wie man IMK vor dem Hintergrund einer Form des moralischen Anti-Realismus gegen die metaethischen Einwände der moralischen Person verteidigen kann. Ich möchte und kann nicht zeigen, dass der Anti-Realismus der einzige mit IMK verträgliche metaethische Rahmen ist. Das kann allein deswegen nicht gelingen, weil IMK erstens im strikten Sinne keine anti-realistische Theorie erzwingt und es zweitens unmöglich ist, von allen konkurrierenden Ansätzen der Metaethik zu zeigen, dass sie nicht mit IMK kompatibel sind. Es gibt schlicht zu viele Varianten etwa des moralischen Realismus. Im Folgenden werde ich deswegen darauf hinweisen, dass Versionen des Realismus, die sich auf den ersten Blick anbieten, große Probleme haben, IMK einen angemessenen Platz als Rechtfertigungstheorie zuzuweisen. Dabei wird sich auch herausstellen, dass die vier metaethischen Einwände vor einem intuitiven Bild des moralischen Realismus entstehen und vor diesem Hintergrund schlagkräftig sind. Dieses Ergebnis legt nahe, sich an die anti-realistische Theorie zu halten, erzwingt es aber nicht.
6.1 Realismus Zunächst muss ich die Kerngedanken der realistischen Metaethik vorstellen, damit ich im nächsten Schritt zeigen kann, welche Pro-
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bleme auftreten, wenn man IMK vor dem Hintergrund dieser Auffassung betrachtet. Den moralischen Realismus kann man als eine sehr nahe liegende vortheoretische Auffassung über die Natur moralischer Normen sehen. Dafür spricht zunächst die grammatische Form gewöhnlicher moralischer Urteile. In Aussagesätzen schreiben wir Handlungen oder Sachverhalten moralische Eigenschaften zu; wenn wir sagen „Mord ist moralisch schlecht", verwenden wir die selbe sprachliche Form wie in dem Satz „Steine sind hart". Deswegen sei es, so Realisten, eine implizite Annahme moralischer Alltagsdiskurse, dass moralische Eigenschaften den selben Status hätten wie natürliche Eigenschaften und es daher moralische Tatsachen genauso wie natürliche Tatsachen gebe.1
6.1.1 Standardtheorie des Realismus Der moralische Realismus macht diese Auffassung zum Kern seiner Theorie und vertritt folgenden These: (MR) Moralische Eigenschaften sind in der selben Weise real wie die natürlichen Eigenschaften der Welt. Einige Sachverhalte und Handlungen haben diese moralischen Eigenschaften. Daher gibt es moralische Tatsachen. Die meisten realistischen Ansätze kombinieren (MR) mit der kognitivistischen These, man könne moralische Tatsachen erkennen. Das Ziel moralischen Überlegens sehen sie dann darin, etwas über die tatsächlich vorhandenen moralischen Werte und Eigenschaften herauszufinden und wahre Urteile über moralische Tatsachen zu fällen (vgl. Sayre-McCord 1988: ix). Diese Kombination aus (MR) und dem Kognitivismus möchte ich Standardtheorie des Realismus nennen.
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Gelegentlich rücken Realisten die kognitivistische These stärker in den Mittelpunkt. Sayre-McCord zum Beispiel definiert sie als Kern, den alle realistischen Theorien teilen: Wherever it is found, I'll argue, realism involves embracing just two theses: (1) the claims in question, when literally construed, are literally true or false (cognitivism), and (2) some are literally true. Nothing more. (Sayre-McCord 1988: 5)
Anders als (MR) verwendet diese Bestimmung den Begriff der Wahrheit. Den moralischen Realismus über Wahrheitsfähigkeit moralischer Urteile zu definieren, hat den Nachteil, dass die Theorie bei dem entsprechenden Wahrheitsverständnis sehr schwach wird (vgl. Smith 2000: 16ff.). Im Rahmen des Anti-Realismus habe ich bereits eine minimalistische Wahrheitstheorie diskutiert und auf das Problem hingewiesen, dass sie den Unterschied zwischen Kognitivismus und Non-Kognitivismus verwischt (Abschnitt 5.1.1, S. 138). Dort habe ich gezeigt, dass sie dem AntiRealismus erlaubt, unkompliziert von der Wahrheit moralischer Aussagen zu sprechen. Nun kann man komplementär argumentieren, es heiße nicht viel, wenn man behaupte, moralische Urteile könnten wahr oder falsch sein. Minimalistischen Wahrheitstheorien zufolge haben die Prädikate „wahr" und „falsch" die pragmatische Rolle, Übereinstimmung oder Nicht-Übereinstimmung mit einer anderen Aussage auszudrücken. Mit der selben Bedeutung könnte man demzufolge im Prinzip einfach die gesamte Aussage wiederholen, sollte sich das nicht aus praktischen Gründen verbieten. Das heißt aber, dass alle wohlgeformten Aussagesätze wahr sein können; man kann sie berechtigterweise als wahr bezeichnen, wenn man mit ihnen übereinstimmt. Analog kann man im Fall von Überzeugungen oder Urteilen argumentieren. Satz (1) in SayreMcCords Realismus-Definition ist damit trivialerweise wahr und Satz (2) für jeden erfüllt, der mit irgendeiner moralischen Behauptung übereinstimmt. Der Hinweis darauf, dass moralische Behauptungen aus Sicht des Realismus „literally true" sind, ändert daran nichts, denn die minimalistische Wahrheitstheorie versteht sich
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als eine Theorie darüber, was „wahr" streng genommen bedeutet. Vor dem Hintergrund der minimalistischen Wahrheitstheorie ist Sayre-McCords Definition des Realismus deswegen zu schwach. Sie müsste zumindest mit einer Widerlegung des Minimalismus oder einer alternativen Wahrheitstheorie kombiniert werden. Eine reine Kohärenztheorie, die behauptet, eine Überzeugung sei wahr, wenn sie sich kohärent in das gesamte System der Überzeugungen einer Person einfüge, führt zu ähnlichen Ergebnissen; setzt man sie in Sayre-McCords Definition ein, so muss man sich bereits als Realisten bezeichnen, wenn man kohärente moralische Überzeugungen hat. Die kohärent ist ische Wahrheitstheorie macht den Realismus dann ähnlich schwach wie die minimalistische.2 Als weitere Wahrheitstheorie bietet sich ein klassischer korrespondenztheoretischer Ansatz an. Ihm zufolge sind Überzeugungen wahr, wenn sie die Welt richtig abbilden. Das impliziert, dass es in der Welt Dinge gibt, die diese Überzeugungen wahr machen - im Fall moralischer Überzeugungen sind das moralische Eigenschaften, die auf Sachverhalte zutreffen.3 Wenn man dieses Bild von Wahrheit akzeptiert, dann ist meine Formulierung der Standardtheorie des Realismus äquivalent mit Sayre-McCords Definition. Im Folgenden werde ich mich auf (MR) in meiner ursprünglichen Formulierung beziehen, da diese These den Kern realistischer Positionen erfasst und ohne weitere Annahmen über Wahrheit eindeutig ist. (MR) fordert, dass moralische Eigenschaften in der selben Weise real sein müssen wie die natürlichen Eigenschaften der Welt. Zu letzteren zähle ich die Eigenschaften, die die empirischen Wissenschaften im Prinzip beschreiben können (dazu Abschnitt 2.2.1, S. 24). Der moralische Realismus in diesem Sinne muss sich auf keine Theorie über den ontologischen Status dieser Eigenschaften festlegen. Wenn ein metaphysischer Idealist behauptet, die natürlichen Eigenschaften der Welt seien Konstruktionen des menschlichen Geistes, so kann er trotzdem moralischer Realist sein. Er muss dann nur annehmen, dass moralische Eigenschaften in gleicher Weise mentale Konstruktionen sind wie natürliche. Ein zentra-
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ler Aspekt der Analogie zu natürlichen Tatsachen besteht darin, dass moralische Tatschen aus realistischer Sicht unabhängig davon sind, ob wir etwas über sie wissen oder Belege für sie haben. Brink macht das zu einem Kernkriterium des moralischen Realismus, der ihm zufolge die These vertritt: (1) There are moral facts or truths, and (2) these facts or truths are independent of the evidence for them. (Brink 1989: 17) Das Kriterium der Unanhängigkeit von Belegen fasse ich als Folge von (MR) auf. Was den moralischen Realismus plausibel macht Während der moralische Anti-Realismus prima facie Schwierigkeiten hatte zu erklären, warum wir für moralische Aussagen die sprachliche Form beschreibender Sätze verwenden, ist diese Art zu sprechen aus Sicht des Realismus selbstverständlich. Denn diesem zufolge beschreibt man mit moralischen Äußerungen Tatsachen in der Welt, genauso wie man mit Äußerungen über die Beschaffenheit von Steinen Tatsachen beschreibt. Deswegen sind moralische Sätze für den Realismus ganz gewöhnliche deskriptive Sätze und moralische Äußerungen haben die zentrale illokutionäre Rolle des Berichtens über Dinge in der Welt. Daher ist es auch nicht verwunderlich, dass wir moralische Urteile in Ableitungsbeziehungen stellen und logische Operatoren wie die Verneinung auf sie anwenden. Denn wenn es ganz normale deskriptive Urteile sind, dann kann man auch in dieser Hinsicht genauso mit ihnen verfahren wie mit gewöhnlichen Beschreibungen, etwa einer Beschreibung von Steinen. Der Realismus wird auch auf sehr direkte Weise der Intuition gerecht, moralische Werte seien objektiv. Ob ein moralisches Urteil falsch oder richtig ist, hängt für den Realismus ja allein von der Welt, nicht aber von unserem Denken ab (vgl. Abschnitt 7.1). Die Kehrseite dieser Vorteile ist allerdings, dass der Realismus nicht ohne weiteres erklären kann, wie es kommt, dass moralische
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Überzeugungen und Urteile eine Verbindung zur Handlungsmotivation haben, die andere deskriptive Überzeugungen und Urteile nicht aufweisen. An diesem Punkt hat die Analogie moralischer Urteile zu faktischen Beschreibungen eine Schwachstelle. Eigenschaften sui generis vs. Naturalismus Aus (MR) folgt noch nicht, dass moralische Eigenschaften identisch mit natürlichen Eigenschaften oder auf diese reduzierbar sind. Innerhalb der Standardtheorie gibt es deswegen nichtnaturalistische Ansätze, die annehmen, dass moralische Eigenschaften zu einer eigenen Art von Eigenschaften gehören.4 Ein Problem solcher Ansätze ist, dass sie seltsame Entitäten annehmen müssen, die in dem Weltbild der meisten heutigen Menschen wohl kaum einen Platz haben (vgl. Mackie 1977: 43-49). Sie müssen moralische Werte als nicht-natürliche Eigenschaften von Dingen ansehen, die auf nicht-empirische Weise erkannt werden können und dann auf eine schwer erklärbare Weise Handlungsdispositionen beeinflussen. Mit der naturalistischen Grundhaltung, die ich in der gesamten Diskussion voraussetze (vgl. Abschnitt 2.2.1), ist diese Theorie grundsätzlich unverträglich. Die Annahme realer Werte und Normen sui generis sprengt den naturalistischen Rahmen, in dem sich sowohl der Kontraktualist als auch seine Gegner bewegen. Den nicht-naturalistischen moralischen Realismus werde ich deswegen nicht weiter diskutieren. Innerhalb der Standardtheorie kann man aber auch naturalistische Ansätze vertreten, die dafür argumentieren, dass moralische Eigenschaften (moralisch gut, moralisch schlecht) (i) entweder identisch mit einer Kombination natürlicher Eigenschaften sind (ii) oder durch eine Kombination aus natürlichen Eigenschaften konstituiert sind.5 Diese Form des moralischen Realismus teilt also die naturalistische Grundhaltung. Ein oft genanntes Beispiel für eine natürliche
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Eigenschaft, mit der man moralische Eigenschaften identifizieren könnte, ist die Tendenz einer Handlung, den allgemeinen Nutzen zu erhöhen. Näher an der kontraktualistischen Diskussion ist der Vorschlag, moralisch richtig auf entspricht einer Norm, die für jedes Mitglied der moralischen Gemeinschaft vorteilhaft ist zu reduzieren. Auch die Ansätze, die behaupten, moralische Eigenschaften seien durch unsere moralischen Reaktionen bestimmt (so genannte response-dependant accounts), fallen letztlich in diese Kategorie. Denn sie können nicht behaupten, etwas sei genau dann moralisch gut, wenn es in moralisch guten Personen eine bestimmte Reaktion (zum Beispiel Bewunderung oder einen bestimmten Wunsch) auslöse. Das wäre zwar trivialerweise wahr, ist allerdings wegen seiner Zirkularität keine metaethische Analyse, sondern eine Erklärung innerhalb des Bereichs des Moralischen. Daher bleibt nur eine reduktionistische Analyse: Etwas sei genau dann moralisch gut, wenn es in uns (so wie wir tatsächlich sind) eine bestimmte Reaktion (zum Beispiel Bewunderung oder einen bestimmten Wunsch) auslöse. Was gut ist bestimmen nach dieser Auffassung natürliche Eigenschaften unserer reaktiven Dispositionen. Für komplexere Varianten gilt das selbe. So schlägt Smith vor: „Tightness is that feature, whatever it is, that we would desire our acts to possess if our desires formed a set that is maximally informed, coherent and unified" (2000: 33). Auch damit liefert er eine Reduktion auf eine psychologisch beschreibbare Disposition. Er gibt nicht-moralische Kriterien an, die unsere Wünsche erfüllen müssen, um die Basis von korrekten moralischen Bewertungen zu sein.6 Dabei ist wichtig zu beachten, dass naturalistische Realisten nicht nur behaupten, bestimmte natürliche Eigenschaften implizierten moralische Eigenschaften oder es sei moralisch gut, bestimmte natürliche Eigenschaften zu haben. Der oben erwähnte utilitaristische Realismus will nicht nur behaupten, dass eine nutzenmaximierende Handlung zu den guten Handlungen zählt. Diese These wäre verträglich mit einer nicht-naturalistischen Theo-
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rie, die zum Beispiel behauptet, Gottes Wille definiere eine nichtnatürliche Wertordnung, in der alle nutzenmaximierenden Handlungen als gut eingestuft werden. Vielmehr behauptet naturalistische Realist, die Eigenschaften gut und nutzenmaximierend seien identisch und die Begriffe gut und nutzenmaximierend hätten daher notwendigerweise die selbe Extension.
6.1.2 Das Argument der offenen Frage Moores Argument gegen den naturalistischen Realismus (1903: Kapitel 1) markiert den Beginn der modernen metaethischen Diskussion und zählt immer noch als starker Einwand, wenn es auch, wie ich zeigen werde, von der Entwicklung der Sprachphilosophie und Metaphysik eingeholt und geschwächt wurde. Wenn zum Beispiel die These des utilitaristischen Realisten wahr wäre, so Moores Argument, dann wisse jemand, der den Begriff moralisch gut und den Begriff der als Reduktionsbasis vorgeschlagenen natürlichen Eigenschaft, also den Begriff nutzenmaximierend besitze, mit Sicherheit, dass nutzenmaximierende Handlungen gut seien. Dieser Zusammenhang sei für ihn analytisch wahr. Stelle man sich aber vor, dass jemand einem eine Handlung als nutzenmaximierend empfohlen habe, dann erscheine es vollkommen legitim, zu fragen: „Ich stimme zu, dass das nutzenmaximierend ist, aber ist es denn auch gut?" Diese Frage sei, so Moore, offen. Das selbe gelte für alle anderen Varianten des naturalistischen Realismus. Dieses Argument kann man auch am Beispiel der philosophischen Diskussion nachvollziehen: So halten auch Utilitaristen die offene Frage für interessant; sie bemühen sich ausführlich, Argumente dafür zu finden, dass nutzenmaximierende Handlungen moralisch gut sind. Wäre letzteres eine begriffliche Wahrheit, so Moores Argument, dann wären die Argumente so überflüssig wie bei der Frage: „Ich sehe zwar, dass Herr Schmidt unverheiratet ist, aber ist er denn auch ein Junggeselle?" Moores Argument widerlegt, wenn es gültig ist, den naturalistischen Realismus.
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Verschiedene Realisten haben Argumente entwickelt, mit denen man Moores Einwand entkräften kann. Ich möchte die zwei wichtigsten Linien dieser Verteidigung skizzieren:
Cornell-Realismus und synthetische Notwendigkeiten Eine Linie geht auf theoretische Ressourcen zurück, die Putnam und Kripke entwickelt haben. Sie argumentieren, dass es Sätze gibt, die nicht-analytisch, aber trotzdem notwendig wahr sind. Dass die Eigenschaft, Wasser zu sein, identisch ist mit der Eigenschaft, H^O zu sein, ist nach Kripke notwendig. Denn Artbezeichnungen betrachtet er als starre Designatoren, die sich in jeder möglichen Welt auf das selbe beziehen. Da sich Wasser in unserer Welt auf ? beziehe, beziehe es sich folglich auch in jeder anderen Welt auf H2O. Aber dass Wasser H^O ist, sei aber eine empirische, keine analytische oder begriffliche Wahrheit; wer den Begriff Wasser richtig verwenden könne, wisse deswegen noch nichts über die chemische Struktur der bezeichneten Substanz.7 Umgekehrt folge allein daraus, dass man diesen Satz nur mit Hilfe der Erfahrung gewinnen könne, nicht, dass er bloß kontingenterweise wahr sei. Es könne also sein, dass kein analytischer Zusammenhang zwischen Begriffen bestehe, die sich auf identische Eigenschaften bezögen.8 In diesem Fall ist eine Identitätsaussage notwendig wahr, aber nicht analytisch. Auf das Moorsche Argument übertragen bedeutet das, dass dieses die Unterscheidung zwischen Eigenschaften und Begriffen nicht hinreichend beachte. Nur weil es keinen analytischen Zusammenhang zwischen dem Begriff moralisch gut und einem bestimmten Begriff für eine natürliche Eigenschaft, etwa nützlich für jeden, gebe, müssten die entsprechenden Eigenschaften noch nicht verschieden sein. Die Kernthese des naturalistischen Realismus lautet aber gerade, dass die Eigenschaften identisch sind, und nicht, dass die Begriffe zusammenfallen oder gegenseitig analysierbar sind. Dass Identitätsaussagen über moralische und natürliche Eigenschaften notwendig wahr, aber nicht analytisch sind, vertreten die
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so genannten Cornell-Realisten, etwa Brink (Brink 1989: 163ff.) oder Boyd (1988).9 Brink fasst die These so zusammen: The naturalist's identity or constitution claims can be construed as expressing synthetic moral necessities. (Brink 1989: 116)
Diese These sieht sich starker Kritik ausgesetzt. Auch Realisten selbst wenden sich gegen die Behauptung, es sei keine Analyse der moralischen Begriffe möglich, obwohl sie sich auf natürliche Eigenschaften bezögen.10 Jackson wirft dem Cornell-Realismus vor, sich vor der entscheidenden Präge zu drücken: But if we [...] refuse to advance any kind of analysis, we are, it seems to me, ducking what is [...] a compulsory question for metaphysical descriptivists in ethics. We are refusing to come clear on what aspects of descriptive nature make true, or determine without remainder, accounts given in ethical terms. (Jackson 1998: 147)
Die Cornell-Realisten und Vertreter verwandter Ansätze vermeiden es, eine substantielle Analyse zu geben. Sie können, wenn sie konsequent bleiben wollen, nicht sagen, welche natürlichen Eigenschaften die moralischen Eigenschaften sind. Eine solche Erklärung würde wahrscheinlich früher oder später darauf hinweisen, wie moralische Begriffe analysiert werden sollten, und damit analysieren, wie wir diese, wenn wir sie richtig verwenden, schon immer verwendet haben, obwohl uns das vielleicht nicht bewusst ist. Genau da setzt die von Jackson bevorzugte Verteidigung gegen den Moorschen Einwand ein. Jackson und Smith entwickeln eine Auffassung des naturalistischen Realismus, die nicht auf Kripkesche Ressourcen zurückgreifen muss. Sie teilen mit dem CornellRealismus die These, dass ontologische Identität zwischen moralischen und natürlichen Eigenschaften bestehe. Zudem behaupten sie aber, dass es analytische Beziehungen zwischen moralischen Begriffen und Begriffen für natürliche Eigenschaften gebe. Trotzdem könne man, so diese Position, das Moorsche Argument entkräften.
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Moore mache, so diese Position, die implizite Annahme, dass begriffliche Zusammenhänge unmittelbar einsichtig seien und es folglich keine vernünftige Diskussion darüber geben könne. Nicht alle Auffassungen von begrifflicher Analyse stimmen mit dieser Prämisse überein. Ein solcher Ansatz (vgl. Smith 1994a: Kapitel 2) geht davon aus, dass begriffliche Analyse darin besteht, Anwendungsbedingungen oder Beschränkungen möglicher Anwendung von Begriffen herauszufinden. Eine Analyse des Begriffs rot könnte darin bestehen, unter anderem folgende Bedingungen zu nennen: Er wird verwendet, um die Eigenschaft herauszugreifen, die unter normalen Bedingungen Rot-Empfindungen verursacht; wir machen eher Fehler bei der Anwendung des Begriffs, wenn wir Probleme mit unseren Augen haben oder wenn es Nacht ist und wir dürfen ihn nicht einem Objekt zuschreiben, von dem wir überzeugt sind, dass es blau ist, etc. Smith formuliert das für den Fall moralischer Begriffe so: To say that we can analyse moral concepts, like the concept of being right, is to say that we can specify which property the property of being right is by reference to platitudes about Tightness: that is, by reference to descriptions of the inferential and judgmental dispositions of those who have mastery of the term 'rightness'. (Smith 1994a: 39) Kompetente Begriffsverwender kennen, so Smith, Anwendungsbedingungen eines Begriffs implizit. Es sei allerdings in vielen Fällen nicht einfach, diese explizit zu machen und folglich oft nur schwer herauszufinden, ob zwei Begriffe die selben Anwendungsbedingungen hätten, einer also eine Analyse des anderen sei. Es könne durchaus eine vernünftige Diskussion über solche Zusammenhänge geben und in schwierigen Fällen könnten die Ergebnisse immer wieder überraschend erscheinen. Die philosophische Diskussion um den Wissensbegriff ist ein gutes Beispiel für die Schwierigkeiten begrifflicher Analyse. Gegen den zunächst überzeugenden Vorschlag, Wissen als gerechtfertigte und wahre Mei-
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nung zu analysieren, hat Gettier in seinem klassischen Aufsatz ein Gegenbeispiel gefunden: Es gibt Fälle, in denen man jemandem durchaus eine gerechtfertigte und wahre Meinung, aber kein Wissen zuschreiben würde. Gettier hat damit gezeigt, dass die Anwendungsbedingungen für die Verwendung der beiden Begriffe voneinander abweichen. Seitdem diskutieren zahlreiche Philosophen darüber, wie man die Analyse des Wissensbegriffs verfeinern könnte. Es kann durchaus sein, dass jemandem die ursprüngliche Definition als vollkommen offensichtlich erscheint, bevor er Gettiers Artikel gelesen hat. Auf der anderen Seite ist es vorstellbar, dass die noch zu findende richtige Analyse nicht besonders eingängig ist und man sich immer wieder einige Argumente in Erinnerung rufen muss, bevor sie überzeugt. Ist diese Auffassung von begrifflicher Analyse richtig, dann wird Moores Argument ungültig. Ob ein analytischer Zusammenhang zwischen moralischen Begriffen und Begriffen für natürliche Eigenschaften besteht, zeigt sich nicht daran, ob zunächst eine Frage offen bleibt. Es zählt allein, ob man letztlich die Anwendungsbedingungen der Begriffe in plausibler Weise zur Deckung bringen kann. Und dass das unmöglich sei, so die Vertreter dieser Position, habe Moore tatsächlich nicht gezeigt. Auf der Basis dieser Skizze kann ich natürlich kein abschließendes Urteil fällen. Aber die Jackson-Smith-Variante des moralischen Realismus hat sich in diesem Vergleich als leistungsfähiger herausgestellt, da sie eine Antwort auf die zentrale Frage danach, welche natürlichen Eigenschaften die moralischen Eigenschaften sind, nicht umgeht. Zusammenfassung Im letzten Abschnitt habe ich gezeigt, dass der moralische Realismus über verschiedene Strategien verfügt, die klassischen Einwände zu entkräften. Er ist damit zumindest eine ernst zu nehmende Alternative zum Anti-Realismus. Ich habe hier nicht den Raum, beide Positionen umfassend gegeneinander abzuwägen. Ich vermute allerdings, dass der Realismus letztlich keine starke Ant-
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wort auf das Motivationsproblem geben kann, und dass auch die Identifikation moralischer und natürliche Eigenschaften unplausibel, wenn auch metaphysisch möglich, bleiben wird. Ich werde im Folgenden in eine andere Richtung argumentieren: Ich werde untersuchen, ob IMK mit einer realistischen Position verträglich ist, und dabei zu dem Ergebnis kommen, dass es für einen Kontraktualisten nicht empfehlenswert ist, seine Theorie vor einem realistischen Hintergrund zu entwickeln. Aus der bisherigen Analyse kann man dafür Folgendes mitnehmen: Wenn IMK sich innerhalb des moralischen Realismus platzieren will, muss er sich für den naturalistischen Realismus entscheiden und zeigen, dass diese Reduktion plausibel und verträglich mit dem Anspruch von IMK ist.
6.2 Realismus und Kontraktualismus 6.2.1 Moralischer Realismus und archimedische Rechtfertigung Der interessenbasierte moralische Kontraktualismus ist ein Rechtfertigungsargument. Ob er mit dem moralischen Realismus verträglich ist, hängt deswegen davon ab, welche Arten von Rechtfertigung im Rahmen des Realismus eine Rolle spielen können. Die Theorie der Rechtfertigung, die ich in Kapitel 4 entwickelt habe, möchte ich auch hier weitgehend zugrunde legen. Eine Modifikation ist allerdings nötig: Realisten können die These, Gründe seien durch die Akzeptanz von Normen und Meinungen über die Welt konstituiert, nicht teilen. Denn aus ihrer Sicht legen reale moralischen Werte und Eigenschaften Gründe fest. Um dem Realismus gerecht zu werden, muss man daher diese These in die Rechtfertigungstheorie einbauen. Moralische Werte und moralische Gründe Aus Sicht des moralischen Realismus konstituieren moralische Werte moralische Gründe. Raz formuliert das so: „valuable aspects
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of the world constitute reasons" (Raz 1999a: 22). Dabei sind die moralischen Werte oder Normen (z.B. das Gebot, Bedürftigen zu helfen) nicht unbedingt selbst Gründe; weil es sie gibt, sind bestimmte Sachverhalte (die Not eines Bedürftigen und die Chance, ihm zu helfen) Gründe; das ist damit gemeint, dass Werte oder Normen Gründe konstituieren.11 Wenn X wertvoll ist oder zu dazu dient, einen Wert zu realisieren, dann hat man demnach bereits einen potentiellen Grund für X. Realisten würden also sagen, man verfüge über einen Grund für X, wenn man (zumindest implizit) wisse, dass X wertvoll sei oder dazu diene, einen Wert zu realisieren. Wenn man wisse, dass Hilfeleistung in Notsituationen gut sei, dann habe man einen guten Grund, einem Ertrinkenden zu helfen. Hingegen habe man nur einen vermeintlichen Grund, etwas zu tun, wenn man fälschlicherweise meine, X sei wertvoll oder diene dazu, einen Wert zu realisieren. Dabei könne man sich in ganz ähnlicher Weise darüber täuschen, welche Eigenschaften überhaupt wertvoll seien, welche Dinge diese Eigenschaften hätten und welche Arten von Handlungen dazu führten, diese Eigenschaften zu realisieren. Natürlich könnten auch vermeintliche Gründe motivieren. Zu erklären, wie Gründe überhaupt motivieren, ist eine Herausforderung für den Realisten, die ich hier nicht diskutieren kann. Verfügbare Gründe könnte man auch wieder mit Hilfe des Begriffs der Normakzeptanz analysieren und damit an meine Analyse in Abschnitt 4.1.2 anschließen. Einen guten verfügbaren Grund für X hat man demzufolge dann, wenn man eine Norm akzeptiert, die einem realen Wert entspricht und in der aktuellen Situation X empfiehlt. Hier zeigt sich aber ganz deutlich der Unterschied zu meiner ursprünglichen Analyse: Die Akzeptanz der Norm ist aus realistischer Sicht nicht konstitutiv für den Grund, sondern macht ihn nur verfügbar. Ordnung der Werte Werte sind, wenn sie überhaupt Handlungen oder einen epistemischen Prozess lenken können, immer geordnet. Wenn man weder sagen kann, dass einer von zwei Wer-
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ten größer als der andere ist, noch, dass beide gleichgroß sind, dann kann man fast nichts bewerten. Denn in jeder Handlung oder in jedem Sachverhalt sind einige Werte auf Kosten anderer realisiert: Einem Ertrinkenden zu helfen, ist einerseits als Hilfeleistung wertvoll, andererseits wegen des unangenehm kalten Wassers ein Hindernis, den Wert eines angenehmen Nachmittagsspaziergangs voll zu realisieren. Möchte man diese Handlung bewerten, muss man wissen, welcher der beiden - und vieler anderer - Werte mehr zählt. Die Ordnung der Werte überträgt sich auf die Ordnung der Gründe. Wichtige Werte konstituieren starke, marginale Werte nur schwache Gründe. Rechtfertigung Gerechtfertigt ist X für P, wenn P über ausschlaggebende Gründe für X verfügt und X aus diesen Gründen glaubt oder tut (These (Rl), S. 89). Welche Gründe ausschlaggebend sind, bestimmt die tatsächliche Ordnung der Werte. Wenn man sich darüber täuscht, wie die Werte und folglich die Gründe geordnet sind, dann ist X nur vermeintlich gerechtfertigt. X rechtfertigen heißt, dem Adressaten zu zeigen, dass er ausschlaggebende Gründe für X hat, und ihm diese so verfügbar zu machen. Im Rahmen des Realismus muss es dabei hauptsächlich darum gehen, auf die tatsächlich bestehenden Werte hinzuweisen. Wenn ein Argument dies leistet, ist es auch für den Zweck der öffentlichen Rechtfertigung das Mittel der Wahl. Denn diese Werte sind für alle gleich und die Basis für Gründe, über die im Prinzip alle verfügen können. Deswegen kann man mit diesem Argument alle Mitglieder einer Gemeinschaft erreichen. Es kann zudem ein relativ unkompliziertes Argument sein, da man ja nur die bestehenden moralischen Werte zeigen muss - das hängt letztlich aber davon ab, wie leicht die moralischen Werte zugänglich sind. Wenn man auf Werte hinweisen möchte, dann sind vor allem interne Rechtfertigungsargumente angemessen und ergiebig. Man möchte ja nicht prinzipiell die moralischen Werte rechtfertigen, sondern zeigen, dass eine bestimmte moralische Haltung richtig ist, weil sie diesen Werten weitgehend entspricht. Man muss also
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eine Meinung über Tatsachen begründen, ganz wie man in der Physik eine Meinung über das Verhalten von Elementarteilchen begründet, ohne deren Existenz zu rechtfertigen. Dann hat man vor allem zwei Aufgaben: (i) Man muss Bedingungen schaffen, unter denen man die moralischen Werte beobachten kann, so wie man in den Naturwissenschaften im Labor Bedingungen schafft, unter denen man Elementarteilchen beobachten kann. In moralischen Argumenten bietet sich hierzu die Methode des moralischen Gedankenexperimentes an. Dieses unterscheidet sich von dem Experiment, das IMK anstellt, grundlegend dadurch, dass es gerade nicht versucht, moralische Entscheidungen auszuschließen, sondern diese im Gegenteil erzwingt. Man schildert prägnant eine bestimmte Situation und beobachtet das moralische Urteil, das kompetente moralische Personen intuitiv fällen. Je nach Hintergrundtheorie geht man dann davon aus, dass der Urteilende damit eine moralische Intuition aktualisiert oder implizites, vielleicht begriffliches Wissen explizit gemacht hat. Mit einem solchen Gedankenexperiment weist man auf die moralischen Werte hin. Es ist sozusagen der nicht-inferentielle Grenzfall der internen Rechtfertigung.12 (ii) Man muss die richtigen Schlüsse aus den Beobachtungen ziehen, bzw. den Adressaten der Rechtfertigung dazu bringen, das zu tun. Das bedeutet, dass man auf Inkohärenzen und Widersprüche in den moralischen Überzeugungen hinweist, dass man die Konsequenzen aus einer in (i) gemachten Beobachtung wirklich vollständig beachtet und dass man untersucht, wo man vielleicht auf weitere Beobachtungen angewiesen ist. Hier handelt es sich um typische inferentielle interne Rechtfertigung: Man leitet aus moralischen Prämissen weitere moralische Urteile ab oder betrachtet logische Beziehungen zwischen verschiedenen moralischen Urteilen.
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Struktur der Werte und der Vorrang moralischer Gründe Ich habe in Kapitel 2 erklärt, dass moralische Forderungen dem Alltagsverständnis nach Vorrang vor anderen Forderungen haben und intrinsische Handlungsgründe liefern, also Gründe, die auch ohne andere Gründe bestehen könnten (Abschnitte 2.1.1, S. 15f.). Zumindest, so habe ich argumentiert, gilt das für moralische Personen. Das sind zentrale Teile des vortheoretischen Moralverständnisses und deswegen empfiehlt es sich für Moraltheoretiker, ihnen gerecht zu werden. Wenn der Realismus sich dieser Aufgabe stellt, muss er bestimmte Annahmen über die Struktur der moralischen Werte machen. Jede realistische Position muss annehmen, dass moralische Werte intrinsische (also nicht-abgeleitete) Werte sind. Nur so ist es möglich, dass die moralischen Gründe, die diese Werte konstituieren, ohne Gründe bestehen können, die von anderen Werten abgeleitet sind. Es ist nämlich plausibel und konsequent anzunehmen, dass sich die inferentielle Ordnung der Werte genauso wie die Ordnung der Stärke (vgl. oben) auf die Gründe überträgt. Dann kann man wie folgt argumentieren: Wären moralische Werte aus den nicht-moralischen Werten X abgeleitet, dann hätte man auch immer nur einen Grund moralisch zu sein, weil man einen Grund hat, die Werte X zu realisieren. Gäbe es die Werte X und folglich die entsprechenden Gründe nicht, dann hätte man auch keine moralischen Gründe mehr. Das würde bedeuten, dass moralische Gründe keine intrinsischen Gründe sind, was nach Annahme falsch ist. Ich habe bereits in Kapitel 2 argumentiert, der Anti-Realismus könne die schwächere Position zum Vorrang moralischer Forderungen vertreten, nämlich dass diese nur für moralische Personen Vorrang vor anderen Forderungen haben. Für einen moralischen Realisten bietet sich diese Position nicht an, denn aus seiner Sicht müssen moralische Gründe Gründe für jeden sein. Das kommt daher, dass moralische Werte unabhängig von Personen bestehen und ebenso Werte für jeden sind. Wäre nämlich ein moralischer Wert nur für moralische Personen ein Wert, dann wären morali-
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sehe Forderungen davon abhängig, was man über sie denkt. Diese Position könnte man vielleicht vertreten, aber sie würde das gesamte realistische Projekt konterkarieren.13 Denn die Analogie moralischer und natürlicher Eigenschaften bekäme einen Riss: Dass Steine hart sind, ist nicht nur eine Tatsache für Personen, die eine bestimmte Einstellung haben; Analoges muss nach der realistischen Grundthese dann auch dafür gelten, dass Hilfe in Notsituationen gut ist. Es empfiehlt sich also für Realisten anzunehmen, dass moralische Werte für alle Personen allen anderen Werten übergeordnet sind. Das bedeutet natürlich nicht, dass moralische Gründe immer die wichtigste Rolle in allen Überlegungen spielen müssen. Dass sie Vorrang vor anderen Gründen haben, ist nur relevant, wenn moralische Gründe überhaupt greifen. Es gibt viele Situationen, in denen moralische Werte gar keine Rolle spielen. Archimedische Rechtfertigung Allein durch die Tatsache, dass es die realen moralischen Werte gibt, gibt es für jeden einen sehr starken potentiellen Grund, eine entsprechende moralische Praxis zu akzeptieren, obwohl nicht schon jeder über diesen Grund auch verfügt.14 Denn diese Praxis ist ein gutes Mittel, die moralischen Werte zu realisieren. Interne Rechtfertigung, so habe ich oben argumentiert, kann dazu dienen, moralische Gründe verfügbar zu machen. Archimedische Rechtfertigung für moralische Normen und Sanktionen zielt hingegen darauf, nicht-moralische Gründe für diese zu geben. Während es vor dem anti-realistischen Hintergrund klar ist, dass daran Bedarf besteht, erscheint archimedische Rechtfertigung im Rahmen des Realismus bereits auf den ersten Blick schwer einzuordnen und nicht besonders interessant. Moralische Werte kann man als intrinsische Werte nicht damit begründen, dass sie anderen Werten dienen, wie man etwa den Wert eines Besuchs im Fitnessstudio damit begründen kann, dass er dem höheren Wert der Gesundheit dient. Intrinsische Werte sind per definitionem nicht begründbar. Man könnte höchstens argu-
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mentieren, dass Dinge, die moralisch wertvoll sind, oft auch unter anderen Aspekten wertvoll sind. Aber das ändert nichts an dem moralischen Wert dieser Dinge und daran, dass man sie wegen dieses moralischen Wertes tun oder realisieren sollte. Anders gesagt: Wenn man eine andere Begründung für moralisches Handeln gibt, dann wird Moral in gewisser Weise übergangen. Vielleicht kann IMK oder ein verwandtes Argument zeigen, dass es sich aus nicht-moralischen Gründen empfiehlt, so zu handeln, wie es moralische Normen vorschreiben. Aber man befolgt diese Normen dann nicht als moralische Normen und es ist zudem eine Kontingente Tatsache, dass sich dieses Verhalten aus anderen Gründen empfiehlt. Wäre die Welt etwas anders beschaffen, dann könnte man moralisches Verhalten nicht in dieser Weise begründen. Wenn moralische Werte an oberster Stelle in der Hierarchie der Werte stehen, dann liefern sie die besten Gründe, moralischen Normen zu folgen. Auch moralische Sanktionen sind am besten dadurch gerechtfertigt, dass sie dazu dienen, moralische Werte zu realisieren. Warum sollte man auf die besten verfügbaren Gründe verzichten, wenn sie die einfachste und direkteste Art der Rechtfertigung liefern? Dass aus Sicht des moralischen Realismus wenig Platz für ein Rechtfertigungsargument ist, das greift, wenn Moral insgesamt in Präge gestellt wird, diagnostiziert ganz ähnlich Korsgaard (1996). Sie beginnt ihre Überlegungen mit der von ihr so genannten normativen Frage: Was soll ich tun? Diese Präge gleicht der Frage meines Skeptikers trotz aller Verschiedenheit insofern, als sie von einem Standpunkt außerhalb der Moral gestellt wird. And that is the problem with realism: it refuses to answer the normative question. It is a way of saying that it cannot be done. Or rather, more commonly, it is a way of saying that it need not be done. For of course I do feel confident that certain actions really are required of me, I might therefore be prepared to believe that those actions are intrinsically obligatory or objectively valuable, that Tightness is just a property they have. (Korsgaard 1996: 39)
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Korsgaard mahnt an, es sei unklar, wie man sich der Werte vergewissern könne, wenn dieses natürliche Vertrauen erschüttert sei. Denn der übliche Grund, bestimmte Werte als real anzunehmen, sei ja gerade dieses Vertrauen. Auf Nagels realistische Position antwortet sie in diesem Sinne: For how do we determine that these reasons or truths exist? [...] Nagel asserts that all we can do is rebut the sceptical arguments against the reality of reasons and values. Once we have done that, there is no special reason to doubt that they exist. And then when you see something that appears to be a reason, such as, say, your desire to avoid pain, the best explanation of this appearance is that that's what it is - a reason. (Korsgaard 1996: 41) Realisten sehen dieses Problem üblicherweise nicht, vielleicht weil sie nicht von der skeptischen oder normativen Frage ausgehen. Und so schreibt Nagel über seine These, dass Schmerz und angenehme Empfindungen einer Person Gründe konstituierten, die für jeden Gründe sind (und damit aus seiner Sicht moralische Gründe): „In arguing for that claim, I am somewhat handicapped by the fact that I find it self-evident." (Nagel 1986: 159f.) Um zusammenzufassen: Auf die Frage „Warum soll ich moralische Werte akzeptieren?" kann der Realist letztlich nur antworten: „Weil sie eben bestehen! Es gibt in diesem Fall eigentlich keine Frage der Akzeptanz, so wenig wie es eine Frage ist, ob man Steine akzeptieren sollte." Und auf die nächste, eigentlich ursprüngliche Frage des Skeptikers „Warum soll ich die moralischen Sanktionen akzeptieren?" ist die beste Antwort: „Weil sie dazu dienen, die moralischen Werte zu realisieren." Diesen Hinweis kann man mit internen Rechtfertigungsargumenten untermauern, die den Blick des Skeptikers für die moralischen Werte schärfen. Wenn sich der Skeptiker aber weigert, die aus Sicht des Realisten offensichtlichen moralischen Fakten zu sehen, ist auch ein archimedisches Argument nicht hilfreich. Würde man zum Beispiel mit (nichtmoralischen) Vorteilen moralischer Normen und Sanktionen argumentieren, dann hätte das keine zusätzliche Autorität. Bei Differenzen zwischen Vorteilsgründen und moralischen Gründen würde
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man damit nicht zeigen, dass Moral hinfällig oder veränderungsbedürftig ist, sondern nur, dass sie nicht vorteilhaft ist. Man könnte sagen, dass der Bereich der archimedischen Rechtfertigung ein blinder Fleck des Realismus ist, während interne Rechtfertigung, wie oben gezeigt, durchaus sinnvoll ist. Der Einwand des Hineintäuschens in die Moral Dass archimedische Rechtfertigung vor dem realistischen Hintergrund schwach ist, kann man noch einmal ganz deutlich machen an Schmidts Einwand, der hier - anders als vor dem anti-realistischen Hintergrund - sehr treffend ist (vgl. Abschnitt 5.2.3). Zur Erinnerung: Schmidt argumentiert, eine moralische Praxis sei wesentlich eine Begründungspraxis. Gültige moralische Forderungen seien nur solche Forderungen, die man anderen und sich selbst gegenüber mit guten moralischen Gründen rechtfertigen könne. Deswegen müsse eine Rechtfertigung einer moralischen Praxis zeigen, dass moralische Gründe wirklich gute und nicht bloß vermeintliche Gründe sind. Schmidt formuliert den Einwand dann so: Nehmen wir [...] an, daß es gelänge, dem Dritten gegenüber einsichtig zu machen, daß er insgesamt besser fahren würde, würde er sich der moralischen Praxis [...] anschließen. [...] Gelingt dieser Nachweis [...], so wäre dem Außenstehenden gezeigt, daß er besser daran tut, sich zu der Meinung zu bringen, daß die Gründe und Argumente, die er zuvor nicht als solche anerkannt hat, eben doch Gründe sind. Jedoch gilt: Daraus, daß es vernünftig ist, sich dazu zu bringen, etwas als einen Grund anzuerkennen, folgt nicht, daß es sich um einen Grund handelt. (Schmidt 2003: 152) Reale Werteigenschaften kann man nicht beeinflussen, indem man seine Überzeugungen ändert. Es kann zwar vorteilhaft oder rational sein, eine bestimmte Meinung darüber zu haben, was wertvoll sei, aber diese Meinung hat keine Auswirkungen darauf, was tatsächlich wertvoll ist. Bei anderen Tatsachen verhält es sich genauso: Es kann zum Beispiel rational sein, sich dazu zu bringen,
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Zucker für ungenießbar zu halten, wenn man es sich leicht machen will, eine bestimmte Diät einzuhalten. Trotzdem wird Zucker weiterhin genießbar sein. Da unter den Annahmen des Realismus Werte Gründe konstituieren, gilt Analoges auch für Gründe. Man kann durch ein Argument keinen Grund neu schaffen, höchstens kann man bisher bloß potentielle Gründe verfügbar machen, indem man auf sie hinweist (siehe oben). IMK taugt nicht, um auf Werte hinzuweisen. Denn auch wenn IMK korrekt und überzeugend durchgeführt wurde, weiß man noch nicht, ob der Adressat zu einer falschen Meinung gebracht oder auf die echten Gründe hingewiesen wurde. Das Argument könnte man nämlich mit der selben überzeugenden Wirkung vorbringen, wenn es keine moralischen Werte und Gründe gäbe; es könnte ja trotzdem vernünftig sein, sich dazu zu bringen, moralische Gründe als Gründe anzuerkennen. IMK ist deswegen kein geeignetes Mittel, um etwas über tatsächliche moralische Gründe herauszufinden. Anders gesagt: Man kann nicht wissen, ob IMK nur vermeintliche Gründe liefert, also scheinbare Gründe, die auf falschen Annahmen über die Ordnung der Werte basieren. Aber dann kann man auch nicht wissen, ob die durch IMK begründete Praxis eine vollwertige und nicht bloß eine vermeintliche Begründungspraxis ist. Letztlich ist das eine Variation des Arguments von oben. Gründe der Rationalität sind im Rahmen des Realismus durch Werte konstituiert, die unabhängig davon sind, ob moralische Werte und folglich moralische Gründe bestehen oder nicht.
6.2.2 Kontraktualismus im Rahmen des Realismus Im Rahmen des Realismus steht die kontraktualistische Rechtfertigung, wie ich argumentieren werde, vor einer unerfreulichen Wahl: (a) Wenn sie, was sie eigentlich tun möchte, archimedisch argumentiert, dann ist sie nach dem Argument im letzten Abschnitt irrelevant, (b) Wenn sie hingegen diesen Anspruch aufgibt und sich gegen die ursprüngliche Intention als interne Rechtfertigungs-
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theorie versteht, hat sie je nachdem, mit welchen natürlichen Eigenschaften man moralische Eigenschaften identifiziert, höchstens einen Status als Hilfswerkzeug. (c) Nur in einem Fall kann sie als vollwertige Theorie punkten: Wenn man sie selbst als Reduktionsbasis für moralische Werte versteht; doch dann ist sie anfällig für die vier Einwände gegen den Kontraktualismus, die ich in Kapitel 3 vorgestellt habe. Ich diskutiere im Folgenden den Kontraktualismus als interne Rechtfertigungstheorie, also die Fälle (b) und (c), deswegen, weil ich denke, dass IMK oft so missverstanden wird und sich die zentralen Einwände vor allem gegen eine dieser Varianten richten. Kontraktualismus als Operationalisierung Man könnte vorschlagen, moralische Normen zu identifizieren mit Normen, die bei allgemeiner Befolgung im Großen und Ganzen für jedes Mitglied der moralischen Gemeinschaft vorteilhaft sind. Versteht man Vorteil dabei in einem subjektivistischen Sinn, bestimmen die Pro-Einstellungen oder Interessen der Mitglieder der moralischen Gemeinschaft zusammen mit den Bedingungen, unter denen diese leben, was moralisch richtig ist. Die Eigenschaft moralisch gut müsste man dann identifizieren mit der Eigenschaft, einer solchen Norm zu entsprechen. Damit gelingt eine naturalistische Reduktion. Ich will mich nicht mit den Details eines solchen Ansatzes aufhalten und gestehe ihm zumindest für den Zweck des Arguments zu, dass er kohärent entwickelt werden kann. Welche Rolle kann IMK unter diesen Bedingungen spielen? Mit einem kontraktualistischen Gedankenexperiment kann man herausfinden, ob ein Normensystem bei allgemeiner Befolgung im Großen und Ganzen vorteilhaft für jedes Mitglied der Gemeinschaft ist, ob es sich also, unter der aktuellen Annahme, um ein System moralischer Normen handelt. Man könnte es verwenden, um neue Normen zu finden oder um die Intuitionen über bestehende Normen zu schärfen. Denn mit dem Gedankenexperiment ist es einfacher zu sehen, ob eine Norm wirklich für jeden wünschenswert und daher vorteilhaft ist. Das kontraktualistische
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Verfahren könnte also als Operationalisierung des abstrakteren Ansatzes Verwendung finden. Es ist damit ein Hilfsmittel für die interne Rechtfertigung, da es im Rahmen eines Argumentes Verwendung findet, das von moralischen Prämissen ausgeht. In diesem Ansatz ist das beste Argument für die Akzeptanz von Sanktionen wie bei allen realistischen Argumenten der Verweis darauf, dass diese Sanktionen dazu dienen, moralische Werte zu realisieren, indem sie Verhalten fördern, das den moralischen Normen entspricht. Eine funktionierende Sanktionspraxis, so könnte man argumentieren, hat selbst moralischen Wert, da sie - wie man im Gedankenexperiment sieht - für alle Mitglieder der Gemeinschaft vorteilhaft und ipso facto moralisch ist. Das kontraktualistische Verfahren, das ich eben als Operationalisierung vorgestellt habe, hat zwar Ähnlichkeit mit IMK. Aber da es sich um eine Methode der internen Rechtfertigung handelt, ist es grundlegend von IMK verschieden. Als archimedische Rechtfertigung ist IMK selbst hier so irrelevant wie bei allen anderen realistischen Ansätzen. Wer grundlegend anzweifelt, dass es moralische Werte gibt oder dass moralische Normen, wie postuliert, identisch sind mit Normen, die bei allgemeiner Befolgung im Großen und Ganzen für jedes Mitglied der moralischen Gemeinschaft vorteilhaft sind, der wird durch IMK auch keine befriedigende Antwort bekommen. Denn IMK wird ihm nur zeigen, dass bestimmte Normen diese Eigenschaft haben, nicht, dass es sich um eine moralische Eigenschaft handelt, die starke Gründe konstitutiert. Verstanden als Operationalisierung eines anderen Ansatzes ist das kontraktualistische Argument nicht besonders strittig. Es hat ja den Status eines Werkzeuges, das sich allein durch seine Funktion für einen anderen moralischen Ansatz rechtfertigt. Aber weder IMK selbst noch das interne kontraktualistische Argument spielen eine wichtige Rolle. Müsste man sich auf diese Position zurückziehen, dann hätte man als Verteidiger von IMK versagt.
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Reduktion auf konform zu einer kontraktualistisch ableitbaren Sanktion Abschließend werde ich den Vorschlag untersuchen, der eine direkte Identifikation von moralisch richtig mit konform zu einer im kontraktualistischen Gedankenexperiment ableitbaren Sanktion vornimmt. Genauer gesagt: Die Eigenschaft moralisch richtig ist nach dieser Position identisch mit der Eigenschaft, konform zu einer tatsächlich bestehenden Sanktion zu sein, die die Versuchspersonen in dem vertragstheoretischen Gedankenexperiment gewählt hätten. Das ist eine Position, die, wie ich vermute, IMK mehr oder minder bewusst oft unterstellt wird. Das kontraktualistische Argument spielt hier eine wichtige Rolle: Denn es ist das autoritative Mittel der Wahl, um zu bestimmen, ob Normen und Handlungen moralisch sind.15 Anders als zuvor ist das kontraktualistische Argument nicht nur die Operationalisierung eines anderen Ansatzes. Wenn man sich, so dieser Ansatz, über die wahre Natur der Moral bewusst wäre, würde man nur noch kontraktualistisch argumentieren. Das kontraktualistische Verfahren spielt dabei wieder die Rolle eines internen Rechtfertigungsarguments. Denn sobald man kontraktualistisch argumentiert, führt man bereits ein moralisches Argument durch: Man legt dar oder buchstabiert aus, welche Regeln moralisch sind. Es gibt mehrere Möglichkeiten, die These zu verstehen. Ich möchte sie so auffassen, wie Gegner des Kontraktualismus das wahrscheinlich meistens tun. Ich denke auch, dass zum Beispiel der Kontraktualist Stemmer zumindest einlädt, seine Theorie als einen Ansatz genau dieser Variante des reduktionistischen Realismus einzuordnen.16 In dieser Lesart sind Sanktioniertsein und Richtigsein identisch. Moralische Richtigkeit besteht dann darin, durch eine kontraktualistisch ableitbare Sanktionen erzwungen zu sein. Das bedeutet aber auch, dass es genuin moralische Motivation neben der Motivation durch den Zwang allgemein vorteilhafter Sanktionen nicht gibt. Stemmer legt diese Sicht nahe, wenn er schreibt:
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Der Normativität, die aus den sozialen Sanktionen kommt, wird [...] nicht noch eine zweite, anders geartete Normativität hinzugefügt. [...] Das verpflichtende Müssen ist somit ein prudentielles Müssen, und zwar ein sanktionskonstituiertes [...] Müssen. [...] Man muss den Mythos von einer eigenen bindenden Kraft der Verpflichtung aufgeben. (Stemmer 2002: 19) Diese Auffassung provoziert, wie ich unten zeigen werde, die metaethischen Einwände der moralischen Person. Aber erst möchte ich noch festhalten, dass IMK als archimedisches Argument vor diesem Hintergrund wie bei allen bereits diskutierten Versionen des Realismus irrelevant ist. IMK könnte als archimedisches Argument zwar darlegen, dass sanktionierte moralische Regeln immer auch vorteilhaft für jedes Mitglied der moralischen Gemeinschaft sind; jetzt handelt es sich dabei sogar um einen notwendigen Zusammenhang. Dass man deswegen aber auch schon einen echten moralischen Grund hat, kann IMK wiederum nicht zeigen. Damit greift der Einwand des Hineintäuschens in die Moral (Abschnitt 6.2.1). Genausowenig kann IMK zeigen, dass die These der Identität moralischen Richtigseins und rechtfertigbaren Sankioniertseins stimmt. Wenn die gerade diskutierte Reduktionsthese korrekt ist, müsste man, um moralisch zu sein, immer nur seinem eigenen Interesse folgen: Erst, wenn langfristig vorteilhafte Sanktionen moralisches Verhalten auch im Einzelfall vorteilhaft machen, bestehen überhaupt moralische Forderungen. In Gemeinschaften, die die moralischen Werte nicht richtig umsetzen, wäre es hingegen nicht unmoralisch, sich an keinerlei Regeln zu halten. Man hätte also immer alles in Einem: Moral, Rationalität und den eigenen Vorteil. Allerdings sind die vier Einwände gegen IMK, die ich in Kapitel 3 vorgestellt habe, bei dieser Version des Realismus besonders stark. Das möchte ich jetzt im Einzelnen zeigen. Moralische Motivation und das Problem folgenlosen Regelbruchs Die ersten zwei Einwände möchte ich in einem Zug behandeln. Der erste Einwand lautet, der Kontraktualismus unter-
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stelle ein falsches Bild moralischer Motivation; denn ihm zu Folge handelten moralische Akteure nur aus Angst vor Sanktionen oder verrechneten die Sanktionen als Kosten einer Option mit deren Vorteilen. Sie handelten, so der Einwand, aber nicht aus moralischer Einsicht oder wegen ihres eigenen moralischen Urteils. Der zweite Einwand lautet, der moralische Kontraktualismus könne nicht erklären, dass moralische Normen auch dann verpflichtenden Charakter haben, wenn die Sanktionen punktuell versagen. Denn der einzige Grund, moralisch zu handeln, bestünde ja in der entsprechenden Sanktion und diese versage eben. Habe jemand aber keinen Grund, in einer bestimmten Weise zu handeln, dann könne man ihm auch nicht vorwerfen, dass er es nicht getan habe. Angenommen, eine moralische Person habe ein gutes Verständnis der moralischen Regeln. Das heißt unter den gegenwärtigen Annahmen, dass sie sich über die Identität von moralischer Richtigkeit und rechtfertigbarem Sanktioniertsein bewusst ist. Wenn diese Person urteilt, X sei moralisch richtig, dann sieht sie ein, dass eine Sanktion besteht, die X erzwingt und kontraktualistisch rechtfertigbar ist. Die betrachtete Person ist sich des begrifflichen und ontologischen Zusammenhangs bewusst: Deswegen meint sie mit der Aussage, X sei moralisch richtig, es bestehe eine rechtfertigbare Sanktion, die X erzwinge. Wenn sie ein solches Urteil fällt und rational ist, ist sie notwendigerweise auch motiviert, entsprechend zu handeln. Nach ihrem besten Wissen ist es ja vorteilhaft, der Sanktion entsprechend zu handeln. Nichts anderes heißt es ja, dass die Sanktion das entsprechende Verhalten erzwingt. Doch obwohl diese Art von Motivation notwendigerweise mit dem moralischen Urteil einer rationalen Person einhergeht, ist es keine genuin moralische Motivation, die unabhängig von Sanktionen besteht. Moralisch motiviert zu sein bedeutet, durch Einsicht in das Bestehen von Sanktionen motiviert zu sein. Es gibt keine weitere moralische Einsicht, die zusätzliche motivierende Gründe liefern könnte. Auch die kontraktualistische Überlegung kann diesen zusätzlichen motivierenden Grund nicht liefern: Wenn ein rationaler Ak-
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teur das kontraktualistische Argument nachvollzieht, dann versteht er ipso facto, dass es neben den Sanktionen keinen Grund gibt, sich in einzelnen Situationen an Regeln zu halten. Auf der anderen Seite ist ein rationaler Akteur genauso motiviert, wenn er einsieht, dass es zwingende Sanktionen gibt, die nicht rechtfertigbar sind. Die Einsicht, dass bestimmte Sanktionen kontraktualistisch rechtfertigbar sind, hat keinen Einfluss auf die Motivation einer rationalen Person. Sie kann deswegen auch keine zusätzlichen Handlungsgründe liefern, obwohl sie immer Teil eines moralischen Urteils ist. Wenn es keine Sanktion gibt, die in einer Situation ein bestimmtes Verhalten erzwingt, dann ist dem diskutierten Ansatz nach keine moralische Bewertung des Verhaltens in dieser Situation möglich. Moralische Urteile laufen dann sozusagen leer. Besteht keine Sanktion, dann kann man nämlich weder sagen, ob eine Sanktion eine bestimmte Handlung oder eine damit unvereinbare Handlung erzwingt, noch, ob sie gerechtfertigt ist. Genau darauf würde man sich mit einem moralischen Urteil aber beziehen. So kann man jemandem, der eine Lücke in den Sanktionsmechanismen ausnutzt, keinen moralischen Vorwurf machen, weil seine Handlung gar nicht im Gegenstandsbereich moralischer Urteile liegt. Ein Vorwurf auf der Basis der Rationalität wäre darüber hinaus sogar unangebracht, da sich der Regelbrecher ja vollkommen rational verhalten hat. Das hat all die problematischen Folgen, die ich in Abschnitt 3.4.1 (S. 79) aufgeführt habe. Die ersten beiden Einwände der moralischen Person treffen unter Annahme der gerade diskutierten reduktionistischen Hypothese also. Denn erstens handeln ihr zufolge kompetente und reflektierte moralische Akteure, wenn sie moralisch handeln, immer wegen ihrer Einsicht in das Bestehen einer zwingenden Sanktion. Zweitens kann man jemandem, der eine Lücke in den Sanktionsmechanismen ausnutzt, keinen Vorwurf machen. Beides ist unplausibel und eine Theorie, die diese Thesen verteidigen will - etwa in dem sie im Sinn von Smith und Jackson darauf hinweist, dass es sich um bestehende, wenn auch nicht-offensichtliche begriffliche
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Wahrheiten handelt -, trägt eine schwere Hypothek. Denn es geht bei beiden Thesen um elementare Eigenschaften aller moralischen Normen. Wir wären uns, sollten sie doch stimmen, nicht nur über Feinheiten, sondern über ganz zentrale Charakteristika der Moral im Unklaren. Reduktionismus Der dritte Einwand gegen IMK behauptet, IMK müsse die unhaltbare Position vertreten, dass moralische Regeln identisch mit rationalen Kooperationsregeln seien und somit zu den Regeln der klugen Verfolgung des Eigeninteresses gehörten bzw. auf diese reduziert werden könnten. Das widerspreche aber grundlegend dem üblichen moralischen Verständnis. Dieser Einwand trifft den reduktionistischen Realismus in der gerade diskutierten Variante natürlich. Denn moralische Regeln sind ja die Regeln, die bestimmen, was moralisch richtig ist. Das allerdings sind nach Annahme genau die Regeln, die durch kontraktualistisch ableitbare bestehende Sanktionen implementiert sind. Wenn die Sanktionen und damit (nach These (MK), S. 44) die entsprechenden Regeln aber kontraktualistisch ableitbar sind, dann sind es rationale Kooperationsregeln, also Regeln der klugen Verfolgung des Eigeninteresses. Instrument allst ische Begründungspraxis Der vierte Einwand lautet, der Kontraktualismus reduziere moralisches Überlegen fälschlicherweise auf rationales Überlegen. Er impliziere, dass die Alltagspraxis moralischen Überlegene ein Teil des klugen Überlegens sei. Er müsse zudem behaupten, wer Moral richtig verstehe, habe in moralischen Überlegungen immer das eigene Interesse im Auge und sehe moralische Überlegungen als eine Kurz- oder Sonderform ausführlicher Klugheitserwägungen. Das sei nicht vereinbar mit dem moralischen Alltagsverständnis. Es gebe eine deutliche Lücke zwischen der vertragstheoretischen Argumentation und dem üblichen moralischen Überlegen der Alltagsmoral. Während ich als Anti-Realist den Anspruch geleugnet habe, mit einem archimedischen Argument an moralische Argumente
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direkt anzuschließen, müssen Realisten des gerade diskutierten Typs zeigen, dass dieser Anspruch besteht und eingelöst werden kann. Denn wie oben erwähnt ist das kontraktualistische Gedankenexperiment unter den aktuellen Voraussetzungen eigentlich das natürlichste und genaueste Argument der moralischen Rechtfertigung. Ich habe den Einwand oben damit veranschaulicht, dass ich eine moralische Diskussion über unklare Fälle, etwa Fragen der Bioethik, dargestellt habe, in die der Kontraktualist eingreift. Dessen Argument wirke zwar, so der Einwand, schlüssig, aber auf Seiten der Gesprächspartner bleibe die Frage offen, ob das, was der Kontraktualist jetzt hergeleitet habe, ein Beitrag zu ihrer moralischen Diskussion und damit eine Antwort auf ihr moralisches Problem sei. An dieser Stelle könnten Realisten nun einhaken und analog zu ihrer Antwort auf Moores Argument der offenen Fragen (Abschnitt 6.1.2) argumentieren. Am überzeugendsten hat sich dabei nach obiger Diskussion der Hinweis auf nicht-offensichtliche Analytizität herausgestellt. Die Frage bleibe, so dieses Argument, zunächst nur deswegen offen, weil der analytische Zusammenhang zwischen dem Begriff rationaler Kooperationsregeln und dem Begriff moralischer Regeln den meisten Menschen nicht bewusst sei. Trotzdem bestehe dieser Zusammenhang. Wenn man seinen Begriff der Moral schärfe, werde klar, dass kontraktualistische an moralische Überlegungen anschlössen. Sollte dem Realisten dieses Argument glücken, dann hätte er auch den dritten Einwand geschwächt; denn wer über einen derart geklärten Begriff verfügte, fände es nicht mehr unplausibel, dass moralische Regeln auf rationale Kooperationsregeln reduziert werden können. Ich kann daher nicht ganz ausschließen, dass der Realismus eine Chance hat, den letzten beiden Einwänden mit großem theoretischem Aufwand zu entgehen. Um diese Einwände wirklich zu widerlegen, muss er durch genaue begriffliche Analyse zeigen, dass die Lücke zwischen moralischem und kontraktualistischem Überlegen nur eine scheinbare ist und dass folglich beim richtigen Verständnis von Moral keine Frage offen bleibt. Analog zu der
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Diskussion der ersten beiden Einwände wage ich zu behaupten, dass es äußerst schwierig ist zu zeigen, dass das tatsächlich beste moralische Argument eines ist, das uns bisher in vielen Situationen fremd ist oder sogar widerstrebt.
6.2.3 Fazit Weil der nicht-naturalistische moralische Realismus vor meiner allgemeinen naturalistischen Grundhaltung nicht vertretbar ist, habe ich in zwei Richtungen gegen den naturalistischen Realismus als Hintergrundtheorie für IMK argumentiert: (i) Die Tatsache, dass archimedische Rechtfertigung im Rahmen des Realismus nur schwer einen Platz findet, ist der zentrale Grund für IMK, den moralischen Realismus zu meiden. (ii) Je mehr man die Reduktionsbasis für moralische Eigenschaften so zuschneidet, dass eine enge inhaltliche Übereinstimmung von IMK und dem, was moralisch ist, besteht, verliert der reduktionistische Realismus an Plausibilität. Das zeigt die Anfälligkeit für die vier metaethischen Einwände: Bei einer Identifikation der Eigenschaft moralisch richtig mit der Eigenschaft konform zu einer im kontraktualistischen Gedankenexperiment ableitbaren Sanktion stellen diese Einwände eine schwere Hypothek dar. Sie fordern von dem Realisten ein sehr aufwändiges Argument, dessen Ergebnis unserem üblichen Verständnis von Moral diametral entgegensteht. Die realistische Analyse müsste, um erfolgreich zu sein, zeigen, dass unser Selbstverständnis als Teilnehmer einer moralischen Praxis grundlegend falsch ist. Wie am Anfang bemerkt, habe ich damit nicht abschließend gezeigt, dass man keine mit IMK verträgliche Version des Realismus finden kann. Aber jeder realistische Ansatz wird als Hintergrundtheorie für IMK, das hat meine Diskussion ergeben, mit den eben genannten Schwierigkeiten zu kämpfen haben. Denn erstens kann
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IMK die Rolle als archimedische Rechtfertigungstheorie, die intuitiv zentral und eine große Stärke ist, vor einem realistischen Hintergrund nie voll ausspielen und zweitens ist es sehr schwierig, unplausible Implikationen über die bestehende Alltagspraxis zu vermeiden. Jeder realistische Ansatz wird deswegen auf wackeligen Beinen stehen. Was meine Frage nach einem metaethischen Hintergrund für IMK angeht, kann man schließen: Die Beweislast liegt bei der Kombination aus moralischem Realismus und IMK, die zeigen müsste, dass die starke und kohärente Kombination aus AntiRealismus und IMK nicht funktioniert.
Kapitel 7 Objektivität und Relativismus In den letzten Kapiteln habe ich dafür argumentiert, dass der interessenbasierte moralische Kontraktualismus (IMK) eine plausible Theorie der archimedischen Rechtfertigung ist, wenn man ihn vor einem anti-realistischen Hintergrund betrachtet. Im Folgenden möchte ich diese Kombination aus IMK und dem metaethischen Anti-Realismus einem weiteren Test unterziehen, indem ich untersuche, wie sie mit zwei wichtigen vortheoretischen Intuitionen umgehen kann. Es handelt sich dabei erstens um die Auffassung, Moral sei objektiv: Was moralisch richtig oder falsch sei, hänge nicht davon ab, was wir darüber dächten. Zweitens werde ich mich mit der Intuition beschäftigen, Moral sei höchstens zu einem gewissen Grad relativ, es gelte also nicht für jede Gruppe oder gar jede Person eine andere Moral. Ich möchte zeigen, dass die Kombination aus IMK und dem metaethischen Anti-Realismus diesen Intuitionen gerecht werden kann. Allerdings schlage ich für beide Thesen eine etwas differenziertere Formulierung vor. Damit ist auch gezeigt, dass beide Komponenten meines Ansatzes gut zusammenspielen und in der Lage sind, mit analytischer Kraft vortheoretische Überzeugungen auf plausible Weise zu systematisieren.
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7.1 Objektivität 7.1.1 Metaphysische und prozedurale Objektivität Von den Naturwissenschaften denkt man üblicherweise, dass sie objektiv sind: Was in ihrem Bereich richtig oder falsch ist, was man glauben sollte oder behaupten darf, geben die Gegenstände der jeweiligen Wissenschaft vor. Das heißt nicht, dass die Naturwissenschaften die Welt bereits genau beschrieben haben. Aber, so die wahrscheinlich verbreitetste Auffassung, die Wissenschaften konvergieren in Richtung eines adäquaten Bildes.1 Der wissenschaftliche Fortschritt wird demnach von den Gegenständen (den Objekten) der Wissenschaft gelenkt und nicht hauptsächlich von den Meinungen oder Wünschen der Wissenschaftler (den Subjekten) (vgl. Brink 1989: 5-6). Das garantieren unter anderem die Methoden der jeweiligen Wissenschaft, die zum Beispiel fordern, subjektive Meinungen auszuschließen und sich statt dessen allein an Messdaten zu halten. Objektive Meinungen in diesem Sinne sind noch kein Wissen, da sie nicht wahr sein müssen. Sie sind aber auch mehr als bloß gerechtfertigte Meinungen. Man könnte sagen, dass sie auf eine Weise gerechtfertigt sein müssen, die eine Annäherung an die Wirklichkeit verbürgt. Wenn man sagt, Moral sei objektiv oder erhebe objektive Ansprüche, dann kann man das meines Erachtens analog zum Fall der Wissenschaften verstehen. Moral ist dann objektiv, wenn es von der jeweiligen Situation abhängt (also von dem Objekt), ob ein Urteil falsch oder richtig ist, und nicht davon, was das Subjekt des moralischen Urteils denkt. Eine allgemeine Moraltheorie bzw. das Regelsystem einer moralischen Praxis ist dann objektiv, wenn Verbesserungen oder Fortentwicklungen des Systems von der Welt und nicht von Wünschen oder Meinungen der Urteilenden gelenkt werden. Ich habe damit zunächst einen recht starken Begriff von Objektivität eingeführt; gelegentlich spricht man dabei auch von me-
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taphysischer Objektivität (Gaus 1996: 119). Eine schwächere Variante des Begriffs verlangt nicht, eine objektive Theorie müsse sich der Realität annähern, und beschränkt sich auf die negative Forderung, Wünsche oder Meinungen einzelner Personen dürften den Fortschritt der Theorie nicht beeinflussen. Eine fortschrittliche Veränderung einer Theorie müsse sich immer auf Gründe stützen, die für einen größeren Kreis Gründe seien. Im Fall der Moral wäre das die moralische Gemeinschaft, im Fall der Wissenschaft die scientific community. Damit ein Urteil in diesem Sinn objektiv ist, muss es von einem unpersönlichen Standpunkt aus gefällt sein. Ich möchte hier von prozeduraler Objektivität sprechen, weil es darum geht, ein Verfahren anzuwenden, das die Standpunktabhängigkeit der Meinungen als Fehlerquelle so weit wie möglich ausschließt.2 Auch diese Art der Objektivität stellt besondere Anforderungen an die Rechtfertigung einer objektiven Meinung. Es kann durchaus Meinungen geben, die aus der Sicht einer Person gerechtfertigt sind, aber der relevanten Gruppe gegenüber öffentlich nicht gerechtfertigt werden können. Solche Meinungen sind im prozeduralen Sinn nicht objektiv. Wie ich in Abschnitt 4.2.3 (S. 111) erläutert habe, muss ein Argument der öffentlichen Rechtfertigung strenge Kriterien erfüllen, es muss zum Beispiel zugänglich sein und einem hohen Standard an Beweiskraft genügen.
7.1.2 Objektivität und Anti-Realismus Die Intuition, Moral sei objektiv, ist üblicherweise stark. Ein Grund dafür ist wahrscheinlich, dass Moral einem Grundbedürfnis nach Orientierung entspricht. Aber zusätzliche Struktur kann Moral nur geben, wenn sie fest verankert ist. Wäre Moral nicht objektiv, dann müssten viele Menschen die Rolle überdenken, die sie ihr mehr oder minder bewusst zuschreiben.3 Inwiefern kann die Kombination aus IMK und dem metaethischen Anti-Realismus dieser Intuition gerecht werden?
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Objektivität und Relativismus Unparteilichkeit als normative Forderung
Ob die Urteile, die Mitglieder einer moralischen Praxis fällen, im prozeduralen Sinn objektiv sind, hängt von den Regeln dieser Praxis ab. Viele Moralsysteme enthalten die moralische Norm der Unparteilichkeit oder Fairness. Die Perspektive des unparteilichen Beobachters formt zum Beispiel nach den Theorien von Adam Smith oder David Hume den Gehalt moralischer Normen. Wenn man ein moralisches Urteil fällen möchte, dann muss man diesen Standpunkt einnehmen.4 In einer moralischen Gemeinschaft, die solche Normen akzeptiert, erfüllen korrekte moralische Urteile und die entsprechende Praxis interner Rechtfertigung die Forderung prozeduraler Objektivität: Sie sind nicht vom Standpunkt des Urteilenden abhängig. Nicht jede moralische Praxis ist in diesem Sinn prozedural objektiv. Festhalten kann man aber, dass die anti-realistische Analyse der moralischen Praxis die Frage nach deren prozeduraler Objektivität offen lässt, denn sie äußert sich nicht zum Inhalt moralischer Gefühle und Normen. Anders ist der Fall bei der Frage nach metaphysischer Objektivität gelagert. G eist-Abhängigkeit Metaphysische Objektivität ist nur möglich, wenn es eine Realität gibt, an die sich die jeweilige Theorie oder die jeweiligen Meinungen annähern. Ein System von Meinungen ist ja dann metaphysisch objektiv, wenn es auf einen wirklich existierenden Punkt hin konvergiert. In diesem Sinn schreibt Brink: The commonsense view of the natural sciences [...] and of the social sciences [...] is that these disciplines study real objects and events whose existence and nature are independent of our theorizing about them, that they exhibit progress and convergence over time, and that they exhibit some at least approximate knowledge. This conception of objectivity is usually thought to be a realist view. (Brink 1989: 5-6)
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So verstandene Objektivität steht im Widerspruch zu der antirealistischen und projektivistischen Grundhaltung, die ich vertrete. Wenn moralische Eigenschaften Projektionen von mentalen Zuständen auf die Welt sind, dann sind sie nicht unabhängig davon, was wir denken. Dasselbe gilt für moralische Tatsachen. Es gibt folglich keine Gegenstände moralischer Meinungen, die unabhängig von unserem moralischen Denken sind und den Prozess der moralischen Urteilsbildung lenken. Metaphysisch objektive Meinungen, die sich einer unabhängigen Realität annähern, sind deswegen im Bereich der Moral nicht möglich. Diese These darf man nicht mit einer subjektivistischen Haltung verwechseln, der zufolge es eine moralische Norm ist, das zu tun, was man für richtig hält. Es gehört für den Projektivisten nämlich gerade nicht zum Inhalt der Moral, dass moralische Eigenschaften von unserem Denken abhängig sind. Anders als der Subjektivismus ist der Projektivismus nur eine These über Moral, aber keine moralische These. Metaphysische Objektivität aus der Teilnehmerperspektive Diese Unterscheidung zwischen Projektivismus und Subjektivismus eröffnet die Möglichkeit, das Problem fehlender metaphysischer Objektivität zu relativieren. Denn aus der Sicht der Teilnehmer einer moralischen Praxis spricht man mit moralischen Urteilen über Eigenschaften der Welt, die unabhängig davon sind, was man denkt. Zu den üblichen moralischen Regeln gehört zum Beispiel die Norm, man solle sich nicht davon leiten lassen, was man gerade für richtig halte, sondern genau überlegen, was tatsächlich richtig sei. Aus Sicht des Urteilenden geht es bei moralischen Urteilen also sehr wohl darum, den moralischen Tatsachen gerecht zu werden und sich ihnen so weit als möglich anzunähern (vgl. Gibbard 1990: 164ff., oben Abschnitt 5.2.1). Aus Sicht der Teilnehmer einer moralischen Praxis sind moralische Urteile daher metaphysisch objektiv. Dasselbe gilt für Argumente der internen Rechtfertigung, die diese Urteile als Prämissen verwenden.
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Dieser Hinweis kann erklären, warum wir eine starke vortheoretische Intuition darüber haben, dass moralische Urteile objektiv sind. Zudem zeigt er, dass wir die Meinung, Moral habe eine orientierende Punktion, nicht revidieren müssen. Denn moralische Urteile, die aus der Innenperspektive objektiv sind, können üblicherweise die Punktion von Orientierungspunkten übernehmen. Natürlich kann man einen Schritt zurücktreten und sieht dann, dass diese nicht im starken metaphysischen Sinne objektiv vorgegeben sind. Das ist genau die Situation, in der IMK Anwendung findet.
7.1.3 Objektive Rechtfertigung IMK dient zur Vergewisserung darüber, dass die moralischen Gefühle, die die Mitglieder einer moralischen Praxis haben und auf die Welt projizieren, von außen betrachtet für alle vorteilhaft sind und dass man daher gute Gründe hat, diese Praxis zu akzeptieren und beizubehalten. Inwieweit ist diese Rechtfertigung objektiv? Prozedurale Objektivität ist erreicht, wenn man ein Verfahren anwendet, das die Standpunktabhängigkeit der Meinungen so weit wie möglich neutralisiert. Man könnte die prozedurale Objektivität von IMK nun mit der Begründung anzweifeln, die Prämissen von IMK seien die bloß subjektiven Interessen der Adressaten. Dieser Einwand beruht aber auf einem Fehlschluss. Zwar sind Haltungen und Wünsche, die durch einen subjektiven Standpunkt geprägt sind, das Material oder der Gegenstandsbereich von IMK, aber IMK selbst steht nicht auf einem dieser Standpunkte. IMK liefert im Rahmen öffentlicher Rechtfertigung Gründe, die für jedes Mitglied der moralischen Gemeinschaft Gründe sind (vgl. Abschnitt 4.4.1). Was durch IMK gerechtfertigt werden kann, hängt also nicht von den Meinungen einzelner Personen ab, sondern ist durch ein Argument bestimmt, das für alle überzeugend ist. IMK ist damit im prozeduralen Sinn objektiv.
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Die Frage danach, ob IMK metaphysische Objektivität beanspruchen kann, muss man in drei Schritten beantworten. (i) IMK basiert auf einer sozialwissenschaftlichen Theorie darüber, welche Interaktionsprobleme die Mitglieder der betreffenden Gemeinschaft, gegeben ihre aktuellen Interessen, ohne moralische Regeln hätten. Diese Theorie erklärt auch, welche Wirkungen bestimmte Sanktionen erwarten lassen. Sie greift dabei auf Beobachtungen und spieltheoretische, also mathematische, Einsichten zurück. Diese Theorie ist, wenn sie nach allen Regeln der Kunst entwickelt wird, im metaphysischen Sinn objektiv. Sie zielt darauf, die Welt genau zu beschreiben und verwendet Methoden, die garantieren, dass nicht subjektive Meinungen über die untersuchten Gegenstände den Fortschritt der Theorie lenken. IMK verwendet diese Theorie, ist aber nicht mit ihr identisch. (ii) Man kann die Frage, ob eine Theorie der Rechtfertigung metaphysisch objektiv ist, als die Frage danach verstehen, ob sie echte oder wirkliche Gründe liefere, sich also einer Realität der Gründe annähere. In einem schwachen Sinn ist das bei IMK der Fall: IMK verwendet die Einsichten der in (i) beschriebenen sozialwissenschaftlichen Theorie und zeigt damit Gründe auf, die für die Adressaten tatsächlich Gründe sind. Es kann zwar sein, dass es sich bei manchen dieser Gründe zunächst um bloß potentielle Gründe5 handelt, weil die Adressaten wichtige Folgerungen aus ihren Überzeugungen und dem System der Normen, das sie akzeptieren, nicht gezogen haben oder ziehen wollen. Aber wenn IMK erfolgreich ist, dann macht es Gründe verfügbar, die die Adressaten wirklich haben. IMK versucht nicht, die Adressaten zu etwas zu überreden, sie zu manipulieren oder zu täuschen, sondern orientiert sich an den von ihnen akzeptierten Normen und an faktischen Informationen, die für sie zugänglich und nachvollziehbar sind.
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Folgendes kann man also sagen: IMK weist die Adressaten auf die metaphysisch objektive Einsicht hin, dass eine bestimmte moralische Praxis für sie wünschenswert ist, und zeigt ihnen damit Gründe, die sie tatsächlich haben. (iii) In einem starken Sinn allerdings ist es, wie ich in Abschnitt 5.2.3 in Bezug auf den Einwand des Hineintäuschens in die Moral argumentiert habe, im Rahmen meiner naturalistischen Theorie der Gründe6 nicht sinnvoll zu fragen, ob IMK wirkliche oder echte Gründe liefere. Man hat einen Grund für X, wenn eine akzeptierte Norm in den aktuellen Umständen X empfiehlt. Wenn sich diese Norm kohärent in das akzeptierte System erst-und zweitstufiger Normen einfügt, ist dieser Grund gut. IMK liefert in diesem Sinn gute Gründe (siehe Punkt ii). Aber man hat keine Ressourcen, um über diese Feststellung hinauszugehen und zu beurteilen, ob es sich um „echte" Gründe handelt. IMK weist auf Gründe hin, welche die Adressaten wirklich haben (ii), aber es ist nicht sinnvoll, davon zu sprechen, dass er sich einer unabhängigen Realität der Gründe annähere, die festlegt, welche Gründe sie haben sollten. Dazu ist, vor dem Hintergrund der Theorie der Gründe auf der Basis von Normakzeptanz, allerdings keine Theorie der Rechtfertigung in der Lage. IMK ist also im vollen Sinn prozedural und in einem schwachen Sinn metaphysisch objektiv, da er ohne den Versuch einer Täuschung auf Gründe hinweist, die seine Adressaten wirklich haben. Eine vollkommen geist-unabhängige Realität der Gründe, der sich ein Rechtfertigungsargument annähern könnte, gibt es nach meiner naturalistischen Auffassung hingegen nicht. Die Unsicherheit, die entsteht, wenn man aus der moralischen Praxis heraustritt und dabei bemerkt, dass die moralischen Orientierungspunkte nicht im metaphysischen Sinn objektiv vorgegeben sind, vermag IMK aufzufangen. Denn die moralische Praxis ist, wenn sie durch IMK gerechtfertigt werden kann, weit davon ent-
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fernt, willkürlich Forderungen zu stellen oder Druck auszuüben. Es ist eine Praxis, die für alle Teilnehmer gleichermaßen begründet werden kann, und zwar mit einem Argument, das auf einer metaphysisch objektiven Theorie über Kooperationschancen in der betreffenden Gemeinschaft basiert.
7.2 Relativismus 7.2.1 Relativistische und universalistische Intuitionen In einer globalisierten Welt ist es uns selbstverständlich bewusst, dass in verschiedenen Kulturkreisen verschiedene Systeme moralischer Normen befolgt werden. Nicht ganz so klar ist, ob das auch gut ist und wie man sich in daraus resultierenden Konflikten verhalten sollte.7 Es erscheint uns in vielen Fällen unsensibel, die Normen anderer Gesellschaften zu missachten; aber es ist auch schwer, das aufzugeben, was wir ganz grundlegend für moralisch richtig halten. Deutlich zeigt sich letzteres daran, dass wir Menschenrechten oft selbstverständlich universelle Gültigkeit zuschreiben. Dementsprechend sind auch die Intuitionen darüber, ob moralische Normen universell oder nur relativ zu einem bestimmten Kontext gelten, weit weniger klar als die Intuitionen darüber, ob Moral objektiv ist. Auch wenn es keine ganz klaren vortheoretischen Intuitionen zu diesem Thema gibt, haben wohl fast alle, die sich in einer globalisierten Welt bewegen, das Gefühl, dass es sich bei der Frage nach dem moralischen Relativismus um ein wichtiges Thema handelt, zu dem eine Moraltheorie Stellung beziehen sollte. Metaethischer und normativer Relativismus Wie bisher auch interessiert mich ausschließlich die Moral im engen Sinne. Eine Moral im weiten Sinn, die Anweisungen zum guten Leben enthält, muss ohnehin von Kultur zu Kultur unterschiedlich sein. Denn ein gelungenes Leben kann man, so möchte ich
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behaupten, fast immer nur in Einklang mit der jeweiligen Gemeinschaft führen - punktuelle Konflikte oder Reibungen sind natürlich möglich und wahrscheinlich auch nötig.8 Der Kern des moralischen Relativismus besteht also in der These, dass das, was die Moral im engen Sinne vorschreibe, für jede Gesellschaft etwas anderes sei. Man muss eine metaethische und eine normative Variante dieser These unterscheiden. Erstere charakterisiert Wong so: Moral relativism [...] often takes the form of a denial that any single morality has universal validity, and an assertion that moral truth and justifiability, if there are such things, are in some way relative to factors that are culturally and historically contingent. This doctrine is meta-ethical relativism, because it is about the relativity of moral truth and justifiability. (Wong 1993: 442) Es ist eine verbreitete These, dass viele der kulturspezifischen Unterschiede in Moralsystemen nicht daher kommen, dass grundlegende oder elementare Werte voneinander abweichen, sondern daher, dass die selben elementaren Werte unter verschiedenen Bedingungen oder vor dem Hintergrund verschiedener Weltanschauungen unterschiedlich implementiert werden müssten (vgl. Wong 1993: 445). So könne es in bestimmten Gruppen moralisch geboten sein, seine Eltern in einem bestimmten Alter zu töten, weil sie auf diese Weise zum richtigen Zeitpunkt ihr jenseitiges und dann besseres Leben beginnen können.9 Nach unserer europäischen Auffassung wäre es höchst empörend, die Eltern zu töten, weil man ihnen mit dem Leben ein sehr hohes Gut rauben würde. Letztlich kann hinter diesen Regeln in beiden Fällen aber das Gebot stehen, die Eltern zu ehren und ihnen Gutes zu tun. Eine schwache Form des metaethischen Relativismus würde argumentieren, dass in verschiedenen Kulturen zwar unterschiedliches Verhalten richtig ist, dass aber immer die selben elementaren Normen zugrunde liegen. Die starke Form des metaethischen Relativismus behauptet hingegen, dass in verschiedenen moralischen Gemeinschaften auch verschiedene grundlegende Normen gelten.
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Demgegenüber beschreibt Wong die normative Variante des Relativismus folgendermaßen: Another kind of moral relativism, also a common response to deep moral conflict, is a doctrine about how one ought to act toward those who accept values very different from one's own. This normative moral relativism holds that it is wrong to pass judgement on others who have substantially different values, or try to make them conform to one's values, for the reason that their values are as valid as one's own. (Wong 1993: 442) Es ist nach Auffassung des normativen moralischen Relativismus also moralisch falsch, über jemanden moralisch zu urteilen, der nach einem grundlegend anderen System moralischer Normen handelt. Versteht man diese Forderung in einem strengen Sinn, dann kann man sie freilich nicht widerspruchsfrei aufrechterhalten: Denn einerseits verbietet sie, jemanden als unmoralisch zu verurteilen, der einem uns fremden intoleranten Normensystem entsprechend intolerante Urteile fällt. Aber andererseits bezeichnet die These des normativen Relativismus genau dieses intolerante Urteilen als unmoralisch. Wenn man auf ihrer Basis über die urteilt, die urteilen, dann verurteilt man sich selbst. Dieses Paradoxon der Toleranz entsteht letztlich deswegen, weil man zugleich implizit annimmt, dass es eine universelle Moral gibt, die zum Beispiel das Gebot der Toleranz enthält. Kein Widerspruch entsteht, wenn das Gebot der Toleranz ein Gebot nur für die eigene moralische Gemeinschaft ist, also lautet: Mitglieder dieser Gemeinschaft dürfen über Mitglieder anderer Gemeinschaften kein Urteil fällen. Wenn ein Mitglied der toleranten Gemeinschaft intolerant urteilt, dann können die anderen Mitglieder der Gemeinschaft diese Handlung verurteilen, ohne sich in einen Widerspruch zu verstricken. Sind hingegen Mitglieder anderer Gemeinschaften intolerant, dann verbietet das schwache Toleranzgebot, über diese zu urteilen. Es ist nicht zwingend, als metaethischer Relativist auch einen normativen Relativismus zu vertreten. Es kann durchaus sein, dass
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die Regeln einer moralischen Praxis fordern, bestimmte Normen oder bestimmte Standards auch bei Nicht-Mitgliedern durchzusetzen - auch wenn diese eine moralische Praxis haben, die den selben Anspruch auf Gültigkeit besitzt. Das wäre zum Beispiel der Fall, wenn man zwar metaethischer Relativist ist, aber einer Praxis angehört, die fordert, Menschenrechte global, auch gegen Willen und Einsicht der Betroffenen, durchzusetzen. Ein sehr umfassendes Gebot der Toleranz erscheint in einigen Fällen nicht plausibel. Wir sind uns zum Beispiel üblicherweise sehr sicher, dass im nationalsozialistischen Deutschland viele Menschen tatsächlich große Verbrechen verübt haben und dass es richtig war, dieses System mit Gewalt zu zerstören. Einmal angenommen, die nationalsozialistischen Täter kann man nicht als Mitglieder unserer (z.B. der europäischen) moralischen Gemeinschaft sehen. Dann scheint es trotzdem angebracht, sie zu verurteilen und diesem Urteil entsprechend zu handeln, obwohl sie sich den Normen ihrer eigenen Gemeinschaft entsprechend korrekt verhalten haben. Ein umfassender Relativismus führt in diesem Fall, wie ein Gegner argumentieren würde, zu kontraintuitiven Ergebnissen. Harmans relativistische Moral-Theorie Harman hat eine relativistische Moraltheorie ausgearbeitet, die ich als Ausgangspunkt für meine eigene Diskussion verwenden will. Seine Kernthese lautet: „the judgement that it is wrong of someone to do something makes sense only in relation to an agreement or understanding" (Harman 1975: 3). Er bezieht sich dabei auf interne moralische Urteile („inner judgements", ebd.: 4); das sind Urteile, die voraussetzen, dass der Beurteilte und der Urteilende die selben moralischen Gründe akzeptieren, also zu der selben moralischen Gemeinschaft gehören.10 Über Mitglieder fremder Gemeinschaften könne man nur in einer anderen Weise urteilen; man sage über sie zum Beispiel, sie seien böse oder es sei eine schlechte Sache, dass sie so und so handelten oder seien. Aber man dürfe diese Arten des Urteilens nicht verwechseln. Über Hitler oder an-
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dere überzeugte Nationalsozialisten könne man zum Beispiel nicht sagen, sie hätten moralisch falsch gehandelt, sondern eben böse oder unmenschlich (Harman 1975: 7). Universalistischen Intuitionen kann der Relativist Harman auf diese Weise ein Stück weit entgegenkommen. Harman verweist oft auf eine Analogie mit der Einsteinschen Relativitätstheorie. Vor Einstein habe niemand daran gedacht, seine Urteile über Masse auf ein raum-zeitliches Koordinatensystem zu beziehen. Heute wisse man aber, dass die Masse eines Körpers von seiner Geschwindigkeit relativ zu einem Beobachter abhänge. Ein Urteil über Masse, das den Standpunkt des Beobachters nicht nenne, sei unvollständig und könne daher weder wahr noch falsch sein. In vielen Fällen sei allerdings klar, welches Koordinatensystem gemeint sei (bzw. sinnvollerweise gemeint sein müsste): das System, in dem der Sprecher in Ruhe ist. Wenn man feststellen wolle, ob ein alltägliches Urteil über Masse wahr oder falsch sei, dann müsse man es um eine Aussage über den Bezugspunkt ergänzen, so dass es die Form habe: „X hat in Bezug auf ein Koordinatensystem, in dem ich in Ruhe bin, die Masse m." Allerdings sei das den meisten Menschen im Alltag nicht bewusst und es sei daher verfehlt anzunehmen, dass sie beabsichtigten, diesen Bezugspunkt anzugeben, ihn aber aus Bequemlichkeit nicht nennten. Eine Aussage über die Bedeutung alltäglicher Urteile über Masse sei die physikalische Relativitätstheorie also nicht. Dasselbe gelte, so Harman, für alltägliche moralische Urteile. Wolle man ihnen einen Wahrheitswert zuweisen, so müsse man sie um einen Bezug auf einen moralischen Rahmen ergänzen. Gewöhnliche moralische Urteile, die diesen Rahmen nicht erwähnten, hätten selbst keinen Wahrheitswert. Nur von diesen abgeleitete, vervollständigte Urteile könnten wahr oder falsch sein. Das bedeute aber nicht, dass Sprecher implizit immer diese vollständigen Urteile meinten, wenn sie unvollständige Urteile äußerten. Harman schreibt dazu: „Recall that moral relativism is not by itself a claim about meaning. It does not say that speakers always intend
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their moral judgements to be relational in this respect." (Harman 1996: 17) Harman räumt ein, dass es oft so erscheine, als ob es objektive moralische Tatsachen gebe und als ob manche moralische Urteile unabhängig von einem moralischen Rahmen wahr seien. Das liege daran, dass einem das eigene moralische System viel präsenter sei als andere Systeme: „the system of moral coordinates that is determined by a person's own values can be so salient that it seems to that person to have a special status. Facts about what is right and wrong in relation to that system of coordinates can be misdentified as objective nonrelational facts." (Harman 1996: 13) Wenn man korrekt sprechen will, dann muss man nach der Harmanschen Theorie also eine Referenz auf den moralischen Rahmen machen oder sich seiner zumindest bewusst sein. Harman wehrt sich zwar wie oben gezeigt gegen eine enge Verbindung von Bedeutung und Wahrheit. Das ist plausibel, wenn es um die Frage geht, was Sprecher üblicherweise intendieren oder an was sie bei einer bestimmten Äußerung üblicherweise denken. Aber wenn es darum geht, wie man richtig spricht, dann kann man nicht außer Acht lassen, dass moralische Aussagen einer bestimmten Form streng genommen nicht wahrheitsfähig sind. Moralische Aussagen ohne Bezug auf einen moralischen Rahmen können nach Harman ja deswegen weder wahr noch falsch sein, weil sie streng genommen sinnlos sind, genauso wie Aussagen über Masse ohne Angabe des Bezugspunkts sinnlos sind.
7.2.2 Anti-Realismus und Relativismus Oben habe ich dafür argumentiert, dass eine moralischen Praxis unabhängig von archimedischen Rechtfertigungsargumenten besteht (Abschnitt 5.3.2, S. 178). Was moralisch richtig ist, hängt - aus einer theoretischen Metaperspektive gesprochen - von der jeweiligen moralischen Praxis ab. Die Extensionen der Prädikate „moralisch richtig" und „moralisch falsch" sind durch die Einstellungen der Mitglieder der moralischen Gemeinschaft be-
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stimmt. Führt diese anti-realistische Haltung aber automatisch zu einem metaethischen Relativismus? Ich denke, Vertreter des Anti-Realismus wie Blackburn haben recht, wenn sie sich gegen diese These wenden (z.B. Blackburn 1998b: 314). Meines Erachtens schießen sie in ihrer Ablehnung aber etwas über das Ziel hinaus, wie ich unten zeigen werde. Typischerweise11 wird der Relativismus über den Begriff der Wahrheit moralischer Urteile definiert. Nach Harman ist zum Beispiel charakteristisch für den Relativismus, dass im strengen Sinn nur moralische Urteile wahr oder falsch sein können, die einen Bezugspunkt auf ein moralisches System enthalten. Alle anderen Sätze müsse man als elliptisch oder sinnlos auffassen, obwohl das den Sprechern nicht unbedingt bewusst sei. Sinnvolle Urteile von Mitgliedern verschiedener Gemeinschaften seien daher alle in der selben Weise wahr oder falsch und es gebe kein System, das sich vor anderen auszeichne. Warum führt eine anti-realistische Metaethik nicht zu einer solchen Position? Blackburn fasst die Stoßrichtung seines Arguments so zusammen: „There is no problem of relativism because there is no problem of moral truth." (Blackburn 1999b: 214) Er zeigt dann, dass man das anti-realistische Paket im Ganzen kaufen muss und dass dazu auch die entsprechende Theorie über die Wahrheit moralischer Urteile gehört. Ich bin bisher nicht im Detail auf dieses Thema eingegangen. Aber offensichtlich kann man als Anti-Realist nicht behaupten, dass moralische Urteile genau dann wahr sind, wenn sie die Realität in gewisser Weise abbilden, denn eine solche Realität gibt es nach der Grundthese des AntiRealismus ja nicht. Eine Korrespondenztheorie für die Wahrheit moralischer Urteile kommt folglich nicht in Frage. Genauso wenig kommt es allerdings in Frage zu behaupten, es sei gar nicht sinnvoll, von der Wahrheit moralischer Urteile zu sprechen. Das wäre kontraintuitiv, weil wir auch im Fall der Moral oft von Wahrheit sprechen. Es empfiehlt sich für eine anti-realistische Position daher, zumindest für moralische Urteile eine minimalistische Wahrheits-
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theorie zu vertreten. Das bedeutet: Das Urteil „X ist moralisch richtig" ist genau dann wahr, wenn X moralisch richtig ist, und damit ist alles gesagt, was man über die Wahrheit moralischer Urteile sagen kann und muss. Nach der minimalistischen Theorie besteht im Prinzip kein Unterschied zwischen einem moralischen Urteil und der Aussage, dieses Urteil sei wahr; in manchen Fällen ist letztere Art zu sprechen lediglich praktischer.12 Wie steht es unter dieser Annahme um Harmans relativistische These? Wenn man die Wahrheit einer gewöhnlichen moralischen Aussage überprüfen wolle, sagt Harman, dann müsse man diese so ergänzen, dass sie auf ein moralisches System Bezug nehme. Das ist nach der minimalistischen Wahrheitstheorie einfach falsch. Denn jede gewöhnliche moralische Aussage der Form „X ist moralisch richtig" ist genau dann wahr, wenn X moralisch richtig ist. Man muss sie als wahr bewerten, wenn man sie auch äußern würde; also dann, wenn man bereit ist, die Akzeptanz eines Systems von Normen auszudrücken, das X empfiehlt. Hat man sich damit nicht das Problem eingehandelt, dass sich widersprechende moralische Urteile gleichzeitig wahr sein können? Das wäre eine fatale These, da nach der elementaren logischen Regel ex falso quodlibet dann alle moralischen Regeln wahr wären. Dann würde ein extrem starker Relativismus folgen. Aber es gibt keine Perspektive, aus der man zu diesem Schluss kommen kann. Denn moralische Urteile kann man nur als Teilnehmer einer moralischen Praxis sinnvoll fällen: Nur wenn man moralische Haltungen hat, kann man diese auch mit moralischen Urteilen ausdrücken. Das selbe gilt nach der Annahme der minimalistischen Wahrheitstheorie auch für Urteile über die Wahrheit moralischer Urteile. Denn mit „Es ist wahr, dass X moralisch falsch ist" sagt man dasselbe wie mit dem Satz „X ist moralisch falsch". Wenn letzteres Urteil nur innerhalb der moralischen Praxis Sinn macht, dann auch der erste Satz. Außerhalb einer moralischen Praxis kann man also nicht sinnvollerweise davon sprechen, ein moralisches Urteil sei wahr oder falsch. Blackburn fasst das so: „where, then, is the absolute truth? The answer is that it is not anywhere that can be
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visible from this sideways, theoretical perspective." (Blackburn 1993: 177) Sowohl moralische Urteile als auch Urteile über deren Wahrheit kann man nur - wie Blackburn sich ausdrückt - aus einem moralischen Boot heraus fällen. Um zusammenzufassen: Die relativistische These Harmans ist aus Sicht der Teilnehmer an einer moralischen Praxis falsch, aus Sicht eines Außenstehenden sinnlos. Denn erstere können gewöhnliche moralische Urteile immer als wahr oder falsch bewerten, letzterer kann das nie. Bedeutung Als Anti-Realist stimme ich nicht mit Harman überein, dass jeder, der korrekt oder in vollständiger Form moralisch urteilt, implizit eine Referenz auf die eigene moralische Praxis macht und dass deswegen die Wahrheitsbedingungen seiner Aussagen relativ zu dieser Praxis sind. Blackburn analysiert das so: Harman's mistake, surely, is to displace the subject's moral framework from something that is presupposed or used in the activities of moralizing, to something that is to be mentioned in an account of what would make true the speaker's remarks. But this is no more plausible, or necessary, here than in other cases: when I judge any proposition to be true, I will be presupposing or using a tacit set of epistemological principles, but it does not follow, and it is not typically true, that the truth-conditions of my judgement contains [so im Original] reference to those principles. (Blackburn 1998a: 197f.) Gewöhnliche moralische Urteile sind aus Sicht meiner antirealistischen Position in genau diesem Sinn nicht unvollständig. Man drückt mit diesen Urteilen Gefühle und damit die Akzeptanz eines Systems von Normen aus, macht aber keine implizite Referenz auf dieses System oder spricht darüber. Die anti-realistische Theorie hat damit gegenüber Harmans Ansatz den großen Vorteil, dass man direkt und im vollen Sinn davon sprechen kann, dass nicht nur bestimmte abgeleitete oder implizit gemeinte, sondern die gewöhnlichen moralischen Urteile wahr oder falsch sind.13
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Inkommensurabilüät moralischer Urteile Eine anti-realistische Ethik ist also nicht zu einem starken metaethischen Relativismus verpflichtet. Allerdings muss sie, wie ich es nennen möchte, eine Art Inkommensurabilüät moralischer Urteile annehmen: Man kann von einer neutralen Perspektive aus weder sagen, dass die Urteile einer Gemeinschaft wahr sind und die einer anderen nicht, noch kann man sagen, dass die Urteile beider Gemeinschaften wahr sind. Das praktische Problem, das der Relativismus aufwirft, besteht damit weiterhin. Es tritt vor allem in Situationen auf, in denen man mit Mitgliedern anderer moralischer Gemeinschaften interagieren muss. Man sitzt dann, um im obigen Bild zu bleiben, zwar in verschiedenen moralischen Booten, aber man muss oft das selbe Gewässer befahren und manchmal auch Passagiere austauschen. Die Mitglieder jeder Gemeinschaft können mit vollem Recht sagen, ihre eigenen moralischen Urteile seien wahr. Nur ist die Zuschreibung von Wahrheit gar nicht der problematische Punkt. Konfliktträchtig ist, dass beide mit gleicher Überzeugung und gleichem Recht die Richtigkeit ihrer jeweiligen Normen behaupten und entsprechend handeln können. Damit stehen sich zwei Einstellungen zunächst unvereinbar gegenüber und es wird fast unvermeidbar Konflikte über das moralisch richtige Verhalten geben. Diese werden natürlich gemildert, wenn die Beteiligten normative Relativisten sind, also Toleranz gegenüber Mitgliedern anderer Gemeinschaften zu ihren Normen gehört. Aber wenn es darum geht zusammenzuarbeiten, dann hilft auch Toleranz nicht viel weiter: Man muss ja gemeinsame Regeln finden und nicht nur akzeptieren, dass die jeweils anderen einiges anders machen. Je nachdem, wie verschieden die Normen sind, kann man sich im Rahmen einer internen moralischen Diskussion vielleicht auf einen Kompromiss einigen, also auf eine Lösung, die jeder noch akzeptieren kann, obwohl er sie in dieser Weise nie mit anderen Mitgliedern seiner eigenen Gemeinschaft gefunden hätte. Es kann dabei auch passieren, dass sich die Einstellungen aneinander anpassen. Der Impuls einer fremden Anschauung kann
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ja durchaus darauf hinweisen, dass das eigene System inkohärent oder verbesserungsfähig ist. Blackburn räumt diesem Weg der Anpassung große Chancen bei der Verständigung zwischen moralischen Gemeinschaften ein. Er argumentiert dabei aus einer, wie ich vermute, Humeschen Haltung heraus: Wir hätten einfach eine Reihe von teils angeborenen moralischen Haltungen, Gefühlen etc., die zwar gelegentlich gestört sein könnten, im Prinzip aber immer und bei allen Menschen vorhanden seien.14 Anders sei das bei flüchtigeren Einstellungen, etwa Vorlieben für bestimmte Kleidung; hier könnten sich die Meinungen sehr schnell und unberechenbar ändern. Konvergenz sei deswegen im Bereich der Mode nicht zu erwarten. Das unterscheide Moral von Mode, denn: „the strongest ethical judgements do not issue from stances that are properly variable" (Blackburn 1993: 178). Wenn das richtig ist, dann kann man erwarten, dass es in verschiedenen Kulturen zwar verschiedene Ausprägungen moralischer Haltungen gibt, dass diese sich aber - wegen der gleichen Wurzeln und Grundbestandteile - im Prinzip immer aneinander anpassen können. Es gibt dann in gewisser Weise keine unüberbrückbare Kluft zwischen den Haltungen verschiedener moralischer Gemeinschaften. Blackburn kann deswegen davon ausgehen, dass es in Konfliktfällen im Rahmen interner Argumentation oder Rechtfertigung zu einer Konvergenz der Haltungen kommen kann, auch wenn das oft ein langwieriger Prozess ist. Ich halte diesen Optimismus für problematisch. Moralische Gefühle und die Akzeptanz moralischer Normen sind, wie ich in Abschnitt 5.1.2 erläutert habe, zu einem großen Teil erlernt und damit vom jeweiligen sozialen Umfeld übernommen. Natürlich werden sich bestimmte grundlegende Muster moralischer Reaktionen in den meisten Gemeinschaften herausgebildet haben. Aber im Prinzip ist es eine kontingente Tatsache, welche moralischen Gefühle die Mitglieder einer moralischen Gemeinschaft haben, und nichts garantiert, dass die Einstellungen der Mitglieder verschiedener Gemeinschaften einen gemeinsamen Konvergenzpunkt haben.
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Archimedische Urteile Für archimedische Argumente ist die Inkommensurabilität von Urteilen verschiedener moralischer Praktiken naturgemäß nicht problematisch. Denn ein solches Argument entwickelt man ohnehin von einem Standpunkt außerhalb jeder moralischen Praxis. Mit IMK kann man deswegen fremde moralische Praktiken genauso wie die eigene untersuchen. Gründe, das zu tun, können vielfältig sein: Vielleicht will man sich ein Urteil über eine andere moralische Gemeinschaft bilden, dabei aber konfliktträchtige moralische Argumente vermeiden. Oder man akzeptiert eine Norm der Toleranz, die verbietet, moralisch über Mitglieder anderer moralischer Gemeinschaften zu urteilen. Für verschiedenen Gesellschaften wird IMK unterschiedliche Systeme moralischer Normen rechtfertigen können. Das liegt allein schon an den unterschiedlichen Umweltbedingungen15, aber auch an dem kulturellen Hintergrund, zu dem von Gesellschaft zu Gesellschaft verschiedene Auffassungen eines guten Lebens gehören. Einige Normen gehören wahrscheinlich trotzdem unter fast allen Bedingungen zu jeder rechtfertigbaren moralischen Praxis, zum Beispiel ein Verbot willkürlicher Schädigung anderer oder ein Gebot der Vertragstreue, obwohl auch hier verschiedenste Ausprägungen denkbar sind. Auch mit IMK gewinnt man keinen streng universellen Standpunkt. Ein Argument der Rechtfertigung ist ja immer adressatenrelativ (vgl. Abschnitt 4.1). Was einem Adressaten gegenüber ein gutes Argument ist, überzeugt einen anderen Adressaten eventuell nicht. Es kann deswegen Personen geben, für die IMK keine hinreichenden Gründe liefert, eine moralische Praxis zu akzeptieren. Darunter fallen zum Beispiel, wie ich in Abschnitt 3.1.2 (S. 52f.) gezeigt habe, Personen, die bestimmte böswillige abhängige Präferenzen haben. Nur kontingenterweise könnte es sein, dass ein Rechtfertigungsargument alle Menschen überzeugt. IMK ist trotzdem ein Argument, das versucht, fast jeden zu erreichen - insofern hat es einen umfassenden, wenn auch nicht im strengen Sinn universalistischen Anspruch. IMK liefert Gründe, die im Prinzip je-
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der, egal in welcher Kultur er sozialisiert wurde, akzeptieren kann. IMK setzt ja nur voraus, dass die Adressaten elementare Regeln der Logik akzeptieren und ihre eigenen, vielleicht altruistischen, Interessen verwirklichen wollen.
7.2.3 Zusammenleben und Zusammenarbeit Gerade in drastischen Fällen hält man es intuitiv oft für angebracht einzugreifen, wenn die moralische Praxis einer anderen moralischen Gemeinschaft aus der eigenen Sicht empörend ist.16 Was rechtfertigt eine solche Intervention? Gründe für Interventionen Dass es moralische Gründe für eine Intervention gibt, kann nur ein internes Rechtfertigungsargument zeigen. Moralische Gründe bestehen nur innerhalb einer moralischen Praxis. Wenn nun die eigene moralische Praxis kein Gebot der Toleranz enthält, dann kann man eine moralische Begründung für einen Eingriff in vielen Fällen finden: Angenommen, es ist ein sanktioniertes Gebot der eigenen Praxis, zentrale Rechte, etwa das Recht auf eine bestimmte Art persönlicher Freiheit, auch außerhalb der eigenen Gemeinschaft durchzusetzen. Man hat im Rahmen dieser nicht-toleranten Praxis dann einen moralischen Grund zu intervenieren. Die zugrunde liegende Norm muss nicht einmal so explizit missionarisch sein, wie ich sie eben formuliert habe; es reicht, wenn zum Beispiel das fragliche Recht auf persönliche Freiheit nicht klar auf Mitglieder der eigenen Gemeinschaft bezogen ist. Das ist, gerade bei moralischen Praktiken, die keine Erfahrung im Umgang mit anderen Kulturen haben, sicher oft der Fall. Sensibilität gegenüber anderen moralischen Gemeinschaften ist nicht selbstverständlich Bestandteil jeder moralischen Praxis. IMK kann als archimedisches Argument keine moralischen Gründe für eine Intervention liefern. Doch IMK kann für deren nicht-moralische Rechtfertigung verwendet werden. Das könn-
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te folgendermaßen funktionieren: Der Intervenierende nimmt zunächst eine neue, durch IMK rechtfertigbare, moralische Praxis vorweg und etabliert durch die Intervention schon die erste Sanktion dieser Praxis. Zum Beispiel hat er festgestellt, dass eine bestehende Praxis einer anderen Gemeinschaft, in der eine bestimmte Gruppe diskriminiert wird, durch IMK nicht zu rechtfertigen ist, wohl aber eine alternative Praxis, in der diese Gruppe die selben Rechte hat wie alle anderen Mitglieder der Gesellschaft. Nach erfolgreicher Intervention kann diese neue soziale Praxis entstehen.17 Seinen Eingriff und diese neue Praxis kann der Intervenierende dann mit IMK rechtfertigen. Er muss dabei den Mitgliedern der moralischen Gemeinschaft, in die er interveniert hat, zeigen, dass sie die Intervention aus eigenem Interesse gewählt hätten. Im Extremfall des nationalsozialistischen Deutschland könnte der Intervenierende zum Beispiel argumentieren, das NSNormensystem könne nicht öffentlich, also gegenüber allen Mitgliedern der Bevölkerung gerechtfertigt werden. Das ist offensichtlich, da keine der diskriminierten und verachteten Gruppen zugestimmt hätte. Hier wird also relevant, dass IMK im Gedankenexperiment Einstimmigkeit aller Mitglieder der moralischen Gemeinschaft erfordert - aus reinen Nutzenerwägungen (Abschnitt 3.3.1, S. 72). Zudem kann man aber zeigen, dass das System für fast alle verheerende Folgen hatte, welche die Wahl dieser Normen und Sanktionen sogar für die meisten Privilegierten unattraktiv machten. In diesem eindeutigen Fall liefert IMK einen guten Grund für eine Intervention, welche sich darüber hinaus auch mit internen moralischen Gründen vieler Gemeinschaften rechtfertigen lässt. In den meisten weniger klaren Fällen ist es aber problematisch, auf der Basis eines archimedischen Arguments zu intervenieren. Denn erstens hat man durch die vorweggenommene kontraktualistische Rechtfertigung noch keinen moralischen Grund zu intervenieren. Es kann durchaus sein, dass man sogar unmoralisch handelt - etwa wenn die eigene moralische Praxis ein Toleranzgebot enthält oder paternalistisches Verhalten negativ einstuft. Zweitens darf man es sich mit dieser Art der Rechtfertigung nicht
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zu leicht machen: Man muss von den tatsächlichen Interessen der betreifenden Personen und nicht von Interessen, die man ihnen aus der eigenen Sicht zuschreibt oder empfiehlt, ausgehen. In vielen Fragen gibt es weltanschauliche oder religiöse Überzeugungen, die eventuell das, was uns vorteilhaft erscheint, für die Betroffenen nachteilig machen. Andererseits muss man berücksichtigen, dass sich die Mitglieder der beurteilten Gemeinschaft durchaus über ihre eigenen Interessen täuschen können, etwa weil sie einfach zu wenig über Alternativen wissen. Wie man bei dieser Gratwanderung zwischen Respekt vor kulturell geprägten Präferenzen und Aufklärung über möglicherweise erfüllendere Lebenspläne praktisch vorgehen sollte, ist eine schwierige Frage, die ich hier nicht weiter diskutieren kann.18 Wenn man IMK durchführt und nicht nur theoretisch behandelt, wie ich das tue, muss man sich diesen Fragen aber stellen. Denn zu den Bedingungen des Gedankenexperiments gehören ja volle Information und Rationalität. Das bedeutet, dass die Personen in der Versuchssituation sich über Alternativen zum Status quo bewusst sind und dass sie ihre eigenen Interessen genau kennen und kohärent gemacht haben. Kooperation Fälle, in denen man als zunächst Unbeteiligter intervenieren möchte, sind wahrscheinlich nicht die häufigsten oder zentralen Fälle, in denen man in der globalisierten Welt mit dem Problem der Inkommensurabilität moralischer Urteile zu kämpfen hat. Denn auch in jeder der zahlreichen Situationen, in denen man zusammenarbeiten muss, braucht man eine Basis, um die sonst unvermeidbaren moralischen Konflikte zu lösen. Offensichtliche Beispiele sind der internationalen Handel, Auslandsengagements von Unternehmen oder politische und kulturelle Zusammenarbeit. Dabei besteht kein großer Unterschied zwischen Partnern, die sich aktiv oder aus eigener Initiative an einer Kooperation beteiligen, und solchen, die einfach von den Handlungen der Mitglieder einer anderen moralischen Gemeinschaft betroffen sind. In beiden Fällen entsteht Interaktion und in beiden Fällen hängt der gute
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Ausgang für jede Partei vom Verhalten der jeweils anderen Partei ab. Denn auch die, die auf den ersten Blick nur passiv betroffen sind, können in fast allen Fällen den anderen zumindest schaden und sei es nur dadurch, dass sie sich weigern, die Projekte der anderen mit vollem Einsatz zu unterstützen. Drastischer kann sich diese Art von Boykott etwa in terroristischen Aktivitäten äußern (vgl. Homann 2001: 106). Letztlich handelt es sich also fast immer um mindestens zweiseitige Interaktionen. Zunächst gehen beide Seiten mit dem Hintergrund ihrer eigenen moralischen Praxis in diese Kooperationen. Damit sind Konflikte und oft das Scheitern der Zusammenarbeit vorprogrammiert. Denn die Partner aus der jeweils anderen Gemeinschaft werden die gegenseitigen Verhaltenserwartungen enttäuschen, obwohl sie aus ihrer Sicht vollkommen richtig handeln. Sie werden bei ihren Partnern damit Reaktionen wie Empörung oder einen Rückzug aus der Kooperation provozieren. Zudem kann es leicht zu direktem Streit über richtiges Verhalten auch gegenüber den Mitgliedern der jeweils eigenen Gemeinschaft kommen. Ausweitung der moralischen Praxis? Auf den ersten Blick scheint es in diesem Fall nötig zu sein, eine gemeinsame moralische Praxis als Basis zu schaffen. Das kann einerseits dadurch geschehen, dass die moralische Praxis einer Gemeinschaft sich auf die andere Gemeinschaft ausweitet, oder dadurch, dass beide Gemeinschaften sich in Richtung einer gemeinsamen Praxis bewegen. Die Forderung, Mitglieder anderer Gesellschaften müssten einen einheitlichen Kanon von Menschenrechten anerkennen, bevor man mit ihnen kooperiert, geht in diese Richtung. Bei genauerem Hinsehen ist dieser Ansatz aber mit vielen Problemen verbunden. Zunächst sind die Fragen offen, welche Praxis sich wie weit anpassen sollte und welche Begründung es dafür gibt. Aus einer interessenbasierten archimedischen Sicht kann man für eine solche Anpassung wahrscheinlich Gründe finden, da man durch sie vorteilhafte Kooperationsschancen gewinnt. Aber es ist zu erwarten, dass das archimedische Argument nicht eindeutig
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entscheiden kann, welche Praxis sich wie weit verändern sollte, da es wahrscheinlich viele ähnlich gute Varianten einer gemeinsamen Praxis gibt.19 Aus archimedischer Sicht wird zudem auffallen, dass der Wandel einer gesamten Praxis sehr aufwändig ist, ökonomisch gesprochen also hohe Kosten anfallen, die die möglichen Kooperationsgewinne eventuell zum Teil ausgleichen. Eine archimedische Rechtfertigung ist in diesem Fall also nicht besonders leistungsfähig. Wie sie besser eingesetzt werden kann, zeige ich im nächsten Abschnitt. Ein weiteres ganz praktisches Problem besteht darin, dass in einer globalisierten Welt unterschiedlichste moralische Gemeinschaften miteinander in Kontakt sind und so Anpassung in verschiedene - vielleicht inkompatible - Richtungen erfordert wäre. Im Prinzip wäre dieser Prozess erst abgeschlossen, wenn es eine weltweite moralische Praxis gäbe. Ganz abgesehen von den Schwierigkeiten, eine solche Praxis zu finden, wäre eine solche von verschiedenen archimedischen Standpunkten aus gegenüber einer Vielfalt von Praktiken mit großer Sicherheit nicht rechtfertigbar. Das gilt wahrscheinlich für den Standpunkt des interessenbasierten Kontraktualismus, aber zum Beispiel auch für eine ökonomische oder kulturelle Perspektive. Problematisch ist auch, dass der Wandel langsam vonstatten gehen wird und moralisch schwer zu begründen ist. Die Praktiken der verschiedenen Gemeinschaften weichen ja, wenn es wirklich Konflikte gibt, in substantiellen Fragen voneinander ab. Das bedeutet, dass die Mitglieder mindestens einer Gemeinschaft beim Übergang zu einer gemeinsamen Praxis substantielle moralische Haltungen und Einstellungen aufgeben müssen. Sie müssen dann Normen akzeptieren, die in Konflikt mit den aktuell etablierten Normen stehen. Die Mitglieder jeder Gemeinschaft werden sich fragen, warum sie sich auf bisher Unmoralisches auch für das Verhalten im eigenen Raum einlassen sollten. Wäre es nicht moralisch richtig, wenn sich die Mitglieder der anderen Gemeinschaft anpassten? Natürlich wird sich eine moralische Praxis im Rahmen interner Rechtfertigung langsam an neue Bedingungen angleichen
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und auch Einflüsse anderer Gemeinschaften aufnehmen. Aber hier ist die Veränderung nicht sicher und auf keinen Fall schnell zu erwarten, wie ich oben als Antwort auf Blackburns Ansatz bereits argumentiert habe. Ich schließe damit nicht aus, dass ein sehr kleiner Teil moralischer Normen eventuell wirklich eine derartige Anpassung durchmacht und auch aus archimedischer Sicht durchmachen sollte. Aber in einem umfassenden Sinn weist das Ideal der Angleichung verschiedener Praktiken sowohl aus kontraktualistischer als auch aus moralischer Sicht keinen erfolgversprechenden Weg. Ich plädiere daher für die folgende besser begründbare und praktikablere Alternative. Normativer Relativismus und Brückennormen Ich schlage eine mehrstufige Lösung vor. Kurz skizziert besteht die Idee darin, dass man (a) einen durch IMK rechtfertigbaren normativen Relativismus als Teil einer moralischen Praxis in der globalisierten Welt aufnimmt, wenn die Praxis nicht ohnehin schon tolerant ist. Bei der Interaktion mit anderen moralischen Gemeinschaften sollte man (b) zunächst nicht versuchen, eine einheitliche gemeinsame Praxis zu finden, sondern nach IMK-rechtfertigbaren Brückennormen und Brückensanktionen suchen, die ausschließlich die Interaktion zwischen Mitgliedern verschiedener Gemeinschaften regeln. Nur wenn keine Anschlussstellen für die Brückennormen gegeben sind, muss man (c) versuchen, die moralischen Praktiken substantiell anzugleichen. Zu (a) Viele moralische Systeme sind, wenn sie nicht schon eine Norm der Toleranz enthalten, für eine solche zumindest anschlussfähig. Oft enthalten sie das Prinzip, dass man anderen Menschen gegenüber nur das tun dürfe, was man ihnen gegenüber (auch mit moralischen Gründen) rechtfertigen könne.20 Dieses Prinzip ist vielleicht zunächst unspezifisch und nicht primär auf den Fall interkultureller Interaktion zugeschnitten. Aber aus der internen Sicht einer Praxis haben Normen nicht per se einen einschränkenden Bezug auf diese Praxis. Es ist daher natürlich, dieses
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Prinzip im weiten Sinn für alle Interaktionspartner zu verstehen. Mitglieder anderer moralischer Gemeinschaften handeln in vielen Fällen zwar ihren, aber nicht den Normen des Urteilenden entsprechend. Aus ihrer Sicht haben sie dann richtig und aus den besten Gründen gehandelt. Ein abwertendes Urteil oder eine Intervention kann man ihnen gegenüber deswegen nicht mit Gründen rechtfertigen, die auch für sie Gründe sind.21 Die Norm der Toleranz, die sich aus diesem Prinzip ergibt, kann durchaus abgestuft sein: Es ist vorstellbar, dass man ihr zufolge nur in einigen Fragen oder nur bis zu einem gewissen Grad der Differenz kein Urteil über Mitglieder anderer Gemeinschaften fällen sollte. Wo diese Grenze liegt, hängt davon ab, wie die Normen der eigenen Praxis strukturiert sind und welchen Status die Forderung hat, anderen gegenüber nur Rechtfertigbares zu tun. Es ist nicht unplausibel, dass bestimmte Rechte, etwa das auf körperliche Unversehrtheit, wichtiger sind als dieses Gebot, andere Rechte, etwa ein Recht auf die freie Wahl des Berufs, hingegen unwichtiger. Toleranz wäre dann in Fragen der wichtigeren Rechte nicht geboten. Mit IMK kann man eine entsprechende Norm der Toleranz rechtfertigen: Pragmatische Überlegungen empfehlen Toleranz als Form des Umgangs mit Mitgliedern anderer moralischer Gemeinschaften, wenn man sich mit diesen (noch) nicht auf eine gemeinsame Basis einigen kann oder will, trotzdem aber mit ihnen interagieren muss. Denn in solchen Situationen führt es zu unproduktiven Konflikten, wenn man sich von seinem eigenen moralischen Urteil leiten lässt und so reagiert, wie es in der eigenen moralischen Praxis angebracht wäre. Da das Gebot der Toleranz in diesem Sinn für alle Beteiligten vorteilhaft ist, kann man es mit IMK rechtfertigen. Zu (b) Angenommen, Kooperationspartner aus verschiedenen moralischen Gemeinschaften akzeptieren beiderseits ein Gebot der Toleranz gegenüber Mitgliedern anderer Gemeinschaften. Diese tolerante Haltung aller Beteiligten schwächt mögliche Konflikte ab, aber sie reicht nicht aus, um produktive Zusammenarbeit zu
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ermöglichen. Dazu braucht man in den meisten Fällen eine gemeinsame Basis sozialer Normen. Diese Basis kann - anders als im letzten Abschnitt angenommen - auch ausschließlich für die Interaktion zwischen den Gemeinschaften angelegt sein. Ich möchte im Folgenden von Brückennormen sprechen. Die Kooperationspartner verwenden sie nur, wenn sie mit Partnern aus der jeweils anderen Gemeinschaft zu tun haben, den Mitgliedern ihrer eigenen Gemeinschaft gegenüber handeln sie weiterhin im Rahmen der bisher etablierten Praxis. Die Rolle der gemeinsamen Basis können moralische, aber auch rechtliche Normen und Sanktionen erfüllen. Gerade wenn die Kooperationen häufig sind und viele persönliche Interaktionen erfordern, wie das etwa bei Geschäftsbeziehungen, Kulturaustausch oder wissenschaftlicher Zusammenarbeit der Fall ist, ist eine moralische Praxis, also eine Praxis, die moralische Gefühle als Leitsanktionen enthält, wahrscheinlich sehr leistungsfähig. Sie ist, einmal etabliert, mit geringem Aufwand verbunden, funktioniert weitgehend im Hintergrund und ist flexibel und umfassend (vgl. unten Abschnitt 7.2.4). In diesem Fall sollten die Interaktionspartner moralische Brückennormen finden. Das ist ein paradigmatischer Fall für archimedische Rechtfertigung, denn alle Interaktionspartner treten zu diesem Zweck aus ihrer eigenen moralischen Praxis heraus; diese kann, unter anderem wegen des Toleranzgebots, keine Normen für diese Fälle vorgeben. Gerade eine interessenbasierte Rechtfertigung hat hier gute Chancen, da sie Gründe bietet, die sehr viele Menschen unabhängig von ihrem jeweiligen Hintergrund akzeptieren. Und wenn es zum Beispiel um wirtschaftliche Kooperation geht, dann ist die Suche nach eigenen Vorteilen ohnehin der Grund, warum es überhaupt zu der Interaktion mit Mitgliedern der anderen Gemeinschaft kommt. Natürlich können die bestehenden Normen der beteiligten Gemeinschaften heuristische Funktion bei der Suche nach den Brückennormen haben. Immerhin sind sie schon lange erprobt. Ähnlichkeit mit bestehenden Normen garantiert auch, dass es allen Beteiligten leichter fällt, die neue Praxis zu erlernen. Aber da
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die bisherigen Normen für die Interaktion innerhalb der jeweiligen Gemeinschaften ja bestehen bleiben, stößt die Einführung der Brückenpraxis die Mitglieder der jeweiligen Gemeinschaften ohnehin nicht vor den Kopf, wie das eine Anpassung der gesamten Praxis, die ich im letzten Abschnitt diskutiert habe, tun würde. Man bedenke dabei, dass ich in diesem Schritt annehme, dass beide Praktiken ein Toleranzgebot enthalten: Das bedeutet, dass die Urteile, die man im Rahmen der gemeinsamen Praxis fällt, nicht mit denen der jeweils ursprünglichen Praxis konfligieren. Innerhalb dieser Praktiken muss man sich wegen des Toleranzgebots eines Urteils über Normen der Brückenpraxis weitgehend enthalten. Es kann im Lauf der Zeit sein, dass einige der Brückennormen in die jeweiligen moralischen Praktiken der Kooperationspartner eingehen und so eine gewisse Anpassung der Praktiken stattfindet. Das ist aber ein erheblich organischerer Weg als der, eine einheitliche Praxis zur Voraussetzung von Kooperation zu machen. Zu (c) Ist allerdings kein Gebot der Toleranz gegenüber den Mitgliedern einer anderen Gemeinschaft intern und extern rechtfertigbar, dann wird es problematisch und in einigen Fällen unmöglich, Brückennormen zu finden. Es kann vorkommen, dass alle denkbaren Brückennormen nicht tolerabel sind. Wenn die jeweils andere moralische Praxis jenseits der Tolerierbarkeit moralisch schlecht ist, dann ist es moralisch angebracht, auf das Verhalten der Mitglieder der jeweils anderen Gemeinschaft mit Empörung und mit Sanktionen wie dem Ausschi uss aus der Zusammenarbeit zu reagieren. Es ist daher moralisch nicht angebracht, sich auf eine Brückenpraxis und Kooperation mit Mitgliedern der anderen Gemeinschaft einzulassen. Es gibt in diesem Fall also starke moralische Gründe gegen die Akzeptanz einer Brückenpraxis, solange die andere moralische Gemeinschaft sich nicht ändert. Diese Haltung können Mitglieder beider moralischen Gemeinschaften über die jeweils andere Gemeinschaft haben.
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Eine archimedische Rechtfertigung kann zu diesem Problem zunächst nicht viel beitragen: Denn unter der Voraussetzung, dass beide moralischen Praktiken bestehen bleiben, ist es nicht möglich, dass eine moralische Brückenpraxis entsteht. Deswegen ist es nicht sinnvoll zu fragen, ob eine solche Praxis gerechtfertigt werden kann. Aber IMK kann eventuell darauf hinweisen, dass es zum Vorteil aller wäre, wenn sich die beiden Praktiken so weit annähern würden, dass eine Brückenpraxis möglich wird. Denn in diesem Fall hätte jeder größere Chancen zu kooperieren, da mehr Partner zur Verfügung stünden. Allerdings ist das ein generisches Argument. Ob es überzeugt, hängt von der jeweiligen Situation und davon, wie weit sich die Praktiken ändern müssten, ab. Es gibt in diesem Fall also sowohl moralische als auch kontraktualistische Gründe, darauf hinzuarbeiten, die moralischen Praktiken im Sinn des letzten Abschnitts zumindest ein Stück weit aneinander anzunähern. Bedenken muss man aber das enorme Konfliktpotenzial in dieser Situation. Wenn die Beteiligten die Praxis der jeweils anderen Gemeinschaft als empörend empfinden, dann hat jede Seite, da sie von keinem Toleranzgebot gehindert wird, einen moralischen Grund zu intervenieren und die andere Seite zur Änderung der Praxis zu zwingen. Dass eine solche gewaltsame Intervention aus Sicht des interessenbasierten Kontraktualismus im Allgemeinen nicht einfach zu rechtfertigen ist, habe ich oben gezeigt. Noch problematischer ist diese Rechtfertigung, wenn man das Ziel der Kooperation vor Augen hat: Denn die Anwendung von Gewalt selbst ist gerade nicht kooperativ und bedeutet deswegen zunächst hohe Kosten für alle Beteiligten. Aber auch langfristig ist es in den meisten Fällen eine Illusion zu glauben, aufgezwungene Gewalt könne Konflikte produktiv lösen und die Basis für stabile und engagierte Zusammenarbeit sein. Dazu entstehen in der Auseinandersetzung einerseits zu viele Verletzungen. Andererseits ist es schwierig eine soziale Praxis, die durch eine solche Intervention gewaltsam zerstört wurde, wieder (in anderer Form) aufzubauen, und das bedeutet letztlich für beide Seiten große Nachteile. Um zusammenzufassen: Aus Sicht von IMK gibt es gute Gründe für eine
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friedliche Anpassung der Praktiken, wenn alle anderen Wege der Kooperation verschlossen sind. Eine gewaltsame Intervention ist auf der Basis von Interessen aber schwer zu rechtfertigen - auch wenn es, je nach moralischer Gemeinschaft, moralische Gründe dafür gibt.
7.2.4 Globale Moral oder globales Recht? Moral ist - so habe ich argumentiert - auch in vielen Fällen interkultureller Interaktion vorteilhaft. In diesen Fällen kann IMK eine moralische Brückenpraxis rechtfertigen. Auf der anderen Seite weist IMK gerade, aber nicht nur in Fällen globaler Interaktion auch auf Grenzen der Moral hin. Moralische Gefühle sind für eine moralische Praxis konstitutiv; deswegen kann eine moralische Praxis dann nicht mehr funktionieren, wenn moralische Gefühle versagen. Unter welchen Umständen das genau eintritt, ist freilich eine empirische Frage, aber Hume hat sicher Recht, wenn er beobachtet, dass es uns schwer fällt, mit der eigentlich angebrachten moralischen Empörung oder Bewunderung auf eine Handlung zu reagieren, die weit entfernt stattfindet (zum Beispiel Hume 1739: 3.3.1.14-18). Dasselbe gilt für das Gefühl der Schuld: Wenn man wenig Bezug zu den Personen hat, die von der eigenen Handlung geschädigt werden, ist es unwahrscheinlich, dass man sich in der selben Weise schuldig fühlt wie in dem Fall, in dem man einen Bekannten geschädigt hat. Menschen aus unterschiedlichen Weltgegenden und Kulturkreisen sind sich gegenseitig weit weniger vertraut und gegenwärtig als Mitglieder einer kulturellen Gemeinschaft. Für den Fall interkulturellen Umgangs bedeutet das: Moralische Gefühle werden unvermeidbar schwächer sein und deswegen muss man damit rechnen, dass auch eine moralische Praxis an Funktionalität einbüßt. Viele der angesprochenen interkulturellen Interaktionen sind zudem sehr komplex, es gibt zahlreiche unerwartete oder kontraintuitive Zusammenhänge. Man denke an folgendes Beispiel aus der Entwicklungshilfe. Es kann verheerend sein, vermeint-
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Objektivität und Relativismus
lieh wohltätig zu handeln und landwirtschaftliche Produkte in Länder mit schlechter Nahrungsmittelversorgung zu liefern: Letztlich zerstört man durch diese Konkurrenz die einheimische Landwirtschaft und legt die Basis für langfristige Unterversorgung und Abhängigkeit. Die gewöhnliche moralische Reaktion, die solche Hilfe trotzdem gut erscheinen lässt, ist an anderen, einfacheren Fällen geschult: Man hat gelernt, dass man Menschen in Notlagen (etwa einem Ertrinkenden) helfen soll, indem man das für sie tut, was sie nicht selbst tun können (etwa den Ertrinkenden an Land bringen). Im Prinzip kann man auch eine moralische Praxis aufbauen, die all des berücksichtigt: Die Wahrnehmung der Situation und die akzeptierten Normen, die die moralischen Gefühle konstituieren, müssten nur hinreichend differenziert sein. Aber es ist sicherlich schwierig, eine solche Praxis zu etablieren. Aus archimedischer interessenbasierter Sicht empfiehlt es sich daher wahrscheinlich, in einigen dieser Fälle auf eine politische oder rechtliche, nicht aber auf eine moralische Praxis zu setzen. Von interessenbasiertem moralischem Kontraktualismus kann man dann natürlich nicht mehr sprechen. Aber das kontraktualistische Gedankenexperiment kann ganz analog für die Begründung einer rechtlichen Sanktionspraxis verwendet werden. Der Hauptunterschied zwischen einer moralischen und einer rechtlichen Praxis besteht aus einer externen Perspektive in der Art der Sanktionen. Statt der moralischen Gefühle und des sozialen Drucks übernehmen dann Exekutive und Judikative eines Staates diese Rolle. Funktional sind beide System im Prinzip in vielerlei Hinsicht äquivalent. Trotzdem haben rechtliche und moralische Systeme unterschiedliche Stärken. Moral ist umfassend, wirkt in vielen Situationen unbemerkt sowie ohne großen Aufwand und ist auch für neue Situationen anwendbar, da sie wegen des informellen Charakters recht flexibel ist. Allerdings ist sie auch träge, weil sich moralische Gefühle nicht sehr schnell ändern. Sie kann gerade wegen ihrer Flexibilität zu voreiligen Analogieurteilen führen, wie im Fall
Relativismus
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der Entwicklungshilfe gezeigt. Gerade in großen anonymen Gesellschaften sind auch einige der Sanktionen, die moralische Gefühle unterstützen, etwa die Ausgrenzung aus der Kooperation, nicht hinreichend wirksam. Unter dynamischen Bedingungen moderner Gesellschaften oder auch in sehr großen und komplexen Kontexten (Globalisierung) ist die gewöhnliche moralische Praxis in einigen Bereichen überfordert. Recht hingegen ist genau und differenziert, übergreifend und relativ schnell änderbar. Änderungen sind durch den formalen Sanktionsapparat auch leichter zu implementieren. Allerdings ist die Sanktionierung, wenn auch prinzipiell härter, mit einem höheren Aufwand verbunden, vergleichsweise langsam und trotzdem nie so umfassend wie moralische Gefühle als Sanktionen. Aber genau in den Fällen, in denen eine moralische Praxis Schwächen hat, kann eine rechtliche Praxis einspringen. Meistens wird eine Kombination beider Praktiken der Weg der Wahl sein, da sie komplementäre Stärken und Schwächen haben.
Kapitel 8 Humesche Einsichten Bei meiner Arbeit an den vorangehenden Kapiteln hat neben all den zeitgenössischen Autoren mit Hume auch ein klassischer Denker immer wieder als Quelle der Inspiration gedient. Ich habe trotzdem fast nie auf ihn Bezug genommen; einerseits, um mein Argument schlank zu halten, andererseits, um all die methodologischen Probleme auszuschließen, die eine Vermittlung von Argumenten aus ganz unterschiedlichen Hintergründen mit sich bringt.1 Zum Zweck einer abschließenden strategischen Zusammenfassung möchte ich nun ganz ohne exegetischen Anspruch kurz skizzieren, wie sich ein von Hume ausgehender Gedanke als roter Faden durch meine Überlegungen zieht. In einem Sinn liegt es nahe, das Argument, das ich in den vorangehenden Kapiteln entwickelt habe, als einen modernen Humeschen Ansatz zu verstehen. Denn ich habe für eine anti-realistische Analyse der moralischen Praxis plädiert, die moralische Eigenschaften als Projektionen moralischer Gefühle und moralische Urteile als deren Ausdruck betrachtet. Hume legt für den ersten Teil dieses Ansatzes den Grundstein und formuliert geradezu den Leitspruch des Projektivismus, wenn er schreibt: „[Taste], gilding or staining all natural objects with the colours, borrowed from internal sentiment, raises, in a manner, a new creation" (Hume 1751: Appx. 1.21). In einem anderen Sinn mag es erstaunen, dass ich die Nähe zu Hume in Anspruch nehme. Denn ich habe auch argumentiert, dass man mit einem interessenbasierten vertragstheoretischen Argu-
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ment die gesamte moralische Praxis von einem nicht-moralischen Standpunkt aus rechtfertigen kann. Ein Argument zur Rechtfertigung der moralischen Praxis sieht man selten als den Kern der Humeschen Ethik an. Es ist nicht klar, ob und in welcher Weise Hume ein solches Argument liefern wollte und ob es sich in seine an den Naturwissenschaften orientierte Methode einpasst (vgl. Gill 1996). Denn da er rein positive Wissenschaft betreiben will, kann er die Frage danach, ob die moralische Praxis sinnvoll oder begründet ist, eigentlich nicht beantworten. Trotzdem kann er auf ihre Funktion hinweisen und er macht von dieser Möglichkeit scharfsinnig Gebrauch. Mit einem genaueren Blick in Humes gesellschafts- und politiktheoretische Überlegungen findet man deswegen zumindest das Material für ein Rechtfertigungsargument.2 Hume hat damit einen Ausgangspunkt geschaffen, von dem aus man mit Hilfe der Ressourcen der modernen Metaethik auf natürlich Weise erklären kann, wie man eine Praxis mit einem anti-realistischen Ansatz analysieren und mit einem interessenbasierten Argument archimedisch rechtfertigen kann. Auch die zentrale methodologische Unterscheidung, die man zu diesem Zweck machen muss, deutet er in folgender Überlegung an: Thus self-interest is the original motive to the establishment of justice: But a sympathy with the public interest is the source of the moral approbation, which attends that virtue. This latter principle is too weak to controul our passions; but has sufficient force to influence our taste, and give us the sentiments of approbation or blame. (Hume 1739: 3.2.2.24) Frappierend ist, dass Hume in dieser kurzen Passage ganz prägnant drei Fragen und entsprechende Antworten unterscheidet. Es handelt sich erstens um die Frage danach, was eine moralische Praxis für deren Teilnehmer attraktiv macht. Hume antwortet, eine funktionierende moralische Praxis diene dem eigenen Interesse aller ihrer Mitglieder. Für diese Antwort ist es zunächst nicht von Bedeutung, wie die moralische Praxis und insbesondere ihre Sanktionen genau funktionieren. Es reicht zu zeigen, dass es für jeden
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vorteilhaft ist, wenn alle, aus welchen Motiven auch immer, die moralischen Regeln befolgen. Den Sanktionsapparat kann man im Rahmen dieser Frage als Black Box betrachten. Zweitens fragt Hume nach der Entstehung moralischer Wertschätzung und erklärt, dass nicht das eigene Interesse, sondern das Nachfühlen der Vorteile, die andere durch moralisches Verhalten hätten, die moralische Anerkennung verursache, die dann auf die Welt projiziert werde. Drittens fragt er nach einer sozialpsychologischen Erklärung moralischer Motivation, also danach, welcher Mechanismus in der Black Box verborgen ist, die er für die erste Frage noch annehmen konnte. Für eine Antwort auf diese Frage reiche eine Analyse des moralischen Gefühls nicht aus. Denn erst im Zusammenspiel mit einer ganzen Reihe anderer Sanktionen, etwa dem von Hume genau beobachteten Mechanismus der Reputation (z.B. Hume 1739: 3.2.2.27), bewirke das moralische Gefühl, dass sich Menschen an moralische Regeln hielten. Man sollte Hume sicher nicht so lesen, dass er die Fragen der modernen Metaethik beantwortet.3 Aber eine analoge Unterscheidung zwischen drei Fragen ist zentral für mein Argument. Es handelt sich um die Fragen nach der archimedischen Rechtfertigung der moralischen Praxis, nach der korrekten semantischen und metaphysischen Analyse dieser Praxis und nach der wissenschaftlichen Erklärung faktischen moralischen Verhaltens. Meine Antworten auf diese Fragen schließen an die Humeschen Thesen an. Auch mir ist es sehr wichtig, diese drei Fragen und die entsprechenden Antworten klar zu trennen. (a) IMK verwendet Humes Einsicht über die Funktionalität der moralischen Praxis als Basis für ein archimedisches Rechtfertigungsargument von einem nicht-moralischen Standpunkt. Jeder hat, so IMK, einen Grund, eine moralische Praxis und die entsprechenden Sanktionen zu akzeptieren, weil die Praxis für ihn vorteilhaft ist. Auch für IMK ist es zunächst nicht wichtig, wie die Sanktionsmechanismen genau funktionieren. Das zeigt sich daran, dass in dem Gedankenexperiment eine über ihre Auswirkun-
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gen hinaus nicht genauer spezifizierte Maschine stellvertretend für alle Sanktionen steht. (b) Auf die Fragen nach der Bedeutung moralischer Urteile und nach dem ontologischen Status moralischer Eigenschaften habe ich in Kapitel 5 Antworten gegeben, die von der Antwort (a) deutlich verschieden sind: Moralische Urteile drücken moralische Gefühle aus, das eigene Interesse spielt dabei keine Rolle. Moralische Personen projezieren - hier baue ich auf Hume auf - diese moralischen Gefühle auf die natürliche Welt.4 (c) Ich stimme mit Hume überein, dass die moralischen Gefühle, die man im moralischen Urteil ausdrückt, nicht ausreichen, um von einem sozialwissenschaftlichen Standpunkt aus zu erklären, warum Menschen moralisch handeln. Andere Sanktionen, etwa der soziale Druck, müssen zur Erklärung herangezogen werden, sind den Urteilenden aber nicht bewusst. Wenn man IMK in einem konkreten Fall durchführen möchte, muss man das Bild der Sanktionsmaschine auflösen und auf diese Einsichten zurückgreifen. Denn ob eine Sanktion vorteilhaft ist und so von IMK gerechtfertigt werden kann, hängt davon ab, ob sie im Zusammenspiel mit anderen Sanktionen bewirkt, dass die Mitglieder einer moralischen Gemeinschaft moralischen Normen folgen. IMK ist aber, wie ich in Abschnitt 7.1.3 betont habe, nicht mit dieser sozialwissenschaftlichen Theorie identisch. Wenn man die Fragen (a), (b) und (c) und die entsprechenden Antworten nicht klar trennt, sind Missverständnisse vorprogrammiert. Ich habe dafür argumentiert, dass viele Bedenken gegenüber IMK entstehen, wenn man nicht beachtet, dass IMK mit Hilfe sozialwissenschaftlicher Einsichten aus dem Bereich (c) - nur auf Frage (a) antwortet. Er ist eine Theorie der archimedischen Rechtfertigung einer moralischen Praxis und kann daher selbst weder ein moralisches Argument sein noch eine Analyse der moralischen Praxis liefern. IMK macht deswegen keine Aussage darüber, welche Rolle die Sanktionen in der internen Deliberation der Akteure spielen. Er nimmt a fortiori nicht an, dass moralische
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Akteure an Sanktionen denken oder über sie sprechen, wenn sie moralische Urteile fällen oder über moralische Fragen diskutieren. Der metaethische Anti-Realismus hingegen antwortet ausschließlich auf Frage (b). Er analysiert die moralische Praxis und den Gehalt moralischer Urteile. Er erklärt mit dem projektivistischen Ansatz, dass die Teilnehmer der moralischen Praxis aus ihrer Sicht mit moralischen Urteilen über die moralischen Eigenschaften der Welt sprechen. Dass diese Eigenschaften Projektionen der eigenen Gefühle sind, die IMK aus Sicht der Frage (a) als Sanktionen betrachtet, fällt den moralischen Akteuren nicht auf, solange sie nicht als Skeptiker aus der moralischen Praxis heraustreten. Der interessenbasierte moralische Kontraktualismus und der metaethische Anti-Realismus sind komplementäre Ansätze, die auf unterschiedliche Fragen antworten. Darüber hinaus spielen sie aber gut zusammen: Denn anders als der moralische Realismus lässt der Anti-Realismus Platz für archimedische interessenbasierte Rechtfertigung. Obwohl diese Perspektive schon bei Hume angelegt ist, schafft erst eine moderne metaethische Analyse die Möglichkeit, genau zu verstehen, wie die beiden Ansätze ineinander greifen.
Anmerkungen Kapitel 2 Moral und Moralphilosophie 1
Im Sinne der Lesbarkeit gehe ich bei Quellenangaben folgendermaßen vor: Ich nenne im Text, soweit verfügbar, immer das Erscheinungsjahr der Originalausgabe. Im Literaturverzeichnis gebe ich nach dem Verlagsnamen auch das Erscheinungsjahr der verwendeten Ausgabe an.
2
Diese Entwicklung haben zum Beispiel in einem klassischen Artikel Anscombe (1958) und immer wieder Williams (z.B. 1985) als Schwäche diagnostiziert.
3
Vgl. die Diskussion des moralischen Relativismus in Abschnitt 7.2.
4
In Korsgaards Version der kantianischen Ethik könnte man analog sagen, dass das Selbstverständnis als Wesen mit praktischer Vernunft, dem der kategorische Imperativ entspringe, Bedingung der Möglichkeit aller anderen praktischen Identitäten (jedes anderen Selbstverständnisses) sei und deswegen auch der kategorische Imperativ allen Vorschriften, die anderen Identitäten entsprängen, vorgeordnet sein müsse (vgl. Korsgaard 1996: insbes. 120-130). Allerdings ist Korsgaard vorsichtig mit dieser These: Aus ihrer Sicht kann die Abwägung zwischen moralischen und anderen Forderungen, auch für moralische Personen, zumindest sehr schwierig sein (ebd.: 125ff.).
5
Stroud (1998) z.B. argumentiert, dass die Gültigkeit der Vorrangthese davon abhänge, welchen Gehalt Moral hat.
6
McDowell (1979: 334f.) argumentiert für eine vergleichbare, aber noch stärkere Position; eine tugendhafte Person sehe in einem Merkmal einer moralisch relevanten Situation einen Handlungsgrund, der alle anderen Gründe zum Schweigen bringe (silencing them}. Nicht-tugendhafte Personen nähmen die Situation nicht so wahr.
7
Eine analoge Analyse liefert Dancy (1993: 44ff.). Dass, wie Dancy weiter argumentiert, alle intrinsischen Gründe auch moralische Gründe sind (ebd.: 47), möchte ich hier nicht behaupten.
8
Vgl. Smith 1994a: 3-7, Dancy 1993: 1-13, Blackburn 1998b: 60f. und Schmidt 2003: 150. Brink (1989) z.B. entwickelt eine externalistische
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Anmerkungen zu den Seiten 20-34 Gegenposition (37ff.), akzeptiert aber, dass moralische Urteile „actionguiding" (79) sind.
9
Eine Sammlung zentraler Texte zur Tugendethik und einen Überblick über die Debatte liefern Crisp und S lote (1997).
10
Ich verwende den Begriff Sanktion hier zunächst eher in Stemmers Sinn für künstlich geschaffene negative Konsequenzen (Stemmer 2000: 99ff.), obwohl ich auch positive Sanktionen einführen möchte. Anders als Stemmer betrachte ich moralische Gefühle aber als geeignete Sanktionen für moralische Normen (vgl. von Grundherr 2006). Tugendhat hat einen anderen Begriff, der alle negativen Konsequenzen einer Handlung umfasst (Tugendhat 1993: 43).
11
Eine entsprechende empirische Untersuchung am Beispiel des Boykotts gegen (vermeintliche) Umweltsünder findet man bei Diekmann und Preisendörfer (Diekmann und Preisendörfer 2003: 442) vor. Die Autoren zeigen allerdings, dass Einstellungen dann erheblich weniger wirksam sind, wenn die Kosten für die einzelnen hoch sind.
12
Die kognitionswissenschaftlich geprägten Ansätze von Churchland (z.B. 1998) oder Clark (z.B. 1996, 1997) beschreiben, wie Handlungsmuster (Prototypen) gelernt und in effizienter Weise angewendet werden.
13
Klassisch dazu Nagel (1961).
14
In diesem Sinn äußert sich auch Habermas: „Nicht die Tatsache, dass alle Operationen des menschlichen Geistes durchgängig von organischen Substraten abhängig sind, ist strittig. Die Kontroverse geht vielmehr um die richtige Art der Naturalisierung des Geistes." (Habermas 2005: 7) In diesem Fall könnten Qualia ein Grund für die Irreduzibilität sein.
15
Dafür dass man auch die alltäglichen Begriffe des Gedankens etc. in dieser Weise verstehen sollte, argumentiert wegweisend Sellars (1956).
16
Das gilt auch für Sätze, die eher auf der empirischen Seite stehen wie etwa Wahrnehmungsurteile. Diese führt man üblicherweise auf eine (Sinnes-) Täuschung oder in der Wissenschaft auf einen Messfehler zurück, wenn sie das Innere des Netzes stark belasten. Aber man könnte bei entsprechenden Revisionen des Netzes auch an ihnen festhalten und sollte das tun, wenn es deutlich größere Klarheit verspricht.
17
Den Begriff explizite Analyse übernehme ich von Ayer (1946: 59f.).
18
Pragmatistische Analysen liefern zum Beispiel die Non-Kognitivisten Ayer (1946), Stevenson (1937), Hare (1952), Gibbard (1990) und Blackburn (1998b). Die Wittgensteinsche Idee - „to explain the meanings of linguistic expressions in terms of their use" (Brandom 1994: xii) - hat in allgemeiner und detaillierter Form Brandom (1994) ausgearbeitet.
Anmerkungen zu den Seiten 35-4$
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19
Zur Problematik des Umgangs mit Intuitionen siehe auch Griffin 1996: Kapitel 1.
20
Den Begriff der Normakzeptanz verwendet Gibbard (1990) als zentralen Grundbegriff um normative Urteile zu erklären (7, 46f., 53, 85f.)· Blackburn wendet eine ähnliche Strategie an, sein Grundbegriff ist aber der des Wertschätzens („valuing" (1998: 59ff.)).
21
Gibbard gibt eine Analyse, die die Punkte (i) und (ii) in sehr ähnlicher Form enthält (1990: 75). Gibbard sieht das Verhältnis von Gefühlen und Normen allerdings etwas anders, vgl. Abschnitt 5.1.3.
22
Den Realismus verteidigen in verschiedener Form zum Beispiel Brink (1989), Railton (1986), Boyd (1988), Smith (1994a), McDowell (1979 und 1988) und Dancy (1993).
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Bei bestimmten künstlichen Sprachen kann es aber schwer sein und man sollte sie vielleicht einfach aufgeben oder ändern.
24
Anders wäre das, wenn man einen grammatischen Realismus annehmen würde. Dann wäre es absolut oder tatsächlich richtig, die Vergangenheit auf diese Weise zu bilden - und das wäre sehr wohl ein Grund für die Akzeptanz einer Praxis, in der die Form in eben dieser Weise gebildet werden muss.
25
So zum Beispiel Hare (1952) oder Brink (1989: 211-90). Kapitel 3 Interessenbasierter moralischer Kontraktualismus
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Eine solche Ordnung entspricht der üblichen Relation schwacher Präferenz, wie sie die Entscheidungs- und Spieltheorie beschreibt. Vollständig ist eine Relation R auf der Menge X dann, wenn für alle Elemente x, y aus X entweder xRy oder yRx gilt; transitiv ist sie, wenn für alle x, y, z aus X gilt: wenn xRy und yRz dann auch xRz; reflexiv ist sie, wenn für alle x aus X xRx gilt. Die