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German Pages 289 [290] Year 2005
EDGAR MASS und PAUL-LUDWIG WEINACHT
Montesquieu-Traditionen in Deutschland
Beiträge zur Politischen Wissenschaft Band 139
Montesquieu-Traditionen in Deutschland Beiträge zur Erforschung eines Klassikers
Herausgegeben von Edgar Mass und Paul-Ludwig Weinacht
Duncker & Humblot · Berlin
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten £ 2005 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0421 ISBN 3-428- 11924-X Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 θ Internet: http://www.duncker-humblot.de
Inhaltsverzeichnis Einleitung Von Edgar Mass und Paul-Ludwig Weinacht
7
Ist Montesquieu ein Anhänger der Lehre von der Volkssouveränität? Von Wilhelm Hasbach (1911)
31
Lettres Persanes Von Victor Klemperer( 1914)
41
Der Übergang zur souveränen Diktatur in der Staatslehre des 18. Jahrhunderts Von Carl Schmitt ( 1921 )
57
Die Eroberung der geschichtlichen Welt Von Ernst Cassirer ( 1932)
69
Montesquieu und die politische Soziologie Von Gunther Ipsen (1933)
75
Die Entstehung des Historismus Von Friedrich Meinecke ( 1936)
85
Feudale Reaktion und Aufklärung Won Martin Göhring (1946)
91
Montesquieus Esprit des Lois - Zum Gedächtnis des Erscheinens im November 1748 Von Ernst Forsthoff ( 1948)
99
Die Natur der Sache als juristische Denkform Von Gustav Radbruch ( 1948)
107
Die Persönlichkeit Montesquieus und seine Werke - Lehrmeister des modernen Rechtsstaates Von Friedrich August Freiherr von der Heydte ( 1950)
111
Montesquieu und die europäischen Traditionen Von Fritz Schalk (1951)
117
6
Inhaltsverzeichnis
1734 als Jahr der Entscheidung für Montesquieus Esprit des lois Von Werner Krauss (1956)
135
Die Theorie der Gewaltengliederung Von Ernst-Wolfgang
Böckenförde ( 1958)
153
Montesquieu und die Tradition Von Hans Maier ( 1962)
159
Montesquieu in Deutschland - Zur Geschichte seiner Wirkung als politischer Schriftsteller im 18. Jahrhundert Von Rudolf Vierhaus ( 1965)
169
Montesquieus Begriff der Despotie Von Amd Morkel ( 1966)
195
Die Bedeutung der Mäßigung im Werk Montesquieus Von Walter Kuhfuß (1975)
205
Friedrich der Große und Montesquieu - Zu den Anfangen des Rechtsstaats im 18. Jahrhundert Won Detlef Merten (1987)
219
Montesquieu und der Geist der Gesetze - Naturgesetz, Natuirecht, positives Recht Von Panajotis Kondylis ( 1994)
241
Politik und Geselligkeit der Geschlechter in Montesquieus Vom Geist der Gesetze (1748) Von Claudia Opitz ( 1998)
251
Die gewaltenteilige Mischverfassung Montesquieus im ideengeschichtlichen Zusammenhang Von Alois Riklin (1999)
265
Plädoyer für eine kosmopolitische Soziologie Von Gerhard Wagner (1999) Personenveizeichnis
275 281
Einleitung Edgar Mass und Paul-Ludwig Weinacht Montesquieu-Rezeption im 20. Jahrhundert Was wir heute Rezeption nennen, ist im Sinne Goethes ein Nebenaspekt von „Weltliteratur", nämlich der geschichtliche Prozeß ihrer Aufnahme im lesenden Publikum. Damit Aufnahme stattfindet und gelingt, bedarf es derer, die bereit sind, sich vor den Karren der großen Literatur spannen zu lassen, „Kärrnerdienste" zu leisten. Das sind - nicht durchweg interesselos - Verleger, Übersetzer, Rezensenten, Kommentatoren, Interpreten. Nach jeweils leitenden Gesichtspunkten und Motivenrichten sie ihre Aufmerksamkeit auf dies oder das, deuten oder mißdeuten es, feiern es enkomiasüsch oder richten es despektierlich zugrunde. Immer hängt die Aufnahme vom Zeitpunkt ab, zuweilen von denen, die als erste einen Text lesen und darauf reagieren können, zuweilen vom Einfluß der geschichtlichen Potenzen (das Wort im Sinne Jakob Burkhardts genommen), die sich zu einer Auseinandersetzung aufgerufen fühlen. Der Veibreitungsweg führt gewöhnlich über die Literatur und den Journalismus in die Wissenschaft und in die pragmatische Literatur. Die Veibreitungswege, die Formen der Aufnahme von Ideen Montesquieus und ihr Niederschlag in der Wissenschaft oder in der pragmatischen Literatur wurden für das 18. Jahrhundert vorbildlich von Rudolf Vierhaus erforscht. Aber er warnt auch vor den Schwierigkeiten einer solchen Geschichte und führt die Vielfältigkeit und Vielschichtigkeit von literarischen Wirkungen vor. Seine Darstellung läßt erkennen, daß eine konstruktive Montesquieu-Rezeption mit einer Haltung von Erneuerung und Verbesserung einheigeht: ultrakonservative Universitäten wie Leipzig wenden sich spitzfindig gegen ihn, Reformhochschulen wie Halle und Göttingen tragen seine Diskussion weiter, so wie auch die aufgeklärten Herrscherhäuser ihn in die Programme der Fürstenerzieher aufnehmen. Diese positive Rezeptionshaltung setzt sich über die beiden großen historischen Bruchpunkte in der Rezeption all dessen, was aus Frankreich stammte hinweg, über die Folgen der Revolution und über die napoleonische Invasion. Arndt und Vom Stein und wieder der Vormärz berufen sich auf Montesquieu, und die 48er Bewegung nimmt in einer neuen Übersetzung von Ellissen wahr1, daß Gewaltenteilung und Rechtsstaat zusammengehören. Die neue Öffnung erfolgt 1 Mohnhaupt, Heinz, „Deutsche Übersetzungen von Montesquieus ,De l'esprit des lois 4 ", in: Weinacht, Paul-Ludwig (Hrsg.), „Montesquieu. 250 Jahre ,Geist der Gesetze4. Beiträge aus Politischer Wissenschaft, Jurisprudenz und Romanistik". Baden-Baden, Nomos, 1999. S. 135-151.
Edgar Mass und Paul-Ludwig Weinacht
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nicht allein über die Verfassungstexte Frankreichs und Belgiens, sondern nährt sich auch aus der nordamerikanischen Staatsbildung und -entwicklung, und sie nimmt Formulierungen in sich auf, wie sie in dogmatischrigoroser Form in der Rechtstheorie Kants benutzt werden, Montesquieus Werk jedoch ursprünglich eher fremd sind. Es ist wohl Kants Strenge, verbunden mit dem nordamerikanischen „Axiom Montesquieu", die von der Staatstheorie etwa eines Robert von Mohl den Grund zur dogmatischen Formulierung „Gewaltenteilung im Sinne Montesquieus" legt. Diese Formel erscheint in den Diskussionen der Monarchisten (die sie ablehnen) wie der Konstitutionalisten (die sie begrüßen) bis über das Bismarckreich hinaus. Im „Handbuch des Öffentlichen Rechts" (1883) weist Carl Gareis sie im Artikel „Allgemeines Staatsrecht" als unhistorisch, unlogisch und unpolitisch, dem Staate Schaden zufugend, zurück, während Otto von Sarvey im Artikel „Allgemeines Verwaltungsrecht" sie zum Wesen des Verfassungsstaates zählt. Seitdem Georg Jellinek den Begriff eindeutig an Montesquieu bindet (Allgemeines Staatsrecht, 1900), bleibt die Formel fest im Argumentationsarsenal verankert.2 Hier setzen die differenzierenden Analysen der neueren MontesquieuDiskussion an, die aus Anlaß der Neuformulierungen der Staatsidee eines verfaßten Deutschland nach den beiden Weltkriegen politische Brisanz gewannen und behielten. Der Weg in die Verfassungsstaatlichkeit der Zweiten deutschen Republik wurde, wenn man die Protokolle der verfassunggebenden Versammlungen der Länder, des Herrenchiemseer Konvents und des Parlamentarischen Rates genau liest, auch unter der Fahne Montesquieus beschritten.3 In diesem Band findet sich eine Auswahl von wissenschaftliche Texten zu Montesquieu. Es sind Texte, in denen sein literarisches, vor allem aber sein politisches Werk, im 20. Jahrhundert in Deutschland Veibreitung gefunden hat: kurze bzw. unwesentlich gekürzte Texte wie Aufsätze, Vorträge, Kapitel aus Monographien. Sie sollen den typische Fragestellungen zeigen, die in den jeweiligen Disziplinen die Beschäftigung mit Montesquieu anleiten. Neben den alten Rezeptions-Disziplinen Literaturgeschichte, Geschichtswissenschaft, Jurisprudenz sind es die Soziologie und die Politische Wissenschaft. Den überwiegend deutschen Verfassern stehen auch zwei schweizerische Autoren zur 2 Mass, Edgar,,,Recht, Freiheit und Herrschaft im Streit. Zu den Lektüren von Macht und Gewalt im Esprit des lois bei Kant, Hegel, Mohl und Jellinek", in: Weinacht (1999), S. 153-165. 3
Paul-Ludwig Weinacht, „Montesquieu und die Wiederherstellung des Rechtsstaates in Deutschland (1946-1949)", in: Edgar Mass / Annett Volmer (Hrsg.), Zwischen Tradition und Moderne. Zur Ortsbestimmung der Montesquieu-Forschung. Berlin 2005. S. 4768 (im Erscheinen). Edgar Mass, „Montesquieu et la Loi fondamentale de la R. F. Α.", in: Dix-Huitième Siècle 21 (1989), S. 163-177 (mit weiterer Literatur), deutsch u. d. T. „Montesquieu und die Entstehung des Grundgesetzes", in: Gewaltenteilung im Rechtsstaat. (Zum 300. Geburtstag von Charles de Montesquieu). Hrsg. D. Merten. Berlin, Duncker & Humblot, 1989 (Schriftenreihe der Hochschule Speyer. 106). S. 47-53.
Einleitung
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Seite: dies hängt neben der gemeinsamen Sprache damit zusammen, daß nicht fur ein schweizerisches oder ein deutsches, sondern für das deutschsprachige Publikum geschrieben wird. 4 Wilhelm Hasbach In einer Folge von Arbeiten hat der Ökonom Hasbach5 im Jahrzehnt vor Ausbruch des I. Weltkriegs zu Montesquieu wertvolle Materialien zusammengetragen und gedankliche Klärungen erreicht 6, die ihm noch das Lob von Carl Schmitt eintrugen. Wenn Hans Maier zu Beginn der 60er Jahre schreiben konnte: Das Wort Souveränität fände sich im ganzen „Esprit des lois" nicht, so wußte er gewiß, daß Forsthoff derlei von Volkssouveränität gesagt hatte; es dürfte ihm vielleicht entgangen sein, daß ziemlich genau ein halbes Jahrhundert früher Wilhelm Hasbach mit dieser Frage schon einmal befaßt war. Hasbach bestritt, was Paul Janet7 und ihm nachfolgend u. a. Georg Jellinek in seiner Allgemeinen Staatslehre behaupteten, nämlich, daß die Volkssouveränität für jede konstitutionelle Theorie „denknotwendig" und darum auch bei Montesquieu vorausgesetzt sei. Anders Hasbach: „Wäre Montesquieu ein Anhänger der Lehre von der Volkssouveränität, dann müßte es in den Büchern, die von der Demokratie handeln, klar zutage treten. [...] Aber in diesen Büchern kommt nicht einmal dieser Ausdruck vor." Und: Wäre Montesquieu ein Verfechter der „konstitutionellen" Volkssouveränitätslehre, dann müßte er der Aristokratie und Monarchie die Souveränität absprechen, was er aber nicht tut. Was Montesquieus von Rousseau trennt, ist für jemanden, der wie Hasbach das monarchische Prinzip in der preußischen Verfassung als etwas Gegebenes nahm, alles andere als eine historische Finesse. Er nennt dafür zwei Gründe: Eine vorherrschende Gewalt („Volk") würde die Gewaltenteilung rein logisch zerstören: sie wäre nichts als eine „schön geschmückte Leiche"; und was die preußische Verfassung angeht, so war Montesquieus Nichtbeachtung des Konzepts „Volkssouveränität" von zeitgenössischer Brisanz (Hasbach schrieb seinen Artikel im September 1910). In jenem Jahr hatte Wilhelm II. in Königsberg an die eigenen, historischen Rechte der preußischen Könige erinnert, und Hasbach gab dem Kaiser recht: „Jedenfalls sind die historischen Fürstenrechte besser begründet, 4 Die Kürzungen haben zu Veränderungen bei den Zwischentiteln und den Anmerkungsnummern geführt; ersteres wird expliziert vermerkt, letzteres geschieht stillschweigend. Die Hrsg. danken nachdrücklich den Inhabern der Rechte für ihre Genehmigung zum Abdruck. 5
1849-1920, Philologe, zuletzt Prof. für Nationalökonomie an der Universität Göttin-
gen. 6 Wilhelm Hasbach zum Naturrecht bei Montesquieus in: ders., „Untersuchungen über Adam Smith", S. 308-310; zur Gewaltenteilung als Balance-Konzept: „Gewaltentrennung, Gewaltenteilung und gemischte Staatsformen", in: Vierteljahrsschrift für Sozial· und Wirtschaftsgeschichte, Bd. 13,1916. 7
Janet , Paul, „Histoire de la Science Politique". Paris 3. Aufl. 1887.
Edgar Mass und Paul-Ludwig Weinacht
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als die ,natürlichen Rechte' des Volkes, die im Rahmen einer materialistischen Weltanschauung einen grotesken Eindruck machen; denn das Naturrecht wurzelt in theistischem, deistischem oder pantheistischem Boden." Die westlichen Gegenbeispiele Frankreichs und der USA könnten nicht überzeugen, denn auf die Jakobiner sei ein Napoleon gefolgt, auf den puritanischen Parlamentsabsolutismus ein Cromwell: „Auf den demokratischen Absolutismus folgt notwendigerweise der cäsaristische." Montesquieu war von unübersehbarer Aktualität in einer Verfassungslage, in der das monarchische Prinzip mit dem von Liberalen und Demokraten propagierten rousseauistischen Prinzip der Volkssouveränität konkurrierte. So wie Hasbach die Anwendbarkeit des Gewaltenteilungskonzepts unter den damaligen preußischen Prämissen billigte, unter demokratischen Bedingungen aber verwarf, so hat dieses Konzept in der späteren Rezeption immer neue Interpretationen erfahren, die seine Anwendbarkeit ermöglichen und seinen politischen Nutzen erklären sollten: Man achte auf die technische Rolle, die ihm Ipsen nur noch zuspricht, auf ihren anglizistischen Charakter, der bewirke, daß sie - wie Göhring argumentiert hat - einer Applikation auf Frankreich nicht zur Verfugung stehen konnte. Von derselben Voraussetzung her, die Hasbach macht, nämlich daß sich „von dem Prinzip der Volkssouveränität [...] ebensowenig eine Spur [fände] wie von einer Bevorzugung des bürgerlichen Standes" kommt Forsthoff zur Vorstellung der „ausgleichenden Ordnung", des „sozialen Ausgleichs", mit sich „der Machtausgleich unter den Gewalten" verbinde. Erst von der Heydte läßt sich heibei, dem Montesquieuschen Konzept eine maßgebende Macht zu imputieren - das auf die „Wahrheit" des Gesetzes verwiesene (politisch „neutrale") Richtertum. Hans Maier hat die politologische Gewaltenteilungslehre, die sich als Erweiterung einer formalen juristischen versteht, insofern an Montesquieu legitimiert, als er feststellte, daß dieser keine Trennung von Rechts- und Soziallehre des Staates kannte, die Identifizierung von Staatsfunktionen und gesellschaftlichen Kräften ihm also noch eine Selbstverständlichkeit gewesen sei. Insofern müsse man also die in der Forschung vorherrschende Auffassung berichtigen, Montesquieu habe zunächst eine Staatsfunküonenlehre entworfen und dann in einem Sprung auf geschichtlichen und sozialen Boden öffentliche Gewalten auf soziale Gruppen „verteilt". Victor Klemperer Bekannt geworden ist er durch die posthume Publizierung seiner Tagebücher, die ihn zu einem gefeierten Memoirenschreiber des 20. Jahrhunderts machte.8 Er war konvertierter protestantischer Christ und stammte aus einer in Berlin heimisch gewordenen deutsch-nationalen Familie mosaischen Glaubens des Bildungsbürgertums, die viel dazu beitrug, seine Karriere zu fördern. Promoviert wurde er in der Germanistik, habilitiert bei Karl Voßler in München 8
1881-1960, Romanist, Prof. in Dresden (1935 aus „rassischen" Gründen amtsenthoben), Halle/Saale, Greifswald und an der Humboldt Universität Berlin. Früh bekannt wurde seine Arbeit: „LTI-Lingua Tertii Imperii" (1947).
Einleitung
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über die Vermutung, vielleicht werde man Montesquieu einmal, „ähnlich wie Plato und Nietzsche, von den Gelehrten und Philosophen abrücken und zu den Dichtern zählen". Er führte diese These in einer Lebensweik-Monographie vor, behandelte im ersten Band auf 213 Druckseiten die kürzeren Texte von der „Histoire véritable" über die „Lettres persanes" bis zu den „Considérations sur les Romains", im zweiten auf 296 den „Esprit des lois". Das geschah in erstaunlich kurzer Zeit vom Februar 1913 bis Oktober 1914 für den ersten9, bis zum Mai 1915 für den zweiten Band. Ab August arbeitete er mehrere Monate in Paris, lernte in Bordeaux die Herausgeber der Montesquieu-Manuskripte kennen, sah die Korrekturbögen der neuen zweibändigen Correspondance-Ausgabe ein, und trat im Februar 1914 ein Deutsch-Lektorat in Neapel an, bei Benedetto Croce. In bewundernswerter Zeitverdichtung verfaßte er einen sehr einheitlichen Text, mit dem er „die durchgehende und durchleuchtende Idee in dem scheinbar chaotischen Lebenswerk des großen Rechtsphilosophen und Künstlers suchte", und den er später zur „Gattung der idealistischen Literaturgeschichte" rechnete.10 Die Zusammenschau auf den einen Seelenpunkt ließ er darin kumulieren, daß er Montesquieu zum Künstler einer Art Vor-Romantik formte, dessen Werk poetische Dichtung ist. Seine Arbeit zielt ab auf die „Darstellung des Dichterischen in Montesquieu, genauer ausgedrückt, [...] die Basierung dieses Dichterischen auf einer großen Sehnsucht, die wiederum aus einem schweren seelischen Zwiespalt entsprang."11 Bei der Darstellung derfiküonalen Texte Montesquieu trägt diese Schreib- und Denkmethode zur Schaffung einer stringenten und in sich überzeugenden Interpretation bei, für die Sachtexte erweist sich die wirklichkeitsferne Analyse mithilfe der idealistischen Methode jedoch als unangemessen. Die prägnante Schreibkraft Klemperers wird durchaus sichtbar, sie wird an manchen Stellen des „Lettres persanes"-Teils geradezu faßbar. Im „Esprit des lois" aber hat sie nicht den ihr adäquaten Gegenstand gefunden, weil sie sich vermittels des Bordelaiser Gelehrtenmilieu zwar einen authentischen Zugriff auf das Wortmaterial verschaffte, ihr jedoch gedanklich nicht die sachadäquate Kompetenz zur Verfugung stand, um mehr als ein Referat daraus herzustellen.
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Über die Entstehung seines Montesquieu-Buches berichtet Klemperer ausfuhrlich in: „Curriculum vitae. Jugend um 1900". Berlin, Siedler, 1989. Bd. 2, mit einer ausführlichen Beschreibung seiner intensiven Suche nach dem entscheidenden seelischen Moment, den er Montesquieus Seelenpunkt nennt, S. 45, 46, 52. S. Edgar Mass, „Klemperers Montesquieu", in: Lendemains 21 (1996), S. 39-53, in französ. Sprache u.d.T. „Le Montesquieu de Victor Klemperer (1914-1915)", in: Revue Montesquieu 1 (1997), S. 113-131. 10
Klemperer, Victor, positivismus und Idealismus des Literarhistorikers. Offener Brief an Karl Vossler", in: Jahrbuch für Philologie 1 (1925), S. 245-268, hier: 247. 11
Vorwort, in: „Montesquieu". 2 Bde. Heidelberg, C. Winter, 1914-15 (Beiträge zur Neueren Litaraturgeschichte, 6). Bd. 1, S. X.
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Carl Schmitt 12
Schmitt glaubte eine Analogie zur französischen Revolution in der Entwicklung der Weimarer Republik zu erkennen. In der Präsidialdiktatur nach Art. 48 WRV sah er eine Aktionskommission zum Schutz der Verfassung. Die Unterscheidung von kommissarischer und souveräner Diktatur wird im historischen Teil des Diktatur-Buches (1921) entfaltet und geht von hier aus als geklärtes Problem in die Verfassungslehre (1928) eia Die Diskussion, die sich über Schmitts Diktatur-Verständnis entfaltet hat, berührt nicht die Unterscheidung der Diktaturformen, sondern die Bedeutung staatlicher Dezision überhaupt: beginnend bei der Frage nach dem Subjekt der Souveränität, das über den Ausnahmezustand entscheide, über die Frage, ob der Staat „unter" dem Recht oder „im Recht" sei (letzteres bedeutet, daß der Staat mittels seiner Dezision das „originäre", aber inhaltsleere Recht allererst konkretisiere und einen Inhalt gebe), bis zu der Frage, ob angesichts der von Schmitt herausgearbeiteten Widersprüchlichkeiten der Verfassung der Ersten Republik es Sinn mache, den Reichspräsidenten - „Hüter der Verfassung" (1931) - auf eine unter der Verfassung stehenden kommissarische Diktatur zu beschränken, der Verfassungsänderungen entzogen seien.13 Das Kapitel im Diktatur-Buch, das wir präsentieren, zeigt, wie Montesquieu dem aufklärerischen Zug der Zeit zur souveränen Diktatur altständischen Widerstand in Gestalt der corps intermédiaires und der Gewaltenteilung {balance) entgegensetzt. Für Montesquieu, so Schmitt, sei „staatliche Allgewalt" immer „Despotismus" - der Begriff der Diktatur sei dem 18. Jahrhundert nur als Institut der römischen Republik geläufig - , insofern stehe Montesquieu sowohl gegen Voltaires monarchischen Absolutismus wie gegen die Volkssouveränitäts-Lehre Rousseaus, wenngleich die lois fondamentales 14 unter revolutionärer Perspektive gesehen werden. Ernst Cassirer 15
Promoviert in Maiburg, habilitiert in Berlin, nahm er seine erste Professur in Hamburg wahr (1919). Er wurde 1929 zum Rektor gewählt, emigrierte 1933 nach Oxford, ging dann nach Göteborg, wurde schwedischer Staatsbürger und lehrte schließlich in Yale (New Haven) und an der Columbia University (New York). Seine Hauptwerke: „Philosophie der symbolischen Formen" (1923-1929) und „Essay on Man" (1945). Jürgen Habermas nannte ihn den „letzten universal Gebildeten des 20. Jahrhunderts", der zum Autor von Büchern über Kant, Goe12
1888-1985, Staatsrechtler. Promoviert und habilitiert in Straßburg, Prof. in Greifswald, Bonn, Berlin (Handelshochschule), Köln und wieder Berlin (Universität). 13
Hofmann , Hasso, „Legitimität und Legalität. Der Weg der politischen Philosophie Carl Schmitts". Berlin 2. Aufl. 1995, S. 56-62,69-72 14 vgl. Mousnier, Roland, „Les institutions de la France sous la Monarchie absolue". Paris 1974, S. 502-505. 15
1874-1945, Philosoph.
Einleitung
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the und Einstein wurde.16 In der „Philosophie der Aufklärung" (1932) strebte er keine Aufarbeitung aller philosophischen Sonderprobleme der Epoche an, sondern stellte ihre „eigentümliche Tiefe", die „Einheit ihres gedanklichen Ursprungs und ihres bestimmenden Prinzips" dar, um den „Gebrauch, den die Aufklärung von philosophischen Gedanken macht" aufzuzeigen und eine „Revision des großen Prozesses, den die Romantik gegen die Aufklärung angestrengt hat", vorzunehmen.17 Auf Montesquieu geht er bei der Darstellung der geschichtsphilosophischen Entwicklung (daraus stammt unser Auszug) etwa zeitgleich mit Meinecke ein18. Seine kursorische Behandlung im Kapitel „Recht, Staat und Gesellschaft. Die Idee des Rechts und das Prinzip der unveräußerlichen Rechte" hat offensichtlich - vielleicht schon bei einen vorherigen mündlichen Vortrag? - stark auf den Romanisten Fritz Schalk eingewirkt, der in Hamburg sein Hörer war und am Warburg-Institut an seinen Diskussionen teilgenommen hatte. Gunther Ipsen Im V. Jahrgang (1932/1933) des Karl Dunkmannschen Archivs für angewandte Soziologie ließ der volkskundlich ambitionierte Philologe19 und später in Leipzig mit Hans Freyer und anderen20 arbeitende Soziologe, Gunther Ipsen, eine Deutung Montesquieus als „politischen Soziologen" erscheinen. Einem damals verbreiteten völkerpsychologischen Ansatz folgend galten ihm Hobbes, Montesquieu und Hegel als die drei größten Staatsdenker der neueren Jahrhunderte und als der Anfang der europäischen Soziologie in ihren Ländern. Soziologie wird von Ipsen als „politische Wissenschaft" gedeutet. Wenn „der erste französische Soziologe" den Absolutismus als maßlos, den Druck des monarchischen Herrschaftsstabes als „unangemessen" kritisiere, so kommt in dieser Kritik - und dies ist selbst eine „soziologische" Erklärung - die „menschliche Substanz des alten Grundadels" zum Ausdruck. Seit Klemperer sind Montesquieu-Interpreten auf der Suche nach der Denkart und mehr noch: der Gestaltungs-Absicht des großen Franzosen; sie möchten den „geheimen Leitfaden" seines Werks entdecken. Ipsen findet ihn - unbekümmert um alle Sekundärlite16 Habermas, Jürgen, „Die befreiende Kraft der symbolischen Formgebung. Ernst Cassirers humanistisches Erbe und die Bibliothek Warburg 14, in: Frede, Dorothea / Schmücker, Reinhold (Hrsg.), „Ernst Cassirers Werk und Wirkung. Kultur und Philosophie". Darmstadt, Wiss. Buchges., 1997, S. 70-104. 17
Vorrede.
18
Parallel zu Meinecke schrieb Kurt Breysig seine „Meister der enwickelnden Geschichtsforschung" (Breslau 1936), wo er Montesquieu ausführlich behandelt. 19
1899-1984, Prof. für Soziologie an den Universitäten Leipzig, Königsberg, Innsbruck, zuletzt Leiter der Sozialforschungsstelle an der Universität Münster und Dortmund. 20 Freyer, Hans / Jolies , André / Ipsen, Gunther, „Geist und Staat, Arbeiten im Dienste der Besinnung und des Aufbaus". Leipzig 1926.
Edgar Mass und Paul-Ludwig Weinacht
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ratur - in der „Selbsterkenntnis der abendländischen Monarchie", näherhin im germanischen Wesen der Frühzeit und der Feudalität, in Ständegliederung und Repräsentativsystem. In der Linie der Historischen Schule („Romantik") steht auch seine Interpretation von Montesquieus Natur-Konzept, dem er - wie es später, auf anderen Wegen, auch der Jurist Gustav Radbruch tun wird - jegliche Verbindung zur Metaphysik abspricht. Natur erreiche ausschließlich im „Positiven" ihren Sinn und Wert. So beginne bei Montesquieu das soziologische Denken (für Radbruch geht es bei Montesquieu um dessen juristisches Denken). Im Zusammenhang seines antimetaphysischen Naturkonzepts deutet Ipsen die vier Prinzipien der Regierungsformen - die Berufung auf antike Schriftsteller ist durchaus fragwürdig - als „vier Tugenden". Die den Despotismus tragende „Furcht" - eine Gesinnung „bloß passiven Duldens der Herrschaft" - ist ihm integrierender Teil jeglicher „Staatsgesinnung". Montesquieu gebe damit zugleich „das erste Beispiel jener fruchtbaren Durchkreuzung systematischen und historischen Gehalts, die der soziologischen Begriffsbildung eignet".21 Im letzten Abschnitt behandelt Ipsen „politische Freiheit" als „Sonderart der europäischen Herrschaftsformen", deren soziologischen Gehalt er so auseinander legt: einerseits sei sie die Entsprechung von Bestimmungsgewalt und Schutz, andererseits die Beziehung zwischen Staat und Recht („legale Herrschaft"). In dieses letztere ordnet er den Gedanken der „Gewaltenteilung" ein und zwar als „einen sekundären Gedanken", der - anders als das 19. Jahrhundert gemeint habe„beinahe als technische Frage des Herrschaftsaufbaus" erscheine. In einem davorliegenden Abschnitt über Esprit général findet man eine naturalistische Interpretation dessen, was Ipsen die „tragende Schicht substanzieller Sittlichkeit" nennt und worin er den „soziologischen Staatsbegriff 4 kulminieren läßt. Er spüre „überall" die Kategorie der „Staatsräson" am Werk, dank deren der Staat alle Lebens- und Weitbezirke auf sich hin betrachte und zu verwende. Ein solcher allseitiger Funktionalismus dürfte allerdings nur schwer mit dem Gedanken „politischer Freiheit" vereinbarlich sein; jedenfalls nimmt Ipsen zur Klimalehre Montesquieus Zuflucht, in deren Folge „Rassencharaktere" entstünden: „Es ist also die substanzielle Schicht der Sittlichkeit, die von den Verhältnissen des Lebensraums geformt und bestimmt wird." Und obgleich der Staat sich gegenüber dem Mechanismus der Natur differenzierend verhalten könne, sei sie ihm doch „mittelbar" wesentlich: „indem sie das wichtigste Moment der Verschiedenheit darstellt und so die Positivität der geschichtlichen Wiiklichkeit vorbereitet und erzwingt". („Gemeinfreiheit" wird als das Produkt der „germanischen Wälder" verstanden.) Der Aufsatz Gunther Ipsens entfaltet Montesquieus politische Soziologie in Anspielung auf einige Begriffe von Webers Herrschaftssoziologie und, nachdrücklicher, mittels einiger damals „moderner" Konzepte von „Rassentypus", „Lebensraum" und „politischem Kampf 4. Letztere erhielten - von 21
Zum Wissenschaftstypus der „rechten" Leipziger Soziologie vgl. überkronte, Willi, „Volksgeschichte. Methodische Innovation und völkische Ideologisierung in der deutschen Geschichtswissenschaft 1918-1945". Göttingen 1993.
Einleitung
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der Grenzlandsituation im deutschen Osten her, in der Ipsen lebte und dachte22 das Hauptgewicht. Die Rezeption des „politischen Soziologen" Montesquieu, dessen Auslegung in der Literatur, wie schon gesagt, unerwähnt bleibt, steht bei Gunther Ipsen Pate für die Begründung einer politischen und im Volkstumskampf politisierbaren Soziologie23. Daß diese im Nationalsozialismus als politisch verwertbares Expertenwissen genutzt werden konnte, gereicht ihren Vertretern, je länger die Zeit zurückliegt, desto heftiger, zum Vorwurf. 24 Friedrich Meinecke Der Schüler und Anhänger von Dilthey25 hatte sich von deutsch-nationaler Borussen-Liebe zum angesehenen liberalen Vernunftrepublikaner, Gegner des Nationalsozialismus und Despotiefeind entwickelt.26 Er gilt als Hauptvertreter der politischen Ideengeschichte, mit der er sich gegen den „grauen Positivismus" wandte, der noch im 19. Jahrhundert durch eine bewußt nationale Geisteswissenschaft abgelöst wurde. Gelesen hat er den „Esprit des lois", wie er in seinen Erinnerungen schreibt, während seiner Bonner Studienzeit27, behandelt in seinem Buch zur Staatsräson die Wirkung „von Montesquieus Kausalitätsenergie" in den „Considérations" auf Friedrich den Großen, der daraus „das Verständnis für den immensen historischen Erkenntniswert der Lehre von den Interessen des Staats" gewonnen hätte28, setzt sich mit dem Gesamtwerk jedoch erst spät auseinander. Sein Historismusbuch, geschrieben 1936, will - wenn auch in zeitlicher Reihenfolge aufgebaut - keinen chronologischen Abriß des
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Nach Flucht und Vertreibung der Ostpreußen gibt Ipsen einen über 400seitigen Sammelband heraus: „Wir Ostpreußen." (Salzburg 1950), der vom Sprecher der Landsmannschaft bevorwortet ist und zu dem er selbst drei Beiträge beisteuert: ,J3 alten und Preußen" (S.13 ff.), „Landnahme und Landesausbau" (S. 59 ff.), „Volkskraft im Osten" (S. 316 ff.). 23 Vgl. den Vortrag Ipsens, , 3 l u t und Boden", gehalten am 27. Juli 1933 im Rahmen der nationalpolitischen Vortrage der Kieler Studentenschaft in der Aula der Universität (Kieler Vortrage über Volkstums- und Grenzulandfragen und den nordisch-baltischen Raum Nr. 2). 24 Vgl. oben Willi überkronte, „Volksgeschichte" ( 1993); Ingo Haar, „Historiker im Nationalsozialismus: deutsche Geschichtswissenschaft und der „Volkstumskampf im Osten" (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd. 143), Göttingen 2000. 25
1862-1954, Prof. für Geschichte in Straßburg, Freiburg/Br. und Berlin, Mitbegründer der Freien Universität Berlin. 26 Hauptwerke: Weltbürgertum und Nationalstaat. Studien zur Genesis des deutschen Nationalstaats (1907). Die Idee der Staatsräson in der neueren Geschichte (1924). Die deutsche Katastrophe ( 1946). 27
„Erlebtes 1862-1901", in: Autobiographische Schriften. Werke 8. Stuttgart, Köhler, 1969. S. 63. 28 „Die Idee der Staatsräson in der neueren Geschichte", in: Werke 1. Stuttgart, Köhler, 1957. S. 338-339.
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Edgar Mass und Paul-Ludwig Weinacht
Höhenkammdenkens liefern, sondern in der Entwicklung und Entfaltung individueller Lebenseinheiten Zweck und Aufgabe großer Denkströme zeigen. Er wendet sich ab von der Einbettung der Individuen in überzeitliche Denkformen und sieht in der individuellen Wertelkenntnis den revolutionären Kern einer historiographischen Methode, die von Savigny mit der Rechtsgeschichte als deutsches Spezifikum begründet wurde, um als umfassende Kategorie mit dem Geschichtsdenken der Aufklärung zu brechen. Montesquieu setzt für ihn die Arbeit der Staatskunstlehre vor allem Machiavellis fort, indem er versuche, das anzuwenden, was Meinecke als revolutionären Kern des Historismus ansieht, die Lösung aus überzeitlichen Denkformen und die Hinwendung zur individuellen Wertelkenntnis. Darunter zählt er das kategorial Neue des sich mit der Aufklärung herausgebildeten Geschichtsdenkens. In seiner Sicht habe Montesquieu versucht, die Schemata des Rationalismus um die aus Erfahrung gewonnenen Gesetzmäßigkeiten des politischen Lebens zu erweitern. Allerdings habe er sich verfangen in kontradiktorischen Zielsetzungen zwischen Staatszweck und Moral, in uneinheitlichen Prinzipiensetzungen zwischen Rationalismus und Realismus. Daraus ergebe sich im „Esprit des lois" eine mechanische, im Grunde hoch abstrakte Beschreibung von Herrschaftsformen. Mit Verwunderung konstatiert Meinecke die inneren Widersprüche der von Montesquieu vorgefundenen Kausalitätskette. Vor allem die Klimatheorie setze die causes physiques und die causes morales dogmatisch ineinander, und im Gesetzesbegriff würden beide durcheinandergewürfelt. Bei Montesquieu findet er den Beginn der Diltheyschen Ideen von einer Volksgeistlehre, die aber in der kombinatorischen Synthese eine bloß mechanische Lösung ergäbe. Wie schon die römische Geschichte, so sei auch die Durchdringung der Gesetze nicht mit historischen, sondern mit politischen Augen vorgenommen worden, die von einer staatsutilitaristischen Intention gelenkt wurden. Martin Göhring 29
Das Buch Göhrings über ein Stück Ideengeschichte des Ancien Régime einschließlich der Theorien, die in Frankreich der „modernen Staatsidee" den Weg geebnet haben - ist, wie der Verfasser versichert, vor Beginn des II. Weltkriegs im Manuskript fertiggestellt gewesen, aber erst 1946 in Druck gekommea Während Ipsens Aufsatz unbeachtet geblieben ist fand Martin Göhrings Darstellung Aufmerksamkeit, so daß er den Montesquieu-Abschnitt aus dem Buch nach einigen Jahren zu einem Vortrag umaibeitete und als Monographie vervollständigte30. Im Buch beschreibt Göhring Montesquieu als einen 29 1903-1968, Prof. für mittlere und neuere Geschichte in Straßburg, Stuttgart, Gießen, Gründungsdirektor des Instituts für Europäische Geschichte (Mainz). 30 Göhring, Martin, „Montesquieu: Historismus und modemer Verfassungsstaaf\ (Institut für europäische Geschichte, Vorträge Nr. 20), Mainz 1956.
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Aristokraten, der im Streit zwischen Krone und Parlamenten letzteren den Rücken kräftig gestärkt habe. Zuvor schon habe Laboureur die Parlamente als Nachfolger der Pairshöfe angesehen, die die Nation und ihre alte Verfassung repräsentierten. Montesquieu gab ihnen keinen so hohen Rang: er sah in ihnen „Zwischengewalten 4 in der Monarchie. Generalstände hatten weder bei Laboureur noch bei ihm einen Platz. Auch die am englischen Modell entwickelte Theorie der Gewaltenteilung war nicht für Frankreich gedacht; dagegen sprach Montesquieus Geschichtsauffassung und Gesetztheorie. Einem modernen Liberalismus, für den man seine Gewaltenteilungsdoktrin in Anspruch genommen hat, habe er „bewußt kaum dienen wollen". Seine cartesianisch beeinflußte Weltanschauung führte ihn auf die starke Gesetzmäßigkeit des Bestehenden (was von Göhring in dem Vortrag 1956 unter dem Stichwort des Historismus näher ausgeführt worden ist), und das habe ihn von Naturrechts- bzw. Vertragstheoretikern abgehoben. Das Buch „Vom Geist der Gesetze" sei nicht von ungefähr den Parlamenten zugute gekommen: Es seien die Richter an den Parlamenten gewesen, die Montesquieu vielfältig zitiert und im Konflikt zwischen der französischen Krone und der Magistratur „feinsinnig weiterentwickelt" hätten. Gustav Radbruch In einem Beitrag zur Festschrift für Rudolf Laun (1948) hat der große Rechtsdenker31 ein Jahr vor seinem Tod einige meisterliche ideengeschichtliche „Exkurse" zur „Natur der Sache als juristische Denkform" verfaßt. Er will darin Wege zur Entspannung des rigoristischen Dualismus von Sein und Sollen, Wirklichkeit und Wert, Neigung und Pflicht aufweisen - was ihm vor allem im Exkurs über Goethe und Schiller gelingt. Seinerechtswissenschaftliche These lautet, daß zwischen Natur der Sache und Naturrecht als Vernunftrecht ein geistesgeschichtlicher Gegensatz bestehe. Montesquieu stehe auf der Seite der „Natur der Sache", während Rousseau beim natürlichen Vernunftrecht positioniert sei. Montesquieu wirke mit seinem „Esprit des lois" „in der Theorie und der Praxis bahnbrechend"; denn er deduziere nicht, sondern schreite aus der historischen und nationalen Mannigfaltigkeit der Staats- und Rechtsordnungen induktiv voran. Damit habe er „der Historischen Rechtsschule" vorgearbeitet. Schlüsselbegriff dafür sei die „Natur der Sache". Natur meine ein Kausalverhältnis, aber ein solches, in das - da es um Politik gehe - immer auch normative Elemente eingeschlossen seien („Gesetze sind nicht nur [...] bestimmt, sie sollen sich auch [...] anpassea"). Radbruch glaubt, mit dem Zeugnis Montesquieus ein weiteres Argument für die Überwindung der scheinbaren Letztpositionen von Naturrecht versus Positivismus an der Hand zu haben.
31 1878-1949, Prof. fur Rechtsphilosophie an den Universitäten Kiel und Heidelberg, (1922-1933 Reichsjustizminister).
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Edgar Mass und Paul-Ludwig Weinacht Ernst Forsthoff
Die in zwei Bänden im Jahr 1951 erstmals erschienene Übersetzung des „Geistes der Gesetze" aus Forsthoffs 32 Feder ist noch immer die maßgebliche Quelle vieler seither erschienener deutscher Arbeiten zu Montesquieu. Schon 1948 hatte Forsthoff eine Würdigung des Hauptwerks Montesquieus aus Anlaß von dessen Erscheinen vor genau 200 Jahren vorgelegt, die er dann im wesentlichen als Einleitung seiner Übersetzung in den 1. Band übernimmt. Er verfolgte mit seiner Montesquieu-Übersetzung gerade so wissenschaftspolitische Ziele wie dies sein jüngerer Kollege von der Heydte tun sollte: Es ging nicht nur um „ein wissenschaftlich belehrendes Buch", sondern zugleich um einen „Traktat über das richtige verfassungspolitische Handeln". Forsthoff erinnert an diesem Punkt an Machiavell in der Interpretation von Hans Freyer: Man finde bei ihm „eindeutige Wertungen" und „das unüberhörbare Freiheitspathos". „Der mit der Vernunft und durch sie zum Siege geführte Säkularismus" sei in unseren Tagen aus guten Gründen suspekt geworden; doch man habe eine historische Mission zu erfüllen gehabt: Die Vernunft überwand die „Zerfleischung Europas im Zeichen einer falsch ansetzenden Religiosität, indem sie dem Säkularismus die Bahn brach." Montesquieu habe den Zusammenhang von Vernunft und Humanität gesichert und dürfe darum zu den „Helfern" gerechnet werden, „deren wir in den Wirrnissen bedürfen, die uns umgeben". Verfassungspolitisch bedeutsam sei, daß er eine Verfassungstheorie - und in ihr: die Lehre von der Gewaltenteilung - „auf der Grundlage eines konkreten Menschenbildes" entfalte: Für ihn seien „menschliche Eigenschaften verfassungspolitische Wirklichkeiten". Und eben darin sieht Forsthoff die zweite Hilfe, die uns Montesquieu gewähre: ein durch das 19. Jahrhundert technisiertes Verfassungsbewußtsein zu überwinden. Die dritte und noch bedeutsamere Hilfe für „unsere chaotische Situation" („Bodenlosigkeit unserer öffentlichen Ordnungen") ist die Art, wie Montesquieu seinen Gegenstand, die Regierungsformen, angeht und die unter dem Einfluß der positivistischen Wissenschaftsentwicklung aus der Verfassungstheorie ausgestoßen wurde, nämlich der „anthropologische(n) Urbefund aller politischen Assoziationen": die Wirtschaft (Staatswissenschaft), die Bewegungsmodalitäten innerhalb des sozialen Raumes (Soziologie), die räumlichen Bedingungen staatlicher Existenz (Ratzels Politische Geographie, Geopolitik), die Anthropologie, die Massenpsychologie. Erst zwischen den Weltkriegen sei über Carl Schmitts Verfassungslehre und Rudolf Smends Integrationslehre jener ältere Zusammenhang wiederhergestellt worden. Im Versuch der Wiederherstellung einer gegenständlichen Staats- und Verfassungslehre werde man hier wiederanknüpfen müssen, und dabei werde „auch Montesquieu eine neue Aktualität gewinnen". Darin lag also die Bedeutung Montesquieu für das theoretische und politische Verfassungsprogramm Forsthoffs und des Kreises, den er sich zurechnet, an dem die gegenwärtige Wissenschaftsgeschichte sich vor allem in - sagen wir: 32 1902-1974, Prof. für öffentliches Recht, Verfassungeschichte und Kirchenrecht, zuletzt an der Universität Heidelberg.
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ideologiekritischer- Absicht reibt. Wäre die Parsons sehe Weber-Rezeption in den USA nicht gewesen, würde diese Art von Vergangenheitsbewältigung wohl auch dem großen Max Weber wiederfahren. Friedrich August von der Heydte Seiner im Jahr 1950, ein Jahr vor der Forsthoffschen Ausgabe erschienenen Übersetzung ausgewählter Kapitel des „Geistes der Gesetze" stellte der damalige Münchner Privatdozent für Staatsrecht, von der Heydte33, eine weit ausgreifende dogmengeschichtliche Einleitung voran, deren letzter Abschnitt Montesquieus Bedeutung für die junge Bundesrepublik als „Lehrmeister des modernen Rechtsstaats" empfiehlt. Die Welt erlebe im Totalitarismus erneut die von Montesquieu geschilderte Despotie in grauenvoller Wirklichkeit. Der Gedanke der politischen Freiheit sei darum so nahe wie selten. Der Übersetzer zitiert bereitwillig die jüngste juristische Montesquieu-Literatur: angefangen bei Eberhard Schmidt (1947) über Gustav Radbruch (1948) bis Ernst von Hippel (1948), und er erwähnt sogar, daß vor einigen Jahren auch „so eigenwillige Denker wie Georges Sorel und Carl Schmitt [...] im Banne des großen Franzosen" ihre staatsrechtlichen Arbeiten geschrieben hätten. Gleichwohl gibt von der Heydte seiner Übersetzung auch den Anspruch mit, den historischen Montesquieu zu repräsentieren: „Je weiter die Zeit schreitet, desto weniger wird Montesquieu verstanden. Schlimmer noch. Er wird mißverstanden. Der Gedanke der Gewaltenteilung wird aus dem Zusammenhang herausgerissen, verabsolutiert und formalisiert." Die staatspolitische Bedeutung der Lehre der Gewaltenteilung sieht er darin, daß Montesquieu die beiden „wirksamsten" dieser politischen Kräfte (König, Stände) an je eine „ursprüngliche" Form staatlicher Tätigkeit anbinde, und sie so voneinander abhängig mache, „daß keine ohne die andere besteht". Die Judikative interpretiert er - im Sinne, wie Benjamin Constant den Ausdruck später einfuhren sollte - als „neutrale Gewalt". Oberhalb der staatlichen Gewalten stehe die ratio scripta, die nicht Ausfluß eines Willens (des Gesetzgebers), sondern der Vernunft (des Gesetzes) sei - was für die Stellung der Richter Folgen hat: sie seien „Diener der Wahrheit" und hätten sie „unbeeinflußt von allen politischen Kräften im Staat" zu finden. Von der Heydte steigert diesen Gedanken weit über das hinaus, was Montesquieu jemals für möglich gehalten hätte, was aber tatsächlich im Richterstaat Bundesrepublik Deutschland dann eingetreten ist: Da heute ein - verglichen mit dem monarchischen Absolutismus - nicht minder despotischer Absolutismus der parlamentarischen Mehrheit und der Parteiführungen aufgekommen sei, müsse darüber nachgedacht werden, „wie wir heute wieder zu einem Gesetz gelangen können, das ratio scripta, Wahrheit, ist und zu einem Richtertum, das dieser Wahrheit unabhängig dient, und wie wir die Freiheit des Einzelnen durch solches Gesetz heute ge-
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1907-1994, Prof. für öffentliches Recht an den Universitäten Mainz und Würzburg, Mitglied des Bayerischen Landtags.
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währleisten können." Es hätte nahe gelegen, daß die Nähe zum supreme court gesehen wird, aber von der Heydte bekennt sich zu einer engen Veibindung Deutschlands mit Frankreich und zur „Einheit des europäischen Geistes". Fritz Schalk Nach dem Studium in seiner Heimatstadt Wien34 (und in Deutschland) wird er Assistent in Hamburg, 1933 Professor in Rostock und 1936 in Köln. Er stand dem Nationalsozialismus jedoch fern: „Die Nazizeit hatte ihn wie so viele traumatisiert", betont Hausmann, der mit der gebotenen Diskretion seine Bedeutung für die akademische Romanistik untersucht hat.35 Schalk pflegte nachdrücklich auch den Kontakt mit emigrierten wie ausländischen Kollegen und entwickelte sich in der Bundesrepublik zum einflußreichsten romanistischen Wissenschaftsmanager. Er wurde als Ideengeschichtler bezeichnet und vertrat das Ziel einer leistungsorientierten, offenen Geisteselite, die ideologie- und dogmenfrei denkt und handelt. „Er sah sich als Schüler von Husserl, Heidegger und Cassirer, als Bewunderer von Dilthey, Max Weber und Scheler. Er trat für eine systematische, philosophische, interdisziplinäre und komparatistische Ausrichtung des Fachs ein." 36 Aber neben dem aus der Fachzeitschrift „Romanische Forschungen" und der Reihe „Analecta Romanica" bestehenden Netzweiken und der frühen „Einleitung in die Enzyklopädie der französischen Aufklärung" (1936) hat er kein monographisches Werk geschaffen. 37 Werner Krauss 38
Studium in München, Madrid und Berlin, Professur in Maiburg (1933), eingezogen zur Ausbilder von Dolmetschern (1940), engagiert im Widerstand gegen Hitler, verhaftet und verurteilt 39, nach dem Krieg Eintritt in die KPD, wieder Professor in Maiburg und Mitglied der Provisorischen Landesregierung 34
1902-1980, Romanist.
35
Hausmann, Frank-Rutger, ,3onner und Kölner Romanisten angesichts der nationalsozialistischen Machtergreifung im Jahr 1933. Zwei vergleichende Fallstudien". In: Literatur in der Gesellschaft. FS Theo Buck. Tübingen, Günther Narr, 1990, S. 269286. Ders., ,Aus dem Reich der seelischen Hungersnot. Briefe und Dokumente zur Fachgeschichte der Romanistik im Dritten Reich". Wüizburg, Königshausen & Neumann, 1993. Ders., „Fritz Schalk und die Romanistik in Köln von 1945 bis 1980", in: Deutsche Literaturwissenschaft 1945-1965. Hrsg. Petra Boden und Rainer Rosenberg. Berlin, Akademie-Verlag, 1997, S. 35-60, hier S. 56. 36
Ebd. S. 54.
37
Schwerpunkte seiner Arbeit waren die italienische Renaissance und der europäische Humanismus, das Goldene Zeitalter Spaniens und die französische Aufklärung. 38
1900-1976, Romanist, Schwerpunkte spanische und französische Literatur, besonders des Jahrhunderts der Aufklärung. 39 Nach Intervention von Fachkollegen wurde die zuerst verhängte Todesumgewandelt in eine Haftstrafe.
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Hessen. Er nimmt einen Ruf nach Leipzig an (1947), wird Mitglied der Deutschen Akademie der Wissenschaften in Berlin (ab 1958 als Leiter der Arbeitsgruppe zur Geschichte der Aufklärung, was sich als außerordentlicher Glücksfall fiir die deutsche Aufklärungsforschung erweist), der Sächsischen Akademie in Leipzig, wird auch Mitglied des Zentralkomitees der SED (bis 1951) und Professor an der Humboldt Universität Berlin (1951), wird politisch mit den höchsten Preisen geehrt. Hinter den kumulierten Ämtern zog sich Werner Krauss schon früh in eine hoch spezialisierte Forschung zurück, die nur teilweise noch als marxistisch galt. Mit seinen methodologisch-historiographischen Arbeiten „Literaturgeschichte als geschichtlicher Auftrag" und „Über den Anteil der Buchgeschichte an der literarischen Entfaltung der Aufklärung" (in „Sinn und Form" 1959 und 1960) setzte er eine Auseinandersetzung über den Historismus in der Literatur in Gang, die noch immer nicht beendet ist, und stellte die Lukacs'sche Basis-Überbau-Debatte grundsätzlich in Frage durch die Begründung der Eigenständigkeit der Literatur in ihrem medialen Kontext, vor allem mit ihrer Abhängigkeit von der großen kulturkritischen Diskussion, wie sie in den Periodika der französischen Aufklärung begonnen hatte. Ernst-Wolfgang Böckenförde Im dogmengeschichtlichen Teil seiner juristischen Dissertation über „Gesetz und gesetzgebende Gewalt" (1958) behandelt Böckenförde 40 die Lehre Montesquieus zwischen den Lehren von John Locke und von Rousseau. Montesquieu setze sich mit der Wirklichkeit des ancienregime auseinander. Das Gewaltenteilungskonzept sichere politische Freiheit insbesondere „eben erworbene Rechte und Freiheiten". Der Montesquieusche Gesetzesbegriff wird reich im Schrifttum belegt; Böckenförde zitiert neben Radbruch („Natur der Sache"), Georg Jellinek, Ernst Cassirer, Carl Schmitt („Die Diktatur"), Martin Drath, und definiert die scholastische „naturalis ratio" als „ein bloßes Vermögen, die Natur der Sache zu erkennen und daraus die entsprechenden normativen Folgerungen zu ziehen". Von Montesquieus Aussagen über die anderen beiden Gewalten sei zum Verständnis von Gesetz und Gesetzgebung nichts zu gewinnen. Desto ergiebiger erscheint das System der Gewaltenteilung als funktionales Ganzes, das der Sicherung und Balancierung des „Einflußraumes verschiedener Mächtegruppen" diene. (Robert v. Mohl sei dadurch davon abgehalten gewesen, dieses Lehrstück für die konstitutionelle Monarchie zu übernehmen, denn er fürchtete um die mühsam errungene Staatseinheit.) In Montesquieus politischer Theorie, so schließt Böckenförde, kämen als geistige Wurzeln zum Ausdruck die entwicklungsgeschichtlich-soziologische, die Martin Göhring beschrieben habe (von Ipsen kein Wort), und die cartesianische.
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Geb. 1930, Prof. für öffentliches Recht, Verfassungs- und Rechtsgeschichte, Rechtsphilosophie, Universitäten Heidelberg, Bielefeld, Freiburg, emerit. 1995, Richter des Bundesverfassungsgerichts 1983-1996.
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Hans Maier Der als Beitrag zur Festschrift von Helmuth Kuhn 1964 erstmals publizierte Habilitationsvortrag Maiers41 aus dem Jahr 196242 versteht sich als politikwissenschaftliche Abhandlung, so wie Maier dann auch später Montesquieu in die Reihe der „Klassiker des politischen Denkens"43 aufgenommen hat. Maier, der ein Geschichtsstudium hinter sich hatte, stellte sich mit dem Frageansatz von der „Tradition" her, in der Montesquieu stand, Anfang der 60er Jahre quer zu jener Rezeption, die sich darin gefiel, den Franzosen an die Wandlungen der Staatspraxis und des jüngeren Staatsdenkens anzupassea44 Maier wollte die gängige wiikungsgeschichtliche Zuordnung Montesquieus zur Französischen Revolution und seine anachronistisch anmutende Einbettung ins neuzeitliche Wissenschaftsverständnis relativieren. Und also stellt er in ihm einen Schriftsteller vor Augen, der die klassische Tradition wohl gekannt hat und dessen Weik sich besser erschließt, wenn es in der Nachgeschichte der abendländischen Rechtslehre und politischen Philosophie gelesen wird. Montesquieus „Traditionsbezug", so der Text des Vortrags, zeige sich im Gesetzesbegriff, in der Staatsformenlehre und in der mit ihr zusammenhängenden Gewaltenteilungslehre, jeweils freilich in verschiedener Stärke. Die Traditionsmomente werden teils unmittelbar aus der Bibliothek in La Brede (Aristoteles, Cicero, die christlich-philosophische Tradition), teils aus der Montesquieu-Literatur legitimiert zum Gesetzesbegriff etwa verweist der Autor auf die wenige Jahre früher ent41
Geb. 1931, Prof. fur Politikwissenschaft ab der Ludwig-Maximilians-Universität München, Inhaber des Guardini-Lehrstuhls an der L M U München, emeritiert 1999. Bayerischer Kultusminister 1970-1986. 42 Wiederabgedruckt in ders.,,Anstöße, Beiträge zur Kultur- und Verfassungspolitik". Stuttgart 1978, S.725 ff. 43
Maier, Hans / Denzer, Horst / Rausch, Heinz (Hrsg.), „Klassiker des politischen Denkens". München 1. Aufl. 1968. Der Beitrag über Montesquieu stammt von einem damaligen Schüler Maiers, Berthold Falk (Bd. II, S. 53-74), der - im Anschluß an R. Aron - die soziologischen Anteile am „Esprit des lois" stark betont. Theo Stammen, wissenschaftlicher Assistent Maiers und später Professor für Politikwissenschaft an der Universität Augsburg, übergab seinerseits die Bearbeitung des „Esprit des lois" an den Hamburger Fachkollegen Michael Hereth (Stammen, Theo / Riescher, Gisela / Hofmann, Wilhelm (Hrsg.), „Hauptwerke der Politischen Theorie" (Kröners Taschenausgabe, 379), Stuttgart 1997, S. 348-353); Hereth hatte gerade sein Buch „Montesquieu zur Einführung" (Hamburg, Junius, 1995) veröffentlicht. 44
Hier ist der große Strom der staatsrechtlichen Montesquieu-Rezeption gemeint, z. B. Imboden, Max, „Montesquieu und die Lehre von der Gewaltentrennung", Berlin 1959. Im vorliegenden Band weisen entsprechende Beiträge von Radbruch, von der Heydte, Böckenförde in diese Richtung; die Traditionslinie wird durch Historiker-Texte angedeutet (Göhring); sie wird erst jüngst in der Politikwissenschaft stärker rezipiert, vgl. dazu Böhlke, Effi, „Esprit de nation". Montesquieus politische Philosophie (Schriftenreihe des Frankreich-Zentrums der Technischen Universität Berlin), Berlin / BadenBaden 1999, dort Kap. I. 3 Antikes (S. 35- 46, mit Verweis auf Hans Maier).
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standene Habilitationsschrift E.-W. Böckenfördes (Gesetz und Gesetzgebende Gewalt 1958). Eindrucksvoll verfolgt Maier die „Störung" desrationalen Gesetzesbegriffs durch den naturwissenschaftlich determinierten Begriff (vgl. dazu unten „Panajotis Kondylis") und den daraus resultierenden Zwang der Vermeidung voluntativer Elemente im Gesetzesverständnis. Weitergehend sei Montesquieu Veränderungen in seiner Staatsformenlehre vom klassischen aristotelischen Schema abgewichen, aber die Richtung auf Polybios zu, die er einschlug, war ja „in der Tradition vorgezeichnet." Maier behant darauf, daß Montesquieus Staatsbegriff noch vor der Trennung zur Gesellschaft gelegen habe - was beachtliche Folgen für das Verständnis der Lehne von der Gewaltenteilung haben mußte (vgl. oben unter „Wilhelm Hasbach") - und daß das Gesetz für Montesquieu etwas war, das material an die Natur der zu regelnden Sachverhalte und an die ratio der Verfassung gebunden gewesen sei. In beidem sei Montesquieu „Politiker" im Sinn der Tradition, nicht moderner „Jurist" gewesen. Rudolf Vierhaus Der Beitrag45 zeigt neben der Breite der Rezeption Montesquieus in Deutschland (wie seiner Wirkung) zugleich die Lebhaftigkeit der Diskussion in der Öffentlichkeit des 18. Jahrhunderts; auf eine Erörterung der Frage, inwieweit sie nur literarisch oder doch auch politisch verstanden wurde, darf man verzichten. Vierhaus' Arbeit ging dem Paradigmenwandel der Geisteswissenschaften zur Rezeptionswissenschaft um ein weniges voraus46, wirkte außerordentlich anregend, und so folgte ihr in Kiel die Dissertation „Montesquieurezeption in Deutschland im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert" von Frank Herdmann47. Während Vierhaus ein breites Panorama entwickelte, dessen Schwerpunkte sich an der deutschen Bildungsgeschichte orientieren, war Herdmann bemüht darum, die Gesamtheit der publizierten Texte in den Griff zu bekommen - was in Anbetracht der Fülle der Druckwerke im 18. Jahrhundert ein utopisches Unterfangen bleiben mußte, jedoch manch angerissene Fragestellung weiterführte. So sind die Leipziger Kritikaster Johann August Ernesti und Johann August Bach Kollegen von Johann Christoph Gottsched. Einer ihrer Schüler war der Jurist Karl Ferdinand Hommel, der für Sachsens späteren Kurfürsten Friedrich August III. die Kronprinzenvorträge anhand der Texte seiner Lehrer hält, also dem
45 Geb. 1922, Prof. für Neuere Geschichte in Münster, Bochum, Göttingen, Direktor des Max-Planck-Instituts, Schwerpunkt auf der Geschichte Deutschlands (von der Sozialbis zur Kultur- und Verfassungsgeschichte) des 18. Jahrhunderts. 46
Als exemplarisch galt der von Hans Robert Jauss 1967/68 an vielen Universitäten Deutschlands vorgetragene und diskutierte Text „Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft", gedruckt 1970 in der edition suhrkamp (Frankfurt/M). 47
Hüdesheim 1990.
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denkbar politischsten Erziehungsgeschäft der Zeit nachgeht.48 Damit nimmt Hommel in Dresden die gleiche Funktion wahr wie Svarez in Berlin oder Beck in Wien49, wobei die Handlungsidentität mit Ort- und Zeitdifferenz verbunden ist: In Wien sitzt 1750 Christian August Beck, der spätere Erzieher Josephs II., mit Paul Joseph Riegger und Johann Heinrich Gottlob Justi in der Zensurkommission, die über den „Esprit des lois" befindet 50, bis Justi nach Göttingen geht. Die Montesquieu-Lektüren im 19. Jahrhundert sind von Vierhaus noch nicht bearbeitet worden und blieben den Forschungen anderer Autoren51 vorbehalten. Arnd Morkel 52
In Moikels Aufsatz geht es um einen politisch relevanten Aspekt der historisch eingebetteten Regierungslehre Montesquieus, die er - und hier beruft sich Moikel auf Klemperer 53 - mit starkem „politischen Trieb" aus der Geschichte der Staaten herausgezogen habe, nämlich um den Aspekt der Despotie. Dem Erkenntnisinteresse „politischer Theorie" entsprechend zielt Morkel auf Idealtypen von Regierungsformen einerseits, auf die Denkweise, mit der Theoretiker ihren Gegenstand verarbeiten, andererseits; diese Denkweise zeige sich im Fall der Despotie im Bemühen, eine konkrete Gefahr abzuwehren; sie sei nicht ins Asiatische abgeschoben, sondern werde mitten in Europa verortet: im monarchischen Absolutismus Frankreichs. Die Grundannahme Montesquieus dabei sei, daß politische Regime, wo immer sie existierten, einem Verfallsprozeß in Richtung auf Despotie ausgesetzt seien (was schon Forsthoff festgestellt hatte). Montesquieu setzt, wie man weiß, diesem „Hang" Vorkehrungen organisatori48 Polley, Rainer, „Die Lehre vom gerechten Strafmaß bei Karl Ferdinand Hommel und Benedikt Carpzow" Jur. Diss. Kiel, Darmstadt 1972, s. Herdmann (1972), S. 155-161. 49
Zu Beck s. Christian August von Beck, „Kern des Natur- und Völkerrechts zum Unterricht eines großen Prinzen entworfen". In: Recht und Verfassung des Reiches in der Zeit Maria Theresias. Die Vortrage zum Unterricht des Erzherzogs Joseph im Natur- und Völkerrecht, sowie im Deutschen Staats- und Lehnsrecht. Hrsg. Hermann Conrad. KölnOpladen, Westdeutscher Verlag, 1964. Dort finden sich auch die Stellungnahmen von Karl VI., Maria Theresia, Bartenstein, Kaunitz und Haugwitz zu den Vorträgen, S. 25121. Svarez wird von Vierhaus wie von Merten angeführt. 50 Klingenstein, Grete, „Staatsverwaltung und kirchliche Autorität im 18. Jahrhundert. Das Problem der Zensur in der theresianischen Reform". München, Oldenbourg, 1970. S. 161,171. 51
Dazu gehört die Arbeit von Uwe Wilhelm, „Der deutsche Frühliberalismus. Von den Anfängen bis 1789." (Frankfurt/M 1995). 52
Geb. 1928, Prof. für Politikwissenschaft, Präsident der Universität Trier (1975-
1987). 53 Klemperer, Victor, „Geschichte der französischen Literatur im 18. Jahrhundert". Bd. 1, Berlin 1954.
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scher Art entgegen: die Gewaltenteilung. Abschließend charakterisiert der Verfasser die Stellung des Montesquieuschen Despotiebegriffs in der Tradition und in der jüngeren Geschichte.54 Neu sei, daß Montesquieu - wie zuletzt von Raymond Aron beobachtet - als politischer Soziologe schreibe, traditionell sei, daß er dies mit starkem anthropologischem und politischem Interesse tue. Die Aktualität der Lehre von der Despotie bestehe darin, daß sie auf totalitäre Systeme des 20. Jahrhunderts, auf die Gefahr, die uns vom Despotismus noch immer drohe und auf die bereits von Montesquieu vorgenommene Zweiteilung der Regime in despotische und freiheitliche bezogen werden könne. Walter Kuhfuß Die begriffsgeschichtliche Forschung war Ende der 60er Jahre in Deutschland und darüber hinaus eine aufstrebende Teildisziplin55; es verwundert nicht, wenn damals an der Philosophischen Fakultät der Universität des Saarlandes eine Dissertation zur „Politischen Sprache und Theorie Montesquieus" geschrieben wird, die unter dem einprägsamen Titel „Mäßigung und Politik" 1975 in München erscheint (Reihe der Münchener Romanistischen Arbeiten, hg. v. Hans Sckommodau). Der Autor, Walter Kuhfuß, der als Philologe seinen Weg gegangen ist, blieb mit seiner akademischen Erstlingsschrift lange auf der Zitieriiste der Montesquieuforscher, weil er nicht nur eine gründliche philologische Arbeit vorgelegt hat, sondern sein Wortmaterial auch in vielerlei Verknüpfungen zu präsentieren verstand: sprachwissenschaftlich (Dieckmann, Geckeier, J. Schmidt), philosophisch (Althusser, H. Blumenberg, A. Mathiez), historisch (Göhring, Hölzle, Koselleck), politologisch (O. Flechtheim, Hans Maier, A. Morkel), soziologisch (R. Aron, Ν. Elias, J. Habermas), rechtswissenschaftlich (M. Imboden, Mirkine-Guetzévitch), literaturgeschichtlich (Launay und Mailhos, F. Schalk, Starobinski) u.a.m. Auch wenn die linguistische, ideengeschichtliche und literaturgeschichtliche Forschung weiter voranging und bei Kuhfuß die im Entstehen begriffene Cambridge-Schule noch nicht vorkommt, bleiben einige seiner Vorgaben und Resultate durchaus von Interesse: etwa seine Kritik des Forschungsansatzes, politische Widersprüche und begriffliche Unschärfen eher auf die Arbeitsweise des erblindenden Montesquieu oder auf philosophische Schwächen zurückzuführen als sie unter den Anspruch stringenter Theoriebildung und angemessener sprachlicher Ausdrucksweisen zu stellen. Unser Autor löst dieses „Zentralproblem" so: „die Ordnung des politi54 Zum gleichen Theme schrieb damals Hella Mandi eine politikwissenschaftliche Dissertation bei Wilhelm Hennis: „Tyrannisiere und Widertandsrecht. Studien zur deutschen politischen Theorie des 19. Jahrhunderts"; sie erschien 1974 (Darmstadt/Neuwied). 55
Die von Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck herausgegebenen „Geschichtlichen Grundbegriffe" begannen zu erscheinen, im Jahr der Publikation der Kuhfußschen Dissertation (1975) kam Band Π heraus. Zu denken ist aber auch an Fritz Schalks für Kuhfuß einschlägige romanische Wortstudien zu „Mediocritas" (Frankfurt/M 1966).
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sehen Bereichs [kann] trotz der in der Welt und in der Erkenntnisstruktur des Menschen angelegten Unverträglichkeit konträrer Phänomene garantiert werden" - nämlich vermittels des Begriffs der modération. Die Mäßigung bilde für Montesquieu mit all ihren Aspekten die Bedingung der Möglichkeit der Politik in der gegebenen Lage: dem Streben nach dauerhafter Ordnung trotz unverträglicher gegensätzlicher Interessea Begriffsstrategisch meint das: Montesquieu habe die Spannung, die sich auftut, wenn politische Sprache Herrschaft einerseits stabilisiert, andererseits aber auch kritisch auf sie zurückwirkt durch „das Paradigma der modération " gedämpft. Kuhfuß sieht daher in ihr den Schlüssel zum Verständnis des Zusammenhangs von sprachliche, Verhalten und politischer Theorie; seinen Hauptbeleg dafür gewinnt er aus der Terminologie der Staatsformenanalyse. Auch die Auslegung des Gewaltenteilungs-Dogmas interpretiert er durch den Zusammenhang zwischen Mäßigung und Verfassungsmischung: war hier bei Shackleton der Trennungsgedanke herrschend, so nun der Gedanke einer „ausgewogenen Mischung der einfachen Regierungsformen", der später - hier im Band durch den Schweizer Politologen Riklin (1999) vertreten - als „gewaltenteilige Mischverfassung" präsentiert wird. Detlef Merten Der Beitrag des Verwaltungswissenschaftlers 56 zeigt die konkrete Wirkung der Lektüren eines aufgeklärten, absolutistischen Herrschers auf seine Regierungspraxis. Anders als Katharina die Große legte Friedrich II. seinen Mitarbeitern nicht einfach sein Leseexemplar des „Esprit des lois" vor mit dem Befehl, die Theorie in nutzbare Paragraphen umzuformen, sondern er setzte sich mit dem Text auseinander und suchte selbst nach Lösungen bei der Gesetzgebungsarbeit.57 Als Verfassungswissenschaftler und Rechtshistoriker zeigt Merten in Friedrichs Tagesarbeit eine verblüffende Detailbezogenheit bei der Arbeit des obersten Dieners seines Staates am Recht auf, die - auch im Bewußtsein des Königs - geprägt wurde vom Willen, mit der Schaffung von Rechtssicherheit zum Wohle seines Volkes beizutragen, wobei er die Theoriekraft Montesquieus offensichtlich ebenso hoch wie die Rechtspraxis Frankreichs gering schätzte.
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Geb. 1937, Univ.-Prof. (und Rektor) der Verwaltungshochschule Speyer, organisierte zum 300. Geburtstag Montesquieus eine Tagung in Speyer („Gewaltentrennung im Rechtsstaat". Hrsg. Detlef Merten. Berlin, Duncker & Humblot, 1989) und ist zusammen mit Hans-Jürgen Papier Herausgeber des „Handbuchs der Grundrechte in Deutschland und Europa" (Bd I., Heidelberg, Müller, 2004). 57 Ein merkwürdiges Gerücht spricht immer wieder von einem Treffen des Königs mit dem Philosophen. Aber Montesquieu kam in (Nord-)Deutschland nur bis Wolfenbüttel, wo er sich mit seiner Unterschrift in der Bibliothek verewigte; in Potsdam oder Berlin war er nie, wie auch Merten betont.
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Panajotis Kondylis Schon in seiner großangelegten Monographie über „Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus" (Stuttgart 1981, 21986) hatte der Deutsch-Grieche Kondylis58 das denkerische Potential Montesquieus als Kulturhistoriker in dem Kapitel „Montesquieu zwischen Naturrecht und Determinismus" analysiert.59 Er hatte Meineckes Historismus-Aibeit vorgeworfen, daß er dort - offenbar aus „romantischer" Voreingenommenheit - das Motiv der materiellen Verwurzelung der Kulturen im Denken der Aufklärung verkannt hätte. Nur darum habe der Individualitätsgedanke für ihn „eine metaphysische (Wieder)Entdeckung" bleiben können. Kondylis hält entgegen, daß nicht nur der aufklärerische Normativismus, sondern auch der Naturalismus (Materialismus) ernst genommen werden müsse. Von hier ergebe sich eine empiristische Richtung der Geschichtsschreibung und -theorie, die eine skeptisch-pessimistische Haltung trage, von dort her eine „faktisch intellektualistische Betrachtungsweise", die von der normativ unberechenbaren Vielfalt des Sinnlichen abstrahiere und so zu einer optimistischen Einstellung gelange.60 Montesquieu habe ohne die innere Möglichkeit dafür zu prüfen - an beiden Richtungen teil, „um sowohl den normativen als auch den kausalen Aspekt der Gesetzesproblematik zu erfassen". Er gerate dadurch in Zweideutigkeiten, und diese im Blick auf den Gesetzesbegriff, das Naturrecht, das Naturgesetz und das Geschichtsverständnis darzustellen, ist der hier abgedruckten Text geschrieben. Die Auseinandersetzung mit der Sekundärliteratur läuft positiv auf Clostermeyers „Spannimgslagen in Montesquieus Esprit des lois"61 und negativ auf die französische Rechtsphilosophin Simone Goyard-Fabre zu, die Montesquieus rationale Grundposition teilt und der er die gleichen Simplifizierungen und Fehler vorwirft, deren Montesquieu sich selbst schuldig gemacht habe62. Kondylis' Analyse ist bis zuletzt Kritik unzulänglicher denkerischer Voraussetzungen - also Desillusionierung über den Aufklärungsgehalt normativ geleiteter Aufklärung. 63
58
1943-1998, Philosoph und Politologe, Privatgelehrter in Athen und in Heidelberg.
59
Kondylis (\9%6\ S. 4 5 M 5 8 .
60
Kondylis (1986), S. 432 f.
61
Clostermeyer, Claus-Peter, „Zwei Gesichter der Aufklärung". Berlin 1983.
62
Goyard-Fabre, Simone, „Montesquieu adversaire de Hobbes". Paris 1950; dies., „La philosophie du droit de Montesquieu". Paris 1973 (in Kondylis Aufklärungsbuch noch nicht berücksichtigt). 63
Kondylis wurde bislang in der Radikalität seines Ansatzes nicht verstanden, sondern nach Art von Geistes- und Literaturgeschichten des Aufklärungszeitalters rezipiert.
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Edgar Mass und Paul-Ludwig Weinacht Claudia Opitz 64
Der Beitrag bringt mit der Gender-Forschung einen neuen Aspekt in die deutschsprachige Montesquieu-Literatur, in der bisher kaum danach gefragt wurde, ob die Aussagen über die männlichen Subjekte der historisch-rechtlichen oder philosophisch-fiktionalen Schriften Montesquieus auch für die weibliche Hälfte der Menschheit zutreffen. Die internationale Forschung ist hier gespaltener Meinung, während dieser Beitrag einen engagiert-abgewogenen Diskurs führt. Alois Riklin Das Interesse des St. Galler Politikwissenschaftlers 65 an Montesquieu ist Teil seiner ideengeschichtlichen Arbeit an Gewaltenteilung und gewaltenteiliger Mischverfassung. 66 In ihrem Rahmen behandelt er auf eine denkbar undogmatische Weise das Montesquieusche Dogma - der Verfasser selbst nennt es ein „Modell" - , bezieht vergleichende Gesichtspunkte ein und lehrt dabei, Montesquieu einerseits besser zu verstehen, ihn andererseits angesichts von wirklichkeitsnäheren und praktikableren (älteren!) Modellen zu relativieren. Im vielzitierten 6. Kapitel des XI. Buches des „Geistes der Gesetze" legt er, indem er sie mehrfach konditioniert und dadurch widerspruchsfrei und durchgängig zielführend macht, vier Hauptregeln des Montesquieuschen Modells frei. Bis dahin war das Schema noch nie in dieser funktionalen Klarheit 67 formuliert worden. Vergleichsautoren sind im vorliegenden Text68 der Engländer James Harrington und 64
Geb. 1955, Prof. für Neuere Geschichte in Hamburg (1991), dann Basel (1994). In ihrer Dissertation behandelte die Verfasserin das Selbstbewußtsein von weiblichen Mitgliedern mittelalterlicher Orden („Weibliche Biographien des 13. Jahrhunderts zwischen Norm und Abweichung". Konstanz 1984), während ihre Habilitation in ähnlicher Präzision das soziale Gefüge aus nicht weniger engen Vorstellungen des französischen Offizierskorps vor und während der Revolution analysiert (,.Militärreformen zwischen Bürokratisierung und Adelsreaktion: das französische Kriegsministerium und seine Reformen im Offizierskorps von 1760 - 1790". Sigmaringen 1994). 65
Geb. 1935, als Dr. jur. Prof. für Politikwissenschaft an der Universität St. Gallen.
66
Vgl. Riklin, Alois, „Eine Erfindung gegen Machtmißbrauch. Geschichte der Mischverfassung". St. Gallen 2004. Ältere Arbeiten zum Thema: Nippel, Wilfried, „Mischverfassungstheorie und Verfassungsrealität in Antike und Früher Neuzeit". Stuttgart 1980. 67 Von philologischer Seite vgl. Walter Kuhfuß in seiner Saabriicker romanistischen Dissertation: „Mäßigung und Politik". München 1975; politikwissenschaftlich: Viktor Wember, „Verfassungsmischung und Verfassungsmitte". Berlin 1974. 68
Der hier abgedruckte Text entstand für ein interdisziplinäres Montesquieu-Symposium 1998 in Daun. Die Tagungsbeiträge sind veröffentlicht: Weinacht, Paul-Ludwig (Hrsg.), „Montesquieu. 250 Jahre Geist der Gesetze". Baden-Baden 1998. Ein ausführlicherer älterer Text Riklins zum Thema: „Montesquieus freiheitliches Staatsmodell. Die Identität von Machtteilung und Mischverfassung", in: PVS 30. Jg. (1989) S. 420-442.
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vor allem der Florentiner Donato Giannotti, den der Verfasser Montesquieu unumwunden vorzieht. Von dem erweiterten Befund her stellt Riklin die Frage, wie wohl die Verfassungsdebatte in den USA verlaufen wäre, wenn das Montesquieusche Modell vor dem Hintergrund Gianottis, der keine ständische, sondern republikanisch-demokratische Gewaltenbeteiligung vorsah, wahrgenommen worden wäre. Wenn auch das Modell gewaltenteiliger Mischverfassung von jewieligen ideologischen und situativen Voraussetzungen her changiere, so bleibe doch allemal das institutionelle Programm dasselbe: die Sicherung politischer Freiheit gegenüber dem tyrannischen System der Machtkonzentration. Gerhard Wagner 69
Der Text, den sein Autor ursprünglich in der Zeitschrift für Sozialforschung (1996) hatte erscheinen lassen („Transversale Vernunft und der soziologische Blick: Zur Erinnerung an Montesquieu"), ist ein dezidiert soziologischer Text. Er will Montesquieu für die Soziologie das Gewicht zurückgeben, das ihm in der von Durkheim gewählten Perspektive versagt geblieben sei. Dürkheims, von Spencer genährtes Interesse an Fortschritt und Entwicklung von Gesellschaften, das noch immer den Hauptstrom gegenwärtiger Soziologie bestimme, werde der Leistung Montesquieus nicht gerecht. Wagner sieht sie in der Beachtung der Besonderheit jeder gesellschaftlichen Formation.70 Montesquieu sei damit zum Begründer eines wissenschaftlichen Paradigmas geworden, in dessen Linie worauf schon Ernst Cassirer71 hinwies - Max Weber mit seiner Typenlehre, aber auch Georg Simmel stünden. Diese Soziologie könne auch heute noch Anspruch auf Geltung machen, insofern es um die Beachtung der vielen gesellschaftlichen Differenzen gehe, ohne deren Unterscheidung es unmöglich sei, die globalen Verflechtungen und also die Symbiose unserer kosmopolitischen Gegenwart zu erforschen. Um sich gegen den Vorwurf des Rückfalls in ein vormodernes Paradigma zu verteidigen, führt Wagner zwei Argumente an: zum einen Strukturähnlichkeiten zwischen den Epochen („Zwischenlage"), zum andern die Überwindung unserer eurozentrischen Denkweise, die noch den Begriffsimperialismus Luhmanns bestimme, die Montesquieu aber in seinen „Perserbriefen" bereits fiktional abgelegt habe, ohne die er seinen „Esprit des lois" nicht hätte schreiben können.
Im Überblick über den hier versammelten Ausschnitt von Lektüren Montesquieus und der damit einhergehenden Geschichte seiner Rezeption im Deutsch69
Geb. 1958, Soziologe an der Universität Frankfurt a. Main.
70
Hier kann Wagner an eine in der Politikwissenschaft gesehene Interpretationslinie anschließen, die bei Michael Hereth hervortritt, vgl. ders., „Montesquieu zur Einführung". Hamburg 1995 S. 182 f. 71
Cassirer , Emst, „Die Philosophie der Aufklärung". Tübingen 1932.
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Edgar Mass und Paul-Ludwig Weinacht
land des 20. Jahrhunderts wird die europäische Statur72 dieses französischen Klassikers der Politischen Theorie evident. Nach wie vor fasziniert die Vielfalt der Zugänge zu seinem Werk, insbesondere zu seinem Hauptwerk „Vom Geist der Gesetze". Die Einzelwissenschaften, die sich mit ihm befaßten, haben jeweils andere Bezüge sichtbar gemacht, die sich in der Rezeption erweitern und vermehren. Was immer die juristische Dogmengeschichte an Stilisierungen hervorgebracht hat, wird durch ideengeschichtliche, rechtsgeschichtliche, literarische, soziologische Interpretationen die auf der Grundlage der Texte selbst stattfinden 73, aufgelöst. Und doch ist das „Axiom Montesquieu" nicht minder rezeptionsgeschichtlich von Interesse: denn politischer Streit ist, wo er existenziell wird, stets auch ein „Kampf um Worte" (C. Schmitt).
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Europäisch sind auch die wichtigsten neuen Hilfsmittel zur Erforschung von Autor und Werk. Das gilt zum einen für die Neuausgabe der „Œuvres complètes de Montesquieu" bei der Voltaire Foundation in Oxford (seit 1998), zum anderen für die Fortsetzung der Cabeen-Bibliographie durch Louis Desgraves , sein „Répertoire des ouvrages et des articles sur Montesquieu" (Genf, Droz, 1988), sein Verzeichnis des Fonds La Brede, Montesquieus legendäre Manuskriptsammlung aus seinem Schloß („Inventaire des documents manuscrits des fonds Montesquieu de la Bibliothèque municipale de Bordeaux*'. Genf, Droz, 1998), schließlich von demselben Autor die „Chronologie critique de la vie et des œuvres de Montesquieu" (Paris, Champion, 1998). Von Louis Desgraves stammt auch die jüngste Biographie in deutscher Sprache (Frankfurt/M, Societäts-Verlag, 1992). 73 Im vorliegenden Band haben die Herausgeber zwar auf die aktuell richtige Schreibung von Eigennamen in den Artikeln geachtet, aber nicht in jedem Fall (der Text von Göhring bildet die einzige Ausnahme) den Forschungsstand kommentierend eingearbeitet.
Ist Montesquieu ein Anhänger der Lehre von der Volkssouveränität? Wühelm Hasbach (1911) Nicht gering ist anscheinend die Zahl deijenigen, welche glauben, daß Montesquieu und Rousseau in den wichtigsten Lehren miteinander übereinstimmen: Rousseau bekenne sich zur Teilung der Gewalten wie Montesquieu, und Montesquieu zur Volkssouveränität, wie Rousseau.1 Am uneingeschränktesten scheint diesen Gedanken Kowalewsky in seinem Werke über den Ursprung der modernen Demokratie ausgesprochen zu haben; ich sage: er scheint, denn das in keine mittel- oder westeuropäische Sprache übersetzte Buch kenne ich nur aus Anführungen in den Schriften anderer Verfasser. Aber auch in der deutschen Literatur fehlt es wenigstens nicht an Behauptungen, daß Montesquieu im Grunde ein Vertreter der Lehre von der Volkssouveränität sei. In einem geistvollen, von schneidendstem Pessimismus erfüllten Aufsatze, den „Die Zukunft" am 12. Februar 1898 unter dem Titel „Der Parlamentarismus, wie er geworden ist" brachte, heißt es: „Gibt man sich einmal die Mühe, in Montesquieus „Esprit des lois" das seltsame Kapitel nachzulesen, in dem die vermeintlich in den germanischen Urwäldern des Tacitus entstandene englische Verfassung französisch doktrinär zurechtgelegt wird, so ist man erstaunt, wie einfach im Grunde unter einer unnützen Menge wesenloser Abstraktionen von Gewaltenteilung, Balancement der Kräfte, staatlicher Exekutive usw. der Gedanke demokratischer Volkssouveränität die gesamte Ausführung trägt und verständlich macht. Dieweil es offenbar die fundamentalste Voraussetzung individueller Freiheit ist - so etwa deduziert Montesquieu an der Stelle, wo er anscheinend nur die beste Art der Verteilung der Gewalten rechtfertigen will - , daß der freie Mensch sein eigener Herrscher ist, so muß ein freies Volk im Besitz der gesetzgebenden Gewalt sein. Mit dem unbegrenzten Begriff der dem peuple en corps zugewiesenen gesetzgebenden Gewalt ist aber der vollste Inbegriff staatlicher Allgewalt bereits erschöpft, und wer prinzipiell oder tatsächlich die Prärogative dieser unbeschränkten Gewalt inne hat, der ist der eigentliche Souverän des Staates". Der Verfasser dieses Aufsatzes war der Reichsgerichtsrat Otto Mittelstädt. Auch Jellinek sagt in seinem ausgezeichneten Werke „Allgemeine Staatslehre": „Nicht minder aber steht die in England mit Thomas Smith und Hooker beginnende, in Locke und Montesquieu zur Blüte gedeihende konstitutionelle Theorie bis auf Sieyès und B. Constant herab auf dem Boden der Lehre von der denknot1 Der erste, der meines Wissens diese irrtümliche Behauptung auf Grund mißverstandener Stellen aufgestellt hat, ist Janet , Paul, „Histoire de la Science Politique". 3. Α. 1887.
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wendigen ursprünglichen Volkssouveränität". (S. 452, 2. A.) Und Gierke schreibt in seiner „Johannes Althusius" gewidmeten Monographie: „Die Herkunft der Doktrin Montesquieus aus der Volkssouveränitätslehre zeigt sich namentlich noch in dem Satze, daß die gesetzgebende Gewalt an sich Kraft der Natur der Sache dem „peuple en corps" zusteht und nur in Repräsentation desselben vom legislativen Körper geübt wird." (S. 187, Anm. 186, 2. A. Vgl. auch S. 222.) Diese Behauptungen versuche ich auf den folgenden Seiten zu widerlegen. I. Was bringt Jellinek zum Beweise seiner Behauptung, soweit sie sich auf Montesquieu bezieht, vor? Nur dies: „Hatte doch vor Rousseau bereits Montesquieu in der gesetzgebenden Gewalt die volonté générale eiblickt." Dieser Satz wird unter dem Striche belegt mit folgender Anmerkung: „Esprit des lois" XI, 6, „n'étant, l'un [sc. le pouvoir législatif] que la volonté générale, et l'autre, que l'exécution de cette volonté générale". Jellinek setzt folglich die volonté générale Rousseaus gleich der volonté générale Montesquieus. War er dazu berechtigt? Zur Beantwortung dieser Frage müssen wir die angezogene Stelle im Zusammenhang mit den vorhergehenden Ausführungen interpretieren. Montesquieu hebt hervor, daß dierichterliche Gewalt sich einzelnen Personen fühlbar macht, weshalb ihre Befugnisse nicht einem ständigen Gerichtshofe verliehen werden sollten, sondern einzelnen Personen, „tirées du corps du peuple, dans certains temps de l'année, de la manière prescrite par la loi, pour former un tribunal qui ne dure qu'autant que la nécessité le requiert." Anders sei es mit der gesetzgebenden und ausführenden Gewalt: „les deux autres pouvoirs pourraient plutôt être donnés à des magistrats ou à des corps permanents, parce qu'ils ne s'exercent sur aucun particulier, n'étant l'un que la volonté générale de l'État, et l'autre, que l'exécution de cette volonté générale." Was stellt Montesquieu also hier gegenüber? Den besonderen Staatswillen, der inrichterlichen Entscheidungen einzelne trifft, und den allgemeinen Staatswillen, dem alle unterworfen sind. Was versteht dagegen Rousseau unter volonté générale? Den die Allgemeinheit fördernden Einheits- oder Mehrheitswillen des souveränen Volkes im Gegensatze zu dem Willen aller, der nur einzelnen Interesseu dienlich ist, aber die Allgemeinheit schädigt. „II y a souvent bien de la différence entre la volonté de tous et la volonté générale; celle-ci ne regarde qu'à l'intérêt commun, l'autre regarde à l'intérêt privé." (Contrat Social II 3). So scheint mir denn, daß der Gleichklang der Worte „volonté générale" keine Gleichsetzung der von ihnen bezeichneten Begriffe rechtfertigt. Und ich möchte die Frage stellen, ob Rousseau damit einverstanden wäre, daß die Offenbarung der „volonté générale" übertragen würde „à des magistrats ou à des corps permanents". Zweitens. Vielleicht wäre seine, wie mir scheint, irrtümliche Auffassung im Keime erstickt worden, wenn Jellinek die Worte, die bei ihm fehlen, sich aber
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bei Montesquieu finden, hinzugefügt hätte: [La volonté générale], de l'État. Nicht Volkswillen, sondern Staatswillen! Die Gesetzgebung drückt stets den Staatswillen aus, aber der Staatswille ist nicht stets der Volkswille. Nach Montesquieu gibt es verschiedene Staatsformen, es muß daher auch der Staatswille in ihnen in verschiedener Weise gebildet werden. In dem elften Buche, in dem die angezogene Stelle steht, handelt er von dem konstitutionellen Staate, der drei gesetzgebende Faktoren aufweist; das Unterhaus als Vertretung des Volkes, das Oberhaus, die Krone. Montesquieu sagt nirgendwo, was er doch sagen könnte, wenn die Behauptung Jellineks richtig wäre, daß Montesquieu ein Vertreter der Lehre von der Volkssouveränität sei, - er sagt nirgendwo; daß die Beschlüsse des Unterhauses für sich die „volonté générale de l'État" darstellten, sondern diese äußert sich nach ihm stets als ein Beschluß, der durch die Übereinstimmung der drei gesetzgebenden Faktoren zustande kommt. Jellinek bringt die Meinung Montesquieus, treffend mit folgenden Worten zum Ausdruck: „Die Ausübung des Vetos ist ihrer Natur nach kein Akt der Vollziehung, sondern bedeutet, auch in der Weise, wie sie Montesquieu sich denkt, einen Anteil an dem Prozeß der Gesetzgebung, wie ja auch eine gegen die Beschlüsse der anderen stimmende Kammer Gesetzgebimg übt. Das erkennt Montesquieu selbst an, wenn er von dem Veto des Oberhauses bei Geldbewilligungen sagt, daß es „n'ait de part à la législation que par sa faculté d'empêcher" (a. a. 0. S. 589 Anm.) Würde sich auch Rousseau zu dieser Auffassung haben bekennen können? Es ist ganz undenkbar, er kennt nur den ungebrochenen, einheitlichen Volkswillen, dem kein anderer Wille gegenübertritt, der mit keinem anderen Willen ein Kompromiß abzuschließen braucht. Eine dritte Betrachtung bestätigt das Ergebnis der beiden vorhergehenden. Wäre Montesquieu ein Anhänger der Lehre von der Volkssouveränität, dann müßte es in den Büchern, die von der Demokratie handeln, klar zutage treten; hier müßten wir unzweideutig ausgesprochen finden, daß der Wille des Volkes in allen Staatsformen, nicht nur in der Demokratie, die volonté générale de l'État sei. Aber in diesen Büchern kommt nicht einmal dieser Ausdruck vor. Er sagt dort nur: „Lorsque, dans la république, le peuple en corps a la souveraine puissance, c'est une démocratie." Und: „le peuple qui a la souveraine puissance doit faire par lui-même tout ce qu'il peut bien faire, et ce qu'il ne peut pas bien faire, il faut qu'il le fasse par ses ministres." (Livre II, chap. 2). Er spricht dort dreimal von dem Willen des Volkes; das Wort volonté générale de l'État findet sich dort gar nicht. Die Stellen lauten: „II [le peuple] ne peut être monarque que par ses suffrages, qui sont ses volontés. La volonté du souverain est le souverain lui-même." So am Anfang des 2. Kapitels; und am Schlüsse: „Les arrêts du sénat avaient force de loi pendant un an: ils ne devenaient perpétuels que par la volonté du peuple." Mit allen diesen Worten wird aber nicht die Lehre von der Volkssouveränität ausgesprochen, es werden Tatsachen konstatiert; in Demokratien ist das Volk wirklich der Souverän. Der Begriff „Volkssouveränität" umschließt aber mehr, nämlich den Gedanken, daß das Volk das Recht auf Souveränität habe, darauf,
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daß sein Wille ausschließlich Geltung im Staate habe und daß alle anderen etwa vorhandenen gesetzgebenden Faktoren (Oberhaus, Krone) entweder abgeschafft werden oder sich ihm fugen müßten. Das aber sagt Montesquieu nicht. Viertens. Wenn Montesquieu ein Vertreter der Lehre von der Volkssouveränität wäre, die alle Staatsformen nur als verschiedene Erscheinungsformen der Volkssouveränität betrachtet (wie nicht nur Rousseau, sondern auch Locke, Althusius u. a. behaupten), dann müßte er der Aristokratie und der Monarchie die Souveränität absprechen. Das tut aber Montesquieu nicht. Die Aristokratie definiert er so: „Dans l'aristocratie, la souveraine puissance est entre les mains d'un certain nombre de personnes." (L. 11, chap. 3). Und: „J'ai dit que la nature du gouvernementrépublicain est que le peuple en corps, ou de certaines familles, y aient la souveraine puissance; celle, du gouvernement monarchique, que le prince y ait la souveraine puissance, mais qu'il l'exerce selon des lois établies; celle du gouvernement despotique, qu'un seul y gouverne selon ses volontés et ses caprices." (L. Ill, ch. 2.) Fünftens. Alle diejenigen Politiker, welche die Lehre von der Volkssouveränität vortragen, suchen sie damit zu begründen, daß die Menschen vor der Einrichtung des Staates in einem Zustande der Gleichheit und Freiheit gelebt hätten, dem dann wegen der mit ihm verbundenen Unzuträglichkeiten der Staatsvertrag gefolgt sei, der zwar ihre ursprüngliche Freiheit und Gleichheit beschränkt, aber nicht aufgehoben habe usw. Wie notwendig diese Konstruktion war, beweist die Tatsache, daß, nachdem Hume in seiner berühmten Abhandlung „On the original contract" (1755) diese Fiktion beseitigt hatte, noch an ihr festgehalten wurde, obwohl man sie als ein geschichtliches Ereignis nicht mehr vorzutragen wagte. Mit besonderer Schärfe erkennt man es aus Rousseaus Schriften. Wie genau weiß er im „Discours sur l'origine de l'inégalité parmi les hommes" (1754) über die Entwicklung der Menschheit Bescheid, und wie resigniert erklärt er im „Contrat Social" (1762) „Comment ce changement s'est-il fait? Je l'ignore"! Trotzdem glaubt er erklären zu können, was ihn légitime machen könne - auf Grund der überwundenen Voraussetzungen.2 Von allen diesen Vorstellungen und Begriffen findet sich bei Montesquieu nichts, ein Beweis, wie sehr er seiner Zeit voraus war. Sein Naturrecht ist dasjenige der römischen Juristen, und er anerkennt nur eine sittliche Anlage, ohne die das Dasein des Rechtes psychologisch unerklärbar wäre. (L. I und L. XXVI). Allein ich habe in den Untersuchungen über Adam Smith (S. 308-310) so ausführlich über das Naturrecht Montesquieus gehandelt, daß ich der Kürze halber auf sie verweise. 2
Und Kant. „Der Act, wodurch sich das Volk selbst zu einem Staate constituirt, eigentlich aber nur die Idee desselben, nach, der die Rechtmäßigkeit derselben allein, gedacht werden kann, ist der ursprüngliche Kontrakt, nach welchem alle (omnes et singuli) im Volk ihre äußere Freyheit aufgeben, um sie als Glieder eines gemeinen Wesens [...] sofort wieder aufzunehmen." „Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre". 2. Aufl. Königsberg 1798, S. 198 (§ 47).
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Aus diesen Gründen ist es mir unmöglich, der Meinung Jellineks beizupflichten. Noch mehr tritt der Widerspruch zwischen der Weite der Folgerungen und der engen Prämisse, einer falsch interpretierten Stelle, bei Gierke hervor; es ist dieselbe, wie der Leser bemerkt haben wird, die Mittelstädt zu einer unfreundlichen Kritik Montesquieus gedient hat. Der Beweis für diese Auffassung wird sich leichter führen lassen, wenn wir Montesquieus Ausführungen über die Freiheit kennen. (L. XI, ch. 2-4.) Sie bilden die Einleitung zu dem Kapitel über die Konstitutionelle Monarchie. Π.
Das zweite Kapitel des elften Buches ist bisweilen ironisch, bisweilen schalkhaft. Montesquieu zählt die Bedeutungen auf, die das Wort Freiheit habe und gehabt habe. Einige hätten darunter die Leichtigkeit verstanden, ihre tyrannischen Fürsten abzusetzen, andere das Recht, bewaffnet zu erscheinen oder einen langen Bart zu tragen usw.; gewöhnlich verlege man sie in die Republiken und man schließe sie von den Monarchien aus,3 da man in den Republiken nicht immer so klar die Werkzeuge der Übel vor sich sehe, über die man sich beklage. „Endlich", fahrt er fort, „da in den Demokratien das Volk ungefähr das zu tun scheint, was ihm behebt, so hat man die Freiheit in diesen Arten von Regierungen gefunden, und man hat die Macht des Volkes mit der Freiheit des Volkes verwechselt." Es sei wahr, daß in den Demokratien das Volk zu tun scheine, was ihm beliebe, so beginnt das dritte Kapitel: „Aber die politische Freiheit besteht keineswegs darin, daß man tut, was einem beliebt. In einem Staate, das heißt in einer Gesellschaft, wo es Gesetze gibt, kann die Freiheit nur darin bestehen, daß man tuen kann, was man wollen darf, und daß man nicht gezwungen wird zu tuen, was man nicht wollen darf. Man muß sich über den Unterschied von Unabhängigkeit und Freiheit klar werden. Die Freiheit ist das Recht, alles tun zu dürfen, was die Gesetze gestatten; und wenn ein Bürger tun könnte, was sie verbieten, dann hätte er keine Freiheit mehr, weil die anderen dieselbe Macht hätten." Nachdem er in so klarer Weise den Begriff der Freiheit entwickelt hat, spricht er im vierten Kapitel die ernsten schwerwiegenden Sätze aus, die wir am besten in der Ursprache folgen lassen: „La démocratie et l'aristocratie ne sont point des États libres par leur nature. La liberté politique ne se trouve que dans les gouvernements modérés." Aber auch hier fände sie sich nur, wenn die Gewalt die Gewalt zügele. Dies führt ihn dann zu dem sechsten Kapitel hinüber, in dem er das Prinzip der Gewaltenteilung entwickelt, deren Dasein die konstitutionelle Monarchie zu einem freien Staatswesen macht. Welche Erfahrungen veranlassen ihn, über Demokratie und Aristokratie ein so herbes Urteil auszusprechen? Es sind die in den antiken Demokratien geübte Vergewaltigung und Ausplünderung, die der Bürger einer modernen Demokra3
Wie noch heute unsere demokratischen Zeitungen: Demokratie = Freistaat.
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tie, Jakob Burckhardt, so eindrucksvoll in seiner Griechischen Kulturgeschichte geschildert hat, es ist die Unsicherheit des Lebens in den modernen italienischen Republiken, insbesondere in Venedig.4 In solchen Staaten kann sich keine freie Seele bilden, die zur Gesetzgebung ein furchtloses, unabhängiges Urteil mitbrächte. In der konstitutionellen Monarchie dagegen, die einfreier Staat ist, wo die „gens distingués par la naissance, lesrichesseset les honneurs44 das Recht haben, eine besondere gesetzgebende Körperschaft zu bilden und so der Gefahr entgehen, daß „la liberté commune serait leur esclavage44, und wo außerdem die Krone die sich gegenseitig zügelnden Körper beschränkt, dort darf man von jedem eine freie, unabhängige Seele erwarten, dort dürfte man jeden unmittelbar an der Gesetzgebung teilnehmen lassen, aber diese persönliche Anteilnahme (in den durch die Verfassung gesteckten Grenzen) ist in großen Staaten tatsächlich unmöglich, und selbst in kleinen bringt sie viele Unzuträglichkeiten mit sich, weshalb es zweckmäßig ist, an die Stelle der direkten Gesetzgebung diejenige durch Vertreter zu setzen. Das ist meines Erachtens der Sinn jener Stelle, aus der Gierke und Mittelstädt das Prinzip der Volkssouveränität hervorblicken sehen. Doch der Leser mag die Worte Montesquieus vor sich zu sehen wünschen. Sie lauten: „Comme dans un État libre tout homme qui est censé avoir une âme libre doit être gouverné par lui-même, il faudrait que le peuple en corps eût la puissance législative; mais comme cela est impossible dans les grands États, et est sujet à beaucoup d'inconvénients dans les petits, il faut que le peuple fasse par ses représentants tout ce qu'il ne peut faire par lui-même.'4 Wer diese Stelle wie Gierke und Mittelstädt erklärt, mutet Montesquieu diesen Widerspruch zu: Die konstitutionelle Monarchie nennt er einen freien Staat, weil die Volkssouveränität nicht besteht, weil Oberhaus und Krone den Willen des Volkes beschränken; andererseits aber fordert er, daß in freien Staaten der Wille des Volkes ausschließlich gesetzgebende Kraft habe, also auch den Willen anderer gesetzgebender Faktoren ausschließt. Man übersetzt da „peuple en corps44 etwa mit Nation, souveränes Volk, was aber keinen Sinn gibt, es heißt hier: Jeder aus dem Volke s Weil ein Freier sich selbst regieren soll, deshalb 4
Die Zustände in den italienischen Republiken sind bekannt, der Inhalt des Burckhardtschen Werkes läßt sich nicht in wenige Zeilen zusammendrängen, aber folgende Schilderung ersetzt eine Inhaltsangabe in etwa durch dichterische Anschaulichkeit. „Du, als ein gemeiner Bürger, besuchst die Volksversammlung und tyrannisierst die Reichen: sie hingegen zittern und fürchten sich vor dir und suchen dich durch Geschenke aus dem öffentlichen Schatze bei guter Laune zu erhalten. Denn daß Du Bäder, Kampfspiele und Schauspiele zur Genüge habest, dafür lässest Du ganz sie sorgen: Du hingegen sitzest ihnen immer auf dem Nacken, tadelst sie aufs strengste, wenn sie Dir's nicht recht machen und spielst, mit einem Worte, den Herrn, würdigst sie oft kaum eines guten Wortes, oder belohnst sie auch wohl gar, wenn's Dir beliebt, mit einem tüchtigen Hagel von Pflastersteinen und confiscirst ihr Vermögen.44 Luci an, „Der Hahn". 5
Vgl. Peschier, A, „Wörterbuch der französischen und deutschen Sprache44. 2. A. 1870,1. S. 148 unter Corps, 5. Le Parlement, l'académie (y assista) en corps, das gesamte Parlament, die sämtlichen Mitglieder der Akademie.
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sollte jeder Gesetzgeber sein. Übersetzen wir es so, dann ist auch der Zusammenhang mit dem Folgenden deutlich ersichtlich. Daß jeder direkt an der Gesetzgebung teilnimmt, ist unmöglich oder unzweckmäßig, weshalb eine Vertretung eingerichtet werden muß. Interpretiert man aber die Stelle: das souveräne Volk sollte die Quelle der Gesetzgebung sein, dann ist der logische Fortgang der Gedanken unterbrochen, weil Volkssouveränität und Repräsentation für Montesquieu keine Gegensätze bilden, wie sein Kapitel über die Demokratie genügend beweist. Erst bei Rousseau, dessen „Contrat Social" 14 Jahre nach dem „Esprit des Lois" erscheint, sind sie es. Die Richtigkeit dieser Auffassung wird auch durch Folgendes bestätigt. Wäre Montesquieu ein Vertreter der Lehre von der Volkssouveränität, dann müßte er in den Kapiteln über die Demokratie fordern: gleiche Teilnahme eines jeden an der Gesetzgebung; tatsächlich empfiehlt er ein Klassenwahlrecht und die Belehrung der unteren durch die höheren Klassen. Wir werden es im folgenden Abschnitte in einem anderen Zusammenhange darlegen.
m. Zwei aus dem Zusammenhang gerissene Stellen, die nur einen ganz unbedeutenden Teil seiner Lehren ausmachen, sollen beweisen, daß auch Montesquieu die Lehre von der Volkssouveränität vortrage. Für einen Beweis ist es wenig. Auf einigen wissenschaftlichen Gebieten mag so wenig viel sein. Die Quellen über die Geschichte des Altertums und die Urgeschichte moderner Völker fließen so spärlich, daß es nicht zu vermeiden ist, wenn Geschichtsschreiber auf schmalem, unsicherem Fundamente hochragende Gebäude auffuhren; an die wunderbare Speisung der Fünftausend zu denken, kann man sich da nicht enthalten. Aber kein Werk Montesquieus ist verlorengegangen, sie liegen in zahlreichen Ausgaben vor. Und dann hat er sich in dem ersten Buche ganz klar über seine wissenschaftlichen Zwecke ausgesprochen. Er faßt bestimmte Faktoren als gegebene Größen auf, so auch Demokratie, Aristokratie, Monarchie; welche positive Gesetze sich gleichsam an sie ankristallisieren, das untersucht er, aber es liegt ihm ferne, naturrechtliche, rechtsphilosophische Betrachtungen über sie, etwa über die Volkssouveränität, wie Rousseau, anzustellen. Dieser Charakter seines Werkes mag auch zu geringschätzigen Urteilen über ihn veranlaßt haben.6 Ich leugne nicht, daß Montesquieu und Rousseau in vielen Punkten übereinstimmen, aber nicht in den grundlegenden staatsrechtlichen Lehren. Rousseau strebte offenbar nach einer Synthese des natumechtlichen Absolutismus mit dem positivrechtlichen Relativismus, wie er von Montesquieu vertreten wurde; auch Adam Smith hat eine solche Auseinandersetzung im „Wealth of Nations" durch-
6 Vgl., wie Liepmann, „Die Rechtsphilosophie des Jean Jacques Rousseau'4, ihn einschätzt.
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gefuhrt und in größerem Umfange geplant.7 Auf dem überall gleichen idealen Unterbau der Volkssouveränität errichtet Rousseau einen Überbau, in dem der Geist realistischer Staatsweisheit allen Verschiedenheiten staatlicher Organisation gerecht zu werden sucht. Daher die häufig ausgesprochene Verwunderung, wie imbefangen der doktrinäre Staatsphilosoph die tatsächlichen Verhältnisse beurteilt, daher die nicht gerade seltene Übereinstimmung zwischen ihm und Montesquieu - auf diesem Gebiete. Ähnlichkeiten dieser Art kann ich nur an einem Beispiel verdeutlichen; ich erinnere flüchtig an ihre Ausführungen über die Demokratie. Montesquieu betrachtet es als ein charakteristisches Merkmal der Demokratie, daß die großen Gesetzgeber das Volk in verschiedene Klassen teilen und er bewundert es an Servius Tullius, daß dieser das Stimmrecht sehr weise verteilt habe; „En mettant les riches, mais en plus petit nombre, dans les premières centuries; les moins riches, mais en plus grand nombre, dans les suivantes, il jeta toute la foule des indigents dans la dernière: et chaque centurie n'ayant qu'une voix, c'étaient les moyens et lesrichessesqui donnèrent le suffrage plutôt que les personnes." (Das ist eine Befürwortung des Prinzips des Dreiklassenwahlrechtes.) Er tritt auch für die öffentliche Stimmabgabe in der Demokratie mit dieser merkwürdigen Begründung ein, daß die unteren Klassen von den oberen aufgeklärt und durch deren Würde in Schranken gehalten werden müßten: „Sans doute que, lorsque le peuple donne ses suffrages, ils doivent être publics; et ceci doit être regardé comme une loi fondamentale de la démocratie. Il faut que le petit peuple soit éclairé par les principaux, et contenu par la gravité de certains personnages." (L. II, ch. 2) Rousseau nimmt keinen Anstoß daran, daß in seiner Vaterstadt Genf von den vier oder fünf Klassen der Bevölkerung nur zwei an der Gesetzgebung Anteil haben und er hat kein Wort der Mißbilligung, sondern der Rechtfertigung dafür, daß im Altertum die Sklaverei viele von der Teilnahme am staatlichen Leben ausschloß. Auch spielen die Gesetzgeber und die Tribunen bei ihm eine große Rolle (Contrat Social; I, 6; III, 3; III, 15; II, 7; IV, 5). Wir haben damit eine Vorstellung davon gegeben, auf welchem Gebiete Ähnlichkeiten zwischen Montesquieu und Rousseau hervortreten und welcher Art sie sind; nebenbei wird sich der Leser auch davon überzeugt haben, daß mit dem, was Rousseau unter Demokratie versteht, er unter den heutigen Demokraten keinen Beifall finden würde8. Wo aber Rousseau eine der Montesquieuschen Theorie verwandte Doktrin vorträgt, ist es belehrend, den Unterschied kennen zu lernen. Anscheinend lehrt auch er, wie Montesquieu, die Teilung der Gewalten. Es heißt (C. S. III, 1): „Wir haben gesehen, daß die gesetzgebende Gewalt dem Volke zukommt und nur ihm zukommen kann [...] wenn aber der Souverän [d. h. das Volk] regieren oder der Beamte Gesetze geben will, [...] dann handeln 7 8
„Untersuchungen über Adam Smith", II, 3,111 (S. 231 f).
Während der französischen Revolution erschien eine Schrift mit dem sehr bezeichnenden Titel „Rousseau Aristocrate".
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Gewalt und Wille nicht mehr in Übereinstimmung, der Staat löst sich auf und verfällt dem Despotismus und der Anarchie/* Aber vorher hatte er die Vertreter der Lehre mit japanischen Gauklern verglichen, die ein Kind in Stücke zerschneiden und es dann wieder zusammensetzen (II, 2). Dies ist die mit der Idee der Volkssouveränität harmonierende Auffassung. Aus zwei Gründen kann er die Lehre von der Gewaltenteilung nicht annehmen. Erstens ist sie unverträglich mit der Volkssouveränität; diese kennt nur einen gesetzgebenden Faktor, das Volk, jene drei: Volk, Oberhaus, Krone. Zweitens kann die Exekutive nur dann ihre Aufgabe erfüllen, wenn sie rechtliche Festigkeit und Unabhängigkeit besitzt, wenn die Gewalt des Fürsten auf eigenem Rechte beruht.9 Rousseau überantwortet aber die Exekutive vollständig dem Mehrheitswülen; das Volk kann sie in jedem Augenblicke ändern, absetzen, sie hat nur die von ihm übertragenen Befugnisse. Wenn aber eine Gewalt die andere beherrscht, dann ist die Teilung der Gewalten „eine schön geschmückte Leiche". In diesem Zusammenhange erscheint es noch seltsamer, daß man Montesquieu für einen Anhänger der Lehre von der Volkssouveränität gehalten hat, ihn, der die Demokratie für ein nicht-freies Staatswesen erklärte. In Wahrheit ist er der einflußreichste Vertreter der liberalen Staatsidee, deren Inhalt die Verwirklichung der politischen Freiheit durch die Vernichtung jeder Art von absoluter Herrschaft ist: des fürstlichen, des aristokratischen, des demokratischen Absolutismus mittels der Brechung der unumschränkten Gewalt in mehrere sich 9
Die liberale Staatslehre muß das eigene Recht des Fürsten anerkennen im Interesse der politischen Freiheit, denn diese kann nur dort gedeihen, wo keine Gewalt allmächtig ist. Den Liberalen konnte es daher nur befriedigen, daß der Kaiser in seiner Königsberger Rede an die eigenen, historischen Rechte der preußischen Könige erinnerte. Als der große Kurfürst die polnische Lehnsherrlichkeit abschüttelte, war er nicht etwa ein Vogt, der im Auftrage eines Schweizer Landsgemeindekantons in einer untertänigen Landschaft schaltete. Als Friedrich I. sich die Krone aufs Haupt setzte, glich er nicht Georg I. von England, der im folgenden Jahrzehnte eine vom englischen Parlamente angebotene Krone annahm. Und als Wilhelm I., sich krönte, hatte er keine Ähnlichkeit mit dem Koburger, der etwa dreißig Jahre früher in Brüssel ein König von Volkes Gnaden geworden war. Offenbar war die Rede ein Einspruch gegen die Verwirrung, die nicht wenige demokratische Zeitungen, hauptsächlich die sozialdemokratischen, selbst einige liberale in den Köpfen ihrer Leser anrichten. Nach ihnen gibt es nur Volksrechte, keine Fürstenrechte, nur eine Volkssouveränität keine Fürstensouveränität und die Vorkämpfer für die parlamentarische Monarchie fragen sich gar nicht, ob das Recht der Krone dadurch verletzt würde. Wenn ein Fürst seine eigenen, durch die Kraft seiner Vorfahren erworbenen Rechte als Beweis der Gnade Gottes betrachtet, so ist das für ein religiös empfindendes Gemüt ebenso demütig wie richtig; auch kann es niemanden verletzen, wenn das Wort Gottesgnadentum nicht den Glauben an eine überirdische Inspiration ausdrücken soll. Jedenfalls sind die historischen Fürstenrechte besser begründet, als die „natürlichen Rechte" des Volkes, die im Rahmen einer materialistischen Weltanschauung einen grotesken Eindruck machen; denn das Naturrecht wurzelt in theistischem, deistischem oder pantheistischem Boden. - (Geschrieben im September 1910. Hinzufügung bei der Korrektur).
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gegenseitig beschränkende Gewalten. Daß es der demokratische Absolutismus war, welcher die nach Rehm10 schon bei Buchanan auftretende Lehre zur Reife brachte, davon überzeugt man sich, wenn man die Geschichte Englands in der Zeit des langen Parlamentes und des Protektorates verfolgt. Man empfand die Notwendigkeit eines Gegengewichtes gegen „the sovereign power of parliament"; auch Marchamont Nedham, der Soldschreiber Cromwells, vertrat sie in seinem „Mercurius Politicus", obwohl er im übrigen den plattesten Demokratismus vorträgt. In diesem demokratischen Absolutismus sieht dagegen die demokratische Staatslehre ihr Ideal in der Unterwerfung der Bürger unter den ungebrochenen Mehrheitswillen des Volkes, von außen gesehen - von innen: unter die geheime Kabinettsregierung der unverantwortlichen Oligarchie, welche die öffentliche Meinung bildet und die Massen lenkt durch Volksversammlungen, Zeitungen, die Korrektur des Büchermarktes, die Arkana der Parteiorganisation und die Strategie wie die Taktik des Wahlkampfes. Aber haben nicht die Vereinigten Staaten, hat nicht das republikanische Frankreich des 18. Jahrhunderts die Teilung der Gewalten zu einem Fundamente ihrer Verfassungen gemacht? Zweifellos. Aber die Geschichte hat bewiesen, daß die Tatsache, daß alle Gewalten Geschöpfe des Volkes sind, ihre Kraft und Selbständigkeit unterhöhlt. Dies darzulegen, dazu ist hier nicht der Ort. Wahr bleibt das Wort Alexis de Tocquevilles: „Deux dangers principaux menacent l'existence des démocraties: l'asservissement complet du pouvoir législatif aux volontés du corps électoral et la concentration, dans le pouvoir législatif, de tous les autres pouvoirs du gouvernement." Die Vereinigung aller Gewalten in der gesetzgebenden und deren die Freiheit vernichtenden Folgen haben die Franzosen in den mit dem Herbste 1792 folgenden Jahren kennen gelernt - obwohl die Teilung der Gewalten und die Menschenrechte auf dem Papier der Verfassung standen. Wie aus den Zuständen, die der jakobinische demokratische Absolutismus schuf, die Gestalt Bonapartes herauswuchs, so aus dem puritanischen Parlamentsabsolutismus diejenige Cromwells. Auf den demokratischen Absolutismus folgt notwendigerweise der cäsaristische. Editorische Notiz In: Zeitschrift für Socialwissenschafl 2 (1911), S. 13-24.
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„Allgemeine Staatslehre", S. 217.
Lettres Persanes Victor Klemperer (1914) Die „Persischen Briefe" erschienen 1721 anonym und mit fingierter Verlagsfirma, denn Pierre Marteau stand damals als Verlegername immer wieder dort zu lesen, wo ein verwegenes Buch Zensurschwierigkeiten zu furchten hatte. Montesquieu verleugnete sein Werk. Vielleicht weil er Unannehmlichkeiten befürchtete, vielleicht weil es ihm allzu unvereinbar schien mit seinem hohen juristischen Range. Vielleicht auch, und das scheint mir das Wahrscheinlichste, ist der wahre Grund dieses Verleugnens in einer Notiz der Histoire véritable angegeben. Dort schreibt der Held (S. 56) ein Buch, und der Erfolg dieses Buches wird gewissermaßen sein persönlicher Mißeifolg, denn nun ist sein Autor, den man früher als vielseitigen Menschen schätzte, ein für allemal eben als Autor abgestempelt und zu nichts anderem mehr gut; auch verlangt man jetzt von ihm, daß er sich in jeder Gesellschaft in geistige Unkosten stürze und nur noch Glänzendes rede; zugleich entgeht er nicht dem Vorwurf des Plagiats: „enfin, ce malheureux ouvrage me tourmenta toute ma vie, et, soit qu'on le louât, soit qu'on le blâmât j'en fus toujours embarrassé". Ich glaube also, daß Montesquieu mehr durch einen gewissen aristokratischen Hochmut, mehr um nicht als Literat zu erscheinen, als aus wirklicher Furcht sein Buch offiziell verleugnete. Keineswegs stimmt, was er selbst in den „Pensées et Fragments" (I, S. 44 ff.) mehrfach formuliert, um es dann in die spätere Ausgabe der „Lettres Persanes" als Vorrede zu übernehmen. Danach hätte er nämlich sein Buch aus Scham „dès sa naissance" im Stich gelassen, weil er bereute, es geschrieben zu haben, oder weil es zu jugendlich war, oder weil er sich zu ernsteren Aibeiten hingezogen fühlte. Diese Aussagen sind widerlegt durch die Tatsache selber, daß Montesquieu nach dem „Esprit des Lois" die ernsthafteste Albeit als Denker, Dichter und Stilist an sein Jugendwerk setzt, daß er sich auch hiermit nicht zufrieden gibt, sondern neue Nachbesserungen hinterläßt. Die verwickelte Geschichte der einzelnen Phasen und Ausgaben der „Lettres Persanes" ist von Barckhausen mustergültig dargestellt worden und sei hier zusammenfassend nur soweit wiederholt, als es zum Verständnis des Folgenden notwendig ist. Man legte lange, indem man Vians anekdotischer Montesquieu-Biographie von 1877 folgte, dem Autor eine minder anzügliche Ausgabe zur Last, die er hergestellt habe, um den Sitz in der Akademie zu erhalten. Barckhausen hat nachgewiesen, daß das falsch ist, vor allem deshalb, weil die Abmilderungen der betreffenden Ausgabe für den bestimmten Zweck gar nicht gepaßt hätten: hier waren allerhand Lüsternheiten verringert, Ausfälle gegen den Papst aber stehen geblieben. In Holland, wo Montesquieu sein Buch hatte erscheinen lassen, war diese neue Ausgabe offenbar für protestantische Leser zurechtgemacht worden Montesquieu selber legte erst nach der Vollendung des „Esprit des Lois" wieder Hand an die „Persi-
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sehen Briefe". Philosophisch nunmehr gelegentlich das Staatswohl mitbedenkend, wo er früher das Recht des Individuums stärker betont hatte, stilistisch einige allzu gaskognische Hyperbeln mildernd, verstärkte er doch mit besonderer Vorliebe den romantischen Rahmen: das Spiel lag ihm am Herzen. Er hinterließ dann eine neue Revisionsarbeit; diese hat der Advokat Richer 1758 der Montesquieuschen Ausgabe von 1754 angepaßt, und die so entstandene Lesart mit ihren 161 Briefen ist fortan verbreitet worden und soll auch hier benutzt werden (natürlich unter Betonung des wesentlichen Alterszusatzes), da sie, wie ich glaube, in Deutschland die fast ausschließlich vorhandene ist und mir zur Herausarbeitung der Wege zum „Esprit des Lois" genügt. Barckhausen hat für die Pariser Ausstellung in einem Prunkband von 1897 eine Ausgabe hergestellt, in der er, den eigentlichen Absichten Montesquieus folgend, die letzte Textrevision der Briefe, die Richer für die Editio 1754 anwandte, der Editio prineeps zugute kommen ließ. Diese zählte 150 Briefe, Richer bringt 161, Barckhausen endlich 160, indem er die Nummer 145 Richers, die nur dem Text von 1754, nicht der Erstausgabe und nicht der endgültigen Revision angehört, einen Brief über die Stellung des Homme d'esprit und des Gelehrten in der Gesellschaft, wieder aufgibt. Beweist das wiederholte Arbeiten an den „Lettres Persanes" zur Genüge, wie sehr Montesquieu sie schätzte, so hat er es auch an direkten Aussprüchen nicht fehlen lassen, in denen er sich seines Briefromans als einer Uterarischen Tat rühmte, in denen er auch den Vorwurf des Plagiats, den er für jedes Werk hören mußte, von sich wies. Als ein Nachahmer scheint er zuerst von Voltaire, der es ja nie zu einer krallenlosen Bewunderung Montesquieus gebracht, der auch nie eine solche von seinem größten Zeitgenossen erfahren hat, in den Lettres philosophiques hingestellt worden zu sein Alles sei Nachahmung, heißt es dort in Brief 22, und als Beispiel dient unter anderem: „l'idée des Lettres Persanes est prise de celle de l'Espion turc". Neben dem „Türkischen Spion" von Mar ana hat man noch ein anderes Vorbild der „Persischen Briefe" genannt, den „Siamois" von Dufresny. Sodann ist in literarischer Hinsicht der „Spectator" herangezogen worden, von dem 1714 ein erster französischer Band erschien. Hier wurde von vier indischen Königen erzählt, die die englische Hauptstadt besuchen und von dem Tier Tory und dem monstre Wigh sprechen. Hier steht auch der Brief eines Inders, der in orientalischer Redeweise über Europa berichtet: nur ein Barbar spreche dort seine Gedanken aus, und der Weg vom Herzen zur Zunge sei ein weiterer, als der von London nach Bantam. Zu solchen literarischen Anregungen, die alle darauf hinauslaufen, daß exotische Sitte mit europäischer zusammenstößt stellt Maurice Meyer in seinen Etudes de Critique (Paris 1850), was Montesquieu an Anstoß unmittelbar aus der Zeitgeschichte erhalten habe. 1684 und 1686 werden siamesische Gesandtschaften am Hofe Ludwigs XIV. mit Glanz empfangen, sie studieren alles, und man bewundert sie. 1715 ist ein persischer Gesandter in Paris, den Montesquieu in Brief 92 besonders erwähnt, 1717 macht ein Besuch Zar Peters großes Aufsehen, 1721 endlich eine türkische Gesandtschaft. Man nehme schließlich den Einfluß exoti-
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scher Reiseberichte (der Chardins über Persien besonders) und orientalischer Märchen hinzu - so ergibt doch die Summe all dessen nur eine Rahmen-Anregung; das Gemälde hat Montesquieu selber gefunden, wenn ihm auch mancher Zug von Lesage, La Bruyère und dem Pascal der Provinciales gelehrt worden ist. In jener nur scheinbaren Anklage Voltaires steht der schöne Satz: „II en est des livres comme du feu de nos foyers; on va prendre ce feu chez son voisin, on l'allume chez soi, on le communique à d'autres, et il appartient à tous". Aus dem Vorwurf des Nachahmens ist hier eine Betrachtung über den Gang, über das Wachstum des geistigen Menschheitsguts geworden. Es gehört der Allgemeinheit, und jeder darf sich, muß sich sein Teil vom allgemeinen Vorrat nehmen; es kommt nur darauf an, ob die geliehene Flamme auf seinem eigenen Herd ein eigenes Feuer entzünden wird. Das ist bei Montesquieu durchaus der Fall, und es kommt nun darauf an, die Punkte zu finden, wo die Flamme am hellsten und aus eigenster Kraft brennt. Zwei Perser, ein reiferer: Usbek, ein jüngerer: Rica reisen nach Frankreich, teils aus Wißbegier, teils um den für sie gefahrlich gewordenen Boden des willkürregierten Vaterlandes eine Zeit lang zu meiden. Später folgt ihnen ein dritter Perser: Rhédi nach. Zwischen dem Hauptpaar und dem Nachgereisten, vor allem aber zwischen jenen beiden und ihrer heimischen Umgebung, unter der wiederum Usbeks Harem die wesentliche Rolle spielt, spinnt sich ein Briefwechsel ab, in dem die französischen Zustände in erster Linie, sodann aber auch sonstige europäische Dinge teils für sich betrachtet werden, teüs scharfe Beleuchtung durch die Konfrontierung mit den Dingen des Orients erfahren. Die Romanhandlung, die am Anfang und Schluß, in Brief 1-9 und 147-61 besonders stark hervortritt, ist einfach und scheint sehr nebensächlich. Usbek bangt nicht ohne Berechtigung um die Treue seines vernachlässigten Harems. Seine Angst ist deshalb nicht unquälender, weil sie mehr aus Ehrgefühl als aus Liebe entspringt. Er versucht erst, die verlassene Herde durch Milde im Zaum zu halten, überliefert sie dann, vom Argwohn gereizt, der grausamen Strenge beaufsichtigender Eunuchen und führt gerade dadurch die Katastrophe herbei: Ehebruch und Tod der stolzesten unter den Frauen. Die Äußerlichkeit der Handlung ist immer für das Undichterische des ganzen Buches ins Feld geführt worden, wie denn auch Lansons französische Literaturgeschichte ausdrücklich betont, daß Montesquieu „le principe de l'art et de la poésie" entgehe. Zugunsten des Dichterischen in den „Lettres Persanes" scheint sich technisch höchstens noch das hervorheben zu lassen, daß der Erzählungsrahmen gewissermaßen mit einer Menge von Zacken versehen ist, die nicht nur deshalb in das unabhängige Material des Buches eingreifen, um den Roman als solchen ständig in Erinnerung zu bringen, sondern die auch einen entschiedenen, und durch ihr Kontrastieren sehr komisch wirkenden, Isoher- und Besänftigungszweck haben. So oft sich nämlich die Kritik am Kirchlichen oder Politischen allzu dreist hervorgewagt hat, folgt regelmäßig ein Stückchen Haremsbeschreibung zur Unschädlichmachung der vorhergehenden und der nachfolgenden Ketzerei. Manche Üppigkeit, die als allzu wollüstig getadelt worden ist dürfte so als eine notwendig starke Dosie-
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rung des Gegengiftes aufzufassen sein. Vom Technischen zum Inhaltlichen fortschreitend, ließe sich sodann dem Dichter Montesquieu gutschreiben, daß ja der Rahmen doch nicht Rahmen bleibt, sondern, Gegenspiel bringend, zum Teil des Gemäldes selber wird, daß das persische Kostüm der Beobachter nicht nur um des Kostüms willen gewählt ist, sondern die Möglichkeit bietet, teils den europäischen Stoff wirklich mit dem voraussetzungslosen Blick des Cartesianers zu betrachten, der alle Dinge als neu nimmt, bis seine eigene Vernunft sie durchschaut hat, teils sie lächerlich zu machen unter dem Vorwand, sie das erstemal und so nur in ihren Äußerlichkeiten ohne ihr tieferes Bedeuten und Recht zu sehen. Und endlich gehört wohl auf das Konto des Dichters, daß er in den Reisenden Usbek und Rica sich selbst und doppelt sich selbst zeichnet. Den Beobachter, den Lernenden in beiden, in Rica mehr den jugendfrischen, wenn man will oberflächlichen, jedenfalls den hemmungsloseren Zugreifer, der auch mit befreiendem Spott zur Hand ist, wo ihn Fremdes etwa beirren könnte. In Usbek nicht nur den reiferen, zaudernden - ich möchte sagen: auch den tragischeren Menschen. Und während ich bisher nur zusammengefaßt und herausgehoben habe, was einzeln von dem einen und andern über die „Persischen Briefe" als Roman zumeist wohl bereits gesagt worden ist, und was doch auch in seiner Bündelung nicht genügt, das geistvolle Skizzenbuch zur Dichtung zu erheben, möchte ich hier betonen, worin für mich vor allem die Einheit und das entscheidend Dichterische der „Lettres Persanes" liegt. Usbek ist ein scharfer Beobachter, ein klarer Denker. Er weiß europäische und orientalische Sitte gegen einander abzuwägen; wo er die eine vorteilhafter findet als die andere, entgehen ihm doch oft mindestens der Grund und das Recht dieser anderen nicht; er vergleicht auch die obersten, die religiösen Anschauungen der Völker miteinander; überall ist seine Seele offen für die unendliche Mannigfaltigkeit der menschlichen Begriffe von Gut und Böse, von Wohlanständig und Schamlos, von Göttlich und Teuflisch, eine große innere Milde strömt ihm aus dieser Erkenntnis zu - und dennoch zerfleischt es ihn, daß seine Frauen, zu denen er keine Liebe fühlt, ihm nicht ergeben bleiben, wie es die orientalische Sitte fordert, und er wird grausam, weil er sich grausam verletzt fühlt. Sein Denken ist frei, sein Empfinden, sein Leben kann nicht vom Zwange los, den Umgebendes, Überkommenes jahrzehntelang auf ihn geübt hat und wieder üben wird. Er sieht die Kette, verfolgt sie Glied um Glied und tut sie nicht ab. Usbeck ist Montesquieu. Und aus diesem Doppelten heraus, daß alle Dinge so mannigfaltig, alle Werte so relativ sind, und daß doch kein Erkennen gegen ererbtes Fühlen aufkommt, erkläre ich mir jene alle Satire mildernde Sanftheit des Buches, die von den meisten lax und frivol genannt wird, die mir leise wehmütig, wirklich humorvoll zu sein scheint. Und dieser Humor ist das Zusammenschmelzende, ist das Dichterische der „Lettres Persanes". Es gibt einen Punkt, an dem sich Montesquieu nicht mehr damit begnügt hat, das Relative aller Anschauungen durch den Kontrast zwischen christlicher und islamitischer Welt herauszustellen. Brief 67 bringt eine ausführliche Novelle, die allem eingewurzelten Empfinden des Mohammedaners wie des Christen
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gleicherweise ins Gesicht schlägt. Die Histoire d'Aphéridon et d'Astarté erzählt von einem Geschwisterpaar, das der „vielleicht ältesten Religion der Welt" angehört. Der Religion der Gebern, die Geschwisterehe als besonders heilig empfiehlt. Während der Bruder dem alten Bekenntnis Treue halten darf, gerät die Schwester in einen mohammedanischen Harem, wird zum Islam bekehrt und muß eine Art Ehe mit einem Eunuchen eingehen. Unter großen Gefahren weiß dann der Bruder zu ihr zu dringen, sie zurückzubekehren, und zu befreien. Die beiden lieben einander, wie es ihr Gesetz vorschreibt, aber in großer Reinheit, in großer Treue, und nachdem sie solche mannigfach erprobt haben, ernten sie in einem glücklichen Eheleben den Lohn ihrer Tugend. Diese Erzählung hat gegensätzliche Beurteilung erfahren. Von Montesquieu ohne Frivolität ausgeführt und durch echtes Gefühl verschönt, ist sie von M. Meyer (a. a. 0.) einfach als die Geschichte einer Liebe, schöner Empfindungen und edler Taten bewundert worden. Dagegen hält Vian den Blick auf den Incest gerichtet und sieht in ihm die Haupt- und sozusagen die Modesache. Philipp von Orléans soll seine Zügellosigkeiten durch den Incest gekrönt haben, Voltaires Œdipe verherrliche die Blutschande und Montesquieu tue es eben auch. Ein Böswilliger könnte zu Vians Ansicht neigen, wenn er die Betrachtungen liest, die Montesquieu zu dieser Sache in den Tagebüchern anstellt. Sie stehen im zweiten Bande (P. et F. II, S. 368 ff.), sind aber dem ersten Manuskriptband entnommen. Hier betont Montesquieu ausdrücklich, daß er den Incest nicht als Sünde begreifen könne. Kein natürliches, kein bürgerliches, kein politisches, kein göttliches Recht werde durch solche Beziehungen beleidigt: „de manière que tout ce que l'homme en peut dire, c'est qu'ils sont défendus parce qu'ils sont défendus". Er faßt dann in längeren Erörterungen, denen man zum Teil in „Esprit des Lois" wieder begegnen wird, das Verbot blutschänderischer Liebe als eine Art Bequemlichkeitsgesetz auf, indem er von den Beziehungen des Vaters zur Tochter ausgeht und die Aufrechthaltung der väterlichen Würde in Frage gestellt sieht, wo die geschlechtliche Vereinigung, dieser „acte de familiarité", hinzutritt. Danach ist es dem Verfasser der „Lettres Persanes" also ganz offenbar darauf angekommen, dem bestehenden Sittengebot ins Gesicht zu schlagen? Eine ehrliche Antwort kann nur Ja und Nein lautea Ja, denn er will zeigen wie menschlich Reines auch außerhalb der Grenzen dieses Sittengesetzes bestehen könne; nein, denn im Erzählen vergißt er die kämpferische Absicht, ist nur noch Erzähler und freut sich der Darstellung einer durchaus lauteren Menschlichkeit, die ihm in jeder Form willkommen ist. [...] In manchen Lebensäußerungen seines Volkes verfolgt Montesquieu dieses spielerische Moment. Rica erstaunt (Br. 100) über den ständigen Wechsel der Mode, die die Frauen immer wieder umforme und im Wuchs zu verändern scheine, er erstaunt (Br. 101) über den Wert, der darauf gelegt werde, daß französische Mode in der Kunst des Kleidens, des Frisierens, des Kochens tyrannisch in der Welt herrsche. Aber derselbe spielerische Sinn, der hier verbohrt herrschen will, läßt sich in anderen Dingen von allem Fremden, sei es das Bunte, Exotische, sei es überhaupt nur das andere, allzu gern verführen. Schil-
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dert Rica in Brief 30 rein äußerlich die Neugier der Pariser und das Aufsehen, das er bei ihnen erregt - „Ah! Ah! monsieur est Persan! C'est une chose bien extraordinaire! Comment peut-on être Persan?" - , so stellt er in dem erwähnten Briefe 101 (und das ist ein echt Montesquieuscher Aufschwung) neben das französische Herrschenwollen im Punkte der Mode die unendliche Nachgiebigkeit der Gesetzgebung gegen fremde Einflüsse: er weist darauf hin, wie fränkisches Recht römischem und päpstlichem weichen mußte. Die gleiche Leichtigkeit des Wesens tritt in dem raschen Vermögens- und Ansehenswechsel zutage, der auf Pariser Boden möglich und üblich ist. Schmutzige Finanzpächter steigen aus der Verachtung zu Würden empor, wenn ihr Beutel gefüllt ist: „der Stand der Lakaien ist in Frankreich angesehener als überall sonst, ist hier eine Pflanzschule der großen Herren"; und wo die Bedienten nicht selber hochkommen, da steigen ihre Töchter weiter: „ils relèvent toutes les grandes maisons par le moyen de leurs filles, qui sont comme une espèce de fumier qui engraisse les terres montagneuses et arides" (Br. 99). Aufs engste verkettet mit diesem spielerischen Wesen ist die Stellung der Frau in der französischen Gesellschaft. Zu sagen, daß diese Stellung jenes Wesen begründe, scheue ich mich, denn ebensogut könnte die Stellung der Frau aus dem Wesen der ganzen Nation erwachsen sein. Für Montesquieu leidet dieses Thema fast an einer gewissen Überernährung, da es aus drei Strömen gespeist wird: der Roman an sich, jene zentrale Stellung im Komplex der französischen Gesellschafts- und dann der menschlichen Gesellschaftsfrage überhaupt, endlich die Freude am Sexuellen, das was man die Fabliau-Ader in Montesquieu nennen könnte, diese ganze wuchtige Dreiheit fuhrt wieder und wieder zur Betrachtung des Weiblichen. Im Anfang scheint es nur auf eine Verspottung der Regencezustände abgesehen zu sein. Der ältere Perser entsetzt sich über die Schamlosigkeit der unverschleierten Europäerin und rühmt das Schicksal der Orientalin, deren Tugend unversucht und unversehrt im Harem blühe. Es fehlt auch im weiteren Verlauf des Buches nicht an bösen Schilderungen französischer Weiblichkeit. Brief 28 schlägt den Schauspielerinnen gegenüber keinen freundlicheren Ton an als Lesages Gil Blas\ Brief 55 stichelt mit unerbittlichen Witzen auf die völlige Zerrüttung des damaligen Familienlebens: „les François ne parlent presque jamais de leurs femmes: c'est qu'ils ont peur d'en parler devant des gens qui les connoissent mieux qu'eux". Brief 56 zeichnet knapp und abschreckend den Typus der Spielerin, Brief 87 den Mangel an Autorität des Vaters wie des Gatten. Dennoch ist Montesquieus Urteil über die Frau keineswegs ein verdammendes oder auch nur leise verächtliches. Daß sie mit Notwendigkeit dem Manne intellektuell unterlegen sein sollte, kommt ihm, der aus Frauensalons tiefe Anregung zog, dort tiefes Verständnis fand, gar nicht in den Sinn. Wie eine schöne Huldigung an den Geist der Frau nimmt sich unter all den Schilderungen der Wollust und der Leichtfertigkeit der Hinweis auf die Königin Christine aus, die die Krone niederlegte, um der Philosophie zu leben. Der gleiche Brief (139) huldigt der schwedischen Königin Eleonore, die, um ihrem Gatten die Regierungsgewalt übertragen zu können, selber auf die Herrschaft verzieh-
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ten will. Montesquieu betont durch den sonst so leichtfertigen Mund seines Rica, daß er nicht wisse, welchen dieser beiden Fälle weiblichen Entsagens er mehr bewundern solle. In seelischer wie geistiger Hinsicht also ist die Schätzung echter weiblicher Größe vorhanden und auch der Glaube an sie. Wenn nun aber Montesquieu bei aller mehr oder minder ernstgemeinten Herausstellung der Vorzüge, die dem Haremssystem für Mann und Weib doch vielleicht vor den europäischen Ehebräuchen in einigen Fällen anhaften könnten, wenn er trotzdem sehr nachdrücklich die Freiheit der Frau mit dem Maß der Kultur, die bei einem Volke herrscht, in enge Verbindung bringt, ja nicht nur die Freiheit, sondern das Übergewicht der Frau: „chez les peuples les plus polis les femmes ont toujours eu de l'autorité sur leurs maris" (Br. 38) - so stützt er sich damit nicht auf die sittlich und geistig höchstgestellten Frauen, vielmehr gerade auf einen Durchschnitt des Geschlechts, den man für die Zeit der Regence in moralischer Hinsicht ziemlich tief ansetzen muß, und auch in geistiger, nach den Schilderungen der „Lettres Persanes" zum mindesten, niedriger, als man im allgemeinen, verführt durch die überlieferten Charakteristiken einzelner bedeutender Damen, anzunehmen geneigt ist. Auch in ihrem Durchschnitt, oder gerade in ihm, sieht er in den Frauen, sofern ihnen einmal das nötige Freiheitsmaß gegönnt ist, die wichtigsten Bildnerinnen des Mannes-Charakters. Das Thema erfährt in den „Persischen Briefen" eine vielleicht etwas enge Behandlung, indem im Wesentlichen gegen die orientalische Knechtung nur das französische Übermaß des Herrschens gestellt ist, während die veibreiteteren Mittelstufen fehlen. Wiederum geht es doch auch hier aus dem Engen ins Weite, da Montesquieu den Einfluß der Frau auf den Volkscharakter und den Staat spöttisch und doch ernsthaft genug untersucht. [...] Der Kampf der Jansenisten und Jesuiten ist nur ein Teil des Ringens mit Rom, das das 18. Jahrhundert erfüllt, und in dem schließlich eine dritte Partei fast im gesamten Europa den Sieg an sich reißt: die der Aufklärung. Man sollte denken, daß Montesquieu, der mit allen Fasern seines Wesens der Aufklärung verknüpft ist, den geradezu obligaten Kampf gegen die Kirche minder leidenschaftslos, ja mit bitterem Nachdruck führen wird. Bis auf einen gewissen Punkt aber, den der Leser sogleich im Zentrum des Montesquieuschen Wesens wiederfinden wird, herrscht auch hier nicht eigentlich Kampf, sondern jenes Lächeln über menschliche Schwäche. Es ist allgemein üblich, anzunehmen, und auch ich habe es für die ähnlichen Stellen der jugendlicheren Histoire véritable angenommen, daß die Verspottungen mohammedanischer Religionskindlichkeiten indirekte Ausfalle gegen die katholische Kirche bedeuten. Wenn der Molak in der Antwort auf jene Zweifel an den absoluten Eigenschaften der Materie durch die gröbste und sinnloseste Legende die Scheidung zwischen reinem und unreinem Getier beweisen zu können glaubt (Br. 18), so soll das bestimmt biblisches Ritual und auch christlichen Brauch verhöhnen; wenn ein Perser in Brief 31 Venedig für eine armselige Stadt erklärt, weil es kein strömendes Wasser von der Art enthält, wie es der Mohammedaner für seine religiösen Waschungen braucht, so soll auch hier christliche Zeremonien-Einengung getroffen werden;
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wenn Usbek (Br. 35) die Frage aufwirft, ob denn alle Christen als Ungläubige zur Hölle fahren müssen, so erkennt man unschwer den jungen Montesquieu wieder, der gegen die ewige Verdammnis der Heiden eifert; wenn ein frommer Mekkapilger die Wahrheiten des Koran durch faustdicke Wunder bekräftigt sieht, so gilt eben dieser Brief 39 als ein grober Angriff auf christlichen Wunderglauben; wenn die indische Witwe des Briefes 126 und die Mohammedanerin des Romanfragments aus Brief 141 ihr Paradies aufs irdischste, sinnlichste und allerkomischste in der Vorstellung tragen, so muß das eine Verlachung allzu körperhafter Jenseitshoffnungen des Christen in sich schließen. Sicherlich sind diese Bezüge vorhanden, und Montesquieu hat sich nur einer naheliegenden und vielmals gebrauchten Konvention bedient, wenn er exotische Religion zur scheinbaren Zielscheibe wählte. Dennoch frage ich mich immer wieder, ob nicht in solchem lässigen Verspotten der fremden Vorstellungskreise und Bräuche viel eher ein Entlasten als ein Verhöhnen des europäisch Kirchlichen zu sehen sei. Ich meine, Montesquieu bringt mit alledem nur zum Ausdruck, daß menschliche Denkschwäche und trübende Sinnlichkeit überall vorhanden ist, überall groteske Formen annimmt, und daß deshalb ein besonderer Angriff auf eine besondere Vernunftfeindlichkeit der katholischen Kirche nicht weiter am Platze sei. Ein dreifaches führt mich zu dieser Annahme. Vor allem das Ganze der Stimmung, in die diese Briefe als Teil eines viel umfassenderen Werkes mit eingetaucht sind, und die meine Ausführungen eben entwickelt haben. Sodann würden die mohammedanisch kostümierten Angriffe, wenn es eben nur Angriffe sein sollten, eine bloße Wiederholung und keine Verstärkung genau der gleichen unmittelbar ausgesprochenen Ketzereien sein. Fällt doch Rica die Rolle zu, höchst ungenierte direkte Kritik an der Kirche zu üben. Nach einem ersten Briefe dieser Art schreibt Usbek unmittelbar ein paar Worte zur Charakteristik der etwas zu leichten Auffassungsgabe seines jungen Reisebegleiters. Diese Charakteristik in Brief 25 wirkt wie ein dauerndes Entschuldigen der gefahrlich losen Zunge, die Rica nun noch mehrfach am kirchlichen Wesen betätigt. Und hierbei offenbart sich, was mir den dritten Grund für jene Auffassung der kostümierten Ketzereien bietet: auch diese direkten Verspottungen des Kirchlichen sind doch zum Teil einem Belächeln ähnlicher als einem zornigen Verdammen. So lange nämlich, ich möchte sagen: Kirchliches an und für sich, in Isoliertheit das Thema bildet. Der Papst ist ein so gewaltiger Zauberer, daß er aus Drei Eins, aus gegessenem Brot, getrunkenem Wein andere Gegenstände machen kann (Br. 24); die Bischöfe haben das doppelte Amt wenn sie versammelt sind, Glaubensartikel auszuarbeiten, wenn sie für sich weilen, Dispensgründe diesen Glaubensartikeln gegenüber zu suchen (Br. 29). Daneben werden auch einmal vor Usbek ohne alle Umschweife und Kostümierungen die Halluzinationen frommer christlicher Büßer eben als Halluzinationen erklärt (Br. 94). In alledem herrscht durchaus keine übertriebene Schärfe. Montesquieu hat als Kind seiner Zeit für den seelischen Ursprung, für das natürliche Wachsen des Religiösen absolut kein Verständnis. Er selbst hat Religion, insofern sie Sehnsucht und Streben ist; daß sie auch in allerhand kindlicher Gewandung auftreten kann und
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muß, daß in allem Mythos im letzten Grunde kein anderes Aufwärts-Sehnen lebt als in Montesquieus eigener aufgeklärter Seele, das ahnt er nicht einmal, und Religion ist ihm ein Gemisch aus Aberglauben des törichten Volkes - ein bequemeres Schlagwort als Aberglaube hat das 18. Jahrhundert kaum besessen, es sei denn in dem Worte Freiheit, das aber Montesquieu nie zum Schlagwort erniedrigt und zur Einseitigkeit verdammt hat - aus Aberglaube der Masse also und Berechnung der Führer. Aber dieses Gemisch ist nun für Montesquieu durchaus nicht so unleidlich wie für andere Aufklärer. Menschliche Schwäche hat es zustande gebracht menschliche Schwäche findet Behagen daran - warum hassend bekämpfen, was doch nicht ausrottbar, und was auch schadlos ist? [...] Für Montesquieu ist ein Kampf gegen Christentum und Kirche an sich überhaupt nicht vorhanden; wenn ihm diese beiden Faktoren seine staatlichen Kreise stören, weist er sie zurück, gehen sie in diese Kreise unschädlich oder gar hilfreich mit ein, so hört jeder Kampf auf, ja und es fehlt sogar nicht an Freundlichkeiten. Montesquieus Entwicklung liegt in der Entwicklung seiner Staatsidee; verändert sich diese, so verändert sich naturgemäß seine Stellung zur Kirche. Innerlich ist er niemals ihr Freund und niemals ihr Feind gewesen. Der Dichter der „Persischen Briefe" ist innerlich kein Waffengenosse Voltaires gewesen, der Dichter des „Esprit des Lois" hat einige kirchenpolitische Ansichten seiner Jugend abgetan; feige geworden oder bekehrt worden, wie man dieselbe Ansicht in zwei Lagern ausgedrückt findet, ist er nicht. Gegen Kirche und Christentum war Montesquieu immer derselbe: ohne Liebe, ohne Haß, ohne Empfindung, ohne Verständnis, ich möchte sagen: ohne Leben. Er belebt sich gegen die Kirche nur dann, wenn er sie einer Tendenz zuneigen sieht, die ihn immer erbittert: der despotischen. [...] Es sind Bekämpfungen des despotischen Wesens, sie sind innerlich ganz und gar zu den Angriffen gehörig, die Montesquieu gegen jedes despotische Regiment richtet. Er wendet sich in gleicher Tonart gegen den Sultan, der die Türkei knechtet. Wiederholt zeigt er hier (Br. 19 und 124), wie das Land unter dem Drucke der absoluten Herrschaft innen und außen schwere Schädigung erleidet. Er scheut sich auch nicht Asien mit Europa zu vertauschen und unverblümt von der Mißwirtschaft Ludwig XIV. zu reden. Zwar für sich betrachtet könnte man den Brief 125 noch verblümt nennen, denn hier ist von einer imaginären Verordnung die Rede, in der, komisch und bitter übertrieben, die Bereicherung unnützer Höflinge und die äußerste Belastung des arbeitenden Volkes feierlich zum Gesetz erhoben wird. Aber wenn diese Satire eines Schlüssels bedarf, so hat man ihn längst durch die Charakteristik Ludwigs XIV. (in Br. 37) erhalten. Dort wird unter vielen bösen Eigenschaften des Königs auch diese aufgeführt, daß er zwar freigebig sei gegen seine Diener, aber den müßigen Höfling höher belohne als etwa den tapferen Offizier. Großartiger und vernichtender als in diesem Briefe hat Montesquieu seinen Haß gegen den König in einem einzigen Satz des Briefes 93 zum Ausdruck gebracht. Usbek teilt den Tod des alten Mannes mit und schreibt dazu: „il a bien fait parler des gens pendant sa vie; tout le monde s'est tu à sa mort". Der ganze Niederbruch des Sonnenkönigs ist in den
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wenigen Worten angedeutet. Auch die ganze Überzeugung Montesquieus, daß ein absolutistisches Regiment, sei es auch das glanzvollste, schließlich ins Verderben fuhren müsse. [...] Und wirklich schwankt alles vor Montesquieus innerlichem Sinn, auch der äußerste Punkt, die Gottesidee. Sein Relativismus hat in Brief 59 vollendeten Ausdruck gefunden. Dort heißt es, daß der Mensch alles nur durch eine geheime Beziehimg auf sein Ich zu beurteilen vermöge, daß mit Selbstverständlichkeit der Neger den Teufel weiß, den Herrgott kohlschwarz sehe: „on a dit fort bien que si les triangles faisaient un dieu, ils lui donneroient trois cotés". [...] Wird Montesquieus Intellekt auf den Weg des Unglaubens gedrängt, so zwingt ihn sein Fühlen auf die Straße des Glaubens. Er ist kein reiner Denker und Forscher, er ist ein Dichter, und so siegt sein Gefühl in den „Persischen Briefen", so kämpft es in den späteren Werken. Montesquieu glaubt mit Descartes an die wissenschaftlichen Möglichkeiten des Menschen, und dieser Glaube tritt um so stärker hervor, als er mit einer stolzen Kritik alles dessen, was vor Descartes' Vernunft-Entdeckungen Wissenschaft hieß, Hand in Hand geht. Überaus charakteristisch dafür ist die Brieffolge (133-37), in der Rica den Besuch einer großen Klosterbibliothek schildert, wobei denn Montesquieu seine Stellungnahme zu den einzelnen Gebieten ausdrücken kann. Da werden die Theologen jeder Art abgelehnt, die Grammatiker und Rhetoriker belächelt, die Männer der Geheimwissenschaften verhöhnt. Weder die Metaphysiker noch die Physiker fahren gut, denn jene sind erdfremd, und diese haften am Boden. Unter den Dichtem wird echt Descartessche Auswahl gehalten: Geltung hat eigentlich nur der Dramatiker, der das Psychologische in seiner Nacktheit und Allgemeingültigkeit herausarbeitet. Wenn daneben das gefährliche Wesen des Epigrammatikers mit Achtung erwähnt wird, so ist hier teils jener „geheime Bezug auf das Ich" im Spiel, teils richtet sich ja auch das ältere Epigramm zumeist gegen Typisches. Lyrik aber wird ausdrücklich verachtet und der moderne Roman kaum weniger. [...] Wenn es niemals recht klar wird, wer denn nun eigentlich der entmenschlichte Gott Montesquieus ist, ein selbständiges Wesen, oder ein Wesen, das an jene Grundgesetze gekettet ist, oder der Komplex jener Grundgesetze selbst, so scheint mir an solchem Schwanken (wie es etwa in Brief 69 zutage tritt) nicht nur verschleiernde Zensurrücksicht auch wohl nicht nur metaphysische Denkschwäche schuld zu sein. Sondern diese ganze Frage nach dem Wesen Gottes ist für Montesquieu interesselos. Was ihn interessiert, leidenschaftlich interessiert und in schwere Krisen stürzt, sind zwei Dinge, die er, ich möchte sagen: der Bequemlichkeit halber in den Namen Gottes einknüpft. Einmal die Idee der Gerechtigkeit. Wenn er schon in den „Persischen Briefen" (Br. 84) definiert: „La justice est un rapport de convenance qui se trouve réellement entre deux choses" so setzt er Gerechtigkeit eigentlich gleich mit der Gesetzlichkeit alles Geschehens, gibt ihr also eigentlich keinen anderen Inhalt als den der unausweichlichen Kausalverknüpfimg, identifiziert sie mit jener kalten Reihe, die er über den Koran stellte. Wenn er aber sprunghaft unlogisch, schwärmerisch im selben Briefe
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meint, „die Gerechtigkeit erhebe ihre Stimme, doch habe sie Mühe, sich im Lärm der Leidenschaften vernehmlich zu machen"; wenn er weiter meint, Gott als ein leidenschaftsloses Wesen müsse vor allem gerecht sein; und weiter, „quand il n'y auroit pas de Dieu, nous devrions toujours aimer la justice"; wenn er dann wie krampfhaft nach einer eingeborenen Idee {un principe intérieur) greift, die im Herzen aller Menschen zugunsten des Nebenmenschen wirke, da jeder sonst wohl immer auf den stärkeren Vergewaltiger irgendwo stoßen müßte - so ist in alledem deutlich, daß die Gerechtigkeit ein höchstes Postulat des Sittlichen und des Humanen für Montesquieu darstellt. [...] Er weiß um den unendlichen Zusammenhang der Dinge, er kennt die Langsamkeit, das Geheimnisvolle und die ungeheure Wucht alles Wachsens. So wird er für die plumpen und gewaltsamen Neuerer immer nur ein Lächeln der Verachtung haben, wird selber jede Art der Gesetzänderung, der Staatseinrenkung als ein alleräußerstes, nur im Notfall anzuwendendes, fragwürdiges Hilfsmittel betrachten, das auch im letzten Notfall nur mit zitternder Hand anzuwenden ist (Br. 79). Und wirklich hat ihm die Hand später so oft gezittert, ist er so oft für zögerndes Zuwarten gewesen, daß törichte Leser an mancher Stelle des „Esprit des Lois" Lauheit und reaktionäres Wesen zu finden vermeinen. Während sich doch in Wahrheit dort nur das Wesen des modernen Arztes offenbart, der, wo er nicht vorbeugen konnte, gerne zuwartet, ob sich die Natur nicht etwa selber helfen könnte. Schon in dem jugendlichen Verfasser der „Lettres Persanes" ist viel von dieser reifen Geduld zufinden. Derselbe Brief, der sich so eindringlich gegen gewaltsames Neuern ausspricht, enthält als allgemeinen Grundsatz des Staatslenkers eine starke Bevorzugung der väterlichen Gewalt. Auf diesen Punkt wird man Montesquieu noch oft zurückkommen sehen; verschiedene Betrachtungsweisen können hier ohne eigentlichen Widerspruch zu verschiedenen Ergebnissen führen. Was ihn im Augenblick interessiert, ist das Natürliche, das Verständnis- und Liebevolle dieser Gewalt. Schon hier ist es eigentlich klar, daß die Herzensmeinung Montesquieus im Grunde immer einer Staatsordnung gehören wird, die die meiste Ähnlichkeit mit einer guten Familienordnung aufzuweisen vermag: Einer herrscht, aber selbst beherrscht von unverbrüchlichen Gesetzen der Sittlichkeit und der Liebe, und beraten von den reifen Persönlichkeiten unter seinen Angehörigen. Das heißt also, die Sympathie Montesquieus hegt bei der maßvollen Monarchie, wobei es gefühlsmäßig von sekundärer Bedeutung ist, ob der Landesvater sein Maß, seine Gebundenheit in politischen Gesetzen, einer Konstitution also, oder inreligiösenVorschriften, oder in ungeschriebenen Sittengeboten findet. [...] Und nun ist seine ständige Angst, daß Monarchie in Despotie entarten könne, wenn nicht gar müsse (Br. 103). Despotie aber ist ihm verhaßt, weil er in ihr einen unnatürlichen Zustand, eine gewaltsame Behinderung und Entstellung alles Natürlichen sieht. Es liegt doch bei allem Rechnen mit der menschlichen Schwäche, bei allem Erkennen der kalten Naturgesetze viel Glauben an die Güte der unverfälschten Natur, viel Rousseausches Gefühl auf dem Grunde dieser komplexen Seele. So wird denn Montesquieu nicht müde, bis zu seinem Tode nicht müde, die naturentstellende Despotie mit grel-
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len Farben zu malen, und die grellsten Farben liefert ihm dazu zumeist der Orient. Statt aber nun gegen den Despotismus zu deklamieren, bemüht sich schon der Verfasser der „Persischen Briefe", die Torheit dieses Regiments zu zeigen, das eben als ein naturwidriger Zustand nicht Dauer haben könne, sich überschlagen und selber ins Verdeiben stürzen müsse. Der Despot könne sich nur durch Strenge halten, Strenge übersteigere sich zu Grausamkeit, Grausamkeit rufe Verzweiflung hervor, Verzweiflung führe den Schwachen zum Sieg, und hart neben dem Extrem der Despotie liege das Extrem der Republik. Br. 81 enthält einen großen Teil des hier Entwickelten, aber an so vielen anderen Stellen, in so vielen anderen Wendungen, in so vielen Andeutungen, Verschleierungen, Bildern taucht derselbe Gedanken- und Gefühlsgang immer wieder auf, daß es töricht wäre, ihn mit einzelnen Briefzahlen zu belegen. Die Despotie steht eben immer vor Montesquieus Seele, auch wo ganz andere Dinge sein Bewußtsein füllen. Und es ist nicht nur der absolute Herrscher selber, den er befehdet, sondern den ganzen Zustand des willkürlich regierten Staates hat er fortwährend im Sinn, und mehrfach ist ihm der willkürliche Minister ein schlimmeres Übel als der Herrscher selber, und mit tiefem Bück sieht er das schlimmste Unheil nicht in den einzelnen Gewaltakten der Regierenden, sondern in der Korruption, die von bösen Lenkern auf ein ganzes Volk überströmt (Br. 128 und 146). Ich habe das Empfinden, daß schon der junge Montesquieu die eigentlich republikanische Staatsform nur deshalb mit so leuchtenden Faiben malt, weil er in ihr eben den stärksten Gegensatz der Despotie sieht. Bald wird es ihm aufgehen, wie sehr sich Gegensätze nicht nur berühren, sondern auch gleichen können, und schon wo er sich in den „Lettres Persanes" mit der Geschichte der Republiken beschäftigt, führt er die Entwicklungslinie der gemäßigten mittleren Staatsform zu. [...] Man hat hier überall dicht gesäte Keime des „Esprit des Lois". Und wie die Betrachtung der Staatsformen und der politischen Geschichte schon vorhanden ist, so deutet sich bereits auch Innerlicheres des Hauptwerkes an. Noch fehlt die entscheidende Terminologie der Staatsprinzipien; aber ihre Grundidee ist in Brief 90 und 91 vorhanden. Man bemerkt hier ein ähnliches Verhalten Montesquieus wie dem Begriffe der Gerechtigkeit gegenüber. Er spricht vom Ruhm und definiert ihn erst unethisch als eine Art Steigerung des Erhaltungstriebes (den er im einzelnen wie im Volk nach Barckhausen erst später als einheitliche Grundlage aller Bestrebungen ergriffen haben soll). Und dann nähert er Ruhmbegier und Ehrgefühl einander aufs äußerste an, erwärmt also jenen erst kalten Begriff durch ein sittliches Pathos und stellt nun eine Stufenleiter auf, wonach Ehre im ganz despotischen Staate überhaupt keine Stelle finden kann, im freieren leben, im freiesten, der Republik, die bedeutendste Entwicklung nehmen wird. Und indem er das Ehrgefühl des Republikaners als reinste Bürgertugend zeichnet, das Ehrgefühl in der Monarchie aber als ein mehr auf den Schein abzielendes, hat er tatsächlich, ohne die entsprechende Stufenleiter des „Esprit des Lois" schon als Furcht, Tugend und Ehre zu benennen, sie dennoch im wesentlichen bereits eingeführt, und gerade aus diesen jugendlichen Briefen wird Auf-
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schluß zu holen sein, wenn es sich später um die Umgrenzung der so häufig mißverstandenen vertu im „Esprit des Lois" handelt. Ebenso enthalten die „Lettres Persanes" bereits große Grundzüge des Völkerrechts. Brief 95 und 96 zeigen Montesquieu ganz erfüllt von Idealen der Humanität und wohl auch des Kosmopolitismus. In diesem Augenblick freilich hofft er noch, daß der Dienst am Vaterlande und an der Menschheit sich vereinigen lassen müsse. Er wird vieles von dieser schönen Hoffnung bewahren, es ist auch der engen und allzu leicht kriegsbereiten unaufrichtigen Kabinettspolitik jener Tage gegenüber vieles in praktischer Hinsicht richtig und durchführbar, was der Idealist über den Fluch des Eroberns, über die Kulturpflichten des Siegers dem eroberten Lande gegenüber sagt; anderes, wie die Verwerfung ungerechter, etwa auf die Unterdrückung eines Dritten gerichteter Allianzen berührt fast kindlich. Die Basis bietet diesem schönen Optimismus, der den herrschenden Ungerechtigkeiten des Völkerrechts ein Ende zu bereiten hofft, von Neuem Montesquieus Staats- oder Gesellschaftsreligion. Er findet es lächerlich, nach dem Ursprung der Gesellschaft erst forschen zu sollen. Für ihn kommen die Menschen gesellschaftlich gebunden zur Welt, „un fils est né auprès de son père, et il s'y tient: voilà la société et la cause de la société". Und wie nun im Einzelvolk als einer Gruppe von Famüien naturgemäße Friedensbeziehungen der göttlichen oder eingeborenen Idee der Gerechtigkeit gemäß herrschen müssen, so auch von Volk zu Volk, indem jedes dem anderen gegenüber eine Einzelfamilie oder auch ein Individuum darstellt. Es soll also Völkerrecht (denn eine andere Übersetzung darf hier dem Sinne nach droit public nicht erfahren) im Grunde vom innerstaatlichen Recht nicht abweichen. Und der jugendliche Optimist glaubt, was schon für seine Zeit nicht mehr stimmte, daß zwischen den Völkern Gerechtigkeit leichter zu bewahren sei als innerhalb eines Volkes, weil von Nation zu Nation weniger Reibungsflächen gegeben seien als zwischen den einzelnen Individuen desselben Staates. Derselbe jugendlich schöne Friedensglaube beherrscht Montesquieu bei der Betrachtung innerpolitischer Verhältnisse. Noch meint er, dem Individuum manches ohne Schädigung des Staatsganzen geben zu können, was er später um des Staatswohles willen einschränken wird. So, und ich betone noch einmal, nur unter diesem politischen Gesichtspunkt, erkläre ich mir Montesquieus Stellung zur Toleranzfrage, die eine andere in den „Lettres Persanes", eine andere im „Esprit des Lois" ist. Brief 86 verhält sich in diesem Punkt durchaus Uberai. Montesquieu meint, die Duldung mehrerer Konfessionen könne dem Staat nicht nur keinen Schaden bringen, sie müsse ihm vielmehr Nutzen stiften, da ja jede Religion Gesellschafts- und regierungsfreundliche Momente enthalte, da verschiedene Konfessionen zum nützlichsten Wettbeweib einzelner Bürgergruppen, Unterdrückung und Austreibung bestimmter Sekten dagegen zur Verminderung der Volkszahl und zu Bürgerkriegen fuhren würden. Es sind dies Ansichten, die nicht nur alle Humanität für sich haben, sondern wahrscheinlich auch praktischrichtiger sein dürften als die freilich auch sehr begründeten engeren Meinungen, zu denen Montesquieu die Geschichte der nächsten Jahrzehnte
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drängt. Jedenfalls darf man hier sehr zweifelhaft sein, ob das in Frage stehende Recht des Individuums eine Benachteiligung des Staates bedeute oder nicht. Und so ändert denn auch der alte Montesquieu hier nichts an den Worten seiner Jugend, während er in einer anderen Frage dem stürmischer individuellen Gefühl der Jugendzeit das sozusagen staatlichere Empfinden seiner reifen Jahre dämpfend zur Seite stellt. Der erste Text der „Persischen Briefe" nimmt sich in Brief 76 mit Leidenschaft der Selbstmörder an, die das damalige Europa erbarmungslos verurteilte. Aus dem Leben gehen zu können, wenn es unerträglich geworden ist, hält der römisch denkende Montesquieu für das stolzeste Recht des Individuums. Daß ein Eingreifen in die Werke der Vorsehung bei solchem Schritte vorliege, leugnet der radikale Schüler des Malebranche. „Ce qui est rond peut devenir quarré, ce qui est chair peut devenir terre, vapeur, et tout ce qu'il vous plaira", heißt es bei Malebranche (Des inclinations 1. IV, c. II); „troublé-je l'ordre de la Providence lorsque je change les modifications de la matière, et que je rends carrée une boule que les premières lois du mouvement, c'est-àdire les lois de la création et de la conservation, avoient faite ronde?", schreibt Usbek an einen Freund. Im Jahre 1754 läßt Montesquieu diesen Freund zur Antwort geben, was im theologischen Teil gewiß nicht aus religiöser Überzeugung, sondern um des Friedens mit der Kirche willen gesagt ist, im juristischen dagegen die reinste Überzeugung Montesquieus enthält: „Si cette nécessité de conserver l'union [sc. des Körpers und der Seele] est un meilleur garant des actions des hommes, on en a pu faire une loi civile". Ja, es kommt hier und so auch schließlich in der Nachgiebigkeit gegen die Kirchenlehre um des inneren Friedens willen buchstäblich Montesquieus eigentliche Religion zum Ausdruck: er opfert ein Stück persönlicher Freiheit um des Staatswohles willen. Auch hier findet sich also im Religiösen eine Berührung zwischen Montesquieu und Rousseau - im Religiösen, das dem Fanatischen so furchtbar eng verknüpft ist. Aber was Montesquieu, wenn nicht immer, so doch zumeist vor dem Fanatismus bewahren wird, der nur im Engen blühen kann, ist die ungeheure Weite seines gedanklichen Umfassens. Die „Lettres Persanes" besitzen eine Brieffolge (113-123), wo durcheinander sprühend und schäumend, wirr und leuchtend wie ein Wasserfall, die Flut der Objekte und Probleme, die als ein reicherer, breiterer, ruhevollerer Strom vom „Esprit des Lois" dem allgemeinen Meere der Staats- und Geschichtsphilosophie zugetragen werden soll, an dem erstaunten und fast betäubten Betrachter vorüber stürzt. Ich meine den Fragenkomplex, den das Ineinander moralischen und naturwissenschaftlichen, psychischen und physischen Betrachtens auf dem Gebiete des Gesellschaftlichen und Staatlichen ergibt. Nun ist mir im Verlauf dieser ganzen Darstellung der „Lettres Persanes" schon mehrfach der Zweifel gekommen, ob nicht das hier befolgte, weil dem Analytiker notwendige Ordnen des Stoffes ein Unrecht an dem ganzen Werke bedeute, dessen Reiz ja gerade in der sprudelnden Wirrnis liegt. Bestimmt würde ich ein solches Unrecht begehen, wenn ich genaue Ordnung in den Inhalt des eben erwähnten Briefbündels zu bringen suchte. Ich würde damit nicht nur einen Reiz abstreifen, sondern auch durch ein gewaltsames Öffnen und Hervor-
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zerren zur Blüte umlügen, was erst Knospe ist. Wie einer, der übervoll ist von lange gehegten Empfindungen, Gedanken und Plänen, der deutlich fühlt, daß dies alles erst Saat ist und noch ganz reifefern - er muß sich aber einmal einem Freunde eröffnen, muß sich sprechend den künftigen Reichtum vor Augen stellen, und nun stürzt das alles mit einer ungeheuren Lebhaftigkeit, in Aufregung, in Unordnung hervor, und Lyrik überströmt weite Gebiete des Verstandes: so verhält sich Montesquieu, nachdem einmal wie ein unabsichtliches Stichwort die Frage nach den Gründen des Schwankens der Bevölkerungsziffern im Laufe der Zeiten gefallen ist. Es ist, als wolle nun alles auf einmal aus Montesquieu heraus. Er gedenkt der Seuchen und Katastrophen, die das Menschengeschlecht verringern konnten, der Aufklärer meldet sich und sucht in jenen Dingen die Erklärung der Sintflut; er geht historisch, nationalökonomisch, juristisch auf die Fragen der Fortpflanzung und der Ehe ein, sieht Mängel der Polygamie in einer frühen Erschöpfung des Mannes, bekämpft die Unlöslichkeit der katholischen Ehe, spricht von dem unfruchtbaren Menschenkapital der Eunuchen und ehelosen Sklavinnen im Orient, der Mönche und Nonnen im katholischen Europa, erwähnt die Bevölkerungspolitik der Römer, verweilt bei dem Vorteil protestantischer Länder vor den katholischen, streift einen Augenblick lang die Möglichkeiten des sexuellen Kommunismus in höherem Maße, als Plato getan; er zieht die Einwirkungen religiöser Ideale in seine Rechnung, sieht Völker blühen, wo Kinderzeugung ein Gott wohlgefälliges Werk, Ahnenkult ein religiöses Gebot ist, Völker welken, wo man das Leben nur als Pilgerfahrt betrachtet; er springt aus dem Suggestiven ins Wirkliche über und betrachtet die Einflüsse des Ackerbaus, des Handels, der klimatischen Verhältnisse; Vorteil und Nachteil der Kolonie für das Mutterland - doch sieht er fast nur den Nachteil - bieten die Möglichkeit, den schillernden Fragenschwall noch bunter und reicher auszugestalten: doch schließlich findet sich die ungeheure Fülle des Betrachtens in einem einzigen Willenssatze zusammen: „Les hommes sont comme les plantes, qui ne croissent jamais heureusement si elles ne sont bien cultivées" (Br. 123). Er hat den Glauben an die Möglichkeit solcher Menschenpflege. Man hat den Bruch in der philosophischen Grundlage dieses Glaubens gesehen - aber wehe dem Glauben, der eines philosophischen Fundamentes bedarf. Montesquieu glaubt, daß die unverdorbene Menschennatur ein friedliches und sittliches Gemeinwesen nicht nur zulasse, sondern fordere. Er malt es sich in dem Idealbild des Troglodytenstaates aus. Sein Märchen beginnt (Br. 11) mit der Schilderung eines vollkommen verderbten Gemeinwesens. Hier hat törichter Egoismus alles zerrüttet, jeder wütet wider den Nachbarn und wider die Gesamtheit, schließlich geht fast das ganze Volk an seinem ungesellschaftlichen Wesen zugrunde. Bis auf wenige Gute, die nun, so fürchterlich belehrt, den Idealstaat gründen. Es ist das eine idyllische Republik, in der jeder davon überzeugt ist, daß er dem eigenen Ich am besten dient, wenn er als Diener des Ganzen handelt, in der ein äußerstes Maß von individueller Selbstentäußerung zugunsten des Staates, von Bürgertugend also oder Tugend schlechthin im Sinne der lateinischen virtus herrscht. Montesquieu läßt diesen Idealzustand, den die Briefe 12 und 13 schil-
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dem, nicht ewig bestehen. Er nähert sich der Wirklichkeit wieder: die Troglodyten bitten nach einiger Zeit (Br. 14) einen Würdigsten, er möge ihr König werden. Der Angeflehte bricht in Tränen aus; er fühlt, daß sein Volk das übermenschliche Maß bürgerlicher Selbstentäußerung, das zur Aufrechthaltung einer freien Republik gehört, verloren habe. Gerade daß Montesquieu auch in diesem Märchen nicht bei dem republikanischen Idealstaat Ruhe und Abschluß findet, sondern die menschliche Schwäche an den Schluß setzt, doch aber ihren Zustand veredelt sein läßt durch die doppelte Erinnerung an das Ideal und an die Schreckensfolge völliger Idealentstellung, gerade das gibt dem Märchen, das ja sonst nur eine allzu kindliche Schwarz- und Weißkontrastierung wäre, seinen tiefen Wert. Gerade in diesem resignierten Ausklang hegt der Optimismus Montesquieus, der mit dem Material menschlicher Schwäche doch noch Schönes und Gutes bauen will. Aber es ist doch wiederum charakteristisch, daß eine kleine Fortsetzung der Troglodyten aus dem Buche veibannt worden und zu den zurückgebliebenen Materiahen gekommen ist. Dort wird eine weitere Gefahrdung des guten Staates durch die geplante Einführung von Handel, Gewerbe, durch Möglichkeiten des Reichtums skizziert. Der Künstler Montesquieu hat recht getan, diese Fortsetzung beiseite zu schieben. Sie hätte ihn in Zweifel gestürzt, wo es beim Glauben bleiben sollte. Und Glaube ist doch der freudige Oberton dieses Buches, der am stärksten eben in den Troglodyten klingt. Freilich, Töne des Zweifels und der Wehmut schwingen immer mit, ja sie könnten am Schluß des Werkes, wo das Denken des persischen Helden so ganz vor überkommenen Anschauungen kapituliert, fast als die eigentlich siegreichen erscheinen, wären nicht Freude und Trauer und alle Herzenstöne eben in den „Lettres Persanes", verhüllt durch den feinen Spott des französischen Plauderers und Aristokraten von 1721. Es ist ein notwendiger Mangel dieser Studie, gerade so wie sie die zierliche Unordnung des Stoffes in Reih und Güed zwang, das Wuchtige und Tiefe stärker zu betonen als das Heitere. Da nahm denn vieles „ein traurig dunkles Blau" an, und die „wechselnde Libelle" muß dem Zergliederer schließlich aufs Wort geglaubt werden. Daß ihr Montesquieus Buch trotz aller Beschwerungen als Ganzes wirklich gleichen konnte, daß jene Hülle aus mildem Spott und Lächeln und Eleganz zu halten vermochte, daß nach beendeter Lektüre, nachdem man sozusagen Raum zwischen sich und das Werk gebracht hat, ein Heiteres in der Erinnerung haftet: dies alles scheint mir Beweis dafür, daß in der vieltönigen Seele Montesquieus, als er die „Lettres Persanes" schrieb, die hellen Klänge der Hoffnung doch wohl die stärksten waren. Editorische Notiz In: Κ., V., „Montesquieu". 2 Bde. Heidelberg, Carl Winters Universitätsbuchhandlung, 1914-1915. (Beiträge zur neueren Literaturgeschichte. 6). Bd. 1, Viertes Kapitel, S. 83127 (Auszüge).
Der Übergang zur souveränen Diktatur in der Staatslehre des 18. Jahrhunderts Carl Schmitt (1921) Der absolute König von Frankreich regierte durch Kommissare. Der Intendant, der Träger der königlichen Verwaltung, der Einheitlichkeit und der Zentralisation, „le vrai agent de l'autorité royal", war Kommissar.1 Sein amtlicher Name war „commissaire départi pour S. M. dans les provinces et généralités du royaume et pour l'exécution des ordres du Roi". Er war der jederzeit abberufbare Chef einer Generalität, einer Provinz oder eines Departements, dessen Bezirk als eine intendance nicht mit den übrigen Verwaltungs- oder Gerichtsbezirken (der Gouverneure oder Parlamente) zusammenfiel. Es gab im achtzehnten Jahrhundert 31 solcher Departements, dazu kamen 6 in den Kolonien.2 Die Ernennimg, für die gewöhnlich nur maîtres de requêtes , d. h. Mitglieder des
Conseil in Betracht kamen, geschah durch den Generalkontrolleur der Finanzen, für die Grenzprovinzen nach Vorschlag des Kjiegsministers. Als Kommissar hatte der Intendant nur solche Befugnisse, die sich für seine Person und seinen Aufgabenkreis aus der Kommission ergaben. Die Befugnisse waren nach den verschiedenen Provinzen und der Person des Intendanten verschieden; in schwierigen Fällen suchte er die Instruktion der Zentralstelle nach. Im allgemeinen hatte er auf alles zu achten (veiller), was die Administration der Justiz, Polizei und Finanzen betraf, für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung (le maintien du bon ordre) zu sorgen und die allgemeine Aufsicht (inspection 1
Hanotaux, „Origines de l'institution des intendants". Paris 1884; Esmein, „Cours d'histoire du droit français". 9. ed., Paris 1908, S. 590; Lavisse, „Histoire de France". V i n 1, S. 151; Holtzmann, Rob., „Französische Verfassungsgeschichte (BelowMeineckes Handbuch)". 1910, S. 396 f. Intendanten hießen zunächst die unter Franz I. eingeführten Funktionäre der Zivilverwaltung (trésorerie de France); sie waren entweder Mitglieder des Conseil oder à la suite. Ihre Aufgabe war wesentlich Kontrolle und Rechnungsführung, doch unterstanden der trésorerie auch ordentliche und außerordenüiche Angelegenheiten der Kriegsverwaltung, des Artilleriewesens, der Marine, der Hofverwaltung usw. Die Kontrolle erweiterte sich allmählich zu Organisationsbefugnissen. Die Vollmachten der commissaires départis, Intendanten und ihrer Subdelegierten wurden aufgehoben durch das Gesetz vom 26. Juni 1790, von dem Augenblick an, in dem die neuen Departements- und Distriktsverwaltungsbehörden in Wirksamkeit traten (Duvergier, „Collection des lois". Paris 1824, I, S. 262). Durch Dekret des Nationalkonvents vom 24. Nov. 1793 (4. frimaire Π) wurden alle früheren Intendanten verhaftet, um zur Rechnungslegung gezwungen zu werden (Duv. V I 373). 2
Darüber Emilien Petit, „Droit public ou gouvernement des Colonies françoises". Paris 1771, Ausgabe von A. Girault, Paris 1911.
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über alles, was den Dienst des Königs und das Wohl seiner Untertanen anging. Verteilung und Einbringung der Steuern, Beaufsichtigung der Rechtspflege, Verteilung der Truppen auf die verschiedenen Ortschaften, Aushebung der Truppen und Entscheidung bei den sich hierbei ergebenden Fragen und Streitigkeiten, Beschaffung von Getreide fur die Magazine,3 Festsetzung von Höchstpreisen bei Lebensmittelschwierigkeiten, Förderung von Ackeibau, Handel und Gewerbe, Unterhalt der Wege, Brücken und öffentlichen Gebäude, kurz, le bien de l'état. Er hatte seinem Auftraggeber, dem König und dem Conseil, Berichte zu schicken und ihn über alles auf dem Laufenden zu halten, was sich in seinem Bezirk ereignete oder reformbedürftig schien. Durch besonderen Beschluß des Conseil konnten ihm Untersuchungen, Beweisaufnahmen und Gutachten übertragen werden, seltener sind die Kommissionen, ein Prozeßverfahren zu instruieren oder selbstrichterliche Entscheidungen zu treffen. Regelmäßig sollte er nicht selbst entscheiden, sondern dafür sorgen, daß die ordnungsmäßig zuständigen Gerichte selbst die Entscheidung trafen. Auch Streitigkeiten aus Anlaß der Steuerveranlagung und -erhebung sollte er den Gerichten überlassen. Bei öffentlichen Unruhen, insbesondere bei den häufigen Bauernaufständen während der Ernte, entschied der Prévôt der Gendarmerie oder sein lieutenant in einem Sonderverfahien als erste und letzte Instanz.4 Der Intendant oder sein Subdelegierter verhandelte oft mit den Aufständischen und suchte auch bei Lohn- und Arbeitsstreitigkeiten zwischen streikenden Arbeitern und den Arbeitgebern zu vermitteln. Er griff gewöhnlich nicht gern zu Gewaltmitteln, sondern ging „mit größter Vorsicht" vor, weil man die Erfahrung gemacht hatte, daß polizeiliche Verbote und Maßnahmen in solchen Fällen nicht viel nützten.5 Nötigenfalls ließ er sich außerordentliche Vollmachten vom Conseil geben, schritt mit Hilfe der bewaffneten Macht ein und traf die erforderlichen Maßnahmen, über die er Rechenschaft ablegen mußte. Seine im Gegensatz zu
générale)
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Die Intendanten als commissaires sind von den commissionaires der privilegierten Getreidegesellschaften zu unterscheiden. Ungenau heißen diese letzten ebenfalls Kommissare bei F. Wolters, „Studien über Agrarzustände und Agrarprobleme in Frankreich von 1700 bis 1790". Staats- und Sozialwissenschaftliche Forschungen, herausgegeben von Schmoller und Sering. Bd. X X I I , Heft 5, Leipzig 1905, S. 277. 4 Die Kommissionsformel lautete: „Commet le prévôt de la maréchaussée et son lieutenant pour connaître des émotions et attroupements qui pourraient survenir à l'occasion des grains; ordonne que par eux le procès sera fait et parfait jugé prévôtalement et en dernier ressort; interdit S. M. à toutes cours de justice d'en prendre connaissance". Man drang willkürlich in die Häuser ein, verhaftete usw.; doch gab es schon eine Ordonnanz, die befahl, daß der Verhaftete binnen 24 Stunden richterlich vernommen werden mußte. Zu dieser Ordonnanz bemerkt Tocqueville , ,Ancien régime" (S. 314): „cette disposition n'était ni moins formelle ni plus respectée que de nos jours". 5
Bei Levasseur, „Histoire des classes ouvrières avant 1789", 2. ed., t. II, Paris 1901, wo S. 805-815 zahlreiche Fälle von Unruhen der Gesellen und Arbeiter beschrieben werden, ist mitgeteilt, daß ein Bericht, in dem um besondere Dekrete gegen die Zusammenrottungen und besondere Vollmachten für den Vollzug gebeten werden, am Rand den Vermerk trägt: „ i l n'y a rien à faire".
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der gewöhnlichen Aufsichts- und Verwaltungstätigkeit als autorité exécutive bezeichnete Funktion als Aktionskommissar wird gelegentlich „eine Art Diktatur" genannt.6 Das Rechtsmittel gegen die Maßnahmen des Intendanten, der Appell an den Conseil, hatte, wenn nicht der Conseil ausdrücklich etwas Anderes bestimmte, keine aufschiebende Wirkung. Der Intendant ernannte Subdelegierte, die er selbst bezahlte und jederzeit abberufen konnte. Er residierte in der Hauptstadt seines Bezirks, mußte aber mindestens einmal (unter Colbert zweimal) jährlich eine Visitationsreise unternehmen. Als Agent der Zentralgewalt stand er in einem natürlichen Gegensatz zu den provinzialen und lokalen Körperschaften, die eine weitgehende ständische Gerichtsbarkeit, Selbstregierung und Selbstverwaltung bewahrt hatten. Es gab allerdings Intendanten, die der Zentralregierung gegenüber eine ziemlich unabhängige Haltung einzunehmen wußten; die meisten waren als Kommissare brauchbare Werkzeuge der Zentralisation und gerieten dadurch in Konflikt mit den „intermediären Gewalten", den Parlamenten, Ständen und Städten ihrer Provinz, mit den Gouverneuren, die, ursprünglich Militärbefehlshaber, und selbst nur widerrufliche Kommissare, nach der typischen Entwicklung seßhaft geworden waren, gewöhnlich auf Lebenszeit ernannt wurden und tatsächlich häufig sogar erbliche Ämter hatten, und mit den von den Ständen zur Erhebung von Steuern ernannten „commissaires intermédiaires".7 Gegen den Intendanten als die Erscheinungsform der zentralen Bürokratie richten sich daher schon früh zahlreiche Angriffe, von denen die Bemerkungen des Herzogs von Saint-Simon in seinen Memoiren, und Fénelons in seinem Brief an den Herzog von Chevreuse, 1710, am bekanntesten sind. Die Angriffe setzen sich durch das ganze achtzehnte Jahrhundert fort. In Anspielung auf ihre Zahl werden sie die dreißig Tyrannen genannt.8 Abgesehen davon, daß die Bürokratie den Weg zum König versperrte und der König nur mit ihren Augen sah,9 lag der wichtigste Grund der Klagen in den verfassungswidrigen, d. h. ohne Zustimmung der Stände vom König angeordneten Steuern, bei deren Verteilung und Erhebung ihrer Willkür
6 Bonald , „Théorie du pouvoir" (1794 geschrieben), t. III, sect. I l (la théorie de Γ administration civil), Œuvres t. X V I , S. 116. 7 Diese hat die Constituante vorläufig noch in ihrer Tätigkeit belassen; sie werden von den commissaires additioneis, die an der Verwaltung teilnehmen „sous le bon plaisir du Roi", unterschieden; Dekret vom 12. Dez. 1789, Collection Duvergierl, S. 73, femer I 75,106,109,181. Ihre Tätigkeit endigte am 31. Dez. 1790. 8 Wahl, A d , „Vorgeschichte der Französischen Revolution", I. Band. Tübingen 1905, S. 8/9 unter Hinweis auf Dubuc, „L'intendance de Soissons", 1902 (mir nicht zugänglich); Ardas heff, Revue d'histoire moderne, 1903. Necker, „Administration des finances", ΙΠ, S. 379. 9 Hier zeigen sich auch alle organischen Bilder wie sie bei Rousseau und in der Revolution beliebt sind: die Intendanten sind die Augen des Königs oder des Conseil, dieser ist die pensée oder die volonté; insofern der Intendant Aktionsbefugnisse hat, ist er der Arm oder die Hand des Königs usw.
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ein weiter Spielraum blieb. Gegen die fürstlichen Kommissare erhoben sich stets die Beschwerden der intermediären Instanzen, d. h. der ständischen Selbstverwaltung. Während der Mindeijährigkeit Ludwigs XIV., 1648, hatten die vereinigten Gerichtshöfe von Paris die Ernennung mehrerer Intendanten zu verhindern gewußt, später freilich wurden die Kommissionen wenigstens teilweise wieder erneuert. Wie die konziliare Theorie gegen die plenitudo potestatis des Papstes geltend gemacht hatte, daß die Machtvollkommenheit nicht durch den Papst, sondern durch die Kirche ausgeübt werden müsse und der Papst sich unmittelbarer Eingriffe in die Stufenfolge der Hierarchie und die ordentlichen Zuständigkeiten der Ämter zu enthalten habe [...], wie die deutschen Reichsstände (diese allerdings mit anderem Erfolg) der Meinimg waren, daß nicht der Kaiser, sondern das Reich, das Imperium, von dem der Kaiser selbst nur ein Teil sei, die 10 majestas habe, so sagen die französischen Parlamente, der König stehe nicht außerhalb des Staates, sondern sei selbst ein Teil des Königreichs.11 Die „gradation des pouvoirs intermédiaires" betrachten sie als dépôt sacré , das die Autorität des Königs mit dem Vertrauen des Volkes verbindet. Die ständische Selbständigkeit in Rechtspflege und Verwaltung war auch im achtzehnten Jahrhundert noch so groß, daß man den Absolutismus der französischen Könige
10 In der unter Thomasius verfaßten Dissertation von Henr. Ηöffer, „De duplici majestatis subjecto", 1672, die Gierke in seiner Darstellung dieser Lehre („Althusius" S. 168) nicht erwähnt, die aber für die staatsrechtliche Organtheorie von großem Interesse ist, wird wieder auf Grotius zurückgegriffen und dessen Lehre, daß das Volk seine Rechte vollständig einem Andern übertragen könne; in § 18 heißt es dann (im Anschluß an Osiander, cit. loc. S. 468, der hier ein Argument Jacobs I. von England gegen Bellarmin wiederholt): die Monarchomachen wie Althusius verwechseln populus und civitas und stellen das Volk dem König gegenüber, als ob das zwei verschiedene Dinge wären und der König außerhalb des Staates stände, während man doch von der civitas sagen müsse, „eam tamquam totum complecti in se regem". Daß der Staat aus König und Volk bestehe, war also bereits im 17. Jahrhundert ausgesprochen, und die von H. O. Meisner, „Die Lehre vom monarchischen Prinzip", Breslau 1913, S. 226, Anm. 3 und 230, Anm. 4 für eine Äußerung des württembergischen Abgeordneten Keßler aus dem Jahre 1819 (eine „völlig neue, bahnbrechende Äußerung", wie Meisner meint) vindizierte Priorität muß man dem Herrn Keßler wohl bestreiten. 11 „Le Roy est au Royaume", in dem Beschluß des Parlaments vom 20. Dez. 1527, zitiert in den Remontrances des Parlaments vom 9. April 1753, Utrecht 1753, S. 11, und bei Flammermont, „Remontrances, Collection de documents inédits", t. 56, Paris 1888,1, 568, dort auch die Unterscheidung zwischen dem Souverain, dessen Befugnisse beschränkt sein sollen, und der Souveränität. - Übrigens antwortet der König mit derselben Einheit. Er droht jedem, der es wagt, ihn von der Nation als einem corps séparé zu trennen und betont daß er und das Volk Eins seien. Das sind seine berühmten Worte des lit de justice, von 1766. Aus dieser Einheit folgert er allerdings gerade, daß die plénitude seiner Autorität keine Schranken haben dürfe. Die Frage ist eben, wer sich mit jener Einheit identifiziert und mit der Identifikation politisch durchsetzt; diese Frage ist nicht damit gelöst, daß man sie mit „beide" oder mit,Jceiner, sondern ein höherer umfassender Dritter" beantwortet.
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nicht etwa mit dem Napoleonischen vergleichen darf. 12 Für einen Monarchisten wie Bonald gehören Monarchie und erbliche intermediäre Gewalten zusammen und sind die kommissarischen Intendanten eine gegen das historische Prinzip der Monarchie verstoßende Einrichtung. Insbesondere aber ist die Staatslehre von Montesquieu nur verständlich, wenn man beachtet, daß die Idee der intermediären Gewalten bei ihm an der wichtigsten Stelle verwertet ist. Die Spannung zwischen Montesquieu und der Aufklärung beruht auf einem Streit, der sich in der politischen und administrativen Wirklichkeit abspielte zwischen der konservativen ständischen Selbstregierung, also der mittelbaren, d. h. durch zahlreiche unabhängige Körperschaften vermittelten Staatsgewalt, und der unmittelbar an jedem beüebigen Punkt wirksam werdenden zentralisierten Bürokratie. Montesquieu war Mitglied eines Parlaments, Turgot, der bedeutendste physiokratische Vertreter des aufgeklärten Staatsabsolutismus, ging aus der Intendantenkarriere hervor. Die pouvoirs intermédiaires sind nach Montesquieu ein wesentliches Merkmal der monarchischen, die Fundamentalgesetze beachtenden Regierung. Die Gesetze brauchen eine vermittelnde Instanz, durch welche die Staatsgewalt hindurch fließt, so daß willkürliche und plötzliche Äußerungen des staatlichen Willens verhindert werden. Der Adel, die seigneuriale und patrimoniale Gerichtsbarkeit, der Klerus und die als dépôt des lois fungierenden unabhängigen Gerichtshöfe, also die französischen Parlamente, sind solche intermediären Hemmungen für die staatliche Allgewalt, nicht aber der Conseil des Fürsten, der seiner Natur nach dazu neigt, den augenblicklichen Willen des Fürsten zu vollziehen, ohne ein dépôt sacré der Fundamentalgesetze sein zu können, und der ferner den Nachteil hat, daß er nicht permanent ist wie jene intermediären Korporationen. Auch hat er nicht das Vertrauen des Volkes.13 Soweit spricht Montesquieu ganz dieselben Gedanken aus, wie sie in den Remontrances wiederkehren und steht er in größtem Gegensatz zur Aufklärung, zu Voltaire sowohl wie zu den Physiokraten, denen die überlieferten Korporationen und erblichen Ämter eine barbarische (damals sagte man gotische) Sinnlosigkeit und Störung ihres rationalen Schemas waren. Die Aufklärung sah den Staat wie die deistische Metaphysik das Weltall: der außerhalb der Welt stehende Gott hat 12
Dafür hübsche Beispiele bei Funck-Brentano, „ L ' ancienne France, le Roi", 2. ed. Paris 1912. 13 „Esprit des lois", I. II, cap. 4: „les pouvoirs intermédiaires, subordonnés et dépendants, constituent la nature du gouvernement monarchique, c'est à dire de celui où un seul gouverne par des lois fondamentales, fai dit les pouvoirs intermédiaires, subordonnés et dépendants : en effet, dans la monarchie, le prince est la source de tout pouvoir politique et civil Ces lois fondamentales supposent nécessairement des canaux moyens par où coule la puissance etc. Le conseil du monarque n'a point à un assez haut degré la confiance du peuple." (Die kursiv gedruckten Stellen bezeichnen sog. cartons , d. h. durch den Zensor veranlaßte Änderungen; vgl. über diese Stelle Louis Vian , „Histoire de Montesquieu", Paris 1878, S. 261. Die Änderungen zeigen, wie die Regierung des absolutistischen Staates die ständischen Ideen abzuschwächen suchte.)
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diese Welt so eingerichtet daß sie wie eine vollkommene Maschine nach den einmal gegebenen Gesetzen läuft; ebenso montiert der Gesetzgeber die staatliche Maschine. Montesquieu gebraucht zur Veranschaulichung seiner Konstruktionen das Bild von der balance , das im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert für jede Art wahrer Harmonie (im Weltall, in der äußern und der innern Politik, in der Moral und in der Nationalökonomie) verwertet wurde und nicht notwendig abstrakt-rationalistisch zu sein braucht. Die Lehre von der sogenannten Teilung der Gewalten wird unverständlich, wenn man sich an das Wort von der Teilung oder Trennung, statt an jenes Bild von der balance hält.14 Ein System gegenseitiger Kontrolle, Hemmung und Bindung soll errichtet werden. „Le pouvoir arrête le pouvoir" („Esprit des lois" XI, 4); arrêter , enchaîner , lier , empêcher sind die wesentlichen Ausdrücke im dem berühmten 6. Kapitel des XI. Buches. Das Bild dient vor allem zur Bezeichnung einer Verständigung zwischen Parlament und König. Wenn eine Körperschaft dem König, d. h. dem Inhaber wichtigster staatlicher Machtmittel, entgegentritt, so kann sie das nur tun, indem sie sich mit dem Volk identifiziert, das sie zu repräsentieren behauptet, und verlangt, die Anwendung jener staatlichen Machtmittel zu kontrollieren und die Normen für ihre Anwendung, d. h. die Gesetze zu erlassen. Aus diesem Kampf kann eine Einheit dadurch entstehen, daß die eine Macht die andere vernichtet, das wäre nach dem Sprachgebrauch des achtzehnten Jahrhunderts Despotismus, heute würde man von Diktatur sprechen.15 Das Bild von der balance bezeichnet dagegen eine im Wege der Ausgleichung erzielte Einheit. Deshalb ist die sogenannte Teilung der Gewalten nichts weniger als ein doktrinäres Schema. Sie betrifft immer konkrete politische Verhältnisse und bringt es mit sich, daß die Anwendung des Bildes sich immer gegen denjenigenrichtet, der durch seine einseitigen Machtansprüche, durch seine Diktatur, die verständige Ausgleichung stört und hindert. Sie ist weder republikanisch, noch demokratisch, wie monarchistische Apologeten im neunzehnten Jahrhundert gern behaupteten, noch ist sie abstrakter Rationalismus, wie sogar Konstantin Frantz meinte, der in arger 14 W. Hasbach hat an diese in der deutschen Literatur regelmäßig übersehene Tatsache erinnert (außer in den größeren Werken hauptsächlich in dem Aufsatz „Gewaltentrennung, Gewaltenteilung und gemischte Staatsfoimen", Vierteljahrsschr. f. Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Bd. 13, 1916, S. 562 f.). Ein besonders auffälliges Beispiel für solche Mißverständnisse bietet die Kontroverse zwischen Rehm und G. Jellinek (Re hm, „Allgemeine Staatslehre" S. 233, dazu G. Jellinek, Grünhuts Z. f. d. Privat- und öffentliche Recht Bd. 30, 1903, S. 1 f., Erwiderung von Rehm S. 417 f. und Duplik Jellineks S. 419). Das seit dem 17. Jahrhundert in der englischen, der amerikanischen (im Federalist) und der französischen Erörterung politischer Probleme für das Verhältnis von Legislative und Exekutive, d. h. Parlament und König oder Gouverneur, Bundesstaat und Einzelstaat, Oberhaus (Senat) und Unterhaus gebrauchte Bild der Wage wurde von der Literatur der Restauration als rationalistisches Schema bekämpft. 15
So sagt im 19. Jahrhundert F. J. Stahl, „Diktatur der Stände" (Philos, d. Rechts, II, S. 351, „Das monarchische Prinzip", 1845, S. 15, 23; vgl. auch „Die gegenwärtigen Parteien in Staat und Kirche", 2. Aufl. 1868 S. 126).
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Verkennung Montesquieu als den geistigen Urheber der Zentralisationstendenzen des modernen Staates aufgefaßt hat.16 Jede unverhältnismäßige politische Über-Macht ist nach jener Lehre der Feind. In Cromwells Verfassungen erscheint sie als ein Mittel, dem Mißbrauch der Parlamentsherrschaft, den man durch die Praxis des Langen Parlaments kennen gelernt hatte, vorzubeugen. In der ersten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts hat Bolingbroke sie im Interesse eines starken Königtums gegen die parlamentarische Parteiherrschaft der Whigs ins Feld gefuhrt. Bolingbroke hat den einflußreichsten Mann der Gegenpartei, Malborough, Diktator genannt.17 Das war die Antwort auf den Despoten, mit dem der Whig den absoluten Fürsten bezeichnet. Die Lehre von der balance verbindet nun Montesquieu mit der Lehre der corps intermédiaires, um diesen im Kampf gegen die Übermacht des königlichen Absolutismus und seiner Werkzeuge, der Minister und Intendanten, zu helfen. Insoweit steht Montesquieu noch in der ständischen Tradition und setzt der über alle staatlichen Mittel verfugenden Macht des Königs, der mit einem Griff die ganze Maschine des Staates dirigieren kann („il précipite la balance", III c. 10), die intermediären Gewalten entgegen. Anders als die übliche glorifizierende Geschichtsauffassung sieht er auch in dem Begründer der Zentralgewalt des französischen Königtums, in Kardinal Richelieu, keineswegs einen großen Mann, ja, er hat den für einen Mann der Gesellschaft des achtzehnten Jahrhunderts außergewöhnlichen Mut, den Ahnen feudaler Rassentheorien, Boulainvilliers, anerkennend zu zitieren. Die unmittelbare Demokratie aber ist dem gleichen Einwand ausgesetzt wie die absolute Monarchie: auch das Volk darf keine „puissance immédiate" (XIX c. 27) haben; auch in der unmittelbaren Demokratie der antiken Republiken fehlten die intermediären Gewalten. Despotismus bedeutet bei Montesquieu und in der ganzen von ihm beeinflußten Literatur die Aufhebung der richtigen balance . In gewisser Hinsicht wäre es aber noch besser, statt von Balancierung der Gewalten von einer Mediierung der plenitudo potestatis zu sprechen. Die staatliche Allgewalt soll niemals in ihrer ganzen effektiven Machtfülle an einem beliebigen Punkte eingreifen können, sondern immer nur vermittelt, intermediiert, durch ein zuständiges Organ mit festen Kompetenzen, ein pouvoir borné, das neben andern ebenfalls vermittelnden Gewalten eine nicht beliebig aufzuhebende Kompetenz hat. Auch 16 17
„Die Naturlehre des Staates" Leipzig und Heidelberg 1870, S. 216 f.
Nach dem Frieden von Utrecht, 1713, als am 14. April 1713 in London Addisons „Cato" aufgeführt wurde, veranstaltete Bolingbroke eine politische Demonstration, wobei er das klassische Freiheitspathos des Stückes als Protest „for defending the causes of liberty against a perpetual dictator", d. h. gegen Malborough, der damals Captain-general for life werden sollte, benutzte. Über den Vorgang vgl. A. W. Ward, „History of english dramatic literature III", London 1899, S. 440, 441; Macaulay in seinem Essay „The life and writings of Addison" und die Biographie von Bolingbroke in der Nat. Biogr. L. S. 133. Von Schriften Bolingbrokes kommen hier in Betracht „Dissertation on parties" (1733/34) und Jdea of a Patriot King" (1749 veröffentlicht).
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die höchsten Gewalten, Legislative und Exekutive, sollen sich in ihrer Macht gegenseitig beschränken. Der Erfolg ist, daß die bürgerliche Freiheit vor der in einem Netz begrenzter Kompetenzen festgehaltenen Allmacht des Staates geschützt ist. Ob das allmächtige Organ eine gesetzgebende Körperschaft oder eine allmächtige Exekutive ist, ob die Werkzeuge der unmittelbaren Allmacht, die Kommissare mit unbegrenzten Vollmachten nach außen und unbedingter Abhängigkeit nach innen, vom Parlament oder vom Fürsten geschickt werden, ist für das Ergebnis, die Vernichtung der bürgerlichen Freiheit, dasselbe. Mit einem formalen Gesetzesbegriff ist dieser Lehre nicht gedient. Die Selbstbindung des Staates, die in der Gesetzgebung liegen soll, die Unverbrüchlichkeit des Gesetzes, ist nur gewährleistet, wenn Gesetzgebung und Vollzug sich gegenseitig kontrollieren und vor allem (daher die Forderung des königlichen Vetos) ein einmal erlassenes Gesetz nicht beliebig geändert werden kann. In jedem andern Falle ist die angebliche Selbstbindung, die der Gesetzgeber durch ein Gesetz sich selbst auferlegt, eine leere Redensart. Die Souveränität mag, abstrakt gesprochen, einheitlich und grenzenlos sein. In der konkreten Ausübung muß jedem einzelnen Funktionär eine begrenzte Befugnis zustehen und auch die beiden höchsten Instanzen, Legislative und Exekutive, sollen ihre Befugnisse nicht einseitig erweitern können. Es gäbe überhaupt keine Zuständigkeit mehr, wenn es eine Kompetenz-Kompetenz gäbe. Für den Zustand unmittelbaren Auftretens der staatlichen Allgewalt gebraucht Montesquieu das Wort Despotismus. Das Wort Diktatur ist bei ihm, wie im 18. Jahrhundert überhaupt, abhängig von der klassischen Überlieferung und an die römische Republik gebunden. Er kennt daher nur die kommissarische Diktatur, die innerhalb der bestehenden republikanischen Verfassung eintritt. Gelegentlich kommen bei Montesquieu die beliebten Schulbeispiele Sulla und Caesar vor, ohne daß er andere als psychologische Bemerkungen dazu fände. 18 In Übereinstimmung mit der politischen Literatur des 17. Jahrhunderts (in der Sache nicht anders wie ζ. B. Clapmarius) betrachtet er die Diktatur als den der aristokratischen Staatsform wesentlichen Ausnahmezustand („Esprit" II c. 3): eine in ihrer Herrschaft bedrohte Minderheit überträgt einem einzelnen Mitbürger grenzenlose Befugnisse, une autorité exorbitante. In der Monarchie, zu deren Wesen es gehört, daß ein Einzelner eine autorité exorbitante ausübt bildet, im Gegensatz dazu, das monarchistische Prinzip der Rücksicht auf intermediäre Gewalten, besonders den Adel (II, cap. 4), eine Hemmung. Montesquieu empfiehlt in aristokratischen Staaten die Diktatur verfassungsmäßig vorzusehea wie das in Rom geschehen war und in Venedig durch einen dauernden, permanenten Magistrat versucht wurde. Aber die Einrichtung in Venedig führte dazu, daß eine geheime allmächtige Behörde tätig war und der Ehrgeiz eines Einzel18 So in dem Dialog „Sylla et Eucrate" (1722) oder im achten und dreizehnten Kapitel der „Causes de la grandeur et de la décadence des Romains". Im achten Kapitel tritt der dictateur als politisches Instrument im Kampf der Patrizier gegen die Plebejer auf. Daß der Diktator Militärbefehlshaber war, erwähnt Montesquieu nicht.
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nen sich mit dem einer Familie und der einer Familie mit dem mehrerer herrschender Familien vereinigte. Das Beste ist, die grenzenlose Machtbefugnis durch die Kürze der Amtsdauer zu kompensierea In dem Idealzustand einer richtigen Teilung der Gewalten, wie er im 6. Kapitel des XI. Buches beschrieben ist, gibt es zwar keine Diktatur, wohl aber einen Ausnahmezustand, bei dem die Legislative die Exekutive für eine kurze und genau umgrenzte Zeit ermächtigt, verdächtige Bürger festzunehmen. Voraussetzung dieses Ausnahmezustandes ist eine Verschwörung im Innern oder Einvernehmen mit dem äußern Feind. Doch ist auch die allgemeine Bedeutung außerordentlicher Kommissare für die Entwicklung von der Republik zum Caesarismus dem historischen Bück Montesquieus nicht entgangen. Er rühmt in dem Buch über Größe und Untergang der Römer (c. 11) die kluge Verteilung der öffentlichen Gewalten in Rom, wo eine große Anzahl von Magistraturen sich gegenseitig hemmte und kontrollierte, so daß jeder nur ein pouvoir borné hatte. Dieser Zustand der Gewaltenteüung hörte auf, als man commissions extraordinaires erteüte, wie sie Sulla und Pompejus erhielten. Dadurch wurde sowohl die Macht des Volkes wie die der Magistrate vernichtet und konnten sich einzelne einflußreiche Männer der souveränen Gewalt bemächtigen. Bürgerkriege sind der geeignete Boden für solche Usurpationen, weil sie eine Diktatur herbeifuhrea Zum Beweis werden Ludwig XIII. und Ludwig XIV. von Frankreich, Cromwell in England und der Absolutismus der deutschen Fürsten nach dem Dreißigjährigen Kriege angeführt. Unter dem Vorwand, die Ordnung wiederherzustellen, wird eine grenzenlose Gewalt ausgeübt, und was früher Freiheit genannt wurde, heißt jetzt Aufruhr und Unordnung. Es ist vielleicht historisch-politisch, aber kaum aus dem sachlichen Inhalt seiner Äußerungen zu versteten, wie man bei einem Manne, der eine solche geschichtliche Auffassung von der Entstehung des modernen Staates hat, eine Verwandtschaft mit dem Geist des „Contrat social" entdecken konnte. Die seit der Französischen Revolution oft zitierte Äußerung Montesquieus, man müsse unter Umständen die Freiheit verschleiern, wie man die Statuen der Götter verhüllte,19 steht in einem andern Zusammenhang als sie gewöhnlich zitiert wird. Sie betrifft nämlich nicht die Rechtfertigung des Belagerungszustandes sondern die Frage, ob eine attainder-bill zulässig ist. Das Bedenkliche einer solchen bill hegt darin, daß über einen einzelnen bestimmten Bürger in Form eines Gesetzes geurteüt, also eine Ausnahme von dem generellen Charakter des Gesetzes gemacht wird. Das Gesetz soll eine für Alle geltende Norm sein und nicht einen Einzelfall betreffen. Hier ist die Vorstellung des Gesetzes als einer volonté générale wirksam. Der generelle Charakter des Gesetzes soll darin liegen, daß es keine Individualität kennt und wie ein Naturgesetz ausnahmslos gilt.
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„Esprit des lois" XII, 19: l'usage des peuples les plus libres qui aient jamais été sur la terre me fait croire qu'il y a des cas où il faut mettre pour un moment un voüe sur la liberté, comme l'on cache les statues des dieux.
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Dieser Gesetzesbegriff 20 stammt für Montesquieu (und Rousseau) aus der cartesianischen Philosophie, die Montesquieu hauptsächlich durch Malebranche vermittelt wurde21 und von der seine wissenschaftlichen Interessen ausgingen. Für die französische Staatsphilosophie ist diese Vorstellung von größter Bedeutung geworden. Während im 17. Jahrhundert in England das Prinzip der freien kirchlichen Gemeinde auf politische Körperschaften angewandt wurde und in Amerika ein neues Staatswesen bilden half, wird in dem Frankreich des 18. Jahrhunderts ein metaphysischer und naturwissenschaftlicher Begriff des Gesetzes politisiert. Die cartesianische Lehre, daß Gott nur eine volonté générale habe und alles Partikuläre seinem Wesen fremd sei, übersetzt sich politisch darin, daß der Staat nur generelle und abstrakte Regeln als Gesetz aufstellen dürfe, der einzelne konkrete Fall dagegen nur durch Subsumtion unter das allgemeine Gesetz, nicht aber unmittelbar durch Gesetz entschieden weiden dürfe. Bei Rousseau wird dieser Gesetzesbegriff, mit verschiedenartigen andern Vorstellungen vermischt, besonders wirksam. Montesquieu dagegen zeigt gerade an dieser Stelle, obwohl auch er das Gesetz nach Cicero ein jussum in omnes nennt, wie wenig seine politischen Anschauungen von einem doktrinären Rationalismus beherrscht sind. Trotz seiner Bedenken billigt er die attainder-bill. Die Forderung, daß das Gesetz generell sein muß, enthält nicht wie bei Rousseau eine abstrakte Entfernung von jedem konkreten Inhalt, sondern folgt politisch aus derselben 20
Die Nachwirkungen der aristotelisch-scholastischen Auffassung der lex als eines universale bleiben hier außer Betracht. 21
Während sonst alle möglichen Abhängigkeiten und Zusammenhänge der Gedanken Montesquieus (Aristoteles, Machiavelli, Bodin, Vico, Bolingbroke) betont sind, wird der wichtige Nachweis von E. Büß, Philos. Monatshefte IV, 1869/70, S. 19, der die genaue Obereinstimmung zahlreicher und zwar wesentlicher Sätze mit Malebranche belegt, meistens übersehen. 22 Es ist keine zufällige Bemerkung, wenn Descartes an Mersenne schreibt: „c'est Dieu qui a établi ces lois en nature ainsi qu'un roi établit les lois en son royaume." Bei Malebranche, der den größten Einfluß übrigens nicht nur auf Montesquieu sondern auch auf Rousseau ausgeübt hat, ist das die Grundlage seines Occasionalismus: es muß occasionelle Ursachen geben, welche die lois générales in Bewegung setzen, denn sonst müßte Gott sie in Bewegung setzen und das könnte nur durch eine volonté particulière geschehen. Man muß diese Metaphysik kennen um die Argumentation des „Contrat social" zu verstehen. Beiläufig sei erwähnt, daß sich bei Malebranche auch schon das Bild von der balance des passions findet. - Daß Gott nur eine volonté générale et immuable habe und jede volonté particulière seiner unwürdig ist, beherrscht durch Descartes, Malebranche, Leibniz die Philosophie des 17. und 18. Jahrhunderts als ein Axiom. Erich Kaufmann gebührt das Verdienst, den Zusammenhang einer Staatslehre mit der Philosophie ihrer Zeit mit großer Klarheit dargelegt zu haben: „Studien zur Staatslehre des monarchischen Prinzips", Halle 1906; über den Organismus in der Staatslehre des neunzehnten Jahrhunderts, Heidelberg 1908; sowie die Ausführungen in der Schrift die Clausula rebus sie stantibus, Tübingen 1913, S. 93 f.; über den abstrakten Gesetzesbegriff des achtzehnten Jahrhunderts Emil Lask, „Fichtes Geschichtsphilosophie", Tübingen 1902.
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Erwägung wie bei Locke das antecedent Standing law: ein unveränderliches {imkonstantes Gesetz soll dem Rechtsleben Gleichmäßigkeit und Berechenbarkeit geben und dadurch zugleich mit der Rechtssicherheit die Unabhängigkeit des Richters und die bürgerliche Freiheit begründen, es verhindert eine nach Lage der Sache von Fall zu Fall entscheidende Zweckgesetzgebung und Zweckjurisprudenz und gewährleistet das, was moderne Staatsrechtslehrer den Charakter der „Unverbrüchlichkeit des Gesetzes"23 genannt haben, der zu jeder rechtsstaatlichen (im Gegensatz zur polizeistaatlichen) Ordnung gehört. Die wichtigste Garantie der bürgerlichen Freiheit hegt jedoch in den intermediären Gewalten. Montesquieus berühmter Satz von der Justiz, die zwar als dritte Gewalt neben Legislative und Exekutive genannt wird, die aber im gewissen Sinne unsichtbar und nichtig (invisible et nulle) sein soll, scheint allerdings mit der rationalistischen Auffassung der volonté générale in Verbindung zu stehen24 und zu bedeuten, der Richter sei nur der unselbständige Anwender des Gesetzes auf den einzelnen Fall, der Mund, der die Gesetzesworte ausspricht, la bouche qui prononce les paroles de la loi, ein unbeseeltes Wesen (être inanimé ), das, was die Freirechtsbewegung der letzten Jahrzehnte einen Subsumtionsautomaten nannte. Aber eine andere Deutung entspricht mehr dem Geist und dem Zusammenhang sowohl jenes 6. Kapitels als des ganzen Werkes. Wenn die Rechtspflege im gewissen Sinne unsichtbar und nichtig heißt, so ist dabei an die englischen Geschworenen gedacht, die keine permanente Körperschaft bilden wie die französischen Gerichtshöfe und kein corps intermédiaire sind. Auch hier ist Montesquieu von dem Absolutismus der absoluten Geltung eines abstrakten Satzes weit entfernt. Es gibt für ihn keinen despotisme légal, wie ihn der französische Rationalismus des 18. Jahrhunderts gefordert hat. muable),
Editorische Notiz In: S., C., „Die Diktatur. Von den Anfangen des modernen Souveränitätsgedankens bis zum proletarischen Klassenkampf'. München und Berlin, Verlag von Duncker & Humblot, 1921. Drittes Kapitel, S. 97-129 (Auszug S. 97-109).
23 Mayer, Otto, „Verwaltungsrecht" 2. Aufl. I, Leipzig 1914, S. 47; Fleiner, F., „Institutionen des deutschen Verwaltungsrechts" 3. Aufl., Tübingen 1913, S. 39. 24
Auch Erich Kaufmann, Art. „Verwaltung, Verwaltungsrecht", § 5 in StengelFleischmanns „Wörterbuch des Staats- und Verwaltungsrechts" Bd. ΠΙ, S. 692 faßt die Stelle so auf; ,Auswärtige Gewalt und Kolonialgewalt in den Vereinigten Staaten von Amerika" (Staats- u. Völkerrechtl. Abhandlungen herausgegeben von G. Jellinek und G. Meyer, Bd. VII, Heft 1), Leipzig 1908, S. 33.
Die Eroberung der geschichtlichen Welt Ernst Cassirer (1932) Innerhalb der Aufklärung selbst wird der erste entscheidende Versuch zu einer Grundlegung der Geschichtsphilosophie von Montesquieu unternommen. Montesquieus „Esprit des Lois" bezeichnet auch in dieser Hinsicht eine neue Epoche. Dieses Weik ist nicht unmittelbar aus historischen Interessen erwachsen; das Interesse und die reine Freude am Faktisch-Einzelnen, wie es fur Bayle kennzeichnend ist, ist ihm fremd. Schon der Titel von Montesquieus Werk besagt. daß es ihm auf den Geist der Gesetze, nicht auf den der Tatsachen ankommt. Nicht um ihrer selbst willen, sondern um der Gesetze willen, die sich in ihnen darstellen und ausdrücken, werden die Tatsachen aufgesucht, werden sie durchmustert und geprüft. Nur am konkreten Material werden uns diese Gesetze faßbar; nur in ihm lassen sie sich aufzeigen und nur durch dasselbe lassen sie sich beweisen. Aber andererseits gewinnt dieses Material seine eigentliche Gestalt und seinen Sinn erst dadurch, daß wir es als Beispiel, als Paradigma für allgemeine Zusammenhänge nehmen. Auch Montesquieu zeigt, wie Bayle, eine entschiedene Liebe zum Detail, dessen Anschauung er sich durch umfassende Studien und durch weite Reisen zu erarbeiten sucht. Und die Freude am Besonderen ist bei ihm so stark, daß die Ausmalung des Einzelnen, daß das anekdotische Beiwerk, das er in seine Darstellung einflicht bisweilen die großen Linien der Gedankenführung überwuchert und sie fast unkenntlich zu machen droht. Aber inhaltlich ist all diese Fülle von einem streng begrifflichen Prinzip beherrscht und gebändigt. „Ich habe damit begonnen" - so heißt es in der Vorrede des Werkes - „die Menschen zu prüfen und ich habe geglaubt, daß die in der unendlichen Mannigfaltigkeit ihrer Gesetze und ihrer Sitten nicht von bloßer Willkür und Laune gelenkt werden. Ich habe die Prinzipien aufgestellt, und ich habe gefunden, wie alle besonderen Fälle sich wie von selbst ihnen anbequemen, so daß die Geschichte aller Nationen nur die Folge von ihnen ist, und jedes besondere Gesetz mit einem anderen allgemeinen zusammenhängt oder von ihm abhängt." So ist die Faktizität als solche nicht mehr das eigentliche Leitziel von Montesquieus Forschung. Sie ist für ihn nur das Medium, das er durchschreiten muß, um zum Verständnis eines anderen zu gelangen, das er fordert und sucht. Man kann von Montesquieu sagen, daß er der erste Denker ist, der den Gedanken des historischen Idealtypus gefaßt, und der ihn klar und sicher ausgeprägt hat. Der Geist der Gesetze ist eine politische und soziologische Typenlehre. Was hier gezeigt und was streng bewiesen werden soll, ist dies, daß die politischen Gebilde, die wir mit dem Namen der Republik, der Aristokratie, der Monarchie, des Despotismus bezeichnen, keine bloßen Aggregate sind, die aus bunt zu-
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sammengewürfelten Einzelheiten bestehen, sondern daß jedes von ihnen gewissermaßen präformiert, daß es Ausdruck einer bestimmten Struktur ist. Diese Struktur veibirgt sich uns freilich, solange wir bei der bloßen Betrachtung der politischen und sozialen Phänomene stehen bleiben. Denn hier gleicht keine Gestalt der anderen; hier sehen wir uns vor eine gänzliche Heterogenität und vor eine fast schrankenlose Variabilität gestellt. Aber dieser Schein verschwindet, sobald wir lernen, von den Erscheinungen zu den Prinzipien, von der Mannigfaltigkeit der empirischen Gestalten zu den bildenden Kräften zurückzugehen Jetzt erkennen wir, mitten in der Fülle der Republiken die Republik, in den zahllosen historischen Monarchien die Monarclüe wieder. Im einzelnen sucht Montesquieu zu zeigen, daß das Prinzip, auf dem die Republik ruht und dem sie ihren Bestand verdankt, die bürgerliche „Tugend" (vertu) ist, während die Monarchie auf das Prinzip der Ehre, die Despotie auf die Furcht gegründet ist. Hier erfassen wir als die eigentliche, die wesentliche Differenz die Differenz der Antriebe, der geistig-sittlichen Impulse, von denen jedes Gemeinwesen gestaltet und durch die es bewegt wird. „Zwischen der Natur einer bestimmten Staatsform und ihrem Prinzip" - so erklärt Montesquieu - „besteht der Unterschied, daß die Natur eines Staatswesen es zu dem macht, was es ist; während sein Prinzip das ist, was seine Handlungen bestimmt. Die eine besteht in seiner besonderen Struktur, das andere beruht auf den menschlichen Leidenschaften, die es in Bewegung setzen".1 Über die eigentümliche logische Beschaffenheit der auf diese Weise eingeführten Grundbegriffe ist Montesquieu sich völlig klar. Er sieht in ihnen keineswegs bloße Abstraktionsbegriffe, die eine rein gattungsmäßige Allgemeinheit besitzen, die nur gewisse gemeinsame Züge herausheben und festhalten wollen, wie sie sich an den tatsächlichen Erscheinungen vorfinden. Er will in ihnen vielmehr, über eine solche empirische Allgemeinheit hinaus, eine Allgemeinheit, eine Universalität des Sinns feststellen, der sich in den einzelnen staatlichen Formen ausdrückt; er will die innere Regel sichtbar machen, von der sie beherrscht und geleitet sind. Daß in keinem Einzelgebilde diese Regel völlig rein zum Ausdruck kommt, daß sie sich in keiner historischen Einzelheit vollständig und genau verwirklichen kann: das tut ihrer Bedeutung keinen Abbruch. Wenn er den verschiedenen Staatswesen je ein eigenes Prinzip zuweist, wenn er das Wesen der Republik auf der Tugend, das Wesen der Monarchie auf der Ehre beruhen läßt usf., so darf dieses Wesen niemals mit dem konkreten empirischen Dasein verwechselt werden; es drückt sich in ihm eher ein Sollen, denn ein Sein aus.2 Demgemäß gelten auch die Einwände, die man gegen die Durchführung von Montesquieus System erheben kann, nicht ohne weiteres gegen seinen leitenden Grundgedanken. Der empirische Unterbau, auf 1 2
„L'Esprit der Lois", livr. ΙΠ, chap. 1; vgl. ch. 2 ff.
Cf. „Esprit des lois" ΠΙ, 11 : „Tels sont les principes des trois gouvernements: ce qui ne signifie pas que dans une certaine république, on soit vertueux, mais qu'on devroit l'être. Cela ne prouve pas non plus que, dans une certaine monarchie, on ait de l'honneur, et que dans un État despotique particulier, un ait de la crainte, mais qu'il faudroit en avoir sans quoi le gouvernement sera imparfait ."
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den er dieses System zu gründen sucht, mag heute, auf Grund der Erweiterung des historischen Horizonts und der Verschärfung der soziologischen Problemstellung, noch so unvollkommen erscheinen: das hindert nicht, daß Montesquieu in der Tat ein neues und fruchtbares Prinzip ergriffen und eine neue Methodik der Sozialwissenschaft begründet hat. Die idealtypische Betrachtungsweise, die er einfuhrt und die er zuerst mit Sicherheit handhabt, ist als solche nicht wieder aufgegeben worden; sie ist vielmehr erst in der Soziologie des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts zu ihrer allseitigen Entfaltung gelangt. Und schon Montesquieu gründet auf diese Betrachtungsweise die Lehre, daß alle Momente, die ein bestimmtes Gemeinwesen konstituieren, in einem streng -korrelativen Verhältnis zueinander stehen. Sie sind nicht bloß Elemente einer Summe, sondern sie sind ineinandeigreifende Kräfte, deren Wechselwirkung von der Form des Ganzen abhängt. Bis ins kleinste läßt sich diese Gemeinschaft und diese strukturelle Fügung nachweisen. Die Art der Erziehung, die Art der Rechtspflege, die Gestaltung der Ehe und der Familie, das gesamte Gefüge der inneren und äußeren Politik: dies alles hängt von der Grundform des Staates in bestimmter Weise ab; es läßt sich nicht willkürlich verändern, ohne diese Grundform selbst anzutasten und sie schließlich aufzulösen. Denn jede Verderbnis eines Gemeinwesens setzt nicht bei den Einzelrichtungen seines Wirkens ein, sondern beginnt mit der Zerstörung seines inneren Prinzips: „la corruption de chaque gouvernement commence presque toujours par celle des principes".3 Solange das Prinzip einer Staatsform als solches erhalten, solange es in sich selbst gesund ist, hat sie nichts zu furchten; und auch der Mangel der einzelnen Institutionen und Gesetze schadet ihr nichts. Auf der anderen Seite können bei Verfall des Prinzips, bei Erschlaffung der innerlich-bewegenden Kraft, auch die besten Gesetze keinen Schutz bieten. „Lorsque les principes du gouvernement sont une fois corrompus, les meilleures lois deviennent mauvaises et se tournent contre l'État; lorsque les principes en sont sains, les mauvaises ont l'effet des bonnes: la force du principe entraîne tout [...]. Il y a peu de lois qui ne soient bonnes lorsque l'État n'a point perdu ses principes; et, comme disoit Epicure en pariant desrichesses:ce n'est point la liqueur qui est corrompue, c'est le vase".4 Mit alledem sind die Umrisse einer Philosophie der Politik gezeichnet; aber der Grund zu einer Philosophie der Geschichte ist damit allein freüich noch nicht gelegt. Denn die Idealtypen, die Montesquieu zeichnet, sind rein statische Formen; sie stellen ein Erklärungsprinzip für das Sein des sozialen Körpers auf, aber sie enthalten kein Mittel, um uns die Weise des Geschehens zu verdeutlichen und sichtbar zu machen. Aber Montesquieu zweifelt nicht daran, daß seine Betrachtungsweise sich auch auf dieses Problem ausdehnen und sich für dasselbe fruchtbar machen lasse. Denn wie vom Sein, so ist er auch vom Geschehen überzeugt, daß es kein bloßes Aggregat, kein Ablauf einzelner und beziehungsloser Vorkommnisse ist, sondern daß sich auch an ihm bestimmte typische 3
„Esprit des lois" VIII, 1.
4
Ibid. Vn. 11.
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Grundrichtungen aufweisen lassen. Von außen gesehen mag freilich das, was wir Geschichte nennen, eine solche Richtung nirgends erkennen lassen, mag es als ein Gewirr von Zufällen erscheinen. Aber je mehr man von der Oberfläche der Erscheinungen in ihre wirkliche Tiefe zurückdringt, um so mehr schwindet dieser Anschein. Das Chaos und der Widerstreit der einzelnen Ereignisse löst sich; die Phänomene lassen sich auf einen bestimmten Grund zurückführen und aus ihm erläutern und begreifen. „Diejenigen, die gesagt haben, daß ein blindes Schicksal alles Geschehen in der Welt bestimmt" - so erklärt Montesquieu sogleich zu Anfang seines Werkes - „haben eine große Absurdität gesagt; denn welche größere Absurdität könnte es geben, als die Annahme, daß ein blindes Fatum intelligente Wesen hervorgebracht hätte? Es gibt also einen ursprünglichen Grund (une raison primitive): und die Gesetze sind die Beziehungen, die zwischen ihm und den Einzelwesen bestehen, sowie die Beziehungen, die diese verschiedenen Einzelwesen untereinander besitzen".5 Oft scheint es freilich, als ob ein bloßer Zufall über das Geschick eines Volkes entscheide und seinen Aufstieg oder Untergang bestimme. Aber dem schärfer eindringenden Blick ergibt sich ein anderes Bild. „Nicht der Zufall ist es, der die Welt regiert [...]. Es gibt allgemeine, geistige wie physische Ursachen, die in jedem Staatswesen wirken, es zu seiner Höhe führen, es erhalten oder stürzen. Alle Einzelvorkommnisse sind diesen Ursachen unterworfen, und wenn der Zufall einer Schlacht, d. h. einer besonderen Ursache, einen Staat vernichtet hat, so bestand eine allgemeine Ursache, die dazu führte, daß dieser Staat durch eine einzige Schlacht zugrunde gehen mußte. Mit einem Worte: der Allgemeinzustand ist es, der alle besonderen Schicksale und Geschehnisse nach sich zieht".6 Auch die physischen Umstände wirken auf diesen Allgemeinzustand ein: und Montesquieu ist einer der ersten, der auf ihre Bedeutung hinweist, der die Verbindung aufzeigt, in der die Staatsform eines Landes und seine Gesetze mit dessen Klima und Bodenbeschaffenheit stehen. Aber auch hier weist er die einfache Ableitung aus den reinphysischen Faktoren ab; auch hier ordnet er die materiellen Ursachen den geistigen unter. Nicht jeder Boden und jedes Klima ist freilich für eine bestimmte Staatsform tauglich und möglich; aber ebensowenig ist die letztere durch die physischen Bedingungen einfach im voraus festgelegt und determiniert. Sache des Gesetzgebers ist es vielmehr, hier das rechte, für den Staat heilsame Verhältnis herzustellen. Die schlechten Gesetzgeber sind die, die den Mängeln des Klimas nachgeben; die guten die, die diese Nachteile erkennen und ihnen durch geistig-sittliche Kräfte entgegenwirken. „Plus les causes physiques portent les hommes au repos, plus les causes morales les en doivent éloigner".7 Der Mensch unterhegt nicht einfach den Kräften der Natur; er erkennt diese Kräfte und vermag sie kraft dieser Erkenntnis zu einem von ihm selbst aufgestellten 5
„Esprit des lois" 1,1.
6
„Considérations sur les causes de la grandeur des Romains et de leur décadence" Chap. X V i n . 7
„Esprit des lois" X I V , 5; vgl. bes. X V I , 12.
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Ziele zu lenken; sie in ein Gleichgewicht zu setzen, das den Bestand der Gemeinschaft verbürgt. „Wenn es wahr ist, daß der Charakter des Geistes und die Leidenschaften des Herzens in verschiedenen Himmelsstrichen verschieden sind, so müssen die Gesetze auf diese Unterschiede der Charaktere und der Leidenschaften Bezug nehmen und ihnen gemäß sein".8 Der allgemeine Gang und das allgemeine Ziel der Menschheitsgeschichte geht daher dahin, daß auch in ihr sich eine Ordnung durchsetzt, die der der Naturgesetze an Strenge und Sicherheit vergleichbar ist. Auf der Stufe der Entwicklung, in der wir stehen, fehlt freilich viel daran, daß die sittliche Welt ebenso wohl geordnet wäre, wie die physische. Denn wenngleich auch sie ihre bestimmten und unveränderlichen Wesensgesetze hat, so scheint sie ihnen nicht ebenso beharrlich zu folgen, wie die physische Natur ihren Gesetzen folgt. Der Grund dafür liegt darin, daß die einzelnen verstandesbegabten Wesen begrenzt und somit dem Irrtum unterworfen sind, und daß sie auf der andern Seite gemäß ihrer eigenen Einsicht und ihrem eigenen Willen handeln. So gehorchen sie nicht beständig ihren Grundgesetzen oder den Regeln, die sie sich selbst gegeben haben.9 Aber Montesquieu ist darin ein Sohn seiner Zeit, ein echter Denker der Aufklärung, daß er von der fortschreitenden Erkenntnis dieses Sachverhalts auch eine Neuordnung der Willenswelt, eine neue Gesamtorientierung der politischen und der sozialen Geschichte der Menschheit erwartet. Das ist es, was ihn zur Geschichtsphilosophie hinführt: daß er von ihr, daß er von der Erkenntnis der allgemeinen Prinzipien und der bewegenden Kräfte der Geschichte, die Möglichkeit ihrer sicheren zukünftigen Gestaltung erhofft. Der Mensch unterliegt nicht einfach der Notwendigkeit der Natur, sondern er kann und soll sein Geschick frei gestalten; er soll die ihm bestimmte und gemäße Zukunft heraufführen. Aber der bloße Wunsch bleibt ohnmächtig, sofern er nicht von sicherer Einsicht geleitet ist und sich mit ihr durchdrungen hat. Solche Einsicht kann nur aus der Vereinigung und Zusammenfassung aller Kräfte des Geistes erwachsen: sie bedarf ebensosehr der sorgsamsten Beobachtung des Einzelnen, der Versenkung in das empirisch-historische Detaü, wie der rein begrifflichen Analyse, die die verschiedenen Möglichkeiten vor uns hinstellt und jede von ihnen von den anderen klar und sicher scheidet. Montesquieu verfahrt gleich meisterhaft in der Lösung beider Aufgaben. Von allen Denkern seines Kreises ist er deijenige, der die stärkste historische Einfühlungsgabe, der eine echte Intuition für die mannigfaltigen Formen des geschichtlichen Daseins besitzt. Er selbst hat einmal von sich gesagt, daß er dort, wo er von antiker Geschichte gesprochen habe, den Versuch gemacht habe, den Geist des Altertums anzunehmen und sich zum antiken Menschen zu machen.10 Dieser Bück für das Besondere und diese Liebe zum Besonderen hat ihn, auch in seinen rein theoretischen Konstruktionen, vor jedem einseitigen Doktrinarismus bewahrt. Der bloß-schematischen Darstellung und der Einen8
Ibid. XIV, 1.
9
„Esprit des lois" 1,1.
10
Vgl. hierzu Sorel, „Montesquieu". Paris 1887, S. 151 ff.
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gung der mannigfachen Formen auf ein schlechthin starres Schema hat er stets siegreich widerstanden. Der „Esprit des lois" hat hierfür ein sehr bezeichnendes Wort geprägt. In der Schilderung der englischen Verfassung, die Montesquieu als ein politisches Muster verehrt, betont er nichtsdestoweniger, daß es ihm fern hege, die gleiche Form anderen Ländern aufdrängen und sie als alleinigen Maßstab behaupten zu wollen: „comment dirois-je cela, moi qui crois que l'excès même de la raison n'est pas toujours désirable, et que les hommes s'accommodent presque toujours mieux des milieux que des extrémités?"11 So sucht Montesquieu auch in seinen rein theoretischen Konstruktionen stets die rechte Mitte zu gewinnen und festzustellen; so will er auch hier das Gleichgewicht zwischen den verschiedenen Grundmomenten, zwischen Erfahrung und Vernunft, bewahrea Dieser Gabe verdankt er es, daß sein Werk, weit über den engeren Kreis der eigentlichen Außlärungsphilosophie hinaus, seine Wirkung getan hat. Es ist nicht nur zum Muster und Vorbild der Geschichtsauffassung der Enzyklopädisten geworden, sondern es hat auch den schärfsten Gegner und Kritiker dieser Auffassung in seinen Bann gezogen: Herder hat Montesquieus Methodik und seine Prämissen bekämpft; aber auch er hat sein „edles Riesenwerk" bewundert und ihm in seinen eigenen Entwürfen nachgestrebt.12 Editorische Notiz In: C , Ε.,„Die Philosophie der Aufklärung". Tübingen, Mohr, 1932, S. 280-288, hier in: „Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe". Bd. 15. Hrsg. Claus Rosenkranz. Hamburg, Meiner, 2003, S. 218-225.
11 12
,Esprit des lois" XI, 6.
Vgl. Herder, „Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit". Werke (Suphan) V. S. 565.
Montesquieu und die politische Soziologie Gunther Ipsen (1933) I. Die abendländische Monarchie Wie die englische Soziologie von Hobbes ausgeht, so beginnt die französische mit Montesquieu; ähnlich schafft Hegel die Voraussetzungen der deutschen: die drei größten Staatsdenker der neueren Jahrhunderte stehen am Anfang der europäischen Soziologie in England, in Frankreich, in Deutschland. Die Lehre von der Gesellschaft - wie sehr sie einen neuen, eignen Gegenstand hat, wie vermittelt, wie gegensätzlich ihre Haltung zum Staate sein mag - bleibt notwendig auf den Staat hin gezielt, wie sie von ihm her bestimmt ist und ansetzte; ihr Einsatz spricht es aus, daß Soziologie eine politische Wissenschaft ist Das Verhältnis Hobbes' zur englischen Soziologie ist vielschichtig vermittelt. Die Begriffsbildungen seiner politischen Philosophie zeichnen den Rahmen vor, der das Schema ihrer Voraussetzungen bildet; sie schaffen der Wissenschaft von der bürgerlichen Gesellschaft den Ort, wo sie steht, den Raum, den sie braucht. Aber diese selbst entsteht in der Auseinandersetzung mit ihm, durch den Widerspruch gegen seine Sätze, durch das Fort- und Umdenken seiner Begriffe, durch den Abbau seines Systems und die Verschiebung der Fragestellungen Hobbes ist der Urheber und Wegbereiter, nicht der Beginn der englischen Soziologie. Anders Montesquieu: er ist selbst der erste französische Soziologe, er ist der Vater der politischen Soziologie schlechthin. Zwar erschöpft sich seine Bedeutung darin nicht, denn sowohl die Geschichte als auch die Politik finden sich durch ihn bestimmt. Er steht für jene genau an der Stelle des Umbruchs von den Denkformen des natürlichen Systems zu den organischen Kategorien der europäischen Romantik. Und der politische Ideengehalt seines Werkes färbt in schwer faßlicher Weise nicht nur das politische Denken, sondern auch das politische Geschehen des folgenden Jahrhunderts. Aber an beidem ist er gerade auch als Soziologe beteiligt: die soziologische Ansicht seiner Politik und die soziologische Denkweise seines Geschichtsbildes mitbegründen seine politische und historische Wirkung. Der Einsatz Montesquieus, die politische Zielung und der sittliche Gehalt seines Denkens sind im „Geist der Gesetze" auf Eis gelegt: verdeckt, vermittelt, verhalten Sie sprechen sich aber mit aller wünschenswerten Deutlichkeit in seinen Frühschriften aus, den „Persischen Briefen" von 1721 und den „Betrachtungen über die Universalmonarchie in Europa" aus denselben Jahren, die Montesquieu selbst zurückgehalten hat. Es ist die Opposition gegen den absoluten Staat, die sein Werk speist, die Opposition gegen den Staat Ludwigs des Vierzehnten, wie ihn Richelieu geschaf-
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fen hatte. Es ist eine grundsätzliche Kritik - nicht der Mißstände, der Korruption, der Fehler und menschlichen Ungentigens -, sondern des Systems: des Absolutismus als Herrschaftsordnung. Opposition gegen die Despotie der fürstlichen Alleinherrschaft, gegen die Struktur der Hofgesellschaft, gegen den ungemessenen Druck des Herrschaftsstabes; Opposition gegen die Maßlosigkeit des Machteinsatzes und der Machtanwendung, gegen die europäische Politik des absoluten Staates in seiner universalen Tendenz. Die Monarchie zerstört sich selbst, „wenn der Fürst, das Ganze einzig auf sich beziehend, den Staat an seine Hauptstadt beruft, die Hauptstadt an seinen Hof, den Hof an seine Person allein" („Geist der Gesetze" Vili, 6); die Monarchie muß scheitern, wenn sie die politische Struktur Europas verkennt - einen labilen Plural in sich gefestigter und begrenzter Gebietsherrschaften, die „gleichsam Glieder einer einzigen großen Republik", „eine große, aus mehreren kleineren zusammengesetzte Nation" sind (Univmon. c. 2; 18). Es ist die menschliche Substanz des alten Grundadels, die hier widerspricht: die landsässige Grundherrschaft, die der absolute Staat ihrer politischen Funktion beraubt, und das landschaftliche Eigenleben, das die Zentralregierung entleert. Aber die Opposition aus dieser Substanz wird in Montesquieu durchaus positiv; nicht ein bedrohtes Interesse, nicht adelige Fronde fuhren das Wort, sondern die drängende und bedrohliche Frage nach dem wahren Staat: nach der Herkunft des eignen politischen Seins, nach den Quellen des politischen Lebens, nach dem Wesen der politischen Freiheit. Der Ertrag dieser Opposition ist darum auch ein neuer Europabegriff und ein neuer Begriff des europäischen Staates; Montesquieu ist in einem tiefem Sinne der Entdecker und der Theoretiker der abendländischen Monarchie. „Das wunderbare Ereignis, daß aus dem Verfall der Regierung eines Eroberervolks die beste der denkbaren Regierungsweisen hervorgehen konnte" (XI, 8), ist ihm das größte, das eigentliche Thema der europäischen Geschichte; schon bei ihm hegt darum auf dem germanischen Wesen der Frühzeit und der Feudalität ein Glanz, der die Entdeckungen der Romantik vorwegnimmt. Feudalherrschaft, Ständegliederung, Repräsentativsystem - lauter eigne, neue gesellschaftliche und politische Formen des Abendlandes. Die Darstellung, die Selbsterkenntnis der abendländischen Monarchie ist auch schriftstellerisch der geheime Leitfaden seines Werkes. Ihr Preis klingt in den ersten Büchern zaghaft und zweifelnd an, erhebt sich mit dem Einsatz des zweiten Drittels, der Freiheitslehre, zu klarer Einsicht, artikuliert den Fortgang der Untersuchimg und schwillt gegen das Ende mehr und mehr an; das entscheidende Buch über den Geist der Gesetzgebung (XXIX), womit sich das Werk nach langem Gang durch die Geschichte an die Zukunft wendet, wird getragen von einer breiten Darlegung der staatlichen Anfange Europas (XXVIII, XXX, XXXI). Π. Die Natur und das Positive Das Denken über die geschichtliche Welt ist im 17. und bis tief ins 18. Jahrhundert beherrscht von einer Begriffsbildung, deren Zusammenhang Dilthey „das natürliche System der Geisteswissenschaften" genannt und in seiner Entstehung
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verfolgt hat. Natürliches System im Gegensatz ebensowohl zu den theologisch bestimmten Begriffsbüdungen der vorangegangenen, wie zum historischen Denken der folgenden Zeit; natürlich erstens im Sinne immanenter wissenschaftlicher Rationalität, natürlich ferner, weil es die geistigen und politischen Gehalte in der Struktur der menschlichen Natur vorgezeichnet findet und fundiert, natürlich aber vor allem, weü hier die Kategorie der Natur zum zentralen metaphysischen Gegenstand erhoben ist. Dieser metaphysische Begriff der Natur erzeugt eine eigentümliche Denkform, ein apriorisches Schema der Begriffsbildung, das sich überall mit geringen Abweichungen ausweist und bewährt. Natur bedeutet dabei nicht eigentlich (wie heute) einen besonderen Bereich oder eine eigne Schicht der Wirklichkeit - es sei denn, die Schöpfung schlechthin im Gegensatz zum Schöpfer. Natur meint hier vielmehr eine Urform des Wirklichseins überhaupt, eine substanzielle Struktur, die als Potenz allem Wirklichen innewohnt, wesentlich einfach, identisch mit sich selbst und unveränderlich. Diese Struktur macht Wert und Wesen des Wirküchen aus; sie ist als Norm das innere Sein der Dinge. Und sie erschließt sich vernünftiger Einsicht, denn sie ist die Vernunft der Dinge, ihr Maß, ihr Gesetz. Das natürliche Denken sucht undfindet in der Wirklichkeit jene substanzielle Macht, die es Natur nennt; oder vielmehr, es findet sie als das Wirkliche im bunten Schein und Spiel der Welt, als ihr eigentliches und wahres Sein Was aber nicht Natur ist: das Mannigfaltige, Wechselnde, Veränderliche, die tausend einmaligen Qualitäten und Abschattungen, das Wandelbare und Unbeständige, Individualität und Subjektivität sind positiv. Das Positive ist hier ein bloßer Rest, nämlich der Inbegriff alles Daseienden, soweit es nicht Natur ist. Bestenfalls gleichgültig und behebig, zufällig und wertlos, ohne metaphysische Würde; meist aber zugleich das Wert- und Sinnwidrige, die Unnatur in einem abschätzenden Sinne (und das heißt zugleich, die Unvernunft), das μη όν. In diese Begriffsbildung hat Montesquieu als erster Bresche gelegt (denn Vico bleibt hier notwendig fern, da er außerhalb dieses ganzen Denkzusammenhanges steht). Montesquieu geht von der Meinung aus, „in der unbegrenzten Verschiedenheit der Gesetze und Sitten seien die Menschen nicht einzig ihren Launen und Einfallen gefolgt" (Vorw.); vielmehr bestünde zwischen ihnen ein mehrfacher Zusammenhang: zum einen seien sie in umfassenden Prinzipien begründet, woraus die Mannigfaltigkeit folge; zum andern verbinde sie eine Mehrzahl gewisser Entsprechungen untereinander. Sein Werk will diese Meinung bewähren, indem es je die notwendige Eigentümlichkeit und folglich die notwendige Verschiedenheit der gesellschaftlich-politischen Einheiten nachweist. Seine Begriffe sollen die Positivität der Geschichte denken und einsichtig machen. Seine Leistung ist die Erhebung des Positiven zu Sinn und Wert. Das ist kein abstrakter Denkwille, noch ein immanenter Fortschritt im Reich des Gedankens, sondern zunächst und real die Wendung seiner inhaltlichen Einsichten, seiner Entdeckung der abendländischen Monarchie, seines pluralischen Strukturbegriffs Europas in rationale Erkenntnis und, recht verstanden, ins Allgemeingültige. Das
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konkrete Ziel und der konkrete Ertrag seiner Opposition sind die Schöpfer seiner Begriffe. Mit der Erhebung des Positiven zum Gegenstand der Vernunft beginnt das soziologische Denken in Frankreich; es führt dialektisch über den abstrakten Heroismus des Revolutionsdenkens zum System der positiven Philosophie und Politik, zu Comte. Positivität ist die Kategorie, unter der die französische Soziologie das reale Dasein, die geschichtliche Bewegung, die menschliche Bezogenheit der sozialen Wirklichkeit faßt, und die sich, in einer wunderlichen Umkehr, fordernd und umstürzend wider das Absolute und Allgemeine wendet. Das Prinzipielle der Leistung Montesquieus spricht sich in seinem Begriff des positiven Gesetzes unmittelbar selbst aus; er zeigt die Beziehung zum natürlichen Denken wie den bestimmten Gegensatz dazu, die Herkunft wie die historische Richtung seines Denkens. Denn die Positivität erscheint hier geradezu selbst als Naturgesetz. Zu den Naturgesetzen, die vor der Staatsgründung befolgt würden, gehört außer den biologisch fundierten Verhältnissen der Angst, des Hungers, des Geschlechtstriebs auch ein auszeichnend menschliches, die Gesellung auf Grund des Besitzes gemeinsamer Kenntnisse - das geistige und das soziale Wesen des Menschen sind im Grunde eines Ursprungs. Im Augenblick der Gesellung aber wird die natürliche Verschiedenheit der Menschen sozial wirksam, das heißt strukturbildend als gegenseitiger Kampf der Einzelnen und der Gruppea Und dieser ist der Ursprung aller positiven Gesetze (1,2 f.). Das Positive wird damit gewissermaßen zum Gesetz des Unterschieds, die Positivität als Eigentümlichkeit des geschichtlichen Daseins zum Strukturprinzip der geschichtlichen Wirklichkeit. Jede geschichtliche Wirklichkeit ist wesentlich ein Ganzes, worin die Teile in einem notwendigen Verhältnis stehen; eine Kette, wie Montesquieu immer wieder sagt, deren Glieder sich durch ihre Wechselwirkung zum Kreise schließea IIL Rapport und Esprit Die allgemeinen Kategorien, die ein gesellschaftliches Dasein als eigentümliche Ganzheit denken, sind die Begriffe „rapport" und „esprit"; da sie im Deutschen nicht ohne weiteres wiederzugeben sind, seien sie hier als solche beibehalten. Rapport ist die Beziehung und Zuordnung von Einzelheiten so, daß sich wenigstens ein abstraktes Moment ihres Gehalts deckt, ihre einfache substanzielle Teilgleichheit in irgendeiner Hinsicht (man macht sich den Begriff am besten an einzelnen Beispielen klar, etwa ΧΙΠ, 14 über die Abhängigkeit der Natur der Abgaben von der Regiemngsform und XVIII, 22 über das salische Erbgesetz). Inhaltlich sind darin sehr verschiedenartige Bezüge befaßt; formal bewegen sie sich in allen Zwischenstufen zwischen bloßer Widerspruchslosigkeit und formallogischer Evidenz der Deckung. Aber dieser lockere und scheinbar unverbindliche Beziehungsbegriff erhält seinen Wert gar nicht aus dem unmittelbaren Vergleich einzelner Züge eines Gehalts, sondern aus seiner Intentionalität: er zielt auf die Absicht politischer Ordnungen im Gegenständlichen, er untersucht Ausgleich,
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Zusammenhang und Zusammenklang der Meinung gesetzlicher Bestimmungen und prüft sie an der sachlichen Evidenz der betroffenen sozialen Wirklichkeit. Daraus bestimmt sich allererst Meinung und Absicht der Gesetze und ihrer Beziehungen Der Begriff des Rapport wendet sich aus der Schicht der rechtlichen Gehalte und ihres geistigen Sinnzusammenhanges heraus und stößt in eine neue Dimension vor, die der wirklichen Meinung in einem gesellschaftlich-geschichtlichen Dasein Rapport bedeutet also die „Entsprechung" ihrem Gehalt nach verschiedener Gesetzesbestimmungen in dem Sinne, daß sie einander der Sache nach notwendig mitmeinen; Rapport bedeutet das „Mitmeinen des Andern" betreffs einer sozialen Wirklichkeit. Rapport ist darum wesentlich eine soziologische Kategorie, der gegenständliche Widerschein des sozialen Handelns oder die Umsetzung gesellschaftlicher Verhältnisse in die Rationalität gegenständlicher Gehalte. Das Denken selbst bewegt sich in den Beziehungen dieser Gehalte; aber es zielt auf die gemeinte soziale Wirklichkeit und sucht in ihr die Normen zur Beurteilung der politischen Form Der Begriff des Esprit ist bei Montesquieu die Umkehrung, die Umstülpung des Denkens in Rapports. Jede Einzelheit einer politischen Ordnung entspricht nicht nur in einer Hinsicht einer andern, sondern ist allseitig durch derartige substanzielle Teügleichungen mit den verschiedensten andern verbunden Esprit ist die Beziehung aller Rapports dieser einen Bestimmung auf sie selbst als ihren Knotenpunkt. Durch den intentionalen Bezug der Entsprechungen auf ihre Mitte schlägt das System der Relationen in eine einheitliche Qualität um; diese Synthesis ist der Esprit: „sämtliche Rapports bilden zusammengenommen das, was man den Esprit der Gesetze nennt"; und da dieser „gerade aus den verschiedensten Rapports besteht, die die Gesetze mit den verschiedensten Dingen haben können", folgt er weniger aus der „natürlichen Ordnung der Gesetze, als aus der dieser Rapports und dieser Dinge" (I, 3 f.). Die Begriffe des Rapport und Esprit fassen den Lebenszusammenhang der gesellschaftlichen Verhältnisse als das Ziel ihrer Meinung und das Maß ihrer Ordnung; sie beziehen die Sphäre des Rechts auf die Gesamtheit des sozialen Lebens. Aber sie heben aus dem Zusammenhang dieser Verhältnisse ihre Ratio, ihre Vernunft heraus; sie formulieren die Vernunft eines gesellschaftlichen Daseins, und das heißt die konkrete Vernunft eines eigentümlichen Ganzen Denn „das Gesetz, im allgemeinen, ist die menschliche Vernunft, soweit sie alle Völker der Erde beherrscht; und die staatlichen und bürgerlichen Gesetze jeder Nation können nichts anderes sein als die Sonderfälle in der Anwendung jener menschlichen Vernunft" (I, 3). Mit dieser Fragestellung, mit diesen Kategorien hat Montesquieu die politische Soziologie als rationale Soziologie des Rechts begründet. Damit ist er zugleich der erste Soziologe.
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IV. Prinzip und Esprit général Die Entwicklung des soziologischen Staatsbegriffs gipfelt in den Lehren von den Regierungsprinzipien (ΠΙ-VIÏÏ) und vom Esprit général (XIX); auch hier sei der französische Terminus beibehalten, da der deutsche Begriff des Geistes irreführt. Die Lehre von den Prinzipien besagt, daß jede Herrschaftsordnung, gleichviel welcher Struktur, zur bloßen Gewalt oder der Geltung des Rechts gewissermaßen einer zusätzlichen Kraft bedarf, um zu bestehea Ihr wirkliches Dasein wird viel weniger durch die Regierungsstruktur bewirkt und bestimmt, als vielmehr durch ein Insgesamt menschlicher Leidenschaften, welche die Regierungsgewalt in Bewegung setzen und handeln lassen: die politische Gesinnung („principe", auch „vertu" oder „vertu politique" genannt). Diese ist Tugend weder im Sinne der christlichen Theologie noch als personale Moralität, sondern als ethischer Begriff der politischen Sphäre, „eine gewisse Qualität und Modifikation der Seele", „ein Gefühl". Sie trägt die Herrschaftsordnung und die Regierungsakte, sie ist ihr wirklicher menschlicher Ursprung, gleichsam die lebendige Energie, die Spannkraft und Schnellkraft der politischen Struktur. Mit der Lehre von den Prinzipien vollzieht das politische Denken eine entscheidende anthropologische Wendung: Herrschaft bedarf nun keiner Legitimation mehr außerhalb ihrer selbst, noch wird sie rational konstruiert aus irgendwelchen Verhältnissen oder Anlagen; aber sie ist auch nicht pure Gewalt und einseitiger Machtwille, sondern eine Sozialform, die auf der wirklichen Sittlichkeit des Menschen beruht, die sittlichen Kräfte des menschlichen Gemüts anspricht und aufruft, die von diesen gespeist und getragen oder verworfen und gestürzt wird. Die Herrschaftsordnung formiert und organisiert die politische Gesinnung zu wirklichem Bestand und wirkt so umgekehrt auf die Gesinnung, gibt ihr neue Kraft zurück (V, 1). Die Begründung der Regierungsstruktur auf wirkliche sittliche Energien und die Wechselwirkung beider macht Montesquieus Prinzipienlehre zum ersten soziologischen Begriff der Herrschaft. Er ist die wissenschaftliche Antwort das Nein in Begriffen auf die leidenschaftliche Frage nach dem Rechtsgrund der absoluten Monarchie. Eine Unmenge verschiedener gesetzlicher Bestimmungen, ein ganzes System von Rechtssätzen ist jeweils auf ein und dasselbe Prinzip zurückzuführen: in ihm findet eine Mannigfaltigkeit gesatzter Verhältnisse ihre wirkliche Sinneinheit nämlich die Einheit ihres sittlichen Gehalts. Um dieses sittlichen Gehalts willen ist das Prinzip zugleich ein Normbegriff, der den Grad der Verwirklichung, die gesellschaftliche Macht oder die Entartung einer Herrschaft gleichsam von innen her zu erkennen vermag. Eben darum bezeichnet das Prinzip den Ort wo Staat und Erziehung zusammentreffen: die Erziehung hat zu ihrem Ziel und Inhalt die Ausbildung eben der Gesinnung, die die staatliche Herrschaft trägt (IV, 1-5). Jeder der vier Hauptformen der Regierung entspricht ein eignes Prinzip. Und je nach der Herrschaftsstruktur sind Leistung und Aktivität der politischen Gesin-
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nung verschieden: in der Demokratie macht die politische Tugend, Virtus als Liebe zu den Gesetzen des Vaterlandes und Ausrichtung am Gemeinwohl, als Liebe zu Gleichheit und Einfachheit fast allein das politische Dasein und den Herrschaftsbestand aus; ähnlich in der Aristokratie die maßhaltende Zucht auf Grund der Virtus, das Gefühl der Verantwortlichkeit und Darstellung. Dagegen besteht die moderne Monarchie selbst unabhängig von der Vaterlandsliebe und allen heroischen Tugenden der Alten auf Grund der Gesetzmäßigkeit ihrer Herrschaft; allein auch sie bedarf einer sittlichen Lebenswacht, der Ehre als dem Vorurteil des Ranges und dem Verlangen nach Vorzug und Auszeichnung. Es ist die Dialektik der Ehre, daß sie Scheidungen schafft und gerade durch ihren Antrieb das Ganze wieder zur Einheit bindet, so „trifft es sich, daß Jeder aufs Gemeinwohl zukommt, ob er schon glaubt, er folge seinen Sonderinteressen" (ΙΠ, 7). In der Despotie endlich wird die Gesinnung zu einem bloß passiven Dulden der Herrschaft, zur Furcht. Trotz dieser doppelten Unterscheidung (nach ihrer Qualität und ihrer Funktion) bilden die vier Tugenden doch ein Ganzes, den Inbegriff der Staatsgesinnung; alle sittlichen Kräfte hegen überall bereit und keine dürfte fehlen, aber eine hebt sich jeweüs heraus als die tragende Achse der besonderen Herrschaftsstruktur. Ideengeschichtlich stellt sich die Prinzipienlehre als Erneuerung und Fortbildung der antiken Theorie der vier Tugenden dar, die offenbar aus der Theologie der Pythagoräer stammt (vgl. Pindar Nem. ΙΠ, 74), die seit Piaton zum festen Bestand der antiken Ethik gehört und zuletzt von der Stoa umgedeutet wurde. Ja Montesquieu kommt damit der eigentlichen Meinung dieser Begriffe näher als irgendeine abendländische Tugendlehre zuvor: er hat ihren politischen Gehalt wiederentdeckt. In der Art aber, wie er seine Begriffe konkret erfüllt (als die Polis, die feudale Ständegesellschaft, der orientalische Staat), gibt er das erste Beispiel jener fruchtbaren Durchkreuzung systematischen und historischen Gehalts, die der soziologischen Begriffsbüdung eignet. Wenn der Begriff des Staates durch die Prinzipienlehre gleichsam unterbaut wird, so wird er durch den des Esprit général sozusagen übergriffen. Esprit général ist der Inbegriff der menschenbildenden Wirkungen als Prägung eines Menschentums zum Subjekt geschichtlichen Daseins. Daran haben alle Mächte der geschichtlichen Welt teü: „vielerlei Ursachen beherrschen die Menschen: Klima, Religion, Gesetze und Regierungsmaximen, die Beispiele aus der Vergangenheit, die Sitten und Gebräuche; daraus büdet sich als Ergebnis ein Esprit général." Er schafft die Grundhaltung, woraus die Menschen „frei und der natürlichen Anlage folgend" handeln Und wie das Insgesamt der politischen Gesinnung, so verwirklicht sich auch der Esprit général jeweüs durch den Akzent auf einzelnen Prägekräften: „maßen bei jedem Volk eine der Ursachen kräftiger wirkt, um so mehr treten die andern zurück: Natur und Klima herrschen fast allein über die Wilden; die Gebräuche leiten die Chinesen; die Gesetze zwingen Japan; die Sitten gaben seinerzeit Sparta seinen Stil; die Regierungsmaximen und die Sitten der Vorzeit Rom."
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Der Begriff des Esprit général ist in genauer Entsprechung zur allgemeinen Kategorie des Esprit gebildet: wie dieser die Raffung aller Rapports einer einzelnen Satzung zur qualitativen Synthesis meint, so jener den Bezug aller wirksamen Dimensionen des politischen Daseins auf die Individualität seines Trägers, und das heißt: ihre Verwandlung zum Subjekt. In diesem Sinne handelt es sich um einen sozial-psychischen Befund. Mit dem Begriff des Esprit général schließt sich die anthropologische Wendung zum Kreislauf. Sittliche Kräfte des menschlichen Gemüts geben dem Staat sein Leben als Herrschaftsordnung; diese prägt mit den übrigen geschichtlichen Mächten den Menschen zum historischen Subjekt. Darum ist die eine der Fragen, die Montesquieu hier stellt, die nach dem Einfluß der Gesetze und ihrem Beitrag zu jener Prägung; sie wird am Beispiel Englands breit erörtert (XIX, 27). Wichtiger aber ist die andre Frage nach der gediegenen Einheit und Festigkeit eines geseUschafthch-geschichtlichen Gesamtzustandes; sie wird am Begriff der chinesischen Welt entwickelt (XIX, 10, 13, 16-20): China sei das wunderbar glückliche Land, das trotz unsicheren Lebensunterhalts unverwüstlich und unzerstörbar bleibt, so daß es bisher alle seine Sieger besiegt hat; das Land, wo die Gesellschaft schlechthin beruhigt lebt, weü hier Gebräuche, Sitten, Gesetze und Religion dasselbe sind, weil die Sitten (welche die menschlichen Handlungen als inneres Verhalten regeln) die Gesetze vertreten, die Gebräuche (welche das äußere Verhalten regeln) wiederum die Sitten. In diesen und andern Ausführungen verbirgt sich eine weitere Frage, die nirgends ausdrücklich gestellt wird und dennoch überall mitschwingt oder vorausgesetzt ist; sie erst schließt den soziologischen Staatsbegriff ab: der Staat ist durchaus eingebettet in ein umfassendes Ganze sittenhaft geregelten Lebens („les mœurs"); er erhebt sich darüber und bezieht sich wieder darauf. Diese breite Unterschicht sittlichen Daseins muß immer mitgedacht werden, wenn die Herrschaftsordnung des Staates begriffen werden soll. Sittlichkeit und Gesetze sind in verschiedener Weise sozial wirksam: „die Gesetze werden festgestellt, die Sitten eingegeben; diese beziehen sich mehr auf den Esprit général, jene auf eine besondere Einrichtung." Und sie betreffen verschiedene Schichten des Menschentums: „die Gesetze regeln mehr die Handlungen des Staatsbürgers, die Sitten mehr die des Menschen" Die Gesetze müssen den Sitten entsprechen; aber diese entziehen sich, wenigstens zum Teil, dem Zugriff und der Veränderung durch Rechtssatzung (ΧIX, 12,14, 16 u. ö.). Mit dem Rückgriff auf die tragende Schicht substanzieller Sittlichkeit ist der soziologische Staatsbegriff abgeschlossea Die Frage nach dem Verhältnis des Staates zur Religion und zur Wirtschaft (das heißt bei Montesquieu wesentlich staatliche Finanzwirtschaft und auswärtiger Handel) betreffen sekundäre Einzelprobleme. In der Durchführung wird hier überall die Kategorie der Staatsräson spürbar, die den Staat als souveränes Subjekt setzt, der durch alle Lebens- und Wertbezirke hindurchreicht und sie wie Mittel auf sich hin betrachtet und verwendet.
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Dagegen wird der Staatsbegriff selbst durch die Fundierung des Gesamtsystems in den Naturverhältnissen betroffen, die sogenannte Klimalehre (XIVXVIII). Es handelt sich dabei um eine naturalistische Anthropologie, die den Menschen als Naturwesen den (zuletzt mechanischen) Wirkungen der natürlichen Verhältnisse unterwirft. In einem eigentümlichen Wechselschritt des Denkens (man verdeutlicht ihn sich am besten an einem Beispiel, etwa XIV, 1 f. über die sozialpsychischen Auswirkungen von kaltem und heißem Klima) wird ein Ursachenzusammenhang von elementaren zu immer komplexeren Tatbeständen aufgebaut und daraus Rassencharaktere interpretiert. Diese verursachen als psychische Grundlage typische soziale Verhaltungsweisen, die endlich durch Sitte und Brauch geprägt werden. Es ist also die substanzielle Schicht der Sittlichkeit, die von den Verhältnissen des Lebensraums geformt und bestimmt wird; es sind die Elemente des sozialen Daseins - primitive Wirtschaftszustände, Ehe- und Familienformen, Anfange herrschaftlicher Verhältnisse wie Sklaverei und Knechtschaft - die als Folgen der Naturbestimmtheit erscheinen Der Staat wird von diesen Zusammenhängen nur mittelbar und keineswegs zwangsläufig betroffen: soweit er jene Unterschicht voraussetzt und sich darauf bezieht, wird die Naturbestimmtheit zu einem Teil des Grundes, worauf er baut. Die gesatzten Verhältnisse haben zu ihrem Gehalt die Absicht, solche natürlich erwirkten Zustände zu befestigen umzubilden oder zu unterbinden Mittelbar aber wird die Naturbestimmtheit der sozialen Elemente für den Staatsbegriff wesentlich, indem sie das wichtigste Moment der Verschiedenheit darstellt und so die Positivität der geschichtlichen Wirklichkeit vorbereitet und erzwingt. V. Die politische Freiheit Der Begriff der politischen Freiheit (ΧΙ-ΧΠΙ) umschreibt die Sonderait der europäischen Herrschaftsformen.
Der „Geist der Freiheit" hat eine große abendländische Voigeschichte: voibereitet in gewissen Natuigrundlagen tritt er als Gemeinfreiheit aus den „germanischen Wäldern"; durch die Umbildung des Erobereitums der Völkerwanderung zur feudalen Grundherrschaft organisiert er sich zum Herrschaftsstab des Adels (zu diesem Begriff vgl. V, 9); die christliche Religion drängt ihrerseits auf gemäßigte Regierung, der Protestantismus als Kirche ohne sichtbares Oberhaupt entspricht dem nordischen Drang nach Unabhängigkeit und Freiheit (XXIV, 3,5), in der englischen Monarchie der Oranier wird die politische Freiheit unmittelbar zum Gegenstand der Verfassung (XI, 5 f., dazu XIX, 27 u. XX, 7); aber auch die anderen europäischen Monarchien nähern sich mehr oder minder dem Prinzip der Freiheit; aus der Gloire, die sie für die Büiger, den Staat und den Fürsten erstreben, „entspringt ein Geist der Freiheit, der in diesen Staaten Großes wirken kann und, vielleicht, ebenso zum Glück wie zur Freiheit selbst beitragen" (XI, 7). Politische Freiheit hat eine doppelte Bedeutung: einerseits meint sie in bezug auf die Verfassung die Legalität der Herrschaft „das Recht, alles zu tun, was die Gesetze erlauben; die Vollmacht, zu tun, was zu wollen man verpflichtet ist, und
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nicht gezwungen zu sein, das zu tun, was zu wollen man nicht verpflichtet ist" (XI, 3). Andrerseits meint sie in bezug auf den Staatsbürger die Sicherheit oder doch die Meinung davon (ΧΠ, 1 f.). Beide Seiten sind nicht notwendig verbunden; aber dann handelt es sich immer um eine Minderung oder Urrvollkommenheit der Freiheit, die nur rechtlich, aber nicht faktisch besteht, oder wohl dem bürgerlichen Leben zukommt, ohne staatlichen Ausdruck gefunden zu haben. Der soziologische Gehalt dieser Freiheitslehre ist ein doppelter: sie begreift die politische Herrschaft als ein Wechselverhältnis der Bestimmungsgewalt und des Schutzes; die Wechselseitigkeit dieser Leistung ist die Grundlage eines jeden wirklichen Herrschaftsverhältnisses (und als solche von der großen politischen Philosophie immer schon gesehen worden). Zum andern aber begründet Montesquieus Freiheitslehre den Begriff der legalen Herrschaft als einer typischen Herrschaftsstruktur: die Geltung der Herrschaft beruht auf rationaler Satzung allgemein verpflichtender Regeln des sozialen Verhaltens und garantiert dem Einzelnen die präzise Voraussicht seiner Verpflichtungen Das Gesetz ist die Norm, innerhalb der die Verwaltung handelt; und ein System dem Sachverhalt angemessener Rechtssatzungen ordnet das bürgerliche Leben. Diesen Typ der legalen Herrschaft hat die Revolution als politische Gleichheit gefordert, das 19. Jahrhundert zum Rechtsstaat ausgebildet. Die Lehre von der Gewaltenteilung, die Montesquieu mit zweifelhaftem Recht aus der englischen Verfassung ableitete, bedeutet demgegenüber einen sekundären Gedanken. Die Trennung der gesetzgebenden, der ausführenden und der richterlichen Gewalt soll die Legalität der Herrschaft politisch garantieren: so erscheint sie - entgegen der Meinung des 19. Jahrhunderts - beinahe als technische Frage des Herrschaftsaufbaus. Im Verfolg dieses Gedankens tritt die richterliche Gewalt (wieder in Anlehnung an England) zurück, da sie keinen festen Herrschaftsstab ausbildet. In der Gegenüberstellung der Gesetzgebung und des staatlichen Handelns aber erscheint in der Tat zum erstenmal jene Frage theoretisch formuliert, die die Folgezeit immer wieder gestellt hat, die Frage nach dem Verhältnis von Staat und Gesellschaft im Sinne eines Kampfes um die Herrschaft. Editorische Notiz In: Archiv für angewandte Soziologie 5 (1933), S. 112-124.
Die Entstehung des Historismus Friedrich Meinecke (1936) Es ist Staatskunst im höchsten, damals erreichbaren Grade, was Montesquieu bieten will, es ist ein Lehibuch der Staatskunst, die Fortsetzung der Linie, die Machiavelli begonnen hatte, ihr zweiter Höhepunkt nach ihm und in der Hauptsache auch Abschluß. [...] Die Größe der Leistung Montesquieus aber bestand darin, daß er die gesamten wissenschaftlichen Errungenschaften seiner Zeit in den Dienst seiner Aufgabe stellte, dem Staatsmann die tiefste Kenntnis staatlichen Lebens und die besten und sichersten darauf fundierten Maximen zu liefern. Die ältere Staatskunstlehre hatte diese Maximen oft nur den Vordergründen praktisch-politischer Erfahrung entnommen. Er wollte sie aus den Hintergründen, aus den letzten erkennbaren Gesetzmäßigkeiten geschichtlichen Lebens schöpfen. Geschichte und Naturwissenschaft, Erd- und Völkerkunde, die in das Gemeinbewußtsein übergegangenen Lehren der zeitgenössischen Philosophie und Psychologie, dazu nicht in letzter Linie die eigenen Erlebnisse, wurden von ihm so verwandt, wie ein Orgelspieler die verschiedenen Register und Tasten seines Instrumentes verwendet. Aus der humanistischen Überlieferung stammte die gewaltige Belesenheit in den antiken Autoren und die klassizistische Verehrung für die Mustergültigkeit antiker Erscheinungen. Aus der Reiseliteratur seiner Zeit die Heranziehung und Vergleichung exotischer Volks- und Staatsverhältnisse, aus eigenen Reisen die Kenntnis des modernen Europas. Aus naturwissenschaftlichen Bemühungen der eigenen Jugendzeit die Vertrautheit mit den Ergebnissen der Naturforschimg. Aus dem zur Zeit der Regentschaft erwachenden politischen Interesse an der Wiederbelebung der alten, vom Absolutismus unterdrückten Institutionen Frankreichs die intensive Versenkung in die ältesten Wurzeln dieser Institutionen und in die Quellenliteratur barbarischer Jahrhunderte. Und schließlich aus dem Fluidum der französischen Gesellschaft, des Salons, der Lektüre Montaignes und anderer geistreicher Welt- und Menschenkenner, vor allem aber aus eigener Anlage die geistige Versatilität, die milde Läßlichkeit und Aufgeschlossenheit gegenüber den sonderbaren Spielarten der menschlichen Psyche. [...] Gesetze, heißt es hier, sind die notwendigen Beziehungen, die aus der Natur der Dinge fließen. 1 Alle Wesen haben Gesetze, wie die Gottheit selbst, so auch die materielle Welt; die Tiere haben ihre Gesetze, die Menschen haben ihre Gesetze. 1 Über das Verhältnis von Beziehung zu Gesetz bei Montesquieu vgl. M Ritter, „Entwicklung der Geschichtswissenschaft", S. 211.
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Damit scheint, da auch Gott den von ihm gegebenen Gesetzen unverbrüchlich gehorcht, das strengste Kausalitätsprinzip proklamiert zu werden. Und doch wandte er sich sofort heftig gegen diejenigen, die alle Wirkungen in der Welt auf eine blinde Fatalität zurückführten. Denn der Rationalist in ihm, der an zeitlose, dem gewöhnlichen Kausalzusammenhänge entrückte Vernunftwahrheiten glaubte, sträubte sich gegen die deterministischen Konsequenzen seiner Vordersätze. Die Gesetze oder, wie wir sagen würden, die Normen der Vernunft, mußten für dies rationalistische Bedürfnis ebenso unveränderlich sein, wie die Gesetze der Bewegung in der materiellen Welt und die Sätze der Mathematik. Diesen Nachweis konnte er nur dadurch zustande bringen, daß er Gesetze im Sinne von Normen und Gesetze im Sinne von Kausalbeziehungen und mathematischen Sätzen durcheinanderwirbelte. 2 Die Begriffe von Recht und Unrecht zum Beispiel würden wir heute als Normen ansehen, deren Inhalte durch die Entwicklung von niederer zu höherer Lebensstufe entstanden sind und sich auch weiter entwickeln und wandeln. Für Montesquieu aber mußten sie ebenso zeitlos gültig sein wie die Wahrheit der Mathematik. Und so schrieb er denn: „Zu sagen, daß es kein anderes Recht oder Unrecht gäbe als das, was die positiven Gesetze gebieten oder verbieten, das heißt soviel als sagen, daß, bevor man einen Kreis gezogen hatte, nicht alle Radien gleich lang gewesen seien." Scharfund glatt faßte er demnach die Widersprüche, die er zwischen den positiven Gesetzen und dem sog. Naturrecht fand, als Widersprüche einer veränderlichen und einer unveränderlichen Normenwelt auf (26, 3 und 4).3 Im Banne seines naturrechtlichen Denkens konnte sich also Montesquieu der Unklarheit nicht bewußt werden, die er durch die Vermischung der verschiedenen Begriffe von Gesetz beging. Auch das machte ihn nicht irre, daß, wie er dann selber ausführte, die Vernunftgesetze von dem Menschen auf Schritt und Tritt verletzt werden, während doch seine physische Natur unverbrüchlichen Gesetzen unterworfen sei. Das komme daher, sagte er, daß er als begrenzte
2
Vgl. hierzu auch Barckhausen, „Montesquieu, ses idées et ses œuvres" (1907),
S. 40. 3
Es gehört zu den kleinen Inkongruenzen Montesquieus, daß er in dem unmittelbar vorhergehenden Kapitel 26, 2 ausdrücklich nur dem göttlichen Recht den Charakter der Unveränderlichkeit beüegt. Ganz unzweideutig aber heißt es dann 26, 14: „La défense des lois de la nature est invariable, parce qu'elle dépend d'une chose invariable." Ein hübsches Beispiel, wie Montesquieu bei der Arbeit selbst noch mit dem Problem rang, die naturrechtlich, verstandene Vernunft mit der Fülle der geschichtlichen Varietäten in Einklang zu bringen, gibt Barckhausen (Montesquieu usw. 1907, S. 233) aus den Papieren von La Brède. Der 11. Absatz von I. 3 sollte ursprünglich lauten: „La raison humaine donne des lois politiques et civües à tous les peuples de la terre [...]". Er wurde geändert in: „La loi en général est la Raison humaine en tant qu'elle gouverne tous les peuples de la Terre [...]". Der Rationalismus wurde damit gedämpft, aber nicht aufgehoben. - Vgl. auch „Pensées et fragments" (1, 381) über die lois invariables et fondamentales , die im Staatsleben herrschen sollten, freüich nicht immer herrschen.
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Intelligenz der Unwissenheit und dem Irrtum, als empfindendes Geschöpf tausend Leidenschaften unterworfen sei. [...] Während er die Entstehung der Gesetze zumeist noch pragmatistisch - und dadurch tief geschieden von der späteren Volksgeistlehre Savignys - auf den bewußten, wenn auch von den konkreten Umständen bestimmten Willen des Gesetzgebers zurückführte, dachte er schon kollektivistisch über die Entstehung der Sitten und Manieren.4 Sie sind, urteilte er, das Werk der Nation im allgemeinen (19, 14). Aus der Natur, sagt er ein andermal, ziehen die Sitten ihren Ursprung, die Akzente der Natur sind die süßesten aller Stimmen (26, 4). Die Beispiele, die er dabei vor Augen hatte, lassen zwar erkennen, daß der Begriff der Natur hier noch einen naturrechtlichen Sinn hatte, weil die Sitten, auf die er dabei anspielte, dem, was man unter natürlicher Moral verstand, entsprachen. Aber dies Wort von der süßesten aller Stimmen hatte schon einen Klang und Empfindungswert der über den Rationalismus hinauswies in ein ganz neues, innerlicheres Verhältnis zur Geschichte. Der große historische Wurf der „Considérations", das gewaltige Drama der römischen Geschichte in Aufstieg und Niedergang als einen von allgemeinen Gesetzen beherrschten einheitlichen Prozeß zu begreifen, beruhte hierauf. Das Thema war wie kein anderes geeignet das historische Denken aufzuregen und das Forschen nach Ursachen anzustacheln. [...] Wie sehr nun aber seit der Renaissance das Kausalitätsbedürfnis und das Selbstvertrauen des Geistes, das Leben erklären zu können, gewachsen war, das zeigen die weiteren Worte Montesquieus, die schon des jungen Friedrichs des Großen Aufmerksamkeit erregt haben: „Es gibt allgemeine Ursachen, seien es physische, seien es moralische, die in jeder Monarchie wirken, sie erheben, erhalten oder stürzen; alle Akzidenzfalle sind diesen Ursachen unterworfen, und wenn der Hazard einer Schlacht, das heißt eine partikulare Ursache, einen Staat ruiniert hat so gab es immer eine allgemeine Ursache, die es bewirkte, daß dieser Staat durch eine einzige Schlacht zugrunde gehen mußte. „En un mot l'allure principale entraîne avec elle tous les accidents particuliers" (c. 18). Es war die reifste Formulierung seiner historischen Kausalitätstheonie, der wir schon in seinem Jugendaufsatze „De la Politique" begegnet sind. Dieses Prinzip angewandt auf die römische Geschichte, ergab folgendes Bild: Durch ein einheitliches und konstant gehandhabtes System großartiger Maximen, alle darauf gerichtet, den Staat zu vergrößern, wurde die römische Republik zur Weltmacht. Der Geist der Römer wirkte sich darin aus. Wir werden auf seine Lehre vom Geiste zurückzukommen haben und bemerken hier nur, daß er, um seiner Lehre von den Generalursachen, der allure principale , den stärksten und einfachsten Ausdruck zu geben, diesen Geist der Römer als ein beinahe von 4 Freilich nicht ohne Ausnahme. „Lycurgue [...] forma les manières", heißt es 19,16. Hier war er aber, wie später noch einmal zu betonen sein wird, klassizistisch abhängig von der antiken Tradition. Auch die chinesischen Gesetzgeber behandelt er an derselben Stelle, abhängig von der Reiseliteratur, ähnlich pragmatistisch.
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Anfang an fertiges Gebilde bewunderungswürdiger Eigenschaften auftreten läßt. [...] Ganz massiv ist darum auch die Ursache gedacht, die diesen Römergeist, insofern er auch der Geist eines Freistaate war, zugrunde richtete. „Die Größe des Reichs verdaib die Republik," „es war einzig allein die Größe der Republik, die das Unheü hervorrief 4 (c. 9).5 Unter dem zwingenden Drucke der Aufgaben, die das zum Weltreich vergrößerte Reich stellte, mußten die alten Maximen aufgegeben werden. Daraus machte nun Montesquieu charakteristischerweise ein nicht nur für Rom, sondern allgemein gültiges Bewegungsgesetz des Staatenlebens. „Immer hat man gesehen, daß gute Gesetze, die eine kleine Republik groß gemacht haben, ihr zur Last werden, wenn sie sich vergrößert hat, weil sie von der Art waren, daß ihre natürliche Wirkung wohl war, ein großes Volk zu schaffen, nicht aber, ein solches auch zu regieren" (c. 9). Man mußte also zu einer neuen Regierungsform übergehen, um das Weltreich zu beherrschen. Die Maximen aber, die in dieser neuen Regierungsform geübt wurden und den ursprünglichen Maximen entgegengesetzt waren, führten schließlich auch zum Sturz der Größe des Reichs (c. 18). Rom ist also an seiner eigenen Größe zugrunde gegangen. [...] Dieser politische Relativismus war einer der Wegbahner des kommenden Historismus. Er reichte, eben weil er politisch war und sich mit praktischen Lösungen begnügte, noch nicht aus, um die Herrschaft absoluter naturrechtlicher Maßstäbe in Staatsleben und Geschichtsbetrachtung ganz zu brechen. Aber er konnte in allen konkret betrachteten Einzelfällen Antworten geben, die den Glauben an jene Maßstäbe allmählich erschüttern mußten. Montesquieu stand noch mitteninne zwischen absolutierender und relativierender Denkrichtung und ließ bald die eine, bald die andere walten. [...] Sein immer von den Realien genährter Rationalismus war wohl helläugig genug, um überall ein inneres Band zwischen den Erscheinungen zu sehen, aber strebte nun auch danach, es so klar und sinnfällig, so eng verbunden mit der naturhaften Wirklichkeit wie möglich aufzufassen. Charakteristisch dafür ist schon die Definition dessen, was er unter seinem „Esprit des lois" überhaupt verstand.6 „Dieser Geist besteht in den verschiedenen Beziehungen (rapports), die die Gesetze mit verschiedenen Dingen haben können" (1, 3). Er bedeutete ihm also das Ensemble der Kausalbeziehungen zwischen Gesetzgebung und Leben. Sein Kausalbedürfhis ging nicht vom Greifbaren auf ein Ungreifbares, verborgen dahinter Liegendes zurück, sondern schritt vorwärts vom Greifbaren zu dem, was durch das jeweilig verschiedene Zusammenwirken greifbarer Faktoren erzeugt zu sein schien - zu dem, was er den esprit général einer Nation nannte. „Mehrfache Dinge", heißt es in dem diesem Thema gewidmeten und, 5 Begleitursachen, die Montesquieu an anderen Stellen noch anführt, lassen wir hier beiseite. 6
Über die vermutliche Beeinflussung durch Dona, „Vita civile" (1710), der das Schlag wort Geist der Gesetze schon verwendet, vgl. Dedieu, „Montesquieu" (1913), S. 67.
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wie er es liebte, epigrammatisch zugespitzten Kapitel seines Buches (19, 4), „beherrschen die Menschen, das Klima, die Religion, die Gesetze, die Maximen der Regierung, die Beispiele der vergangenen Dinge, die Sitten, die Manieren; daraus bildet sich ein esprit général der aus ihnen resultiert". 7 Und die Generalgeister der einzelnen Nationen unterscheiden sich, wie er weiter lehrt, durch die verschiedene Dosierung dieser Faktoren voneinander. Die Wilden z.B. werden fast allein durch Natur und Klima beherrscht, in Sparta waren einst die Sitten tonangebend, in Rom die Regierungsmaximen und Sitten zusammen. Jeder Nationalgeist, dürfen wir danach schließen, hat seine besondere Dominante, die aber immer nur einen typischen, im Einzelfall besonders stark ausgeprägten Faktor, nicht einen ganz individuellen und unvergleichlichen Wesenszug darstellt. Die verschiedenen Ingredienzien der verschiedenen Nationalgeister sind ebenso typisch gedacht wie die moralischen Kategorien der Tugend, der Ehre und der Furcht, auf die er seine Psychologie der drei Staatsformen der Republik, der Monarchie und der Despotie aufbaute. Wohl spürt man, wenn man seine „Considérations" liest und ihn ergriffen vom Geiste der alten Römer sprechen hört, daß ihm eine ganz individuelle und lebensvolle Erscheinung dabei vor Augen stand. Aber mit den theoretischen Mitteln seiner Geschichtsauffassung vermochte er noch nicht an diese Individualität heranzukommen. Sie würden dennoch ausgereicht haben, um wenigstens die ersten Schritte auf der Bahn zu tun, die die spätere Lehre vom Volksgeiste, zwar vielfach irrend, im ganzen doch fruchtbringend gegangen ist. Das heißt, es wäre ihm möglich gewesen, den esprit général der Nationen nicht nur als ein Produkt von soundsoviel Faktoren, sondern auch als bewirkende Ursache der einzelnen Erscheinungen im Nationalleben zu behandeln. Es finden sich auch Ansätze dazu, namentlich in den „Considérations".8 Wir bemerkten ferner, daß er Sitten und Manieren aus dem Volksleben im ganzen hervorgehen ließ, und erinnern noch einmal an das geistreiche Bild des englischen Nationalcharakters, das er im 7 Noch enger lautet seine Definition des Volksgeistes in den „Pensées et fragments" (2,170): „J'appelle génie d'une nation les mœurs et le caractère d'esprit de différents peuples dirigés par l'influence d'une même cour et d'une même capitale." Diesen Einfluß, den eine große Hauptstadt wie Paris auf den esprit général der französischen Nation geübt hat, hat er sehr geistreich beobachtet. „C'est Paris qui fait les François: sans Paris, la Normandie, la Picardie, l'Artois seroient allemandes comme l'Allemagne; sans Paris, la Bourgogne et la Franche-Comté seroient suisses comme les Suisses etc." („Pensées et fragments", 1,154). 8
Vgl. c. 14 Schluß, wo die Trauer des römischen Volkes beim Tode des Germanicus dazu dient, das génie du peuple Romain zu charakterisieren, und c. 15, wo die furchtbare Tyrannei der Kaiser aus dem esprie général der Römer abgeleitet wird. Hildegard Treschers Kritik („Montesquieus Einfluß auf die philosophischen Grundlagen der Staatslehre Hegels", Leipziger Diss. 1917, S. 83), daß Montesquieu „die einzelnen geschichtlichen Erscheinungen nie auf das kulturelle Ganze [...] zurückfuhrt", geht also etwas zu weit. Über die bisherigen Auffassungen von Montesquieus Volksgeistlehre vgl. Rosenzweig, „Hegel und der Staat" (1920), 1. 224 f.
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„Esprit der lois" (19,27) entwarf, mit seinen Auswirkungen im Großen und Kleinen bis ins tägliche Leben hinunter und bis zu den geistigen Schöpfungen hinauf. Aber wie bezeichnend ist es für seinen Pragmatismus, daß er damit nicht etwa die Macht des Nationalgeistes über das Leben, sondern den Einfluß der Gesetze auf die Bildung des Nationalcharakters nachweisen wollte. Im Grunde hat er auch das Problem des Nationalgeistes nicht mit historischen, sondern mit politischen Augen angeschaut. Der staatsutilitaristische Grundzug seines Denkens schlug durch. Der Gesetzgeber, war seme Meinung, muß den Nationalgeist kennen, beachten und schonen. Schon in den „Considérations" hieß es: „Es gibt in jeder Nation einen esprit général, auf den die Macht (sc. der Regierung) selbst sich gründet; wenn sie diesen Geist verletzt, verletzt sie sich selbst" (c. 22). „Die Gesetze", sagte er im „Esprit des lois" (19,12) „werden gesetzt, die Sitten werden inspiriert; diese hängen mehr mit dem esprit général jene mehr mit einer besonderen Institution zusammen; darum ist es ebenso gefährlich, ja noch gefahrlicher, den esprit général umzustürzen, als eine besondere Institution zu ändern." Man mache die Völker unglücklich, wenn man ihnen ihre Gewohnheiten mit Gewalt nehme (19,14). Wohl hob sich diese tiefe politische Einsicht in die zarte und empfindliche Natur der irrationalen Mächte des Volkslebens scharf ab von dem beginnenden rationalistischen Gesetzeseifer des aufgeklärten Despotismus. [...] Das Eigene bei Montesquieu ist also, daß er noch nicht allgemein und auf der ganzen Linie, aber doch in einem bestimmten Bereiche der geschichtlichen Welt in ein neues, über Staatsutüitarismus und Rationalismus hinausführendes Verhältnis zu ihr hineinwachsen konnte. Sowohl der Individualitäts- wie der Entwicklungsgedanke wurden in diesem wach. [...] Sein Werk trug weiter als sein eigenes Wollen und Können. Die stärkste Wirkung, die von ihm auf das geschichtliche Denken ausging, war der neue Respekt vor den Gebüden der geschichtlichen Welt, die neue Empfindung, daß überall noch Entdeckungen eines bisher unbekannten Sinnes und Zusammenhanges zu machen seien. [...] Editorische Notiz In: M , F., „Die Entstehung des Historismus. Erster Band. Vorstufen und Aufklärungshistorie". München und Berlin, Oldenbourg, 1936. S. 125-192, auch in: „Weike. Bd. 3". Hrsg. Carl Hinrichs. München, Oldenbourg, 1959. S. 116-167.
Feudale Reaktion und Aufklärung Martin Göhring (1946) Die seit 1688 zum Durchbruch kommende literarische Opposition gegen die Regierungsweise Ludwigs XIV. ist ein weiterer wichtiger Träger der geistigen Brücke vom 16. zum 18. Jahrhundert. Auf der Grundlage ihres Programms entwickelten sich die Ideen, mit denen sich der Absolutismus bei Ausbruch der Revolution auseinanderzusetzen hatte und gegen die er unterliegen sollte. Begünstigt wurde die geistige Entwicklung vor allem durch zwei Faktoren: durch die fortdauernde Erschlaffung der Zentrale und die erneute Zubilligung des Remonstrationsrechts in der alten Form an die Parlamente. Damit konnten sie wieder eine politische Macht werden und sie haben fortan auch als solche gehandelt. [...] Niemand hat vor Le Laboureur [„Geschichte der Pairschaft", 1740] die Einheit der Gerichtshöfe so scharf vertreten wie er: „Das Parlament repräsentiert die Nation und seine alte Verfassung." Obgleich in mehreren Körperschaften vorhanden, „muß man es doch als eine einzige Körperschaft betrachten". Die Ausdehnung des Königreichs hat seine Vervielfältigung notwendig gemacht, aber alle Parlamente sind aus dem von Paris hervorgegangen. Als Pairshof vertritt es nicht die Generalstände, es steht sogar über ihnen, weil diese nie die Macht besaßen, die den alten Parlamenten zukam. - Das waren Behauptungen von größter Tragweite. Der Einfluß solcher Schriften wäre wohl noch weit größer geworden, hätte nicht ein Ereignis sie in den Schatten gestellt, das in der Geschichte der politischen Ideen einen wichtigen Markstein bildet. Es ist das berühmte 1748 erschienene Werk „De l'Esprit des Lois", das Montesquieu, vor dem Präsident am Parlament von Bordeaux, zum Verfasser hat. Es ist Gegenstand vieler Erörterungen und auch großer Meinungsverschiedenheiten geworden. Den Inhalt der 33 Bücher wiederzugeben, kann nicht unsere Aufgabe sein. Wir beschränken uns auf eine Charakteristik und allgemeine Deutung. Die Schwierigkeit der Deutung liegt darin, daß Montesquieu nicht eindeutig ist und es nicht sein will. Wie er selbst sagt, wollte er dem Leser noch etwas zu denken übrig lassen. Wer alles sagen will, wird langweilig. - Wer den Standort Montesquieus in der Geistesgeschichte zu bestimmen versucht, darf neben seiner Zeitbedingtheit seine standesmäßige Bindung nicht übersehen. Nach Familie und Beruf gehört er der hohen Magistratur zu. Als Präsident am Parlament von Bordeaux war er aktiv an der Auseinandersetzung mit der Krone beteiligt gewesen. Ganz natürlich war es, daß er in der Tradition der Parlamente wurzelte und daß deren Ideologie auch in seinem Werk einen Niederschlag fand. Sehr geschickt hat er die politischen Ansprüche der Parlamente in seine Verfassungs-
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lehre hineingearbeitet, hat sie als Zwischengewalt in den monarchischen Staat eingebaut und sie so als wesentlichen Bestandteil der Verfassung erklärt. Doch geht er sehr umfassend vor. Sehr oft wird Montesquieu als einer der Väter des Liberalismus bezeichnet. Dem modernen Liberalismus hat er jedoch bewußt kaum dienen wollen. Sein Verdienst bleibt aber, daß er einen fundamentalen Gedanken überzeugend, ja verführerisch dargetan hat: die Gewaltenteüung. Hierin freilich folgt er dem englischen Verfassungstheoretiker Locke, der diese Lehre bereits an der Verfassung Englands entwickelt hatte. Doch gilt nicht er, sondern Montesquieu als ihr größter Verherrlicher. Das Büd, das er im 11. Buche seines Werkes von der englischen Verfassung entwirft, hat ihn eigentlich so recht berühmt gemacht. Allerdings stellt er sie nicht so dar wie sie war, sondern wie er wünschte, daß sie sei, als ein wunderbares System von Ausgeglichenheit und politischer Weisheit. Der unmittelbare Zweck dieser Verfassung, die er während eines zweijährigen Aufenthalts in England studieren konnte, ist die Verwirklichung der Freiheit. Ob sie in den Zuständen Englands tatsächlich besteht, interessiert Montesquieu wenig, ihm genügt, daß sie in den englischen Verfassungsgesetzen enthalten ist. Politische Freiheit kann nach Montesquieu nur bestehen in gemäßigten Regierungen, sie muß aber nicht unbedingt in diesen bestehen. Eine gemäßigte Regierung ist eine solche, wo die Legislative von der Exekutive und diese beiden von der richterlichen Gewalt getrennt sind. Der Grundsatz der Gewaltentrennung ist also das Prinzip, auf dem seme Darlegung beruht. Denn in ihr ist die Freiheit verankert. Sie verbindet er mit der Sicherheit bzw. mit der Meinung, die jeder von seiner Sicherheit hat. Nun sagt er, die englische Verfassung definierend: wenn die Macht Gesetze zu geben in einer und derselben Person oder in einem und demselben Körper von obrigkeitlichen Personen mit der vollziehenden Gewalt vereinigt ist, so besteht kerne Freiheit, weü man befürchten muß, daß der Monarch tyrannische Gesetze gibt und sie tyrannisch vollzieht. Freiheit wäre auch da nicht vorhanden, wo die Anwendung des Rechts in der Hand des Gesetzgebers oder der Exekutive liehen würde. Richter und Gesetzgeber dürfen nicht eine Person oder Körperschaft sein. Da fast alle Staaten Europas einen besonderen Richterstand hatten, spricht er ihnen gemäßigten Charakter zu, im Gegensatz zur Türkei, wo durch die Zusammenfassung dieser Gewalten eine despotische Regierung herrsche. Je enger der Zusammenhang der Gewalten in einer Hand, desto größer die Gefahr der Despotie. Ganz offensichtlich erklärt Montesquieu die Habeas corpus-Akte von 1679 und die englische Bill of Rights, wenn er darlegt, daß es um die Freiheit geschehen sei, wenn die Legislative der Exekutive das Recht lasse, Bürger zu verhaften, die imstand sind, Bürgschaft zu leisten; er fordert, daß jeder Angeklagte sofort seinem gesetzlichen Richter vorgeführt werde, um jede Kabinettsjustiz auszuschließen. Weil in großen Staaten das Volk nicht selbst regieren kann, so muß es durch Abgeordnete tun lassen, was es durch sich selbst nicht tun kann. Diese müssen dem Körper der Nation entnommen sein, und zwar muß es eine Elite sein, „weil das gewöhnliche Volk dumm ist und unfähig, sich selbst zu regieren". Aus die-
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sem Grunde und im Interesse einer schnellen Abwicklung der Geschäfte sollen die Abgeordneten nicht durch bindende Instruktionen, imperative Mandate behindert sein. Die Legislative nun ist im Zweikammersystem organisiert, im Ober-und Unterhaus. Letzteres wird gewählt, die Sitze im Oberhaus sind ertlich, und es umfaßt die Leute im Staat, die sich durch Geburt und Reichtümer auszeichnea Hier nun zeigt Montesquieu sein wahres Gesicht. Wenn jene Vornehmen unter dem gemeinen Volk säßen und nur eine Stimme hätten, wie die andern, so wäre die gemeine Freiheit für sie Sklaverei, weil alle Entschlüsse gegen sie ausfallen würden. Der Anteil, den sie an der Gesetzgebung haben, muß vielmehr den Vorteilen, die sie im Staate besitzen, entsprechen. Sie müssen also gesondert tagen und mit gleichem Recht Beschlüsse der Volkskammer verhindern können, wie diese, das Unterhaus, Beschlüsse des Oberhauses verhindern kann. Das heißt: Die Gesetze kommen zustande durch Annahme im Oberhaus und Unterhaus, und zwar hat, da das Volk die Hauptlasten trägt, das Unterhaus die Initiative in Finanz- und Steuerfragen. In der verschiedenartigen Zusammensetzung der beiden Häuser und in der Art ihres Zusammenspiels beruht die Sicherung gegen das Zustandekommen übereilter Gesetze. Außerdem besteht noch das Recht der Sanktion durch den König. Erst mit dieser erhält das Gesetz seine verpflichtende Kraft. Die Verweigerung der Sanktion macht den Gesetzentwurf hinfallig oder zwingt dazu, ihn abzuändern. Indem Montesquieu dem König Anteil an der Gesetzgebung in dieser Form zuspricht, durchbricht er das Prinzip der Gewaltentrennung. Auf der andern Seite verweigert er aber der Legislative Anteil an der Exekutive, weil diese ihrer ganzen Natur nach mit den ihr zugesprochenen Ausführungsmitteln nicht tyrannisch werden kann. Weil auf diese Weise eine Gewalt an die andere gebunden ist, das staatliche Leben aber so wenig wie das menschliche stillstehen kann, so ist es immer bestimmt durch die Übereinstimmung der Gewalten. Und in diesem Mechanismus ist die Freiheit verankert. Durch diesen Grundgedanken ist Montesquieu ein hervorragender Theoretiker der konstitutionellen Monarchie geworden und hat in der Tat der Verfassung von 1791 ein Schema geliefert. Damit entstand für die Nachwelt die Frage: wollte Montesquieu den Franzosen die englische Verfassung als erstrebenswertes Ziel vor Augen halten? Wir verneinen sie. Denn das Montesquieu eigene organische, entwicklungsgeschichtliche Denken spricht dagegen. Es scheint vielmehr so zu liegen, als habe er an jenem Lande gewissermaßen eine Demonstration zugunsten Frankreichs vollziehen wollen. Seine von der cartesianischen Philosophie stark beeinflußte Weltanschauung führte ihn zu einer bestimmten Art von Geschichtsbetrachtung. Überall sieht er einen strengen Kausalzusammenhang, eine starke Gesetzmäßigkeit alles Geschehens. Die Verschiedenheit der Dinge beruht auf den ihnen innewohnenden Gesetzen. Gesetze sind für Montesquieu nicht, wie für die Naturrechtler und Rationalisten, Ausfluß allgemeingültiger Normen, sondern ein Ergebnis des Klimas, der Lebensweise, Religion, Geschichte und Herkunft. Jedes Volk muß seine besonderen Gesetze haben und somit auch seine eigene
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oder besser arteigene Verfassung. Was für ein Land gut ist kann für ein anderes nachteilig sein, die beste Verfassung ist jeweils die, die der Eigenart des betreffenden Volkes am gerechtesten wird, und die Gesetze sind gut, wenn sie mit der Verfassung in Einklang stehen. Eine Verfassimg ist nichts anderes, als der Ausdruck eines bestimmten Kräfteverhältnisses der verschiedenen Volksschichten eines Staates, und die Gesetze fließen aus diesen Beziehungen Montesquieu hebt sich damit stark ab von den Naturrechtlern. Ausdrücklich wendet er sich gegen Hobbes, nach dem der Krieg aller gegen alle, wie er angeblich im Naturzustande herrscht zur Gründung des Staates, zur Rechtsgleichheit und damit zum gesellschaftlichen Frieden führte. Für Montesquieu dauert vielmehr in der Gesellschaft der latente Kriegszustand fort, sein Ergebnis ist die gesellschaftliche Struktur, die Verschiedenheit der Rechte und die Rangabstufung. Aus dem jeweiligen Entwicklungsprozeß einzelner Völker schälen sich drei Staatsformen heraus: die Monarchie, die Despotie und die Republik, die der Form nach eine Demokratie oder aber auch eine Aristokratie sein kann. Jede Form hat ihr regulatives Prinzip: die monarchische die Ehre, die despotische die Furcht und die republikanische die Tugend. In der Republik hat das Volk oder ein Teil des Volkes die höchste Gewalt, in der Monarchie regiert ein Einzelner nach unveränderlichen Gesetzen, in der Despotie regiert ein Einzelner ohne Gesetz und Regel, nach Willkür und Laune. Auf diese Weise gewinnt Montesquieu die Möglichkeit einer genauen Abgrenzung der Monarchie, worauf es ihm letztlich ankommt. Er definiert sie folgendermaßen: In ihr ist der König die Quelle aller politischen und zivilen Gewalt; er regiert nach bestimmten Grundsätzen. Diese aber verlangen gewisse „Kanäle" und Organe, durch die die königliche Macht sich auswirkt und Regelmäßigkeit und Stetigkeit bekommt. Die Natur dieser Regierungsform ist ferner bestimmt durch das Vorhandensein abhängiger und untergeordneter Zwischengewalten und durch ein „Dépôt" der Gesetze. Dieses hat zu sein in den politischen Körperschaften, „die die Gesetze ankündigen, wenn sie gemacht sind und sie ins Gedächtnis zurückrufen, wenn man sie vergessen will". Hier hat Montesquieu ganz unzweifelhaft die Parlamente und obersten Verwaltungshöfe im Auge, nicht etwa den Conseil du roi, weil dieser zu sehr unter dem Einfluß des Königs stand und nicht das Vertrauen des Volkes ganz genoß. Im allgemeinsten Sinne denkt Montesquieu bei den Zwischengewalten an den Adel. Von den Parlamenten als dem regulativen Prinzip des Staates sagt er, daß sie ihre Bestimmung niemals besser erfüllten, als wenn sie bedächtigen Schrittes gingen. Da sie zugleich auch verhindern, daß das Volk zuviel Einfluß gewinnt sind sie das ausgleichende und verbindende Element im Staate. Eine alte Theorie klingt hier an. Die Zwischengewalten aufheben oder auch nur ihre Rechte schmälern käme einer Verfassungsänderung gleich, würde die Herrschaft des Despotismus bedeuten. Damit ist schon der französische Absolutismus gerichtet und mit ihm seine großen Vorkämpfer. Von Richelieu und Law sagt er, daß sie den Despotismus im Kopfe hatten, wenn sie ihn nicht im Herzen gehabt haben. Sie waren Umstürzler der staatlichen Ordnung, Feinde der Freiheit. Diese definiert Montesquieu als das Recht „alles
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zu tun, was die Gesetze erlauben", - „tun zu können, was man wollen muß, und zu nichts gezwungen werden können, was man nicht wollen darf'. Eine solche Freiheit kann nur in gemäßigten Regierungen bestehen. In diesen aber „muß man die Gewalten aufeinander abstimmen, sie einschränken, mäßigen [...], der einen ein Gewicht geben, um sie instand zu setzen, der andern zu widerstreben". Eine solche Verfassung ist ein Kunstwerk. Die Gewaltenhemmung oder ihre Ausbalancierung ist also Montesquieus Ideal. Legislative und Exekutive bleibt beim König, das Gesetz ist Ausdruck seines Willens, aber er kann nur wollen, was er kennt, und er braucht Organe, „die für ihn wollen und wie er wollen". Das sind wiederum die Zwischengewalten. Die Anwendimg der Gesetze ist Sache der Magistrate; ihre Aufgabe ist es auch, den Sinn des Buchstabens zu findea Das bedeutet in gewisser Hinsicht eine Beschränkung der Exekutive. Sie wird jedenfalls von derrichterlichen Gewalt stark eingeengt. Diese muß unabhängig sein. Könnte der König selbst Recht sprechen, „so wäre die Verfassung zerstört, die abhängigen Zwischengewalten vernichtet", das Vertrauen, die Ehre, die Sicherheit, ja die Monarchie wäre dahin. Das heißt also: die königliche Kabinettsjustiz, die lettres de cachet, dierichterliche Tätigkeit königlicher Machtträger, wie der Intendanten oder gar der Minister, ist der Natur der Monarchie zuwider, ist despotisch. Das springt um so mehr in die Augen, als Montesquieu diese Grundsätze in Gegenüberstellung zur Despotie entwickelt. Das tragende Prinzip der Zwischengewalten, die in ihrer Gesamtheit den Adel ausmachen, ist, wie bereits erwähnt, die Ehre. Sie bewirkt in der Monarchie das, was in der Republik die Tugend bewirkt. Aber sonderbarerweise besteht sie darin, Vorrang und Auszeichnungen, Distinktionen zu erstreben, sie besteht im Vorurteil jeder Person und jedes Standes; sie bewegt alle Teile des politischen Körpers, bindet sie gegenseitig, und dadurch, daß jeder glaubt, nur seinen eigenen Interessen zu leben, handelt er in Wirklichkeit zum allgemeinen Besten. Da nun die Ehre das Prinzip der Monarchie ist, so müssen sich auch die Gesetze an ihr ausrichten. „Sie müssen dazu beitragen, den Adel zu kräftigen", müssen diesen erblich machen, ihn erhalten als Schranke der königlichen Macht und als Bindeglied zwischen König und Volk, müssen seine persönlichen und realen Privilegien, insbesondere auch die an das Lehen sich knüpfenden sichern. Mit allen Mitteln muß der Glanz der adligen Familien erhalten werden. Wie groß auch der Nachteil im einzelnen sein mag, vor dem allgemeinen Nutzen verschwindet er. So erhält der Satz: „Ohne Monarchen keinen Adel, ohne Adel keinen Monarchen", seinen Sinn. Wo kein Adel ist, herrscht Gleichheit in der Sklaverei, da ist der Herrscher Despot. Zur Monarchie also gehört der Adel mit seiner Sonderstellung im Staate, mit seinen Privilegien, Vorrechten und Freiheiten. „Schafft man in einer Monarchie die Prärogative der Seigneure, des Klerus, des Adels und der Städte ab, so hat man schnell eine Demokratie oder eine Despotie." Sie machen die Schranke der Zentralgewalt aus; wo sie sich hinwendet, überall findet sie Gesetze, Rechte, Hemmungen und ist gezwungen, langsam und durch Vermittlung anderer zu gehen. Und das Endresultat ist die gepriesene politische Freiheit. Frankreich besitzt „die schönste Monarchie der
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Welt", kraft seiner eigenartigen Verfassung, es besitzt das gleiche politische Gut wie die englischen Verfassungsgesetze es verwirklichen. England räumte im Interesse der Freiheit mit den Zwischengewalten und den Rechten des Adels auf. Verlöre es die Freiheit, „so wären die Engländer das versklavteste Volk der Erde, weil sie sich aller anderen Garantien begaben. Wenn England einen andern Weg gegangen ist als Frankreich, so beruht das auf der Verschiedenheit der Entwicklung beider Völker. Ihre Verfassungen aber haben ein und dieselbe Wurzel: die politischen Gesetze der Germanen. Montesquieu nennt die Germanen „unsere Väter" und sagt, daß man den Geist der Monarchie in den alten französischen Gesetzen wiederfinde. Die englische Verfassung nennt er „ein schönes, in den Wäldern Germaniens erfundenes System". So sind also die englische und die französische Verfassung Schwestern. Beide tragen das höchste politische Gut, die Freiheit in sich, allerdings auf verschiedene Weise; die eine direkt, die andere mehr indirekt, die eine durch ihre Gesetze, die andere durch ihre Ordnung. Ihr gemeinsamer Wesenszug hegt in der Beschränkung der monarchischen Gewalt. Nach der alten französischen Verfassung teilten König, Adel und Klerus die ganze Staatsgewalt. Auch war der Autorität des erblichen Königs ursprünglich ein Gegengewicht gegeben in der Person des gewählten Hausmeiers, der die eigentliche Macht in den Händen hatte. Wichtige Beschlüsse faßten die Franken in der Generalversammlung der Nation nach dem Grundsatz: de minoribus principes consultant, de majoribus omnes. Und aus einer Kapitularie des Jahres 864 folgert Montesquieu, daß noch unter den Karolingern dieses Prinzip galt: lex consensu populi fit et constitutione regis. Nur die Art der Verwirklichung dieses Prinzips wechselte. Vor der Eroberung Galliens nahm die ganze Nation an den Volksversammlungen teil; nach ihr war das Volk durch Abgeordnete vertreten. Die Verfassung war ein Gemisch von Aristokratie und Monarchie und hatte nur den Nachteil, daß das niedere Volk Sklave war. Sie trug aber in sich die Möglichkeit der Vervollkommnung, und diese trat auch ein: die unteren Schichten wurden frei. „Bald waren die Freiheiten des Volkes, die Prärogative des Adels und der Geistlichkeit und die Macht der Könige so aufeinander abgestimmt", daß sich auf der ganzen Erde keine gemäßigtere und glücklichere Regierungsform finden ließ. Es zeigt sich hier überzeugend, daß es sich für Montesquieu nicht darum handeln konnte, seinen Landsleuten die in so schillernden Farben geschilderte englische Verfassung zur Nachahmung zu empfehlen. Das hätte seiner ganzen Geschichtsauffassung und Gesetztheorie von Grund auf widersprochen. Es dürfte aber auch nicht, wie aus dem Gesagten klar geworden sein wird, die Auffassung Walter Strucks zurecht bestehen, nach der ein unlösbarer Widerspruch zwischen dem 11. Buche des Werkes und seinen andern Teilen, vornehmlich den ersten zehn Büchern besteht. Was Montesquieu sagen wollte, haben Zeitgenossen sehr gut empfunden. Die Kritik, die Voltaire an dem Werk geübt hat, besteht in weiten Teilen zurecht. Wenn er den „Esprit des Lois" ein unmethodisches und unwissenschaftliches Werk nennt, kann man ihm beistimmen. Auch Frau Du Deffend hatte recht mit ihrem bekannten Wort: c'est de l'esprit sur les lois. Voltaire hatte aber auch
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recht, wenn er sagte, daß Montesquieu die Menschen daran erinnerte, daß sie frei seien, daß er der menschlichen Natur ihre Rechtstitel wieder zeigte, daß er den Aberglauben, die Menschenschinderei und die Tyrannei bekämpfe. Als Gelehrter habe er Unrecht, als Kämpfer gegen Sklaverei, Despotismus, Willkür und Fanatismus verdiene er den Dank Europas. Durch die Nebeneinander- und Gegenüberstellung von Despotie und Monarchie hat Montesquieu die Theorie der Grundgesetze weiter entwickelt, hat den Franzosen gezeigt, daß das absolutistische Regiment, unter dem sie lebten, eine Entartung der Monarchie, eine Übernahme der Methoden des asiatischen Despotismus bedeute. Er hat neue Maßstäbe der Kritik am Absolutismus geliefert. Insoweit wirkte Montesquieu revolutionär oder brach, wenn man so sagen will, dem Liberalismus eine Lanze. Damit stellt sich die Frage nach dem politischen Standort Montesquieus. Nach seinen eigenen Worten hegt er zwischen dem System des Grafen Boulainvilliers und dem des Abbé Dubos. Das Werk Boulainvilliers nannte er eine Verschwörung gegen den dritten Stand, anderseits nannte er das des Abbé Dubos eine. Verschwörung gegen den Adel. Aber er selbst hält zwischen beiden nicht die Mitte; er nimmt in der Hauptsache Stellung gegen Dubos und für Boullainvilliers. Denn auch ihm ging es ja um die Bekämpfung des Absolutismus und um die Verteidigung der Rechte des Adels. Aber Montesquieus Theorie ist viel subtiler und geistvoller. Gerne vertrat man die Meinung, Montesquieu habe in den Anschauungen der Fronde gelebt. Dem wurde entgegnet, es sei treffender zu sagen, „er habe den Anschauungen der antiabsolutistischen Opposition von 1689 nahegestanden". Auch das ist meines Erachtens nur bedingt richtig. Die Opposition von 1689 wollte die Wiederherstellung der Generalstände, der mittelalterlichen Verfassung. In der damaligen Literatur, vor allem in den Soupirs werden die Zwischengewalten, die Parlamente als Werkzeuge des Despotismus hingestellt und ihre Mitglieder, die Robe, werden fast durchweg als Eindringlinge in den Adel bezeichnet. Ganz anders doch Montesquieu. Er wollte auch nicht die Wiederherstellung der Generalstände. Mit ihrer Verfassung, ihren Rechten beschäftigte er sich kaum. Er begnügt sich mit der Aufzeichnung des Prinzips, mit dem Nachweis, daß die Beschränkung der Königsmacht der hervorstechendste Wesenszug der ursprünglichen nationalen Verfassung ist. Die Möglichkeit dieser Beschränkung war für ihn jetzt noch durch das Prinzip des Staates selbst gegeben: die Ehre. Man brauchte nicht zu den Ständen zurückzukehren, man hatte ja die intermediären Gewalten, die Körperschaften, denen Montesquieu selbst angehörte und für die die Generalstände eine unliebsame Konkurrenz waren. Die Stellung, die er dem Parlament einräumte, zeigt am besten die ursprüngliche Fassung des ersten Abschnittes im vierten Kapitel des zweiten Buches. Da sagte er anfangs kurzweg, daß die Zwischengewalten die Natur der monarchischen Regierungsform ausmachen. Auf Veranlassung der Zensur aber mußte er ihnen die Attribute abhängig und untergeordnet beilegen und hinzufugen, daß der König die Quelle aller politischen und zivilen Gewalt ist. Montesquieu offenbart sich uns, ganz kraß ausgedrückt, in erster Linie als Parteimann. Voltaire hat das
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verschiedentlich ausgeführt, auch an seiner Stellung zur Ämterkäuflichkeit, die Montesquieu ebenfalls als einen charakteristischen Zug der monarchischen Verfassung bezeichnet. Helvétius1, ein Freund Montesquieus, hat jene Standesgebundenheit nicht weniger stark empfunden. Er konnte nicht umhin, die Frage an ihn zu richten, ob er denn alle Remonstranzen des Pariser Parlaments gelesen habe, und zu beklagen, daß man des „Esprit des lois" so viele verfängliche Grundsätze über die öffentliche Gewalt entnommen habe. Mit Hilfe seines Geistes und seiner Philosophie habe er alte und schädliche Vorurteüe gestützt und sozusagen sanktioniert, und sich für eine rückläufige politische Entwicklung eingesetzt. Er habe Körperschaften das Wort geredet, die, gestützt auf ihre Stellung, Rechte und Privilegien, egoistische Ziele verfolgten, sowohl dem König wie dem Volke gegenüber den Tyrannen spielten, sich in alles mischten, „ohne nach unsrem Willen und nach unseren wahren Interessen zu fragen". Damit traf er den Kern der Sache. Wie gut und wie schnell Montesquieu von seinen Standesgenossen verstanden wurde, zeigt sich darin, da der „Esprit des lois" schnell zu einem Evangelium der Parlamente wurde. Ihre Remonstranzen füllten sich mit Zitaten aus ihm. Er gehörte den Geistern zu, die die parlamentarische Tradition des 16. und 17. Jahrhunderts in neuer Form aufleben ließen Damit ist sein Standort umrissen. Er ist in erster Linie ein Gesinnungsverwandter der berühmten Parlamentspräsidenten Harlay, La Roche Flavin, Pasquier u. a., deren Thesen er in feinsinniger Weise weiterentwickelt und im Geiste des 18. Jahrhunderts darlegt. Gerade seine ausgesprochene Abhängigkeit von dem umfassenden Werk La Roche Flavins ist, wie bereits betont, erstaunlicherweise nie aufgezeigt worden. Editorische Notiz In: G., M., „Weg und Sieg der modernen Staatsidee in Frankreich. Vom Mittelalter bis 1789". Tübingen, Mohr-Siebeck, 1946. S. 35 ff.
1 [Die von Göhring zitierten Briefe (Gébelin Nr. 391 und 746, sowie 613) stammen entgegen früherer Auffassung nicht von Helvétius, sondern vom Abbé Martin de La Roche (1789 geschrieben) und Saladin d'Onex (1751), s. Louis Desgraves, „Chronologie critique de la vie et des œuvres de Montesquieu". Paris 1998, S. 403 und 508. - Anm. der Hrsg.]
Montesquieus Esprit des Lois Zum Gedächtnis des Erscheinens im November 1748 Ernst Forsthoff (1948) L Der Ruhm, den die Welt dem Verfasser des „Esprit des Lois" zuerkennt, gründet sich auf einen schmalen Ausschnitt dieses umfassenden Werks, das sechste Kapitel des elften Buches, das von der englischen Verfassung handelt und in diesem Zusammenhang die Gewaltenteilung als Forderung entwickelt. Mit diesem Ruhm hat es in mehrfacher Hinsicht eine eigentümliche Bewandtnis. Es ist hinlänglich bekannt, daß Montesquieus Konzeption der Gewaltenteilungsdoktrin nicht originell war. Sie fand sich bereits in den Schriften Lockes und Bolingbrokes, die Montesquieu bei seinem Aufenthalt in London (1729-31) bekannt wurden. In dem vielstimmigen Echo, das das Werk bei seinem Erscheinen fand, wurde dieses Teiles nicht besonders gedacht und nichts deutet darauf hin, daß im Urteil der Zeitgenossen die Gewaltenteilung das Mittel- und Kernstück dessen war, was Montesquieu seinem Leser zu bieten hatte. Der außerordentliche Ruhm, den Montesquieu zu seinen Lebzeiten genoß, galt dem ganzen Werk; erst im Urteil einer späteren, für Europa mit der französischen Revolution beginnenden Epoche reduzierte er sich auf den wirkungsmächtigen Anwalt der freiheitsverbürgenden Gewaltenteüung. Montesquieu wurde von dem Schatten getroffen, den die Revolution in das 18. Jahrhundert zurückwarf. Der Deutung seines politisch-literarischen Wirkens bot sich damit eine Formel an, von der man immer wieder Gebrauch gemacht hat: die des Vorläufers. So konnte es geschehen, daß Montesquieu in der Perspektive solcher rückbückender geistesgeschichtlicher Wertung in die Nähe Rousseaus gerückt wurde. Ein grobes Mißverständnis. Die zweihundertjährige Wiederkehr des Erscheinens des „Esprit des Lois" sollte Anlaß sein, sich von diesem Mißverständnis zu lösen und ein freieres, umfassenderes Verhältnis zu diesem Werk zurückzugewinnen. Die Schwierigkeiten, die sich diesem Anliegen entgegenstellen, sind freilich beträchtlich. Zwar bahnt sich seit Jahrzehnten ein neues Verhältnis zur geistigen Welt des 18. Jahrhunderts an, das sich etwa in der zunehmenden Wertschätzung der Moralisten beispielhaft abzeichnet. Die seit dem Aufkommen des historischen Bewußtseins verbreiteten Vorurteüe gegen das Zeitalter der Vernunft zerbröckeln. Aber es ist noch viel zu tun, bis über die große Cäsur, die durch die französische Revolution, durch Idealismus und Historismus aufgerissen wurde, ein fruchtbarer Anschluß an die frühere Zeit wieder gewonnen ist. Das gilt auch für das Verständnis Montesquieus.
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Der „Esprit des Lois" sollte nach der Absicht des Verfassers nicht nur ein wissenschaftlich belehrendes Buch, sondern zugleich ein Traktat über das richtige verfassungspolitische Handeln sein. Mit dieser Formulierung beschwören wir den berühmt-berüchtigten Namen eines anderen Großen der geistig-politischen Genealogie: Machiavell. Hans Freyer hat ihn in einem eindrucksvollen Essay als den großen Mentor des politischen Handelns gekennzeichnet. Der Montesquieu-Literatur ist diese Parallele in Behauptung und Widerspruch geläufig. Es verlohnt sich, bei ihr zu verweilen. Denn in Nähe und Abstand dieser Namen wird nicht nur der Verlauf einer Epoche der abendländischen politischen Geistesgeschichte sichtbar, sondern wird auch das geistige Klima erkannt, in dem sich Montesquieu bewegt. Beide sind in einem ausgezeichneten Sinne politische Denker. Für beide ist Politik ein Bereich mit eigener Sinnbezüglichkeit und nicht lediglich ein Sonderfall des moralischen oder unmoralischen Verhaltens. Der wesentliche Unterschied aber, der Montesquieu von Machiavell trennt, liegt in der offenen und engen Verbindung dieses politischen Bereichs mit den Gegebenheiten und Notwendigkeiten des menschlichen Daseins. Schon in den „Lettres Persanes" ist mit dem Troglodytenbeispiel (Br. 11 ff.) diese Verbindung nicht ohne eine rationalistische Vereinfachung dargetan. Es geht für Montesquieu nicht nur darum, daß es Staat und Politik geben müsse, damit die Menschen existieren können - ein Gedanke, den Machiavell und Hobbes auch vertreten haben - , sondern es kommt auf die Art des Existierens entscheidend an. Es ist das Existieren nach Maßgabe der natürlichen Bedingungen, denen das soziale Leben unterworfen ist: volkliche Anlagen, Klima, Bodenbeschaffenheit, Bevölkerungsdichte, räumliche Ausdehnung usw. Montesquieu stellt die Gestaltung des individuellen und sozialen Daseins vor das Forum der Vernunft und das heißt zugleich: der Humanität. Dem modernen Bewußtsein ist der Zusammenhang zwischen Vernunft und Humanität, wie er zu Montesquieus Zeiten bestand, nicht mehr geläufig, weil ihm die Erinnerung an die missionarische Kraft entfallen ist, die der Vernunft in der Frühe der Aufklärung innewohnte. Die Säkularisierung des Denkens und der Lebensformen (die uns heute mit Recht suspekt geworden ist) läßt sich nur als Auflehnung gegen die unheilvolle Verbindung von weltlicher Macht und fehllaufender Religiosität verstehen, wie sie das Zeitalter der Gegenreformation hervorgebracht hatte. Die Vernunft wurde damals, modern gesprochen, zu der troisième force , jenseits der zerstrittenen Konfessionen, welche den barbarischen Zirkel machtpolitisch-konfessioneller Zerfleischung sprengte, auf der Basis diesseitiger Staatsraison den Zündstoff konfessionellen Haders unschädlich machte und Europa im Maße des Möglichen pazifizierte. Der auf die Vernunft gegründete, säkulare, souveräne Staat, wie er jetzt entstand, war der Hort einer befriedeten, humanen Existenz - oder sagen wir vorsichtiger: er sollte es nach Absicht seiner besten Interpreten sein. Von Bodins „Heptaplomeres" - dem frühen literarischen Denkmal der Toleranz - bis zu Montesquieu stand die humane Vernunft, die vernünftige Huma-
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nität in ihrer vollen moralischen Kraft, in dieser Zeit trug sie, in dem Frankreich Corneilles, Racines und Fénelons, ihre edelste Frucht. Es ist ein steiler Aufstieg, an dem mit Frankreich auch das übrige Europa in gewissem Grade teilnahm, der auf der staatspolitischen Linie von Bodin über Grotius und Hobbes zu Montesquieu hinführte. Man wird seiner inne, wenn man etwa die unbedingte Betonung des Rechts des Eroberers bei Grotius mit den ganz auf Maßhalten bedachten, humanen Ausführungen im X. Buch des „Esprit des Lois" vergleicht. Hier wie allenthalben in seinem Werk zeigt sich Montesquieu hineingeboren und hineineizogen in die große Tradition der sittigenden Kräfte, die mit der Vernunft entbunden worden waren. Dadurch ist er von Machiavell eindeutig geschieden. Und auch das ist hinzuzufügen: er ist der letzte Große dieser Tradition. Eine tiefe Kluft trennt ihn von Rousseau, der aus anderen Quellen schöpft. EL
Montesquieu ist human im strengen und objektiven Sinne des Worts. Er mißt die politischen Ordnungen mit dem Maße des Menschen. Aber es ist weder der gebildete Mensch im Sinne der erasmisch-humanistischen Tradition noch der sentimental-ideologisch verklärte Mensch Rousseaus und seiner Nachfahren, dem sich Montesquieu verpflichtet weiß. Die bewußte und umfassende Persönlichkeitsprägung, welche die französische Aristokratie in ihrer führenden Schicht geformt hatte, war nur auf dem Grund einer in die Tiefe gehenden Menschenkenntnis denkbar, und es konnte nicht anders sein, als daß denen, die dieser Prägung teühaftig waren, damit zugleich ein ülusionsloses Bewußtsein finden Menschen, für Tugend und Laster, für Größe und Ohnmacht und - vor allem - für die Weisheit des rechten Maßes eingepflanzt war. Dieses überlegene Wissen, die souverän-gelassene, liebend-ironische Beziehung zum Menschen wie er ist, geben den Aphorismen der Moralisten jenen unwiderstehlichen Zauber, den Dilthey wieder entdeckte und den sie bis heute bewahrt haben. Auf diesem geistigen Boden steht Montesquieu. Sein Menschenbild ist nüchtern, um nicht zu sagen pessimistisch. In den „Considérations sur les causes de la grandeur des Romains et de leur décadence" (1734) findet sich eine beüäufige Bemerkung, die den Schlüssel zum politischen Denken Montesquieus enthält. Er spricht hier gelegentlich (im VIII. Kapitel) von der maladie éternelle des hommes, welche die Menschen immer wieder dazu treibt, ihre politischen und rechtlichen Einrichtungen zu verderben. Was ihn bewegt und tief beunruhigt, ist das auch im Titel der „Considérations" ausgedrückte Gefälle der menschlichen Ordnungen, das er an den sich ablösenden Verfassungen Roms erläutert und in den Zuständen Frankreichs beobachtet. Und am Ende dieses Gefalles steht der Despotismus. Nur von hier aus wird das eigentliche Thema und Anliegen des „Esprit des Lois" überhaupt begreiflich und in seiner heutigen, unmittelbaren Aktualität einsichtig. Da das Übel vom Menschen her kommt, der erst, wie Montesquieu gegen Hobbes bemerkt, mit der Vergemeinschaftung in einen Kriegszustand
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eintritt, muß die Staatsverfassung der Natur des Menschen Rechnung tragen, das heißt: sie muß wirksame Garantien gegen diese ewige Krankheit der Menschen enthalten. In dem Maße, in dem ihr das gelingt, fuhrt sie zur Humanität und zur Freiheit. Die auf dieser Grundlage entfaltete Verfassungslehre des „Esprit des Lois" unterscheidet sich von den Verfassungstheorien des 19. und 20. Jahrhunderts auf eine charakteristische Weise. Für Montesquieu sind die menschlichen Eigenschaften verfassungspolitische Wirklichkeiten von eminenter Bedeutung. Hier haben Tugenden und Laster ihren Ort in dem Koordinatensystem der verfassungspolitischen Faktoren. In jedem verfassungsrechtlichen Begriff, in jeder öffentlichen Institution ist das konkrete Menschenbild gegenwärtig. In den ersten acht Büchern des „Esprit des Lois" gibt Montesquieu eine Darstellung der wesentlichen Verfassungsformen, welche die anthropologischen Grundlagen der Verfassung klar herausarbeitet. Der von Aristoteles her überkommene Trias: Monarchie, Aristokratie, Demokratie wird von ihm charakteristischerweise durch die Abfolge: Republik, Monarchie, Despotie ersetzt, so daß schon die Gliederung das innere Gefalle der Verfassungsformen zu erkennen gibt. Bemerkenswert ist der Zugriff auf den Stoff. Montesquieu unterscheidet die Natur der Verfassungsformen und ihr Prinzip. Unter der Natur versteht er das, was das Wesen der Verfassungsform ausmacht, unter ihrem Prinzip das, was ihr Handeln bestimmt. Diese Unterscheidung fuhrt zu einer wichtigen Konsequenz. Montesquieu ordnet jeder Verfassungsform eine spezifische Weise des Handelns zu, spezifisch darum, weü diese Weise des Handelns der Natur der Verfassungsform entspricht, von der sie abhängig ist. Damit gewinnt das verfassungspolitische Handeln innerhalb seiner Systematik einen eigenen Ort. Von diesen Voraussetzungen aus werden die anthropologischen Grundtatbestände der verschiedenen Verfassungsformen entwickelt. So gelangt er dahin, typische menschliche Verhaltungen zu bezeichnen, auf denen jede der Verfassungsformen beruht. Als solche nennt er für die Republik die Tugend, für die Monarchie die Ehre und für die Despotie die Furcht. Wenn wir diesen ersten acht Büchern des „Esprit des Lois" heute einen besonderen Aktualitätswert zusprechen, dann nicht deshalb, weil wir ihre Ergebnisse ohne weiteres billigten und die Mängel der Argumentation übersehea Nichts wäre verfehlter, als in ihnen nach „Lösungen" der uns heute bedrängenden Probleme zu suchen. Fruchtbar aber und für die Gegenwart notwendig erscheint der Aspekt, unter dem Montesquieu den Gegenstand betrachtet: das Ausgehen vom Menschen, die Individualisierung der Staatsformen nicht nur nach ihren institutionellen Verschiedenheiten, sondern auch nach den unterschiedlichen anthropologischen Grundverhältnissen und die dadurch ermöglichte Zuordnung spezifischer Formen verfassungspolitischen Handelns. Alles das ist der späteren Staatslehre über ihrer immer stärkeren Verengung auf die rechts-normativen Gegebenheiten der Verfassungen verloren gegangen, bis
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schließlich in der jüngsten Vergangenheit das bestürzende Auseinanderbrechen von rechtsnormativem Schein und anthropologischer Wirklichkeit das Unzulängliche dieser Art von Staats- und Verfassungstheorie offenbarte. Montesquieu repräsentiert damit einen Typus des politischen Denkers, der von der modernen Vorstellungswelt durch einen weiten Abstand getrennt ist. Man wird in modernen staatstheoretischen Schriften der Tugend kaum begegnen. Schon das Wort hat leider durch das vergangene, dem Moralisieren zugeneigte Jahrhundert einen fatalen Beiklang bekommen. So wird es gerne vermieden und kann auch vermieden bleiben, sofern man sich innerhalb der Voraussetzungen politischen Denkens bewegt, die mit der französischen Revolution, freilich nicht allein durch sie, verbindlich wurden. Die Bindung des politischen Denkens an das Menschenbild, das heißt vor allem an die Maße des Menschen, geht in dem Zeitalter, das nicht ohne einige Ungenauigkeit das bürgerliche heißt, verlorea Sie klingt noch an in der fraternité. Aber innerhalb des ideologischen Trias liberté, égalité, fraternité ist sie fraglos das schwächste Glied, das keine nennenswerte Wirkungen ausgelöst hat. In der Tat bedeutete die Revolution auch darin eine Wende, daß sie die politische Gestaltgebung vom Menschenbilde löste, indem sie sie mit der Ideologie, mit der Weltanschauung verband. Hinter der Ideologie verflüchtigte sich das Menschenbild mehr und mehr zu jenem unvermeidlichen Rückstand des Individuums schlechthin, das als Träger des politischen Willens, als persönliches Substrat generell gewährter Freiheiten, als Eigentümer, als Wirtschaftssubjekt und in ähnlichen Bezügen von der Rechtsordnung erreicht wurde. Die von Max Weber eindrucksvoll geschilderte Rationalisierung der Rechtsordnung im 19. Jahrhundert wurde mit der Eliminierung der nicht rationalisierbaren Person aus der Rechtsordnung erkauft; der in der gleichen Zeit bestimmende Dualismus von Staat und Gesellschaft tat ein übriges, um das Menschenbüd durch Verweisung in die prinzipiell staatsfreie Gesellschaft aus dem Umkreis des politischen Denkens auszuschalten. HL
Mit der Ideologisierung des Verfassungsbewußtseins unter Ausscheidung des konkreten Menschenbüdes gewann die Verfassung einen mehr und mehr technischen Charakter. Das verfassungspolitische Interesse konzentrierte sich vornehmlich auf zwei Kernpunkte: die Staatswillensbüdung unter Beteiligung des Volkes und die Verbürgung bestimmter individueller Freiheiten. Hier wie dort suchte und fand man die Lösung durch den Einsatz technischer Mittel: die von Rousseau entwickelte Technik der Wahlen und Plebiszite und die rechtsstaatliche, generelle Norm, deren technische Wirkung sich auf der Basis der streng durchgeführten Unterscheidung von Einzelakt und genereller Regel entfaltete. Für ein solches technisiertes Verfassungsbewußtsein gewann die Gewaltenteilung zentrale Bedeutung. Das sechste Kapitel des elften Buches war das einzige des „Esprit des Lois", mit dem es noch etwas anzufangen wußte. Es wurde
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aus dem Ganzen sozusagen herausgebrochen und als technische Lösung eines bestimmten Verfassungsproblems, als technische Vorkehrung zur Sicherung individueller Freiheit übernommen. Würdigt man aber die Gewaltenteilung, wie sie Montesquieu darstellt, im Zusammenhang seines ganzen Werks, so wird man der Gewaltsamkeit inne, die in der Isolierung dieses Teiles liegt. Gewiß hat die Gewaltenteilung auch bei Montesquieu einen wesentlichen Bezug zur individuellen Freiheit. Aber sie erschöpft sich nicht in dieser Freiheitssicherung und ist alles andere als ein technischer Kunstgriff, zu dem die rechtsstaatliche Verfassungsideologie des vergangenen Jahrhunderts sie gemacht hat. Ihr wesentlich umfassenderer Sinn wird schon eher mit dem Wort Balancierung getroffen. Die von Montesquieu geschiedenen Gewalten, werden von ihm nicht nur in ihrer organisatorisch-institutionellen Beschaffenheit, sondern auch nach ihrer sozialen Struktur gewürdigt und innerhalb des Teilungssystems berücksichtigt. Denn der Sinn der Gewaltenteilung ist nicht nur die Hemmung der Gewalten, die der Freiheit des einzelnen dient, sondern auch die Schaffung angemessener Proportionen unter den staatlichen Funktionen, die dem Staate selbst zugute kommt. Dieser doppelte Sinn ist in der späteren Zeit mehr und mehr verloren gegangen. Die Angemessenheit der Proportionen läßt sich nur herstellen, wenn die Anordnung der Gewalten der sozialen Schichtung des Volkes Rechnung trägt, so daß mit derrichtigen Anordnung der Gewalten zugleich der notwendige soziale Ausgleich stattfindet. Diese Einsicht machte Montesquieu zum beredten Anwalt des Zweikammersystems. Es lag in der Natur der Sache, daß er dieses System auf die feudale Schichtung gründete, in der sich zu seinen Lebzeiten die soziale Gliederung Frankreichs darstellte. Das war jedoch nur die zeitgebundene Einkleidung eines allgemeinen Gedankens, der sich dahin formulieren läßt, daß es in jeder Verfassung darauf ankommt, das Allgemeine (an dem alle Staatsbürger teilhaben) mit dem Besonderen (das sich in der sozialen Stellung jedes einzelnen ausdrückt) zu versöhnen, was überhaupt der Sinn jeden Ausgleichs ist. Der weite Abstand, der uns von Montesquieu trennt, wurde in dem Niveau erkennbar, auf dem der Fragenkreis des Zweikammersystems in den Verfassungsberatungen der letzten Jahre durchweg abgehandelt wurde. Um zu verhindern, daß die gesetzgebende Gewalt über die anderen dominiert, genügte Montesquieu die Mäßigung nicht, die sie durch die Aufgliederung in zwei Kammern erfährt. Er fügte ihr noch wesentliche Beschränkungen hinzu: er verweigerte den gesetzgebenden Körpern das Recht der Selbstversammlung und eigenen Vertagung und gab der vollziehenden Gewalt ein Vetorecht gegenüber den Gesetzgebungsbeschlüssen. Sieht man von der Verfassung der Vereinigten Staaten ab, die den Lehren Montesquieus am weitesten folgt, so ist es offenbar, in welchem Grade die modernen Verfassungen von den Gedanken des „Esprit des Lois" abweichen. Die Ursache dieser Abweichung ist klar. Die modernen Verfassungen beruhen auf dem Demokratismus Rousseauscher Prägung. In ihnen wird deshalb, da sie recht eigentlich in der permanenten Aktualisierung der volonté générale bestehen, deren Repräsentanten, und das ist die gesetzge-
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bende Körperschaft als Volksvertretung, eine Vorrangstellung eingeräumt, die sich mit den ihr von Montesquieu auferlegten Beschränkungen und Hemmungen nicht verträgt. So nimmt in den modernen Verfassungen die gesetzgebende Körperschaft eine Stellung ein, die weit über das hinaus geht, was Montesquieu ihr zuerkennt. Die dadurch bewirkte andere Gewichtsverteüung hat zur Folge, daß die von Montesquieu angestrebte Balancierung der Gewalten nicht mehr in der von ihm vorgesehenen Weise stattfindet. Selbstverständlich wurde dem Vorrang der volonté générale auch der für die Gewaltenteüung wesentliche soziale Ausgleich geopfert, für den überhaupt innerhalb der demokratischen Konzeption Rousseaus kein Raum ist. IV. Diese Feststellungen werden getroffen, nicht um einem theoretischen Purismus das Wort zu reden oder gar einen Tadel auszusprechen. Es wäre töricht und ungerecht verkennen zu wollen, daß die Gewaltenteüung so, wie sie in den modernen Verfassungen als ein technischer Kunstgriff verwirklicht worden ist ihre wichtigen Dienste geleistet hat. Aber es ist die Frage, ob die Gewaltenteilung in dieser Form in Zukunft noch den Anforderungen wird genügen können, die an die Verfassung gestellt sind. Denn das Kompromiß zwischen Rousseau und Montesquieu, als welches man die Gewaltenteilung in den neueren Verfassungen bezeichnen kann, funktioniert befriedigend nur unter bestimmten Voraussetzungen. Dann nämlich, wenn das Gesetz im Sinne einer generellen, auf Dauer berechneten Norm von dem Befehl und konkreten Einzelakt eindeutig geschieden ist. Die ganze Dialektik von Norm und Einzelakt aber entfaltet sich nur unter der Bedingung, daß der Staat der sozialen Wirklichkeit als etwas Vorfindlichem, in sich Ruhendem, gegenübertritt, oder in der Terminologie des vorigen Jahrhunderts ausgedrückt, wenn Staat und Gesellschaft unterschieden werden. Geht der Staat aber dazu über, die Sozialabläufe nicht mehr nur mit den in der Zeit des bürgerlichen Rechtsstaats gebräuchlichen Mitteln, z. B. durch Steuer- und Zollgesetze zu lenken, sondern in das Sozialgefüge gestaltend einzugreifen, etwa indem er sozialisiert oder Agrarreformen durchführt, so verliert das Gesetz seine für den bürgerlichen Rechtsstaat spezifische Form und nimmt den Charakter des kollektiven Eingriffs an. Es kann dann nicht mehr in der bisherigen Weise vom Einzeleingriff unterschieden werden, womit sich das ganze Verhältnis von Gesetzgebung und Verwaltung grundlegend ändert. In diesem Falle befinden wir uns, und zwar nicht erst seit 1933 oder 1945, sondern bereits seit den Zeiten der Weimarer Verfassung. Die Ausdehnung des Enteignungsbegriffs von der Entziehung des Eigentums auf Grund des Gesetzes auf die Eigentumsentziehung durch Gesetz und die Praxis der Volksbegehren (die fast ausnahmslos Verwaltungsfragen zum Gegenstand hatte) sind Beispiele aus der Weimarer Zeit, die sich vermehren ließen. Diese Wandlung hat dem von einem technisierten Verfassungsbewußtsein aufgerichteten System der Staatswillensbüdung und Freiheitsverbürgung, als
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welches sich die Verfassung des bürgerlichen Rechtsstaats darstellt, den Boden entzogen; von anderen wichtigen, in die gleiche Richtung weisenden Erscheinungen zu schweigen. Die Folgen werden sich zeigen, wenn die über dem politischen Leben Deutschlands hegende Lähmung und mit ihr die restaurative Erstarrung gewichen sein werden. Dann wird es darauf ankommen, von neuen Voraussetzungen aus ein Verfassungssystem der Mäßigung und des sozialen Ausgleichs aufzurichten. Dann hat Montesquieus Werk eine neue Stunde. Editorische Notiz In: Deutsche Rechts-Zeitschrift (DRZ), 3 (1948), S. 405-408.
Die Natur der Sache als juristische Denkform Gustav Radbruch (1948) Montesquieus „Esprit des lois" 1 hat die Eigenart und den Reiz, welchen zuweilen die Notwendigkeit, sich mit der staatlichen Bücherzensur in Einklang zu halten, der Literatur despotischer Zeiten aufzuprägen pflegt. Daher - neben der bewußt systemlosen, weltmännisch-aphoristischen, ja kapriziösen Schreibweise und der skeptischen, toleranten, relativistischen Denkart, die diesem Autor ohnehin eigen sind - die gewollten Dunkelheiten, die absichtlichen Vieldeutigkeiten, die unangreifbaren Anspielungen und manche als solche völlig durchsichtige Zugeständnisse an die herrschenden Anschauungen; sie machen es notwendig, immer zugleich zwischen den Zeilen zu lesen. Daher vielleicht auch zu einem Teile die Methode dieses Buches, die politischen Wertungen in das Gewand vergangenen oder exotischen Rechts zu kleiden. Deshalb hat das Werk zugleich in der Theorie und in der Praxis bahnbrechend gewirkt. Es hat im Gebiet der Staats- und Rechtslehre die Deduktion aus vorgefaßten Prinzipien durch die Induktion aus der historischen und nationalen Mannigfaltigkeit der Staats- und Rechtsordnungen ersetzt und dadurch der Historischen Rechtsschule und der Vergleichenden Rechtswissenschaft vorgearbeitet. Und es hat gegenüber dem einseitigen Fanatismus der politischen Ideologen die Bedingtheit der Politik durch die naturalen und historischen Tatsachen, Politik als die Kunst des Möglichen, einen weisen Ausgleich zwischen Konservatismus und Fortschritt vertreten und als dessen Vorbild das Verfassungsleben Englands sehen gelehrt. Zu alledem der Schlüssel ist aber der Begriff, den er sofort am Eingang seines Werkes dem Leser eindrücklich zeigt: der Begriff Natur der Sache. Das erste Kapitel des „Esprit des Lois" beginnt mit den Worten: „Les lois dans la signification la plus étendue sont les rapports nécessaires qui dérivent de la nature des choses." Und schon vorher hat es im Vorwort geheißen: „Je n'ai point dérivé mes principes de mes préjugés, mais de la nature des choses." Damit wird zugleich die gegnerische Auffassung gekennzeichnet: préjugés, Vorurteile - das sind jene dem Menschen vermeintlich eingeborenen spekulativen Ideen, jene Gleichsetzung von Vernunft und Natur des Menschen, von der das Naturrecht als Vernunftrecht 1 Zur Würdigung des „Esprit des Lois" außer der Spezialliteratur (bes. Sorel) Sir Courtenay, Ilbert, in: Macdonell / Manson, „Great jurists of the world", London 1913 und Hillebrand, Karl, „Geist u. Gesellschaft im alten Europa", hrsgg. von Heyderhoff, 1941, S. 93 ff.
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ausgegangen ist. Montesquieu vollzieht damit die Trennung der Natur der Sache von der aus der Natur des Menschen abgeleiteten rationalen Naturrecht. Die Rechtsgesetze werden in möglichste Nähe zu den Naturgesetzen versetzt (livre I, chap. 1). Als Naturwesen ist auch der Mensch Naturgesetzen unterworfen: der primitive Mensch wird nicht durch Vernunft, sondern durch Angst und Friedensliebe, durch Hunger und andere Lebensbedürfnisse, durch die Triebe zur Begattung und zur Geselligkeit mit der unwiderstehlichen Macht von Naturgesetzen zur Vergesellschaftung getrieben (ch. 2). Aber der zum Verstandesgebrauch und zur Selbstbestimmung erwachte Mensch tritt aus eigener Vernunft unter Rechtsgesetze, welche eine auf die Menschen als Vernunftwesen hingeordnete Parallelerscheinung der Naturgesetze darstellen (ch. 3). Die menschliche Vernunft ist aber nicht ein Arsenal voll fertiger allgemeingültiger Rechtswahrheiten, vielmehr bloß ein formales Vermögen, jede nationale Rechtsordnung ist für sie ein besonderer Anwendungsfall, für jede Nation sind ihre Ergebnisse verschieden. „Sie müssen so durchaus eigentümlich für jedes Volk ausfallen, in dem sie gelten, daß es ein großer Zufall ist, wenn sie für ein anderes passen." Montesquieu zählt nun die einzelnen „Sachen", die Tatsachen [auf], auf die die Natur der Sache sich gründet: naturale Tatsachen (Klima, Bodenbeschaffenheit, Lage und Größe des Landes), soziale Tatsachen (Lebensweise als Jäger, Hirten, Bauern, Besitz, Volkszahl, Handel, Sitten, Gebräuche, Neigungen, Religion), staatliche und rechtliche Tatsachen (Form der Regierung, Ziele des Gesetzgebers, Grade der Freiheit des Einzelnen, „Ordnung der Dinge", d. h. (cf. livre 26) die Zuständigkeit der einzelnen Normenarten, ζ. B. der geistlichen und der weltlichen Gesetze). Montesquieu hat also erkannt, daß Sache, Stoff des Rechts, auch das bestehende Recht ist, das der Gesetzgeber vorfindet, ja sogar der Rechtsmißbrauch: „Teile est la nature des choses que l'abus est très souvent préférable à la correction, ou, du moins, que le bien qui est établi est toujours préférable aux mieux qui ne l'est pas."2 So konservativ wirkt im Gegensatz zum Vernunftrecht die Natur der Sache! Wie verhält sich die Natur der Sache zum „Geist der Gesetze"? Das Verhältnis zwischen jenen Tatsachen und den Gesetzen wird durch das Wort Natur angedeutet. Kein Zweifel, daß es von Montesquieu als ein Kausal Verhältnis gedacht ist, als Wirkung jener Tatsachen auf Entstehung und Inhalt der Gesetze. Aber es wurde schon gesagt, daß sich im „Esprit des Lois" hinter der Theorie überall die Politik verbirgt, und deshalb sind auch in jene Kausalverhältnisse normative Elemente eingeschlossen: die Gesetze sind nicht nur durch die Lebensverhältnisse bestimmt, sie sollen 2
Montesquieu, Ed. Grasset, 1941, S. 120, 223.
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sich auch in gewissem Grade und Sinne ihnen anpassen. Aber das Verhältnis der kausalen und der normativen Elemente zueinander ist Montesquieu nicht zum Problem geworden. Nur nach Art eines notgedrungenen Zugeständnisses an herrschende Anschauungen ist dem ganzen Gesetzesdenken Montesquieus eine deistische Grundlage gegeben. Gott hat die Welt auf Grund von Naturgesetzen geschaffen - soll sie weiter bestehen, so muß Gott den naturgesetzlichen Weltlauf ohne jeden Eingriffsich selbst überlassen. Dieser Weltlauf bietet also dem Gottesgläubigen wie dem Atheisten das gleiche Bildnis einer unverbrüchlichen Gesetzlichkeit. Montesquieu stimmt stillschweigend dem berühmten Wort des Grotius über die Geltung des Naturrechts zu: etsi daremus non esse Deum aut non curari ab ilio negotia humana. An diesem Punkte setzt Rousseau mit seiner Abwehr gegen Montesquieus Gedanken ein: er versagt nicht nur mit ihm Gott, sondern auch der von Gott ausgehenden Natur der Sache, wegen der Unbegreiflichkeit des göttlichen Willens und des Fehlens jeder Sanktion, jeden Einfluß auf die menschlichen Dinge,3 um dadurch für das menschliche Vernunftrecht seines contrat social freien Raum zu schaffen (Contrat social livre II, ch. 6). Ein neuer Beweis für den geistesgeschichtlichen Gegensatz zwischen Natur der Sache und Naturrecht als Vernunftrecht! Editorische Notiz In: R., G., ,JDie Natur der Sache als juristische Denkform. Exkurs ΠΙ." Darmstadt, Wissenschaftlichen Buchgesellschaft, 1960 (Reihe Libelli. Band LIX), S. 24-28. Erstmals in: Festschrift zu Ehren von Prof. Dr. jur. Rudolf Laun. Hamburg, J. P. Toth, 1948.
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So deute ich die Worte „Si nous savions la recevoir de si haut", und „faute de sanction naturel les lois de la justice sont vaines parmi les hommes".
Die Persönlichkeit Montesquieus und seine Werke Lehrmeister des modernen Rechtsstaates Friedrich August Freiherr von der Heydte (1950) Die Ideen, die Montesquieu in seinen Werken entwickelt, die politischen Institutionen, von denen er gesprochen hat - innerer Zusammenhang zwischen Form der Staatsführung und staatstragender Idee, Gleichheit und Freiheit als Grundlagen der Demokratie, Bodenreform als Voraussetzung der Gleichheit, repräsentative Demokratie, Gewaltenteilung, Unabhängigkeit der Richter, Zweikammersystem - wurden durch Montesquieus Darstellung über ganz Europa verbreitet. Friedrich den Großen von Preußen dürfte die Lektüre des „Geists der Gesetze" zu seiner „Abhandlung über die Gründe der Schaffung oder Abschaffung von Gesetzen" (1750) angeregt haben, in der der König ganz im Sinn Montesquieus von dem an die natürliche Billigkeit gebundenen Gesetzgeber verlangt, er müsse das Glück des Volkes und den Geist, der in ihm wohnt, vor Augen haben; in der Betonung der Unabhängigkeit des Richters vom Willen des Monarchen in den beiden politischen Testamenten des großen Preußenkönigs (1752 und 1768) kehrt Montesquieus Leitmotiv wieder. Katharina II. von Rußland nennt den „Geist der Gesetze" ihr Brevier; die „Instruktion", die sie 1767 einer von ihr zusammenberufenen gesetzgeberischen „großen Kommission" aus allen Ständen und Völkern ihres Reichs vorlegen läßt und die niemals beschlossen wurde und in Kraft trat, ist voll der Gedanken Montesquieus. Wir begegnen dann den meisten dieser Gedanken bei den Theoretikern der französischen Revolution, den Necker, Sieyès und Mounier, ja teilweise auch bei Mirabeau und Lafayette wieder, die in Montesquieus Schriften eine Rüstkammer finden für den politischen Kampf. Der „Konstitutionalismus" Montesquieus wird dem Radikalismus Rousseaus gegenübergestellt, seine Theorie von der Gewaltenteilung und dem Gleichgewicht der politischen Kräfte im Staat der Lehre des Genfer Philosophen von der absoluten Gewalt einer einzigen politischen Kraft, des Volks: Was für den Jakobiner Rousseau ist, ist Montesquieu dem Girondisten. Die französischen Verfassungen von 1795 und von 1799 bauen auf den Ideen Montesquieus auf; der Motivenbericht zur französischen Verfassungscharta von 1814 ist in weiten Teilen fast einer Art freier Wiedergabe des berühmten 6. Kapitels des 11. Buchs des „Geists der Gesetze". Auch außerhalb Frankreichs wirken die Lehren des großen Franzosen befruchtend auf die staatsrechtliche Entwicklung. Wir finden viele seiner Ideen in der Verfassung der Vereinigten Staaten verwirklicht; wir hören sie aus den Reden Hamiltons und seines Gegenspielers Jefferson klin-
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gen, dem Graf Destutt de Tracy 1811 einen Kommentar zum „Geist der Gesetze" widmet; der geistige Vater des modernen Italiens, Mancini, wird von den Gedanken Montesquieus tief beeindruckt, und wir sehen schließlich Montesquieus Werke auf den Schreibtischen und in den Bibliotheken jener deutschen Minister stehen, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts in den deutschen Einzelstaaten die konstitutionelle Monarchie begründen - eines Freiherrn von Stein, ernes Grafen von Montgelas:1 „Es hat keine konstitutionelle Verfassung gegeben, in der Montesquieus Geist nicht irgendwie lebendig gewesen wäre." 2 Die gleiche Bedeutung, die Montesquieu für die politische Praxis der Nachwelt gewinnt, hat er für die wissenschaftliche Erkenntnis des Staats durch die ihm folgenden Generationen. Er „hat im Gebiet der Staats- und Rechtslehre die Deduktion aus vorgefaßten Prinzipien durch die Induktion aus der historischen und nationalen Mannigfaltigkeit der Staats- und Rechtsordnungen ersetzt und dadurch der Historischen Rechtsschule und der Vergleichenden Rechtswissenschaft vorgearbeitet". 3 Montesquieu hat weiter, wie Radbruch geistvoll zeigt, die „Natur der Sache als juristische Denkform" zwar nicht entdeckt, aber doch bahnbrechend entwickelt und auf den - vielfach kausalen - Zusammenhang hingewiesen zwischen den Tatsachen, die als „Stoff der normativen Regelung zugrunde liegen, und den einzelnen Regeln des Rechts, die nach Entstehung und Inhalt von diesen Tatsachen beeinflußt werden. Montesquieu hat schließlich als einer der ersten die Situationsgebundenheit nicht nur der Normen der staatsrechtlichen Praxis, sondern auch bestimmter Begriffe der staatsrechtlichen Theorie wenigstens empfunden und darauf angespielt. Der Einfluß Montesquieus in der staatsrechtlichen Wissenschaft reicht über das 19. Jahrhundert, dessen Doktrinen weitgehend auf Erkenntnissen Montesquieus fußen, bis tief in das 20. Jahrhundert hinein. Ernst von Hippel deutet in seiner geistreichen Theorie von der „Gewaltenteilung im modernen Staat"4 und von der Autonomie des Kulturbereichs von Montesquieu geprägte Begriff bewußt erweiternd um und gibt ihnen neuen Inhalt. Auf der anderen Seite stehen selbst so eigenwillige Denker wie Georges
1 Das Exemplar des Bayer. Staatsministers Grafen Montgelas konnte ich bei der vorliegenden Arbeit benutzen. 2
Schmidt, Eberhard, „Montesquieus ,Esprit des lois* und die Problematik der Gegenwart von Recht und Justiz", in: Festschrift für Wühelm Kiesselbach, Hamburg 1947, S. 177. 3 Radbruch, Gustav, „Die Natur der Sache als juristische Denkform", in: Festschrift zu Ehren von Rudolf Laun, Hamburg 1948, S. 168. 4
von Hippel, Emst, „Gewaltenteilung im modernen Staate". Koblenz 1948.
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Sorel5 und Carl Schmitt6 vielleicht oft unbewußt in ihren Gedanken über Staat und Recht im Bann des großen Franzosen. Freilich: Je weiter die Zeit schreitet, desto weniger wird Montesquieu verstanden. Schlimmer noch: Er wird mißverstanden. Der Gedanke der Gewaltenteilung wird aus dem Zusammenhang herausgerissen, verabsolutiert und formalisiert. Der Sinn der Gewaltenteilung war für Montesquieu die Herstellung eines Gleichgewichts zwischen den in einem Staat um die Vormacht ringenden politischen Kräften. Dieses Gleichgewicht sieht Montesquieu dadurch erreicht, daß je eine der beiden wirksamsten dieser politischen Kräfte - und als die beiden wirksamsten Kräfte im Frankreich seiner Zeit erkennt Montesquieu König und Stände- an je eine von zwei ursprünglichen und notwendigen Formen der staatlichen Tätigkeit - an Vollziehung und Gesetzgebung - gebunden werden. Solange jede von den zwei nach absoluter Machtstellung strebenden politischen Kräften eines Staats an eine dieser beiden entscheidenden Funktionen der Staatsgewalt gebunden, aber auch auf sie beschränkt ist, und solange anderseits hinter jeder dieser beiden entscheidenden Funktionen eine andere machtvoll wirksame politische Kraft steht - hinter der Gesetzgebung die Stände als Vertretung der politischen Kraft des Volks, hinter der Vollziehung der König und die politische Kraft des Königtums - solange wird es, davon ist Montesquieu überzeugt, keiner der an diese Funktionen gebundenen und auf eine von ihnen beschränkten politischen Kräfte gelingen, alle Gewalt im Staat an sich zu reißen und zu absoluter Machtstellung zu kommen; denn diese beiden Funktionen der Staatsgewalt sind so voneinander abhängig, daß keine ohne die andere besteht. Durch solche funktionelle Bindung und Beschränkung werden aber gleichzeitig die beiden machtvollsten politischen Kräfte im Staat, die ihr Herrschaftsstreben zunächst notwendig gegeneinander geführt hat, aufeinander angewiesen und gezwungen miteinander für das Wohl der Gesamtheit zu sorgen. Das Gleichgewicht zwischen den beiden mächtigsten politischen Kräften im Staat, das durch diese Bindung und Teilung erreicht wird, wird dadurch erhalten und stabilisiert, daß eine dritte ursprüngliche und notwendige Form staatlicher Tätigkeit, die Rechtsprechung, funktionell unabhängig zwischen den beiden anderen genannten Funktionen steht, ohne mit
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Der Sozialphilosoph und Politiker - hier nicht zu verwechseln mit dem Historiker Albert Sorel d. Ae., dem Verfasser einer auch ins Deutsche übersetzten Monographie über Montesquieu. 0 Auch der Gedanke Montesquieus von der Bindung politischer Kräfte an Funktionen der Staatsgewalt klingt bei Carl Schmitt in der Theorie von den „drei Säulen des nationalsozialastischen Staats", in der Carl Schmitt die drei 1933 in Deutschland maßgebenden politischen Kräfte - Partei, Wehrmacht und Bürokratie - funktionell in den Staat einzuordnen und zu binden sucht.
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einer politischen Kraft im Staat verbunden zu sein - „gewissermaßen bedeutungslos", eine neutrale Gewalt.7 Die Gewaltenteilungslehre Montesquieus ist so nicht bloß die Lehre von einer durch die Natur der Sache notwendig gegebenen Aufgabenteilung im Staat, sondern sie ist darüber hinaus die Theorie von der funktionellen Bindung der politischen Kräfte im Staat und dem dadurch erreichten Gleichgewicht dieser Kräfte - die Theorie von einem Gleichgewicht, das einerseits ein Zusammenspiel aller in einem Staat wirksamen politischen Kräfte ermöglicht und damit Stärkung des Staats bedeutet und das anderseits zu einem echten Ausgleich führt zwischen der Macht des Staats, der Freiheit des Einzelnen und dem über beiden stehenden Gesetz. Denn das Gesetz - auch das hat das 19. Jahrhundert vielfach verkannt steht für Montesquieu über dem Staat. Es ist für ihn die ratio scripta, Niederschrift der Vernunft, 8 nicht die voluntas scripta, nicht Kundgebung eines Willens. Damit wird das Gesetz zur Wahrheit: zur Wahrheit, die über dem Staat steht.9 Wie für Locke bedeutet für Montesquieu Gesetz ganz einfach vernünftige Ordnung. Dieses „natürliche" Gesetz gilt es im Bereich des außermenschlichen Schöpfens bloß zu erkennen, denn die Natur verwirklicht es von selbst; im Raum menschlichen Tuns aber geht es nicht nur um die Erkenntnis dieses Gesetzes, sondern auch um seine Verwirklichung durch menschliches Wollen. Nicht, daß er die Fähigkeit hat die vernünftige Ordnung zu erkennen: Daß er in freier Entscheidung diese Ordnung mit verwirklichen kann, macht den Menschen zum Ebenbild Gottes. Jedes Gesetz folgt notwendig aus der Natur der Dinge: Doch in dem dem menschlichen Wirken entzogenen Raum bedeutet dieses „notwendig" Zwang, im Raum menschlichen Handelns vernünftige Einsicht. An Stelle der Unabänderlichkeit der Ordnung dort tritt hier die durch die Einsicht in diese Ordnung gelenkte und bestimmte menschliche Freiheit. Das Gesetz als natürliche Ordnung wird damit zum Maßstab der menschlichen Freiheit; die Freiheit zur Voraussetzung des menschlichen Gesetzes. Dieser Gesetzesbegriff Montesquieus läßt die Forderung auf Unabhängigkeit der Richter in ganz anderem Licht erscheinen, als das 19. Jahrhundert diesen Gedanken erfaßt hat. Der unabhängige Richter im Sinn Mon7
Wenn auch Montesquieu diesen Ausdruck „neutrale Gewalt" noch nicht prägt, so kennt er doch schon den Inhalt dieses Begriffs. Constant ist ohne Montesquieu nicht denkbar. 8 Vernunft im Sinn einer natürlichen Ordnung. Die menschliche Vernunft dagegen ist für Montesquieu „nicht ein Arsenal voll fertiger, allgemeingültiger Rechtswahrheiten, vielmehr bloß ein formales Vermögen zur Erkenntnis der naturlieben Ordnung" {Radbruch, S. 168.). 9 Vgl. Schmidt, E., S. 188 f. und Cassirer , E., „Die Philosophie der Aufklärung". 1931, S.324.
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tesquieus ist Diener der Wahrheit; und er hat diese Wahrheit, das wahre, vernünftige Gesetz, dessen Sprachrohr er ist, zu finden und anzuwenden „wie ein unbeseeltes Wesen", unbeeinflußt von allen politischen Kräften im Staat - und durch von vornherein beschränkte Dauer seines Amtes selbst nicht in der Lage, zur politischen Kraft zu werden, die ihre Stellung im Kampf um den Staat mißbraucht. 10 Daß Montesquieu 200 Jahre nach dem ersten Erscheinen seines großen Werks auch dem Deutschen von heute, der nach dem furchtbaren Erlebnis des totalitären Staats und seinem Zusammenbruch um eine neue Form staatlichen Lebens ringt, etwas zu sagen hat: Dies zu zeigen ist Zweck der nachfolgenden Auswahl aus dem „Geist der Gesetze".11 200 Jahre nach der Veröffentlichung des „Geists der Gesetze" erlebt die Welt die Despotie, die Montesquieu geschildert hat, wieder in grauenvoller Wirklichkeit; keiner Zeit ist deshalb der Gedanke der politischen Freiheit des Einzelnen, der als Leitmotiv durch alle Werke Montesquieus klingt, so echtes inneres Anliegen, wie der, in der wir leben. Die nachfolgende Auswahl aus dem „Geist der Gesetze" verfolgt einen weiteren Zweck: Sie will dadurch, daß sie Montesquieu selbst sprechen läßt, helfen, die MißVerständnis se zu beseitigen, die das 19. Jahrhundert in die Gedanken Montesquieus über das Wesen des Gesetzes und den Inhalt der Gewaltenteilung hineingetragen hat. Die Beseitigung dieser Mißverständnisse soll dem Leser den Weg ebnen zur Überlegung, wie der Gedanke der Gewaltenteilung, d. h. des Gleichgewichts der Kräfte heute, da ganz andere politische Kräfte wirksam sind als vor 200 Jahren, in einem Staat verwirklicht werden kann; in dem den Absolutismus des Königs ein nicht minder despotischer Absolutismus der parlamentarischen Mehrheit und der Parteiführungen ersetzt hat, und zur weiteren Überlegung, wie wir heute wieder zu einem Gesetz gelangen können, das ratio scripta, Wahrheit, ist, und zu einem Richtertum, das dieser Wahrheit unabhängig dient, und wie wir die Freiheit des Einzelnen durch solches Gesetz heute gewährleisten können.
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Wie der Gesetzgeber ist der Richter ursprüngliches Staatsorgan und letzte Instanz, deren Entscheidung unabänderlich ist. Er ist an das Gesetz, doch nicht an den Gesetzgeber gebunden. Die Stellung des Gesetzgebers zum Gesetz ist im Grund eine ähnliche wie die des Richters. Den „Pluralismus" Montesquieus hat neuerdings trefflich A. Brunner, „Rechtsstaat gegen Totalstaat", Zürich 1948, dargestellt. Brunner verweist auch auf den gedanklichen Zusammenhang zwischen dem Pluralismus der Gewaltenteilungslehre und dem Föderalismus Montesquieus etwa in der Lehre von den in der Monarchie zwischen Führung und Volk gestellten untergeordneten Gewalten. Hier wie dort die Idee der GewaitQuhemmung und Gewaltenbindung, der Subsidiarität. 11
Diesem Zweck entsprechend habe ich manches Kapitel weggelassen, das ein Kenner Montesquieus nur ungern vermissen wird, so seine Ausführungen über den Sklavenhandel und die Negersklaven in Amerika, über die Tortur u. a. m.
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Noch einen dritten Zweck verfolgt die nachfolgende Auswahl. Nach einer Zeit der Absonderung und Abschließung der deutschen Staatslehre von den gemeinsamen Grundlagen abendländischen Denkens soll diese deutsche Ausgabe eines Teils der Werke des großen Franzosen ein Hinweis sein auf die Einheit des europäischen Geistes, der Frankreich und Deutschland eng miteinander verbindet, und ein Bekenntnis zu dieser Einheit! Editorische Notiz In: Montesquieu, „Vom Geist der Gesetze. Eine Auswahl übersetzt und erläutert von Friedrich August Freiherr von der Heydte". Berlin 1950. Einleitung, S. 66-73 (v. d. Heydte legte seiner Übersetzung die fünfbändige Ausgabe der Werke Montesquieus von J. F. Bastien, Paris 1788, zu Grunde; vgl. S. 73 der Einleitung).
Montesquieu und die europäischen Traditionen Fritz Schalk (1951) Durch drei Bücher, die im Ancien Régime erschienen sind, ist die politische Theorie in Frankreich in klassischen Beispielen verkörpert worden: durch Bodins „République ' (1576), Montesquieus „Esprit des lois" (1748) und Rousseaus „Contrat social" (1762). Diese drei Werke sind über den Kreis, für den sie bestimmt waren, hinausgedrungen, Muster und Vorbild politischer Analyse geworden und haben Anhänger wie auch schärfste Gegner ihrer Auffassung in ihren Bann gezogen. Sie sind in einem gewissen Sinn aktuell geblieben, während der Weg, den Bossuet beschritten und bis ans Ende durchmessen hat, nicht der Weg der Zukunft gewesen ist - ja selbst im 17. Jahrhundert bleibt die rein theologische Begründung der Politik, bleibt die „Politique tirée de l'Écriture sainte*4 innerhalb der allgemeinen Geschichte der Politik eine vereinzelte Erscheinung. Aber auch die übrige mannigfaltige politische Literatur Frankreichs vor der Revolution - die Schriften der Legisten, der Verfassungstheoretiker, der Enzyklopädisten - sie bleiben, so interessant sie auch sind, an ihre Zeit gebunden, so daß die Bedingtheit Grenze ihrer Wirksamkeit geworden ist; die drei genannten Werke schlagen jedoch die Brücke über die Jahrhunderte hinweg, sie greifen über die Gegenwart in die Vergangenheit, suchen die direkte Berührung mit der antiken Gedankenwelt und enthalten zugleich ein Prinzip der Wirkung, das die Zukunft erkennen oder ahnen läßt. In einer neuartigen Verwobenheit erscheinen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft: sie werden zum Sprechen gebracht, und es ist, als ob aus der engen Verbindung zwischen der eigenen Zeit und der Tradition eine neue Form entspringen müßte. Alle drei Autoren sind nun als Theoretiker der Politik zugleich Philosophen. Die Politik ist nicht nur als eine Technik verstanden, die lehrt, wie die Macht erobert, behauptet und vernichtet werden kann, sie ist vielmehr Diener eines höheren Prinzips und hat die Funktion, eine glückliche und freie, mit Humanität und Vernunft in Einklang stehende Lebensführung ermöglichen zu helfen. In diesem Sinne ist die vertu ihr zentraler Begriff. Dies verweist darauf, daß Politik - wie man im 18. Jahrhundert sagte - als eine Tugendlehre verstanden werden soll, als eine Anthropologie. Dieses philosophische Element, das hier keine bloße Abschweifung, sondern mit dem Ganzen des Werkes eng verbunden ist, ist überall dort in der modernen Literatur eliminiert, wo die Politik lediglich als eine Lehre von politischen Zielen, als Aufstellung historischer Gesetze oder moralischer Imperative, als Kunstlehre, als eine Art Mechanik verstanden wird. Und die Loslösung von der Tradition, die die Frage nach dem Wesen des Politischen immer im Zusammenhang mit der
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Frage nach der natura hominis beantwortet hat, ist dort am vollkommensten, wo in einer Art von Aktivismus das Theoretische nur als eine Entartung angesehen wird, das die Unmittelbarkeit der Tat hemmt, wo die Auslegung politischer Ziele in einem Programm etwas Unverbindliches ist, eine Art anfeuernder Schlachtruf, der durch jeden anderen zu ersetzen ist. Sind dann doch alle Aussagen nicht nach dem Maßstab der sachlichen Angemessenheit, der Wahrheit zu beurteilen, sondern sind Fiktionen, Mythen} Der spezifisch historische und philosophische Zug, der der politischen Theorie des 18. Jahrhunderts eigentümlich ist, die Traditionen, die meistens ihr wesentliches Element bildeten, ist hier völlig eliminiert. Das leitende Prinzip aber, das die politischen Theorien in Frankreich vom 16. bis 18. Jahrhundert durchgängig beherrscht, war philosophisch. Daher war man einer alten Grundrichtung treu geblieben, die immer wieder eingeschlagen wurde; man knüpft stets neu das Band, welches das einzelne, das staatliche Leben mit dem Gesamtleben des Alls verbindet. Auch Rousseau, der zwar vom Menschen, nicht vom Ganzen ausgeht, führt doch schließlich das Dasein auf das System des Universums zurück, in dem allein es begründet werden kann. „Que de sophismes", schreibt er im Emile, „faut-il point entasser pour méconnaître l'harmonie des êtres, et l'admirable concours de chaque pièce pour la conservation des autres?" (Œuvres complètes, Paris 1836, III, 159). Eine alte Idee, die der Harmonie zwischen Natur und Welt, die man in die Sphäre des politischen Lebens übertragen möchte, erweist hier ihre Kraft. Montesquieu steht von Anfang an in ähnlichen Aspekten und bewegt sich in verwandten Tendenzen: es ist die Ordnung, die die Welt bestimmt und leitet, die man auch im Staate wiederfindet, sofern die gegensätzlichen Kräfte im Begriff der Harmonie geeint sind. Schon in den „Considérations sur les causes de la grandeur des Romains et de leur décadence" ist die Harmonie nicht nur Ziel und Ende, sondern auch das festeste Band, das alles Sein, Erde und Himmel und alle widerstreitenden Kräfte umschlingt: „Ce qu'on appelle union dans im corps politique est une chose très équivoque, la vraie est une union d'harmonie, qui fait que toutes les parties quelques opposées qu'elles nous paraissent, concourent au bien général de la société, comme des dissonances de la musique concourent à l'accord total. Il peut y avoir de l'union dans un état où l'on ne croit voir que du trouble, c'est a dire une harmonie d'où résulte le bonheur, qui seul est la vraie paix. Il en est comme des parties de cet univers, éternellement liées par l'action des unes et la réaction des autres" (chap. IX). Im „Esprit des lois" ist dasselbe Prinzip noch in ein anderes Gebiet vorgetragen, die Scheidung zwischen natürlichen und geistigen Gesetzen aufgehoben, alle Gesetze sind in einer harmonischen universalen Ordnung verankert. „Les lois", so lauten die berühmten Eingangssätze des ersten Buches, „dans la si1 Charakteristisch z. B. bei Mussolini in einer Rede aus dem Jahre 1922: „Noi abbiamo creato i l nostro mito. I l mito è una fede [...]. Non e necessario che sia una realtà. È una realtà nel fatto che è una speranza, che è fede, che è coraggio [...]. I l nostro mito è la nazione". („Scritti e discorsi", II, 345).
Europäische Traditionen
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gnification la plus étendue, sont les rapports nécessaires qui dérivent de la nature des choses, et dans ce sens, tous les êtres ont leur loi: la divinité a ses lois, le monde matériel a ses lois, les intelligences supérieures à l'homme ont leurs lois, les bêtes ont leur loi, l'homme a ses lois." Der Welt wird hier ein neuer Sinn und eine neue Kraft gegeben, wenn ihr nicht bloß die physischen, sondern auch die geistigen, natürlich, das heißt, immanent begründbaren Wahrheiten angehören. Das Bild des Kosmos bliebe fragmentarisch und unvollständig ohne die Vermittlung zwischen den verschiedenen miteinander verketteten Gesetzen. Die Übereinstimmung zwischen dem Bereich der Natur und der menschlichen Ordnung zu zeigen, das bleibt das ständige Bestreben, so daß die Idee der Harmonie sich als eine reale und aktive Kraft erweist, die das neuzeitliche politische Denken beeinflußt und ihren Weg in die verschiedenen Formen der Staats- und Geschichtstheorien findet. Denn das politische und philosophische Denken hängen so miteinander zusammen, daß, echt stoisch, die Übereinstimmimg der persönlichen, gesellschaftlichen und der universalen Ordnung das Ziel bleibt, das aller Theorie vorschwebt, auch schon der Bodins, der vor allem das erste und letzte Buch seiner République ganz auf dieses Phänomen konzentriert hat und in der erkennenden Kontemplation der „harmonie mélodieuse de tout ce monde" eine wunderbare Seligkeit findet. Das Leben der verschiedenen Stände stammt aus der Kraft eines bildenden Ganzen, und den Staat leitet der weise König nach dem Vorbild göttlicher Harmonie. Die verschiedenen miteinander kämpfenden Kräfte gleichen sich aus, durchdringen sich wechselseitig, und diese Durchdringung verleiht ihnen ihre Stärke. Sie finden sich in vollendeter Harmonie. Die Monarchie, so wie Bodin sie versteht, wird Bild und Gegenbild des Weltsystems, Ausdruck und Symbol der harmonischen Ordnung, die Gott geschaffen hat und die überall anzutreffen ist: zwischen der Erde und den Metallen, zwischen Pflanzen und Tieren, Tugenden und Lastern - in allen Sphären des Lebens erweist sie ihre Kraft. Ihre Begründung steht immer unter traditionellen Voraussetzungen.2 Die Zusammenhänge sind im 18. Jahrhundert nicht immer klar erkennbar im 16. sind antike Lehren die eigentlich bewegende Kraft, und Bodin kann das Neue, was er zu sagen hat, nur sagen, indem er überall den Linien des antiken Denkens folgt und dem Kompaß des Aristoteles und Plato vertraut. Ob es sich um den Zusammenhang von Staat und Universum, physischer und geistiger Realität, um die Unterscheidungen verschiedener Staatsformen, Institutionen und staatsrechtlicher Begriffe handelt - wie z. B. Beamter und Kommissar, Gesetz und Verordnung - überall, ja selbst bei dem Kernstück des Buches, der Begründung der unveräußerlichen und unverjährbaren Souveränität, der majestas legibus soluta - sucht das Denken seine Wurzeln in den Lehren antiker 2
Zur Geschichte der Idee der Harmonie in Antike und Christentum s. Spitzer; L., „Classical and Christian Ideas of World Harmony", ed. A. G. Hatcher, Baltimore,. 1963, 45. S. auchFesîugière, A. J., „La révélation d'Hermès Trismégiste", Paris 1950, passim.
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Philosophen und Historiker, läßt sich in einer humanistisch-enzyklopädischen Art von ihnen fuhren und erleuchten und sich den Weg zur Begründung der médiocrité harmonieuse eröffnen, einer ausgleichenden, vermittelnden, Gegensätzen in Politik und Religion ihr ganzes Recht belassenden Haltung, die deutlich unterschieden ist von der Sphäre des Fanatismus, die für die gegenseitig sich ausschließenden politischen und religiösen Ideen im 16. Jahrhundert charakteristisch war. Die Prinzipien von Hugenotten und Guisen waren in der Tat so geartet, daß sie jedes andere Prinzip ausschlossen: jeder war, was er war, immer nur als Verneinung und Ausschluß des anderen. Jede Partei wollte die Einheit stiften durch Beseitigung der andern und hob eben dadurch die Einheit auf, deren Teil sie selbst war, zerstörte die Harmonie des Ganzen, die Vielheit in der Einheit. Verschiedene Richtungen, ohne in ihrem Wesen abgeschwächt oder ausgelöscht zu werden, sollten aber - so meint Bodin nebeneinander bestehen und zu einer Einheit verschmelzen. Wie die Vertreter der verschiedenen Religionen in seinem berühmten Religionsgespräch, dem Heptaplomeres, sind sie nicht entgegengesetzte Pole, sondern als einander verwandt, vermögen sie sich zu sehen und einander zu ergänzen: die einzelnen Religionen entsagen ihrem Absolutheitsanspruch und beugen sich vor der neu eroberten Würde eines politischen Lebens, das in Bodins République seine klarste politische Formulierung gefunden hat: das öffentliche Recht war Staatsrecht geworden, der Staat souverän, und zur Zeit des aufgewühlten konfessionellen und politischen Zustands Europas war die Idee der Souveränität entdeckt, die zur bindenden Kraft im damaligen Leben geworden war, weil sie die einzig mögliche Lösung darzubieten schien. Denn es war die jetzt in ganz Europa sich konstituierende Souveränität der Staaten das Resultat des Auflösungsprozesses des christlichen Imperiums, der seit zwei Jahrhunderten im Gange war. Der Bodinsche Begriff der suprema potestas legibus soluta hob sich daher polemisch ab von der Imperiumsidee. Die Zusammenfassung der Territorien unter einheitlichen, von keinerlei Nebenkompetenzen beschränkten Regierung, die Behauptung dieser Territorien gegen die andern im immer mehr verblassenden Rahmen des ehemals universalen Imperiums warf eine Fülle neuer Lebensfragen auf. Sowohl die innere Begründung des auf sich selbst gestellten Gemeinwesens, des Staates (Althusius, Spinoza) als auch die Idee eines Rechtes, das ohne übergeordnete Instanz als Recht schlechthin für alle Staaten in Krieg und Frieden verbindlich sein muß (Grotius), mußte gewonnen werden. Man knüpft in Frankreich im 17. Jahrhundert an diese Tradition nicht mehr an, versucht vielmehr hinter sie zurückzugehen, zur „Défense de la tradition et des Saints Pères". Die Macht mußte nicht mehr begründet werden - sie war durch ihr bloßes Dasein schon legitimiert - und entsprang nach dem Theoretiker der absoluten Monarchie, Bossuet, aus dem Willen Gottes. Das in Bossuets „Politique tirée de l'Ecriture sainte" entwickelte System bezeichnet daher den König als die eigentliche Quelle der Harmonie. „Aussitôt qu'il y a un roi, le peuple n'a plus qu'à demeurer en repos sous son autorité." (IV. art. L.
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prop. V). Oder: „C'est par la seule autorité du gouvernement que l'union est établie parmi les hommes" (I, art. III) und andere Mächte, die seinem Einfluß die Waage halten könnten, gibt es nicht. Die verschiedenen Formen des Lebens sind durchdrungen von dem Geist der göttlich begründeten königlichen Autorität, die Grundlehre der katholischen Kirche und die Grundkräfte des Königtums ergänzen sich wechselseitig und stiften die Einheit, die gefährdet wäre, wenn die Flut religiöser und politischer Leidenschaften wieder versuchte, die Dämme zu durchbrechen, die das neue, alle Wirklichkeit ergreifende und umspannende System zur Sicherung der einen Religion aufgerichtet hat. „Ceux qui ne veulent pas souffrir que le prince use de rigueur en matière de religion, parce que la religion doit être libre, sont dans une erreur impie" (VII, art. 3) - denn aus Widersprüchen und Dissonanzen, aus der unumschränkten, durch keinerlei Normen einzuengenden Freiheit verschiedener Religionen kann die Einheit nicht gewonnen werden. Zur Versöhnung und Harmonie gegnerischer Kräfte, so wichtig sie für die Einheit des religiösen Systems zu sein schienen, läßt es Bossuet nicht kommen - auch zu keinem Kompromiß mit Leibniz - , damit die beiden Pole der kirchlichen und politischen Autorität, die durch seine Kraft sich genährt und zueinander iüngezwungen worden waren, sich nicht wieder trennen können. Das heißt nicht, daß die Autorität unumschränkt ist - denn Bossuet unterscheidet scharf zwischen gouvernement absolu und gouvernement arbitraire - , wohl aber, daß die Untertanen ihrem Ordnungsprinzip unterworfen sind, an dem sie selbst keinen aktiven Anteil mehr haben. Montesquieu hat sich stets als den Gegenspieler Bossuets empfunden. Dieser schien ihm die Mannigfaltigkeit auf die Einförmigkeit zu reduzieren, während er, der von früh an heimisch war in der Welt der Antike und der Renaissance, sich auch den Impulsen nicht entzieht, die er dort empfangen hat. Montaigne und Bodin haben einen großen Anteil an seinem geistigen Entwicklungsprozeß gehabt, wie diese besitzt er das Organ für die unendliche Verschiedenheit des gesellschaftlichen und physischen Kosmos. Die Freude Bodins an der „süßen und natürlichen Harmonie", die aus den widersprechenden Elementen, aus Sympathien und Antipathien gebildet ist, sie feiert ihre Wiedergeburt in einem neuen geistigen Medium und wird zu einem der Hauptmotive, aus dem seine historische und politische Anschauung erwächst. Gleich Shaftesbury, den er mit Montaigne, Malebranche und Plato zuten großen Dichtern rechnet, zieht er, in einer gänzlich undogmatischen Offenheit für jede Position, keine Grenze mehr gegen vermeintliche Häresien. War doch Shaftesbury in „A Letter concerning Enthusiasm" (1716) so weit gegangen, selbst den Schwärmern und Fanatikern nur mit Witz und Spott begegnen zu wollen, als wäre die Philosophie nicht nur Gegengewicht und Waffe, sondern zugleich Versöhnung: „And thus the matters were happily balanced, Reason
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had fair Play, Learning and Science flourished. Wonderful was the Harmony and Temper which arose from all these Contrarieties." 3 Nun hat schon Bodin durch seine Beobachtung, daß die Natur der Menschen so verschieden sei wie die der Völker und Länder, die Welt in einem neuen Licht gesehen. Seine Motive wirken nach in Montesquieus ersten Schriften und, klarer und reiner, im „Esprit des lois". Bodin erblickte von seinem Standort Entstehung, Wachstum und Verfall der Institutionen und Wissenschaften: „Ainsi advient-il à toutes républiques, de naistre et de croistre peu à peu, et puis fleurir enrichesseset puissance, et après s'envieillir et aller en décadence",4 und er hat damit die antike und nachantike Methode, die Ursachen der Dekadenz zu ergründen, wieder zum Problem gemacht. Auch für Montesquieu wird der Begriff von Aufstieg und Verfall zum Hebel, mit dem er das Ganze der geschichtlich-gesellschaftlichen Welt, die Universalgeschichte, angreift. Die Idee der politischen Universalgeschichte entstammte dem Polybios, und ihr Nachleben gewährt Einsicht in ihre gestaltende Kraft. Indem die translatio - und renovatio - Vorstellungen sich durchsetzten, blieb das Imperium Horizont und Thema der politisch-historischen Reflexion. Dante stellte im 2. Buche von „De Monarchia" dieselbe Frage wie Polybios und Augustin in den politisch-historischen Teilen von „De civitate Dei", die Frage nämlich, warum das Imperium den Römern zufallen mußte. Die gleiche Frage erhält noch in Machiavellis Discorsi ihren ganz andern neuen Sinn. Erforschung der Gründe des Aufstiegs, Analyse des Machtverfalls und Appell zur Restitution sind in der historisch-politischen Reflexion miteinander verklammert. Solange man an der von Hieronymus überlieferten Darstellung von der Dauer des römischen Reiches bis ans Ende der Welt festgehalten hat, konnte der Verfallsgedanke nicht zum zentralen Begriff der politischen Historie werden. Erst als Bodin im „Methodus ad facilem historiarum cognitionem" die Danielauslegung des Hieronymus niedergeschlagen hatte, kam die politische Historie ganz unter die Grundvorstellungen von Aufstieg und Verfall des Staates. Am Leitfaden des Verfallsgedankens halten eine Fülle historischer Betrachtungen sich fest, besonders da das Thema des Machtverfalls (declinatio imperii) sich mit der im 18. Jahrhundert immer geläufiger werdenden Vorstellung vom Kulturverfall verbinden konnte.5 Dieses Gefühl des Verfalls und steten Wandels - „Tout renaît et meurt" heißt es in den Tagebüchern Montesquieus - , das sehr allgemein im 18. Jahrhundert war, hat sich in den „Considérations" zu einer Theorie verdichtet, die im „Esprit des lois" auf einen weltgeschichtlichen Hintergrund projiziert wird, 3
„Characteristics of Men, Manners, Opinions, Times", London 1772, vol. 1,18.
4
„Response au paradoxe de M. de Malestroit", ed. Hauser, Paris 1932,25.
5
S. dazu Re hm, W., „Der Untergang Roms im abendländischen Denken". Leipzig
1930.
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gegen den man sie halten muß, um sie in ihrer Bedeutung zu verstehen. Schon in den „Considérations" erkennt Montesquieu, daß eine ewige Krankheit, die die Menschen dazu treibt, ihre Einrichtungen zu verdeiben, nicht nur ihren Anteil bei vielen politischen Veränderungen hat, sondern daß sie auch sehr oft deren wirklich treibende Kraft war. Im „Esprit des lois" war das Thema jedoch noch viel weiter gefaßt und die Mannigfaltigkeit und Differenziertheit aller Staats- und Lebensformen ganz unter den Blickpunkt des Wandels gerückt. Man sollte meinen, daß der Reichtum des in dem Buche angehäuften und weltmännisch dargebotenen Materials den Autor vielleicht auf die utopische Wirklichkeit eines besten Staates verwiesen hätte. Aber von utopischen Gedanken ist Montesquieu so wenig berührt wie Bodin.6 Er hat aber auch der Skepsis, die das schwindende Gefühl der Dauer, der sichtbare Verfall aller Ordnung und die tiefe Veränderung des Lebens Mitte des 18. Jahrhunderts nahe legte, zwar Einlaß gewährt, so daß sie stets von neuem einströmt in sein Werk, sie aber zugleich bewacht und eingeschränkt in ihrer Wirksamkeit. So wird die Skepsis zum notwendigen Korrelat seines Versuchs einer Organisierung der Verfassungslehre und gibt ihr die spezielle Farbe; sie war der Boden, in dem eine Theorie wachsen konnte, die hoffen durfte, der stets akuten, ewigen Krankheit des Menschen mit gesetzgeberischen Mitteln zu begegnen. So kommt es zu dem sehr humanen Schluß: „Parce que les hommes sont méchants, la loi est obligée de les supposer meilleurs qu'ils ne sont"7 oder „II faut que les lois tendent à donner, autant qu'elles peuvent, un esprit de modération", 8 denn dieser Geist der Mäßigung als eine ordnende und regelnde Kraft ist eine Denkbewegung, die den Menschen zur Natur emporhebt, ihn harmonisch ihrer Ordnung einreiht. Die magistrature japonaise, meint Montesquieu, mißachtet gleichsam den Kosmos durch ihre Gesetze, die er, schaudernd, gar nicht aufzuzählen wagt: „Je ne puis achever, elle a fait frémir la nature même",9 sie überhörte die Stimme der Natur, „La plus douce de toutes les voix". 10 Montesquieus Berührung mit dem Gefühls- und Gedankenkreis der Stoa tritt hier, und deutlicher noch in dem Kapitel De la secte stoïque (XXIV, 10) zutage, über dem ein Hauch antiken Geistes liegt. Wenn er zweideutig, das Christliche dem Antiken vorordnend, dort sagt: „Si je pouvois un moment cesser de penser que je suis chrétien, je ne pourrais m'empêcher de mettre la destruction de la secte de Zénon au nombre des malheurs du genre humain", so erschienen diese Sätze auch wie ein Bekenntnis zu dem Ideal, unter das er seine gesetzgeberischen Bestrebungen gestellt hat. Denn alle möglichen antiken Wissens- und Bildungselemente strömen in sein Werk ständig ein, aber 6
„La République", S. 4. „Nous ne voulons pas aussi figurer une République en idée sans effect, telle que Platon, et Thomas le More [...]". 7
„De l'Esprit des lois" VI, 17.
8
Ibid. V, 8.
9
Ibid. ΧΠ, 14.
10
Ibid. X X V I , 6.
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die stoische Lehre ist ihm zum Lebenselement geworden, und wenn er, hierin der Linie des Denkens von Machiavelli und Hobbes nicht folgend, nicht nur an die Sicherung des Staates zur Vermeidung jeder Anarchie denkt, sondern vor allem an die Begründung der staatlichen Ordnung als einer humanen, dann ist eine solche humane Ordnung das Band, das zwischen dem Menschen und der Natur geknüpft wird, der Raum, der zwischen dem gesellschaftlichen Sein und dem Sein der Natur die Brücke schlägt. Darum sind in dem scharfen und hellen Licht des „Esprit des lois" die einzelnen zerstreuten und scheinbar unzusammenhängenden Analysen doch stets auf einen gemeinsamen Mittelpunkt gerichtet: auf das Ideal des Maßhaltens, der Humanität und Freiheit. Montesquieu behält dieses Ziel um so schärfer im Auge, als die geschichtlich vergleichenden Betrachtung ihn nirgends ein stabiles Gleichgewicht sehen läßt. Vielmehr gelangt in jedem Staat und in jeder Regierungsform, die Montesquieu beschreibt,11 eine Tendenz zur Peripetie, die ursprünglich in ihr angelegt war, zur Entfaltung: keine Form vermag sich zu behaupten, weil keine dem Prinzip treu bleiben kann, auf dem sie beruht, und diese Beobachtung der fortschreitenden geschichtlichen Veränderung läßt auch den Zustand der Freiheit als einen transitorischen erscheinen, den der Despotismus aus den Angeln heben könnte. Man muß die immer wieder hervorbrechende Ironie und das Pathos der Freiheit auch verstehen als die Aufnahme einer stets geahnten und gefürchteten Entwicklung in das denkende Bewußtsein, das erkennt, daß mit der Preisgabe der Freiheit auch der unmittelbar lebendigste Bestandteil der Gesittung verloren wäre. Denn: „La plupart des peuples d'Europe sont encore gouvernés par les mœurs. Mais si, par un long abus du pouvoir, si, par une grande conquête, le despotisme s'établissoit à un certain point, il n'y auroit point de mœurs ni de climat qui tinssent; et, dans cette belle partie du monde, la nature humaine souffriroit, au moins pour un temps, les insultes qu'on lui fait dans les trois autres" (VIII, 8). Diese Sätze weisen deutlich auf die Kraft der europäischen Tradition zurück, von der sie ihr volles geschichtliches Licht empfangen und deren universelle Bedeutung sich oft in dem Vergleich Europas mit Asien in prägnanter Bedeutung darstellt: der Gegensatz zwischen dem einheitlichen uniformierten Großreich und dem harmonischen Nebeneinander einzelner verschiedener Staaten wird hier wie mit einem Blicke umfaßt. 12 In dieser Bestimmung Europas als der Einheit in der Vielheit, der europäischen Entwicklung als der freiheitlichen schlechthin werden die Fäden eines neuen Gedankens nach allen Richtungen ausgesponnen und ein Prinzip antizi11 Er beschreibt sie, wie bekannt, nur statisch, um die Formen ist kein Spielraum der Entwicklung, das Wechselspiel, das sich aus dem Übergang der einen in die andere entspinnen müßte, wird noch nicht gesehen. 12
Im anderem Zusammenhang handelt von dieser z. T. antik inspirierten Gegenüberstellung von Großstaat und Kleinstaat Kaegi, W. in seinem Aufsatz: „Der Kleinstaat im europäischen Denken, Historische Meditationen". Zürich 1942,1,249 ff.
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piert, das im 19. Jahrhundert von Historikern wie Lord Acton, Tocqueville, Guizot, Royer-Collard, Ranke, Burckhardt scharf formuliert worden ist. In der Richtung auf die Innen- und Außenpolitik wiederholt sich ein Zug, der in Montesquieus Weik ersichtlich geworden war. Ähnlich wie Montesquieu 1748 hat Guizot 1828, als er in der Sorbonne seine Vorlesungen über die Histoire de la civilisation en Europe hielt, aus der politischen Situation der Zeit den erregenden Funken gezogen: er wünschte sich die harmonie active der Freiheit und Autorität für Frankreich und glaubte, daß das, was allein Europa zusammenhalten könne, nicht die Hegemonie eines einzigen, sondern die Harmonie, das Nebeneinander verschiedener Prinzipien (la coexistence des principes divers) sei,13 das heißt, was in Montesquieus Kritik an Ludwigs XIV. Hegemoniebestrebungen bereits ausgesprochen war, wiederholt sich auf ähnlicher Ebene, da die Entwicklung in Politik und Historie eine durchgehende Richtung des Fragens aufweist. Die Verabsolutierung eines einzigen Prinzips wäre der Widerstreit, die Antithese zum Gedanken der Freiheit. Wenn nun die europäische Geschichte nur als Geschichte des Kampfes um die Freiheit verstanden werden kann, so bedarf es, da die Freiheit ständig bedroht ist, die Macht gleichsam stets die Tendenz hat, sich zu übermächtigen, eines gerechten Gleichgewichts der Kräfte, das jeden Mißbrauch ausschließt. Nur durch ein fortgesetztes kombinierendes Berechnen, nur durch die Anpassung des Gesetzgebers an den jeweiligen Nationalgeist, durch ein System von Kräften, durch die Trennung der einander in Schach haltenden Gewalten (der Executive und der Legislative) kann die Verfassung auf einer Grundlage ruhen, die die Freiheit sichert.
13
A u f die Bedeutung Guizots hat an vielen Stellen seiner Schriften Ortega y Gasset aufmerksam gemacht, besonders „Obras complétas", Madrid 1947, I V , 122 ff. „Es, en efecto", schreibt er, „increible que en los primeras aflos del siglo XIX, tiempo retòrico de gran confusion, se haya compuesto un libro corno la „Histoire de la civilisation en Europe". Todavia el hombre de hoy puede aprender alli corno la libertad y el pluralismo son dos cosas reciprocas y corno ambas constituyen la permanente entrarla de Europa". Wenn Ortega allerdings (ib. 122) meint, Rankes These, jeder Versuch, einem Prinzip zur Herrschaft zu verhelfen, sei auf den Widerstand Europas gestoßen, müsse von Guizot beeinflußt sein, und ferner, daß zwischen 1790 und 1830 der französische Einfluß in Deutschland viel größer gewesen sei als der deutsche in Frankreich, so bleibt dies eine bloße Vermutung. Mindestens ebenso wahrscheinlich ist es, daß verwandte Gedanken unabhängig voneinander entstanden sind, zumal da Ranke seine These schon 1824 im Vorwort zum „Der Geist der roman.-german. Völker" entwickelt hat, während Guizots Vorlesungen aus den Jahren 1828/30 stammen [...]. Im 19. Jahrhundert wird das Thema: Europa = Einheit in der Vielheit, immer wieder erörtert. In charakteristischer Anknüpfung an die Tradition in Stuart Mills, „On liberty". Europa wird hier beschrieben als „wholly indebted to this plurality of paths for its progressive and many-sided development"; der Gegensatz zur Mannigfaltigkeit heißt auch hier, ganz wie bei Montesquieu, „The Chinese ideal of making all people alike" (London-New York, 1948,130).
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In dieser Theorie von der Trennung der Gewalten, in der die antike Theorie von der gemischten Verfassimg in einer verwandelnden Weiterbildung14 zu neuem Leben erweckt wird, verdichtet sich wiederum eine skeptische Erfahrung Montesquieus: daß eine wirkliche Versöhnung von Macht und Recht nicht möglich sei, daß die Macht nur durch die Macht selbst eingeschränkt werden könne. Beschränkung meint aber hier nicht nur Beschränkung der königlichen Macht, sondern des Staates selbst, dem die Grenzen seiner Wirksamkeit gezogen werden und der gebunden bleiben soll in den Schranken der unaufheblichen lois fondamentales , nach denen bestimmte Bezirke - Kirche, Gutsherrschaft, Korporationen (Parlamente) - an keiner Stelle durch das Eingreifen staatlicher Macht gestört und unterbrochen werden können. Betrachtet man diese Theorie in ihrem Zusammenhang, so sind nicht so sehr das Vorbild der englischen Verfassung - Theorien Lockes, Forderungen der Konservativen, die Lord Bolingbroke erhoben hat - die Voraussetzungen, in denen sie begründet ist, sondern die parlamentarische Spekulation des 17. Jahrhunderts, vor allem Roche Flavins zwölf Bücher über das Parlament, mit denen sie, bei all ihrer Selbständigkeit, verknüpft und verwachsen ist.15 In der geschichtlichen Entwicklung, das heißt in dem bis zur Französischen Revolution andauernden Macht- und Ideenkampf zwischen Krone, Parlament und Generalständen lag begründet, daß, wie einstmals in der religiösen Kontroverse zwischen den verschiedenen Konfessionen im 16. Jahrhundert, 16 jetzt die politischen Parteien im Kampf gegeneinander sich stets auf Traditionen berufen, und daß auch die Krone in der Polemik gegen die Stände sich historischer Argumente bediente. Es lag nahe, in Montesquieu nur den Vertreter eines particularen 14
S. dazu und über den Gegensatz zwischen moderner und antiker Theorie K. v. Fritz, „The Theory of the Mixed Constitution in Antiquity", New York, 1954. - Wie Montesquieus Lehre in der konstitutionellen Theorie des 19. Jahrhunderts weiterlebte, zeigt Schnabel, „Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert", Freiburg 1933, Π, 129 ff., jetzt passim auch Hefter, H., „Die deutsche Selbstverwaltung im 19. Jahrhundert", Stuttgart 1950. - Daß Montesquieus These von Bolingbroke beeinflußt ist, hat jetzt Shackleton, R , „Montesquieu, A Critical Biography", Oxford 1961, bes. Κ . ΧΙΠ, nachgewiesen. S. hebt dort auch hervor, daß in der gemischten Verfassungstheorie sich die verschiedenen Mächte (King, nobles, people) gemeinsam, in harmonischer Eintracht in die Autorität der Legislative teilen, während die Anhänger der Gewaltentrennung die Autorität so teilen, daß jeder Körperschaft - jeder Macht - auch völlig verschiedene Funktionen zufallen. 15
S. Carcassonne , E., „Montesquieu et le problème de la constitution française", Paris 1927. Übrigens wird meist nicht beachtet, daß Montesquieu, der die englischen Verhältnisse idealisiert hat, sich über die faktische Lage im damaligen England (Käuflichkeit des Unterhauses usw.) durchaus im klaren war. Es geht eindeutig aus seinen Tagebüchern hervor. M Leroy in seiner ausgezeichneten Untersuchung: „Les idées sociales en France", Paris 1946, I, 112, bemerkt ganz richtig, daß Montesquieus Notizen keinen Zweifel daran lassen „qu'il connaissait les tares du régime". 10
Cf. Polman , Pontien, ,l'élément historique dans la controverse religieuse du X V I e siècle", Gembloux, 1932.
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Interesses (der Parlamente und der Aristokratie) zu sehen - schon die Kritik des 18. Jahrhunderts (Helvétius) hat das getan - , aber man verdunkelt so die prinzipielle Frage, die in eine andere Richtung weist. Montesquieu führt nur die Anschauung zu ihrer Höhe und Konsequenz, der alle Vorstellungen von einem Zwange, den die staatliche Macht auf das Private (Privilegierte) ausüben könnte, abgefallen sind, und die die in immer weitere Bezirke vordringende Macht des Politischen in Schranken einschließen möchte, die sie hemmen und einengen. In dieser Betrachtung, die durch die Sorge um die Erhaltung der Freiheit und das Festhalten an der Überlieferung beherrscht wird, ist die politische Reflexion mit der historischen verwoben; die ständische Ordnung will in ihrer wesentlichen Beschaffenheit festgehalten werden, weil sie als die historisch gewachsene auch glaubt, sich als die natürlich vernünftige legitimieren zu können, als müßte das Leben weiter in den Bahnen verlaufen, die durch die Traditionen vorgezeichnet sind. Montesquieus Achtung vor der besonderen Art jeder Nation, frei zu sein, ist so groß, daß er selbst das verschlungene Wirrsal überlieferter Gesetze, geschweige denn den Charakter einer Verfassung nur zögernd ändern würde. Könnten doch die besten Gesetze, weil sie nicht bekannte, vertraute Züge tragen, ja selbst die Freiheit, Völkern, die sie nicht kannten, unerträglich erscheinen. Daher: „il ne faut toucher aux lois existantes que d'une main tremblante" („Lettres persanes", LXXIX). Das Neue, das nicht langsam geworden, nicht aus den erweiterten Elementen des Vergangenen gebildet und der alten Umgebung und Welt nicht verwandt ist, gilt als das Gefährliche. Ein Antipode der Revolution, erscheint Montesquieu an die Vergangenheit gebunden. Bodin schon stimmte einmal in diesen Ton, als er in der „République" (IV, 3 Que les changements des République ne doivent se faire tout à coup) das Problem der Veränderung bestehender Gesetze diskutiert. In der feindseligen Heftigkeit, mit der er vom Neuen spricht, kommt plötzlich sein Gefühl zum Ausbruch, wird die gegensätzliche Wendung seiner wesentlich beharrenden Haltung vorbereitet: „Tout ainsi que la ruine des familles vient ordinairement des nouveaux serviteurs, aussi la décadence des Républiques provient des nouveaux magistrats, qui apportent nouveau conseil, nouvelles costumes, nouveaux edicts, nouveau style, nouveaux jugements, nouveaux changements de toutes choses, mesprisant les anciennes costumes, les anciennes lois, les anciens Magistrats" (1. c. 591 f.).
Aber war das Neue aufzuhalten, wo doch selbst der Kompromiß zwischen Macht und Recht je nach Lage der Dinge verschieden, dem unaufhaltsamen Wandel des geschichtlichen Prozesses unterworfen und angesichts der unvermeidlichen Veränderung des Geistes jeder Verfassung - la corruption du principe - nie von Dauer sein kann? War die traditionalistische Argumentation nicht fragwürdig? War nicht stärker die mächtige Bewegung im 18. Jahrhundert, die radikal alle Traditionen beiseite schieben, von der Geschichte abbiegen und an die Stelle der ständischen Ordnung die natürliche setzen will, den Ordre naturel et essentiel des peuples? Entzündet ihre - die physiokratische -
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Argumentation nicht ein neues Leben, das dem Spiel der hemmenden Gewalten keinen Raum mehr läßt? Die Entwicklung der physiokratischen Schule - scheinbar eine bloß ökonomische - zeigt von Anfang an denselben charakteristischen Zug wie die politische Theorie der Neuzeit in Frankreich. Nicht zufallig nennen sich die Physiokraten philosophes économistes.17 Zwar: das „Tableau économique" von Quesnay aus dem Jahre 1758 war nichts anderes als die Darstellung eines natürlichen Finanzsystems, und auch die Artikel Grains und Fermiers, die Quesnay für die „Enzyklopädie" geschrieben hat, stehen in der Reihe der seit dem Ende des 17. Jahrhunderts nicht mehr unterbrochenen Diskussion über die Verarmung des Landes infolge der Steuererhebung durch die Steuerpächter und über die Neuordnung der Finanzen. Überhaupt ist das physiokratische System zunächst nichts anderes als der Lösungsversuch jenes Disputes, der sich seit der Wiederherstellung der seit dem Tode Colberts (1683) zerrütteten Staatsfinanzen im Hin und Her der Erörterung der Ursachen und der Vorschläge zu ihrer Beseitigung angesponnen hat. Diese Diskussionen stehen in Frankreich in Zusammenhang mit den Verhältnissen des Landbaus. Schon Boisguilbert hat in seiner Schrift „Détails de la France" (1695) auf die Notwendigkeit der Steigerung der Ergiebigkeit der Landwirtschaft hingewiesen, der Marschall Vauban („Projet d'une dîme royale", 1707) durch den Vorschlag einer Beseitigung der Taille gerecht wird und der Einführung einer Abgabe, die sich der Höhe des Ertrages anpassen konnte. Schließlich hat dann Cantillon in seinem „Essai sur la nature du commerce en général" (1755) die Agrikultur überhaupt als die Quelle des Reichtums erklärt und daran die Forderung der Vermehrung der Landbevölkerung geknüpft, die Mirabeau in seinem „Ami des Hommes" (1756) übernommen hat. Man erstrebte eine systematische Darstellung der Entstehung und Verteilung der Fonds, aus denen der Reichtum des Landes flöß, man suchte, wie Quesnay sagte, „des lois et des règles immuables dont le prince et les sujets ne peuvent s'écarter qu'à leur désavantage." Diese Gesetze sind diejenigen, die in der Natur der Sache liegen, das heißt, aus denen der ordre naturel besteht - man muß ihn kennen, um ihn in Ordnung zu halten, der Mensch muß dafür sorgen, daß er nicht falsch gehandhabt wird, da er sonst seinen Zweck nicht erfüllt; er muß ihn genau beherrschen, damit er funktionieren kann. Dementsprechend bedeutet auch œconomie soviel wie die natürliche Ordnung des ganzen gesellschaftlichen Lebens, und man denkt dabei an eine Ordnung, die von Menschen auf Grund seiner Kenntnis verwirklicht werden soll. Die science du gouvernement von Quesnay ist die Erkenntnis von der Entwicklung der Gesellschaft, die den ordre naturel nicht verletzt, und die science œconomique die Universalwissenschaft vom gesellschaftlichen Leben. Sie ist der ordre naturel selbst, die Ordnung, in die die Welt von Gott gesetzt ist 17 S. auch Ν e ill, Thomas P., „Quesnay and Physiocracy", The Journal of the History of Ideas, 1948, IX, 164.
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„une harmonie, un ensemble qu'on peut regarder comme l'ouvrage d'une divinité" 18 - und deren Befolgung in Recht, Staat und Gesellschaft die Erfüllung eines Gebotes bedeutet. Von Montesquieu haben die Physiokraten viele Einwirkungen erfahren, sich nur ganz abgewandt von ihm, als sie das Band lösen wollten, das die politische Theorie mit Tradition und Geschichte verbindet, sie geben die nuancierende Unterscheidung von Verfassungen und Gesetzen preis, die mit dem Volkscharakter übereinstimmen, sich jenem esprit général anpassen, der nach Montesquieu nicht nur ein Produkt verschiedener Faktoren, sondern auch Quelle und Ursprung geschichtlicher Ereignisse sein kann. An die Stelle einer solchen Betrachtung setzen die Physiokraten das Ideal einer in allen Zeiten und in allen Zonen gültigen idealen Ordnung, Fundamentalgesetze, die nicht in der Tradition, sondern in der physischen Natur des Menschen begründet sind, und die über alle empirisch-historischen Schranken hinausstrebend sich in der Konstruktion eines ordre naturel et essentiel verwirklichen, der so evident ist wie die Mathematik selbst.19 Es ist klar, daß sich hier verschiedene Arten der Betrachtung gegenüberstehen. Die Erfahrung sondert sich in Montesquieus Theorie nicht ab, sondern dringt in sein Denken ein und strebt, sich mit ihm zu durchdringen; hier ist sie zur Unselbständigkeit herabgesunken. Andererseits ist in gewisser Hinsicht die Theorie der Physiokraten nur eine Radikalisierung von Gedanken, die in Montesquieu selbst schon angelegt waren. Denn auch Montesquieu erkennt die individuelle Mannigfaltigkeit und Besonderheit noch nicht in ihrer Reinheit, sondern nur sofern sie seine Prinzipien bestätigen: „J'ai posé les principes", sagt er im Vorwort des „Esprit des lois", ,j'ai vu les cas particuliers s'y plier d'eux-mêmes, les histoires de toutes les nations n'en être que les suites, et chaque loi particulière liée avec une loi, ou dépendre d'une loi plus générale." Hier gibt es nichts Zufälliges noch Isoliertes, alles ist in seiner durchgängigen Verknüpfung mit allem gesehen, wechselseitig verbunden und einander zugeordnet. Nur im Rahmen dieses lückenlosen Determinismus, nur sofern er jener allgemeinen Gesetzlichkeit folgt, unter der die Wirklichkeit nach Montesquieu wie nach physiokratischer Lehre steht, vermag der Gesetzgeber in der Synthese eines blinden Mechanismus und persönlicher Initiative ein neues Ergebnis zu gewinnen. Man hat oft erkannt, daß der Weg, den Montesquieu gegangen ist, auf Descartes zurückführt, daß seine wie der Physiokraten 18 S. Le Mercier de la Rivière , , l ' o r d r e naturel et essentiel des sociétés politiques" (1767), ed. E. Depitre, Paris 1910, 360. 19
Mirabeau formuliert in den ,lettres sur la législation ou l'ordre légal dépravé, rétabli et perpétué", II, 10, sehr klar die physiokratische Kritik an Montesquieu: „Nos deux objets n'ont rien de commun. J'examine les choses dans leur principe et dans leur pureté primitive, i l les voyoit dans leurs effets et dans leur corruption. Nous ne suivons ni le même plan, ni la même doctrine. I l tourne ses spéculations vers les lois établies, selon les vues politiques du gouvernement, mes principes remontent plus haut."
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Thesen in ihm ihren Mittelpunkt haben, Widerschein seines Geistes sind. Wenn Lanson in einem sehr bekannt gewordenen Aufsatz von Montesquieu sagt: „Jamais on n'avait mis si fortement en lumière quelles difficultés s'opposent, ni si ingénieusement marqué quelles possibilités s'offrent à l'intelligence qui entreprend d'insérer son action dans la trame des faits sociaux, et d'adapter aux conceptions de la raison, aux besoins de la conscience, les monstrueux et incohérents édifices bâtis au cours des siècles par la force brutale des choses et la témérité passionnée des hommes [...]. Montesquieu a cherché les faits particuliers pour les réduire à des lois générales, donner à l'esprit le pouvoir de dominer les effets, et d'imposer peu à peu à la réalité la forme de l'idée", 20 so könnte man nicht schärfer formulieren wie das, was als Keim und Ansatz schon lange vorhanden war, 21 in Montesquieu zu voller begrifflicher Reife entwickelt worden ist: nämlich die Anschauung der sozialen und gesellschaftlichen Wirklichkeit als einer planvoll konstruierten, die nur geworden sein konnte, was sie ist, dank dem Zusammenwirken äußerer Faktoren und demrichtunggebendenEingriff des Gesetzgebers. Man kann die Bedeutung jener Methode sich auch klar machen durch den Blick auf die englische Aufklärung, die nicht nur aus der Übereinstimmung mit der französischen, sondern auch durch den Kontrast, den sie zu ihrer Denkart bildet, den Weg zum Verständnis weist. Denn auch in England wird im 18. Jahrhundert jener Begriff der natürlichen Ordnung und der natürlichen Gesetze entwickelt, von dem in Frankreich damals so viel die Rede war, und zwar vor allem in Mandevilles „Fable of the Bees" und Adam Smith' „The Wealth of Nations". Das Natürliche hat aber hier - etwa wenn von einem natürlichen Preis die Rede ist - eine gänzlich andere Bedeutung. Daß die Marktgesetze natürliche Gesetze sind, heißt nämlich bei Smith, daß sie von selbst funktionieren (naturally suits itself 22), daß sie die durchsetzende Wirkung von sich selbst regulierenden Gewichten sind. Dieser Natur gegenüber verhält der Mensch sich passiv, er braucht sie gar nicht zu kennen, es erfolgt eine automatische Regulierung und entwickelt sich eine Welt, die ihren Mittelpunkt und ihre Gesetze ganz in sich selbst hat. Das heißt aber auch, daß Ökonomie hier anders verstanden wird als bei den Physiokraten, als eine anonyme Welt, die über die Köpfe derer, die an ihr Anteil haben, ihre eigene Gesetzlichkeit realisiert. Mandeville entwickelt daher in der Bienenfabel die Theorie, daß die Egoismen und Leidenschaften der Menschen sich in der Gesellschaft von 20
S. „Études d'histoire littéraire", Paris 1929, 159. Dazu auch Ch. J. Beyer,,,Le problème du déterminisme social dans l'Esprit des lois", The Romanic Review, 1948, 102 ff., einige vorzügliche Bemerkungen von R. Caillois in seiner Ausgabe von Montesquieus „Œuvres complètes", Paris 1949, ΧΙΠ, éd. La Pléiade. 21
Nämlich bei Bodin I V , 2 der „République", welches Kapitel mit dem Satz beginnt „qu'ü n'y a rien de fortuit en ce monde". 22 S. Smith , Α., „ A n Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations", ed. M. Lerner, New York 1937, ζ. Β. cap. IV.
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selbst ausgleichen, ja zum Wohl des Ganzen harmonisch zusammenstimmen, wenn sie nicht der Kontrolle des planenden Verstandes und ordnenden Gesetzgebers unterworfen sind. Daher mögen wir lernen, „how the short-sighted Wisdom, of perhaps well-meaning People, may rob us of Felicity, that would flow spontaneously from the Nature of every large Society, if none were to divert or interrupt the Stream".23 F. v. Hayek hat vor kurzem in einer Abhandlung jene Verschiedenheit der politischen Theorien in England und in Frankreich im 18. Jahrhundert als den Gegensatz von wahrem und falschem Individualismus24 verstanden. In der Tat walten früh schon in beiden Ländern Voraussetzungen und Forderungen, die ihre verschiedene Richtung erklären. Jene erste, die englische These - das Thema von Adam Smith, Mandeville - wäre: „daß wir, wenn wir gemeinsamen Wirkungen der Handlungen vieler Einzelpersonen nachspüren, entdecken, daß viele der Einrichtungen, auf denen die menschlichen Errungenschaften beruhen, entstanden sind und funktionieren, ohne von einem menschlichen Geist entworfen worden zu sein oder gelenkt zu werden", oder daß, wie Adam Ferguson es ausdrückt, „Völker zufällig auf Einrichtungen stoßen, die in der Tat das Ergebnis menschlichen Handelns, aber nicht menschlicher Absicht sind", und „daß das spontane Zusammenwirken freier Menschen oft Dinge geschaffen hat, die größer sind, als der individuelle Verstand jemals vollständig erfassen könnte". Die englische Auffassung schließt eine unmittelbare Beziehung zur Bedeutung anonymer Prozesse in sich, und die gesellschaftliche Entwicklung steht nicht ausschließlich im Zeichen des Rationalismus. Innerhalb der europäischen Aufklärung, die zu beschreiben die Forschung von Villemain, Hettner, Lecky, Dilthey, Cassirer, Meinecke, Troeltsch, Hazard stets als ihre Hauptaufgabe angesehen hat, bestehen gleichwohl verschiedene Traditionen, die sich nicht unter einen Begriff summieren lassen, sondern die einander gegenübertreten, um sich wechselseitig zu begrenzen und zu bestreiten. Der Gegensatz Montesquieus, der eben, wie Bodin, nicht an eine zufällige, spontane Entwicklung glaubt, zu Smith ist ein absoluter, der zu den Physiokraten nur ein relativer. Denn diese bildeten nur Keime, die sie in Montesquieu finden konnten, aber, der Tradition entfremdet, waren sie auf das Ideal einer vollkommenen Ordnung gerichtet, während Montesquieu im Umkreis der sich verändernden Geschichte und damit auch innerhalb des Schemas einer Skepsis blieb, die im Augenblick des höchsten Triumphes an die unerbittliche Niederlage denkt.25 Berührt man den skeptischen Faktor seines Wesens, so zugleich den konservativen: die Skepsis gegenüber dem Neuen räumt dem Alten eine Stel-
23
„The Fable of the Bees", ed. F. Β. Kaye, Oxford 1924, Π, 353.
24
„Individualismus und wirtschaftliche Ordnung", Erlenbach-Zürich 1952.
25 Löwith, K , „Weltgeschichte und Heüsgeschehen", Stuttgart 1953, nennt diese Art des historischen Bewußtseins „das klassische Geschichtsbewußtsein von Anbeginn".
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lung ein, die es vor den gefahrlichen anstürmenden Mächten sichert. Aristokratie und Bourgeoisie finden in Montesquieus und der Philosophen Theorie zwar ihr Korrektiv, aber sie erhalten zugleich das Siegel ihrer objektiven Berechtigung. Montesquieu läßt sich nicht von dem Gedanken an das Volk leiten, das ihm wie den meisten Schriftstellern der Aufklärung etwas Anstößiges und Törichtes war: man zog scharfe Scheidelinien zwischen sich und dem peuple (populace, multitude26). Manchmal zwar hat die Philosophie volkstümliche Elemente in sich aufgenommen, aber es ist für sie charakteristisch, daß diese Elemente nie eine ihnen homogene Gestaltung zur Folge gehabt haben. Daß „le peuple qui a assez de capacité pour se faire rendre compte des autres, n'est pas apte à se gérer lui-même" („Esprit des lois" II, 2), ist die Meinung Montesquieus, der innere Kompaß, nach dem er steuert. Wären seine negativen Äußerungen mit ihren widerstreitenden positiven zu einem Ausgleich oder zu einer Versöhnung gekommen, so hätte er die Generalstände und nicht nur die Parlamente Zwischengewalten sein lassen. Darum bleibt trotz allem Schwanken in der Bestimmung des Verhältnisses zwischen Volk und Schriftstellern, trotz aller Anziehung durch die spezifisch soziale Lage, Ehrbarkeit und Sitte der Ärmsten, die er so hoch einschätzt, wie er Adel und Hof verachtet, der Kern seiner Anschauung unverändert. Und deswegen ist in seinen Schriften auch der besonderen Religiosität des Volkes kein Recht und Raum gegeben. In manchen sporadisch vorkommenden Sätzen mag man die Möglichkeit religiöser Anschauung, einen Nachklang der Religiosität des 17. Jahrhunderts erkennen wollen, meinen, daß in der Widerlegung des Paradoxes von Bayle, das den Atheismus über jede Form von Gläubigkeit stellte, ein noch nicht vollständig ausgeglichener Rest von Gegensatz zwischen verschiedenen Möglichkeiten in Montesquieu zutage trete; wollte man glauben, daß in seiner Gesamtanschauung das Christentum noch eine entscheidende Rolle spielte, so müßte man die Augen verschließen. Das Interesse an der Religion ist nur von einem praktisch politischen Motiv beseelt und geleitet. Montesquieu übernimmt Warburtons These, dessen „Union de la religion, de la morale et politique" 1742, also vor dem „Esprit des lois" erschienen war. Er operiert zwar sehr oft, besonders in den verschiedenen „Défenses de l'Esprit des lois", mit christlichen Argumenten, aber man fühlt, daß man ganz unter die Herrschaft des Lichtes der Vernunft geraten ist. Das Christentum ist wie in der Naturforschung Buffons seines Kerns entkleidet. Die Frage nach der Natur, nach den natürlichen Ursachen allein erhält das Suchen in der richtigen Spur und stellt es in dasjenige Gesichtsfeld, in dem es Wahrheiten entdecken kann, die den Ansprüchen aufklärerischer Philosophie genügen. Der Schwerpunkt des Denkens fallt nicht mehr auf die christliche Tradition. 27 26
Eine Geschichte des Wortes peuple im 18. Jahrhundert gibt es nicht. Die besten und interessantesten Belege s. bei Leroy, „Les idées sociales en France", Paris, 1946,1. 27
Der Prozeß der Zersetzung der religiösen Traditionen in Frankreich, die allmähliche Entchristung des Lebens ist besonders in den beiden letzten Jahrzehnten in den reich
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Aber er opfert sie im Gegensatz zu den Rousseauschen Theorien des „Contrat social" nicht völlig auf. Die Erinnerung an verschiedene Traditionen, selbst an solche, mit denen er in unaufhörlicher Entzweiung lebte, geht dauernd durch seine Gedankenwelt. Sein historischer Sinn ließ ihn eine immer wachsende Beziehung gewinnen zu Epochen und Erscheinungen, die der Schultradition fernlagen; sein beweglicher Geist glitt leicht in eine neue Tendenz hinein, jedesmal dabei auch ein besonderes Organ des Verstehens ausbildend. Darum erschöpft sich seine Art auch so schwer in einer festen Auffassung, da sie die Bewegung eines Gedankens widerspiegelt, aus der die verschiedensten Traditionen hervorgehen konnten. Weil er sich nicht an einen Forschungsweg gebunden hat, haben alle Wege später zu ihm geführt, und wäre es auch nur, um, von ihm ausgehend, die Richtung zu finden, in der sich die Theorie der Politik (Rousseau) oder der Geschichte (Winckelmann, Herder, Droysen) oder der „Wissenschaftlichen Behandlung des Naturrechts" (Hegel) entwickeln sollte.28 Zwischen Montesquieu und Rousseau spielen die mannigfaltigsten Beziehungen hin und her, aber jede Betrachtung ihrer beider Werke wird ergeben, daß man sie in einem entscheidenden Punkt unvermeidlich gegeneinander spannt. Montesquieu glaubte, die alte Welt bestehen lassen zu können, ohne dem Christentum noch die Bedeutung zuzuerkennen, die es in dem ursprünglichen Bündnis zwischen Krone und Kirche gehabt hat. Er erkannte nicht, daß die alte Wirklichkeit damit zur Unwirklichkeit zu werden drohte. Rousseau hat die traditionellen volkstümlichen Formen der Religiosität niemals angegriffen. 29 Darin konservativer als die Philosophen - , aber schon sein jugendliches Anstürmen gegen die scharfe Polarität von reich und arm im Ancien Régime zeigt das dunkle Drängen auf eine soziale und politische Revolution, deren Fundierung der „Contrat social" sein sollte. Er verankert die Souveränität in der volonté générale, in der Gesetzgebung, die das Volk, die die Bürger sich selbst geben. Da der Akzent in Montesquieus Denken ganz auf die Seite des Ausgleichs bestehender Ordnung gerückt war, hätte sich die Brücke nicht finden lassen zu der revolutionären Theorie, auf die das Rousseausche Leben aus seiner persönlichen und sachlichen Notwendigkeit heraus drängte, nämlich zur Theorie der Herrschaft, die nicht mehr in Herrschende und Beherrschte zerfallt, und in der Macht und Recht, sich versöhnend, zusammenfallen wie Gesetz
dokumentierten Arbeiten von Groethuysen, Busson, Adam, Pintard eingehend beschrieben worden. 28
S. auch meine Einleitung zur deutschen Ausgabe der Tagebücher Montesquieus, Antwerpen 1944. 29 In welchen mannigfaltigen Formen sich die Religiosität Rousseaus darbietet, als ein Wechsel, ein An- und Abschwellen eines gesteigerten Daseins, hat geistreich Groethuysen in seinem posthumen „Rousseau", Paris (Gallimard) 1949, gezeigt. S. auch passim Raymond, Marcel, , 1 a quête de soi et la rêverie", Paris 1962.
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und Recht, sofern die volonté générale als eine Norm verstanden ist, der alle Untertanen in derselben Weise unterworfen sind.30 Indem das moderne Leben - das amerikanische Zweikammersystem, die europäischen Verfassungen - unveikennbar von Montesquieu und Rousseau bestimmt ist, mischt es sich in das Weiterleben des 18. Jahrhunderts, das in all seinen Zufälligkeiten und Notwendigkeiten, seinem Erreichen und Verfehlen, sich noch tief in die Realität der modernen Welt erstreckt. Editorische Notiz In: S.9 F., „Studien zur Französischen Aufklärung". München, Max Hueber Verlag, 1964, und Frankfurt/Main, Vittorio Klostermann Verlag, 1977, S. 107-126. Zuerst in: Forschungsprobleme der vergleichenden Literaturgeschichte. Tübingen, Niemeyer, 1951, 101-118.
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Diese Bestimmung des Gesetzes als allgemein und als Recht unterscheidet den Rousseauschen Souveränitätsbegriff von Bodin. Von der Geschichte des Souveränitätsbegriffes handelt jetzt ausführlich die hervorragende Untersuchung von R. Derathé, „Rousseau et la science politique de son temps", Paris 1950.
1734 als Jahr der Entscheidung für Montesquieus Esprit des lois Werner Krauss (1956) „Mr. Locke said: I l faut perdre la moitié de son temps pour pouvoir employer l'autre."
Kein Zweifel, daß mit der Zuwendung der heutigen Montesquieu-Forschung zu den Datierungsproblemen des „Esprit des lois"1 der Durchbnich zu einer entscheidenden Fragestellung geglückt ist. Die Frage nach dem Ursprung des „Esprit des lois" gilt der Entdeckung jener geistigen Situation, in der für Montesquieu die Forderung einer gültigen Ausarbeitung seiner lange gehegten, die ganze Welt der Geschichte umkreisenden Gedanken gestellt war. Mit diesem Anstoß einer durchgreifenden Realisierung der lebenslänglichen Wissensbemühung läßt sich ein Kreuzpunkt in Montesquieus Geistesentwicklung erspüren. Ein tiefer Einschnitt scheidet die nunmehr begonnene Phase einer ununterbrochenen schöpferischen Bewegung von der vorausgegangenen Lebensepoche, in der sich die künftige Bereitschaft zu einer letzten Zusammenfassung mit keinem Zeichen verraten hatte. In Montesquieus geistiger Vorgeschichte war offenbar keinerlei Bürgschaft für eine solche Wendung erkennbar. Der Maßstab, den Montesquieus allseitige Ausstrahlung dem zeitgenössischen Urteil gewährte, versagt im Angesicht des überraschenden Aufschwunges zu dem planmäßig erschlossenen Horizont der Menschheitsgeschichte. Die zeitgenössische Meinung wird durch das skeptische Urteil d' Argensons über Montesquieus äußerst glänzende, im letzten aber doch unverbindliche Geistesart beglaubigt.2 Die Botschaft von dem Neubeginn eines großen Werkes war in dem Augenblick der Niederschrift von d'Argensons Memoiren (1736) schon ruchbar geworden; der angekündigte Titel „Geist der Gesetze" wäre d'Argenson zufolge sehr geeignet gewesen, die höchsten Erwartungen zu erregen, wenn die Person des Verfassers dazu berechtigt hätte. Wie d'Argenson ausfuhrt, stand das Bedürfnis nach einem kundigen Führer durch die Gesetze im Brennpunkt der politischen Problematik. Wenn es gelungen wäre, einen neuen Weg durch das Dickicht der französischen Rechtstraditionen zu bahnen, so würde ein solches Werk einen Markstein in der nationalen Geschichte bezeichnen. Die hochgespannte Erwartung ist auch noch in dem kritischen Bonmot zu spüren, mit dem „Geist der Gesetze" hätte Montesquieu doch nur Geist über die Gesetze verbreitet. Das ist der Tenor, auf den 1 Zuletzt Shackleton, Robert, , 1 a genèse de l'Esprit des lois" in: Revue d'histoire littéraire de la France, 52,4, X - X I I 1952, S. 425^38. 2 „Les loisirs d'un ministre ou essais dans le goût de ceux de Montagne, composé en 1736". Π, Liège 1786.
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schon 11 Jahre vor der Publikation (1748) die skeptische Prognose des Marquis d'Argenson gestimmt war. „Nous n'avons point l'esprit des lois, et je doute fort que mon ami le Président de Montesquieu nous en donne un qui puisse servir de guide et de boussole à tous les législateurs du monde. Je lui connais tout l'esprit possible; il a acquis les connaissances les plus vastes, tant dans ses voyages que dans ses retraites à la campagne; mais je prédis encore une fois qu'il ne nous donnera pas le livre qui nous manque, quoique l'on doive trouver dans celui qu'il prépare, beaucoup d'idées profondes, de pensées neuves, d'images frappantes, de saillies d'esprit et de génie, et une multitude de faits curieux, dont l'application suppose encore plus de goût que d'étude." 3
Der unvermeidliche Gegensatz der politischen Einstellungen vermag den besonderen Wert und die offenkundige Kompetenz in d' Argensons Urteilsbildung in keiner Weise herabzusetzen. In d'Argenson hat sich die absolutistische Staatsgesinnung schon in der zweiten Generation verkörpert. Die glänzende Ausprägung der parlamentarischen Magistratur, die Montesquieu darstellt, kann doch die unverkennbare Tradition des Körperschaftsdenkens, den überheblichen Tonfall der politischen Süffisanz nicht völlig verleugnen. Ein Spannungsverhältnis begleitet die Freundschaft der beiden Männer durch alle Etappen. Aus ihm erwuchs die früheste und für lange hinaus bemerkenswerteste Montesquieudeutung, in der schon ein Höchstmaß an sachlicher Kompetenz und innerer Geschlossenheit erreicht war. Die Auffassung d'Argensons gibt alle geistigen Impulse zu erkennen, die Montesquieus Lebensgang und seine Werkgeschichte vor und außerhalb des „Esprit des lois", d. h. seines eigentlichen Lebenswerkes, bestimmten. Man fühlt sich an die berühmte Stelle in Goethes Dichtung und Wahrheit erinnert, wo das Verständnis von Shakespeares Hamlet auf die Betrachtung der wirklichen Existenz dieses Helden, so wie sie sich vor dem Eintritt in die Tragödie abgespielt haben würde, gelenkt wird. Durch d'Argenson kann man dementsprechend erfahren, was Montesquieu ohne den entscheidenden Anstoß vor Abfassung seines „Esprit des lois" gewesen wäre. Gerade mit dieser Auffassung läßt sich erst der objektive Sinn der neuen Wendung ermessen, die Montesquieu über seine bisherige Existenz hinaushob und die zugleich eine völlige Umkehrung der bisher durchlebten Prozesse ermöglichen sollte. Für d'Argenson, der die Schwerpunktbüdung des „Esprit des lois" noch nicht kannte, war Montesquieus Schicksal weitgehend mit dem Geschick seiner nie übertroffenen Jugendschöpfung verflochten. Mit den „Lettres persanes" hat Montesquieu in der Tat den Kampfplatz der Aufklärung eröffnet. Durch dieses Buch sind die Errungenschaften der Régencezeit als Ausgangspunkt der literarischen und politischen Aufklärung befestigt worden. „ I I a conçu de bonne heure du goût pour un genre philosophie hardie, qu'il a combiné avec la gaieté et la légèreté de l'esprit français, et qui à rendu ses Lettres persanes un ouvrage vraiment charmant. Mais si, d'un côté, ce livre, a produit de l'enthousiasme, 3
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de l'autre, il a occasionné des plaintes assez bien fondées: i l y a des traits d'un genre qu'un homme d'esprit peut aisément concevoir, mais qu'un homme sage ne doit jamais se permettre de faire imprimer. Ce sont cependant ceux-là qui ont vraiment fait la fortune du livre et la gloire de l'auteur. Il n'eût pas été de l'Académie, sans cet ouvrage qui aurait dû l'en exclure." 4
Der Glücksfall der „Lettres persanes" bleibt der bestimmte Faktor in Montesquieus Bewegung. Das Bild, das die Welt durch den Geniestreich dieses Werkes gewonnen hatte, wird durch den persönlichen Eindruck Montesquieus nicht mehr geändert. Die erste Gelegenheit einer Begegnung hatte der Club d'entresol geboten, das berühmte Foyer der englischen Freundschaft und der politischen Aufklärung, in dem sich Montesquieu seit 1722 sehen ließ. Für d'Argenson besteht kein Zweifel daran, daß hinter dem eigenwilligen, bald sich in Paradoxen überschlagenden, bald in betonter Einfachheit verhaltenem Gebaren, sich alles beherrschend der literarische Ehrgeiz versteckte. „ I I a infiniment d'esprit, i l fait un usage charmant de ce qu'il sait; mais il met plus d'esprit dans ses livres que dans sa conversation, parce qu'il ne cherche pas à briller et ne s'en donne pas la peine. I l a conservé l'accent gascon, qu'il tient de son pays [Bordeaux], et trouve en quelque façon au-dessous de lui de s'en corriger. 4'5
Die weiteren Schicksale Montesquieus sind folgerichtig aus dem einzigartigen Schicksal der „Lettres persanes" entwickelt. Durch die „Lettres persanes" fand Montesquieu den gegründeten Anspruch auf einen Akademiesitz. Zugleich berief sich die Regierung auf das skandalöse Buch, um gegen die Zuwahl des primitiven Verfassers ihr Veto zu erheben. Nach d'Argensons sehr bestimmter Behauptung ist auch der Entschluß zur Preisgabe von Montesquieus Richteramt (1726) ausschließlich dem akademischen Ehrgeiz entsprungen. Tatsächlich wird mit der Aufgabe seines bisherigen Wohnsitzes ein formelles Hindernis für die Zuwahl beseitigt. D'Argenson konnte indessen die von Montesquieu selbst gegebene Motivierung seiner Amtsniederlegung nicht unbekannt bleiben. Der Verzicht auf den Parlamentssitz in Bordeaux hatte nicht nur die Perspektive der Konsekrierung seiner literarischen Existenz in der französischen Akademie eröffnet - die Möglichkeit einer unabhängigen Lebensführung auf eigenem Grund und Boden vermochte Montesquieu den Spielraum für eine ausgebreitete literarisch-wissenschafdiche Tätigkeit zu sichern. Tatsächlich begründet Montesquieu sein Rücktrittsgesuch mit dem Vorsatz einer Vertiefung der theoretischen Arbeiten. Für d'Argenson ist dieser Vorsatz freilich ein bloßer Vorwand, der keinen Augenblick über Montesquieus wirklichen Ehrgeiz hinwegzutäuschen vermochte. „Le président a quitté sa charge, pour que sa non-résidence à Paris ne fût point un obstacle à ce qu'il fût reçu à l'Académie. I l a pris pour prétexte qu'il allait travailler à un grand ouvrage sur les lois. Le président Hénault en quittant la sienne, en avait
4
Ibid., S. 63.
5
Ibid., S. 63.
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donné la même raison. On a plaisanté sur ces messieurs, en en disant qu'ils quittaient leur métier pour aller l'apprendre." 6 [...]
Die schicksalhafte Wirkung der „Lettres persanes" war keineswegs mit dem Eintritt Montesquieus in die französische Akademie erschöpft. Auch im Ausland wurden dem Autor der „Lettres persanes" alle Türen geöffnet, so daß die Erfolge der zwischen 1729 und 1731 nach Deutschland, Italien und England unternommenen Studienreisen nicht zuletzt dem literarischen Welttriumph der Jugendschöpfung zu verdanken wären. Bei all dem kann auch d'Argenson sich nicht mehr verhehlen, daß mit der Reiseepoche ein neuer Faden sich in Montesquieus Lebensführung einverwoben hatte: „ A u fait, Montesquieu voulait voyager, pour faire des remarques philosophiques sur les hommes et les nations. Déjà connu par ses Lettres persanes, ü a été reçu avec enthousiasme et empressement en Allemagne, en Angleterre, et même en Italie. Nous ne connaissons pas toute l'étendue de la récolte d'observations et de réflexions qu'ü a faites dans ces différents pays." 7
Der Ertrag der philosophischen Enquete über Montesquieu ist freilich im Augenblick der Niederschrift von d'Argensons Memoiren, also 5 Jahre nach Montesquieus Rückkehr, noch gar nicht zu fassen gewesea Es braucht nicht zu verwundern, daß die im 19. Jahrhundert herrschende Theorie, die Montesquieus Hauptwerk in seiner Werbung für die Übertragung der englischen Verfassungsinstitutionen gipfeln läßt, bei d'Argenson keinerlei Erwähnung findet. Auf dem Boden der französischen Aufklärung war eine solche Absicht unerfindlich. Wenn es nach Carcassonnes epochemachendem Buch dafür noch eines Beweises bedürfte, so findet man ihn in La Beaumelles 1751 erschienener Aphorismensammlung, wo der leidenschaftliche Gefolgsmann Montesquieus einem deutschen Westler und Weifen, dem Baron Baar, die absurde und offenbar ziemlich vereinzelte Meinung zur Last legt, die Nachahmimg der englischen Verfassungsbräuche könne den Heüsweg für alle Völker eröffnen. Was La Beaumelle dazu feststellt, bringt nur eine allgemein herrschende Auffassung zum Ausdruck: „Le gouvernement anglais n'est bon que pour les têtes anglaises."8
6
Ibid., S. 64.
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S. 64.
8
(La Beaumelle ), Mes Pensées, Copenhague 1751, S. 295 f.: ,,Μ. le Baron de Barr (sic!) croit, que le seul moyen de tendre tous les Peuples heureux, ce serait d'établir partout le gouvernement d'Angleterre. Et précisément rien ne les rendrait plus malheureux." - Die Position von Baars Kosmopolitismus beleuchtet der Versbrief , Λ ma patrie" in Epitres divers sur des sujets différents. Londres 17503,1., 203 ff.: „Je suis cosmopolite, ainsi que Diogène, J'embrasse en mon amour toute la Race humaine: Tous les Morteles ensemble, et jaunes, noirs et blancs,
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In der von Montesquieu nach seiner Rückkehr aus England wieder aufgenommenen wissenschaftlichen Tätigkeit ist jede Anknüpfung an die aktuellen Tatbestände vermieden. Für d'Argenson enthält diese einfache Feststellung zugleich auch den Grund der außerordentlich hohen Einschätzung des damals entstandenen Werkes, der „Betrachtungen über Größe und Niedergang der Römischen Nation": „II y paraît aussi spirituel, plus lumineux et plus réservé que dans les Lettres persanes la matière ne l'engageant pas dans les mêmes écarts."9 Mit dieser Anerkennung der von Montesquieu versuchten Einfühlung in einen vergangenen Geschichtszustand will d'Argenson doch wieder auf die Schranke seiner Begabung verwiesen haben. Die mangelnde aktuelle Bezugskraft des Stoffes bewahrte den Autor vor der Gefahr, auf dem seinem Genius verwehrten Gebiete der geschichtlichen Gegenwart und der politischen Praxis von neuem auszugleiten. Für die Datierung des „Esprit des lois" ist festzuhalten, daß Montesquieu nach seiner Auslandsreise den Themenkreis des „Esprit des lois" noch nicht berührte. Das Erscheinungsjahr des Römerbuches ergibt den terminus a quo für die Beschäftigung mit einem neuen Werk, und das so ermittelte Datum fällt mit d'Argensons Zeugnis über seine kürzlich, d. h. nicht lange vor Abschluß der Memoiren erlangte Kenntnis des Titels und der ersten Kapitel der neuen Arbeit zusammen. Ein weiterer zeitgenössischer Hinweis auf die Entstehungsepoche des „Esprit des lois" läßt sich dem verschollenen politischen Pamphlet von La 10 Beaumelles „L'Asiatique tolérante" entnehmen.
Sont par-tout mes prochains, sont par-tout mes parents, Le Sage est-il Français, Moscovite ou Sarmate?" 9 10
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Zuerst in La Beaumelles Kopenhagener Literaturmagazin abgedruckt. Das Werk blieb ziemlich unbekannt; wenn es Voltaire zu Gesicht gekommen wäre, so hätte er sich die Gelegenheit einer Denunziation nicht entgehen lassen. Die bösartige Zuschreibung an Crébillon erhält ihren sarkastischen Hintergrund durch den ebenso ängstlichen wie ehrgeizigen Loyalismus, der diesem Schriftsteller die Laufbahn eines königlichen Zensors eröffnete. Crébillon selbst hatte das unmittelbare Vorbild eines verschlüsselten Zeitromans in den 1746 anonym erschienenen ,Amours de Zeokinisul, roi des Kofirans" gegeben. Die Anknüpfung La Beaumelles an die verschlüsselte Namensgebung Crébillons ist offenkundig. Das erste Vorbild einer solchen Verschlüsselung war die jansenistische Eschatologie, die unter dem Titel „Les Princesses Malabares, ou Le Célibat philosophique" 1735 erschien. In stofflicher Hinsicht ergibt sich eine weitere Anknüpfung an Pecquets (?) „Mémoires secrets pour servir à l'histoire de Perse", Amsterdam 1745, einer Darstellung der Régence und der ersten Regierungszeit Ludwigs XV., die mit der Erwartung einer Rückberufimg der hugenottischen Emigranten endet. Die katastrophalen wirtschaftlichen Folgen des Exodus einer bürgerlichen Elite stehen im Vordergrund dieser Erwägungen. Das Gerücht wird verzeichnet, Ludwig XV. sei zur Wiederherstellung der Glaubensfreiheit entschlossen, trotz der Opposition der Magistratur und des Jesuitenordens.
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Es war ein Gipfel des undiskreten Eifers, wenn La Beaumelle das Bekenntnis zu Montesquieu in den Mittelpunkt eines so suspekten Gedankenzusammenhangs stellte. Es handelt sich um einen in maßlosem Tone gehaltenen Appell an den französischen König, von dem die Wiederherstellung des Ediktes von Nantes mit unverblümten Drohungen verlangt wird. Der ideologische Ursprung dieser äußerst radikalen Kampfschrift lag sicher bei Jurieus hugenottischen und naturrechtlich fundierten Pamphleten. La Beaumelle bezieht in sein Urteil die Tätigkeit der Parlamente ein: Ihr ständiges Streben nach der Kontrolle der Gesetzgebung und der Exekutive wird als ein oligarchischer Machttraum entlarvt. Dagegen wird die Forderung einer schleunigsten Einberufung der Stände von La Beaumelle im Namen des souveränen Volkes erhoben. Schon einmal hätte die französische Nation die Pflicht gehabt, den Bruch des Naturrechts durch einen Tyrannen auf dem Schafott zu sühnen. Wenn Karl IX., der Schlächter der Bartholomäusnacht, seinem Schicksal entgehen konnte, so würde es doch nicht vorteilhaft sein, ein zweitesmal mit der Langmut des französischen Volkes zu rechnea So viel an die Adresse des französischen Königs. Es war eme kleine Zumutung für den Kammergerichtspräsidenten, in diesem Zusammenhang als Kronzeuge mit einer mehrmaligen Nennung geehrt zu werden. Senator Zenatiskieoum, aus der Eibsensprache rückübersetzt Präsident Montesquieu, wird zunächst auf die berüchtigtste Stelle der „Lettres persanes" verpflichtet, in der eine trübe Prognose der katholischen Kirche vorausgesagt wird. Auf Grund eines weiteren Zitats glaubt sich der Autor zu der Erwartung berechtigt, daß eine volle Unterstützung seiner Meinungen durch das seit sechzehn Jahren in Arbeit befindliche große politische Werk von Montesquieu angenommen werden könne. Die Angabe der bevorstehenden Publikation wird aus der Presse entnommen sein. Was lassen sich daraus für Konsequenzen für die Datierung des „Esprit des lois" gewinnen? La Beaumelles Traktat geht ein Widmungsbrief an eine dänische Dame voraus, die schon im Voqahr den poetischen Huldigungen des Dichters standhalten mußte. Der Dedikationsbrief ist mit dem Jahre 1748 datiert, und 1747 ist in der Tat das erste Jahr von La Beaumelles dänischem Aufenthalt gewesen. Als La Beaumelle den Traktat mit der seltsamen Widmung verfaßte, war die Drucklegung des „Esprit des lois" tatsächlich so gut wie beendet. In der 1750 erschienenen Neuausgabe mit dem Druckort Paris und der Jahresangabe L'an XXIV du traducteur blieb der Text unverändert bestehen, obwohl in der Zwischenzeit das Werk Montesquieus erschienen und sein Landsmann La Beaumelle zu einer in seiner nächsten Publikation bezeugten tiefdringenden Auseinandersetzung angeregt hatte. Die daraus zu errechnende Jahreszahl 1732 kommt dem von Shackleton ermittelten Ursprungsdatum nahe genug; dagegen bildet sie einen offenkundigen Widersprach zu der bei Abschluß des „Esprit des lois" von Montesquieu berechneten zwanzigjährigen Arbeitsdauer. Man würde demnach auf 1727 zurückzugreifen haben. Indessen ist die Annahme nicht von der Hand zu weisen, daß La Beaumelle sein Datum aus erster Quelle, d. h. aus seiner Korrespondenz mit Montesquieu hat. Die sechzehn Jahre ergeben keineswegs ein Dementi zu Montesquieus eigener Datie-
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rung, sondern eine Richtigstellung der abgerundeten Jahreszahl, die Montesquieu nachträglich in grosso modo auf zwei Jahrzehnte beziffern mochte. Im übrigen wird ausdrücklich mit der Benennung der Arbeitsdauer nicht auf den zeitlichen Ursprung zurückgegriffen, sondern auf den inneren Keimpunkt des Werkes, auf die Erfindung der großen, die Gliederung des geschichtlichen Verlaufs erst ermöglichenden Prinzipien. Es ist klar, daß der wirkliche Ausgangspunkt erst in dem Augenblick der Anwendung dieser Prinzipien auf die geschichtliche Gegenwart und ihre brennende Problematik erreicht war. Wenn Montesquieu den Zeitraum von zwei Jahrzehnten für die Ausarbeitung seines großen Werkes in Anspruch nahm, so reicht der geistesgeschichtliche Ursprung des Werkes mit seinen Urzahlen bis an den Anfang von Montesquieus Bewußtseinsbildung. Mit diesem Hinweis hat Montesquieu den Charakter des Lebenswerkes erhärtet. In ihm muß man die Summe einer lebenslänglichen Gedankenarbeit, das Resultat einer nie unterbrochenen Wissensbemühung ergreifea „Cet ouvrage est le fruit des réflexions de toute ma vie." 11 Durch dieses mit Nachdruck wiederholte Bekenntnis ist das Gesicht eines Lebenswerkes umrissen, in dem sich zugleich der letzte Sinn einer Lebensbewegung entscheidet. Der ganze Prozeß von Montesquieus Geistesbildung hat erst von hier aus das Ansehen eines zielstrebigen Ablaufs gewonnen. Der Standpunkt des vollendeten Lebenswerkes ermöglicht den Rückblick auf die seit jeher den geistigen Haushalt beherrschenden Leitmotive in Montesquieus Denken Die innere Einheit wird durch die Schwerpunktstellung der Jurisprudenz gebildet. Der Vorrang der juristischen Fragestellung wird festgehalten: der „Esprit des lois" hat als das „œuvre d'un jurisconsulte français" zu gelten.12 Tatsächlich ist Montesquieu lebenslänglich bekennender Jurist, auch wo die Geltung der Jurisprudenz auf die Entdeckung ihres metajuridischen Ursprungs zurückgeht. Für Montesquieu hat die Arbeit seines Lebens damit begonnen, daß ihm nach seiner Schulzeit juristische Literatur in die Hand fiel, deren Geist er schon damals, wenn auch noch vergeblich, zu ergründen bemüht war. Die kompilatorische Tätigkeit des jungen Juristen bezeugen die Zeitgenossen: „Dès l'âge de vingt ans, le jeune Montesquieu préparait déjà les matériaux de l'esprit des loix, par un extrait raisonné des immenses volumes qui composent le corps du Droit Civil." 13 In dem Bekenntnis zur Jurisprudenz faßt Montesquieu den Anfang mit der Vollendung seines Lebensberufes zusammen. Und dieses Bekenntnis zur Jurisprudenz verankert sich in dem politischen Bekenntnis zur Legalität. Für Montesquieu kann der Ausweg aus der bestehenden Krise 11
Œuvres complètes de Montesquieu, éd. Masson. Paris (Nagel) 1955. II, 557.
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III, 1365: „Je ne puis assez répéter que mon livre est le livre d'un jurisconsulte français [...]" Vergi, auch „Défense de l'esprit des lois", I, 470: „Le critique ne veut jamais que l'auteur traite son sujet; i l veut continuellement qu'il traite le sien: et, parce qu'il est toujours théologien, il ne veut pas que, même dans un livre de droit, il soit jurisconsulte." 13
,Anecdotes littéraires", La Haye 1756, III, 264 f.
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nur in der Rückkehr zu einem historisch beglaubigten Zustand der Gesetzlichkeit bestehen. Dem Utopismus eines Abbé Saint-Pierre, der an ein Gremium richtig denkender Menschen für sein Reformwerk appellieren möchte, setzt Montesquieu die geschichtliche Wirkungsmacht der richtigen Institutionen entgegen: „II faut que les lois commencent par travailler à faire des honnêtes gens, avant de penser à les choisir." 14 Die Epoche der heroischen Jurisprudenz ist freilich beim Eintritt Montesquieus in die geistige Welt schon lange versunken. Bodin hatte dem bedrohten Königtum das Schwert seiner regalistischen Theorie geschmiedet. In dem neuentdeckten Begriff der Souveränität war für den dritten Stand die Bürgschaft einer ungehemmten Entfaltung seiner ökonomischen Kräfte enthalten. Ein neuer Begriff von Gesetzlichkeit war damit im prinzipiellen Widerspruch zu allem überlieferten Privilegienwesen gewonnen. Das Bündnis der Krone und Magistratur zerfiel jedoch mit dem Aufstieg der Monarchien zur absolutistischen Selbstmacht. Nachdem die geschichtliche Sendung der Parlamente mit der Befestigimg der Königsmacht erfüllt war, ließ sich ihr politischer Einfluß und ihr Dasein nur noch im Bündnis mit den entmachteten ständischen und feudalen Körperschaften behaupten. Die völlige Änderung ihres Kampfzieles bedingte den Gesinnungswandel und eine Metamorphose des Lebensstils. Mit dem Verlust ihrer staatlichen Zwecke war die Magistratur zur Traditionsmacht geworden, in der die innere Kohäsion des abgesonderten körperschaftlichen Lebens eine neue Denkart erzeugte. Die Zugehörigkeit zur robe erfordert ein entschiedenes Bekenntnis. Sie läßt sich nur in der aktiven Anteünahme an den bedrohten Interessen des Standes aufrecht erhalten. Für Montesquieus Weltverhältnis ist dieser Ursprung entscheidend: vor allem ist er an der Geschichtserfahrung der noblesse de robe beteiligt. Das überlieferte humanistische Weltbild der Magistratur liegt unverrückbar auch allen weitergehenden Geistesbestrebungen Montesquieus zugrunde. Der humanistische Kult der Antike versagt sich dem Auftrieb des modernen Fortschrittgedankens. Ausdrücklich wird die zeitliche Spitzenstellung der fortgeschrittensten Wahrheit und damit das erste Axiom der modernen wissenschaftlichen Weltanschauung geleugnet. DierichtunggebendeMacht der parlamentarischen Traditionen ist überall in der Stellungnahme zum politischen Kräftespiel deutlich spürbar, trotz mangelnder Sympathie für den fanatischen Jansenismus und trotz der entschiedenen Vorbehalte gegenüber den kompromittierenden Äußerungen eines eifernden Partisanentums.15 Diese kritische Haltung hat Montesquieu nicht davon 14 15
Œuvres complètes, II, 558.
Montesquieu verurteilte in einer an die Parlamente gerichteten Denkschrift vom 9. Juli 1753 die Bestrebungen des Parlaments, die darauf hinaus liefen, eine Sonderstellung über dem Staat zu fordern. Demgegenüber sei das Parlament gerade dazu berufen, das funktionelle Verhältnis der einzelnen politischen Instanzen unter dem Gesichtspunkt der Staatlichkeit zu präzisieren: ,Pensez bien en vous-mêmes, examinez les choses: en comparaison de TÉtat vous n'êtes rien." (III, 1467.) (Vgl. auch die Bemerkung über das Verhältnis von Parlament und Ministerium in der Konstitutionsfrage, II, 325 f.) Wenn Mar-
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abgehalten, für die Sache der Parlamente einzutreten. Die Stellung des Züngleins an der Waage soll ihnen voibehalten bleiben, und jeder Gedanke an eine Aufhebung der Erblichkeit wird als ein Anschlag auf die Unabhängigkeit des Richterstandes zurückgewiesen. Man spürt, daß Montesquieu in eigener Sache redet, wo immer er die brennende Schicksalsfrage der Parlamente anrührt. Für die Magistratur war der Umschwung der Régence ein neuer Höhepunkte der politischen Machtentfaltung. Mit der Kassation der testamentarischen Verfügung des verstorbenen Königs war der despotischen Macht eine sichtbare Schranke gezogen; der Herzog von Orléans war gezwungen, die Regentschaft, die Ludwig XIV. ihm letztwillig verweigert hatte, aus den Händen des Parlaments zu empfangen. In den „Lettres persanes" (XCII) wird dieser denkwürdige Vorgang verzeichnet. Das Parlament würde künftighin „comme l'appui de la monarchie et le fondement de toute autorité légitime" zu gelten habea Die Koalition der beiden am Umschwung von 1715 beteiligten Adelsfraktionen, der noblesse de robe und der noblesse d'épée, kehrt auch in Montesquieus gesellschaftlichem Beziehungssystem wieder. Der Unterschied der Denkart und des Lebensstils wird durch die gemeinsame Feindschaft gegenüber dem niedergebrochenen Absolutismus überbrückt. Die drohende Perspektive der Wiedererstehung eines im Dienste des dritten Standes auf neue Weise gefestigten Absolutismus verstärkt das Bedürfnis nach gemeinsamer Abwehr und nach beständiger Fühlungnahme. Wenn Montesquieu die feudalistischen Sympathien der noblesse de robe zeitweilig teilte, so will das nicht heißen, daß eine Angleichung an die Geistesrichtung und an die Lebensformen des alten Adels erstrebt worden wäre: Die Anwendung rationeller Wirtschaftsmethoden, die Montesquieu als Gutsherr in La Brede erprobte, verstieß gegen alle Gepflogenheiten der provinziellen Aristokratie, zumal in einer noch von keiner physiokratischen Lösung aufgeklärten Epoche. Das Leben in La Brede war alles andere als eine fortgesetzte fête champêtre. Hier waltete nicht ein Schloßherr, sondern ein Weingutsbesitzer, der von den Jahreserträgen ehrgeizige Ameliorationen bestreiten konnte, ein systematisches Studium der Absatzverhältnisse betrieb und sich den Aufwand für seine englischen Forschungsreisen durch Kundenwerbung in den seinem Genius geöffneten Sphären bezahlt machte. Recht drollig mischt sich zuweilen die Absatzsorge in seine literarische Korrespondenz, und bis zum Lebensabend sind Wünsche nach vermehrtem Buchbesitz nur im beschränkten Rahmen der verfügbaren Überschüsse erfüllbar. Die Metamorphose in Montesquieus Lebensform wird somit Anlaß zu einem erneuten Bekenntnis zur noblesse de robe, zu ihren humanistischen Bildungstraditionen und zu den überlieferten Methoden tin Göhring, „Weg und Sieg der modernen Staatsidee in Frankreich", Tübingen 1946, S. 140, die Standesgebundenheit Montesquieus kennzeichnet: „Montesquieu offenbart sich uns, ganz kraß gesagt, in erster Linie als Parteimann", so darf doch seine nicht verleugnete Überzeugung nicht übersehen werden, daß die gegenwärtige Taktik der Parlamente zur Katastrophe führen müsse.
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einer rationellen Bewirtschaftung. Die Zugehörigkeit zur noblesse de robe wird nicht durch die bloße Herkunft, sondern durch das Bekenntnis entschieden. In der gesinnungsbildenden Macht ihrer Lebensform wird Montesquieu das Rüstzeug finden, um sich auf dem Kampffeld der Aufklärung zu behaupten. Dem alles nivellierenden Despotismus begegnet die Orientierung der Gesetzlichkeit einer vergangenen Lebensordnung, die Bestrebung, die nationale Ursprungsverfassung, die Konstitution, aus dem Schutt der Geschichte zu bergen. Der Ruf nach persönlicher Freiheit und das Verlangen nach einer dauernden Sicherung vor dem bedrückenden Übergewicht einer unkontrollierbaren Staatsgewalt verdichtet sich in dieser Losung, durch die sowohl die Privilegien des fränkischen Adels wie die beherrschende Stellung der Parlamente verankert wurden. Die Umwälzung der Régence legitimiert sich im Sinne einer Rückkehr zu der verlassenen Gesetzlichkeit des nationalen Lebens. Im Despotismus wird der Umsturz und die methodische Zerstörung aller überkommenen Normen und Bindungsformen befehdet. Für Montesquieu trägt schon Richelieu die Hauptschuld an der gesellschaftlichen Nivellierung, und alle Erfolge seiner Außenpolitik vermögen die unheilvollen Konsequenzen des Großmachtstrebens, der expansiven Selbstentfremdung in keiner Weise zu überglänzen. Die Gefahr des Abfalls zum Despotismus eröffnet eine Schicksalslinie der modernen Staatsentwicklung. Nicht Tugend noch Ehre, sondern allein die Schreckgewalt einer unbegrenzten Machtentfaltung erzwingt den Zustand einer allgemeinen Nivellierung, wie andererseits der Despotismus der Masse sich nur durch eine diktatorische Staatsgewalt behauptet. Im Drang zur Organisierung weiträumiger Machtkomplexe wird sehr bald die Grenze der organischen Entwicklungsmöglichkeiten überschritten. Schon allein durch räumliche Ausdehnung wird die fatale Entwicklung beschleunigt. Das Herrschaftssystem des Despotismus ist besonders geeignet, Befehle in den entferntesten Räumen durchzusetzen. Daher der Übergang der spanischen Monarchie zum kolonialen Despotismus.16 Das Scheitern des Weltmachtstrebens Ludwigs XIV. bewahrte Frankreich vor einer unheilvollen Befestigung der despotischen Tendenzen. Man kann im Geschichtsbüd Montesquieus eine doppelte Verwendung des Begriffes Despotismus erkennen: zum ersten bezeichnet das Wort den durch die klimatischen Verhältnisse bedingten und daher fest begründeten politischen Zustand der orientalischen Völker. Im Widerspruch zum Naturrecht hat sich hier eine natürliche und schwer aufhebbare politische Tradition erhalten. Zum anderen wird im Despotismus der allen Herrschaftsformen drohende Zerfall der Gesetzlichkeit befürchtet. Es wird nicht verkannt, daß durch die gesamte Entwicklungsrichtung von Staat und Gesellschaft die bedrohliche Wendung zum Despotismus in einer fatalen Weise verstärkt wird. Der orientalische Despotismus ist durch ge16
In der programmatischen physiokratischen Schrift Baudereaus: „De lOrigine et du progrès d'une science nouvelle", Londres 1768, wird für despote die interessante Etymologie = disposer à son gré aufgestellt (S. 79).
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schichtliches und natürliches Schicksal in seinem Geltungsraum fest verankert. Das ändert nichts an der durch den Bruch des Naturrechts unausbleiblich über diesen Teil der Menschheit verhängten Selbstentfremdung. Unausdenkbar ist die Gefahr für die europäische Menschheit, in doppeltem Widerspruch des Naturrechts und der natürlichen Umweltbestimmung, dem Schicksalszug der geschichtlichen Entwicklung im Abfall zum Despotismus zu erliegen. Mit dem Untergang der antiken Polis hatte auch die politische Tugend ihren irdischen Wohnsitz verloren. Die Verstärkung der Abstraktion in den ausgebreiteten menschlichen Lebensverhältnissen zerstört die Kraft des unmittelbaren Zusammenlebens. Lag einst der Lebenswert in der menschlichen Gegenwart, so haftet er in unserer Epoche nur noch im Gegenwert des menschlichen Wissens, das die Bücher vermitteln. Die Erfindung der Buchdruckerpresse, die eine Scheidewand gegen die unbefangene Gesprächskultur der Antike errichtet, ist das entscheidende Ereignis der Zeitenwende. Der Umschwung im Schicksal der Menschheit beginnt mit diesem Ereignis. „Quand on voit, dans Γ antiquité, le cas infini qu'on faisoit d'un philosophe célèbre ou d'un savant, et comme quoi on venoit l'entendre de toutes parts, on diroit que nous n'avons plus le même amour pour les sciences. C'est que, les livres et les bibliothèques étant rares, on estimoit plus la science de ceux qui étoient des livres vivants. - I l sait l'histoire. - Mais j ' a i l'histoire. - C'est la découverte de Γ imprimerie qui a changé cela: autrefois on estimoit les hommes; à présent les livres."
Die Wendung zum Wissen vollzieht zugleich die Rückkehr zu den vergangenen Lebensweiten, das ist das Wissen, das uns die Kenntnis der Antike vermittelt: das Wissen um den menschlichen Ursprung: und dieses humanistische Wissen dient nicht dem geschichtlichen Fortschritt, auf den sich die Zielsetzung der modernen Wissenschaft beziffert. Der Widerstreit von Humanismus und Wissenschaftlichkeit, den Bayle noch zu schlichten versuchte, drängt nunmehr zum offenen Austrag, zu einer Alternative, mit der sich der Kampfplatz der Aufklärung in seiner ganzen Polarität eröffnet. [...] Der Differenzpunkt zu Hobbes wird nicht so sehr durch die materialistische Denkart gebildet als vielmehr durch das fatale Übergewicht der deterministischen Grundtendenz, die alle Verhältnisse von Natur und Gesellschaft im Leviathan durchwaltet. Während Montesquieu den optimalen Zustand für das Gedeihen der Freiheit in einem gesetzlichen Verhältnis der bindenden Kräfte zu bestimmen suchte, reduziert sich für Hobbes die Gesetzlichkeit auf die Ermittlung der gesellschaftlichen Machtverhältnisse. Die Einheit der Person besteht für ihn überhaupt nur im Begriff. Obwohl die Lehre von Hobbes im sichtbaren Zeichen der englischen Restauration erschien, ist doch der hier befestigte Standpunkt der bürgerlichen Gesellschaft deutlich erkennbar. In diesem Zusammenhang will die Bemerkung Montesquieus bewertet werden, daß Dubois den Regenten auf die Werke von Hobbes besonders hingelenkt haben soll, um dessen Bereitschaft zur Wiederaufrichtung der absolutistischen Staatsmacht zu verstärken. Der Hinweis Montesquieus gewinnt durch den Ausblick auf das in Frankreich festzustellende Inter-
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esse an Hobbes seine volle Bedeutung. Die Konzeption des bürgerlichen Despotismus besaß hier einen sehr ernst zu nehmenden Wegbereiter.17 Es ist kein Zufall, daß Montesquieu den theoretischen Kampf in seinem Hauptwerk mit der Verwerfung der einzig ernst zu nehmenden absolutistischen Staatstheorie eröffnet, - der entscheidende Schlußakzent blieb der Auseinandersetzung mit dem ersten und einzigen absolutistischen Geschichtsbild vorbehalten. [...] Man hat die Frage gestellt, ob die unverkennbare Gesinnungseinheit in Montesquieus Werk vielleicht nicht aus der Vorherrschaft des dichterischen Grundtriebs erklärt werden könne.18 Die Antwort auf diese Frage hat Montesquieu selbst mit einer alle Weiterungen abschließenden Bestimmtheit gegeben: „La science des arts, qui sont de quelque utilité aux hommes qui vivent en société est subordonné au grand art qui forme et qui règle les sociétés." Die Unterordnung der ästhetischen unter die politisch-geschichtliche Konzeption konnte klarer nicht ausgesprochen werden. Der Standort der Literatur erhält gerade durch diese Abhängigkeit eine neue Bedeutung: „On ne peut pas dire que les lettres ne soyent qu'un amusement d'une certaine partie des citoyens; il faut les regarder sous une autre face. On a remarqué que leur prospérité est si intimement attachée à celle des empires qu'elle en est infailliblement le signe ou la cause. Et, si l'on veut jeter un coup d'oeil sur ce qui se passe actuellement dans le Monde, nous verrons que, dans la même raison que l'Europe domine sur les autres trois parties du Monde et est dans la prospérité, tandis que tout le reste gémit dans l'esclavage et la misère: de même l'Europe est plus éclairée, à proportion, que dans les autres parties, où elles sont ensevelies dans une épaisse nuit. Que si nous voulons jeter les yeux sur l'Europe, nous verrons que les états où les lettres sont les plus cultivées ont aussi, à proportion, plus de puissance "
Das will besagen, daß der Schlüssel der ästhetischen Problematik Montesquieus bei seinen politisch-geschichtlichen Konzeptionen gesucht werden muß. Die moderne Literatur erhält in Montesquieus Gedankensystem das negative Zeichen ihrer Zugehörigkeit und ihres Ursprungs in der despotisch-höfischen Welt. Im modernistischen Literaturbewußtsein wird die bewußte Gesinnung der allgemeinen Nivellierung, der Auftrieb des dritten Standes entlarvt und verurteilt. Auch hier ist Montesquieus Stellungnahme schon durch die humanistische Denktradition der noblesse de robe gesichert. Dem Expansionsgelüste der literarischen Mode versucht die Autoritätsgesinnung des alten Humanismus den Weg zu verlegen. Der Widerstreit kristallisiert sich um die Frage, wer über Wert und Unwert der Literaturerscheinungen in letzter Instanz entscheidet: das Publikum, 17
Die bedeutsame Rolle von Hobbes in der Frühaufklärung bedarf noch einer besonderen Aufhellung. Es sei hier nur der tiefe Einfluß von Hobbes auf Cartaud de la Villatte, den aufgeschlossenen Schüler Fontenelles, erwähnt. Außer in der antirationalistischen Jugendschrift „Pensées critiques sur les mathématiques", 1732, in der Kulturentwicklungstheorie der,Assays historiques et philosophiques sur le goût", 1736. 18
Schon in alter Zeit fehlte es nicht an Versuchen, die Dominante in Montesquieus Schöpfertum in den künstlerisch-literarischen Impulsen zu erkennen, ζ. B. Barante , „De la Littérature française pendant le dix-huitième siècle". Paris 1824, S. 111 ff.
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in dem die unbestechliche, in allen Menschen wurzelnde Empfindung urteilt, oder die durch Bildung und Tradition berufene Elite der Eingeweihten? Die ästhetische Diskussion verdichtet sich in der Korrespondenz mit Baibot und mit Bei. Das Trio der drei ästhetisierenden Kammergerichtspräsidenten erscheint wie eine geistvolle Enklave der Aufklärung inmitten der schwer beweglichen Magistratur. Indessen muß auch auf diese vorgeschobenste Position die letzte Entscheidung zugunsten der Überlieferung fallen. Der Gegenstand der Diskussion wird von Dubos geliefert - dem Namen des Schicksals, in dem sich für Montesquieu der Inbegriff des bedrohlichen Zeitgeistes verkörpert. In den „Réflexions critiques sur la poésie et sur la peinture" (1719) hatte Dubos den Durchbruch der sensualistischen Aufklärung fur das Gebiet der Ästhetik erzwungen,19 und gegen Dubos' Ästhetik richtet Bei seine spitze Feder.20 Sein rationalistischer Standpunkt erlaubt die radikale Verwerfung der von Dubos entdeckten Wahrheit der Empfindung, auf die sich die allgemeine Kompetenz des Publikums bei der Beurteilung des Kunstwerkes gründet. Montesquieu, der längst zum Sensualismus Lockes gelangt war, muß eine mittlere Linie vertreten: "[...] je prendrais un système moyen, et je crois que l'on juge par sentiment et par discussion. Deux critiques ont une mesure égale d'esprit, celui qui a le plus de sentiment et de goût est le plus fin." 21 Aber Montesquieu ist sich der gefährlichen Konsequenzen bewußt, die jedes Zugeständnis an die moderne Publikumswahrheit freigeben müßte. Die schicksalhafte Entscheidung über Tod und Leben der geistigen Werke in der Nachwelt kann nicht bei einem anonymen Publikum liegea Die gens du métier erscheinen für diese Rolle bevorzugt. Die humanistische Elite, für die schon Boileau gefochten hat behauptet damit von neuem das Schlachtfeld. Die Entfaltung der modernen Literatur im Raum der nationalen Gesellschaft wird durch den Despotismus der Mode begünstigt. Der Humanismus sieht sich durch eine Theorie des Fortschritts herausgefordert, die auf den Vorrang des zeitlichen Vorsprungs hinausläuft. In der jüngsten Erscheinung ist das umfassendste Aufgebot der Erfahrung gesammelt. Nicht die Anciennität, sondern die Aktualität muß daher als Bürgschaft der Vollkommenheit gelten. Gegen diese modernistische Literaturtheorie wird der entscheidende Einwand schon in den „Perselbriefen" erhoben und zwar bezeichnenderweise bei der Erwähnung der Journalistik, dem einzigen Literaturzweig des neuen Jahrhunderts, dem Montesquieu die Ehre einer ernsthaften Auseinandersetzung widerfahren ließ: „Le grand tort qu'ont les journalistes, c'est qu'üs ne parlent que des livres nouveaux; comme si la vérité étoit jamais nouvelle. Il me semble que, jusqu'à ce qu'un homme ait lu tous les livres anciens, il n'a aucune raison de leur préférer les 19
Vgl. Lombard , „L'Abbé Dubos, initiateur de la pensée moderne". Paris 1913.
20
J.-J. Bel veröffentlichte im 3. Bd der „Mémoires de Littérature et d'Histoire" 1727 seine Widerlegung der sensualistischen Ästhetik den Abbé Dubos. Vgl. seinen Brief an Montesquieu ΠΙ, 941 ff. 21
„Œuvres complètes", III, 862.
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nouveaux." (Lettre CVIII.) Montesquieu will damit sagen, daß sich die fortschrittlichste Wahrheit nicht immer auf den fortgeschrittensten Gipfeln der Zeitbewegung einstellt: „Tout ce qui est nouveau, n'est pas hardi." Während eine rasch veraltende Mode den Tiefenbedürfhissen einer Gegenwart keine Erfüllung verheißt, sind unausgeschöpfte Traditionen noch immer zukunftsmächtig. Der Humanismus ist mit dieser Entscheidung gerettet auf Kosten der Wissenschaft, die sich in der Dimension des zeitlichen Fortschritts entfaltet. [...] Durch Voltaires Kritik ist der Lebenspunkt von Montesquieus Hauptwerk, d. h. der innerste und gesinnungsbildende Antrieb erkennbar geworden. Im Brennpunkt des „Esprit des lois" steht die Polemik mit dem absolutistischen Geschichtsbild des Abbé Dubos. Auf diesem Punkt stieß Voltaires dankbares Bekenntnis zu einem früheren Meister mit Montesquieus geharnischter Abwehr zusammen. Der Angriff, den Voltaire mit der ausdrücklichen Apologie des Abbé Dubos gegen Montesquieu vortreibt, trifft in der Tat den entscheidenden Abschnitt des „Esprit des lois": er trifft die Stelle, auf der die politische Gegenwart die Auflösung der geschichtlichen Widersprüche fordert, auf der die Auslegung der feudalistischen Vorgeschichte das Grundproblem des nationalen Zusammenlebens für alle Zukunft entscheidet. In der Tat bleibt für die politische Meinungsbildung der französischen Aufklärung die Stellungnahme zum feudalistischen Mittelalter bestimmend. Sowohl die Entlarvung der feudalistischen Usurpation wie der Versuch einer nationalen Legitimierung gewährten dieser Geschichtsepoche die Schwerpunktstellung. Hier war es die im Herzen des feudalen Mittelalters entdeckte Grundverfassung, die Konstitution, die durch das absolutistische Großmachtsstreben verschüttet wurde. Dort das Verlangen nach gründlicher Abrechnung mit einer Tradition der anarchischen Klassenherrschaft. In jedem Falle fordert der Weg zu den politischen Schicksalsfragen der Gegenwart die Rückkehr zum feudalistischen Mittelalter, die Orientierung an der geschichtlichen Erschütterung, aus der die fortwirkenden Züge des nationalen Charakters ihr Gepräge erhielten. Für Montesquieu brachte die Beschäftigung mit den geschichtlichen Untersuchungen des Grafen Boulainvilliers die erste und entscheidende Anregung zu einer vertieften Beschäftigung mit dem Ursprungsproblem der feudalistischen Institutionen. Schon am Anfang der zwanziger Jahre hatte sich die Gelegenheit für eine Erwerbung des wissenschaftlichen Nachlasses des 1722 verstorbenen, mit Montesquieu weitläufig verwandten Historikers geboten. Das Erscheinen von Boulainvilliers „État de la France" (1771) verstrickte Montesquieu mit der gesamten Problematik der feudalistischen Ursprungsepoche. Die weit ausgesponnenen Kommentare in seinem Tagebuch bezeugen den Anstoß, den Montesquieu von der Lektüre der passionierten Darstellung Boulainvilliers' erhalten hatte.22
22
„Œuvres complètes", II, 314.
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Tatsächlich wollte Boulainvilliers mit vollem Bewußtsein das erste Beispiel einer wissenschaftlichen Geschichtsschreibung geben. Die antiabsolutistische Grundeinstellung fallt mit der Verpflichtung zur rücksichtslosen Ermittlung der tendenziös verdeckten Geschichtswahrheit zusammen. Zum erstenmal wird die Erkenntnis verwirklicht, daß eine wahrhaft historische Darstellung im wesentlichen auf Diskussion der Quellen hinausläuft. Der humanistische Apparat wird rücksichtslos preisgegeben: die fiktiven Reden der Geschichte machenden Männer, die nachempfundenen Briefe, die symbolisch erfundenen Begegnungen und Dialoge, die Rücksichtnahme auf das Schickliche, mit der die selbstbewußte Gegenwart sich lange erfolgreich gegen den Dammbruch des geschichtlichen Weltbildes zur Wehr gesetzt hatte. Der Tiefstand der bisherigen Geschichtsschreibung erklärt sich für Boulainvilliers aus dem Verlust des politischen Bewußtseins in den zur Führung der Nation berufenen Ständen. Die Liebe zum Vaterland (das große Wort wird erstmals in die Zusammenhänge der Volksgeschichte hineingetragen), der große Antrieb der ersten Helden wird nur noch als erne Chimäre behandelt; der Gedanke des Königsdienstes hat alle anderen Prinzipien in völlige Vergessenheit gestoßen, und diese einzige Idee steht an der Stelle dessen, was einstmals Seelengröße und Mannestreue hieß.23 Das ist die Sprache des Grafen Boulainvilliers. Sie lobt und tadelt je nach dem Maß der Bewährung in dem die Geschichte erfüllenden Kampf der Nation mit dem Despotismus. Boulainvilliers wertet auch seme Vorgänger nach dem Maß der Kritik, die sie den Trägern der souveränen Gewalt widerfahren läßt. Es fehlt nicht die Erkenntnis, daß nur auf dem Standpunkt der Nation die Wahrheit der nationalen Geschichte gesichert wird. Nur, daß der nationale Standpunkt der Standpunkt des freigeborenen und zur Verantwortung berufenen Adels ist. Die entwaffnende Selbstverständlichkeit, mit der sich diese Gleichsetzung vollzieht, weist auf den geschichtlichen Ursprung Boulainvilliers in unmittelbarer Nähe der monarchomachischen und feudalistischen Pamphlete des 16. Jahrhunderts. Bei all dem läßt sich der Sozialrevolutionäre, zuweilen an Hutten erinnernde Tonfall nicht überhören. Die Nation ist für Boulainvilliers der Adel - aber dieser Adel ist keine hierarchisch gegliederte Kaste, sondern die von unten her bewegte Gesamtheit der Freien. Um dieser romantischen Konzeption gerecht zu werden, muß man den Maßstab bei den Memoiren Saint-Simons suchen, in denen das menschliche Wesen vom Herzog an abwärts an einen Abgrund gerät. Montesquieu, der zeitweise mit beiden sympathisiert, verkennt nicht das ungeheuerliche Vorurteil in diesem Geschichtsbild. Doch erst im Zusammenstoß mit der von 23
„État de la France", ΠΙ, Londres 1728, S. 5 : , l ' A m o u r de la Patrie, le grand motif des premiere Heros, n'est plus regardé que comme une chimère; l'idée du Service du Roi, étendue jusqu'à l'oubli de tout autre Principe, tient heu de ce qu'on appelloit autrefois Grandeur d'Ame & Fidélité: on n'apprend à personne à estimer assez son rang & sa dignité naturelle pour craindre de les deshonnorer par des foiblesses, pendant qu'il est permis d'abuser, d'aussi bonne heure que l'on peut du credit & de la faveur qui deviennent par là l'unique objet du reste de la vie." - Über Henri de Boulainvüliers neuerdings Renée Simon , Paris Boivin 1955.
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Dubos entwickelten absolutistischen Geschichtsauffassung verlohnte es, den Standpunkt der naiven Parteilichkeit Boulainvilliers aufzuzeigea Erst in der Erkenntnis dieser Polarität wird Montesquieu zur Entdeckung seiner eigenen vermittelnden Stellung befähigt. Im 10. Kapitel des 30. Buches wird der Spannungsraum der historischen Bewußtseinsbildung umrissen: „M. le comte de Boulainvilliers et M. l'abbé Dubos ont fait chacun un système, dont l'un semble être une conjuration contre le tiers état, et l'autre une conjuration contre la noblesse." Durch diese geniale Enthüllung der Klassenbedingtheit des geschichtswissenschaftlichen Meinungsstreites ist eine neue Atmosphäre der Auseinandersetzung geschaffen worden. Auch Montesquieu entgeht dem Kriterium nicht, unter dem die Zeitgenossen die Parteüichkeit in der großartigen Folgerichtigkeit seiner Darstellung gewahren mußten. Aber die Entdeckung Montesquieus war erst durch den Zusammenprall der feindlichen Geschichtsauffassungen ermöglicht worden. Und dieses Ereignis konnte erst sieben Jahre nach dem Erscheinen des „État de la France" erfolgen: mit der Publikation der „Histoire critique de l'établissement de la monarchie française" des Abbé Dubos (1734). Was läßt sich daraus für die Datierungsfrage von Montesquieus Hauptwerk folgern? Mit dem von Montesquieu erinnerten Zeitpunkt des Beginns ist zweifellos die Anwendung der großen Prinzipien auf die schicksalhafte Vorgeschichte der nationalen Gegenwart, auf den Ursprung der mittelalterlichen Konstitution zu verstehea Das Datum der endgültigen Stellungnahme im Meinungskampf der Geschichtsschreibung ist das Erscheinen von Dubos Geschichtswerk. Die Ergebnisse der neuesten Montesquieuforschung befinden sich in überraschendem Einklang mit dieser Datierung.24 Die weitere Konsequenz für die innere Schwerpunktbildung des Werkes ist aber unausweichlich. Nicht das Englanderlebnis, sondern das französische Problem der Konstitution steht im Brennpunkt von Montesquieus schöpferischem Interesse. Nach der Rückkehr aus England geriet der Entwurf einer „Histoire de la monarchie universelle" in den Vordergrund von Montesquieus wissenschaftlicher Tätigkeit Es handelt sich, wie schon erwähnt, um eine Schilderung der gefährlichen Klippe, vor die sich die französische Nation durch das Weltherrschaftsstreben Ludwigs XIV. gestellt sah. Die Rettung Frankreichs vor einem im Weltmaßstab befestigten Despotismus erfolgte durch das Scheitern der außenpolitischen Expansion, durch die Niederlage des französischen Königs, dem auf allen entscheidenden Fronten Einhalt geboten werden konnte. Aus begreiflichen Gründen nahm Montesquieu von der Ausführung eines die nationalen Gefühle so tief erschütternden Geschichtsbildes Abstand. Erst siebzehn Jahre waren nach dem Tod Ludwigs XIV. verflossen, und die Kräfte waren schon überall am Werk, um eine schrittweise Wiederaufrichtung der niedergebrochenen absolutistischen Königsmacht zu erreichen. Montesquieu wird nicht vergessen
24
Vgl. Shackleton.
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haben, daß die Widerstände der französischen Akademie mit seiner unentwegten Polemik gegen das vergangene Regime zusammenhingen. Die tiefere Bedeutung der 1734 erschienenen Betrachtungen über Glanz und Elend des römischen Imperiums wird nur durch einen Ausblick auf die das unausgeführte Geschichtsprojekt beherrschende Grundgesinnung erkennbar. Die Sünden des Despotismus sind hier wie dort in beiden Hemisphären des staatlichen Lebens dieselben: die äußere Expansion und Völkerbedrückung, und die innere Nivellierung durch die rücksichtslose Ausschaltung der vermittelnden Gewalten und die Unterwerfung der Allgemeinheit unter den einzigen Herrschaftswillen. Die naheliegende aktuelle Bezugskraft der Römergeschichte liegt in der geistesgeschichtlichen Destruktion der despotischen Epoche, deren Liquidation erst die Voraussetzungen für eine Rückkehr zur nationalen Ordnung, zur Wiederbesinnung auf Rechte und Pflichten, zur Konstitution geschaffen hatte. Die dokumentarische und quellenkritische Zuwendung zu den feudalistischen Einrichtungen des französischen Mittelalters ist das von Montesquieu erstmals behandelte Element, mit dem sich sein neues Werk auch stofflich von allem Vorausgegangenen abhebt. Als Kernstück für erne bis zur Schwelle der Gegenwart dringende und den Weltraum umspannende Geschichte des staatlichen Denkens und der gesetzlichen Institutionen verlangte die Darstellung der feudalistischen Welt ein letztes Aufgebot aller formenden Energien. Den bestimmenden Anteil der Ursprungsgeschichte des Feudalismus am Ganzen des Werkes unterstreicht noch besonders die spätere Zutat eines weiteren, abschließenden Untertitels: „A quoi l'auteur a ajouté des recherches nouvelles sur les lois romaines touchant les successions, sur les lois françaises et sur les lois féodales/' Die Einfügung war einer Anregung von Vernet entsprungen,25 der in der Korrespondenz mit Montesquieu ein durchdringendes Verständnis für eine politische Konzeption an den Tag legt, die semen föderalistischen und kantonalen Patriotismus wie eine Offenbarung berührte. Die Schlüsselstellung der Polemik mit Dubos konnte in den ermunternden Briefen Vernets vor Abschluß des Werkes besonders deutlich zum Ausdruck kommen. Für Montesquieu mußte tatsächlich der Abbé Dubos wie ein Gegenspieler erscheinen; die allseitig geführte Auseinandersetzung mit Dubos' gegensätzlichem Wesen stellt ihn vor eine gipfelnde Möglichkeit des Selbstverständnisses. Die denknotwendige Antithese, die einst schon aus der Beschäftigung mit Dubos' Ästhetik hervorging, greift nunmehr auf die entscheidenden Bereiche der geschichtlichen Weltauslegung und der politischen Willensbildung über. Im XXX. Kapitel beleuchtet Montesquieu den Hintergrund der Auseinandersetzung mit Dubos, die darum unumgänglich wurde, „parce que mes idées sont perpétuellement contraires aux siennes; et que s'il a trouvé la vérité, je ne l'ai pas trouvé." In jener folgerichtig durchdachten Geschichtsauffassung mußte Montesquieu die prinzipielle Verneinung semer eigenen allein in Teüaspekten oder Frag25
Vernet an Montesquieu 4.9.1748 (ΠΙ, 1130 ff.).
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menten lebendigen, aber der letztgültigen Fügung und Zusammenfassung noch bedürftigen Konzeption begreifea So wurde der Zwang zu einer Auseinandersetzung mit Dubos zugleich der Beweggrund für die Verwirklichung der Lebensarbeit, in der sich der unverrückbare Standpunkt Montesquieus befestigen sollte. Die von Dubos erstmalig versuchte geschichtliche Legitimierung des modernen Absolutismus wird von Montesquieu als eine grenzenlose Provokation empfundea Die Widerlegung der behaupteten Kontinuität der römischen Herrschaftstradition sowie der Appell an die in der französischen Geschichte verwurzelten positiven Kräfte erforderte die Wendung zur feudalistischen Vergangenheit des Mittelalters. Durch das Verdienst des französischen Forschers Carcassonne26 ist dieser entscheidende Vorgang in unseren Gesichtskreis gekommen. Die französische Aufklärung war auf den geschichtlichen Schauplatz des Mittelalters verwiesen, wo sie die fortwirkenden Elemente des nationalen Lebens, die Konstitution für eine grundlegende Erneuerung der politischen Verhältnisse wieder freizulegen versuchte. Editorische Notiz In: „Jakobiner und Sansculotten. Beiträge zur Geschichte der französischen Revolutionsregierung 1793-1794". Hrsg. Walter Markov. Berlin, Rütten und Loening, 1956. S. 1-20 u. 203-207. In erweiterter Form u. d. T. „Die Entstehungsgeschichte von Montesquieus Esprit des lois", in: ΑΓ., W., „Studien zur deutschen und französischen Aufklärung". Berlin, Rütten & Loening, 1963, S. 241-272 u. 520-527, sowie u. d. T. „Montesquieu", in: „Die Großen der Weltgeschichte". Zürich, Kindler, 1975, Bd. 6, S. 411-425. Beide spätere Versionen auch in: ΑΓ., W., „Das Wissenschaftliche Werk. I". Berlin / Weimar, Akademie-Verlag, 1991, S. 269-328.
26 Vgl. die grundlegende Darstellung Carcassonnes, „Montesquieu et le problème de la constitution française au X V I I I e siècle". Paris, o. J. (1926).
Die Theorie der Gewaltengliederung Ernst-Wolfgang Böckenförde (1958) L Gesetz1 Alle Arten von Gesetzen unterfallen einem allgemeinen Gesetzesbegriff, der gleich zu Anfang des Werkes definiert wird: „Gesetze sind notwendige Beziehungen, die sich aus der Natur der Dinge herleiten" 2. Solche Gesetze gibt es für alle Wesen: die Gottheit, die materielle Welt, die Tiere, die Menschen.3 Montesquieu bekennt sich damit zur Natur der Sache als dem Prinzip auch der Sollensgesetze. Er verbindet den Rationalismus des Vernunftrechts mit der Sachbezogenheit des Erforschers der tatsächlichen Gegebenheiten, was kein Wunder nimmt für jemanden, der sein Wirken als Naturforscher begonnen hat.4 Natur bedeutet allerdings für Montesquieu nicht nur den Umkreis des physischen Seins, von dem das seelischgeistige unterschieden werden soll; Natur geht nicht auf ein Sein von Dingen, sondern auf Herkunft und Begründung von Wahrheiten; ihr gehören alle Wahrheiten an, die einer rein immanenten Begründung fähig sind, die aus sich selbst gewiß und einleuchtend sind.5 Der scholastische Begriff der Natur und der naturalis ratio wirkt fort: Natur essentia. Die menschliche Vernunft ist nicht ein Arsenal allgemeingültiger Rechtswahrheiten, sondern ein bloßes Vermögen, die Natur der Sache zu erkennen und daraus die entsprechenden normativen Folgerungen zu ziehen.6 In diesem Sinn ist das Gesetz (als Gattung) la raison humaine , und sollen die politischen und bürgerlichen Gesetze jeder Nation nichts anderes sein als ein Anwendungsfall dieser raison humaine ? Sie müssen der „Natur und dem Prinzip 1
[Zwischenüberschrift von den Hrsg., im Orginal: „ΙΠ."]
2
Montesquieu , [„De l'Esprit des lois"], Buch I, cap. 1, S. 1: „Les loix [...] sont les rapports nécessaires qui dérivent de la nature des choses." 3
Buchi,cap. 1,S. 1.
4
Dieser Hinweis bei Ernst Cassirer , „Die Philosophie der Aufklärung", Tübingen 1932, S. 325. 5 Vgl. Cassirer , S. 324-25. Der Satz des Textes enthält eine verkürzte, sonst fast wörtliche Wiedergabe von Ausführungen Cassirers. 6
So Radbruch, [„Die Natur der Sache als juristische Denkform". Festschrift für Rudolf Laun, Hamburg 1948], S. 168-69. 7
Montesquieu , Buch I, cap. 3, S. 8: „La loi, en générale, est la raison humaine, en tant qu'elle gouverne tous les peuples de la terre; et les loix politiques et civües de chacque nation ne doivent être que les cas particuliers où s'applique cette raison humaine."
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der Regierungsform", der „Natur des Landes", seinem Klima und seiner Größe, der Zahl, der Lebensweise, der Religion, den Sitten und Gebräuchen der Bewohner angemessen sein.8 Immer wieder betont Montesquieu die Vielgestaltigkeit und potentielle Variabilität der solcherart bedingten Gesetze.9 Gesetz ist also zunächst eine sachbezogene vernünftige Regel, ratio, nicht voluntas. Damit ist eine gewisse inhaltliche Allgemeinheit gegeben, eine Erstreckung auf alle Fälle gleicher Art. Ferner eine gewisse Dauer, da die Änderung des Gesetzes nicht auf beliebigen Willensentschluß, sondern nur auf eine Änderung der Sachgegebenheiten hin erfolgt; andererseits läßt jedoch gerade das Merkmal der Natur der Sache Raum für individuell bestimmte und vorübergehende Regelungen. An einer versteckten Stelle, im 29. Buch, verurteilt Montesquieu, nicht ohne den Zeitbezug kurz anzudeuten10, die Gesetzgebung der römischen Könige durch Dekrete und Edikte, die auf Einzelfälle bezogen sind und meist nur vorübergehende Bedeutung haben. „C'est une mauvaise sorte de législation" und solche Gesetze sind schlechte Führer für einen Gesetzgeber. 11 Die Auffassung von der Allgemeinheit des Gesetzes findet ferner Ausdruck in seiner Bezeichnung als „volonté générale de l'état". 12 Als solches wird es unterschieden von irgendwie gearteten volontés générales der Träger der gesetzgebenden Gewalt. Nicht jeder Willensentschluß ist ein Gesetz, es sind bestimmte inhaltliche Qualitäten erforderlich. 13 Über den Umfang der gesetzgebenden Gewalt bzw. den Vorbehalt des Gesetzes spricht Montesquieu sich, von zwei Hinweisen abgesehen, nicht
8
B u c h i , cap. 3, S. 9.
9
Vgl. Buch 6, cap. 1, S. 96 ff.; Buch 26, cap. 2, Bd. 1, 2, S. 127; Buch 26, cap. 14, Bd. 1,2, S. 146. 10 Buch 29, cap. 17, Bd. 1, 2, S. 289: „Les empereurs romaines manifestaient, comme nos princes leurs volonté par des décrets et des édits [...]". 11
L.c.
12
Buch 11, cap. 6, S. 210. Schmitt, Carl, „Pie Diktatur", 2. Aufl. München u. Leipzig 1928, S. 107, führt diesen Gesetzesbegriff Montesquieus auf die cartesianische Phüosophie, die Montesquieu durch Malebranche vermittelt worden sei, zurück. Die Bestimmung des generellen Charakters des Gesetzes als schlechthin ausnahmslose Geltung und Absehen von der Individualität, die Schmitt gibt, ist jedoch zu starr und verkennt die stetige Beziehung Montesquieus auf die Natur der Sache; richtiger dann auf S. 108. 13 Vgl. Buch 11, cap. 6, S. 209, wo er über die Freiheitsbedrohung in den gewaltenverbindenden italienischen Republiken spricht; femer Buch 26, cap. 2, Bd. 1, 2, S. 127. Dazu im übrigen Eberhard Schmidt, „Montesquieus ,Esprit des loix k und die Problematik der Gegenwart von Recht und Justiz". Festschrift für Kiesselbach, 1947, S. 205.
Theorie der Gewaltengliederung
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aus.14 Der gesetzgebenden Körperschaft kommt es nicht zu, resolutions actives zu fassen, unmittelbare Anordnungen zu geben, die sofortigen Vollzug erheischen.15 Sie ist gewählt pour faire des loix, Regeln zu geben, nicht um Handlungen anzubefehlen. Solcher Abgrenzung liegt die Unterscheidung von Regel - Handlung, ordnender Verstand - tätiger Wille zugrunde, die auch später noch oft zur Bestimmung der Staatsfunktionen herangezogen wird. Andererseits muß die gesetzgebende Gewalt über die Erhebung von Steuern selbst beschließen, und zwar nicht einmal auf Dauer, sondern von Jahr zu Jahr, ebenso wie über die Stärke der Landund Seestreitkräfte. 16 Der Grund ist politischer Art: Hätte die vollziehende Gewalt solches Recht für immer, so wäre sie von der gesetzgebenden nicht abhängig, und diese würde leicht ihre Freiheit verlieren. 17 Das ständische Recht der Steuerbewilligung, Angelpunkt der ständischen Freiheiten, steht im Hintergrund. Es wird von Montesquieu nicht als einfaches Gesetzgebungsrecht bestimmt, wohl aber der Legislative anvertraut 18; darin kommt die alte institutionelle Auffassung des Gesetzes zum Ausdruck. Vorläufiges Ergebnis: Gesetz ist nicht jeder Willensakt eines bestimmten Organs, sondern eine der jeweiligen sozialen Lage angepaßte sachgemäße, richtige Vernunftregel von gewisser inhaltlicher Allgemeinheit und Dauer; Einzelanordnungen und Organisationsnormen gehören nicht dazu. Der Umfang der gesetzgebenden Gewalt bestimmt sich näherhin nach politischen, nicht nach logisch-abstrakten Kriterien, wobei die zeitgenössische Vorstellung von loi im Hintergrund steht. Ziel ist die balance of power, die gegenseitige Sicherung und die Freiheit der politischen Mächte. Festgehalten wird die Grenzlinie zwischen Festlegung der Regeln, ordnender Bestimmung einerseits und aktiv-tätigem Verhalten und Gestalten andererseits. II. Vollziehende Gewalt und Gesetz19 Montesquieus Bestimmung der exekutiven Gewalt hat vielfach, und nicht ohne Grund, zu Mißdeutungen Anlaß gegeben. 14 So auch Drath, [„Die Gewaltenteilung im heutigen deutschen Staatsrecht: Faktoren der Machtbildung" (Schriften d. Instit. f. polit. Wissenschaft, Bd. 2), Berlin 1952], S. 101, Note 4. 15
Vgl. Montesquieu , Buch 11, cap. 6, S. 212/13: „Le corps représentant ne doit pas être choisié non plus pour prendre quelque resolution active; chose qui ne seroit pas bien: mai pour faire des loix [...]". 16
Buch 11, cap. 6, S. 219.
17
L.c.
18
L.c., Das zeigt sich gerade an den Sonderregelungen, denen es unterworfen wird: jährlicher Beschluß, keine Initiative der Pairskammer etc. 19 [Zwischenüberschrift von den Hrsg., im Orginal: „ I V " ]
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Die erste kurze Beschreibung läßt darauf schließen, daß es sich um Lockes federative power handelt und daß also „die ganze innere Verwaltung und die Polizei unter den Tisch fällt". 20 Aber schon im nächsten Absatz nimmt er die vollziehende Gewalt in Angelegenheiten des Völkerrechts für vollziehende Gewalt schlechthin.21 Und die Aussagen, die er über diese puissance exécutrice macht, lassen keinen Zweifel daran, daß es sich ebenso oder gar primär um eine innerstaatliche vollziehende Gewalt handelt. Er spricht davon, daß bei einer Verbindung von gesetzgebender und vollziehender Gewalt die Gefahr bestünde, daß der Monarch oder die Körperschaft tyrannische Gesetze mache, um sie tyrannisch auszuführen. 22 Die vollziehende Gewalt erscheint als diejenige, die die résolutions publi23 ques ausführt , sie wird beschrieben als die Ausführung des allgemeinen Willens 24 ; ihr kann gestattet werden, Bürger, die einer Verschwörung verdächtig sind, zu verhaften 25; wenn sie mit der richterlichen Gewalt verbunden ist, erhält der Richter die Macht eines Unterdrückers 26. Welche Aufgaben positiv der vollziehenden Gewalt obliegen, sagt Montesquieu nicht. Es heißt, daß die vollziehende Gewalt mit „choses momentanées" befaßt sei, daß ihr Handeln jeweils eine „action momentanée" sei.27 Einiges spricht dafür, daß er sie im Sinne einer Vollstreckungund Zwangsgewalt versteht, nach innen wie nach außen, so daß sie sich in etwa mit Lockes federative und executive power decken würde. Es fehlen Andeutungen oder Hinweise, die auf Prärogativbefugnisse schließen lassen könnten. „Von einem Verordnungsrecht der Regierung ist nirgends die Rede."28 Nur kann man daraus allein noch nicht schließen, daß Montesquieu die Exekutive sich als unselbständig gedacht habe29. Denn es bleibt zu berücksichtigen, daß im Frankreich des ancien régime die Aufgaben gestaltender Verwaltung sehr spärlich waren und die Intendanten im wesentlichen als 20
So Kloeppel, „Gesetz und Obrigkeit", Tübingen 1891, S. 12.
21
Vgl oben Note 9 u. 10 [Montesquieu, „De l'Esprit des lois", Buch 11, cap. 6, S. 207 f.]. 22
Buch 11, cap. 6, S. 208.
23
L. c.: „ces trois pouvoirs: [...] celui d'exécuter les resolutions publiques."
24
Buch 11, cap. 6, S. 210: „n'étant [...] que l'exécution de cette volonté générale."
25
Buch 11, cap. 6, S. 211.
26
Vgl. oben Note 11 [Buch 11, cap. 6, S. 211].
27
Buch 11, cap. 6, S. 214: „La puissance exécutrice doit être entre le mains d'un monarque; parce que cette partie du gouvernement, qui à presque toujours besoin d'une action momentanée et minieux administrée par un que par plusieurs", ferner S. 216. 28 So mit Recht Georg Jellinek , „Gesetz und Verordnung", Tübingen 1919 (Neudruck), S. 68. 29 Das tut jedoch Jellinek.
Theorie der Gewaltengliederung
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Steuereinnehmer und Polizeipräfekten fungierten, so daß sich das Problem gesamtstaatlicher Verwaltung noch kaum stellte. Man darf einem Autor nicht Aussagen über Probleme abverlangen, die für ihn noch gar nicht oder nur in Anfängen aktuell waren. - Aus den Prinzipien Montesquieus folgt jedenfalls erne Unselbständigkeit der Exekutive nicht notwendig30. Er dachte viel zu sehr aus der Natur der Sache heraus und als Politiker, als daß er gesetzgebende und vollziehende Gewalt nach den Kriterien Rechtsetzung - Rechtsanwendung bestimmt hätte oder der Exekutive in jedem Fall nur die Vollziehung von Gesetzen zugesprochen hätte. Es kam ihm vielmehr auf die sinnvolle Zuordnung der politischen und gesellschaftlichen Mächte, die gegenseitige Verschränkung und Abhängigkeit ihrer hoheitlichen Funktionen an. So lassen sich aus dem Komplementbegriff der Exekutive für die Bestimmung von Gesetz und gesetzgebender Gewalt keine neuen Ergebnisse gewinnen. Insbesondere bleibt der Umfang der gesetzgebenden Gewalt offen. III. Geschichtliche Wirkung 31 Der Grund für die Bedeutung und die geschichtliche Wirkung Montesquieus als politischer Theoretiker liegt nicht in seinem Beitrag zur Staatsfunktionenlehre, sondern in dem von ihm entwickelten System der Gewaltentrennung und -balancierung. Darin ist er zu einem der Väter des politischen Liberalismus und der konstitutionellen Bewegung geworden. Seine Theorie der Gewaltengliederung dient nicht primär einer funktionellen Aufgliederung und Trennung der einheitlichen Staatsgewalt, sondern der Sicherung und Balancierung des Einflußraumes verschiedener Mächtegruppen. Daraus ist es zu erklären, daß von der zeitgenössischen und späteren Staatsrechtslehre, insbesondere den Vertretern des monarchischen Konstitutionalismus, die Gewaltenteilung als Aufteilung der einheitlichen, unteilbaren Staatsgewalt verstanden wurde im Sinne einer Restauration des ständestaatlichen Pluralismus und dementsprechend als Gefahr für die mühsam errungene Staatseinheit abgelehnt wurde 32. Montesquieus methodischer Ansatz ist einerseits soziologisch-politisch, andererseits konstruktiv. Es geht ihm um eine strukturelle Erforschung der politischen Wirklichkeit, die Aufdeckung empirischer Regelmäßigkeiten des politischen Lebens und des sachlichen Grundgehaltes der politischen Erscheinungen, um daraus die politischen Erfordernisse der Zeit herzulei30
Jellinek, S. 68, ohne nähere Begründung.
31
[Zwischenüberschrift von den Hrsg., im Orginal: „V".]
32
Auch ein so rechtsstaatlich denkender Staatsrechtslehrer wie Robert v. Mohl verwirft noch die reine Gewaltenteilung aus diesem Grunde. Vgl. Mohl, Robert, „Das Staatsrecht des Königreichs Württemberg", Bd. 1, Tübingen 1828, S. 18/19.
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ten.33 Damit verbindet sich eine zweckbedingte politische Konstruktion, die zwar einer konkreten politischen Ordnung dienen will, sich aber doch von den vorgegebenen soziologischen Realitäten des Staatslebens entfernt und die Sicherheit und Freiheitlichkeit dieser Ordnung auf einen formalen Organisationsmechanismus zu gründen sucht. So finden die entwicklungsgeschichtlich-soziologische34 und die cartesianische Wurzel seines Denkens auch in der politischen Theorie ihren Ausdruck. Editorische Notiz In: Β., E.-W., „Gesetz und gesetzgebende Gewalt. Von den Anfängen der deutschen Staatsrechtslehre bis zur Höhe des staatsrechtlichen Positivismus" (Schriften zum öffenÜ. Recht, Bd. 1). Berlin 1958 (§ 2 Montesquieu), S. 33-38.
33
Vgl. Cassirer , S. 325 u. Drath, S. 100.
34
Zum entwicklungsgeschichtlichen Zug in Montesquieus Denken: Göhring, S. 135.
Montesquieu und die Tradition Hans Maier (1962) I. Seitdem die Französische Revolution dem Autor des „Esprit des Lois" ihre Huldigung erwies, ist Montesquieu immer wieder von der Revolution her verstanden und interpretiert worden. Er erschien als Vorläufer des modernen demokratischen Verfassungsstaates, und in seinem Werk haben sich nacheinander die ständische Bewegimg gegen den Absolutismus, der liberale Rechtsstaatsgedanke und der Historismus des 19. Jahrhunderts gespiegelt. Aber wie steht es mit der Beziehung Montesquieus zur älteren Tradition des politischen Denkens? Welcher Anteil kommt in seinem Werk den klassischen Autoritäten der politischen Wissenschaft zu? Welche Stellung nimmt ein Buch wie der „Esprit des Lois" nach Anlage und Thematik in der Literaturgeschichte der Politik ein? Wie verteilen sich die Gewichte zwischen Altem und Neuem, Tradition und Revolution bei diesem Denker, von dem die herrschende Auffassung meint, er habe zu den größten Neuerern der Staats- und Verfassungstheorie gehört? Die umfangreiche Montesquieuliteratur, kaum noch überblickbar in ihrer Ausdehnung und vielfaltigen Thematik, gibt auf diese Frage - wenn man nur einmal die wichtigsten Werke liest und im übrigen die Titel in den Bibliographien von Cabeen auf ihren Inhalt durchsieht1 - keine wirklich befriedigende Antwort. Den Traditionsbezügen Montesquieus ist man allenfalls bei der Würdigung seiner Beiträge zur Schönen Literatur nachgegangen, die hier nicht zur Debatte stehen. Der Politiker Montesquieu dagegen erscheint noch heute überwiegend in der Perspektive des Neuerers, der gegen alle Tradition steht, des Vorläufers und Antizipators, der durch die späteren politischen Ereignisse als Prophet bestätigt wurde.2 Und wo man ausnahmsweise nach dem Traditionsgehalt des politischen Werkes von Montesquieu fragt oder von der Tradition her die Stellung Montesquieus in der Literaturgeschichte der Politik genauer zu umreißen sucht, da scheint das Ergebnis jenes Urteil über die Traditionsfremdheit Montesquieus nur zu bekräftigen. So hat schon Emile Durkheim in seiner Thèse von 1892 das soziologisch analysierende Denken Montesquieus scharf abgeho1 Cabeen, D. C., „Montesquieu, a Bibliography" (1947); ders., , A supplementary Montesquieu bibliography", in: Revue internationale de philosophie (1955). 2
Vgl. etwa die beiden zur Zweihundertjahrfeier des „Esprit des Lois" erschienenen Festschriften: „La pensée politique et constitutionelle de Montesquieu. Bicentenaire de l'Esprit des Lois 1748-1948", hsg. vom Institut de Droit comparé de la Faculté de Droit de Paris (1952); im folgenden zit. als „Pensée politique"; und als „Centenaire".
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ben von dem teleologischen, an Zwecken orientierten der älteren Politik3, und neuere Untersuchungen kommen, wenn auch gelegentlich mit anderem Wertakzent, zu ähnlichen Ergebnissen. Maurice Duverger z. B. sieht in der Anwendung der modernen naturwissenschaftlichen Methode auf politische Phänomene die eigentliche Leistung Montesquieus, und Wilhelm Hennis hat kürzlich in Bezug auf den Tugendbegriff bei Montesquieu gemeint, Montesquieus Sprachgebrauch habe kaum noch etwas mit der alten Welt gemeinsam; seine Verfassungslehre nicht mehr qualifiziert durch eine politische Anthropologie wie die früheren Werke dieser Art - sei „so technisch wie das Denken eines Newton oder James Watt".4 Demgegenüber soll im folgenden versucht werden, auf einige Elemente der Tradition in Montesquieus Denken aufmerksam zu machen, die nicht einfach nur einen Überrest älterer Denkweisen darstellen, sondern Aufbau und Fragestellung seines Werkes - freüich mit unterschiedlicher Formkraft - prägen. [...] Dabei ist die Absicht nicht, dem Büd des Revolutionärs ein Bild des Traditionalisten Montesquieu entgegenzusetzen oder die Ergebnisse der bisherigen Forschung, soweit sie die modernen Züge in Montesquieus Werk betont, grundsätzlich anzufechten. Zu fragen ist nur, ob der Blick nach rückwärts, nach der Tradition hin nicht bestimmte Züge im Aufbau und inneren Zusammenhang des Werkes besser zu erklären vermag als die modernisierende Interpretation, die oft ganz am Rande hegende Stücke willkürlich in den Vordergrund schiebt, dafür aber Nahehegendes übersieht oder in seiner Bedeutung verkürzt. Π. [Gesetzesbegriff] Wenn Montesquieu über die Gesetze schrieb - freilich in einer Breite und mit einem Aufgebot an historischem, völkerkundlichem und juristischem Material wie niemand vor ihm - so stand er damit in einer alten literarischen Tradition. In der überlieferten praktischen Philosophie hatte die Lehre vom Gesetz seit jeher ihren festen Platze.5 Die hier entwickelten Gesetzeslehren dürften Montesquieu in einer dreifachen Gestalt vermittelt worden sein: einmal durch die Primär3
Durkheim , E., „Quid Secundatus politicae scientiae instituendae contulerit" (1892). M i t politica scientia ist hier die Soziologie gemeint; D. verwendet den älteren Begriff nur, weü seine Lehrer sociologia als Barbarismus nicht zuließen. 4
Duverger, M., „Montesquieu et notre temps", in: Centenaire, 227 ff.; Hennis , W., „Zum Problem der deutschen Staatsanschauung", in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 1/1960, 10 f. 5 Zur Wiedergewinnung der in Deutschland halbverschollenen Tradition der praktischen Phüosophie, deren Kenntnis für die Interpretation der älteren politischen Klassiker unentbehrlich ist, hat Helmut Kuhn maßgebend beigetragen; vgl. seinen Aufsatz „Praktische Philosophie und politische Wissenschaft", in: Wissenschaft und Politik, hsg. von der Hochschule für politische Wissenschaften München (1960), 27 ff. und semen Beitrag „Wissenschaft der Praxis und praktische Wissenschaft" in der Gebsattel-Festschrift Werden und Handeln ( 1963), 157 ff.
Montesquieu und die Tradition
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quelle der aristotelischen Ethik und Politik, die zum Grundbestand der Bibliothek von La Brède gehörte6 und im „Esprit des Lois" häufig zitiert wird - die platonische Tradition tritt demgegenüber zurück dann durch die stoischen und von der Stoa beeinflußten Quellen, unter denen Ciceros „De legibus" eine besondere Rolle spielt; endlich durch die christlich-philosophische Tradition die im „Esprit des Lois" zwar nicht durch ihre früh- und hochmittelalterlichen Klassiker vertreten ist, deren Gehalt Montesquieu jedoch in wenig veränderter Form im Philosophieunterricht seiner dem Oratorianerorden angehörenden Lehrer vermittelt wurde, dessen Grundschema auf die Werke von Malebranche zurückgeht.7 - Was besagten nun die hier entwickelten Gesetzeslehren, und worin hegt ihr traditionsbegründender Zusammenhang? Wenn Aristoteles am Ende der Nikomachischen Ethik, die von der Lenkung des Einzelmenschen durch die Tugend handelt, die Notwendigkeit einer Politik postuliert, „damit sich auf diese Weise die Wissenschaft vom Menschen nach Kräften vollende", führt er diesen Gedankengang mit einer Reflexion über die Gesetze ein. Diese erscheinen hier als äußeres Band, das - über Natur, Gewöhnung und Belehrung hinaus - die Praxis der Tugenden im Gemeinwesen ordnet und zusammenhält. Denn die väterliche Ermahnung, sagt Aristoteles, „besitzt weder solche Kraft noch Notwendigkeit und überhaupt nicht die Mahnung eines einzelnen Menschen, wenn er nicht ein König oder dergleichen ist. Das Gesetz hingegen hat zwingende Gewalt, indem es Ausdruck einer bestimmten Klugheit und Vernunft ist".8 Der hier anklingende Zusammenhang von Gesetz und Vernunft, den Aristoteles in der Politik aufnimmt und weiterführt, indem er alle vernünftige Ordnimg im politischen Gemeinwesen auf die gute Gesetzgebung zurückführt, [...] und [...] einander zuordnet9 - dieser Zusammenhang bildet den ältesten und beständigsten Teil der traditionellen Gesetzeslehre. Wir können nicht verfolgen, wie die Verbindung von Gesetz und Vernunft sich im spätantiken, vor allem im stoischen Denken durch die Einmischung theologischer Elemente und die Lehre von einer alle Seinsbereiche durchdringenden Weltvernunft intensiviert hat, müssen aber diese Erweiterung gleichfalls als Element der für Montesquieu verfügbaren Tradition voraussetzen.10 Wenn Cicero in seiner Schrift „De legibus" in den Gesetzen nichts von menschlicher Weisheit Ausgedachtes sieht, „neque hominum ingeniis excogitatum, nec scitum aliquod populorum", sondern 0
Vgl. Desgraves , L., „Catalogue de la Bibliothèque de Montesquieu44 (1954), Nr. 1399, 2364, 2365, und Shackleton, R., „Montesquieu. A critical Biography 44 (1961), 265 f. Anm. 2. 7 Über den Einfluß Malebranches auf die Gesetzeslehre Montesquieus vgl. jetzt Shackleton, 245 f. 8
Eth. Nie. X , 9, 1179 b 31-1180 a22; 1181 b 12-15.
9
Pol. VII, 4. 1326 a 29-31.
10
Zum folgenden vgl. den Überblick über die älteren Gesetzeslehren bei Lottin, O., „Psychologie et Morale aux X I I e et XIII e siècles44, Bd. 11 (1948), 14 ff.
Hans Maier
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„aeternum quiddam quod universum mundum regeret, imperandi prohibendique sapientia", eine „ratio summi Iovis"11, wenn Augustin in „De civitate Dei" das Gesetz „summa ratio" und an anderer Stelle „ratio divina [...] ordinem naturalem conservali iubens, perturbari vetans" nennt12, so sind diese Verkettungen des bei Aristoteles noch ganz im weltlich zivilen Bereich gehaltenen Gesetzesbegriffs mit der lex naturae und der lex divina gerade im christlichen Denken der folgenden Zeit fruchtbar geworden. Bei Thomas von Aquin, der die verschiedenen Traditionsströme der Gesetzeslehre, auch die hier übergangenen juristischen der Pandekten und Institutionen, zusammenfaßt, ist das Gesetz „quaedam rationis ordinario ad bonum commune, ab eo qui curam communitatis habet promulgata".13 In dieser Form, nur unwesentlich verändert, geht der Gesetzesbegriff dann in die spanische Naturrechtsschule, ja noch in die moderne politische Wissenschaft eines Bodin und Hobbes ein. Liest man nun Montesquieus Eingangsbuch Des lois en général mit dem Bück auf diese älteren Lehren, so fallt zunächst die deutliche Traditionsbezogenheit dieser Grundlegung ins Auge. Gesetze sind für Montesquieu notwendige Beziehungen, die aus der Natur der Dinge erfließen; diese Natur der Dinge wird auf eine allem Seienden zugrunde liegende raison primitive zurückgeführt. Man hat mit Recht darauf hingewiesen, daß hier der scholastische Begriff der Natur und der naturalis ratio fortwirkt. Dem Bereich der Natur gehören „alle Wahrheiten an, die einer rein immanenten Begründung fähig [...], die aus sich heraus gewiß und einleuchtend sind".14 Die menschliche Vernunft besteht für Montesquieu in einem Vermögen, die Natur der Dinge, ihr wahres Sein zu erkennen und daraus die entsprechenden normativen Folgerungen zu ziehen.15 In diesem Sinne ist das Gesetz als Gattung, wie es im 3. Kapitel des ersten Buches heißt, „la raison humaine"16, und die politischen und zivilen Gesetze jeder Nation sollen nichts anderes sein als ein Anwendungsfall dieser ratio naturalis auf die jeweiligen Verhältnisse eines Landes, auf Religion und Sitten, Klima und Größe, Zahl und Lebensweise der Bewohner. Diese an sich klare Gedankenführung des ersten Buches wird nun aber durch andere Ideenkreise überlagert und teilweise gestört. Denn Montesquieu sah sich bei der Aufnahme der traditionellen Gesetzeslehren einem doppelten Problem gegenüber. Einmal galt es den modernen naturwissenschaftlichen Gesetzesbe11
„De legibus", 1. II, cap. IV.
12
„Contra Faustum", 1. 22 cap. 27 (PL 42,418).
13
Γ I I 4 6 , q. 90, a. 4 (vgl. Lottin, 11 u. 25 ff.).
14 Cassirer , E., „Die Phüosophie der Aufklärung" (1932), 324; vgl. auch Böckenförde, E.-W., „Gesetz und gesetzgebende Gewalt" (1958), 33 f. 15
„ I I y a donc une raison primitive; et les lois sont les rapports qui se trouvent entre elle et les différents êtres, et les rapports de ces divers êtres entre eux." (EdL 1,1 ). 16
,JLa loi, en général, est la raison humaine, en tant qu'elle gouverne tous les peuples de la terre; et les lois politiques et civües de chaque nation ne doivent être que les cas particuliers où s'applique cette raison humaine." (EdL I, 3).
Montesquieu und die Tradition
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griff in diese Lehren einzuarbeiten, eine Aufgabe, die Montesquieu schon in den Skizzen und Voraibeiten zum „Esprit des Lois" beschäftigt hat. (Man darf in diesem Zusammenhang daran erinnern, daß Montesquieu als Naturforscher begonnen hatte). Zum anderen aber mußte der Zusammenhang von lex divina, lex naturae und lex positiva - durch die Anwendung des naturwissenschaftlichen Gesetzesbegriffs zum streng determinierten System geworden - gegen Erschütterungen an der obersten Instanz abgesichert werden - Erschütterungen, wie sie im Spätmittelalter zum Zusammenbruch des scholastischen Naturrechtsgebäudes geführt hatten. Wie Montesquieu die erste Aufgabe löst, dafür mag hier ein kleines, aber bezeichnendes Detail stehen. Die Tradition hatte den Begriff des Gesetzes als einer Regel der Vernunft folgerichtig auf vernünftige Wesen beschränkt und dementsprechend nicht auf Körper, Pflanzen und Tiere angewandt. So unterstehen bei Thomas Tiere keiner lex naturalis, da sie ja das im Gesetz intendierte vernünftige Ziel nicht kennen, sondern nur einer aestimatio naturalis. Albert der Große sagt in seiner Summa de bono ausdrücklich: „Tales vires (brutorum) non indigent lege, nec lege naturae nec alia, quia lex non ordinat nisi ea quae possimi sic et aliter fieri." 17 Bei Montesquieu dagegen wird der Gesetzesbegriff ausdrücklich auf die anorganische Welt und auf die Tiere ausgedehnt18; die hiermit geschaffene Aufspaltung der Gesetze in anonym determinierende (monde physique) und rational erkannte und gestaltete (monde intelligent) bildet im Aufbau des ersten Buches, aber auch des „Esprit des Lois" im ganzen einen nirgends völlig geheilten Bruch, der zum Beispiel bei der Verknüpfung der Gesetzeslehre mit der Klimalehre zu eklatanten Widersprüchen führt. Nachdem sich Montesquieu aber entschlossen hatte, die traditionelle Verknüpfung von lex und ratio zu übernehmen (wobei er den Gesetzesbegriff im Sinne der modernen Naturwissenschaftlichkeit deterministisch verstand), war er auch genötigt, das streng gefügte Gebäude seiner Gesetze gegen voluntaristische Erschütterungen stärker abzudichten als je ein Autor vor ihm. Lautete schon der Tenor der klassischen Gesetzeslehre ratio non voluntas , kam das voluntative Element allenfalls in den juristischen Gesetzesdefinitionen etwa bei Papinian, zur Geltung, so wird es bei Montesquieu fast ganz ausgeschieden. Montesquieus Gott ist nicht nur an die Vernunftgesetze gebunden - hierin könnte man noch eine berechtigte Reaktion gegen den absolutistischen Gottesbegriff des Nominalismus und seine Transposition ins Politische sehen - , er wird in fast deistischer Weise zum Exponenten der loi naturelle. Dies zeigt wiederum das einleitende Buch über die Gesetze.19 Auch hier ist die Spannung zwischen der konser17
Zit. nach Lottin, S. 24 f. Anm. 4. A n anderer Stelle heißt es: „Natura bestialis non est ordinabili s praecepto." 18 EdL 1,1. 19
,Ainsi la création, qui paroit être un acte arbitraire, suppose des règles aussi invariables que la fatalité des athées. I l serait absurde de dire que le Créateur, sans ces règles, pourrait gouverner le monde, puisque le monde ne subsisterait pas sans elles."
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vatìven Absicht Montesquieus und den Folgerungen, zu denen sein Gedanke ihn treibt, handgreiflich, und es konnte nicht ausbleiben, daß die zeitgenössische Kritik hierauf ihren Finger legte.20 Es muß freilich betont weiden, daß Montesquieu mit seinem Insistieren auf der Rationalität des Gesetzes den Kern der traditionellen Gesetzeslehren gerade zu retten versuchte. Wie konservativ er in diesem Punkt den Zeitgenossen und den Späteren galt, macht die Kritik Voltaires und später Rousseaus am „Esprit des Lois" klar. Die jüngere Naturrechtsschule der Aufklärung geht nicht mehr vom Gesetz als ratio, sondern von der voluntas des Gesetzgebers aus; und im gleichen Maße, in dem für sie das Willensproblem in den Vordergrund tritt, wird das Gesetz zum bloßen Instrument der Beherrschung und Umgestaltung des sozialen Lebens. Hatte schon Voltaire gesagt, um gute Gesetze zu haben, müsse man zuerst die alten verbrennen, so legen die Schöpfer der großen naturrechtlichen Kodifikationen des Spätabsolutismus den Nachdruck auf das Gesetz als Willensprodukt der staatlichen Gemeinschaft. 21 Von hier aus müssen dann die Gesetzeslehren Montesquieus mit ihrer Verknüpfung von Gesetz und Vernunft als ein Stück überlebter Scholastik erscheinen. „Es ist ein Irrtum", bemerkt ein später Rousseauschüler, Destutt de Tracy, in seinem Kommentar zu Montesquieus Gesetzesdefinition, „wenn Montesquieu sagt, die Gesetze seien die notwendigen Verhältnisse, welche aus emes jeden Dinges Wesen hervorgingen". Ein Gesetz bezeichnet nach ihm „bloß eine Regel - von irgendeiner Obrigkeit, die uns zu deren Vorzeichnung befugt scheint, unserer Willenskraft diktiert."22 [...] „Die Rechtssetzung vollzieht sich als Gesamtherrschaft, die nicht streitige Rechtsanwendung als Einherrschaft und die Justiz schließlich als Mehrherrschaft... Die neue Gewaltendreiheit absorbiert die frühere Dreiheit der Strukturtypen. .. Monokratie, Aristokratie und Demokratie werden gewissermaßen vertikal aneinander geschichtet." 2 3
Man versteht auch diesen Vorgang, der in dem berühmten Englandkapitel des 11. Buches näher beschrieben ist, nur, wenn man sich vor Augen hält, daß für Montesquieu die soziale und die rechtliche Gestalt des Staates - ganz im Sinne 20
Vgl. die im ersten Teil der,^Défense de l'Esprit des Lois" von Montesquieu zitierten Einwände der Kritiker. Über die Kritik am „Esprit des Lois" zusammenfassend Shackleton, 356 ff.; vgl. auch Bérard, L., in: Centenaire, 242 ff. (über die Indizierung). 21
Hierzu Friedrich, C. J., „Ideologische und philosophische Voraussetzungen der Kodifizierung", jetzt in: Zur Theorie und Politik der Verfassungsordnung. Ausgewählte Aufsätze (1963), 57 ff.; vgl. auch Wieacker, F., „Privatrechtsgeschichte der Neuzeit" (1952), 197ff., u. Conrad, H., „Die geistigen Grundlagen des Allgemeinen Landrechts für die preußischen Staaten von 1794" (1958). 22 Destutt de Tracy , „Charakterzeichnung der Politik aller Staaten der Erde. Kritischer Kommentar über Montesquieus Geist der Gesetze", übs. von C. E. Mörstadt, Heidelberg 1820, 3 f. - Das franz. Original (Phüadelphia 1811) war mir nicht zugänglich. 23
Imboden , Μ., „Montesquieu und die Lehre der Gewaltentrennung" ( 1959), 17 f.
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der aristotelischen Einheit von societas civilis und res publica - noch nicht geschieden sind. Nicht soziale Mächte füllen ein präexistentes juristisches Gebilde Staat mit aristokratischem, monarchischem oder demokratischem Gehalt; vielmehr ist der Staat immer nur konkrete Aristokratie, Monarchie, Demokratie oder eine Mischform aus diesen Elementen - je nach dem Vorherrschen des Adels, des Bürgertums, des Königtums. Was unsere Sprache noch heute in dem Wort Aristokratie bewahrt, nämlich die Doppelbedeutung der Staatsform und des Herrschstandes, gilt im Französischen ζ. B. auch für die Demokratie: démocratie ist Volksherrschaft, kann aber auch Volk selbst heißen24. So weit geht bei Montesquieu die Gleichsinnigkeit von Staatsformen und Herrschaftsständen, daß im Englandkapitel von Gewalten (pouvoirs, puissances) sowohl im Sinne der Staatsfunktionen wie der sozialen Machtträger die Rede ist.25 Der ständischen Fronde gegen das absolutistische Königtum mit vorsichtiger Sympathie zugetan, macht Montesquieu von der seit Bodin eingetretenen Verstärkung der transpersonalen Elemente der Staatlichkeit kaum irgendwo Gebrauch. Das Wort souveraineté kommt im ganzen „Esprit des Lois" nicht einmal vor. Zieht man ein Fazit, so zeigt sich, daß Montesquieu in seiner Staatsformenlehre gewiß vom traditionellen Schema abgewichen ist. Aber man muß hinzufügen, daß die Richtung seiner Abweichungen bereits in der Tradition vorgezeichnet war. Die Historisierung der Staatsformen, ihre Einordnung in den geschichtlichen Verlauf hat ihr Vorbild in der Zykluslehre - deren Determinismus Montesquieu im „Esprit des Lois" freilich, anders als in den „Römern", nicht übernimmt. Die Ineinanderschichtung der Elemente monarchischer, demokratischer und aristokratischer Herrschaft wiederum weist auf die status-mixtusLehre zurück, wie sie durch Polybius der römischen Politik vermittelt wurde. ΙΠ. Unsere Betrachtung, die vom Gesetzesbegriff ausging und über die Staatsformenlehre zur Gewaltenteilung führte, entspricht in ihrem Gang dem Aufbau des „Esprit des Lois". Nichtsdestoweniger ist man in der Forschung bisher im allgemeinen nicht in dieser Weise vorgegangen. Man hat das einleitende Buch über den Gesetzesbegriff meist ganz übergangen, es als Pseudophilosophie bezeichnet26 oder als Zugeständnis Montesquieus an die kirchliche Zensur abzu24 Etwa kann der niedere Klerus in der Französischen Revolution noch von einem modernen Historiker wie Pierre de la Gorce als „démocratie cléricale" bezeichnet werden. 25
So heißt es ζ. B. von der venezianischen Verfassung, daß der Große Rat die Gesetzgebung, der Pregadi den Vollzug und die Vierzig die Gerichtsgewalt (pouvoir de juger) hätten. Aber da diese verschiedenen Gremien durch Magistrate des gleichen Standes gebildet werden (corps), stellen sie nach Montesquieu nur mehr eine Gewalt (puissance) dar. 26 So noch E. Forsthoff m der Einleitung seiner deutschen Übersetzung des des Lois" (1951).
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werten versucht27; man hat den ganzen ersten Teil des „Esprit des Lois", der die Staatsformenlehre enthält, als unfruchtbaren Traditionsballast oder humanistische Reminiszenz28 abgetan; dagegen hat man ein einzelnes Kapitel des 11. Buches, das über die englische Verfassung handelt, jedoch den zeitgenössischen Kommentatoren kaum als etwas Besonderes aufgefallen war, zum Ausgangspunkt weitreichender Interpretationen gemacht, während wiederum die folgenden Bücher mehr oder minder beiläufig behandelt wurden. Ob aber ein Autor wie Montesquieu nicht das Recht hat, in der Reihenfolge und mit der Akzentuierung gelesen zu werden, die er selbst seinem Werk gegeben hat? Und ob nicht schon im Aufbau der einzelnen Bücher und ihrer Zuordnung zueinander ein Hinweis auf das Wichtige und Unwichtige liegt? Ich will darüber hier keine Meinung äußern; der vorliegende Interpretationsversuch sei nur einmal zur Diskussion gestellt. Auf einige Folgerungen für die gegenwärtige Montesquieudiskussion soll aber abschließend noch kurz hingewiesen werden. Es ist seit langem allgemeine Meinung, daß die überkommene juristische Gewaltenteilungslehre angesichts der modernen Entwicklung des parlamentarischen Regierungssystems, das im Verhältnis von Legislative und Exekutive die strengen Trennungen verwischt hat, einer Neufassung oder besser: einer 29 Transposition in die sozialen Verhältnisse unserer Zeit bedarf . So haben W. 30 31 32 33 Kägi , M. Drath , H. Peters und P. Schneider verschiedene neue Aspekte der Gewaltenteilung im modernen Staat hervorgehoben; und E. Fraenkel und W. Steffani haben, darüber hinausgehend, eine nicht mehr ausschließlich juristische, sondern politisch konzipierte Gewaltenteilungslehre entworfen, in der an die Stelle der klassischen Gewalten Exekutive, Legislative und Justiz die 27 So V. Klemperer, „Geschichte der französischen Literatur im 18. Jhdt.", Bd. 1 (1954), 219. 28
Charakteristisch wiederum Klemperer, der den eigentlichen Montesquieu erst mit den Büchern ΧΙ - ΧΙ Π einsetzen läßt, „nachdem er das leere Gehäuse des Staates (!) erforscht und gesichtet hat, wobei es mehrfach geschieht, daß der Staat aus einem Gehäuse in ein selbständiges, übermenschliches Wesen, fast in eine Gottheit verwandelt wird" (S. 221). Verständnisvoller J.-J. Chevallier, der die ersten dreizehn Bücher des „E.d.L " als ein „chef-d'œuvre achevé dans un chef-d'œuvre inachevé" bezeichnet (Prélot, 121 ). 29 Besonders scharf formuliert B. Mirkine-Guetzévitch („Pensée politique", 181): „Ce dogme périmé, contraire à la réalité du parlamentarisme démocratique, ne peut servir les besoins politiques de l'Europe" - womit er freüich das meint, was die Revolution aus der Gewaltenteüungslehre Montesquieus gemacht hat. 30 Kägi, W., „Zur Entstehung, Wandlung und Problematik des Gewaltenteüungsprinzips", in: Verhandlungen des Schweiz. Juristenvereins (1943). 31
Drath, M., „Die Gewaltenteilung im heutigen deutschen Staatsrecht", in: Faktoren der Machtbildung (Schriften des Instituts für Politische Wissenschaft, Berlin, Bd. 2 [1952]). 32 Peters, Η., „Die Gewaltentrennung in modemer Sicht" (1955). 33 Schneider, P., „Zur Problematik der Gewaltenteilung im Rechtsstaat der Gegenwart", AöR 82 (1957), 1 ff.
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fünf Instanzen Regierung, Parlament, Parteien, Interessengruppen und öffentliche Meinung getreten sind34. Das Eigentümliche an diesen und ähnlichen Versuchen ist nun, daß sie alle über Montesquieus angeblich starres Gewaltentrennungsschema hinauszugehen beanspruchen oder jedenfalls von der Ergänzungsbedürftigkeit semer Lehren ausgehen. In Wahrheit jedoch ist gerade die wechselseitige Zuordnung, ja gelegentlich sogar Identifizierung von Staatsfunküonen und gesellschaftlichen Kräften für Montesquieu, der eine Trennung von Rechts- und Soziallehre des Staates nicht kennt, noch eme Selbstverständlichkeit gewesen. Insofern wird man auch die in der Forschung vorherrschende Auffassung berichtigen müssen, Montesquieu habe zunächst eine Staatsfunktionenlehre entworfen und dann in einem Sprung auf geschichtlichen und sozialen Boden die funktionellen Gewalten auf die verschiedenen politischen und gesellschaftlichen Mächte - Adel, Königtum und Volk - verteil? 5. Es gibt für Montesquieu kein Nacheinander, sondern nur ein Ineinander beider Vorgänge, und es ist kein „unmerklich unterlaufenes Versehen", wie Martin Drath meint, wenn im Englandkapitel die drei sozialen Machtfaktoren auch als Staatsgewalten bezeichnet werden36. Die Verfassungsproblematik, die heute in den kontinentalen Staaten mit dem Zwang zur Konstitutionalisierung traditionell als extrakonstitutionell gedachter Gesellschaftskräfte - Parteien, Verbände, Interessengruppen - gegeben ist, würde von Montesquieus Theorie jedenfalls sehr viel elastischer aufgenommen werden als von unserer aus dem 19. Jahrhundert entlehnten, vom Dualismus von Staat und Gesellschaft beherrschten Staatsund Gesellschaftslehre. Auch hier wird Montesquieu zu eng gefaßt, wenn man ihn nur als modernen Juristen, nicht als Politiker im Sinn der Tradition versteht. Ähnliches güt nicht zuletzt auch für Montesquieus Gesetzesbegriff. Man hat im Zeichen der rechtsstaatlichen Theorie vom Gesetz als genereller abstrakter Norm dessen Wesen vorwiegend in seiner Allgemeinheit gesehen, ohne zu beachten, daß davon wie auch von einer ausnahmslosen Geltung unter Absehung von jeder konkreten Individualität bei Montesquieu nirgendwo die Rede ist. In der Tat würde ein Gesetzesbegriff, der allein vom Prinzip abstrakter Allgemeinheit ausginge, angesichts der durch Sozialstaatlichkeit und Technisierung eingetretenen modernen Veränderungen der Gesetze eine aussichtslose ideologische Repristination darstellen. Um so wichtiger erscheint uns heute die bei Montesquieu entwickelte materiale Bindung der Gesetze an die Natur der zu regelnden Sachverhalte - dies vor allem in einer Situation wie der unseren, die 34
Fraenkel, E., „Parlament und öffentliche Meinung", in: Zur Geschichte und Problematik der Demokratie (Festschrift für H. Herzfeld, 1958), 163 ff.; Stefani , W., „Die Untersuchungsausschüsse des Preußischen Landtages zur Zeit der Weimarer Republik" (1960), 295 ff. 35
So Böckenförde,
36
Drach, 113; vgl. Böckenförde,
31. 33 m. Anm. 23.
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nach den Exzessen einer ungebundenen Volkssouveränität durch erneute strenge Bindung des Gesetzgebers an die ratio der Verfassung gekennzeichnet ist. Hier dürfte Montesquieu am deutlichsten und unverstelltesten zu uns sprechen, wenn wir ihn aus seiner Zeit begreifen und nicht in der blickverengenden Perspektive dessen sehen, was von seinem Werk in die liberale Bewegung des 19. Jahrhunderts eingegangen ist. Zum wirklichen Montesquieu des 18. Jahrhunderts aber gehört auch sein Stehen in der älteren, vor der Trennung von Staat und Gesellschaft liegenden Theorie des politischen Gemeinwesens und sein bald positiver, bald kritischer, immer aber fühlbarer Bezug zur Tradition. Editorische Notiz Habüitationsvortrag, gehalten vor der Philosophischen Fakultät der Universität Freiburg am 19. 5. 1962. Veröffentlicht in: „Epimeleia: Die Sorge der Philosophie um den Menschen". Hrsg. F. Wiedmann. München 1964. S. 267-282. Wiederabgedruckt in: Maier , Η., ,Anstöße. Beiträge zur Kultur- und Verfassungspolitik". Stuttgart 1978, S. 725-237) (Auszüge).
Montesquieu in Deutschland Zur Geschichte seiner Wirkung als politischer Schriftsteller im 18. Jahrhundert Rudolf Vierhaus (1965) „Eben werfe ich mich in den Reisewagen nach Paris und lese nichts als Montesquieu unterwegens " (Herder an Begrow, Nov. 1769)
I. Lassen wir uns warnen: „Man findet Montesquieu unmittelbar nach seinem Erscheinen und fortan dauernd, ich möchte sagen: überall und nirgends [...]. Und gerade weil er überall ist, ist er schließlich nirgends. Die allzu weite Wirkung entkleidet sich des Persönlichen".1 Und warnen wir uns selber: vor der Unterschätzung der Schwierigkeiten einer Wirkungsgeschichte. Wenn es sehr viel schwerer ist, einen historischen Sachzusammenhang genau zu erforschen und darzustellen als ein Urteil darüber zu fallen, so noch mehr, einen ideellen Wirkungszusammenhang aufzuhellen. Nichts ist gleichwohl verbreiteter und beliebter als das Konstatieren von Wirkungen (Aus-, Fort-, Nach-, Einwirkungen, Breiten- und Tiefenwirkungen) und Einflüssen; nirgendwo sonst wird leichtfertiger behauptet als hier, und zwar gerade unter Ausnutzung der Ungenauigkeitsquote, die in solchen Formulierungen enthalten ist. Sie sagen stets mehr, als genau beweisbar ist, und erwecken den Eindruck von größerer Kenntnis, als ausgebreitet wird. Unmöglich, alle Motive aufzudecken, die eine menschliche Handlung bestimmen, allen Traditionen nachzugehen, die hinter einer Anschauung, einer Meinung, einem geistigen Werke stehen. [...] Gar zu leicht schleicht sich Unbewiesenes und Unbeweisbares ein - und das um so eher, als man für den konkreten Bedeutungsumfang solcher Wörter wie Wirkung und Einfluß nicht haftbar gemacht werden kann. Und doch sind sie unentbehrlich. Was sie bezeichnen, ist ein Tatbestand des geschichtlich-gesellschaftlichen Lebens, für den das Naturbild von Kräften, die 1
Vorliegender Aufsatz will und kann sein Thema nicht erschöpfen, sondern es nur anschneiden. Es wird kein Anspruch auf Vollständigkeit der Belege erhoben, doch beruhen die Ausführungen auf sehr viel breiterem Material, als vorgelegt werden kann. Ebensowenig ist Vollständigkeit der Gesichtspunkte angestrebt. Für den allgemeinen Hintergrund kann der Verfasser auf seine demnächst in Druck erscheinenden Untersuchungen zur deutschen Sozialgeschichte im Zeitalter der Aufklärung verweisen. - Klemperer , V., „Montesquieu" (Beitr. z. neueren Lit.gesch. VI, 1) Bd. 1 (1914) S. XII.
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in Anziehung und Abstoßung kausal - und grundsätzlich meßbar - aufeinander wirken, nicht ausreicht. [...] „In unseren Tagen haben die mutigen Brabanter ihre Stände und Rechte mit Macht gerettet. Ihre Mitbürger in Österreich scheinen [...] auch etwas tun zu wollen. Und in Frankreich wachen die Reichsstände, nach einem erquickenden Schlafe von 175 Jahren, der der eigentlichen Nation (dem Tiers État) Geist und Herz gestärkt hat, wieder auf. Das hat Montesquieu der Aufklärer getan!" So schrieb der Göttinger Professor und Publizist August Ludwig Schlözer 1788.2 Und ein Jahr später: „Die jetzige Revolution in Frankreich hat der Verfasser des ,Esprit des Lois4 eingeleitet [...]. Er lehrte, was jetzt jeder wirklich gelehrte Greis und Jüngling lehrt und unmittelbar schon Christus der Herr lehrte: kein Herodes, kein Kaiphas sollen ihre Mitmenschen kujonieren . Selbst wenn diese Sätze inhaltlich in allem unzutreffend wären, besagten sie doch etwas über die Einschätzung der Wirkungen des großen Franzosen durch Schlözer. Sie zeigen, in welchem Ideen- und Geschehenszusammenhang er sie sieht, und zwar mit einer Selbstverständlichkeit, die vermuten läßt, daß er nicht das Gefühl hat, etwas Bestreitbares zu sagen. Nun hat sicher gerade Schlözer nicht gezögert, seine Ansichten für unwiderlegbar zu halten; überdies sah er sich, als Aufklärer, mit Montesquieu in einer Front stehen. Man muß bezweifeln, ob allen Lesenden und Schreibenden im Deutschland von 1788/89 Montesquieus geistige Vaterschaft an der Revolution so eindeutig zutage lag wie ihm. Daß ihnen jedoch Montesquieu kein Unbekannter war und sie eine mehr oder weniger zutreffende Vorstellung von der Wirkung besaßen - wie sehr seine politischen Ideen Bestandteil des Denkens der Zeit geworden waren - , das bezeugen die Quellen. Π. Montesquieus Ruhm ist zunächst der des Schriftstellers gewesen: des Mannes, der die „Lettres Persanes" (1721) und „Le Temple de Gnide" (1724) geschrieben hatte - beides nach Inhalt und Form Werke im Geschmack der Zeit, deren Autor trotz seiner Anonymität nicht unbekannt blieb4, und des Mannes, der in den „Considérations sur les causes de la grandeur des Romains et de leur décadence" (1734) eines der großen Themen des europäischen geschichtlichpolitischen Denkens seit Augustin behandelt und „vielleicht neben Piranesis monumentalen Rom-Stichen überhaupt die wichtigste europäische Romdichtung des Jahrhunderts und eine der wirkungsvollsten Darstellungen vor Gibbons 2
„Staatsanzeigen" 12(1788)369.
3
Ebda. 13 (1789)469, Anm.
4 Die Montesquieuliteratur ist fast unüberschaubar. Hier sei nur die letzte Biographie genannt Shackleton, R., „Montesquieu. A Critical Biography" (1961). - Beste Ausgabe: „Œuvres Complètes de Montesquieu", pubi, sous la direction de M. André Masson, 3 vols. (1950-1955).
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umfassender Darstellung des römischen Untergangs"5 geschaffen hatte. Selbst „De l'esprit des lois" (1748), ein klassisches Werk der europäischen politischen Literatur, erschien seiner Zeit weniger als staatsrechtliche oder historische Abhandlung, denn als das Buch eines Philosophen, eines denkenden Kopfes, eines Schriftstellers, der einen der wenigen wirklich lohnenden Gegenstände des menschlichen Geistes: den Staat, seine Verfassung, seine Gesetze behandelt. Montesquieu war ein Mann von hoher Bildung, ja Erudition, die doch die Regeln des Geschmacks und die Anforderungen der Eleganz des Ausdrucks ernster zu nehmen gewohnt ist als das Gebot der Exaktheit und Vollständigkeit - ein Mann von Welt, in der das Politische wie bei den Alten im Mittelpunkt steht.6 Auch die Historie sah er unter dem weiteren Aspekt des Politischen, d. h. im Horizont der menschlich-gesellschaftlichen Welt. Alles Historische war ihm Beispiel, Demonstration menschlichen Handelns in seinen verschiedenen Formen, die jeweils durch Klima, Religion, Gesetze, Regierungsgrundsätze, Beispiele der Vergangenheit („exemples des choses passées"), Sitten und Gebräuche („manières") bestimmt sind.7 Geschichtliche. Erscheinungen als jeweils besondere Ausprägung der grundsätzlich gleichen Merischennatur in verschiedenen Zeitaltern und Räumen - in dieser Auffassung verband sich systematisches Denken mit der Freude am empirischen Befund, der Abneigung gegen bloße Abstraktion und dem aristokratischen Bedürfnis nach Unterscheidung. Von hier sind Impulse zur Ausbildung eines spezifischen historischen Denkens und einer organischen Staatsauffassung ausgegangen, die beide vor allem in Deutschland sich entfaltet haben - im Protest gegen die überkommene Schulwissenschaft. Trotz des Verzichts auf streng systematische Durchführung, trotz einer bewußt lockeren Form tritt der „Esprit" mit dem souveränen Anspruch auf, das Ganze des zu sagen Wichtigen zu enthalten. Der Verfasser ist zu fein, um sein weitgespanntes, aus unablässiger Lektüre und Beobachtung gewonnenes Wissen mit zahllosen Anmerkungen und fachlicher Polemik auszubreiten. Das Publikum, für das er schreibt, also die Philosophen, die hommes d'état , alle diejeni-
gen, die sich an den unendlichen Diskussionen über den Menschen und die Gestalt seiner Welt beteiligten - dieses Publikum hätte auf einen gelehrten Wälzer kaum angesprochea Der „Esprit" ist anders: er ist zugleich Kompendium und riesiger Essay, Handbuch für Regierende und schöngeistige Literatur für Damen, die sich in den Pariser Salons über das Wissen und den Geschmack, die Bildung und die Weltkenntnis des Autors unterhielten. Hier gab es so viel Fakten, daß die faktenhungrigen Leser des 18. Jahrhunderts begeistert waren, und so viel an Generalisierung und Reflexion, daß sie - ebenso diskussionsfreudig und räsonierend - sich lange dabei aufhalten konnten. Was ließ sich nicht alles 5 Rehm, W., „Europäische Romdichtung" ( 2 1960) S. 164 (Rehm weist auf die Wirkung der Considérations u. a. auf Heinse und Schiller hin; S. 182). 6 Vgl. Klemperer, S. 4: „Politik im weitesten Sinne könnte man, wenn es um ein immer einseitiges - Registeiwort ginge, das Lebensthema Montesquieus nennen."
7
„Esprit" XIX, 4.
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über eine der Hauptthesen Montesquieus, den entscheidenden Einfluß des Klimas, sagen? Und zwar gerade in einer Gesellschaft, die alle Nachrichten über den Orient oder die amerikanischen Wilden begierig aufnahm und einem modischen Exotismus verfallen war! Welch ein schier unbegrenztes Feld der Diskussion, des Vergleichs, der Kombination und des Zurschaustellens von Wissen bot nicht auch Montesquieus Zuordnung bestimmter moralischer Prinzipien zu bestimmten Staatsformen! Und dann die Form des „Esprit": die klare, nirgendwo prätentiöse Sprache, dagegen die gewollten Dunkelheiten der Gedankenführung, die kaschierte Systematik - kaum als politische Camouflage, viel mehr als literarischer Stil eines Mannes von geistiger Distinktion, der auf die unliterarische Plebs keine Rücksicht nimmt. So beruht die Wirkung Montesquieus zum einen auf dem literarischen und im Sinne der Zeit - philosophischen Charakter seines Œuvres und auf dem Vorhandensein eines Publikums, das dafür in besonders hohem Grade ansprechbar war. Zum anderen auf der Tatsache, daß die „Lettres persanes" und der „Esprit" bei ihrem Erscheinen als politische Kritik gelten mußten, die sich zwar in erster Linie gegen französische Verhältnisse richtete, doch so prinzipiell begründet war und in so allgemeine Folgerungen einmündete, daß man in ganz Europa auf sie reagierte. Was vor allem im „Esprit" über die Freiheit, ihre Bedingungen und Garantien, über die Gefahr des Despotismus, die Vorteile der beschränkten Monarchie, die Notwendigkeit der ständischen Zwischengewalten und der Dezentralisation der Gewalt und anderes mehr gesagt war - das mußte, wenn auch allgemein und gleichsam objektiv formuliert und meist an zeitlich oder räumlich fernliegenden Beispielen demonstriert, als Herausforderung an bestehende Verhältnisse gelesen werden, vor allem an den monarchischen Absolutismus, der seine Überzeugungskraft in Frankreich seit einem halben Jahrhundert zunehmend verloren hatte, aber auch im übrigen Europa neben der altständischen nun eine aufgeklärte Opposition erhielt. [...] Auch in Deutschland ist der Präsident Montesquieu (der doch schon 1726 die ein Jahrzehnt vorher von seinem Oheim ererbte Stelle eines Präsidenten des Parlaments von Bordeaux wieder verkauft hatte) schnell berühmt geworden. Zeitpunkt und Zahl der Übersetzungen semer Werke sind dafür kein genügender Gradmesser; denn sein Publikum war darauf nicht angewiesen, und an französischen Ausgaben war kein Mangel.8 So sind die „Lettres persanes" erst 1759 in deutscher Sprache erschienen. Dagegen legte Bielfeld schon 1742 eine Übersetzung der „Considérations" vor; eine zweite erschien 1786. Die meisten Übersetzungen erlebte die Prosadichtung und fiktive Übertragung aus dem Griechischen 8
Daß der „Esprit d e s Lois" 1751 vom Hl. Stuhl auf den Index der verbotenen Bücher gesetzt wurde (übrigens gleichzeitig mit Pufendorfs „De officio hominis"; vgl. Shackleton, S. 375), hat seine Verbreitung auch in vorwiegend katholischen Ländern nicht gehindert. Die Wiener Zensurkommission gab ihn 1752 frei (Vgl. Kann, R. Α., , A Study in Austrian Intellectual History. From Late Baroque to Romanticism". [1960] S. 124). Um diese Zeit war der „Esprit" schon ein europäischer Bestseller.
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„Le Tempie de Gnide"; 1750 kam sie zusammen mit Voltaires „Tempel des guten Geschmacks" auf den Büchermarkt; bis 1782 folgten vier weitere Übertragungen. Gleich zweimal erschien 1762 Montesquieus „Versuch über den Geschmack", der fragmentarische Enzyklopädie-Artikel. „De l'esprit des lois" lag bereits 1753 in deutscher Übersetzung vor, für die der Göttinger Professor Abraham Gotthilf Kästner verantwortlich zeichnete. Unbefriedigt über alle bisherigen Verdeutschungen des Wortes esprit und voller Sorge, unverständlich zu bleiben, wenn er es mit Geist übersetze, wählte er den Titel „Des Herrn von Montesquiou Werk von den Gesetzen oder von der Verhältniß, welche die Gesetze zu jeder Regierungsverfassung, den Sitten, dem Landstriche, der Religion, der Handlung usf. haben sollen [,..]".9 Als 1782 K. G. Schreiter und A. W. Hauswald eine zweite deutsche Übersetzung vorlegten, scheuten sie nicht mehr vor der Verwendung des Wortes Geist zurück. Eine weitere Übersetzung erschien 1785-1787 in Prag. Fast immer, wenn Montesquieu genannt wird, geschieht dies unter der Voraussetzung seiner Bekanntheit. Als Hamann 1754 „Idée du siècle présent réduit à 6 vrais auteurs" notierte, nannte er Gresset, Crébillon père, Trublet, Fontenelle, Montesquieu „et un auteur qu'on laisse à deviner".10 In seiner Eloge auf Montesquieu vor der Berliner Akademie 1755 rechtfertigte Maupertuis sein Tun: es sei zwar nicht üblich, auswärtige Mitglieder auf diese Art zu ehren, da es Sache ihrer eigenen Nationen sei, Lobreden auf sie zu halten; Montesquieu aber sei der ganzen Welt gegeben. Er, Maupertuis, werde demnach „von einem allgemeinen Guten reden, davon ein Teil auch uns zugehöret".11 „In dem ersten Rang der heutigen Schriftsteller" sieht man Montesquieu stehen12, eibhckt in ihm den „Adler unter allen französischen Verfassern" 13, ist überzeugt, daß eine Sammlung von „vertraulichen Briefen" aus seiner Feder keiner Empfehlung bedürfe 14. Der Übersetzer der Altenburger Ausgabe der „Considérations" von 1786 meint: „Was die Schrift selbst betrifft, so ist sie zu bekannt, als daß ich einleitungsweise viel zu ihr sagen dürfte; und der Name ihres berühmten Verfassers, welchen Frankreich bis zum heutigen Tage unter seine klassischen 9
Die Übersetzung ist recht unzulänglich und trägt die Zeichen zu schneller Arbeit ebenso wie unzureichenden Verstehens. - Die Namensschreibung Montesquiou ist zunächst häufig. 10
Hamann, J. G., „Sämtliche Werke", hrsg. von J. Nadler, Bd. 5 (1953) S. 145.
11
Maupertuis' Gedenkrede lag mir vor in einer deutschen Übersetzung, die den „Briefen des Herrn von Montesquieu an verschiedene Freunde in Italien [...]. Aus dem Französischen" (1768) beigegeben ist. 12
Teutschenbrunn, Johann Heumann von, „Geist der Gesetze der Teutschen" (1760), Vorrede, wieder aufgenommen in die 2. Aufl. von 1779. 13
Iselin, Isaak, „Philosophische und politische Versuche" (1760) S. 152. Der Schweizer Iselin war ein im ganzen deutschen Sprachbereich viel gelesener Schriftsteller. 14
,3riefe" (s. oben Anm. 11 ) Vorrede.
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Schriftsteller rechnet, sollte hinlänglich genug sein, um ihr überall eine günstige Aufnahme zu verschaffen". 15 Der Wiener F. J. Riedel stellt Montesquieu mit Winckelmann auf eine Stufe; was dieser für die Künste bedeute jener für die Gesetzgebung.16 Der „große Montesquieu"17, der „unsteibliche Montesquieu"18, „le célèbre Montesquieu"19 - das sind wiederkehrende gängige Wendungen. Für Wolfgang Heribert von Dalberg ist es sicher, daß sich dieser „große Schriftsteller" durch seine Werke „das Bürgerrecht bei allen aufgeklärten Nationen bereits erwoiben hat"20. Damit bestätigt er, was Maupertuis ein Menschenalter zuvor gesagt hatte. Und Wieland nennt in seinem Akademieplan Montesquieu und Shaftesbury als die einzigen neuzeitlichen Schriftsteller, deren Lektüre für den Unterricht obligatorisch ist.21 Sprach man in Deutschland in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts von Montesquieu, so meinte man zumeist den Verfasser des „Esprit"; hinter ihm trat der Verfasser der „Persischen Briefe" und der „Betrachtungen" mehr und mehr, seit der Französischen Revolution dann gänzlich zurück. Was die letztgenannten Werke an politischen Gedanken enthielten22, erschien - mit Recht - im „Esprit" aufgehoben und überhöht. Schon Maupertuis hatte sie als „Stufen zu diesem prächtigen Tempel" bezeichnet, den Montesquieu „der Glückseligkeit des ganzen menschlichen Geschlechts errichtete" 23. Der „Esprit" war gemeint, wenn man - so selbstverständlich, als handle es sich um ein Lehrbuch - der Montesquieu sagte. „Ich schlage soeben noch den Montesquieu wegen der Lycurgi-
15
Aus dem Vorbericht des Übersetzers.
16
In seiner Vorrede zu Winckelmanns „Geschichte der Kunst des Altertums" (Wien 1776) S. X I X ; zit. nach Winckelmann, Johann Joachim, „Briefe", hrsg. von W. Rehm, Bd. 3 (1956) S. 576. - Siehe auch den Brief Justus Mösers an F. Nicolai, Osnabrück, 5. April 1767 (,3riefe", hrsg.. von E. Beins und W. Pleister [1939] S. 234 f.): hier werden Winckelmann, Montesquieu und Abbt pari passu genannt. 17
So Ferd. v. Lamezan, „Skizze über die Gesetzgebung. I n Briefen". ( 1781 ) S. 76.
18
So Wolfg. Heribert v. Dalberg, (S. unten Anm. 20) Vorrede.
19
So Ew. Friedr. Graf v. Hertzberg , „Dissertation tendant à expliquer les causes de la supériorité des Germains sur les Romains [...]" (1780), in: „Huit Dissertations lues dans les assemblées publiques de l'Académie Royale des Sciences et Belles-Lettres de Berlin" (1787) S. 32. 20
Dalberg, „Montesquieu oder die unbekannte Wohlthat. Ein Schauspiel in drey Handlungen für die Mannheimer National-Schaubühne" (1787) Vorrede. 21
Vgl. Sengle, F., „Wieland" ( 1949) S. 96.
22
U m nur einen Beleg für die politische Beurteilung der „Considérations" zu geben: In dem Vorbericht der Altenburger Übersetzung von 1786 heißt es, Montesquieu habe „mehr politisch", Gibbon „mehr historisch" geschrieben; denn Montesquieu habe die historischen Fakten nur gebraucht, „um seine politischen Sätze anwendbar zu machen". Bekannt ist Friedrichs d. Gr. intensive Beschäftigung mit diesem Werk; vgl. Posner, M., „Die Montesquieu-Noten Friedrichs II." Hist. Zschr.. 47 (1882) 193 fT. 23
(s. oben Anm. 1 1 ) S . X V I I .
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sehen Gesetze nach", schrieb Justus Möser im Januar 1765 an Thomas Abbt, und einige Monate später empfahl er ihm, das Recht aus der Geschichte zu lernen, wie Montesquieu es getan habe.24 Schon hatte, in Deutschland beachtet, der dänische Dichter und Geschichtsschreiber Baron Holberg von dem „fameux ouvrage, qu'on regarde comme un ornement de notre siècle" gesprochen. „Je conviens avec ceux, qui estiment cet ouvrage et qui le regardent comme un chef d'oeuvre dans son espace"25 Und ein Jahr darauf stellte David Georg Strube in den „Hannöverschen gelehrten Anzeigen" fest: „Zu unseren Zeiten ist schwerlich ein Buch geschrieben, welches mehren Beifall gefunden als dasjenige, so der Präsident Montesquiou, unter dem Titel L'Esprit des Lois, ans Licht treten lassen"26. Für Hertzberg ist das Buch „ce célèbre ouvrage", durch das der für den menschlichen Geist (génie ) ebenso schwierige wie interessante Gegenstand, nämlich „la forme des gouvernements et quelle est la meilleure" sehr aufgehellt sei.27 Treffendster Beweis für die Hochschätzung des längst berühmten „Esprit": Am 23. April 1775 schreibt der Erzieher des Göttinger Studenten Karl Freiherr vom Stein an dessen Mutter in Nassau, der Herr Sohn bitte um die Erlaubnis, sich das Buch anzuschaffen. „Ich glaube nicht, daß es ihm wird abgeschlagen werden, da ihm dieses Buch immerhin nützlich sein wird und er nicht zu frühe anfangen kann, es zu studieren, weil er darin nie ausstudieren wird." 28 Wenn Hertzberg in derselben Abhandlung Aristoteles, Locke und Montesquieu nebeneinander nennt, in einer anderen die Werke von Montesquieu, Hume, Stewart, de Veri und Adam Smith in einen Zusammenhang stellt29, so zeigt sich damit der Umkreis an, in dem man den großen Franzosen zu sehen gewohnt ist. Isaak Iselin piaziert ihn neben Hume und Voltaire - freilich als Leute von gleicher Gefährlichkeit (noch über Machiavelli hinaus)30, und Claproth erwähnt ihn zugleich mit dem großen italienischen Juristen Cesare Beccaria, ohne beiden jedoch ihren Ruhm zu gönnen31. Aus seiner ungeheuren Lektüre 1769 in Frankreich nennt Herder dem Verleger und Freunde Hartknoch 24
„Briefe" (s. oben Anm. 16) S. 182 und 187.
25
Holberg, M. le Baron de, „Remarques sur quelques positions qui se trouvent dans L'Esprit des Loix" (1753) Vorwort und 514. und 518. Brief (keine Seitenzählung). 26
„Betrachtungen über das Buch L'Esprit des Loix genannt". Wieder abgedr. in: Strube, „Nebenstunden", 5. Teil (1766) S. 383 ff. 27
Akademierede über dieses Thema 1784, in: „Huit Dissertations" (s. oben Anm. 19) S. 141. 28 vom Stein, Freiherr, ,ßriefe und amtliche Schriften", bearb. von E. Botzenhart, neu hrsg. von W. Hubatsch, Bd. 1 (1957) S. 107. 29
„Sur la véritable richesse des états, la balance du commerce et celle du pouvoir" (1786), in: „Huit Dissertations" (s. oben Anm. 19) S. 224 f. 30 31
„Politischer Versuch über die Berathschlagung" (anonym, 1761 ) S. 85, Anm.
Claproth, Justus, „Ohnmaßgeblicher Entwurf eines Gesetzbuches, welches die Proceß-Ordnung, vom Privat-Recht das Recht der Personen und von der Policey-Ordnung das Dorf-Recht in sich hält" (1773) Vorrede.
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Voltaire und Fréron, Fontenelle und Montesquieu, d'Alembert und Rousseau.32 Auch der rhetorische Ausgriff in die Antike und damit auf die höchste Ebene des Vergleichs fehlt nicht: Maupertuis erkennt in Montesquieu einen der Weisen, die den Völkern Gesetze gegeben haben, „und diese Vergleichung wird weder dem Solon noch dem Lykurg zum Nachteil gereichen".33 Und für den jungen Johannes Müller, der in Montesquieus Schriften durch einen Schweizer Freund des Autors eingeführt wurde, stand dieser gleich mit Tacitus (und war Tacitus ein „römischer Montesquieu"). „Ist er nicht der Prophet, der Apollo Pythius der Gesetzgeber?"34 Die Reihe ließe sich fortsetzen. Das lesende und schreibende Publikum in Deutschland war sich über den Rang Montesquieus als eines politischen Schriftstellers einig; der „Esprit" gehörte als „unsterbliches Werk" 35 zum geistigen Gemeinbesitz. Das bezeugen Briefe, Werke und sonstige biographische Dokumente nicht nur von Juristen (wie Svarez), Kameralisten (wie Justi), Historikern (wie Johannes von Müller) und politischen Publizisten (wie Schlözer), sondern auch von Männern wie Abbt und Lessing, Wieland und Herder, Goethe und Schüler. Man kann behaupten, daß die Begegnung mit Montesquieus Werk mochten ihn auch viele nicht „Grund-Textmäßig studiert" haben, wie Friedrich Carl v. Moser mit Stolz von sich behauptet36 - in der Geschichte des politischen Denkens in Deutschland, schon vor der Französischen Revolution, Epoche gemacht hat. In welcher Weise? ΠΙ. Eine Untersuchung der Wirkung des politischen Schriftstellers Montesquieu im Deutschland des 18. Jahrhunderts muß ausgehen von der doppelten Tatsache einmal der strukturellen Einheitlichkeit des sozialen Gefüges und der Bildungswelt Europas, zum anderen des unterschiedlichen Verlaufs des geschichtlichen Prozesses, des voneinander abweichenden politischen Schicksals und auch der differenzierten geistigen Prägung der europäischen Völker. Als der „Esprit des Lois" erschien, erstaunlich schnell Verbreitung fand und schon bald im pro et contra diskutiert wurde, bestanden zwischen den politischen Zuständen in Frankreich und Deutschland erhebliche Unterschiede, die man nur in der allgemeinsten Erscheinung erfaßt, wenn man auf den Gegensatz von staatlicher und konfessioneller Einheit und Vielfalt hinweist. Auch das politische Denken blieb in Deutschland länger der Überlieferung verhaftet, bewegte sich im Umkreis 32 Brief aus Nantes, Oktober 1769; Herder, J. G. v.,,Lebensbild", hrsg. von E. G. v. Herder, Bd. II, 1 (1846) S. 80 f. 33
„Gedenkrede" (s. oben Anm. 11 ) S. XVIII.
34
Nach Bonjour , E., „Studien zu Johannes von Müller" (1957) S. 106 und 16.
35
So u. a. Helferich Peter Sturz, „Montesquieu und Lord Chesterfield", in: Schriften 2. Slg. (2. verb. Aufl. 1786) S. 323. 36
„Beherzigungen" (1761), S. 14.
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von universalistischer Reichstradition, fürstlichem Patriarchalismus und landschaftlichem Ständetum und folgte noch immer römisch-rechtlichen und philosophisch-naturrechtlichen Schultraditionen, die durch Christian Wolff noch einmal systematisch zusammengefaßt, durch Althusius, Pufendorf und Thomasius allerdings schon aufgelockert worden waren. Unabhängig von dieser gelehrten Beschäftigung mit dem Staate, den verschiedenen Regierungsformen, die noch immer nach dem aristotelischen Schema behandelt wurden, ferner mit Prinzenerziehung und Justizverbesserung, gab es nur geringes Interesse für das Politische. Die politische Publizistik stand in ihren moralistischen Anfangen; ein breiteres Publikum für die Diskussion politischer Fragen existierte noch nicht. Sie erfolgte deshalb fast ausschließlich im Kreise der Gelehrten, die ihrerseits sozial weit von der Sphäre des politischen Handelns, von der Welt der Regierung, Diplomatie und des Krieges entfernt lebten und in den Kategorien gelehrter Begriffsbildung dachten. Ihre gelehrte Kritik an einem Werke wie dem „Esprit" nahm sich freilich oft recht unzulänglich und beckmesserisch als „unbesonnene, kleinfügige deutsche Tadeleien"37 aus; der Anlage und dem Ziel dieses Werkes wurde man damit nicht gerecht. So ist denn solche Kritik, die sich schon bald meldete und gegen Unrichtigkeiten im Detail wandte, heute so gut wie vergessea Bezeichnend, daß die ersten Einwände sich auf Einzelheiten der Darstellung des Römischen Rechtes bezogen - wie ζ. B. 1750 in den „Anmerkungen über das französische Buch de l'Esprit des Lois" in der von J. A. Bach herausgegebene „Unpartheyischen Critik über Juristische Schriften inn- und außerhalb Deutschlands". Aus den Unrichtigkeiten „in Ansehung des Römischen Rechtes" sei zu entnehmen, daß die Gründe, auf die der Verfasser sich stütze, nicht die besten sein könnten, und man werde schließen können, daß zur Erklärung und Betrachtung der Gesetze, wenn sie auch nur (!) politisch ist, ein Räsonnement ohne rechte Kenntnis der Historie, des Staats, der Altertümer und der Sprache bei weitem nicht hinlänglich ist, wenn auch das Räsonnement noch so artig und witzig klingen sollte."38 Der berühmte Leipziger Professor und Rektor der Thomasschule Joh. Aug. Ernesti tadelte 1751 Montesquieus unzureichende Kenntnis der lateinischen Sprache und setzte einiges an seiner Darstellung der römischen Geschichte aus.39 Solche Stimmen können uns nicht länger beschäftigen. [...] Die Lektüre des „Esprit" und die Auseinandersetzung mit ihm sind auch in Deutschland eine
37 J. G. Herder in seinem Winckelmann-Aufsatz von 1781 über die Kritiker, die Winckelmanns Leben verbitterten. „Sämtl. Werke", hrsg. von B. Suphan, Bd. 15, S. 40. 38
Im 3. Stück des 2. Teüs (1750) S. 234; fortgesetzt im 5. Stück des 3. Teüs (1751) S. 427 ff. Verfasser dürfte Bach selber sein. 39
„Animadversiones philologicae in librum francicum de Causis Legum [...]" (1751). Diese Rede ist wiederabgedruckt in Ernesti, „Opuscula philologica critica" (1764).
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Schule des politischen (wie des juristischen40) Denkens gewesen. Man pries die Weite der Gedanken Montesquieus, aber man kritisierte auch ihre zu große Allgemeinheit oder Oberflächlichkeit, und die dies taten, waren keineswegs nur beschränkte Köpfe. „Montesquieu gleicht der schönsten Blume, die ich kenne; wenn man sie aber durchs Vergrößerungsglas betrachtet, so verliert sie ihre Schönheit. Er leidet keine Anatomie." So schrieb der ganz aufs Reale, das Konkret-Geschichtliche gerichtete Justus Moser.41 Und Friedrich Carl v. Moser, ein durch und durch unphilosophischer Kopf, aber bedeutender Jurist, politischer Moralist und mutiger Publizist, bekennt, daß es ihm bei aller Bewunderung des Tiefsinns Montesquieus so ergehe wie bei der Betrachtung eines Porträts von Rubens; „in der Natur" habe er noch kein Original gefunden, das die Kraft des Gemäldes erreiche. „Ich erstaune über den Umfang, welchen jener große Geist umfaßt, über die Tiefen, in welche er sich gewagt hat, die Fundamente der Weltreiche zu ergründen; ich koste mit geistiger Wollust die honigsüßen Lehren aus dem Munde dieses redlichen Menschenfreundes und erfreue mich über die Freimütigkeit des ehrlichen Mannes, des Untertanen eines Monarchen, ich erhebe mich auf seinen Schwingen über die Nebel der Vorurteile und meine: nun ist Raum um meinen Geist; ich schließe mein Buch, und siehe: ich war im Reich der Geister, der Möglichkeiten, im Land politischer Feen, ich fühle voll Unmut, daß ich mit ihm unter Römern, Griechen, Chinesen, Engländern und Franzosen gewesen und keine dieser Trachten zum teutschen Körper passe. - Das schönste Werk unserer Tage bleibt mir in der wirklichen Anwendung der Sätze nur allzu oft ein bloßer politischer Roman."42 Ohne schon jetzt auf Mosers Auseinandersetzung mit Montesquieu einzugehen - sie gehört zu den wichtigen Vorgängen der Geschichte des deutschen politischen Bewußtseins im 18. Jahrhundert! - , halten wir hier nur das Argument fest, die Gedanken des „Esprit" seien auf den Einzelfall, und hier zumal auf Deutschland unanwendbar. Es ist dies eine Kritik, die in vielfaltiger Form, unter andern von Herder 43, vorgebracht wurde und zugleich vor die Notwendigkeit stellte, den Einzelfall, also den Geist der Gesetze der Deutschen, zu beschreiben. 40
Vgl. Thieme, H., „Die Zeit des späten Naturrechts. Eine privatrechtsgeschichtliche Studie". Z. Savigny-Stift. Rechtsgesch., german. Abt. 56 (1936) 212. 41
A n Th. Abbt, Anfang Juni 1764, „Briefe", S. 152. - Vgl. auch den Brief von Anfang Januar 1765, an denselben, ebda. S. 182, und an Nicolai vom 18. Mai 1767; ebda. S. 235: „Es gibt mehrere Arten von Antiken als diejenigen, welche Herr Winckelmann zu seinem Gegenstande erwählt; ich meine diejenigen, welche Montesquieu in ein großes und vortreffliches Gemälde gefügt hat, ohne gleichwohl eine einzige einzelne Figur mit dem gehörigen Fleiße und der erforderlichen Treue behandelt zu haben." 42
,3eherzigungen" S. 14 f. Oder auch, gelehrtenstolz und systemeifrig, J. H. G. v. Justi, („Ges. Polit, u. Finanzschriften" I I [1761] S. 4): „Der Herr von Montesquieu, dessen schöner Geist an großen und edlen Vorstellungen sehr fruchtbar war, hatte nicht die Eigenschaft, seine allgemeinen Vorstellungen wohl auseinanderzusetzen." 43
Siehe weiter unten [Anm. 97 ff.].
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Eines der ersten und veibreitetsten Bedenkenrichtete sich gegen Montesquieus Klimatheorie und - im Zusammenhang damit - gegen die Zuordnung bestimmter moralischer Eigenschaften zu den verschiedenen Regierungsformen. Man erblickte darin eine Determination, die den einen zu naturhaft und zu wenig geschichtlich, den anderen zu künstlich und spekulativ war. In der Tat waren die staatlichen Zustände Deutschlands, die in ihrer bunten Vielfalt nur historisch begriffen werden konnten, dazu angetan, an der Möglichkeit und Berechtigung jeder systematischen Begründung der Verschiedenheit von Verfassungsformen zweifeln zu lassen. Schon der erste deutsche Übersetzer des „Esprit", der Mathematiker Kästner, tadelte, daß sein Verfasser den Grund für die unterschiedliche Beschaffenheit der Staaten „aus der Naturlehre hervorgeholt" habe. Vielmehr sollten sich die Gesetze nach der „Beschaffenheit eines Volkes, sowohl was den Körper als die Seele betrifft", richten; beide wiederum seien bestimmt durch Lebensart und räumliche Verhältnisse, auf welche allerdings „der Himmelsstrich und die Lage des Aufenthaltes" großen Einfluß ausübten.44 Auch die in Deutschland bald bekannt werdende Kritik Holbergs aus demselben Jahr betont, „que la différence qui se trouve entre les nations par rapport à la vertu et à la bravoure ne vient pas de l'air, de la nourriture ou de la qualité de la terre; mais qu'on la doit attribuer aux lois et à l'éducation, et que les arguments de ceux, qui soutiennent le contraire ne sont d'aucun poids."45 Ein anderer Kritiker, der Göttinger Jurist Justus Claproth, stellte unter Berufung auf Cicero gar apodiktisch fest, es sei gleichgültig, unter welchem „Himmelsstrich" ein Gesetzbuch gemacht werde, „weil Recht und Billigkeit auf dem ganzen Erdboden nicht verschieden ist", statt dessen komme bei der Gesetzgebung alles auf Erziehung, Religion und „Staats-Klugheit" an.46 Doch ist diese vollständige Ablehnung der Klimatheorie ebensowenig charakteristisch wie ihre gelehrte und staatspatriotische Aufnahme zur Begründung der Überlegenheit der Deutschen, die man bei Hertzberg antrifft. Zustimmend referiert er die Grundgedanken des 14. Buches des „Esprit" vor der Berliner Akademie und fügt hinzu, ein Einwohner (indigène ) des Nordens und der preußischen Staaten könne sie nicht lesen, ohne ihnen zuzustimmen. Er,JHertzberg, könne sich an dieser Stelle nicht in die Diskussion einlassen über „cette célèbre question de l'opinion de Montesquieu", der man vor allem entgegenhalte, daß sie nur das Ergebnis eines Systems sei, „auquel on se plaisait d'appliquer et de rapporter les observations et les raisons qui peuvent flatter l'amour propre d'une nation ou d'un auteur; mais du moins il me paraît qu'on peut et doit adopter et ne pas rejeter un système dans lequel les effets répondent aux causes par une juste combinaison et par des observations constatées et bien liées. - Si un raisonnement acquiert un degré d'évidence par des observations réitérées et sui44
Aus der Vorrede der Übersetzung des „Esprit" von 1753 (s. oben [Anm. 9]).
45
„Remarques" (s. oben Anm. 25).
46
„Entwurf 4 (s. oben Anm. 31).
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vies, on peut dire que l'opinion de M. de Montesquieu sur la supériorité du climat et du caractère septentrional est appuyée par l'expérience de tous les siècles, principalement à l'égard des nations de la Germanie et du Nord de cet Empire."47 Von größerer Bedeutung als solche gelehrt-patriotische Nutzbarmachung Montesquieus war es, daß man weithin auf seine Grundthese einging: daß nämlich die Gesetze, d. h. im allgemeinsten Sinne die politische Verfassimg eines Staates mit seinen jeweiligen besonderen Bedingungen in Übereinstimmung stehe oder doch stehen müsse. Man diskutierte diese These in allen Richtungen, modifizierte ihre Begründung und Durchführung und übertrug sie als Hypothese auf vergangene und gegenwärtige Verhältnisse. Man nahm auch die Frage nach dem Geist der Gesetze auf - also nach dem Gemeinsamen, dem Zusammenhaltenden und Bewegenden im Ensemble von naturhaften und geistigen, sozialen und politischen, rationalen und irrationalen Elementen, die die Realität der politischen Verfassung eines Volkes in einer Zeit bestimmen und prägen. Wie in Frankreich seit dem späten 17. Jahrhundert, vor allem aber seit Voltaire und Montesquieu die Frage nach dem Geist geschichtlicher Gebilde aufgeworfen, ja zur Mode wurde, so auch in Deutschland seit den späten 1750er Jahren. Kein Zweifel, daß Montesquieus Hauptwerk auslösendes Moment für den schnell grassierenden Gebrauch des Begriffs Geist in diesem umfassenden Sinne gewesen ist. Nationalgeist, Volksgeist, Zeitgeist wurden zu Zentralbegriffen, deren Bedeutungsgehalt sich ständig erweiterte. So trifft man denn in fast allen Werken der politischen Philosophie, in fast allen Schriften über Verfassung und Gesetzgebung direkt oder indirekt auf Montesquieu. In seinen Spuren wandelte Johann David Michaelis bei der Beschreibung des Mosaischen Rechts ,48 „Wer über die Gesetze philosophieren und, um mit einem einzigen Namen mehr zu sagen als ich durch erne lange Umschreibung deutlich machen kann, wer mit dem Auge eines Montesquieu die Gesetze ansehen will", dem sei die Kenntnis anderer, möglichst weit entfernter Völker nützlich; andernfalls erscheine ihm manches als „notwendig", „was doch bei anderen Umständen anders sein muß: das Willkürliche des Rechts, das nach jedem Himmelsstrich und nach hundert andern Umständen Veränderliche der gesetzgebenden Klugheit, fallt ihm nicht in die Augen."49 Sollen Gesetze gut sein, so müssen sie den jeweils besonderen „Umständen des Volks" entspre-
47
, Akademierede" 1780 (s. oben Anm. 19). Vollständiger Titel: „Dissertation tendant à expliquer les causes de la supériorité des Germains sur les Romains et à prouver que le Nord de la Germanie ou Teutonie entre le Rhin et la Vistule, et principalement la présente Monarchie Prusienne, est la patrie originaire de ces Nations héroïques, qui dans la fameuse migration des peuples ont détruit l'Empire Romain, et qui ont fondé et peuplé les principales monarchies de l'Europe", in: „Huit Dissertations", S. 32 ff. 48
In 6 Teilen, 1770-74.
49
Ebda. I, S. 2.
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chen, für das sie bestimmt sind.50 Unter diesen nennt Michaelis mit Berufung auf Montesquieu zuerst den „Himmelsstrich", dann die Fruchtbarkeit des Landes, seine geographische Lage, Macht und politische Verhältnisse der Nachbarn, Lebensart der Menschen, ferner den „Anfang des Staates", die Auffassungen des Volkes von Ehre, Schande, Strafe, reinen Sitten, Verbrechen, Krankheiten, schließlich das „System des übrigen Rechts". Weiter rückt der anonyme Verfasser des „Entwurfs der allgemeinen Grundsätze der Gesetzgebung" (1777) von Montesquieu ab. Die „Hauptverschiedenheiten", nach denen sich die Gesetzgebung zu richten habe, sieht er in der moralischen, „intellektualistischen" und physischen Beschaffenheit der Völker, ihrer Nahrungs- und Lebensart, ferner in der Beschaffenheit des jeweiligen Landes, des Klimas und in den schon vorhandenen und nicht abzuändernden Gesetzen.51 Anthropologische, moralische, geistige und historisch-politische Bestimmungselemente waren gleich- und vorrangig zu den „natürlichen" (Klima) getreten. Dabei verließ man die längst steril gewordene, auf Aristoteles zurückreichende Verfassungstypologie und betrat, wenn auch oft noch zögernd, den Weg zur individualisierenden, historischen Erklärung der jeweiligen Verfassungsverhältnisse. IV. Ausdruck dieser Verfassungsverhältnisse sind - das hatte Montesquieu zum Ausgangspunkt und zum Beweisziel seines „Esprit" genommen - die „lois politiques et civiles"; sie sind die Wirklichkeit einer verfaßten politischen Gesellschaft. Nach der Regierungsform einer solchen Gesellschaft fragen, heißt nach den in ihr geltenden Gesetzen fragen. [...] Und schließlich sind die Anregungen Montesquieus auch aus der Diskussion über den teutschen Nationalgeist, über das Wesen teutscher Freiheit und das Reich als Garanten dieser Freiheit nicht fortzudenken. Alle diese Wirkungen haben sich vielfach verknüpft und überschnitten. Will man ihnen nachgehen, so mag eine Schrift aus dem Jahre 1760 mit dem Titel „Geist der Gesetze der Teutschen" als Einsatzpunkt dienen52, deren Verfasser der Altdorfer Jurist Johann Heumann war. Seine Feststellung: wer sich einige Zeit zuvor in die Gesellschaften der „feineren Welt" wagte, habe in der Lage sein müssen, über den Geist der Gesetze zu sprechen, wirft noch einmal ein Schlaglicht auf die rasche Breitenwirkung des „Esprit" in Deutschland. Er war Mode geworden - weil er, wie Heumann meinte, die an sich alte Sache, über die er sprach, in „neuer Einkleidung" geboten, auch sie „im Allgemeinen" 50 Ebda. I, S. 23 ff. - Ausdrücklich Π, S. 181 : nicht alles hänge vom Klima ab, „sondern noch mehreres vom Zufall". Auch könnten „altes Herkommen oder Religion" einen starken Einfluß auf das Recht haben. 51
S. 97 ff.
52
S. oben Anm. 12.
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behandelt habe. Um Montesquieu jedoch wirklich fruchtbar zu machen, müsse man seine Grundsätze auf einen einzelnen „Staat" anwenden.53 Für Heumann, wie überhaupt für das 18. Jahrhundert, bestand kein Zweifel, daß das Reich ein 54 Staat sei: der Staat der Deutschen, „eines der Freiheit ganz ergebenen Volkes". Die Form dieses Staats sei zwar ungewöhnlich, aber man müsse sie als diejenige einer „eingeschränkten Monarchie" bezeichnen, in der die „Verwaltung der Majestätsrechte" (nicht „die Majestät selbst") „nach den Reichsgrundgesetzen verteilt" sei.55 Nicht nur werden also im Anschluß an Montesquieus Wort von der Heimat der Freiheit in den Wäldern Germaniens und zugleich an gelehrthumanistische Traditionen die „Teutschen" mit den Germanen gleichgesetzt Heumann versucht auch, die Verfassung des Reiches mit Begriffen Montesquieus zu fassen und zu rechtfertigen, ja ihm die beiden, gerade durch Montesquieu zu hohem Ansehen gekommenen Eigenschaften zuzusprechen: beschränkte Monarchie zu sein und durch Gewaltenteilung gegen Despotismus gefeit zu sein. Für den hier zutage tretenden Nationalsinn und Reichspatriotismus bedeutete Montesquieus Zuordnung bestimmter moralischer Triebfedern zu den einzelnen Regierungsformen eine Herausforderung, und diese traf überdies zusammen mit dem vieltönigen Lob der britischen und noch mehr der schweizerischen Freiheit. Gegen die Inanspruchnahme der Tugend, nämlich der Liebe zu den Gesetzen und zum Vaterland, für die republikanische, der Ehre für die monarchische (und der Furcht für die despotische) Regierungsform schreibt Heumann: „In einer jeden Regierungsform soll die Tugend die Triebfeder sein und von der Ehre begleitet sein."56 Montesquieus politischem Begriff der honneur wird, wie es gleichzeitig Möser und Abbt taten, ein als spezifisch deutsch angesehener ständischer Ehrbegriff entgegengehalten, nicht über den Stand hinaus, sondern nach Stand und „Verdienst" könne ein jeder seine Ehre empfinden, und zwar in „demokratischen" Reichsstädten ebenso wie in Monarchien; hier wie dort sei tatsächlich jene patriotische Tugend anzutreffen. 57 Dies für die Monarchie nachzuweisen, ist das Ziel der bewunderten Schrift Thomas Abbts „Vom Tod fürs Vaterland" (1761).58 Ohne Montesquieu direkt zu nennen, polemisiert Abbt gegen ihn, wenn er zu erweisen sucht, daß man in einer „gut eingerichteten Monarchie" ein Vaterland sehen dürfe und die Ansicht, nur ein Republikaner könne auf sein Vaterland stolz sein, nicht - oder nicht mehr - gelte. „Die Einrichtung der Monarchie schließt die Liebe zum Vaterland ebensowenig aus, als sie in einer Republik beständig in gleichem Grade 53
Aus der Vorrede der 1. Aufl.
54
Ebda. S. 64.
55
Ebda. S. 66.
56
Ebda. S. 69.
57
Ebda. S. 75.
58
Hier zitiert nach Abbt, „Vermischte Schriften" I I ( 1770) S. 3 ff.
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vorhanden ist." 59 Zwar sei in den Monarchien die Einteilung in Stände nötig, wenn aber in ihr „ein allgemeines Bestes" stattfinde, könne es in ihr auch nur eine politische Tugend geben. So gesehen, verschwänden alle Unterschiede vor der allgemeinen Eigenschaft des „Bürgers"; wie in der „freiesten Republik" sei in der Monarchie jeder Untertan Bürger, jeder sei den Gesetzen unterworfen; niemand sei schlechthin frei, aber jeder sei frei „nach dem Geist der Staatsverfassung, darin er lebt".60 Es ist das friderizianische Preußen des Siebenjährigen Krieges, das den geborenen Reichsstädter Abbt die Monarchie als sein Vaterland hat erleben lassen, für das er patriotische Liebe bis zur Hingabe des Lebens verlangte. Sein staik aus den antiken Geschichtsschreibern schöpfender gelehrter Patriotismus hatte einen realen Anhalt in der eigenen Zeit gefunden, und zwar an einer militärischen Monarchie. Wie für Heumann galt auch für ihn, daß Vaterlandshebe und Ehre eng verknüpft seien; zwar sei der Adel am meisten durch die Ehre angetrieben, doch auch für den in niedrigstem Stande Geborenen könne die Ehre Antrieb seia 61 Auch das glaubte er in Preußen bewiesen. - Anders Friedrich Carl von Moser. Überzeugt, daß dem „militärischen Staatsrecht", für das Preußen den Musterfall biete, wesentliche Schuld am Niedergang von Reich und Reichsbewußtsein zukomme62, gewarnt durch schlechte Erfahrungen mit fürstlichen Herren, Moralist und Pietist, Vertreter eines auf das Reich bezogenen deutschen Patriotismus, beurteilte er seine eigene Gegenwart düster und wollte durch die Beschreibung des deutschen Mangels wirken. In der Tat traf sein Büchlein „Von dem Deutschen national-Geist" (1765) einen allergischen Punkt des deutschen Selbstverständnisses. Es im einzelnen zu analysieren und die anschließende Debatte zu verfolgen, würde die Frage nach den Wirkungen Montesquieus weit überschreiten; unverkennbar stand jedoch auch hier der „Esprit des Lois" mit im Hintergrund. Schon der zum Schlagwort werdende Begriff Nationalgeist dürfte an Montesquieu und Voltaire anknüpfen. 63 Die Herausforderung, auf die das Buch antworten wollte, ging allerdings von schweizerischen Schriftstellern, wie Isaak Iselin und Johann Georg Zimmermann, aus. Der letztere hatte 1758 den Deutschen den Nationalstolz bestritten und ihn vor allem für Republikaner in Anspruch genommen.64 Abbt hatte mit einem Plädoyer für Preußen, wo der Monarch und der Krieg die Untertanen mit nationalem Eifer erfüllte, entgegnet; Moser stellt den Deutschen das Wunderbare der Verfassung des Reiches in ihrer idealen Gestalt als vollkommenen Ausdruck des deutschen 59
Ebda. S. 1 f.
60
Ebda. S. 61.
61
Ebda. S. 79.
62
„Nationalgeist" S. 42.
63
Vgl. Meinecke, F., „Weltbürgertum und Nationalstaat" (Werke V), hrsg. von H. Herzfeld (1962) S. 30 f. 64
„Über den Nationalstolz" ( 1758); in weiteren Auflagen zum Teil stark verändert.
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Nationalgeistes und Verwirklichung der deutschen Freiheit vor und erinnert an die „weise Mäßigung in dem Gleichgewicht der befehlenden und vollziehenden Macht", an den „unschätzbaren Wert und Wichtigkeit unserer Gesetze" und das „allgemeine Interesse aller Stände, über denselben zu halten", und an die „mächtige Triebfeder, die herzrührenden Lehren von der Liebe des Vaterlandes", die freüich bei den Deutschen im Unterschied zu Briten, Schweizern und Niederländern erloschen sei.65 Nicht, weü sie dem Geist der deutschen Gesetze widersprochen hätte, sondern gerade infolge des Eindringens eines fremden Geistes und letztlich des Versagens der Menschen! In der kontroversen Debatte um Mosers Buch, im Grunde um die in ihm behandelte Sache selber, konnte der Begriff des Nationalgeistes sowohl weit über den politischen Bereich hinaus ausgedehnt (J. J. Bülau66) als auch ganz von ihm abgelöst werden (F. C. C. v. Creutz67); er begann zu wuchern und zum Verständigungszeichen in der politischen Diskussion der Zeit zu werden, in der sich ein neues politisches Nationalbewußtsein der Deutschen auszubilden begann. In dieser Diskussion läßt ein Titel von 1766 aufhorchen: „Der wahre Geist der Gesäze".68 Auch diese Schrift handelt über die deutsche Freiheit; der Zusammenhang Montesquieuscher Gedanken mit den Bemühungen um den deutschen Nationalgeist, die deutsche Freiheit, mit dem betonten Hervortreten des Staatsund Reichspatriotismus in Deutschland wird hier ganz handgreiflich. Für den Verfasser - es ist Creutz! - ist die Bewahrung von Sitte, Sprache, Rechten wichtiger als äußere Unabhängigkeit der Staaten und ihre Regierungsform. Ist die Gewalt der Regierung eine gesetzmäßige, so tue es der Freiheit keinen Abbruch, wenn die Gewalt in den Händen eines Alleinherrschers hege. V. Selbstverständlich ist diese Diskussion nicht von Montesquieu allein ausgelöst worden. Das gelehrte Interesse an der altdeutschen Freiheit war humanistisches Erbe; Hermann Conring hatte sie als Wesen deutscher Verfassung angesprochen, Pufendorf daran, freilich sehr nüchtern, angeknüpft. Dreißigjähriger Krieg, Kampf um den Umfang von kaiserlicher Gewalt und reichsständischer Libertät, hatten die Frage nach der Eigenart der deutschen Verfassung noch einmal akut werden lassen und Pufendorfs berühmte Antwort hervorge-
65
„Nationalgeist" S. 19 f.
66
Bülau, „Noch etwas zum Deutschen Nationalgeist" ( 1767).
67
Creutz, v., „Versuch einer pragmatischen Geschichte von der merkwürdigen Zusammenkunft des teutschen Nationalgeistes mit den politischen Kleinigkeiten [...]" (1766). 68 Bereits 1752 war bei C. F. Voss (Berlin/Potsdam) eine Schrift,,La source, la force et le véritable esprit des lois" des Comte Jean de Cataneo (Giovanni Cattaneo) erschienen, aus der Justi Teüe übersetzt hat („Ges. Polit, u. Finanzschriften" I I [s. oben Anm. 42] S. 95 ff. und 190 ff.).
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bracht: „monstro simile". Lob und Tadel des Reiches, Klage über seinen Verfall, Gleichsetzung deutscher Freiheit mit ständischer Libertät, Interpretation des Dualismus von Kaiser und Reich, von Landesherren und Landständen als Beschränkung der monarchischen Gewalt - das gab es schon vor Montesquieu.69 Seit Montesquieu jedoch ist es fast immer in irgendeiner Weise durch seine Gedanken bestätigt, akzentuiert, verändert, geformt. Man darf wohl überall dort, wo nun über die Unterschiede der Regierungsformen, über die Gesetzgebung, über politische Freiheit und ihre Sicherung geredet und geschrieben wurde, den „Esprit des Lois" voraussetzen, wenn auch nicht immer als direkt bekannt oder gar verstanden! Dabei ist bemerkenswert, daß sich ebenso Vertreter des Reichs- wie des Staatspatriotismus, des regional-ständischen Wesens wie der landesherrlichen Souveränität auf ihn berufen haben. Doch ist diese Wirkung nicht verwunderlich; denn Montesquieu ist weder ein Revolutionär gewesen noch - zumal in Deutschland - als ein solcher gelesen worden, sondern ein aristokratischer, an antiken Schriftstellern gebildeter Feind des Despotismus. Aus den Überlieferungen seines Standes, der noblesse de robe , ein Mann der ständischen Opposition gegen den monarchischen Absolutismus, sah er die Freiheit als unausweichli70 ches Kriterium für alles das an, was an einer Verfassung gut ist. „La liberté politique ne se trouve que dans les gouvernements modérés" (XI, 4): diese Bestimmung fand auf Aristokratie und Demokratie nur begrenzte Anwendung, da sie nicht von Natur frei seien; voll dagegen auf die Monarchie, die Montesquieu - trotz des Lobes der antiken Republik - für seine Gegenwart als die beste Staatsform ansah. Für die Realität der Freiheit nun sei es entscheidend, daß die Regierungsgewalt nicht mißbraucht werde, sondern Macht die Macht begrenze. Das große Beispiel dafür biete die englische Nation, die die politische Freiheit zum direkten Gegenstand der Verfassung habe, und zwar durch das Mittel der Aufteilung der Gewalt. Bekanntlich ist die an der englischen Verfassung - systematisierend und abstrahierend - entwickelte Gewaltenteilungslehre das Kernstück der weltgeschichtlichen Wirkung Montesquieus geworden. Bis heute ist sie selbstverständlich mit seinem Namen verknüpft und gibt das Stichwort für die Einordnung des „Esprit des Lois". Das aber war nicht immer so! Wenn jüngst bemerkt worden ist, „daß gerade die vielberufene Teilung der Gewalten in eine legislative, exekutive und jurisdiktioneile bei Schiller überhaupt keine Rolle spielt, es sei denn als heuristisches Prinzip der Auslegung historischer Verfassungsformen"71, so trifft dieser Befund keineswegs für den Dichter allein zu. In der poli69
Vgl. Höhle, E., „Die Idee einer altgermanischen Freiheit vor Montesquieu". Hist. Zschr.. Beiheft 5 (1925). 70 Raumer, K. v., „Absoluter Staat, korporative Libertät, persönliche Freiheit". Hist. Zschr. 183(1957)55. 71 Wiese, B. v., „Friedrich Schüler" (1959) S. 336.
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tischen Wirklichkeit Deutschlands im späteren 18. Jahrhundert fand die Gewaltenteilungslehre keine oder nur bedingte Anhaltspunkte. Wohl nahm man vielfach Montesquieus Interpretation der englischen Verfassung an; sie wurde wesentlicher Bestandteil der für die Zeit charakteristischen Anglomanie. Ebenso wurde die Unterscheidung zwischen gesetzgebender und vollziehender Gewalt als theoretisches Prinzip oft akzeptiert. Sie wurde zum Bestandteil der staatsrechtlich-politischen Terminologie und zum Element der Verfassungslehre, ohne daß allerdings dieselben Folgerungen daraus hergeleitet worden wären abgesehen von der durchgehenden Ablehnung der Despotie. Ohne Rücksicht darauf, ob König, adlige Körperschaft oder bürgerliche Oberschicht („élite de citoyens") an der Spitze stehen, sind für Chr. W. Dohm (1780) nur diejenigen Staatenfrei, in denen legislative und exekutive Gewalt geteilt sind72: eme Feststellung, die, auf die Alten angewandt, freilich akademisch und gleichsam unpolitisch bleibt. Graf Hertzberg sucht die Gewaltenteilung dem preußischen Staat zu vindizieren, F. C. v. Moser und andere, sie in der Reichsverfassung zu entdecken. Unveikennbar ist das Bemühen, durch den Nachweis einer Art von Gewaltenteilung jeweüs gegebenen Verfassungsverhältnissen einen freiheitlichen Charakter zuzusprechen. Doch gab es auch Stimmen - so etwa diejenige des Physiokraten Jacob Mauvillon - , die die Teilung der beiden Gewalten (die dritte, jurisdiktionelle, spielt auch bei Montesquieu eme untergeordnete Rolle) auch dort, wo sie bestand, für zufällig und unwichtig eiklärten.73 J. H. G. v. Justi sprach wohl von Teilung und Gleichgewicht der Gewalten, war jedoch von ihren Segnungen nicht überzeugt. „Ich zweifle sehr, daß ein einzig Volk überzeugend beweisen kann, daß es durch die Einschränkung der königlichen Gewalt etwas gewonnen hat." Statt dessen hätten kleine Gruppen - hier kommt die Abneigung der Zeit vor Oligarchien zum Ausdruck! - die Gelegenheit erhalten, ihren Ehrgeiz zu befriedigen oder gar Tyrannen zu werden, während der Staat in Untätigkeit und Verwirrung geriet. Selbst England habe keinen großen Vorteil von seiner Verfassung gehabt, obwohl sie „vielleicht die weiseste ist, welche die Menschen erfinden können, wenn sie sich nicht uneingeschränkt der Wülkür der Könige überlassen wollen." Justis eigener Vorschlag verfolgt einen dritten Weg: die Völker mögen den Königen die uneingeschränkte Gewalt lassen, „aber sie in solche Umstände setzen und ihnen solche Triebfedern geben, daß sie aus eigener Bewegung alle ihre Kräfte anwenden, um mit Güte und Weisheit zu herrschen und ihre Völker glücklich zu machen."74 Das ist praktisch das Programm
72
„Mémoire sur la Constitution Politique des Anciennes Nations4', in: Mémoires de la Société des Antiques de Cassel 1 1780 S. 209 ff. 73
„Sammlung von Aufsätzen über Gegenstände aus der Staatskunst, Staatswirthschaft und neuesten Staatengeschichte" 1 (1776) S. 184. Mauvillon stand England kritisch gegenüber und nahm Montesquieus Darstellung der englischen Verfassung nicht an. 74
Justi, „Vergleichungen der Europäischen mit den Asiatischen und andern vermeintlich Barbarischen Regierungen, in drey Büchern verfaßt" (1762) 1, S. 6 ff. Auch: „Grundriß einer guten Regierung" (1759) und „Die Natur und das Wesen der
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eines benevolenten Absolutismus! - An eine volle Verwirklichung der Gewaltenteilung nach englischem Muster (oder was man dafür hielt) hat niemand gedacht. Man war weithin davon überzeugt (und konnte sich wiederum auf Montesquieu berufen), daß jeder Staat seinen „besonderen Plan" habe, „wonach er seine Glückseligkeit fördert" 75. Oder mit den Worten Joh. Jac. Mosers (1746): „Jedes Land hat seine eigene Regierungsform. England muß auf englisch, Deutschland auf deutsch und Württemberg nach dessen althergebrachter Verfassung regiert werden."76 Wichtiger geworden als die spezifische Gewaltenteilungslehre ist Montesquieus Lob der beschränkten Monarchie, d. h. der Monarchie, die nicht despotisch regiert wird; denn hier fanden sich Anknüpfungspunkte in der deutschen Wirklichkeit - , und zwar ebenso im Blick auf das politische Ständewesen wie auf den aufgeklärten Absolutismus. Sowohl die Verteidiger des ständischen Charakters des Reiches und der ständischen Institutionen in den einzelnen Staaten als auch die Fürsprecher der aufgeklärten Herrschergewalt konnten sich auf den „Esprit" berufen; beide konnten auf Beschränkungen hinweisen; beide die Notwendigkeit von pouvoirs intermédiaires anerkennen, die Montesquieu als notwendige Elemente der funktionierenden, nicht-despotischen Monarchie bezeichnet hatte. Erwähnt wurde bereits Heumanns Ansicht, Teutschland sei eine eingeschränkte Monarchie mit aufgeteilter Verwaltung der Majestätsrechte. J. St. Pütter stimmte dem zu77 und konstatierte eine grundsätzliche Übereinstimmung der Verhältnisse Kaiser / Reichsstände, Landesherr / Landstände und König / Parlament in England. Deshalb zögert er nicht, die deutschen Landstände dort, wo Entscheidungen über die „gemeine Landesverfassung" betreffende Angelegenheiten nur von Landesherren und Landständen gemeinsam gefällt werden können - als „Repräsentanten" der gesamten Bevölkerung78, auch als „Parlament" zu bezeichnen79 und ihnen ein „Mitregierungsrecht" zuzusprechen80, das ihnen nicht lange vorher selbst Joh. Jac. Moser, der große Verfechter des alten Rechts der württembergischen Landschaft, bestritten hatte. Hier ist etwas Staaten" (1760); ferner „Ges. Polit, u. Finanzschriften" Π (s. oben Anm. 42) S. 3 ff. „Abhandlung von der Anordnung und dem Gleichgewichte der Hauptzweige der obersten Gewalt, worauf die Glückseligkeit und Freiheit des Staats hauptsächlich ankommt". 75
Georgi , Eberh. Friedr, „Versuch einer Beantwortung der Frage: Sind scharfe Gesetze einem Staate zuträglich?" (1779), zit. nach Hölzle, „Das alte Recht und die Revolution" (1931) S. 79. 76
A n Herzog Karl Eugen; zit. nach Höhle S. 43, Anm. 3.
77
,ßeyträge zum Teutschen Staats- und Fürsten-Rechte" (1777) S. 87: „[...] daß die Regierungsform des Teutschen Reichs im Ganzen noch immer monarchisch, nur freüich eingeschränkt, nicht absolut monarchisch sei". 78
Ebda. S. 183.
79
Ebda. S. 34.
80
Ebda. S. 183.
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von der politischen Aufwertung der Stände erkennbar, die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erfolgte - nicht ohne Einwirkung Montesquieus und seiner Feststellung, daß aus dem Wesen der Monarchie sich die Notwendigkeit von Zwischengewalten ergebe. Das Problem dieser Zwischengewalten hat deutsche Juristen, Publizisten und Historiker stark bewegt. [... ] Mochte der erste deutsche Übersetzer des „Esprit" mit den „pouvoirs intermédiaires, subordonnés et dépendants" nichts anzufangen wissen - bei anderen Schriftstellern finden sich bald konkrete Anwendungen auf deutsche Verhältnisse. F. C. v. Moser: Um den gefahrlichen Abweg zum Despotismus und Staatsumsturz von oben zu verhüten, „waren und sind auch größtenteils noch in allen europäischen Reichen und deren kleineren Staaten solche Mittels-Corpora und Personen, welche als Wächter für die Freiheit des Volkes und als Vormünder für dessen Rechte zu sprechen, selbige gegen die Ausdehnung der landesherrlichen Gewalt vertreten, das Beste des Landes zu wahren und in dessen wichtigsten Stücken mit dem Regenten zu handeln berechtigt und verbunden sind."81 Solche Corpora sind für Moser die Landstände. Auch K. F. Häberlin spricht in seinem an das System Pütters sich anschließenden „Handbuch des Teutschen Staatsrechts" davon, daß ebenso wie die Reichsstände zwischen Kaiser und Nation, die Landstände zwischen Fürsten und Volk einen „glücklichen Mittelstand" bilden. „Sie sind oder sollten wenigstens die wahren Repräsentanten desselben sein, die dessen Bestes beim Regenten vertreten, dessen Gesinnungen studieren und diese dem Regenten erklären müssen, also Organ der Nation."82 Freilich täuscht sich Häberlin nicht über die erheblichen Mängel und Anachronismen in der tatsächlichen Gestalt und Zusammensetzung der Stände hinweg - und Mosers Kritik an ihnen dreißig Jahre früher war eher noch schärfer gewesen. Es ist stets dieselbe Klage: Wenn die Landstände das wären, was sie sein sollten und könnten - , wenn sie nicht durch eigenes Verschulden und noch mehr durch die Militäipolitik der Fürsten heruntergekommen, machtlos geworden, an den Rand gedrängt wären, dann könnten sie eine bedeutende Rolle, also die Rolle der Zwischengewalt, spielen. Moser sagt aber auch, es sei immer gut, wenn Landstände noch vorhanden seien, „sie mögen manchmal wenig oder gar nichts gelten". Es kämen Zeiten, da man wieder von Recht und Freiheit sprechen werde; „die guten Grundsätze werden doch immer gerettet, fortgepflanzt und in solchen kritischen Augenblicken wieder geltend gemacht, welche aber ganz verloren gingen, wenn nicht noch ein Corpus vorhanden wäre, bei dem sie verwahrlich niedergelegt sind."83 Offensichtlich ist hier der Hort der Gesetze Montesquieus gemeint und den deutschen Ständen die Funktion der französischen parlements (also hoher Gerichtshöfe) übertragen. Zwar beanspruchte das Pariser Parlament, seitdem die
81
,3eherzigungen" S. 612.
82
I I (1794) S. 28.
83
,3eherzigungen" S. 626.
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Generalstände nicht mehr einberufen wurden, ihre Nachfolge (und bezeichnete sich als dépôt der lois fondamentales ); doch war es weit davon entfernt, eine Ständeversammlung zu sein. Nicht aber Gleichheit der Institutionen, sondern der Funktionen: darum ging es bei der Aufnahme der These von den notwendigen Zwischengewalten. Konnten es in Deutschland nur die Stände sein? Und wo es sie nicht oder nicht mehr gab - handelte es sich dort eo ipso um Despotie? Moser, der ohnehin überzeugt war, daß die „politische Freiheit" eines Volkes vornehmlich in der Sorge des „obrigkeitlichen Standes" um die Erhaltung der Grundgesetze und die Wohlfahrt der Bürger sowie in der Achtung des Regenten vor dem „Menschenstand seiner Untertanen" beruhe - der Freiheit dort sah, wo die natürliche Gleichheit der Rechte nach Maßgabe der Sicherheit und Wohlfahrt durch Gesetze festgelegt ist - , Moser erkannte auch in „guten Ministern" eine Zwischeninstanz, die die Vorstellungen des Landes beim Fürsten zur Geltung bringen kann.84 Von Zwischengewalt kann hier freilich keine Rede mehr sem, auch nicht von institutioneller Unabhängigkeit. Hier hängt alles von moralischen Qualitäten, von Rechtschaffenheit und Patriotismus bei Herren, Dienern und Untertanen ab. - Die doppelseitige Widerstandsaufgabe einer Mittelmacht (die durch Gesetze errichtet ist) betonte Ferd. v. Lamezan: gegen unbeschränkte Gewalt von oben und übertriebene Freiheit von unten.85 Nur, wo eine solche Macht das Gleichgewicht erhalte, könnten sich Gemeinschaftssinn und politisches Bewußtsein entfalten. Die Rede von den Zwischengewalten, die den Despotismus verhindern, ist also in Deutschland nicht bei der politischen Rechtfertigung des älteren Ständewesens stehen gebheben. Ja - sie ist bis tief in den sogenannten aufgeklärten Absolutismus eingedrungen. Wir müssen ein wenig ausholen. VL Wie für die Verteidigung und Aufwertung der ständischen Verfassung im späteren 18. Jahrhundert Gedanken Montesquieus anregend und formend gewirkt haben, so auch noch verzweigter und im einzelnen noch weniger greifbar - für das politische Denken der Aufklärungsgesellschaft, für die Ausbildung des sogenannten aufgeklärten
Absolutismus
und den beginnenden Übergang v o m
monarchischen Absolutismus zur Rechtsstaatlichkeit. Von den „Lettres persanes" über die „Considérations" bis zum „Esprit des Lois" haben Montesquieus Schriften auf alle europäischen Aufklärer bis hinauf zu den Fürsten Eindruck gemacht und auf ihre politischen Anschauungen klärend, präzisierend, bestärkend, infragestellend gewirkt, und zwar eben deshalb, weü sie nicht revolutionär waren - , weil in ihnen das abgelehnt wurde, was sie alle ablehnten: der Despotismus - , das gepriesen wurde, was alle priesen: die Freiheit, das geboten wurde, was alle verlangten: historisches Wissen und kritische politische Refle84
Ebda. S. 615.
85
S. oben Anm. 17, S. 86.
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xion. Das Aufklärungspublikum las aus ihnen vor allem die Kennzeichnung der Monarchie als gemäßigter Staatsform und die Aufforderung heraus, den Gesetzen die größte Aufmerksamkeit zu widmen. Das alles war nicht unbedingt neu; für die politische Aufklärung in Deutschland sind die Lehre vom guten Fürsten, die Kameralistik, die politische und Rechtsphilosophie Thomasius' und Wolffs und anderes im Einzelfalle wichtiger gewesen. So hat Friedrich d. Gr. zwar Montesquieus Schriften intensiv studiert, hat jedoch nicht erst unter seiner Einwirkung die Reform des Strafrechts in Angriff genommen.86 Und wenn die „Institutions politiques" Bielfelds (1760) von ihrem deutschen Übersetzer trotz des unverkennbaren Einflusses Montesquieus in das Gefolge Wolffs gestellt werden87, so mag auch das als Beweis dafür gelten, daß die Ideen des Franzosen in Deutschland nicht in ein politisches Ideenvakuum einströmten. Sie gaben nicht erst den Anlaß zu Reformgedanken und -maßnahmen, aber sie konnten dazu beitragen. Für Bielfeld ist es zwingend, daß die gesetzgebende Gewalt allein dem Landesherrn „oder demjenigen Rate [...], der die landesherrliche Macht hat", zukommt.88 Das ist die durchgehende Auffassung aller derjenigen - und sie waren in der Mehrzahl - , die die souveräne Gewalt des Landesherrn anerkannten, in den Ansprüchen der Stände nur Interessen privilegierter sozialer Gruppen sahen und allgemeine Gerechtigkeit nur dort für gegeben hielten, wo - wie Baron Ungern-Sternberg schreibt - „die Herrschaftsrechte [...] das Depot in der Hand eines einzigen oder einiger wenigen" sind.89 Jedenfalls in einem Staate „von auch nur mäßigem Umfange"; in einem „kleinen Schweizerkanton" möge es anders sein. „Aufgeklärte Alleinherrschaft" erscheint als die optimale Bedingung für Gerechtigkeit, Fortschritt in Gesetzgebung und Bildung (den beiden für die Aufklärer wichtigsten Bereichen staatlicher Aktivität). Der „teutsche Freiheitssinn" sei nie dem Fürsten entgegen gewesen, „welcher durch Gesetz und nach Gesetzen herrschte". 90 Von den Landständen als Schranken der fürstlichen Willkür hält Ungern für seine Zeit nicht viel; aufgeklärte Publizistik und allgemeine Volksbüdung erscheinen ihm wichtiger. „Es gehört nur der allergeringste Grad der Aufklärung dazu, um einen Fürsten zu überzeugen, daß es für ihn kein anderes Interesse gibt, als das seines Volks." „Mich dünkt daher, ein aufgeklärtes und patriotisches Volk würde am sichersten die Früchte der gesellschaftlichen Vereinigung ernten und die Dauer dieser Vorteile befestigen, wenn es den Für86
Vgl. Mehnng\ K , „Inwieweit ist praktischer Einfluß Montesquieus und Voltaires auf die strafrechtliche Tätigkeit Friedrichs d. Gr. anzunehmen bzw. nachzuweisen?" Jur. Diss. (Göttingen 1927). 87 „Des Freyherrn von Bielefeld Lehrbegriff der Staatskunst" ( 2 1764) I, Vorerinnerung des Übersetzers ( 1760). 88
Ebda. I, S. 142.
89
Ungern-Sternberg, Christ. Friedr. Frhr. v., ,J31ick auf die moralische und politische Welt. Was sie war, was sie ist, was sie seyn wird" (1785) S. 157. 90
Ebda. S. 162.
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sten, als seinen Repräsentanten, zwar die dreifache Gewalt der Erteilung, Anwendung und Vollziehung der Gesetze übergäbe, sich aber die öffentliche Rechenschaft der Minister und die Macht, sie zu strafen, vorbehielte, im Falle sie durch Leidenschaft verblendet, die Vorteile des Herrschers in den Vorteüen der Gesellschaft verkannt und seine Schritte mißleitet hätten."91 Also Ablehnung der Gewaltenteüung, dagegen Kontrolle der wichtigsten Organe der obersten Gewalt durch „Abgeordnete des Volks", die ohne Rücksicht auf Stand und Vermögen durch Mehrheit der Stimmen grundbesitzender „Hausväter" gewählt werden sollen.92 Das ist eine auf dem Boden des aufgeklärten Absolutismus entwickelte Konzeption der beschränkten Monarchie, die an den Frühkonstitutionalismus des 19. Jahrhunderts heranführt! Wo immer solche und ähnliche Ideen auftauchten, sind sie in Anlehnung an Montesquieu bzw. in der Auseinandersetzung mit ihm entwickelt worden. Ein Beispiel dafür bietet auch der Minister Friedrichs d. Gr. Graf Hertzberg. Er war überzeugt, daß jede Nation ihre besondere Art habe zu denken und zu handeln, durch die ihr Nationalcharakter gebildet sei.93 Als er 1784 vor der Berliner Akademie „Sur la forme des gouvernements et quelle est la meilleure" sprach, begann er nicht nur mit einer Verbeugung vor Montesquieu: sein berühmtes Buch habe diese Frage sehr erhellt; sondern er ging auch im einzelnen immer wieder von Montesquieu aus. Für ihn gilt es als sicher, daß eine durch Grundgesetze (lois fondamentales) gemäßigte Erbmonarchie, die der Beschaffenheit des Landes und dem Nationalcharakter angepaßt ist, die für das Glück der Menschen, der Gesellschaften und Nationen geeignete Regierungsform ist.94 Die zeitgemäße Gestalt dieser Monarchie ist die monarchie libre. In ihr müsse der Souverän gesetzgebende und vollziehende Gewalt in seiner Person vereinigen; die Grundgesetze dürfen ohne dringende und offensichtliche Not nicht verändert werden; zumindest müssen feste Grundsätze eingehalten werden, die dem Untertanen Eigentum und schnelle, genaue, gerechte Justiz sichern. Der Souverän muß „corps intermédiaires" einrichten (!) oder erhalten; diese, nämlich die Provinzialstände, nehmen an der Exekutive teil und haben das Recht („faculté"), sich regelmäßig zu versammeln, über Lage und Bedürfnisse des Staates zu beraten, dem Souverän darüber zu berichten und unter seiner Aufsicht an der inneren und Zivilverwaltung mitzuarbeiten. Die Deputierten der Provinzialstände können dem Herrscher die Kenntnis des Landes vermitteln und die Verbindung („union") zwischen ihm und den Untertanen aufrechterhalten. Kurzum: sie können die innere Verwaltung erleichtern, dürfen jedoch an der Gesetzgebung keinen Anteil haben, weil daraus für gewöhnlich ein „dérangement total" der Staatsmaschine folge. An91
Ebda. S. 206 f f
92
Ebda. S. 209.
93
„Réflexions sur la force des états et sur leur puissance relative et proportioneile" (1782) in: „Huit Dissertations" (s. oben Anm. 20) S. 92. 94 Ebda. S. 144: „[...] la forme de gouvernement la plus propre à produire et à effectuer le bonheur des hommes, des sociétés et des nations [...]".
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ders als bei Montesquieu und im Blick auf Preußen heißt es dann ausdrücklich, Provinzialstände seien viel besser als Justizkollegien geeignet, die Funktion der „corps intermédiaires" auszuüben, denn die Mitglieder der letzteren gehörten ihrem Stande nach nicht zu den Grundbesitzern und seien deshalb weniger mit den Problemen des Landes vertraut. „Si les parlements de France prennent dans ce royaume le rôle de corps intermédiaires, si M. de Montesquieu croit devoir leur attribuer le dépôt de toutes les lois, ce n'est pas apparemment qu'en défaut d'un corps d'états généraux, qui n'existe plus en France."95 (Dagegen weist Hertzberg auf Versuche Katharinas II. hin, in Rußland corps intermédiaires einzurichten und damit der monarchie libre einen entscheidenden Schritt näher zu kommen.) [...] Stellen wir nur fest, daß auch für diese hohen Juristen, vor allem für Svarez und Klein, der „Esprit des Lois" wichtig gewesen ist und ihre Vorstellungen von der durch Gesetze beschränkten monarchischen Regierung mitbestimmt hat.96 [...] Ihnen gehen wir nicht mehr nach. Dagegen ist noch einer Auswirkung Montesquieus zu gedenken, die freilich politisch noch kaum lokalisierbar war und nur im Zusammenhang der allgemeinen Geistesgeschichte faßbar ist, und zwar als Ferment des politischen Denkens im breitesten Verstände. vn. Wir müssen uns mit Hinweisen begnügen. Wohl kein anderer unter den großen deutschen Schriftstellern des späteren 18. Jahrhunderts ist - keineswegs allein in seinen politischen Vorstellungen - so nachhaltig von Montesquieu beeindruckt worden wie Herder. Die Zeugnisse dafür reichen von der Rigaer Zeit bis in die Jahre der „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit". Für den unendlich aufnahmefähigen und unablässig produktiv umsetzenden Geist des jungen Herder war Montesquieu Anreger: ein Schriftsteller, „nach dem ich denke und wenigstens spreche"97, dessen Gedankenreichtum ihn inspirierte und dessen Hauptwerk Maßstäbe setzte. Diesem etwas Eigenes an die Seite zu stellen - einen anwendbaren Geist der Gesetze - , das war einer der zahlreichen Pläne, die das Journal der Seereise von 1769 verzeichnet und die bei aller politischen Unreife und Phantastik doch Protuberanzen eines genialen Kopfes sind. Das Werk „Über die wahre Kultur eines Volkes und insonderheit Rußlands",
95
Ebda. 157 ff.
96
Vgl. Stolze l, Α., „Carl Gottlieb Svarez. Ein Zeitbild aus der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts" (1885). - Wenigstens genannt seien Svarez, C. G., „Vorträge über Recht und Staat" (1791/92), hrsg. von H. Conrad und G. Kleinheyer (1960), und Klein, Emst Wilhelm, ,Jreyheit und Eigenthum, abgehandelt in acht Gesprächen über die Beschlüsse der französischen Nationalversammlung" (1790). 97 Herder, J. G., „Journal meiner Reise im Jahr 1769", hier zit. nach: „Sturm und Drang. Kritische Schriften", hrsg. von E. Loewenthal (o. J.) S. 344.
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dessen Umrisse aufs Papier geworfen sind (und dann ein Seetraum blieben), sollte nach der Methode, nicht aber nach dem System Montesquieus geschrieben werden. Anwendung des „Esprit" - Herder exemplifizierte es an Rußland - hieß Konkretisierung, Abwandlung, Eingehen auf das Besondere der ganzen Kultur eines Volkes; es hieß: ein zweiter Montesquieu werden.98 Hochschätzung: Montesquieu hat einen Standard gesetzt für das Schreiben über Gesetze! - und Kritik: er ist im Allgemeinen geblieben! - , beide kennzeichnen Herders Antwort auf den Verfasser des „Esprit". Die Absicht, eine Metaphysik der Gesetze zu schreiben (eben das sei mit esprit gemeint), erfordere die Kenntnis aller Regierungsarten in ihrer Besonderheit, und die habe Montesquieu nicht besessea Darum seien seine Grundsätze „so unapplikabel". „Ist nicht jedes [Land] ein so eignes Datum nach Land, Volk, Einrichtung und allem, daß seine (Montesquieus) Grundsätze nie anzuwenden sind ohne unendliche Ausnahmen?"99 Ein Einwand, der uns bereits begegnet ist, wird hier grundsätzlich vorgebracht von dem Manne, der mit offenem Bück für das Individuelle und seine Entwicklung auf der Schwelle des historischen Denkens in Deutschland stand. Sinn und Ausmaß seiner Kritik eröffnen sich ganz in der Feststellung, Montesquieu habe mit der Konzentrierung seines Interesses auf die Gesetze am Wesentlichen voibeigesehen. „Geschriebenes Gesetz ist ein Schatten, lebende Sitte und Gewohnheit ist ein Körper." Davon habe Montesquieu zu wenig gekannt; er sei zu sehr Bürger eines monarchischen Staates und zu wenig Mensch gewesen. Für ein Buch „zur Bildung der Völker" - nur dies erschien Herder wirklich vonnöten - stünden die Gesetze am Ende; Hauptzweck sei die Erforschung des „Geistes der Nationen, der Erziehung, der Mittel der Bildung". Und als weiterer Einwand: Montesquieu berücksichtige zu wenig die Geschichte, den Wandel der Regierungsformen. „Die politische Geographie also, die er entwirft, ist nichts; sie ist so wandelbar wie die Geschichte der Völker selbst."100 Trotz dieser Absetzung von dem großen Franzosen ist Herder selber Beweis, wie sehr dessen Denken auf Geschichte verwies. Mit Recht hat Friedrich Meinecke Montesquieu in die Ahnenreihe des deutschen Historismus gestellt. Seine Wirkungen sind sowohl bei den Göttinger Historikern Schlözer, Spittler, Heeren, bei den Reichsrechtshistorikern Pütter und Häberlin als auch bei dem Verfasser der Osnabrückischen Geschichte, Justus Moser, und dem Schweizer Johannes Müller erkennbar. Der letztere, ein Schüler Schlözers, ein Freund und Verehrer Herders, hat Montesquieu stets an die Spitze aller politischen Denker gestellt, neben ihm nur wenige, zeitweilig nur Tacitus gelten lassen und seine Werke „wie die Theologen das Evangelium" gelesen.10 Müllers Schweizerge98
Ebda. S. 360.
99
„Gedanken bei Lesung Montesquieus", in: „Herders Lebensbild" II, 1, S. 352.
100
Ebda. S. 353 f.
101
Zit. nach Bonjour (s. oben Anm. 34) S. 17.
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wollte an die Seite der Considérations treten: das war der höchste Anspruch, den er kannte. Was ihm an Montesquieu als vorbildlich galt, war nicht dessen Konzeption oder Stil, sondern das umfassende empirische Interesse und die Neigung, das Beobachtete zum Anlaß allgemeiner Reflexion zu machen. Es war die Befreiung von der naturrechtlichen Verfassungssystematik, die Montesquieu selber keineswegs zu Ende geführt hatte, für die sich jedoch Spätere durch ihn veranlaßt sahen, die Müller in Montesquieu einen Lehrer und Bahnbrecher zum geschichtlichen Begreifen sehen ließ. In der Tat bedeutete es einen Fortschritt im historischen Erkennen wie im politischen Denken, daß Montesquieu keine Regierungsform als die absolut beste pries, vielmehr nach den Bedingungen und Eigentümlichkeiten der bestehenden fragte. Je mehr allerdings die politische Analyse Montesquieus durch historische Beschreibung ersetzt wurde, um so mehr konnte sie zur Rechtfertigung des Bestehenden werden. Darin hegt ein wesentlicher Grund für die ambivalente Wirkung der Montesquieuschen Ideen. Sie hat dazu beigetragen, daß Wieland, Schiller, Kant, daß Schlözer, Spittler und viele andere die Anfange der Französischen Revolution begrüßten, die den Despotismus unmöglich zu machen schien. Als jedoch die Franzosen daran gingen, nach abstrakten Prinzipien der Vernunft eine neue Verfassung zu machen und den Grundsatz der Volkssouveränität zu verwirklichen, da bot wiederum Montesquieu die Argumente zur Ablehnung eines solchen Beginnens. „Tout cela", schrieb Johannes Müller 1794 einem Freunde, „ne prouve que contre les sophistes, et tout au plus cela montre les dangers d'une politique comme celle de Rousseau qui n'est qu'un roman métaphysique. Notre ami Montesquieu, qui se sera estimé le plus heureux des hommes s'il avait pu donner à chacun de nouvelles raisons pour aimer la constitution sous laquelle il était né, et qui marchait toujours, leflambeau de l'expérience dans la main, n'était pas de cette espèce d'hommes."102 schichte
Editorische Notiz In: „Collegium Philosophicum. Studien". Joachim Ritter zum 60. Geburtstag. Basel / Stuttgart, Schwabe & Co, 1965. S. 403-437. Wieder abgedruckt mit geringen Veränderungen in: F., R., „Deutschland im 18. Jahrhundert: politische Verfassung, soziales Gefüge, geistige Bewegungen". Göttingen, Vandenhoeck u. Rupprecht, 1987. S. 9-32 u. 262-267.
102
„Briefe in Auswahl", hrsg. von E. Bonjour (1954) S. 198.
Montesquieus Begriff der Despotie Arnd Morkel (1966) L Mit der Despotie hat sich Montesquieu zeit seines Lebens beschäftigt; geschrieben hat er darüber nicht nur in seinen Hauptwerken, sondern auch in seinen weniger bekannten politischen Schriften. 1 Der Begriff, den er dabei von dieser Staatsform gewinnt, wandelt sich im Grunde nicht; die Analyse wird detaillierter, präziser, systematischer: in ihren Grundzügen aber bleibt sie sich gleich; auch sein Urteil steht von Anfang an fest. Der folgende Aufsatz befaßt sich mit diesem Begriff. Das Interesse gilt nicht den philologischen oder den historischen, sondern den politikwissenschaftlichen Aspekten. Gefragt wird nicht, welche Quellen Montesquieu benutzt hat, welchen Einfluß seine Auffassungen auf Diderot, Helvétius, d'Alembert u. a. gehabt haben, wie zutreffend seine historischen Urteile sind. Montesquieu war kein Historiker, wenigstens nicht in erster Linie, sondern ein politischer Theoretiker. 2 Seine Analysen knüpfen an historische Beispiele an, gehen aber nicht darauf aus, die Erscheinungen in ihrer einmaligen und individuellen Gestalt zu erfassen oder historische Entwicklungen aufzuzeigen, sondern zielen auf eine Erkenntnis, die jenseits des Geschichtlichen liegt. „In der unendlichen Mannigfaltigkeit" der geschichtlichen Erscheinungen sucht er die Prinzipien zu entdecken, „denen sich die Einzelfälle wie von selbst beugen."3 Indem er das historische 1 M ' s Werke werden nach der zweibändigen Ausgabe der Bibliothèque de la Pléiade zitiert: Montesquieu, „Œuvres", éd. par Roger Caülois, Paris 1949, 1951. Soweit die Zitate aus M ' s Hauptwerken stammen, werden die Fundstellen in Klammem mit folgenden Abkürzungen angegeben: „Esprit" („De l'Esprit des Lois"), „Lettres" („Lettres Persanes") und „Grandeur" („Considérations sur les Causes de la Grandeur des Romains et de leur Décadence"). Die Übersetzung folgr im allgemeinen den deutschen Ausgaben von Emst Forsthoff („Vom Geist der Gesetze", Tübingen 1951), Adolf Stodtmann („Persische Briefe", Exempla Classica, Fischer-Bücherei 1964) und Lothar Schuckert („Betrachtungen über die Ursachen von Größe und Niedergang der Römer 4 , Sammlung Dieterich, Bremen o. J.); gelegenüich wurden die Übersetzungen abgeändert. 2
Victor Klemperer kommt in seiner Studie über Montesquieu zu dem Ergebnis, „daß Montesquieu, selbst wenn er die Absicht so reiner Geschichtsschreibung hatte, sie unmöglich verwirklichen konnte. Der politische Trieb in ihm war zu stark, es ging ihm wider die Natur, Geschichte um ihrer selbst willen zu betreiben." (Beiträge zur Neueren Literaturgeschichte, H. 7, Heidelberg 1915, S. 170 f.). 3
I I 229, cf. 799 (,Esprit" Préface alinea 3,4, cf. X X V I I I 6).
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Material 4 zu den einzelnen Regierungsformen zusammenträgt und sorgsam vergleicht, was sich vergleichen läßt5, will er die Natur und das Prinzip einer jeden Regierungsform begreifen. Seine Frage lautet nicht: Was zeichnet die französische Monarchie unter Ludwig XIV. aus? Welche Besonderheiten weist die attische Demokratie unter Perikles auf? Was ist das Charakteristische an der despotischen Herrschaft Timurs?, sondern: Was ist das Monarchische an der Monarchie? Weshalb bezeichnen wir eine Demokratie als demokratisch? Was ist das, was die Despotien zu Despotien macht? Mit anderen Worten: Montesquieu bemüht sich, den Idealtypus der einzelnen Regierungsformen aufzudecken 6, ohne dabei die historische Variationsbreite der konkreten Erscheinungsformen außer acht zu lassen oder zu vergessen, daß der stilisierte Idealtypus mit der geschichtlichen Wirklichkeit nicht vollständig übereinstimmt. Auch wenn wir heute auf Grund unseres vertieften Wissens die historischen Behauptungen M's in vielen Fällen berichtigen müssen, so sind dadurch seine Einsichten nicht schon wertlos geworden. [...] II. Jeder politischen Theorie liegt eine bestimmte Denkweise zugrunde, die sowohl die Theorie als ganzes, als auch ihre einzelnen Inhalte, Urteile und Begriffe prägt. Was die Denkweise M's anbelangt, so zeichnet sie sich durch ein dreifaches aus. Erstens ist sie konkret. Montesquieu denkt stets so, daß sich ein Handeln jederzeit ausschließen läßt. Er will wirken. 8 Zweitens weist sie einen reaktiven, antwortenden Zug auf. Politik setzt für 4
Historische Beispiele für Despotismus boten für Montesquieu vor allem Länder des nahen und fernen Orients, aber auch Mittelamerikas, Afrikas, Rußlands und Europas. Cf. Dodds, M , „Les Récits de voyages, sources de l'Esprit des Lois", Paris 1929. Daß Montesquieu in der orientalischen Despotie die umfassendste Form des Despotismus sah, entsprach dem Zeitgeit. Neuere Darstellungen, vor allem die von K. A. Wittfogel, bestätigen in wesentlichen Punkten M ' s Bild der orientalischen Despotie. Über M ' s Despotiebegriff cf. auch Weil, F., „Montesquieu et le despotisme", in: Actes du Congrès Montesquieu réuni à Bordeaux de 23 au 26 mai 1955, Bordeaux 1956. 5
I I 229 („Esprit" préface alinea 5).
6
Ober M ' s Methode neben den bekannten Hauptwerken vorzüglich: Durkheim , E., „Montesquieu, sa part dans la fondation des sciences politiques et de la science des sociétés", in: Revue d'histoire politique et constitutionelle, 1 (1937). S. 405 f f , Cassirer , E., „Philosophie der Aufklärung", Tübingen 1932. Aron, R , „Dix-huit leçons sur la société industrielle", dt. Die industrielle Gesellschaft, Fischer-Bücherei 1964, S. 44-53. 7 „Obwohl die despotische Regierung ihrer Natur nach überall die gleiche ist, können doch die Umstände, ein religiöser Glauben, ein aus überkommenen Beispielen gebildetes Vorurteil, eine Geistsverfassung, Gewohnheiten, Sitten beträchtliche Unterschiede hervorrufen." Π 456 („Esprit" X I I 2 9 ) ; cf. Π 366, 530, 202 f. („Esprit" V i n 21, V I I 8, „Grandeur" ΧΧΠ) [...]. 8
I 1428.
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Montesquieu nicht vorgefaßte Meinungen um, sondern wird gemäß den Anforderungen einer vorgefundenen Lage tätig. Ihr Mittel ist die Wahl. Indem sie in eine konkrete Lage eingreift, sucht sie nicht ein utopisch Bestes, sondern die bessere der vorhandenen Möglichkeiten zu verwirklichen. Die Frage nach dem besten Staat ist für Montesquieu müßig.9 Drittens besitzt M's politisches Denken einen polemischen Charakter: Da Politik für ihn immer auf die Forderungen einer zwingenden Lage hin eingreift, sind ihre Lösungen auch stets einer gegenwärtigen Gefahr, die abzuwenden sie bestimmt ist, angepaßt. Montesquieus politischen Konzeptionen sind in der Auseinandersetzung mit ganz bestimmten konkreten Gefahren entstanden, auf diese Gefahren hin geformt und ohne sie nicht völlig zu verstehen. Die Hauptgefahr ist für Montesquieu der Despotismus. In ihm sieht er nicht nur das seit Jahrhunderten mehr oder weniger übliche Schicksal der außereuropäischen Völker, in ihm sieht er vielmehr auch ein den europäischen Monarchien drohendes Los. „Die meisten Völker Europas werden noch von den Sitten beherrscht. Sollte aber infolge langen Mißbrauchs der Macht oder einer großen Eroberung sich einmal der Despotismus durchsetzen können, so würden ihn weder die Sitten noch das Klima aufhalten können, und die menschliche Natur müßte in diesem schönen Erdteil, zum mindesten eine Zeitlang, dieselbe Schmach erdulden, die man ihr in den drei anderen zufügt." 10 Der Despotismus verkörpert für Montesquieu keine theoretische, sondern eine konlo-ete Gefahr. Zeit seines Lebens begleitete ihn nicht nur der Haß auf diese Regierungsform, sondern auch die Furcht, ihr eines Tages unterworfen zu sein. Voller Sorge beobachtet er am späten Absolutismus die despotischen Züge. Was er als orientalische Zustände geißelt, ist in Wahrheit oft auf europäische, besonders französische Verhältnisse des achtzehnten Jahrhunderts gemünzt. Anlaß für diese Befürchtung war für Montesquieu in erster Linie die Zerstörung der Stände, die bisher die Macht des absolutistischen Königtums in Schranken gehalten haben. Ohne pouvoirs intermédiaires, sagt Montesquieu, wird aus der Monarchie eine Despotie.11 „Wie sich die Flüsse ins Meer ergießen, so verlieren sich die Monarchien im Despotismus." 12 Der Niedergang der Monarchie ist mit der Entmachtung der Stände jedoch nicht hinreichend zu erklären. Er wurzelt tiefer. Montesquieu sieht in der Entmachtung eher ein Symptom als die eigentliche Ursache der monarchischen Entartung. Schon in den „Considérations" schreibt er: „Es gibt allgemeine Ursachen, die teils moralischer, teils phy9
II 356 („Esprit" vni 8).
10
I I 247, 354 („Esprit" I I 4, V i l i 6).
11
I I 364 („Esprit" v i n 17).
12
I I 173 („Grandeur" XVIII).
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sischer Natur sind und die in jeder Monarchie wirken, die sie emporheben, erhalten oder stürzen. Alle Geschehnisse stehen unter dem, Gesetz dieser Ursachen." 13 Diese Sätze enthalten in nuce M's Lehre vom Verfall der Staatsformen, wie sie im „Esprit des lois" näher ausgeführt ist. Was besagt diese Lehre im Hinblick auf die Entartung der Monarchie? Was die physischen Ursachen anbelangt, zu denen Montesquieu vor allem das Klima, die Größe des Landes und die Bevölkerungszahl rechnet, so kommen diese hier kaum in Betracht, da die europäischen Monarchien weder unter einem tropischen Klima zu leiden haben noch aus zu weiträumigen Gesellschaften bestehen. Bleibt als allgemeine Ursache die moralische: unter ihr versteht Montesquieu den Verfall der Prinzipien. Da die Prinzipien die Triebfedern der Regierungen sind, so beginnt „der Verfall einer jeden Regierung fast immer mit dem Verfall der Prinzipien." 14 In der Entartung des Prinzips der Ehre liegt für Montesquieu auch die allgemeine Ursache der Entartung der Monarchie. 15 Worin ist aber die Entartung des Prinzips der Ehre begründet? M's Antwort lautet: im Menschen. Die Prinzipien, heißen sie nun Ehre, Tugend oder Mäßigung (modération), sind keine dem Menschen angeborene Eigenschaften, sondern müssen von ihm in ausdrücklicher Anstrengung hervorgebracht und immer aufs neue geleistet werden. Stets setzen sie eine Selbstdisziplinierung und Selbstbeschränkung der Macht voraus 16, die der eigenen Natur abgerungen werden muß. Und da auf Grund der „menschlichen Beschaffenheit" (condition humaine) „es immer leichter ist, seiner Kraft (force) zu folgen als sie zu zügeln",17 werden die Menschen den Prinzipien so leicht und so oft untreu. Für Montesquieu ist also der Verfall der Staatsformen in der menschlichen Natur selbst begründet, genauer: in der „ewigen Krankheit der Menschen" (maladie éternelle des hommes).18 Und „da die Menschen zu allen Zeiten die gleichen Leidenschaften gehabt haben", kann Montesquieu über diesen Verfall sagen, daß „zwar die Anlässe, die die großen Veränderungen hervorrufen, verschieden sind, jedoch die Ursachen immer die gleichen."19 Die Entartung der Monarchie stellt demnach keinen Zufall 20 und kein einmaliges, sondern typisches Ereignis dar: jeder politische Körper, gleichgültig ob monarchisch, aristokratisch oder demokratisch, entartet 13
I I 349 („Esprit" V I I I 1 ) .
14
II 354 f. („Esprit" νΠΙ f.).
15
I I 264,267,858 (,Esprit" I V 2, 5, X X V i n 41).
16
I I 858 („Esprit" X X V I I I 4 1 ).
17
I I 112 („Grandeur" V n i ) .
18
I I 71 („Grandeur" I).
19
I I 173 („Grandeur" X V n i ) .
20
I I 281 f. („Esprit" V 7).
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unaufhörlich, wenn nicht bestimmte Umstände den Verfall aufhalten. Überspitzt könnte man sagen, daß die Geschichte der Staatsformen die Geschichte ihres Verfalls ist. „Im Laufe einer langen Regierung gleitet man wie auf einer schiefen Ebene zum schlechten herab, und nur mit Anstrengung steigt man wieder zum guten empor." 21 Der Gedanke, daß die Staaten einem Verfallsprozeß unterworfen sind, war schon der Antike vertraut; im Unterschied aber zu der Kreislauflehre, nach der sich die drei Verfassungsformen in einer bestimmten Reihenfolge abwechseln, ist Montesquieu der Auffassung, daß die Staatsformen meist direkt, ohne Umweg über die benachbarten Formen, in den Despotismus entarten. Zwar schließt er die Möglichkeit nicht aus, daß eine Monarchie republikanisch und eine Republik monarchisch wird 22 , am häufigsten weist er aber auf das direkte Abgleiten in die Despotie hin 23 . Für Montesquieu weisen die einzelnem Verfassungsformen ein Gefälle zum Despotismus auf, das letztlich anthropologisch begründet ist: Der Despotismus stellt an die Menschen die geringsten Anforderungen; zu seiner Begründung sind nur Leidenschaften nötig 24 , keine Tugenden, keine Selbstüberwindung. Die Despotie kommt einer bestimmten Beschaffenheit des Menschen entgegen. Darin, daß der Despotismus nicht dem Zusammentreffen einmaliger Umstände zuzuschreiben ist, sondern einer Neigung der menschlichen Natur entspricht, liegt für Montesquieu die eigentliche Gefährlichkeit dieser Herrschaftsform. Unter dem Eindruck dieser allgegenwärtigen Gefahr entwickelt Montesquieu seine eigene Staatskonzeption. Hierin liegt die Bedeutung der Despotie für M's politisches Denken. Der Begriff der Despotie ist ein Schlüssel für M's Werk. Dabei ging es Montesquieu nicht einfach darum, zum Modell der Despotie das Gegenmodell zu zeichnen, also den Begriffen der Machtakkumulation, der Unfreiheit, der Maßlosigkeit usw. die Begriffe der Machtverteilung, der Freiheit, der Mäßigung usw. entgegenzusetzen. Seine eigentliche Frage lautet: Wie ist das Abgleiten in den Despotismus aufzuhalten? Montesquieu nimmt dieses Abgleiten nicht fatalistisch hin, sondern hält es für möglich, durch eine bestimmte Organisation des Staates die Gefahr der Despotie im Rahmen des Möglichen zu bannen. Im Gedanken der Gewaltenteilung vor allem führt Montesquieu diese Auffassung näher aus.
21
I I 356 („Esprit" VIE 8).
22
Verfall der Monarchie in die Despotie: I I 247, 354, 364,408 („Esprit" π 4, V I I I 6 , 17, X I 7 ) ; Verfall der Aristokratie in die Despotie: Π 286, 353 (,Esprit" V 8, V I I I 5); Verfall der Demokratie in die Despotie: Π 351 („Esprit" V I I I 2 ) . 23
Cf. Forsthoff,
24
I I 297 („Esprit" γ 14).
S. X X X V I I .
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III. Die Stellung von M's Despotiebegriff innerhalb der politischen Theorie läßt sich nur in einer ausführlichen Geschichte der Despotievorstellungen klären; im Rahmen dieses Aufsatzes besteht nur die Möglichkeit, einige wenige Aspekte thesenartig zusammenzustellen. Getreu der Überlieferung unterscheidet Montesquieu zwischen Diktatur und Despotie. Despotie bedeutet ursprünglich eine auf Grund- und Hauseigentum beruhende Herrschaft. M's Despotiebegriff verleugnet diesen Ursprung aus dem Bereich des Haushalts und der Familie nicht; Despotie wird von ihm als private Hausverwaltung, nicht als öffentliches Gemeinwesen, interpretiert. 25 Auch darin stimmt Montesquieu mit der Tradition der Antike und des Mittelalten überein, daß er in der Despotie das Gegenteil eines guten Gemeinwesens sieht. Zahlreich sind auch die Obereinstimmungen in der inhaltlichen Charakterisierung des Despotismus, wie: Willkürherrschaft eines Einzelnen, Zerstörung der Freiheit, Unfreiheit auch des Despoten, Instabilität des Staates usw. Noch wichtiger scheinen mir die folgenden zwei Übereinstimmungen zu sein. Einmal nimmt Montesquieu im Einklang mit der Überlieferung die Staatsformen ernst. Das ist um so weniger selbstverständlich, als M's Interesse wie das keines anderen politischen Theoretikers vor ihm der Gesellschaft gilt. Nach heutigen Begriffen wäre Montesquieu als politischer Soziologe zu bezeichnen, dem es darum geht, die Beziehungen zwischen den politischen und den gesellschaftlichen Systemen zu untersuchen. Im Unterschied zu einem Großteil der modernen politischen Soziologie liegt bei Montesquieu der Hauptakzent jedoch nicht einseitig auf dem Gesellschaftlichen. Von der Blindheit gegenüber den politischen Ordnungstypen, die die Soziologie im Gefolge vor allem von Marx häufig kennzeichnet, ist bei Montesquieu noch nichts zu spüren. Daß er die Gesellschaft unter dem Gesichtspunkt der Verfassungsformen und nicht etwa unter dem des ökonomischen Systems analysiert, hängt nicht eigentlich daran, daß Montesquieu ökonomische Faktoren für weniger bestimmend hält als politische Faktoren, sondern daran, daß für ihn das Politische zum Wesen des Menschen gehört. Aron hat kürzlich bemerkt, „daß bei Montesquieu der Vorrang der Politik viel eher anthropologischer als kausaler Natur ist. Montesquieu stellt seine Typen im Hinblick auf das Politische auf, weil der Mensch seiner Meinung nach vor allem ein politisches Wesen ist, weil seiner Meinung nach die politische Betätigung, die Art und Weise, wie sich die Menschen regieren, das wesentliche Phänomen ist." 26 Darum also, 25
I I 293 („Esprit" V 14). Zur Geschichte des Despotiebegriffs: Koebner , R., „Despot and despotism: vicissitudes of a political term", in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes, 1951. 26
Aron, R , S. 50.
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weil für Montesquieu in Übereinstimmung mit der Tradition der Mensch in erster Linie ein politisches und nicht ein arbeitendes Wesen ist, hält Montesquieu auch an der Bedeutung der Staatsformen fest. Damit hängt eng ein zweites zusammen: Montesquieu betrachtet die Staatsformen nicht nur unter dem Aspekt der Willensbildung und der Zweckmäßigkeit, er fragt vielmehr auch, wie in ihnen jeweils das Wesen des Menschen zur Erscheinung kommt. Jede Regierungsform wurzelt nach Montesquieu in einer bestimmten Erfahrung des Miteinanderlebens, und jeder Regierungsform ist eine bestimmte Handlungs- und Verhaltensweise des Menschen zugeordnet, die zwar nicht als deren Ursache angesehen werden kann, wohl aber aufs engste mit ihr verknüpft ist. M's Staatslehre ist gleichzeitig ein Beitrag zur allgemeinen Anthropologie, ganz im Sinne der berühmten Formulierung aus dem Federalist : „But what is government itself, but the greatest of all reflections on human nature?" 27 Montesquieu steht in dieser Hinsicht am Ende einer langen Tradition, die mit dem Ende des achtzehnten Jahrhunderts immer mehr in Vergessenheit gerät. In anderen Punkten weicht Montesquieu von der Überlieferung ab. So vor allem in seiner Einteilung der Regierungsformen in Republik, Monarchie und Despotie, besonders dadurch, daß er in der Despotie eine selbständige Staatsform, keine bloße Entartungsform der Monarchie sieht. Schon Voltaire hat diese Einteilung kritisiert. 28 Welcker wirft ihr vor, sie sei nicht besser „wie die der Menschen in einem amtlichen Geburtsregister: in männliche, weibliche und uneheliche."29 In der Tat haftet ihr etwas Unlogisches an. Zwei Kriterien spielen eine Rolle: ein quantitatives (einer, mehrere, alle herrschen) und ein qualitatives (gesetzliche oder ungesetzliche Herrschaft), wobei Montesquieu nicht durchgängig beide anwendet: während ihm zur Bestimmung der Republik das quantitative Kriterium genügt, zieht er zur Unterscheidung der beiden anderen Staatsformen auch das qualitative heran. Wäre er konsequent verfahren, hätte er zwei Hauptund zwei Entartungsformen unterscheiden müssen: neben der Republik die Willkürherrschaft von mehreren oder vielen und neben der Monarchie die Willkürherrschaft eines einzelnen. Montesquieu begründet seine Abweichung von der überlieferten Typologie nicht näher. Doch lassen sich die Gründe denken, die ihn zu dieser Abweichung bewogen haben. Einmal geht er bei seiner Einteilung, wie er ausdrücklich betont, von konkret vorliegenden Tatbeständen und nicht von
27
„Federalist" No. 51.
28
Sakmann , Ο., „Voltaire als Kritiker Montesquieus", in: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literatures, 113 (1904), S. 374-391. 29
Welcker, C. Th., Art. „Staatsverfassung", in: Staatslexikon oder Encyklopädie der Staatswissenschaften, Bd. 1, Neudruck der 2. Aufl., Scientia Aalen 1964, S. 495. Cf. auch Jellinek, G., „Allgemeine Staatslehre", 3. Aufl., S. 666 f.
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logisch konstruierten Typen aus30; in der Wirklichkeit findet er neben der Republik und der Monarchie am häufigsten die Despotie vor. Zum andern will er wohl in der Nebeneinanderstellung von Republik, Monarchie und Despotie „das für ihn so wichtige Gefälle der Verfassungsformen sichtbar machen" und zum Ausdruck bringen, daß am Ende eben immer der Despotismus steht.31 Und schließlich beruht die Despotie nach ihm nicht auf einem entarteten monarchischen oder republikanischen Prinzip, so daß sie auch nicht als bloße Entartungsform eingeordnet werden kann, sondern auf einem eigenen Prinzip, und deshalb muß sie auch als eine Regierungsform sui generis neben den beiden anderen Regierungsformen begriffen werden. Die Bedeutung, die Montesquieu der Despotie einräumt, wird noch deutlicher an einer anderen Einteilung: an der in gemäßigte und nicht-gemäßigte Regierungsformen. Montesquieu bringt diese Einteilung an mehreren Stellen seines Werkes vor 32 und es scheint fast, als sei sie ihm wichtiger als die eben angeführte Dreiteilung. Nach diesem Schema lassen sich die Staaten in zwei Gruppen zusammenfassen: in solche, in denen der Macht durch pouvoirs intermédiaires, Gewaltenteilung und dergl. Schranken gesetzt sind und in solche, bei denen die Macht in den Händen eines einzelnen akkumuliert ist. Letztere nennt Montesquieu despotisch.33 Das heißt, daß Montesquieu im Grunde zwei Arten von Staaten kennt: despotische und freiheitliche. Das neunzehnte Jahrhundert interessierte sich mehr für M's Ausführungen über die Gewaltenteilung als für seine Vorstellungen von der Despotie. 34 Der Grund hierfür ist wohl in erster Linie in der mangelnden Berührung mit dieser Herrschaftsform zu suchen. Wie sehr der Despotismus den Erfahrungshorizont dieser Zeit überschritt, zeigt die Meinung Jellineks, die Despotie stelle einen „reinen Schultypus" dar, „dem kem realer Staat auf die Dauer entspricht". 35 Die Erfahrung des Totalitarismus hat uns M's Despotiebegriff wieder näher gebracht. Es ist eine Streitfrage, ob die totalitären Systeme unserer Tage sich nicht grundsätzlich von dem unterscheiden, was die Klassiker als Tyrannis oder Despotie analysiert haben. Einige, wie Hannah Arendt, sehen in den 30
I I 239 („Esprit" I I l).
31
Forsthoff,
32
I I 356, 395 („Esprit" V i n 8, X I 4 ) .
33
I I 119 („Grandeur" IX).
S XXXVII.
34
Hennis, W., „Politik und praktische Philosophie", Neuwied 1963 (S. 71), spricht von einer Blindheit des neunzehnten Jahrhunderts für das Phänomen der Tyrannis. Eine Geschichte des Despotiebegriffs nach Montesquieu ist (unter Leitung von Prof. Hennis) von Frl. Hella Mandt zu erwarten. 35
Jellinek, S. 667.
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totalitären Regimen eine neue, noch nie dagewesene Herrschaftsform, „prinzipiell unterschieden von den Formen politischer Unterdrückung, die uns als Despotie, Tyrannis oder Diktatur aus Vergangenheit und Gegenwart bekannt sind." 36 Zweifellos hat Montesquieu sich von den Mitteln, die einem heutigen Tyrannen zur Unterdrückung und Zerstörung zur Verfügung stehen, noch keinen Begriff machen können37, ebensowenig, wie er die Ideologien und denen auf ihnen beruhenden Terror 38 hat ahnen können; aber für wesentliche Elemente des modernen Totalitarismus liefert er präzise Analysen, so vor allem was die Akkumulation der Macht und den ständigen Prozeß der Machtsteigerung betrifft, die totale Beherrschung aller Lebensbereiche, die Atomisierung der Gesellschaft und die Isolierung der Individuen, die Verhinderung gemeinsamen Handelns und die Zerstörung des öffentlichen Leben, die Entwürdigung des Menschen, die Angleichung des Despoten an den Sklaven. Von allen Darstellungen des Despotismus, die Philosophen, Historiker und Dichter überliefert haben, scheint mir die von Montesquieu den jüngsten Erfahrungen des Totalitarismus am nächsten zu kommen. Jenseits des Inhaltlichen liegt die Aktualität von M's Despotieanalyse in ihren Fragestellungen. Wie für Montesquieu stellt auch für uns der Despotismus eine große Gefahr dar. (Nach einem Wort von Valéry leben wir in einer Zeit, in der die Diktatur so ansteckend wirkt wie einst die Freiheit.) Allerdings müssen wir mehr differenzieren: es gibt sehr verschiedene Typen der Despotie, die sehr verschiedenen Situationen entsprechen, und es gibt neue Formen, von denen Montesquieu noch keine Vorstellung hatte. Mit den natürlichen und psychologischen Erklärungen, die Montesquieu für die Ursachen des Despotismus gefunden hat, können wir uns heute nicht mehr zufrieden geben; wir sehen, wie vor allem wirtschaftliche und gesellschaftliche Zustände bei der Entstehung der despotischen Regime eine große Rolle spielen. Wenngleich wir uns mit der Antwort M's nicht begnügen können, stehen aber auch wir vor der Frage, ob Despotismus unter bestimmten Umständen nicht unvermeidlich ist, und wie Montesquieu müßten wir nach Lösungen suchen, wie er sich vermeiden läßt. Nicht zuletzt ist es auch M's Einteilung der Staatenwelt in despotische und freiheitliche Regierungsformen, die aktuell ist und die in den modernen Verfassungslehren die überlieferte Dreiteilung verdrängt hat: „Hier befin36
Arendt, H., „Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft", Frankfurt/M 1955,
S. 724. 37 38
Cf. allerdings 1286 (Lettres CV).
Montesquieu nennt als Prinzip des Despotismus einmal la terreur (Π 318, „Esprit" V I 9); doch ist damit noch nicht der Terror der modernen Tyrannis gemeint, der „ i n Übereinstimmung mit außermenschlichen Prozessen und ihren natürlichen oder geschichtlichen Prozessen vollzogen wird". (Arendt, H., „Elemente und Ursprünge", S. 733).
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det man sich am Kreuzweg zweier Auffassungen vom Menschen, der Gesellschaft und beider Beziehungen, am Kreuzweg von zwei Philosophien, zwei Lebenssystemen, von denen die verschiedenen politischen Systeme nur die Modalitäten der Anpassung an den einzelnen Fall darstellen." 39 Editorische Notiz In: Zeitschrift für Politik 13 (1966), S. 14-32.
39
Duverger, M., „Die politischen Regime", Hamburg 1960, S. 9.
Die Bedeutung der Mäßigung im Werk Montesquieus Walter Kuhfuß (1975) Der Stellenwert, den die modération im ideologischen System der Parlamentsaristokratie einnimmt, ihre Funktion bei der Diskussion der gemischten Verfassung und als Ausdruck humanistischer Geisteshaltung erklären nur zum Teil die Bedeutung, die der Begriff im Denken Montesquieus hat. Bei der Untersuchung des Selbstverständnisses des politischen Schriftstellers, bei der Analyse der metaphorischen Modelle sowie bei der Betrachtimg des Gebrauchs politischer Begriffe wurde immer wieder auf die Funktion der Mäßigung bei der Formulierung der politischen Theorie hingewiesen. In einer Zeit, in der sich der Niedergang des Begriffs modération in die Mittelmäßigkeit1 schon fast vollzogen hat, stellt die Mäßigung im Werk Montesquieus ein universell anwendbares Muster sprachlichen Verhaltens und politischer Bewertung dar. Der Rahmen, den der Vorstellungskomplex der Mäßigung für die politische Sprache und Theorie umreißt, soll daher im folgenden zusammenfassend betrachtet werden. Exemplarisch verwendet Montesquieu den Begriff modération bei der Beschreibung des Staatstypus „Aristokratie". In der vergleichenden Staatsformenlehre wird die Selbstbestimmungsvokabel der Parlamentsmagistratur von Montesquieu zum Prinzip der Lebensfähigkeit dieser Staatsform schlechthin deklariert. Im typologischen System der drei Staatsformen kann die Mäßigung ihren Platz unangefochten behaupten, weil ihr scheinbar nur noch historisch-humanistisches Interesse an einer antiken gesellschaftlichen Lebensform zukommt, während die polemische Bedrohung durch den orientalischen Despotismus und die offen geäußerte Präferenz für die französische Monarchie als unmittelbare Aktualität verstanden wurden; und dennoch artikuliert sich die Mäßigung in dieser Staatsform eingestandenermaßen als das, was dem sprachlichen und politischen Weltverständnis Montesquieus überhaupt zugrunde liegt. Als Prinzip der Aristokratie ist die Mäßigung die Fähigkeit der Adligen, sich untereinander als politisch gleichwertig anzusehen, sowie die Realisierung ihres politischen Willens, zugunsten des Gemeinwohls auf die radikale Durchsetzung der eigenen Machtinteressen zu verzichten und diesen Verzicht als das rechtverstandene Eigeninteresse zu betrachten. Diese kollektive psychologische Motivation für die Konservierung politischer, sozialer und finanzieller Diskrepanzen zwischen den herrschenden Adligen auf der einen 1 Schalk, Fritz, „Mediocritas im Romanischen", in: ders., Exempla romanischer Wortgeschichte. Frankfuit/M. 1966, S. 242 ff.
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und dem Volk auf der anderen Seite kann ihre Herkunft aus feudalem Denken im Werk Montesquieus nicht verleugnen. Bescheidenheit als Tugend gesellschaftlichen Wohlverhaltens und privater Lebensführung, das Postulat der Einheitlichkeit des Adels als sozialer Klasse, die „maßvolle" Ungleichheit zwischen Adel und Volk sowie die finanzielle Selbstbestimmung der Adligen in einer mittleren Zone zwischen der Armut des gemeinen Volkes und dem übermäßigen Reichtum der nouveaux riches sind die Bestandteile des Begriffs modération als des Prinzips der Aristokratie. Exemplarische Bedeutung als Stabilisationsverhalten der Herrschenden gewinnt die Mäßigung besonders, wenn man bedenkt, daß Montesquieu diesen Begriff in der Aristokratie als Variante der politischen Tugend in der Republik überhaupt verwendet und damit seine Bedeutungsverwandtschaft mit den asketischen Normen der Frugalität und der Selbstaufgabe zugunsten des Gemeinwohls signalisiert. Erst weil die Bandbreite unterschiedlicher politischer Verhaltensweisen in der Aristokratie nicht mehr durch den Begriff égalité abgedeckt werden kann, benutzt Montesquieu den Begriff modération . Gerade die mangelnde Präzision, die der Begriff bei der Beschreibung politischer und sozialer Sachverhalte erkennen läßt, macht seine Verwendung für die politische Theorie Montesquieus vorteilhaft. Die Kritik an der Ambivalenz der politischen Sprache, die von juristischer Seite geäußert worden ist, geht an der Problematik dieser politischen Theorie vorbei; bei konziser Klarheit völlig eindeutiger Begriffe hätte Montesquieu auf die Formulierung seiner politischen Theorie verzichten müssen. In der Ambivalenz des Begriffs modération enthüllt sich seine ideologische Dimension bei der Beschreibung der Aristokratie. Zuerst muß Montesquieu die „rechtverstandene" Mäßigung von einer falschen Verwendung des Begriffs unterscheiden und so auf seinen besonderen Sprachgebrauch hinweisen: „La modération est donc l'âme de ces gouvernemens. J'entends celle qui est fondée sur la vertu, non pas celle qui vient d'une lâcheté et d'une paresse de l'âme." (EL, III, 4) Die vertu politique , die von Montesquieu als das Verhaltenskriterium in den Staatsformenvarianten der Demokratie und der Aristokratie definiert wurde, ist eine ständige Versuchung für die abgeleitete Norm der modération : die ideale Aristokratie wäre eine demokratische Republik, die perfekte Realisierung der modération wäre ihre Veränderung zur vertu. (EL, III, 4) Über die Chancen, die Mäßigimg in einer Aristokratie zu verwirklichen, äußert sich Montesquieu nicht. Da sie im freiwilligen Verzicht der Adligen auf ihre legitimen Herrschaftskompetenzen besteht, müssen die Aussichten für eine funktionierende Aristokratie freilich pessimistisch beurteilt werden, wenn man die allgemeine Charakterlehre Montesquieus zur Entscheidung dieser Frage heranzieht. Der Machttrieb ist für ihn eine der anthropologischen Grundkonstanten des Menschen, und es besteht daher nur geringe Wahrscheinlichkeit, daß ein Mensch, geschweige denn eine
Bedeutung der Mäßigung
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ganze Klasse, freiwillig auf die Ausübung des eigenen Herrschaftspotentials verzichtet. Aber auch die Mäßigung als Fürstentugend ist nur von hypothetischem Wert. Da die selbst auferlegte Zurückhaltung des Monarchen bei der äußeren Prachtentfaltung und bei der Ausübung der politischen Gewalt das Glück des Staatsvolkes bewirken könnte, appelliert Montesquieu zwar an die Einsicht des Herrschers, daß das rechtverstandene eigene Glück in der Mäßigung liege, doch erkennt er gleichzeitig die geringen Erfolgschancen einer solchen Argumentation. Aus historischer Erfahrung weiß er, daß gemäßigte Politiker selten sind: „Par un malheur attaché à la condition humaine, les grands hommes modérés sont rares; et, comme i l est toujours plus aisé de suivre sa force que de l'arrêter, peut-être, dans la classe des gens supérieurs, est-il plus facile de trouver des gens extrêmement vertueux." (EL, X X V I I I , 41)
Wenn die politische Theorie nicht mit der Mäßigung der Staatsmänner rechnen kann, muß die Mäßigung der politischen Institutionen an ihren Platz treten. Daher überträgt Montesquieu den Begriff der modération zur Kennzeichnung politischer Systeme auf die Verfassungsordnung. Die Gewaltenteilungslehre hat ihre psychologisch-moralische Grundlage in der Erkenntnis, daß die Mäßigung der Menschen weder die Basis für das Glück in der Staatsgemeinschaft noch für die rationale Konstruktion einer politischen Theorie sein kann. Die Mäßigung der politischen Einrichtung korrigiert die Menschennatur. Der Begriff der modération wird daher seit der Neuinterpretation der Gewaltenteilungslehre durch den französischen Juristen Ch. Eisenmann2 als Schlüssel für das Verständnis der Verfassung angesehen, die Montesquieu im 11. Buch des Esprit des lois beschrieben hat. Die Mäßigung einer Regierung (EL , XIII, 11 : la modération du gouvernement) besteht in der spezifischen Anordnung der drei Herrschaftsfunktionen nach dem allgemeinen Prinzip: „II faut que, par la disposition des choses, le pouvoir arrête le pouvoir." (EL, XI, 4) Am Beispiel des aus der historischen Beobachtung gewonnenen Idealtypus der englischen Verfassung beschreibt Montesquieu den verfassungsrechtlichen Begriff der modération nicht als séparation des pouvoirs , als die völlige Trennung der Gewalten im Funktionsmodell der politischen Herrschaft, wie eine juristische Interpretation 3 hat glauben machen wollen, sondern als die verfassungsmäßige Verwirklichung folgender Prinzipien: a) der einzelne Funktionsträger darf nicht allein zwei Gewalten ausüben; 2 Eisenmann, Ch., „La pensée constitutionnelle de Montesquieu", in : La Pensée politique et constitutionelle de Montesquieu (Recueil Sirey), Paris 1952, S. 153. 3 Eisenmann (1952), S. 136 ff.
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b) die drei Gewalten haben unterschiedliches politisches Gewicht. Die Jurisdiktion ist nach Montesquieu eigentlich keine politische Gewalt. Die Legislative ist für ihn bedeutsamer als die Exekutive und darf daher nicht allein einem Funktionsträger (König, Adel, Volk) anvertraut werden, sondern muß so auf das Staatsvolk (= Adel und Bourgeoisie) aufgeteilt werden, daß sich die unterschiedlichen Interessenpositionen beider sozialer Klassen gegenseitig neutralisieren. Zudem soll der König mit seinem Vetorecht in den Gesetzbildungsprozeß eingreifen können (faculté d'empêcher). Aus dieser Anordnung der Gewalten in der Verfassung resultiert nach Montesquieu die Mäßigung („La résultante de la composition des forces"). Die juristisch-verfassungsrechtliche Dimension des Begriffs der modération ist der ins Politische gewendete Anspruch Montesquieus, den Konsensus der konkurrierenden sozialen Gruppen zu gewährleisten, die im Ancien Régime die Forderung nach Herrschaftskompetenzen stellen konnten.4 In der Tatsache, daß die juristische Terminologie das eigentliche Problem der Verteilung der politischen Macht auf die sozialen Gruppen verschleiert, sieht auch L. Althusser den Ansatz für eine Ideologiekritik des sich im 19. Jahrhundert formierenden „Mythos" von der Gewaltenteilung. Für Montesquieu bedeutet die Mäßigung nicht nur die kunstvoll verschlungene Konstruktion von Gesetzen, die die Verfahren der Herrschaftsanwendung legalisieren, sondern das Gleichgewicht der sozialen Kräfte, deren politischer Reflex die gemäßigte Verfassimg ist: „ L a modération est tout autre chose: elle n'est pas le simple respect de la légalité, elle est l'équilibre des pouvoirs, c'est-à-dire le partage des pouvoirs entre les puissances, et la limitation ou modération des prétentions d'une puissance par le pouvoir des autres." 5
Die Gewaltenteilung zwischen König, Adel und Volk ist somit die juristische Konstruktion einer sozialen Spannungsbalance, in der die zentrale Stellung des Adels als sozialer Klasse in der Feudalordnung des Ancien Régimes fixiert wird. 6 Mit dieser Deutung der Gewaltenteilungslehre („Le parti pris de Montesquieu") stellt L. Althusser die ideologische Gebundenheit des Begriffs modération in den Mittelpunkt seiner Kritik der politischen Theorie Montesquieus. Er bezweifelt die historische Anwendbarkeit des Waageschemas für die französische Sozialordnung und damit auch der Klischeevorstellung von der Dreizahl der sozialen Kräfte: das einfache Volk (le bas-peuple ), das aus der Gleichgewichtstheorie Montesquieus 4
Eisenmann, Ch., ,JL'Esprit des lois et la séparation des pouvoirs", in: Mélanges Carré de Malberg, Paris 1933, S. 245. 5 6
Althusser , Louis, „Montesquieu. La politique et l'histoire". Paris 1959, S. 97 f.
Althusser , Louis, „Despote et Monarque chez Montesquieu", in: Esprit 26 (1958), S. 609 ff.
Bedeutung der Mäßigung
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ausgeklammert bleibt, wäre nach Althusser die einzige Klasse gewesen, die mit ihrer einheitlichen Interessenlage ein Gegengewicht gegen Adel und König hätte darstellen können, während das bei Montesquieu als peuple bezeichnete Bürgertum im 18. Jahrhundert voll in die Feudalstruktur des Ancien Régime integriert war oder doch zumindest die Integration durch die von Montesquieu stark propagierte vénalité des charges 7 anstrebte. Dieser sozialen Ideologie der feudalen Klassengesellschaft, aus der bis zu Rousseau das einfache Volk ausgeschlossen war, entspricht die politische Ideologie eines konservativen Liberalismus. 8 Das Zweikammernsystem der englischen Verfassung begeistert Montesquieu, weil der institutionell verankerte Kompromiß zwischen Adel und Bürgertum dem Juristen und Parlamentspräsidenten als eine in der Weisheit politischer Gesetze gelegene Möglichkeit zur gesellschaftlichen Harmonie vorkommt. Das Streben nach Harmonie im gesellschaftlichen Bereich, das die optimistische Verwendung des Begriffs modération rechtfertigt und doch gleichzeitig aus heutiger Sicht den reaktionären Versuch darstellt, die überlebten Vorrechte einer dekadenten Klasse zu verteidigen 9, sollte jedoch nicht als die bewußte Irreführung Montesquieus verstanden werden, die Belange des französischen Adels zur Grundlage einer allgemeinen Theorie der Staatsverfassung zu machen. Die Intention des Autors transzendiert vielmehr den ideologischen Herkunftsbereich parlamentarischer Reflexion ganz bewußt und bleibt ihr dennoch durch die Verbindlichkeit des zugrundeliegenden Verhaltensmodells verpflichtet. Der Begriff der Mäßigung wird zum Muster für gesellschaftliche und politische Bereiche, denen der Zusammenhang mit aristokratischen Interessen nicht mehr nachzuweisen ist. Seine wahre Bedeutung erklärt sich daher nicht aus der isolierten Betrachtung der Gewaltenteilungslehre; dies ist auch die Meinung Kassems: „Au fond, c'est la modération qui caractérise tout le système."10 Obwohl der Begriff modération durch die entscheidende Rezeption der aristotelischen Politik an das Jahr 1734 gebunden ist, wird das allgemeine Prinzip der Mäßigung, das die Dauer und Stabilität eines Staates durch den Ausgleich der Macht in jeder Form gewährleistet, schon
7
Vgl. Geffroy , Α., „Le peuple selon Saint-Just", in: AHRF 40 (1968), S. 138-144.
8
Vgl. Aron , Raymond, „Les étapes de la pensée sociologique". Paris 1967, S. 53; Ehmrd , Jean, „L'idée de nature en France dans la première moitié du X V I I I e siècle". Chambéry 1963, S. 508. 9
Göhring, M., „Weg und Sieg der modernen Staatsidee in Frankreich". Tübingen 1946, S. 139 f. 10 Kassem, B., „Décadence et absolutisme dans l'œuvre de Montesquieu". Genf / Paris 1960, S. 261.
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vor seiner expliziten Formulierung im Esprit des lois angetroffen 11 und ist keineswegs nur das charakteristische Merkmal der letzten Bücher seines Hauptwerkes. 12 Die Mäßigung wird von Montesquieu nicht auf das parlamentarische System der englischen Verfassung beschränkt, sondern gilt in gleichem Maße für die römische Republik und die französische Monarchie. Der englische Liberalismus und die feudale Klassengesellschaft des Ancien Régime basieren im Selbstverständnis des Autors auf dem gleichen Begriff der modération. Montesquieu sucht also zwischen den grundverschiedenen politischen und gesellschaftlichen Strukturen nicht das Trennende, sondern das Gemeinsame. Damit bestätigt sich die Schlußfolgerung J. Ehrards 13, der von der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts als von dem Zeitalter des Kompromisses gesprochen und Montesquieu als den typischen Denker dieser Epoche dargestellt hat. Unsere Analyse zeigt darüber hinaus, wie die politischen Begriffe funktionieren müssen, um die Koexistenz gegensätzlicher politischer Strukturen in einer homogenen politischen Theorie zu garantieren. Die Einheitlichkeit, die der englischen und der französischen Staatsform mit dem Attribut modération gegeben wird, beweist Montesquieu mit einem historischen Rekurs auf ihren gemeinsamen Ursprung aus germanischer Wurzel. Beide Verfassungen sind gemäßigt, weil sie auf den gleichen Staatstypus des gouvernement gothique zurückgehen. Zwischen dem sozialen Gleichgewicht der mittelalterlichen Gesellschaftsordnung und dem bürgerlichen Liberalismus der englischen Verfassung sieht Montesquieu prinzipiell keinen Unterschied: beide ordnen sich der Vorstellung des sozialen Gleichgewichts und der Mäßigung unter. Die abstrakte Reflexion der juristisch-staatsrechtlichen Mäßigung wird mit der Faktizität historischer Entwicklung belegt. Mit der Ausfaltung ihres ideologischen Ursprungs ist die Bedeutung der modération für die politische Theorie Montesquieus nicht erschöpfend beschrieben. Es wäre sonst kaum zu verstehen, daß die französische Revolution in Montesquieu einen ihrer Wegbereiter hat sehen können. Nicht weil er die bestehende Gesellschaft im Namen einer vergangenen bekämpfte, konnte sein Name auf das Banner einer neuen Sozialordnung geschrieben werden 14: „L'idéal que poursuivent les hommes de la révolution, leurs valeurs, leurs façons de sentir se transforment, mais Montesquieu reste l'artiste qui leur enseigne comment réaliser certains buts, l'architecte qui
11 Schunck , P., ,JDie Reisen Montesquieus und der Aufbau des Esprit des lois 44 , in: GRM 18 (1968), S. 128 f. 12 Meyer , P. H., „Politics and morals in the thought of Montesquieu44, in: StV 56 (1967), S. 866 f. 13
Ehranl(\963)
14
Althusser (\959\
y
S. 736, 786; Meyer ( 1967), S. 886. S. 114 f.
Bedeutung der Mäßigung
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leur montre la structure légale d'une société, les règles de l'art social, de la législations."15 Neben der Betonung der Gesetze für die Konstruktion einer neuen Verfassung, die Groethuysen hier als eine der wesentlichen Wirkungen Montesquieus auf die Zeit der Französischen Revolution herausstellt, und neben dem ideologischen Gehalt der Gewaltenteilung, von dem auch Althusser zugestehen muß, daß er durch die juristische Terminologie verschleiert wird 16 , hat besonders die Modellvorstellung der modération , des Machtausgleichs und des Gleichgewichts der politischen und sozialen Kräfte auf die späteren, liberalen Leser gewirkt. 17 In diesem Sinne interpretiert R. Aron die Mäßigung, indem er sie aus dem historischen Kontext der französischen Monarchie und der englischen Verfassung herauslöst und sie zu einer zeitlosen, immer noch gültigen Denkweise macht: „Le but de l'ordre politique est d'assurer la modération du pouvoir par l'équilibre des puissances." 8 Ausdrücklich wendet Aron diese Vorstellung auch auf moderne Regierungssysteme an19: „Par-delà la formation aristocratique de sa doctrine de l'équilibre des puissances et de la coopération des pouvoirs politiques, Montesquieu a posé le principe selon lequel la condition du respect des lois et de la sécurité des citoyens, c'est qu'aucun pouvoir ne soit illimité." 20 Über den Umweg der politischen Institutionen wird die aus der Analyse seiner Natur gewonnene Eigenschaft des Menschen, seinem Machttrieb nachzugeben, von Montesquieu und schließlich auch von seinen liberalen Interpreten für die politische Theorie akzeptiert. Mäßigung bedeutet, daß es dem Menschen möglich ist, wenn auch nicht immer in absolutem Frieden, so doch in relativer Ruhe und Sicherheit zu leben, wenn die politischen und sozialen Ungleichheiten nicht allzu groß sind. Auf diese Mittelmäßigkeit der menschlichen Natur muß der Gesetzgeber hinzielen. Er erläßt seme Gesetze für durchschnittliche Menschen (EL, XXIX, 16: „des gens de médiocre entendement"). Nur wenn der Gesetzgeber die Mittelmäßigkeit der Bürger 21 in seiner legislativen Arbeit mitberücksichtigt, kann seine Konstruktion einer Verfassung von Dauer sein. In dieser Mäßigung besteht, dem Selbstverständnis des Autors zufolge, die wesentliche Eigenschaft des Gesetzgebers: „Je le dis, et il me semble que je n'ai fait cet ouvrage que pour le prouver: l'esprit de modération doit être 15
Groethuysen , Bernard, „Philosophie de la Révolution Française". Paris 1956,
S. 62. 16
Althusser ( 1959, S. 102.
17
Vgl. ζ. Β. Saint-Just , „L'Esprit de la Révolution". Paris 1963, Troisième partie, chap. II, S. 50. 18
Aron (1967), S. 63.
19
Ibid., S. 63.
20
Ibid., S. 43.
21
Stark , W., „Montesquieu Pioneer of the Sociology of Knowledge". London 1960,
S. 61.
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celui du législateur." (EL, XXIX, 1) Ob Montesquieu mit législateur eine reale Person meint - die dann wiederum den Gefahren des Machtmißbrauchs unterliegen könnte - oder den historischen Prozeß umschreibt, der zu einer gemäßigten Verfassungsform führt, läßt sich kaum eindeutig beantworten. Es ist aber klar geworden, daß der Anwendungsbereich der modération nicht auf die Theorie der Staatsverfassung beschränkt ist. Das Ideal der rechten Mitte scheint die wichtigste Lehre zu sein, die der Autor in seinem Werk weitergibt: „Le but avoué de Montesquieu est donc d'introduire l'esprit de modération dans la législation. Pour lui, le mal se confond toujours avec l'excès." 22 Die Mäßigung ist die positive Mitte eines Bewertungsschemas, an dessen beiden Extremen nicht nur die Erscheinungsformen des Despotismus, sondern alle negativ beurteilten Verhaltensweisen auftreten: „Le bien politique, comme le bien moral, se trouve toujours entre deux limites." (EL, XXIX, 1) Als isomorphes Modell wird der Begriff der modération somit in den verschiedensten Bereichen wirksam. Die wünschenswerte finanzielle Situation der Bürger - gleich welcher Staatsform - orientiert sich am Modell der Mittelmäßigkeit (EL,V, 3) ebenso wie die Lösung, die Montesquieu für das Luxusproblem vorschlägt. Im Begriff der Police hat Montesquieu den maßvoll gemischten Staat definiert, für den der zwanghafte Zerfall der staatlichen Ordnung durch den mittleren Reichtum seiner Bürger wenigstens für eine gewisse Dauer aufgeschoben ist. 23 Solange in England der Mittelstand (état moyen) noch nicht korrumpiert ist, wird nach Montesquieu das englische System der Freiheit weiterbestehen bleiben.24 In einem Brief an Domville führt er diese Behauptung auf ihre ökonomischen Grundlagen zurück: die Ursache für den Reichtum Englands bestehe in einem Verteilungsprozeß des volkswirtschaftlichen Gewinns, der alle am wirtschaftlichen Wachstum beteilige. Die Mittelmäßigkeit („Pensée" Nr. 2054: ... est un garde-fou) bedeute ausreichenden Reichtum für alle, damit die Unterdrückung des Gefühls des unterprivilegierten Bürgers, aus seiner sozialen Rolle ausbrechen zu müssen. („Pensée" Nr. 1387) Der Begriff der modération überschreitet seinen Anwendungsbereich in der politischen und sozialen Analyse. Das Modell des Machtausgleichs und der Suche nach einer Mitte zwischen Extremen ist allgemeiner Ausdruck eines inneren Bedürfnisses nach Ruhe, Übersicht und Ordnung: „Montesquieu ist seinem ganzen Wesen nach ein ,statischer' Mensch, also ein Mensch, dem innere Ruhe und Ausgeglichenheit ein Lebensbedürfnis sind. Er
22
Derathé , R., „La phüosophie des lumières en France. Raison et modération selon Montesquieu", in: Revue Internationale de Philosophie 6 (1952), S. 285. 23
„Pensée" Nr. 1917; vgl. Ehrard (1963), S. 782.
24
„Pensée" Nr. 1960.
Bedeutung der Mäßigung
213
meidet ängstlich jedes Extrem [...]. ,Modération 4 ist das eigentliche Schlüsselwort für Montesquieu." 2 5
Sich selbst begreift Montesquieu als einen gemäßigten Menschen zwischen extremen Positionen und unterwirft damit die Beurteilung des eigenen Naturells der gleichen Bewertungskategorie, die für seine politische Theorie gültig ist. Das Modell der modération (le bien [...] entre deux limites) ist damit jedoch in seiner Bedeutung für das Werk Montesquieus noch nicht erschöpft. Die Mäßigung ist vielmehr eine „Tiefenstruktur", die die Verwendungsweisen seiner politischen Begriffe „generiert" und ihren Funktionsrahmen in der politischen Theorie absteckt. Die Modellvorstellung von der Mitte zwischen Extremen erlaubt es, politische Begriffe und politische Theorie unter einer einheitlichen Kategorie zu betrachten und ihren Zusammenhang genauer zu bestimmen. Das Verwendungsschema der politischen Begriffe ist bei Montesquieu nicht einfach bipolar im Sinne einer positiven und negativen Bewertung 26 politischer Sachverhalte aufgebaut, sondern benötigt zwei extreme Positionen, zwischen denen sich der mehr oder weniger vage Zwischenraum als modération einer präzisen Bestimmung entzieht. Dadurch, daß im Schema zwei Gegenbegriffe miteinander in Verbindung treten, wird der Zusammenhang eines Begriffes mit dem übrigen Vokabular gewährleistet. Das Schema dieser Begriffsverwendung lautet: Negatiwerwendung - Positiwerwendung - Gegenbegriff
Nach dieser Verwendungsstruktur reguliert sich der Gebrauch eines großen Teils der politischen Begriffe, aber auch die Schlüsselbegriffe des Aufklärungszeitalters - Vernunft, Natur, Glück und Freiheit - werden entsprechend gebraucht. Wenn der Autor selbst das Übermaß an Vernunft ablehnt (EL, XI, 6: „Moi, qui crois que l'excès même de la raison n'est pas toujours désirable"), dann orientiert er sich bei der Verwendung des Begriffs raison am Schema der modération : „Revenir à la raison, c'est, pour Montesquieu, s'éloigner des extrêmes pour se rapprocher du juste milieu." 27 Dies zeigt sich noch deutlicher bei der Beurteilung der Intelligenz der Menschen in politischer Hinsicht. Das mittlere Intelligenzniveau der Bürger (EL, V, 2: „Souvent il a tiré de la médiocrité de ses [i. e. das Volk] lumières un attachement plus fort pour ce qui est établi") trägt mehr zur Sicherheit und Stabilität in einem Staat bei als die unstete Suche nach neuen, möglicherweise besseren Herrschaftsverhältnissen. In einem freien Staat wie England ist es gleichgültig, ob die Menschen richtig denken oder 25 Ruchti, M., „Raum und Bewegung im ,Esprit des lois'. Versuch eines Deutung des Stüs von Montesquieu". Zürich (Phil.Diss) 1950, S. 50. 26
Zimmermann, H. D., „Die politische Rede". Stuttgart 1969, S. 155 ff.
27
Derathé (1952), S. 283.
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nicht. Der extreme Gebrauch der Vernunft ist für die Menschen ebenso unverträglich wie die Unvernunft. Der Grund dafür liegt in der Einsicht Montesquieus in die Natur der Menschen, die er als eme Suche nach der Mitte, in der Ruhe und Zufriedenheit liegen, definiert: „Les hommes s'accommodent toujours mieux des milieux que des extrémités." (EL, XI, 6) Die Vernunft, die Montesquieu seit den „Lettres persanes" (LP 80) als Mäßigung bei der Gewaltausübung definiert, erreicht ihr Ziel auf Umwegen, dafür aber auf menschliche Weise: „Inviter, quand i l ne faut pas contraindre; conduire, quand i l ne faut pas commander, c'est l'habileté suprême. La raison a un empire naturel; elle a même un empire tyrannique: on lui résiste, mais cette résistance est son triomphe; encore un peu de temps, et l ' o n sera forcé de revenir à elle." (EL, X X V I I I , 38)
Auch der Begriff nature ordnet sich bei Montesquieu in das Verwendungsschema der modération ein. Schon in den „Lettres persanes" bestimmt Montesquieu die Natur als Mäßigung: „ L a nature agit toujours avec lenteur, et, pour ainsi dire, avec épargne: ses opérations ne sont jamais violentes; jusque dans ses productions, elle veut de la tempérance; elle ne va jamais qu'avec règle et mesure; si on la précipite, elle tombe bientôt dans la langueur." (LP 114)
Gerade deshalb kann der Gesetzgeber, der den Rat Montesquieus zur Mäßigung befolgt (EL, VI, 12: „II ne faut point mener les hommes par les voies extrêmes"), auf das Vorbild der Natur zurückgreifen (Suivons la nature , E L , V I , 12).
Auch die Tugend (EL, XI, 4: „Qui le diroit! La vertu même a besoin de limites"), das Glück („L'excès du plaisir ne se trouve que dans la modération des plaisirs") und die Freiheit (EL, XI, 6: „Je ne prétends point [...] que cette liberté politique extrême doive mortifier ceux qui n'en ont qu'une modérée") unterliegen demselben Modellzwang der modération. Die Wertbegriffe Freiheit, Glück und Tugend werden für Montesquieu erst dadurch zu politischen Begriffen, daß sie gemäßigt werden und Elemente der Gegenposition in sich aufnehmen. Die reine Freiheit stellt ebenso wie die reine Moral eine philosophische Fiktion dar. Sobald diese Normen aus der moralischen Spekulation in die politische Theorie eintreten, verändern sie ihre Bedeutung: „La place naturelle de la vertu est auprès de la liberté; mais elle ne se trouve pas plus auprès de la liberté extrême, qu'auprès de la servitude." (EL, VIII, 3) Die platonische Vorstellung von der autonomen Existenz der Begriffe, die unveränderbare konstante Wesenheiten bezeichnen,28 wird damit einer radikalen Kritik unterworfen. Die politischen Begriffe erhalten ihre Bedeutung im Kontext der politischen Theorie, indem sie dem zentralen Verwendungsmodell der
28
Schmidt, S. J., „Bedeutung und Begriff. Braunschweig 1969, S. 9 ff.
Bedeutung der Mäßigung
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Mäßigung untergeordnet sind. Politik ist, wie H. Dieckmann29 gezeigt hat, mit Recht und Naturwissenschaft ein Bereich, in dem die irrige Annahme zeitlos gültiger Normen viel früher mit dem Hinweis auf ihre historische Bedingtheit zurückgewiesen wurde als in der ästhetischen Reflexion des 18. Jahrhunderts unter der hemmenden Autorität der klassischen Doktrin. Das Modell der modération zeigt, wie sich im politischen Bereich der Übergang von zeitlosen Normen zu deren zeitgeschichtlicher Gebundenheit sprachlich in einer Kompromißformel ausgedrückt, die die Relativität der Werte der überindividuell verbindlichen Norm der Mäßigung verpflichtet. Damit wird natürlich eine Wertordnung der politischen Begriffe im Werk Montesquieus überhaupt problematisch. Ebensowenig wie er einen absolut besten Staat benennen kann, bestimmt er Tugend, Freiheit oder Glück als absoluten Bezugspunkt des politischen Handelns. Ihre positive Bewertung erhalten die Begriffe erst, wenn sie gemäßigt sind. Wenn also einer Wertvorstellung ein entscheidender Platz im politischen Denken Montesquieus eingeräumt werden soll, dann der Mäßigung selbst. Die Position der Mäßigung und das Verwendungsmodell seiner politischen Begriffe hat Montesquieu freilich noch nicht zu Beginn seiner politischen Reflexion fertig entwickelt. Wohl ist eine allgemeine Wertschätzung der Mäßigung und der Milde in der Machtausübung schon in den „Lettres persanes" zu erkennen, doch entsteht das Modell der modération erst in einer dialektischen Entwicklung, innerhalb derer die beiden extremen Positionen auf ihre Unbrauchbarkeit für die politische Theorie hin untersucht worden sind. Von der Bewunderung für die unverhüllte Machtpolitik der römischen Gesetzgeber wendet sich Montesquieu zur reinen Moral der Troglodyten in den „Lettres persanes" und erkennt schließlich, daß eine praktikable Politik beide Forderungen erfüllen muß. Machtpolitik und moralischer Impetus gehen schließlich in den Begriff der Politik mit ein. Darin eine Wandlung von metaphysischer Spekulation zum Pragmatischen zu sehen30, hieße, nur eine Seite des Entwicklungsprozesses zu sehen. Das Verwendungsmodell der modération prägt nicht nur den Gebrauch der Wertbegriffe der politischen Theorie, eine Vielzahl weiterer Begriffe werden nach diesem Schema verwendet. Dabei unterstreicht der Autor häufig selbst die Bedeutungspolarisierung seiner Begriffe, indem er ihre Verwendung explizit bewertet: (le vrai bonheur - le faux bonheur ; la vraie paix, une division réelle). Selbst Begriffe, die Montesquieu aus humanistischer Tradition besonders schätzt, wie tranquillité , werden dem Bewertungsmodell unterworfen. Ruhe ist nicht nur ein positiver Gegenbegriff zu Unruhe, Aufstand, gesellschaftlicher Unordnung, sie kann auch 29 Dieckmann, H., „Der Wandel des Nachahmungsbegriffes in der französischen Ästhetik des 18. Jahrhunderts", in: Nachahmung und Illusion, München, 2 1969, S. 31. 30
Ehrard (1963), S. 498 ff.
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die Totenstille in einem despotisch regierten Staat bedeuten: „Comme le principe du gouvernement despotique est la crainte, le but en est la tranquillité; mais ce n'est point une paix, c'est le silence de ces villes que l'ennemi est prêt d'occuper." (EL, V, 14) In ähnlicher Weise wird der Begriff mouvement in die Polarisierung der Staatsformen einbezogen31; zwischen völliger Bewegungslosigkeit und rastloser Unruhe, die beide den despotischen Staaten zugeordnet werden, kommen gleichmäßige und geordnete Bewegungen den gemäßigten Staaten zu. 32 Auch die Gleichheit in der Demokratie ist politisch nur als Mitte zwischen Ungleichheit und extremer Gleichheit sinnvoll. (EL, VIII, 2) Selbst Formbegriffe wie système und art werden nach diesem Schema verwendet. Zwischen der negativ beurteilten, die reale Unordnung verbal verschleiernden Ordnung von système und der uniformité als Gegenbegriff gibt es eine positive Ordnung, die mit système ausgedrückt wird und die die gemäßigten Staaten bezeichnet.33 Die Bedeutung, die die Mäßigimg für die politische Terminologie und Theorie Montesquieus übernimmt, hat ihren Ausgangspunkt im Selbstverständnis und in der politischen Zielsetzung des Autors. Er will allen Völkern die Prinzipien einer wissenschaftlich fundierten politischen Theorie darlegen. Die Einheitlichkeit dieses Ordnungsentwurfs wird jedoch zunehmend von dem Bewußtsein der Widersprüchlichkeit der sie konstituierenden Elemente infragegestellt. Die Unsicherheit, Resignation und Müdigkeit, die aus der Korrespondenz Montesquieus um die Jahre 17461747 spricht 34, ist nicht nur ein Zeichen für die körperliche Erschöpfung kurz vor der Fertigstellung seines Hauptwerkes, sondern auch für die wachsende Einsicht in die Schwierigkeit, einheitliche Prinzipien für eme homogene Theorie zu finden. Die Widersprüche seines Systems sind nicht gering: die Einheitlichkeit emes naturgesetzlichen Determinismus als Grundlage einer rein beschreibenden Soziologie geht nur bis zu der Grenze, an der Moral und Vernunft die konsequente Weiterführung verbieten. So schreibt Montesquieu über die Tortur in den verschiedenen Staaten: „J'allois dire qu'elle pourroit convenir dans les gouvernemens despotiques, où tout ce qui inspire la crainte entre plus dans les ressorts du gouvernement;
31 Zur despotischen Unruhe: „tomber", „précipiter", „couper", z. B. EL, V, 13: „Quand les sauvages de la Louisiane veulent avoir du fruit, ils coupent l'arbre au pied, et cueillent le fruit. Voûà le gouvernement despotique." Im Gegensatz dazu kritisiert Montesquieu die völlige Ruhe („l'entière inaction") der Inder (EL, X I V , 5). 32 33
EL, XI, 6.
„système" negativ verwendet: „Pensées" Nr. 1603,1610 usw.; positiv verwendet: „Pensée" Nr. 831. 34 Korrespondenz, Nagel III, S. 1062,1083,1090.
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j ' a l l o i s dire que les esclaves, chez les Grecs et chez les Romains [...] Mais j'entends la voix de la nature qui crie contre moi." (EL, V I , 17)
Hier wird der methodische Riß im Ordnungsentwurf Montesquieus emotional thematisiert, der durch den Begriff der Mäßigung verschleiert werden soll. Auch die Widersprüche, die sich aus den unterschiedlichen Verfassungsstrukturen der englischen und französischen Monarchie ergeben, versucht Montesquieu mit dem Begriff der Mäßigung zu harmonisieren. Die Mäßigung ist ein Begriff, der seit 1734 auf die Verfassungsstrukturen der verschiedenen Staaten angewendet worden ist, um deren Einheitlichkeit für die politische Theorie zu konstituieren. Das frühere Unbehagen an der liberalen Konzeption des englischen Zweikammernstaates versucht Montesquieu nun dadurch zu überwinden, daß er in ihm Prinzipien entdeckt, die eine gleiche Behandlung mit den feudalen Strukturen der französischen Monarchie ermöglichen. Die Widersprüche zwischen dem Feudalregime und dem liberalen System, das die legitimen Ansprüche der Bourgeoisie mitberücksichtigte, werden in der politischen Theorie Montesquieu ebenfalls durch den Begriff der Mäßigung überwunden. Usbek konnte den tragischen Konflikt zwischen aufklärerischer Intelligenz und Unvermögen zur revolutionären Handlung35 nicht lösen. An der Schwelle zu neuen Werten politischen Handelns und der politischen Reflexion zeigt Montesquieu die Möglichkeiten und Grenzen der alten gesellschaftlichen Ordnung und des traditionellen politischen Denkens auf. Aus dem Fragehorizont einer sich kategorial verändernden politischen Theorie, die sich ihrer Entwicklung von der Normengültigkeit der klassisch-politischen Philosophie zur empirisch-soziologischen Erfahrungswissenschaft bewußt ist, wird die grundlegende Ambivalenz der politischen Begriffe im Werk Montesquieus verständlich. Die Koexistenz von Widersprüchlichkeit und Mäßigung ist nicht nur die Addition einseitig rezipierender Interpretationen, sondern ist in der Polysemie der politischen Begriffe angelegt. Das Paradigma der modération gibt dem politischen Denken Kontinuität und ermöglicht es durch die Hoffnung, die neuen Elemente der politischen Theorie - das liberale Regierungssystem englischer Prägung, die soziologische Betrachtungsweise gesellschaftlicher Phänomene unter Wahrung positivistischer Neutralität sowie die Relativität der traditionellen Bezugswerte Vernunft, Freiheit, Glück und Tugend in die alte Sicht der Welt integrieren zu können. Das im Bewußtsein historischen Wandels funktionierende Verhaltensmodell der modération offenbart jenen sozialpsychologischen Mechanismus der Entfaltung gruppenspezifischer Selbstbestimmungswerte zu allgemeingültigen Vokabeln des politischen Weltbegreifens überhaupt. Das theoretische Konzept der Mä-
35 Laufer, R., „Les Lettres persanes", in: ders., Style rococo, style des lumières. Paris 1963, S. 51-72.
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ßigung, das die Widersprüche der politischen Theorie - und damit der dargestellten Welt - harmonisiert und sie als notwendige Elemente eines einheitlichen und universellen Ordnungsentwurfes uminterpretiert, konnte im Laufe der Untersuchung in seinem Herkunftsbereich, der amtsaristokratischen Ideologie lokalisiert und seine Übernahme und Ausweitung in der politischen Theorie Montesquieus verfolgt werden. Dieser Versuch hat freilich nur individuelle Geltung. Im Rezeptionsprozeß der politischen Theorie zerbrach die ursprüngliche Einheitlichkeit, die durch das Paradigma der modération gewährleistet wurde, an der veränderten historischen Lage. Die gesellschaftlichen Probleme wurden in der Französischen Revolution nicht durch Maßhalteappelle gelöst. Editorische Notiz In: K., W., „Mäßigung und Politik. Studien zur politischen Sprache und Theorie Montesquieus". München, Fink, 1975 (Münchner Romanistische Arbeiten. 42). S. 217-229.
Friedrich der Große und Montesquieu Zu den Anfängen des Rechtsstaats im 18. Jahrhundert Detlef Merten (1987) „... und als wäre der Rechtsstaat Etwas, was Sie sich auszudenken hätten und worin wir nicht schon seit Jahrhunderten lebten!" (Abg. Wagner, 24. Sitzung des Reichstages des Norddeutschen Bundes)
Sie sind einander nie begegnet: der preußische König und der französische Baron, der roi-phüosophe und der homme de lettre, das aufgeklärte Staatsoberhaupt und das staatstheoretische Oberhaupt der Aufklärung. Aber sie haben einander bewundert und beeinflußt, und ihre Nachwirkung, verstärkt durch die Wechselwirkung, bezeugt das geistige und politische Leben bis auf den heutigen Tag. L Als Friedrich 1740 kurz nach seiner Thronbesteigung getreu seinem Wahlspruch pro gloria et patria das „Rendezvous des Ruhmes" in Schlesien sucht1, ist der Ruhm Montesquieus längst gefestigt. Bereits sein erstes Druckwerk, die 1721 anonym veröffentlichten „Lettres persanes"2, hatte einen ebenso überraschenden wie überwältigenden Erfolg, der zehn weitere Auflagen allein im Jahr des Erscheinens erforderte. Dabei war das Stümittel nicht neu. Nicht nur die Briefform als solche - von Pascal stammten „Lettres à im Provincial" -, sondern auch ihre Verwendung für die kritisch-satirische Sicht heimischer Verhältnisse mit den Augen eines Fremden, insbesondere eines Orientalen, hatte Vorläufer 3, 1
Hierzu Schieder, Theodor, „Macht und Recht. Der Ursprung der Eroberung Schlesiens durch König Friedrich Π. von Preußen", in: Hamburger Jahrbuch für Wirtschaftsund Gesellschaftspolitik, 24 (1979), S. 235 ff.; ders., Friedrich der Große. Ein Königtum der Widersprüche", 1983, S. 127 ff.; Baumgart, Peter, „Die Annexion und Eingliederung Schlesiens in den friderizianischen Staat", in: Expansion und Integration. Neue Forschungen zur brandenburg-preußischen Geschichte, Bd. 5,1984, S. 81 ff. 2 Die „Persischen Briefe" werden nach der Ausgabe Œuvres complètes, hrsg. von Roger C ail lois, Paris 1949, zitiert. Die Numerierung in deutschen Übersetzungen weicht teilweise davon ab. 3
Vgl. Maratta , Giovanni-Paolo, „Letters written by a Turkish spy", London 1687. Eine französische Übersetzung („L'Espion turc dans les cours des princes chrétiens", Cologne 1717) befand sich in Montesquieus Bibliothek; vgl. Desgraves , Louis, „Catalogue de la bibliothèque de Montesquieu", Genf, Lille 1954, S. 163, Nr. 2284. In diesem Zusammenhang Toldo, Pietro, „Dell' Espion di Giovanni Paolo Marana e delle sue atti-
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Detief Merten
die Montesquieu kannte und verwandte. Und so spricht der scharfsinnige und scharfzüngige Voltaire später von einer Nachahmung, mit der Montesquieu seine Vorbilder übertreffen, seinen Genius jedoch nicht erreicht habe4 Die Popularität der „Persischen Briefe" beruhte nicht unwesentlich auf dem Verfremdungseffekt, der wirkungsvollen Transposition in das Geheimnisvoll-Morgenländische. Nach gebannter Türkengefahr 5 hatte der Vorstoß des fremden Kulturkreises bis in das Herz Europas neugierig gemacht. So dringt der Reiz des Exotischen in die europäische Kultur ein und schlägt sich in Musik, Literatur und Architektur nieder. Oper und Schauspiel verlegen ihre Handlung vielfach in den Orient; Chinoiserien zieren europäische Schlösser. Auch Friedrich der Große wird später ein chinesisches Teehaus und ein Drachenhaus in Sanssouci errichten und den Bau einer Moschee planen.6 Montesquieu befriedigt das Interesse am Orient, indem er in der Form fiktiver Reiseliteratur7 die Gesellschaft und Kultur Persiens schildert, insbesondere auch das Leben im Serail ausmalt wie überhaupt die Aufklärung gern das Erotische ins Exotische projiziert 8. Montesquieus Erfolg führte zu Nachahmungen Marquis d'Argens, selbst Türkei-Reisender und später enger Vertrauter Friedrichs 9, verfaßte 1738 die „Lettres juives", einen fingierten Briefwechsel zwischen drei weitgereisten Juden, und ein Jahr später die „Lettres chinoises", die dann ihrerseits Vorlage für die „Chinese Letters" 10 Oliver Goldsmiths wurden. Friedrich war als Kronprinz
nenze con le Lettres persanes del Montesquieu", in: Giornale storico della letteratura italiana, 1897, S. 46 ff. Voltaire wirft ihm auch eine Anlehnung an Dufresnys fiktiven Brief eines Siamesen (in: ,Amusements sérieux et comiques") vor, vgl. Voltaires Vorwort zu seinem Kommentar über den „Geist der Gesetze", in: Ellissen, Adolf (Hrsg.), Montesquieu's Werke, Der Geist der Gesetze, Leipzig 1854, S. 79. Vgl. im übrigen Shackleton, Robert, „Montesquieu", Oxford 1961, S. 28 ff. 4 I m Vorwort zu seinem Kommentar über den „Geist der Gesetze", abgedruckt bei Adolf Ellissen (Hrsg.), Der Geist der Gesetze (Fn. 3), S. 79. 5 A u f den Türkenkrieg, insbesondere Prinz Eugen, geht Montesquieu in Brief CXXIII (Usbek an Mollak Méhémet A l i ) ein. Mit Eugen trifft er 1728 in Wien zusammen. Hierzu Shackleton, „Montesquieu" (Fn. 3), S. 91. 6
Hierzu Giersberg, S. 139 ff.
Hans-Joachim, „Friedrich als Bauherr",
1986, S. 115 ff.,
7 Vgl. in diesem Zusammenhang Wuthenau?, Ralph-Rainer, „Reiseliteratur in der Zeit der Aufklärung", in: Wessels, Hans-Friedrich (Hrsg.), Aufklärung, 1984, S. 161 ff. 8
Vgl. z. B. Diderot, Denis, „Supplément au voyage de Bougainvüle".
9
Vgl. den umfangreichen und freundschaftlichen Briefwechsel, abgedruckt in: „Œuvres de Frédéric le Grand", hrsg. von Preuß, Tome X I X , Berlin 1852; teüweise auch i n Friedrich der Grosse, „Mein lieber Marquis! Sein Briefwechsel mit Jean-Baptiste d'Argens während des Siebenjährigen Krieges", hrsg. von Hans Schumann, 1985. 10 Späterer Titel: „The Citizen of the World or Letters from a Chinese Phüosopher, residing in London, to his friends in the East", London 1762. In deutscher Übersetzung hrsg. von Friedemann Berger, „Der Weltbürger oder Briefe eines in London weüenden
Friedrich der Große und Montesquieu
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von der Lektüre der „Jüdischen Briefe" so angetan, daß er d'Argens nach Rheinsberg ziehen wollte11, was zunächst scheiterte. 1760 wird der König dann seme „Relation de Phihihu"12, satirische, gegen die römische Kurie gerichtete Reisebriefe eines chinesischen Botschafters in Europa veröffentlichen. Von Voltaire erscheinen 1776 die „Lettres chinoises, indiennes et tartares"; aber schon seine 1733 publizierten „Lettres philosophiques (Lettres anglaises)" zeigen den Einfluß Montesquieus. Die publizistische und politische Wirkung der „Persischen Briefe" beruhte freilich nicht auf der Gestalt, sondern auf dem Gehalt des Werkes. Die „reizende Sinnlichkeit" war eben nur die „leichte Hülle" 13 für die schwere und schonungslose Kritik des ancien régime, dessen Ämterkauf 14 und Mätresseneinfluß 15, Justizübel16 und Parlamentsentmachtung17, MißWirtschaft 18 und Finanzskandale19, chinesischen Philosophen an seine Freunde im fernen Osten", 1986. Zur Entstehungsgeschichte und zum Einfluß Montesquieus und d'Argens' Friedemann Berger, S. 409 ff. 11
Vgl. Thiébault , Dieudonné, Friedrich der Große und sein H o f 4 , Bd. 2, 1901,
S. 275. 12
„Relation de Phihihu, émissaire de l'empereur de la Chine", in: Œuvres, Tome X V , S. 147 ff. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Friedrichs Brief an Voltaire vom 12. Mai 1760, abgedruckt in: Publikationen aus den K. Preußischen Staatsarchiven, Bd. 86, hrsg. von R. Koser und H. Droysen, 1911, S. 104; vgl. auch Mangold, W., „Nachahmungen Montesquieus und Bossuets von Friedrich dem Großen", Arch. f. d. Studium der neueren Sprachen und Litteraturen 102, 1899, S. 331 ff. sowie seine ,JÈpitre" an d'Argens vom März 1760, Œuvres, Tome XII, 1849, S. 146 ff. („Mais après les Lettres persanes et les écrits d'un certain juif ..."). 13 Goethe, „Schriften zur Literatur, Anmerkungen zu Rameaus Neffe", in: Werke, Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, Bd. 12,1978, S. 268. 14
Lettre L X V I I I (Rica à Usbek). Zur Ämterkäuflichkeit in Frankreich siehe: ,Ämterkäuflichkeit. Aspekte sozialer Mobüität im europäischen Vergleich (17. und 18. Jahrhundert)", hrsg. von Malettke, Klaus, 1980, insbes. die Beiträge von Roland Mousnier, Kuno Böse und François Bluche. Vgl. femer Böse, Kuno, „Die Auseinandersetzung um die Ämterkäuflichkeit in Frankreich", in: Soziale und politische Konflikte im Frankreich des Ancien Régime, hrsg. von Klaus Malettke, 1982, S. 125 ff. Im,Esprit des lois" befürwortet Montesquieu den Ämterkauf (V/19), was ihm den Angriff Voltaires einträgt. Hierzu Böse, S. 172 f f ; vgl. in diesem Zusammenhang ferner Friedrich den Grossen, „Essai sur les formes de gouvernement et sur les devoirs des souverains", in: Œuvres, Tome I X , 1848, S. 199 Mitte. 15
Lettre C V I I (Rica à Ibben).
16
Lettres L X V Ï Ï I (Rica à Usbek) und L X X X V I (Rica à ***).
17
Lettres XCE (Usbek à Rhedi) und CXL (Rica à Usbek). Zur Stellung der parlements s. Peter Claus Hartmann , „Französische Verfassungsgeschichte der Neuzeit (1450-1980)", S. 21 ff. 18
Lettre C X X I V (Usbek à Rhedi).
19
Lettres X X I V (Rica à Ibben), C X X X V Ï Ï I (Rica à Ibben) und C X L I I (Rica à
Usbek).
Detief Merten
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Ministerwillkür 20 und Herrscherlaunen 21 angeprangert wurden und die in eine fundamentale Anklage der despotischen Monarchie mündete. Trotz des anonymen Erscheinens hatten die „Persischen Briefe" ihren Autor schlagartig berühmt gemacht, wodurch sich auch sein Leben änderte. Sein einer Senatspräsidentenstelle vergleichbares Amt als président à mortier beim parlement von Bordeaux hatte ihn nicht erfüllen können und stand nun seinen literarischen und gesellschaftlichen Interessen entgegen. Da der premier président den immer häufiger in Paris weilenden Montesquieu an seine Pflichten in Bordeaux mahnen mußte23 und mit dem dortigen Wohnsitz formal seine Nichtaufnahme in die Académie française begründet wurde, verkaufte Montesquieu 1726 das von seinem Onkel ererbte Gerichtsamt und siedelte nach Paris über. Nicht ohne Widerstand und Mißtrauen nahm ihn die Akademie, die er in den „Persischen Briefen" mit beißendem Spott bedacht hatte24, 1727 als Mitglied auf. Dagegen erhielt der nur fünf Jahre jüngere Voltaire erst 1746 einen Sitz, um den er nicht nur gebeten, sondern gebettelt hat25 und für den er auch gebetet hätte26 Nach ausgedehnten Reisen durch Europa von 1728 bis 1731 mit einem fast zweijährigen England-Aufenthalt veröffentlichte Montesquieu 1734 wiederum anonym die „Considérations sur les causes de la grandeur des Romains et de leur décadence". Maupertuis27 nannte sie und die „Persischen Briefe" später die Stufen zu dem prächtigen Tempel des „Geists der Gesetze", der Glückseligkeit des Menschengeschlechts errichtet. Meinecke28 spricht nüchterner von einem „vorher abgeschichteten Exkurs des Esprit des lois". Mag auch der historiogra20 Lettres X C V i n (Usbek à Ibben) und C X L V I (Usbek à Rhedi). Vgl. auch die Kritik an Mazarin in Lettre CXI (Usbek à ***). 21
Lettre X X X V I I (Usbek à Ibben).
22
Passim, insbes. Lettre CH (Usbek à Ibben); vgl. in diesem Zusammenhang auch Morkel, Arnd, „Montesquieus Begriff der Despotie", Zeitschrift für Politik, 13, 1966, S. 14 fT. 23
Vgl. Shackleton, „Montesquieu", S. 82.
24
Lettre L X X f f l (Rica à ***).
25
Vgl. seinen Brief an den Grafen und die Gräfin d'Argentai ν. 20. (?) März 1746, abgedruckt in Theodore Bestermann (Hrsg.), „Voltaire's Correspondence", Vol. X V , 1746-1747, Genf 1956, S. 30, Nr. 3038; in diesem Zusammenhang auch Jean Orieux , „Voltaire", Frankfurt a. M. 1968, S. 335 ff. 26
Immerhin demonstriert er seine Gläubigkeit und seine Liebe für die Jesuiten, vgl. Orieux (Fn. 25), S. 336. Für Voltaires antiklerikale Haltung vgl. nur: „Wichtige Untersuchung von M y lord Bolingbroke oder Das Grabmal des Fanatismus", abgedruckt in: ders., Kritische und satirische Schriften, 1984, S. 257 ff., insbes. die Schlußfolgerung S. 369 f. 27
Vgl. die grundlegende Arbeit von Vierhaus, Rudolf, „Montesquieu in Deutschland", in: Collegium Philosophicum, Studien Joachim Ritter zum 60. Geburtstag 1965, S. 403 ff., (411). 28
Die Entstehung des Historismus, hrsg. von Carl Hinrichs, 1965, S. 118.
Friedrich der Große und Montesquieu
223
phische Wert der „Considérations", die Meinecke29 noch als „großen historischen Wurf 4 gerühmt hatte, wegen der unkritischen Quellenbenutzung aus heutiger Sicht geringer sein30, so übertraf dieses geschichtsphilosophische Werk an Gedanken, Gehalt und Wissensfülle, Stilsicherheit und Sprachkraft zeitgenössische Darstellungen doch bei weitem31. Π. Die musischen und poetischen, philosophischen und literarischen Neigungen seiner Jugend festigten sich in Friedrich nach Beilegung des Vater-Sohn-Konflikts zu ernsthaften und planmäßigen Studien. Er sei mehr denn je unter Büchern begraben, um die Versäumnisse seiner Jugend aufzuholen, teilt er dem vom Vater verbannten Lehrer Duhan mit. 32 Rheinsberg war eben auch Bildungsstätte des vor dem Throne harrenden Kronprinzen und nicht nur Musenhof mit galant-heiterer Rokoko-Geselligkeit. Seine Maxime, die Philosophen sollten die Lehrer der Welt und die Lehrmeister der Fürsten sein33, läßt in jenen Jahren, wie er schreibt34, die Männer der Antike und die Gelehrten seiner Zeit seine Gesellschaft bilden. Wenn auch die Philosophie der Aufklärung für ihn in erster Linie durch den überragenden und universalen Voltaire verkörpert wird, so führt er daneben doch eine lebhafte und ausgedehnte, nach Skalweit35 auch etwas wahllose literarische Korrespondenz mit Vertretern des französischen Geisteslebens, wodurch er sich gleichzeitig eine beachtliche Breitenwirkung in Frankreich sichert. Montesquieu, in Mode und doch mehr als ein Modeschriftsteller, mußte Friedrich anziehen, der sich mit ihm eingehend und wiederholt während seines ganzen Lebens beschäftigt. In der Jugendbibliothek36, die nach Friedrichs Fluchtversuch vom Vater versteigert wurde, fand sich Montesquieu, anders als Voltaire, zwar noch nicht; der erotischen Passagen wegen wären die „Persischen 29
S. 142.
30
Zur negativen Einschätzung Ernst Forsthoff, Gesetze", Bd. 1,1951, Einführung S. XIV.
in: Montesquieu, „Vom Geist der
31
Zu einer positiven Würdigung aus heutiger Sicht Chaimowicz, Thomas, „Freiheit und Gleichheit im Denken Montesquieus und Burkes", 1985, S. 78. 32
Brief vom 10. Februar 1738, in: „Œuvres", Tome X V I I , 1851, S. 279.
33
Brief an Christian Wolff vom 23. Mai 1740, in: „Œuvres", Tome X V I , 1850,
S. 179. 34 Brief an den Grafen v. Schaumburg-Lippe vom 15. Februar 1739 und vom September 1738, in: „Œuvres", Tome X V I , S. 213 und 205. 35 36
Frankreich und Friedrich der Große, 1952, S. 49.
Zu ihrem Bestand Bratuschek, Emst, „Die Erziehung Friedrichs des Großen", Berlin 1885, S. 39 ff.; auch Friedlander, Gottlieb, „Des Kronprinzen Friedrich Bibliothek", in: Zeitschrift für preußische Geschichte und Landeskunde, 1869, S. 1 ff.; Krieger, Bogdan, „Friedrich der Große und seine Bücher", 1914, S. 6 ff.
224
Detef Merten
Briefe" dem jungen Kronprinzen wohl auch kaum zur Lektüre empfohlen worden. Später gehörten Montesquieus Schriften zur Handbibliothek des Monarchen. Die Werke der von ihm geschätzten Autoren besaß er mehrfach, auf die einzelnen Schloßbibliotheken verteilt, um bei Ortswechsel eine unterbrochene Lektüre überall und jederzeit fortsetzen zu könnea Von den „Lettres persanes" sind sieben, vom „Esprit des lois" fünf Exemplare, teilweise in unterschiedlichen Auflagen, verzeichnet, wobei sowohl die dritte Ausgabe der „Lettres" von 1730 als auch deren fünfte Ausgabe von 1740 jeweüs als „sehr stark benutzt" aufgeführt werden.37 Noch 1785 bestellte er eine weitere Ausgabe der „Lettres". Möglicherweise ging Friedrichs Bekanntschaft mit diesem Buch auf Jordan38 zurück. Dieser, Hugenotte und früherer Prediger, war 1733 durch Frankreich, England und Holland gereist, um dort das literarische Leben und dessen bedeutendste Vertreter, darunter auch Voltane39, kennenzulernen, worüber er 1735 seme „Histoire d'un voyage littéraire [...]" veröffentlichte. Auch hierdurch empfohlen, war er seit 1736 in Rheinsberg tätig und gehörte schon bald zum engeren Freundeskreis des Kronprinzen. In Jordans ansehnlicher Bibliothek40 befand sich ein Exemplar der „Lettres" in einer Ausgabe von 1730. Als der König später in der Schlacht bei Soor im September 1745 mit dem Handgepäck auch seine Feldbibliothek einbüßte, ließ er sich eine kleine Auswahl, darunter auch die „Lettres", aus der Bibliothek seines kurz vorher verstorbenen Freundes Jordan nachschicken. Dieses Exemplar mit dem Exlibris Jordans stand später in Sanssouci.41 Der elegante Stil und die leichte Feder, der spöttische Witz und die geistreiche Kritik der „Lettres" beeindruckten Friedrich so sehr, daß er sie in einem Essay über die deutsche Literatur lobend erwähnte.42 Er empfahl den deutschen Schriftstellern zur Verbesserung ihrer Mängel drei französische Werke: die „Pensées" von La Rochefoucauld sowie die „Lettres persanes" und den „Esprit des lois".
37
Nachweise bei Krieger (Fn. 36), S. 162,175 f.
38
Über ihn Hirsch, Th., „Allgemeine Deutsche Biographie", Bd. 14,1881, S. 504 ff.
39
Den Besuch erwähnt Friedrich in einem Brief an Voltaire vom 8. Februar 1737, in: „ B r i e f w e c h s e l Friedrichs des Großen mit Voltaire", hrsg. von R. Koser und H. Droysen, Publikationen aus den K. Preußischen Staatsarchiven, Bd. 81,1908, S. 34. 40
Für die „mehr als hundert Bände" wollte Friedrich ihm einen Schrank in sein Zimmer stellen lassen. Vgl. seinen Brief an den Herzog von Manteuffel vom 19. April 1736, in „Œuvres", Tome X X V , 1854, S. 473; siehe auch dessen Antwortschreiben vom 19. August 1736, S. 475. 41 42
Krieger (Fn. 36), S. 162, r. Sp. oben.
„De la littérature allemande, des défauts qu'on peut lui reprocher, queUes en sont les causes, et par quels moyens on peut les corriger", in: Œuvres, Tome VII, 1847, S. 91 ff. (104); vgl. auch seinen Brief an Maupertuis vom 31. März 1756, in: „Publicationen" (Fn. 12), Bd. 72, 1898, S. 318.
Friedrich der Große und Montesquieu
225
In der Rheinsberger Zeit hinterließen aber vor allem die „Considérations" einen tiefen Eindruck. Selbst in das Studium der Antike vertieft, wurde Friedrich mit einem geschlossenen Rombild konfrontiert, dessen vollendete Schönheit er als Quintessenz dessen bewunderte, was der menschliche Geist an philosophischen Gedanken über die römische Geschichte hervorbringen kann; die „Considérations" und die „Lettres persanes" seien vielleicht die einzigen auf der Welt, in denen es weniger Wörter als Gedanken gebe, sprühend vor Witz („pétillants d'esprit"), ohne sich jemals zu widersprechen.43 Friedrich ließ sich das Weik noch einmal 1785, etwas mehr als ein Jahr vor seinem Tode, vorlesen.44 Sind geistige Strömungen in der Regel nur schwer zu verfolgen und ist deshalb die Einwirkung eines Autors auf einen anderen oftmals eher Gegenstand der Spekulation als der Deduktion, so ist der Einfluß der Considérations auf Friedrich zum großen Teü gleichsam durch Urkundenbeweis in Gestalt der Unterstreichungen und Marginalien, die für seine Lektüre charakteristisch sind, belegbar. Im Original von Napoleon mitgenommen, später in Talleyrands Besitz, aber trotz preußischer Reklamationen bei den Friedensverhandlungen verschollen geblieben, sind diese Montesquieu-Noten 45 seit Ende des 19. Jahrhunderts durch aufgefundene Abschriften wieder zugänglich. Die vielfach illustrierenden, mitunter auch divergierenden Randbemerkungen offenbaren deutlich die Übereinstimmung, aber auch schon den Gegensatz im Denken der beiden Männer. Durch Montesquieu angeregt, schrieb Friedrich im ersten Jahr seiner Regierung „Réflexions sur la cause de la décadence des Romains", die verloren sind.46 Eine Anlehnung auch im Titel zeigen die 1738 verfaßten „Considérations sur l'état présent du corps politique de l'Europe". 47 Obwohl sie aktuelle politische Probleme behandeln, streut Friedrich wiederholt Beispiele aus der Antike ein48, hebt die Geistesverwandtschaft zwischen der römischen und der französischen Diplomatie hervor 49 und überträgt den von Montesquieu als Lebensgesetz Roms herausgearbeiteten Grundsatz der Ausdehnung50 auf die Fürsten der Gegenwart51. 43
„Histoire de mon temps" (Redaktion von 1746), hrsg. von Max Posner, in: Publicationen aus den K. Preußischen Staatsarchiven, Bd. 4, 1879, S. 153 ff. (196). Deutlich zurückhaltender ist die Fassung von 1775, in: „Œuvres", Tome Π, 1846, S. 37. 44 Vgl. Dantal , C., „Les délassemens littéraires ou Heures de lecture de Frédéric Π " , Elbing 1791, S. 22. 45
Grundlegend Posner, Max, „Die Montesquieu-Noten Friedrich's Π " , HZ 47, 1882, S. 193fT. 46
Hierzu Preuss , J. D. E., „Friedrich der Große als Schriftsteller", 1837, S. 320 f.; Posner (Fn. 45), S. 202. 47
„Œuvres", Tome VIII, 1848, S. 3 ff.
48
S. 18 f.
49
S. 23 Mitte.
50
„Considérations", Chap. IX, a. E.
51
(Fn. 47), S. 15 Mitte.
226
Detef Merten
Gedanken Montesquieus haben sich auch im „ AntimachiaveP niedergeschlagen, wie Posner52 gezeigt hat. Das in seiner Bildkraft frappierende, die Relativität in sich konzentrierende Gleichnis aus den „Lettres 3 , daß Dreiecke, wenn sie sich einen Gott machten, ihm drei Seiten gäben, hat offenbar auch den Kronprinzen so fasziniert, daß er es wörtlich zitierte54. Eine deutliche Geistesverwandtschaft zu Montesquieus „Considérations44 findet sich in jenen Passagen des „Antimachiavel"55, in denen Friedrich den Untergang des Oströmischen Reichs auf Religionsstreitigkeiten zurückfuhrt und die Herrscher warnt, den Klerus zum Herrn über Krieg und Frieden und zum Schiedsrichter zwischen Volk und Herrscher zu machen.
m. 1. Den größten Einfluß auf Friedrichs Denken und Handeln hat Montesquieu zweifellos mit seinem Lebenswerk „De l'Esprit des Lois44 ausgeübt. Ende Oktober 1748 in Genf publiziert 56, erschienen bereits in den ersten zwei Jahren 22 Auflagen. Angriffe und Anfeindungen lösten eine lebhafte literarische und theologische Kontroverse aus, in die der Autor 1750 mit einer „Défense de l'Esprit des Lois44 eingriff. Wann Friedrich das Werk erstmals gelesen hat, läßt sich nicht genau bestimmen. Es muß jedenfalls vor April 1753 gewesen sein, da ein Brief an Darget aus dieser Zeit eine Anspielung auf den „Esprit44 enthält.57 Krieger fuhrt in seinem Ende des 19. Jahrhunderts erstellten Bibliotheksverzeichnis zwar keine Ausgabe vor 1753 an.58 Das beweist jedoch nicht viel, da Friedrich Bücher gelegentlich verschenkt hat59 und andere verlorengegangen sind60. Bei dem lebhaften Interesse des Königs für französische Literatur und seinem engen Kontakt zum französischen Geistesleben, der Beauftragung literarischer Agenten und Korrespondenten in Paris61 und der sorgsamen Pflege seiner Bibliothek, vor allem aber der überschwenglichen Bewunderung Montes52
(Fn. 45), S. 255 ff.
53
Lettre L I X (Rica à Usbek) „On a dit fort bien que, si les triangles faisoient un Dieu, üs lui donneroient trois côtés". 54
„Réfutation du prince de Machiavel", in: Œuvres, Tome VIE 1848, S. 233 a. E.: „On a dit que si les triangles faisaient un Dieu, i l aurait trois côtés." 55 S. 266 f.; hierzu Montesquieu, „Considérations", Chap. X X I I (in Bd. I I der in Fn. 2 zitierten Ausgabe S. 199 ff.); siehe ferner die Marginalien Friedrichs, in: Montesquieu, „Größe und Niedergang Roms, mit den Randbemerkungen Friedrichs des Großen", hrsg. von Lothar Schuckert, Frankfurt 1980, S. 146 ff. 56
Vgl. Shackleton (Fn. 3), S. 243.
57
„Œuvres", Tome X X , 1852, S. 39.
58 59
(Fn. 36), S. 175 f. Vgl. Krieger (Fn. 36), S. 12 und 36.
60
Vgl. Krieger (Fn. 36), S. 43.
61
Krieger (Fn. 36), S. 39 ff.
Friedrich der Große und Montesquieu
227
quieus und der intensiven Beschäftigung mit ihm ist es wenig wahrscheinlich, daß er die aktuelle und aufsehenerregende Neuerscheinung dieses in der Welt angesehenen und von ihm anerkannten Autors erst nach Jahren gelesen haben soll. Hinzu kommt, daß in seiner Bibliothek auch die Défense Montesquieus und die Kritik La Portes von 1751 vorhanden sind62, was auf das Interesse des roiphilosophe an diesem literarischen Streit damit aber auch auf eine frühe Kenntnis vom „Esprit" schließen läßt. Möglicherweise hatte der König durch Maupertuis, einen Freund Montesquieus, sogar schon vor der Drucklegung vom Projekt des „Esprit" erfahren. An Maupertuis, seit 1746 Präsident der Berliner Akademie der Wissenschaften, hatte Montesquieu Ende Juni 1747 geschrieben, er habe, Gott sei Dank, die Arbeiten (am „Esprit") abgeschlossen und fühle sich glücklich wie ein Schulabgänger.63 Sollte die Nachricht von der Vollendung eines lange erwarteten Werkes als Ertrag einer zwanzigjährigen Arbeit, wie Montesquieu im Vorwort mitteilt, nicht am Hofe kursiert sein? Jedenfalls schrieb Montesquieu bereits am 12. März 1750 an seinen engsten Vertrauten Guasco im Zusammenhang mit anderen Nachrichten über den „Esprit", Maupertuis habe ihm berichtet, daß der König Passagen gefunden habe, in denen er anderer Auffassung sei, und er, Montesquieu, habe geantwortet, er würde wetten, den Finger auf diese Stellen legen zu können.64 Dadurch reduziert sich der für die Lektine des Königs in Betracht kommende Zeitraum auf Ende 1748 bis Anfang 1750. In dieses Bild paßt, daß Friedrich Ende 1749 eine „Dissertation sur les raisons d'établir ou d'abroger les lois" 65 vorlegte, die Darget im Januar 1750 vor der Akademie der Wissenschaften verlas. Vieles spricht dafür, daß Montesquieu den König wie mit den „Considérations" und später noch mit den „Lettres persanes" auch hier zu einer analogen Arbeit veranlaßte, wenn auch das Interesse an der Gesetzgebung für die Aufklärung typisch ist und gerade in Preußen zu dieser Zeit unter Cocceji die Gesetze reformiert wurden, worauf Friedrich in seiner „Dissertation" verwies.66 Aber selbst wenn der „Esprit" nicht der Anlaß für Friedrichs Beschäftigung mit der Gesetzgebung gewesen sein sollte, hätte der König wohl kaum eine wissenschaftliche Abhandlung für die Akademie ohne Studium der neuesten und einschlägigen Literatur verfaßt. 2. Vergleicht man Friedrichs Skizze 67 mit dem Kolossalgemälde Montesquieus, so zeigen sich trotz der Unterschiede in Aufbau und Durchführung, in Beispielen und Schlußfolgerungen viele Gemeinsamkeiten. 62
Vgl. Krieger (Fn. 36), S. 176 Ii. Sp. oben und S. 175.
03
Abgedruckt in: Gébelin , François, „Correspondance de Montesquieu", Bd. I, Paris 1914, S. 444 ff. (446 Mitte). 64
Bd. II, S. 260 ff. (261 oben).
65
„Œuvres", Tome IX, 1848, S. 9 ff.
66
S. 30 f.
07
S. 33: „une esquisse au lieu d'un tableau".
228
Detief Merten
Der berühmt gewordenen Forderung des Franzosen nach Knappheit des Stils, Genauigkeit des Ausdrucks und Schlichtheit der Sprache unter Hinweis auf die Zwölf-Tafel-Gesetze als „modèle de précision"68 entspricht Friedrichs Feststellung, daß klare und genaue Vorschriften („des ordonnances claires et précises") keinen Anlaß für Rechtsstreitigkeiten böten69. An mehreren Stellen wendet sich der König gegen dunkle und unbestimmte, widersprüchliche und auslegungsbedürftige Gesetze.70 Sein Ideal sind wenige, aber weise, perfekte und präzise Normen71, in einer Kodifikation zusammengefaßt72, womit die schon von Friedrich Wühelm I. erhobene Forderung nach einem Allgemeinen Landrecht anklingt73. In seinem „Essai sur les formes de gouvernement" von 1777, heißt es dann, gute Gesetze müßten eindeutig gefaßt sein, damit Schikane sie nicht nach Belieben verdrehen könne.74 Bekannt ist Friedrichs Einwand gegen das Allgemeine Gesetzbuch, das spätere Allgemeine Landrecht. Als ihm der zweite Teil des Entwurfs im Frühjahr 1785 vorgelegt wird, findet er ihn „sehr Dicke" und setzt die Bemerkung hinzu: „Gesetze müssen Kurtz und nicht Weitläufig seindt".75 Unter ausdrücklicher Erwähnung dieser Marginalie repliziert Svarez 1788 vor der Berliner Mittwochs-Gesellschaft mit dem Vortrag: „Inwiefern können und müssen Gesetze kurz sein?"76 Heutzutage ist die Eindeutigkeit und Bestimmtheit der Gesetze rechtsstaatliches Credo, wenn auch vielfach noch rechtstatsächliches Manko. In einem Gebot gesetzlicher Verläßlichkeit stimmen Montesquieu und Friedrich ebenfalls überein. Keine Gesetzesänderung ohne ausreichenden Grund, so
68
„Esprit des Lois" L. X X I X , Chap. 16.
69
„Œuvres", Tome IX, S. 25 oben; siehe auch S. 29 unten.
70
S. 26 oben, S. 29 unten, S. 31 unten.
71
S. 25: „Peu de lois sages"; S. 24 unten: „Un corps de lois parfaites"; siehe auch S. 29 unten. 72 „[...] rassemblées en un seul corps", S. 31 unten; siehe auch S. 24 unten; vgl. in diesem Zusammenhang auch die spätere Forderung, daß „die bisher noch zu sehr zerstreute unbestimmte und zweideutige Gesetze mit möglichster Praecision und Deutlichkeit bestimmt und gesammelt werden sollen", „Cabinets-Ordre" an den Großkanzler v. Carmer v. 14. April 1780, abgedruckt in: Acta Borussica, Behördenorganisation, Bd. XVI/2,1982, S. 602. 73
Merten, Allgemeines Landrecht", in: Treue, Wilhelm (Hrsg.), Preußens großer König, 1986, S. 57 f. 74
(Fn. 14), S. 201,1. Absatz, 2. Satz.
75
Vgl. Thieme, Hans, „Carl Gottlieb Svarez in Schlesien, Berlin und anderswo", in: Juristen-Jahrbuch 6,1965/66, S. 1 ff. (7 f.). 76 Abgedruckt in: Svarez, Carl Gottlieb, „Vorträge über Recht und Staat", hrsg. von Conrad und Kleinheyer, 1960, S. 627 ff.
Friedrich der Große und Montesquieu
229
heißt es im „Esprit" 77; die „Considérations" hatten die Beibehaltung einer überkommenen Herrschaftsverfassung („gouvernement") postuliert78. Friedrich nennt dies in einer Marginalie einen ausgezeichneten Grundsatz79 und warnt auch in der „Dissertation" vor Verwirrung selbst bei Verbesserung der Gesetze80 In mehreren Kapiteln seines „Esprit" brandmarkt Montesquieu allzu harte Strafen 81, wie er schon in den „Lettres persanes" abgestufte Sanktionen gefordert 82 und die Abschreckungsfunktion drakonischer Strafen bezweifelt hatte. Friedrich plädiert dafür, leichte Vergehen gelind zu bestrafen und die Todesstrafe für Räuber, Mörder und Totschläger vorzubehalten; Strafe und Verbrechen sollten einander entsprechen83, zwischen ihnen sollte „une proportion" 84 bestehen, womit der König den rechtsstaatlichen Grundsatz der Proportionalität oder Verhältnismäßigkeit auch wörtlich anspricht. Montesquieu widmet der ,juste proportion des peines avec le crime" ein eigenes Kapitel (VI, 16). Friedrich kritisiert in seiner legistischen Abhandlung die harten Strafen für Abtreibungen.85 Der Verfasser des „Esprit" sieht Armut als Ursache für Abtreibung an86 und hatte schon in den „Lettres persanes" die schrecklichen Strafen für dieses Delikt selbst im Falle mildernder Umstände beanstandet87. Zur Folter nimmt Montesquieu im 6. Buch des „Esprit" 88 Stellung. Ein sehr hochstehendes Volk, so schreibt er mit Blick auf England, habe sie ohne Nachteile verworfen; Friedrich, der die Tortur drei Tage nach Regierungsantritt in Preußen abgeschafft hatte89, wird nicht erwähnt. Selbst wenn dieser Teil des „Esprit" 1740 schon 77
„ I I ne faut point faire de changement dans une loi sans une raison suffisante" (XXIX/16). Vgl. in diesem Zusammenhang auch die „Pensées" (Χ VIII): Changements des lois, in: Œuvres (Fn. 2), Bd. I, S. 1460 ff.). 78
Chap. 17.
79
Vgl. Montesquieu, „Größe und Niedergang Roms" (Fn. 55), S. 115 f.
80
(Fn. 65), S. 25 f.
81
Insbesondere L. VI, Chap. 9 ff.
82
Lettre L X X X (Usbek à Rhedi): „On punit toujours par degrés."
83
(Fn. 65), S. 27: „que la punition marche toujours de pair avec le crime"; vgl. ferner „Essai sur les formes" (Fn. 14), S. 201: „que les peines ne doivent jamais passer de délit." 84 (Fn. 65), S. 26 unten. Vgl. auch den Brief an Voltaire vom 13. August 1766: „On devrait reformer, en proportionnant la punition à la faute", abgedruckt in: ,3riefwechsel Friedrichs des Großen mit Voltaire", Publikationen aus den Κ . Preußischen Staatsarchiven, hrsg. von Koser und Droysen, Bd. 86,1911, S. 126 ff. (127). 85
(Fn. 65), S. 28.
86
L. ΧΧΠΙ, Chap. 11.
87
Lettre CXX (Paris, am 9. des Monats Rhamazan, 1718), a. E.
88
Chap. 17.
89
„Cabinetsordre" an den Etatminister v. Cocceji, vom 3. Juni 1740, in: Acta Boruss i a , Behördenorganisation, VI/2, 1901, S. 8 f f ; vgl. ferner Koser, R , „Die Abschaffung
Detef Merten
230
konzipiert wa/°, verwundert es, daß die Fassung nicht in einer späteren Umarbeitung aktualisiert wurde. Denn Friedrichs Tat war in Europa, insbesondere in den Kreisen der Aufklärung, als Fanal aufgenommen und wohl auch als solches bezweckt worden. Der König liefert nun die theoretische Begründung für seme aufklärerische Praxis nach. Er bezeichnet die Folter als ebenso unnütz wie grausam, weil ein robuster Bösewicht das Verbrechen leugne, ein Unschuldiger mit schwacher Konstitution etwas bekenne, was er nicht getan habe, und er fügt hinzu, es sei besser, zwanzig Schuldige freizusprechen, als einen Unschuldigen aufzuopfern. 91 Friedrichs Reform wird zum Signum der Moderne. [...] In vielen staatstheoretischen Ausgangspositionen stimmen Friedrich und Montesquieu überein. Wegen ihrer Schlechtigkeit könnten die Menschen in Glück und Frieden nur zusammenleben, wenn sie durch die Gesetzesherrschaft gezwungen würden, meint Friedrich 92, und Montesquieu teilt diesen Pessimismus93. Auch Friedrichs wiederkehrende Appelle, die Gesetze müßten zum Geist der (jeweüigen) Nation passen94, liegen ganz auf der Linie des Montesquieuschen Relativismus. Ein weiteres Element moderner Rechtsstaatlichkeit, das Prinzip der Erforderlichkeit staatlicher Freiheitsbeschränkung, ist bei beiden Autoren angelegt. Unnütze Gesetze schwächten die notwendigen, heißt es im „Esprit" 95, und Friedrichs legistischer Grundsatz lautet, das Volk nicht mit überflüssigen Gesetzen zu belasten96, wie auch ein Arzt seine Kranken nicht mit zu vielen Arzneien überladen solle. Das ist das Programm der Aufklärung: die Gesetzgebung auf das Notwendige zu limitieren und die Freiheit nur soweit unumgänglich erforderlich zu beschränken97. In § 79 der Einleitung des Allgemeinen Gesetzbuchs für die der Tortur durch Friedrich den Großen", in: Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte, Bd. VI/2, S. 233 ff. 90
Zur Reihenfolge der Entstehung der einzelnen Bücher Shackleton (Fn. 3 ), S. 238 ff. 91
„Dissertation" (Fn. 65), S. 28 f.
92
„Dissertation" (Fn. 65), S. 12 oben.
93
„Esprit" L. VI, Chap. 17.
94
„Dissertation" (Fn. 65), passim, insbes. S. 22.
95
L. X X I X , Chap. 16: „Commes les lois inutiles affaiblissent les lois nécessaires [...]". 96
„Dissertation" (Fn. 65), S. 25 Mitte: „Le législateur habile ne surcharge pas le public de lois superflues." 97 Vgl. Kants Brief an H. Jung-Stilling (nach dem 1. März 1789), in: Kant, „Briefe", hrsg. von Zehbe, 1970, S. 135; später auch Humboldt, Wilhelm von, „Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen", X (Polizeigesetze), in: ders., Werke in fünf Bänden, hrsg. von Flitner und Giel, Bd. I, 2. Aufl., 1969, S. 150 ff.; insbes. S. 156; vgl. in diesem Zusammenhang auch Würtenberger, Thomas, „Die politischen Theorien", in: Panorama der fridericianischen Zeit, hrsg. von J. Ziechmann, 1985, S. 39 ff. (50).
Friedrich der Große und Montesquieu
231
Preußischen Staaten von 1791 mit den Worten vorgesehen: „Die Gesetze und Verordnungen des Staats dürfen die natürliche Freyheit und Rechte der Bürger nicht weiter einschränken, als es der gemeinschaftliche Endzweck erfordert", in der Schlußrevision aber getilgt, wird der Grundsatz nur in einem Keim (Die nöthigen Anstalten [...]) in der polizeilichen Generalklausel des § 10 II 17 des Allgemeinen Landrechts von 1794 bewahrt. Der endgültige Durchbrach des Rechtsstaats steht freilich erst bevor. Für Montesquieu gilt noch: „La liberté est le droit de faire tout ce que les lois permettent" (XI/3). Erst das Allgemeine Landrecht wird diesen Satz umkehren und in einer Art Rollentausch nunmehr dem Staat aufgeben, die gesetzliche Grundlage für Eingriffe in bürgerliche Freiheiten darzutun, wenn es in § 87 Einl. sinngemäß statuiert: Handlungen, die nicht durch natürliches oder positives Gesetz verboten werden, sind erlaubt.98 Das ist mit einem Schiller-Wort die „Wohltat des Gesetzes"99, nach Humboldt100 die „Gewißheit der gesetzmäßigen Freiheit", juristisch nüchterner der rechtsstaatliche Vorbehalt des Gesetzes. Trotz der vielen Übereinstimmungen im Denken Friedrichs und Montesquieus läßt sich mangels ausdrücklicher Zitierung oder Textidentität nicht immer im einzelnen belegen, welche Passagen der Dissertation genuin vom „Esprit" beeinflußt sind und welche auf eine gemeinsame Grundhaltung zurückgehen. Manche Konformität erklärt sich durch Wechselwirkungen innerhalb der aufklärerischen Zeitströmung. So beruft sich Montesquieu101 bei der Ablehnung der Folter selbst auf die Zeugnisse anderer, und Friedrich hatte sie schon Jahre vor Erscheinen des „Esprit" abgeschafft. In anderen Fällen, insbesondere wenn Friedrichs Ausführungen zur Gesetzgebung sich mit seinen Marginalien zu den „Considérations" decken, wie bei seinem Plädoyer für zurückhaltende Gesetzesänderungen, ist die Inspiration durch Montesquieu sicher. Einfluß kann aber auch durch Bestärkung, Klärung oder Widerspruch ausgeübt werden, und in diesem Sinne ist ein geistiger Dialog zwischen Montesquieus „Esprit" und Friedrichs „Dissertation" unverkennbar. 102 98
Vgl. auch Art. 5 Satz 2 der französischen Menschenrechtserklärung von 1789: „Tout ce, qui n'est pas défendu par la loi, ne peut être empêché, et nul ne peut être contraint à faire ce, qu'elle n'ordonne pas." 99
, I l a r i a Stuart", 1. Aufzug, 7. Auftritt.
100
(Fn. 98), Kap. IX, S. 147.
101
L. VI, Chap. 17.
102
So auch Schmidt, Eberhard, „Staat und Recht in Theorie und Praxis Friedrichs des Großen", in: ders., Beiträge zur Geschichte des preußischen Rechtsstaats, hrsg. von Merten und Ule, 1980, S. 176; vgl. dens., „Rechtssprüche und Machtsprüche", S. 216; dens., „Montesquieus ,Esprit des lois' und die Problematik der Gegenwart von Recht und Justiz", in: Festschrift für Wilhelm Kisselbach, 1947, S. 177 ff. (193 f.), mit einem Fehlzitat in und zu Anm. 43. Fuchs, Vera, „Die strafrechtlichen Anschauungen Montesquieus und Friedrichs des Großen", Diss., Zürich 1924, S. 56; a. A. Stölzel, Adolf, „Brandenburg-Preußens Rechtsverwaltung und Rechtsverfassung", Bd. II, Berlin 1888, S. 199.
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IV. Montesquieu war sich seines Einflusses auf Friedrich bewußt. Schon Zeitgenossen bemerkten die Übereinstimmung in der Denkweise dieser beiden Männer, wie sie sich auch im Antimachiavel zeigt.103 Diderot 104 nennt Montesquieu später den Erzieher der Könige und Feind der Tyrannen. Ähnlich wie Voltaire, nur distanzierter, sucht auch Montesquieu, der zu seinem Bedauern nicht in den diplomatischen Dienst berufen worden war 105 , die Aufmerksamkeit der Regierenden. Als Aufklärer will er sein Werk auch wirken sehen. Montesquieu ist kein Philosoph im heutigen Sinne, sondern politischer Theoretiker, seine Interessen sind eher politisch-juristischer 106 als philosophisch-poetischer Art. Dabei weiß er, daß die Könige die letzten sein werden, die ihn lesen, wie er einmal resignierend feststellt. Doch dann folgt der bekannt gewordene Zusatz, er wisse aber, daß es einen von ihnen auf der Welt gebe, der ihn gelesen habe.107 Friedrich hat ihn nicht nur gelesen, sondern wird ihn später auch befolgen. Infolge der Wertschätzung des Königs wird Montesquieu, der außer der Académie Française auch den Akademien in Bordeaux, Cortona und der Royal Society angehört, nach d'Alembert, Voltaire und Condamine zu den ersten auswärtigen Mitgliedern der von Friedrich neubegründeten Akademie der Wissenschaften gewählt.108 Eine Einladung Maupertuis' nach Berlin lehnt er wegen seines sich verschlimmernden Augenleidens, das ihn Personen nicht mehr erkennen läßt, ab. Seine Europareise hatte ihn 1729 nur bis nach Hannover und Braunschweig, nicht aber nach Brandenburg-Preußen geführt. Dies wohl weniger, weil Friedrich damals noch nicht regierte, wie d'Alembert höflich bemerkt 109, sondern eher aus Abneigung gegen den preußischen Militärstaat, den er in seinem nicht zur Veröffentlichung bestimmten Reisebericht als „tyrannie" und „barbarie effroyable" bezeichnet und unverhohlen, wenn auch nicht unvoreingenommen, charakterisiert 110. Beißend kommentiert er dann später in seinem 103 Vgl. den Brief von Cuentz an Montesquieu vom 20. Dezember 1749, abgedruckt in: Gébelin (Fn. 63), Bd. Π, S. 243 ff. (245). 104
Brief an Montesquieu, vom September 1776, abgedruckt in: Diderot, ,3riefe 1742-1781", hrsg. von Hans Hinterhäuser, 1984, S. 448 ff. (450 unten).
Denis,
105
Vgl. „Voyages de Montesquieu", hrsg. von A. de Montesquieu, Bd. 1, 1894, S. X X X I I I . Statt einer der wertvollsten Schriftsteller zu werden, wäre er vielleicht nur ein schlechter Minister geworden, bemerkt später Alexis de Tocqueville. Vgl. Pisa, Karl, A l e x i s de Tocquevüle", 1986, S. 202. 106
So Montesquieu selbst in seiner allerdings aufgrund religiöser Angriffe geschriebenen „Défense de l'Esprit des Lois", I: „un ouvrage de pure politique et de pure jurisprudence", in: Œuvres (Fn. 2), Bd. II, S. 1121. 107
Brief an Guasco vom 12. März 1750, in: (Fn. 63), Bd. II, S. 260 f.
108
Harnack, Adolf, „Geschichte der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin", B d 1,1900, S. 303, Anm. 2. 109
„Lobrede auf Montesquieu", abgedruckt in: Ellissen (Fn. 3), S. 10 ff. (23).
110
Voyages, Œuvres (Fn. 2), Bd. I, S. 847 f.; hierzu auch Skalweit (Fn. 35), S. 11. X .
Friedrich der Große und Montesquieu
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Briefwechsel auch Friedrichs Krieg in Schlesien. Er nennt den König le „plus grand fou qui fut jamais" und einen Mann, den der Teufel plage, seitdem er auf der Welt sei.111 Hier schwingt wohl auch die Enttäuschung über den Verfasser des Antimachiavel mit, der in Frankreich nicht zuletzt infolge Voltaires Schilderungen nur äls der hebenswürdige und anziehende Freund der Künste, der Verfechter aufklärerischer Ideale und damit zu einseitig als bloßer roi-philosophe eingeschätzt wurde. 112 Seine Distanz zu Preußen hatte Montesquieu auch literarisch dokumentiert. Die Considérations enthalten eine gegen die Aufrüstung des Soldatenkönigs gerichtete Passage, die Friedrich ohne Unterstreichung oder Randbemerkung zur Kenntnis genommen hat.113 Montesquieus Haltung zu Preußen und sein Unverständnis für die besondere Situation dieses Staats hat Friedrichs große Wertschätzung für dessen Schriften nie beeinflußt, möglicherweise aber die Zurückhaltung der Person gegenüber begründet, die eine der Antworten auf die Frage wäre, weshalb es nie zu einer persönlichen oder literarischen Begegnung der beiden großen Männer gekommen ist V. Ungeachtet dessen hat Montesquieu mit einer Maxime seines „Esprit" eine Wende in Friedrichs Regierung bewirkt und damit den Übergang vom Verwaltungsstaat zum Rechtsstaat eingeleitet. Es ist die inzwischen zum staatstheoretischen und staatsrechtlichen Gemeinplatz gewordene Forderung, die auch damals bekannten unterschiedlichen drei Staatsgewalten politisch zu trennen, wobei diese Separation, insbesondere im Bereich der Legislative, auch damals schon keine reine Gewaltentrennung, sondern eine Gewaltenverschränkung sein soll. So heißt es in den Considérations , das Volk schließe gewöhnlich von der Größe der Macht auf deren Mißbrauch; deshalb hätten die Könige Europas, die Gesetzgeber und nicht Gesetzesvollstrecker, Fürsten und nicht Richter seien, die Strafgewalt als jenen Teil der Macht, der Haß erwecken könne, abgegeben und damit besondere Beamte beauftragt, während sie selber das Begnadigungsrecht ausüben.114 An anderer Stelle setzt er die nicht gemäßigte Regierungsform mit dem asiatischen Despotismus gleich115, wie er schon in den „Lettres persanes" sagen läßt, daß die europäischen Könige ihre große Macht nicht so unbeschränkt gebrauchten wie die Sultane116. 111
Brief an Barbot vom 2. Februar 1742, in: Gébelin (Fn. 63), Bd. I, S. 365 f.
112
Zur Situation in Frankreich eingehend Skalweit (Fn. 35), S. 40 ff., insbes. S. 46 ff.
113 Vgl. Montesquieu, „Größe und Niedergang Roms" (Fn. 55), S. 102 f.; hierzu auch Posner (Fn. 45), S. 224 ff. 114
Chap. XVI.
115
Chap. IX: „[...] dans l'accord du despotisme asiatique, c'est-à-dire de tout gouvernement qui n'est pas modéré, [...]", „Œuvres" (Fn. 2), Bd. II, S. 119. 116
Lettre CD (Usbek à Ibben), 3. Absatz.
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Detef Merten
Im „Esprit" behandelt er das Problem unter der Überschrift „Von der Verfassung Englands" grundsätzlicher. 117 Er leugnet eine politische Freiheit des Bürgers im Falle der Gewaltenvereinigung. Alles wäre verloren, so begründet er seine These, wenn derselbe Mensch oder die gleichen Körperschaften der Großen, des Adels oder des Volkes diese drei Gewalten ausüben würden: die Macht, Gesetze zu geben, die öffentlichen Beschlüsse zu vollstrecken und die Verbrechen oder die Streitsachen der einzelnen zurichten; in den meisten europäischen Königreichen sei die Verfassung gemäßigt, weü der Fürst, der die beiden ersten Gewalten innehabe, die dritte seinen Untertanen zur Ausübung überlass e. Dann folgt die für die Durchschlagskraft seiner Theorie m. E. entscheidende Argumentation: Bei den Türken, wo diese drei Gewalten in der Hand des Sultans vereinigt seien, herrsche ein furchtbarer Despotismus. Mit diesem Türkei-Argument knüpft er an seine Despotismuskritik in den „Lettres persanes" an. Es ist dieser Vergleich mit dem despotischen Orient, der zur politischen Wirkung des Werkes beiträgt, was dem politischen Schriftsteller Montesquieu bewußt ist. Orientalische Staaten beruhten nach verbreiteter Auffassung nicht auf Recht, sondern auf Furcht und Gewalt. So wirft Justi118 den asiatischen Reichen vor, sie behandelten die Menschen als tierische Wesen und man habe beispielsweise Fleischer wegen zu teurer Preise am Spieße braten sehen. Friedrich bezeichnet in seinem „Essai sur les formes de gouvernement"119 Persien und die Türkei als Despotien und spricht in einem Brief an Voltaire 120 von einer harten und sogar barbarischen Herrschaft der Türken. Auch völkerrechtlich ist die Türkei zu jener Zeit noch nicht als gleichberechtigter Partner europäischer Staaten anerkannt, wenn sie auch im 18. Jahrhundert langsam in diese Stellung hineinwächst.121 Das europäische Interesse am Orient hatte nichts an dessen Geringschätzung geändert, so daß jeder Vergleich mit orientalischen Zuständen herabsetzend ist. Dies benutzt Voltaire, wenn er die Türkei im Vergleich zum Staate des Soldatenkönigs eine freie Republik nennt.122 Und da es weniger auf die geographische Exaktheit als auf die ungefähre Himmelsrichtung ankommt muß es Friedrich auch getroffen haben, daß Voltaire nach dem Zerwürfnis in seinem „Candide" Preußen auf den Balkan verlegt. 123 [...] 117
L. XI, Chap. 6.
118
„Vergleichungen der europäischen mit den asiatischen und andern vermeintlich barbarischen Regierungen", Berlin, Stettin, Leipzig 1762, S. 269. 119
(Fn. 14), S. 197 und 198.
120
Brief vom 9. Oktober 1773 (Fn. 84), S. 274 ff. (276).
121
Vgl. Duchhanit, H , „Friedenswahrung im 18. Jahrhundert", HZ 240, 1985, S. 265 ff., insbes. S. 274 ff., 277 f.; auch Pröhl, Karl, „Die Bedeutung preußischer Politik in den Phasen der orientalischen Frage", 1986, S. 58 ff. 122
„Memoires pour servir à la vie de M. de Voltaire écrits par lui-même". In deutscher Übersetzung von H. Balzer, Berlin (Ost) 1983, S. 10. 123 2. und 3. Kapitel.
Friedrich der Große und Montesquieu
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Montesquieus orientalische Verfremdung, die seine Kritik in den „Lettres persanes" relativiert, potenziert sie im „Esprit". Konnte man dort die Schilderung des Okzidents noch als die Sichtweise von Orientalen verharmlosen, so wird hier der okzidentale Herrscher selbst zum orientalischen Despoten, sein tel est notre plaisir zur Sultanslaune. [...] Schon Zeitgenossen haben ihm vorgeworfen, zur Rechtfertigung ausgefallener Meinungen auf ferne Länder zu verweisen, von denen er keine Ahnung habe.124 Der politische Impetus geht von der Etikettierung des Gewaltenmonismus als eines Charakteristikums der orientalischen Despotie aus. Daher muß sich jeder Fürst insbesondere aber ein aufgeklärter, von der Gewaltenvereinigung distanzieren, wenn er kein Despot sein will. Auf Friedrich hat das Türkei-Argument seine Wirkung nicht verfehlt. VL 1. In Preußen war die Staatsentwicklung der Rechtsentwicklung, die Verwaltungszentraüsation der Gerichtszentralisation vorgegangen. Der Einfluß der Stände hatte zunächst nur durch Anerkennung ihrer ortsobrigkeitlichen Gerichtsgewalt eingedämmt werden können. Erst Friedrich Wilhelm I. hatte durch Reklamation des ausschließlichen Begnadigungsrechts und Expansion seines Bestätigungsrechts die Territorialherrschaft auch in der Strafrechtspflege gesichert. Die landesherrliche Konfirmation der Strafurteüe in schweren Fällen ermöglichte es nun, das vielfach wülkürliche Richten in der Patrimonialgerichtsbarkeit zurückzudrängen, Justizübel zu beseitigen, die Strafrechtspflege zu vereinheitlichen und Härten des mittelalterlichen Strafrechts zu mildern. Da der Landesherr Gerichtsherr war, stellten seine strafrichterlichen Sentenzen „Rechtssprüche", d. h. Gerichtssprüche, dar. Im Gegensatz dazu ergingen seine Entscheidungen in zivilrechtlichen Streitigkeiten als „Machtsprüche", ex plenitudine potestatis, da der Souverän bestehendes Recht durchbrechen oder neues Recht setzen konnte. Anders als die von Amts wegen zu erlassenden Rechtssprüche wurden die Machtsprüche in der Regel durch Suppliken der Prozeßparteien angeregt, waren deshalb auch nicht so häufig, ohne jedoch mit dem ihnen erst später aufgedrückten pejorativen Makel behaftet zu sein.125 Für Friedrich ist das Herrscheramt zugleich Richteramt. „Les princes sont nés juges des peuples" heißt es im „Antimachiavel"126, und sein Autor mahnt die Fürsten, die ihre Hoheit aus der Justiz ableiteten, die Grundlage ihrer Herrschaft und den Ursprung ihres Amtes niemals zu verleugnen. Und in seinem „Essai sur
124 Vgl. Boswell , James, „The Journal of a Tour to the Hebride", 14. September, in deutscher Übersetzung, München 1985, S. 533; ähnlich hatte sich Voltaire geäußert, vgl. Sakmann, „Voltaire als Kritiker Montesquieus", in: Arch. f. d. Studium der neueren Sprachen und Litteraturen, 113, 1904, S. 374 ff. (376). 125 Zu Vorstehendem Merten, „Rechtsstaatliche Anfänge im preußischen Absolutismus", DVB1. 1981, S. 701 ff. mit weiteren Nachweisen. 126
(Fn. 54), S. 176 a. E.; S. 225:,juges d'institution"; vgl. auch S. 167 unten.
236
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les formes de gouvernement"127 ist der Fürst „le premier juge, le premier général, le premier financier, le premier ministre" - alles in allem: „le premier serviteur de l'État". Die erste Rangstelle der Rechtspflege ist keine zufallige, denn auch Friedrichs Politische Testamente beginnen jeweils mit grundsätzlichen Ausführungen über die Justiz.128 Während seines ganzen Lebens güt seine Fürsorge einer gerechten und unparteiischen, prompten und soliden Rechtspflege und seine Furcht einer „verdorbenen Justizadministration" und „Schelmen", die den „Mantel der Justitz" für „üble passiones" mißbrauchten.129 Für ihn ist Kabinettsjustiz sowohl Mittel der Richteraufsicht 130 als auch Möglichkeit der Rechtsreform. Vielfach ist der Rechtsweg zum Herrscher der Vernunft zugleich der Weg zur Herrschaft vernünftigen Rechts. „Natürliche Billigkeit" 131 soll nicht nur die Gesetze, sondern auch die Richtersprüche prägen. So untersagt der König die gegen einen Bauern verhängte Schuldhaft, weil man nicht „von einem armen Bauern wider alle Möglichkeit 700 Thaler durch das Gefängnis erzwingen" dürfe. Wenn alle „Dero Bauren auf solche Art dergleichen bezahlen sollen", setzt er hinzu, „so würden die Festungen und Gefangnisse volkreich werden, die Dörfer aber wüste sein".132 In einem anderen Fall will er sich „damit keineswegs beruhigen und geschehen lassen, daß die Aecker derer Unterthanen, welche bei ihren Höfen auf hundert und mehr Jahre gehöret haben, [...] durch geistliche Stifter oder Klöster [...] den Bauern genommen werden sollten". Deshalb hebt er „aus landesherrlicher Autorität und um mehrere dergleichen dem Besten des gemeinen Wesens schädliche Suiten zu verhindern", das Urteil des Generaldirektoriums auf. 133 Noch im Januar 1749 greift er in einen Prozeß ein, um eine Bedrückung schlesischer Untertanen durch ihre Gutsherrschaft abzustellen.134
127
(Fn. 14), S. 208.
128
Dietrich, Richard, „Die politischen Testamente der Hohenzollern", S. 254 ff. und S. 462 ff.
1986,
129 Vgl. „Cabinetsordre" vom 12. Januar 1746, in: Kamptz, Jahrbücher für die Preußische Gesetzgebung, 59,1842, S. 72 ff.; hierzu auch Α. B. V I I S. ff.; siehe ferner „Protokoll" vom 11. Dezember 1779, in: Berlinsche Nachrichten von Staats- und gelehrten Sachen vom 14. Dezember 1779, Nr. 149, auch in: A. B. XVI/2,1982, S. 576 f. 130
Vgl. hierzu auch seine Politischen Testamente von 1752 und 1768, Dietrich (Fn. 128), S. 256 f. und S. 462 ff. 131 Vgl. „Dissertation" (Fn. 65), S. 22: „conformes à l'équité naturelle"; siehe auch sein Politisches Testament von 1752, Dietrich (Fn. 128), S. 256 (Die Übersetzung der „équité naturelle" mit „natürlicher Rechtlichkeit" ist wenig gelungen). Vgl. in diesem Zusammenhang auch Montesquieu, „Lettres persanes", L. C X X I X (Usbek à Rhedi). 132 „Cabinetsordre" vom 9. August 1742, in: Acta Borussica, Behördenorganisation, Bd. VI/2,1901, S. 481 Nr. 246. 133
„Cabinetsordre" vom 28. August 1748, in: A. B. Bd. V i n , 1906, S. 78 f.
134
„Cabinetsordre" vom 30. Januar 1749, A. B. Bd. V i l i , S. 255 ff.
Friedrich der Große und Montesquieu
237
2. Zeitgleich mit der Veröffentlichung des „Esprit" und der Vorlage der „Dissertation" vollzieht sich ein Wandel in der Einstellung des Königs zur (Zivil-)Rechtsprechung. Sicherlich hatte Friedrich auch bisher den Erlaß von Machtsprüchen abgelehnt, insbesondere wenn er keinen Anlaß zu Korrekturen sah. Mitunter mußte er sogar Suppliken gegen seine eigenen Entscheidungen zurückweisen.135 Nunmehr begründet er die Weigerung, Judikate abzuändern, immer häufiger, dann stereotyp mit dem Hinweis, daß „alles denen Rechten und denen Landesgesetzen gemäß tractiret werden soll" 136 , daß „die Geßetze Regiren müßen", daß es seine Schuldigkeit sei, die Gesetze zu unterstützen, „aber nicht umbzuwerfen" 137, daß er Machtsprüche verabscheue138. Ahnlich äußert er sich in seinen Politischen Testamenten. Mit der Rechtsprechung könne sich kein Herrscher belasten; er habe sich daher entschlossen, niemals in den Ablauf der Gerichtsverfahren einzugreifen, „c'est dans les tribunaux où les loix doivent parler et où le souverain doit se taire", schreibt er 1752.139 Noch grundsätzlicher und in stärkerer Anlehnung an Montesquieu formuliert er 1768, die unmittelbare Verwaltung der Rechtspflege werde heute von keinem Souverän in Europa persönlich vorgenommen; es stehe dem Herrscher nicht zu, bei den Entscheidungen der Prozesse seine Autorität zu benutzen; die Gesetze sollten allein regieren und die Pflicht der Herrscher solle sich darauf beschränken, sie zu schützen.140 Und an d'Alembert schreibt er 1780, die Souveräne seien „originairement" auch die Richter des Staates gewesen, aber die Fülle der Geschäfte habe sie zur Delegation genötigt.141 Was im „Antimachiavel" als Herrschaftsprogramm begann, ist nun Herrschaftserinnerung. Beginnende Gewaltentrennung, die auch Grundstein für richterliche Unabhängigkeit wird, ist im Zenit des aufgeklärten Absolutismus zugleich Vorbote eines kommenden Konstitutionalismus. Montesquieus „Esprit" war hierfür nicht allein ursächlich. Schon 1747 hatte Friedrich einmal verfügt, er gebe „so wenig 135
Vgl. Bescheid vom 22. Juli 1747 an Hofrat Haag: „[...] denn da Ich aus genug erheblichen Ursachen die Sache selbst entschieden, so muß es auch dabei verbleiben", in: Preuss, J. C. D. E., „Urkundenbuch von der Lebensgeschichte Friedrichs des Großen", Teü 1, Berlin 1832, S. 64 Nr. 162. 136
„Cabinetsordre" vom 22. Oktober 1752, A. B. Bd. IX, 1907, S. 494 f. (495), Nr.
277. 137
A. B. Bd. ΧΠΙ, 1932, S. 524 Nr. 258, insbes. auch in Anm. 1.
138
„Kabinettsverfügung" vom 4. Juli 1780, in: Hymmen, Bey träge zu der juristischen Literatur in den Preußischen Staaten, 7. Sammlung, Berlin 1782, S. 130 f.; vgl. auch „KabinettsVerfügung" vom 2. Dezember 1774. „Dieses ist offenbar gegen meine so oft bekannt gemachte Gesinnungen, nach welchen Ich alle Rechtspflege dem pflichtgemäßen Ermessen Meiner Justitz-Collegiorum überlasse, [...] und wobei ich dem Recht freyen Lauf lasse", in: Hymnen, 3. Sammlung, Berlin 1779, S. 112. 139
Dietrich (Fn. 128), S. 256 f.
140
Dietrich (Fn. 128), S. 462 ff.
141
„Œuvres", Tome X X V , 1854, S. 145 f. (146), Nr. 216.
238
Detef Merten
in Justiz- als in Matrimonialsachen Machtsprüche"142, und der Grundsatz der Nichteinmischung des Souveräns in den Lauf der Prozesse war ihm aus der preußischen Gesetzesform von 1748 bekannt143. Es war die von Montesquieu mit seinen „Lettres persanes" maßgeblich beeinflußte aufklärerische Grundströmung, die eine Distanz zur Kabinettsjustiz begründet hatte. Dem „Esprit" gelang nun nicht zuletzt durch das Türkei-Argument der letzten Durchbruch, weil er den Herrscher, der an Machtspriichen festhielt, zum orientalischen Despoten „stigmatisierte" (Stölzel144). Bei dem fortschrittlichen Aufklärer Friedrich hat dieser Stachel tief gesessen. Jahre später wird er sich in Auseinandersetzung mit den von ihm wenig geschätzten145 materialistischen und egalitaristischen Spätaufklärern zur Verteidigung der Adelsprivüegien selbst des Türkei-Arguments bedienen und wie seinerzeit Montesquieu ex hoste argumentieren. Er wird Holbach vorhalten, daß der Adel in allen europäischen Staaten dieselben Vorrechte genieße; nur in der Türkei seien die Stände vermischt und die Dinge liefen dort nicht besser146. Die Ideen Montesquieus wirkten nicht nur auf den Souverän, sondern beeinflußten maßgeblich auch die geistige Elite, vor allem das preußische Beamtentum.147 Svarez bezeichnet später in seinen Kronprinzenvorträgen das Machtspruchverbot als „Schutzwehr der bürgerlichen Freiheit" und Unterscheidungsmerkmal zwischen einem „Bürger der preußischen Monarchie" und dem „Sklaven eines orientalischen Despoten".148 Bei einem Besuch des Kammergerichts erhält derselbe Kronprinz, der nachmalige König Friedrich Wilhelm III., einen Vortrag des Direktors Kircheisen über das Machtspruchverbot und dessen Geschichte, wobei der „scharfsinnige Montesquieu" mit seiner zum Lehrsatz des Fortschritts gewordenen Maxime zitiert wird, in den despotischen Staaten dürfe der Fürstrichten, nicht so in monarchischen.149 142
„Resolution" vom 5. September 1747, Α . B. VE, 1904, S. 374 Nr. 250.
143
Hierzu Svarez, „Kronprinzenvorträge" (Fn. 76), S. 238, vgl. auch S. 484 f.
144
„Fünfzehn Vorträge aus der Brandenburgisch-Preußischen Rechts- und Staatsgeschichte", Berlin 1889, S. 164. 145
Vgl. seinen Brief an d'Alembert vom 3. Dezember 1779, „Œuvres" Tome X X V , Nr. 211, S. 133 ff. (134); „[...] que j e ne confonds pas les d'Alembert avec les Diderot, avec les Jean-Jacques, et avec les soi-disant philosophes qui sont la honte de la littérature." Von den Philosophen oder Enzyklopädisten wird die Abneigung erwidert. Vgl. Diderot, „ B r i e f e " (Fn. 105) S. 425 f. 146
,Examen de l'Essai sur les préjugés", in: Œuvres, Tome I X , 1848, S. 131 ff.
(140). 147
Hubatsch, Walther, „Eckpfeiler Europas", 1953, S. 82.
148
(Fn. 76) S. 236.
149
„Annalen der Gesetzgebung und Rechtsgelehrsamkeit in den preußischen Staaten", Bd. 9, S. 307 ff. (309), auch abgedruckt in: Altmann, Wilhelm, Ausgewählte Urkunden zur Brandenburgisch-Preußischen Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte", 2. Aufl., Teil I, 1914, S. 492 ff. (495).
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Sowohl Friedrichs spektakuläres und populäres Eingreifen in den Müller-Arnold-Prozeß150 als auch die Tilgung des Machtspruchverbots aus dem Entwurf eines Allgemeinen Gesetzbuchs151 haben die Weichenstellung für den Weg in den Rechtsstaat nicht entscheidend geändert. Es wäre abwegig, in ahistorischer Rückprojektion heutiger Verfassungszustände schon für die Mitte des 18. Jahrhunderts eine rechtsverbindliche, womöglich fundamentalgesetzliche Richterunabhängigkeit und Gewaltentrennung zu konstruieren. Friedrich hatte das Richterkönigtum nicht derelinquiert, sondern nur delegiert, sich die Richteraufsicht aber reserviert. Sehr subtil hatte er in seinem Politischen Testament von 1752 die ursprünglichen Anfangsworte „fait une Loi" für die Nichteinmischung in Gerichtsverfahren durch die zurückhaltendere Formulierung „Je me suis résolu" ersetzt152, dabei aber gleichzeitig die Notwendigkeit betont, gegen Rechtsmißbrauch und Pflichtvergessenheit in der Rechtspflege mit extremer Strenge vorzugehen, damit der Herrscher nicht zum Komplizen des Verbrechens werde 153. Aus Furcht, die Leute in den Provinzen könnten „nach Gefallen gehudelt werden" 154, hatte er es auch abgelehnt, in Strafverfahren das königliche Bestätigungsrecht zu einem Begnadigungsrecht abzuschwächen. Dabei ist er sich des Gegensatzes zu Montesquieu durchaus bewußt, muß aber gleichzeitig dessen pauschalen Despotie-Vorwurf wegen der Unvergleichbarkeit der berüchtigten Strafrechtspflege Frankreichs mit der Kabinettsjustiz des aufgeklärten Preußen155 als ungerecht empfinden. So fügt er seiner Korrespondenz mit Voltaire über die barbarische Strafgerichtsbarkeit in Frankreich die Spitze hinzu, von dieser Art Jurisprudenz (d. h. durch parlamentarische Rechtsprechung) sei der Präsident Montesquieu, der sie mit der Muttermilch eingesogen habe, voreingenommen.156 Die Gesetzesherrschaft ist nach Friedrich Anlaß des Herrschaftsvertrages. 157 Deshalb ist es Herrscheraufgabe, die Herrschaft der Gesetze zu sichern. Da
150 Hierzu Diesse Ihorst, Malte, „Die Prozesse des Müllers Arnold und das Eingreifen Friedrichs des Großen", 1984; Serieller, „Friedrich der Große und der Müller Arnold", JuS 1986, S. 759 ff. 151
„Allgemeines Gesetzbuch für die Preußischen Staaten", Berlin 1791, § 6 Einl., § 5291 9; hierzu auch Merten (Fn. 73) S. 62. 152
Vgl. Dietrich (Fn. 128) S. 256 in und zu Anm. 11.
153
S. 258 f.; vgl. auch seinen Brief an d'Alembert (Fn. 141), S. 146.
154
Antwort vom 30. Juni 1743, A. B. VI/2, Nr. 350, S. 611 f. (612).
155
Hierzu Merten, DVB1. 1981, S. 705 f., 707 mit weiteren Nachweisen.
156
Brief vom August 1766 in: Briefwechsel (Fn. 84) Nr. 469, S. 128 ff. (129).
157
„Essai" (Fn. 14) S. 196 f., 198; ähnlich später Kant. „Ein Staat (civitas) ist die Vereinigung einer Menge von Menschen unter Rechtsgesetzen", „Metaphysik der Sitten, Rechtslehre", S. 45, in: Werke in sechs Bänden, hrsg. von Weischedel, Bd. IV, 1975, S. 431.
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die Gesetze, hierin stimmen Friedrich und Montesquieu überein, letztlich die „raison humaine" verkörpern 159, müssen sie nicht nur für den letzten Untertan, sondern auch für den Herrscher gelten160, muß „der Prinz, vor der Justitz, dem Bauer" gleich sein161, und muß der Untertan mit dem Oberhaupt des Staats vor den ordentlichen Gerichten streiten können, wie es später § 80 Einl. ALR formuliert. Hatte Friedrich bei Regierungsantritt durch die Trennung von Staat und Souverän Preußen aus dem absolutistischen Monismus in den Dualismus des aufgeklärten Absolutismus geführt, so entläßt er seinen Staat am Ende in die Richtung auf den konstitutionellen Rechtsstaat, in dem nicht mehr bloß der Herrscher Diener des Staates, sondern nunmehr auch der Staat Diener des Rechts ist. Editorische Notiz In: „Verwaltung im Rechtsstaat". Festschrift für Carl Hermann Ule. Köln, Carl Heymanns Verlag, 1987. S. 187-208.
158 „J'ai fait regnér les Loix et la Justice", Testament vom 8. Januar 1769, in: OppelnBronikowski , v., (Hrsg.), „Das Testament des Königs", 1925 (Faksimüe); vgl. auch das „Politische Testament" von 1768, in: Dietrich (Fn. 128), S. 464 f. 159
Montesquieu,„De
160
Vgl. „Politisches Testament" von 1768, in: Dietrich (Fn. 128), S. 464 f.
161
„Protokoll" vom 11. Dezember 1779 (Fn. 129).
l'Esprit des Lois", L. I, Chap. 3.
Montesquieu und der Geist der Gesetze Naturgesetz, Natur recht, positives Recht Panajotis Kondyüs (1994) L Zweifellos wurde Montesquieu, in jeweils unterschiedlichem Ausmaß und auf jeweils anderen Umwegen, sowohl von Vertretern des Naturrechts (vor allem Grotius) als auch von Metaphysikern (Malebranche und Leibniz) beeinflußt, wobei er sich den Grundgedanken von der strukturellen Analogie zwischen natürlicher und moralischer Gesetzmäßigkeit als ontologisch autonomen (d. h. auch vom göttlichen Willen unabhängigen) Größen aneignete.1 Ebenfalls nicht zu bezweifeln ist, daß Montesquieu im Bündnis mit dieser idealistischen Richtung des Naturrechts die materialistische Begründung desselben durch Hobbes bekämpft hat. Der Gegensatz zu Hobbes büdete gleichsam eine Konstante in seinem geistigen Werden, obwohl die nachdrückliche Ablehnung dessen, was Montesquieu für sozial gefahrlichen Amoralismus von Hobbes hielt, die stillschweigende Übereinstimmimg in einzelnen, und nicht immer ganz wichtigen, Punkten keineswegs ausschloß.2 Hinsichtlich dieser speziellen Frage, ebenso wie bei der allgemeinen Erörterung der grundsätzlichen Einstellung Montesquieus zum Naturrecht und zur multidimensionalen Problematik der loi, muß man möglichst sauber unterscheiden zwischen seinen oft ausgesprochenen Sympathien und den logischen Aporien, die sich aus der Kreuzung dieser Sympathien mit seinem ebenfalls eiklärten Wülen ergehen, die Phänomene zu beschreiben, und nicht zu beurteilen. Der Gegensatz zwischen diesem Willen und der Tatsache, daß er sich vielfach der (moralischen) Beurteilung doch nicht enthalten hat, muß gleichermaßen in semen logischen und epistemologischen Folgen oder Implikationen registriert, nicht bloß auf Psychologisches reduziert werden. 1 Diese Beeinflussung wird in den Arbeiten von Waddicor [M., „Montesquieu and the Philosophy of Natural Law", The Hague 1970] und Mason [Sh., „Montesquieu's Idea of Justice", The Hague 1975] ausführlich belegt dabei aber einseitig hervorgehoben, ohne jede Erörterung der damit zusammenhängenden logischen und methodologischen Fragen. 2
Ein sehr vereinfachtes Büd des Mechanizisten Hobbes stellt S. Goyard-Fabre, „Montesquieu adversaire de Hobbes" (Archives des lettres modernes 192 (1980) [Archives Montesquieu 8]), dem Humanisten Montesquieu gegenüber. Vgl. Cotta, S., „Montesquieu [e la scienza della società", Torino 1953], 139ff., sowie den letzten Absatz dieses Abschnitts.
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Die Analyse des /oz-Begriffes 3 hat sich freilich vor allem auf die vieldiskutierten drei Kapitel des ersten Buches des Hauptwerkes zu stützen. Ganz an ihrem Anfang wird die loi als die notwendigen Beziehungen definiert, die sich aus der Natur der Dinge ergeben - und diese Definition soll auf allen Ebenen des Seins, des Wißbaren und der Wissenschaft gelten. Die Gesetzmäßigkeiten aller Ebenen können m. a. W. auf einheitliche Art und Weise erfaßt werden, und unsere epistemologische Einstellung und Ausrüstung muß beim Übergang von der einen Ebene zur anderen nicht geändert werden. Auf allen konstruiert und handhabt der Epistemologe dasselbe kognitive Schema: er entdeckt Beziehungen, und in dem Maße, wie er sich von der Notwendigkeit dieser Beziehungen überzeugt, formuliert er Gesetze und verknüpft das Funktionieren dieser Gesetze mit der Natur der Dinge, oder vielmehr leitet er diese von jenem ab. Offensichtlich haben aber nicht alle Dinge dieselbe Natur, und daher kommt die Allgemeingültigkeit des Gesetzes (im allgemeinen epistemologischen Sinne des Wortes Gesetz) nicht der ontologischen Identität von allem mit allem gleich; das Problem hegt gerade darin herauszufinden, wie sich die universelle Anwendung der Epistemologie mit der jeweils unterschiedlichen ontologischen Qualität vereinbaren läßt. Wir halten also die Unterscheidung zwischen dem Gesetz als idealem Schema, das die Beziehungen der Dinge zueinander determiniert, und der Beschaffenheit der jeweiligen ontologischen Entfaltungsebenen dieses selben Schemas fest und wollen nun dierestlichenBedeutungen des Gesetzes, außer den epistemologischen, aufzählen, indem wir nunmehr die Beschaffenheit der ontologischen Ebenen zum Maßstab nehmen. Somit gesellen sich zum epistemologischen Gesetzesbegriff drei weitere Gesetzesbegriffe, da Montesquieu von drei ontologischen Ebenen spricht: der Ebene der unendlichen Intelligenz Gottes als der puren Vernunft, der Ebene der anorganischen und, allgemeiner, der unvernünftigen Natur und der Ebene der endlichen Intelligenzen, also der menschlichen Welt in ihren materiellen Bestimmungen. Der ersten Ebene wohnt das Gesetz als Naturrecht inne, d.h. als Inbegriff höchster moralisch-normativer Prinzipien, die zweite Ebene bildet das Reich des Naturgesetzes, also des Gesetzes im naturwissenschaftlichen Sinne, und für die dritte Ebene charakteristisch ist das positive Recht, d.h. das Gesetz als Wille und Befehl eines menschlichen Gesetzgebers. Es muß nun betont werden, daß die vornehmliche Entfaltungsebene jeder Art von Gesetz nicht notwendig den Ort seiner Heikunft darstellt. Auf der Ebene der unendlichen göttlichen Intelligenz konstituiert sich nicht nur das Naturrecht, sondern auch die Naturgesetzmäßigkeit, da Gott Schöpfer und Erhalter der Welt ist; das positive Recht gestaltet sich freilich innerhalb der menschlichen Gesellschaft, im Idealfall sollte es aber im Naturrecht wurzeln und sich diesem fügen. Die Tatsache, daß die Gesetze der Natur und der menschlichen Welt letztlich der göttlichen Intelligenz entstammen, soll keine 3
Der Sinn dieses Begriffs läßt sich nicht mit einem Wort wiedergeben. Er bedeutet gleichzeitig das Naturgesetz, das Naturrecht und das positive Recht. Im folgenden wollen wir erklären, wie sich Montesquieu den Zusammenhang der drei Bedeutungen denkt.
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ontologische Herabsetzung jener beiden Seinsebenen indizieren, sondern sie wird vielmehr als Vollkommenheitsgarantie aufgefaßt: Positives Recht vervollkommnet sich offenbar in dem Maße, wie es sich dem Naturrecht annähert. Über die Rolle, die das Dazwischentreten der Naturgesetze beim Abrücken des positiven Rechts vom Naturrecht spielt (da der Mensch gleichzeitig an der immateriellen Intelligenz und an der materiellen Natur Anteil hat), werden wir noch reden. Wir können uns mühelos vergewissern, daß, obwohl das Naturgesetz nur eine besondere Art von Gesetz unter anderen ausmacht, doch Montesquieus allgemeine Gesetzesauffassung, also seine Epistemologie, der Naturwissenschaft des 17. Jahrhunderts entnommen ist. Das Gesetz ist primär ein funktioneller Begriff, es bezieht sich nicht auf Substanzen, sondern auf Beziehungen, und die Substanzen werden wenigstens implizit als Beziehungen definiert. Aber der Einfluß moderner Naturwissenschaft macht sich - wie bereits bei Grotius und anderen Theoretikern des 17. Jahrhunderts - auch an einem weiteren Punkt bemerkbar. Das Naturrecht und das Moralgesetz im allgemeinen werden nach dem Vorbüd des Naturgesetzes aufgefaßt d.h. als strenge und unverbrüchliche Gesetzmäßigkeiten, die keine göttliche Laune und Willkür beirren oder rückgängig machen könnte.4 Der göttliche Wüle wird auf Grund der Gebote des Naturrechts definiert nicht umgekehrt. Das Gesetz im epistemologischen Sinne des Wortes gilt gleichermaßen auf allen ontologischen Ebenen, daher weist die höchste normative Ebene, d. h. jene der puren, der göttlichen Vernunft, dieselbe Struktur auf wie die Natur - aber auch wie die Gesellschaft, da, wie wir wissen, Montesquieu sich die Übertragung des Kausalitätsbegriffes auf die Ebene der Gesellschaft zum Programm machte. Das Naturrecht und das Moralgesetz sind indes nicht bloß Gesetze im epistemologischen Sinne, sie stellen keine bloß formalen Strukturen und Formeln dar, sondern sie gebieten auch ein bestimmtes Verhalten, sie haben also auch einen bestimmten Inhalt. Daher können sie nur da funktionieren, wo es sich um Verhalten und Verhaltensbestimmungen handelt wo also Wollen und Denken vorhanden sind, während das Reich des Naturgesetzes ihnen fremd und gleichgültig bleibt. Die entscheidende Schlußfolgening daraus lautet: Die formal-strukturelle Identität zweier Ebenen als gesetzmäßiger Ebenen garantiert an sich keineswegs die Möglichkeit der Übertragung des Inhalts der einen Ebene auf die andere, und noch weniger garantiert sie die Identität der Inhalte. Wenn es jene Möglichkeit überhaupt gibt, und zwar hinsichtlich der umfassenden Kanalisierung des Naturrechts ins positive Recht, so liegt dies daran, daß in der menschlichen gesellschaftlichen Welt, ebenso wie auf der Ebene der unendlichen Intelligenz, Wollen und Denken existieren und wirken Es existieren aber auch Kausalbestimmungen, die auf der göttlichen Ebene ganz fehlen, Kausalbestimmungen, die auf das angesprochene Dazwischentreten der Naturgesetze zurückzuführen sind. Und wenn es stimmt, daß eben diese Kausalbestimmungen die (restlose) Verwirklichung des Naturrechts im positiven 4
Typisch Grotius, ,X)e Jure belli ac Paris" 1,1, 10 §5.
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Recht vereiteln, dann widersetzt sich die Gesetzmäßigkeit des Kausalen der Gesetzmäßigkeit des Normativen. Die strukturell-formale Identität beider Gesetzmäßigkeiten in ihrer epistemologischen Erfassung zieht keineswegs eine quasi automatische Durchsetzung des Normativen nach sich. Und Montesquieu begeht einen entscheidenden logischen Fehler, wenn er sich auf die erstere beruft, um letztere abzusichern. Die menschliche Welt unterhegt den Gesetzen der beiden höheren ontologischen Ebenen: Sie unterhegt den Naturgesetzen, die sie in keinem Fall verletzen kann, und sie unterliegt den moralisch-normativen Gesetzen der göttlichen Vernunft, die sie aber übertritt, wie sowohl das alltägliche Verhalten der Menschen als auch der oft schreiende Widerspruch des positiven Rechts bzw. der rechtlichen Praxis zum Naturrecht vor Augen führea Montesquieus Ausführungen 5 läßt sich deutlich entnehmen, daß dieses Übertreten auf drei Faktoren zurückgeführt werden muß, nämlich auf physisch-materielle Determinierungen, auf den endlichen Charakter menschlicher Intelligenz und auf die menschliche Freiheit. Die beiden ersten bilden in Wirklichkeit die zwei Seiten derselben Medaille, denn die Grenzen menschlicher Intelligenz verengen sich in dem Maße, wie der Träger dieser Intelligenz ein sinnliches Wesen ist, das kognitiv auf die fragmentarischen Daten seiner Sinne angewiesen und moralisch die Beute unausrottbarer Leidenschaften ist; die Unendlichkeit der Intelligenz auf der Ebene Gottes geht im Gegenteil mit ihrer absoluten Reinheit einher, die durch keine Anwesenheit und keinen Einfluß materiell-sinnlicher Faktoren getrübt wird oder getrübt werden kann. Wir folgern also, daß der primäre Grund für die Abweichung der Handlungen der endlichen Intelligenzen von den Geboten der unendlichen Intelligenz in den materiell-kausalen Bestimmungen zu finden ist, denen die ersteren unterliegea Aber diese deterministische Erklärung des Irrtums und des Bösen steht in direktem Gegensatz zu ihrer Erklärung durch die menschliche Freiheit. [...] Der fundamentale Unterschied zwischen der menschlichen Welt und der göttlichen als dem Reich der puren Vernunft besteht darin, daß in der ersteren kausale und normative Gesetzmäßigkeit sich des öfteren gegenseitig in den Weg stellen, während sie in der letzteren einfach identisch sind. Diese Identität bedeutet wiederum zweierlei: erstens, daß die volle und ungehinderte Entfaltung der Naturgesetzmäßigkeit nicht im geringsten die absolute Geltung des Naturrechts beeinträchtigt, da Gott gleichzeitig und definitionsgemäß die Verkörperung und die Garantie sowohl der natürlichen als auch der moralischen Ordnung darstellt; zweitens, und noch wichtiger, daß das Naturrecht und die universalen Prinzipien der Moral die innere Gesetzmäßigkeit oder Kausalität der (göttlichen) Vernunft ausmachen, die, indem sie sich von der eigenen Gesetzmäßigkeit leiten läßt und dieselbe entfaltet, nicht umhin kann, gut zu sein, d. h., sie ist kausal gezwungen, in normativer Vollkommenheit zu existieren und zu wirken. Wo die kausale und die normative Bestimmung zusammenfallen, da wird die morali5
I, 1, Absatz: „Mais i l s'en faut bien [...]" und folgende.
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sehe Handlung durch das moralische Gesetz und das Naturrecht auf die gleiche Art und Weise determiniert wie das Verhalten eines Naturkörpers durch die Naturgesetzmäßigkeit; es genügt zu wissen, was Gesetz im epistemologischen Sinne des Wortes heißt, um den Charakter und den Inhalt der zu erwartenden Handlung voraussehen zu können; zwischen der formalen Struktur des Gesetzes und dem (guten) Charakter und Inhalt der Handlungen bestehen eme fraglose Übereinstimmimg und eine nahtlose Kontinuität. Anders gesagt: Auf dieser Ebene stößt das Wirken des Gesetzes nicht auf die Beschaffenheit seines Anwendungsgebietes, da die pure Vernunft ohne weiteres mit dem moralischen Gesetz zusammenfallt. Ist es nun aber auf der menschlichen Ebene möglich, daß das positive Recht auf dieselbe Art und Weise durch das Naturrecht determiniert wird wie das Verhalten der Naturkörper durch die Naturgesetzmäßigkeit? Ist es möglich, daß die normative Qualität einer Handlung auf dieselbe Art und Weise vom moralischen Gesetz abhängt wie der äußere sichtbare Ablauf dieser selben Handlung von der Naturgesetzmäßigkeit? Sollte dies möglich sein, so wäre es unlogisch, auf kausal-materielle Bestimmungen und auf Naturgesetze hinzuweisen, um die große und peinliche Kluft zwischen menschlicher Welt und göttlicher Vernunft, zwischen positivem Recht und Naturrecht zu erklären. Das Spezifische der menschlichen Welt besteht m. a. W. im Fehlen der zwanglosen Identität und Kontinuität zwischen dem Gesetz im allgemeinen epistemologischen Sinne und der positiven normativen Qualität der sich gesetzmäßig abspielenden Handlungen Und es reicht keineswegs aus, die strukturell-formale Identität zwischen der Kausalbeziehung auf der Ebene der göttlichen Vernunft und der Kausalbeziehung auf der Ebene des positiven Rechts festzustellen, um den Übergang von jener zu dieser für logisch legitim zu halten.6 Die strukturell-formale Identität wird somit zum Deckmantel, der eine flagrante μετάβασις είς άλλο γένος verhüllen soll; denn die Identität besteht auf der Ebene der epistemologischen Definition des Gesetzes, während der praktisch ausschlaggebende Unterschied beim Wechsel der ontologischen Ebenen hervortritt, auf der sich das Gesetz jeweüs entfaltet. Die epistemologisch verstandene Struktur des letzteren bleibt dieselbe, beim Wechsel der ontologischen Ebenen ändert sich aber der Inhalt, die normative Qualität; denn auf dieser Ebene, der ontologischen, wird die Kluft zwischen positivem Recht und Naturrecht festgestellt, und ebenfalls auf dieser Ebene wird die gesetzmäßig-kausale Betrachtung aufgeboten, um jene Kluft begreiflich zu machen. Indem wir uns auf beiden Ebenen derselben kausalen Betrachtung bedienen und epistemologisch identische Gesetzesbegriffe verwenden, leiten wir aus der inneren überhistorischen Kausalität der Vernunft das unversehrte Naturrecht ab, während wir auf Grund der Kausalität, die in den menschlich-sozialen Phänomenen obwaltet, bloß verstehen können, warum sich das 6
Diesen schwerwiegenden, aber übüchen Fehler begeht ζ. B. S. Goyard-Fabre, „La phüosophie [du droit de Montesquieu", Paris 1973] 93. Gleichfalls Ch. Beyer, „Nature et Valeur dans la Philosophie de Montesquieu", Paris 1982, 380.
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positive Recht derart gestaltete, daß es vom Natunecht mehr oder weniger abweichen mußte. Der Unterschied wird gleichermaßen sichtbar, wenn wir die Perspektive umkehren, indem wir nämlich das positive Recht und das Naturrecht nicht als Wirkungen einer jeweils höheren Kausalität, sondern als Ursachen, d. h. als Beweggründe menschlicher Tätigkeit ansehen. Die normativen Prinzipien des Naturrechts treiben den handelnden Menschen primär und von innen her, da sie, wie Montesquieu glaubt, seiner Vernunft immanent sind; rationales Handeln bildet demnach die selbsttätige Entfaltung und Äußerung ursprünglicher Anlagen oder den unmittelbaren Ausfluß der „Natur der Dinge" auf der Ebene der Intelligenz. Im Gegenteil bewegt das positive Recht das menschliche Handeln von außen und als sekundärer Faktor, nachdem es sich durch eben jene Verhältnisse und Kräfte gestalten ließ, die seine Abweichung vom Natunecht bedingten. Die Tatsache, daß wir das Naturrecht als primären und das positive Recht als sekundären Beweggrund menschlichen Handelns erachten, bedeutet nicht, das positive Recht ergebe sich aus dem Naturrecht mit derselben Notwendigkeit, wie auf das erste Element einer Reihe das zweite, und nicht das dritte oder das fünfte folgt. Denn das positive Recht ist nicht bloß deswegen sekundär, weü das Natunecht die Stelle des Primären permanent besetzt hält, sondern es ist sekundär, weil es aus einem Geflecht von innerweltlichen, also geographischen, biologischen, geschichtlichen, ökonomischen und sozialen Ursachen entsteht. In bezug auf dieses Geflecht ist das positive Recht sekundär - und wenn es dies nicht wäre, dann hätte die erklärte Absicht Montesquieus, die Gesetzmäßigkeiten seiner Herausbildung aufzudecken, absolut keinen Sinn. Wäre im Gegenteil das positive Recht sekundär in bezug auf das Natunecht als das Primäre, so wäre auch die Kluft zwischen den beiden theoretisch und praktisch irrelevant, genauso wie die Abweichungen im Geltungsgrad eines Naturgesetzes vom einen empirischen Fall zum anderen meistens nicht der Rede wert sind. Das positive Recht werde sich m. a. W. zum Natunecht genauso verhalten, wie sich die bunte Mannigfaltigkeit der einzelnen Wesen und Kombinationen zum Naturgesetz verhält, dem sie als Ganzes unterworfen ist. In einem solchen Fall müßte aber das Natunecht nicht nur das positive Recht determinieren, sondern auch dessen Entstehung und Beschaffenheit erklären können, genauso wie das Naturgesetz das Verhalten der einzelnen Wesen und den Ablauf ihrer Beziehungen zueinander begreiflich macht. Dann würden sich aber Geschichte und Soziologie als Wissenschaften, die die Herausbildung des positiven Rechts und somit des Geistes der Gesetze studieren, im großen und ganzen erübrigen. Es wäre ein Fehler, die Kluft zwischen positivem Recht und Natunecht bzw. kausaler und normativer Betrachtung durch die Behauptung überbrücken zu wollen, jedes positive Gesetz stelle gleichzeitig eine kausal zu erklärende Tatsache und ein Gebot normativen Charakters und Inhalts dar.7 Denn das Problem liegt gerade darin, inwiefern die Gebote des positiven Rechts mit den Geboten 7
So Goyard-Fabre,
„La philosophie [du droit de Montesquieu", Paris 1973], 83.
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des Naturrechts übereinstimmen, inwiefern also der Begriff des Normativen in beiden Fällen derselbe bleibt und inwiefern die historisch bezeugte Abweichung der beiden Begriffe vom Normativen bzw. der positiven und der naturrechtlichen Gebote voneinander eben der Wirkung kausaler {moralischer und physischer) Faktoren zuzuschreiben ist. Die Sklaverei kann durch das positive Recht zur Norm und zum Gebot erhoben werden, darf sie aber nach naturrechtlichen Kriterien als Norm und Gebot angesehen werden? Die soeben erwähnte Behauptung verwechselt das, was auf der Ebene des positiven Rechts Form ist, mit dem, was auf der Ebene des Naturrechts einen Inhalt bildet, und sie übersieht, daß der Begriff des Sollens oder der Norm auf jeder dieser beiden Ebenen ganz anders verstanden wird. Im Bereich des positiven Rechts bezieht sich das Sollen auf die bloße Form, d. h., Sollen und Norm ist alles, was sich in der Form eines ge- oder verbietenden Satzes (im Gegensatz zu den rein deskriptiven Sätzen) niederschlägt, gleichgültig, was ge- oder verboten wird. Aber im Bereich des Naturrechts dürfen nur bestimmte Inhalte die Form von ge- oder verbietenden Sätzen annehmen. Das Sollen geht hier aus einem einzigen, inhaltlich im voraus definierten Sein hervor, während im Bereich des positiven Rechts die Inhalte des Sollens variieren, da sie aus dem heterogenen und ständig wechselnden Sein der Gesellschaft und der Geschichte abgeleitet werden. Natürlich kann man seine Ehre als Logiker - und als Ethiker - aufs Spiel setzen und alle geltenden Gesetze als unmittelbaren Ausfluß des Naturrechts betrachten. Aber um dies tun zu dürfen, muß man sich auf den formalen Charakter des Gesetzes als eines Sollens bzw. Ge- oder Verbotes ungeachtet des jeweiligen Inhalts beschränken; dann taucht aber das große Paradoxon auf, daß das Naturrecht mit allem übereinstimmt, was gesetzliches Ge- oder Verbot ist, womit es letzten Endes auf Macht und Herrschaft zurückgeführt und reduziert wird. Auf der Ebene der menschlichen sozialen Welt soll nach Montesquieu die allgemeine epistemologische Definition des Gesetzes in zwei sehr unterschiedlichen Bedeutungen gelten: Einerseits erfaßt das Gesetz die Mannigfaltigkeit des positiven Rechts als Stimme von Beziehungen, die sich notwendigerweise unter der Ägide des Naturrechts vereinheitlichen; und andererseits subsumiert das Gesetz die Fülle der Beziehungen, die die positiven Gesetze gestalten, unter bestimmte grundlegende Beziehungen oder Prinzipien. Diese beiden Bedeutungen würden zusammenfallen, wenn sich die genannten Prinzipien mit dem Naturrecht identifizieren ließen, wenn also, wie bereits bemerkt, das Naturrecht sich in ein analytisches Instrument verwandeln und die Aufgabe einer historischsoziologischen Erklärung der vielfaltigen Formen und Beziehungen des positiven Rechts erfolgreich bewältigen könnte. Da dies nicht der Fall ist, bleibt der Unterschied der ontologischen Ebene zwischen göttlicher Vernunft und endlichen Menschenwesen maßgeblich, und die einheitliche, also für beide Ebenen geltende epistemologische Definition des Gesetzes kann ihn nicht eliminieren. Die zweite der obengenannten Bedeutungen des Gesetzes hat jedenfalls mit dem programmatischen Ziel Montesquieus zu tun, nicht bei diesem oder jenem positiven Gesetz zu verweüen, sondern der Gesetzmäßigkeit auf die Spur zu kom-
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men, die die Herausbildung des Geistes der Gesetze als der großen Resultante von vielfaltigen Beziehungen bedingt.8 Auch diese Gesetzmäßigkeit muß freilich so eifaßt und formuliert werden, wie es die epistemologische Definition des Gesetzes erfordert; aber während sich im Falle der Gesetzmäßigkeit der normativen Vernunft die obersten Prinzipien (d.h. die naturrechtlichen) nennen lassen, an Hand deren die Beziehungen organisiert und in ihrer Notwendigkeit artikuliert werden, läßt sich auf der Ebene der Gesetzmäßigkeit des positiven Rechts keine gleichermaßen klare Organisierung des Materials bewerkstelligen, also keine feste gesetzmäßige Hierarchisierung der grundlegenden determinierenden Faktoren und der dementsprechend geprägten Beziehungen. Obwohl Montesquieu bald diese, bald jene physische oder moralische Ursache hervorhebt oder gar voranstellt, gelangt er nicht dorthin, wo ζ. B. der historische Materialismus hingelangte, indem er das Primat des ökonomischen Faktors, wenn auch nur „in letzter Instanz", angenommen hat. Dies könnte oder sollte man sogar als eine nüchterne theoretische Einstellung begrüßen, die allen Schematisierungen mißtraut und gegenüber den unzähligen Gestalten und Möglichkeiten der konkreten sozialgeschichtlichen Realität ständig offen bleiben möchte. Aber: Die Gesetzmäßigkeiten, die auf diese tastend-zurückhaltende Art und Weise festgestellt und formuliert werden, besitzen nicht mehr die Geschlossenheit und die Festigkeit der inneren Gesetzmäßigkeit der normativen Vernunft beim Hervorbringen des Naturrechts und dessen (erwünschten) Anwendungen oder Abzweigungen im sozialen Leben. Dadurch erweist sich die programmatisch angestrebte strukturelle Identität, oder jedenfalls Entsprechung, zwischen den verschiedenen ontologischen Geltungsebenen des (epistemologisch verstandenen) Gesetzes als pure Fiktion und reine Unmöglichkeit. Das theoretische Resultat der - an sich so willkommenen und fruchtbaren - Annahme einer Vielfalt von determinierenden Faktoren ist das Einschmuggeln eines pragmatischen Vernunft- und Naturbegriffes neben dem normativen. Die beste, also die der Natur am meisten entsprechende Regierung, schreibt Montesquieu, ist jene, die den Verhältnissen und dem Geisteszustand einer Nation gemäß ist.9 Hier spricht er von Natur ohne jede Bezugnahme auf einen festen und verbindlichen normativen Inhalt, der ausdrücklich und direkt dem Naturrecht entnommen wäre; Natur sind hier das soziale Gleichgewicht und der Friede als Ergebnisse der Entsprechung zwischen Gesetzen und allgemeiner Lage, welcher auch immer, und zwar als Werte an sich. Die Abweichung dieser Definition der Natur von der normativen hegt auf der Hand. Und das Düemma wird nicht gelöst, indem beide nebeneinanderstehen; es wird bloß formuliert. Die schwankende Einstellung Montesquieus hinsichtlich der Beziehungen zwischen Naturrecht und positivem Recht verbindet sich mit einer ihm offenbar unbewußten Zweideutigkeit seiner Auffassung vom Naturrecht selber - einer Zweideutigkeit, die ihrerseits seine Ambivalenz gegenüber Hobbes in einem 8
I, 3, Absatz: „C'est ce que j'entreprends [...]".
9
Ebd., Absatz: J l vaut mieux dire [...]".
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neuen Licht erscheinen läßt. Es ist im einzelnen nachgewiesen worden10, daß Montesquieu, sobald er von der abstrakten Verherrlichung der naturrechtlichen Prinzipien zu ihrer konkreten Aufzählung übergeht, unter ihnen nicht bloß Gebote moralisch-altruistischen Charakters erwähnt, sondern auch Gesetze, die sich auf den Zustand des Menschen als Naturwesen beziehen, d. h. auf den Trieb und das innere Gebot der Selbsterhaltung im weiteren Sinne des Wortes. Eben dies hatte aber auch Hobbes (konsequenter) getan11, indem er das traditionelle Naturrecht unter Beibehaltung des Namens auf der Basis einer naturalistischen Anthropologie radikal umdeutete. Ohne die Analogie übertreiben zu wollen, könnten wir sagen, daß Hobbes durch das anthropologische Prinzip der Selbsterhaltung die klassische Naturrechtstheorie genauso (bewußt) unterminiert, wie Montesquieu dies durch die soziologische Analyse der notwendigen Beziehungen des positiven Rechts (wenigstens objektiv) tut. Das Prinzip der Selbsterhaltung und eine soziologische Analyse solchen Typs lassen sich übrigens auf einen gemeinsamen Nenner bringen: auf die Auffassung vom Menschen als weltlichem Naturwesen, das in einem dichten Netz materieller Abhängigkeiten gefangen ist - obwohl Hobbes diese Abhängigkeiten bereits in einem BUd vom präsozialen Individuum zeichnet, während Montesquieu dieselben historisch und soziologisch, also multidimensional betrachtet. In bezug auf unsere Fragestellung ist freilich der individualistische oder geschichtlich-soziale Ausgangspunkt irrelevant. In rein theoretischer Hinsicht gewinnt Montesquieu nicht viel, wenn er gegen Hobbes die Friedfertigkeit des Menschen im präsozialen Naturzustand behauptet. Denn diese These wird mit der doppelten Annahme erkauft, Konflikte und Kriege wären erst durch die Reibungen des sozialen Zusammenlebens entstanden und Gesetze würden eben als Dämme gegen die Kriege unter und in den Nationen errichtet. 12 Π. Naturrecht und Geschichte Zum Abschluß sei bemerkt, daß die Art und Weise, wie Montesquieu das geschichtliche Werden auffaßt, die Schwierigkeiten widerspiegelt, denen die normativen Prinzipien begegnen, wenn sie auf die Kausalfaktoren stoßen. Könnte die Durchsetzung des Naturrechts über das positive Recht so glatt und zwanglos vonstatten gehen, wie das erste Buch des Hauptwerkes dies stellenweise suggerieren möchte, so würde gar nichts Montesquieu daran hindern, sich die geschichtliche Bewegung geradlinig vorzustellen und an ihr Ende den Sieg des Friedens und der Freiheit zu setzen. Dennoch geben seine Schriften keineswegs jenen Glauben an den Geschichtsfortschritt von sich, der in so triumphierenden Tönen bei Turgot und Condorcet zu vernehmen ist. Seme Ansichten über den gesamten Geschichtsablauf werden nicht einmal geäußert, sondern sie lassen sich aus Analysen von geschichtlichen Phänomenen oder Prozessen ableiten. Er 10
Shackleton, R , „Montesquieu. [A critical Biography", Oxford 1961], 247ff.
11
„Leviathan", ch. X I V - X V .
12
I, 3, Absatz: „Ces deux sortes d'etat de guerre [...]".
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umreißt gewisse langfristige Kontinuitäten, die sich unter dem Einfluß permanent wirkender Ursachen bilden, diese Kontinuitäten gehen aber parallel zueinander oder werden plötzlich durchbrochen, ohne daß sie an einem bestimmten Punkt konvergieren, um in dasselbe Ziel zu münden; in dem Maße, wie die Entwicklung einheitlich erscheint, geschieht dies im Hinblick auf die Regierungsform und innerhalb ihrer Grenzen. So begegnen sich Werte und Ursachen nur sporadisch und vorübergehend, und obwohl hier und da moralische und politische Fortschritte zu verzeichnen sind, ist der allgemeine und einheitliche Fortschritt nirgends zu sehen, genauso wie nirgends die Befürchtung einer umfassenden und unaufhaltsamen Dekadenz ausgesprochen wird; die Geschichte bleibt offen, fragmentarisch, schwankend und wankelmütig.13 Insofern Montesquieu die Geschichtsbewegung als Umschlagen von der einen Regierangsform zur anderen auffaßt, verbleibt er freilich bei der Betrachtungsweise der klassischen Staatslehre, ebenso wie er die klassische Tradition fortsetzte, als er politische Maximen mit überhistorischem Geltungsanspruch aufstellte. Dasselbe Verbleiben bei der klassischen Tradition wird an der Behandlung der Geschichte sichtbar, die sehr oft als Quelle zum Schöpfen von Beispielen mit typischem Wert, also unabhängig von der jeweiligen Konstellation oder gar Geschichtsstufe, benutzt wird. 14 Die Lehren aus der Geschichte gelten aber nur, solange sich die Geschichte nicht ändert, solange also im merkwürdigen Gemisch der geschichtlich lebenden Menschheit die Dosierung von Kausalem und Normativem, Gutem und Bösem einigermaßen stabil bleibt. Aber so kann und darf die menschlichen Dinge nicht jemand betrachten, der sich von der Zukunft den vollständigen und endgültigen Sieg des Naturrechts verspricht. Editorische Notiz In: K., P., „Montesquieu und der Geist der Gesetze". Berlin, Akademie Verlag, 1996, S. 39-70 (Textauszug S. 54-70). Erstdruck u.d.T. „Montesquieu. Naturrecht und Gesetz", in: Der Staat 33 (1994), S. 351-372.
13
Dazu Hubert , R , „La notion du devenir historique dans la phüosophie de Montesquieu", Revue de métaphysique et de morale 46 (1939), 587-610, sowie Dagen, J., „L'histoire de l'esprit humain dans la pensée française de Fontenelle à Condorcet", Paris 1977, insb. 214,244. 14
Vgl. die treffenden Bemerkungen von Cl-P. Clostermeyer , „Zwei Gesichter [der Aufklärung. Spannungslagen in Montesquieus Esprit des Lois", Berlin 1983], 173, 195.
Politik und Geselligkeit der Geschlechter in Montesquieus Vom Geist der Gesetze (1748) Claudia Opitz (1998) Daß die Frauen durch die Revolution nur verlieren könnten, während die Nation durch die republikanische Gesinnung an aufrechten Männern und Patrioten gewänne, meinten schon die Zeitgenossen feststellen zu können etwa der Herausgeber der vielgelesenen Zeitschrift „Révolutions de Paris" 1791.1 [...] Einer, der ganz explizit von der größeren Freiheit und der politischen Einflußnahme der Frauen in der Monarchie sprach, war der Jurist und Aufklärer Charles de Secondât, Baron de Montesquieu (1689-1755). Er tat dies u. a. in seinem erstmals 1748 veröffentlichten Hauptwerk „Vom Geist der Gesetze", das noch heute einen Meilenstein in der Geschichte der politischen Theorie darstellt.2 Im folgenden möchte ich die darin niedergelegten Ideen zum Verhältnis von Politik, Gesellschaft und Geschlechteibeziehungen vorstellen und deutlich machen, daß und warum Montesquieus Darlegungen als Quelle für den Systemwandel vom Ancien Régime zur bürgerlichen Gesellschaft und dessen Auswirkungen auf die Stellung der Frauen wenig taugen, aber durchaus erhellend sind hinsichtlich der Motive und Beweggründe zur Neugestaltung der Ordnung der Geschlechter durch die Aufklärer diesseits und jenseits des Rheins.
1
So Prudhommes Ausführungen im Februar 1791 unter der Überschrift „De l'influence de la révolution sur les femmes" - vgl. dazu Opitz, Claudia, „Frauen und Revolutionärinnen in den Révolutions de Paris", in: Grubitzsch, Helga, u. a. (Hrsg.), Frauen - Literatur - Revolution, Pfaffenweiler 1992, S. 45-64; vgl. zur Revolutionsforschung aus Frauensicht dies., „ A u f der Suche nach den vergessenen Töchtern der Revolution. Neuere Forschungen über Frauen und Frauenrechte im revolutionären Frankreich 17891795", in: Fieseier, Beate / Schulze, Birgit (Hrsg.), Frauengeschichte gesucht - gefunden? Auskünfte zum Stand der Historischen Frauenforschung, Köln, Weimar, Wien 1991, S. 146-163. 2
Ich zitiere im folgenden aus: Montesquieu, „Vom Geist der Gesetze", eingeleitet, ausgewählt und übersetzt von Kurt Weigand, Stuttgart 1965. Dabei beziehen sich die römischen Zahlen auf die Bücher, die arabischen Ziffern auf die Kapitel. Wo die stark gekürzte deutsche Übersetzung nicht ausreicht, zitiere ich aus: Montesquieu, „De l'esprit des lois". Chronologie, introduction, bibliographie par V. Goldschmidt, 2 Bde, Paris 1979 (zit. „Esprit").
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Claudia Opitz
I. Von der häuslichen Sklaverei zur bürgerlichen Freiheit Politische Struktur und die Stellung der Frauen In seinem ebenso vielschichtigen wie heterogenen Werk hatte es sich Montesquieu zur Aufgabe gemacht, „den Bezug, den die Gesetze zum Aufbau jeder Regierung, zu den Sitten, dem Klima, der Religion, dem Handel etc. haben müssen", darzulegen. Zu diesem ambitionierten Vorhaben gehörte es u. a. auch, daß er sich über die „Auswirkungen, die die verschiedenen Regierungsformen auf die Stellung der Frauen haben", Gedanken machte.3 Überhaupt widmete Montesquieu in diesem Weik den Frauen mehr Aufmerksamkeit als das die Autoren staats- oder naturrechtlicher Abhandlungen seiner Zeit üblicherweise taten. Ob Montesquieu als Feminist zu gelten habe, fragte sich deshalb die ältere Frauenforschung, kam aber zunächst zu einem abschlägigen Ergebnis. Denn tatsächlich läßt sich aus seiner umfangreichen Schrift durchaus ein negatives Frauenbild herauslesen, wie dies Jeannette 4 Geffriaud Rosso 1977 tat. Andere Autorinnen haben dieses Bild später zu revidieren versucht und darauf hingewiesen, daß Montesquieu in wesentlichen Punkten (etwa hinsichtlich der natürlichen Bestimmung der Frau oder hinsichtlich ihrer Stellung in der Familie) eine ausgesprochen frauenfreundliche Position vertrat. 5 Ich möchte diese Debatte hier jedoch zunächst nicht weiterführen, da sie m. E. den eigentlichen Sinn der Ausführungen Montesquieus verfehlt. Denn hier wird ja gerade nicht ein (statisches) Bild von Staat, Familie und Gesellschaft entworfen, vielmehr stehen die vielfältigen Ausformungen gesellschaftlicher Institutionen entsprechend natürlichen, kulturellen, politischen und religiösen Einflüssen im „Geist der Gesetze" zur Diskussion.6 Dasselbe gilt für die in der Gesellschaft lebenden und handeln3
Das VE. Buch ist überschrieben: „Conséquences des différents principes des trois gouvernements par rapport aux lois somptuaires, au luxe, et à la condition des femmes" („Esprit" i } g 225 ff). Jeannette Geffriaud Rosso hat in ihrer umfangreichen Untersuchung aufgrund einer Index-Analyse festgestellt, daß die Begriffe femmes undfilles weitaus häufiger vorkommen als die entsprechenden Eintragungen für das männliche Geschlecht. Allerdings sollte darüber nicht vergessen werden, daß Männer häufig auch als Bürger, Händler, Gelehrte, Richter, Fürsten usw. auftauchen; hier mangelt es dagegen auf der weiblichen Seite: Frauen werden also im allgemeinen als Geschlechtswesen betrachtet. Geffriaud Rosso, Jeannette, „Montesquieu et la féminité", Pisa 1977, bes. S. 453. 4
Ebd., bes. Teil 4.
5
Vgl. dazu v. a. Kra, Pauline, „Montesquieu and Women", in: Spencer, Samia I. (Hrsg.), French Women in the Age of Enlightenment, Indiana University Press 1984, S. 272-284. 6 So schreibt er einleitend: „Das Gesetz gilt, allgemein, als der Menschenverstand, insoweit er alle Völker der Erde regiert. Die staatlichen und bürgerlichen Gesetze jeder Nation dürfen nichts anderes sein als die spezieüen Fälle, auf die dieser Menschenverstand angewendet wird. [...] Sie müssen mit der physischen Beschaffenheit des Landes übereinstimmen, mit dem [...] Klima, mit der Güte des Bodens, mit Lage und Größe des Landes, mit den Lebensverhältnissen der Völker als Ackerbauern, Jäger oder Hirten. Sie
Politik und Geselligkeit der Geschlechter
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den Menschen - beiderlei Geschlechts. Auch sie werden praktisch nirgends als reine Gattungswesen betrachtet (wenngleich Montesquieu einleitend seine Vorstellungen zum Naturzustand des Menschen niederlegt), sondern ihre natürliche Grundausstattung an Schwächen und Stärken7 erscheint immer beeinflußt oder gar überformt durch die äußeren Bedingungen. Wesensmäßige Zuschreibungen sind bei Montesquieu deshalb nur in geringem Maße anzutreffen. Vielmehr interessiert ihn gerade die Vielfalt und Variationsbreite der politischen und gesellschaftlichen Institutionen und der in ihnen lebenden Menschen, deren Formen und Funktionen er durch historischen und interkulturellen Vergleich (wie wir heute sagen würden) herauszuarbeiten und in ein System zu bringen sucht. In dieser Relativität müssen denn auch Frauenbild und weibliche Rolle gesehen werden. Will man dem „Geist der Gesetze" und Montesquieus Denken also gerecht werden, muß man folglich nach den GescUechterbeziehungen und ihren vielfältigen und wandelbaren Ausformungen suchen und dabei auch die kulturellen und sonstigen Einflüsse in den Blick nehmen. Die Vielzahl und Vielfalt der Erscheinungsformen menschlicher Sitten und menschlichen Zusammenlebens versucht Montesquieu - und das ist eine der Qualitäten seiner Schrift - durch ein an Aristoteles' „Politik" angelehntes Dreier-System der Regierungsformen zu bündeln und zu systematisieren. Er unterscheidet dabei die Monarchie, die Despotie und die Republik als die drei wesentlichen politischen Ordnungen, die je nach klimatischer und ökonomischer Lage, aber auch entsprechend den Tugenden und Lastern der Bevölkerung entstünden, Bestand hätten oder sich wandelten.8 Gesetze und Sitten, Bevölkerungszahl und wirtschaftliche Grundlagen, Religion und Mentalität der Bevölkerung, all dies wird von Montesquieu zueinander und mit den verschiedenen Faktoren ins Verhältnis gesetzt und in seiner Funktion erläutert. Auch die Betrachtung der Lage der Frauen und Männer und ihrer Beziehungen zueinander folgt dieser Methode. Dabei kommt Montesquieu zu
müssen auf das Ausmaß der Freiheit bezogen sein, das sich mit dem Staatsaufbau verbinden läßt, desgleichen mit der Religion der Einwohner, ihren Neigungen, ihrem Besitzstand, ihrer Menge, ihrem Handel, ihren Sitten und Lebensgewohnheiten. Überdies stehen sie untereinander in Bezug, femer in Bezug zur Abstammung, zur Absicht des Gesetzgebers, zur Ordnung der Dinge, die ihre Grundlage sind." Andernfalls könne eine Nation nicht funktionieren und habe dementsprechend keinen Bestand (1,3). 7 Zu den Schwächen zählt Montesquieu auf der Männerseite Ehrgeiz und Stolz, auf der Frauenseite Eitelkeit und Streben nach Luxus. Als Stärke betrachtet Montesquieu für beide die Vernunft und die hieraus resultierende Fähigkeit zur Selbstkontrolle, die er auch den Frauen zugesteht. Vgl. dazu auch Kra, bes. S. 278 f. 8 Dabei besteht ζ. B. die Republik aus zwei Typen: aus der Demokratie oder Volksherrschaft einerseits, der Aristokratie andererseits: „[...] le gouvernement républicain est celui où le peuple en corps, ou seulement une partie du peuple, a la souveraine puissance [...]." („Esprit" I, S. 131).
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dem Schluß, daß Frauen in despotisch regierten Ländern das unglücklichste Los ertragen müßten, denn hier habe nicht nur die (von Montesquieu als widernatürlich abgelehnte) Sklaverei ihren legitimen Ort, auch die Frauen lebten in sklavischer Abhängigkeit und Unfreiheit. „ I n despotischen Staaten [...] werden [die Frauen] als völlige Sklavinnen gehalten [...]. Da die Gesetze dort äußerst streng sind und auf der Stelle vollzogen werden, so befürchtet man, daß die Freiheit der Frauen hier zu Verwicklungen führen könnte [...]." (VII, 9) 9
Darüber hinaus meint Montesquieu feststellen zu können, daß die Frauen sich in den südlichen Ländern, (die in der Regel despotisch regiert würden), in einer besonders schwierigen Lage befänden. Denn hier würden sie nicht nur von der Natur - und dem mit ihr verbündeten Klima - benachteiligt, dergestalt, daß sie früher geschlechtsreif und fruchtbarer seien als ihre Geschlechtsgenossinnen in den nördlichen Ländern und infolgedessen auch eher welkten und alterten. Darüber hinaus ermögliche und erlaube die politische Ordnung der Despotie auch noch die Polygamie, die auf den Frauen mit besonderer Härte laste - namentlich, weil sie den despotischen Zug der politischen Ordnung auch in die intimsten Bereiche der menschlichen Beziehungen hineintrage.10 Etwas besser gestellt findet Montesquieu die Frauen in der Republik, (die im klimatisch gemäßigten Norden angesiedelt wird), wo die Einehe die Regel sei und die Eheschließung erst in einem höheren Alter (der Frau) erfolge. Verstandesbildung, physische Reifung und Eheschließung gingen hier Hand in Hand und sicherten den Frauen eine ausgesprochen starke Stellung in der Ehe. Diese Stellung werde bisweilen noch verstärkt durch die in jenen Klimazonen weitverbreitete Trunksucht der Männer, die ihnen den Verstand raube und die Frauen zum eigentlich vernünftigen und damit auch dominierenden Geschlecht mache. Eine solche Machtstellung der Frauen in der Ehe erscheint Montesquieu allerdings nicht nur unvernünftig und widernatürlich, 11 sie bildet in seinen Augen auch eine Quelle ständiger Bedrohung des politischen Systems, das ebenso auf den Verstand der (Ehe-)Männer wie auf ihre häusliche Dominanz und ihre politische Tugend gegründet sei (oder doch zumindest sein sollte). Insofern erscheint die Demokratie hier nicht nur als politisches System, das die männlichen Bürger tendenziell überfordert; auch den Frauen verlangt 9
Vgl. auch I V , 3.
10
Vgl. X V I , 2. Allerdings betont Montesquieu (XVI, 6), daß die Polygamie ganz allgemein und für Männer und Frauen (und Kinder) gleichermaßen schädlich sei, weil sie die natürlichen Gefühle von Liebe und Zuneigung hemme und den Leidenschaften (zumindest auf seiten der Männer) wenig Zwang auferlege. Vgl. dazu auch Hoffmann , Paul, „La femme dans la pensée des Lumières", Paris o. J. [1977], S. 329 ff. 11 So heißt es im VII. Buch, Kap. 17: ,J1 est contre la raison et contre la nature, que les femmes soient maîtresses dans la maison [...]" („Esprit" I, S. 241).
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sie ein hohes Maß an Selbstkontrolle ab und kann ihnen infolgedessen wenig Freiheit bieten: „In den Republiken sind die Frauen frei durch die Gesetze und gefesselt durch die Sitten." (VII, 9) Auch sei die wirtschaftliche Lage der Frauen hier schwächer als etwa in der Monarchie, da insbesondere der Ausschluß von Frauen aus dem Erbrecht und die zurückhaltende Ausstattung mit Heiratsgut als Garantien für die Vermögensgleichheit der (männlichen) Bürger und damit des demokratischen Gleichheitsgrundsatzes notwendig seien, wie Montesquieu am Beispiel des antiken Rom aufzeigt. In der Despotie schließlich besäßen die Frauen gar nichts, „sondern sie sind selbst ein Gegenstand des Luxus." (VII, 9) 12 Hieraus folgt nach Montesquieu, daß die Frauen allein in der Monarchie das richtige Mischungsverhältnis von Freiheit und Zwängen, von Luxus und Eitelkeit vorfinden, das ihnen darüber hinaus noch eine gewisse Macht (oder doch wenigstens einen gewissen politischen Einfluß) sichert: „Die Frauen besitzen in den Monarchien wenig Zurückhaltung, da sie sich bei Hofe, wohin Rangauszeichnung sie ruft, jenes freie Benehmen aneignen, das man dort fast als einziges duldet. Jede sucht dort mit Hilfe ihrer Reize und Leidenschaften ihr Glück zu machen; und da sie infolge ihrer Schwäche zwar nicht stolz, aber eitel sind, so herrscht dort immer der Luxus mit ihnen." (VII, 9) 1 3
II. Durch Leidenschaften zur Freiheit Weibliche Schwächen und der Wandel politischer Systeme Daß die weibliche Freiheit in Montesquieus Augen aber dem politischen System keineswegs schadet, sondern vielmehr von Vorteil ist, zeigt sich z. B., wenn man der Bedeutung des Luxus (d. h. der ungleichen Verteilung von Einkünften und Besitz) in Montesquieus Schrift weiter nachgeht. Es heißt dort nämlich im VII. Buch, Kapitel 4: „Gemäß dem Staatsaufbau der Monarchie ist der Reichtum ungleich verteilt; hier muß es deshalb allerdings Luxus geben. Wenn die Reichen nicht genug ausgeben, werden die Armen am Hungertuch nagen [...]." 1 4
Die teils selbstsüchtige, teils großzügige Haltung der Frauen (des Adels, wäre zu präzisieren,) hilft damit nämlich laut Montesquieu, den Bestand der 12 Im übrigen sind Despotie wie Republik auch für Männer keine durchgängig angenehmen Formen politischer Herrschaft: In der Republik müssen sie sich ganz dem Ideal der Bürgertugend unterwerfen; in der Despotie sind sie Spielball ihrer Leidenschaften und darüber hinaus Sklaven eines Despoten, dessen Willkür sie ähnlich wie die Frauen, wenn auch in anderer Form, ausgeliefert sind. 13
Allerdings folgt aus Montesquieus Argumentation auch, daß die Frauen innerhalb der Ehe in der Monarchie den Männern stärker unterworfen sein müssen als in der Republik. 14 Und weiter: „Les républiques finissent par le luxe: les monarchies par la pauvreté". („Esprit" s. 230).
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Monarchie zu sichern, wie diese den Frauen einen gewissen Freiraum für ihre geselligen und persönlichen Bedürfnisse garantiert. Die Frauen sind also, nach Montesquieu, in ihrer Stellung nicht nur von den politischen Verhältnissen abhängig oder durch sie determiniert, sondern sie haben in allen Regierungsformen einen gewissen - meist negativ gezeichneten, aber deutlich spürbaren - Einfluß auf die politische Ordnung. Zwar denkt Montesquieu ganz offensichtlich nicht an eine direkte und gleichberechtigte Beteiligung von Frauen an der politischen Macht - der oben knapp skizzierte Mechanismus der politischen Einflußnahme ist ja eindeutig indirekter Natur. Auch seine an den Anfang des Werkes gestellten Ausführungen zu den diversen politischen Verfassungen und den Bürgerrechten darin sind frauenfrei: Hier handeln ausschließlich Männer!15 Sein gewissermaßen soziologisch erweitertes Konzept von der Entstehung und Erhaltung politischer Systeme jedoch entkräftet diesen ersten Befund in signifikanter Weise. Wo nicht nur Bürgerrechte und Verfassungen, sondern auch Klima, Fruchtbarkeit und Größe des Landes sowie vor allem die Sitten und Traditionen wesentlichen Einfluß auf die politischen Systeme haben, darf auch der Einfluß des weiblichen Geschlechts nicht zu gering veranschlagt werden. So kann ζ. B. in der Demokratie „der Geist übertriebener Gleichheit einreißen", wenn die Frauen sich die häusliche Macht anmaßen und „die Ehemänner keiner Zuvorkommenheit mehr wert befunden" werden (VIII, 2). Eine ebenso große Gefahr bedeutet hier der Verlust der weiblichen Tugend - d. h. der Keuschheit: „ M i t dem Verlust der Tugend sind bei Frauen sehr viele Charakterfehler verknüpft. [...] Fällt dieser wesentliche Halt weg, so fallen so viele andere Hemmungen, daß unter einer Volksregierung öffentliche Unkeuschheit als das schlimmste Unglück angesehen werden kann. Mit Gewißheit deutet sie auf einen Wechsel der Staatsfoim hin."
(Vn, 8)
Ein recht ähnliches Bild entwirft Montesquieu auch für die despotische Regierungsform, die nur auf den ersten Bück, wie es heißt, „unablässig entartet, weü [sie] von Natur aus entartet ist". 16 Gerade weü hier die Frauen in ganz be15 Abgesehen davon, daß Montesquieu weibliche Regentschaft bzw. Herrschaft v. a. in der Monarchie für unproblematisch, ja sogar für vorteilhaft hält, weü die weibliche Schwäche und Sanftheit hier mäßigend wirken könne: „ I I est contre la raison et contre la nature, que les femmes soient maîtresses dans la maison [...]: mais il ne l'est pas qu'elles gouvernent un Empire. Dans le premier cas, l'état de faiblesse où elles sont ne leur permet pas la prééminence: dans le second, leur faiblesse même leur donne plus de douceur et de modération; ce qui peut faire un bon gouvernement, plutôt que les vertus dures et féroces." (VII, 17; „Esprit" I, S. 241). 16
„Das Prinzip der despotischen Regierung entartet unablässig, weil es von Natur aus entartet ist. Die anderen Regierungsformen kommen um, weil besondere Anlässe das Prinzip überwältigen. [Die despotische Regierung] erhält sich daher nur aufrecht, wenn aus dem Klima, der Religion, der Situation und dem Volksgeist abzuleitende Umstände
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sonderer Weise der häuslichen Knechtschaft unterworfen seien - und im Vergleich zum körperlichen Reifeprozeß erst sehr spät über die Vernunft verfugten, ihre Tugend selbst zu kontrollieren - , stellten sie einen erhöhten Unsicherheitsfaktor dar. Das wurde ex negativo schon am Schicksal der Roxanne in den „Perserbriefen" 17 deutlich; im „Geist der Gesetze" betont Montesquieu erneut, die Intrigen der Haremsdamen seien, ohne einen klosterähnlichen Einschluß und die scharfe Bewachung durch Eunuchen fatal für den Hausherrn und Ehemann.18 Im „Geist der Gesetze" zeigt er allerdings vor allem das positive Gegenbeispiel, die Neuerungen Zar Peters I., der in Rußland eine moderne Staatlichkeit zu errichten suchte, u. a. indem er die Stellung der russischen Frauen änderte: „Die Frauen waren eingesperrt und in mancher Hinsicht Sklavinnen. Er berief sie an den Hof, ließ sie deutsche Tracht anlegen und schickte ihnen Stoffe. Dies Geschlecht lernte als erstes eine Lebensweise schätzen, die seinem Geschmack, seiner Eitelkeit und seinen Leidenschaften so stark schmeichelte. Er machte [damit] auch den Mannern diese Lebensweise schmackhaft." (XIX, 14) 19
Wie dieses Beispiel illustriert, können die weiblichen Leidenschaften und Qualitäten zur Transformation von politischen Systemen funktionalisiert werdea Öfter noch wirken sie, laut Montesquieu, von sich aus als transformatorische Kräfte, denen bestenfalls die Dimension des bewußten Handelns, nicht aber der politische Charakter abgesprochen werden kann. Dies gilt in besonderem Maße für die Frauen, doch gilt es nicht für sie allein. Auch die Schwächen und Untugenden der Männer führen zum Zerfall der politischen Ordnung - vor allem in der Republik (genauer: in der Demokratie), die an die Bürger die höchsten moralischen Ansprüche stellt und ihnen wenig persönliche Freiheiten bietet.20 So erscheint die Lage der Frauen schließlich als Prüfstein des politischen Systems, seines Angebotes an persönlichen Freiheiten und seiner politischen Stabilität. Die weibliche Knechtschaft ist dementsprechend das zentrale Charakteristikum der orientalischen Despotie - was seinerseits Folgen hat für das gesamte Staatswesen, vor allem aber für die Freiheit der Männer: sie zwingen, einer gewissen Ordnung zu folgen und eine gewisse Regelmäßigkeit auf sich zu nehmen." (VIII, 10). 17 Montesquieu, „Die Perserbriefe" (1721). Aus dem Französischen mit Anmerkungen und einem Nachwort von J. v. Stackelberg, Frankfurt/M. 1988. Vgl. dazu Opitz, Claudia, „Der aufgeklärte Harem. Kulturvergleich und Geschlechterbeziehungen in Montesquieus Perserbriefen", in: Feministische Studien 9,1991, S. 41-56.
18
„Esprit" II, S. 416.
19
Jeanette Geffriaud Rosso gibt für diese Idee noch weitere Beispiele, die jedoch überwiegend aus den „Pensées" stammen und in den „Esprit des Lois" keinen Eingang gefunden haben. Geffriaud Rosso, S. 526 ff. 20
So konstatiert er im XI. Buch, Kap. 3: „La liberté politique ne consiste point à faire ce que l'on veut. Dans un État (républicain) [...] la liberté ne peut consister qu'à pouvoir faire ce que l'on doit vouloir." („Esprit" I, S. 292).
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„[.·•] die Knechtschaft der Frauen entspricht durchaus dem Geist der Despotie, die alles zu mißbrauchen liebt. So hat man in Asien zu allen Zeiten die häusliche Knechtschaft mit der Despotie gleichen Schritt halten sehen. Das ist einer der Gründe, weshalb sich eine Volksherrschaft immer schwer im Orient einführen ließ." ( X V I , 9) 2 1
Insofern sei „der Despotismus des Herrschers [...] natürlicherweise verbunden mit der Knechtung der Frauen, wie die Freiheit der Frauen mit dem Geist der Monarchie" (XIX, 15).22 Spätestens hier wird deutlich, daß Montesquieu nicht in erster Linie die Unterdrückung einiger oder aller Frauen aufzeigen will - im Gegensatz etwa zu fem galanten Philosophen Poullain de la Barre, der schon 1673 gegen jegliche Einschränkung von Frauen hinsichtlich Verstandesbildung und gesellschaftlicher Stellung protestiert und für die Gleichheit der Geschlechter plädiert hatte.23 Wenn Montesquieu das weibliche Wohl und Wehe im „Geist der Gesetze" in einem gewissen Umfang berücksichtigt, dann vor allem deshalb, weil und insofern als er die Bedingungen einer humanen (man könnte auch sagen: zivilen) Gesellschaft reflektiert, in der ein optimales Verhältnis von menschlichen Leidenschaften und Vernunft, von Freiheit und Zwang zu realisieren sei.24 Das aber muß auch und gerade für die Frauen gelten, denn diese sind hierfür ebenso sichtbares Symbol wie unverzichtbares Medium: Die zwanglose Begegnung der Geschlechter in einem gesellschaftlichen Raum zwischen der familiären bzw. ehelichen Häuslichkeit einerseits und der von Montesquieu als exklusiv männlich gezeichneten Sphäre des Politischen 21 In der Folge versucht Montesquieu immerhin, die funktionale Seite dieses Regierungs- und Herrschaftssystems herauszustreichen und somit ein gewisses Verständnis für die Notwendigkeit der despotischen Regierungsform und die orientalischen Verhältnisse zu schaffen: „Unter einer Regierung, die vor allem Ruhe verlangt und äußersten Gehorsam als Frieden bezeichnet, muß man die Frauen einschließen, denn ihre Intrigen würden dem Manne gefährlich werden. Eine Regierung, die keine Zeit hat, das Verhalten ihrer Untertanen nachzuprüfen, hält es schon allein deshalb für verdächtig, weü es hervortritt und sich bemerkbar macht." (XVI, 9). 22
Ähnliches gelte im übrigen auch für die Republik - und zwar für Männer wie für Frauen: „La démocratie et l'aristocratie ne sont point des états libres par leur nature. La liberté politique ne se trouve que dans les gouvernements modérés." (XI, 4;,.Esprit" I, S. 293). 23
Poullain de la Barre , François, „De l'Egalité des deux Sexes. Discours physique et morale", Paris 1673, deutsch in: Hierdeis, Irmgard, „Die Gleichheit der Geschlechter" und „Die Erziehung der Frauen" bei Poullain de la Barre (1647-1723), Frankfurt/M. u. a., 1993; vgl. dazu auch Baxmann, Inge, „Von der Egalité im Salon zur Citoyenne - einige Aspekte der Genese des bürgerlichen Frauenbüdes", in: Kuhn, Annette / Rüsen, Jörn (Hrsg.), Frauen in der Geschichte ΙΠ, Düsseldorf 1983, S. 109-137. 24
Voraussetzung dieser Freiheit ist die relative Politikferne aller Untertanen eines monarchischen Herrschers, denn die Monarchie steht und fällt mit der Tugend bzw. der Gesetzestreue des Herrschers.
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andererseits ist seiner Ansicht nach der Ausdruck der gemäßigten Regierung par excellence. In den extremen politischen Systemen existiert Montesquieu zufolge ein solcher Zwischenbereich nicht, denn in der Despotie sind die Frauen durch äußeren Zwang in den Harem verbannt, in der Republik meiden sie aus eigenem Antrieb die Öffentlichkeit. Dort jedoch, wo der gesellige Verkehr der Geschlechter zur alltäglichen Praxis gehört - nach Montesquieu war das in der Monarchie französischen Zuschnitts der Fall - , verbinden sich menschliche Stärken und Schwächen, Tugenden und Laster zu einer humanen Gesellschaft, die schließlich auch eine gemäßigte Form der Regierung entstehen läßt. Hier richten denn auch die weiblichen Schwächen und Leidenschaften keinen Schaden an (sofern sie durch die Vernunft und die Ehemänner in Schach gehalten werden), und führen einerseits zu einer relativen Freiheit der Lebensweise, andererseits zu einer relativen Stabilität und Sicherheit des politischen Systems. IIL Kritik der Gleichheit, Lob der Freiheit Montesquieus monarchischer Feminismus Daß die Wirkung der Frauen bzw. der weiblichen Freiheit auf das politische System von Montesquieu eher mit negativ konnotierten Begriffen umschrieben wird, ist von der Forschung schon länger gezeigt worden.25 Tatsächlich bezeichnet er den Einfluß der Frauen selbst in der Monarchie in gewisser Weise als verderblich: „ I n den Ländern, in denen sie [die Frauen] unter den Männern leben, veranlassen ihre Gefallsucht und die Begier, Gefallen bei ihnen zu finden, einen ständigen Wechsel des Lebensstils. Die beiden Geschlechter verderben sich gegenseitig; das eine wie das andere büßt dabei seinen eigentümlichen und wesentlichen Wert ein. Etwas Willkürliches kommt in das Gültige, und der Lebensstil wechselt von Tag zu Tag." ( X I X , 12)
Das ist aber in den Augen Montesquieus letztlich nicht so problematisch, daß man es ändern sollte; vielmehr macht gerade diese ambivalente Wirkung die Qualität und den Charakter der monarchischen Regierungsform aus. „Man könnte die Frauen straffer halten, Gesetze zur Reinigung ihrer Sitten erlassen und ihren Luxus einschränken. Indes, wer weiß, ob man dabei nicht einen gewissen Geschmack, die Quelle des nationalen Reichtums, sowie ein feines Benehmen, das die Ausländer zu ihr hinzieht, einbüßen würde?" ( X I X , 5) 2 6
25 Dies konstatiert u. a. Geffriaud Freiheit, Hoffmann , bes. S. 334 ff.
Rosso, 4. Teü, sowie, mit Betonung der weiblichen
26 Immer wieder betont Montesquieu im übrigen die Notwendigkeit, keinen gewaltsamen Bruch mit den Sitten und Traditionen anzustreben, denn auch aus diesem könne eine Degeneration der politischen Verhältnisse resultieren (so etwa im VIII. Buch, Kap. 6 „Über die Entartung des Prinzips der Monarchie").
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Wie die politische Macht, so braucht seiner Meinung nach auch die Tugend einen mäßigenden Einfluß - „la vertu même a besoin de limites" (XI, 4). 27 Diese Grenze der Tugend stellen die Leidenschaften - insbesondere die weiblichen - dar. 28 Spätestens hier zeigt sich, daß der auf den ersten Blick so systematisch nüchtern wirkende Text Montesquieus bei näherem Hinsehen seinen tagespolitischen Charakter und seine Parteilichkeit nicht verbergen kann: Montesquieus Grundthese von der relativen Freiheit der Frauen in der Monarchie folgt seinen politischen Überzeugungen (und nicht umgekehrt) und ist somit in ebenso hohem Maße parteilich wie etwa die Ausführungen des radikal-republikanischen Rousseau.29 Denn die von ihm geschilderten Beispiele aus verschiedenen Ländern und Kulturen erwecken zwar, ebenso wie die von ihm zitierten historischen Quellen, den Anschein einer ausgesprochen empirischen Verbindlichkeit. Doch will Montesquieu ja gerade nicht ein getreues Abbild der Kulturen und Völker seiner Zeit mit all ihren Sitten und Gebräuchen liefern, sondern im Gegenteil Gesetzmäßigkeiten zwischen verschiedenen (geographischen, mentalitären und politischen) Gegebenheiten erkennen und herausarbeiten - insofern also ein Modell erstellen und eine wissenschaftliche Methode etablieren. Modell und Methode sollen allerdings nicht nur zur Demonstration der Relativität moralisch-religiöser Werte und gesellschaftlicher Institutionen dienen (was von Zeitgenossen heftig kritisiert wurde), sondern gleichzeitig auch schlüssig beweisen, daß die auf Grundrechten fußende Monarchie die beste aller möglichen Regierungsformen (zumindest für Frankreich) darstellt. 30 Auch Montesquieus Überlegungen zur
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Genauer heißt es hier: „[...] c'est une expérience éternelle, que tout homme qui a du pouvoir est porté à en abuser, i l va jusqu'à ce qu'ü trouve des limites. Qui le dirait! la vertu même a besoin de limites. 44 („Esprit 441, S. 293). 28
Es sollte nicht übersehen werden, daß Montesquieu davon spricht, daß sich „die beiden Geschlechter gegenseitig verderben 44 - der negative, da Grenzen verwischende Einfluß also nicht allein den Frauen zugeschrieben wird, wie dies in weniger frauenfreundlichen Schriften der Zeit meist der Fall ist. 29
Es ist bekannt, daß Montesquieu nicht zu den republikanisch gesinnten Aufklärern zählte, sondern einer eher reformerisch gesinnten Fraktion gemäßigter Monarchisten angehörte, die für eine Beschränkung des Absolutismus durch eine Verfassung nach englischem Vorbild eintrat. Auch qualifiziert er sich mit seinen Ausführungen als französischer Patriot durch und durch, der trotz aller Kritik an den Verhältnissen in seinem Heimatland dessen kultureUe Errungenschaften zu schätzen wußte. 30 Daß sich Montesquieu im „Geist der Gesetze44 vorrangig mit den französischen Verhältnissen auseinandersetzte, zeigt sich nicht nur an den immer wieder an die französischen Verhältnisse in Gegenwart und Vergangenheit angelehnten Einzelbeispiele (etwa wenn er von der Degeneration bzw. corruption der Monarchie spricht, die sich zur Despotie wandele, wenn der König sich zum Zentrum des Staates erkläre und die Ständevertreter an den H o f und an seine Person binde - V I I I , 6), sondern auch an seiner breit-
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Stellung der Frauen in den übrigen politischen Systemen sind dieser Idee verpflichtet. Sie kranken insofern allesamt an empirischer Fundierung: So schildert Montesquieu die Zustände in den Republiken im wesentlichen anhand von Quellenbelegen aus der Feder antiker Geschichtsschreiber,31 die Verhältnisse in den sogenannten orientalischen Despotien anhand von Reiseberichten, die insbesondere hinsichtlich der Stellung der Frauen weitestgehend die Phantasien der männlichen Verfasser wiedergeben.32 Die Beispiele für die Monarchie schließlich bezieht er direkt aus seinem unmittelbaren persönlichen Umfeld in der französischen Oberschicht (bzw. von seinen Reiseeindrücken in England und Europa).33 Andere Bevölkerungsschichten kommen hier gar nicht in den Blick; aufklärerische Salonkultur und höfische Gesellschaft werden in einem Atemzug genannt - ohne Berücksichtigung struktureller Widersprüche, was zu einer zumindest partiellen, fast schon beliebig zu nennenden Darstellungsweise führt. Man kann bei seinen Ausführungen im übrigen einen elitären - oder genauer: einen ständisch monarchischen Feminismus konstatieren, den Montesquieu mit Frühaufklärern wie dem bereits erwähnten Poullain de la Barre, wohl aber auch mit etlichen seiner Freundinnen aus den Pariser Salons teilte. Eine kohärente Analyse verschiedener politischer Systeme und Kulturen dagegen hat er damit - aus moderner Sicht - nicht vorgelegt. [. . .] Montesquieu hat allerdings, dank seiner (wenn auch partiellen und daher letztlich historisch nicht überzeugenden) Soziologisierung der politischen Systeme in dieser Debatte mit seiner Schrift „Vom Geist der Gesetze" eine ebenso innovative wie wirkungsvolle Stimme erhoben. Dabei hat er die diversen zeitgenössisch vorstellbaren politischen Modelle - auch aus weiblicher Sicht - durchdekliniert und zentrale Vorstellungen (allen voran Freiheit und Gleichheit) der bereits seit längerem geführten aufklärerischen Diskussion zu systematisieren versucht. Man könnte seine Ausführungen knapp so angelegten Darstellung der Entstehung des französischen Staatswesens und seiner feudalrechtlichen Grundlagen im Sechsten Teil des „ E s p r i t des Lois". 31 Er zitiert dafür im wesentlichen idealisierende Rechtsliteratur und Historiographie; die zeitgenössischen wie die antiken politischen Verhältnisse geraten ihm deshalb aus dem Blick [...]. 32
Vgl. dazu Opitz, Claudia, „Kulturvergleich und Geschlechterbeziehungen in der Aufklärung: Lady Wortley Montagues ,Briefe aus dem Orient 4 ", in: Eifert, Christiane, u. a. (Hrsg.), Was sind Frauen, was sind Männer? Geschlechterkonstruktionen im historischen Wandel, Frankfurt/M. 1996, S. 156-175. 33 Dabei versäumt er es beispielsweise, die strukturelle Verankerung von Frauen in den Erbmonarchien zu analysieren, die nicht nur durch die - etwa in England, Schweden und Rußland übliche - weibliche Thronfolge, sondern auch durch die Bedeutung von Frauen als Regentinnen für ihre unmündigen Söhne (so ζ. B. in Frankreich und in einzelnen Territorien Italiens) gegeben war. Vgl. dazu Zemon Davis, Natalie, „Frauen, Politik und Macht", in: Duby, Georges / Perrot, Michelle (Hrsg.), Geschichte der Frauen, Bd. 3, Frankfurt/M., New York 1994, S. 189-206.
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auf die Formel bringen: In der Despotie herrscht generell Unfreiheit (für beide Geschlechter) und Ungleichheit (zwischen Männern und Frauen, aber auch zwischen Herrscher und Untertanen); in der Republik herrscht Gleichheit zwischen (einigen oder allen) Männern, aber ohne - oder doch mit stark eingeschränkter - Freiheit für alle; in der Monarchie schließlich herrscht eine gewisse Freiheit für beide Geschlechter, aber unter dem Vorzeichen der (politischen) Ungleichheit aller. Nicht zuletzt hat Montesquieu damit eine vorausschauende Kritik der von vielen Aufklärern im Gefolge Rousseaus als vorbildlich erachteten republikanischen Staatsform und der ihr zugrundeliegenden Geschlechterbeziehungen geliefert, die schließlich auch für moderne weibliche Präsenzansprüche zum Vorbild werden konnten.34 Seine Ausführungen zur Monarchie und der angeblichen Freiheit, die sie den Frauen bietet, sind ebenfalls nicht ohne kritische Untertöne geblieben.35 Sie zeigen jedenfalls die Grenzen der politischen Partizipation aller - oder zumindest der Mehrheit der Regierten beiderlei Geschlechts - wenn auch eher indirekt, liefern sie doch vor allem dort, wo Montesquieu von den (weiblichen und menschlichen) Freiheiten spricht, vielfach nur eine Momentaufnahme höfisch-adliger (und übrigens auch aufklärerischer!) Geselligkeit, wie sie viele seiner Zeitgenossen und vor allem die Nachgeborenen so oder ähnlich gezeichnet, allerdings mit anderen Vorzeichen versehen haben.36 Montesquieu hat die libertären Tendenzen des Ancien Régime gerade auch für das weibliche Geschlecht verteidigt und die Zivilisierung der Sitten durch den geselligen Verkehr der Geschlechter positiv be34
Daß Montesquieu hier auch aktuelle Beispiele vor Augen hatte - etwa die (Geschlechter- )Verhältnisse in den schweizerischen Stadtrepubliken des 18. Jahrhunderts vermutet Schnegg, Brigitte, „Soireen, Salons, Sozietäten. Geschlechtsspezifische Aspekte des Wandels städtischer Öffentlichkeit im Ancien Régime am Beispiel Berns", in: HeadKönig/Tanner (Hrsg.), S. 163-183. 35 Die extremsten Verzerrungen weisen indes seine Darstellungen zur orientalischen Despotie auf, die ja eigentlich ein Zerrbüd des (französischen) Absolutismus sind und teils als rhetorischer Kunstgriff gelesen werden müssen, um der Zensur zu entgehen, teils aber von den auch unter Aufklärern - trotz aller Faszination - weiterbestehenden Vorurteilen gegen den nach wie vor weitgehend unbekannten Osten und die Menschen und Staaten nicht-christlicher Konfession zeugen. 36 So kritisierte etwa der Rousseau-Adept Linguet 1774 die Gleichsetzung von weiblicher und bürgerlicher Freiheit, die Montesquieu im „Geist der Gesetze" propagierte, und hielt dagegen, daß die bürgerliche Freiheit der Frauen immer konträr zur politischen Freiheit der Männer stehe („la liberté civile des femmes est toujours en raison inverse de la liberté politique des hommes"), ja, daß es die weibliche Gier nach Luxus sei, mit der sie die Macht an sich rissen und die zur Despotie führe („Les femmes régnent par le luxe; et le despotisme s'établit par le luxe et par elles."). „Œuvres de M. Linguet", t. I V , Londres 1774: Theorie des Lois Civiles, II, ch. X X I V , S. 155-165. Vgl. dazu auch Conti Odorisio , Anna Maria Ginevra, „La soggezione della donna nella polemica Linguet-Montesquieu", in: Donna Woman Femme, 1975, S. 330-345.
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wertet. Dabei hat er schließlich dem Verkehren der Geschlechter bei Hof und in den Salons auch politische Wirksamkeit zugesprochen, was die Forschung erst jüngst ernstgenommen und genauer untersucht hat.37 Montesquieu hat allerdings mit seinem Plädoyer für die gemischte Geselligkeit und ihre (auch) politische Wirkung nicht wenig zur Idee der Gefährlichkeit weiblicher politischer Einflußnahme beigetragen,38 die im übrigen schon eine lange Tradition hatte und auch unter Aufklärern dazu führte, die Beteiligung von Frauen an aufklärerischen Gesellschaften und Assoziationen kritisch zu beobachten, zu reglementieren und ggf. zu verbieten so etwa in den Freimaurerlogen oder den patriotisch-gemeinnützigen Gesellschaften, die explizit, wenn auch nicht unkritisiert, eine rein männliche Geselligkeit pflegten. 39 [...] Nicht zuletzt wegen dieser wirkungsgeschichtlichen Dimension40 hat Montesquieus Schrift m. E. weiterhin Aussagekraft für das Verhältnis von 37 Vgl. dazu Lougee, Carolyn C., „Women, Salons and Social Stratification in Seventeenth-Century France", Princeton 1976; Landes, Part I, bes. S. 23 f f ; Baxmann, „Egalité". Die Funktion und Wirksamkeit der höfischen Geselligkeit ist in geschlechtergeschichtlicher Hinsicht bislang jedoch noch kaum emsthaft thematisiert worden. Einige Überlegungen dazu in: Opitz, Claudia, „Zwischen Romantik und Gewalt. Frauen und Geschlechterbeziehungen in Norbert Elias' ,Höfischer Gesellschaft 4", in: Klein, Gabriele / Liebsch, Katharina (Hrsg.), Zivilisierung des weiblichen Ich, Frankfurt/M. 1997, S. 77-99. 38
Nicht zuletzt hat er mit seiner Wortwahl (corruption ) viel zur schlußendlich höchst negativen Sicht auf die geschlechtergemischte Geselligkeit bei Hof und in den Salons beigetragen. 39 Vgl. dazu Ebrecht, Angelika, „Dürfen Frauen den Männern hinter ihr Geheimnis kommen? Frauen und Geheimgesellschaften im 18. Jahrhundert 44, in: Feministische Studien 7, 1989, S. 28-42; Weckel, Ulrike, „Der ,mächtige Geist der Assoziation 444 . Ein- und Ausgrenzungen bei der Geselligkeit der Geschlechter im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert, in: Archiv für Sozialgeschichte 38, 1998 (im Druck). Zur Debatte um die geschlechtergemischte Geselligkeit vgl. dies., „Der Fieberfrost des Freiherm. Zur Polemik gegen weibliche Gelehrsamkeit und ihren Folgen für die Geselligkeit der Geschlechter", in: Kleinau, Elke / Opitz, Claudia (Hrsg.), „Geschichte der Mädchen- und Frauenbildung", Bd. 1, Frankfurt/M./New York 1996, S. 360-372. 40 Allerdings bliebe noch zu klären, ob die am stärksten bei Rousseau und, in seinem Gefolge, bei den jakobinischen Republikanern in der französischen Revolution auffindbare Idee vom notwendigen Ausschluß des weiblichen Geschlechts aus dem corps politique bzw. dem contrat social eine direkte Folge der Schrift Montesquieus war, oder ob hier nicht sehr viel weitergehende Verstrickungen in frühmoderne Mentalitäten wirksam wurden, selbst wenn sich bisweüen der Eindruck aufdrängt, Rhetorik und Ordnungsmaßnahmen der jakobinischen Revolutionsregierung seien die praktische Umsetzung der im „Geist der Gesetze" (nicht ohne kritischen Unterton!) niedergelegten Grundprinzipien zur Etablierung und Aufrechterhaltung demokratischer Systeme: Die Aufwertung der Position der Mutter und Ehefrau, die Verbesserung ihrer Rechtsstellung in Famüie und Ehe (vor allem durch die Einführung der Scheidung) stehen der Verweigerung jeglicher politischer Mitspracherechte für Frauen und schließlich ihrer Verbannung aus der politi-
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Politik, Gesellschaft und Geschlechterbeziehungen - aber weniger als Beleg eines politischen Strukturwandels, 41 sondern vielmehr als Summe ideengeschichtlicher Modelle und mentalitärer Positionen zur Politik und Geselligkeit der Geschlechter in der Aufklärung - und darüber hinaus.42 Editorische Notiz In: „Ordnung, Politik und GeseUigkeit der Geschlechter im 18. Jahrhundert" Hrsg. Weckel, U. / Opitz, C. / Hochstrasser, O. / Tolkemitt, B., Göttingen, WaUstein-Verl., 1998 (Das achtzehnte Jahrhundert: Supplementa. 6). S. 25-40.
sehen Öffentlichkeit gegenüber. Vgl. dazu Opitz, „Die vergessenen Töchter" [...]. Die Rezeptionsgeschichte Montesquieus bleibt in dieser Hinsicht ein Desiderat der Forschung. 41
Zwar gibt Montesquieu einige gute konzeptionelle Hilfen für die Betrachtung der politischen Kultur eines Staatswesens, indem er die rein verfassungsgeschichtliche Ebene verläßt und geseUschaftliche wie kultureUe Aspekte mit einbezieht; diese müßten aber eben nicht nur für die Monarchie, sondern auch für aUe anderen Staatsformen in den Bück genommen werden Dann würde sich nicht zuletzt zeigen, daß auch in den Republiken Frauen am gesellschaftlichen Geschehen dergestalt beteiligt waren, daß dies Auswirkungen auf den politischen Bereich hatte. 42 Mit Sicherheit hat Montesquieus Theorie weitergewirkt - vor aUem in solchen (soziologischen) Studien, in denen auch die RoUe der Geschlechter (wenigstens in Ansätzen) thematisiert wird, wie etwa in Werner Sombarts Abhandlung über „Luxus und Kapitalismus" oder in Norbert Elias' „Prozeß der Zivilisation". Vgl. Sombart, Werner, „Luxus und Kapitalismus" (Studien zur Entwicklungsgeschichte des modernen Kapitalismus, 1), München, Leipzig 1913; Elias, Norbert, „Über den Prozeß der Zivüisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen", 2 Bde, Bern 1969 u. ö.
Die gewaltenteilige Mischverfassung Montesquieus im ideengeschichtlichen Zusammenhang Alois Riklin (1999) In meinem Vortrag werde ich versuchen, drei Hypothesen zu begründen: 1 - Mischverfassung und Gewaltenteilung sind verschiedene Aspekte des gleichen Phänomens. 2 - Die gewaltenteilige Mischverfassung verändert sich im ideen- und verfassungsgeschichtlichen Kontext. 3 - Dennoch bleibt eine Grundsubstanz konstant. Ich beginne mit Montesquieu, gehe sodann zwei Schritte zurück zu James Harrington und Donato Giannotti und mache schließlich einen Schritt vorwärts zu den amerikanischen Verfassungsvätern. Auf diesem Weg werde ich andere wichtige Zeugnisse der gewaltenteiligen Mischverfassung ausblenden. [...] I. Montesquieu 1748 Seit bald dreißig Jahren führe ich bei meinen Studenten einen erfolglosen Kampf gegen die Irrlehren Regierung = Exekutive und Parlament Legislative. Um Irrlehren handelt es sich, weil de facto in keiner gewaltenteiligen politischen Ordnung eine Regierung jemals die ganze Exekutivmacht und nur sie innehatte, noch ein Parlament jemals die ganze Legislativmacht und nur sie versah. Die Regierung besitzt neben der ausführenden regelmäßig eine fuhrende, staatsleitende Funktion, und sie hat durch die Gesetzesvorbereitung Anteil an der Legislativmacht. Das Parlament erfüllt neben der Mitwirkung bei der Gesetzgebung regelmäßig ändere Funktionen, beispielsweise solche der Wahl und der Außenpolitik, und es besitzt durch die Kontrolle der Regierung einen Anteil an der Exekutivmacht. Aber obwohl diese Argumentation meinen Studenten jeweils einzuleuchten scheint, sprechen sie alsogleich wieder, wenn sie die Regierung meinen, von der Exekutive, und wenn sie das Parlament meinen, von der Legislative. Warum? Weil sie vom gymnasialen Staatskundeunterricht indoktriniert sind und weil insbesondere die Kollegen von der Juristischen Fakultät die Irrlehren unentwegt weiterverbreiten. Daran ist Montesquieu nicht unschuldig. Er vertauschte nämlich Gewalten, Funktion und Staatsorgane ziemlich beliebig. Wortklauberische Begriff shuberei war nicht seine Sache. Er wollte dem Publikum nicht etwas
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zum Lesen, sondern zum Denken geben.1 Aber seine terminologische Unschärfe verleitete seit dem 18. Jahrhundert flüchtige Leser und erst recht solche, die Montesquieu nur aus zweiter Hand zur Kenntnis nahmen, zur Verbreitung einer strikten Gewaltenteilungslehre mit der Zuweisung der gesetzgebenden Gewalt an das Parlament, der ausführenden an die Regierung und der rechtsprechenden an die Gerichte. Das lag aber keineswegs in der Absicht Montesquieus. Niemals verwendete er den Begriff „séparation des pouvoirs". Vielmehr sprach er vorsichtig von „une certaine distribution des pouvoirs" 2, von „balancer" 3, „arrêter" 4, „tempérer" und „combiner les puissances"5. Die drei Gewalten sind in seinem Modell einer freiheitlichen politischen Ordnung teils getrennt, teils verbunden. [...] Montesquieu kombinierte drei Gewalten, drei soziale Kräfte und sieben Staatsorgane.6 In jedem Staat, schrieb er, gebe es die drei Gewalten der „puissance législative", der „puissance exécutrice" und der „puissance de juger". Als soziale Kräfte identifizierte er entsprechend dem englischen Vorbild das Volk, den Erbadel und den Erbmonarchen. Die sieben Staatsorgane sind das Wahlvolk, die Volkskammer des Parlaments, das Volksgericht, die Adelskammer des Parlaments, das Adelsgericht, der König und die Minister [...]. Die drei Gewalten unterteilte Montesquieu in mehrere Kompetenzen, bündelte einzelne Kompetenzen aus zwei oder drei Gewalten und wies je ein Kompetenzenbündel den verschiedenen Organen und gesellschaftlichen Kräften zu. Für das Zusammenspiel aller Teile lassen sich aus dem einfach scheinenden, tatsächlich aber höchst komplexen Englandkapitel von „De l'esprit des lois" 7 die folgenden Hauptregeln des Modells ableiten. Regel 1 : Es dürfen nicht zwei und schon gar nicht alle drei Gewalten in der ausschließlichen Verfügung einer einzigen sozialen Kraft oder eines einzigen Staatsorgans sein. Obwohl das Hauptgewicht der Legislativmacht bei
den sozialen Kräften Volk und Adel bzw. beim Zweikammerparlament liegt, nimmt auch der König durch sein Legislatiweto an der Gesetzgebung teil („prend part à la législation"). Umgekehrt ist das Parlament an der Exekutivmacht beteiligt, insofern es die korrekte Ausführung der Gesetze durch die Regierung überwacht und die Minister zur Rechenschaft ziehen kann. 1
Montesquieu, „De l'esprit des lois", Genève 1748, ΧΙ/20.
2
Ibid., Xll/1; auch XI/7, Titel XI/14, XI/20.
3
Ibid., Xt/18.
4
Ibid., XI/4.
5
Ibid., V/14.
6
Riklin, Alois, „Montesquieus freiheitliches Staatsmodell, Die Identität von Machtteilung und Mischverfassung", in: Politische Vierteljahresschrift, X X X (1989), S. 420-442. 7 Montesquieu (1748), XI/6.
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Regel 2: Es zialen Kraft
darf keine der drei Gewalten ausschließlich einer einzigen sooder einem einzigen Staatsorgan anvertraut sein. Die Gesetzge-
bung ist auf alle sozialen Kräfte und auf drei Staatsorgane verteilt, die ausführende Gewalt ebenfalls auf alle drei sozialen Kräfte und vier Staatsorgane, die judikative Gewalt auf zwei soziale Kräfte und vier Staatsorgane. Regel 3: Jede soziale Kraft muß an jeder der drei Gewalten angemessen beteiligt sein, sofern sie ihr unterworfen ist. Der König ist an der rechtsprechenden Gewalt nicht beteiligt; dafür ist er ihr aber auch nicht unterworfen. Regel 4: Die Basis der Willensbildung ist nicht die Gleichheit der Individuen, sondern, ungeachtet der Zahl ihrer Mitglieder, die Gleichheit und Unabhängigkeit jeder sozialen Kraft. Der König als Einzelperson und der Adel
als Minderheit können von der Mehrheit des Volkes und seiner Repräsentanten nicht überstimmt werden. Dies ist es, was Montesquieu wirklich gemeint hat. Nicht die Gewaltentrennung war das Anliegen Montesquieus, sondern ein subtiles Netzwerk von Teilung und Mischung, von „checks and balances", d.h. von Hemmnissen, Gegen- und Gleichgewichten. In diesem Gewaltenteilungsmodell ist die Mischverfassung mitenthalten. Mischverfassung bedeutet in der allgemeinsten Definition die institutionelle Mischung von monokratischen, oligokratischen und/oder demokratischen Elementen unter Beteiligung der gesellschaftlichen Kräfte. Hannah Arendt mutmaßte, Montesquieu habe die Mischverfassungsidee möglicherweise nicht gekannt.8 Robert Shackleton meinte, Montesquieu habe die englische Verfassung niemals als mixt state verstanden.9 Beides ist mit Sicherheit falsch. Die Mischverfassungsidee findet sich im Werk Montesquieus mehrmals ausdrücklich.10 Auch wenn er im Englandkapitel die Mischverfassung nicht ausdrücklich erwähnte, erfüllt es doch alle Wesensmerkmale eines mixed government : das monokratische
Element im König, das oligokratische Element in der Adelskammer sowie das demokratische Element in der Volkskammer, den Schwurgerichten und im Wahlvolk. II. Harrington 1656 Montesquieu nannte im Englandkapitel zwei englische Mischverfassungsautoren: Algernon Sidney und James Harrington. Den ersten mochte er, den zweiten nicht. Hier und anderswo fand er zu Harrington nur kritische Worte; er habe nur an die englische Republik gedacht11 und die politische Freiheit, 8
Arendt, Hannah, „On Revolution", New York 1963 (zitiert nach der deutschen Ausgabe Über die Revolution, München 1974), S. 195. 9 10
Shackleton, Robert, „Montesquieu. A Critical Biography", Oxford 1961, S. 298 f.
Montesquieu (1748), XI/8; XI/12. Montesquieu, „Pensées", in: „Œuvres complètes", Éd. André Masson, 3 vol., Paris 1950-1955, Bd. 2, S. 441. 11 Montesquieu ( 1748), XXDC/19.
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Alois Riklin
obwohl er sie in der traditionellen englischen Verfassung vor Augen gehabt habe, in den Wolken gesucht: „... il a bâti Chalcédoine, ayant le rivage de Byzance devant les yeux." 12 Der erste Vorwurf ist ungerecht, war es doch gerade Harrington, der wie nur wenige vor und nach ihm die ausländische Ideen- und Verfassungsgeschichte in umfassender Weise zu Rate gezogen hat. Rätselhaft ist der zweite Vorwurf; die Lösung findet sich bei Herodot: Weil die Chalkedonen ihre Stadt vor den Byzantinern gebaut hatten, soll der persische Feldherr Megabazos gesagt haben, die Chalkedonen seien blind gewesen, den schlechteren Platz zu wählen, wo doch der schönere noch unbesiedelt war. 13 Die teils ungerechten, teils sibyllinischen Seitenhiebe Montesquieus auf Harrington werden verstehbar, wenn man die gegensätzlichen Mischverfassungskonzepte der beiden Denker freilegt. Zu diesem Zweck muß man eine Stelle in „De l'Esprit des lois" heranziehen, wo Montesquieu unzweifelhaft an Harrington dachte, ohne ihn namentlich zu nennen.14 Montesquieu schrieb dort, die freien Germanen hätten nach der Eroberung des Römischen Reiches ein politisches System entwickelt, das eine repräsentative Volksversammlung mit aristokratischen und monarchischen Elementen mischte. Dieses „gouvernement gothique" habe sich in der Folge über ganz Europa ausgebreitet. Indem es die bürgerliche Freiheit des Volkes mit den Prärogativen des Adels und des Klerus sowie der Macht des Königs verband, sei es zu einer bisher nie dagewesenen wohltemperierten Harmonie gelangt. So habe die Verderbtheit eines Eroberervolkes die beste Staatsform geschaffen, welche sich die Menschen überhaupt vorstellen könnten. Exakt gegen dieses, aus seiner Sicht korrupte, kranke, absurde „gotische Regime" war Harrington angetreten.15 Mit bitterster Ironie verglich er das angebliche Meisterwerk neuzeitlicher Klugheit mit einem ständigen Ringkampf (wrestling match), in dem das Recht des Stärkeren gelte.16 Er verabscheute alle monarchischen Regime seinerzeit und lehnte insbesondere jene aus König, Oberhaus und Unterhaus gemischte Verfassung ab, die vor und nach dem Interregnum (1649-1660) in England herrschte. Beide, Montesquieu und Harrington, plädierten für die gewaltenteilige Mischverfassung, aber der erste, so wie Sidney, für eine geburtsständische, der zweite für eine besitzständische. Harrington war keineswegs blind, wie Montesquieu meinte, sondern er vertrat eine andere Meinung als sein französischer Kritiker.
12
Ibid., XI/6.
13
Herodot, ,Historien", übersetzt von Josef Feix, 2 Bde., Wiesbaden o.J. IV/144, Bd. 1, S. 307. 14 Montesquieu (1748), XI/8. 15 Harrington, James (1656), „Oceana", The Political Works, Ed. with an Introduction by John G. A. Pocock, Cambridge, S. 155 - 359. S. 161/164/191. 16
I b i d . , S. 196.
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Zu kaum einem politischen Denker paßt der Begriff der gewaltenteiligen Mischverfassung besser als zu James Harrington, weil er Gewaltenteilung und Mischverfassung explizit miteinander veiknüpfte. 17 Eine Schlüsselstelle der „ Oceana" lautet so: „... weil die genannten zwei Körperschaften, nämlich der Senat und die Volkskammer (people) gesetzgebend sind, muß es notwendigerweise ein drittes Organ geben, welches die erlassenen Gesetze ausführt; dies ist die Regierung (magistracy). In dieser insgesamt kunstvoll gestalteten Ordnung besteht die Republik aus dem vorschlagenden Senat, der beschließenden Volkskammer und der ausführenden Regierung. Indem die Aristokratie im Senat, die Demokratie in der Volkskammer und die Monarchie in der Regierung mitwirkt, ist die Republik komplett." 1 8
Die verkürzte Mischverfassungsformel klingt verführerisch nach Polybios und „The King's Answer to the Nineteen Propositions" (1642). Man darf sie indessen nicht allzu wörtlich nehmen, und man muß jeden Begriff sorgfältig aus dem Kontext heraus interpretieren. [...] Wie bei den meisten späteren Autoren bis zum heutigen Tag verführt die Sprache Harringtons zu der falschen Annahme, als ob sich die Aufgabe der Regierung in der Ausführung der Gesetze erschöpfe. Im größeren Zusammenhang wird bei Harrington aber sonnenklar, daß die Regierung und innerhalb der Regierung die Signoria und der Staatsrat bzw. in Notlagen die Junta den gesamten innen- und außenpolitischen Prozeß vor, während und nach der parlamentarischen Phase steuert; durch Agenda-setting vor der Beratung im Senat, durch aktive Teilnahme an den Senatsdebatten, durch Aufbereitung der Senatsanträge und deren Weiterleitung an die Volkskammer sowie schließlich durch die Ausführung der Volkskammeibeschlüsse. Die Regierung spielt demnach nicht nur eine ausführende, sondern eine führende Rolle. Harringtons gewaltenteilige Mischverfassung beruht auf zwei sozialen Kräften: den Reichen und dem Mittelstand. Die natürliche Aristokratie generiert sich aus den Reichen. Ihr sind die Führung der Republik, die Entscheidungsvoibereitung, die Wahl der Regierung und die Ausführung anvertraut. Der Mittelstand hat bei allen Wahlen mit Ausnahme der Regierungswahl das Übergewicht. Auch in der Volkskammer ist der Mittelstand aufgrund einer Quotenregelung die stärkere soziale Kraft bei gesetzgeberischen Entscheiden, bei finanz-, außen- und sicherheitspolitischen Weichenstellungen sowie bei letztinstanzlichen Urteilen in der Rechtsprechung. Durch die Machtteilung zwischen den beiden sozialen Kräften wollte Harrington sowohl eine Minderheitstyrannei der Reichen als auch eine Mehrheitstyrannei des Mittelstandes verhindern. Seine gewaltenteilige Mischverfassung ist eine von einer natürlichen Aristokratie geführte Männerdemokratie aller Eigentümer. 17
Riklin (1998) [Anm. 6].
18
Harrington (1656) [Anm. 15], S. 174.
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Somit sind im Entscheidungsprozeß des Republikmodells von Harrington sechs Funktionen zu unterscheiden [...]: Alle Eigentümer wählen die Repräsentanten, der Magistrat führt, der Senat berät, die Volkskammer entscheidet, der Magistrat führt aus und die Gerichte sprechen Recht. Im Sinne von Nebenfunktionen ist der Senat bei der Ausführung von Volkskammeibeschlüssen beteiligt, und die Volkskammer ist zugleich die oberste Berufungsinstanz in der Rechtsprechung. [...] III. Giannotti 1534 Montesquieu präsentierte die englische Mischverfassung im neuen Gewand der Gewaltenteilung. Harrington verknüpfte in seinem Republikmodell explizit Mischverfassung und Gewaltenteilung. Im stato misto des Florentiner Staatsdenkers Donato Giannotti ist die Gewaltenteilung implizit Inbegriffen. 19 Die Mischverfassung, die Giannotti für die erneuerte und verbesserte Republik von Florenz vorschlug, stützt sich auf drei soziale Kräfte [...]: Die Grandi , d. h. die Adligen und Reichen, können ihr Streben nach grandezza im Amt des Gonfaloniere bzw. Principe und im Collegio , das dem Gonfaloniere zur Seite steht, befriedigen (monokratisches Element). Die Mediocri , d.h. der Mittelstand, erfüllen ihren Wunsch nach onore im Senat (oligokratisches Element). Die Popolari , d. h. die unterste Schicht der Eigentümer, stillen ihren Durst nach libertà im Grossen Rat (demokratisches Element). Die besitzlosen Plebei erwarten keinen Machtanteil und sind zufrieden, wenn man sie in Ruhe läßt. [...] Originell am Republikmodell Giannottis ist vor allem die Art der Gewaltenteilung [...]. 20 Giannotti unterschied vier Staatsfunktionen: Wahlen, Gesetzgebung, Außenpolitik und Rechtsprechung. Ferner unterteilte er den Entscheidungsprozeß in die drei Phasen: Consultazione (Vorberatung), Deliberazione (Entscheidung) und Esecuzione (Ausführung). Schließlich bestimmte er in jeder Funktion für jede Phase des Entscheidungsprozesses die zuständigen Organe. Dabei stellte er den Grundsatz auf, daß die Consultazione und die Esecuzione in den Händen weniger, die Deliberazione aber in den Händen vieler liegen müsse. Jedoch sei es zulässig, ja zweckmäßig, daß die Ausführung der gesetzgeberischen und außenpolitischen Entscheide den
19
Riklin, Alois (1997), „Donato Giannotti - ein verkannter Staatsdenker der Florentiner Renaissance", in: Donato Giannotti, Die Republik Florenz (1534), München, S. 17-75, [hier] S. 53-62. 20 Giannotti, Donato,„Die Republik Florenz" ( 1534), herausgegeben und eingeleitet von Alois Riklin, übersetzt und kommentiert von Daniel Höchli, München 1997, II/3; 11/16; ΙΠ/5-13. Ders.,„Discorso sopra i l riformare la Repubblica di Siena", Opere politiche, a cura di F. Diaz, Maüand 1974, S. 443-455, [hier:] S. 453
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gleichen Gremien anvertraut werde, welche die Entscheide vorberaten hätten. Giannotti hat sich das originelle Gewaltenteilungsmodell nicht aus den Fingern gesogen. Er hat es der Verfassungswirklichkeit italienischer Renaissance-Republiken abgeguckt, veibessert und verallgemeinert. Mir scheint die Machtteilungslehre Giannottis wirklichkeitsnäher und praktikabler als jene von Montesquieu. Warum? Erstens, weil sie die Außenpolitik neben der Gesetzgebung als eigenständige Funktion postuliert. Montesquieu hat demgegenüber die Außenpolitik blauäugig als „Ausführung des Völkerrechts" verstanden und allein der Regierung anvertraut. 21 Ein Aphorismus von Montesquieu ist mitverantwortlich, daß in den meisten Verfassungen seit der amerikanischen von 1789 die außenpolitische Kompetenzverteilung zwischen Regierung und Parlament unklar oder ungleichgewichtig, nämlich auf Kosten des Parlaments, geregelt ist. [...] Zweitens ist Giannottis Machtteilungslehre wirklichkeitsnäher und praktikabler als die Montesquieusche, weil sie die zugleich führende und ausführende Rolle der Regierung klar zum Ausdruck bringt. Montesquieu schwieg sich darüber aus, wer denn eigentlich Gesetze und andere Entscheide vorbereiten soll. Er vernachlässigte den Entscheidungsprozeß. Seine Machtteilungslehre ist strukturorientiert, diejenige Giannottis prozeßorientiert. Von Montesquieu verführt, trauen die meisten geschriebenen Verfassungen den Parlamenten in der Gesetzgebung zu viel und in der Außenpolitik zu wenig zu. IV. Amerikanische Verfassungsväter um 1787 Hätten Harrington, Montesquieu und die amerikanischen Verfassungsväter das Gewaltenteilungskonzept Giannottis gekannt, hätte die Doktrin vielleicht eine andere Wendung genommen. Letztere orientierten sich in der Gewaltenteilungslehre hauptsächlich an Montesquieu, seltener an Harrington, überhaupt nicht an Giannotti. Das England-Kapitel von „De l'esprit des lois" galt geradezu als Orakel der separation of powers. Aber die Interpretation war heiß umstritten. Der gleiche Text wurde von den einen im Sinne einer strikten Gewaltentrennung, von den andern im Sinne einer gemäßigten Gewaltenteilung gelesen. [...] Die Mehrheit der Föderalisten glaubte, die Mischverfassung durch die Gewaltenteilung ersetzen zu können. James Madison sprach Amerika das Verdienst zu, die Grundlage ungemischter und großräumiger Republiken entdeckt zu haben.22 Indessen hatte er keine Hemmungen, den Begriff der Mi-
21
Montesquieu (1748), XI/6.
22
„The Federalist Papers" (1787/88), Ed. by Clinton Rossiter, New York 1961,
Nr. 14.
Alois Riklin
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schung auf die föderale Machtteilung zu übertragen. 23 Offensichtlich hatte sich die Wahrnehmung der Mischverfassung auf die geburtsständische Variante nach englischem Muster verengt. Gegen dieses kranke englische System zog insbesondere Thomas Paine zu Felde. In einer seitenlangen Schmähtirade verhöhnte er die von Montesquieu so hoch gelobte englische Mischverfassung als ein verkommenes Allerweltsding, das mittels Korruption die auseinanderstrebenden Teile zusammenkitte und zusammenlöte, um wie eine Einheit handeln zu können.24 Daß es in der Verfassungs- und Ideengeschichte maikante Vorbilder nichtgeburtsständischer Mischverfassungen gab - man denke an das alttestamentliche Israel, an Athen, an Genf oder an die Konzepte von Piaton, Aristoteles, Thomas von Aquin und Burlamaqui - , daß insbesondere James Harrington seine besitzständische, rein repräsentative und großräumige Republik als gewaltenteilige Mischverfassung verstanden hatte, wurde verdrängt. Eine Ausnahme machte John Adams.25 Von allen amerikanischen Gründungsvätern folgte er am stärksten den Spuren Harringtons. Insbesondere übernahm er von ihm den Begriff der natürlichen Aristokratie und grenzte diese von der künstlichen Erbaristokratie ab. Adams verstand sowohl seinen eigenen Vorentwurf als auch die Verfassung der USA als gewaltenteilige Mischverfassung mit drei sozialen Kräften, drei Staatsformen, drei Departementen und drei Zweigen der Legislative [...]. V. Tertium comparationis Gewaltenteilige Mischverfassung Kehren wir zu den eingangs formulierten Hypothesen zurück. Giannotti präsentierte seinen Verfassungsentwurf als stato misto , aber die Gewaltenteilung war Inbegriffen. Harrington verknüpfte die beiden Konzepte ausdrücklich. Montesquieu stellte das ideal-typisch verfremdete mixed government Englands im modernen Gewand der Gewaltenteilung vor, obwohl er andernorts das gotische Regime und die Römische Republik als Mischverfassungen wahrnahm. John Adams deutete die amerikanische Verfassung als gewaltenteilige Mischverfassung, während James Madison die Mischverfassung anscheinend auf die geburtsständische Variante englischer Provenienz reduzierte und durch das Konzept einer gemäßigten Gewaltenteilung zu ersetzen glaubte. So oder so, Mischverfassungen sind verschiedene Aspekte desselben Phänomens. Aber Wahrnehmungsschwerpunkt und Folgerung sind vertauscht. 23
Ibid., Nr. 39 und 51.
24
Paine, Thomas (1791), „The Rights of Man", Penguin Classics, New York 1985. S. 140 f. 25 Riklin, Alois, „John Adams und die gewaltenteüige Mischverfassung", in: Zeitschrift für Politik, X X X V I I I (1991), S. 274-293.
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Der Wahmehmungsschwerpunkt des Mischverfassungskonzepts ist die Strukturierung eines Gemeinwesens gemäß der Trias einer - wenige - viele oder einer ihrer dualen Varianten. Die Folge der Mischung ist die Machtteilung. In der Perspektive des Gewaltenteilungskonzepts ist es genau umgekehrt. Aus dem logischen Prius der Teilung folgt die Mischung. Alle praktischen Anwendungsfälle der Gewaltenteilung sind Strukturvarianten des Musters einer - wenige - viele, ungeachtet ob geburtsständisch, besitzständisch oder nichtständisch. Es gibt keine Mischverfassung ohne Machtteilung und umgekehrt. Die Perzeption einer politischen Ordnung als gewaltenteilige Mischverfassung ist allemal reduktionistisch. Ihre ideen- und verfassungsgeschichtlichen Anwendungsfälle unterscheiden sich in der konkreten Ausgestaltung und im realgeschichtlichen Umfeld. Giannottis Modell war auf eine Stadtrepublik mit weniger als 100 000 Einwohnern ausgerichtet; demzufolge war es möglich, alle Aktivbürger in den Großen Rat zuzulassen. Harringtons und Montesquieus Modelle ebenso wie die Verfassung der USA waren für großräumige Länder mit mehreren Millionen Einwohnern gedacht; demzufolge wurde das demokratische Element in der repräsentativen Form konzipiert. Der geburtsständischen konstitutionellen Monarchie Montesquieus steht die besitzständische Republik Harringtons gegenüber, auch die amerikanische Republik war besitzständisch, insofern das Wahlrecht an Hautfarbe und Besitz gebunden war. Und so fort! Nippel verweist zu recht auf den Wandel politischer Konzepte wie der gewaltenteiligen Mischverfassung unter sehr verschiedenen ideologischen und historischen Prämissen.26 Dennoch wäre es irreführend, das Konzept der gewaltenteiligen Mischverfassung im ideologisch-historischen Kontext gänzlich aufzulösen. Ein substantielles Element bleibt trotz aller Relativierungen konstant, nämlich die Verteilung der gesamten Staatsmacht auf mehrere Machtträger, Organe und soziale Kräfte. Montesquieu nannte als Zweck seines Modells die Sicherung der politischen Freiheit. Seine Formel bleibt gültig: Weil der Mensch, der Macht hat, zum Machtmißbrauch neige, solange er nicht auf Grenzen stoße, „il faut que par la disposition des choses, le pouvoir arrête le pouvoir". 27 Der konstante Kern der gewaltenteiligen Mischverfassung ist die Teilung der Macht zum Zweck einer freiheitlichen politischen Ordnung. Sie unterscheidet sich fundamental vom tyrannischen System der Machtkonzentration. Insofern ist und bleibt das Konzept der gewaltenteiligen Mischverfassung mehr als nur eine Sprache, nämlich ein Programm. 28 26 Nippel, Wilfried, „Klassischer Republikanismus in der Zeit der Englischen Revolution, Zur Problematik eines Interpretationsmodells", in: Wolfgang Schuller (Hrsg.), Antike in der Moderne, Konstanz 1985, S. 211-224, [hier:] S. 213/221 f. 27 28
Montesquieu ( 1748), XI/4.
[Weitere benutzte Literatur:] Althusius, Johannes (1614), „Politica", Herborn. Jefferson , Thomas (1787), „Notes on the State of Virginia", Chapel Hill 1955. Spurlin,
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Alois Riklin
Editorische Notiz In: Weinacht, Paul-Ludwig (Hrsg.), „Montesquieu. 250 Jahre Geist der Gesetze". BadenBaden, Nomos Verlg. 1999, S. 15-29.
Paul Merrill, „Montesquieu in America 1760-1801", Louisiana 1940. Storing , Herbert Α., „The Complete Anti-Federalist", 7 vol., Chicago 1981.
Plädoyer für eine kosmopolitische Soziologie Gerhard Wagner (1999) Es läßt sich nicht leugnen, daß Montesquieu überwiegend von Rechts- und Staatsphilosophen, Juristen und Politikwissenschaftlern gelesen wurde. Es ist wohl der Kritik Turgots und Comtes geschuldet, daß er es in der Soziologie zu einem Klassiker nicht brachte, sondern als bloßer „Wegbereiter" eingestuft wird. 1 Das Verhältnis, das diese Disziplin zu dem Baron de la Bròde unterhält, ist recht ambivalent. Einerseits gibt es Autoren, die ganze Studien über ihn verfaßten und seine Bedeutung dennoch nicht erkannten. Andererseits gibt es Autoren, in deren Schriften sich lediglich einige wenige Namensnennungen finden, die aber gleichwohl in Montesquieus Geist Forschung betrieben. Zur ersten Kategorie muß man Durkheim zählen. In die zweite gehören Weber und Simmel. Dürkheim lobte zwar, daß Montesquieu „die sozialen Dinge" als eigenständigen wissenschaftlichen Gegenstandsbereich behandelt hatte. Doch wird er dessen Werk in keiner Weise gerecht. Das beginnt schon in der Einleitung seiner Studie, in der es um Voraussetzungen geht. Behauptungen wie „Berichte von Reisenden über fremde Völker und deren Sitten und Gesetze waren äußerst selten und wenig zuverlässig" lassen nicht gerade auf Vertrautheit mit dem Gegenstand schließen; und Aussagen wie „Die Statistik, jene neue Disziplin, mit deren Hilfe die verschiedenen Ereignisse im menschlichen Leben [...] klassifiziert werden können, gab es noch nicht" legen darüber hinaus die Frage nahe, ob Durkheim den „Esprit des lois" überhaupt gründlich gelesen hat.2 Denn dortselbst wird auf die „Berechnungen" jenes „Ritter Petty", der als Erfinder der statistischen Methode gilt, durchaus verwiesen.3 Diese Mängelliste ließe sich verlängern. Aber wir wollen nicht den Krittler mimen.4 Hier ist allein der Hinweis von Interesse, daß der in der Tradition des Stammbaum-Theoretikers Spencer stehende Duikheim nicht das geringste 1
Aron , Raymond, „Hauptströmungen des soziologischen Denkens", Bd. 1: Montesquieu, Auguste Comte, Karl Marx, Alexis de Tocqueville. Köln, Kiepenheuer & Witsch, o.J., S. 23. 2
Durkheim , Emüe, „Montesquieus Beitrag zur Gründung der Soziologie", S. 85-139, in: Frühe Schriften zur Begründung der Sozialwissenschaft. Darmstadt, Luchterhand, 1981, hier S. 88. 3
Montesquieu, „Vom Geist der Gesetze", Bd. 2, S. 137.
4
Montesquieu, „Vom Geist der Gesetze", Bd. 1, S. 5.
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Gerhard Wagner
Gespür für die Besonderheit des Montesquieuschen Umgangs mit der „ Vielfalt der Dinge" entwickelte.5 Für ihn war es undenkbar, verschiedenen Gesellschaften einen „gleichen Rang" zuzugestehen; nach seiner Überzeugung müssen die einen den anderen „als über- oder unterlegen angesehen werden"; und so behauptete er, „daß die höheren Gesellschaftsformen aus den niederen hervorgegangen sind. Damit w i l l ich nicht sagen, daß die Gesellschaften eine einzige geradlinige Reihenfolge bilden, die in den Völkern der Antike ihren Anfang nimmt und in den Nationen der Gegenwart gipfelt. Viel eher paßt hier das Bild eines Baumes, dessen Aste in verschiedene Richtungen streben [...] Das jedoch hat Montesquieu übersehen [...] er kommt nicht auf den Gedanken, daß diese verschiedenen Arten von Gesellschatten sich nach und nach aus derselben Wurzel entwickelt haben, daß die einen aus den anderen hervorgegangen sind f...] Er dachte, daß die einzelnen Gesellschaftsformen völlig unabhängig voneinander entstanden seien." 6
Mit der von Spencer übernommenen Differenzierungstheorie bereitete Durkheim dem Trennungsdenken in der Soziologie ein massives Fundament. Diese Tradition stellt das in der heutigen Soziologie einflußreichste theoretische Paradigma dar. Es gab aber durchaus andere Soziologen, in deren Werk Montesquieu in einem konstruktiven Sinne präsent war. So wurde Montesquieus Ansatz von Weber fortgeführt. Daß der Franzose die These vom Geist des Kapitalismus inspirierte, sei nur erwähnt.7 Betont muß aber werden, daß Weber sowohl die vergleichende Methode als auch das Verfahren der Typenbildung von Montesquieu übernahm. Um die Besonderheit der okzidentalen Rationalitätsform herauszuarbeiten, unternahm er Vergleiche mit anderen gesellschaftlichen Ordnungen und Mächten, ohne die Begriffe Fortschritt und Entwicklung in Anschlag zu bringen. Im Rekurs auf Heinrich Rickerts Theorie kulturwissenschaftlicher Begriffsbildung betrachtete er sämtliche Ordnungen als „historische Individuen höchst komplexer Art", die sich weder aufeinander reduzieren noch in einen übergreifenden Kontext einordnen lassen.8 Und was die Typenbildung im allgemeinen und
5
Durkheim , „Montesquieus Beitrag zur Gründung der Soziologie", S. 98.
6
Ebd., S. 124-125.
7
Vgl. Weber, Max, „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus", S. 17-206, in: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. 1. Tübingen, Mohr, 1988, hier S. 29: „Montesquieu sagt (,Esprit des lois' X X cap. 7) von den Engländern, sie hätten es ,in drei wichtigsten Dingen von allen Völkern der Welt am weitesten gebracht: in der Frömmigkeit, im Handel und in der Freiheit 4 . SoUte Are Überlegenheit auf dem Gebiet des Erwerbs [...] vielleicht mit jenem Frömmigkeitsrekord, den Montesquieu ihnen zuerkennt, zusammenhängen?" 8 Weber, Max, „Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen". Vergleichende religionssoziologische Versuche. Einleitung, S. 237-275, in: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. 1. Tübingen, Mohr, 1988, hier S. 265.
Kosmopolitische Soziologie
277
den Begriff des Idealtypus im besonderen betrifft, dürfte der Einfluß Montesquieus auf Weber seit Ernst Cassirer bekannt sein.9 Ging es Weber um Heterogenitäten und Differenzen, so war es Simmel um Konnexionen und Übergänge zu tun. Simmel war mit der Differenzierungstheorie vertraut. 10 Vielleicht vermied er es gerade deswegen, das Trennungsdenken zu verabsolutieren. Jedenfalls neigte er dazu, „die Getrenntheit als das natürlich Gegebene" anzusehen; für ihn blieb letztlich alles „in das unbarmherzige Auseinander des Raumes gebannt".11 Die vordringliche Aufgabe des Menschen bestehe im Verbinden. Im Bau von Brücken werde dessen Fähigkeit, Verbindungen herzustellen, am sinnfälligsten offenbar. Denn jenseits der praktischen und der ästhetischen Dimension dieser Gebilde existiere eine symbolische. Wie Hans-Jürgen Gawoll erläutert, „drückt die Brücke, auf der der Andere auf mich zukommen kann, die gegenseitige Wechselwirkung und Relationalst des menschlichen Lebens überhaupt aus. Der Mensch [...] schafft sich mit der Brücke einen Übergang, der ihn in Kontakt mit der jenseitigen Welt von Fremden führt." 12 In diesem Sinne „symbolisiert die Brücke anthropomorph den Arm, den die eine Welt ausstreckt, ,um die andere zu ergreifen und an sich zu schließen und sich von ihr ergreifen und an sich schließen zu lassen ." 13 Diese Überlegungen hat Simmel sowohl in einer Philosophie des Lebens als auch in einer Soziologie des Raumes konkretisiert. Montesquieus Ansatz fand also durchaus Nachfolger in der Soziologie. Zwar haben sie kein der Spencer-Tradition vergleichbares Paradigma hervorgebracht. Daß Weber und Simmel gleichwohl nicht ohne Einfluß blieben, sieht man an den Arbeiten von Tenbruck und Matthes, deren soziologische Relevanz man nicht geringschätzen sollte, wie Luhmann es praktizierte. Im Gegenteil: Insofern Spencers Epigonen mit einem metaphysisch infiltrierten philosophischen Modell operieren, das auf die soziale Wirklichkeit appliziert wird, gebricht es ihnen an einem in direkter Auseinandersetzung mit dem Sozialen gewonnenen soziologischen Blick. Sie operieren noch heute mit einem Entwicklungsmodell, das sie die Vielfalt gesellschaftlicher Ordnungen und 9 Vgl. Cassirer , Emst, „Die Phüosophie der Aufklärung". Tübingen, Mohr, 1932, S. 281: „Man kann von Montesquieu sagen, daß er der erste Denker ist, der den Gedanken des historischen Idealtypus gefaßt, und der ihn klar und sicher ausgeprägt hat. Der ,Geist der Gesetze* ist eine politische und soziologische Typenlehre." 10 Vgl. Simmel, Georg, „Über sociale Differenzierung", 5. 109-295, in: Aufsätze 1887 bis 1890. Über sociale Differenzierung. Die Probleme der Geschichtsphüosophie. Gesamtausgabe, Bd. 2. Frankfurt am Main, Suhrkamp, 1989. 11
Simmel, Georg, „Brücke und Tür", S. 1-7, in: Brücke und Tür. Essays des Philosophen zur Geschichte, Religion, Kunst und Gesellschaft. Stuttgart; Köhler, 1957, hier S. 1. 12 Gawoll, Hans-Jürgen, „Georg Simmel und das Denken des Raumes", in: Simmel Newsletter 5,1995, S. 112-120, hier S. 117. 13
Ebd., S. 117.
278
Gerhard Wagner
Mächte nicht erkennen läßt und das im übrigen kein Historiker mehr verwenden würde, weil „die ältere Auffassung von einer unilinearen Geschichte wie sie immer noch die vulgäre Ebene in Form epigonaler Entwürfe in der Nachfolge von Condorcet, Comte, Hegel und Marx bestimmt, endgültig veraltet ist. Die Geschichte der Menschheit ist mannigfaltig gewesen, weil die sich voneinander unterscheidenden Entwicklungen weit über die Erde verstreut waren. Das Feld der Geschichte kann als pluralistisch bezeichnet werden. Der Fortschritt oder die generelle Weiterentwicklung einer imaginären Menschheit hat sich aufgelöst in eine Vielfalt sich unterschiedlich voneinander entwickelnder Vorgänge, die sich zu verschiedenen Zeitpunkten und eigenständig in konkreten Menschen und Gesellschaften ereignen.
Was Montesquieu vor nunmehr zweieinhalb Jahrhunderten erprobte, erweist sich als eine Perspektive, die noch heute Anspruch auf Geltung machen kann. Mit dem Ende des Kalten Krieges ist eine Situation eingetreten, die nicht von ungefähr an die Zeit Montesquieus erinnert. Edward A. Tiryakian zufolge leben wir heute in einer „new world of new worlds". 15 Diese Situation gesellschaftsgeschichtlich, mit einem dem Stammbaum-Modell des Denkens verpflichteten Begriffsapparat erklären zu wollen, ist nachweislich zum Scheitern verurteilt. Um der Herausforderung der Vielfalt angemessen begegnen zu können, ist der soziologische Blick Montesquieus erforderlich, der es allererst erlaubt, den vielen Differenzen um ihrer selbst willen nachzuspüren, und es dadurch ermöglicht, die für die Globalisierungsprozesse typischen, als Symbiose bezeichenbaren Verflechtungen zu erfassen. Daß wir es dabei mit einem Konzept aus dem 18. Jahrhundert zu tun haben, darf nicht als Rückschritt verstanden werden, der die heutigen, auf Ansätze des frühen 19. Jahrhunderts rekurrierenden soziologischen Theorien an Überholtheit noch überholt. Im Gegenteil ist es gerade die Zeit, in der Montesquieu dachte und schrieb, die sein Werk für uns Heutige attraktiv werden läßt. Denn Montesquieu befand sich in einer eigentümlichen Zwischenlage: Die Frühaufklärung hatte mit der christlichen Heilsgeschichte gebrochen; die Fortschrittsidee, die deren Stelle einnehmen sollte, ließ mit ihrer Ausarbeitung jedoch auf sich warten. Montesquieu konnte das halbe Jahrhundert, das zwischen Fontenelles „Digression sur les anciens et les modernes" und Turgots „Tableau philosophique des progrès successifs de l'esprit humain" verstrich, 16 nutzen um einen von Theologie und Metaphysik gleichermaßen unbelasteten Blick auf die soziale Wirklichkeit zu werfen. Er konnte das an14
Voegelin, Eric, „Autobiographische Reflexionen". München, Fink, 1994, S. 103.
15
Tiryakian , Edward Α., „The new worlds and sociology. A n overview", in: International Sociology 9,1994, S. 131-148, hier S. 131. 16
Vgl. Fontenelle , „Digression sur les anciens et les modernes", S. 353-365, in: Œuvres complètes, Bd. 2. Genf, Slatkine, 1968; Turgot , „Philosophische Darstellung der allmählichen Fortschritte des menschlichen Geistes".
Kosmopolitische Soziologie
279
dere betrachten, ohne altständigen Asymmetrien oder neumodischen Nostrifizierungen Rechnung tragen zu müssen. Wenn die Soziologie auch in Zukunft Sinn machen soll, muß sie so kosmopolitisch werden wie die Montesquieus: „What is called for is a sociology in the classical vein, grounded in a knowledge of history, methodologically flexible, and imbued with a cosmopolitan spirit endlessly curious about every manifestation of human life." 17 Wenn heute von Kosmopoliten die Rede ist, tauchen häufig die Namen sogenannter postkolonialer Schriftsteller wie Vidiadhar Surajprasad Naipaul, Michael Ondaatje, Salman Rushdie, Vikram Seth oder Derek Walcott auf. 18 Tatsächlich gleicht das Leben dieser interkontinentalen Nomaden einer einzigen großen Reise zwischen Ost und West, Süd und Nord. Bemerkenswert ist, daß immer wieder ihre Lage „doppelter Differenz" zur Sprache kommt.19 Diese Autoren, zu denen Gewinner des Booker- und des Nobelpreises zählen, verfügen nach eigenem Bekunden über eine „Stereosicht".20 Sie „blicken nicht hierhin oder dorthin, sondern gleichzeitig in beide Richtungen und werden schließlich zu Bewohnern eines Nirgendwo oder Irgendwo". 21 Eine Beschäftigung mit der postkolonialen Literatur würde einer Theorie und Methodologie des Vergleichs sicher einigen Aufschluß bringen. Daß sich belies lettres und sciences nicht ausschließen, dafür bieten die „Lettres persanes" das beste Beispiel. Denn ohne das literarisch erarbeitete Erkenntnisinstrument wechselseitiger Relativierung hätte Montesquieu seinen „Esprit des lois" nicht schreiben können. Allein, Montesquieu mußte den Blick auf Europa noch fingieren. Das ist heute nicht mehr erforderlich. Das Reflexionspotential, mit dem der Begriffsimperialismus eurozentrischer Soziologen à la Luhmann in die Schranken gewiesen werden kann, steht zur Verfügung. 22 Wäre es nicht interessant zu wissen, welchen Gewinn die postkoloniale Literatur für eine kosmopolitische Soziologie bereithält? Montesquieu hatte bekanntlich ein Faible für Homer. Warum sollte einem neuen Montesquieu 17
Berger, Peter L., „Does sociology still make sense? ", in: Schweizerische Zeitschrift für Soziologie 20, 1994, S. 3-12, hier S. 6. Zur Konzeptualisierung des Kosmopoliten als sozialem Typus vgl. Wagner, Gerhard, „Der Kosmopolit", in: Simmel Newsletter 7, 1997, S. 32-42; Oakes, Guy, „The cosmopolitan dilemma: problems in the sociology of cultural comparison", in: Simmel Newsletter 8,1998, S. 68-76. 18 Vgl. Ashcroft , Bill / Griffiths, Gareth / Tiffin, Helen, „The Empire Writes Back. Theory and Practice in Post-colonial Literatures". London, Routledge, 1989. 19 Schulte, Bernd, ,Die Dynamik des Interkulturellen in den postkolonialen Literaturen englischer Sprache". Heidelberg, Winter, 1993, S. 90. 20
Rushdie, Salman, „Heimatländer der Phantasie", S. 21-35, in: HeimaÜänder der Phantasie. Essays und Kritiken 1981-1991. München, Kindler, 1992, hier S. 33. 21
Iyer , Pico, ..The empire writes back. A m Beginn einer neuen Weltliteratur?", in: Neue Rundschau 107, 1996, S. 9-19, hier S. 13. 22 Vgl. etwa Rahimieh , Nasrin, „Oriental Responses to the West. Comparative Essays in Select Writers from the Muslim World". Leiden, E. J. Brill, 1990.
280
Gerhard Wagner
nicht Omeros als Paradigma des Weltenübergangs in Zeiten der Globalisierung dienen? „So gingen wir bei Sonnauf gang die Einbäume fällen, ,.." 23 Editorische Notiz In: W., G., „Herausforderung Vielfalt. Plädoyer für eine kosmopolitische Soziologie". Konstanz, U K V , 1999. S. 100-106.
23
Walcott, Derek, „Omeros". München, Hanser, 1995, S. 9.
Personenverzeichnis Abbt 174-176, 178, 182, 183
Beck 24
Acton 125
Begrow 169
Adam 133
Bei 147
Adams 272
Bellarmin 60
Addison 63
Bérard 164
Albert 163
Berger 279
Alembert 176, 195, 232, 237-239
Beyer 130, 245
Althusius 32, 34, 60, 120, 177, 273
Bielfeld 172, 190
Althusser 25,208-211
Bluche 221
Ardasheff 59
Blumenberg 25
Arendt 202, 203, 267
Böckenförde 2 1 - 2 3 , 153, 162, 167
Argens 220, 221
Bodin 66, 100, 101, 117, 119, 120-
Argenson 135-139
127, 130, 131, 134, 142, 162, 165
Argentai 222
Böhlke 22
Aristoteles 22, 66, 102, 119, 161, 162,
Boileau 147
165, 175, 177, 181,209, 253,272
Boisguilbert 128
Arndt 7
Bolingbroke 63, 66, 99, 126
Aron 22, 25, 196, 200, 209, 211, 275
Bonald 59,61
Ashcroft 279
Bonjour 176, 193
Augustin 122, 162
Böse 221
Bach 23, 177
Boswell 235
Badura 26
Boulainvilliers 63, 96, 148-150
Barante 146
Bratuschek 223
Barbot 147, 233
Breysig 13
Barckhausen 41, 42, 86
Brunner 25, 115
Bartenstein 24
Buchanan 40
Baudereau 144
Buffon 132
Baumgart 219
Bülau 184
Baxmann 258, 263
Burckhardt 36, 125
Bayle 69, 132, 145
Burke 223
Beccaria 175
Burkhardt 7
Bossuet 117, 120, 121,221
282
Personenverzeichnis
Burlamaqui 272
Crébillon père 173
Büß 66
Creutz 184
Busson 133
Croce 11 Cromwell 10, 40, 63, 65
Cabeen 159
Cuentz 232
Caesar 64 Caillois 130
Dagen 250
Cantillon 128
Dalberg 174
Carcassonne 126, 138, 152
Dantal 225
Carmer 228
Dante 122
Carpzow 24
Darget 226, 227
Cartaud de la Villatte 146
de Veri 175
Cassirer 12, 13, 20, 21, 29, 69, 114, 131,
Dedieu 88
153, 158, 162, 196, 277
Denzer 22
Cataneo 184
der Heydte, von 10, 18, 19, 22, 111
Chaimowicz 223
Derathé 134,212,213
Chardin 43
Descartes 44, 50, 66, 92, 129, 154
Chevallier 166
Desgraves 97, 161,219
Chevreuse, Herzog von 59
Destutt de Tracy 111, 164
Christine von Schweden 46
Diaz 270
Cicero 22, 66, 161, 179
Diderot 195,220, 232, 238
Clapmarius 64
Dieckmann 25, 215
Claproth 175, 179
Diesselhorst 239
Clostermeyer 27, 250
Dietrich 236, 237, 239, 240
Cocceji 227
Dilthey 15, 16, 20, 76, 101, 131
Colbert 59, 128
Dodds 196
Comte 78, 275, 278
Dohm 186
Condorcet 249, 250, 278
Domville 212
Conrad 164
Doria 88
Conring 184
Drach 167
Constant 19, 31, 114
Drath 21, 155, 158, 166, 167
Conti Odorisio 262
Droysen 133
Conze 25
Du Deffend 95
Corneille 101
Dubois 145
Cotta 241
Dubos 96, 147, 148, 150-152
Courtenay 107
Dubuc 59
Crébillon 139
Duchhardt 234
Personenverzeichnis Dufresny 42, 220 Duhan 223
Friedrich II. 15, 26, 87, 111, 174, 190, 191,219-240
Dürkheim 29, 159, 160, 196, 275, 276
Friedrich August III. 23
Duverger 160, 204
Friedrich Wilhelm I. 228, 235
Duvergier 57
Friedrich Wilhelm III. 238 Fritz 126
Ebrecht 263
Fuchs 231
Ehrard 209,210,212,215
Funck-Brentano 61
Eifert 261 Einstein 13
Gareis 8
Eisenmann 207, 208
Gawoll 277
Eleonore von Schweden 46
Gébelin 96, 227, 232, 233
Elias 25, 263/264
Geckeier 25
Ellissen 7
Geffriaud Rosso 252, 257, 259
Ernesti 23, 177
Geffroy 209
Esmein 57
Georg I. 39 Georgi 187
Falk 22
Giannotti 29, 265, 270- 273
Fénelon 59, 101
Gibbon 170
Ferguson 131
Gierke 31, 35, 36, 60
Festugière 119
Goethe 7, 13, 17, 136, 176, 221
Fichte 66
Göhring 10, 16, 17, 21, 22, 25, 30, 91, 96,
Flammermont 60
143, 158, 209
Flechtheim 25
Goldsmith 220
Fleiner 67
Gottsched 23
Fontenelle 146, 173, 176, 250, 278
Goyard-Fabre 27, 241, 245, 246
Forsthoff 9, 10, 18, 19, 24, 99, 166, 195,
Gresset 173
199, 202, 223
Griffiths 279
Fraenkel 166, 167
Groethuysen 133,211
Frantz 62
Grotius 60, 101, 109, 120, 241, 243
Franz I. 57
Grubitzsch 251
Frede 13
Guasco 227, 232
Fréron 176
Guizot 125
Freyer 13, 18, 100 Friedlander 223
Haag 237
Friedrich 164
Haar 15
Friedrich I. 39
Häberlin 188, 193
284
Personenverzeichnis
Habermas 12, 13, 25
Höchli 270
Hamann 173
Höffer 60
Hamilton 111
Hoffmann 254, 259
Hanotaux 57
Hofmann 12, 22
Harlay 97
Holberg 175, 179
Harnack 232
Holtzmann 57
Harrington 28,265-273
Hölzle 25, 185, 187
Hartknoch 176
Homer 279
Hartmann 221
Hommel 23, 24
Hasbach 9, 10, 31,62
Hooker 31
Haugwitz 24
Hubatsch 238
Hausmann 20
Hubert 250
Hauswald 173
Humboldt 230, 231
Hayek 131
Hume 34, 175
Hazard 131
Husserl 20
Heeren 193
Hutten 149
Hefter 126 Hegel 8, 13,75,89, 133,278
Imboden 22, 25, 164
Heidegger 20
Ipsen 10, 13-16,21,75
Heinse 171
Iselin 175, 183
Helvétius 96, 127, 195
Iyer 279
Hénault 137 Hennis 25, 160, 202
Jacob I. von England 60
Herder 74, 133, 169, 176-178, 192, 193
Janet 9, 31
Herdmann 23
Jauss 23
Hereth 22, 29
Jefferson 111,273
Herodot 268
Jellinek 8, 9, 21, 3 1 - 3 3 , 35, 62, 156,
Hertzberg 174, 175, 179, 186, 191, 192
157, 201,202
Hettner 131
Jolies 13
Heumann 181, 182, 183, 187
Jordan 224
Hierdeis 258
Joseph II. 24
Hieronymus 122
Jung-Stilling 230
Hillebrand 107
Justi 24, 178, 184, 186, 234
Hippel 19, 112 Hirsch 224
Kägi 124, 166
Hobbes 13, 27, 75, 93, 100, 101, 124,
Kann 172
145, 146, 162, 241,248, 249
Kant 8, 12, 34, 194, 230, 239
Personenverzeichnis Karl VI. 24
Lask 66
Karl IX. 140
Laufer 217
Karl Eugen, Herzog 187
Laun 17
Kassem 209
Launay 25
Kästner 173, 179
Lavisse 57
Katharina II. 26, 111, 192
Law 93
Kaufmann 66, 67
Le Laboureur 91
Kaunitz 24
Le Mercier de la Rivière 129
Keßler 60
Lecky 131
Kircheisen 238
Leibniz 66, 121,241
Klein 192
Leroy 126, 132
Klemperer 10, 11, 13, 24, 41, 166, 169,
Lesage 43, 46
171, 195
Lessing 176
Klingenstein 24
Levasseur 58
Kloeppel 156
Liepmann 37
Koebner 200
Linguet 262
Kondylis 23, 27, 241
Locke 21, 31, 34, 66, 92, 99, 114, 126,
Koselleck 25
135, 147, 156, 175
Kowalewsky 31
Lombard 147
Kra 252, 253
Lottin 161, 162, 163
Krauss 20, 21, 135
Lougee 263
Krieger 223, 224, 226, 227
Löwith 131
Kuhfuß 25, 28, 205
Lucian 36
Kuhn 22, 160
Ludwig XIII. 65 Ludwig XIV. 42, 49, 60, 65, 75, 91, 125,
La Beaumelle 138-140
143, 144, 150, 196
La Bruyère 43
Ludwig XV. 139
La Condamine 232
Luhmann 29, 277, 279
La Gorce 165
Lukacs 21
La Porte 227
Lykurg 176
La Roche 97 La Roche Flavin 97, 126
Macaulay 63
La Rochefoucauld 224
Machiavelli 16, 18, 66, 85, 100, 101, 122,
Laboureur 17
124, 175,226
Lafayette 111
Madison 271, 272
Lamezan 174, 189
Maier 9, 10, 22, 25, 159
Lanson 43, 130
Mailhos 25
286
Personenverzeichnis
Malborough 63
Moser 176, 178, 183, 184, 186-189
Malebranche 54, 66, 121, 154, 161, 241
Moser 174, 175, 178, 182, 193
Malettke 221
Mounier 111
Mancini 112
Mousnier 12, 221
Mandeville 130, 131
Müller 176, 193, 194
Mandt 25, 202
Mussolini 118
Mangold 221 Manteuffel 224
Naipaul 279
Marana 42, 219
Napoleon 10, 40, 225
Maria Theresia 24
Necker59, 111
Marteau 41
Nedham 40
Marx 200, 275, 278
Neill 128
Mason 241
Newton 160
Mass 8, 11
Nicolai 174, 178
Mathiez 25
Nietzsche 11
Matthes 277
Nippel 28, 273
Maupertuis 173, 174, 176, 222, 224, 227, 232
Oberkrome 14, 15
Mauvillon 186
Ondaatje 279
Mayer 67
Opitz 28, 251, 257, 261, 263, 264
Mehring 190
Orieux 222
Meinecke 13, 15, 16, 27, 85, 131, 183,
Ortega y Gasset 125
193,222, 223
Oslander 60
Meisner 60 Mersenne 66
Paine 272
Merten 24, 26, 219, 228, 235, 239
Papinian 163
Meyer 42,45,210
Parsons 19
Michaelis 180, 181
Pascal 43,219
M i l l 125
Pasquier 97
Mirabeau 111, 128, 129
Pecquet 139
Mirkine-Guetzévitch 25, 166
Perikles 196
Mittelstädt 31, 35, 36
Peschier 36
Mohl 8,21, 157
Peter I. 42, 257
Mohnhaupt 7
Peters 166
Montaigne 85, 121
Petit 57
Montgelas 112
Philipp von Orléans 45, 143, 145
Morkel 24, 25, 195, 222
Pindar 81
Personenverzeichnis Pintard 133
Rossiter 271
Piranesi 170
Rousseau 9, 12, 17, 21, 3 1 - 3 4 , 3 7 - 3 9 ,
Pisa 232
51,54, 59, 66, 99, 101, 103-105, 109,
Plato 11,55,81, 119, 121, 123, 272
111, 117, 118, 133, 134, 164, 176, 194,
Polley 24
209, 238, 260, 262, 263
Polman 126
Royer-Collard 125
Polybios 122, 269
Ruchti 213
Pompejus 65
Rushdie 279
Posner 174, 225, 226, 233 Poullain de la Barre 258, 261
Saint-Just 209,211
Preuss 225
Saint-Simon 59, 149
Pröhl 234
Sakmann 201, 235
Prudhomme 251
Saladin d'Onex 97
Pufendorf 172, 177, 184
Sarvey 8
Pütter 187, 188, 193
Savigny 16, 87 Schalk 13,20, 25, 117, 205
Quesnay 128 Racine 101 Radbruch 14, 17, 19, 21, 22, 107, 112, 114,153 Rahimieh 279 Ranke 125 Ratzel 18 Raumer 185 Rausch 22
Schaumburg-Lippe 223 Scheler 20 Schieder 219 Schiller 17, 171, 176, 185, 194, 231 Schlözer 170, 176, 193, 194 Schmidt, E. 19, 112, 114, 154, 231 Schmidt, S. J. 25,214 Schmitt 9, 12, 18, 19, 21, 30, 57, 113, 154 Schmücker 13
Raymond 133
Schnabel 126
Rehm 40, 62, 122, 171
Schnegg 262
Richelieu 63, 75, 93, 144
Schneider 166
Richer 42
Schreiter 173
Riedel 174
Schuckert 195
Riegger 24
Schuller 273
Riescher 22
Schulte 279
Riklin 26, 28, 29, 265, 266, 269, 270, 272
Schunck 210
Ritter 85
Sengle 174
Rosenkranz 74
Servius Tullius 38
Rosenzweig 89
Seth 279
288
Personenverzeichnis
Shackleton 26, 126, 135, 140, 150, 161,
Teutschenbrunn 173
164, 170, 172, 220, 222, 226, 230, 249,
Thiébault 221
267
Thieme 178, 228
Shaftesbury 121, 174
Thomas 123, 162, 163, 272
Shakespeare 136
Thomasius 60, 177, 190
Sidney 267, 268
Tiffin 279
Sieyès 31, 111
Timur 196
Simmel 29, 275, 277
Tiryakian 278
Simon 149
Tocqueville 40, 58, 125, 232, 275
Skalweit 223, 232, 233
Toldo 219
Smend 18
Trescher 89
Smith 9, 31, 34, 37, 38, 130, 131, 175
Troeltsch 131
Solon 176
Trublet 173
Sombart 264
Turgot 61, 249, 275,278
Sorel 19, 73, 107, 113 Spencer 29, 275-277
Ungern-Sternberg 190
Spinoza 120 Spittler 193, 194
Valéry 203
Spitzer 119
Vauban 128
Spurlin 273
Vernet 151
Stackelberg 257
Vian 41, 45, 61
Stammen 22
Vico 66, 77
Stark 211
Vierhaus 7, 23,24, 169, 222
Starobinski 25
Villemain 131
Steffani 167
Voegelin 278
Stewart 175
Voltaire 12, 42, 43, 45, 49, 61, 95, 96,
Stodtmann 195
148, 164, 173, 175, 176, 180, 183, 201,
Stölzel 192, 231,238
220-224, 232-235,239
Storing 273
vom Stein 7, 112, 175
Strube 175
Voßler 11
Struck 95 Sulla 64, 65
Waddicor 241
Svarez 24, 176, 192, 228,238
Wagner 29,219, 275,279 Wahl 59
Tacitus 31, 176, 193
Walcott 279, 280
Talleyrand 225
Warburg 13
Tenbruck 277
Warburton 132
Personenverzeichnis Ward 63
Wilhelm 24
Watt 160
Wilhelm I. 39
Weber 14, 19, 20, 29, 103, 275-277
Wilhelm II. 9
Weckel 263
Winckelmann 133, 174, 178
Weigand 251
Wittfogel 196
Weil 196
Wolff 177, 190, 223
Weinacht 7, 8, 28, 274
Wolters 58
Welcker 201
Wortley Montague 261
Wember 28
Würtenberger 230
Wieacker 164 Wieland 174, 176, 194
Zemon Davis 261
Wiese 185
Zimmermann 183, 213