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German Pages 318 [319] Year 2022
Daniel Meyer, Julia Reuter, Oliver Berli (Hg.) Ethnografie der Hochschule
Science Studies
Daniel Meyer (M.A.) ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bereich Erziehungsund Kultursoziologie an der Universität zu Köln und Doktorand am Max-PlanckInstitut für Gesellschaftsforschung. Julia Reuter (Dr. phil.) ist Professorin für Erziehungs- und Kultursoziologie an der Universität zu Köln. Oliver Berli (PD Dr. phil.) ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bereich Erziehungs- und Kultursoziologie an der Universität zu Köln.
Daniel Meyer, Julia Reuter, Oliver Berli (Hg.)
Ethnografie der Hochschule Zur Erforschung universitärer Praxis
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Inhalt
I Ethnografie der Hochschule: Positionen und Perspektiven Ethnografie der Hochschule: Ein Forschungsprogramm Oliver Berli, Julia Reuter, Daniel Meyer ............................................... 9
Zum Fremdeln zwischen Ethnografie und Hochschulforschung Julian Hamann.................................................................... 39
Einblicke und neue Perspektiven: Ethnografische Annäherungen an das Feld Hochschule Sophia Richter, Barbara Friebertshäuser ............................................ 59
II Ethnografien hochschulischer Settings Instruktion und ihre Teilnehmer: Was ist in einem Seminar? Kornelia Engert ................................................................... 83
Öffnung der Blackbox Hochschullehre durch kollaborative Autoethnografie Autor:innengruppe AEDiL ......................................................... 107
Brauchbare Operationalisierungen: Prüfungsbezogene Interaktionen von Studierenden im Internet Tanya Tyagunova................................................................. 127
Die Hochschulbibliothek als Lernort Zugänge und Befunde einer ethnografischen Nutzungsforschung Kerstin Schoof .................................................................... 151
Organisiertes Engagement: Das Innenleben studentischer Vereinigungen Daniel Meyer ..................................................................... 173
Überschneidungen und Grenzziehungen: Dinge der Hochschule im Schnittfeld sozialer Welten Tobias Röhl ...................................................................... 193
Diszipliniertes Denken: Lesen und Schreiben an Hochschulen Björn Krey ........................................................................ 211
Fakultäten als Adressatinnen von Gleichstellungspolitik Eine ethnografische Fallstudie Theresa Lempp .................................................................. 231
»Mein Gott, das war das glücklichste Jahr in meinem Leben« Das Wissenschaftskolleg zu Berlin als Milieu und Offenbarung. Zur Ethnografie einer anti-universitären Institution Thomas Etzemüller............................................................... 251
Praxeologie der Ethnografie Christian Meier zu Verl............................................................ 275
Ein ethnografischer Selbstversuch im double bind Franz Schultheis ................................................................. 299
Autor:innen .................................................................. 313
I Ethnografie der Hochschule: Positionen und Perspektiven
Ethnografie der Hochschule: Ein Forschungsprogramm Oliver Berli, Julia Reuter, Daniel Meyer
1 Befremdung der Hochschule in pandemischen Zeiten Im November 2020 verabreden wir uns, um die Planungen für den vorliegenden Band zu besprechen. Es ist das zweite Semester, das aufgrund der Covid-19-Pandemie digital stattfindet und die Universitätsflure erscheinen ruhig, ja geradezu verwaist. Bei offenen Fenstern und in weitem Abstand zueinander sitzen wir zu dritt in einem Besprechungsraum, der vormals für 25 Personen zugelassen war. Um die Ethnografie der Hochschule soll es gehen. Die Idee entstand in einer Zeit, in der noch lebhafter Betrieb auf Fluren und in Hörsälen war und sich das Leben der Hochschule – jenseits von Inzidenzzahlen – uns regelrecht aufdrängte: Der Campus als sozialer Raum, bevölkert von Menschen und Dingen, aufgeteilt in vielfältige Settings, in denen ganz unterschiedliche Handlungsabläufe gleichzeitig passieren: Flyer, die in der Mensa verteilt werden, um auf studentische Veranstaltungen hinzuweisen, Gerangel um die wenigen Arbeitsplätze in der Bibliothek, um sich auf die nächste Prüfung vorzubereiten, Begegnungen im Waschraum mit Menschen, die sich vor einem Vortrag noch einmal frisch machen oder auch Gespräche zwischen Tür und Angel über Schreibblockaden und Hilfsmittel für die Textarbeit. Uns erschien dieser vielfältige Alltag, der in der Forschung selten präsentiert und analysiert wird, einen zweiten Blick wert. Dann kam alles anders. Das Gedränge auf Fluren, vor Mensen und Bibliotheken blieb aus. Homeoffice wurde als Regel eingeführt und sogar im Waschraum galt ›social distancing‹. Die Idee aber blieb. Denn natürlich gab es auch während der Pandemie einen hochschulischen Alltag; zum Teil bei geöffnetem Fenster, zum Teil in den digitalen Raum verlagert, zum Teil mit Begegnungen auf Distanz oder mit Maske. Den Forschenden ist mit den Infektions-
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Ethnografie der Hochschule: Positionen und Perspektiven
schutzmaßnahmen nicht automatisch das Feld weggebrochen (Schiek et al. 2022: 20). Lehrveranstaltungen, Kommissionssitzungen, Tagungen, Sprechstunden und Prüfungen fanden weiterhin statt. Aber die Voraussetzungen, unter denen sie stattfanden, waren nunmehr andere. Um nur ein Beispiel zu nennen: Bevor eine Prüfung online abgehalten werden konnte, stand nun die Frage im Raum, was überhaupt eine Prüfung ausmacht, um sie in den virtuellen Raum zu übersetzen. Positiv gewendet diente die Pandemie der Befremdung des Arbeitsplatzes und der Arbeitspraxis: Architekturen, Raumausstattungen, technische Infrastrukturen ebenso wie Aspekte der körperlichen Kopräsenz, möglicherweise auch die Systemrelevanz von spontanen Begegnungen am Kaffeeautomaten, rückten wie selten zuvor in den Vordergrund und unterstützten, was Ethnografien idealerweise leisten: Die Selbstverständlichkeiten und das Vertraute reflexiv und damit zum Gegenstand der Analyse werden zu lassen. Während wir diese Einleitung schreiben, streifen wieder Studierende durch die Gänge und trinken Kaffee in der Cafeteria; und auch wir halten vereinzelte Seminare in Hörsälen ab und fahren mit dem Zug auf Tagungen im In- und Ausland. Wir verstehen das vorliegende Buch nicht als eine ethnografische Erkundung von Hochschulen in Zeiten einer globalen Ausnahmesituation.1 Gleichwohl denken wir, dass uns die Pandemie für bestimmte Selbstverständlichkeiten sensibilisiert hat. Uns ging es um diese alltägliche Praxis, die sich in unterschiedlichen Settings ereignet und Hochschulen ausmacht. Eine Ethnografie der Hochschule fragt danach, was Hochschule in einem grundsätzlichen Sinne ist; wie, wo und in welchen Formen sie stattfindet und nimmt dabei in Kauf, dass die Antwort darauf möglicherweise uneindeutig bleibt. Sie fragt zudem danach, wie sich der Alltag in Hochschulen erforschen lässt. Diese elementaren Fragen gehen sowohl die Hochschul- als auch die Wissenschaftsforschung an. Sie sollten immer wieder aufs Neue gestellt werden – nicht nur in Zeiten von Pandemien, die Gesellschaften ja ohnehin schon dazu zwingen, auch über das Wesen von Bildung und Bildungseinrichtungen nachzudenken. Ihre Beantwortung lohnt sich auch im Normalbetrieb, und sei es nur, um sich wechselseitig zu versichern, dass Hochschulen noch das sind, was wir meinen, wenn wir von ihnen reden; sie sich also nicht unter der Aufmerksamkeitsschwelle unseres Forschungsalltags und tradierten Begrifflichkeiten unbemerkt gewandelt haben. 1
Siehe dazu aber die Sammelbände von Angenent et al. (2022) und Neiske et al. (2021).
Oliver Berli, Julia Reuter, Daniel Meyer: Ethnografie der Hochschule
Natürlich wird auch in der Hochschulforschung (Kehm 2008; Hüther/ Krücken 2016) über den Wandel der Hochschule nachgedacht: Chancenungleichheiten, Bologna, Internationalisierung, Exzellenz oder Digitalisierung bilden nur einige der Stichworte, die von der Hochschulforschung aufgegriffen werden. Sie lenkt damit ihren Blick auf Fragen, die häufig auch Implikationen für die Bewertung von Hochschulpolitik haben: Wie wirkt sich diese oder jene Reform aus, wie lassen sich bestimmte Organisations- und Steuerungsprozesse in der Hochschule optimieren, welche Verfahren der Qualitätssicherung können in die Forschung selbst integriert werden? Ethnografien hingegen lenken den Blick auf andere Dinge. Sie fokussieren typischerweise bestimmte Akteursgruppen, Praktiken oder Situationen in der Hochschule. Aber sie haben prinzipiell ein holistisches Interesse an der Hochschule und begreifen diese als soziale Welt, in die es möglichst intensiv und umfassend einzutauchen gilt, um sie zu verstehen. Denn egal, wie vertraut uns die Hochschule als Forschende und Lehrende auch erscheinen mag, gilt in der Ethnografie immer noch die Prämisse der Unbekanntheit – gerade auch jenen Welten gegenüber, die wir selbst bewohnen (Amann/Hirschauer 1997: 9). Dies erfordert es, andere Fragen zu stellen und das vielfältige soziale Leben der Hochschule neu zu entdecken.
2 Ethnografie der Hochschule: Anknüpfungspunkte und Wegmarken Für die Analyse des Innenlebens von Hochschulen ist die Ethnografie aus unserer Perspektive also eine naheliegende methodische Wahl. Gleichzeitig ist sie keineswegs der dominante Forschungsstil innerhalb der Hochschulforschung. Diese geht überwiegend quantitativ vor, insbesondere in Form von Surveyforschung, ist in großen Zentren organisiert und arbeitet nicht selten der politischen Steuerung und amtlichen Sozialberichterstattung zu (Wilkesmann 2019). Anknüpfungspunkte für eine Ethnografie der Hochschule lassen sich hingegen eher in der Hochschulsozialisations- und Fachkulturforschung sowie in benachbarten Gebieten wie der Wissenschaftsforschung finden. In der folgenden Literaturschau arbeiten wir wichtige Wegmarken und Anknüpfungspunkte für eine Ethnografie der Hochschule heraus. Neben genuin ethnografischen Untersuchungen finden dabei vereinzelt auch solche Studien Erwähnung, die für eine Ethnografie der Hochschule Bedeutung besitzen, im strengen Sinne aber keine Ethnografien darstellen. Wir beginnen mit Studi-
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Ethnografie der Hochschule: Positionen und Perspektiven
en über die größte Personengruppe an Hochschulen, den Studierenden, und wenden uns dann Untersuchungen über das wissenschaftliche und administrative Personal zu, ehe wir das Kapitel mit einem Überblick wissenschaftssoziologischer Arbeiten schließen.
2.1 Den Studierenden auf der Spur Einen ersten Anknüpfungspunkt stellt die US-amerikanische Studierendenund Hochschulsozialisationsforschung dar, die Colleges als Arenen der Identitätsformung begreift (Stevens et al. 2008; Kaufman/Feldman 2004; zur Impact-of-College-Literatur: Feldman/Newcomb 1969; Mayhew et al. 2016). Gemeinsam ist diesen Untersuchungen, dass sie die Campuskultur in den Mittelpunkt ihrer Analysen stellen und das Collegeleben aus Sicht der Studierenden rekonstruieren. Sie fragen danach, wie Heranwachsende durch ihren Studienalltag navigieren, welche Erfahrungen sie dabei machen und wie sie im Austausch mit Anderen und unter Einfluss spezifischer Studien-, Fachund Organisationskulturen ihre eigene Identität entwickeln. Diese Perspektive liegt bereits dem Forschungsprogramm von Boys in White zugrunde, einer der ersten größeren Hochschulethnografien, die in der interaktionistischen Tradition der Chicago School steht und in den 1950er Jahren an der Medical School der University of Kansas durchgeführt wurde. Howard S. Becker, Blanche Geer, Everett C. Hughes und Anselm L. Strauss (1961) untersuchen darin, wie junge Medizinstudierende in einer doppelten Organisation, bestehend aus Hochschule und Krankenhaus, sozialisiert werden und allmählich in die ärztliche Profession übertreten. Die Forschenden folgten den medizinischen Novizen durch Hörsäle, Labore, Wohnheime und Krankenhausstationen und filterten im Zuge ihrer Analyse all jene Einstellungen und Praktiken heraus, die »common to all students« (ebd.: 22) waren, beispielsweise der Wechsel von einer anfangs idealistischen hin zu einer eher pragmatischen Berufsorientierung. Als Klassiker der Hochschulsozialisationsforschung inspirierte Boys in White eine Vielzahl weiterer Ethnografien über studentische Professionalisierungsprozesse, darunter an Nursing Schools (Olesen/Whittaker 1968), Divinity Schools (Kleinman 1984), Business Schools (Orta 2019; Schleef 2006), Law Schools (Schleef 2006) und Teaching Schools (Everitt 2017). Diese Arbeiten verweisen darauf, dass die Übergänge zwischen Studium und Beruf beziehungsweise Hochschule und Ausbildungsstätte oft fließend sind und daher der Ort der Hochschule nicht zu eng abgesteckt werden sollte. Das studienbegleitende Praktikum ist ebenso wie die Famulatur oder das Referendariat
Oliver Berli, Julia Reuter, Daniel Meyer: Ethnografie der Hochschule
eine entscheidende Phase der beruflichen Sozialisation und sollte daher – im Sinne eines »follow the students« – auch von Hochschulethnograf*innen mit in den Blick genommen werden (siehe z.B. Pille 2013; Freis 2021). Neben diesen genuin professionssoziologischen Arbeiten lässt sich auch eine Reihe von Studien identifizieren, die Sozialisationsprozesse stärker in Verschränkung mit spezifischen Fachkulturen denken (vgl. Scharlau/Huber 2019). Ein gutes Beispiel dafür ist The Language of Law School (Mertz 2007), eine linguistische Ethnografie über das Erlernen der juristischen Fachsprache, die auf detaillierten Beobachtungen von Lehrveranstaltungen an acht amerikanischen Universitäten basiert. Auch andere Untersuchungen zeigen, wie Studierende in die Fachwelt ihrer Disziplin eingeführt werden und dabei einen spezifischen Denk- und Sprachstil ausbilden (z.B. Adler/Adler 2005; Fine 2018; Bäuerle et al. 2020). In erziehungswissenschaftlich geprägten Ethnografien stehen hingegen eher universitäre Lernkulturen im Vordergrund. Im Vergleich von zwei Studiengängen, Physik und Management, zeigt etwa Jan Nespor (1994), das Praktiken des Lernens auch an (fach-)spezifische Räume und Zeiten gebunden zu sein scheinen. Wer sich für Lernkulturen im internationalen Vergleich interessiert, wird in den Fallstudien von Judith Ricken (2011) und Tanya Tyagunova (2017) fündig, wo neben deutschen auch schwedische beziehungsweise belarusische Hochschulen ethnografisch beforscht werden. Dass die Studienerfahrung mehr als das bloße Studium eines Faches ist und Hochschulen nicht nur Ausbildungsstätten, sondern auch Lebensräume von Heranwachsenden sind, stand in den College-Ethnografien von Anfang an fest. So veröffentlichte Willard Waller bereits 1937 einen ethnografisch angehauchten Artikel über die studentische Dating- und Bewertungskultur an amerikanischen Colleges. Waller nimmt hier früh vorweg, was Howard S. Becker, Blanche Geer und Everett C. Hughes (1968) in ihrer zweiten Hochschulethnografie, Making the Grade, en détail beschreiben: nämlich eine ausgeprägte Orientierung der Studierenden an guten Noten, denen als Prestigeindikatoren auch jenseits des Curriculums eine große Bedeutung zukommt, etwa beim Knüpfen von Freundschaften, bei der Aufnahme in Studierendenverbindungen oder eben beim Anbahnen intimer Beziehungen (Becker et al. 1968: 43–62; Waller 1937). Neben einem anhaltend großen Interesse am sexuellen Leben von Studierenden, insbesondere mit Bezug zur oft diagnostizierten »hookup culture« (Beste 2018; Wade 2017; Hirsch/Khan 2020), geraten auch immer wieder neue Aspekte des Campuslebens in den ethnografischen Blick, darunter die Erfahrungen von College-Athleth*innen (Adler/Adler 1985), die Prioritäten von Studienanfänger*innen (Nathan 2005) oder der Mikrokos-
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Ethnografie der Hochschule: Positionen und Perspektiven
mos des politischen Aktivismus (Binder/Wood 2013; Binder/Kidder 2022). Ein weiterer Teil der Erkundungen widmet sich dem übergreifenden Thema der sozialen Ungleichheit und fragt nach den klassen-, ethnie- und geschlechterspezifischen Erfahrungen im Hochschulleben (z.B. Stuber 2011; Lee 2016; Jack 2019; Silver 2020). In Paying for the Party, einer der wenigen Langzeitethnografien in diesem Themenfeld, folgen Elizabeth A. Armstrong und Laura T. Hamilton (2013) einer Kohorte von rund 50 Frauen für fünf Jahre durch das Studium und zeigen, wie sich Klassenungleichheiten durch das exzessive Partyleben in Sororities reproduzieren. Auffällig ist indessen, dass nur wenige Ethnografien über das studentische Leben an deutschen Hochschulen vorliegen (Pfaff-Czarnecka 2017; Richter/Friebertshäuser 2019). Dies mag einerseits an den kulturellen Unterschieden zwischen amerikanischen Colleges und deutschen Hochschulen liegen, verweist andererseits aber auch auf eine noch nicht ausreichend bedachte Perspektive in der hiesigen Hochschulsozialisationsforschung. Dabei gibt es mit Barbara Friebertshäusers früher Studie (1992), in der sie Riten der hochschulischen Initiation – von der Begrüßungsveranstaltung über die Einführungswoche bis hin zu Prozessen der Selbstinitiation – analysiert und nebenbei auch noch die Studienkultur im Marburg der 1980er Jahre beschreibt, durchaus Anknüpfungspunkte. Ähnliches gilt für Kerstin Gothes und Michaela Pfadenhauers (2010) explorative Untersuchung über die studentische Nutzung, Wahrnehmung und Bewertung des Campusraums in Karlsruhe, die auf detaillierten Logbüchern von Studierenden basiert. Dass sich Studierende häufig selbst beforschen, wird in der Hochschulethnografie nur selten thematisiert. Dabei wird übersehen, dass Student*innen aufgrund ihres Alters und ihrer Vertrautheit mit der Campuskultur gern gesehene Forschungsassistent*innen sind und manchmal auch als beobachtende Teilnehmer*innen eingesetzt werden. Dies gilt ganz besonders für ansonsten nur schwer zugängliche Settings und Praktiken. In ihrer Studie über die Hookup Culture an katholischen Colleges setzte Jennifer Beste (2018) etwa 126 »student ethnographers« ein, die sie über ihre eigenen Kurse rekrutierte. Ähnliches lässt sich auch im Rahmen von Lehrforschungsprojekten beobachten, in denen Studierende unter professioneller Anleitung ethnografisch tätig werden und einen befremdeten Blick auf ihre eigene Studien- und Fachkultur
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werfen (Richter/Friebertshäuser 2019; Robinson 2020).2 Nicht zuletzt lassen sich eine Vielzahl von Projekten identifizieren, die sich an der Grenze zur wissenschaftlichen Ethnografie bewegen, nämlich all jene autobiografischen, mitunter auch journalistischen oder künstlerischen Erfahrungsberichte über das eigene Studium – von Scott Turows One L (1977) bis hin zu Senami Hotses #unirassismuskritisch.
2.2 Dem Hochschulpersonal auf der Spur Studierende sind nicht die einzige Personengruppe auf dem Campus; auch Forschende und Lehrende, Managende und Mitarbeitende – kurz: Angestellte auf Positionen und in Einrichtungen aller Art – bevölkern die Hochschule. Im Vergleich mit der Studierendenforschung wurde das akademische Leben an Hochschulen jedoch erst deutlich später auf die Agenda gesetzt. Mit Burton R. Clarks The Academic Life (1987), Tony Bechers Academic Tribes and Territories (1989) sowie Pierre Bourdieus Homo academicus (1988) erschienen Ende der 1980er Jahre dann aber gleich drei größer angelegte Untersuchungen. Als »monumentale Ethno-Studie des universitären Milieus« (Hassauer 1994: 6) bietet vor allem letztere Untersuchung wichtige Anknüpfungspunkte für eine Ethnografie der Hochschule im europäischen Kontext. Die empirische Grundlage in Homo academicus bilden quantifizierbare Daten, aber sie werden quasi-ethnografisch ausgewertet: die soziale Herkunft, der Wohnort, die Schulabschlüsse, politischen Einstellungen, Konfessionen, Publikationszahlen, Zitierhäufigkeiten, Ämter und Mitgliedschaften der professoralen Kolleg*innen. Die universitäre Welt des homo academicus wird am Beispiel von Frankreich durch eigene Gesetze und ernste Spiele charakterisiert, in denen es nicht nur um wissenschaftliche Erkenntnisse, sondern auch um sublime Konkurrenzkämpfe und Wettbewerbe zwischen und innerhalb der Disziplinen geht, um strategische Bündnisse, Eitelkeiten und Distinktionen. Bourdieus Arbeiten, die Wissenschaft als Kampffeld und Wissenschaftler*innen als Akteure in Erscheinung treten lassen, die permanent um hohe Positionen beziehungsweise den Erhalt oder die Veränderung der Konfigurationen dieser Kräfte und damit um die legitimen Spielregeln und Sichtweisen des Feldes kämpfen (vgl. Bourdieu/Wacquant 1996: 132), haben zahlreiche 2
Davon inspiriert haben wir (Daniel Meyer und Julia Reuter) im Sommersemester 2020 ebenfalls ein ethnografisches Lehrforschungsprojekt über studentische Fachkulturen angeboten.
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Arbeiten inspiriert. Darunter auch Studien der Frauen- und Geschlechterforschung, die sich der fachlichen Sozialisation und Hervorbringung des homo academicus als legitime, das heißt, im diziplinären Feld anerkannte wissenschaftliche Persönlichkeit widmen und fragen, wie dabei soziale und insbesondere geschlechtliche Ungleichheiten reproduziert werden. Vor allem in Überschneidung zur Wissenschaftsforschung finden sich einige Studien, die unter Rückgriff auf Bourdieus Konzept des sozialen Feldes praxeologisch argumentieren und ethnografische Perspektiven nahelegen. Zu erwähnen wäre hier zunächst Steffani Englers (2001) Arbeit über die Konstruktion wissenschaftlicher Persönlichkeiten, in der sie auf Grundlage biografischer Interviews die wechselseitige Konstitution von Geschlecht und (fach-)wissenschaftlichem Habitus sowie Leistung und Anerkennung im wissenschaftlichen Feld rekonstruiert. Diese Arbeit knüpft an eine frühere Studie zum fachkulturellen Habitus von Studierenden an (Engler 1993), in der auch Daten aus teilnehmenden Beobachtungen und Fotografien zum Einsatz kommen. Seither gibt es im Umfeld der Hochschulsozialisations- und Fachkulturforschung immer wieder Arbeiten, die auf ethnografische Beobachtungen zurückgreifen. In dieser Tradition stehen etwa auch Bütow et al. (2016), die anhand der räumlichen Anordnung von Lehrsituationen fachspezifische Geschlechterhierarchien rekonstruieren. Explizit ethnografisch arbeitet Sandra Beaufaÿs (2003) in ihrer Studie zur Konstruktion von Geschlecht in der Biochemie und Geschichtswissenschaft. Sie zeigt dabei die Bedeutung der fachspezifischen Organisationsund Arbeitsformen, Zeitstrukturen, aber auch Leistungskriterien und Anerkennungspraxen auf. Ebenfalls an der Verschränkung von doing science und doing gender setzen Bettina Heintz, Martina Merz und Christina Schumacher (2004; 2007) an. In ihrer vergleichend angelegten ethnografischen Studie untersuchen sie die Art und Weise, wie Geschlechterdifferenzen im Arbeitsalltag unterschiedlicher Disziplinen relevant werden – oder eben nicht. Vermutlich liegt genau hierin das ethnografische Potenzial, denn um die Verschränkung von doing science und doing gender aufzudecken (vgl. Beaufaÿs/Krais 2005; Krais 2000), braucht es eine tiefe, das heißt, intensive und langfristige Auseinandersetzung mit der jeweiligen informellen Wissenschaftskultur (Pickering 1992). Wissenschaft, so ließe sich pointiert resümieren, ist ein »deep play«: Dem äußeren Anschein nach geht es um Wissen und wissenschaftliche Leistung; in Wirklichkeit geht es jedoch um
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Macht zwischen unterschiedlichen Milieus, Geschlechtern und Ethnizitäten sowie ihre Verschränkung.3 Ergänzt werden die bisher genannten Studien um solche Arbeiten, die in Anlehnung an Bourdieu (2002) als Versuche einer autoethnografischen Hochschulforschung gelesen werden können. Damit rücken Selbstzeugnisse des homo academicus in den Vordergrund, insbesondere solche, die bestimmte Differenzerfahrungen in der Hochschule zum Gegenstand haben. Exemplarisch sei hier auf die Studie zum sozialen Aufstieg in der Wissenschaft von Reuter et al. (2020) verwiesen, die anhand autobiografischer Skizzen von Professor*innen aus nicht-akademischen Herkunftsmilieus soziale Selektionsprozesse in der Wissenschaft zum Thema macht. Über die Binnensicht auf Klassismus, Rassismus und Sexismus in Wissenschaft und akademischen Karrierestrukturen hinaus wird in den Selbstzeugnissen auch über den Einfluss dieser Erfahrungen auf den eigenen wissenschaftlichen Habitus in Forschung und Lehre nachgedacht. Ein besonderes Ausmaß an Selbstreflexion zeigt indessen auch der homo ethnographicus, nämlich immer dann, wenn er sich in seinem Feld als Forschender zu positionieren versucht oder seine Felderfahrungen in Form von Lehrbüchern an zukünftige Ethnograf*innen weitergibt (z.B. Sancho-Gil/Hernández-Hernández 2021; Wieser/Pilch Ortega 2020). Indessen fällt auf, dass Akademiker*innen vorwiegend in ihrer Rolle als Wissenschaftler*innen in den Blick genommen werden; nur selten werden sie als Lehrende oder gar Gremienmitglieder behandelt. So stellt Michel Antebys Manufacturing Morals (2013) eine der wenigen Ethnografien dar, die den Lehrkörper in den Mittelpunkt ihrer Analysen stellen. Aus der Perspektive eines Lehrenden an der Harvard Business School kann er dabei zeigen, wie dem Managementnachwuchs – nebenbei und implizit – gewisse Moralvorstellungen vermittelt werden. Wie sich hingegen digitale Hochschullehre autoethnografisch reflektieren lässt, demonstriert die Autor*innengruppe AEDiL (2021) anhand von Erfahrungsberichten aus dem ersten Pandemiejahr. Forschungen dieser Art sind wichtig, da sie die im vorherigen Kapitel beschriebene Studierendenforschung um die Sichtweise von Lehrenden ergänzen und die
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Allerdings ist eine intersektionale Perspektivierung pädagogischer Differenzordnungen bislang vor allem in einer rassismuskritischen Hochschulforschung vorzufinden, die zwar auf autoethnografische Erfahrungen Bezug nimmt, aber sich strenggenommen nicht als Hochschulethnografie versteht (z.B. Ahmed 2012; Overstreet et al. 2021).
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Hochschulethnografie für unterschiedliche Perspektiven auf ein und dasselbe Setting (Lehre) sensibilisiert. Ausgespart wurde lange Zeit auch der große Bereich nicht-wissenschaftlicher Tätigkeiten. Trotz eines frühen organisationssoziologischen Interesses an der Komplexität und Vielschichtigkeit von Hochschulen (bereits ethnografisch: Clark 1960) wurde das Hochschulmanagement und die diversen Reformprozesse an Hochschulen erst in den letzten Jahrzehnten wieder ausführlicher beforscht (z.B. Parker/Crona 2012; Wright et al. 2019). In Wannabe U beschreibt Gaye Tuchman (2009) etwa, wie eine neue Klasse von Hochschuladministrator*innen beginnt, Universitäten wie Unternehmen zu lenken, um sie fit für den globalen Wettbewerb zu machen. Dazu passt auch die immer größere Bedeutung, denen mittlerweile Career Services an Universitäten beigemessen wird. Ausgehend vom Diskurs um das unternehmerische Selbst, untersucht Laura Glauser (2016) in ihrer Feldstudie, wie in Career Services Techniken der Selbstoptimierung, des Selbstmarketings und des Selbstmanagements erprobt werden. In die Welt der Campus Recruitings entführt uns auch Pedigree (Rivera 2015), eine Studie, die zeigt, wie die Investmentbanker*innen, Unternehmensberater*innen und Jurist*innen von morgen an Eliteuniversitäten rekrutiert werden. Unter dem Deckmantel einer meritokratischen Bestenauslese und der Rhetorik von Talent und Leistung werden in Wirklichkeit Klassen reproduziert. Diese Arbeit unterstreicht, dass das Innenleben von Hochschulen nicht nur von ›Einheimischen‹ bestimmt wird, sondern auch von ›Gästen‹ (z.B. Campus Recruiter, Gastvortragende). Komplementär dazu lassen sich die Ethnografien von Mitchell L. Stevens (2007) und Julie R. Posselt (2016) lesen, die als teilnehmende Beobachter*innen Zulassungskomitees beforscht haben, also jene Stellen, die über die Vergabe von Studienplätzen entscheiden. Beide Untersuchungen geben Einblicke in die Aushandlungsprozesse und Entscheidungen von Administrator*innen, die zwischen konkurrierenden Anforderungen – darunter Leistung, Diversität, einflussreichen Eltern, aber auch sportliches Talent – abwägen müssen. Dass die Ethnografie traditionell Gefallen an eher außergewöhnlichen Settings und Gruppen findet, zeigt sich neben den bereits diskutierten Studien in einer Vielzahl weiterer ethnografischer Erkundungen, darunter universitärer Help-Desks (Seeley 2021), Hochschulbibliotheken (Nix et al. 2019; auch Schoof in diesem Band), Fakultätsgremien (Lempp et al. 2018) oder gar der Campus Police (Inoue 2020).
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2.3 Den Erkenntnisprozessen auf der Spur Während Ethnografien über Studierende typischerweise an Hochschulen und Universitäten stattfinden, sind Feldstudien über Wissenschaftler*innen und ihre Arbeit räumlich diverser. Neben Hochschulen werden etwa auch Praktiken in Wirtschaftsprognoseinstituten (Reichmann 2018), Statistikbüros (Peneff 1988), außeruniversitären Kollegs (Etzemüller in diesem Band) oder der NASA (Vertesi 2015) ethnografisch beforscht. Die Untersuchung wissenschaftlicher Praktiken in unterschiedlichen Kontexten mit den Mitteln der Ethnologie und qualitativen Sozialforschung ist innerhalb der Science and Technology Studies entstanden. Die klassischen Arbeiten dieses Genres (Knorr Cetina 1984; Latour/Woolgar 1986; Lynch 1985; Traweek 1988) wendeten sich primär der Forschung im Labor zu. Von den bislang vorgestellten Ethnografien unterscheiden sie sich durch ihren Fokus auf epistemische Praktiken. Wenn beispielweise Sharon Traweek (1988) die Welt der Hochenergiephysik untersucht, dann interessiert sie sich nicht nur für die Weltsicht von Physiker*innen, ihre wissenschaftliche Gemeinschaft und fachliche Sozialisation, sondern vor allem auch für die Produktion von Wissen in diesem Feld (ebd.: 1). Labore und Forschungseinrichtungen werden bei Traweek und anderen Ethnograf*innen zu Feldern, in denen die alltägliche Herstellung von wissenschaftlichem Wissen untersucht wird. Hierbei kommt den Naturwissenschaften und ihrer Erkenntnisproduktion eine strategisch wichtige Position zu, da sie vormals in weiten Teilen der Wissenschaftsphilosophie einen epistemischen Sonderstatus zugewiesen bekamen. Diesen Sonderstatus verlieren sie nun. Studien wie Laboratory Life (Latour/Woolgar 1986) vermitteln detaillierte Einblicke in die Übersetzung von Labortätigkeiten in Vorträge, Manuskripte und letztlich Publikationen. In dieser Perspektive bringt das Labor, seine Ausstattung sowie seine Akteure und deren Aktivitäten »literarische Inskriptionen« hervor. Den alltäglichen Praktiken des Auf-, Um- und Einschreibens widmen sich Bruno Latour und Steve Woolgar mit großer Aufmerksamkeit. Den vermeintlich banalen Routinen des wissenschaftlichen Alltags kommt in dieser Perspektive größte Bedeutung für die Soziologisierung der Ergebnisse von Forschung zu. In ähnlicher Manier zeichnet auch Karin Knorr Cetina in Die Fabrikation von Erkenntnis (1984) die Kontextualität und den Konstruktionscharakter von naturwissenschaftlichen Erkenntnissen nach. In ihrer Ethnografie zeigt sie auf, wie Entscheidungen zustande kommen, welche Anschlusshandlungen diese selegieren, wie die Wahl für bestimmte technische Instrumente oder Präparate im Labor getroffen wird, welche Rolle dabei Kostenabwägungen oder
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die Attraktivität für außerwissenschaftliche Institute spielt, welche Handhabungsfertigkeiten die Geräte im Labor verlangen, wie die Forscher*innen und ihre Teams miteinander sprechen, welche Semantiken sie etwa dabei benutzen, wie sie festlegen, was als Problem und was als Problemlösung, was als Innovation und was als nur akzeptables Resultat gilt (vgl. Hitzler/Honer 1989). Darüber hinaus zeigen Ethnografien epistemischer Praktiken auch, wie ungeordnet der Alltag der Wissenschaft ist und wie sehr Wissenschaftler*innen – aller Fächer – auf Verfahren und Hilfsmittel angewiesen sind, um eine Ordnung des Wissens erst herzustellen: Hierzu zählen räumliche Infrastrukturen, um Forschung und kommunikativen Austausch zu ermöglichen, ebenso wie Protokolle und Computerprogramme, um Forschungsgegenstände zu beschreiben, Daten zu erfassen, zu speichern, zu übersetzen, zu quantifizieren oder Texte zu produzieren (z.B. Krey 2020) und schließlich auch Körper, um mit diesen Geräten hantieren zu können. Die klassischen Laborstudien und an sie anschließende Untersuchungen haben die Relevanz von Technik und Artefakten im Herstellungsprozess wissenschaftlichen Wissens deutlich gemacht. So sensibilisiert die Lektüre einer Studie wie Laboratory Life (Latour/Woolgar 1986) für die analytische Relevanz materieller Kultur in der (naturwissenschaftlichen) Forschung. Im Unterschied zu anderen sozialtheoretischen Perspektiven – wie dem Sozialkonstruktivismus – kommt hier den Dingen nicht nur Bedeutung zu, insofern menschliche Akteure sich zu ihnen verhalten und ihnen Sinn geben. Vielmehr regen die klassischen Laborethnografien dazu an, die Materialität wissenschaftlichen Alltags stärker zu berücksichtigen. Dies ist zum Teil der ethnografischen Vorgehensweise geschuldet, die eine »Überwindung der Sachvergessenheit« (Liburkina/ Niewöhner 2017: 182ff.) ermöglicht. Konsequenterweise werden Latour und andere Forscher*innen in der Folge intensiv die Frage nach der Handlungsträgerschaft nicht-menschlicher Entitäten verhandeln. Wie immer man sich als Forscher*in bezüglich dieser Frage verorten mag, eine Positionierung erscheint vor dem Hintergrund der klassischen Laborstudien und der Weiterentwicklungen in den Science and Technology Studies unumgänglich. Die klassischen Laborethnografien greifen auf unterschiedliche Bezugstheorien zurück – so verfolgt beispielweise Michael Lynch in seiner Studie Art and Artifact in Laboratory Science (1985) einen entschieden ethnomethodologischen Ansatz – sind aber vereint in ihrem dezidiert empirischen Zugang zur Konstruktion naturwissenschaftlichen Wissens und ihrem Zugriff auf das Labor als soziale Form der Wissenschaft (Knorr Cetina 1988: 87). Zumindest blieben für lange Zeit Physik, Biologie und Mathematik – womöglich auch we-
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gen ihres Fremdheitscharakters für sozialwissenschaftliche Ethnograf*innen (Reuter 2013: 16f.) – die favorisierten Untersuchungsfelder (z.B. Heintz 2000). Dabei schärfen sie grundsätzlich den Blick für die Kontextgebundenheit und den Konstruktionscharakter jeglicher wissenschaftlichen Forschung. Die Erkenntnispraktiken der Geistes- und Sozialwissenschaften stehen jedoch, relativ betrachtet, seltener im Fokus der empirischen Wissenschaftsforschung. Das heißt nicht, dass es nicht inspirierende Beispiele gibt. Zum einen gibt es eine lange Tradition der Selbstthematisierung und -reflexion innerhalb der soziologischen Feldforschung. So finden sich in zahlreichen Lehr- und Handbüchern sowie in den Methodenkapiteln qualitativer Studien auch Überlegungen, die über die bloße Beschreibung der eigenen Rolle im Feld hinausgehen, mitunter sogar weitreichende Debatten auslösen (z.B. Clifford/Marcus 1986). Neben diesen Spielarten von reflexiver Feldforschung gibt es auch stärker methodografisch argumentierende Arbeiten, also Analysen, die vor allem den Blick auf spezifische Aspekte der methodisch angeleiteten Herstellung und Auswertung von Daten in sozialwissenschaftlichen Kontexten lenken. Exemplarisch hervorheben lässt sich Christian Meier zu Verls (2018) ethnomethodologisch ausgerichtete Studie Daten-Karrieren und epistemische Materialität. In dieser Ethnografie der Ethnografie versucht er mehrere Fragen anhand der Rekonstruktion eines erziehungswissenschaftlichen Forschungsprojekts zu beantworten: Erstens die Frage nach der Genese ethnografischer Daten, zweitens die Frage nach der Spezifität der ethnografischen Arbeitspraxis und drittens die Frage nach der Herstellung wissenschaftlicher Güte (ebd.: 3). Diese und verwandte Fragen gehören zum thematischen Repertoire aktueller Arbeiten, die sich den Praktiken der Wissensproduktion in Geistes- und Sozialwissenschaften zuwenden (z.B. Berli 2021; Meier zu Verl/Tuma 2021; Neubert/ Trischler 2021; Schindler 2018). Eine Ethnografie der Ethnografie muss jedoch nicht zwangsläufig den Fokus auf die Wissensproduktion begrenzen, wie die Arbeiten von Debora Niermann (2020; 2021) zu »urban ethnographers« in den USA zeigen. Hierin zeigt sie auf, welche aktuellen Entwicklungen und Debatten der amerikanischen Ethnografielandschaft im deutschsprachigen Raum zur Kenntnis genommen werden sollten. So arbeitet sie beispielsweise die Kontroverse um Alice Goffmans Studie On the Run (2014) auf und zeigt so die Krise bestimmter Formen ethnografischer Kredibilität auf. Damit thematisiert sie in grundlegender Weise – wie auch Christian Meier zu Verl – das Verhältnis von ethnografischer Praxis und wissenschaftlicher Güte.
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3 Ethnografie der Hochschule: Leerstellen und Programmatik Unser Überblick über die ethnografische Forschung an und im Umfeld von Hochschulen macht eines deutlich – gerade im Unterschied zum Mainstream der Hochschulforschung: Hochschulen sind aufgrund ihrer Doppelexistenz als Organisationen des Wissenschafts- und Erziehungssystems mehr als Orte der Forschung. Sie sind auch Lehranstalten, Träger politischer Reformen und (Weiter-)Bildungsstätten. Sie begegnen uns als Arbeitsplätze, Sozialisationsräume, Verwaltungseinheiten, Begegnungs- und Protestorte, die Wissenschaftler*innen, Student*innen und Verwaltungsmitarbeiter*innen beherbergen. Sie sind aber auch durch Alltagsdinge, Architekturen und technische Artefakte wie Wandtafeln, Mensageschirr, Sanitärräume oder Beamer zu charakterisieren. Diese Vielfalt bleibt in der Hochschul- und Wissenschaftsforschung relativ unterbelichtet. Vielleicht sollte sie aber genau hier ansetzen, um neue Fragen zu den Praktiken in Berufungskommissionen, zu Ritualen wie Abschiedsvorlesungen oder zur Rolle von Hausmeistern zu entwickeln. Aber auch Erfahrungen von wenig(er) einflussreichen ›Bewohner*innen‹ der Universität, ihren Diskriminierungserfahrungen aufgrund von Behinderung, Migrationsstatus oder sozialer Herkunft, wie auch unpopuläre Themen – beispielsweise das Scheitern von Forschung – könnten ethnografisch aufgeschlossen werden. Ethnografische Analysen der universitären Praxis gepaart mit der Heuristik der Entdeckung des Unbekannten (vgl. Amann/Hirschauer 1997: 9) erscheinen uns für innovative Fragestellungen geradezu prädestiniert. Zumindest sind Hochschulethnograf*innen tendenziell eher von der Idee einer Unmöglichkeit der Überschaubarkeit von Hochschule oder einer (kausalen) Modellierung universitärer Praxis überzeugt. Einerseits, weil sie aufzeigen, dass ungeordnete Praktiken zum Hochschulalltag gehören und die Exploration von Hinterbühnen oftmals überraschende Zugänge zu Routinen des Normalbetriebs eröffnen (vgl. Thomas 2019: 71). Andererseits, weil sie sich vor allem auch für die widerspenstigen Praktiken und Taktiken gegen allzu funktionale Zumutungen der Macht interessieren (vgl. Certeau 1988): Wo das Bologna-Programm immer verschultere Studienverlaufspläne vorgibt, wird auch ›außerplanmäßig‹ studiert, wo Gleichstellungsprogramme Chancengerechtigkeit versprechen, wird trotzdem sozial selektiert, wo Lehrverwaltungssysteme die Wahlmöglichkeiten aufgrund limitierter Veranstaltungsräume einschränken, werden Strategien der Mehrfachbelegung angewandt, wo Uniund Seminarbibliotheken ihren Besucher*innen klare Nutzungsregeln auf-
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erlegen, werden zur Prüfungsvorbereitung Bücher heimlich umsortiert, bekritzelt oder geklaut. Man könne diese Aufzählung von Listen und Finten ohne Weiteres fortsetzen. Als Forschungsthemen finden sie sich selten. Vielleicht erscheinen sie zu profan angesichts einer Organisation, die für Intellektualität und Bildung par excellence steht und den homo academicus als Forscher entwirft, der sein Leben ausschließlich der wissenschaftlichen Erkenntnis widmet. Womöglich geht dieses Verständnis von ›higher education‹ latent auch in manche Fragestellungen der Hochschulforschung ein. Gleichzeitig lässt sich argumentieren, dass die Hochschulforschung ein Selbstobjektivierungs- und Selbstüberschätzungsproblem besitzt (vgl. Wilkesmann 2019: 39ff.). Schließlich wird sie in der Regel von Hochschulmitgliedern betrieben, das heißt, von Akteuren, die nicht nur über ihre eigene Organisation, sondern auch über ihre eigene Lebenswelt forschen und damit ein eigenes Interesse an dem Feld besitzen, das sie beforschen. Dies ist für die Erkenntnisinteressen wie auch für die konkrete Forschungspraxis von Bedeutung. Pierre Bourdieu (1988) hat diese Risiken der Verstrickung zwischen Forscher*in und Forschungsgegenstand im Vorwort zu Homo academicus eindrücklich beschrieben und als methodisches, erkenntnistheoretisches wie politisches Problem identifiziert. Auch Julian Hamann (in diesem Band) merkt an, dass die Verstrickung mit dem eigenen Forschungsgegenstand ein epistemologisches Risiko, vor allem aber auch forschungsethische Fragen in sich birgt, bei der die Zusicherung von Anonymität und Vertraulichkeit sicher einen großen Raum einnehmen. Selbstreflexivität in Form von teilnehmender Objektivierung (Bourdieu 2002) gilt daher als wichtiges Moment der Forschung universitärer Praxis, die gerade auch im Ausgleich zur Anwendungs- und Praxisorientierung der Hochschulforschung kultiviert werden könnte. Wie schwierig ein solches autoethnografisches Korrektiv mitunter ist, zeigt auch der Beitrag von Franz Schultheis (in diesem Band). Zugegeben: Wir sind nicht die ersten, die eine »Ethnografie der Hochschule« auf die Agenda setzen. In den letzten Jahren gab es immer wieder Versuche, eine »ethnography of higher education« zu etablieren (z.B. Pabian 2014; Gusterson 2017; Wieser/Pilch Ortega 2020; Anderson 2021). Jedoch blieben diese Appelle weitgehend ohne Resonanz – insbesondere im deutschsprachigen Raum. Im Folgenden wollen wir vier Eckpunkte einer Ethnografie der Hochschule benennen und sodann aufzeigen, was sich im Lichte eines genuin ethnografischen Blicks noch erforschen ließe. Wenn wir unsere Programmatik auf einen Satz bringen müssten, dann sollte eine Ethnografie der
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Hochschule die (a) Vielgestaltigkeit der Hochschule (b) ›von unten‹ im Sinne von small stories (c) anhand konkreter Settings (d) als Differenzraum erforschen. (a) Ethnografie der Hochschule erfordert die Vielgestaltigkeit von Hochschulen wahrzunehmen. Empirisch sind Hochschulen vielfältiger als dies viele Studien nahelegen, die sich bevorzugt an renommierten Standorten (in den USA) oder Volluniversitäten (in Deutschland) abarbeiten (vgl. Stichweh 2013: 215). Andere Hochschularten wie Fachhochschulen, Kunsthochschulen, Fernhochschulen oder Berufsakademien kommen selten in den Blick. Auch innerhalb der einzelnen Kategorien sind die Unterschiede aufgrund der Geschichte und Kultur einzelner Hochschulen, Standorte sowie Rechtsformen unübersehbar. Nicht selten offenbart die Geschichte einzelner Hochschulen, wie sie selbst ihre Form – beispielsweise von der Handelsakademie zur Universität (Schultheis in diesem Band) – verändert haben. Nicht nur Hochschulen, sondern auch hochschulspezifische Strukturen weisen im internationalen Vergleich eine erhebliche Bandbreite auf, was sich unter anderem in Stellenkategorien, Befristungsregelungen und Karrieremodellen dokumentiert (Kreckel/ Zimmermann 2014). Relevante Unterschiede zeigen sich auch innerhalb nationaler Hochschulräume, etwa im förderalen System der Bundesrepublik. Zudem ist zu vermuten, dass Narrative wie Exzellenz, Internationalität oder Diversität nicht nur je nach Land, sondern auch je nach Standort, Hochschulform oder Fakultät unterschiedlich interpretiert werden können, ja müssen (Lempp in diesem Band). Dies sind keine neuen Erkenntnisse, aber ihnen gilt es in der Forschung stärker Rechnung zu tragen. Es bedeutet zur Kenntnis zu nehmen, dass es nicht die Hochschule, den Studierenden, die Lehre oder den Forschenden gibt. Anstatt ihre Existenz stillschweigend vorauszusetzen, gilt es sie selbst zu befragen. Wir glauben, dass die Hochschulethnografie diese Mannigfaltigkeit am besten abbilden kann. (b) Ethnografie der Hochschule bedeutet Hochschule ›von unten‹ zu denken. Begreift man Hochschulen als ein Feld, das Mikrokosmen beziehungsweise small worlds beheimatet, hat das auch Folgen für die Vorstellung von hochschulischen Strukturkategorien und Organisationsformen, die üblicherweise vorausgesetzt und eher in ihren Folgen denn als Resultat der Praktiken ihrer Mitglieder untersucht werden. Eine Ethnografie der Hochschule rückt demgegenüber die Frage in den Vordergrund, wie sich Hochschule ›von unten‹ aufbaut. Statt Hochschule über Leistungskennziffern und Standortlogiken
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sowie Steuerungsformen ›von oben‹ zu erfassen, oder über soziale Strukturmerkmale entlang von Kategorien wie gender, race, identity oder class zu vermessen, ermöglicht eine Ethnografie der Hochschule, quer dazu zu denken und konkrete Akteursgruppen, Situationen oder Praktiken in den Mittelpunkt zu stellen. Damit positioniert sie sich auch gegenüber einer Surveyforschung, die einzelne Akteure und ihre – möglicherweise widersprüchliche – Praxis hinter Durchschnitten und Aggregaten unkenntlich macht. Anstatt alles wahlweise unter Masternarrative, Ungleichheitskategorien oder Kennzahlen zu subsummieren, widmet sie sich den small stories, bis hin zu den banalen Dingen des Alltags: Wie Studierende sich über Facebook auf Prüfungen vorbereiten (Tyagunova in diesem Band), wie Erstsemester zum ersten Mal die Mensa betreten und sich mit der Essensausgabe vertraut machen (Röhl in diesem Band), wie Studierende mit Kommiliton*innen und Lehrenden innerhalb und außerhalb von Seminaren interagieren (Engert in diesem Band) oder wie Wissenschaftler*innen Gastaufenthalte erleben (Etzemüller in diesem Band). Dies mag dann ein Problem darstellen, wenn vor lauter small stories der Blick auf das Ganze verloren geht, das heißt, kein Beitrag mehr zum Verständnis der universitären Logik geleistet wird. So darf bei aller Faszination für die Mikrologik universitärer Praxis die Frage nach dem, was Hochschule ausmacht und ihre Praxis als universitäre Praxis auszeichnet beziehungsweise von anderen Praktiken unterscheidet, nicht aus dem Blick geraten. Dies mögen nicht immer trennscharfe Grenzen sein: Studierende bereiten sich in Onlinegruppen auf ihre Prüfungen vor, in denen sie gleichzeitig Freizeitaktivitäten dokumentieren und Freundschaften pflegen. Wissenschaftler*innen reisen mit Partner*innen oder ihrer Familie auf eine Tagung, um ihre Forschungsergebnisse vorzustellen und ihren Urlaub zu verbringen. Auch in der Mensa essen nicht nur die Mitglieder der Hochschule, sondern gelegentlich auch Anwohner*innen und Beschäftigte der umliegenden Gegend. (c) Ethnografie der Hochschule bedeutet hochschulische Settings zu erforschen. Settings dienen hier als das Einfallstor für ethnografische Erforschung und bieten mehrere Chancen: Einerseits rücken sie Prozesse der Entwicklung und Übersetzung von Strukturen in den Blick, die sich je nach Setting anders darstellen können. Ein Vergleich von Settings beziehungsweise ihre Verbindung ist hier naheliegend und Bruno Latour zufolge, unumgänglich, wenn man den Akteuren folgt (siehe auch Trouille/Tavory 2016 zu »shadowing« und »intersituational variation«). Eine solche Perspektive erlaubt es, Widersprü-
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che im Mikrokosmos der Hochschule zu identifizieren, denn je nach Setting herrschen andere Regeln, sind andere Personen anwesend. Darüber hinaus kann ein und derselbe Ort für unterschiedliche Personen etwas je anderes bedeuten: Studierende bandeln in Vorlesungen Liebesgeschichten an und lernen für Prüfungen, Obdachlose nutzen öffentliche Toiletten an Hochschulen, während Aufkleber an der Toilettentür sie auch als Ort des Protests ausweisen, Beschäftigte nutzen ihr Büro zum Arbeiten und das dort platzierte Sofa für ein Nickerchen, Reinigungskolonnen streifen um 4 Uhr nachts durch die Gänge, während in den Semesterferien mitunter Schülerfreizeiten dort campieren. Daraus ergibt sich als konzeptionelle Aufgabe, darauf zu achten, was zwischen Settings und Situationen vermittelt. So flexibel die ›Bewohner*innen‹ der Settings und ihre Nutzungsformen, so beweglich sind zum Teil auch die Settings selbst: Hochschulische Settings finden sich längst nicht nur auf dem Campus, sondern auch in Form von Messeständen auf Bildungsmessen, Semesterauftaktveranstaltungen in Sportstätten oder Vorlesungen in Kinosälen, in Tagungshotels bei Konferenzen, studentischen Exkursionen oder, wie die Pandemie mehr als deutlich gezeigt hat, in Form von Lehrveranstaltungen im Homeoffice. Auch in zeitlicher Hinsicht stellen sich Settings als uneindeutig dar, weil in ihnen materialisierte Vergangenheit, gelebte Gegenwart und erhoffte Zukunft kopräsent sind. Wo Denkmäler an die lange Geschichte der Hochschule erinnern, wird womöglich postkolonialer Widerstand mobilisiert, wo Studierende Anzüge tragen oder unternehmerische Praktiken einüben, entstehen berufliche Aspirationen (Meyer in diesem Band) und wo die Fachbücher von morgen geschrieben werden, liegen auch noch die Klassiker von gestern herum. (d) Ethnografie der Hochschule bedeutet Differenzerfahrung zuzulassen. Die Affinität zum Anderen ist der Ethnografie in die Wiege gelegt. Die Erfahrung des kulturell Fremden bildet im ursprünglichen Sinne den zentralen Referenzpunkt. Auch in den vorliegenden Hochschulethnografien geht es um das Potenzial, in den gewöhnlichsten Gegenständen (Beamer, Wandtafeln) oder Praktiken (Texte lesen, schreiben, interpretieren oder Seminardiskussionen leiten) das Ungewöhnliche, Neue und Fremde zu entdecken. Solange aber Hochschulforschung – auch ethnografische – von (Hochschul-)Forscher*innen gemacht wird, gibt es auch hier das Problem der doxa, das sich unter anderem darin ausdrückt, dass nur bestimmte Fragen gestellt werden, und andere nicht (vgl. Richter/Friebertshäuser in diesem Band). Dabei ist nicht nur das soziale Leben der Hochschule, sondern auch die Art und Weise, wie auf dieses geschaut
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wird, zu kuriorisieren. Wenn wir davon sprechen, dass eine Ethnografie der Hochschule bedeutet, Differenzerfahrung zuzulassen, dann meinen wir damit auch, dass dies die Differenzerfahrung der Forschenden miteinschließt. Dies lässt sich in Fragen übersetzen: Warum interessiert mich dies oder jenes, welche Erfahrungen mit dem Gegenstand habe ich bereits im Vorfeld im professionellen wie persönlichen Alltag gemacht, wie gut kenne ich mich darin aus, mit welchen Problemen muss ich bei der Forschung rechnen oder, umgekehrt betrachtet, welche umgehe ich mit dieser Art der Forschung. Die allzu große Vertrautheit der zu beforschenden Lebenswelt ist hier das Problem (Meier zu Verl in diesem Band). Kollektives Autoethnografieren der eigenen Forschungspraxis (AEDiL in diesem Band), ein Fachkulturenvergleich ebenso wie partizipatives Forschen mit Studierenden, die zwangsläufig eine andere Sichtweise auf bestimmte Gegenstände einbringen (Richter/Friebertshäuser in diesem Band), stellen erprobte Möglichkeiten dar, sich vom eigenen praktischen Wissen methodisch zu distanzieren. Befremdungspotenzial gibt es aber auch hinsichtlich der eigenen politischen Position und Perspektive, denn es muss auch die Frage erlaubt sein, welche Gefahren respektive welche Chancen in der Themenwahl der Forschung, zum Beispiel für die eigene Karriere, den eigenen Ruf oder die Integrität der eigenen Person oder Forschung in der hochschulischen wie scientific community liegen. Nicht umsonst hat Bourdieu seinen Homo academicus mit den Worten »Ein Buch, das verbrannt gehört?« eingeleitet und Franz Schultheis (in diesem Band) brauchte vermutlich aus ähnlichem Grund zeitlichen wie räumlichen Abstand, um seine interne Hochschulstudie aus der Schublade zu holen. Diese Aufstellung ließe sich leicht um weitere Punkte ergänzen. Wir beabsichtigen hier jedoch keine erschöpfende Aufzählung, da uns die ›Undiszipliniertheit‹ der Hochschulethnografie eines ihrer wichtigsten Merkmale zu sein scheint. Aber eines wird möglicherweise doch deutlich: Ethnografische Hochschulforschung ist mehr als ethnografische Forschung in der Hochschule (vgl. auch Krey in diesem Band). Solange Settings und universitäre Praxis den Ausgangspunkt bilden, erscheinen Hochschulen vorläufig, prozessual und multisituiert. Wo sich hochschulisches Leben abspielt und entfaltet, ist also selbst eine empirisch offene Frage. In den vergangenen zwei Jahren hat es sich vor allem auch in den eigenen vier Wänden abgespielt.
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4 Ausblick Ethnografie der Hochschule – wozu dieses Buch, wo es doch einige sehr gute ethnografische Studien zur universitären Praxis gibt? Wir sind der Meinung, dass dieser Umstand nicht gegen, sondern für diesen Band spricht, gerade weil die Studien selten als eigene Perspektive der Hochschulforschung ausgewiesen noch in ein eigenes Forschungsprogramm überführt werden. Dies mag einerseits daran liegen, dass diese Perspektive im methodischen Kanon der Hochschulforschung bislang wenig institutionalisiert ist. Es mag aber auch daran liegen, dass hier die Vielfalt der Settings und die in ihnen stattfindenden Praktiken zum Teil über die Hochschule hinausweisen und entsprechend andere Rahmungen zulassen: Wer sich mit der Frage der Vergemeinschaftung von Studierenden in hochschulischen Initiativen und Vereinen (Meyer in diesem Band), des professoralen Auftritts im Hörsaal oder Sprachformen und Sprecher*innenwechsel im Seminar beschäftigt (Engert in diesem Band), betreibt immer auch Praxis- und Interaktionsforschung – aber nicht zwangsläufig »Ethnografie der Hochschule«, geschweige denn Hochschulforschung.4 So war es zunächst einmal eine Herausforderung, die Autor*innen dieses Bandes zu finden und dazu einzuladen, ihre Arbeiten unter dem Label »Ethnografie der Hochschule« zu versammeln, das hier nicht nur als Sammelkategorie dient, sondern auch als Vorschlag gedacht ist, eine Alternative zur gängigen Hochschulforschung vorzunehmen. Die Beiträge dokumentieren die Vielfalt an Themenfeldern und methodischen Zugängen zur universitären Praxis. Gemeinsamer Schnittpunkt bildet das Konzept des Settings, das nicht nur als Einfallstor, sondern auch als soziale Aggregatebene wie methodologische Analyseeinheit hochschulethnografischer Forschung fruchtbar gemacht wird. Auch wenn in der ethnologischen Kulturanalyse der Methode der teilnehmenden Beobachtung eine besondere Rolle zuteilwurde, ist die Ethnografie ein methodenintegrierender Forschungsansatz, der Methoden wie Datentypen unterschiedlichster Art miteinander kombiniert. Dies dokumentieren auch die vorliegenden Beiträge in eindrucksvoller Weise, die Beobachtun-
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Auch unsere Beiträger*innen gebrauchen auf ihren persönlichen Internetauftritten nicht immer Begriffe wie Hochschulforschung oder Ethnografie als explizit ausgewiesenen Forschungsschwerpunkt, sondern verwenden lieber (Eigen-)Bezeichnungen wie Praxistheoretiker, qualitative Sozialforscherin, Wissenschaftsforscher, Interaktions- oder Kultursoziologin.
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gen mit Raumplänen (Schoof), Artefaktanalysen (Röhl), autoethnografischen Selbstzeugnissen (AEDiL) oder Dokumentenanalysen (Etzemüller) kombinieren. Sie folgen damit dem für die Ethnografie typischen feldspezifischen Opportunismus (Breidenstein et al. 2013: 34). Der Buchtitel ist aber auch programmatisch gemeint, denn es gibt in Deutschland, anders als in den USA, (noch) keine ethnografische Tradition im Kontext der Hochschulforschung. Neben den bereits erwähnten wissenschaftstheoretischen und forschungspraktischen Unterschieden gibt es hierfür wohl auch einen kulturellen Unterschied. Denn das angelsächsische Hochschulsystem ist ein Campussystem. Der Campus, der neben Wohnheimen, Mensen, Sport- und Kultureinrichtungen nicht selten auch Gebetsstätten, Postämter, Einkaufsmöglichkeiten oder medizinische Dienste beherbergt, ist quasi das Synonym für einen Mikrokosmos, aber auch für eine bestimmte Lebensphase und Lebensform, oft zelebriert und illustriert in Literatur, Film und Musik; so stellen Collegefilme ein eigenes Genre dar, in denen die Protagonist*innen – meist Studierende in den ersten Semestern – in jeder Hinsicht neue Erfahrungen machen. Dies macht es mitunter leichter, Hochschulen nicht nur als Bildungsstätte und Forschungszentren, sondern als ethnografisches Feld zu lesen. Es ist diese Mischung aus totaler Institution und Inseldasein, die Campusuniversitäten von deutschen Hochschulen unterscheidet, die zwar zum Teil auch Studierendenwohnheime, Sportanlagen und Mensen auf ihrem Areal vereinen, aber längst nicht diese Form der Exklusivität aufweisen. Und noch eines scheint anders zu sein: Während die Freshmen an amerikanischen Colleges im Schnitt 18 Jahre alt sind, teils auch schon mit 16 oder 17 aufs College gehen, sind die Erstsemester an deutschen Hochschulen mit 20 Jahren deutlich älter.5 Dieser Altersunterschied könnte auch ein Grund dafür sein, dass sich in den USA ethnografische Perspektiven mit ihrer Nähe zu Fragen von Peergroup-Verhalten, Zugehörigkeit und Sozialisation stärker entwickelt haben. Hierzulande werden diese Fragen eher in der Schule gestellt, was mitunter auch die Popularisierung ethnografischer Perspektiven in der Schulforschung erklären würde. Der Band ist schließlich auch ein Gemeinschafts- und Nebenprodukt unserer eigenen Forschungstätigkeit und Freundschaft. Denn im Februar 2022
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Siehe dazu die Angaben der amtlichen Hochschulstatistik unter https://www.destati s.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Bildung-Forschung-Kultur/Hochschulen/Tab ellen/studierende-erstes-hs-bundeslaender.html (Deutschland) beziehungsweise ht tps://nces.ed.gov/programs/digest/d20/tables/dt20_303.40.asp (USA).
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sitzen wir – wie schon zu Beginn unserer Planungen für das Projekt – immer noch mit Abstand im Besprechungsraum des Lehrbereichs und diskutieren über die Endredaktion des Bandes. Während der Besprechung essen wir gemeinsam zu Mittag, tauschen uns über weitere laufende und zukünftige Vorhaben aus, freuen uns über bestandene Prüfungen, feiern Geburtstage oder ärgern uns über ständig wechselnde Regularien zur Bekämpfung der Pandemie. So sind Bücher wie dieses auch Artefakte, die nicht nur ein gewisses (Fach-)Wissen repräsentieren, sondern in ihrem Entstehungskontext auch Gemeinschaft und Zugehörigkeit stiften und Hochschule zu einem sozialen Raum machen.
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Zum Fremdeln zwischen Ethnografie und Hochschulforschung Julian Hamann
1 Das Feld der Hochschulforschung und seine methodologischen und methodischen Orientierungen Als Forschungsfeld lässt sich die Hochschulforschung durch zwei Besonderheiten charakterisieren: Erstens ist sie seit ihrer Entstehung im Rahmen der Hochschulexpansion in den 1960er und 1970er Jahren eng an politische Problemdefinitionen und Anwendungsorientierungen gekoppelt (Krücken 2012). Zweitens ist die Hochschulforschung ein ausgesprochen interdisziplinäres Feld. Theoretische und methodische Entwicklungen haben ihren Ursprung in der Regel nicht in der Hochschulforschung selbst, sondern werden als Impulse aus ihren zahlreichen Ursprungs- und Nachbardisziplinen aufgenommen, etwa der Soziologie, den Erziehungswissenschaften, der Politikwissenschaft oder den Wirtschaftswissenschaften (Tight 2003; Brennan/Teichler 2008). Beide Besonderheiten begründen die relativ gering ausgeprägte Eigengesetzlichkeit der Hochschulforschung als Forschungsfeld. Sie zeigt sich auch in einer eher schwachen Integration von Teilbereichen, die innerhalb der Hochschulforschung in der Regel nebeneinanderher operieren (Macfarlane 2012; Tight 2014; Daenekindt/Huisman 2020). Mit ihrer eher gering ausgeprägten disziplinären Eigengesetzlichkeit ist die Hochschulforschung ein Paradefall eines akademischen Feldes mit relativ geringer Autonomie (Bourdieu 1992): Sowohl außerwissenschaftliche Einflüsse, etwa aus der Hochschul-, Wissenschafts- und Bildungspolitik, als auch wissenschaftliche Impulse aus Ursprungs- und Nachbardisziplinen werden relativ ungebrochen übernommen, ohne zuvor in eine der Hochschulforschung eigene Logik übersetzt zu werden. Entsprechend verfügt die Hochschulforschung nur sehr begrenzt über eigene theoretische, me-
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Ethnografie der Hochschule: Positionen und Perspektiven
thodologische und methodische Traditionen oder Paradigmen. Die im Feld verwendeten Theorien und Methoden werden immer wieder zur Selbstvergewisserung bilanziert (Keller 1985; Peterson 1986; Conrad 1989; Tight 2003). Regelmäßig kommen solche Selbstbeobachtungen zu dem Ergebnis, dass die Hochschulforschung über ein eher eingeschränktes methodologisches und methodisches Repertoire verfügt. Zu den das Feld dominierenden Methoden werden in der Regel die Dokumentenanalyse, multivariate statistische Analysen und Interviewstudien gezählt (Milam 1991; Tight 2003). Mit Blick auf ethnografische Methoden resümieren Beobachter*innen: »possibilities for [ethnography’s, JH] widespread use in higher education have scarcely been realized« (Conrad 1989: 212), ethnografische Studien seien »relatively underused […] for researching higher education« (Tight 2003: 200).1 Aktuellere Überblicke und Handbücher legen ebenfalls nahe, dass ethnografische Ansätze nicht zum Kanon der Hochschulforschung gezählt werden können (siehe etwa Hutchinson/Lovell 2004; Lucas 2012; Pabian 2014; Huisman/Tight 2015; Wilkesmann 2019; Perna 2020). Von einem etablierten ethnografischen Subfeld innerhalb der Hochschulforschung kann erst recht keine Rede sein (Forsey 2020). Mein Beitrag hat nicht zum Ziel, die genannten Überblicke über die Hochschulforschung durch ein eigenes quantifizierendes Mapping ethnografischer Studien zu ergänzen. Stattdessen will ich die Bedeutung der Ethnografie in der Hochschulforschung kritisch reflektieren und im folgenden Abschnitt nach den Gründen für das offensichtliche Fremdeln zwischen Ethnografie und Hochschulforschung fragen.2 Daran anschließend diskutiere ich epistemologische und forschungsethische Herausforderungen einer ethnografischen Hochschulforschung, zeige aber auch beispielhaft, was Ethnografien in hochschulischen Settings leisten können.
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Natürlich gehören auch die zuvor genannten Dokumentenanalysen und Interviews zum Arsenal ethnografischer Methoden. Weil Tight aber »observational studies« gesondert aufführt, ist zu vermuten, dass hier keine ethnografischen Dokumentenanalysen und Interviews gemeint sind. Eine Diskussion der von Tight in Anschlag gebrachten methodischen Kategorien ist notwendig, aber an dieser Stelle nicht zu leisten. Dabei gehe ich nicht auf unterschiedliche ethnografische Ansätze ein. Einblicke in deren Vielfalt werden an anderer Stelle gegeben (z.B. Knoblauch 1996; Hirschauer/ Amann 1997; Atkinson et al. 2007).
Julian Hamann: Zum Fremdeln zwischen Ethnografie und Hochschulforschung
2 Warum fremdeln Ethnografie und Hochschulforschung? Der sich im vorherigen Abschnitt andeutende Befund eines geringen Stellenwerts der Ethnografie in der Hochschulforschung ist zunächst kontraintuitiv, und zwar aus drei Gründen: Erstens ist Ethnografie in einigen der Ursprungsdisziplinen der Hochschulforschung, etwa in der Soziologie und den Erziehungswissenschaften, etablierter Teil des Mainstreams und entsprechend verbreitet (vgl. Atkinson/Delamont 1980; Flick 2007; Friebertshäuser et al. 2013). In einigen Nachbarfeldern der Hochschulforschung wie der Wissenschaftsforschung und den Science and Technology Studies dürfte der ethnografische Ansatz sogar noch weiter verbreitet sein (vgl. Bowden 2001; Hess 2001). Wenn die oben formulierte These zutrifft, dass die Hochschulforschung aufgrund ihrer relativ gering ausgeprägten disziplinären Eigengesetzlichkeit auf methodologische Impulse aus ihren Ursprungsdisziplinen und Nachbarfeldern angewiesen ist und diese relativ ungebrochen aufnimmt, dann ist es zumindest erklärungsbedürftig, warum die Ethnografie in der Hochschulforschung nicht den gleichen Stellenwert hat, den sie in einigen ihrer Ursprungsdisziplinen und Nachbarfeldern einnimmt. Von der Hochschulforschung aus gedacht überrascht der geringe Stellenwert der Ethnografie, zweitens, weil die epistemologische Orientierung der Ethnografie prädestiniert zu sein scheint für ein Feld, in dem sich Forschende selbstreflexiv der Untersuchung der eigenen Lebenswelt widmen. Wie auch in der Wissenschaftsforschung ist der Fokus der Hochschulforschung auf Kontexte gerichtet, die allen Forschenden nur allzu bekannt sind. Die Routinen, Rituale und Dramaturgien der hochschulischen Lebenswelt sind ihren Mitgliedern in geradezu trügerischer Weise vertraut. Die ethnografische Perspektive könnte hier ihre Stärken ausspielen, weil sie besonders sensibel ist für die Gefahren, die eine solche Vertrautheit birgt: Eigene Interpretationen und Deutungsrepertoires könnten von Forschenden unreflektiert auf den Gegenstand projiziert werden, das implizite Wissen der Akteure im Feld könnte so gut mit dem eigenen Insiderwissen übereinstimmen, dass es nicht mehr frag-würdig erscheint. Deutungsmuster wie der ›Flaschenhals vor der Professur‹, Figuren wie der ›Doktorvater‹ oder Statements wie »Ich habʼ keine Frage, sondern eher einen Kommentar« wirken dann unter Umständen gar nicht kurios, sondern selbstverständlich. Eine solche Vertrautheit mit dem Forschungsgegenstand erscheint der Ethnografie als Hindernis für wissenschaftliches Verstehen. Aus ethnografischer Perspektive setzt die Produktion von wissenschaftlichem Wissen über eine soziale Welt, in die man selbst ver-
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Ethnografie der Hochschule: Positionen und Perspektiven
strickt ist, eine Distanzierung vom eigenen praktischen Wissen voraus (Bourdieu 1992: 31). Eine solche Distanzierung kann etwa durch Historisierung oder durch ein quantifizierendes Vorgehen gelingen. In der qualitativen Sozialforschung stellt die Ethnografie die wohl avancierteste Heuristik bereit, um das allzu Vertraute methodisch auf Distanz zu bringen, zu befremden und somit in die Lage zu versetzen, Forschende zu irritieren (dazu grundlegend: Amann/Hirschauer 1997). Erst wenn eine solche Befremdung erfolgt ist, kann die Vertrautheit mit dem Gegenstand zu einer epistemologischen Ressource werden und die Interpretation bereichern (Kuehner et al. 2016). Die Hochschulforschung, so könnte man folgern, müsste einen besonderen epistemologischen Bedarf am Reflexions- und Befremdungspotenzial der Ethnografie und an den zu diesem Zweck entwickelten Techniken haben. Der Stellenwert der Ethnografie in der Hochschulforschung scheint der Notwendigkeit, sich vom eigenen praktischen Wissen zu distanzieren, jedoch nicht zu entsprechen. Von der Ethnografie aus gesehen überrascht ihr geringer Stellenwert in der Hochschulforschung, drittens, weil der Feldzugang und das im Feld zu erwerbende Vertrauen zentrale Herausforderungen des ethnografischen Ansatzes sind (dazu Hammersley/Atkinson 2007: 41–96). Der Zugang zum Feld, die Gestaltung und laufende Aktualisierung der eigenen Position, die Reflexion des Eindrucks, den man im Feld hinterlässt sowie das Management der fragilen Beziehungen zu Teilnehmenden sind zentrale Anforderungen des ethnografischen Ansatzes. Insofern ethnografisch Forschende bereits mit der Hochschule als Lebenswelt vertraut sind, dürfte der Erwerb einer solchen »Mitspielkompetenz« (Reichertz 2018: 277) im Feld leichter fallen. Selbstverständlich entlastet diese Kompetenz nicht davon, sich auch die Hochschule als Feld heuristisch zu erarbeiten – Pierre Bourdieu (2006: 280) warnt aus gutem Grund vor einer »Illusion des unmittelbaren Verstehens«. Dennoch verspricht der Forschungskontext Hochschule der Ethnografie einen ganz pragmatischen heuristischen Vorsprung. Offenbar führt die Aussicht auf einen solchen Vorsprung jedoch nicht zu einem besonderen ethnografischen Engagement in der Hochschulforschung. Der geringe Stellenwert der Ethnografie in der Hochschulforschung ist also in mindestens drei Hinsichten überraschend. Welche Gründe lassen sich dennoch für das Fremdeln zwischen Ethnografie und Hochschulforschung finden? Zunächst sind die in beiden Feldern angeführten Erklärungsversuche nur begrenzt überzeugend: So wird angenommen, die hochschulische Praxis sei »too close to home« (Thrift 2011), um auf Distanz gebracht werden zu kön-
Julian Hamann: Zum Fremdeln zwischen Ethnografie und Hochschulforschung
nen (so auch Alvesson 2003: 172). Ihre Erforschung sei daher unangenehm und führe zu einem Vermeidungsverhalten (vgl. Brenneis 2004: 581; Pabian 2014: 15; Gusterson 2017: 435). Damit zusammen hängt die Erklärung, dass von Forschenden Diskretion erwartet werde, eine zu genaue Beobachtung der Hochschule würde daher nicht geschätzt: »The institution might be embarrassed« (Wisniewski 2000: 8). Ein weiterer Grund sei die Tatsache, dass die Hochschule der Metapher des Dorfes als mythischer Ursprungsszene klassischer Ethnografien (vgl. Malinowski 1922) nicht entspreche: Die Hochschule sei von einer größeren Population bevölkert, die mobiler und daher schwerer zu begleiten sei (Forsey 2020: 22). Als eine andere Erklärung für das Fremdeln zwischen Ethnografie und Hochschulforschung wird angeführt, die ethnografische Erforschung der Hochschule sei zu reflexiv (Forsey 2020: 25). Die Aufgabe von Forschenden sei die Erforschung Anderer und nicht die Nabelschau – »[w]e are willing to be reflexive, but not this reflexive« (Gusterson 2017: 435). Schließlich wird sogar behauptet, die Funktion der Ethnografie würde durch das Genre belletristischer Campusromane erfüllt (Thrift 2011). Die vorgebrachten Erklärungen für die Berührungsängste zwischen Ethnografie und Hochschulforschung können durch eine einzige Scharfstellung der Perspektive entkräftet werden. Dann wird nämlich deutlich, dass Hochschule und Wissenschaft als ethnografische Anwendungsfelder ganz offensichtlich nicht grundsätzlich »zu nah«, »zu indiskret« oder »zu schwer zu fassen« sind und dass ihre Erforschung nicht grundsätzlich »zu reflexiv« ist. Kommen wir noch einmal auf benachbarte Felder der Hochschulforschung zurück, so wird deutlich, dass Ethnografien hochschulischer und wissenschaftlicher Praktiken in der Wissenschaftsforschung und den Science and Technology Studies durchaus verbreitet sind. Die Beispiele reichen von klassischen Laborstudien (vgl. Knorr Cetina 1981; Latour/Woolgar 1986) bis zu aktuellen ethnografischen Arbeiten über Praktiken des wissenschaftlichen Schreibens und Lesens (Engert/Krey 2013; Krey 2020) oder Bewertungspraktiken in der Hochschullehre (Kalthoff/Engert 2021). Der geringe Stellenwert, den die Ethnografie in der Hochschulforschung hat, liegt also nicht darin begründet, dass sich hochschulische und wissenschaftliche Praktiken dem ethnografischen Zugriff – aus welchen Gründen auch immer – per se entziehen. Plausibler scheint es, von einer mangelnden Passung zwischen ethnografischen Ansätzen und dem Forschungsfeld der Hochschulforschung auszugehen. Diese mangelnde Passung lässt sich an mindestens zwei Aspekten aufzeigen, die sich beide aus dem Verhältnis zwischen grundlegenden me-
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Ethnografie der Hochschule: Positionen und Perspektiven
thodologischen Prinzipien der Ethnografie auf der einen Seite und Charakteristika der Hochschulforschung auf der anderen Seite ergeben: Erstens ist die ethnografische Datengewinnung aus Prinzip sehr zeitintensiv und schlecht planbar (Breidenstein et al. 2013: 37ff.). Prinzipiell zeitintensiv ist die Ethnografie, weil sie ihre Untersuchungsgegenstände persönlich aufsucht und nicht selten über Monate oder Jahre begleitet (Jeffrey/Troman 2004). Prinzipiell schlecht planbar ist die Ethnografie, weil sie ihren Gegenständen nicht mit spezifischen Methoden und genauen Verfahrensschritten entgegentritt, sondern sich durch einen situativ flexiblen und an das Feld angepassten Methodenopportunismus auszeichnet (Breidenstein et al. 2013: 38f.). Es liegt nahe, dass der hohe zeitliche Aufwand und die schlechte Planbarkeit ethnografischer Forschung nur mäßig kompatibel ist mit einer Hochschulforschung, die häufig von politischen Fördereinrichtungen in Auftrag gegeben, finanziert und gegenüber diesen dann berichtspflichtig ist. Die in der Hochschulforschung verbreiteten Dokumentenanalysen, Interviewstudien und multivariaten statistischen Analysen erheben ihre Daten punktuell und stärker strukturiert. Sie weisen daher allein in forschungsökonomischer Hinsicht eine höhere Passung mit den Anforderungen auf, denen sich weite Teile der Hochschulforschung gegenübersehen. Ein zweiter Aspekt der mangelnden Passung zwischen Ethnografie und Hochschulforschung liegt darin, dass Ethnografien als verschriftlichte Texte aus Prinzip nicht als direkte Abbildung und Repräsentation der untersuchten Praktiken und Kulturen zu verstehen sind. Die kritische Reflexion dessen, was ethnografische Studien eigentlich zeigen (können) ist in der Ethnografie seit Jahrzehnten fest institutionalisiert. Das entsprechende methodologische Selbstverständnis hat sich etwa in der writing culture-Debatte der Kulturanthropologie (Clifford/Marcus 1986) oder in der Reflexivitätsdebatte der Laborstudien entwickelt (Woolgar 1988). Spätestens seit diesen Debatten ist es Konsens, dass ethnografische Texte und Erzählungen Konstruktionsleistungen der Ethnografin sind, die damit zum einen ihren eigenen Sehgewohnheiten und zum anderen den Darstellungskonventionen für ethnografische Texte folgt (dazu etwa Hirschauer 2001; Kalthoff 2003). Wo liegt hier das Passungsproblem mit der Hochschulforschung? Es ist anzunehmen, dass eine solche Verlagerung der epistemischen Autorität von faktischen Daten zur interpretierenden Ethnografin nur begrenzt zu vereinbaren ist mit einer Hochschulforschung, die aufgrund ihrer oft praxis- und anwendungsorientierten Orientierung eher an reliablen und validen Ergebnissen interessiert sein dürfte (zur Diskussion der Gütekriterien Validität und Reliabilität in der Ethno-
Julian Hamann: Zum Fremdeln zwischen Ethnografie und Hochschulforschung
grafie vgl. LeCompte/Preissle Goetz 2001). Das von der Ethnografie produzierbare Wissen kann nur schwerlich auf die hochschul-, wissenschafts- und bildungspolitisch definierten Problembezüge der Hochschulforschung angewendet werden, wenn es ein methodologisches Grundprinzip der Ethnografie ist, dass ihre Erzählungen keinen direkten Zugriff auf diese Probleme erlauben. Die in der Hochschulforschung so prominent eingesetzten Dokumentenanalysen, Interviewstudien und multivariaten statistischen Analysen weisen aufgrund ihrer methodologischen Dispositionen eine höhere Passung mit der Anwendungsorientierung des Feldes auf. Wichtig ist, solche Passungsprobleme nicht als rein scholastische Beobachtungen eines abstrakten und statischen Verhältnisses zwischen Ethnografie und Hochschulforschung zu verkennen. Vielmehr sind die Passungsprobleme Ausgangspunkt und Ergebnis symbolischer Auseinandersetzungen in und zwischen Feldern (Bourdieu 1975). Fragt man nach den Gründen für das Fremdeln zwischen Ethnografie und Hochschulforschung, muss daher zusätzlich zu Passungsproblemen die Begleitmusik diskursiver Grenzarbeit zwischen Ethnografie und Hochschulforschung in den Fokus rücken. Tatsächlich beklagen Forschende in der Hochschulforschung (wie auch in der ihr verwandten Bildungsforschung) die Überhöhung traditioneller ethnografischer Standards durch zeitgenössische Torwächter*innen (z.B. Kenway 2015: 37; Forsey 2020: 15). Die Einforderung langer Feldaufenthalte und dichter Beschreibungen wird dann als Abwehrreaktion einer konservativen Ethnografie gesehen, die gerade alternative Formen ethnografischer Hochschulforschung nicht anerkenne. Über die Validität solcher Klagen kann hier nicht entschieden werden. Für ein vollständigeres Bild des boundary work zwischen Ethnografie und Hochschulforschung wäre es ohnehin notwendig, auch auf Seiten der Hochschulforschung nach Diskursen der Delegitimierung ethnografischer Forschung zu fragen. Trotz der Berührungsängste zwischen Ethnografie und Hochschulforschung finden sich im Feld der Hochschulforschung einige ethnografische Studien. Sie zeigen recht konkret die Risiken, aber auch die Potenziale ethnografischer Forschung für die Hochschulforschung auf. Vor dem Hintergrund der bisher eher abstrakt gebliebenen Überlegungen sollen die beiden folgenden Abschnitte beispielhaft konkretisieren, vor welchen Herausforderungen ethnografische Hochschulforschung steht und warum es sich dennoch lohnen könnte, sich diesen Herausforderungen zu stellen.
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3 Risiken ethnografischer Hochschulforschung Wie oben bereits erwähnt ist die Hochschulforschung mit ihrem eigenen Gegenstand verstrickt. Diese Konstellation ist der Soziologie wohlbekannt: Das Fach ist selbstverständlich Teil der Gesellschaft, die es beforscht. Die Hochschulforschung ist davon aber noch direkter betroffen. Sie forscht über den unmittelbaren Kontext ihrer eigenen wissenschaftlichen Praxis. Diese Verstrickung ist, je nach Fragestellung und Forschungsgegenstand, graduell: Führt eine Professorin eine ethnografische Untersuchung in einem Studierendenwohnheim durch, dürfte die Verstrickung weniger eng sein als bei der Ethnografie einer Doktorandin, die die statusbedingten Abhängigkeitsverhältnisse in ihrem Arbeitsbereich untersucht. Generell mögen in solchen Verstrickungen Chancen liegen, etwa hinsichtlich des Feldzugangs und einer erhöhten Mitspielkompetenz der Ethnografin. Doch je nachdem wie eng sie ist, birgt die Verstrickung mit dem eigenen Forschungsgegenstand auch Risiken für eine ethnografische Hochschulforschung. Ein epistemologisches Risiko wurde oben bereits genannt: In dem Grad, in dem die Wissensbestände und Praktiken der Teilnehmenden im Feld der Ethnografin vertraut sind, besteht die Gefahr, dieses Wissen nicht in Frage zu stellen und seinen Einfluss auf die Interpretationsarbeit nicht ausreichend zu reflektieren. Die Ethnografin ist dann in ihrem Expertinnenstatus gefangen (vgl. Hammersley/Atkinson 2007: 41–62). Es bedarf einer so genannten strong reflexivity, um sich aus diesem Status zu befreien und aus der vertrauten Beziehung der Ethnografin zu ›ihrem‹ Feld ein epistemologisches Potenzial werden zu lassen (Kuehner et al. 2016). Die Verstrickung mit dem eigenen Gegenstand birgt für eine ethnografische Hochschulforschung aber nicht nur epistemologische, sondern auch forschungsethische Risiken. Für eine ethnografisch arbeitende Hochschulforscherin bedeutet jede Beforschung hochschulischer Kontexte, dass die Ethnografin an ihrer eigenen Lebenswelt teilnimmt. Dann vermischt sich ihre Rolle als Ethnografin mit ihren Rollen als Dozentin, Kollegin oder Organisationsmitglied (vgl. Alvesson 2003; Pabian 2014: 15). Die daraus resultierenden Rollenkonflikte liegen quer zur generellen Frage der eigenen Distanz zum Feld (Gold 2001). Die sich aus der Vermischung von Rollen ergebenden Risiken betreffen zwar nicht die Verfälschung von Daten, weil die Ethnografie sich gar nicht erst einem positivistischen Objektivitätsgebot anschließt, das an möglichst neutralen Daten interessiert ist. Umso sensibler ist die Ethnografie aber für forschungsethische Fragen, die aus der Verstrickung mit dem
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Forschungsgegenstand resultieren. Eine Ethnografin, die ihre eigene professionelle Lebenswelt untersucht, wird sich etwa fragen müssen, in welchen Situationen und auf welche Weise sie sich in ihrem Feld einmischen sollte oder muss (zum Wandel von Rapport zu Komplizenschaft siehe etwa Marcus 1998: 105–131). Wann solidarisiert sich zum Beispiel eine prekär beschäftige Ethnografin mit dem Mittelbau, den sie untersucht? Inwiefern profitiert sie als Wissenschaftlerin von den Netzwerken, die sie als Ethnografin im Feld knüpft? Wann und wie entsteht aus einem Aufenthalt im Feld Solidarität, Nutznießung, Mitverantwortung oder Komplizenschaft? Aus der Verstrickung mit dem eigenen Gegenstand resultiert eine weitere forschungsethische Frage. Sie betrifft den Grad der Offenheit ethnografischer Forschung, Fragen der Vertraulichkeit sowie die Anonymität der Beforschten und der Forschenden (vgl. Murphy/Dingwall 2007). Ist es einer ethnografischen Hochschulforscherin überhaupt möglich, sich nicht als Forschende erkennen zu geben und verdeckt am Feld teilzunehmen? Steht eine ethnografische Hochschulforscherin, die ihre eigene Lebenswelt untersucht, unter besonderem forschungsethischen Druck, ihr Feld und ihre Teilnehmenden auch nach Beendigung der Ethnografie zu schützen? Die forschungsethischen Probleme und praktischen Herausforderungen der Anonymisierung und De-Anonymisierung lassen sich sehr konkret an einer Reihe jüngerer ethnografischer Monografien über den hochschulischen Kontext aufzeigen (vgl. Pabian 2014: 10–13): Creating a Class von Mitchell L. Stevens (2007), Wannabe U von Gaye Tuchman (2009) und My Freshman Year von Rebekah Nathan (2005). Alle drei Autor*innen haben ihre Ethnografien jeweils an ihrer eigenen Hochschule durchgeführt, sodass die Verstrickung mit dem beforschten Feld als besonders ausgeprägt gelten kann. Die daraus resultierenden Risiken einer ungewollten De-Anonymisierung zeigen sich in allen drei Fällen deutlich. Stevens (2007) hat für seine Ethnografie 18 Monate im admission office seiner Hochschule gearbeitet und dabei offen die Entscheidungsprozesse beforscht. Sein Feldzugang beruhte auf der Zusicherung von Anonymität für die Hochschule und die Beteiligten. Obwohl Stevens die Hochschule im Buch anonymisiert hat, konnte ein Rezensent die Hochschule anhand von Kontextinformationen identifizieren (Jaschik 2007). Tuchman (2009) hat am Statusgewinn orientierte Managementpraktiken an ihrer Hochschule untersucht. Die Auflage dafür war, dass weder Audio- noch Bildaufnahmen angefertigt werden durften. Wie Stevens hat auch Tuchman die von ihr untersuchte Hochschule anonymisiert. Weil Tuchman aber Dokumente von der Website der Hochschule zitieren durfte, konnte auch hier die Identität nicht lange geheim gehalten
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werden. Im dritten Beispiel hat sich Nathan (2005) als Studentin ausgegeben und ist für ein Jahr in das Studierendenwohnheim der Hochschule gezogen, an der sie als Professorin gearbeitet hat. Im Gegensatz zu Stevens und Tuchman hat Nathan nicht nur die Hochschule und die an der Forschung Beteiligten anonymisiert, sondern ihre Ethnografie letztlich unter einem Pseudonym veröffentlicht. Dennoch wurden die Hochschule und die Autorin in einer Rezension identifiziert (Varenne 2006). Während Fragen der Anonymisierung und Vertraulichkeit in der quantitativen Forschung vor allem technischer Natur sind, ist die vollständige Unkenntlichmachung des untersuchten Feldes und seiner Teilnehmenden in der Ethnografie voraussetzungsvoller. Protokolle und Interviews aus dem Feld können immer Detailinformationen enthalten, die zur Identifizierung von Orten und Personen führen (Murphy/Dingwall 2007: 341f.). Die drei Beispiele zeigen anschaulich, dass sich dieses grundsätzliche Risiko für die ethnografische Hochschulforschung noch einmal potenziert, weil das Publikum einer Ethnografie in der Regel aus Expert*innen und aus Betroffenen und Einheimischen des untersuchten hochschulischen Kontextes besteht, deren langjähriges, implizites Wissen über ihr Feld das Wissen der Ethnografin nicht selten übersteigt.
4 Was Ethnografien in hochschulischen Settings leisten können Nachdem die Passungsprobleme zwischen Ethnografie und Hochschulforschung diskutiert und einige Risiken ethnografischer Hochschulforschung aufgezeigt wurden, sollte nicht der Eindruck entstehen, dass ethnografische Ansätze ihren geringen Stellenwert in der Hochschulforschung zurecht haben. Im Gegenteil, ethnografische Forschung birgt verschiedene Möglichkeiten für die Hochschulforschung. Erstens sind in der ethnografischen Hochschulforschung solche Ansätze relativ häufig, mit denen das forscherische Selbst zum Gegenstand der Untersuchung gemacht wird. Studien dieser Art können als Versuch verstanden werden, die durch die enge Verstrickung mit dem eigenen Gegenstand resultierenden Herausforderungen produktiv zu wenden und in den Fokus der Untersuchung zu rücken (Pabian 2014: 14f.). Bemerkenswert ist die Vielfalt entsprechender Ansätze. Sie reicht von self-ethnographies (grundsätzlich: Alvesson 2003), die etwa in internationalen Forschungsteams durchgeführt werden (Hoffman et al. 2014), über auto-ethnographies (grundsätzlich: Meer-
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wald 2013), beispielsweise zum Klassenbewussten kritischen Denkens in der neoliberalen Universität (Beach 2020) oder zum Einfluss der Corona-Pandemie auf den Alltag von Studierenden (Steinhardt 2021), über facilitated collaborative auto-ethnographies, etwa zum Einfluss von Dissertationen auf das Selbstverständnis von Promovierenden (Dann et al. 2019), und institutional ethnographies (grundsätzlich: Smith 2006), zum Beispiel zum Umgang von Rankingorganisationen mit Kritik (Barron 2017), bis zu meta-ethnographies, bei denen es sich eher um Literaturüberblicke handelt – etwa zu den Selbst-Erfahrungen von Wissenschaftler*innen im Ruhestand (vgl. Cahill et al. 2019) oder zur Umsetzung neuer didaktischer Methoden (Savin-Baden/Major 2007). Auffallend an dieser Forschung ist erstens die Vielfalt von im weitesten Sinne autoethnografischen Ansätzen. Möglicherweise ist diese Vielfalt ein Hinweis darauf, dass autoethnografische Ansätze in der Hochschulforschung noch nicht methodologisch konsolidiert sind. Zweitens fällt die kritische Haltung vieler Studien ins Auge. Die Produktivität für die Hochschulforschung liegt hier also nicht nur darin, die Verstrickung von Hochschulforscher*innen mit ihrem Gegenstand reflexiv zu wenden, sondern auch darin, kritische Perspektiven zu kultivieren, die einen Ausgleich zur eher affirmativen Anwendungs- und Praxisorientierung des Feldes bilden könnten. Zusätzlich zu ihrem reflexiv-kritischen Potenzial eröffnen Ethnografien auch inhaltliche Möglichkeiten für die Hochschulforschung. Das wird durch eine Reihe von Ethnografien illustriert, die von den ausgetretenen Pfaden der Hochschulforschung abweichen. Zu nennen sind hier zum einen originelle Themensetzungen, etwa Ethnografien zum professoralen Habitus in universitären Alltagskulturen (Stegmann 2007) oder Autoethnografien zum Scheitern der eigenen Forschungsprojekte (Hains-Wesson 2022). Zum anderen setzen solche Studien neue thematische Impulse, die den hochschulischen Kontext programmatisch aus der Perspektive subalterner Gruppen darstellen. Das ist zum Beispiel der Fall, wenn die Strategien von first generation students in den ersten Jahren des Studiums (Yee 2016), die Promotionsphase aus Perspektive einer Promovierenden (Beňová 2014) oder die Erfahrungen von behinderten Wissenschaftler*innen (Merchant et al. 2020) und faculty of color (Stanley 2006) ethnografisch nachvollzogen werden. Die Produktivität ethnografischer Hochschulforschung liegt hier darin, Themen und Perspektiven in der Hochschulforschung zu platzieren, die bisher wenig Aufmerksamkeit finden. Das inhaltliche Potenzial ethnografischer Hochschulforschung ist auch darin zu sehen, etablierte Kernthemen der Hochschulforschung in neues
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Licht zu rücken. Der Themenkomplex Lehre und Studium wird von der Hochschulforschung beispielsweise intensiv erforscht, und auch die ethnografische Hochschulforschung hat hier einen Schwerpunkt.3 Ethnografische Studien setzen dabei neue Impulse, indem sie bislang wenig beleuchtete Aspekte wie Prozesse der konservativen Politisierung auf dem Campus (Binder/Wood 2013), den Aufbau von Expertise in der Lehre (Wieser 2020), die Lernerfahrungen von Studienanfänger*innen und Tutor*innen (Grellier 2013) oder den Zusammenhang von Sexualität und Macht auf dem Campus beleuchten (Hirsch/Khan 2020). Ähnliches gilt für wissenschaftliche Karrieren als einem weiteren Kernthema der Hochschulforschung. Ethnografische Studien ergänzen die existierende Forschung um neue Perspektiven, beispielsweise indem sie den Arbeitsmarkteintritt aus der Perspektive von Promovierten beleuchten, die ihre eigene employability erfahren (Boulos 2016), indem sie thematisieren, wie strukturelle Karrierebedingungen individuell erlebt werden (Krais 2002) oder wie wissenschaftliche Karrieren auf Kosten weiblicher Arbeitskraft entwickelt werden (Angervall et al. 2015). Fragen zum Zugang zu hochschulischer Bildung stehen ebenfalls seit jeher im Zentrum der Hochschulforschung. Auch hier zeigen ethnografische Studien neue Zugänge auf, zum Beispiel indem sie die Bewertungs- und Entscheidungsarbeit beleuchten, die Zulassungen auf Graduiertenniveau vorausgeht (Metz-Göckel 2004; Stevens 2007; Bloch et al. 2015; Posselt 2016).
5 Fazit Die Hochschulforschung zeichnet sich durch einen relativ ausgeprägten Anwendungs- und Praxisbezug sowie durch ihre Interdisziplinarität aus. Als Forschungsfeld wird ihr häufig ein eher eingeschränktes methodologisches und methodisches Repertoire diagnostiziert. Ethnografische Ansätze gehören tendenziell nicht zu diesem Repertoire. Der geringe Stellenwert der Ethnografie in der Hochschulforschung ist in mehrerlei Hinsicht kontraintuitiv und kann nicht dadurch erklärt werden, dass Hochschule und Wissenschaft als ethnografische Anwendungsfelder per se ungeeignet sind.
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Dass dieser Schwerpunkt vor allem in der US-amerikanischen Hochschulforschung gepflegt wird, könnte daran liegen, dass die dortigen Campusuniversitäten die studentische Lebenswelt enger an den hochschulischen Kontext binden, während studentische Lebenswelt und Hochschule in Deutschland loser gekoppelt sind.
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Plausibler scheint es, von einer mangelnden Passung zwischen ethnografischen Ansätzen und der Hochschulforschung auszugehen. Sie zeigt sich erstens darin, dass die schlechte Planbarkeit und der zeitliche Aufwand ethnografischer Forschung nur begrenzt kompatibel sind mit der forschungsökonomischen Effizienzorientierung einer oft von politischen Fördereinrichtungen in Auftrag gegebenen, finanzierten und entsprechend berichtspflichtigen Hochschulforschung. Zweitens zeigt sich die mangelnde Passung darin, dass der praxis- und anwendungsbezogene Pragmatismus der Hochschulforschung nur schwer zu vereinbaren ist mit einer Ethnografie, die keinen unmittelbaren Zugriff auf ihre Gegenstände erlaubt, sondern diese immer als Konstruktionsleistung der Ethnografin repräsentiert. Die skizzierten Passungsprobleme sind als Resultat wechselseitiger symbolischer Grenzarbeit in und zwischen Ethnografie und Hochschulforschung zu verstehen. Auch wenn das Fremdeln zwischen Ethnografie und Hochschulforschung über Passungsfragen erklärt werden kann, sind die Potenziale ethnografischer Ansätze für die Hochschulforschung groß. Für die Hochschulforschung können ethnografische Ansätze besonders fruchtbar sein, weil die Hochschulforschung eng mit ihrem eigenen Forschungsgegenstand verstrickt ist. Die Hochschule ist für die Hochschulforschung ein Gegenstand, »der ihr immer schon tief im Nacken sitzt« (Hirschauer 2010: 223) – und zwar in doppelter Hinsicht: Zum einen kennt jede Hochschulforscherin die Situation, ihr professionelles Wissen an andere Forschende vermitteln zu wollen, bei diesen aber auf ein Alltagswissen zu stoßen, das immer schon Bescheid weiß (ebd.: 211). Zum anderen sind Hochschule und Wissenschaft auch der Hochschulforscherin selbst so vertraut, dass das praktische Wissen der Produktion von wissenschaftlichem Wissen im Weg stehen kann (Bourdieu 1992: 31). Die Selbstverständlichkeiten, Gewissheiten und Binsenweisheiten, mit denen sich Forschende in ihrer akademischen Lebenswelt bewegen, laufen dann Gefahr, unreflektiert in die Konstruktion von Forschungsgegenständen, in Fragestellungen und Hypothesen, Theoretisierungen und Interpretationen einzugehen. Ethnografische Ansätze haben das Potenzial, diese Verstrickung nicht nur kritisch zu reflektieren, sondern durch einen reflexiven Bruch eine Distanzierung und Befremdung des Vertrauten herstellen zu können (vgl. Bourdieu/Wacquant 2006). Neben dem reflexiven Potenzial liegen weitere Vorzüge ethnografischer Ansätze darin, in der Hochschulforschung bisher vernachlässigte Themen in den Fokus zu rücken und etablierte Kernthemen in ein neues Licht zu rücken. Diese Potenziale zeigen, warum es sich trotz der skizzierten Passungsproble-
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me sowie epistemologischer und forschungsethischer Risiken lohnen kann, an einem besseren Verhältnis zwischen Ethnografie und Hochschulforschung zu arbeiten.
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Einblicke und neue Perspektiven: Ethnografische Annäherungen an das Feld Hochschule Sophia Richter, Barbara Friebertshäuser
1 Hochschule als ethnografisches Forschungsfeld? Eine Einleitung Hochschulen als Orte der Verbindung von Forschung und Lehre, aber auch des studentischen und akademischen Lebens, des Studierens, Arbeitens und der Wissenschaft haben sich in ihrer langen Geschichte zu komplexen sozialen Gebilden entwickelt, die für Außenstehende kaum zu durchdringen sind. Viele relevante Aspekte vollziehen sich auf diversen Hinterbühnen und sind nur spezifischen Personengruppen und Amtsträger*innen zugänglich. Forschende kennen das Feld meist bereits aufgrund ihrer Hochschulausbildung, wenn sie jedoch noch Angehörige sind, benötigen sie einen fremden Blick auf scheinbar Vertrautes und auf ein hoch komplexes Forschungsfeld. Die meisten Hochschulforschungen sind quantitativ ausgerichtet (z.B. Heublein/Sommer 2000 im Kontext der Forschungen des HIS; Brändle/Becker 2021 im Kontext der Forschungen des DZHW; Middendorff et al. 2017 im Kontext der Forschungen des Deutschen Studentenwerks). Es gibt jedoch auch einige qualitative Zugänge, die die Bildungsbiografien und Perspektiven der Studierenden (vgl. z.B. Schlüter 1999; Schmitt 2010) oder Aufstiegserfahrungen von Hochschullehrer*innen (Engler 2001; Möller 2015; Reuter et al. 2020) erschließen und ausgehend von quantitativen Befunden Problemlagen offenlegen. Ein Bezugspunkt bildet hier die Geschlechterforschung, die darauf aufmerksam gemacht hat, dass das Feld Hochschule historisch sehr lange durch den Ausschluss von Frauen männlich geprägt wurde (vgl. Auga et al. 2010; Metz-Göckel 2004). Ethnografische Zugänge zu den Geschehnissen innerhalb von Hochschulen und zu Hochschulsozialisationsprozessen finden sich im deutschsprachigen Raum vergleichsweise selten – wenn es auch eine lange Tradition gibt (vgl. Apel et al. 1995; Engler/Friebertshäuser 1989;
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Friebertshäuser 1992; Engler 1993). Anders stellt sich dies für das Feld der Schule dar. Hier finden sich eine Vielzahl ethnografischer Studien (vgl. u.a. Krappmann/Oswald 1995; Breidenstein/Kelle 1998; Zinnecker 2000; Breidenstein 2006; Budde et al. 2008). Es stellt sich die Frage, in welcher Weise Hochschulen zum Gegenstand ethnografischer Forschungen werden können und wie es dabei gelingt, die blinden Flecken mit auszuleuchten, die insbesondere bei der Erforschung des eigenen Feldes den Blick trüben können. Welche sozialen Logiken sind in den Praktiken des Studierens, Lehrens und Forschens verankert und welche Interaktionen, Organisationen, Aufgaben, Angebote – aber auch Räume und Ausstattungen – sind damit verknüpft? Insbesondere die Ethnografie mit ihrem breiten Blick auf das Feld eröffnet diesbezüglich Möglichkeiten der analytischen Durchdringung, die wir in diesem Beitrag aufzeigen und exemplarisch am Beispiel eines ethnografischen Lehr-Lern-Forschungsprojektes in ihrem Ertrag diskutieren. Zu Beginn führen wir in die Ethnografie der Hochschule ein und beschränken uns dabei auf den deutschsprachigen Raum, um die spezifischen Herausforderungen dieses Feldzugangs zu diskutieren (Kapitel 2). Als Beispiel für eine mögliche empirische Umsetzung stellen wir unser Lehr-LernForschungsprojekt »Studieren – Forschen – Praxis. Erziehungswissenschaftliche Erkundungen im Feld universitären Lebens« (Richter/Friebertshäuser 2019) vor. Die Besonderheit und das Potenzial einer solchen Ethnografie der Hochschule liegt darin, dass Lehrende gemeinsam mit Studierenden ethnografische Feldforschung betreiben und dabei einerseits Akteur*innen des Feldes sind (als Studierende sowie Lehrende), aber andererseits in die Rolle von Forschenden wechseln, wobei alle zugleich auch Beforschte werden. Der Befremdung des scheinbar vertrauten Feldes der Hochschule dienen auch theoretische Perspektiven – in diesem Fall die Fachkulturforschung, die wir als Forschungsansatz erläutern (Kapitel 3). Daran anschließend diskutieren wir die Potenziale eines solchen Vorgehens und reflektieren die Grenzen, indem wir wiederum einen ethnografisch-forschenden Blick auf das durchgeführte Projekt einnehmen (Kapitel 4). Abschließend fragen wir nach dem möglichen Ertrag einer Ethnografie der Hochschule und den Grenzen dieses Zugangs (Kapitel 5). Insgesamt versteht sich der Beitrag als Anregung für weitere ethnografische Erkundungen des Feldes Hochschule – auch mit Blick auf aktuelle Herausforderungen.
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2 Ethnografische Zugänge zum komplexen Feld Hochschule – Herausforderungen und Potenziale Worin besteht die Komplexität des Feldes Hochschule? Bei der ethnografischen Erkundung von Hochschulen kommen Gebäudekomplexe, räumliche Arsenale, Artefakte und Dokumente in den Blick sowie unterschiedliche Akteur*innen mit vielfältigen Funktionen, Gepflogenheiten, Alltagspraxen, Interaktionen und Intentionen. Insofern stellt sich die Frage, welche Wirklichkeiten des Studierens, Lehrens und Forschens diese Vielfalt hervorbringt. Blickt man auf die Geschichte der Universitäten und Hochschulen, so wird offenbar, dass sie stets Stätten politischer Diskussionen und Ausgangspunkt für Reformen und Innovationen von gesellschaftlicher Tragweite waren und sind. Wie entsteht ein solches Klima, in dem Kultur vermittelt wird und sich doch erneuern kann? Was wirkt hier wie zusammen, um aus kulturtheoretischer Perspektive sagen zu können, dass wir es hier mit einem Ort der Tradition und der Erneuerung zugleich zu tun haben? Diese Aspekte und Fragen lassen sich mittels ethnografischer Forschung zum Gegenstand von Hochschulforschung machen, aber welche Herausforderungen sind damit verbunden? So spielt die Geschichte eines Feldes oder einer Institution stets eine Rolle – auch wenn sich diese den Ethnograf*innen nicht immer auf den ersten Blick zeigt. Hochschulen und insbesondere Universitäten gehören zu den ältesten Institutionen moderner Gesellschaften, denn sie können auf eine rund tausendjährige Geschichte zurückblicken. Generationen von Studierenden durchlaufen das Studium und in der individuellen und kollektiven Auseinandersetzung mit sich selbst und der Welt vollziehen sich Bildungsprozesse. Das ist zumindest das Ziel von Bildungsinstitutionen, auch wenn sich die Rahmenbedingungen und Wege im Zuge zahlreicher Bildungsreformen stets verändern. Im Laufe der Jahrhunderte haben sich akademische Bezeichnungen, Gepflogenheiten, Traditionen, Strukturen und Rituale ausgebildet, die Hochschulen bis heute prägen und als spezifische gesellschaftliche Institutionen hervorbringen. Zugleich hat sich das Feld im Verlauf der Zeit erweitert und ausdifferenziert, sodass sich unter der Bezeichnung Hochschule eine Vielzahl von Institutionen der Bildung und Weiterbildung subsumiert, die nicht nur öffentlich, sondern auch privat finanziert sind. Im Zusammenhang mit der langen Geschichte der Hochschulen steht auch das akademische Leben. Zum einen gibt es sogenannte Universitätsstädte mit ihrer spezifischen Prägung. So kann man die Universitätsstadt Marburg mit ihrer bis
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ins Mittelalter zurückreichenden Tradition und damit einhergehenden Atmosphäre (Sozial-, Zeit- und Raumstrukturen sowie Lebensstilmuster des akademischen Milieus) als »Moratoriumsstadt« bezeichnen (vgl. Friebertshäuser 1992: 110ff.). Auch repräsentieren die Gebäude (z.B. Aula, Hörsäle, Seminarräume und Bibliotheken) die Geschichte – auch hinsichtlich des Standortes der Gebäude innerhalb der städtischen Infrastruktur bis in die Gegenwart. Es handelt sich dabei um Orte, die sich bereits durch die akademischen Bezeichnungen von der sie umgebenden Welt abheben und eine eigene soziale Welt schaffen. Diese umfasst nicht nur die aktuellen Studierenden, Lehrenden, Forschenden und sonstigen Akteur*innen, sondern bindet im Hintergrund – repräsentiert durch Schriften, Bücher, Bilder, Gemälde, Gedenktafeln, Büsten, Erinnerungsorte, Straßen-, Platz- oder Gebäudenamen – auch ehemalige Studierende, Lehrende und Gelehrte ein. Aber wie wirken sich die beschriebenen Aspekte auf den Prozess der Hochschulsozialisation aus? Für die forschende Erkundung von Hochschulen in ihrer komplexen Entwicklungsgeschichte, in ihren räumlichen, sozialen und kulturellen Rahmungen, den Praktiken des Studierens, Forschens und Lehrens, bietet sich insbesondere die Ethnografie an, da sie Forschungsfelder in ihren jeweiligen Ordnungen zu ergründen sucht mit dem Ziel des Entdeckens. Diese Forschungsperspektive stellt eine wichtige Ergänzung zu den bisher dominierenden quantitativ orientierten Hochschulforschungen dar, die unter der Prämisse von Leistung, Standortwettbewerb, Qualitätsanalysen, Sozialdaten bis hin zu Studienerfolgsquoten statistische Daten und Analysen vorlegen (z.B. HIS, DZHW, NEPS).1 Ethnografische Forschungen ermöglichen durch ihren offenen Zugang die Erforschung von Antinomien und (Neben-)Effekten, die beispielsweise aus den jeweiligen städtischen und lokalen Verortungen, Leitbildern, Studienordnungen, Lehr-Lern-Konzepten, Programmen, Beratungsangeboten oder auch baulichen und räumlichen Arrangements sowie zeitlichen Taktungen resultieren. Dazu gehört auch die Geschichte, von gesellschaftlichen, kulturellen, sozialen und bildungspolitischen Umbrüchen bis zu
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Einen zentralen Stellenwert im Rahmen der Hochschulforschung nehmen inzwischen die umfassenden Forschungen und Veröffentlichungen des DZHW (Deutsches Zentrum für Hochschul- und Wissenschaftsforschung), des NEPS (Nationales Bildungspanel; National Educational Panel Study) sowie des HIS (Hochschul-Informations-System) ein, die im Rahmen staatlicher Auftragsforschung breite Erhebungen über die bundesdeutsche Studierendenschaft vorlegen. Publikationen und Kurzinformationen können online auf den Internetseiten abgerufen werden.
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Prozessen der Globalisierung und Digitalisierung sowie Krisen und Herausforderungen. Je nach Interesse und Fokussierung der jeweiligen Forschung werden sie zu relevanten ›Kontexten‹, die den Praktiken inhärent sind, sie hervorbringen, bedingen und durchziehen und damit in die forschenden Erkundungen durch die Konzeption des Forschungsdesigns involviert werden. Teilnehmende Beobachtungen bilden zumeist den Ausgangspunkt ethnografischer Forschungen. Materialitäten (wie Gebäude, Räume oder Gegenstände), soziale Praxen (wie Rituale, Gepflogenheiten oder Interaktionen) lassen sich nur über teilnehmende Beobachtungen erfassen und dokumentieren. In Erzählungen bleiben sie zumeist unerwähnt, da sie den Befragten selbst oft nicht bewusst sind oder einer Erwähnung nicht wert erscheinen. Befragungen in mündlicher oder schriftlicher Form erfassen hingegen jene Elemente, die wiederum bei einer teilnehmenden Beobachtung unsichtbar bleiben (z.B. die subjektiven Deutungen der Beteiligten einer Situation, ihre biografischen Perspektiven auf das Geschehen sowie Angaben zum Sozialstatus, um die soziale Herkunft und bisherige Bildungsbiografien zu erfassen oder etwas über die jeweiligen Lebenssituationen zu erfahren). Biografische Zugänge und Interviews werden deshalb häufig in Ergänzung zu teilnehmenden Beobachtungen eingesetzt. Gruppendiskussionen wiederum ermöglichen die Erfassung kollektiver Orientierungsmuster sowie Meinungsbildungs- oder Entscheidungsprozesse. Über diesen Zugang ließen sich beispielsweise fachkulturelle Formen des Umgangs mit spezifischen Situationen forschend in den Blick nehmen. Wissensbestände des Feldes dokumentieren sich häufig über Schriftstücke, Bezeichnungen, Bebilderungen oder Beschilderungen. Sie lassen sich als Dokumentationen von Wissen in die Analysen einbeziehen – etwa in Form von Dokumentenanalysen (vgl. Hoffmann 2018). Die Idee hinter dieser methodischen Vielfalt möglicher Zugänge ist, der Komplexität sozialer Wirklichkeit Rechnung zu tragen, um das Zusammenspiel verschiedener Einflussfaktoren in einer sozialen Welt – hier der Welt der Hochschule – genauer betrachten und analysieren zu können. Je nach Fragestellung treten Aspekte in den Vordergrund und andere bilden eine Hintergrundfolie und können bei Bedarf in die Analyse einbezogen werden. Beispielsweise lassen sich akademische Rituale (z.B. im Kontext einer Promotion) zwar beobachten, beschreiben und deuten, aber um ihre Geschichte und ihren Wandel sowie die damit einhergehenden Bedeutungszuschreibungen umfassend zu erfassen, braucht es den historischen Blick (z.B. in Universitätsarchive, historische Studien, biografische Dokumente etc.). Erst auf diese Weise lässt sich das Geschehen rund um die Promotion als ein Element
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»ritueller Bildung« in einer langen akademischen Tradition, als ein Reproduktionsgeschehen innerhalb einer generationalen und historisch entstandenen Ordnung in einem größeren Zusammenhang deuten (vgl. Friebertshäuser 2020). Und während man aus einem biografischen Interview erfahren kann, warum eine Studentin über einen Fachwechsel oder Studienabbruch nachdenkt, kann ein erweiterter Blick auf das gesamte Feld ihres Studiengangs, Studienortes und der studentischen oder akademischen Fachkultur dabei helfen, auch die Passung zum gewählten Fach mit zu überprüfen. Differenz- und machtanalytische Perspektiven auf Prozesse von Normalisierung und Etikettierung offenbaren in diesem Kontext Ordnungsbildungsprozesse, die Hochschulen als soziales Feld strukturieren und damit Zugänge, Barrieren, Ausschlüsse und Zuordnungen produzieren. Je nach Forschungsinteresse und Konzeption der Forschung sind folglich theoretische Perspektiven einzubeziehen. Sie werden an unterschiedlichen Stellen im Forschungsprozess relevant und können spezifische Deutungen eröffnen (vgl. Friebertshäuser et al. 2010). Die Ethnografie mit ihren vielfältigen Methoden und diversen Kombinationsmöglichkeiten (auch von qualitativen und quantitativen Zugängen) erhebt den Anspruch, für die jeweiligen feldspezifischen Relevanzen offen zu sein. Insofern erweist sie sich gerade für ein noch wenig konturiertes Forschungsfeld als besonders geeignet. Mittels ethnografischer Forschung lassen sich Forschungsfelder multiperspektivisch und methodenplural erfassen und analysieren. Auf diese Weise wird nicht nur die Binnenperspektive der darin agierenden Personen rekonstruiert, sondern auch das Feld selbst als Ort und verortetes Feld in einem sozialen Raum in die Analysen einbezogen. Und nicht zuletzt zielt der Ansatz darauf, auch die Forschenden selbst mit ihrer sozialen Positionierung, ihren Möglichkeiten und Grenzen in einer reflexiven Analyse einzubeziehen, zum Beispiel über die Ansätze des »reflexiven Verstehens« (Friebertshäuser 2006) oder im Rahmen der Auswertungs- und Darstellungsstrategie der »Ethnografischen Collage« (Richter 2019).
3 Studieren – Forschen – Praxis. Ein ethnografisches Lehr-Lern-Forschungsprojekt Im Folgenden möchten wir die bisher skizzierten Potenziale einer Ethnografie der Hochschule anhand eines exemplarischen Beispiels veranschaulichen. Dabei handelt es sich um ein ethnografisches Lehr-Lern-Forschungsprojekt,
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das wir mit Masterstudierenden des Fachbereichs Erziehungswissenschaften an der Goethe-Universität Frankfurt am Main über einen Zeitraum von mehreren Semestern durchgeführt haben. Dabei wählten wir als theoretischen Bezugsrahmen der ethnografischen Erkundungen die Fachkulturforschung, in die wir zunächst einführten. Die theoretische Perspektive fungierte als eine wesentliche Strategie der »Befremdung der eigenen Kultur« (Amann/ Hirschauer 1997), die insbesondere in vertrauten Feldern hilft, neue Perspektiven auf das scheinbar Verständliche und Gewohnte einzunehmen. Die ethnografischen Forschungsprojekte der Masterstudierenden und ihre Erkenntnisse wurden in einem gemeinsamen Buchprojekt publiziert (vgl. Richter/ Friebertshäuser 2019).
3.1 Zum Kontext des Forschungsprojektes Das ethnografische Forschungsprojekt zielte darauf, Studierenden den Forschungsansatz der Ethnografie durch das forschende Erkunden ihrer Hochschule zu vermitteln. Dabei sollten sie befähigt werden, Wissen als etwas Offenes, im Werden Begriffenes zu verstehen und es in seinen Entstehungsbedingungen kennenzulernen und zugleich kritisch zu hinterfragen. Dieses forschende Vorgehen als Denken in Komplexität durch reflektierte Perspektivität soll den Studierenden ermöglichen, die im Studium angeeigneten Wissensbestände selbständig für Analysen – auch später in ihrem Berufsfeld – einzusetzen. Auf diese Weise sollen die praktischen Felder stets auch forschend erkundet und die eigene Berufsausübung evaluierend und reflexiv-kritisch begleitet und so weiterentwickelt werden. Nach der Einführung in die theoretischen Perspektiven, methodologischen Debatten und methodischen Zugänge konnten sich die studentischen Forschungsgruppen selbst ihre Forschungsgegenstände suchen und überlegen, wie sie diese mit den Instrumenten ethnografischer Feldforschung forschend erkunden. Die inhaltliche und methodische Begleitung, Diskussion und Reflexion der Forschungen fand im Seminarkontext sowie in Beratungen der Forschungsgruppen statt. Das Seminar und der ethnografische Ansatz führten dazu, dass die Studierenden als Forscher*innen eigene Blicke auf das Feld der Hochschule entwickelten und in unterschiedlichen ethnografischen Erkundungen und Analysen auch neue Perspektiven und Deutungen wagten. Die so entstandenen Forschungsberichte wurden aufgrund ihrer Qualität im Rahmen einer semesterübergreifenden Schreibwerkstatt zu Artikeln erweitert und umgeschrieben.
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Auf diese Weise wurde der Umgang mit Forschungsergebnissen im wissenschaftlichen Diskurs praktiziert und damit ein zentrales Element von Wissenschaft. Indem auch die Reflexion dieses Prozesses über diverse Formen der schriftlichen Evaluation angeregt wurde, erweiterte sich beständig der Horizont der Betrachtung. Am Ende entstand ein Buch mit zahlreichen Autor*innen, die sehr besondere und teilweise intime oder überraschende Einblicke in die Welt der Hochschule und des Studierens aus Sicht von Studierenden geben und diese wiederum reflektieren. Voraussetzung dafür war jedoch die Herstellung von Distanz und Befremdung. Die scheinbar so vertraute Welt der Hochschule wurde durch die theoretischen Perspektiven der Fachkulturforschung irritiert und so öffneten sich neue und überraschende Perspektiven auf das Feld.
3.2 Fachkulturforschung als Strategie der Befremdung In welcher Hinsicht vermag die Fachkulturforschung das Feld der Hochschule zu befremden? Die Erkenntnisse der Fachkulturforschung (vgl. Liebau/Huber 1985; Huber 1991) lenken den Blick darauf, dass der Prozess der Hochschulsozialisation in fachspezifischen Kulturen stattfindet, den sogenannten Fachkulturen. Zur Fachkultur gehören die unterschiedlichen Vermittlungsformen innerhalb eines Studienfaches sowie die Lernstile und Studienstrategien der Studierenden, aber auch die Ressourcen eines Faches. Den fachspezifischen Habitus definiert Huber »als disziplinspezifische Kompetenz, nämlich Fähigkeit und Bereitschaft, verschiedene, auch neuartige Situationen gemäß generalisierten (situationsübergreifenden) Schemata zu interpretieren und entsprechende Handlungen zu generieren« (Huber 1991: 421f.). Ausgangspunkt der Fachkulturforschung ist die Beobachtung, dass Studierende einerseits viele Gemeinsamkeiten aufweisen (z.B. hinsichtlich zumeist geringer finanzieller Ressourcen), dass sie sich andererseits aber insbesondere im Hinblick auf den Umgang mit dem Studium und seinen diversen Anforderungen auch innerhalb der jeweiligen Fächer unterscheiden. Im Rückgriff auf die Arbeiten von Pierre Bourdieu vollzieht sich die Ausbildung eines fachspezifischen Habitus unter dem Einfluss diverser Faktoren. So existieren erhebliche Unterschiede zwischen den Studiengängen in der finanziellen, personellen und räumlichen Ausstattung sowie auch in den jeweiligen Fachtraditionen bis hin zur wissenschaftlichen Reputation. Dass es auch zwischen Studierenden unterschiedlicher Studiengänge Unterschiede gibt, wird im Hochschulalltag unter anderem an scheinbaren Äußerlichkeiten wie
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dem Studierverhalten, dem Umgang mit spezifischen Orten und Inhalten, teilweise anhand von Kleidung, Sprache, den Interessen oder Perspektiven auf ihre Themenfelder sichtbar. Auch dabei spielen die in den Studien von Pierre Bourdieu herausgearbeiteten Aspekte der Reproduktion sozialer Ungleichheiten hinein, denn es existieren Teilkulturen innerhalb der modernen Gesellschaft, die sich durch unterschiedliche Ressourcen an ökonomischem, kulturellem, sozialem und symbolischem Kapital auszeichnen (vgl. Bourdieu 1983). Die sozialen Positionen im gesellschaftlichen Raum korrespondieren mit den Lebensstilen der jeweiligen sozialen Milieus. Bourdieu geht davon aus, dass eine soziale Lage die Ausbildung eines spezifischen Lebensstils fördert und der Habitus die beiden Sphären miteinander verknüpft (vgl. Krais/ Gebauer 2002). Dispositionen, Haltungen und Geschmackspräferenzen werden im Laufe des Sozialisationsprozesses erworben und verinnerlicht. Die im Habitus inkorporierten Strukturen des Sozialen (Denk-, Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Handlungsmuster einer spezifischen Lebenslage) erzeugen wiederum eine milieuspezifische Auswahl der präferierten kulturellen und sozialen Praxen. Der Habitus bringt jene Strategien wieder hervor, die sich in Vorlieben für spezifische kulturelle Elemente und in Lebensgewohnheiten äußern, die zugleich wieder auf die spezifische soziale Herkunft verweisen, in der sie entstanden sind. Der theoretische Ansatz Bourdieus kann dabei helfen, die unterschiedlichen Orientierungsmuster der Individuen im Hinblick auf die dahinterliegenden Erzeugungsprinzipien mit Bezug auf ihre Lage im sozialen Raum zu analysieren und einen Zusammenhang herzustellen. Bourdieu und Passeron haben bereits in den 1960er Jahren die ungleiche Verteilung der Bildungschancen im französischen Hochschulsystem untersucht und dazu statistische Daten wie Befragungen ausgewertet, um die Mechanismen zur »Auswahl der Auserwählten« und der sozialen Reproduktion über das familiale Erbe der Studierenden und ihre Kultur zu rekonstruieren (vgl. Bourdieu/ Passeron 2007). Damit wird ein differenzierender Blick auf die Heterogenität der Studierendenschaft sowie die Spezifika des Studiums eröffnet, indem die Zusammenhänge beziehungsweise Wechselwirkungen zwischen der sozialen Herkunft oder sozialen Lage der Studierenden und deren Lebensstil bis hin zum Studierverhalten in den Blick genommen werden. Denn diese Aspekte wirken bis in die studentischen Fachkulturen hinein. So geht die Fachkulturforschung davon aus, dass sich die jeweilige studentische Fachkultur aus dem Einwirken von mindestens vier Einflusskulturen – nämlich Herkunftskultur, akademischer Kultur, studentischer Kultur und Berufskultur – formt und dass aus deren Zusammenwirken auch der Status der jeweiligen Fach-
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kultur innerhalb der Hierarchie der Fächer resultiert (vgl. Apel et al. 1995; Liebau/Huber 1985; Brändle/Becker 2021). Die Herkunftskultur umfasst die biografisch erworbenen Dispositionen der Studierenden, die ökonomischen, sozialen und kulturellen Kapitalien, die im bisherigen sozialen Milieu erworben wurden und die sowohl auf die Studienfachwahl als auch auf die Sozialisation in die jeweilige studentische Fachkultur einwirken. Die studentische Fachkultur beschreibt die studentischen Lebensstile bis hin zur gemeinsamen Praxis des Studierens. Die akademische Fachkultur umfasst das akademische Selbstverständnis mitsamt den historischen Traditionen, sächlichen Ausstattungen und Formen von Wissensvermittlung eines Faches. Die Berufskultur wirkt bereits im Studium auf die studentische Fachkultur ein – vermittelt über Fachzeitschriften, Gastvorträge, Career-Service-Angebote oder Kontakte zum Berufsfeld in Form von Praktika oder Nebenjobs. So sind die akademischen Fachkulturen eng vernetzt mit der späteren Berufskultur, dem zukunftsweisenden Professionsverständnis, in dem gesellschaftliche Positionierungen und Zustände präsent sind und daraus ziehen sie ihre Anerkennung und weitere Ressourcen. Insgesamt resultiert daraus eine Hierarchie der Disziplinen, die sich wiederum auch im fachspezifischen Habitus abbildet. In dem Projekt »Studium und Biographie« wurde dieser Zusammenhang Ende der 1980er Jahre unter Einbeziehung des Einflusses von Geschlecht auf die Mechanismen der sozialen Reproduktion in der Hochschule untersucht. Dabei wurde herausgearbeitet, dass in den fachspezifischen Habitus zugleich geschlechtsbezogene Konnotationen eingeschrieben sind (vgl. Apel et al. 1995; Engler 1993; Engler/Friebertshäuser 1989; Friebertshäuser 1992).2 In diesem Zusammenhang stellt sich auch die Frage des Einflusses eines fachspezifischen Habitus auf die Wahl eines spezifischen Studienfachs, die individuelle Passung zum gewählten Fach mit seinen fachkulturellen Spezifika, dem Studienverlauf sowie Bildungserfolg vor dem Hintergrund der Reproduktion von sozialen Ungleichheiten in Bezug auf Bildungsgänge, Entlohnung, Ausstattungen und vieles mehr. Studierende werden vermutlich durch das symbolische Kapital einer akademischen Fachkultur ebenso angezogen wie vom professionellen Feld, auf das das Studium sie vorbereitet. Die Entscheidung für ein Fach sollte somit unter Einbezug von historischen, öko-
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In dieser Zeit entstanden auch weitere Studien zu Biografien von Studierenden (vgl. Kokemohr/Marotzki 1989), zum Studieren zukünftiger Diplom-Pädagog*innen (vgl. Sturzenhecker 1993) sowie zum Habitus von Professionellen in der Praxis (vgl. Thole/ Küster-Schapfl 1997), an die angeknüpft wurde.
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nomischen und sozialen Dimensionen analysiert werden. In welcher Weise eine soziale Selektion im Kontext modularisierter Studiengänge stattfindet, analysiert Baumgart (vgl. Baumgart 2009: 307ff.). Gerade für bildungsferne Milieus stellt sich offenbar schon bei der Wahl eines Studiums und Studienfaches nicht nur die Frage, inwiefern sie den unbekannten Anforderungen gerecht werden, sondern unbewusst auch, ob sie mit ihren Denk- und Lebensweisen soziale Anerkennung oder eher Ausgrenzung von ihren Kommiliton*innen oder den Dozierenden erfahren. Wichtige Hinweise zu diesen Zusammenhängen finden sich in den Studien von Andrea Lange-Vester, Helmut Bremer und Christel Teiwes-Kügler (vgl. Bremer/Teiwes-Kügler 2013: 93ff.; Bremer 2018; Bremer/Lange-Vester 2015; Lange-Vester 2009). Vor dem Hintergrund von Studienfachwechseln, Studienabbrüchen und anderen Problemlagen (vgl. Schmitt 2010) gewinnen diese Fragen gegenwärtig an Brisanz. Eine solche Perspektive regt dazu an, Befunde in einem größeren Kontext gesellschaftlicher Reproduktionsprozesse zu betrachten. Darüber hinaus verfolgte das Forschungsprojekt die Idee, dass gerade die Ethnografie sich dem Ansatz einer »reflexiven empirischen Forschung« (vgl. Bourdieu 1993b; Rieger-Ladich et al. 2006) verpflichtet fühlen sollte, um den sozialen und kulturellen Standort von Forschenden und Feldteilnehmenden innerhalb des sozialen Raumes analytisch einzubeziehen, um auf diese Weise die Möglichkeiten und Grenzen der jeweiligen Perspektiven zu reflektieren. Der von Bourdieu verwendete französische Begriff »champ«, in deutscher Übersetzung als »Feld« bezeichnet, wird dabei in doppelter Weise bedeutsam. »Feld« bezeichnet sowohl einen Bereich oder ein Gebiet der Forschung – hier das Feld der Hochschule. Aber Bourdieu verwendet »Feld« auch analytisch-systematisch, indem er einbezieht, dass es sich auch um ein »soziales Feld« handelt, also einen Bereich des sozialen Raumes, der von bestimmten Merkmalen durchzogen ist, die mit dem Besitz von kulturellem und ökonomischem Kapital einhergehen. Dabei interessiert sich Bourdieu dafür, die Logik des Funktionierens eines bestimmten Feldes zu enträtseln (vgl. Krais 1989: 55ff.). Den sozialen Raum gliedert Bourdieu in unterschiedliche Felder, die jeweils eine eigene Logik besitzen und mit einer unterschiedlichen Verteilung von ökonomischem, kulturellem und sozialem Kapital verbunden sind. »In einem Feld gibt es Kämpfe, also Geschichte«, schreiben Bourdieu und Wacquant (Bourdieu/Wacquant 1996: 133). Das dahinterstehende Denken ist relational und historisch dynamisch, das wird in seiner Studie zum »homo academicus« anschaulich (Bourdieu 1988). Das Feld der Hochschule wäre somit im sozialen Raum zu verorten, aber auch die unterschiedlichen Fachkulturen
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bilden innerhalb dieses Raumes noch einmal eine Anordnung ab, die sich aus dem speist, was die Fachkulturforschung bereits genauer beschrieben hat. Daraus resultiert, dass für die Ethnografie der Hochschule ein Bereich mit in den Blick genommen werden müsste, der sich den klassischen ethnografischen Zugängen entzieht und einer Erweiterung bedarf, beispielsweise im Sinne einer diskursanalytischen Ethnografie (vgl. Ott et al. 2012). Dokumentenanalysen als ein Zugang gehören zwar mit zum Methodenrepertoire der Ethnografie (vgl. Hoffmann 2018), sollten jedoch in ihren analytischen Potenzialen noch weiter ausgeschöpft werden, um gesellschaftliche Reputation, historische Traditionen und Zuschreibungsprozesse als Kontextualisierungen in die Analyse ethnografischer Daten einzubeziehen und damit die Praktiken auf der Mikroebene in ihren wechselseitigen Verschränkungen zur Meso- und Makroebene zu ergründen. Vor diesem Hintergrund muss sich eine Ethnografie der Hochschule stets kritisch befragen lassen, wie viele Elemente dieser Relationen des erforschten Netzes von Bedeutungen, Deutungen und Vernetzungen mit dem gesellschaftlichen Kontext sie aufzudecken vermag. Eine so zu gewinnende Metaperspektive hätte somit sowohl die Handelnden wie die Forschenden im Blick einer reflexiven Analyse.
4 Empirische Einblicke ins Feld Hochschule – Einsichten aus ethnografischen Zugängen Was kommt in den Blick, wenn Masterstudierende im Masterstudiengang Erziehungswissenschaften der Goethe-Universität Frankfurt am Main ihren Studiengang, ihre Lebenswelt und das Studieren selbst zum Forschungsgegenstand machen? Im Folgenden skizzieren wir einige der Forschungsfragen und empirischen Perspektiven der Studierenden, um Einblicke in ihre Forschungen im Feld der Hochschule zu geben und weitere ethnografische Erkundungen anzuregen. Den über die ethnografischen Zugänge gewonnenen Einsichten und Grenzen der Erkenntnis unter methodischen beziehungsweise methodologischen Aspekten wenden wir uns am Ende des Beitrages zu. Folgenden Forschungsinteressen und -fragen sind die Studierenden nachgegangen: Was bedeutet Studium und Studieren nach dem Bologna-Prozess? Welche Räume lassen die Studienstrukturen in modularisierten Studiengängen für Such- und Forschungsprozesse sowie Selbstbestimmung und Autonomie von Studierenden? Wie nehmen Studierende das Verhältnis von Freiheit und Zwang im Studium wahr und wie gehen sie damit um? Wie gestaltet sich der Studienalltag?
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Wie wird studiert und welche Herausforderungen stellen sich? Weshalb wird studiert und mit welchem Ziel? Wie lassen sich Studium und Hilfskrafttätigkeiten, Praktika und Berufstätigkeit verbinden und welche Spannungsverhältnisse entstehen daraus? Was sind Orte studentischen Lebens und Studierens und welche Praxen finden sich dort (z.B. in der Bibliothek)? Welche besonderen Schwierigkeiten und Problemlagen artikulieren Studierende, die aus der öffentlichen Erziehung kommen oder Deutsch als Zweitsprache erworben haben? Dabei wurde auch nach dem Theorie- und Praxisverständnis von Studierenden und Lehrenden gefragt, wobei die Vielfalt der erziehungswissenschaftlichen Fachkulturen sichtbar wurde. Beleuchtet wurden auch die vielseitigen Verhältnisse von Studium und Nebentätigkeiten in und außerhalb von Hochschulen in ihren wechselseitigen Bezügen und Anforderungen im Kontext von Wissenschaft-Praxis-Verhältnissen. Fachkulturtheoretische Perspektiven offenbaren hier konkurrierende Anforderungen von studentischen, akademischen und berufsfeldbezogenen Kulturen, wobei die Studierenden unterschiedliche Strategien des Umgangs innerhalb dieser Spannung ausbilden. Auch Orte des Lernens und studentischen Lebens kommen dabei in den Blick: die Bedeutung der Bibliothek als Ort der Stille und des Forschens und Lernens oder Spezifika des studentischen Wohnens. Mit dem Blick auf das wissenschaftliche Schreiben im Studium in einer Fremdsprache oder den Bildungs- und Studienbiografien von ›Care Leavern‹, die nach dem Verlassen öffentlicher Erziehungsinstitutionen allein vor einer Fülle von Anforderungen stehen, kommen Dimensionen in den Blick, die auch einen Studienabbruch produzieren können. Die einzelnen Befunde sind im Sammelband nachzulesen (vgl. Richter/Friebertshäuser 2019). Gemeinsam ist all diesen forschenden Erkundungen von Masterstudierenden, dass sie einen studentischen und zugleich forschenden Blick auf das Feld Hochschule einnehmen und auf diese Weise Leerstellen der bisherigen Hochschulforschung und blinde Flecken der Institution Hochschule ausleuchten. Den studentischen Autor*innen gelingt es, durch ihre Forschung auch jene Bereiche sichtbar zu machen, die vonseiten der Universitäten und ihrem Personal weitgehend unbeachtet geblieben sind, auch fehlten häufig bei den genannten Problemlagen zielgruppenspezifische Unterstützungsangebote. Wir als Dozentinnen wurden durch diese Analysen und Forschungsbefunde daran erinnert, dass jede soziale Position in einem Feld mit spezifischen Perspektiven einhergeht und dabei auch blinde Flecken unvermeidlich sind. Lehrende und Angehörige der akademischen Fachkultur sind zwar stets auch
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Forschende, aber dennoch fehlen ihnen in der Regel Einblicke in die Welt des Studierens aus studentischer Sicht oder Zugänge zu den Problemen, mit denen sich Studierende auseinandersetzen (müssen). Worin liegt nun der Ertrag oder Gewinn solcher Studien und welche Grenzen sind zu reflektieren? Eine solche Befremdung der eigenen Kultur kann Lehrenden etwa Einblicke in studentische Praktiken und Perspektiven auf Wissenschaft und Hochschule vermitteln und die Herausforderungen und Zumutungen des Studiums sichtbar machen. Die Konstruktion von Idealstudierenden, die oftmals der Konzeption von Lehre und den mit Prüfungen einhergehenden Anforderungen an die Studierenden unterlegt ist, kann dabei sichtbar und irritiert werden, um neue Ansichten und Einsichten zu generieren. Ein Spiegel von außen, der eigene Haltungen, Annahmen, Praktiken und Arbeitsbedingungen für Studierende zu reflektieren hilft, kann den eigenen Horizont erweitern und das Verstehen befördern. Irritationen entstehen aber auch durch die Forschung selbst, indem die doxa eines Feldes aufgedeckt wird. Pierre Bourdieu bezeichnet damit »die Gesamtheit dessen, was als Selbstverständliches hingenommen wird, insbesondere die Klassifikationssysteme, die festlegen, was als interessant bewertet wird und was als uninteressant, wovon niemand denkt, daß es erzählt zu werden verdient, weil keine (Nach)Frage besteht« (Bourdieu 1993a: 80). Deshalb kommt der Ethnografie mit ihrem zentralen Element der teilnehmenden Beobachtung und der Analyse von Alltagspraxen eine große Bedeutung bei der Aufdeckung des scheinbar Selbstverständlichen zu. Interessant in unserem Kontext und für die Reflexion ist, dass er diese doxa auch bei den Forschenden als Problem benennt. Die doxa, das was als Selbstverständliches hingenommen wird, zeigt sich dann beispielsweise darin, dass bestimmte Fragen gestellt werden und anderes ausgeblendet bleibt. Aber auch bei der Auswertung der Daten spielen die Klassifikationssysteme der Forschenden eine Rolle, indem sie festlegen, was in den Blick der Forschung genommen wird und was unberücksichtigt bleibt, sodass spezifische Fokussierungen entstehen, die auf den verinnerlichten Mustern der scheinbaren Selbstverständlichkeiten basieren. Diesbezüglich waren die Beratungsgespräche mit den studentischen Forschungsgruppen Momente der wechselseitigen Irritation. So erhielten wir als Lehrende Einblicke in verborgene Aspekte studentischen Lebens und damit einhergehende Fokussierungen und die Studierenden wiederum Einblicke in erziehungswissenschaftliche Forschung, Lehre und hochschulorganisatorische Fragen (z.B. Hochschulfinanzierungen, Ressourcen an Fachbereichen). Wenn nun Studierende als Forschende im Feld der Hochschule
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aktiv werden, dann besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass sie anders schauen und Aspekte fokussieren, die bisher wenig oder gar keine Beachtung gefunden haben. Da auch der Auswertungsprozess im Seminarkontext begleitet wurde, dominierten in diesen Interpretationsforen ebenfalls die studentischen Deutungen, Perspektiven und damit verbundene Fokussierungen. Um die Grenzen der eigenen Befunde zu erkunden, gilt es, die Kontexte von Forschung in die Analysen einzubeziehen. Dazu gehören auch Herrschaftsverhältnisse, die stets ihre Wirkungen auf Denk-, Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Handlungsmuster ausüben. Bourdieu schreibt dazu, dass es gilt, auch die Stellung zu beleuchten, die die forschende oder analysierende Person nicht nur innerhalb der sozialen Struktur im weiten Sinne, »sondern innerhalb des wissenschaftlichen (oder universitären) Feldes einnimmt, das heißt in dem objektiven Raum sozialer Positionen, die sich zu einem bestimmten Zeitpunkt innerhalb einer bestimmten wissenschaftlichen Welt darbieten« (Bourdieu 1993b: 369f.). Unsere Positionierung als Ethnografinnen des Feldes Hochschule und als Hochschullehrerinnen, als Lehrende und Prüfende zugleich kritisch zu beleuchten, das bleibt an diesem Punkt noch eine Leerstelle. Wir müssen davon ausgehen, dass größere blinde Flecken existieren und es weiterer Perspektiven bedarf, um diese aufzuklären. Abschließend soll der Blick noch einmal geweitet und das beschriebene Vorgehen noch einmal eingebettet werden in die methodischen und methodologischen Debatten sowie das Forschungsfeld der Hochschulforschung insgesamt, um daran anschließend Perspektiven für weitere ethnografische Hochschulforschungen zu entwickeln.
5 Möglichkeiten und Grenzen einer Ethnografie der Hochschule – Ausblick Seit den frühen Ansätzen der Ethnografie im pädagogischen Feld, die mit den Namen von Martha Muchow (vgl. Muchow/Muchow 1935) und Jürgen Zinnecker (vgl. Zinnecker 1995) verbunden sind, hat sich der Ansatz verbreitert und weiterentwickelt (vgl. Breidenstein et al. 2013). Zinnecker plädierte für eine »pädagogische Ethnographie« und interessierte sich dabei für den »heimlichen Lehrplan« der Schule, das Unterleben oder die »Hinterbühnen« einer Institution, für Selbstzeugnisse von Kindern und Jugendlichen, ihren Alltag in pädagogischen Einrichtungen und ihre Sicht auf die Welt sowie für den historischen Wandel (Zinnecker 1995, 2000). Daran anknüpfend haben auch
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wir in unseren ethnografischen Erkundungen versucht, das Feld Hochschule aus der Perspektive der darin Agierenden zu erfassen und dabei der Komplexität und Vielfalt nachzugehen, um auch das Unsichtbare sichtbar zu machen. Die forschenden Studierenden adressierten und befragten in anderer Weise als von außen kommende Personen. Sie erforschten ihr Feld und ihre Lebenswelt. Die unterschiedlichen Sichtweisen auf die Universität, auf das Studieren, Forschen und die Praxis führen zu neuen Ansichten und Einsichten in die Praktiken des Studierens, Forschens und Lehrens – sowohl für die Studierenden als auch für uns als Forschende und Lehrende. Insofern stoßen solche Projekte auch Veränderungen von Selbst- und Weltverhältnissen und damit Bildungsprozesse an, durch Irritationen des scheinbar Bekannten und Vertrauten. Wir haben uns bemüht, ganz im Sinne Humboldts eine Gemeinschaft von Lehrenden und Forschenden über das forschende Lernen herzustellen (vgl. Humboldt 1809/10). Das mag nicht immer gelungen sein. In jedem Fall sollten sich hierzu weitere Reflexionen anschließen, um die Rahmenbedingungen und Voraussetzungen für egalitäre Deutungsprozesse zu ermitteln. Die hier von uns beschriebene Form einer methodisch und theoretisch generierten Irritation fungierte als eine Strategie der permanenten Distanznahme den Forschungsgegenständen und -feldern sowie den eigenen Formen des Denkens, Wahrnehmens, Bewertens und Handelns gegenüber – wobei kritisch anzumerken ist, dass damit ebenfalls eine spezifische Deutung einhergeht. Eine partizipative Forschung in Form von Lehr-Lern-Projekten birgt das Potenzial, die Praxis des Forschens zu hinterfragen und damit neben der Produktion von Erkenntnis zugleich die Bedingungen der Erkenntnisproduktion zu betrachten. Denn auch wenn Hochschulen für sich reklamieren, Orte der Aufklärung zu sein, gilt es stets, diesen Anspruch auch einzulösen. Das hier exemplarisch beschriebene Forschungsprojekt fand noch vor der Covid-19-Pandemie statt, kurz nach der Buchpräsentation im März 2020 mussten jedoch die Hochschulen ihren Präsenzbetrieb auf ein Minimum reduzieren und während wir diesen Beitrag schreiben, liegen drei Semester Pandemie und digitale Lehre hinter uns. So stellen sich zahlreiche neue Forschungsfragen, die über einen ethnografischen Zugang untersucht werden könnten. Wie verändern sich Praktiken des Studierens, Lehrens und Forschens in Hochschulen mit kaum oder gar keinen Orten der Begegnung in Präsenz? Was bedeutet Online-Lehre und Online-Beratung für das studentische Leben und Erleben des Studiums? In der Pandemie und angesichts des Fehlens an Präsenz rücken jene Aspekte des Lehrens und Lernens in
Sophia Richter, Barbara Friebertshäuser: Einblicke und neue Perspektiven
den Fokus, die sich über körperliche Kopräsenz und all die Momente am Rande des öffentlichen Geschehens ereignen (die Nachfragen nach der Vorlesung oder dem Seminar, die teilweise auch persönlichen Fragen oder Probleme, die man mit den Lehrenden, aber besonders den Mitstudierenden im informellen Raum besprechen kann u.v.m.). Wie wichtig sind diese Begegnungen und der Ort der Hochschule selbst für das Lernen, den eigenen Bildungsprozess, die Entwicklung einer Verbundenheit untereinander sowie zwischen Lehrenden und Studierenden, für die Studienmotivation und den Studienerfolg am Ende? Hier könnte dieses reale Krisengeschehen auch als Krisenexperiment gedeutet werden, um nach Garfinkel jene Selbstverständlichkeiten studentischen Seins offenzulegen, über die wir noch gar nicht nachgedacht haben (vgl. Garfinkel 1973). Um diese Elemente studentischen Lebens näher zu erforschen, benötigt man Zugang zu den Orten, an denen sich studentisches Leben entfaltet. In der Pandemie und der gegenwärtigen Phase des digitalen Studiums mit dem Lehren und Lernen in Distanz stellen sich hier auch Herausforderungen für die ethnografische Forschung unter dem Thema einer digitalen Ethnografie und einer Ethnografie des Digitalen samt einer Reflexion von Digitalität.
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II Ethnografien hochschulischer Settings
Instruktion und ihre Teilnehmer1: Was ist in einem Seminar? Kornelia Engert
1 Methodologien der Instruktion Im alltäglichen Lehrbetrieb der Universitäten kennen wir verschiedene Veranstaltungsformen der Wahl oder Pflicht. Studierende werden im zyklischen Turnus der Semester in Fachgebiete und deren Grundlagen eingeführt. In den Lehrveranstaltungen wird nicht nur ein fachspezifisches Wissen vermittelt, sondern es gehen auch bestimmte Anforderungen und Erwartungen einher, mit denen sich Studierende konfrontiert sehen. Wir finden alle diese Veranstaltungen in Verzeichnissen der Universitäten, mit einer Zuordnung zum Lehrpersonal, zu Studiengängen, (analogen wie digitalen) Räumen und Terminen. Sie stehen für ein Curriculum, das in Form von Studien- und Prüfungsordnungen verfasst ist und die Konzeption eines zusammenhängenden und doch modularen Studienganges darstellt. Bestimmte Lehrangebote versprechen einen Originalitätscharakter, andere bleiben Daueraufgaben. Der akademische Rhythmus verdichtet den Jahreszyklus um einen weiteren Durchlauf: im Kalenderjahr sind zwei Semester zu studieren. Das damit verbundene Lehrpensum wird in Inhalte übersetzt, das heißt in einen Syllabus oder ein Vorlesungsmanuskript, sowie in Zeitstunden gewichtet – und zueinander ins Verhältnis gesetzt. Auf die Planung folgt die Durchführung und formatiert unterschiedliche Praktiken des Studierens: eine Vorlesung hören, am Seminar teilnehmen, ein Studienprojekt durchführen.
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Analytische Begriffe wie Teilnehmer, Mitglieder, Akteure, Sprecher etc. werden hier behandelt als Hinweise auf ein vorliegendes Vokabular bestimmter Methodologien, nicht als ›Stellvertreter‹ für ein soziales Geschlecht. Sie entsprechen den in der englischen Literatur verwendeten Begriffen (wie participant, member, actor, speaker etc.).
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Ethnografien hochschulischer Settings
Die soziologische Betrachtung des universitären Lehrens und Studierens ist bislang im Kontrast zur qualitativen Schul- und Unterrichtsforschung vergleichsweise unterrepräsentiert. Es lassen sich aber drei Forschungsstränge herausstellen, die zentrale Ansätze für weitere Untersuchungen liefern. Erstens lassen sich ethnomethodologische und konversationsanalytische Studien nennen, die vor allem zu Beginn ihrer Entstehung von der Wissensvermittlung im Nahbereich ausgingen und dann den Fokus in Richtung Schulunterricht ausgeweitet haben (zum Überblick, siehe Watson 1992; Macbeth 2003). In dieser Perspektive kommt der Wissenspraxis eine prototypische Rolle für jegliches soziale Handeln zu: indem Teilnehmer füreinander darstellen, wie sie sich verstanden wissen wollen, liefert der praktische Handlungsvollzug Interpretationshilfen – Instruktionen – für die Mitwelt und die Mitglieder. Die Details im Handlungsvollzug, die Art und Weise des Sprachgebrauchs und die »instructable order of things« (Rawls 2006: 16) verweisen auf zentrale Darstellungs- und Verstehensleistungen, die sie voraussetzen. Diese stehen sowohl für den Spielraum der Teilnehmer und ihre Kompetenz, als auch für die Anfälligkeit sozialer Situationen für Störungen und Krisen. Das Verhältnis von Planung und situiertem Vollzug ist dabei von besonderem analytischen Interesse. Zweitens lassen sich in der Organisationssoziologie Ansätze finden, die sich für die Formation von Nachwuchs interessieren, mit einem besonderen Schwerpunkt auf Sozialisationsprozesse (u.a. Van Maanen 1978). Instruktion bezeichnet dann einen organisierten Vorgang, der auf nachhaltige Veränderungen von Individuen abzielt. Der analytische Fokus liegt dabei auf den Verfahren und Behandlungsprogrammen, die von Novizen passiert und absolviert werden. Die Hochschule kann drittens als zentrales Feld gesellschaftlicher Differenzierung verstanden werden, mit wirksamen Mechanismen der sozialen Reproduktion und Rekrutierung in »epistemische Kulturen« (Knorr Cetina 1991). Auch fachübergreifende Erträge des Studiums – jenseits von Titeln – sind als impact höherer Bildung verschiedentlich untersucht worden (Feldman/Newcomb 1969; Mayhew et al. 2016; kürzlich: Broćić/Miles 2021). Ein klassisches Format der universitären Bildung ist der akademische Vortrag bzw. die Vorlesung. Daran lassen sich paradigmatisch die Asymmetrie von Lehrpersonal und Studierenden, die unterschiedlichen Beteiligungsrechte und ein Gefälle in der Verfügung über das Wissen festmachen. Instruktion wird dann als spezifische Performance gefasst, die sich von alltäglichen Formen sozialer Interaktion absetzt. Mit einem Fokus auf die sprachliche Darstellung kommen Fragen der Repräsentation zum Vorschein. So thematisiert Bourdieu in seiner Antrittsvorlesung am Collège de
Kornelia Engert: Instruktion und ihre Teilnehmer
France (1985) die Frage, was es heißt, zu sprechen – an einer französischen Elite-Universität, in einem Hörsaal? Er adressiert den Nexus von Wissen, Rhetorik und Macht, der das Wissen um die Macht und Selbstermächtigung einschließt. Zugleich verweist er auf ein soziales Ritual, mit dem das Lehrpersonal nicht nur ein Format zitiert, sondern es wiederbelebt.2 Mit Blick auf den gesellschaftlichen Ernst in der Logik des Spiels ist die Lecture von Goffman (1981) als eine populäre Redeweise unter anderen thematisiert worden, zum Beispiel neben dem Radio Talk. Als spezielle Wendung hält er fest, dass diejenigen, die einen Vortrag halten, sich dem Urteil derjenigen unterziehen, die selbst nie dieser Lage ausgesetzt sind; eine Form der Asymmetrie, die in starken Sprecher-Modellen nicht thematisiert wird. Wie viel Bedeutung dem Gegenstand beigemessen wird, hängt nicht zuletzt von der analytischen Haltung ab. Die Ethnomethodologie lenkt den Fokus zu den Alltagsmethoden und der spezifischen Arbeit, die vollbracht wird: Lehrende machen ihren Job, Studierende einen anderen. Instruktion ist dann beobachtbar als ein Arbeitsgang: das Sprechen verweist auf etwas, was an der Tafel geschrieben steht, abgeschrieben oder nachgelesen werden kann und somit vom Format der Vorlesung abhebt und anfängt, zu zirkulieren.3 Die Dinglichkeit des Stoffs und seine Herrichtung kommen als erweiterte Reichweiten der instruktionellen Vor- oder Nacharbeit ins Blickfeld (Röhl 2016, siehe auch dieser Band). Die Konstitution des Wissens bleibt nicht auf Aspekte der Vermittlung beschränkt, sondern wird auf Momente der Bewertung ausgeweitet (Kalthoff/Engert 2021). Durch den Schwerpunkt auf Trajektorien und Dramaturgien wird in einer Perspektive der studies of work (Garfinkel 1986) die empirische Untersuchung nicht strikt von anderen Arbeitsplätzen
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In pandemischen Zeiten hat sich die Stellung von Vorlesungen für das Studium auf neue Art manifestiert. Einerseits lässt sich die Vortragsform gut in asynchrone, digitale Formate übersetzen, andererseits wird eine Sehnsucht nach Studienerfahrungen kommuniziert, mit denen sich Studierende ihrer Bevölkerung und Präsenz auf dem Campus und in den Vorlesungssälen rückversichern. Für die einen, die ›den Stoff‹ lehren, ist es im Grunde »uninteressant«; für diejenigen, die eine Klausur darüber schreiben, erzeugt es zum Ende der Vorlesung ein gewisses Rauschen: »War es das?« – Eine Sitzung, zu einem bestimmten Zeitpunkt in einer Bildungsorganisation und ein Abschnitt eines Curriculums der Chemie, dessen Fortsetzung in der darauffolgenden Woche folgt (vgl. Garfinkel 2002: 219ff.). In dieser Wissensarbeit leistet nicht nur das Sprechen einen Beitrag, sondern auch die Praxis des Schreibens (z.B. ›Höhere‹ Mathematik an einer Tafel), sowie die Zeichenhaftigkeit des Stoffs (Greiffenhagen 2014).
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Ethnografien hochschulischer Settings
unterschieden. Forschung und Lehre an der Hochschule, aber auch an anderen Orten der wissenschaftlichen Bildung, sind dann ein bestimmtes ›doing‹ science: nämlich teaching science. Die ethnomethodologische Schul- und Unterrichtsforschung hat bereits aufgezeigt, was zu gewinnen ist, wenn Instruktion nicht nur als symbolische Form betrachtet, sondern eine stärker prozessuale und interaktionistische Sicht eingenommen wird. Wird soziale Ordnung also nicht schon voraussetzt, sondern untersucht, wie diese von den Teilnehmenden situiert, aktualisiert und als Ressource genutzt wird, geraten konstitutive Momente und Elemente von Ordnungsprozessen in den Blick. In den vorliegenden Analysen verfügen Lehrpersonen vor allem dann über die Kontrolle der Wissensbestände, wenn sie das Recht zur Initiative und Evaluation von Redebeiträgen auf ihrer Seite verorten (z.B. Mehan 1979; Kalthoff 2000). Auch die von Lehrpersonen angeleitete Selbst-Korrektur ist als ein wichtiges, schulisches Merkmal der Instruktion beschrieben worden (vgl. McHoul 1990). Die zeitliche Taktung lässt sich dahingehend untersuchen, wie eine Sitzung anfängt, wie sie am Laufen gehalten oder zum Abschluss gebracht wird (Eglin 2009). Mit stärkerem Interesse an der Studierendenperspektive fasst Tyagunova (2017) deren Partizipation analytisch als ›Studierendenjob‹, bei dem Praktiken der Abwesenheit in der Anwesenheit und die Vermeidung von Teilnahme herausgearbeitet werden. Damit schließt sie an Perspektiven an, die den Fokus weniger auf Instruktion legen, sondern auf Formen der Teilnahme.4 Für die Analyse der hochschulischen Lehre bieten sich hier viele Anknüpfungsmöglichkeiten. Zum einen kann der dominierende Bezug auf die Vorlesung aufgebrochen werden. Zum anderen stellt sich die Frage, was der Schulund Unterrichtsforschung hinzugefügt werden kann, sobald die universitäre Lehre untersucht wird. So verfügt die universitäre Lehre über ein ausgeprägtes, historisches Repertoire an Praktiken, das weiter zurückreicht als die moderne Auffassung des klassischen Schulunterrichts (vgl. Hamann 2015; Reh/ Klinger 2020). Zudem hält die Universität daran fest, nicht nur Studierende zu instruieren, sondern die Bildung des Personals in die Lehre mit einzuschließen.
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Zu Formen studentischen Widerstands gegenüber akademischer Performanz, siehe Benwell und Stokoe (2007); für eine Perspektive auf Schülerinnen und Schüler, siehe Breidenstein (2006).
Kornelia Engert: Instruktion und ihre Teilnehmer
2 Seminare als utopische, spezifische oder alltägliche Orte der Lehre? Mit dem Fokus auf Teilhabe und Teilnahme rückt die Frage nach der Mitgliedschaft ins Zentrum. Organisationale Zugehörigkeit ist im akademischen Lehrbetrieb in der Regel nicht auf Dauer gestellt, sondern temporär oder prekär. Als Durchgangsorte bieten Universitäten wenig Handfestes, was Zugehörigkeit stiftet und stärken so den Bezug zur Utopie. Damit bezieht akademische Bildung ihre wesentliche Attraktivität aus dem, was sie zu ermöglichen verspricht (nicht aus dem, was sie bieten kann). Diese Hinwendung zur Potenzialität – des Unvollkommenen, immer noch Werdendem – scheint in der Lehre vor allem das akademische Seminar zu verkörpern. In klassischer, geisteswissenschaftlicher Perspektive hat Roland Barthes (2006) diesen modus operandi folgendermaßen formuliert: »Im Seminar (so lautet seine Definition) ist jeder Unterricht verworfen: Keinerlei Wissen wird übermittelt (aber ein Wissen kann geschaffen werden), keinerlei Diskurs wird gehalten (aber ein Text sucht nach sich): der Unterricht ist enttäuscht. Entweder arbeitet einer vor den anderen, forscht, produziert, setzt zusammen, schreibt; oder alle regen einander an, rufen einander, lassen das zu hervorbringende Objekt, die zu gestaltende Vorgehensweise zirkulieren, die somit am Faden des Begehrens von Hand zu Hand geht wie der wandernde Taler im Spiel. […] Der Raum des Seminars kann geregelt sein (ein Spiel ist dies immer), aber nicht reglementiert; keiner ist der Vorgesetzte des anderen, keiner ist da, um zu überwachen, zu verbuchen, anzuhäufen; jeder kann darin reihum zum Zeremonienmeister werden; das einzige Merkmal steht am Beginn; es gibt nur eine Anfangsfigur, deren Rolle – die nur eine Geste ist – darin besteht, den Taler in Umlauf zu bringen« (ebd.: 363f.). Im Kontext einer Sprache, die bei Barthes nicht von der Herrschaft her gedacht wird, sondern vom Begehren, folgt die Interaktionsordnung dem Sprecherwechsel. Damit wird die Auseinandersetzung mit dem Text – Redezug um Redezug – in die Mündlichkeit versetzt und zirkuliert. Das Zurückhalten der Instruktion ist Teil einer Gelingensbedingung: Nur so kann ein Wissen entstehen, dass noch nicht vorliegt. Gleichzeitig überdeckt die Idee der forschenden Lehre ihren fiktionalen Charakter. Eine Sprachgemeinschaft wird angenommen, aber welche Bedingungen braucht es, um diese aufrechtzuerhalten? Und wie gewandt müsste diese Gemeinschaft sein? Welches Seminar bringt den Stoff hervor, um es rückwirkend etwa theoriegeschichtlich oder
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als Zeugnis universitärer Lehre heranzuziehen (z.B. Braunstein 2016)? Die eingangs beschriebene Wende hin zu einer Alltagssoziologie höherer Bildung kann hier analytischen Mehrwert bieten. Dabei interessieren im Folgenden die Alltagsmethoden und das Erfahrungswissen der Teilnehmer, ebenso wie die wechselnden Seminarformen – zwischen Instruktion und Interaktion – sowie deren Populationen. Forschungsökonomisch und -analytisch ist zunächst zu entscheiden, ob Seminare über einen längeren Zeitraum beobachtet werden sollen (z.B. im Zyklus eines Semesters), oder ob unterschiedliche Seminartypen interessieren, auch im Hinblick auf das Spektrum universitärer Disziplinen. Seminare für Erstsemester und solche im fortgeschrittenen Studienverlauf lassen sich kontrastieren: was wird vorausgesetzt, was eingeübt und wie verläuft die Teilnahme? Für die Beobachtung der Lehre im digitalen Raum ergeben sich weitere Zugangsbedingungen und -restriktionen. Neben lokalen Studien- und Prüfungsordnungen, Seminarbeschreibungen und zugeordneten Lehrpersonen gestalten die Studierenden ihren Studienverlauf über getroffene Wahlentscheidungen (wie Veranstaltungsbesuch, Auslandsaufenthalte oder Studienplatzwechsel) mit. Lenger et al. (2018) halten aber fest, dass Studierende bei Studieneintritt meist nicht über das feldspezifische Wissen verfügen, um den Studiengang, oder den -ort immer entsprechend dessen Position im wissenschaftlichen Feld einschätzen zu können. Lehrende wiederum stehen mit ihren Auffassungen einer ›guten Lehre‹ und ihren Alltagserfahrungen für ein Fach, das in sich ausdifferenziert ist und je nach Standort andere Schwerpunkte aufweisen kann. Im Folgenden widmet sich der Beitrag dem Teilnehmerwissen und der ethnografischen Teilnahme in geschichtswissenschaftlichen Seminaren. Dies zum einen, weil es sich um eine traditionelle universitäre Disziplin handelt, in der die Lehrform fest verankert ist. Zum anderen, weil die historischen Wissenschaften (wie auch andere geisteswissenschaftliche Fächer) mit der Aktualisierung ihrer Relevanz konfrontiert sind. Der Wandel der Disziplin stellt klassische Ideale geisteswissenschaftlicher Bildung auf den Prüfstand und die universitäre Lehre bleibt davon nicht unberührt (vgl. auch Arendes et al. 2020). Schlagworte wie Digital Humanities lassen sich hier nennen, aber auch die Stellung der Lehramtsausbildung für das Fach. Mit und durch Seminare wird eine spezifische, disziplinäre Sicht und Fachsprache eingeübt. Sie eröffnen den Zugang zu wissenschaftlichen Diskursen und praktizieren dies in Form studentischer Fachvorträge, der gemeinsamen Diskussion ausgewählter Literatur und dem Verfassen schriftlicher Hausarbeiten.
Kornelia Engert: Instruktion und ihre Teilnehmer
3 Ethnografie und Teilnehmerwissen Nicht alle Orte, Szenen und Gelegenheiten wissenschaftlicher Bildung lassen sich gleichermaßen durch teilnehmende Beobachtung erschließen. Stark vereinzelte Tätigkeiten des Lesens und Schreibens, die Konzeption von Lehrveranstaltungen oder auch Prüfungs- und Bewertungskontexte stellen zunächst nicht-öffentliche Domänen des Teilnehmerwissens dar. Dennoch sind solche internen und externen Grenzziehungen von Feldern sowie deren Differenzierungen für einen ethnografischen Zugang bedeutsam (vgl. auch Kalthoff 1997; Miethe et al. 2014). Im Vergleich zur Ethnomethodologie bleibt die Ethnografie weniger indifferent gegenüber ihren Gegenständen und reflektiert den Feldzugang als ein Abtasten und Aushandeln im Wechselspiel ausdifferenzierter open und closed shops. Das in diesem Beitrag verwendete Material entstammt einem Forschungskontext,5 in dem die akademische Lehre als ein Ort verstanden wird, an dem nicht nur gelehrt, sondern Studierende begleitet, geprüft und bewertet werden. Universitäten und Schulen bilden Personen, bewerten sie aber auch und ordnen sie ein (Kalthoff 2018a). Damit repräsentieren sie Settings der Vergesellschaftung und der sozialen Differenzierung (Hirschauer 2017). In diesem Beitrag steht das Teilnehmerwissen derjenigen Mitglieder im Vordergrund, deren professioneller Alltag es vorsieht, dass sie andere Mitglieder beurteilen, begutachten und bewerten. Bildung lebt von Unterschieden in der Verfügbarkeit von Wissen, führt diese aber nicht auf Unterschiede der Teilnehmer zurück; gleichzeitig werden Studierende durch die Bewertung als Unterschiedene markiert. Mithilfe ethnografischer Interviews lassen sich Bestände des Teilnehmerwissens aufschließen, die sich in der situierten Lehre nicht immer oder nicht in aller Deutlichkeit beobachten lassen. In Stellungnahmen und Beschreibungen formulieren Mitglieder soziale Kontexte – stellen klar, berichten, kontrastieren – und liefern so accounts der Lehre mit denen sie ihre Praxis verständlich machen (Garfinkel 1967). Dass Teilnehmer im Interview die Lehre auf eine Weise thematisieren, die im Seminar nicht immer zur Sprache kommt, ist dabei nicht als Abweichung zu verstehen. Mit und durch ihre Darstellungen vermitteln und organisieren sie Ereignisse (Wieder/Zimmerman 1976). 5
Einem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Projekt mit dem Titel »Entschulte Evaluation. Universitäten und Freie Schulen zwischen Differenzierungsanforderung und institutionalisierten Kontrasten«.
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Im Anschluss an die Wissenschaftsforschung lassen sich diese unterschiedlichen Ansprachen und Beschreibungen analytisch nutzen, um aufzuzeigen, dass Teilnehmer gegenüber der eigenen Praxis nicht indifferent bleiben (vgl. Gilbert/Mulkay 1980). Was ein Seminar ist oder sein kann – im Verständnis der Teilnehmer – und wie dieses Verständnis6 die alltägliche Lehre instruiert, lässt sich sowohl anhand von Interviews (siehe Abschnitt 3.1) als auch mithilfe von teilnehmenden Beobachtungen (siehe Abschnitt 3.2) explizieren.
3.1 Instruktion thematisieren: Das ethnografische Interview Im Vorfeld oder auch im Verlauf einer ethnografischen Teilnahme geraten verschiedene Aspekte der universitären Lehre in den Blick: von der Konzeption der Veranstaltungen und Prüfungen, der Ansprache von Studierenden, bis hin zu übergreifenden Themen der Bildungsorganisation. In den Interviews definieren Teilnehmer eine lokale Position, von der aus sich über das Lehren aus eigener Herangehensweise und Erfahrung sprechen lässt. Darin umreißen sie einen begrenzten Geltungsbereich und verorten sich gleichzeitig im akademischen Feld. Andere Bereiche der Lehre lassen sich von dort aus beschreiben und einschätzen, liegen aber jenseits davon. Dieses Verorten eigener und anderer Domänen des Teilnehmerwissens markiert ein Nebeneinander unterschiedlicher Autonomiebezirke. Damit lassen sich eine Spezifik (des Fachs, des Lehrprofils etc.) formulieren oder auch die Grenzen der Zuständigkeit definieren. Die Position lässt sich von Teilnehmern nutzen, um ganz unterschiedlich Stellung zu beziehen und sowohl symbolische als auch pragmatische Verständnisse der Lehre hervorzubringen.
3.1.1 Lehren repräsentieren: symbolische ›accounts‹ Praktische Anforderungen an Lehrformen können sich von Fach zu Fach unterscheiden, auch dahingehend, wer aus dem Fach über das Fach spricht. Lehrende können eigene Relevanzen formulieren oder sich im Interview gegenüber formulierten Fragen verhalten, das heißt sie in Frage stellen oder
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In einer Einführung in die Ethnomethodologie macht Jörg Bergmann deutlich, dass es sich bei accounts (»Verständnis«) um mehr handelt, als um ein Verstehen. Bezeichnet werden damit Darstellungen und Beschreibungen, die aufgezeichnet, gezählt, fotografiert, erzählt oder repräsentiert werden können und damit für die empirische Sozialforschung zugänglich sind (Bergmann 2000: 125f.).
Kornelia Engert: Instruktion und ihre Teilnehmer
korrigieren. Im folgenden Beispiel wiederholt ein Befragter die an ihn adressierte Frage, bevor er seine Antwort abwägt und zurechtlegt. Dann formuliert er eine Darstellung von Instruktion, die im Wesentlichen in der Mündlichkeit des Seminars begründet ist:7 I: Worauf kommt es Ihnen in der Lehre an? Worauf legen Sie Wert und worauf vielleicht eher nicht? D: ((wiederholt die Frage)) […]. Was wir heute mit der Modularisierung haben, dass alles so genau festgelegt ist, mit den Daten und den Terminen und ich weiß nicht was alles, das halte ich im Grunde für unakademisch. Was mich interessiert, ist das Gespräch mit den Studenten in der Lehrveranstaltung auf der Basis gemeinsamer forschungsbasierter Vorbereitung. Das hört sich jetzt alles ein bisschen marmorgeschissen an, aber das kann ich halt nicht anders ausdrücken, im Moment. […] Ja, ich trage meine Position vor und die werden dann von mir auch ernst genommen. Das sind ja erwachsene Leute, die müssen das dann auch auf eine bestimmte Art können. Wobei ich allerdings nicht der Auffassung bin, das befreit mich aus der Rolle desjenigen, der die anderen zu belehren hat. […] Ich bin ein Anhänger des sogenannten Meister-Prinzips. Denn Meister ist man an der Universität ja ohnehin nur für einige Jahre und dann ist man weg vom Fenster und dann kommen wieder andere. Aber ich muss mich schon hinstellen vor das Seminar oder in der Vorlesung und sagen, dass ist jetzt lege artis das, was man vertreten kann. Was hier aus Teilnehmersicht an der Lehre interessiert, ist nicht die Belehrung (z.B. durch eine Vorlesung), oder die Disziplinierung (im Sinne von Terminen und Fristen), sondern der fachliche Austausch mit Studierenden. Dafür werden drei Gelingensbedingungen formuliert: 1. Es verlangt eine inhaltliche Vorbereitung (z.B. in Form von Textlektüre). 2. Es bedarf der mündlichen Ausdrucksfähigkeit der Studierenden, die vorausgesetzt wird. 3. Dozierende stehen für die ständige Vertretung dieses Prinzips ein. Das Hervorkehren eines »Meister-Prinzips« referiert auf ein historisch geprägtes Verständnis höherer Bildung, das auf die Weitergabe eines exklusiven Wissens zielt. Diese Teilnehmer-Theorie rührt von einer sozialisatorischen Konzeption von Karrieren, in der sich kommende Generationen beweisen sollen, um ein spezi-
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In den folgenden Transkripten steht I für Interviewer:in, D für Dozent:in, S für Student:in.
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fisches Wissen zu erlangen und damit zu bewahren.8 Die Sukzession wird durch ein vertikales Gefälle reguliert, bei dem die einen nicht nur weiter vorne (oder älter) sind, sondern im symbolischen Sinne den anderen überlegen (Statusgruppen). In dieses Setting hinein wird das beschriebene Diskursmodell als Anreiz formuliert, die bestehende Rangordnung kommunikativ herauszufordern – und gleichzeitig als »marmorgeschissen« ironisiert. Die Ironie verweist auf das Hochhalten einer Lehrkultur, die – aus Teilnehmersicht – aus der Zeit gefallen ist. Studierende rangieren in diesem Modell als Gesprächsteilnehmer, die in der laufenden Aktualisierung der Interaktionsordnung nicht nur vorgesehen sind als diejenigen, die belehrt werden, sondern sich in dieses Spiel einbringen. Ein Spielraum, in dem Studierende sich gegenseitig (be-)lehren, Dozent:innen auch von Studierenden etwas lernen oder – im Falle des Co-Teachings – Kolleg:innen untereinander um die Sache streiten, wird in dieser Beschreibung nicht explizit (mit-)entworfen. Es wird aber auch nicht ausgeschlossen, denn Studierende stehen für mehr als nur Hörer:innen oder Empfänger:innen von Bildung. Sie sind als Mitglieder ernst zu nehmen, solange sie ihre Beteiligung als Einsatz in das universitäre Studium verstehen. Diese Form der Selbstbeteiligung wird im weiteren Verlauf des Interviews an die Studierenden delegiert, als etwas, das nicht gelehrt werden kann: D: Also es gibt diese Einstellung zum Studium, die ein bisschen gefördert wird, dadurch dass man den Menschen hier erklärt, man kann alles irgendwie schaffen und du kannst dies oder jenes machen und dadurch wird denen nicht so richtig klar gemacht, dass es schon sie selbst verlangt. Sie müssen schon was WOLLEN, um im Studium Erfolg zu haben. Es reicht nicht, dass einem irgendjemand dann hilft, und fördert, weil man betreut wird, oder ähnliches, oder wenn’s nicht klappt, dann renn’ ich zum Dozenten in die Sprechstunde und der erklärt mir des schon. Das ist eine große Illusion. Jenseits eines konkreten Seminarkontexts wird hier auf einen organisationalen Umgang mit der Kategorie des ›Studienerfolgs‹ referiert, der aus Teil-
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Referenzen finden sich u.a. bei Bourdieu (2004), der die französischen Grandes Ecoles analysiert und deren Absolvent:innen als Staatsadel konzipiert. Dabei begreift er die Schulung von »Vortrefflichkeit« nicht so sehr in den Wissensinhalten selbst begründet, sondern in der Beherrschung – einschließlich der Selbstbeherrschung (vgl. 143ff.). Auch bei Barthes findet sich der Bezug zum »Meister-Prinzip« (2006, S. 370) sowie in klassischer Tradition des Gelehrtentums bei Fichte (1807).
Kornelia Engert: Instruktion und ihre Teilnehmer
nehmersicht nicht delegiert werden kann. Wie Studierende durch ihr Studium kommen, was sie aus den Lehrangeboten ziehen oder wie sie Prüfungen bestehen, wird dabei jenseits von Instruktion und Didaktik gefasst. ›Erfolgsrezepte‹ lassen sich in der Beschreibung des Interviewten weder »erklären« noch durch Hilfestellung vermitteln, sondern werden in Gelegenheiten und Zuständigkeiten verortet, die ganz bei den Studierenden selbst liegen. In diesem Sprechen ›über‹ oder ›von‹ den »Menschen« (auch durch das entindividualisierende »man«) wird eine soziale Distanz markiert, die vor allem dort zum Tragen kommt, wo Personen die Logik des akademischen Feldes verkennen. Gleichzeitig sind mit dem Interview die Studierenden gar nicht adressiert. Eher gibt sich ein Teilnehmer zu erkennen, der die Verhältnisse und die eigene Position im Feld nicht nur beschreibt, sondern gleichsam auf einen »Theorie-Effekt« (Bourdieu 1990) setzt, der sich aus dieser Position heraus entfalten soll. Was dann als Theorie des ›guten Studiums‹ verhandelt wird, setzt nicht auf eine gutmütige und sich kümmernde Organisation der Bildung, sondern setzt sich von dieser Konzeption ab. Damit reihen sich Teilnehmer in einen historischen Diskurs dessen ein, wie universitäre Lehre gestaltet werden kann, und zu dem auch andere, weniger konservative Positionen vorliegen.9
3.1.2 Instruktion fabrizieren: pragmatische ›accounts‹ Neben symbolischen Dimensionen der Lehre, die im Interview thematisiert werden, lässt sich auch anderes besprechen. Auf der Ebene der Repräsentation mag das wissenschaftliche Feld um Deutungshoheit sowie deren Anerkennung zirkulieren; im Alltag wird Lehre von den Mitgliedern auch verstanden als Einsatz, der von anderen Dingen abhält. Forschung und Lehre können in Konkurrenz zueinander treten, sie können sich aber auch ergänzen. Solche Konstellationen lassen sich von Teilnehmern strategisch nutzen, etwa in einer biografischen Phase, in der die Zugehörigkeit zum akademischen Feld auf besondere Weise zur Disposition steht. In ihrer wissenschaftlichen Qualifikationsphase sind nicht-professorale Mitarbeiter:innen einerseits abhängig von
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Von der Intelligenzbank zur »nächsten« Universität, von der doppelt bürokratisierten Uni zur agilen Organisation (für einen Überblick siehe Baecker 2017; doch auch hier: das Festhalten am Vortrag, S. 245ff. und an der eher männlich assoziierten Figur des »Professors« 177ff.).
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der Konjunktur der Themen und der übergreifenden Entwicklung ihres Fachgebietes, sie können sich jedoch durch strategisches Manövrieren in diesem Feld ›aufstellen‹. Im Gespräch mit zwei Postdocs aus der Geschichte des Mittelalters und der Frühen Neuzeit berichten diese von einem Lehr-Projekt, mit dem sie das Lehrspektrum des Instituts mit ihrem Forschungsprofil in den Digital Humanities erweitern. Das geplante Vorhaben – ein quellengestütztes Lektüreseminar soll in die digitale Editionsarbeit übersetzt werden – wird als Herausforderung jenseits vorhandener Studienerfahrungen dargestellt: D: Es gibt einen großen Bereich an historischen Quellen, der für die historische Forschung faktisch nie verwendet werden konnte: dicke Rechnungsbücher aus dem 14. Jahrhundert […] mit ganz, ganz fürchterlich trockenen Einträgen, ((nennt weitere Beispiele)). Durch die Digital Humanities können solche Quellen komplett erfasst, systematisiert und homogenisiert werden, so dass man sie tatsächlich analysieren KANN. […]. Und dass in die Lehre zu überführen, da […] muss viel mehr Grundlagenarbeit in beiderlei Hinsicht geleistet werden, also einerseits […] das faible für’s Arbeiten mit dem Computer, mit Codes und mit solchen Editionen, DAS muss sozusagen hergestellt werden. […] und des Andere ist diese ganze Problematik von Editions- und Quellenkunde. Die Neuausrichtung eines klassischen Lehrformats (Lektürekurs) wird beschrieben als Aufbauarbeit, mit der Studierende in Richtungen orientiert werden können, die bislang im Geschichtsstudium eine weniger prominente Rolle gespielt haben. In der kommunikativen Darstellung wird die Lehre stark auf das Moment der Instruktion ausgerichtet: Grundlagen müssen geschaffen und Kompetenzen erarbeitet werden. Die Arbeit am Handwerkszeug wird verstanden als originär historische Herangehensweise, die den sorgfältigen Umgang mit Editions- und Quellenarbeit nicht obsolet macht, sondern gleichermaßen erfordert.10 Markiert wird ein prinzipielles Festhalten an der wissenschaftlichen Ausrichtung der Lehre, die trotz einer methodischen 10
Die besondere analytische Sorgfalt im Umgang mit historischen Quellen ist ein wiederkehrender Topos in den Interviews. Quellen sind in historischer Sprache verfasst und in einem gesellschaftlichen Kontext verortet, der sich wesentlich von dem unterscheidet, wie wir Dinge und Begriffe heute kennen oder nutzen. Historische Schriftstücke stehen meist mit einem politischen Klientel in Verbindung und verweisen auf deren Interessen an einer bestimmten Geschichtsschreibung. Sie entziehen sich damit einem positivistischem Geschichtsbild und der Umgang mit ihnen erklärt sich nicht von selbst, sondern muss erarbeitet werden.
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Aktualisierung im Kern unverändert bleibt. In der Kursbeschreibung werden Lateinkenntnisse genauso vorausgesetzt wie eine Affinität zu digitalen Medien. Mit dem Format wird die Einführung von Studierenden in eine Studiengruppe zu den Digitial Humanities angestrebt, und damit die Verstetigung eines Arbeitszusammenhangs über ein Seminar hinaus. Diese Anbindung von einem Lehr- an einen gemeinsamen Studien- und Forschungskontext wird durch die Gruppierung über Statusgruppen hinweg (und nicht deren Trennung) vollzogen. Sie dient der Gewinnung von Nachwuchs für das Fach auf eine Weise, die das Fach von innen heraus (und von unten nach oben) neu aufstellt. Im Hinblick auf diese Rekrutierungsarbeit kommt der Seminarform eine wichtige Rolle zu: über Hierarchien hinweg können Studierende am Diskurs beteiligt und für das Fach »interessiert«11 werden. Die Arbeit an der Basis als Investition – und damit als Wert – zu betrachten, fällt in der Darstellung der Mitarbeiter mit der Valorisierung des Faches zusammen: es werden junge Historiker:innen für ein digitales Zeitalter ausgebildet, die das Fach aktualisieren und erhalten. Zugleich wird damit ein Forschungsprofil gestärkt, für das auch die Dozierenden stehen.
3.2 Seminargespräche Wechseln wir von den Darstellungen der Teilnehmer in den ethnografischen Interviews zu den Beobachtungen im Lehralltag, wird deutlich, dass Ordnungsprozesse fortwährend vollzogen, aber nicht immer von den Beteiligten zur Sprache gebracht werden. Zu bestimmten Gelegenheiten, wie beispielsweise in Einführungssitzungen zu Semesterbeginn oder auch mit Blick auf anstehende Prüfungen werden dennoch bestimmte Erwartungen an die Teilnehmer expliziert. In diesen Momenten werden die sozialen Verhältnisse thematisch, größtenteils bedarf die akademische Lehre jedoch keiner Instruktion der Instruktion wie zum Beispiel durch Regeln oder Autorität(en). Im Folgenden möchte ich auf zwei unterschiedliche Beobachtungsgelegenheiten in der Lehre eingehen: erstens, eine dokumentarische Sicht auf das Seminar und seine Interaktionsordnung, zweitens, eine stärker befragende Form, die mit den Teilnehmern über Lehr- und Prüfungsformate ins Gespräch kommt und
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Damit beziehe ich mich auf eine konzeptionelle Wendung, die nicht auf mentale Dispositionen oder vorhandene Eigenschaften abzielt, sondern auf Gelegenheiten des Interessierens (franz.: interessement, engl.: enrolement), mit der Teilnehmer in eine Praxis hineingeholt werden (vgl. Callon 1986).
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damit den Beobachtungsgegenstand – die Lehre – in den Diskurs der Teilnehmer hebt.
3.2.1 Instruktion in der Interaktion Zuerst fokussiere ich am Beispiel eines alltäglichen Seminarverlaufs auf bestimmte Redebeiträge, mit denen sich Teilnehmer zum Gegenstand verhalten und damit ihre Sichtweise, sowie ihr Wissen und Können in die Lehre einbringen. Das gegenstandsorientierte (z.B. text-zentrierte) Seminargespräch setzt auf Beiträge der Studierenden und setzt sie in Szene: sie sollen sichtbar werden. Die Instruktion folgt dabei der Annahme, dass Studierende den Gegenstand selbst erarbeiten und nicht die Lehrenden (durch ihre Vorträge). Das nächste Beispiel entstammt einer Sitzung, etwa zur Mitte des Semesters, in einem ›Oberseminar‹.12 Inhaltlich behandelt das Seminar verschiedene Formen der Staatsbürgerschaft und Einwanderung im 20./21. Jahrhundert. Eine Studentin führt mit ihrer Darstellung des vorzubereitenden Texts in die Sitzung ein und richtet anschließend einige Fragen ans Plenum. Es dauert etwas, bis das Gespräch in Gang kommt, denn zunächst scheint unklar zu sein, wer wie auf drei Fragen gleichzeitig antworten soll. Der Dozent springt ein und resümiert eine Überleitung zu der ersten, bereits formulierten Frage, die er in abgewandelter Form ans Plenum richtet. Damit ist das Verständnis einer Autorin (Plauen) zu dem von ihr vorgelegten Begriff der [Migrationspolitik] adressiert.13 Der sich daran anschließenden Debatte entnehme ich leicht gekürzte Redebeiträge (und markiere Auslassungen): D: Also ganz klar ist bei dem Begriff [Migrationspolitik] der Bezug auf staatliche Stellen. […]. OK. Wird denn dann diese staatliche Umgebung nochmal weiter spezifiziert? Auch das ist ja wieder ein sehr großes Feld. S1: Ja, also dann kommt ja diese Definition von Plauen. Wo sie dann sagt, dass sich innerhalb dieses Staatsapparates viele Institutionen mit Migration
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Die Bezeichnung eines ›Oberseminars‹, die lokal immer noch in Gebrauch ist, referiert auf die Studienordnung in früheren Diplom- und Magisterstudiengängen. Mit Blick auf heutige Studienstrukturen entsprechen diesem vertiefende Seminare im Hauptteil des Masterstudiums. Beim Namen der genannten Autorin und dem analytischen Begriff (der die Lenkung und Aushandlung von Migration bezeichnet), handelt es sich um Pseudonyme. Damit soll vermieden werden, dass über die Sachdiskussion Rückschlüsse zu konkreten Seminaren möglich werden.
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befassen, die allerdings kollidieren miteinander, zum Beispiel weil sie nicht richtig in Austausch miteinander stehen oder keine genaue Gesetzeslage haben und dann wieder irgendwelche politischen Akteure sich an diese Situationen anpassen. […] Fehler oder Ambivalenzen, die dadurch entstehen, sind ähm, keine Fehler sondern, tja, wie soll man das sagen? Vielmehr Grundlage dessen, worauf man aufbauen KANN. Sozusagen das, was für die Zukunft entscheidend sein kann, also was man damit jetzt macht. D: Ja. Herr Conen? S2: Also ich glaub, des wird halt, wie soll man sagen, als notwendiger Weg hin zu einem besseren System angesehen, also das dann eben auch Schritte in falsche Richtungen, beispielsweise diese Kompetenzüberschneidungen, dass die sich permanent flexibel nach neuen Gegebenheiten auch verändern. […]. Und den vierten Punkt, den hatten wir jetzt noch nicht, dass es eben auch die […] Wahrnehmung auf Migration strukturiert. […] D: […] Wenn Sie jetzt das Gelesene vergleichen, also diese Idee eines selbstlernendes Systems, wenn Sie das vergleichen mit dem was die Plauen beschrieben hat in diesen Passagen, die sich mit der Bundesrepublik unmittelbar nach der Gründung so etwa bis Mitte der Fünfziger Jahre beschäftigen. War das jetzt ein selbstlernendes, sich verbesserndes System? S2: Also ich weiß jetzt nicht, ob es selbstlernend is’, also dass sie sich so äußert, aber ich hab des so verstanden: sie hat ja immer wieder betont, dass dann außenpolitische Faktoren immer wieder diesen Einfluss hatten. Das hab ich jetzt nämlich auch an dieser Definition so verstanden, neben diesen Konflikten, dass es eben auch Einflüsse geben kann, die nicht direkt mit der Migration zusammenhängen, die sich aber dann darauf auswirken. Was ich dann auch noch ganz spannend fand, dass sie diese Definition [eines anderen Autors] dann so’n bisschen auseinander nimmt, also bzw. die hinterfragt, weil ja diese Prozesshaftigkeit, die dem ganzen anhaftet, ja schon eigentlich dafür spricht, dass es […] sich dann schon immer wieder so’n bisschen anpassen muss […], also des fand ich ganz schlüssig, wie die Frau Plauen das dann quasi aufdröselt. In diesem Auszug aus einem Seminargespräch wird die Begriffsdiskussion, die im vorliegenden Text einer Autorin (Plauen) im Kontext weiterer Forschungsliteratur geführt wird, durch die Seminarteilnehmer im mündlichen Gespräch nachvollzogen und aufgeführt. Die initiale Frage wird durch eine Studentin im einführenden Teil an die Runde gerichtet, vom Dozenten
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aufgegriffen und dann ans Plenum zurückgegeben. Zunächst nehmen zwei Studierende darauf Bezug. An der Diskussion beteiligt sich wiederkehrend auch der Dozent, indem er moderiert, Redebeiträge ratifiziert (z.B. mit »Ja« vor Redeübergabe) oder mit Nachfragen lenkt und einhegt. Mit stärker strukturierenden Beiträgen resümiert er Gesagtes (wie zu Beginn) oder fordert Studierende auf, ihr Textverständnis zu prüfen. Damit wechselt er zwischen Diskussionssträngen (im Text und im Seminar) und hält Bewertungen der Studierendenbeiträge eher zurück. In diese Moderation bringen sich Studierende ein und treten als diejenigen auf, die den Zusammenhang kennen und selbst beurteilen können, zum Beispiel indem sie die vorgeschlagene Begriffsdiskussion einer Autorin als »schlüssig« bewerten. Dadurch, dass sie eigene Relevanzen ansprechen oder Interessen formulieren, erkennen sie den Sinn des Spiels und ›Fachsimpelns‹ über Begriffe (»hinterfragen«, »auseinandernehmen«, »aufdröseln«) an. Manche Einsätze sind vorgegeben (wie die Einführung in die Sitzung), andere werden angeschlossen (z.B. »den Punkt hatten wir jetzt noch nicht«) oder spendiert (»auch noch ganz spannend«). Damit wird sichtbar, wie Studierende an ihrer Instruktion beteiligt sind, sich in diese Arbeit einbringen und durch Nachfragen an sich selbst (»ja, wie soll man das sagen?«) ihr Textverständnis organisieren.
3.2.2 Über den ›Sinn‹ der Instruktion sprechen In diesem Abschnitt wechsele ich von Seminaren im Hauptfach Geschichte zum Lehramtsstudium und fokussiere darauf, wie die Teilnehmer die Lehre zum Gegenstand im Diskurs machen können. Hierzu verwende ich ein Beispiel aus einem ›Oberseminar‹, das im Studienverlauf auf das Staatsexamen (bzw. ein Äquivalent) hinführt. Am Ende der Lehrveranstaltung steht eine mündliche Kollegialprüfung, in der Studierende von zwei Prüfer:innen unterschiedlicher Epochen geprüft werden. Durch diese zentrale Fachprüfung werden Studierende auf besondere Weise angerufen – als angehende Lehrpersonen, die bald Schüler:innen im Fach Geschichte unterrichten. Die mit dem Passagepunkt nahende Entlassung macht Studierende in gesteigerter Weise für das akademische Lehrpersonal sichtbar: sie werden einerseits zunehmend als Fachkolleg:innen adressiert, andererseits auf diese Fähigkeiten hin abschließend evaluiert. In einer Sitzung gegen Ende des Semesters, rich-
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tet sich die Ethnografin14 fragend an die Studierenden, inwiefern das Seminar durch diese abschließende Prüfung geprägt ist. Es kommt zu einer kurzen Diskussion der Fokussierung von Aufmerksamkeit durch die Wahl des Prüfungsthemas.15 Spätestens, sobald die Wahl getroffen ist, konkurriert die individuelle Prüfungsvorbereitung mit den übergreifenden Seminarinhalten. Im weiteren Verlauf folgt eine Debatte zur Anzahl der mündlichen Prüfungen, welche Lehramtsstudierende in der Breite der jeweils studierten Fächer ableisten. Daraufhin die Ethnografin: I: Ok. Dann ist die mündliche Prüfung schon etwas, mit dem Sie recht vertraut sind und dem man dann nicht mit ’nem großen Fragezeichen entgegensteht. Ist es denn eine Prüfungsform, die sie schätzen, oder schreiben Sie lieber eine Klausur oder Hausarbeit? S: Also ich mach das eigentlich ganz gern. Wenn man jetzt wählen müsste, fände ich mündliche Prüfung mit am besten. G’rade weil das nicht so ist, wie bei schriftlichen Klausuren. Da ist der Druck sehr groß, weil man ja gar nicht ablesen kann, am Prüfer, ob man jetzt völlig in die falsche Richtung geht und in der mündlichen Prüfung SIEHT man das oft. In der schriftlichen Prüfung ist man doch sehr allein mit sich. Und Hausarbeiten sind einfach unglaublich zeitraubend. Dass ist die Prüfungsform, wenn man auf Lehramt studiert, […] dieses rein Wissenschaftliche kostet unglaublich viel Zeit und bringt mich in meiner Ausbildung keinen Schritt weiter. Es ist bestimmt gut, wenn man Historiker werden will, aber wenn das nicht das Hauptziel ist, dann… Eine Studentin äußert ihre Vorliebe für mündliche Prüfungen und beschreibt die Vorteile des Formats anhand der Reziprozität der Perspektiven. Die Prüfungsform zeigt den Geprüften anhand der Reaktion der Prüfer:innen, wo sie mit ihren Antworten stehen und zwar noch während der Prüfung. Demgegenüber beurteilt sie das Schreiben von Hausarbeiten als nicht lohnenswerten
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Indem die Autorin von sich als Ethnografin spricht, thematisiert sie die Personalunion von Autorin und Forscherin auf eine Weise, die zwischen dem Ich der Autorin und der rekonstruierten Ethnografin im Feld unterscheidet. Studierende können in diesem Kurs wählen, ob sie sich eher auf die politische Kultur in der griechischen Antike oder in der römischen Republik fokussieren wollen und sind aufgefordert, für die mdl. Prüfung eine Leseliste von 15 Titeln zu einem in der jeweiligen Zeit angesiedelten Themas zu erstellen und aufzuarbeiten. In einem weiteren Seminar (z.B. in der Neueren und Neusten Geschichte) sind sie mit zusätzlichen Aufgabenstellungen konfrontiert, um die Doppelprüfung vorzubereiten.
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Einsatz, der von anderen Dingen im Bildungsparcours abhält. Mit der Äußerung ihres studentischen Zweifels am Mehrwehrt der wissenschaftlichen Arbeitsweise lässt sie allerdings keinen Zweifel, dass sie den Sinn von Prüfungen nicht in Frage stellt – und inszeniert sich damit als angehende Lehrkraft. Dass der Faktor Zeit opportunistisch betrachtet wird, und Prüfungsformen dahingehend, wie sie von Studierenden in einem eng getakteten Prüfungszyklus vorbereitet und manövriert werden können, verweist auf eine praktische Logik. Diese wiederum deckt sich nicht mit der des wissenschaftlichen Feldes (Bourdieu 1992), mit dem sie während ihres Studiums temporär verbunden ist, bevor sie das pädagogische Feld der Schule, wofür sie studiert, wieder betritt (hierzu Kalthoff 2018b). In diesem Zusammenhang erscheint die Entgegnung des Dozenten ›folgerichtig‹: D: […] Was Sie sagen ist eine ganz verbreitete Haltung und ich kann auch nachvollziehen, wie sie zustande kommt, aber halte doch dagegen, dass ich es selbst doch für ungemein wichtig halte, dass eben die volle wissenschaftliche Ausbildung, auch im Lehramtsstudium, da ist; aus verschiedensten Gründen. […] In der Schule […] wenn sie fünf Schulbücher vorgelegt bekommen, die angeschafft werden sollen. Da müssen sie beurteilen können, wie die qualitativ sind, und da geht’s nicht nur um Fragen der didaktischen Vermittlung. Da geht’s tatsächlich auch da drum, das in Schulbüchern viel UNSINN steht, ne? Und dazu müssen Sie bei bestimmten Themen auf der Höhe der Forschung jedenfalls n’Stück weit sein. […] Also ich will mir eine schulische Welt nicht vorstellen, in der KEINE wissenschaftliche Expertise is’. Ich stell mir auch vor, dass dann entsprechend Absolventen von solchen Schulen dann an die Universität kommen und sie hatten nur Lehrkräfte, die gar keinen Draht mehr in dieses wissenschaftliche Feld haben. […] Im Hinblick auf dass, was abgerufen wird, is’ […] die mündliche Prüfung das, was g’rad von der Reduktionsleistung nahe an des kommt, was sie jeden Tag in der Schule machen müssen. Sie müssen innerhalb kürzester Zeit Dinge auf den Punkt bringen, von denen Sie genau wissen, dass die eigentlich viel komplizierter sind. Und dass es eigentlich ’ne Vereinfachung ist, die sie, wenn sie gründlicher darüber nachdenken, so nicht stehen lassen können, aber sie müssen es auf den Punkt bringen, JETZT, sofort. […] Und das ist ’ne Situation in der mündlichen Prüfung, des is’ glaub ich ziemlich authentisch. Die damit vorliegende Rede und Gegenrede zwischen Studentin und Dozent hebt die Frage nach dem ›Sinn‹ des wissenschaftlichen Seminars in den Diskurs der Teilnehmer. Indem Studierende und Lehrende wiederkehrend dar-
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über streiten, was sie voneinander erwarten, aktualisieren sie die Praxis der akademischen Lehre fortlaufend. Der Redebeitrag des Dozenten adressiert die Äußerung der Studierenden auf zwei Ebenen, zunächst mit Blick auf deren Repräsentation des Fachs in der Schule. Diese Perspektive wird abgesichert mit einer dystopischen Vorstellung davon, was Lehrkräfte und ihre Schüler:innen wären, würde die wissenschaftliche Grundausbildung fehlen. Die performierte Warte eines unheilvollen Blicks wird als privilegierte Sicht gerahmt, die den schulischen Alltag kennt und antizipieren kann – examinierte Schüler:innen kommen alljährlich zum Studieren an die Universität. In einem zweiten Schritt wird der schulische Alltag mit einer Realität der Prüfung verknüpft. Steht die hochschulische Prüfung sonst für eine außeralltägliche und intensivierte Form der Wissensdarstellung, die vom Seminargeschehen abhebt, nimmt der Dozent eine Verschiebung der Perspektiven vor. Die mündliche Prüfungssituation wird zur Stellvertretung dessen, was Lehrende an Schulen tagein, tagaus leisten, und damit ganz im Sinne der Studierenden als alltagstauglich und brauchbar gefasst. In dieser Anleitung dessen, wie die wissenschaftliche Ausbildung zu verstehen ist, wird das akademische Seminar sowie der Bezug zur Schriftlichkeit des wissenschaftlichen Diskurses »erklärt«. Das Moment der Instruktion bleibt dabei nicht auf den Lehrkontext beschränkt, sondern setzt sich im Prüfungsmoment an entscheidender Stelle fort.
4 Erkenntnischancen und Herausforderungen Der Beitrag diskutiert verschiedene empirische Zugänge zur hochschulischen Lehre, mit besonderem Fokus auf Seminare. Damit bezieht er sich auf Ansätze, wie sie aus der Wissenschaftssoziologie sowie der qualitativen Schul- und Unterrichtsforschung vorliegen, und interessiert sich für das Erfahrungswissen der Teilnehmer, wie auch für deren Praxis. Bildungs- und Differenzierungsprozesse werden nicht in abgeschiedenen oder exklusiven Gelegenheiten verortet, die sich der Beforschung entziehen, sondern lassen sich ›next door‹ in situ beobachten. Auf diese Weise lassen sich bestehende Ansätze stärker aufeinander beziehen und fruchtbar machen. Anhand der diskutierten Beispiele historischer Seminare wird die Arbeit (an) der Instruktion auf zwei Ebenen verortet: Erstens bringen Lehrende ihre impliziten Theorien des ›guten Studiums‹ in die wiederkehrenden Lehrformate ein. Indem sie sich als Bewertungsinstanz zurücknehmen, variieren sie die Interaktionsordnung, wie
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sie die Unterrichtsforschung für den Schulunterricht (bestehend aus Lehrerfrage – Schülerantwort – Lehrerkommentar) aufgezeigt hat, oder brechen sie auf. Dabei nutzen Lehrende Methoden und Register, mit denen sie sich stabilisierend oder delegierend einbringen und zugleich den Beiträgen der Studierenden eine Bühne eröffnen. Ihre Fragen an Studierende sind Fragen an das allgemeine Textverständnis, welches geprüft und abgesichert wird. Studierende übernehmen die Bewertung von Texten sowie die Einordnung von Argumenten und Begriffen. Ihre Beiträge sind für das Seminargespräch zentral und halten es am Laufen, sind aber auch Ressource, um Nachfragen zu stellen. Die Einführung in die Sitzung durch Studierende markiert diese Zuordnung. In Bezug auf die konkreten Beteiligungsformen lassen sich über Seminarkontexte hinweg auch Unterschiede herausarbeiten, inwiefern Lehrende die Arbeit der Instruktion wahrnehmen oder Studierende in Strukturierungsund Ordnungsprozessen einbezogen werden. Teilnehmer können dem Seminar aber auch ganz eigenen Interessen und (De-)Motivationen entgegen halten und damit ihrerseits Erwartungen an die Lehre kommunizieren. Während Seminargespräche darauf abzielen, Teilnehmerschaft zu mobilisieren und jenseits von Statusunterschieden auszuloten, wird in den Interviews die Differenz von Lehrenden und Studierenden markiert. Indem sich Lehrende anhand ihrer Position im wissenschaftlichen Feld verorten, stellen sie ihr Teilnehmerwissen auf spezifische Weise dar. Durch das Interview lassen sich implizite Logiken, ›Utopien‹ und Maßstäbe herunterbrechen auf accounts professioneller Teilnehmer, die Beschreibungen darüber anfertigen, wie sie ihre Lehrpraxis verstehen und verständlich machen. Den akademischen common sense der Teilnehmer zu befragen, heißt auch, den ›Theorie‹-Effekt ihrer Äußerungen im je sozialen Kontext zu explizieren. Ethnografie und Ethnomethodologie liefern hier wesentliche Zugänge und verschieben den Blick auf die Arbeit an der Teilnehmerschaft, mit der das Verhältnis von Interaktion und Instruktion ausgehandelt wird. Das Spannungsfeld der vorliegenden Darstellungen in ein Verhältnis zu bringen, ist analytische Herausforderung und Erkenntnischance zugleich. Mit ihren Einsätzen, ihren Absetzbewegungen, Gegenreden oder Alltagstheorien organisieren Teilnehmer ihre Verhältnisse. Dass sich Redeweisen, Beschreibungen und Ansprachen dabei unterscheiden, wird dann analytisch nicht zum Problem, sondern zur Ressource für die weitere Analyse.
Kornelia Engert: Instruktion und ihre Teilnehmer
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Öffnung der Blackbox Hochschullehre durch kollaborative Autoethnografie 1
Autor:innengruppe AEDiL
1 Zur Öffnung der Blackbox Hochschullehre Die Lehre an Hochschulen ist mittlerweile zum Gegenstand in unterschiedlichen Forschungsfeldern avanciert: sei es in Bezug auf Governance und Qualitätssicherung in der Hochschulforschung (vgl. Steinhardt et al. 2018; Wilkesmann/Schmid 2011), der hochschul- oder mediendidaktischen Forschung (vgl. Jörissen 2020; Beckmann 2020) oder im Rahmen des Scholarship of Teaching and Learning (vgl. Huber 2018; Kordts-Freudinger/Leschke 2020). Und dennoch ist die reflexive Beschäftigung mit der eigenen Lehrpraxis für die Mehrheit der Lehrenden nicht der Normalfall. Entsprechend gilt: Was im (digitalen) Seminarraum geschieht, ist weitestgehend eine Blackbox; kaum wird institutionalisiert mit anderen über die eigene Lehre gesprochen (vgl. Lauer 2019; Vogel 2014). Woher kommt dieses überwiegende Schweigen zur eigenen Lehrpraxis? Wieso gibt es keine inkorporierten Praktiken, um Rückmeldung oder Absicherung hinsichtlich der geplanten Lehr-Lern-Interaktionen einzuholen, oder mit Blick auf die Lehr-Lern-Konzepte, -Materialien oder Outcomes? Es ist schlicht nicht notwendig. Denn über das Teilen von Lehrmaterialien und -erfahrungen (analog zu Publikationen) können, unter den Bedingungen der geltenden Strukturen des Hochschul- und Wissenschaftssystem, keine Wissenschaftskarrieren befördert werden (vgl. Schmid 2016; Steinhardt 2015). Im Gegensatz zur Forschung (vgl. Schneijderberg 2018) findet kaum Austausch 1
Mitglieder des AEDiL-Projektes und der Autor:innengruppe sind Isabel Steinhardt, Michael Eichhorn, David Lohner, Ronny Röwert, Angelika Thielsch, Jan Vanvinkenroye, Aline Bergert, Nadine Bernhard, Irina Gewinner, Antje Goller, Maria Kondratjuk, Maria Noftz, Christian Johann Schmid, Anita Sekyra und Doris Ternes.
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über Lehre in den wissenschaftlichen Communities statt2 , geschweige denn eine (methodisch) angeleitete Sozialisation in die Lehre (Schmid 2016). Die eigenen Lehrpraktiken beruhen meist auf Intuition, den Abgrenzungen oder Nachahmungen von eigenen Erfahrungen schlechter oder guter Lehre und dem Austausch mit Kolleg:innen, wodurch eine »spezifische Lehrkultur tradiert und transportiert wird« (Szczyrba 2020: 368). Diesen Zustand versucht die Hochschuldidaktik seit Jahrzehnten zu verändern, indem durch Forschung und Weiterbildungs- und Netzwerkangebote Lehrenden ein wissenschaftlicher, professioneller und reflektierender Blick auf ihre eigene Lehrpraxis ermöglicht werden soll (ebd.), um dadurch einen reflektierten Lehrhabitus beziehungsweise begründete Lehrstrategien auszubilden (vgl. Pfäffli 2015). Gerade für die eigene Lehrkompetenzentwicklung (vgl. Trautwein/ Merkt 2013; Beuß 2013) ist der Austausch mit anderen Lehrenden immens wertvoll. Jenseits der hochschuldidaktischen Weiterbildungskontexte gibt es jedoch kaum Bestrebungen einen solchen Austausch zu institutionalisieren oder zu fördern. Die Lehre bleibt eine isolierte und vor allem durch Intransparenz geprägte Angelegenheit, da nur ein Bruchteil der Wissenschaftler:innen die Angebote der Hochschuldidaktik für sich in Anspruch nimmt (vgl. Schmid 2016) oder die Möglichkeit zur Teilnahme kennt. Zum einen, da auch die Bekanntheit hochschuldidaktischer Angebote davon abhängt, dass Lehre zum Thema wird. Zum anderen, da die Hochschuldidaktik ein Reputationsproblem hat, weil sie vom Großteil der Hochschulakademiker:innen als wenig »wissenschaftlich« wahr- und ernstgenommen wird (vgl. Steinhardt 2021). Der geringe Austausch über und die transportierte Nicht-Wertschätzung von Lehre schaffen gleichzeitig Hürden, um die Blackbox Lehre zu öffnen. Das Fehlen gelebter Offenheit im Bereich Lehre führt dazu, dass die Reflexion, Beurteilung und Bewertung von Lehre meist »höchstpersönlich« genommen und vermieden wird. In der Forschung ist es gängige (oft schmerzliche) Praxis, einer dauerhaften Bewertung durch Peer-Review-Verfahren und Metrifizierungen ausgesetzt zu sein. Die Motivation, dies auch noch in der Lehre zu erfahren, ist entsprechend gering. Zudem fehlt es an Vorbildern und arrivierten Lehrenden, die Transparenz in der Lehre vorleben und auf die
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In der Deutschen Gesellschaft für Soziologie wurde erst im September 2020 eine Arbeitsgruppe »Soziologische (digitale) Lehre« gegründet, der bisher 45 Mitglieder angehören (siehe https://www.sociohub-fid.de/s/soziologische-digitale-lehre/space/space /home).
Autor:innengruppe AEDiL: Öffnung der Blackbox Hochschullehre
sich berufen werden könnte. Im Gegensatz zur Hochschullehre ist in der Forschung ein Rekurs auf die (Vor-)Arbeiten von Kolleg:innen, die die je eigenen Erkenntnisinteressen, Theorien oder Methodologien teilen und legitimieren institutionalisiert und kann als »Schutzschild« der eigenen Forschung dienen. Um mehr Lehrende zu einer reflektierten Beschäftigung mit ihrer Lehre zu ermutigen, kann der aus den USA stammende Ansatz des Scholarship of Teaching and Learning (SoTL) gesehen werden (vgl. Boyer 1990; Felten 2013). In diesem werden Wissenschaftler:innen in der Logik der Forschung abgeholt und die systematische Forschung über die eigene Lehre angeregt. Durch SoTL soll die Blackbox Lehre geöffnet und das individuelle Wissen der Lehrgemeinschaft zur Verfügung gestellt werden, ganz im Sinne wissenschaftlicher Forschung (vgl. Huber 2018).3 Gleichzeitig sollen durch die systematische Erforschung und dem Aufbauen auf bereits existierende SoTL-Forschung die »Bedingungskonstellationen für gute Lehre« (Szczyrba 2020: 372) mitgestaltet werden können, um zu einer lernenden Hochschule beizutragen (ebd.). Seit einigen Jahren wird für die Erforschung der eigenen Lehre im SoTL vermehrt mit der Autoethnografie gearbeitet (vgl. Godbold et al. 2021). Die Autoethnografie ermöglicht eine systematische Reflexion der eigenen Lehre und der eigenen Lehrpraktiken; vor allem durch die Bewusstmachung der Verschränkung von Struktur und Lehrperson (vgl. Reed-Danahay 2021). An ethnografische Ansätze (vgl. Breidenstein et al. 2020) anschließend, geht es bei der autoethnografischen Beforschung der Lehre darum, sich selbst in den Strukturen, Milieus und Praktiken zu identifizieren, die mit einer bestimmten Situation (zum Beispiel digitaler Lehre) verbunden sind. Besonders zielführend ist dabei die kollaborative Autoethnografie, da durch die Betrachtungen und den Austausch über individuelle Lehrpraktiken innerhalb einer Gruppe, die eigenen Wert-, Denk- und Handlungsschemata, das heißt die eigenen »Lehr-Habitus« (Schmid 2016: 14–57), infrage gestellt und dadurch implizites Wissen expliziert werden kann (vgl. Autor:innengruppe AEDiL 2021). Und um genau das zu tun, hat sich zu Beginn der Covid-19-Pandemie eine spontan selbstorganisierte und nicht über Drittmittel finanzierte Gruppe von
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SoTL-Arbeiten sind vielfältig, zum Beispiel um den Erfolg eines didaktischen Designs im Rahmen einer konkreten Lehrveranstaltung zu überprüfen oder um die eigene Lehrhaltung zu erforschen. Veröffentlichte Beispiele aus dem deutschsprachigen Raum finden sich in der Zeitschrift die hochschullehre (Rubrik Praxisforschung) und international in der Zeitschrift Teaching Learning Inquiry.
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Angehörigen mehrerer deutscher Hochschulen zum Projekt Autoethnographische Beforschung digitaler Lehre und deren Begleitung (AEDiL) zusammengeschlossen. Bevor die Entstehungsgeschichte, die Durchführung sowie Erkenntnispotenziale von AEDiL vorgestellt werden, widmet sich der folgende Abschnitt einführend der Methodologie der (kollaborativen) Autoethnografie.
2 Die Methode der (kollaborativen) Autoethnografie Die Autoethnografie »ist ein Forschungsansatz, der sich darum bemüht, persönliche Erfahrung (auto) zu beschreiben und systematisch zu analysieren (graphie), um kulturelle Erfahrung (ethno) zu verstehen« (Ellis et al. 2010: 345). In einer autoethnografischen Beobachtung auf der Mikroeben werden kulturelle, soziale und strukturelle Kontexte (der Meso- und Makroebene) reflektiert. Das Besondere an Autoethnografien ist, dass sie zum Miterleben, Nachempfinden und Übersetzen auf eigene Bezugssysteme einladen und dadurch evozierend wirken können: »The goal of autoethnographies is not to represent learned lessons, but to trigger cognitive processes within the recipients« (Ploder/Stadlbauer 2016: 754). Es braucht hierzu Personen, die möglichst ungefiltert über die eigenen Erfahrungen berichten, wie beispielsweise hier: »In dieser autoethnographischen Story verstecke ich mich nicht hinter gewohnt wissenschaftlicher Rhetorik. Ich bin sichtbar als Person, als Hochschuldidaktikerin. Ich trage Verantwortung für meine Erkenntnisse und erschließe (methodisch kontrolliert) meinen Standort, meine Situierung« (Autor:innengruppe AEDiL 2021: 77). Es geht also darum, im Wechselspiel zwischen individueller Involviertheit und kritischer Distanz Anschlussfähigkeit zum eigenen Erleben zu erzeugen. Das kann bedeuten, dass die eigene Komfortzone verlassen werden muss, um zu neuen Einsichten und Erkenntnisse zu gelangen (vgl. de Vries 2017). Biografische Einflüsse werden als Verwobenheit des forschenden Selbst mit dem beforschten Phänomen als methodischer Zugang genutzt. Entwickelt wurde die Autoethnografie zur Erforschung von marginalisierten oder wenig erschlossenen Phänomenen oder Personengruppen (Boll 2018; Hernandez et al.2015; Jones 2020; Nowakowski 2016; Santiago et al.2017; Ward 2019). Entsprechend werden bei der Autoethnografie die persönlichen Erfahrungen, der Beobachtungsstandpunkt oder die Wert-, Denk- und Handlungs-
Autor:innengruppe AEDiL: Öffnung der Blackbox Hochschullehre
schemata der Lehrenden nicht etwa methodisch ausgeblendet oder versucht zu kontrollieren, sondern als zentrales Element der Erkenntnisgenerierung angesehen (vgl. Reinmann/Schmohl 2016). Die Selbstbeobachtung und -positionierung ist damit Bestandteil der teilnehmenden Beobachtung des Feldes (vgl. Ellis et al. 2010), um Bewusstwerdung, Sichtbarmachung und Orientierung zu dem zu untersuchenden Phänomen zu ermöglichen (vgl. Autor:innengruppe AEDiL 2021). In der Autoethnografie kommen die Handelnden selbst zu Wort und interpretieren die erhobenen Daten selbst. Es findet keine Filterung der gewonnenen Daten und ihrer Analyse durch andere Wissenschaftler:innen statt, sondern durch beziehungsweise in Abstimmung mit sich selbst. Dadurch wird vermieden, dass durch die vermeintliche Objektivität der befragenden Wissenschaftler:innen die Daten vorstrukturiert werden, wie Lapadat (2017: 593) ausführt: »Accordingly, it can be argued that the autoethnographer owns this inscription of the story, the perspective, and the voice, rather than having them filtered through another’s perspectives, agendas, interactions, and interpretations.« Zudem werden dadurch Machtgefälle und Repräsentationsfragen – wer darf für wen wie sprechen – vermieden (vgl. Reed-Danahay 2021). Und es kommt zu keinen Interpretationslücken, da mögliche Widersprüche zwischen Datenmaterial und Interpretation ausgehandelt werden können und so zu erneuter Reflexion führen (vgl. Chang 2016). Zentraler Ansatzpunkt der Autoethnografie sind Suchbewegungen fokussierter Introspektion, um Selbsterfahrungen zu heben (vgl. Breidenstein et al. 2020). Das Vorgehen sollte entsprechend angeleitet sein, das heißt zu Beginn der Forschung wird ein Forschungsfokus gesetzt, der sich im Verlauf der (gemeinsamen) Forschung immer weiter verdichtet. Gehoben werden die autoethnografischen Daten durch das transparent zu machende empirische Vorgehen, das je nach Fragestellung, Forschungsprojekt und -feld unterschiedlich sein kann (vgl. Reinmann/Schmohl 2016). Daten werden »von Ethnograf:nnen nicht ›dort draußen‹ gefunden, sondern in ihren Beobachtungen, Protokollierungen und Interpretationen erst hergestellt« (Breidenstein et al. 2020: 11). Für Ethnografien ist neben der Anpassung der Datenerhebung gleichzeitig die Distanzierung zum Feld entscheidend. In der Autoethnografie ist diese Distanzierung ein durch Analyseaktivitäten forcierter, komplexer Reflexionsprozess (ebd.: 125), da der Mensch als Subjekt
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und Objekt seiner Eigenerforschung im Mittelpunkt steht. Die kollaborative Autoethnografie kann hier zielführend sein, da sie eine Distanzierung durch die Reflexion mit anderen ermöglicht. Die kollaborative Autoethnografie geht über eine individuelle Autoethnografie hinaus, indem sie sowohl den Datenerhebungsprozess als auch den Datenauswertungsprozess kollaborativ vornimmt. »Ideally, all researchers should get involved in preliminary data analysis leading to further data collection. Since the early stage of data analysis leading to further data collection. […] It is even better if all researchers can participate in the full course of research until all data of all participants are analysed, interpreted, and written up« (Chang et al. 2016: 101). Chang et al. (2016: 143ff.) beschreiben hier einen iterativen Prozess von Datenerhebung, Datenauswertung und Verschriftlichung der Ergebnisse. Am Ende des iterativen Prozesses stehen autoethnografische Stories, die unterschiedliche Ausprägung haben können: (1) beschreibend-realistisch, (2) bezeugendaffektiv, (3) analytisch-interpretativ, (4) imaginierend-kreativ. Egal welcher Typus an Story dabei entsteht, geht es im Kern immer darum, Resonanz bei den Leser:innen zu erzeugen, etwas zu evozieren, zum Mitdenken und im besten Falle eine Weiterforschung mit dem erstellten Material oder, dadurch inspiriert, am selbst erzeugten eigenen Material anzuregen. Wie genau solch eine kollaborative Autoethnografie vollzogen werden kann, wird im Folgenden anhand des Projektes AEDiL illustriert.
3 Das Forschungsprojekt AEDiL Im Sommersemester 2020, als im April alle Hochschulen ihren Lehrbetrieb in den Online-Modus versetzten, wurde das Projekt AEDiL durch einen Tweet4 von Isabel Steinhardt initiiert. Neben Personen, die sich via Twitter für eine 4
»Bei der Entwicklung meiner online-Lehre zu Autoethnographie habe ich mir überlegt, dass es gerade jetzt spannend und wichtig wäre auch die eigene Lehrerfahrung mit #VirtuelleLehre autoethnographisch zu beforschen. Wer hat Lust mitzumachen? #TwitterCampus #gfhf2020 #dghd2020« (siehe https://www.twitter.com/sozmethod e/status/1243082339422539776). Der Hashtag #gfhf2020 verweist auf die Gesellschaft für Hochschulforschung, der Hashtag #dhgh2020 auf die Deutsche Gesellschaft für Hochschuldidaktik. Beide Gesellschaften führten zu diesem Zeitpunkt ihre Jahrestagungen erstmalig online durch.
Autor:innengruppe AEDiL: Öffnung der Blackbox Hochschullehre
Teilnahme an dem Forschungsprojekt fanden, wurde eine Teilnahme-Aufforderung via Mailingliste der Gesellschaft für Hochschulforschung verschickt. Zusammengefunden haben sich 16 Personen die seitdem die durch Corona forcierte Umstellung auf Online-Lehre im gemeinsamen Projekt AEDiL beforschen. Das Erkenntnisziel war es, die Umstellung der eigenen Lehre und deren Umstände oder deren hochschuldidaktische Begleitung zu beforschen. Das Besondere an AEDiL ist, dass es ein rein online organisiertes sowie durchgeführtes Forschungsprojekt ist, mit Personen aus unterschiedlichen Hochschulen, Bundesländern, Fächern, Qualifikationsniveaus (Professor:innen, Postdocs, Promovierende) und Beschäftigungssituationen (Dauerstellen, befristet mit unterschiedlichem Umfang). Der Großteil kannte sich zuvor nicht. Das stellte die Projektmitglieder zu Beginn vor besondere Herausforderungen. Erstens, wie kann der für so eine kollaborative Autoethnografie notwendige Vertrauensaufbau online ermöglicht werden? Zweitens, wie kann die Kommunikation und Koordination dauerhaft erfolgreich gewährleistet werden? Drittens, wie funktioniert eine effektive Forschungskollaboration im Digitalen? Und viertens, wie können gemeinsame Ziele definiert werden, die den gemeinsamen Forschungsprozess fortlaufend orientieren und leiten? Gerade für eine kollaborative Autoethnografie, in der sensible Daten zu eigenen Praktiken, wahrgenommene Schwächen und Stärken gemeinsam reflektiert werden sollen, bedarf es einer Vertrauensbasis, um ausreichend Offenheit für den gemeinsamen Forschungsprozess zu generieren. Zudem profitiert die Methode der Autoethnografie von Vulnerabilität; es geht darum, Erfahrungen und Beobachtungen ansprechbar zu machen, die sonst nicht leicht sagbar sind (vgl. Custer 2014; Darmon 2018; Ward 2019). Um den Vertrauensaufbau zu rahmen, wurde bereits zu Beginn des Projektes ein Code of Conduct5 entwickelt, auf den sich alle Beteiligten verständigten. Darin wurde zum Beispiel festgelegt, dass ein absolut vertrauensvoller und geschützter Umgang mit den erhobenen Daten stattfinden muss. Das heißt die selbstständige (Weiter-)Verwendung der Daten anderer aus dem Forschungsprojekt darf nur nach direkter Rücksprache und Einwilligung erfolgen. Es wurden außerdem gemeinsame Feedbackregeln erarbeitet. Durch diese verbindliche Strukturgebung war eine Basis geschaffen, um wertschätzend die Do-
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Der Code of Conduct wurde im Mai 2020 entwickelt und kann hier öffentlich eingesehen werden: https://www.researchgate.net/project/AEDiL-AutoEthnographische-For schung-zudigitaler-Lehre-und-deren-Begleitung/update/5ef0628c4c18f900012af340 .
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kumentationen der anderen Personen zu lesen und zu kommentieren. Für die Dokumentation der eigenen Beobachtungen wurde das Online-Tool Mahara genutzt. Über dieses können individuelle Blogbeiträge erstellt werden, die über eine freigeschaltete Ansicht dann auch für die anderen Gruppenmitglieder einsehbar sind und kommentiert werden können. Die zweite Herausforderung bestand in der Projektkommunikation und -koordination. Bereits zu Beginn des Projektes hat sich eine koordinierende »Kerngruppe« formiert, die sich wöchentlich trifft, um organisatorische und inhaltliche Fragen zu klären. Zur Kommunikation wurden, neben dem Austausch aller untereinander über Mahara, zusätzliche monatliche Gesamtgruppentreffen mit allen Projektmitgliedern durchgeführt. Zudem gibt es einen wöchentlichen E-Mail-Newsletter der Kerngruppe an alle, um den fortlaufenden Informationsfluss sowie die Verbindung zu den Mitgliedern dauerhaft zu gewährleisten. Neben der bereits erwähnten Feedbackmöglichkeit über Mahara wurden drittens weitere Formen der Kollaboration im Digitalen entwickelt. So gab es im Frühjahr und im Sommer 2020 Online-Reflexionstreffen in Kleingruppen (via BigBlueBotton, Webex oder Zoom), um im Austausch miteinander die eigenen autoethnografischen Dokumentationen zu thematisieren und intensiv zu reflektieren. Für den Prozess des Schreibens der autoethnografischen Stories aller Teilnehmenden, die im Buch Corona-Semester reflektiert (Autor:innengruppe AEDiL 2021) veröffentlicht wurden, gab es Schreibgruppen aus drei bis vier Personen. In diesen wurden erste Entwürfe der individuellen autoethnografischen Stories entwickelt, besprochen, gegengelesen und bis zur Publikationsreife im Modus eines Peer-Reviews bearbeitet.6 Bei den Kollaborationsformaten wurde darauf geachtet, dass immer wieder neue Konstellationen der Projektbeteiligten zusammenarbeiteten, sodass auch dadurch das Prinzip der Offenheit sowie der Kollaboration bestmöglich realisiert wird. Eines der ersten Projektziele wurde schon angesprochen – eine gemeinsame Buchveröffentlichung. Diese hat sich allerdings erst im Laufe des Forschungsprozesses herauskristallisiert. Zunächst war das Ziel von AEDiL, Einblicke in die individuellen Veränderungen der eigenen Lehre beziehungsweise
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Seit dem Frühjahr 2021 werden »Dyadische Gespräche« durchgeführt, in denen mittels selbst gewählter Problem- und Themensetzungen die eigenen Lehrpraktiken in neuen Kleingruppen reflektiert werden. Da zum Zeitpunkt des Schreibens des Artikels diese Phase des Projektes noch nicht abgeschlossen ist, wird auf Informationen verwiesen, die auf der Projektwebseite (aedil.de) zu finden sind.
Autor:innengruppe AEDiL: Öffnung der Blackbox Hochschullehre
der Lehrbegleitung durch die Umstellung auf Online-Lehre zu beobachten, zu dokumentieren, zu reflektieren und zu analysieren. Dass es dabei auch publizierbare Ergebnisse geben sollte, war zwar anvisiert (auch im Sinne des SoTL), stand zu Beginn aber nicht im Zentrum der gemeinsamen Beforschung. Anfänglich war der Prozess selbst das Ziel, also gemeinsam auf die Veränderungen der Lehre blicken zu können und im Sinne einer Community of Practice (vgl. Wenger 2008) diese Veränderungen miteinander zu teilen und zu reflektieren. Im Laufe des Prozesses wurde dann deutlich, dass die kollaborativ entstandenen autoethnografischen Stories der Projektmitglieder in ihrer Gesamtheit ein gutes Lagebild des ersten Corona-Semesters wiedergeben und auch für nicht-beteiligte Hochschullehrende einen wertvollen Reflexionsraum bieten können. Eine Veröffentlichung der Stories und des Vorgehens in AEDiL war somit die logische Konsequenz. Die im Buch Corona-Semester reflektiert (Autor:innengruppe AEDiL 2021) enthaltenen 15 Stories lassen sich unter vier Themenfelder subsumieren, die hier kurz vorgestellt werden, um einen inhaltlichen Überblick über die bisherigen Forschungsergebnisse des Projektes zu geben: Das erste Themenfeld trägt den Namen »Chancen in der Krise« (Autor:innengruppe AEDiL 2021: 43–97). In den zugeordneten Stories wird der anfängliche Krisenmodus des ersten Corona-Semesters beleuchtet, der vor allem von Unsicherheiten geprägt war, aber auch als Chance im Lehrgeschehen genutzt wurde. Deutlich wurde, dass beim individuellen Umgang mit den erlebten Unsicherheiten, verschiedene Phasen durchlaufen werden. Als erste Phase wurde die persönliche Unsicherheit identifiziert, die durch die plötzliche Pandemie-Situation und Online-Lehre entstanden ist. Durch erste Erfahrungen und Reflexionen zur Online-Lehre wich die anfängliche Unsicherheit (Phase zwei). Mit den persönlichen Lernerfahrungen geht die Reflexion über strukturelle und institutionelle Bedingungen einher, welche in eine dritte Phase münden kann, in der institutionelle Veränderungen angestoßen werden. In den autoethnografischen Stories des zweiten Themenfeldes »Neue (digitale) Lehrpraktiken« (Autor:innengruppe AEDiL 2021: 99–149) rekonstruieren die Autor:innen inwiefern und wodurch neue Lehrpraktiken in der (für die meisten Projektmitglieder) unbekannte Situation der Online-Lehre entstehen können. Dabei fand in der autoethnografischen Forschung eine intensive Auseinandersetzung mit den eigenen Lehrpraktiken und den zugrundeliegenden theoretischen und praktischen Annahmen sowie den Wahrnehmungs-, Denkund Handlungsschemata des eigenen Lehrhabitus statt. Deutlich wird, dass es dafür erstens einen (externen) Anlass braucht, um die eigenen Routinen
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im Lehrhandeln zu irritieren, zu durchdenken und zu durchbrechen. Zweitens braucht es den Raum, die Zeit und die Möglichkeiten, um über die eigenen Lehrpraktiken zu reflektieren, bestenfalls im direkten Austausch mit anderen. Im dritten Themenfeld »Erwartungsdiskrepanzen« (Autor:innengruppe AEDiL 2021: 151–206) findet in den autoethnografischen Stories eine Auseinandersetzung mit den eigenen Erwartungen an die neue Situation der Online-Lehre statt. Im Zentrum stehen Erwartungen, die auf impliziten Regeln und dem damit verbundenen Wissen beruhen und die für gewöhnlich nicht expliziert, sondern im Tun erfahrbar werden. Während des Übergangs in die ungewohnten Online-Lehrsettings wurde deutlich, dass Erwartungsdiskrepanzen durch Reflexion aufgedeckt und als Weiterentwicklungspotenziale genutzt werden konnten. Im letzten Themenfeld »Strukturelle Spannungen« (Autor:innengruppe AEDiL 2021: 207–257) werden anlässlich der krisenhaften Erfahrungen im Umgang mit Corona nicht nur Lehr(didaktik)-bezogene Probleme verhandelt. Vielmehr werden ungleichheitsreproduzierende Strukturen, Mechanismen und Prozesse thematisiert, die für bestimmte Statusgruppen im deutschen Hochschulsystem per se virulent sind, gerade während der Corona-Krise. Es geht um Rückblicke auf mühevolle Bildungsaufstiege, die zermürbende Prekarisierung akademischer Karrieren, Gender-Ungleichheiten in Akademia und/oder den strukturell induzierten Verdrängungswettbewerb zwischen akademischer Lehre und Forschung.
4 Einblick in die Umsetzung der kollaborativen Autoethnografie im AEDiL-Projekt Bisher wurde noch wenig über das methodische Vorgehen innerhalb des AEDiL-Projektes gesagt. Als zentrales methodisches Credo für das Projekt gilt, in allen Belangen des Forschungsprozesses flexibel zu bleiben (vgl. Breidenstein et al. 2020). Das heißt die genutzten Methoden und Verfahren wurden dem Phänomen, den Gegebenheiten des Forschungsfeldes und dem Umstand des kollaborativen Forschens in einer Online-Umgebung fortlaufend angepasst. Entsprechend sind die hier vorgestellten Schritte des kollaborativ autoethnografischen Forschens zwar inspiriert durch die konzeptuellen Arbeiten von Ellis et al. (2010) und Chang et al. (2016), in dieser Form bisher aber noch nicht durchgeführt worden. Das Vorgehen des AEDiL-Projektes lässt sich an-
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hand von drei Schritten kurz erläutern (ausführlicher in: Autor:innengruppe AEDiL 2021: 28–41). Schritt 1: Fokussierung und Zielsetzung Am Anfang des Forschungsprozesses unserer Autoethnografien stand eine Fokussierung, also die Entscheidung für den Kontext als auch das forschungsleitende Erkenntnisinteresse, die für die Selbstbeobachtung von Relevanz sind. Hierzu wurden im AEDiL-Projekt folgende Spezifizierungen angeregt, die zugleich mit den anderen Gruppenmitgliedern mittels eines Blogbeitrags bei Mahara geteilt wurden: 1) Spezifikation des Forschungsumfeldes wie (institutioneller) Kontext und (individueller) Hintergrund, in welchem die Selbstbeobachtungen stattfinden sollen. Konkret: Was ist etwa die disziplinäre Herkunft oder um welche Lehrveranstaltungen oder Beratungskontexte handelt es sich? 2) Umreißen des Erkenntnisinteresses durch Festlegung des Fokus der Selbstbeobachtung. Was und welcher Art sind zum Beispiel auftretende Unsicherheiten oder veränderte Lehr-Lern-Bedingungen? Oder: Gibt es besondere individuelle sowie kontextuelle Herausforderungen im Rahmen der Online-Lehre? 3) Bestimmung des Erlebniskontextes. Welche konkreten Interaktionen sollen beobachtet werden? Zum Beispiel Erlebnisse in einer konkreten Lehrveranstaltung oder in bestimmten Beratungsaktivitäten. 4) Festlegung des Beschreibungsfokus. Welche Wahrnehmungen und Interpretationen sollen im beobachteten Erlebniskontext bewusst gemacht und darum auch zwingend dokumentiert werden?
Durch diesen ersten instruktiven Blogbeitrag zur Erforschung im AEDiLProjekt sollten von Beginn an zum Beispiel institutionelle Gemeinsamkeiten, Überlappungen der Forschungsprozesse oder die Eingebundenheit in CareAufgaben gesehen werden. So fand eine erste Annäherung statt, die durch das Lesen und Kommentieren der Fokussierungen und Zielsetzungen der Gruppenmitglieder zu ersten Reflexionen, Schärfungen und auch Änderungen des individuellen Schwerpunktes führte. Nachdem diese Fokussierungen und Zielsetzungen abgeschlossen waren, wurde mit der jeweiligen Datenerhebung durch alle Projektmitglieder begonnen.
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Schritt 2: Datenerhebung Für die kollaborative autoethnografische Forschung gibt es keine Standards der Datenerhebung. Vielmehr ist diese abhängig vom zu erforschenden Phänomen und Forschungsfeld (vgl. Adams et al. 2015; Campbell/Lassiter 2015; Chang 2016; Ploder/Stadlbauer 2016). Im AEDiL-Projekt haben wir festgestellt, dass es auch auf die Forscher:innenpersönlichkeit ankommt, wie Daten erhoben und dokumentiert werden (Autor:innengruppe AEDiL 2021: 31). So fühlten sich manche mit dem Format des Online-Bloggens bei Mahara wohl, andere wiederum notierten ihre Beobachtungen zunächst handschriftlich in Feldtagebüchern und stellten diese nachträglich für alle einsehbar online. Im AEDiL-Projekt wurde eine prozessuale Herangehensweise gewählt, die möglichst viele Beobachtungen, die in der ad-hoc-Situation der Umstellung auf digitale Lehre gesammelt wurden, beinhaltete, und durch die Dokumentation der erlebten Interaktion verschriftlicht und mit den anderen Gruppenmitgliedern geteilt wurde. Um die Hintergründe der je eigenen Situation zu schildern und die erlebten Interaktionen in einen Kontext zu stellen, wurden die prozessualen Beobachtungen durch retrospektive Passagen erweitert (vgl. Adams et al. 2015; Chang 2016). Zentrale Kriterien der Beobachtungsverschriftlichungen waren dabei: (1) Regelmäßigkeit, (2) Zielgerichtetheit sowie (3) Verwendbarkeit. Wie wichtig und gleichzeitig herausfordernd gerade die Kollaboration während der Datenerhebung war, wurde an diversen Unsicherheitsmomenten deutlich. Als interdisziplinäres Forschungsprojekt besteht AEDiL aus einer Reihe von Personen, die bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht qualitativ geforscht hatten und nur wenige hatten Erfahrung mit (auto)ethnografischer Forschung. Eine kollaborative Autoethnografie hatte noch niemand unter den Projektmitgliedern durchgeführt. Insofern war die nichtstandardisierte und offene Datenerhebung eine Herausforderung für die meisten und führte zu anfänglichen Unsicherheiten. Es galt einen eigenen Modus und eine eigene Stilistik der Datenerhebung (und damit der Selbstbeobachtungen) zu finden, ohne sich durch die Daten der anderen Gruppenmitglieder zu sehr beeinflussen zu lassen. Gleichzeitig ermöglichte es die Kollaboration in der erweiterten Gruppe, individuelle Unsicherheiten zu thematisieren und abzuklären. Es wurden ein Einführungsvideo zur Methode der Autoethnografie und Methodentexte untereinander ausgetauscht und bereitgestellt7 . Es gab 7
Erstellt wurde das Video von Angelika Thielsch (siehe https://www.youtube.com/wat ch?v=oK7ZTHpdj4U).
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mehrere Gesamtgruppentreffen, in denen intensiv über die Verschriftlichung der Selbstbeobachtungen gesprochen wurde. Auch die Reflexionstreffen in den Kleingruppen können, wegen ihrer Atmosphäre besonderer Vertraulichkeit unter wenigen Anwesenden, als ein Erfolg gewertet werden, methodische Restunsicherheiten abzubauen. Zentral war dann die abschließende Verschriftlichung der Stories für unser gemeinsames Buchprojekt, da in der Auseinandersetzung mit den verschriftlichten Selbstbeobachtungen eine (weitere) Distanzierung vom Erlebten möglich wurde: »Als ich meine Einträge für diesen Beitrag noch einmal durchging, musste ich feststellen, dass da manches geschrieben stand, was mich mit emotionaler Distanz zu den spontanen Erlebnismomenten oder aufgrund meines jetzigen Kenntnisstandes mit mir selbst befremdet. Einmal mehr wurde mir bewusst, dass oder welche ›Tabus und Tabuverletzungen‹ es in den Hochschulen gibt. Anscheinend geht es nicht nur mir so, denn ansonsten hätten wir uns als Forschungskollektiv nicht dazu entschieden, für diese Veröffentlichung als ein Autorenkollektiv aufzutreten und die Einzelbeiträge weitgehend zu anonymisieren« (Autor:innengruppe AEDiL 2021: 210). Die kollaborative Autoethnografie ist prädestiniert dafür, im Austausch mit den anderen Gruppenmitgliedern Reflexionsanreize zu erhalten und sich zum eigenen Material zu verhalten. Schritt 3: Datenverarbeitung Die Distanzierung zum eigenen Material ist für die Datenverarbeitung von großer Bedeutung. Gerade bei autoethnografischer Forschung ist die Involviertheit in das eigene Erleben und Textmaterial immanent, was eine fortlaufende Auseinandersetzung mit dem bereits produzierten Textmaterial notwendig macht. Nur diese kontinuierliche Distanzierung von beziehungsweise Befremdung mit dem eigenen Datenmaterial ermöglicht eine Bewusstwerdung der Dispositionen der eigenen Praxis; das heißt der Wert-, Denkund Handlungsschemata des eigenen Lehrhabitus. So können die sozialen Rahmenbedingungen hinterfragt werden, die dazu beigetragen haben, diesen Lehrhabitus hervorzubringen (vgl. Chang 2016). Diese Distanzierung begann im AEDiL-Projekt, wie schon erwähnt, bereits in der Erhebungsphase und wurde durch die gemeinsame Reflexionsarbeit in den Schreibgruppen intensiviert. Diese bestanden aus je drei bis vier Personen, die sich in regelmäßigen Abständen trafen, um schrittweise das Material gemeinsam zu
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erkunden und zu analysieren und damit Kernthemen der Selbstbeobachtung herauszuarbeiten. Entsprechend wurden die autoethnografischen Stories als thematisch fokussierte Narrative aufgebaut: »Um meine Story zu erzählen, nutze ich die von mir im Sommersemester geschriebenen Blogbeiträge als Ausgangsbasis, um rekapitulieren zu können, wie sich meine Entwicklung vollzogen hat. […] Gleichzeitig seziere ich die Blogbeiträge, um meine eigenen Wert-, Denk- und Handlungsschemata offenzulegen und zu zeigen, wie sie sich verändert haben. Damit geht die Hoffnung einher, dass dieses Sezieren dabei hilft, auch anderen Lehrenden Mut zu machen, sich kritischer mit den eigenen Schemata auseinanderzusetzen.« (Autor:innengruppe AEDiL 2021: 128f.) Die fokussierten Narrative wurden als verschriftlichte Produkte in die Gesamtgruppe zurückgespielt und in einem gemeinsamen Cloudordner für alle zugänglich aufbewahrt. Auch hierdurch wurde ein letzter Durchgang des gemeinsamen Reflektierens im Modus eines Peer-Feedbacks ermöglicht. Das Ergebnis sind vielfältige Perspektiven und Einblicke in unsere Lehrpraktiken und kontextspezifischen Herausforderungen während des ersten Corona-Semesters.
5 Kollaborative Autoethnografien zur Öffnung der Blackbox Lehre Wie kann nun aber eine kollaborative Autoethnografie, wie sie im AEDiL-Projekt genutzt wurde die Blackbox Lehre öffnen? Erste Einblicke hierzu eröffnen sich durch die verschriftlichten Gedanken eines AEDiL-Mitglieds: »Wir wissen einfach noch viel zu wenig über das ›Unterleben‹ von uns Wissenschaftler:innen in den Hochschulen. Es fehlt uns noch an wünschenswert dichten, diskreditierbaren Selbstberichterstattungen als notwendige Datenvoraussetzung, um ein tiefergehendes Verständnis der Feld-Effekte des Hochschul- und Wissenschaftssystems auf uns selbst sowie unsere akademischen Tätigkeiten des Forschens, Lehrens und der Selbstverwaltung zu entwickeln. Ob für selbstaufklärend individuelle, hochschulpolitische, hochschulorganisatorische und/oder rein forscherische Zwecke; es gibt gute Gründe, sich um eine Enttabuisierung bzw. Normalisierung des Sprechens über akademische Krisen- oder Konflikterfahrungen zu bemühen« (Autor:innengruppe AEDiL 2021: 211f.).
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In Orientierung an dieses Zitat, werden abschließend vier Aspekte thematisiert, die eine (auto-)ethnografische Erforschung des Hochschul- und Wissenschaftssystems besonders erkenntnisreich und praxisrelevant machen. Politisch: In einem Hochschulsystem, in dem der Lehre nach wie vor nicht der gleiche Stellenwert wie der Forschung eingeräumt wird, erscheint die kollektive Beforschung der Lehre als eine Möglichkeit der Relevanzsetzung. Durch die Befassung mit Lehre in einem analytischen Forschungsprozess wird die Praxis der Lehre sozusagen ›forscherisch‹ eingeholt und aufgewertet. Dass es sich hier nur um einen Behelf handelt, sollte dabei klar sein. Insgesamt bräuchte die Lehre im Hochschulsystem immer noch mehr Aufmerksamkeit und Anerkennung, ausgedrückt durch strukturelle Beachtung und finanzielle Anerkennung, als ihr bisher zuteilwird. Sozial: Die kollaborative Autoethnografie schafft einen Sozialraum, eine Community of Practice (vgl. Wenger 2008). In dieser steht der offene Austausch miteinander, die gemeinsame Reflexion und die gemeinsame Weiterentwicklung der Praxis im Zentrum. Gerade durch die Kollaboration, welche unterschiedlichste Blickwinkel sämtlicher Akteure im Konnex der praktizierten Hochschullehre auf das gleiche Phänomen wirft, können Gemeinsamkeiten, Unterschiede oder Interessengegensätze extrahiert werden, die strukturelle Fragen zu Machbarkeitsbedingungen aufdecken und damit im besten Fall zu Anlässen praktischer Veränderungen führen. In Bezug auf die Lehre ist das Fazit aus dem AEDiL-Projekt: »Auf der Meso- und Makroebene, also im institutionellen Rahmen, institutsoder gar hochschulweit, gibt es solche Möglichkeitsräume für Reflexionen über die Lehre bislang nicht. Während es in der Forschung mit Kolloquien für Promovierende, Masterand:innen und bisweilen auch Bachelorand:innen teilweise curricular verankerte Veranstaltungen gibt, die sich ausschließlich der Besprechung eigener wissenschaftlicher Arbeiten widmen, fehlt dieser definierte Rahmen für die Diskussion über Lehre – von singulären Veranstaltungen der hochschuldidaktischen Weiterbildung oder kollegialen Einzelfallberatungen einmal abgesehen.« (Autor:innengruppe AEDiL 2021: 261) Öffentlich: Sicherlich gibt es auch andere Communities of Practice als das AEDiL-Projekt. Zum Beispiel Zusammenschlüsse in der jeweiligen eigenen Institution, in denen sich über Lehre ausgetauscht und gemeinsam an Proble-
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men wie der Studiengangsgestaltung gearbeitet wird. Diese bleiben aber im hochschulisch Verborgenen und beziehen oftmals die zugrundeliegenden sozialen Strukturen nicht in ihre Überlegungen ein. Erst wenn, wie im SoTL gefordert, Öffentlichkeit durch Veröffentlichung erzeugt wird, öffnet sich die Blackbox Lehre und andere können von den eigenen Erfahrungen profitieren oder eine neue Sichtweise auf Veränderungspotenziale und -bedarfe gewinnen. Evokativ: Durch die ehrliche, mutige, teilweise provokative aber dennoch analytische Beschreibung der eigenen Lehrpraktiken in spezifischen Kontexten, laden Autoethnografien zum Miterleben, Nachempfinden und Übersetzen auf eigene Bezugssysteme und Relevanzsetzungen ein. Sie evozieren das Nachdenken über die eigene Situation und ermöglichen dadurch im besten Falle die Reflexion über die eigene Lehre und deren Kontexte. So wird Transparenz in der Lehre geschaffen, indem die (evokative) Darstellung der Lehrpraxis, etwa Informationen zum Lehrkonzept, zu Lehrmethodiken, Lehrmaterialien oder Lehrergebnissen mitgeliefert wird. Zum anderen muss reflektiert werden, welche Sozialisation der Mensch selbst in der Lehre durchlaufen hat, um Lehrpraktiken analysieren zu können und das untersuchte Phänomen beschreiben zu können. Damit kann gleichsam zur Weiterentwicklung der eigenen Lehrpraxis beigetragen werden und die Blackbox Lehre für die Gemeinschaft aller Lehrenden füreinander ein Stück weit geöffnet werden. Ob durch ihre (hochschul-)politische und sozialen Wirkung oder ihren öffentlichen und evokativen Charakter, die kollaborative Autoethnografie birgt zahlreiche Potenziale, um die Blackbox Hochschullehre zu öffnen. Nicht zuletzt auch dadurch, dass sie sich eines Werkzeugs bedient, das im Wissenschaftsbereich noch immer den größten Einfluss zu haben scheint: eine forschende Perspektive.
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Brauchbare Operationalisierungen: Prüfungsbezogene Interaktionen von Studierenden im Internet Tanya Tyagunova
1 Einleitung Martin Forseys (2020) Diagnose, es mangele an Ethnografien im Bereich der Hochschule, mag als Form wissenschaftlicher Reklamation gelesen werden, in der die Feststellung eines Mangels zugleich ein Aufruf zu dessen Behebung ist. Mit dieser Diagnose schließt er sich Pabian (2014) und Gusterson (2017) an, die zu einer ähnlichen Feststellung kommen. Das (relative) Desinteresse der Ethnografinnen und Ethnografen ist, so Pabian (2014: 6), insofern erstaunlich, als der ethnografische Ansatz in Schul- und Unterrichtsforschung sowie Wissenschafts- und Technikforschung fest etabliert ist. Zwar finden sich einige wenige Ethnografien der Hochschule, sie fokussieren jedoch überwiegend Aspekte des sozialen Lebens der Studierenden wie etwa Freundschaftsbeziehungen (Moffatt 1989), sexuelle Kontakte (Bogle 2008) oder Alkoholkonsum (Vander Ven 2011). Studium und Lehre – das Kerngeschäft der Hochschulbildung – stehen dabei selten im Fokus. Ein Grund dafür, dass die ethnografischen Forscherinnen und Forscher das Feld, in dem sie in den meisten Fällen selbst tätig sind, bislang im Wesentlichen ignorierten, kann die unbehagliche Verschmelzung von Rollen sein, die mit einer intensiven Feldforschung im ›eigenen‹ Feld einhergeht: »ethnography of higher education presents researchers with the most complex conflation of roles and thus complicates to the limits the insider/outsider problem as academic researchers research other academics, not unusually at their ›home‹
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institution or in their ›home‹ discipline« (Pabian 2014: 14).1 Es mag gerade an diesem Unbehagen bei der Fokussierung auf die eigene Praxis liegen, dass ein analytischer Blick in die eigene Institution vermieden wird: »The academy is, after all, a club, and members are expected to be discrete. Like any exclusive club, the academic world fears public scrutiny. […] The institution might be embarrassed« (Wisniewski 2000: 8). Darüber hinaus scheint das universitäre Feld zu vertraut und selbstverständlich zu sein, um ein ernstes ethnografisches Forschungsinteresse zu wecken: Über den Alltag in der eigenen Institution glaubt man bereits vieles zu wissen. Dieser Beitrag will einen bestimmten Ausschnitt des universitären Alltags in den Blick nehmen, der empirisch kaum beforscht ist: den praktischen Umgang der Studierenden mit Prüfungsanforderungen. Mein Fokus liegt auf studentischen Interaktionen auf Facebook im Vorfeld der mündlichen Prüfungen und ich frage nach der Funktionalität dieser Kommunikation für die Beteiligten. Es gibt zwar ›offizielle‹ Orte, an denen Erwartungen bezüglich der Vorbereitung auf die Prüfung und deren Ablauf gegenüber den Studierenden kommuniziert werden – etwa in Form von »Konsultationen zu den mündlichen Prüfungen«, die von den Dozierenden einige Wochen vor dem Prüfungstermin angeboten werden können, oder als »Hinweise zur Vorbereitung der mündlichen Prüfungen«, die in digitaler Form auf der Homepage des jeweiligen Instituts oder Arbeitsbereichs zu finden sind. Es scheinen jedoch vor allem andere Studierende zu sein, die als wichtigste Quelle für die prüfungsrelevanten Informationen von den Prüflingen betrachtet werden. Der Austausch von solchen Informationen findet unter anderem im Internet, etwa in studentischen Facebook-Gruppen, statt. Die um die mündlichen Prüfungen kreisende Kommunikation in diesen Gruppen steht im Mittelpunkt dieses Beitrags. Ich werde zeigen, wie hier von den Studierenden Versuche unternommen werden, die unvermeidlich abstrakten Prüfungsanforderungen ein Stück weit zu konkretisieren und zu operationalisieren. Die empirische Grundlage meiner Analyse sind ausgewählte Beiträge aus vier studentischen Facebook-Gruppen, in denen Studierende Fragen zur Studienorganisation und Prüfungsvorbereitung thematisieren sowie verschiedene prüfungsrele-
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Vgl. auch Gusterson (2017: 435): »it is as if there is an avoidance relationship preventing us from systematically studying the institutions we inhabit. […] We are willing to be reflexive, but not this reflexive.«
Tanya Tyagunova: Brauchbare Operationalisierungen
vante Informationen und Materialien untereinander kommunizieren.2 Bevor ich die Spezifik des Settings kurz beschreibe und anschließend die Ergebnisse meiner explorativen Analyse darstelle, seien einige ethnografische Studien in groben Zügen skizziert, in denen der Umgang der Studierenden mit den akademischen Anforderungen auf die ein oder andere Weise untersucht wurde.
2 Zum Umgang von Studierenden mit akademischen Anforderungen Zwei zentrale Arbeiten, die den praktischen Umgang von Studierenden mit akademischen Anforderungen in den Blick nehmen, sind die klassische Studie von Becker, Geer und Hughes, Making the Grade ([1968] 2003), und die Untersuchung von Miller und Parlett, Up to the Mark (1974). Becker, Geer und Hughes beschreiben die Perspektive, die die Studierenden auf ihr universitäres Studium entwickeln, als »grade point average perspective«. Das zentrale Merkmal der GPA-Perspektive ist der Akzent auf Noten, wobei die Studierenden fortdauernd an allen Informationen interessiert sind, die Einfluss auf ihre Noten nehmen können. Die Studie verweist auf einzelne Praktiken, mit denen solche Informationen über formale, aber auch informelle Anforderungen verschiedener Lehrveranstaltungen und Lehrenden gesucht und sowohl von den Dozierenden als auch von den anderen Studierenden eingeholt werden (u.a. auch durch das Zirkulieren von Kopien ›alter‹ Hausarbeiten und Prüfungsfragen). Zum anderen finden sich in der Studie einige Hinweise darauf, dass Prüfungsmethoden eine strukturierende Funktion haben für das Wissen, welches die Studierenden glauben sich aneignen zu müssen, um Prüfungen bestehen zu können. Multiple-Choice-Tests scheinen etwa im starken 2
Diese Daten sind Teil eines größeren Projektes, das auf die empirische Rekonstruktion der Handlungslogik universitärer Praxis des Prüfens und Bewertens zielt. Das Projekt realisiert einen exemplarischen Zugriff: Beispielhaft werden schriftliche und mündliche Modul- und Abschlussprüfungen im Lehramtsstudium (in seinem bildungswissenschaftlichen Teil und in den einzelnen Fächern und Fachdidaktiken) untersucht. Methodologisch verknüpft das Projekt einen ethnografischen Zugang mit der ethnomethodologischen Konversationsanalyse. Das Projekt arbeitet mit (nicht-)teilnehmenden Beobachtungen von Prüfungs- und prüfungsbezogenen Situationen, Audioaufnahmen von mündlichen Prüfungen, offenen Interviews mit Studierenden und Dozierenden sowie Dokumenten medialer Interaktion.
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Kontrast zu Essays zu stehen: Erstere machen das Lernen genauer Formulierungen prüfungsbezogener Lerninhalte relevant; letztere orientieren die Studierenden auf die Relationierung einer breiten Auffassung von Themen mit dem Wissen einzelner Details und setzen bestimmte Schreib- und Strukturierungsfähigkeiten voraus (Becker et al. [1968] 2003: 75). Mit Blick auf diesen formatierenden Effekt der Prüfungen für das Wissen und Lernen sowie die konstituierende Rolle der GPA-Perspektive im Allgemeinen sprechen die Autoren (ebd.: 59ff.) vom Konflikt zwischen Bemühungen um (bessere) Noten einerseits und »Lernen für sich selbst« andererseits: Die Konzentration auf dem »Wesentlichen eines Lehrkurses« stehe in einem unvermeidlichen Spannungsverhältnis zur Orientierung an der Erfüllung der formalen Studiumsund Prüfungsanforderungen. Mit einem ähnlichen Fokus untersuchen Miller und Parlett (1974) studentische Praktiken des Umgangs mit je spezifischen Prüfungsanforderungen und beschreiben diese als playing the assessment game. Die Art und Weise, wie Studierende ihr Studium und die Vorbereitung auf Prüfungen organisieren (die Untersuchung wurde an der Universität Edinburgh durchgeführt), verdeutlicht dabei das Konzept von »cue-consciousness«: das Ausmaß, mit welchem Studierende nach prüfungsrelevanten Hinweisen (zu Prüfungsthemen, zu den von den Dozierenden favorisierten fachlichen Inhalten etc.) suchen und in der Kommunikation mit den Dozierenden spezifische Techniken einsetzen, um solche Hinweise aufzufangen. Für Miller und Parlett ist playing the assessment game weniger als Manipulierung als vielmehr im Sinne einer raffinierten, »adaptiven Antwort« auf das akademische Studiensystem zu verstehen.3 Einige weitere Einblicke in studentische Praktiken des Lernens und Vorbereitens auf Prüfungen geben die Studie von Nespor (1994) zur Spezifik des Physik- und Managementstudiums sowie die Ethnografie studentischer Kultur von Nathan (2005), wenngleich die beiden Arbeiten nicht primär auf den Umgang der Studierenden mit Prüfungen fokussieren. Nespor (1994: 95) beschreibt die Praktik der »Verdichtung von Mitschriften«, das heißt das Kom-
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Siehe auch eine neuere, als »ethnographic revisit« von Becker, Geer und Hughesʼ Making the Grade konzipierte Studie von Smith (2016) zur Kommunikation zwischen Studierenden und Dozierenden an einer US-amerikanischen Universität, die zeigt, wie sich (sozial privilegierte) Studierende darum bemühen, den für die angestrebte Note benötigten Arbeitsaufwand bereits im Vorfeld der Kommunikation mit Dozierenden einzukalkulieren und ihrerseits zu bestimmen, was jeweils als ›Leistung‹ gilt.
Tanya Tyagunova: Brauchbare Operationalisierungen
primieren von Zeit und Raum einer bestimmten Lehrveranstaltung (ihrer Vorlesungs- beziehungsweise Seminarskripte und Lernmaterialien) in ein Format, das mit dem jeweiligen Test in seinen raum-zeitlichen Parametern korrespondiert. Eine weitere Praktik, in der sich das Komprimieren widerspiegelt, stellt das Zirkulieren von ›alten‹ Mitschriften, Tests und Hausarbeiten dar. In der Studie von Nathan (2005: 119ff.) finden sich Hinweise auf Techniken der »Reduzierung des Pensums« (wie etwa die Verkürzung der Vorbereitungszeit) als Mittel der Ausbalancierung von Zeit und Arbeitsaufwand. All diese Studien, die (mit Ausnahme der Untersuchung von Miller und Parlett) an US-amerikanischen Universitäten und Colleges durchgeführt wurden, machen zum einen auf praktische Aspekte des Lernens und Bewertens in ihrem alltäglichen Funktionieren aufmerksam, Aspekte, welche in der deutschsprachigen empirischen Hochschulforschung bisher wenig Beachtung gefunden haben;4 zum anderen verdeutlichen sie den Operationalisierungsbedarf von prüfungsbezogenen Anforderungen aufseiten der Studierenden. Die erwähnten Studien konnten dabei jedoch nur andeuten, wie Studierende mit verschiedenen Prüfungsanforderungen praktisch umgehen; sie bieten keine differenzierten empirischen Beschreibungen prüfungsbezogener studentischer Praktiken an. Das Ziel dieses Beitrags ist es, diesem Mangel ein Stück weit abzuhelfen.
2.1 Das Setting Mein Datenkorpus besteht aus 350 Online-Beiträgen aus vier studentischen Facebook-Gruppen, deren Mitgliederzahl zwischen 300 und 2.000 variiert. Diese Zahlen sind nicht konstant: Sie steigen von Semester zu Semester oder können auch leicht zurückgehen, zum Beispiel wenn einige Mitglieder ihre Gruppe nach dem Studienabschluss verlassen, während ihre Beiträge im Facebook Gruppen-Feed immer noch zu sehen sind. Die Gruppen unterscheiden sich nach ihrem Adressaten- beziehungsweise Themenkreis: Es gibt Gruppen, die einen bestimmten Jahrgang (Immatrikulationsjahr), ein spezielles Fach oder Studienprogramm adressieren, aber auch Gruppen, die auf eine bestimmte Prüfung fokussieren. Gruppen, die
4
Siehe allerdings Tyagunova (2019) und Tyagunova und Greiffenhagen (2021) zu studentischen Praktiken der Vorbereitung auf Klausuren im MCQ-Format mithilfe von Altklausuren sowie die Arbeiten von Meer (1998, 2019), Herzmann und Liegmann (2020) und Tyagunova (2021) zur Interaktionsspezifik mündlicher Hochschulprüfungen.
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Studierende online bilden, ersetzen zwar nicht die Vernetzungen, die etwa in Form temporärer Lerngruppen oder anderer lokaler Vergemeinschaftungen während des Studiums offline entstehen, bieten jedoch Vernetzungsmöglichkeiten, die die Limitierungen persönlicher face-to-face Kommunikation umgehen lassen: Sie ermöglichen nämlich ein maximal breites Publikum (hier: alle Mitglieder der jeweiligen Gruppe) auf einmal anzusprechen, ohne jemanden persönlich kennen oder kontaktieren zu müssen. Die Gruppen, aus denen die im Folgenden analysierten Beitrage stammen, sind ›privat‹, das heißt jeder Internet-Nutzer und jede Internet-Nutzerin können sie auf Facebook finden; bevor sie jedoch die Beiträge der Gruppenmitglieder lesen können, sollen sie der Gruppe beitreten, indem sie eine Anfrage an den Administrator beziehungsweise die Administratorin der Gruppe senden und als deren Mitglieder angenommen werden. Dies unterscheidet ›private‹ Gruppen von den ›öffentlichen‹ Gruppen, deren Mitglieder und Beiträge für alle Internet-Nutzer und -Nutzerinnen zu sehen sind. Mein Zugang zu den Gruppen erfolgte über eine Studentin, die die Gruppenadministratorin einer der Gruppen war und über das Projekt bereits Bescheid wusste. An die anderen drei Gruppen habe ich Mitgliedschaftsanfragen gesendet und wurde als reguläres Mitglied in die Gruppen unter meinem echten Namen angenommen. Die Beobachtungen erfolgten ohne ›aktive‹ Teilnahme an den Kommunikationen der Beteiligten. In dieser Hinsicht agierte die Ethnografin vielmehr als beobachtende Teilnehmerin denn als teilnehmende Beobachterin.5 Alle ausgewählten Beiträge wurden vollständig anonymisiert beziehungsweise pseudonymisiert, um sowohl den Personenbezug als auch die Identifikation des jeweiligen Beitrags durch die Suchfunktion auszuschließen. Die verwendete Anonymisierungsstrategie kann mit Bruckman (2002) als »heavy disguise« beschrieben werden: Sie betraf nicht nur die Änderung der Namen der Mitglieder, der Gruppen und der in den Beiträgen erwähnten Fächer, Prüfungen und Dozierenden, sondern auch die Änderung von Zeit und Datum des jeweiligen Beitrags und Kommentars. Die Analyse von Internet-Beiträgen wurde um Auszüge aus den Interviews ergänzt, die mit einzelnen Studierenden bezüglich ihrer Praktiken der Prüfungsvorbereitung und des Umgangs mit Prüfungsanforderungen geführt
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Ausführlicher zur Spezifik des Feldzugangs und zum Erhebungsdesign siehe Tyagunova und Greiffenhagen (2021).
Tanya Tyagunova: Brauchbare Operationalisierungen
wurden.6 Bei den Prüfungen handelt es sich um die mündlichen Modul- und Abschlussprüfungen für Studierende der Lehrämter.
2.2 Brauchbare Operationalisierungen Für Prüflinge ist das Prüfungsgespräch durch vielfältige Erwartungen vorstrukturiert: Neben den offiziell – etwa im Rahmen von Prüfungskonsultationen oder Sprechstunden – kommunizierten Erwartungen, sind es auch Erwartungen, die durch eigene Erfahrungen und Gerüchte anderer gesteuert werden: Eindrücke, die man über die jeweiligen Dozierenden im Rahmen ihrer Vorlesungen oder Seminare gesammelt hat, und Berichte über sie als Prüfende, die unter Kommilitonen und Kommilitoninnen kursieren. Prüflinge lassen sich von ihren Kommilitonen und Kommilitoninnen nicht nur darüber informieren, wie ein Prüfungsgespräch ablaufen kann, sondern vor allem wie die- oder derjenige Prüfende so prüft, ob sie oder er etwa eine »harte Nuss« oder eine »eigentlich ganz nette Person« ist. Die Person der beziehungsweise des Prüfenden ist eine der relevantesten Kategorien, auf welche sich Sondierungsfragen richten – insbesondere dann, wenn man die Prüfenden nicht kennt:
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Die Interviews wurden nicht im Kontext der Feldforschungsphase geführt, in der die Beobachtungen von studentischen Internetinteraktionen stattgefunden haben. Die interviewten Studierenden sind also nicht mit den Mitgliedern der Facebook-Gruppen identisch, deren Beiträge hier im Fokus der Analyse stehen.
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Fragment 1
Tanya Tyagunova: Brauchbare Operationalisierungen
Solche Sondierungsgespräche sind vor allem vor der Einschreibung in die Prüfungstermine7 von Bedeutung: Für welchen Termin man sich entscheidet ist nicht zuletzt die Frage danach, welche Prüferin oder welchen Prüfer man wählt. Mit den Versuchen, die Prüfenden – durch Empfehlungen, Hörensagen und eigene Eindrücke aus Seminaren oder Sprechstunden – einzuschätzen, wird das grundlegende Merkmal des Verfahrens markiert, das den mündlichen Prüfungen alltagstheoretisch zugeschrieben wird: die ›subjektive Seite‹ des Prüfungsgesprächs. Sie findet ihren Niederschlag nicht nur in der Aufgeregtheit der Prüflinge,8 sondern auch – aufseiten der Prüfenden – in unterschiedlichen ›Prüfungsstilen‹, die in den Vorstellungen von Fairness der Bewertung (»benotet sehr fair« vs. »nicht zu empfehlen… Soll in manchen Jahren viele durchfallen lassen«) aber auch in den Charakterisierungen der persönlichen Idiosynkrasien der Prüfenden operationalisiert werden (»Er wollte bei mir wissen welche Informationen ich aus welchen Büchern herausstudiert habe – irgendwie seltsam«).9 Der Umstand, dass man die Prüfenden oft »auch einfach gar nicht kennt«, verschärft das Problem, indem es die Kontingenz des Prüfungsverfahrens steigen lässt. Die Wahl der Prüfenden ist immer auch die Frage danach, wie die mit bestimmten Prüfenden variierenden Prozesse des Prüfens und Bewertens mit den eigenen Aussichten auf das Bestehen und Investitionen in die Prüfungsvorbereitung in Beziehung stehen (»wenn du Xs Art nicht kennst und magst nicht hingehen, er ist sehr anspruchsvoll«). Empfehlungsanfragen sind vor allem ein Instrument, die daraus resultierende Unsicherheit mehr oder weniger abzusichern.
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Hierbei handelt es sich primär um die mündlichen Abschlussprüfungen, für welche die Einschreibung eine notwendige Rahmenbedingung ist. Einschreibungen werden vom zuständigen Landesprüfungsamt einige Wochen vor den Prüfungsterminen organisiert. Ein Problem, das in der Praxis oft durch Ignorieren – im Sinne von Goffmans »civil inattention« (1971: 85) – bearbeitet wird: Den roten beziehungsweise weißen Flecken am Hals des Gegenübers begegnet man am besten mit einem gebotenen Maß an Indifferenz – ein taktvolles Desinteresse, das für den Gesprächspartner eine gesichtswahrende Funktion hat und auch verhindert, dass die Prüfungssituation krisenhafte Züge annimmt. Die in Klammern angeführten Zitate stammen nicht nur aus den für diesen Beitrag ausgewählten Posts, sondern beziehen sich gegebenenfalls auch auf weitere relevante Facebook-Beiträge.
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Die Fragen, die auf die Prüfenden abzielen, sind Mittel der Reduzierung von Unsicherheit in zweierlei Hinsicht: in Bezug auf den interaktiven Verlauf des Gesprächs (»sehr viel tiefgründige Zusammenhänge« vs. »fragen nicht zu viel nach«) und hinsichtlich der Bewertungsentscheidungen (»ganz human« und »will für alle eine gute Note, auch mit ihren Nachfragen, herausholen« aber auch »hat damals sowohl sehr gute aber auch sehr schlechte Noten gegeben, es sind auch welche durchgefallen«). Steht der Prüfende bereits fest, den man aber weder aus dem Seminar kennt noch in seiner Sprechstunde aufgesucht hat, ist die Frage »Wie ist der so?« zunächst die nach seinem allgemeinen »Ruf«, der den Prüfenden schon immer als Bewertenden kategorisiert (»fair und fachlich«): Fragment 2
Mit den Kategorisierungen der Prüfenden gehen stets die Selbstkategorisierungen einher, die durchaus divergierende Perspektiven auf das Prüfungsgespräch markieren können: Die positive Hervorhebung von »höchst kompetent« steht im Fragment oben im Kontrast zu »hoffentlich verlangt er diese Kompetenz nicht von seinen Prüflingen«. Der im Kommentar der Studentin implizierten Möglichkeit eines fachlich anspruchsvollen Gesprächs begegnet
Tanya Tyagunova: Brauchbare Operationalisierungen
der Student mit der Positionierung, die sich von den zu hohen diskursiven Ansprüchen absetzt. »Wie ist der so?« ist so immer auch die Frage nach den Ansprüchen und Präferenzen der Prüfenden: Was macht mich bei diesem Prüfer zu einem »erfolgreichen Prüfling«? Oder in den Worten einer Studentin: Worauf legt der Prüfer Wert und wen will er »vor sich sitzen haben«, etwa: Will er jemanden »Angepassten haben« oder will er »irgendwie sehen, dass ich selber über das Thema nachdenke«? Die durch die anderen Prüflinge vermittelten Einschätzungen der Prüfenden – wie auch immer vage (»super nett«) und situationsgebunden (»ich hatte das Gefühl er fand es gut, wenn man das auf sein eigenes Fach bezieht«) sie sein können – sind auch insofern funktional, als sie die Relevanzen und Ansprüche der Prüfenden mit den eigenen Ansprüchen zu relationieren erlauben, nicht zuletzt in einer pragmatischen Hinsicht: Die Kehrseite der hohen Ansprüche der Prüfenden ist der höhere Vorbereitungsaufwand aufseiten der Prüflinge (»War das mit Auswendiglernen und halbwegs Verständnis machbar oder muss man das alles bis ins Detail verstanden haben. Geht ja nur ums Bestehen«). Die Sondierungsfragen richten sich ferner darauf, wie sich die formellen Anforderungen an die mündlichen Prüfungen, wie sie beispielsweise in den offiziellen Prüfungsordnungen festgehalten sind, mit der aktuellen Praxis korrespondieren. Etwa: Wie steht die Anforderung »Die Prüfung darf sich nicht auf die gewählten Themenschwerpunkte beschränken, sondern sie muss sich auch auf die Feststellung von Überblickswissen in dem jeweiligen Fach erstrecken« mit dem praktizierten Prüfungsverfahren in Beziehung? Fragment 3
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Prüflinge operieren mit der Annahme, dass nicht nur die formellen Anforderungen und die reale Praxis divergieren, sondern es auch zwischen den einzelnen Fächern und Prüfenden Unterschiede geben könnte: Was in der Prüfung im Fach Y der Gegenstand der Überprüfung ist beziehungsweise sein kann, hängt auch davon ab, bei wem (X) man die Prüfung hat. Die Operationalisierungen betreffen vor allem die von den Prüfern und Prüferinnen des jeweiligen Fachs gemeinsam erstellten allgemeinen Hinweise zur Prüfung, welche in der Regel in Form eines digitalen PDF-Dokuments den Prüflingen auf der Webseite des jeweiligen Instituts oder Arbeitsbereichs zur Verfügung stehen. Auf ein solches Hinweisdokument bezieht sich die Frage im folgenden Post (Fragment 4), in dem der Student nach Ratschlägen für die Erstellung der Gliederung der gewählten Prüfungsthemen fragt. Zu diesem Punkt steht im Hinweisdokument: »Die von Ihnen zu erstellende Gliederung Ihrer Themen ist Teil Ihrer Prüfungsleistung, in der Sie selbständig Ihre zwei gewählten Themen strukturieren.« Auf die Klärung dessen, wie eine solche Gliederung aussehen soll, worin also die Strukturierungsleistung des Prüflings besteht, richtet sich die Frage des Studenten: Fragment 4
Tanya Tyagunova: Brauchbare Operationalisierungen
Bei den Antworten, mit denen man bei solchen Fragen am besten beraten ist, kommt es sehr darauf an, ob der beziehungsweise die Antwortgebende die jeweilige Prüfung bereits hinter sich hat: Es geht um Erfahrungen, die sich als praktikabel erwiesen haben. Die Erfahrungen der anderen sind primär die Sinnherstellungsressourcen für die situative Verarbeitung der abstrakten formellen Anforderungen, sodass diese in konkrete Handlungsanweisungen überführt werden können (»Ich hatte nur die Überschrifften und ein paar Thesen«, »Ich habe mich nicht nach de 30 Minuten orientiert, sondern mir vorgestellt…«) und auf sie ein praktisch sinnvoller Bezug genommen werden kann (»Also nichts zu ausführliches, immerhin ist es ja ein Gespräch…«). Sie können auch eine Warnfunktion erfüllen, etwa auf die empirischen Konsequenzen der Vorleistung (Gliederung) für die Prüfung (das Prüfungsgespräch selbst) aufmerksam machen (»Dran denken, zu allem was du auf der Gliederung hast, können sie dir Fragen stellen«). Hinweisdokumente sind so – neben den Prüfenden – ein weiterer Unsicherheitsfaktor, der Fragen evoziert und informelle Beratungsprozesse in Gang setzt. Hinweise zur Themenwahl, Literatur oder Thesenformulierung wecken Bedenken nicht nur hinsichtlich möglicher Konsequenzen der konkreten Entscheidungen (für dieses oder jenes Thema, für bestimmte Literatur, die gelesen wurde etc.), sondern auch mit Blick auf schlecht kalkulierbare Folgen des Nachfragens: »Also heißt es zum Beispiel Pflichtliteratur also verbindliche Literatur, okay, ich muss die lesen, aber soll ich jetzt oder bin ich dazu aufgefordert eigentlich darüber hinaus noch zu lesen, ja oder nein? Völlig unklar. Das ist aber eine Frage, die man auch nicht fragen kann. […] Hätte ich gefragt, okay, soll ich jetzt noch mehr machen, das macht einen übelst schlechten Eindruck […] Dieses Papier [das Hinweisdokument – T.T.] regt mich innerlich ein bisschen auf, weil es eben so nach außen tritt mit der Idee, dass es so klar wäre und dass alles geklärt ist, und wenn dann was ungeklärt ist, dann liegt das nur an mir, dass ich nicht verstehe, was in dem Papier steht. Aber da ist ganz viel nicht geklärt, was wichtige Infos wären für die Prüfung.« (Aus dem Interview mit einer Studentin) Die für Alltagssituationen normalen Nachfragen (etwa ›Was ist damit gemeint?‹) als Kontrollmechanismen der Verständlichkeit sind in den asymmetrisch strukturierten Prüfungssituationen ein riskantes Verhalten. Sie tangieren die in dem Prüfungsgespräch festzustellende Kompetenz der Prüflinge, die so noch vor dem Gespräch selbst problematisiert werden kann. ›Was ist
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damit gemeint?‹-Nachfragen seien also gut zu dosieren und im Hinblick darauf zu reflektieren, dass sie zur Einschränkung des Vertrauens der Prüfenden in die Kompetenz des Prüflings führen können (»das macht einen übelst schlechten Eindruck«).10 Hinzu kommt, dass nicht nur bestimmte Fragen, sondern auch die Option, Fragen bezüglich der Prüfung mit dem oder der Prüfenden zu klären, für Prüflinge zum Problem werden kann. Während bei den Prüfungen in einem Fach den Prüflingen nachdrücklich empfohlen wird, ihre Themen und deren Strukturierung mit mindestens einem oder einer der Prüfenden vorab zu besprechen, können Prüflinge in einem anderen Fach darauf hingewiesen werden, dass die Prüfung keine Konsultation mit den Prüfenden erfordert, insofern als »alle notwendigen Informationen und Themen« im Hinweisdokument zu finden seien:
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In den Prüfungsgesprächen selbst stehen Nachfragen oft für die Schwierigkeiten aufseiten der Prüflinge, einen prüfungsrelevanten Beitrag zu formulieren und sich somit als wissend und diskursfähig darzustellen (vgl. Tyagunova 2021).
Tanya Tyagunova: Brauchbare Operationalisierungen
Fragment 5
Hier arbeiten die Empfehlungen der Kommilitonen und Kommilitoninnen in gewisser Weise gegen die Hinweise der Prüfenden. Der ›Klemme‹, in der die Studentin steckt – einerseits eine Konsultation zu wünschen, andererseits den Hinweis im Hinweisdokument (»keine Konsultation nötig«) ernst zu nehmen – wird mit Rationalisierungen ›guter Gründe‹ für die Relativierung des Hinweises begegnet. Zum einen abstrahieren die Kommentare vom konkreten Prüfenden und berufen sich auf ein allgemeines Recht, das den Studierenden zustehe, nämlich durch die Lehrenden zu prüfungsrelevanten
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Fragen im Rahmen einer Konsultation beraten zu werden. Zum anderen wird der Hinweis, dass »eigentlich nicht vorher konsultiert werden soll«, als eine aus der Notlage entstandene pragmatische Entscheidung eingeklammert (»Ja, die Dozenten in der Y sind etwas überlastet…«), der aber der Sonderzustand des Prüflings gegenübersteht (»Woher soll man sonst wissen auf was die wert legen???«). Schließlich wird für die Stärkung der Argumente für das Aufsuchen des Prüfenden in seiner Sprechstunde eine antizipative Dimension mobilisiert, die die potenziellen Risiken im Hinblick auf das von den Prüfenden später zu fällende Urteil über die Prüfungsleistung vorwegnimmt (»Man bekommt sicher keine schlechtere Note nur weil man vorher mal um ein Gespräch angefragt hat«). Prüflinge finden sich also oft in einer Situation wieder, in der sie mit ambivalenten Bestrebungen konfrontiert werden: zum einen die formellen Prüfungsanforderungen zu erfühlen und sie gegebenenfalls in einem Vorgespräch mit dem beziehungsweise der Prüfenden zu konkretisieren, zum anderen aber das Vertrauen der Prüfenden in die eigene Kompetenz durch eine ungeschickte Frage (oder gar das Nachfragen, das Hinweise der Prüfenden auf Nichtnotwendigkeit der Konsultation unterläuft) nicht aufs Spiel zu setzen. Auf der anderen Seite sind da die Befürchtungen, die Relevanzen der Prüfenden schon am Start zu verfehlen und diese etwa hinsichtlich solch »kleiner« Formalitäten wie der des Gliederungsblatts nicht zu treffen; sie können die Befürchtungen, sich als inkompetent darzustellen, überwiegen und Nachfragen auch dann motivieren, wenn eine Konsultation nicht vorgesehen ist: »[…] vornherein weiß man einfach nicht wieviel Wichtigkeit diesem Blatt [Gliederungsblatt – T.T.] beigemessen wird. Und man will halt ja nicht schon mit so einem falschen Blatt starten, deswegen ist das glab ich für alle ein Thema sowas kleines, weil das eben so ist, okay, man will nicht der Idiot sein, der schon auf der Ebene falsch macht. Und […] der Prüfer hat mir dann zurückgeschrieben und dann habe ich aus der Nachricht schon rauslesen können, dass das für ihn gar keine Relevanz hat.« (Aus dem Interview mit einer Studentin) Die Sondierungsfragen richten sich schließlich auf Thematisierungen der prüfungsrelevanten Inhalte:
Tanya Tyagunova: Brauchbare Operationalisierungen
Fragment 6
Wurde ein Thema als Prüfungsthema gewählt, können sich Prüflinge darüber instruieren lassen, welche Relevanzen die Prüfenden bei diesem Thema typischerweise setzen (»…wo sich da drauf konzentriert wurde? Inhalte, Fra-
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gen o. ä.?«). Solche Anfragen sind insbesondere dann ein brauchbares Instrument, wenn die Themen einen hohen Grad an Iterativität aufweisen, etwa wenn sie vorgegeben sind und sich von Jahr zu Jahr wiederholen, wie dies in der Prüfung Y im Post oben der Fall ist. Die Anfrage richtet sich insofern an die ehemaligen Prüflinge, die ein solches Thema bereits hatten. Es geht um eine nähere Bestimmung des Themas, die über Erfahrungsmitteilungen erreicht wird (»Da wurde erstmal gefragt…«) und Empfehlungen strategischer Art einschließt (»Vorteilhaft ist auch immer vor- und Nachteile benennen zu können…«). Die Empfehlungen fokussieren nicht nur auf Erfolg versprechende diskursive Strategien, sondern sie können auch hinsichtlich konkreter Inhalte mobilisiert werden (»Wobei mir Nachteile noch nicht ganz klar sind. Außer das vllt…« – »Zeitaufwand kannst du noch nennen…«). Das Ergebnis solcher Thematisierungen ist ein auf die Relevanzen der Prüfenden hin getrimmtes Wissen. Zwar ist das Prüfungsgespräch durch die Strukturierungsaktivitäten der Prüflinge – vor allem die Gliederung der gewählten Prüflingsthemen – in gewissem Maße vorstrukturiert (»im Grunde gibst du ja deine Gliederung ab und daran hangeln die sich auch lang«), wird dadurch die Frage, wie die Themen so präsentiert werden können, dass sie die Relevanzen der Prüfenden treffen, nicht weniger bedeutsam: »Ich hab auch aus den anderen Prüfungen jetzt in meinem Studium gelernt, dass es ratsam ist, ein Einsprechsthema nicht mit einer Definition anzufangen, sondern also ich hab das Gefühl, der Unterhaltungswert für eine Prüfung ist ein hoher Faktor, und deswegen überlege ich mir meine Einsprechsthemen schon so weit, dass sie irgendwas enthalten […] oder dass sie zumindest nicht so sind, dass man jetzt grad zum hundertsten Mal eine Definition hat […] weil das ist das Einzige, wovon ich mich ja von den anderen vielleicht auch unterscheide, wie ich die Gliederung gewählt hab, und dann hab ich halt erklärt, dass ich Einsprechsthema dazu nutzen möchte, kurz zu erläutern, warum es zu dieser Gliederung in der Form kam, und warum ich zum Beispiel diese zwei Vertreter ausgewählt hab und nicht andere zwei. Ja, das war aber nicht relevant. […] Wenn ich sie jetzt nochmal machen würde, würde ich das ganz anders machen oder wüsste halt jetzt schon viel mehr, was jetzt von mir gefragt wird.« (Aus dem Interview mit einer Studentin) Die auf eigenen Erfahrungen aus den anderen Prüfungen basierenden Annahmen – man könnte sagen: Alltagstheorien der universitären Prüfungspraxis – sind zwar ein Hilfsmittel für die Strukturierung und Präsentation von
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Themen, sie können sich aber auch als unbrauchbar erweisen (»Ja, das war aber nicht relevant«). In dem Kommentar der Studentin, sie würde die Prüfung ganz anders machen, wenn sie sie nochmal machen würde, wird so, auf eine andere Weise, das zentrale Motiv noch einmal deutlich, mit dem die Studierenden die gemachten Erfahrungen aufsuchen und sich von den anderen beraten lassen, die ein solches Thema bereits hatten, die Prüfung in diesem Fach und bei diesem Prüfenden bereits abgelegt hatten: Erst im Nachgang weiß man, was prüfungsentscheidend ist.
3 Schluss Das Ziel dieses Beitrags war es, einen kleinen Ausschnitt universitären Alltags, die Praktiken des Umgangs der Studierenden mit Prüfungsanforderungen, analytisch in den Blick zu nehmen. Ein Ort, an dem sich solche Praktiken in situ beobachten lassen, sind studentische Facebook-Gruppen, in denen ein informeller Austausch bezüglich der bevorstehenden Prüfungen und prüfungsrelevanten Informationen stattfindet. Was lässt sich anhand der vorgestellten Analyse über die Funktionalität dieser informellen Kommunikation sagen? Prüfungsbezogene Internetinteraktionen folgen vor allem dem Modus der Beratung. Die anderen Studierenden werden zu Vermittlern und Vermittlerinnen von Informationen, wie es um die Situation einer bevorstehenden (mündlichen) Prüfung bestellt ist. Weil hier die Kosten einer Entscheidung – für ein bestimmtes Thema, einen bestimmten Prüfer oder dergleichen – für einen mitunter hoch ausfallen können (im Extremfall: durchgefallen), gewinnen die Mechanismen der Mobilisierung von Erfahrungen anderer an Bedeutung. Diese Erfahrungen aus zweiter Hand nehmen mögliche Folgen der Entscheidungen vorweg und stellen brauchbare Instrumente situativer Sinnherstellungen dar. Der kommunikative Wert solcher Sinnherstellungsprozesse liegt vor allem in den Operationalisierungen: Hier werden Fragen thematisch, die zum einen die formellen Prüfungsanforderungen so verarbeiten lassen, dass aus ihnen nähere Handlungsanweisungen abgeleitet werden können, und zum anderen soziale Kontingenzen des Prüfungsgesprächs (die Interaktivität der mündlichen Prüfung und den Unsicherheitsfaktor ›Prüfende‹) fokussieren. Im Austausch von Erfahrungen werden die formellen Anforderungen ins Ver-
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hältnis zu bestimmten Prüfenden gesetzt und die Prüfenden auf ihre Erwartungen und Relevanzen hin abgeklopft. Die Relevanzen der Prüfenden sind der Drehpunkt der Interaktion. Ein wesentlicher Teil der Beiträge und Kommentare zielt darauf, die Ungewissheit hinsichtlich der fach- und verfahrensspezifischen Präferenzen und Ansprüche der Prüfenden zu bearbeiten: Von direkten Einschätzungen der Prüfenden im Hinblick auf ihre Prüfungs- und Bewertungsstile über die Sondierungen der von ihnen favorisierten Inhalte bis hin zu Fragen danach, welchen Wert die Prüfenden selbst auf die formellen Anforderungen an die Prüfung legen. Wie fraglich der informative Wert dieser Explorationen auch sein mag, ermöglichen sie es, die Vorbereitungen auf die bevorstehende Prüfung anzuleiten und an die Erwartungen der Prüfenden mehr oder weniger anzupassen. Ein Grund dafür, dass Prüflinge solche Nachforschungen im Vorfeld einer Prüfung anstellen, ist die unvermeidbare Abstraktheit der formellen Prüfungsanforderungen, wie sie in Studien- und Prüfungsordnungen, Handreichungen oder Hinweisdokumenten festgehalten sind. Dass die offiziell festgelegten Prüfungsregelungen und -bestimmungen die reale Prüfungssituation nicht greifen können, liegt weniger daran, dass sie mangelhaft formuliert sind, sondern vor allem daran, dass sie sich auf dieser Ebene schlecht operationalisieren lassen – ein Umstand, der für Prüflinge die Erfahrungen anderer so bedeutsam macht. Ferner variiert die Art und Weise, wie abstrakte formelle Anforderungen in der Praxis – nicht nur in verschiedenen Fächern und Arbeitsbereichen, sondern auch von verschiedenen Prüfenden – gehandhabt werden, das Problem, das der Kategorie der Prüfenden im Rahmen des informellen Erfahrungsaustauschs einen zentralen Stellenwert verleiht. Diesem Problem wird natürlich zum Teil in den offiziellen Konsultationen und Sprechstunden abgeholfen, insbesondere dann, wenn man die Prüfenden »gar nicht kennt« (»In dem ersten Gespräch kriegt man einen Eindruck davon, was jetzt eigentlich von mir erwartet wird, was mich jetzt eigentlich zu einem erfolgreichen Prüfling macht«). Dass die Prüflinge sich jedoch auf die offiziellen Konsultationen nicht beschränken und parallel (oder auch alternativ) dazu von ihren Kommilitonen und Kommilitoninnen beraten lassen, hat mit einem weiteren Grund zu tun, der in den analysierten Facebook-Beiträgen deutlich wurde. Aus der Perspektive der Prüflinge gibt es Informationen, die zum Prüfungserfolg beitragen können, die jedoch im Rahmen einer offiziellen Konsultation oder Sprechstunde nicht kommuniziert werden und auch nicht kommunizierbar sind – so etwa die Informationen über die Strenge der Bewer-
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tung oder die Tiefgründigkeit und den Typ der Prüfungsfragen, aber auch solche, deren Thematisierung mit schlecht kalkulierbaren Folgen für die Beurteilung der Kompetenz des Prüflings verbunden werden kann. Nicht nur Prüflinge machen sich einen Eindruck von ihren Prüfenden, dies tun auch die Prüfenden gegenüber ihren Prüflingen hinsichtlich dessen, ob und mit welchen Fragen diese in ihre Sprechstunden kommen. Prüfungsbezogene informelle Internetinteraktionen stehen so in einem reflexiven Verhältnis nicht nur zu den bevorstehenden Prüfungen, sondern auch zu den Konsultationen und Sprechstunden, in denen Prüflinge von ihren Prüfenden beraten werden können: Es gibt Fragen, bei denen taktisches Geschick geboten ist, und es gibt solche, die in einer Sprechstunde als offiziellem Beratungsort nicht gestellt werden können. Genau darin liegt die Funktionalität informeller Konsultationen. Was kann man sich von der Analyse der prüfungsbezogenen Online-Interaktionen von Studierenden für die ethnografische Hochschulforschung versprechen? Es sind hier weniger die Besonderheiten des Gebrauchs von sozialen Medien etwa im Hinblick auf den Prozess der Vorbereitung auf (mündliche) Prüfungen von Interesse11 als vielmehr die Möglichkeiten, welche der ›selbstregistrierende‹ Charakter der Online-Interaktionen für die empirische Untersuchung sozialer Praktiken im Vollzug eröffnet. Lässt man die konkreten Formen des Umgangs der Studierenden mit den Prüfungsanforderungen nicht nur (in Interviews) retrospektiv rekonstruieren, sondern in situ beobachten, so kann man nachvollziehen, wie die Teilnehmenden eine bestimmte Form vom prüfungsbezogenen Wissen, auf welches sie sich als alltägliche interpretative und explanative Ressource verlassen, kollektiv erzeugen. An dem Fall ist dabei instruktiv, dass hier verschiedene Ebenen des Wissens über Prüfungsanforderungen sichtbar werden und ein Zusammenspiel bilden: das in offiziellen regulativen Dokumenten formulierte Wissen, was die Anforderungen formal sind, und das auf Erfahrungen rekurrierende praktische Wissen, worauf es bei der Prüfung tatsächlich ankommt. Ein beträchtlicher Teil dieses praktischen Wissens ist das Wissen über die Prüfenden, dem ein klares evaluatives Moment innewohnt. Bevor Prüfende zu ihren Evaluationen von Leistungen der Prüflinge im formalisierten Verfahren eines Prüfungsgesprächs
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Vgl. in diesem Zusammenhang Baker (2013) zu Facebook als Forschungsinstrument und Datenquelle, die wichtige Einblicke in die Praktiken der Teilnehmenden ermöglicht.
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kommen, werden sie selbst in alltäglichen Bewertungspraktiken der Studierenden evaluiert: kategorisiert, begutachtet, rangiert und empfohlen oder mit einem Warnzeichen versehen. In der wissenssoziologischen Hinsicht sind die analysierten Interaktionspraktiken nicht nur interessant, weil hier die Relevanz und gleichzeitig Grenzen der Operationalisierung eines formalisierten Wissens sichtbar werden, sondern auch weil sie auf die »praktische Epistemologie« des Feldes (Whalen/Zimmerman 1990) aufmerksam machen, die mit der extensiven Mobilisierung und Explikation von (ethnomethodologisch gesprochen) ›membersʼ knowledge‹ deutlich wird. Dessen Erzeugung ist durch metakommunikative Kennzeichnungen markiert: Die Teilnehmenden machen nicht nur deutlich, was sie wissen (beziehungsweise nicht wissen), sondern auch wie sie es wissen. Erstens sind Beschreibungen und Deutungen des eigenen und fremden Tuns durch deren laufende Lokalisierungen in den gemachten Erfahrungen gekennzeichnet, die Kategorisierungen von Prüfenden und Prüfungen ›plausibel‹ erscheinen sollen. Die Lokalisierungen gehen den Kategorisierungen in der Regel voran: Sie sollen zeigen, wie man zu einem bestimmten Wissen, das entsprechende Kategorisierungen erlaubt, gekommen ist. Fehlen solche Lokalisierungen kann zweitens nach expliziten Begründungen gefragt werden (»Wieso?«), mit denen generalisierende Einschätzungen auf die Konkretheit des Falles zurückgeworfen werden. Die Beschreibungen und Deutungen haben drittens auch abstrahierende Züge, mit denen sich eigene und FremdEindrücke und singuläre Erfahrungen zu brauchbaren Alltagstheorien bündeln lassen. In dieser Hinsicht zeigen sich die Teilnehmenden als »praktische Theoretiker ihres Feldes« (Wolff 1999: 21). Mit dem Fokus auf studentischen Interaktionen auf Facebook im Vorfeld der mündlichen Prüfungen wurde hier nur ein spezifischer Fall der universitären Praxis des Prüfens und Bewertens in den Blick genommen. In dieser Hinsicht kann der Beitrag nur einen Anfang machen und auf die Notwendigkeit weiterer praxeologischer Untersuchungen in diesem Feld hinweisen. In den Anschlussstudien könnte vor allem untersucht werden, wie sich die auf die Operationalisierung der formellen Prüfungsanforderungen zielenden Strategien der Studierenden und Dozierenden aufeinander beziehen aber auch welche Wissensformen und -ordnungen in verschiedenen Prüfungspraktiken konstituiert werden.
Tanya Tyagunova: Brauchbare Operationalisierungen
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Die Hochschulbibliothek als Lernort Zugänge und Befunde einer ethnografischen Nutzungsforschung Kerstin Schoof
1 Einleitung Ethnografische Herangehensweisen haben in den letzten 15 Jahren international im Bibliothekswesen stark an Bedeutung gewonnen. Vielfältige Methoden wie Mapping Diaries, Foto- und Video-Surveys, Beobachtungen, Design Workshops und Videofeedback-Interviews beziehen ihre Teilnehmer*innen kreativ ein und haben sich als ausgesprochen geeignet erwiesen, um Lernund Arbeitsweisen im Wandel zu erforschen und die Rolle der Bibliothek in Studium und Wissenschaft zu erkunden. Ethnografische Studien begeben sich in die Lebenswelten ihrer Subjekte – durch die beobachtende Anwesenheit des Forschers vor Ort ebenso wie durch Gespräche, die sich rund um kulturelle Proben, Artefakte, Aufzeichnungen oder mediale Repräsentationen entwickeln – und lassen Verhaltensweisen, Einstellungen und Wahrnehmungen anschaulich nachvollziehbar werden. Bibliotheken können auf diese Weise nicht nur Nutzungsforschung1 zu konkreten Services wie Öffnungszeiten, Websites, Medienbeständen, Raumgestaltung oder Beratungsangeboten betreiben. Vielmehr bietet die Ethnografie darüber hinaus die Möglichkeit, ein umfassendes Interesse und Verständnis für die Diversität der unterschiedlichen Nutzungskulturen zu entwickeln. Spannend werden ethnografische Studien in Hochschulbibliotheken daher immer dann, wenn sie eingebettet sind in übergreifende Fragestellungen, die das Lernen und Arbeiten in der
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Traditionell im Bibliothekskontext als Nutzer- oder Benutzerforschung bezeichnet, wird in diesem Beitrag der geschlechtsneutrale Begriff der Nutzungsforschung – analog der verwandten Mediennutzungsforschung – verwendet.
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Hochschule insgesamt, die Lebensbedingungen, Biografien und den Alltag der Nutzer*innen sowie gesellschaftliche Trends im Informationsverhalten einbeziehen. Ethnografische Ansätze haben sich insbesondere in der Debatte um die Bibliothek als Lernort niedergeschlagen, der trotz – oder aufgrund? – der zunehmenden Digitalisierung von Medien, Lern- und Schreibprozessen intensiv von den Studierenden genutzt wird. Hier werden ethnografische Methoden oftmals im Rahmen von Gestaltungsprozessen unter Beteiligung der Nutzer*innen angewandt oder gehen zunehmend in Verfahrensweisen des Design Thinking über. Welche Bedarfe haben die Studierenden, inwieweit sind diese orts- und fachspezifisch, und welche Aspekte des Lernorts nehmen sie wahr? Wie passen Wissenschaft und Forschung in das Bild der Bibliothek als Lernort? Werden sich bisherige Nutzungspraktiken nach dem Ende der Corona-Pandemie verändern, und wenn ja, auf welche Weise? Ethnografische Methoden konnten und können hier einen wichtigen Beitrag zur Generierung von dringend benötigtem Wissen zur Gestaltung von Hochschulbibliotheken leisten.
2 Hochschulbibliotheken und ihre Nutzer*innen In Deutschland gab es im Jahr 2016 laut Statistischem Bundesamt 426 Hochschulen, die insgesamt über 3.600 Bibliothekseinrichtungen mit einem Gesamtbestand von rund 185 Millionen Medien verfügen.2 Kernauftrag dieser Hochschulbibliotheken ist die Literaturversorgung der Hochschulangehörigen in Forschung und Lehre. Sie übernehmen oftmals aber auch weitere Funktionen und Sammelaufträge, beispielsweise als Stadt- oder Landesbibliotheken oder als Fachinformationsdienste für die Wissenschaft (FIDs) – die früheren Sondersammelgebiete – der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG). Insbesondere ältere Universitätsbibliotheken verfügen meist über historische oder ortsspezifische Sammlungen mit Alt- und Sonderbeständen wie Handschriften, Autografen, Nachlässen, alten Drucken, Karten oder Musikalien; in Technischen Hochschulbibliotheken existieren zudem Sammlungen von Normen und Patenten. 2
Siehe dazu die Angaben des Deutschen Bibliotheksverbandes unter https://www.bibl iotheksportal.de/informationen/bibliothekslandschaft/hochschul-und-universitaets bibliotheken.
Kerstin Schoof: Die Hochschulbibliothek als Lernort
Betrachtet man die Nutzer*innen von Hochschulbibliotheken, so scheinen diese auf den ersten Blick klar und einfach definierbar zu sein: Die primäre Nutzer*innengruppe sind die Angehörigen einer Hochschule in den Bereichen Forschung und Lehre, also Studierende, Lehrende, Promovierende, Professor*innen und Forschende (in allen Überschneidungen, die diese Funktionen mit sich bringen können). Zudem sind alle Hochschulbibliotheken auch für die interessierte Öffentlichkeit zugänglich; sie unterstützen beispielsweise zunehmend Schüler*innen der Oberstufe beim Verfassen von Seminar- und Projektarbeiten. Bei genauerem Hinsehen wird jedoch sichtbar, dass sich schon die primäre Nutzer*innenschaft hinsichtlich verschiedener Faktoren auffächert, die großen Einfluss auf ihre Bedarfe und Nutzungsgewohnheiten der Hochschulbibliothek haben. Hier ist zunächst die Verortung im akademischen System – als Studierende, Promovierende, Lehrende usw. – zu nennen, aber auch interkulturelle Aspekte, Alter und Geschlecht, Bildungsbiografien und insbesondere die fachkulturelle Zugehörigkeit. All diese Faktoren führen dazu, dass auch die Nutzer*innen von Hochschulbibliotheken sich als Gruppen diverser Kulturen begreifen lassen. Zieht man Clifford Geertzʼ Verständnis von Kultur als »complex system of meaning-making« oder »selbstgesponnenem Bedeutungsgeflecht« (zitiert nach Schellhammer 2013: 90f.) heran, bezieht sich der ethnologische Blick nicht nur auf »fremde« Kulturen, sondern kann auch die eigene Gesellschaft und ihre Gemeinschaften und Untergruppen umfassen. Die unterschiedlichen Nutzer*innengruppen und -kulturen zu verstehen, für Dritte verstehbar zu machen und darüber hinaus eigene kulturelle Annahmen zu hinterfragen – diese Elemente machen die Ethnografie für Hochschulbibliotheken so interessant und hilfreich.
2.1 Ethnografische Nutzungsforschung Ethnografische Methoden stellen mit dieser besonderen Herangehensweise eine entscheidende Erweiterung des Methodenspektrums in der bibliothekarischen Nutzungsforschung dar, die eine lange Tradition vorweisen kann: Als Dienstleistungseinrichtungen erheben Bibliotheken seit ihrem Bestehen Kennzahlen zu ihrer Nutzung. So wurde und wird unter anderem die Anzahl ausgeliehener Medien, die Zahl der Besucher*innen vor Ort (sogenannte gate counts) oder die Zahl bearbeiteter Fernleihen erfasst. Die Nutzung elektronischer Ressourcen lässt sich durch Klickzahlen noch genauer messen, indem
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Besuche der Bibliothekswebsite, Aufrufe von Bibliothekskatalogen und Datenbanken sowie Downloads von Buchkapiteln oder Zeitschriftenartikeln protokolliert werden. Ergänzt wurden diese Nutzungszahlen traditionell durch Umfragen mit standardisierten Fragebögen, die vor Ort ausgelegt oder mittlerweile als Online-Umfrage konzipiert werden. Abgefragt wird hier etwa die Nutzer*innenzufriedenheit mit den Services der Bibliothek, mit den Öffnungszeiten, der Aktualität des Bestandes oder mit der Freundlichkeit des Auskunftspersonals, ebenso wie entsprechender Veränderungsbedarf in den jeweiligen Bereichen. Standardisierte Umfragen stellen auch weiterhin die meistgenutzte Form der bibliothekarischen Nutzungsforschung dar. Sie stoßen jedoch methodisch immer dann an ihre Grenzen, wenn der Gegenstand des Forschungsinteresses noch nicht hinlänglich bekannt ist, um präzise Fragen formulieren zu können, oder sich Begrifflichkeiten in verschiedenen Kontexten so stark unterscheiden, dass unterschiedliche Teilnehmer*innen die gestellten Fragen völlig unterschiedlich interpretieren und dementsprechend disparat beantworten. In der Folge entstehen Fehlinterpretationen der erhobenen Daten, die aufgrund der methodisch bedingten Distanz zu den Befragten nicht korrigiert werden können: »[Solche] Missverständnisse setzen sich dann fort, wenn man Antworten in einem Fragebogen zählt, ohne zu wissen, dass die Befragten ein ganz eigenes Verständnis von dem verwendeten Vokabular haben« (Gläser/Schulz 2014: 192). Darüber hinaus sind die Mehrheitsverhältnisse, die mittels Fragebögen erhoben werden, vor dem Hintergrund diverser Gruppen unterschiedlicher Bibliotheksnutzer*innen nur bedingt hilfreich. Insbesondere Hochschulbibliotheken stehen vor der Herausforderung, ihre Nutzer*innen in all ihrer Diversität an Vorlieben, Interessen und Bedarfen »unterzubringen« und ihnen jeweils passgenaue Angebote zu machen, auch wenn manche dieser Nutzer*innengruppen vielleicht zahlenmäßig kleine Minderheiten darstellen. In den letzten Jahren und Jahrzehnten hat in der bibliothekarischen Nutzungsforschung daher ein Bewusstseinswandel stattgefunden, der zur Einbeziehung weiterer Methoden geführt hat, die neben der Usability-Forschung oftmals dem qualitativen Spektrum zuzuordnen sind. So hat die Ethnografie zu einem Zeitpunkt Einzug in die Hochschulbibliotheken gehalten, als diese eine vielschichtige Zusammensetzung von Herausforderungen bewältigen mussten, die ein grundlegend neues Verständnis ihrer Rahmenbedingungen erforderten. Die Zunahme an ethnografischen Studien
Kerstin Schoof: Die Hochschulbibliothek als Lernort
»may be indicative of the growing complexity of the social and technological environments within which libraries are situated, the need to adapt to these changing environments, the growing use of outcomes and performance-based evaluations, and other factors, which may be prompting libraries to think about how to describe their strengths, not just in terms of performance and effectiveness metrics, but also in terms of the wider social and cultural value they offer to users and communities« (Khoo et al. 2012: 86). Die Digitalisierung ist vermutlich der wichtigste und umfassendste Faktor, der das Selbstverständnis von Bibliotheken erschüttert und ihre gesellschaftliche Beurteilung massiv infrage gestellt, aber auch interne Arbeitsabläufe und Organisationsstrukturen neu konfiguriert hat. Hinzu kommen Veränderungen in Studium und Lehre, die in Deutschland maßgeblich durch den Bologna-Prozess bedingt, aber auch international spürbar sind, zum Beispiel der oftmals konstatierte Paradigmenwechsel »from teaching to learning« (vgl. Barr/Tagg 1995) und die zunehmend in Gruppen- und Projektarbeit organisierte akademische Lehre. Die ersten großen Studien an Hochschulbibliotheken in den USA, die mit ethnografischen Ansätzen gearbeitet haben, widmeten sich genau diesen Fragestellungen. Unter der Leitfrage »What do students really do when they write their research papers?« untersuchte das Autorinnenteam um Nancy Fried Foster und Susan Gibbons in ihrer Publikation Studying Students (Foster/Gibbons 2007b; vgl. auch die Folgestudie Foster 2013) die Anforderungen, die seitens der Lehrenden an studentische Hausarbeiten gestellt werden, ebenso wie studentische Arbeits- und Tagesabläufe und natürlich die Rolle, die die Universitätsbibliothek als physischer und virtueller Ort sowie die Beratung durch die dortigen Bibliothekar*innen darin spielt. Ähnlich angelegt ist die US-amerikanische Studie Ethnographic Research in Illinois Academic Libraries (ERIAL) deren zugehöriger Publikationstitel programmatisch zusammenfasst, was das Erkenntnisinteresse und den Erkenntnisgewinn dieses Forschungsansatzes ausmacht: College Libraries and Student Culture: What We Now Know (vgl. Asher/ Duke 2012). Der große Erfolg dieser Herangehensweise und der eingesetzten Methoden, die dringend benötigtes Wissen für Hochschulbibliotheken bereitstellen konnten, führte auch in Deutschland zu zahlreichen Folgestudien sowie zur Verankerung ethnografischer Methoden in den Curricula bibliotheksund informationswissenschaftlicher Studiengänge, in der Fortbildung (vgl.
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Schoof 2014) ebenso wie in einschlägigen Methodenhandbüchern (vgl. Nix/ Siegfried 2014; Seadle 2013).
2.2 Lernorte: Erforschung und Gestaltung Besonders deutlich wurde die Bereicherung, die ethnografische Ansätze darstellen, im Prozess der Neuorientierung von Hochschulbibliotheken als Lernorte. Die Einbeziehung der Nutzer*innen in Planungsprozesse hat hierbei oftmals durch Design Workshops zur Raumgestaltung stattgefunden, die deren unterschiedlichen Anforderungen sowie die Diskrepanz zwischen den Ideen der Planer*innen und den Wünschen der Nutzer*innen – in erster Linie der Studierenden – immer wieder deutlich sichtbar gemacht haben. Foster und Gibbons haben diese Erfahrung vielzitiert auf den Punkt gebracht: »What was striking, though, was how different the studentsʼ furniture layouts were to those done by the librariesʼ renovation team. If the furniture had been laid out as the renovation team proposed, we would have simply gotten it all wrong! […] [W]e, as librarians, cannot assume we know how our students do their academic work or what they need. Over and over again, our assumptions have been proven wrong« (Foster/Gibbons 2007a: 27ff.). Im Zentrum der Debatten um den Lernort Bibliothek stehen bislang die Studierenden, die an Universitäten diejenige Gruppe darstellen, die in erster Linie auf öffentliche Räume zum Lernen und Arbeiten angewiesen ist und diese auch gerne annimmt. Eine verbesserte Lernraumgestaltung erhöht die studentische Nutzung der jeweiligen Hochschulbibliothek enorm, wie Studien immer wieder bestätigt haben (vgl. Shill/Tonner 2004). Die Räumlichkeiten von – insbesondere neu gebauten – Hochschulbibliotheken sind gefragt wie vielleicht nie zuvor: Innerstädtische Universitätsbibliotheken sehen sich einem so großen Ansturm an Nutzer*innen gegenüber, dass sie Systeme wie das Auslegen von Studierendenausweisen oder »Parkscheiben« auf den Leseplätzen zur Kontrolle ihrer räumlichen Kapazitäten entwickelt haben. Bedingt durch die Ablösung des Zettelkatalogs durch den Online-Katalog (OPAC) und ein zunehmend digitales Angebot im Bereich der Zeitschriften und Bibliografien konnte seit den späten 1990er-Jahren Platz für zusätzliche Lese- und PC-Arbeitsplätze umgewidmet werden, die aufgrund des zunehmend digitalisierten Lernens im Studium stark nachgefragt wurden. In zahlreichen Hochschulen wurde eine IT-Beratung in der Bibliothek angesiedelt, manchmal auch das Rechenzentrum und die Hochschulbibliothek zu einer
Kerstin Schoof: Die Hochschulbibliothek als Lernort
zentralen Einrichtung integriert (deutsche Beispiele sind das KIZ Karlsruhe oder das Bibliotheks- und Informationssystem Oldenburg). Der sogenannte »Information Commons«, eine durch die Informationstechnologie neu definierte Hochschulbibliothek, wurde schnell durch das Leitbild des »Learning Commons« abgelöst, in dem die Ganzheit des (studentischen) Lernens im Mittelpunkt steht. Gruppenarbeitsplätze, Lounge-Bereiche und Cafés sind entstanden, die der zunehmenden Gruppenarbeit in den neu eingeführten Bachelorstudiengängen Rechnung tragen und eine Wohnzimmeratmosphäre schaffen sollen, die auch Essen, Trinken und Entspannungsphasen ermöglicht. Das Leitbild der Bibliothek als »dritter Ort« (vgl. Oldenburg 1999) hat eine wichtige Rolle gespielt, um die Bedeutung von Begegnung und Austausch in Hochschulbibliotheken zu unterstreichen – manchmal vielleicht auch auf Kosten der ganz eigenen Atmosphäre der »Bibliothekskonzentration« (Fansa 2008: 36), des »seeing and being seen quietly engaged in study« (Gayton 2008: 61). Der Einblick in studentische Tagesabläufe und Lerngewohnheiten, den ethnografische Studien ermöglicht haben, bildet einen wichtigen Baustein eines Wissens über Lernräume, auf dessen Grundlage Empfehlungen zur Planung von Lernorten entstanden sind (etwa die Publikationen und Guides des Joint Information Systems Committee (JISC) in Großbritannien, laufend veröffentlicht auf der Website jisc.ac.uk; in Deutschland der Band der DINI-AG Lernräume 2013; für aktuelle Beispiele vgl. auch Holländer et al. 2021). Als leitender Grundsatz in der Raumgestaltung hat sich das Prinzip der Zonierung durchgesetzt, das versucht, dem Publikum anstelle eines einheitlichen Bibliotheksraumes – des klassischen Lesesaals – verschiedene Typen von individuellen und Gruppen-Leseplätzen sowie Lounge- und Funktionsbereichen anzubieten. Idealerweise kann so »eine Vielzahl an ›Biotopen‹ entstehen, die unterschiedlichen Kommunikations-, Lern- und Arbeitsstilen entgegenkommen« (Siems 2013: 821), die sich wiederum im Laufe des Studiums und aufgrund wechselnder Anforderungen, Aufgabenstellungen und Projekte stetig verändern. Im Gegenzug kann der Einsatz ethnografischer Methoden allgemeine Grundsätze und Leitlinien in der Bibliotheksgestaltung auf ortsspezifische Besonderheiten und individuelle Merkmale der jeweiligen Hochschulbibliothek zurückführen und ihre Gültigkeit im Einzelfall überprüfen. So zielt die Ethnografie auf konkret situierte Fragestellungen ab und betrifft »this ethnographer, in this time, in this place, with these informants, these commitments, and these experiences« (Geertz nach Seadle 2013: 317).
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3 Zugänge zur Hochschulbibliothek und methodisches Vorgehen In diesem Abschnitt gebe ich zunächst einen Überblick über die ethnografische Forschung in Hochschulbibliotheken, gehe auf Feldzugang und Teilnehmer*innengewinnung ein und stelle anschließend exemplarisch vier Methoden vor, die insbesondere in der Lernortforschung eingesetzt wurden: Beobachtungen, Design Workshops, Foto- und Video-Surveys und Cognitive Mapping. In ihrem Überblick über ethnografische Studien im internationalen Bibliothekswesen charakterisieren Michael Khoo und Koautor*innen die eingesetzten Vorgehensweisen als »a continuum in ethnographic research between ›traditional‹ and ›rapid‹ ethnography, with the former often focusing on more longitudinal research questions, and the latter often being deployed in shorter time scales in design contexts. […] In addition, an emerging genre of studies was identified that deployed various ethnographic methods in a toolkit approach to address research questions related to the planning and design of library spaces and services« (Khoo et al. 2012: 86). Langangelegte Feldstudien, die teilnehmende Beobachtungen beinhalten würden, sind in Hochschulbibliotheken eher selten, da die Forschungsfragen überwiegend konkret und klar eingrenzbar gefasst sind (z.B. die Nutzungsfreundlichkeit digitaler Bibliotheken oder Datenbanken). Dementsprechend hat sich eine pragmatisch-flexible Herangehensweise durchgesetzt, die Michael Seadles Motto zu folgen scheint: »The library world can learn by picking and choosing among these [ethnological] theories as suits our need – as I am about to do« (Seadle nach Seeliger 2013: 96). Der Anthropologin Nancy Fried Foster ist es gelungen, mit der bereits erwähnten Pionierarbeit Studying Students (Foster/Gibbons 2007b) die gesamte Breite des Kontinuums von »traditional« bis »rapid ethnography« abzudecken. Das Undergraduate Project at the University of Rochester ist eine umfassend angelegte Erhebung, die sich in die Lebenswelten der Studierenden hineinbegeben und Einblicke in den studentischen Alltag, in Freundschaften, Wohnund Familienverhältnisse, Selbstverständnis und persönliche Interessen in und außerhalb des Studiums ermöglicht hat. Zugleich hat das Projekt mit der Dokumentation der eingesetzten Verfahrensweisen auch ein »tool kit« bereitgestellt, aus dem einzelne Methoden herausgelöst und in zahlreichen Folgestudien für individuelle Fragestellungen nachgenutzt werden konnten. Fos-
Kerstin Schoof: Die Hochschulbibliothek als Lernort
ters erweiterte Ethnografie bezieht ihre Inspirationen neben der Ethnologie auch aus der visuellen Soziologie von Douglas Harper ebenso wie aus Grundsätzen des Participatory Designs, etwa in der iterativen Vorgehensweise, die eine wiederholte Beteiligung der Nutzer*innen in verschiedenen Phasen eines Planungs- oder Gestaltungsprozesses beinhaltet. Grundsätzlich können Methoden wie Design Workshops, Foto- oder Video-Surveys, Mapping Diaries, Cultural Probes und Contextual Interviews als Rekombination der methodischen Grundformen in qualitativer und ethnologischer Forschung verstanden werden: Sie verbinden Elemente von Interviews, Beobachtungen, die Analyse kultureller Artefakte sowie Aufzeichnungen im Feld – seien es Notizen, Zeichnungen, Fotos oder Filme. Ein starker Fokus liegt auf dem Einsatz von Medien und Bildmaterial, die als Grundlage für Interviews und spätere Analysen dienen und die untersuchten Sachverhalte im wahrsten Sinne anschaulich machen. Das Anfertigen von Fotos, Videos, Zeichnungen oder Raumplänen bezieht zudem die Studienteilnehmer*innen aktiv und kreativ in die jeweilige Erhebung ein. Dieser Methoden-Mix hat sich für das Setting Hochschulbibliothek – insbesondere für die Erforschung von Studierenden – bewährt und wird bis heute in zahlreichen Abwandlungen für die Erforschung von Bibliotheksnutzer*innen im Hochschulbereich eingesetzt. Wissenschaftler*innen wurden beispielsweise im Zuge des Aufbaus eines Publikationsrepositoriums ethnografisch erforscht (vgl. Foster et al. 2011). Die Anpassung der Methoden an die jeweilige Zielgruppe stellt hierbei eine wichtige Voraussetzung für das Gelingen einer Studie dar.
3.1 Ethnografische Kompetenz in der Durchführung von Studien Die Flexibilität des ethnografischen Ansatzes sollte jedoch nicht den Eindruck erwecken, methodische Kenntnisse seien zweitrangig: Fundiertes Wissen über empirische Methoden und Erfahrung in ihrem Einsatz sind vermutlich die wichtigsten Voraussetzungen für gelungene Erhebungen und aussagekräftige Ergebnisse. Zahlreiche Studien in Bibliotheken werden daher von ausgebildeten Ethnolog*innen oder Sozialwissenschaftler*innen durchgeführt, die ihre bibliothekarischen Kolleg*innen anleiten. »Ethnologische Methoden sind für die meisten Bibliothekare leicht zu erlernen, weil sie in ihren normalen Arbeitsumgebungen wichtige ethnologische Fähigkeiten, darunter Beobachtung und Beschreibung, bereits anwenden« (Seadle 2013: 315).
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Eine gute Möglichkeit ist auch die Kooperation von Bibliothekar*innen mit Forschenden, Studierenden (z.B. im Rahmen einer Abschlussarbeit) oder Projektseminaren aus informations-, bibliotheks- oder sozialwissenschaftlichen Studiengängen, die den Blick von außen auf die jeweilige Institution mitbringen. Zu bedenken ist allerdings, dass Studierende zwar die bibliothekarische Perspektive aufbrechen, ihren gleichaltrigen peers jedoch in der Lebensweise sehr nahestehen – es wird ihnen also möglicherweise schwerer fallen, ihre Kommiliton*innen als Angehörige einer fremden Kultur zu betrachten und Verhaltensweisen oder Einstellungen explizit zu beschreiben, die Bibliothekar*innen oder Forschende als interessant und überraschend wahrnehmen würden.
3.2 Zugang und Gewinnung der Teilnehmer*innen Der Zugang zur Hochschulbibliothek als Feld mit spezifischen Nutzungskulturen erscheint zunächst recht einfach: Hochschulbibliotheken sind öffentliche Orte, deren Räume von Nutzer*innen und Bibliothekar*innen geteilt werden. Bibliothekar*innen, die ihre Nutzer*innenschaft ethnografisch erforschen möchten, können auf Erfahrungen aus Beratungsgesprächen ebenso zurückgreifen wie auf alltägliche Beobachtungen zum Verhalten der Nutzer*innen beim Sichten und Bestellen der Bestände oder beim Lernen und Arbeiten an den Leseplätzen vor Ort. Aber auch externe Wissenschaftler*innen oder forschende Projektseminare (vgl. Allan 2016) können diesen öffentlichen Zugang zu Hochschulbibliotheken nutzen und zunächst mittels der Methode der Beobachtung einen Einblick in das Feld gewinnen. Sollen Bibliotheksnutzer*innen als Teilnehmer*innen für Interviews, Workshops oder Ähnliches gewonnen werden, ist die naheliegendste Kontaktaufnahme das Ansprechen der Nutzer*innen in der Bibliothek. Während auch hierbei die Barrieren niedrig sind, wird auf diese Weise allerdings nur ein Ausschnitt der potenziellen Nutzer*innen erreicht, nämlich diejenigen, die sich zu einem bestimmten Zeitpunkt vor Ort im physischen Bibliotheksraum aufhalten. Um jene Hochschulangehörigen einzubeziehen, die die Bibliothek nicht oder in anderer Weise nutzen, etwa elektronische Ressourcen ausschließlich online abrufen oder Beratungsgespräche telefonisch statt an der Auskunftstheke in Anspruch nehmen, ist es notwendig, die Teilnehmer*innen-Rekrutierung auszuweiten. So können über E-MailVerteiler unterschiedlichen Zuschnitts sowohl alle Hochschulangehörigen
Kerstin Schoof: Die Hochschulbibliothek als Lernort
als auch nur bestimmte Untergruppen (Promovierende, Angehörige eines bestimmten Fachbereichs o. ä.) angeschrieben werden. Aushänge in der Universität, Postings auf Social Media oder die Ansprache in ausgewählten Seminaren können ebenfalls eingesetzt werden, um gezielt unterschiedliche Hochschulangehörige bzw. Ausschnitte bestimmter Nutzergruppen zu erreichen. Hilfreiche Multiplikator*innen sind oftmals studentische Hilfskräfte in Bibliotheken, die den Kontakt zu ihren Kommiliton*innen herstellen können. Da ethnografische Erkundungen relativ zeitaufwändig sind (zumindest im Vergleich zum Ausfüllen von Fragebögen), ist es sinnvoll, über Anreize und Belohnungen für die Teilnehmer*innen nachzudenken. Im Idealfall stellt die Möglichkeit zur aktiven Mitgestaltung der eigenen Lern- und Arbeitsumgebung eine ausreichende Motivation zur Teilnahme dar. Darüber hinaus ist die Bereitstellung von Getränken und Snacks oftmals attraktiv für Studierende; aber auch kleine Aufwandsentschädigungen, Gutscheine (z.B. für Fernleihen) oder eine Verlosung können die Teilnehmer*innenrekrutierung einfacher machen. Um als Hochschulbibliothek langfristig einen Pool von potenziellen studentischen Studienteilnehmer*innen zu kreieren, ist es sinnvoll, bei möglichst vielen Gelegenheiten – etwa in Veranstaltungen wie Erstsemestereinführungen – nachzufragen, ob Studierende bereit wären, zukünftig an Erhebungen der Bibliothek teilzunehmen und ihre Kontaktdaten zu hinterlegen.
3.3 Beobachtungen Nicht-teilnehmende Beobachtungen eignen sich oftmals als Einstieg in ethnografische Studien: Sie sind in Hochschulbibliotheken ohne privilegierten Feldzugang durchführbar und können als Grundlage für weitere Untersuchungen dienen. Offene und explorative Beobachtungen eignen sich, um ein Gefühl für das Leben in einer bestimmten Bibliothek zu bekommen. Beobachtungen können aber auch gezielt auf einzelne Aspekte der Bibliotheksnutzung fokussieren, definierte Phänomene in den Blick nehmen und auch quantitativ vorgehen, indem sie deren Häufigkeit erfassen. Im Gegensatz zu Alltagsbeobachtungen (z.B. der Bibliotheksbeschäftigten vor Ort) sollten diese ethnografischen Beobachtungen systematisch und an einer Forschungsfrage orientiert durchgeführt und in ihren Ergebnissen protokolliert werden. Gegenstand von Beobachtungen können beispielweise die Ausstattung der Nutzer*innen mit Arbeitsmaterialien, ihr Verhalten in Arbeitsgruppen oder an ihren Arbeitsplätzen sein; aber auch ihre Interaktion mit Büchern,
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Medien und Bibliothekstechnik, etwa die selbstständige Ausleihe an Selbstverbuchungsautomaten mit RFID-Technologie. Beobachtungen zur Nutzung der Bibliothek als Lernort ermöglichen so Einblicke in studentische Taktiken und Rituale, sich einzurichten, Arbeitsplätze zu belegen und zu markieren, sowie in Interaktionen zwischen den Studierenden und Mechanismen der Regulierung von stillen oder sozialen Nutzungszonen in Form eines »tacit code of etiquette« (Bryant et al. zitiert nach Allan 2016: 122f.). »For example, the position of a student’s headphones and earbuds signaled their level of availability for social interaction. Students were more or less likely to interrupt one another depending on whether headphones or earbuds were worn loosely around the neck, in just one ear, or in both ears« (Allan 2016: 122f.). Beobachtungen, die im ethnografischen Sinne als teilnehmende Beobachtungen konzipiert sind, stellen deutlich höhere Anforderungen bezüglich des Zugangs oder der Erhebungsdauer. Beobachtungen eignen sich daher in den meisten Anwendungsfällen eher als Bestandteile des erweiterten ethnografischen »Werkzeugkastens«, zum Beispiel in Interviews am Arbeitsplatz oder in Studien zur Nutzung digitaler Plattformen und Bibliotheken.
3.4 Design Workshops Design Workshops bieten sich für gestalterische, visuelle Prozesse an, da sie direkt am Material arbeiten – mit Raum- und Gebäudeplänen oder mit Bildern von Mobiliar, das in diese eingefügt werden soll – und die Raumgestaltung im wahrsten Sinne anschaulich machen. In dieser Hinsicht sind sie auch auf digitale Räume und Oberflächen übertragbar, etwa auf Websites, OnlineKataloge oder digitale Bibliotheken. Workshops können mit einzelnen Teilnehmer*innen oder in der Gruppe durchgeführt werden, und ihre Herangehensweise kann von einer sehr offenen Fragestellung – »Wie sieht deine ideale Bibliothek aus?« – bis hin zur konkreten Inneneinrichtung eines Um- oder Neubaus reichen. Workshops eignen sich daher für verschiedene Phasen einer Lernortplanung, von der ersten Inspiration bis zur abschließenden Ausgestaltung eines Raumes. In Workshops ist es ratsam, den Teilnehmer*innen eine Mischung aus unterstützender Anleitung, eigenständiger Tätigkeit sowie Austausch und Gespräch über die erarbeiteten Inhalte zu ermöglichen. Nicht jede*r ist mit dem Lesen von Grundrissplänen vertraut, und Bibliotheksgebäude können sehr verwinkelt
Kerstin Schoof: Die Hochschulbibliothek als Lernort
angelegt sein (Schoof 2010). Es ist daher wichtig, den Teilnehmer*innen ausreichend Orientierung anzubieten und Platz für Nachfragen zu lassen, um eine sinnvolle Auseinandersetzung mit der Raumgestaltung zu ermöglichen. Im Zentrum stehen das Entwickeln und Darstellen eigener Ideen, und hierfür brauchen die Teilnehmer*innen Ruhe und Zeit. Anschließende Interviews sind die Voraussetzung, um die entstandenen Entwürfe wirklich zu verstehen und nicht eigene Interpretationen überhand nehmen zu lassen. Wählt man eine sehr offene Fragestellung, werden die entstehenden Designs sehr unterschiedlich ausfallen: Manche Teilnehmer*innen zeichnen viel und gerne, andere äußern ihre Vorschläge und Anmerkungen eher verbal beziehungsweise durch schriftliche Kommentare. Während Gestaltungsprozesse mit Nutzer*innenbeteiligung oftmals die Befürchtung aufkommen lassen, die geäußerten Wünsche nicht erfüllen und Ideen nicht umsetzen zu können, stellt es sich in der Praxis hingegen manchmal als schwierig heraus, neue und innovative Impulse zu bekommen. Im Fall von Renovierungen oder Umgestaltungen bestehender Gebäude prägt der bereits bekannte Bibliotheksraum oftmals den vorstellbaren Horizont; generell sind sich Bibliotheksnutzer*innen meist der begrenzten Möglichkeiten öffentlicher Budgets bewusst und passen ihre Ideen und Ansprüche demgemäß an. Hier empfiehlt es sich, explizit Anreize zu setzen und Anregungen zu geben, um die Teilnehmer*innen in ihrer Kreativität herauszufordern, höher hinauszudenken.3
3.5 Foto- und Video-Surveys Foto- und Video-Surveys beruhen auf Douglas Harpers Methode der »photo elicitation«, der »fotogeleiteten Hervorlockung«, in der Fotos eingesetzt werden, um Teilnehmer*innen in Gesprächen Informationen beziehungsweise »Bildinterpretationen zu entlocken« (Harper 2019: 414). Hierbei geht es keinesfalls darum, Erkenntnisse zu gewinnen, die die Teilnehmer*innen eigentlich nicht preisgeben wollten, sondern darum, Reflexionsprozesse anzuregen und Informationen zu erhalten, die den Befragten zu selbstverständlich oder nebensächlich erscheinen, als dass sie diese explizit erwähnen würden. Harper nahm daher Fotos der Arbeitskontexte seiner Studienteilnehmer*innen auf und führte anschließend Interviews durch, in denen er sehr genau nach 3
Im Rahmen des Methodenprojekts »Lernraum Bibliothek 2015« der UB Rostock wurden u.a. »Good-Practise-Reisen« in andere Universitätsbibliotheken ermöglicht, um die Teilnehmer*innen zu inspirieren (vgl. Ilg 2016).
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einzelnen Arbeitsschritten und Abläufen, ihrer Dauer sowie nach dem Einsatz von Werkzeugen fragte. Seine arbeitssoziologischen Studien zu Tätigkeiten in Handwerk und Landwirtschaft lassen sich methodisch gut auf die Lernortforschung übertragen, wenn man Studium und Wissenschaft als Arbeitskontexte versteht und die räumlichen Rahmenbedingungen und Abläufe – von Hausarbeiten oder wissenschaftlichen Projekten – in den Blick nimmt. »Ein mit Hilfe der ›fotogeleiteten Hervorlockung‹ geführtes Interview erfordert die Mitarbeit der beobachteten Personen. […] Zugleich bietet sich mit diesem Verfahren ein Medium an, durch das die Forschenden an die Grenzen ihres Wissens von der Welt der von ihnen erforschten Personen geführt werden. […] Das Vermögen der Fotografie besteht nunmehr darin, die Subjektivität derer freizusetzen, die ein Bild anders sehen als die Sozialforscher« (Harper 2019: 415). Da Foto- und Videokameras mittlerweile Bestandteil fast jeden Handys sind, ist die Vertrautheit mit diesen Medien in den letzten Jahren stark gestiegen und ihre technische Einsetzbarkeit deutlich barrierefreier geworden. Es ist daher möglich, Bildmaterialien von Studierenden oder Wissenschaftler*innen selbst anfertigen zu lassen, ohne noch wie in Studying Students auf Einwegkameras zurückgreifen zu müssen. In den meisten Fällen wird mit Themenlisten gearbeitet, zu denen die Teilnehmer*innen Fotos aufnehmen; man kann aber auch um die Aufnahme eines kommentierten Videos bitten (vgl. Cowan 2012; Schulz/Gläser 2014). Dies bietet sich für Rundgänge durch die Bibliothek, das Büro, aber auch andere Studienorte wie Ateliers oder Labore an, die über die Bibliothek hinaus eine Art »Lernlandschaft« bilden. Auf diese Weise ist es möglich, die Bibliothek durch die Augen der Nutzer*innen zu sehen, um etwas über ihre Einstellungen gegenüber einzelnen Leseplätzen, Magazinen oder Gruppenräumen zu erfahren und darüber hinaus einen diskreten Einblick in außerbibliothekarische oder private Orte »beyond the doors of the library« (Briden 2007: 47) zu bekommen, die andernfalls für Bibliothekar*innen unsichtbar bleiben würden. Die Art und Menge des bereitgestellten Materials bleibt hierbei ganz den Teilnehmer*innen überlassen; trotzdem ist es grundlegend, mit Bildern aus Wohn- und Freizeitbereichen der Beteiligten äußerst sensibel umzugehen. Aus den so gewonnenen Einblicken können hilfreiche Hintergrundinformationen entstehen. So überraschte in verschiedenen Lernortstudien die Forderung der Studierenden nach ergonomischem, funktionalem Mobiliar
Kerstin Schoof: Die Hochschulbibliothek als Lernort
(Schoof 2010: 35) oder die Nutzung formaler Ausstattung trotz geäußerten Bedarfs an Lounge-Möblierung: »Surprisingly, although comfortable furniture is high on the list of ideals, seating sweeps indicated that the library’s existing soft furniture is rarely used. Perhaps what students think they want and what is actually conducive to their needs are different, or perhaps the soft furniture in the library is not actually comfortable« (Kane/Mahoney 2020: 297). Fotos der Orte, an denen Studierende an ihrem Wohnort arbeiten, geben hier schnell Aufschluss. Aufgrund von Platzmangel in WGs und Wohnheimen dienen oftmals Sofaecken, kleine Sitznischen im Schlafzimmer oder Hängematten als Arbeitsplatz – und lassen so den Bedarf an funktionalem Mobiliar in der Bibliothek verständlich werden. Die Anschaulichkeit des angefertigten visuellen Materials strukturiert und erleichtert nicht zuletzt anschließende Interviews, indem sich das Gespräch ausgehend von den konkreten Objekten, Orten und Situationen im Bild hin zu deren Bedeutung für die Teilnehmenden entwickeln kann (vgl. Harper in Foster 2007: 40). Die vorausgehende aktive Beschäftigung der Teilnehmenden mit den Themen der Untersuchung erweist sich als großer Vorteil für erkenntnisreiche Interviews. Immer wieder zeigt sich – in Interviews zum Thema Lernort, aber auch zum Umgang mit digitalen Plattformen, Websites und Ressourcen wie Mediendatenbanken in der Forschung von Musikwissenschaftler*innen (vgl. Nix/Schoof/Seeliger 2019) –, dass Teilnehmende nach einer vorausgegangenen intensiven Beschäftigung mit einer Fragestellung von sich aus berichten, worüber sie im Vorfeld bereits intensiv nachgedacht hatten. Es bedarf also kaum noch des Fragenstellens; die Bilder selbst erledigen das prompting, den Mitteilungsanreiz, der sonst durch die Gesprächsleiter*innen erfolgen müsste. Einschätzungen, Einstellungen, Wünsche, die den Befragten nicht bewusst oder unmittelbar abrufbar sind und daher in Interviews ohne den Vorbereitungsprozess und die visuelle Grundlage unerwähnt bleiben würden, werden in Foto- und Video-Surveys zugänglich – und damit im wahrsten Sinne (des Wortes) erst sichtbar.
3.6 Cognitive Mapping Zum Abschluss möchte ich auf die Methode des Cognitive Mapping eingehen, das sich ebenfalls besonders für Studien zur räumlichen Wahrnehmung und
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daher zum Lernort Bibliothek – als Gebäude oder im weiteren Sinne in all ihren Funktionen und ihrer Verortung im Leben der Nutzer*innen – eignet. In der bibliothekarischen Nutzungsforschung fand Cognitive Mapping zunächst Anwendung im Ansatz der Information Horizons, die Sonnenwald und Wildemuth (2001) beschrieben haben. Indem sie Karten der Informationsquellen und -wege nachzeichnen ließen, konnten sie auf anschauliche Weise sehen, welche dieser Quellen den Teilnehmenden buchstäblich nah- oder fernliegen, und welche sie überhaupt nicht kennen oder einbeziehen. Ähnlich können auch studentische Hausarbeiten nachvollzogen und in ihrem Entstehungsprozess aufgezeichnet werden. Clark (2007) rekonstruierte mit Studierenden einen konkreten Tagesablauf und ließ dessen Stationen mit Zeitangaben in den Campusplan einzeichnen. Das Zusammenspiel der über den Tag hinweg aufgesuchten Orte (z.B. Hörsaalgebäude, Mensa oder Wohnheim) mit der Bibliothek kann entscheidende Hinweise darauf geben, wie die Gestaltung von Lernräumen oder das Angebot von Services die Bedarfe der Studierenden erreichen kann. An der University of Rochester stellte sich so beispielsweise heraus, dass die Öffnungszeiten der Fachauskunft in der Bibliothek zu kurz waren, um für Studierende nutzbar zu sein, die in der Mehrzahl erst abends die Zeit fanden, in der Bibliothek zu recherchieren oder Kursaufgaben zu erledigen (ebd.: 54). Horan (1999) bat Studierende, die Bibliothek aus dem Kopf aufzuzeichnen und alle zwei Minuten die Stiftfarbe zu wechseln – auch so wurde deutlich, welche Bereiche der Bibliothek den Teilnehmenden zuerst präsent sind, wie groß einzelne Bereiche eingeschätzt wurden und wo blinde Flecken in der Wahrnehmung des Gebäudes und seiner Services bestanden. Diese mentale Repräsentation der Bibliothek ist ausgesprochen spannend, um die Wahrnehmung der Bibliothekar*innen mit der Nutzersicht abzugleichen und entsprechende Schlussfolgerungen für die Inneneinrichtung und Möblierung, farbliche Gestaltung, technische Ausstattung, das Leitsystem oder ähnliche Komponenten der Hochschulbibliothek zu ziehen.
4 Digitale (Nicht-)Nutzer*innen: Herausforderungen für Hochschulbibliotheken und Ausblick Um funktionierende Lernorte zu schaffen, die von den Angehörigen der Hochschule gerne angenommen und aktiv genutzt werden, ist ein Verständnis der Rahmenbedingungen in Studium und Lehre sowie der sich wan-
Kerstin Schoof: Die Hochschulbibliothek als Lernort
delnden Lern- und Arbeitsbedingungen von Studierenden und Lehrenden unabdingbar. Die Erkenntnisse, die aus ethnografischen Untersuchungen zum Lernort Bibliothek hervorgehen, sind aus diesem Grund immer eng verknüpft und eingebettet in übergreifende Fragen des akademischen Lebens und von zentralem Interesse auch für andere Bereiche der Hochschule. Eine wichtige Entwicklung in der Debatte der letzten Jahre besteht daher in der hochschulübergreifenden Planung von Lernorten, die in und außerhalb der Bibliothek angesiedelt sein können, sowie in hochschulpolitischen Fragen ihrer Umsetzung und Konzeption, die außer Bibliotheken auch Vertreter aus Lehre und Forschung, zentrale Einrichtungen wie Schreib- und Rechenzentren sowie die Hochschulleitung einbezieht (vgl. Becker/Stang 2020). Digitale Herausforderungen für den Lernort Bibliothek ergaben sich nicht erst mit Beginn der Corona-Pandemie, sie wurden seit den hiermit verbundenen Veränderungen in der Umstellung von Präsenz- auf virtuelle Lehre jedoch noch einmal in aller Deutlichkeit sichtbar und möglicherweise in ihren Konsequenzen verschärft. In den Phasen des Lockdowns haben Hochschulbibliotheken ihr Angebot an digitalen Medien, insbesondere E-Books, stark ausgebaut – und ihre Nutzung hat sich aufgrund fehlender Alternativen stark erhöht. Inwieweit Nutzer*innen mit digitalen Medien arbeiten, diese mit gedruckten Büchern und Quellen mischen und sich erfolgreich Wissen aneignen, ist eine wichtige Frage, die einerseits die Vorlieben und Gewohnheiten der Menschen sowie die sich wandelnden technischen Grundlagen (z.B. Geräte wie E-Reader, Formate elektronischer Texte, urheberrechtliche Rahmenbedingungen zum Download), andererseits aber auch Erkenntnisse der digitalen Leseforschung berücksichtigen muss. So untersuchte beispielsweise das EU-Projekt E-Read4 und Folgeprojekte kognitive Prozesse beim Lesen von E-Medien und die Auswirkungen auf den Erkenntnisgewinn oder die Fähigkeit zur Erinnerung von gelesenen Inhalten. Der physische Lernort wird sich voraussichtlich auch nach Wiederöffnung der Hochschulbibliotheken großer Popularität erfreuen. Möglicherweise werden jedoch Elemente des studentischen Lernens im »Homeoffice« im neuen Alltag bestehen bleiben und den ohnehin hybriden Charakter des Lernens, Arbeitens und der Mediennutzung an Hochschulen verstärken. Um diese ineinandergreifenden Strukturen zu verstehen, bedarf es ganzheitlicher Ansätze, die über Usability-Tests beziehungsweise die Evaluation einzelner Plattformen oder elektronischer Ressourcen hinausgehen und das Zusammenspiel 4
Siehe die Projektwebsite unter https://www.ereadcost.eu.
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analoger und digitaler Räume in den Blick nehmen. So gewinnt die virtuelle Ethnografie (vgl. Hine 2015) oder digital anthropology (vgl. Horst/Miller 2012) stetig an Bedeutung, die das Verhalten in Online-Umgebungen oder die Übergänge von digitalen und analogen Bestandteilen in Lern- und Forschungsprozessen untersuchen kann. Für den Bibliotheksbereich liegen hier bislang keine umfassenden Ethnografien vor, aber Studien aus angrenzenden Forschungsfeldern geben Anregungen und Ansätze zu ihrer Übertragbarkeit. So hat die Informationswissenschaftlerin Bonnie A. Nardi, im Bibliothekswesen bekannt für ihre ethnografische Studie zur Information Ecology der Bibliothek des IT-Unternehmens Apple (vgl. Nardi/O’Day 1999), mit My Life as a Night Elf Priest (Nardi 2010) eine eindrucksvolle Ethnografie des Online-Spiels World of Warcraft vorgelegt. Vom Anthropologen Daniel Miller stammt eine anschauliche Ethnografie zur Nutzung von Facebook auf Trinidad (Miller 2011; vgl. auch Miller/Slater 2001). Auch wenn sich Bibliotheken oftmals eher – wenn auch nicht ausschließlich – für konkrete, (orts-)spezifische Untersuchungen eignen, lassen diese sich auch zu einem Gesamtbild zusammenfügen und generalisieren. Den Versuch, tragfähige digitale Methoden für den spezifischen Einsatz in der Bibliotheks- und Informationswissenschaft zu erarbeiten, haben Sebastian Mundt und ich in einem Projektseminar mit studentischen Teilnehmer*innen im Jahr 2020 an der Hochschule der Medien Stuttgart unternommen. Im transdisziplinären Projekt Ethnografische Methoden im digitalen Wandel wurden, unter anderem, teilnehmende Beobachtungen zum Informationsverhalten von Studierenden in virtuellen Lerngruppen geplant, nach Vorlieben und Gewohnheiten im immer mobiler und digitaler werdenden Schreibprozess mittels Logbuch und Mood-Tracking-Apps gefragt sowie methodische Ansätze zur Erfassung der Unterschiede im Lesen gedruckter und digitaler Medienformate entwickelt. Sollten sich die so entworfenen Methoden in der Anwendungspraxis bewähren, können sie perspektivisch das tool kit der existierenden ethnografischen Methoden in ihrer digitalen Variante ergänzen und verstärken. Neben allen Herausforderungen, die der digitale Wandel für den Lernort Bibliothek und seine ethnografische Erforschung aufwirft, gibt es weitere Aspekte, die zukünftig (noch) stärkere Berücksichtigung erfordern. Der Blick auf die Nichtnutzer*innen der Bibliothek und die Gründe hierfür ist gerade an Hochschulbibliotheken eine Daueraufgabe. Zudem beinhaltet die intensive Nutzung der Bibliothek als Lernort nicht notwendigerweise die kompetente Nutzung der angebotenen Bücher, Medien und Datenbanken sowie die Inan-
Kerstin Schoof: Die Hochschulbibliothek als Lernort
spruchnahme der bibliothekarischen Beratung (vgl. Allan 2016). Die frühzeitige Heranführung von Studierenden an die Nutzung der bibliothekarischen Ressourcen und Services wie der Fachauskunft ist eine Kernaufgabe der teaching library, die sich mit der Vermittlung von Informationskompetenzen und ihrer Einbettung in die akademische Lehre, insbesondere in Kurse zum wissenschaftlichen Arbeiten, beschäftigt. Nicht zuletzt sollte die Bibliothek aber auch ihren Anspruch als »Lernort« für die Wissenschaft aufrechterhalten und überprüfen, ob und inwiefern die wissenschaftliche Nutzung möglicherweise mit der expliziten »student-centeredness« mancher Hochschulbibliotheken (vgl. Allan 2016) in Konflikt steht. »Wissenschaftliche Bibliotheken geben zur Zeit das Bild vom Scheinriesen Tur aus Michael Endes Kinderbuch ab: Durch den enormen Zuspruch als Lernort erscheinen sie von weitem in riesenhafter Größe, die sich auch in repräsentativen Neubauten ausdrückt. Tritt man aber näher, mit Blick auf die Anforderungen, die die Wissenschaft im digitalen Zeitalter stellt, schrumpfen sie zusehends ein, denn wie sie diesen Anforderungen begegnen wollen, ist noch keineswegs ausgemacht« (Siems 2012: 356). Wissenschaftler*innen, die in Disziplinen arbeiten, die als »›library research‹ bezeichnet werden können, da in ihnen die Bibliothek den Stellenwert einnimmt wie für andere Disziplinen das Labor« (ebd: 356), sind letztlich diejenigen Nutzer*innen, die mit den bibliothekarischen Ressourcen am intensivsten arbeiten und die Möglichkeiten der Bibliothek wirklich ausloten – sei es in der Nutzung von hochspezialisierten Beständen, in der Beschaffung und Dokumentlieferung schwer recherchier- und auffindbarer Publikationen oder in den Korpusanalysen der Digital Humanities, die die maschinenlesbare Aufarbeitung und Anreicherung digitaler Texte erfordern. Forschungsnahe Dienste, unter die auch der Betrieb von Publikationsservern und Infrastrukturen zum Forschungsdatenmanagement sowie umfangreiche Beratungsangebote zu urheberrechtlichen Fragestellungen oder Open Access fallen, haben daher in den letzten Jahren parallel zur Diskussion über Lernräume in Hochschulbibliotheken stark an Bedeutung gewonnen. Ethnografische Herangehensweisen sind – ebenso wie eine enge Zusammenarbeit zwischen Lehrenden, Forschenden und Bibliothekar*innen – auch hier unverzichtbar, um die Bedarfe der Wissenschaft zu verstehen und Services nicht an den Realitäten der forschenden Nutzer*innen vorbei zu gestalten.
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Organisiertes Engagement: Das Innenleben studentischer Vereinigungen Daniel Meyer
1 Einleitung Ob im Hörsaal, in der Bibliothek oder auf dem Weg zur Mensa: Studierende sind an Hochschulen allgegenwärtig. Als größte Gruppe auf dem Campus bestimmen sie unser Bild vom universitären Leben. Wir sehen sie über die Flure eilen, vor ihren Laptops sitzen und in Kleingruppen zusammenstehen. Typischerweise nehmen wir sie dabei als Fachstudierende wahr, die einen der rund 20.000 Studiengänge durchlaufen und dafür von einer Vorlesung zur nächsten hetzen, über ihren Lehrbüchern brüten oder mit ihren Kommiliton:innen für die anstehenden Prüfungen lernen. Dass sie in Wirklichkeit gar nicht zum Hörsaal, sondern zum Fachschaftsraum hasten, womöglich das bevorstehende Burschenschaftsfest planen oder noch an ihrem Beitrag für die Studierendenzeitung feilen, kommt uns hingegen selten in den Sinn. Dabei hat die Hochschulsozialisationsforschung schon früh herausgearbeitet, dass sich die Studienerfahrung nicht in den curricularen Abläufen eines Fachstudiums erschöpft, sondern sich auch auf extracurriculare Aktivitäten erstreckt (vgl. Stevens et al. 2008; Kaufman/Feldman 2004; Pfaff-Czarnecka 2017).1 Diese Literatur beschreibt Hochschulen nicht nur als Lernräume, sondern auch als Lebensräume – als »Brutstätten« und als »Soziotope« –, und erinnert daran, dass Studierende in ein Geflecht sozialer und kultureller Bezüge eingebettet sind und sich als Heranwachsende noch inmitten ihrer Identitätsentwicklung befinden. In diesem Lichte erscheint der Hochschulcampus als ein Ort der Ermöglichung, der Kreativität und der Vergemeinschaf1
Ein frühes Beispiel ist Willard Wallers (1937) Untersuchung zur Datingkultur an amerikanischen Colleges. Ein Überblick über die ethnografische Studierendenforschung findet sich auch in der Einleitung des vorliegenden Bandes.
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tung: Hier können Studierende wahlweise im Hochschulchor singen oder im Verbindungshaus debattieren, auf Firmenkontaktmessen mit Unternehmen oder in Gebetskreisen mit Gott ins Gespräch kommen, hier können sie durchzechte Nächte erleben oder nächtliche Marathonsitzungen im Studierendenparlament. Ganz gleich, was sie auf dem Campus tun, ob sie Flyer verteilen, Protestbanner aufhängen oder Bierkästen anschleppen – eines haben sie alle gemeinsam: Sie engagieren sich im Rahmen einer der unzähligen Studierendenorganisationen. Welche Bedeutung diesen Organisationen zukommt, zeigt ein Blick in die amerikanische College-Ethnografie. Studentische Vereinigungen spielen in den USA eine wichtige Rolle. Indem sie die organisationalen Leitplanken vorgeben, lotsen sie Studierende auf spezifische Wege durch das College: Manche Studierende nehmen den party pathway, der sie durch das Greek life der Sororities und Fraternities führt (Armstrong/Hamilton 2013; Vander Ven 2011), andere lassen sich im Rahmen von konservativen oder progressiven Hochschulgruppen politisieren (Binder/Wood 2013; Binder/Kidder 2022), und wieder andere durchlaufen den Karriereweg in unternehmensnahen Vereinigungen (Rivera 2015; Orta 2019). Wo Bildungstitel inflationär werden und selbst die Exzellenz einer Universität oder das Prestige eines Faches nicht mehr zur Distinktion ausreichen, gewinnen extracurriculare Aktivitäten an Bedeutung. Vor diesem Hintergrund sind Vereine auch Orte, in denen sich soziale Ungleichheiten reproduzieren: Während privilegierte Studierende ihr freiwilliges Engagement dazu nutzen, um wertvolle Kontakte zu knüpfen, müssen sich andere Studierende womöglich verschulden, um überhaupt erst an den Aktivitäten teilnehmen zu können oder werden aufgrund ihres Geschlechts oder ihrer Herkunft schon vorab vom Vereinsleben ausgeschlossen (vgl. Stuber 2011; Armstrong/Hamilton 2013; Lee 2016; Silver 2020). Während im Rahmen von amerikanischen Ethnografien studentische Vereinigungen – neben den Fraternities und Sororities auch die Clubs und Societies – eine mitunter prominente Rolle einnehmen, liegen für den deutschsprachigen Raum keine gesonderten Ethnografien über das Vereinsleben vor. Hierzulande wird die Studienerfahrung zumeist in Verbindung mit Lernoder Fachkulturen gedacht (vgl. Scharlau/Huber 2019), sodass extracurriculare Räume nur vereinzelt in Ethnografien aufscheinen (z.B. Friebertshäuser 1992; Gothe/Pfadenhauer 2010; Richter/Friebertshäuser 2019). Insofern Studierendeninitiativen überhaupt thematisiert werden, geschieht dies zumeist im Rahmen der Literatur zum bürgerschaftlichen respektive studentischen
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Engagement (vgl. Möller/Rundnagel 2019) oder in der von Barfußhistorikern dominierten Studenten- und Korporationsgeschichte. Dass es auch an deutschen Hochschulen ein ausgeprägtes Vereinsleben gibt, und was die Ethnografie hier zu »entdecken« hat, will ich in diesem Beitrag an einem Fallbeispiel aufzeigen. Dazu berichte ich von meinem Feldaufenthalt beim Organisationsforum Wirtschaftskongress (OFW), einer Studierendeninitiative an der Universität zu Köln, die ich im Rahmen einer breiter angelegten Hochschulethnografie im Wintersemester 2017/2018 beforschte.2 Darauf aufbauend arbeite ich fünf methodische Besonderheiten einer Ethnografie studentischen Vereinslebens heraus und skizziere die damit verbundenen Herausforderungen und Potenziale. Zum Schluss frage ich nach dem Platz von Vereinigungen im Kontext der allgemeineren Hochschulethnografie. Bevor ich auf mein Fallbeispiel zu sprechen komme, will ich zunächst einen Überblick über die Vielfalt studentischen Engagements geben.
2 Organisation studentischen Engagements Studierende setzen sich für eine Vielzahl von Belangen ein. Manche pflegen das studentische Brauchtum, andere fördern den interkulturellen Austausch, und wieder andere kämpfen für eine nachhaltige Hochschule oder eine praxisnähere Ausbildung. Sie treffen sich in losen Zusammenkünften und Initiativen ebenso wie in akkreditierten Hochschulgruppen und eingetragenen Vereinen, in komplexen Verbands- und Verbindungsstrukturen ebenso wie in den Organen der studentischen Mitbestimmung und Selbstverwaltung. Allein die Universität zu Köln verzeichnet auf ihrer Website 124 Organisationen, darunter so unterschiedliche Vereinigungen wie die Kölner Burschenschaft Alemannia, den Entrepreneurs Club Cologne oder die Zentralasiatische Hochschulgruppe. Hinzu kommen die gesetzlich verankerten Organe und Gremien der verfassten Studierendenschaft, beispielsweise der Allgemeine Studierendenausschuss oder die einzelnen Fachschaftsräte. Studentisches Engagement hat eine lange Geschichte und ist beständig im Wandel. In ihm spiegeln sich gesellschaftliche Trends und Jugendkulturen
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Der Feldaufenthalt beim OFW fand im Rahmen meines am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung angesiedelten Dissertationsprojekts statt, das den Arbeitstitel »Hoch hinaus: Die Konstruktion von Karriereaspirationen in Wirtschaftshochschulen« trägt.
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wider, wie umgekehrt auch Studierende größere soziale Bewegungen mitbestimmen. Die praxisnahe Ausrichtung beruflich orientierter Studierendeninitiativen ist ebenso Ausdruck hochschulpolitischer Rahmungen (»employability«), wie Students for Future oder die Refugee Law Clinic Abbilder des aktuellen Zeitgeists sind. In historischer Perspektive kann von der Burschenschaftsbewegung des Vormärz (»1848«) über die westdeutsche Studentenbewegung (»1968«) bis hin zum »Lucky Streik« von 1997 oder den Bildungsprotesten von 2009/2010 eine lange Zeitreihe bewegten Studierendenengagements identifiziert werden, wobei sich neuere Debatten um Identitätspolitik und Meinungsfreiheit am aktuellen Rand einordnen ließen (vgl. Schenke 2020). Neben den großen Protestwellen lässt sich auch auf der Ebene der Hochschulgruppen eine beachtliche Bandbreite an Themen und Konjunkturen ausmachen. In einem historischen Forschungsprojekt konnten allein an der Universität Mainz mehr als 850 studentische Gruppen im Zeitraum von 1946 bis 2019 nachgewiesen werden, darunter auch solche Zeitgeistblüten wie der Club der toten Dichter, die Freaks für den Frieden oder der Studentische Arbeitskreis für staatsbürgerliche Verantwortung (Backerra/Nientiedt 2021). Dass sich nicht nur die Themen, sondern auch die Praktiken ändern, zeigt Roland Girtler (2009) am Beispiel der akademischen Deposition, die sich in veränderter Form auch heute noch in den Initiationsritualen der Studierendenverbindungen beobachten lässt, zum Beispiel in der französischen bizutage, dem amerikanischen hazing oder der deutschen Mensur. Dass bürgerschaftliches Engagement unter Studierenden weit verbreitet ist, belegt auch ein Blick in die Sozialberichterstattung. Einer Sonderauswertung des Vierten Deutschen Freiwilligensurveys zufolge war im Jahr 2014 mehr als die Hälfte der Studierenden – geschätzte 56 Prozent – freiwillig engagiert (Kausmann et al. 2017: 16). Damit liegt die Engagementbeteiligung unter Studierenden weit über dem Bevölkerungsdurchschnitt (44 %). Die zeitlichen Freiheiten eines Studiums und die niedrigschwelligen Partizipationsangebote auf dem Campus, so ließe sich schlussfolgern, scheinen also eine vergleichsweise günstige Gelegenheitsstruktur für ehrenamtliches Engagement zu bieten. Wie viele Studierende dabei im näheren Umfeld der Hochschule aktiv sind, lässt sich mangels repräsentativer Befragungen nicht genau ermitteln. Auf Grundlage der verfügbaren Daten (Fischer 2006; Salland 2016; Huth 2018) kann aber davon ausgegangen werden, dass sich ungefähr ein Drittel in-
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nerhalb und zwei Drittel außerhalb der Hochschule – in Kirchengemeinden, Sport- oder Kulturvereinen – engagieren.3 Natürlich verwenden nicht alle Studierenden gleich viel Zeit für ihr Engagement. Einer großen Gruppe von nur geringfügig Engagierten steht eine kleine Gruppe von intensiv und mitunter mehrfach engagierten Studierenden gegenüber (Kausmann et al. 2017: 22). Am häufigsten sind dabei Studierende der Sozial- und Erziehungswissenschaften engagiert; am wenigsten Studierende der Natur-, Rechts- und Wirtschaftswissenschaften (Huth 2018: 37). Erstere sind überwiegend innerhalb, letztere eher außerhalb der Hochschule engagiert. Beachtliche Unterschiede bestehen auch mit Blick auf die soziodemografischen Merkmale der Engagierten: Wer aus einem weniger privilegierten Herkunftsmilieu kommt, von finanziellen Schwierigkeiten berichtet oder ausländische Wurzeln hat, engagiert sich seltener, noch dazu unterproportional im kulturellen oder politischen Bereich (ebd.: 37ff.; Fischer 2006: 26f.). Hingegen gibt es kaum Unterschiede beim Alter und Geschlecht. Insgesamt erweist sich inneruniversitäres Engagement als egalitärer (vgl. Huth 2018: 69): Hier eröffnen sich auch Teilhabechancen für Personen, die nicht auf bestehende Strukturen im familiären oder nachbarschaftlichen Umfeld zurückgreifen können. Wie studentische Gruppen organisiert sind, hängt von den rechtlichen Rahmenbedingungen ab und unterscheidet sich daher zwischen den einzelnen Bundesländern und Hochschulen. Grundsätzlich können studentische Organisationen zwei Rechtsformen annehmen: einerseits Teilkörperschaften öffentlichen Rechts, wie sie für die Organe und Gremien der studentischen Selbstverwaltung und Mitbestimmung typisch sind, andererseits privatrechtliche Vereinigungen, wie sie in Form von Hochschulgruppen, Initiativen oder Vereinen bestehen (vgl. Loring 2019: 39ff.). An die unterschiedlichen Rechtsrahmen und Organisationsformen sind spezifische Rechte und Pflichten gebunden. Die im öffentlichen Auftrag handelnden Teilkörperschaften erhalten in der Regel deutlich mehr staatliche Zuwendungen als die privaten Vereinigungen. Umgekehrt müssen die studentischen Vertreter:innen in den (gewählten) Gremien und Organen auch höhere Verwaltungs- und Transparenz-
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In den großen Studierendenbefragungen wird studentisches Engagement nicht in seiner Breite erfasst, sondern lediglich die Beteiligung an (hochschul-)politischen Gruppen und Gremien abgefragt. Laut Dreizehntem Studierendensurvey engagieren sich aber allein schon in diesem engeren Rahmen rund fünf Prozent der Studierenden (Multrus et al. 2017: 81f.).
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auflagen erfüllen als die in dieser Hinsicht flexibleren Studierendeninitiativen. Für Hochschulgruppen und Vereine ist zudem eine wichtige Frage, ob sie von der jeweiligen Hochschule offiziell anerkannt werden. Damit können bestimmte Privilegien verbunden sein, etwa die Nutzung von Räumlichkeiten, Aushangkästen oder Hochschulservern, womöglich auch der Zugang zu Fördergeldern oder die Anrechnung des Engagements als Studienleistung. Unabhängig von der Rechtsform zeichnen sich studentische Organisationen dadurch aus, dass sie von Studierenden getragen werden und studentisch geprägt sind. Studierendenengagement gewinnt erst in studentischen Gruppen an studentischer Kontur und geht nicht im allgemeineren bürgerschaftlichen Engagement auf. Im Unterschied zu anderen Hochschulsettings geben hier die Studierenden den Ton an und müssen sich nicht den Rahmungen von Lehrenden oder Mitarbeitenden unterordnen. Neben dieser für alle Vereinigungen typischen Studierendenkultur weisen die einzelnen Initiativen auch eine charakteristische Organisationskultur auf: Studierendenzeitungen funktionieren anders als Burschenschaften, und Fachschaften wiederum anders als religiöse Hochschulgruppen. Zudem sind sie in spezifische institutionelle Netzwerke eingebunden: Die einen kooperieren mit Career Services, die anderen mit Studierendenwerken, Stipendiengebern oder dem Internationalen Büro; bei den einen stehen Unternehmen im Hintergrund, bei den anderen Kirchen, Parteien oder Gewerkschaften. Aus dieser Vielfalt möglicher Studierendenorganisationen möchte ich nun eine Vereinigung näher vorstellen: das Organisationsforum Wirtschaftskongress, eine exklusiv an der Universität zu Köln angesiedelte Vereinigung, die jedoch Parallelen zu anderen hochschulübergreifenden Studierendeninitiativen wie der Marketinginitiative MTP, der Sozialunternehmerinitiative Enactus oder Firmenkontaktmessen wie Bonding aufweist.
3 Das Organisationsforum Wirtschaftskongress (OFW): Ein ethnografisches Fallbeispiel Während des Wintersemesters 2017/2018 war ich im studentischen Kernteam des OFW engagiert und konnte somit am Innenleben dieser Gruppierung teilnehmen.4 Das Organisationsforum wurde 1984 von BWL-Studierenden an der 4
Da ich während meiner Feldforschung noch als Promotionsstudent an der Universität zu Köln eingeschrieben war, konnte ich beim OFW problemlos als studentisches Mit-
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Universität zu Köln ins Leben gerufen und veranstaltet in regelmäßigen Abständen, anfangs alle zwei Jahre, später jährlich, einen internationalen Wirtschaftskongress – den heutigen World Business Dialogue. Ursprünglich als Verein gegründet, tritt das OFW mittlerweile als gemeinnützige GmbH auf, die sich gemäß Gesellschaftsvertrag der »Berufsausbildung« von Studierenden verpflichtet fühlt. Ein entsprechender Praxisbezug soll über die Organisation und Durchführung von Veranstaltungen, aber auch durch die Kommunikation zwischen Studierenden, Wirtschaft und Politik hergestellt werden. Es gehe darum, so die Formulierung, »Charakteristika des Berufslebens und einzelner Berufe zu konkretisieren«. Diese Selbstbeschreibung korrespondiert mit meiner eigenen Beobachtung, wonach sich ein Großteil der Aktivitäten um das spielerische Einüben beruflicher Rollen dreht: um das Sich-Ausprobieren in einem geschützten Umfeld, das Sammeln erster beruflicher Erfahrungen, die Übernahme von Verantwortung, nicht zuletzt auch das Imitieren unternehmerischer Abläufe und professioneller Praktiken. Ausgang und Fluchtpunkt all dieser Aktivitäten ist der World Business Dialogue, ein Wirtschaftskongress, der in jährlichen Zyklen, von einer OFWGeneration nach der anderen, organisiert wird. Während meiner Feldforschung arbeitete das Team gerade auf den 21. Kongress hin, der unter dem Thema »The Digital Organization« vom 5. bis zum 9. März 2018 in den Räumlichkeiten der Universität zu Köln stattfinden sollte und an dem rund 300 Student:innen aus über 50 Ländern, zudem 40 Referent:innen aus Politik und Wirtschaft sowie Dutzende Unternehmen, Sponsoren und Partner teilnahmen. Im Hintergrund agierte neben dem 35-köpfigen Organisationsteam noch ein eigens rekrutiertes Hilfsteam von 100 weiteren Studierenden, eingesetzt als Betreuerinnen, Chauffeure, Kellnerinnen oder Weglotsen. Im Grunde war es ein Wirtschaftskongress von Kölner Studierenden für Studierende aus aller Welt, gesponsort von Unternehmen. So gab es neben Vorträgen und Diskussionen auch Unternehmensworkshops und Kamingespräche, eine begleitende Karriere- und Firmenkontaktmesse sowie ein buntes Rahmenprogramm, bestehend aus Stadtführungen, Museumsbesuchen, Kneipentouren und Partys. Dass die Geschichte des World Business Dialogue gemeinhin als Erfolgsgeschichte erzählt wird, liegt nicht zuletzt auch an den illustren Personen, die im Laufe der Jahre nach Köln gelockt glied anfangen. Aus forschungsethischen Gründen habe ich jedoch meine Doppelrolle von Beginn an transparent kommuniziert. Nach außen hin, etwa auf der Internetseite des OFW, wurde ich als »data scientist«, »ethnographer« und »sociologist« vorgestellt.
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werden konnten, darunter Josef Ackermann, Auma Obama, Roland Berger, Muhammad Yunus und – immer wieder gern erzählt – Bill Gates. Ich selbst war über einen Aushang im Schaukasten der Universität auf das Organisationsforum aufmerksam geworden: »Knüpfe wichtige Kontakte zu Kommilitonen und Unternehmen«, hieß es dort nebst Fotos vergangener Kongresse. Die hier buchstäblich zur Schau gestellte Ästhetik unternehmerischer Seriosität war weit von dem entfernt, was ich von meinem eigenen Engagement bei den DGB Studis, einer gewerkschaftlich orientierten Hochschulgruppe, oder dem Akrützel, einer Studierendenzeitung, gewohnt war. Um Mitglied im OFW-Kernteam zu werden, musste ich dann auch ein mehrstufiges Bewerbungsverfahren durchlaufen und mich vertraglich dazu verpflichten, die mir aufgetragenen Aufgaben »nach bestem Wissen und Gewissen unentgeltlich zu verrichten«. Schon bald erkannte ich, dass die Studierenden hier nicht nach Lust und Laune zusammenkamen, sondern eine hohe Leistungsbereitschaft an den Tag legten, mitunter auch mal 20 oder 30 Stunden pro Woche in den OFW-eigenen Büroräumen am Salierring arbeiteten. Wie ich aus meinen Gesprächen erfuhr, motivierte sie dabei vor allem die Arbeit unter Gleichgesinnten. Manche der Engagierten hatten bereits auf einem der vorherigen Kongresse ausgeholfen und stürzten sich zielgerichtet und voller Tatendrang auf die neuen Aufgaben. Anderen hingegen ging es wie mir: Sie hatten eher zufällig zum Organisationsforum gefunden – über Freundschaftsnetzwerk, Kennenlernabende oder Recruiting-Stände – und zuvor noch bei anderen Vereinigungen vorbeigeschaut, ehe sie sich zu einer Mitarbeit beim OFW entschlossen hatten. Für das OFW entschieden sie sich schließlich, weil man hier »was machen«, »was lernen« und »in einem Team aktiv« sein konnte, wobei sie sich zugleich symbolisch von den »stillen Mitgliedern« anderer Vereinigungen abgrenzten, die nur »nehmen« und »zuhören« würden. Zum Zeitpunkt meiner Feldforschung, im Wintersemester 2017/2018, engagierten sich rund 35 Studierende beim Organisationsforum. Im Durchschnitt waren sie 22 Jahre alt und studierten im fünften Hochschulsemester. Drei Viertel waren an der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät eingeschrieben, zum größten Teil im Bachelorstudiengang Betriebswirtschaftslehre. Es gab etwas mehr Männer als Frauen und bis auf fünf wohnten alle in Köln. All dies weiß ich, weil das OFW akribisch Statistik führt, nicht nur über seine Mitglieder, sondern auch über seine Einnahmen und Ausgaben, seine Akquiseerfolge und Followerzahlen, Ticketverkäufe und Sponsorenverträge. Es wurden Anwesenheitsquoten und Fluktuationsraten berechnet, es ging um Ziele und Szenarien aller Art – und über all dem standen die KPIs, die
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Key Performance Indicators, die in den wöchentlichen Teamsitzungen über die Verteilung von Lob und Tadel entschieden. Anstelle der Hochschulgruppensprecherin oder der Chefredakteurin aus meiner Studienzeit gab es hier eine Geschäftsführung, anstelle des Schatzmeisters einen Head of Finance, es gab Ressorts und Büros, Geschäftsberichte und Visitenkarten, die Teilnehmer:innen übten Elevator Pitches, motivierten sich mit Henry-Ford-Zitaten, trugen Anzüge und kollaborierten über den Messengerdienst Slack – alles erschien wie ein Unternehmen, geführt von Studierenden; und ich mittendrin, als Ethnograf im Businesshemd. Es ist genau diese unternehmerische Logik, die dem OFW seine charakteristische Organisationskultur verleiht und es von den gewerkschaftlich beziehungsweise journalistisch orientierten Vereinigungen aus meiner Studienzeit unterscheidbar macht. Zugleich lässt sich das OFW damit dem Feld der Wirtschaftswissenschaften beziehungsweise der größeren Unternehmens- und Wirtschaftswelt zuordnen. Eine Art Wahlverwandtschaft besteht insbesondere zur Fachkultur der Betriebswirtschaftslehre, deren Sprache und Denkweise das OFW während meines Aufenthaltes wie keine andere Fachkultur prägte und auch bei Engagierten anderer Studiengänge Anklang fand. Verstärkt wurde dies durch die vielfältigen Verbindungen zur Unternehmenswelt. Wo bei anderen Studierendeninitiativen Parteien, Gewerkschaften oder Kirchen als (finanzielle) Förderer im Hintergrund stehen, sind es beim OFW Unternehmen – und so war meine Ethnografie auch ein Ausflug in die Welt des Campus Recruiting und Employer Branding. Denn wer beim OFW engagiert war, organisierte nicht nur einen Wirtschaftskongress, sondern bastelte auch an der eigenen Karriere und erhoffte sich ein Praktikum bei Arbeitgebern wie McKinsey, KPMG oder Henkel. Neben den bestehenden Unternehmenskontakten konnten die »OFWler« dazu auch auf ein großes Netzwerk von mehr als 500 Ehemaligen zurückgreifen, zu denen auch die »OSCARianer« gehören, benannt nach einer 1992 ausgegründeten Unternehmensberatung, der OFW Student Consulting and Research (OSCAR) GmbH. Für die Hochschulethnografie sind studentische Vereinigungen wie das OFW aufschlussreich, da sich hier die oft zitierte, aber häufig abstrakt bleibende Statuspassage zwischen Studium und Beruf an konkreten Praktiken beobachten lässt. Am Schnittpunkt unterschiedlicher Kulturen – neben der bereits erwähnten Organisations- und Fachkultur auch der allgemeinen Studierenden- und Hochschulkultur sowie der individuellen Herkunftskultur – vollzieht sich beim OFW ein kleinteiliger Prozess der antizipatorischen Sozia-
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lisation. Während meiner Feldforschung hatte ich oft den Eindruck, dass sich die OFW-Mitglieder in einer Art liminalen Phase, zwischen dem Nicht-mehr und dem Noch-nicht befanden, irgendwo zwischen Studium und Beruf, Jeans und Anzug herumwandelten. In dieser Übergangsphase werden Studierende in die antizipierte Berufskultur eingeführt und entwerfen ihre professionelle Identität inklusive der damit verbundenen Usancen, die von der professionellen Kommunikation mit Unternehmensvertreter:innen über aussagekräftige LinkedIn-Profile bis hin zum richtigen Krawattenbinden reicht. Eine Studentin beschreibt den Lernprozess so: »Was hab ich jetzt wirklich konkret so fachlich gelernt, würd ich sagen, irgendwo so’n bisschen Professionalität, auch wenn’s irgendwie vielleicht was komisch klingt, aber (.) also vorher hab ich zum Beispiel nie mit irgendwelchen Unternehmen auch nur ’ne Mail geschrieben, weil wofür auch? […] Ich glaub, ich hab irgendwo auch so ’ne andere Sicht dazu bekommen, wie die Arbeitswelt abläuft. Also ich glaube, viele denken so am Anfang des Studiums, dass man irgendwie nur so gute Noten schreiben muss und dann läuft’s, aber halt dieses Erfahrungen machen hat halt dadurch irgendwie ’nen höheren Stellenwert bei mir bekommen.« So bodenständig diese Praktiken auf den ersten Blick erscheinen, so schwingt in ihnen doch auch immer die Verheißung jenes glamourösen Lebensstils mit, den ein Berufseinstieg bei einem der begehrten Unternehmen verspricht. Durch ihre Tätigkeit beim OFW konnten die Studierenden – und auch ich persönlich – am eigenen Leib erfahren, wie es sich anfühlt, einen ArmaniAnzug zu tragen, mit bekannten Persönlichkeiten unter vier Augen zu sprechen, einen teuren Chardonnay zu trinken, Rooftop-Partys im KölnSKY zu feiern oder einen E-Klasse-Wagen zu fahren. Im Vergleich mit anderen Studierenden haben die OFW-Mitglieder einen privilegierten Zugang zu wertvollen Netzwerken und Erfahrungen, die sie mitunter weiter anspornen und über sich hinauswachsen lassen. In meiner Forschung konnte ich etwa beobachten, wie das Selbstvertrauen und Ansehen des jüngsten Teammitglieds deutlich wuchs, nachdem er einen ehemaligen Regierungschef als Referenten für den World Business Dialogue hatte gewinnen können. Andererseits ist das OFW auch ein Raum der Begrenzung und Reproduktion sozialer Ungleichheiten, insbesondere geschlechts- und herkunftsspezifischer Ungleichheiten; aber auch die »capacity to aspire« (Appadurai 2004) ist sozial strukturiert. Nicht jeder erkennt die Chancen und Möglichkeiten, die das OFW eröffnet, und kann sie in konkrete Handlungsschritte und Strategien übersetzen. Man-
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chen fehlt es an Geld für einen guten Anzug, andere belastet ein Nebenjob, und wieder anderen fällt das Netzwerken schwer. Auch grundsätzliche Probleme mit der kulturellen Passung können ein Grund sein, warum manche schon nach wenigen Monaten das OFW verlassen – oder gekündigt werden. Für Studierende an einer der größten Universitäten in Deutschland, noch dazu in einem Massenfach wie der Betriebswirtschaftslehre, sind Vereinigungen wie das OFW ein wichtiger Ort der Vergemeinschaftung. Neben dem beruflichen Engagement ermöglichen Vereinigungen auch soziale Kontakte zu Gleichaltrigen. Hier können Studierende Freundschaften knüpfen und ein aus dem anonymen Studienalltag mitunter ungekanntes Gefühl der Zusammengehörigkeit erleben. Während meiner Feldforschung fand eine Vielzahl an sozialen Aktivitäten statt, die teils bewusst auf einen gemeinsamen »Teamspirit« abzielten, darunter Kennenlerntreffen, Teambuildingwochenenden, Tagesausflüge, Kneipentouren, Spieleabende oder Büropartys. Folgt man den Ausführungen einer OFW-Engagierten, schienen die Büroräumlichkeiten dabei eine zentrale Rolle einzunehmen: »Also ich glaube, das Allerwichtigste war einfach dieses Büro, sag ich mal. Weil wir halt so’n Bereich hatten, der nur für uns war, mitten in Köln, was halt für Leute in diesem Alter ja relativ außergewöhnlich ist – also in der Größe, sag ich mal. Wir hatten oben keine Nachbarn, unten keine Nachbarn. Wir konnten halt machen, was wir wollten. Wir hatten halt so Narrenfreiheit irgendwo. Die Eltern leben Hunderte Kilometer entfernt, und du hast halt diesen riesen Raum, kannst machen, was du willst.« Dieser große Raum wandelte sich während meiner Ethnografie beständig und wurde von Studierenden mit unterschiedlichen Bedeutungen gefüllt: Einerseits war er Arbeitsplatz und bot als Bürokulisse Raum für berufliche Imaginationen, andererseits war er auch eine Art Spielwiese für Freizeitaktivitäten und wurde für manche sogar zum zweiten Zuhause. Hier arbeitete man nicht nur zusammen, sondern kochte auch Spaghetti, feuerte einander beim Tischfußball an, spielte Monopoly, lieferte sich Wasserschlachten, feierte Karneval, ließ sich von Harry-Potter-Filmen verzaubern oder trank ein Feierabendbier. An all diese Praktiken sind neben den Menschen auch Dinge beteiligt, die ebenso wie das Büro im Großen Träger von Bedeutungen sind und Auskunft über die Kultur beim OFW geben. Anhand eines beiläufigen Snapshots aus meiner Feldforschung will ich demonstrieren, dass auch die »materielle Kultur« (Hahn 2014) für eine Ethnografie studentischen Vereinslebens aufschlussreich sein kann.
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Snapshot: Alltagsszene aus dem Inneren des OFW
Das Foto zeigt eine Szene aus den Büroräumlichkeiten des OFW, wie sie sich an einem Mittwochabend im November 2017 abspielte. Wo tagsüber noch gearbeitet wurde, wird nun gespielt: Monopoly, »das berühmte Spiel um den großen Deal«. Man bleibt also beim Thema: Wirtschaft, Geld, Schlossallee. Davon zeugen auch die Hinterlassenschaften des Tages: links der Ausdruck eines selbsterstellten Jahresabschlusses, mittig eine Ausgabe der Finanzzeitschrift €uro. Wer genau hinsieht, erkennt zudem personalisierte Ereigniskarten und Spielfiguren mit den Konterfeis der anwesenden Studierenden. Rechts steht noch eine Tasse mit der Aufschrift »The Boss«, links eine Plastikflasche Wasser und eine Dose Red Bull. Es ist eine triviale Szene, alltäglich und wenig aufregend, und doch – oder gerade deshalb– erfahren wir hier viel über die gelebte Praxis beim OFW: über das soziale Miteinander beim Gesellschaftsspiel, das geteilte Interesse an Wirtschafts- und Finanzthemen und die kulturellen Vorlieben von Heranwachsenden an einem Mittwochabend in Köln. Mein eigentliches Interesse galt aber der Frage, inwiefern hier berufliche Aspirationen geweckt werden. Aus dieser Perspektive können die herumliegenden Artefakte – die BossTasse, die Monopoly-Figuren, aber auch der ausgedruckte Jahresabschlussbericht – als »Requisiten« (Walton 1990: 21ff.) betrachtet werden, die berufliche Imaginationen evozieren und die anwesenden Wirtschaftsstudierenden in die Welt der Immobilien-Tycoons und CEOs entführen. Auf vergleichbare Weise können auch Businesshemden, mitunter die gesamte Büroarchitektur, eine imaginative Kraft entfalten und die Studierenden dabei unterstützen, sich in entsprechende Berufsbilder und -rollen hineinzuversetzen. Dass die
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beteiligten Spieler:innen noch nicht wirklich in den Vorstandsetagen angekommen sind, sondern weiterhin unter ihresgleichen weilen, lässt schließlich die niedrigpreisige Wasserflasche am linken Bildrand erahnen. So ist diese Szene auch ein Symbol für die Fragilität von Imaginationspraktiken, die sich zwischen studentischer Gegenwart und erhoffter Karriere vollziehen – sei es wie hier im Büro des OFW oder wie nebenan bei den Jungpolitiker:innen im Studierendenparlament oder in den Redaktionsräumen meiner ehemaligen Studierendenzeitung.
4 Methodische Herausforderungen und Chancen In Anbetracht der Vielfalt studentischer Organisationsformen kann es keinen ethnografischen Königsweg zum Innenleben von Vereinigungen geben. Eine ehrenamtliche Mitarbeit bei einer Studierendeninitiative, wie in meinem Falle, ist nur ein Zugang unter vielen. Denkbar sind auch andere Einfallstore, zum Beispiel ein Einzug ins Verbindungshaus, eine Kandidatur für ein hochschulpolitisches Amt oder eine Teilnahme an studentischen Protestaktionen. Ganz gleich, ob subjektiv involviert oder distanziert beobachtend – am Ende geht es darum, sich auf die Eigendynamik des studentischen Feldes einzulassen und sich den Gegebenheiten auf dem Campus situativ anzupassen. Obwohl der Methodenzwang also vom Feld und nicht von der Disziplin auszugehen hat (vgl. Amann/Hirschauer 1997: 19ff.), gilt es auch oder gerade in der Ethnografie, voneinander zu lernen und die im Feld gemachten Erfahrungen miteinander zu teilen. In diesem Geiste möchte ich im Folgenden fünf methodische Besonderheiten einer Ethnografie studentischen Vereinslebens herausarbeiten und die damit verbundenen Herausforderungen und Chancen aufzeigen. (1.) Feldzugang: Eine von allen Ethnograf:innen zu bewältigende Aufgabe ist der Zugang und Rapport zum Feld. Mit Blick auf das öffentlich zugängliche Hochschulgelände und im Wissen um die kommunikative Aufgeschlossenheit gerade junger, noch dazu freiwillig engagierter Menschen bietet das Feld studentischer Vereinigungen eine vergleichsweise günstige Ausgangsbasis für ethnografische Erkundungen. Eine besonders gute Gelegenheit zur Kontaktaufnahme eröffnen dabei die vielen öffentlichen, mitunter gar »inklusiven« Veranstaltungen und Angebote der Studierendenschaft. Darüber hinaus können auch vorhandene Kontakte aus der eigenen Lehre oder Gremi-
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enarbeit zu Feldzugängen oder Beobachtungssituationen ausgebaut werden. Denkbar sind zudem auch Zugänge in der Rolle einer vereinsnahen Person, also beispielsweise als Hochschulpfarrer, Kuratoriumsmitglied, Vertrauensdozentin oder Campus Recruiter. Um jedoch tiefer ins Vereinsleben eintauchen zu können, bedarf es ab einem gewissen Punkt der Studierendenrolle. Formell bemisst sich diese am Status der Immatrikulation; in der Praxis wird sie aber häufig anhand askriptiver Merkmale, allen voran des Alters, zuoder aberkannt. Im Vergleich mit einer jungen Doktorandin ist es für eine 50jährige Professorin also ungemein schwieriger, wenngleich nicht unmöglich (vgl. Nathan 2005), noch selbst als »Studentin« durchzugehen. Um hier Abhilfe zu schaffen, können Ethnograf:innen studentische Hilfskräfte einsetzen, die dann behelfsweise als beobachtende Teilnehmer:innen ins Feld geschickt werden. Als Einheimische sind Studierende besonders gut geeignet, um in schwer zugängliche, womöglich intime oder illegale, Bereiche studentischen Lebens vorzudringen. Dies zeigt auch ein Blick in die Literatur: Um die hookup culture an Colleges zu erforschen, setzten sowohl Jennifer Beste (2018) als auch Jennifer Hirsch und Shamus Khan (2020) eine Vielzahl an student ethnographers ein – allein Beste berichtet von 126 Personen –, die ihre feiernden Peers beim Anbandeln sexueller Beziehungen beobachteten. (2.) Fallauswahl: Eine weitere methodische Herausforderung besteht im Zuschnitt des Feldes und bei der Auswahl der zu untersuchenden Personen und Ereignisse. Während meiner eigenen Ethnografie hatte ich am meisten mit der Aufdringlichkeit, man könnte auch sagen Selbstselektion, eines bestimmten, besonders engagierten Studierendentyps zu kämpfen. Obwohl mehr als die Hälfte der Studierenden freiwillig tätig ist, engagiert sich nur eine kleine Minderheit für mehrere Stunden pro Woche, geschweige denn für zehn oder zwanzig Stunden wie die OFW-Mitglieder aus meiner Fallstudie (vgl. Kausmann et al. 2017: 16, 22). Doch es ist gerade diese Gruppe – die Gruppe der besonders Aktiven, der Lauten, der Sichtbaren –, die den meisten Platz in den Feldnotizen und Beobachtungsprotokollen der Ethnograf:innen einnimmt. Von dieser dürfen Forschende jedoch nicht auf die Allgemeinheit der Engagierten und schon gar nicht auf die Gesamtheit der Studierendenschaft schließen. Denn neben dem Studium engagiert zu sein bedeutet, Zeit zu haben, bestimmte Interessen zu verfolgen und sich womöglich als Teil einer tatsächlichen oder imaginierten Studierendenelite zu sehen. Daher gilt es auch, nach den Erfahrungen der weniger Aktiven, der Leisen und der Unsichtbaren Ausschau zu halten und damit die anderen Geschichten zu erzählen: die Ge-
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schichten über den Selbstausschluss vom Engagement, über die Doppel- oder Dreifachbelastung aus Studien-, Erwerbs- und Sorgearbeit, aber auch die Geschichten über ein erfülltes Leben außerhalb der Hochschule und abseits des Vereinswesens, etwa in einer Partnerschaft oder im Fitnessstudio. Um Zugang zu nicht-engagierten Studierenden zu bekommen, bedarf es unter Umständen ergänzender Auswahlverfahren. In meiner eigenen Ethnografie habe ich Studierende noch im Kontext anderer Settings, etwa nach Vorlesungsende oder im Bibliotheksfoyer, angesprochen sowie Interviewaufrufe auf Social Media geschaltet. (3.) Nähe und Distanz: Der ethnografischen Studierendenforschung stellt sich im besonderen Maße die Frage nach dem richtigen Verhältnis von Nähe und Distanz. Denn wer heute Studierende erforscht, saß gestern noch selbst auf der Hörsaalbank. Dabei besteht die Gefahr, dass Ethnograf:innen ihre eigene Studienerfahrung unzulässig verallgemeinern und als impliziten Bewertungsmaßstab heranziehen. Erschwerend kommt hinzu, dass das Feld Erinnerungen an die eigene Studienzeit wachrufen und damit zu weiteren Verzerrungen – etwa zu Gefühlen der Nostalgie – führen kann. Forschende sind daher gut beraten, ihre akademische und studentische Sozialisation im Sinne einer »teilnehmenden Objektivierung« (Bourdieu 2004) zu reflektieren. Neben dem Partikularen der eigenen Studienerfahrung sind dabei auch die eigene normative Haltung und der blinde Fleck der jeweiligen Disziplin in den Blick zu nehmen. Dies gilt ganz besonders für stark politisierte Formen des Engagements, zum Beispiel im Zusammenhang der aktuellen Kontroversen um Identitätspolitik und Meinungsfreiheit, aber auch für althergebrachte Vorurteile gegenüber Burschenschaften oder BWL-Studierenden. Um etwas über die eigenen (disziplinären) Vorurteile zu erfahren, empfiehlt sich ein Austausch mit unterschiedlichen Fachvertreter:innen, beispielsweise habe ich meine Ergebnisse sowohl in sozialwissenschaftlichen als auch in betriebswirtschaftlichen Kolloquien vorgestellt. (4.) Zeitlichkeit: Die semesterweise Taktung des Hochschulbetriebs ist eine feldspezifische Besonderheit, von der auch eine Ethnografie des studentischen Vereinslebens profitiert. Semester für Semester, Jahr für Jahr wiederholen sie die gleichen Szenen und Situationen beim Vorlesungsbetrieb, aber auch beim Vereinswesen: von der Suche nach freiwillig Engagierten über die Neukonstituierung des Studierendenparlaments bis hin zu den Initiationsritualen in den Burschenschaften. Da jedes Semester neue Personen
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nachkommen, besteht die Möglichkeit, die gemachten Feldeindrücke auf Grundlage anderer Studierendenkohorten kritisch zu überprüfen, mitunter auch verpasste Gelegenheiten aus dem letzten Semester nachzuholen oder noch bei anderen Vereinigungen nachzuforschen. Bei der Auswahl der Studierenden ist darauf zu achten, dass die unterschiedlichen Etappen eines Studiums – vom Bachelor bis zum Master, von den Erstsemestern bis zu den Absolventenjahrgängen – hinreichend abgedeckt sind, gegebenenfalls können einzelne Studierende auch über mehrere Semester hinweg in ihrem Engagement begleitet werden. Wie lang ein Feldaufenthalt sein sollte, hängt neben der Fragestellung auch von der Eigenzeitlichkeit der beforschten Vereinigung ab: Während beim OFW ein zweisemestriger Generationenzyklus galt, mag beim Verbindungswesen eine Studienverlaufsperspektive lohnen, um die unterschiedlichen Stufen – von den Füchsen bis zu den Alten Herren – abzubilden. (5.) Digitalität: Die Covid-19-Pandemie und die damit verbundene Veränderung des universitären Modus werfen schließlich die Frage auf, wie sich ein weitgehend oder ausschließlich digital vollziehendes Vereinsleben erkunden lässt. Grundsätzlich gilt die Devise, dass Ethnograf:innen dort zu sein haben, wo die Studierenden sind. Verlagern sich extracurriculare Aktivitäten also zunehmend in den digitalen Raum, müssen sich auch Feldforscher:innen vermehrt auf den Internetseiten der Initiativen umsehen, Social-MediaGruppen beitreten, an Videokonferenzen teilnehmen und über virtuelle Tools mit den Studierenden zusammenarbeiten. Neben der Erkundung gewohnter, aber nunmehr digitalisierter Praktiken – die wöchentliche Vereinssitzung findet nun als Videoschalte statt – ist dabei auch nach neuen Formen eines genuin digitalen Engagements Ausschau zu halten, beispielsweise nach Hashtag-Kampagnen wie #unirassismuskritisch oder #sowibleibt. Freilich hat die Digitalisierung schon lange vor der Pandemie begonnen: Bereits soziale Netzwerke wie Facebook oder StudiVZ zielten darauf ab, Elemente des Studienund Vereinslebens virtuell zu simulieren. Mark Zuckerbergs TheFacebook entsprang direkt der amerikanischen Hochschulkultur und war ursprünglich als eine Art interaktiv aufgerüstetes Collegejahrbuch gedacht, das der digitalen Vernetzung von Harvard-Studierenden dienen sollte (vgl. Tabak 2004). Heute hingegen versprechen die riesigen Datenberge dieser und anderer Plattformen, studentische Verhaltensspuren in bislang ungekanntem Ausmaß zu entdecken. Für die Ethnografie bietet sich an der Schnittstelle mit den Com-
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putational Social Sciences ein methodisch noch weitgehend ungenutztes Potenzial aus »deep reading« und »big data« (Mohr et al. 2020: 169ff.).
5 Schluss Welche Rolle spielen studentische Vereinigungen im Kontext einer breiter angelegten Hochschulethnografie? Studierendeninitiativen ergänzen die curricularen Angebote um vielfältige studentische Projekte und leisten so einen wichtigen Beitrag zum sozialen Leben der Hochschule. Indem sie Studierende unterschiedlicher Fachrichtungen und Semester zusammenbringen, schaffen sie Räume für überfachliche Begegnungen und stärken so den Zusammenhalt der Studierendenschaft. Im Unterschied zu anderen Settings – Lehrveranstaltungen, Bibliotheken oder Mensen – sind Vereinigungen genuin studentisch geprägte Orte. Hier geben die Studierenden den Ton an und müssen sich nicht den Rahmungen von Lehrenden oder Mitarbeitenden unterordnen. Wer also studentische Kultur als Teil der Hochschulkultur verstehen will, kommt am Vereinsleben nicht vorbei. Umgekehrt schärft die Hochschulethnografie den Blick für die vielfältigen Verflechtungen zwischen Studierenden, Vereinigungen und anderen Hochschuleinrichtungen. Studierendeninitiativen existieren nicht von sich heraus, sondern sind institutionell in die Infrastruktur der Hochschule eingebettet. Engagierte Studierende treffen sich nicht nur in den Räumlichkeiten der Universität, sondern sitzen auch mit anderen Statusgruppen in den Hochschulgremien oder arbeiten mit Einrichtungen wie dem Career Service, dem Internationalen Büro oder dem Gleichstellungsreferat zusammen. Durch ihr Engagement schaffen Studierende Verbindungen zwischen diesen Settings und tragen so dazu bei, Hochschule als vernetzte Struktur zu stabilisieren und mit Sinn zu füllen. Freiwilliges Engagement ist für viele Studierende ein bedeutsamer Teil ihrer Studienerfahrung und lässt die Hochschule in neuem Lichte erscheinen. Durch ihr Engagement erinnern die Studierenden die Hochschulforschung daran, dass die Hochschule mehr als ein Forschungslabor oder eine Lehranstalt ist. Aus der Sicht der Engagierten ist sie zuallererst ein sozialer und kreativer Raum, ein Ort der Ermöglichung und des Erwachsenwerdens, mitunter ein Impulsgeber für neue Ideen oder eine Kulisse für berufliche Imaginationen, für manche ist sie ein Ort des Protests oder gemeinsamen Gebets, für andere ein safe space oder ein Sprungbrett für die eigene Karriere und für
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(hoffentlich) alle der Ausgangspunkt lebenslanger Freundschaften oder romantischer Beziehungen. Und doch ist das studentische Vereinsleben im deutschsprachigen Raum weitgehend unerforscht. Dass Ethnograf:innen auch hierzulande viel zu entdecken haben und nicht erst auf das campus, dorm oder Greek life der amerikanischen Colleges schielen müssen, habe ich in diesem Beitrag zu zeigen versucht. Was sich in den Clubs und Societies, Fraternities und Sororities abspielt, findet sich – kulturell anders, aber funktional ähnlich – auch in den Hochschulgruppen, Initiativen, Vereinigungen und Verbindungen diesseits des Atlantiks wieder. Die Ethnografie muss nur nah genug herankommen und, unter Einsatz aller Sinne, bis zum Innersten vorstoßen: zum Schwertgeklirr im Corpshaus der Silingia, zum Farbenspiel im Kelleratelier der Kunstfachschaft oder zum Duft selbstgebackener Kokosmakronen in der Plätzchenbäckerei einer veganen Hochschulgruppe.
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Überschneidungen und Grenzziehungen: Dinge der Hochschule im Schnittfeld sozialer Welten Tobias Röhl
1 Einleitung Oktober 1999: Ich betrete zum ersten Mal die Mensa der kleinen Reformuniversität, an der ich mich als Erstsemester eingeschrieben habe. Es ist Mittagszeit und das Getümmel an Studierenden überwältigt mich. Für mich ist schwer zu durchschauen, wo ich mich eigentlich anstellen muss und wie das hier alles funktioniert. Ein Stand vor dem Treppenaufgang wirbt damit, dass hier »Essensmarken« verkauft werden. Es gibt Marken für das »Stammessen« und für das »Wahlessen«. Sie sind aus Metall, groß wie ein 1-Mark-Stück, in der Mitte mit einem kleinen Loch versehen und weisen sich farblich unterschieden und entsprechend bedruckt jeweils als Marken für das Stamm- (blau) oder Wahlessen (rot) aus. Ich decke mich gleich mit mehreren ein und ›bezahle‹ damit einige Zeit später mein Mittagessen. Um sie aufzubewahren, so sehe ich bei älteren Semestern, kann man die mit Loch versehenen Marken an einem Stück Schnur auffädeln – und tatsächlich tue ich dies nach einigen Tagen an der Uni ebenfalls. Später werde ich sie stolz in meinem Heimatort herumzeigen, um damit meinen neuen Status als Student einer Universität mit seinen mir bisher verborgenden Dingen auszuweisen. Diese kleine Vignette zeigt auf, wie bereits kleine, recht profane Dinge den Alltag der Hochschule bestimmen. Sie sind offensichtlich Symbole in einer mit Bedeutung aufgeladenen sozialen Welt und machen kultursoziologisch gesehen einen bedeutenden Unterschied, indem sie etwa Zugehörigkeiten ausweisen (»ältere Semester«), Statusübergänge (vom Schüler zum Studenten) sichtbar machen und als Zahlungsmittel fungieren. Diese symbolische Dimension der Dinge ist eng verwoben mit ihrem praktischen Gebrauch. Denn erst der geübte Umgang mit ihnen (etwa das Auffädeln) und nicht ihre bloße Vorhandenheit macht sie als Symbole wirksam. Das ostentative Vorzei-
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gen läuft hingegen Gefahr als plumper Distinktionsversuch des Aufsteigers oder naiven Erstsemesters wahrgenommen zu werden. Aus Sicht des Mensabetriebs vereinfachen die Essensmarken die industrielle Verpflegung großer Studierendenmassen, indem ein intervallskaliertes Zahlungsmittel (Bargeld) durch ein dichotomes (Essen bezahlt/nicht-bezahlt) ersetzt wird, was den Bezahlvorgang auf eine praktisch einfach zu vollführende Abgabe der Marke verkürzt. Der vorliegende Beitrag handelt in diesem Sinne davon, wie solche kleinen wie großen Dinge die Hochschule als soziale Welt symbolisch wie praktisch konturieren. Er greift dazu auf praxistheoretische Überlegungen und Konzepte aus den Science and Technology Studies zurück. Dinge – so wird deutlich – können die soziale Ordnung der Hochschule sowohl stützen wie irritieren. Ein besonderes Kennzeichen der universitären Dingwelten ist dabei, dass sie sich im Schnittfeld verschiedener institutioneller Arrangements befinden, die Hochschulen als hybrides Feld zwischen Lehranstalt, Behörde, Büroarbeitsplatz und Forschungsstätte kennzeichnen. Nach einer Vorstellung des Settings diskutiert der Beitrag den methodisch-konzeptionellen Zugang zu den Dingwelten der Hochschule. Darauf aufbauend zeige ich auf, inwiefern eine sozio-materielle Perspektive eine Ethnografie der Hochschule bereichern kann.
2 Vorstellung des Settings Wie andere Arbeitsplätze auch, ist die Hochschule ein Ort voller Dinge, die für sie kennzeichnend sind. Viele dieser Dinge finden sich auch an anderen Arbeitsplätzen: Büromaterialien und -möbel, Computer und anderes IT-Equipment verweisen darauf, dass Hochschulen unter anderem auch Büroarbeitsplätze sind. Ausweise und Formulare sind Dinge, die sie mit anderen Behörden teilen. Wandtafeln, Beamer, Whiteboards, Pulte und Zertifikate kennzeichnen die Hochschule als Bildungsinstitution. Und diverse wissenschaftliche Instrumente (Fragebögen, Messgeräte etc.) und Untersuchungsobjekte (Bilder, Filme, Stoffe, Proben etc.) machen deutlich, dass hier selbstredend auch genuin wissenschaftliche Praxis stattfindet, die aber gleichwohl auch an Forschungsinstitutionen außerhalb der Hochschulwelt betrieben wird. Nicht zuletzt ist die Hochschule auch Begegnungsort und Teil einer studentischjugendlichen Kultur, wie Flyer, Lautsprecherboxen, Kaffeetassen und Bierflaschen auf dem Campus verraten. Die Dingwelten der Hochschule erscheinen
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so als ein Schnittfeld verschiedener Settings und genau darin besteht die Besonderheit dieses Feldes. Sie ist vieles zugleich – umso wichtiger erscheinen Dinge nicht nur als Grenzsymbole, sondern als Teil von praktischen Grenzziehungen.
3 Zugang und methodisches Vorgehen Wie viele andere Wissenschaftler:innen auch, habe ich in meiner Laufbahn verschiedene Hochschulen als Arbeitsort kennenlernen dürfen: von der kleinen Reformuniversität zur großen Massenuniversität, von der Volluniversität bis hin zur spezialisierten Pädagogischen Hochschule. Ich greife hier einerseits auf eine mittlerweile 22-jährige Erfahrung als Hochschulmitglied in verschiedenen Rollen (Student, wissenschaftlicher Mitarbeiter, Doktorand, Postdoktorand, Professor) zurück, um autoethnografisch (Ellis et al. 2010) über die Dingwelten der Hochschule nachzudenken. Andererseits nehme ich auf bestehende Studien Bezug, die sich mal mehr, mal weniger explizit mit den Dingen der Hochschule auseinandergesetzt haben. Meine Perspektive ist dabei durch eine sozio-materielle Haltung bestimmt. Hierzu einige Worte: Material turn und »New Materialism« (Coole/ Frost 2010) haben Teile der Kultur- und Sozialwissenschaften schon längere Zeit erfasst (Kalthoff et al. 2016). Insbesondere die praxistheoretische Sozialforschung interessiert sich zunehmend für die materielle Dimension sozialer Praxis (Schäfer 2016). Dinge, Körper und Stoffe sind hier nicht lediglich nachgelagertes Addendum des Sozialen, sondern ihr konstitutiver Bestandteil. So bilden beispielsweise für Theodore R. Schatzki (2010) materielle Arrangements gemeinsam mit Praktiken den Ort des Sozialen (»sites«). Sie stellen soziale Ordnung auf Dauer, indem sie verschiedene »sites« miteinander verbinden und je spezifische Praktiken über zeitliche und räumliche Grenzen hinweg ermöglichen – etwa wenn Abermillionen Studierende in Seminarräumen überall auf der Welt auf Tafeln und Whiteboards blicken, um dort Fachwissen zu erhalten. Soziales und Materielles sind hier stets aufeinander bezogen und können nicht getrennt voneinander betrachtet werden. Eine solche sozio-materielle Haltung ist bestimmend für eine Reihe von Ansätzen, die für eine Analyse der Dingwelten der Hochschule relevant sind:
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1) Ethnografische Laborstudien (Lynch 1993; Latour/Woolgar 1986) innerhalb der Wissenschafts- und Technikforschung liefern Anhaltspunkte für die dingliche Seite der universitären Wissenschaftspraxis. Sie machen darauf aufmerksam, dass Dinge maßgeblich an der »Fabrikation von Erkenntnis« (Knorr Cetina 1984) beteiligt sind. 2) Innerhalb der qualitativen Bildungsforschung gibt es mittlerweile eine Reihe von Studien, die sich der materiellen Dimension der schulischen Bildung zugewandt haben (siehe etwa Sørensen 2009; Röhl 2013; Lange 2019). Unter Rückgriff auf die Wissenschafts- und Technikforschung zeigen sie auf, wie Dinge Wissen darstellen und verkörpern, wie die soziale Ordnung des Unterrichthaltens auf dinglichen Arrangements (etwa dem Mobiliar des Klassenzimmers) aufbaut und wie explizite wie implizite Vorstellungen zum Unterrichten bei der Herstellung von Bildungsmedien Eingang in die Dinge finden.
Von den genannten Studien kann man lernen, Dinge nicht als bloße Symbole zu verstehen, sondern als »Mittler« (Latour 2007), die einen praktischen Unterschied machen. Sie repräsentieren Wissen und soziale Ordnung nicht nur zeichenhaft, sondern verkörpern sie und machen es praktisch wirksam. Eine besondere Herausforderung besteht nun darin, dass die Dinge dabei oftmals stumm bleiben und als intransparente Blackbox nichts über ihre Funktionsweise verraten. Ethnografisch kann man diesem Umstand auf verschiedene Art und Weise gerecht werden. Ich nenne hier drei Strategien, Dinge aus einer Mittlerperspektive heraus zu betrachten (siehe hierzu ausführlich Röhl 2012): 1
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Symmetrie: Die an die Akteur-Netzwerk-Theorie (Latour 2007) angelehnte Strategie setzt darauf, Dinge methodologisch zunächst gleichwertig mit menschlichen Akteuren zu berücksichtigen. Statt also davon auszugehen, dass Menschen Dinge benutzen, können sich dem ethnografischen Blick neue Einsichten dadurch eröffnen, dass man diese Zuschreibung von Handlungsträgerschaft umkehrt. Konkret heißt dies, dass man gedankenexperimentell unterstellt, dass Dinge Menschen benutzen. So kann man besser erfassen, was Dinge praktisch leisten, etwa wenn man darüber nachdenkt, wie Wandtafeln Studierende dazu bringen, sie zu betrachten. Dinge im Gebrauch: Dinge sind nicht statische, interpretativ abgeschlossene Entitäten, sondern erhalten ihren Sinn erst und stets nur vorläufig im
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Gebrauch (Hindmarsh/Heath 2000; Hörning 2005). Es gilt dieser interpretativen Flexibilität der Dinge zu folgen. So kann ein Gegenstand im naturwissenschaftlichen Labor mal Erkenntnisobjekt, mal bloßes Werkzeug sein. Der zerbrochene Hammer: Der auf Martin Heidegger zurückgehenden, phänomenologischen Technikphilosophie zufolge (Ihde 1990; Verbeek 2005) bieten insbesondere Pannen und Störungen dankbare Zugänge zur praktischen Wirkung von Dingen. Hier müssen die Beteiligten sich einerseits wechselseitig anzeigen, was eigentlich Sache ist. Andererseits wird deutlich, was Dinge oft unbemerkt bzw. ohne, dass es zum Thema wird, leisten. Wenn etwa in einer Vorlesung das Mikrofon der Dozentin ausfällt, werden die technischen Voraussetzungen und Dimensionen des zeitgenössischen Lehrbetriebs deutlich.
4 Dingwelten der Hochschule: Medien, Taktgeber und Schreibgeräte Mit diesem methodischen und konzeptionellen Rüstzeug im Gepäck begeben wir uns nun in die Dingwelten der Hochschule. Unter den vielen Dingen der Hochschule wähle ich hier drei exemplarisch aus. Sie stehen für die eingangs skizzierten unterschiedlichen sozialen Welten, die sich an Hochschulen finden und in den Dingen überlagern bzw. sich über die Dinge überkreuzen. Kennzeichnend für universitäre Lehre sind eine Reihe von Frontalmedien (Wandtafel, Whiteboard etc.), die sich auch im schulischen Unterricht finden und Studierende und Dozierende als voneinander unterschiedene Gruppen in Bezug zueinander setzen. Verschiedene zeitliche Koordinationsmedien (Kalender und Stundenpläne) zeigen, wie die Hochschule als bürokratische Organisation Zeit für ihre Mitglieder (Mitarbeitende wie Studierende) organisiert. Die Arrangements und Dinge der Laboratorien stehen abschließend für die Hochschule als Forschungsstandort und sind vor allem auf die Erzeugung schriftlicher Repräsentation hin orientiert.
4.1 Lehr-Flächen: Wandtafeln, Whiteboards und Co Ich betrete zum ersten Mal den Seminarraum an einer Universität, an der ich eine Professur vertrete. Mit einer Mischung aus Anspannung und Vorfreude gehe ich zum Tisch an der Stirnseite des kleinen Seminarraums, in dem sich die Studierenden an Tischen
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und auf Stühlen drängen. Der Raum ist in einem 70er-Jahre-Gebäude untergebracht und hat seine besten Tage hinter sich, der Kunststoffboden ist abgewetzt und die Jalousien hängen teils schräg herunter. Ich blicke in die Runde, die Studierenden blicken erwartungsvoll zurück und stellen ihre Gespräche langsam ein. Nach einer Begrüßung will ich – wie sonst in der ersten Sitzung einer Veranstaltung auch – meinen Namen an die Tafel schreiben. Zu meinem Erstaunen ist die Fläche der Tafel mit einer Folie abgeklebt. Ich erläutere den Studierenden, dass ich normalerweise meinen Namen an die Tafel schreibe, so dass sie ihn präsent haben und sich besser merken können. Zwei Aspekte scheinen in dieser kurzen Sequenz auf. Zum einen die Gegenüberstellung von Dozierendem und Studierenden durch die Anordnung des Mobiliars, zum anderen die offenbar unhinterfragte Selbstverständlichkeit und Zentralität von Medien wie einer einfachen Wandtafel. Diesen beiden Punkten widmet sich dieser Abschnitt. Lange Zeit war die Vorlesung das vorherrschende Format der europäischen Universitäten (Fend 2005: 85). Mangels der Verfügbarkeit von Büchern und durch das Festhalten an der Autorität eines Kanons waren Vorlesungen tatsächlich solche: Eine Person liest aus einem zentralen Buch vor. Mittlerweile greift die universitäre Lehre selbstredend auf ganz ähnliche Medien und räumliche Arrangements wie der moderne Schulunterricht zurück, wo sich im 19. Jahrhundert das Modell des Zusammenunterrichts etabliert, bei dem eine Person mit einem Kollektiv in dialogischen Austausch tritt (Konrad 2007). Ein wichtiges Kennzeichen eines solchen Unterrichts ist seine »zentralperspektivische« (Göhlich 1993: 311) Ausrichtung auf die Stirnseite der Lernenden, wo sich neben der Lehrperson in aller Regel auch eine Wandtafel befindet. Mittlerweile sind andere solcher Frontalmedien hinzugekommen – und teilweise wieder verschwunden: Overheadprojektoren (Kidwell et al. 2006: 88), analoge wie digitale (interaktive) Whiteboards (Aufenanger/Bauer 2010) und Beamerpräsentationen (Schnettler/Tuma 2007; Adams 2008). Diesen zu betrachtenden »Flächen« ist gemein, dass sie in der Regel als zentrale Frontalmedien verwendet werden, denen das ganze Kollektiv Aufmerksamkeit schenken soll. Zu den Medien im Einzelnen: In der universitären Mathematik ist die Wandtafel noch im 21. Jahrhundert das unangefochtene Präsentationsmedium (Greiffenhagen 2014): In Mathematikvorlesungen füllen die Dozent:innen mehrere Wandtafeln mit Formeln und Gleichungen. Mathematikinstitute sind bekannt dafür, eine größere Anzahl an Wandtafeln zu beherbergen, sei es in Fluren, Seminarräumen, Büroräumen und sogar in Fahrstühlen
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und Toiletten. Was macht die Wandtafel so attraktiv für die Kolleg:innen aus der Mathematik? Während sie die Wandtafel beschreiben, beschreiben sie, was sie tun (»writing-talking«; Greiffenhagen 2014: 505). Der in der akademischen Mathematik so zentrale Beweis lässt sich so Schritt für Schritt an der Tafel nachvollziehen, man wird durch diesen Nachvollzug zu dessen Zeugin (Livingston 1999). Aber auch außerhalb mathematischer Institute kommt kaum ein Seminarraum ohne eine zentrale, zu beschriftende Fläche aus, seien es nun Wandtafel, Whiteboard, Flipchart oder eine Fläche für die Beamerprojektion. Derartige »screens« (Introna/Ilharco 2006) zielen auf den Sehsinn und legen eine Rezeptionshaltung des distanzierten Schauens nahe, bei dem der Rest des Körpers relativ immobil bleiben soll und unter dem Tisch »verschwindet« (zur Ruhigstellung von Schüler:innenkörpern durch das Mobiliar siehe Hnlica 2010). Denn tatsächlich sind ja Vorlesungssäle wie Seminarräume vor allem als Sitzarrangements konzipiert. Man verfolgt ein Erkenntnismodell des »scholastischen Blicks« (Bourdieu 1998: 203ff.) bzw. einer »Zuschauertheorie des Erkennens« (Dewey nach Balke 2008: 272), bei der die zu behandelnden Gegenstände als distanziertes Schauspiel betrachtet und diskursiv bearbeitet werden. Das Mobiliar der akademischen Unterrichtsräume setzt dies im Zusammenspiel mit Wandtafel und Whiteboards in situ um. Mit ihrer Verwendung als Frontalmedien erzeugen die Seminarteilnehmer:innen zwei voneinander räumlich getrennte »Regionen« (Sørensen 2009: 144ff.), die Lehrende und Lernende als voneinander unterschieden gegenüberstellen. Anders als im schulischen Unterricht oder in der Mathematikvorlesung sind insbesondere Seminare in den Geistes- und Sozialwissenschaften dadurch gekennzeichnet, dass die Dozierenden dort relativ wenig anschreiben. Umso gewichtiger erscheint das, was dennoch auf den Flächen von Tafeln und Artverwandten Eingang findet. In meinen Lehrveranstaltungen können dies Namen zentraler Autor:innen (»Lucy Suchman (1987): Plans and Situated Action«), wichtige Begriffe (»theoretical sampling«) oder die Ergebnisse studentischer Übungsaufgaben sein. Worauf zielen diese Schreibpraktiken? Sie setzen Relevanzen, heben die angeschriebenen Dinge hervor und steuern dadurch die Aufmerksamkeit der Studierenden (Röhl 2013: 93ff.). An der Tafel entsteht durch das Anschreiben und das gestische Verweisen darauf ein »phenomenal field« (Lynch/Macbeth 1998: 277), innerhalb dessen es verschiedene mit unterschiedlicher Bedeutung versehene, hierarchische Zonen gibt (Suchman 1988). Diese Zeichen von Gewicht verweisen nicht nur auf einen außerhalb der Fläche stehenden Diskurs,
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sondern rahmen sich auch wechselseitig: als Überschrift, als zentralen Schlüsselbegriff, als Erläuterung zum Text oder als zu füllende Lücken innerhalb einer Tabelle, die eine Seminardiskussion dokumentieren soll. Die Benutzung der Wandtafel oder des Whiteboards kann den Studierenden aber nicht nur signalisieren, dass hier etwas von Gewicht angeschrieben wird, sondern dass eine neue Sequenz beginnt. Mit der Zuwendung zur Wandtafel setzen die Dozierenden einen »Kontextualisierungsmarker« (»contextualization cues«, Dorr-Bremme 1990). Entsprechend nutze ich als Dozent Wandtafel, Whiteboard und zunehmend auch Beamerprojektionen gerade zu Beginn einer Lehrveranstaltung dazu, den Anfang zu markieren. Die Studierenden stellen daraufhin ihre Gespräche langsam ein und blicken von ihren Kommiliton:innen nach vorne. Es verwundert daher nicht, dass die gekonnte oder weniger gekonnte Beherrschung der Frontalmedien auch als Ausweis der Selbstsicherheit und Kompetenz der Dozierenden gilt. Schnell kann es zu peinlichen Situationen kommen, wenn etwas schiefgeht, denn es ist nie gänzlich klar, ob Technik oder Mensch versagt hat (vgl. Schnettler/Tuma 2007). Wandtafel und Co. fügen sich in die akademische Lehrpraxis also in mehrfacher Hinsicht ein. Sie dienen als Stichwortgeber eines gelehrten Diskurses in den Sozial- und Geisteswissenschaften, als Fokus des kollektiven Nachvollzugs eines mathematischen Beweises oder ganz allgemein als Wissensrepräsentation. Mit ihnen setzen die Dozierenden Relevanzen, steuern Aufmerksamkeit oder geben gar den Takt einer Lehrveranstaltung vor. All dies trifft auf ein recht traditionelles Verständnis akademischer Lehre, das sich am Modell des Zusammenunterrichts des 19. Jahrhunderts orientiert und Erkenntnis vor allem aus der schauenden Distanz praktiziert.
4.2 Taktgeber einer Organisation: Terminkalender, Studien- und Stundenpläne Kurze Zeit nach meinem Stellenantritt als Professor: Hatte ich anfangs nur sporadisch Termine festzuhalten, sind es mittlerweile so viele, dass ich den Überblick zu verlieren drohe. Oft weiß ich ohne Blick in den digitalen Kalender nicht, was am nächsten Tag ansteht, geschweige denn in der nächsten Woche. Sitzungen, Lehrveranstaltungen, Austauschgespräche und Tagungen wechseln sich laufend ab. Der Kalender gibt mir tageweise einen Takt vor und gibt auch meiner Familie Einblick in meine Verfügbarkeit jenseits des Hochschulbetriebs.
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Für Pierre Bourdieus »homo academicus« (1992) ist Zeit eine wichtige Ressource im universitären »symbolischen Klassenkampf«. Wer anderen Zeit gibt oder sie ihnen verwehrt, entscheidet so auch über Karrieren – etwa, wenn Betreuer:innen sich Zeit nehmen, ihren Doktorand:innen Rückmeldungen zu ihren Dissertationsprojekten zu geben. Dementsprechend wirkmächtig sind diejenigen Dinge, die Zeit an der Hochschule organisieren: Terminkalender, ohne deren Hilfe die Arbeit des wissenschaftlichen Personals nicht zu bewerkstelligen wäre, oder Studien- und Stundenpläne, die das Studium von Studierenden strukturieren. Terminkalender füllen sich im Laufe einer Hochschulkarriere beständig. Mit der Umstellung auf Distance Learning und Videoconferencing während der Corona-Pandemie hat sich der ohnehin dichte Takt vieler Hochschulmitarbeiter:innen weiter erhöht. Zwischen Veranstaltungen muss nun kein Gang über den Campus oder gar eine Anreise mehr eingeplant werden. Sitzungen können ohne Pause auf Sitzungen folgen. Dabei wird deutlich, dass dieser dichte, durch den Kalender vorgegebene Takt Stress erzeugt. Die durch die zurückzulegende Wegstrecke erzwungene Pause zwischen den Veranstaltungen diente als »liminale Phase« (Turner) der kognitiven Verarbeitung und Umstellung auf eine neue soziale Situation. Schon der individuelle Terminkalender hilft der Hochschule als Organisation dabei, die Arbeit ihres Personals zu koordinieren. Eine zentrale Rolle kommt deshalb verschiedenen Medien zu, die Praktiken der Organisationsmitglieder koordinieren und sie auf gemeinsame Ziele ausrichten (Beyes et al. 2019; Schubert/Röhl 2019). Mit ihrer Hilfe perpetuieren Organisationen soziale Ordnung (Schatzki 2005). Besonders deutlich wird dies an Studienund Stundenplänen. Sie sind ein Instrument kollektiver Ordnungsbildung. Wie Fahrpläne im öffentlichen Verkehr, aber auch andere »logistische Medien« (Peters 2013) verorten sie »people and activities at specific places and moments« (Urry 2007: 98). Sie synchronisieren dadurch die Zeit von Lehrenden und Lernenden und ermöglichen deren zyklisches Aufeinandertreffen, Woche für Woche. Gleichzeitig erzeugen sie die Möglichkeit zur Abweichung, der von ihnen gestifteten zeitlichen Ordnung. Mit Studien- und Stundenplänen kommt auf Studierendenseite das »Schwänzen« und auf Dozierendenseite das »Ausfallen lassen« in die Welt. Denn zeitliche Synchronisation erzeugt nicht nur Gleichzeitigkeit, sondern macht auch die Abweichung davon deutlich sichtbar. Pläne aller Art sind nicht nur Mittel der Koordination, sondern auch Instanzen normativer Präskription (Suchman 2011).
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Hochschulen unterscheiden sich im Gebrauch zeitlicher Koordinationsmedien nicht wesentlich von anderen Organisationen. Allerdings spannen sie diese Dinge für ihre spezifischen Zwecke ein, insbesondere was das Aufeinandertreffen von Mitarbeitenden und Studierenden anbelangt, was wiederum auf die Funktion der Hochschule als Lehrbetrieb hinweist. Gleichzeitig müssen die Veranstaltungsräume im Zweistundentakt geräumt und wieder besetzt werden. Mit der Bildungsexpansion und der zunehmenden Akademisierung vieler Berufsfelder gelangt ein immer größerer Anteil eines Jahrgangs an die Hochschulen und die – despektierliche – Rede von der »Massenuniversität« macht die Runde. Die Organisation Hochschule reagiert darauf, indem sie mit immer genaueren und über disziplinäre Grenzen hinweg koordinierten Studien- und Stundenplänen eine undifferenzierte Masse von zu bearbeitenden Studierenden kategorisiert und damit segregiert (zur Rolle von Kategorisierungen für Prozesse der Ex- und Inklusion siehe Bowker/ Star 2000): BA-Studierende der BWL erhalten die Einführungsvorlesung immer dienstags um 12 Uhr im neuen, großen Hörsaal; Masterstudierende in einem Seminar zur Sozialtheorie sollen sich im provisorischen Containerbau an einem Freitagnachmittag einfinden; und das naturwissenschaftliche Praktikum kann selbstredend nur im Labor stattfinden und beschäftigt die Studierenden im entsprechenden Semester tageweise.
4.3 Schreibgeräte: Labortische und Messinstrumente Endlich erhalte ich Nachricht, dass das Paket mit dem neuen Aufnahmegerät angekommen ist und bei der Pforte der Universität abgeholt werden kann. Ich nehme das Paket entgegen und eile damit zu meinem Büro, wo ich es gleich auspacke. Das Aufnahmegerät befindet sich zusammen mit mehreren Mikrofonen zur Aufnahme größerer Gruppen in einem mit Schnallen verschließbaren Metallkoffer. Dieser Koffer macht wirklich was her, wie mir in den folgenden Wochen und Monaten Kolleg:innen immer wieder spiegeln. Man kann auch als Soziologin endlich ein großes Gerät herumtragen, mit dem man Wissenschaft betreiben kann. Wenn ich den Koffer zur Aufnahme von Gruppeninterviews und -diskussionen mitnehme, erntet der Koffer neugierige Blicke von den Interviewpartner:innen. Mit einem lauten Klack kann man den Koffer öffnen und die Utensilien ostentativ auspacken. Gerät und Koffer signalisieren, dass hier Profis am Werk sind. Das aus dem Ausschnitt sprechende Minderwertigkeitsgefühl gegenüber den »harten« Naturwissenschaften verweist darauf, dass wissenschaftliche Pra-
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xis an die Verwendung von Dingen gebunden ist. Während die Soziologie oft eher unscheinbare bzw. weithin verbreitete Werkzeuge und Instrumente (Fragebögen, Notizbücher usw.) ihr eigen nennt, finden sich an den naturwissenschaftlichen Instituten zahllose Dinge, die außerhalb der Wissenschaft kaum Verwendung finden. In ihren Laboren steht eine ganze Armada von Dingen, die dabei helfen sollen, wissenschaftliches Wissen über die Welt zu erlangen. Von eher unscheinbaren Dingen wie Erlmeyerkolben, Pipetten und Klammern über kleinere Messinstrumente wie Oszillographen und Spektrometern und größeren Geräten wie DNA-Sequenziergeräten bis hin zu Großanlagen wie dem Teilchenbeschleuniger LHC (Large Halydron Collider) des CERN. Die frühen, ethnografischen Laborstudien haben sich ausgiebig mit den Instrumenten und Utensilien auf den Labortischen auseinandergesetzt (Lynch 1993; Knorr Cetina 1984; Latour/Woolgar 1986). Sie gelten dort nicht als pragmatisches Anhängsel der epistemischen Praxis, sondern als integraler Bestandteil. So gibt etwa die Anordnung der Utensilien auf einem Labortisch auch eine zeitliche Ordnung wissenschaftlicher Praxis vor (Lynch et al. 1985). Gleichwohl lassen sich »technische« von »epistemischen Dingen« (Rheinberger 2006) trennen, wobei erstere ermöglichen, letzteren fragendforschend zu begegnen. Für Bruno Latour und Steve Woolgar sind Laboratorien »inscription devices« (Latour/Woolgar 1986). Wissenschaftliche Praxis zielt auf die Produktion schriftlicher Erzeugnisse, mit denen Wissen sichtbar und mobil gemacht wird. Schritt für Schritt übersetzen Wissenschaftler:innen materielle Welt in Zeichenform. In den Laboren steht eine Reihe von Dingen, die schriftliche Zeichen und andere »Inskriptionen« ausgeben. Und auch dann, wenn nicht unmittelbar schriftliche Zeichen vorliegen, müssen auch sichtbare Reaktionen im Reagenzglas als »verkörperte Zeichen« (Knorr Cetina 1988: 92) interpretiert werden, um für den wissenschaftlichen Diskurs anschlussfähig gemacht zu werden. In einer späteren Studie hat Bruno Latour für die genannten semiotischen Prozesse den Begriff der »zirkulierenden Referenz« (1996) geprägt. Zwischen Welt und Sprache liegt kein großer, unüberwindbarer metaphysischer Graben, sondern viele kleine praktische Zwischenschritte, bei dem aus Materie zunehmend vom lokalen Kontext ablösbare mobile Formen (»immutable mobiles«) gemacht werden. Ähnliches lässt sich sicherlich auch für die Geistes- und Sozialwissenschaften behaupten. Auch sie produzieren schrittweise Zeichen und andere Formen der Repräsentation. Die Sozialwissenschaften produzieren Daten,
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welche die teils »stummen« sozialen Interaktionen, Handlungen und Haltungen in irgendeiner Form zur Sprache bringen (Hirschauer 2001): Sei es als transkribiertes Interview oder Video, als ausgefüllter Fragebogen oder statistischer Datensatz. Die Literaturwissenschaften setzen hingegen bei bereits verfassten Zeichen an und verfassen die vielbemühten »Texte über Texte« (Pohl/Pohl 1998). Auch in den ›weichen‹ Wissenschaften lassen sich entsprechende Instrumente ausmachen, die dem Ziel der Text- und Zeichenproduktion zuarbeiten: Fragebögen machen aus unausgesprochenen Haltungen quantifizierbare Größen; Aufnahmegeräte halten die Flüchtigkeit des Sozialen fest, lassen es mit der Hilfe von Transkriptionssoftware verschriftlichen und machen es damit einer auf wiederholte Betrachtung aufbauenden Analyse zugänglich (Bergmann 1985). Und erst die Technik der Schrift und später vor allem des Buchdrucks machen die hermeneutische Interpretation literarischer Produkte und damit auch den Streit um die richtige wissenschaftliche Deutung der Texte möglich (Baecker 2007). In allen Fällen stehen am Ende semiotische Erzeugnisse, die innerhalb der wissenschaftlichen Gemeinschaft und teils darüber hinaus zirkulieren können. Neben schriftlichen Erzeugnissen kommt ferner Gebäuden wie Laboratorien als materielle Form eine besondere Bedeutung zu, denn sie können wissenschaftliche Praxis, das Verhältnis der Disziplinen untereinander und ihr Verhältnis zur Lehre strukturieren (Gieryn 2002). So unterscheidet sich beispielsweise das Studium der Naturwissenschaften von der Betriebswirtschaftslehre in einer ethnografischen Studie (Nespor 1994) auch dadurch, dass letztere sich in Gebäuden aufhalten, die über den Campus verteil sind und auf Offenheit setzen, um so Vernetzung zu ermöglichen. Die Laboratorien der Naturwissenschaften isolieren hingegen ihre Insassen und verdichten den Fokus auf die Untersuchungsobjekte auch dadurch, dass sie den Campus draußen halten (Knorr Cetina 1988). Punktuell finden sich solche Formen der Isolation auch in den Geistes- und Sozialwissenschaften, etwa, wenn Teilnehmer:innen an Kolloquien und Datensessions sich in abgelegene Räume oder andere Orte in Klausur begeben, um sich voll und ganz dem Diskurs oder dem Datenmaterial zu widmen (Engert 2022). Verschiedene naturwissenschaftliche Labortypen bedingen wiederum unterschiedliche Formen des Zusammenarbeitens (Knorr Cetina 1988: 89ff.). Die Labore der Molekularbiologie zentrieren sich um Arbeitsbänke herum, auf denen unterschiedliche Dinge so arrangiert werden, dass Experimente durchgeführt werden können. Gruppenbildung findet hier über Ko-Präsenz in den Räumlichkeiten des Labors statt. In der Teilchenphysik ist das Labor hinge-
Tobias Röhl: Überschneidungen und Grenzziehungen
gen eine raumgreifende »Megamaschine« (ebd.: 89), die aus verschiedenen Bestandteilen besteht. Gruppen konstituieren sich durch die Arbeit an einzelnen Komponenten der Apparatur. Die Arbeit in den universitären Gebäuden und Räumen, so zeigen die angeführten Studien, ist durch eine Reihe dinglicher Arrangements bestimmt. Sie setzen Wissenschaftler:innen und Untersuchungsgegenstände in Beziehung zueinander und strukturieren wissenschaftliche Arbeit. Laboratorien, aber teils auch andere bauliche Formen separieren Campusleben und wissenschaftliche Praxis, um so den Fokus auf die Untersuchungsobjekte zu schärfen und eine semiotische Maschine zum Laufen zu bringen.
5 Schluss Die Dinge der Hochschule – so habe ich hier gezeigt – sind nicht bloße Symbole, sondern Teil ihrer sozialen Praxis. Dinge figurieren Praxis in den unterschiedlichen sozialen Welten der Hochschule und koordinieren Arbeit und Zusammenleben der unterschiedlichen dort versammelten Akteure. Deutlich wird so, dass Hochschulen Orte der Überkreuzung dieser unterschiedlichen sozialen Welten sind. Dinge helfen dabei Grenzen zwischen diesen unterschiedlichen Anforderungen zu ziehen und die jeweiligen Praxiskontexte relevant zu setzen: Laboratorien und ihre dinglichen Arrangements trennen technische von epistemischen Dingen und halten zugleich den Campus und das »wilde« soziale Leben draußen. Kalender und Stundenpläne erlauben es, dass Mitarbeitende und Studierende in geordneten Bahnen punktuell aufeinandertreffen und ansonsten ihre getrennten Wege gehen können. Und Ausweise, Schlüssel, Essensmarken und Badges regeln Zugänge und Berechtigungen und trennen so zwischen Hochschulangehörigen und Externen, aber auch zwischen verschiedenen Gruppen innerhalb der Hochschule. Die Dingwelten der Hochschule kennzeichnen diese Institution also einerseits als Schnittstelle durchaus gegenläufiger Welten, andererseits als Ort, an dem – auch durch die dinglichen Arrangements – »boundary work« (Gieryn 1983) betrieben werden muss, um diese Überschneidungen zu handhaben. Mit der hier diskutierten sozio-materiellen Perspektive möchte ich Dritte einladen, sich den Dingwelten der Hochschule zu widmen. Neben den wenigen, nur exemplarisch diskutierten Dingen gibt es eine Unzahl weiterer Dinge, die es zu erforschen und in Beziehung zueinander zu setzen gilt. Um hier nur einige weitere zu nennen: das Mensageschirr und Konflikte rund um sei-
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ne Abgabe, Kunst am Bau und ihre Aneignung durch Studierende und Mitarbeitende, Flyer und andere Gegenstände rund um studentische Kultur. Die Herausforderung besteht zum einen darin, teils recht unscheinbaren Dingen (Kaffeetassen, ein Stück Papier) überhaupt die Aufmerksamkeit der Forscher:in zu schenken und sie als wirkmächtige Dinge zu begreifen. Zum anderen überlagert bei vielen Dingen (insbesondere etwa bei Kunstwerken) die symbolische oft die praktische Dimension. Hier ist jeweils eine Blickverschiebung gefragt. Ich bin mir aber sicher, dass alle an einer Ethnografie der Hochschule Interessierten zu solchen befremdenden Kniffen im Umgang mit dem Vertrauten in der Lage sind.
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Diszipliniertes Denken: Lesen und Schreiben an Hochschulen Björn Krey
1 Einleitung Das, was Menschen an Hochschulen tun, hat wesentlich mit denken zu tun, aber: Wer denkt? Wie wird gedacht? Was wird gedacht? Wieso wird gedacht? Und wann und wo wird gedacht? Diesen Fragen gehe ich im Folgenden nach und mache das Denken an Hochschulen zum Gegenstand ethnografischer Forschung. Die Formulierung »das Denken« ist dabei jedoch eine ebenso grobe Vereinfachung wie die Formulierung »an Hochschulen«. Der Titel dieses Aufsatzes – Diszipliniertes Denken – verweist auf den Umstand, dass das Denken an Hochschulen ein spezifisches Denken ist, das auf zweierlei Weise diszipliniert wird: durch die Hochschule als Organisation und durch die jeweiligen Wissenschaftskulturen. Im Folgenden nehme ich diese Disziplinierung des Denkens durch Wissenschaftskulturen und die Hochschulstrukturen, an die diese gekoppelt sind, in den Blick. Dabei konzentriere ich mich auf Formen der Disziplinierung des Denkens im Lesen und Schreiben. Ich tue dies, da beides – Lesen und Schreiben – allgegenwärtige Aufgaben im wissenschaftlichen Alltag sind. Gedacht wird dort nicht nur im Lesen und Schreiben, sondern auch in Diskussionen in Gremien- und Projektsitzungen, in Seminaren und Vorlesungen, in Kolloquien und auf Tagungen, in Experimenten, Feldarbeiten oder Laboratorien. Lesen und Schreiben sind jedoch wesentliche Praktiken der Produktion, Rezeption und Zirkulation wissenschaftlichen Wissens. Gedacht wird nicht nur an Hochschulen und den dort beheimateten Wissenschaftskulturen – so, wie auch an Hochschulen und im Wissenschaftsalltag nicht nur gedacht wird. Dort wird ebenso handwerklich und mit allerlei Materialien und technischen und anderen Apparaten gearbeitet; und oft wird
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auch gar nicht gearbeitet: Hochschulen sind nicht zuletzt Orte freizeitlicher Aktivitäten, der Ablenkung und des Müßiggehens. Ebenso sind Lesen und Schreiben nicht zwangsläufig produktiv. Gelesen und geschrieben wird auf unterschiedlichste Weisen und zu unterschiedlichsten Zwecken; und ob und wie dort Wissen geschaffen und rezipiert wird und zirkuliert, ist nicht immer klar. Das Denken wird in diesen Praktiken jedoch immer wieder zum Bezugspunkt des Verhaltens, und das Lesen und Schreiben an Hochschulen ist aus diesem Grund analytisch interessant. In den nächsten Abschnitten werde ich zuerst darstellen, auf welchen Methoden und Materialien die folgenden Ausführungen beruhen. Anschließend werde ich einige Aspekte der Arbeit an Hochschulen skizzieren. Danach thematisiere ich das Denken im Lesen und im Schreiben.
2 Eine Ethnografie der Hochschule Im Fokus dieses Beitrags liegen Formen des Denkens an einer spezifischen Hochschule und in einer spezifischen Wissenschaftskultur. Die Hochschule nenne ich aus Gründen der Anonymisierung »Universität von Utopia Planitia« – diejenigen, die dort arbeiten oder studieren, bezeichnen die Hochschule auch als »UPs« oder »UtoPia«. Ich konzentriere mich im Folgenden auf das Institut für Soziologie und die, die dort forschen, lehren und studieren. Für eine Ethnografie über »das Denken an Hochschulen« ist die Soziologie analytisch instruktiv, da hier unterschiedliche Formen des Lesens und Schreibens kultiviert und tradiert werden. In einem für die beforschten Soziolog:innen wichtigen Publikationsforum – der Zeitschrift für Soziologie – unterscheiden dessen Herausgeber:innen zwischen »qualitativen« und »quantitativen Texten«, das heißt zwischen solchen, die in der qualitativen Sozialforschung zirkulieren, und solchen, die in der quantitativen Sozialforschung zirkulieren: »Während für qualitativ verfahrende Aufsätze eine große Wahlfreiheit in der methodischen Durchführung und in der Darstellung der Ergebnisse besteht, weisen sich quantitative Analysen durch eine starke Formalisierung der Verfahrensschritte aus, die auch für die Präsentation der Resultate gilt. Die mit quantitativer Empirie arbeitenden Texte gleichen sich teils bis in die Formulierung der Überschriften hinein (Einleitung, Stand der Forschung, Hypothesen, Analyse, Fazit etc.). Dies ist bei Texten mit qualitativer Empirie nicht der Fall.« Dort fallen »die Gestaltungsformen vielfältiger aus«, und es muss immer wieder neu verhandelt und beurteilt werden, ob ein Text wissenschaft-
Björn Krey: Diszipliniertes Denken
lich adäquat ist (Ayaß et al. 2014: 3). Im Folgenden mache ich diese konkreten und alltäglichen Bezugsprobleme der Arbeit in der soziologischen qualitativen Forschung zum Gegenstand der Ethnografie. Ich nutze diese Bezugsprobleme zu analytischen Zwecken, indem ich untersuche, was Soziolog:innen und Student:innen in ihrer alltäglichen Arbeit tun, um Texte als adäquate Texte einer Disziplin zu schreiben und zu lesen und sich entsprechend adäquat soziologisch denkend zu verhalten. Um dies zu tun, greife ich auf teilnehmende Beobachtungen und audiovisuelle Aufzeichnungen des wissenschaftlichen Alltags, auf Gespräche mit Forschenden, Lehrenden und Studierenden und auf Dokumente zurück (vgl. Krey 2020). Das Zusammenspiel dieser unterschiedlichen Materialien und Methoden ist aus zwei Gründen wichtig: Erstens hilft es, die jeweiligen Orientierungen und Strukturen des Denkens zu erforschen. Und zweitens trägt es dazu bei, die Hochschule zu befremden und »›kurios‹, also zum Objekt einer ebenso empirischen wie theoretischen Neugier zu machen« (Amann/ Hirschauer 1997: 9, 12). Für eine Ethnografie des Denkens an Hochschulen ist dies umso wichtiger, als es dem kultivierten Ideal entspricht, dass hier gedacht wird und es sich um geistige Arbeit handelt. Es gehört aber ebenso zur wissenschaftlichen Praxis, dass das Denken ein Problem ist: Mal ist man konzentriert und fokussiert; mal ist man müde, kommt nicht rein, wird abgelenkt; mal ist man interessiert, mal gelangweilt; mal ist man kreativ und produktiv; mal hat man keine Idee, versteht etwas nicht oder ist verzweifelt. Eine Ethnografie des Denkens darf sich nicht am Ideal geistiger Arbeit orientieren, sondern muss deren Alltag in den Blick nehmen, in dem man oft eher noch mal Kaffee kocht, saugt, ins Netz eintaucht und dies und das tut, um die geistige Arbeit zu vermeiden.
3 Reservate und Maschinen Hochschulen sind Ökologien des Denkens: physische Orte, an denen gedacht wird. In solchen Ökologien lassen sich unterschiedliche, in der Terminologie Goffmans, »Reservate« ausmachen: physische Verhaltensumgebungen, in denen sich Denkende einrichten und ausbreiten können (vgl. Goffman 1971: 29f.). Die Ups ist eine Campusuniversität. Der Campus ist ein kleiner Stadtteil für sich mit Wegen, Straßen und Gebäuden, in denen die Universitätsverwaltung, die verschiedenen Fachbereiche und Institute, Büros, Seminarräume und Vorlesungssäle, eine Zentral- und verschiedene Teilbibliotheken, Labora-
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torien, Werkstätten, Mensen, Cafés, Läden und andere Versorgungseinrichtungen und -stätten untergebracht sind. Hier und dort gibt es Grünflächen; am Rande des Campus befindet sich ein botanischer Garten. Die Denkreservate des soziologischen Forschens, Lehrens und Studierens finden sich in Bibliotheken und in Büro- und Seminarräumen. Diese Reservate ermöglichen und begrenzen das Lese- und Schreibverhalten auf je spezifische Weise. Besonders interessant sind dabei die Büros. Viele Büros gehören zur materiellen Ökologie der Ups; die Soziolog:innen und Studierenden richten sich ihre Denkreservate jedoch auch woanders ein – auf dem Campus und an anderen Orten. Letzteres, weil sie entweder keinen Büroplatz von der Ups zur Verfügung gestellt bekommen oder weil sie lieber woanders arbeiten. Die Mitarbeiter:innen des Instituts für Soziologie können sich in den Büros der Ups einreichten, die sie entweder alleine nutzen oder mit anderen teilen. Über Einzelbüros verfügen vor allem die Professor:innen und das administrative Personal. Die anderen Mitarbeiter:innen nutzen die Büros meist zu zweit. Die Büros sind Lese- und Schreibräume. An den Wänden stehen Regale für Bücher und Aktenordner, in denen Literatur, Haus- und Abschlussarbeiten, Prüfungs- und andere Unterlagen ebenso wie Skripte für eigene Texte, Datenmaterialien und andere Dokumente aufbewahrt werden. In manchen Büros finden sich nur wenige, in anderen sehr viele Bücher oder Akten. Die Zentren der Denkreservate werden von Schreib-Tischen gebildet, die vieles von dem versammeln und verbinden, was es zum Denken in der Soziologie braucht: Bücher und Aufsätze und andere Texte gedruckt, gebunden oder in losen Blattsammlungen beziehungsweise digital und in PDF oder anderen Formaten an Bildschirmen; Phänomene, Theorien und Methoden; Notizzettel und -bücher; Computer, Laptops, Mäuse, Stifte und Tastaturen; Telefone und andere Endgeräte; Flaschen und Tassen mit Getränken, Essen und Essensreste, Fotos und Figürchen und andere Dinge; auf Stühlen sitzende oder am Schreibtisch stehende Körper. Die, die keine Büros der Ups nutzen können oder lieber woanders arbeiten – dies betrifft vor allem die Student:innen –, richten sich in Arbeitszimmern, Küchen, Wohn- oder WG-Zimmern, in Bibliotheken, Cafés oder Parks oder unterwegs in Bussen und Bahnen ein. Diese Reservate ähneln nach Möglichkeit dem, was ich soeben für die Büros der Ups beschrieben habe. Im Zentrum stehen meist ein Gerät und eine Fläche zum Lesen und Schreiben; darum herum versammeln sich Ablege- und Ablagerungsorte für Textmaterialien und unterschiedlichste andere Dinge, die es für die jeweilige Arbeit braucht; und die Körper, die diese Arbeit verrichten. Das »Büro« ist in diesem Sinn
Björn Krey: Diszipliniertes Denken
ein dehnbares und flexibles Konstrukt. So sprechen manche von ihrem »Homeoffice«, aber auch davon, dass sie sich und ihr Büro »im Café einrichten«. Als Denkreservate sind Büros mal dauerhaft und stabil und mal vorübergehend und fragil eingerichtet und werden allein oder gemeinsam mit anderen bewohnt. Wo und wie die Soziolog:innen und Student:innen ihre Büros einrichten, hängt einerseits davon ab, wo und wie sie am besten arbeiten können. Einige benötigen sehr viel Ruhe und sehr viel Platz, um sich und ihre Arbeitsmaterialien ausbreiten zu können, und sitzen dann lange, still und konzentriert in ihren Reservaten. Andere benötigen sehr viel Ablenkung, aber nur wenig Platz, stehen gerne und oft auf, laufen umher, essen und trinken, googeln, verlassen ihre Reservate und suchen mitunter Kontakt zu anderen. Andererseits hängt die Büroeinrichtung auch von unterschiedlich verteilten Ressourcen im Hochschulbetrieb ab. Die unterschiedliche Ausstattung mit und Einrichtung von Büroreservaten verweist darauf, dass die Hochschule nicht nur eine materielle, sondern auch eine soziale Ökologie des Denkens ist und dabei vor allem eine formale (und hierarchisierte) Organisation des Forschens, Lehrens und des Studierens. Diese formale Organisation umfasst Fach- und Arbeitsbereiche, Professuren und Professor:innen, Institute und Mitarbeiter:innen, Seminare und Vorlesungen, Studiengänge und Student:innen, Prüfungen, Prüfungsordnungen und -ämter, ebenso wie Forschungseinrichtungen und -projekte und Förderprogramme wie Bafög, Drittmittel und Stipendien. Über die Positionierung in diese Organisationsstruktur sind und werden die Ressourcen verteilt, die das Denken ermöglichen und begrenzen – das heißt, disziplinieren. Das Büro ist der Ort, der die jeweilig konkrete wissenschaftliche Arbeit in diese formalen Strukturen der Hochschule einbindet. Es ist insofern nicht nur Reservat; es ist zudem auch, mit Deleuze und Guattari, »Maschine«: etwas, was dieses Verhalten und dabei Menschen und Dinge in umfassendere Kommunikationssysteme eines »Gesellschaftssystems« einspannt (Deleuze/ Guattari 1977: 498ff.). Das Denken findet hier in Zusammenhängen des Forschens, Lehrens und Studierens alleine und gemeinsam mit anderen statt; und da, wo das Denken in Lese- und Schreibprozesse eingelassen ist, findet es im Zusammenhang der Literatur beziehungsweise Fach- und Publikationskultur einer Wissenschaftsdisziplin statt. Das Büro ist die Maschine, die das konkrete Verhalten in diese formalen Strukturen der Arbeit einbindet. Das heißt nicht, dass dieses Verhalten immer kreativ und produktiv ist und gelingt – es kann auch dysfunktional sein und misslingen, man kann sich unter
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Druck und getrieben fühlen und als ein Rädchen, das seine Aufgabe erledigt und den Sinn der Arbeit zwar versteht, aber nicht unbedingt bejaht, und sich im Lauf der Zeit abnutzt. In den nächsten beiden Kapiteln werde ich das, was Soziolog:innen und Soziologie-Student:innen in solchen Reservaten und Maschinen wissenschaftlichen Denkens tun, genauer in den Blick nehmen. Dabei konzentriere ich mich auf Verhaltensweisen, die in der Soziologie besonders wichtig sind: auf das Lesen und Schreiben.
4 Textwissenschaft Jule, eine Studentin, bezeichnet die Soziologie als eine »Textwissenschaft, die Texte analysiert und Texte herstellt«. Sie und die anderen Student:innen müssen dabei vor allem viel lesen. So sagt Arno, ein Mitarbeiter am Institut für Soziologie an der Ups: »Soziologie ist halt auch ein sehr textlastiges Studium. Das besteht ja eigentlich fast nur aus Lesen«. Auch Arno und die anderen Mitarbeiter:innen müssen viel lesen – für Forschungsprojekte und für die Diskussion von Literatur in Seminaren. Dieses Lesen wird durch die Reservate und Maschinen der Hochschule und der Wissenschaftskultur diszipliniert. Reservate verfügen über, mit Goffman, »Partizipationsrahmenwerke« die das Leseverhalten körperlich und kommunikativ orientieren (vgl. Goffman 1981: 137). In Lesereservaten gibt es Literatur – gedruckt und lose, geheftet, geklammert oder gebunden auf Papier beziehungsweise abgebildet an einem digitalen Endgerät –; Marker, Stifte, Tastaturen und alle anderen Dinge, Geräte und Materialien, die es zum Lesen braucht; die Lesenden und ihre Körper und mitunter andere Anwesende. Zwischen diesen Dingen, Geräten, Körpern und Materialien entstehen unterschiedliche Beziehungen; es gibt jedoch eine Beziehung, die im »offiziellen Hauptfokus« steht (Goffman 1974: 201). Wie McLaughlin schreibt, ist das die »Beziehung zwischen dem Leser und dem Text«. Diese Beziehung basiert darauf, dass Lesende in der Lage sind, sich körperlich am und im Text orientieren können, und erfordert daher »eine umfassende Pädagogik. Hände und Augen müssen die Abläufe und die Logik der Praxis lernen und respektieren. Lesen sozialisiert den Körper, unterzieht ihn einer wirkmächtigen Disziplin« (McLaughlin 2015: 2, 43f.). Diese Pädagogik ist eine physische Disziplinierung durch die materielle Gestalt des Texts und die Beziehung, die Lesende mit ihren Augen und Händen zum Text herstellen.
Björn Krey: Diszipliniertes Denken
Petra, eine Doktorandin, hat »das Gefühl, dass [sie] der Text in eine Position reinzwingt« und sie »geknechtet« wird von der Schrift, die ihr bei gedruckten Texten meist zu klein ist, und von der Beziehung zwischen dem Text auf dem Schreibtisch und dem Körper auf einem Stuhl, die ihr nur wenig Bewegungsspielraum ermöglicht: »Also ich beweg mich relativ viel. Ich kann nicht so leicht stillsitzen«. Dieses Problem löst sie, indem sie ihr Lesen »verlagert vom Papier, also von der Horizontalen, praktisch auf den Bildschirm, in die Vertikale«. Petra liest Texte vor allem in digitaler Form am Bildschirm ihres Computers und scannt dafür manchmal auch ganze Bücher ein. Am Bildschirm kann sie die Abbildung des Texts verkleinern und vergrößern, sodass sie mal aus geringerer und mal aus größerer Entfernung lesen kann. So kann sie sich nach vorn und wieder zurücklehnen und mit dem Stuhl näher an den Schreibtisch heranfahren oder auf Distanz gehen. Petra liest »sehr gerne mittlerweile eigentlich daheim«. Dies hat vor allem damit zu tun, dass es sich bei Büroreservaten nicht nur um materielle, sondern auch um soziale Ökologien handelt, in der oftmals andere präsent sind. Petra teilt sich ihr Büro mit Bernd, der ebenfalls Doktorand ist. Beide sind wissenschaftliche Mitarbeiter:innen in einem Forschungsprojekt. Bernd liest entweder im Büro oder zu Hause. Die Kerneinrichtung seiner Arbeitshabitate besteht aus »Tisch, Arbeitsmaterial, Platz«; zum Lesen braucht er »eine gewisse Form der Ruhe«, die im Büro nur bedingt gegeben ist. So unterhalten sich Bernd und Petra miteinander oder mit anderen – vor Ort oder am Telefon – und verrichten ihre Arbeiten, bei denen sie mit Tastaturen tippen und Papier rascheln, husten, seufzen und sich räuspern und Bewegungs- und andere Geräusche von sich geben. Bernd hat dabei gelernt, »parallel« zu lesen und gegebenenfalls »mit einem Ohr zuzuhören«. Die »gewisse Form der Ruhe« brauchen Bernd und die anderen, da ihr Lesen ein spezifisches Lesen ist – eben eine »Textwissenschaft«. Wenn Jule sagt, dass dort »Texte analysiert« werden, dann meint sie damit eine spezifische, durch die Wissenschaft im Allgemeinen und die Soziologie und ihre Subdisziplinen im Besonderen orientierte gedankliche Haltung des Lesens. Jule etwa liest für ein Seminar, das sie als Studentin belegt hat. Sie sagt: »Ich muss das ja echt verstehen. Das ist ja kein Roman oder so.« In dieser Aussage kommt die Orientierung ihres Lesens auf und durch die Organisations- und anderen Strukturen der Ups zum Ausdruck. Das Lesen und die Diskussion des Gelesenen im Seminar sind Studienleistungen, die sie erbringen muss. Sie liest einerseits, um diese Leistungen zu erbringen; und sie liest andererseits auf eine spezifische Weise, indem sie sich um ein Verstehen des Texts bemüht.
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Sie muss ihn zwar nicht zwingend »richtig« verstehen, aber im Seminar über Lesarten diskutieren können. In Anlehnung an Collins interpretiere ich Jules Äußerungen so, dass ihr Lesen »aufgeladen« und »emotional koordiniert« wird über einen »Sinn sozialer Partizipation« (Collins 1989: 19). Die Sozialbeziehungen des Seminars disziplinieren, was Jule wie und wieso liest. Diese Aufladung und Koordination spannt ihr Lesen in das Seminar als Kommunikationssystem in der Organisationsstruktur der Ups ein. Genauso geschieht dies mit dem Lesen von Arno und seinen Kolleg:innen für die Lehre und für die Forschung. So liest Karl Texte in der Lehre unter anderem auf deren »Diskussionsrelevanz« im Seminar hin und fragt sich »immer auch ein bisschen: wird es der Text bringen?« Auch sein Lesen wird auf und durch seine Partizipation an der Seminardiskussion orientiert. Diese emotionale Aufladung und Koordination umfasst dabei zwei wichtige Aspekte: zum einen geht es um Texte als Vehikel der Ausbildung in einer Disziplin und zum anderen um die Fähigkeiten und Fertigkeiten der Lehrenden und Studierenden im Lesen und in der Diskussion des Gelesenen mit und vor anderen – es geht also um Wissen und um Status. Der erste Aspekt hat für Jule und die anderen Student:innen zur Konsequenz, dass das Lesen der Texte Teil ihrer Studienleistung ist; für Arno, Karl und die anderen Lehrenden hat er zur Konsequenz, dass die Textarbeit für Seminare Teil ihres Beschäftigungsverhältnisses an der Ups ist. Diese Arbeit umfasst neben dem Lesen unter anderem auch die Recherche und Auswahl von Texten mit »Diskussionsrelevanz«, bei der die Mitarbeiter:innen unterschiedliche analoge und digitale Such- und Speichertechnologien der Informationsinfrastruktur der Ups und von kommerziellen Anbietern nutzen. Manche Mitarbeiter:innen spannen zudem auch »Hilfswissenschaftler:innen« in die Textsuche und -speicherung ein, die so zu Teilen der Büromaschine hochschulischen Lesens werden. Als Vehikel der Ausbildung werden Texte als etwas behandelt, was Iser als »Perspektivträger« bezeichnet (Iser 1984: 61): als Literatur, in der die Perspektiven von Autor:innen, Methoden und Theorien auf Phänomene und Themen einer Disziplin formuliert werden, die im Seminar besprochen werden sollen. Diese Wahrnehmung von Texten als Perspektivträgern diszipliniert das Lesen und Diskutieren von Texten. Der zweite Aspekt bedeutet, dass, wie Marion – ebenfalls Mitarbeiterin am Institut – sagt, »eigentlich ja auch immer etwas auf dem Spiel [steht]. Man zeigt anderen, dass man etwas kann und etwas richtig macht. Und man
Björn Krey: Diszipliniertes Denken
zeigt es aber auch sich selbst.« Lesen findet für sie »nicht einfach so statt im Sinne von Wissen, sondern es findet auch in einem Verlauf und in einem Kontext statt.« Marions Äußerung verweist darauf, dass ihr Lesen eine Wissensund eine Statusarbeit in Auseinandersetzung mit einem Text und darin und darüber hinaus in einem Austausch mit sich selbst und mit anderen ist. Gelesen wird in der Wissenschaft dabei auf unterschiedlichste Weisen: es wird gesichtet, überflogen und quergelesen, es wird an- und durchgelesen, es werden einzelne Textabschnitte oder -stellen gelesen, manche Texte werden ganz und mitunter auch mehrfach gelesen; oft wird aber auch gar nicht gelesen und ohne weitere Textkenntnis Literatur gemeinsam mit anderen diskutiert oder im eigenen Schreiben zitiert (vgl. Hoffmann 2013: 105) – auf Letzteres komme ich weiter unten zurück. Marions Äußerung bezieht sich auf Leseweisen, in deren Verlauf Phasen mal mehr und mal weniger intensiver Textarbeiten in den Kontexten des Forschens, Lehrens und Studierens stattfinden. Für ihr Lesen nehmen sich die Mitarbeiter:innen und Student:innen mal mehr und mal weniger Zeit: von einigen Minuten über mehrere Stunden bis hin zu einigen Tagen oder Wochen – je nach Textgattung und -inhalten, Motiven und Zwecken des Lesens und anderen anstehenden Aufgaben. Sie lesen dabei oft nicht »am Stück«, sondern unterbrechen oder werden unterbrochen, machen Pausen, müssen anderes erledigen und setzen die Textarbeit zu einer anderen Zeit und an einem anderen Ort fort. Die Beziehung zwischen Leser:in und Text ist dabei gekennzeichnet durch Phasen der Konzentration und Phasen der Dezentrierung. In Ersteren sitzen – oder stehen oder liegen – die Lesenden meist still da oder lehnen sich vor und zurück, beugen sich über den Text, fixieren ihn mit Augen und Händen und annotieren und markieren ihn; in Letzteren gehen sie auf Abstand zum Text: schauen auf, woanders hin, recken und strecken sich, stehen auf, setzen sich hin, starren ins Leere oder fixieren etwas anderes – andere Anwesende oder ein anderes Lese- oder Schreibgerät –, führen Gespräche, essen oder trinken etwas. Diese Physis und Sozialität des Lesens lässt sich in den Reservaten des Lesens beobachten. »Das Spiel« findet aber eben wesentlich orientiert auf und durch die Maschinen wissenschaftlicher Disziplinen statt. Hier ist das Lesen auch eine kognitive und emotionale Textarbeit, die durch die Körperlichkeit und die Sozialbeziehungen des Lesens ermöglicht wird und zugleich darauf zurückwirkt. Reservate sind die materiellen und sozialen Ökologien der Leseund Schreibmaschinen; und die Lese- und Schreibmaschinen die offiziellen Hauptfoki, auf die und um die herum sich alles zentriert. In der Arbeit an
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und mit solchen Maschinen partizipieren Lesende und Schreibende an den literarischen Kommunikationssystemen wissenschaftlicher Disziplinen. Besonders deutlich wird dies beim bereits erwähnten Markieren und Annotieren von Texten. Wird Wissenschaftsliteratur gelesen, wird sie meist auch mit Markern und Stiften bearbeitet: Textstellen werden angestrichen und unterstrichen, eingekreist oder in Kästchen gefasst, mit anderen Textstellen durch Pfeile und Striche verbunden und heraus- und an den Rand geschrieben und durch eigene Formulierungen und Schriftzeichen kommentiert. Manche Lesende tun dies mit Bleistiften, die nur ganz feine und kaum sichtbare Spuren auf dem Text hinterlassen; andere tragen dichte Schichten unterschiedlichster Farben und Zeichen mit Markern und Stiften auf. Für viele funktioniert dies am besten mit Ausdrucken und Kopien auf Papier; wenn digital gelesen wird, dann meist mit Technologien, die ein solches Markieren und Annotieren ermöglichen. Markieren und Annotieren ist eine graphemische Arbeit am Text: Lesende reagieren so auf die Perspektivträger des Texts – Wort- und Satzfolgen und andere Formulierungen – mit eigenen Graphemen, die Textstellen betonen und in Marginalien reformulieren. In Anlehnung an Latour bezeichne ich das Markieren und Annotieren als »Ideographie«: als ein »In-Form-Fassen« mit graphemischen Mitteln (Latour 2014: 168). Manche dieser Ideographien sind unmittelbare Lesereaktionen wie: »Oh«, »Shit«, »!«, «?« oder »!?!«. Mitunter werden auch Blitze, Smileys und andere Grapheme annotiert. Mit anderen Ideographien involvieren sich Lesende darüber hinaus in etwas, was Karl als »Auseinandersetzung« bezeichnet: »mit dem Text und mit dem Autor und mit der Situation.« Dann schreiben Lesende Formulierungen an den Rand wie »gute Idee?«, »Ist das so?«, »naja«, »nein!«, »Wieso?« oder »witzig«; oder aber sie reformulieren das Gelesene mit eigenen Anmerkungen, Ideen und Kritiken, die an den Text anschließen oder aber weit darüber hinaus gehen. Solche Grapheme werden ihrerseits zu Perspektivträgern, die das Denken insofern disziplinieren, als sie zu Bezugsobjekten und Orientierungszentren des Leseverhaltens werden. Dieses Leseverhalten ist dabei nicht nur in die Maschine universitären Lehrens und Studierens, sondern auch in die des Forschens und Publizierens eingespannt.
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5 Publikationsbetrieb Jenseits der Arbeit für Seminare wird Wissenschaftsliteratur vor allem für das Schreiben gelesen – für das Schreiben von Haus- und Abschlussarbeiten, von Dissertations- und Habilitationsschriften, von Büchern, Aufsätzen und Sammelbandbeiträgen, von Vortragsmanuskripten für Bewerbungen oder Tagungen. Karl liest dann Texte, die ihn »ins Denken bringen« oder für Vortragsund Publikationsprojekte »triggern«. Lisa, eine Student:in, liest für ihre Abschlussarbeit und sucht »ein paar griffige Formulierungen […] für Sachen, die [sie] einfach nicht so griffig formulieren kann, oder Gedankengänge, die [sie] vielleicht auch noch dazu nehmen sollte.« Und Bernd liest für seine Doktorarbeit Literatur, die »zum Forschungsstand dazu« gehört und die er »mobilisieren« kann für die Positionierung seiner eigenen Arbeit im Diskurs und »für die eigene Analyse«. Das, was Jule als »Texte herstellen« bezeichnet – das Schreiben – wird und ist mehr und mehr der zentrale Bezugspunkt des Forschens, Lehrens und Studierens an Hochschulen. Die Soziologie ist in diesem Sinn eine »Textwissenschaft«, und sie ist zunehmend auch ein Publikationsbetrieb. Die Student:innen lernen die Disziplin vor allem über Wissenschaftspublikationen kennen; und sie müssen »Texte herstellen«, die die Lehrenden an Kriterien messen, die für die in der Disziplin als adäquat anerkannten und vorhandenen Publikationen und Publikationsarbeiten gelten. Für die Mitarbeiter:innen am Institut ist das Publizieren untrennbar mit ihren Karrierechancen und Laufbahnen an Hochschulen verbunden. Dorthin kommen sie auf unterschiedlichen Wegen; dort bleiben können sie meist nur über den Weg des Publizierens. Die meisten Mitarbeiter:innen haben befristete Arbeitsverträge von einigen Monaten bis hin zu drei oder vier Jahren Laufzeit. Allein die Professor:innen haben unbefristete Verträge, entscheiden aber über die Befristungen ihrer Mitarbeiter:innen. Werden die Verträge nicht entfristet – die Befristung ist gegenwärtig der Normalfall – bleibt den Mitarbeiter:innen nur die Chance, sich auf eine Professur an einem anderen Institut zu bewerben. Ein Kriterium, das bei der Auswahl von qualifizierten Kandidat:innen für Professuren herangezogen wird, ist die »Publikationsliste«, die daraufhin gesichtet wird, wie viele Publikationen ein:e Bewerber:in in welchen Foren und Formaten der Wissenschaftskommunikation veröffentlichen konnte. Eine andere formale Struktur des Herstellens von Texten ist die Drittmittelbeantragung, die ihrerseits über Karrierechancen und Laufbahnen an Hochschulen entscheidet. Viele Mitarbeiter:innen sind primär dafür und damit beschäftigt,
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Gelder für Forschungsprojekte bei öffentlichen und anderen Stellen zu beantragen, die dann wiederum die Beschäftigungsstrukturen bilden, innerhalb derer sie für eine befristete Zeit arbeiten können. Auch dies umfasst Textarbeiten, die das Forschungsprojekt, die eigene Qualifikation oder die Beantragung weiterer Forschungsprojekte zur Anschlussfinanzierung betreffen. Mit Latour und Woolgar geschrieben: die Hochschule wird von einem »Stamm von Lesern und Schreibern« bevölkert, der »Papierarbeit« betreibt, um das eigene Fortkommen zu sichern – durch Drittmittel und Publikationen (vgl. Latour/Woolgar 1986: 69f.) All dies diszipliniert das Denken dahingehend, dass die Wissensarbeit immer wieder in die Form beantragbarer Projekte und publizierbarer Texte gebracht werden muss. Die weiter oben beschriebenen Denkreservate sind heute weitgehend Skriptorien, das heißt Schreibräume, die eingerichtet sind, um Texte schreiben zu können. Das geht in den unterschiedlichen beschriebenen Reservaten unterschiedlich gut. Bernd etwa muss sich und seine Textarbeit dauerhaft und raumgreifend einrichten können. Die Literatur, die er für das Schreiben des Forschungsstands seiner Doktorarbeit liest, exzerpiert er am Computer in je einzelne Textdokumente, druckt diese Dokumente aus, heftet sie in Aktenordnern ab und fügt sie dann zu »Schreibrouten« zusammen. Dies sind »praktische Sortierungen« der Exzerpte des Gelesenen, die den Argumentationsbogen des Forschungsstands bilden. Die Schreibrouten legt er oft auf dem Fußboden des Büros aus, um sich einen Überblick über die Exzerpte und die Route zu verschaffen, der er im Schreiben folgen möchte. Da ihm seine praktischen Sortierungen in dem Büro an der Ups als zu raumeinnehmend vorkommen, macht er diese Schreibarbeiten in seinem Büro zuhause. Auch Petra wechselt für das Schreiben an ihrer Doktorarbeit zwischen dem Büroreservat der Ups und ihrem Homeoffice. Ihre Skriptorien hat sie sich nahezu identisch eingerichtet. Sie arbeitet vor allem am Computer und hat dort immer verschiedenste Textdokumente geöffnet: das, an dem sie schreibt; Literatur in digitaler Form, die sie zitieren möchte oder anderweitig zum Schreiben braucht; Transkripte von Beobachtungen und Interviews, die sie für ihre Doktorarbeit durchgeführt hat. Um einen Überblick über solche und andere Textdokumente zu haben, hat sie jeweils zwei große Bildschirme an ihre Computer angeschlossen, die etwas erhöht auf kleinen Schreibtischaufsätzen stehen. Ihre Unterarme legt sie beim Schreiben oft auf kleinen Kisschen ab. Auf dem Schreibtisch liegen meist mehrere Bücher und Papierdokumente; für ihre Textarbeit stellt sie sich dort zudem auch etwas zu essen und zu trinken bereit.
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Andere Skriptorien sind wesentlich mobiler und kleiner. Frauke – eine Kollegin von Bernd und Petra, die ebenfalls an einer Doktorarbeit schreibt – benötigt vor allem einen Laptop, auf dem sie Texte geöffnet hat, an denen sie liest und schreibt: ihre Doktorarbeit, Wissenschaftsliteratur, Datenmaterialien. Sie schreibt an unterschiedlichen Orten: im Büro an der Ups, in Cafés und in ihrer WG. Die meisten Student:innen arbeiten ebenfalls mit solchen mobilen und kleinen Skriptorien – in den Bibliotheken der Ups, in Buchläden und Cafés oder in ihren Zimmern zuhause. Die Auswahl von Schreibreservaten ist zum einen durch die Infrastrukturen motiviert, mit denen sie die Textarbeit unterstützen – Recherche-, Beschaffungs- und Ablagerungsmöglichkeiten für Literatur; Chancen und Risiken der Ablenkung durch Begegnungen mit anderen und Co-Working; Zugang zu Nahrungsmitteln –, und zum anderen dadurch, wie sie das Schreiben als körperliche Praxis ermöglichen und eingrenzen. Das wissenschaftliche Schreiben ist eine – in Teilen intime und fragile – körperliche und kommunikative Praxis, die mitunter stärker noch als das Lesen abhängig ist von der physischen und sozialen Verhaltensumgebung. Wie beim Lesen ist die Primärbeziehung auch hier die zwischen Körper und Text, jedoch ist dieser Text – anders als beim Lesen – beim Schreiben nur in Teilen, Fragmenten oder gar nicht vorhanden, sprich das Bezugsobjekt des Schreibverhaltens ist allenfalls vage und wird mit gelesener Literatur, anderen Texten und den eigenen Gedanken erst noch formuliert. Grésillon bezeichnet diese in unterschiedliche Räume und Zeiten eingelassene und auf unterschiedliche Materialen und Medien zurückgreifende Arbeit als »allmähliche Verfertigung von Texten beim Schreiben« (Grésillon 2012: 168f., 178f.). Diese allmähliche Verfertigung ist angewiesen auf eine körperliche und kommunikative Konzentration auf das Formulieren, das immer wieder auch von anwesenden Menschen und anderen Bezugsobjekten gestört werden kann – oder gestört werden möchte. Das Formulieren von Texten im Schreiben basiert auf einer Selbst-Disziplin, die ihrerseits eingelassen ist in die Disziplinen der Wissenschaft und der Hochschule. Wie im Lesen, so wirken auch hier Reservate und Maschinen der Textarbeit wechselseitig aufeinander ein. Die weiter oben beschriebenen Beschäftigungsverhältnisse spannen das Schreiben in die längerfristigen Temporalstrukturen von Berufsbiografien innerhalb des Kommunikationssystems der Soziologie als Wissenschaftsdisziplin ein; hinzu kommen die kurz- und mittelfristige Temporalstrukturen von Projektlaufzeiten und Abgabefristen für Qualifikationsschriften und Publikationen. Über diese Temporalstrukturen motiviert die Maschine die konkrete
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Schreibarbeit, hält sie am Laufen und begrenzt sie. Während die Gestaltung von Literatur durch die Abfolge von Kapiteln, Absätzen, Sätzen und Worten das Lesen vor- und mitstrukturiert, muss sich das Schreiben unter den Bedingungen von Publikations- und Qualifikationsmaschinen solche Strukturen erst selber schaffen. Manche Schreibende neigen zur Prokrastination und brauchen etwas Zeitdruck; andere machen sich elaborierte Pläne und richten sich Arbeitstage und -zeiten entsprechend ein. Das Intime und Fragile am wissenschaftlichen Schreiben liegt darin begründet, dass die Soziolog:innen und Soziologie-Student:innen auch hier – in Marions Worten – anderen und sich selbst zeigen, »dass man etwas kann und etwas richtig macht« und insofern immer »etwas« und auch man selbst »auf dem Spiel« steht. Die Forschungs- und Publikationsprojekte, die Marion und ihre Kolleg:innen betreiben, sind wesentlich in der qualitativen Forschung beheimatet. In dieser Subdisziplin wird das Schreiben weitgehend subjektiviert. So beschreiben etwa die bereits weiter oben zitieren Herausgeber:innen der ZfS das »Herstellen« von Texten als eine »individuelle (Kunst-)Fertigkeit der einzelnen Autoren«, die »auch in einer guten qualitativen Methodenausbildung nicht ohne weiteres vermittelt werden« kann. Die »Gestaltungsformen [fallen] vielfältiger aus, sind stärker abhängig von der individuellen Virtuosität der Verfasser – und die Chancen des Misslingens größer« (Ayaß et al. 2014: 3). Die Sorge ums Schreiben wird hier durch allgemein anerkannte und bekannte Vertreter:innen der Disziplin etabliert und tradiert – als eine, mit Foucault formuliert, »Funktion Autor«, die vom Individuum als »schöpferische Kraft« und »Ursprungsort des Schreibens« ausgeht (Foucault 1974: 20). Diese disziplinäre Subjektivierung des Schreibens hat zur Folge, dass sich Marion und die anderen selbst disziplinieren müssen – etwas, was mal mehr und mal weniger gut funktioniert. Bernd etwa kann sich sehr gut selbst disziplinieren – unter anderem mit selbst erarbeiteten Methoden, wie den weiter oben erwähnten »Schreibrouten«. Marions Schreiben ist dem entgegen weit weniger geordnet; sie schreibt in aller Regel ohne einen vorformulierten Plan. Die Subjektivierung des Schreibens durch die Disziplin wird durch die Hochschule als Reservat und Maschine des Denkens etwas aufgefangen. So bietet die Ups Schreib- und andere Kurse für Mitarbeiter:innen und Student:innen an. Manche lassen sich aber auch von Schreib-Coaches außerhalb der Uni beraten; Lesekurse und -Coaches konnte ich an der Ups nicht entdecken. Es gibt durchaus Stammesmitglieder, für die Schreiben und Lesen unproblematische und positiv aufgeladene Tätigkeiten sind und die ihre Selbstwahrnehmung sich und anderen gegenüber entsprechend perfor-
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mieren. Häufiger kommt es jedoch vor, dass die Mitarbeiter:innen und Student:innen über ihre Textarbeit etwas sagen wie: »Richtiges Lesen geht eigentlich anders« oder »Ich weiß gar nicht, wie man schreibt«. Dies trifft auch auf Frauke zu, die von sich sagt, dass sie »zu wenig« liest, »schon lange nichts mehr gelesen« hat und dass sie schreibt »was eh alle wissen«. Auch ihr Schreiben ist durch die Sozialbeziehungen wissenschaftlicher Reservate und Maschinen orientiert – durch die Arbeitsbeziehungen an der Ups und die Literatur der Disziplin. Das, was sie schreibt, bezeichnet Frauke als »Ethnografie«; sie betreibt Ethnografie, »weil man das hier so macht«. Mit »man« meint Frauke die Betreuerin ihrer Doktorarbeit – Susanne – und ihre Kolleg:innen. In die Ethnografie wurde sie zuvor als Studentin von Susanne und deren Mitarbeiter:innen an der Ups eingeführt und tauscht sich darüber nun in Kolloquien, Seminaren und Betreuungs- und anderen Gesprächen in den Büros der Ups mit Susanne, den anderen Mitarbeiter:innen und den Student:innen aus. Breidenstein und Koautoren übersetzen »Ethnografie« mit der »Kulturbeschreibung« von »Situationen, Szenen, Milieus« (Breidenstein et al. 2013: 31). Für Frauke und die anderen bedeutet der Wortteil »-grafie«, dass sie ihre Wissenschaft vor allem schreibend betreiben (vgl. Krey 2018: 92). Diese Schreibarbeit ist für Frauke immer wieder auch jenseits ihres Büros und ihres Dissertationstexts lokalisiert – im »Feld«. Dort schreibt sie handschriftliche Notizen auf oder beobachtet und befragt und fertigt nach dem Feldaufenthalt »Gedächtnisprotokolle« an. Dies macht sie mit den Schreibmaschinen ihres Büros, mit denen sie auch die handschriftlichen Notizen in digitale Textdokumente transkribiert (vgl. Krey 2018: 94f.). In anderen Worten: auch wenn das Forschen wesentlich im Feld und an anderen Orten stattfindet, so ist ihr Büro doch die zentrale Schalt- und Schnittstelle der Schreibarbeit. Mit den Feld- und Gedächtnisnotizen beginnt das Formulieren von Texten. Dabei werden Worte und Sätze begonnen, (an-)getippt und ausbuchstabiert, ausprobiert, überschrieben, hin und her geschoben, vorläufig stehengelassen oder gelöscht. Schreibende schauen dabei auf den Bildschirm, schauen umher, kreisen mit den Fingern über der Tastatur, tippen und vertippen sich, lehnen sich vor und zurück, setzen sich, stehen auf, raufen sich die Haare, Kneten die Hände, traktieren Wangen und Stirn, wippen mit den Füßen, trommeln mit den Fingern oder dergleichen (vgl. Engert/Krey 2013: 370, 372f.). Manche schreiben im Stehen oder im Gehen, oder sie diktieren etwas, um es später abzuschreiben – entweder als Entwurf für den Papierkorb oder als möglicher Teil eines Texts.
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Die Ethnografie ist eine – mit Bergmann – »kommunikative Gattung«, das heißt ein »real wirksame[s] Orientierungs- und Produktionsmuster der alltäglichen Kommunikation« (Bergmann 1987: 35f., 38). Diese alltägliche Kommunikation findet im informellen Austausch – »weil man das hier so macht« –, und auch vermittelt über Fachliteratur und darauf bezogenes Lese- und Schreibverhalten statt. Als »Orientierungs- und Produktionsmuster« spannt die Ethnografie Fraukes Schreiben in die Maschine der Soziologie ein und sub-diszipliniert es: ihr Schreiben wird zu einem Schreiben einer Ethnografie in einer Forschungsschule der qualitativen Sozialforschung. Das Denken wird dabei auf und durch zwei Bezugssysteme orientiert: dem Phänomenbereich »im Feld« und den Methoden- und Theoriediskursen der Soziologie. So finden sich in ihren Beobachtungs- und Gedächtnisprotokollen Formulierungen wie: »Dr. Hehn, Ella, Micha und Helga«, »E. sitzt mit Micha auf dem Arm«, »Dr. Hehn steht auf, weist auf den Behandlungstisch und bittet Helga, Micha dort hinzulegen«, »Helga legt Micha auf den Behandlungstisch, hat dabei die linke Hand unter M’ s Kopf«, »Hehn fixiert Micha, Micha schafft es nicht«. Hier betreibt Frauke etwas, was Rheinberger als »Spurenlegespiel« bezeichnet, in und mit dem »graphemische Repräsentationen von Forschungsobjekten angelegt werden« (Rheinberger 1992: 23, 30). Solchen Spuren folgend schreibt Frauke dann Formulierungen wie »Stuhl/ Tisch«, »Liegen/Sitzen«, »Gesprächsanordnung/Behandlungsanordnung«, »hier kodiere ich gerade sehr entlang der Achsen Symbolik, Disktinktion, Materialität … mehr Körpermechanik? Mehr Praxis? Mehr Zusammenhänge auf Gegenstandsebene? Mehr Interaktion? Mehr Handlungsträgerschaft?«, »Beschreibungssprache ANT?« Sie übersetzt die Formulierungen der ethnografischen Protokolle so sukzessive in die Theoriesprachen ihrer Disziplin (vgl. Krey 2018: 99f., 102f.). Dies geschieht auf eine tastende, ausprobierende Weise, in der Formulierungen begonnen und abgebrochen, überschrieben und verworfen werden in einer allmählichen Verfertigung des Denkens und des Texts beim Schreiben. Die Orientierungszentren, die Lesende für ihre Textarbeit nutzen und selbst anlegen, entstehen in diesem disziplinierten Denken im Schreiben. Frauke und ihr Text werden in und mit dieser methodischen und konzeptuellen Disziplinierung zu Teilen der Ethnografie-Maschine. Und beide werden zu Teilen der Maschine hochschulischer Qualifikation und wissenschaftlicher Publikation. Dies, indem Frauke sich in ihrem Schreiben daran und darauf orientiert, was sie für wen schreiben (kann). Petra drückt dies für ihre Schreibarbeit im Projekt mit Bernd und Susanne wie folgt aus:
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»In Datensitzungen kristallisieren sich Themen heraus.« Daraus lassen sich »Abstracts, Synopsen oder Themenpapiere« formulieren, die in »Kapiteln oder Textgliedern münden« können für das Schreiben der Dissertationen oder aus denen mitunter »Publikationsideen« entstehen: »Um was geht es in diesem Fall soziologisch?«, »Was ist anschlussfähig?«, »Was würde passen?« Dass das Schreiben in diesen Qualifikations- und Publikationsmaschinen nicht unproblematisch funktioniert, thematisieren die Mitarbeiter:innen immer wieder auch untereinander – auch wenn das »Spiel« an der Hochschule und in der Wissenschaft es oft erfordert, so zu tun, als ginge alles flüssig, problemlos und mit Spaß von der Hand. Dies scheint überhaupt ein wesentliches Merkmal der Denkarbeit an der Hochschule zu sein: So tun zu müssen, als sei sie eigentlich keine Arbeit.
6 Ausblick In diesem Beitrag habe ich das Denken an Hochschulen im Lesen und Schreiben (1) auf Basis unterschiedlicher ethnografischer Datenmaterialien und (2) durch Gebrauch der beiden analytischen Metaphern der »Reservate« und »Maschinen« beschrieben. In beidem stecken spezifische Erkenntnischancen der Ethnografie: Erstens ermöglicht das Zusammenführen unterschiedlicher Datenmaterialien eine Befremdung des uns als Forscher:innen allzu vertrauten Wissenschaftsbetriebs. Wir lernen unsere Hochschulen und Disziplinen so neu und anders, nämlich analytisch kennen. Zweitens ermöglicht es der Gebrauch analytischer Metaphern, die ethnografische Beschreibung konzeptuell zu reperspektivieren und so das Allgemeine im Besonderen zu sehen – hier: Hochschulen als Reservate und Maschinen, die das konkrete Verhalten einspannen in umfassendere materiale und soziale Ökologien und Kommunikations- und Organisationsstrukturen. Ethnografien der Hochschule sollten nicht einfach ein weiteres empirisches Feld bearbeiten, sondern allgemeine Soziologie betreiben und fragen, was wir über die Gesellschaft lernen können, wenn wir Hochschulen und das Verhalten dort beforschen. Ein Aspekt, der für die Wissenschaften erst noch beleuchtet werden muss, ist, wie die Schreibmaschinen des Drittmittel- und Publikationsbetriebs das Denken immer weniger an wissenschaftlichen Themen und immer mehr für wissenschaftliche Karieren disziplinieren.
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Fakultäten als Adressatinnen von Gleichstellungspolitik Eine ethnografische Fallstudie Theresa Lempp
1 Einleitung Europäische Universitäten stehen seit den letzten zwei Jahrzehnten unter erheblichem Modernisierungsdruck. An die Stelle des traditionellen Selbstverwaltungsmodells der Hochschulgovernance tritt ein durch das New Public Management inspiriertes managerielles Modell, das bei aller Unterschiedlichkeit in den institutionellen und nationalen Kontexten im Kern darin besteht, betriebswirtschaftliche Leitideen wie Wettbewerb, Effizienz und Profilierung an Hochschulen zu etablieren und diese in eine verschärfte Konkurrenz um Mittel, Prestige und Studierende zu stellen (vgl. z.B. Schimank 2005; Bogumil 2013). Im Zuge der hochschulpolitischen Reformen haben zugleich gleichstellungspolitische Ziele an Bedeutung gewonnen. Mit der Rücknahme staatlicher Regulierungen und der Verstärkung wettbewerblicher Strukturen stehen Hochschulen zunehmend auch in Konkurrenz, sich als geschlechtergerecht und international zu präsentieren, was durch bestimmte Förderprogramme wie etwa die Exzellenzinitiative kanalisiert wird (vgl. Hardenberg/ Kirsch-Auwärter 2010). Immer stärker wird Gleichstellung von den Hochschulen als zentrale Führungs- und Gestaltungsaufgabe verstanden und die Integration von Wissenschaftlerinnen, vor allem auf der Ebene der Professuren, hat sich als wichtiges Bewertungskriterium einer »exzellenten wissenschaftlichen Organisation« entwickelt (Simon 2013: 59). Auch wenn die universitäre Gleichstellungspolitik dadurch einen starken Schub bekommen hat, verweisen neuere Forschungsergebnisse darauf, dass die Umgestaltungsprozesse der Wissenschaftssysteme auch widersprüchliche Folgen hinsichtlich der Geschlechterarrangements haben: Neben einem Wandel und einer Auflö-
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sung traditioneller Geschlechterungleichheiten zeigen sich auch Beharrungssowie neue Schließungsprozesse.1 In diesem Spannungsfeld siedelte sich das Forschungsprojekt »Gendered University« an, das von 2013 bis 2017 an einer Universität in Deutschland durchgeführt wurde.2 Mithilfe von teilnehmenden Beobachtungen, Gruppendiskussionen und Analysen der amtlichen Hochschulstatistik wurde der Frage nachgegangen, wie sich die derzeitigen hochschulpolitischen Reformbestrebungen auf die Geschlechterordnungen3 an der betreffenden Universität auswirken und wo sich Barrieren gegenüber der Umsetzung von Gleichstellungsmaßnahmen lokalisieren lassen. Weiterhin sollten die verdeckten Mechanismen herausgearbeitet werden, durch die sich trotz anderslautender Zielstellungen geschlechterbezogene Ungleichheiten an Hochschulen reproduzieren. Neben der Gleichstellungspolitik standen vier exemplarische Fakultäten als Adressatinnen von Gleichstellungspolitik im Zentrum der Untersuchung. Ziel des vorliegenden Artikels ist es, die Fakultäten als heterogene Forschungsfelder mit unterschiedlichen Beobachtungssettings vorzustellen und 1
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So zeigen sich etwa ein Abbau der vertikalen Segregation in den letzten Jahrzehnten und eine stärkere Formalisierung bei der Beurteilung von Qualität und Leistung sowie eine höhere Transparenz von Rekrutierungsentscheidungen und Mittelzuweisungen, die den verdeckten Einfluss von Geschlecht zurückdrängen. Im Gegensatz dazu stehen beispielsweise Erkenntnisse, die zeigen, dass promovierte Wissenschaftlerinnen häufiger auf Teilzeitstellen und auf Verträgen mit kürzeren Laufzeiten beschäftigt sowie stärker durch zuarbeitende oder Lehrtätigkeiten belastet sind. Zudem ist die Wissenschaftskultur mit ihren gestiegenen Mobilitäts- und Internationalitätsanforderungen weiterhin an dem Idealbild eines »Vollblut- und Vollzeitwissenschaftlers« (Beaufaÿs 2003: 243) orientiert, was dazu führt, dass Männer nach wie vor für bestimmte Positionen und Aufgaben präferiert werden (vgl. z.B. Barry et al. 2010; Andresen 2012; Binner et al. 2013; Schacherl et al. 2015; Aulenbacher et al. 2015; Kreissl et al. 2015; Striedinger et al. 2016; Weber 2017; Löther/Riegraf 2017). Am Forschungsprojekt arbeiteten Katrin Pittius, Nora Krzywinski, Nadine Fischer, Katharina Tampe, Mandy Glöckner, Rebekka Smuda und Hannah Zimmermann mit, deren Forschungsarbeit und Gedanken in diesen Artikel eingeflossen sind. Für eine kritische Kommentierung danke ich Nadine Fischer. Unter dem Begriff der Geschlechterordnung werden »sowohl die Geschlechterverhältnisse als auch die Geschlechterbeziehungen einschließlich der korrespondierenden Geschlechterbilder« (Lenz/Adler 2010: 11) gefasst. Die Geschlechterordnung an Hochschulen weist trotz aller Verschiebungen in den letzten 30 Jahren weiterhin geschlechtshierarchische Elemente auf. Da diese sich fächer- und kontextspezifisch unterschiedlich ausbuchstabieren, wird hier von Geschlechterordnungen im Plural gesprochen.
Theresa Lempp: Fakultäten als Adressatinnen von Gleichstellungspolitik
Erkenntnischancen und Herausforderungen des ethnografischen Zugangs herauszuarbeiten.
2 Geschlechterordnungen in der Wissenschaft als Gegenstand ethnografischer Forschung Der Zusammenhang von Wissenschaft, Organisation und Geschlecht ist ein inzwischen weitreichend bearbeitetes Forschungsgebiet. Qualitative Untersuchungen im Themenfeld stützen sich allerdings bis auf wenige Ausnahmen (vgl. Münst 2002; Heintz et al. 2004, Erlemann 2015) vorrangig auf leitfadengestützte, biografische Interviews oder auf Expert*inneninterviews (vgl. z.B. Engler 2001; Beaufaÿs 2012; Kahlert 2013; Engels et al. 2015). Da bei der Geschlechterthematik von einer Diskrepanz zwischen diskursivem Wissen und latentem Wissen auszugehen ist (vgl. Wetterer 2008; Dölling 2005) und sich Vergeschlechtlichungsprozesse auf der Ebene von meist unreflektierten Alltagshandlungen, in körperlichen Arrangements sowie in nonverbalen Kommunikationen vollziehen, war es zentral, einen methodischen Zugang zu finden, der die Grenzen von exklusiv sprachlichen Zugängen überschreitet und einen Zugriff auf nicht diskursiv verfügbare Wissensbestandteile beziehungsweise Praxen erlaubt. Neben geschlechtertheoretischen Begründungsfiguren verweisen aber auch die in der Hochschulforschung rezipierten neo-institutionalistischen (vgl. u.a. Meyer/Rowan 1977) und organisationskulturellen Ansätze (vgl. Krzywinski 2013) auf das Erkenntnispotenzial beobachtender Verfahren im Kontext Hochschule. Unter dem Begriff der Entkopplung thematisiert der neo-institutionalistische Ansatz die Diskrepanz zwischen formaler Strukturanpassung auf der einen und tatsächlicher Veränderung der Aktivitätsstruktur von Hochschulen auf der anderen Seite. Da Organisationsstrukturen und öffentlichkeitswirksame Selbstdarstellungen keineswegs die organisationalen Routinen bestimmen, ist es notwendig, den forschenden Blick auf die vorherrschenden Alltagspraktiken zu richten. Besonders in der Hochschulreformforschung erweist es sich als wichtig, die Wirkungen von Reformbestrebungen auf der Handlungsebene zu rekonstruieren, wofür ein ethnografischer Zugang sinnvoll ist. Neuere, interpretativ ausgerichtete Ansätze der Organisationskulturforschung, die Organisationen als Kulturen untersuchen (vgl. im Überblick May 1997), etablierten bereits ethnografische Methoden innerhalb der Organisati-
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onsforschung. Die Konzeptualisierung von Universitätskultur als ein dynamisches und vieldeutiges Phänomen, das sich innerhalb verschiedener Kontexte sehr unterschiedlich präsentieren kann, setzt qualitative Erhebungs- und Auswertungsmethoden voraus. Da Kultur in diesen Ansätzen als implizites Wissen (Polanyi 1985) und unbewusste Grundlage der Verständigung und des Handelns in Organisationen gefasst wird, reichen allein narrative Verfahren nicht aus, da dieses implizite Wissen von den Mitgliedern im Feld schwer versprachlicht werden kann. Die ethnografische Herangehensweise richtete sich also auf Situationen, Interaktionen und alltägliche Praktiken, in denen Geschlecht relevant (gemacht) wurde. Um aber auch die Interpretationen und Deutungsmuster der Akteur*innen einzufangen, wurden die Beobachtungen durch Gruppendiskussionen mit Studierenden, wissenschaftlichen Mitarbeiter*innen und Professor*innen aus den betreffenden Fakultäten ergänzt. Diese waren zeitlich nachgeordnet, sodass sich Interviewende und Befragte bereits auf einen geteilten Kontext beziehen konnten (vgl. Heintz et al. 2015: 101). Im Folgenden werden die beforschten Fakultäten und Beobachtungssettings vorgestellt, das methodische Vorgehen reflektiert und zentrale Erkenntnisse und Stolpersteine, die mit der ethnografischen Perspektive verbunden waren, diskutiert.
3 Vorstellung der untersuchten Fakultäten Sampling Für das Sample wurden vier exemplarische Fakultäten ausgewählt, die die fächerspezifische und geschlechtsbezogene Vielfalt der betreffenden Universität abdeckten. Auswahlkriterien waren die Zuordnung zu jeweils einem der vier Bereiche Mathematik- und Naturwissenschaften (MATNAT), Geistesund Sozialwissenschaften (GSW), Ingenieurswissenschaften (IW) sowie Bau und Umwelt (BU), eine charakteristische Ausprägung der horizontalen und vertikalen geschlechtlichen Segregation sowie unterschiedliche Karrierewege zur Professur.4
4
Aus Anonymisierungsgründen werden hier die konkreten Fakultäten nicht genannt, sondern im Folgenden nur mit dem Kürzel der Bereiche, denen sie in der betreffenden
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Die Fakultät MATNAT weist einen sehr hohen Frauenanteil unter den Studierenden (81,1 % im WS 2015/16) und eine stark abfallende Kurve bis hin zur Ebene der Professor*innen auf (22,2 % hauptberufliche Professorinnen im Jahr 2015). Sowohl die horizontale als auch die vertikale Segregation sind hier besonders eklatant. Der Karriereweg zur Professur verläuft inneruniversitär, über den Weg in den Beruf verlassen überproportional viele Frauen den universitären Karriereweg. Auch in der Fakultät GSW ist der Frauenanteil unter den Studierenden sehr hoch (72,3 % im WS 2015/16) und nimmt mit jeder Karrierestufe ab. Die C3/W2-Professuren sind im Jahr 2015 paritätisch besetzt. Charakteristisch für die Fakultät ist ein Karriereweg, der rein inneruniversitär verläuft und hochgradig selektiv ist, da im Gegensatz zu anderen Fakultäten wenig attraktive Arbeitsplätze für Hochqualifizierte außerhalb der Universität zur Verfügung stehen. Bei der Fakultät IW zeigt sich über alle Statusgruppen ein deutlicher höherer Männeranteil, der Frauenanteil unter den Studierenden lag im WS 2015/16 bei 18,9 Prozent. Die wenigen Frauen werden jedoch vom Studienbeginn bis zur Habilitation gehalten, erst bei den Professuren fällt der Frauenanteil deutlich ab (6,4 % hauptberufliche Professorinnen im Jahr 2015). Karrierewege können inneruniversitär oder über den außeruniversitären Arbeitsmarkt verlaufen, durch den Nachwuchsmangel werden zunehmend auch Kandidat*innen aus der Industrie gewonnen. Die Fakultät BU weist eine starke geschlechtliche Binnendifferenzierung auf. Ein Fachbereich ist auf der Ebene der Professuren sehr männlich dominiert (5,9 % hauptberufliche Professorinnen im Jahr 2015), während der Anteil von männlichen und weiblichen Studierenden ausgeglichen ist. Ein anderer Fachbereich ist auf der Ebene der Studierenden weiblich dominiert (67,7 % im Jahr 2015) und weist wiederum ein ausgeglichenes Verhältnis von Frauen und Männern unter den Professuren auf. Der Karriereweg verläuft über den außeruniversitären Arbeitsmarkt, die Voraussetzung für eine Professur ist keine Habilitation, sondern erfolgreiche Leistungen im Beruf.
Universität zugeordnet sind, benannt. Die Zahlen stammen aus der amtlichen Hochschulstatistik, dem statistischen Landesamt und eigenen Berechnungen.
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Beobachtungssettings in den Fakultäten Wie stark die Beobachter*innen im Feld eingebunden waren, entschied sich erst vor Ort beziehungsweise im Forschungsverlauf und folgte keinen vorab festgelegten Regeln. Dahinter stand die Annahme, dass kulturelle Felder über eine Eigenlogik verfügen, die auch die Beobachtenden leitet. In der ethnografischen Grundhaltung kann es also nicht um »ein immer gleichartig festgelegtes Anwenden einer ›Technik‹« (Kalthoff 2003: 70) gehen, vielmehr ist im Prozess eine hohe methodische Flexibilität gefordert. Es wurde allerdings angestrebt, Beobachtungssettings auszuwählen, in denen die verschiedenen Statusgruppen (Studierende, wiss. MA, Professor*innen) vertreten waren. Am Ende entschieden die Akteur*innen der Fakultäten, welche Beobachtungssettings für die Forschung geöffnet wurden und welche nicht, sodass sich in den einzelnen Fakultäten zum Teil sehr unterschiedliche Beobachtungsmöglichkeiten ergaben. Wie Tabelle 1 zeigt, konnten in allen Fakultäten öffentliche Veranstaltungen, Lehrveranstaltungen sowie Disputationen von Studierenden und Promovierenden besucht werden. Allerdings wurde in einer Fakultät nur die Teilnahme an Vorlesungen erlaubt, wo wenig Interaktion beobachtet werden konnte. Die Teilnahme an Gremiensitzungen (wie z.B. Fakultätsoder Institutsratssitzungen, Arbeitsbesprechungen) wurden nur in drei der vier Fakultäten ermöglicht; die Teilnahme an Berufungskommissionen war in keiner der Fakultäten möglich. Die Idee, Arbeits- und Forschungssituationen zu beobachten, scheiterte zum Teil an der Kargheit individueller textbasierter Forschungsarbeit am Computer beziehungsweise an verschlossenen Zugängen. In der IW-Fakultät wurden aufgrund einer großen Skepsis gegenüber dem ethnografischen Vorgehen drei leitfadengestützte Interviews geführt. Die Beobachtungen im Rahmen des Feldzugangs wurden ebenfalls protokolliert und methodisch reflektiert.
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Tab. 1: Anzahl Beobachtungsprotokolle nach Beobachtungssettings Ausgewählte Fakultäten MATNAT
GSW
IW
BU
Feldzugang
8
5
4
4
Fakultätsbezogene öffentliche Veranstaltungen
6
9
8
9
Lehrveranstaltungen
16
12
10
25
Disputationen
2
1
5
3
Gremiensitzungen
4
7
.
3
4 Zugang und methodisches Vorgehen Der Zugang ins Feld war stark von der mehrdimensionalen strukturellen Einbettung des Forschungsprojekts als Teil des wissenschaftlichen Feldes (Forschung), aber auch als Teil der Organisationsentwicklung (strukturelle Anbindung im Aktionsfeld Gleichstellung) geprägt. Durch die Anbindung an die Universitätsleitung und die Einbettung in die Exzellenzinitiative hatte die Studie eine ungewöhnliche Rahmung, die die Forschungssituation nicht unwesentlich bestimmte: Die Anfrage, die eigene Fakultät beforschen zu lassen, kam »von ganz oben«, sodass es für die Fakultäten schwierig war, sich dem Forschungsvorhaben komplett zu verschließen, ohne als »Bremser« von Gleichstellungspolitik zu gelten. So lassen die Reaktionen in einigen Fakultäten vermuten, dass Leitungspersonen sich offenbar genötigt sahen, einer Teilnahme an der Untersuchung zuzustimmen. Dies kollidierte mit dem aus der Aktionsforschung abgeleiteten Anspruch des Projekts, die Beforschten als Subjekte in die Forschung miteinzubeziehen, um gemeinsam Veränderungsprozesse anzustoßen. Die strukturelle Anbindung in Kombination mit der Anwendung einer Beobachtungsmethode kann in Zeiten hochgradiger universitärer Veränderungsprozesse leicht den Eindruck des Kontrolliert-Werdens provozieren (vgl. Münch 2011), was weitere Abwehrreaktionen hervorrief. Nicht zuletzt war bei den Zugängen natürlich das eigentliche Forschungsthema »Geschlecht« hochgradig relevant. Die Reaktionen reichten von unbedingter Notwendigkeit und Relevanz der Geschlechterforschung, kombiniert mit Unterstützungsangeboten, bis hin zu Unwilligkeit und Aussagen, dass
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diese Forschung weder relevant noch sinnvoll sei.5 Auch das qualitative, insbesondere das ethnografische Forschungsdesign bot eine Angriffsfläche und führte in Kombination mit der Zugehörigkeit der Forscherinnen zur weiblichen Genusgruppe in den naturwissenschaftlichen Wissenskulturen immer wieder zu Zuschreibungen von Parteilichkeit und Subjektivität und damit verbunden zum Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit. Die Verunsicherung, die sich forschungspraktisch aus den Schwierigkeiten bei den verschiedenen Feldzugängen ergab, die Misserfolge, Grenzziehungen und Widerstände sind jedoch aus methodologischer Perspektive erkenntnisreich und diagnostisch zu nutzen: »Wo etwas verborgen wird, zeigt ein Feld, dass es etwas zu sehen gibt; wo man etwas falsch versteht, gibt es etwas Interessantes zu verstehen; was auf den ersten Blick als scheiternder Zugang erscheint, ist schon das erste Datum« (Breidenstein et al. 2013: 39). Der Feldzugang lehrte uns bereits vieles über die Spezifika der einzelnen Fachkulturen (vgl. Peppmeier/Wilz 2009): Wie die einzelnen Fakultäten dem Projekt und dem Methodendesign begegneten, wie hierarchiebezogen oder informell sich die ersten Kontakte gestalteten, wie die strukturelle Anbindung des Forschungsprojekts thematisiert und wie auf das im Titel des Forschungsprojektes angelegte Geschlechterthema reagiert wurde, beinhaltet bereits eine Fülle an Erkenntnissen im Hinblick darauf, wie eine Fakultät sich organisational strukturiert, welches Wissenschaftsverständnis dort vorherrscht, aber auch welche Relevanz dem Thema Geschlecht zugeschrieben wird (vgl. Lempp et al. 2018). In ähnlicher Weise wurden auch Interaktionsdynamiken zwischen Forschenden und Beforschten nicht als Störgrößen, sondern als konstitutiver Bestandteil der Datenerhebung und -interpretation betrachtet (vgl. Malli/Sackl 2015). Der erste Zugang zu den Fakultäten erfolgte durch die Kontaktierung von Leitungspersonen, die durch Vorrecherchen oder im Kontext der strukturellen Hierarchien als wichtige Gatekeeper identifiziert wurden. Die E-Mail enthielt neben der Bitte um ein persönliches Gespräch eine Projektskizze, die
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Auf anderer Ebene zeigten sich Skepsis beziehungsweise Ängste im Hinblick auf die Realisierbarkeit der Datenanonymisierung. Insbesondere in höheren Hierarchiestufen ist aufgrund der geringen Frauenanteile die Anonymität der Daten tatsächlich sehr schwer umzusetzen. Auch aus diesen Gründen wird in Publikationen auf die Nennung der Fakultäten verzichtet, um eine größere Anonymität zu gewährleisten. Das Problem bei der Kommunikation der Ergebnisse in die Organisation hinein blieb jedoch bestehen.
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kurze und alltagssprachliche Informationen über das Forschungsvorhaben, die methodischen Zugänge, die Forschungsfragen sowie die Zusicherung der Anonymität beinhaltete. In den folgenden Anbahnungsgesprächen und Projektpräsentationen in verschiedenen Gremien wurde von einer Projektmitarbeiterin das Anliegen nochmals kurz vorgestellt, die Mitwirkungsbereitschaft ausgelotet und das weitere Vorgehen besprochen. Im Sinne einer multimethodischen Forschungsstrategie entstand so über die Zeit variantenreiches Datenmaterial. Im Forschungsprojekt wurden folgende ethnografischen Datengewinnungsstrategien genutzt: • •
• •
Teilnehmende Beobachtungen: Beobachtung sozialer Situationen im Feld Ethnografische Interviews als informelle Gespräche, die sich zufällig ergaben. Dazu zählten auch Auskünfte und Erzählungen als Ergänzung zu den eigenen Beobachtungen oder über Vorgänge, an denen der/die Ethnograf*in nicht teilnehmen durfte. Dokumente und andere Artefakte des beobachteten wissenschaftlichen Feldes Vereinbarte leitfadengestützte Interviews6
Die Verschriftlichung der teilnehmenden Beobachtungen erfolgte in einem ersten Schritt in Form von field notes. Dies umfasst das selektive Notieren beziehungsweise Versprachlichen von Eindrücken, Abläufen, Äußerungen oder Anordnungen mittels Stift und Notizblock. Während beispielsweise bei Interviews oder Gruppendiskussionen Darstellungen bereits im Medium der Sprache erhoben werden, muss der/die Beobachter*in den Beobachtungsgegenstand erst einmal in das Medium der Sprache übersetzen. Nicht versprachlichte Aspekte wie materielle Settings, wortlose Alltagspraktiken, stumme Arbeitsvollzüge müssen dabei sprachlich verflüssigt werden (vgl. Hirschauer 2001: 437). Die field notes wurden am Schreibtisch in Protokolle transformiert; für jede teilnehmende Beobachtung wurde ein Beobachtungsprotokoll angefertigt. Beim Protokollieren entstandene Ideen wurden in Form von analytical notes festgehalten. Die Protokolle halten die soziale Wirklichkeit »nicht in einer methodischen ›Eins-zu-Eins-Aufnahme‹ der Situationen [fest] […],
6
Die leitfadengestützten Interviews dauerten zwischen 60 und 90 Minuten. Sie wurden digital aufgezeichnet, transkribiert und anschließend anonymisiert. Als Erhebungsinstrument fungierte ein Leitfaden, welcher an jenen der Gruppendiskussionen angelehnt wurde.
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sondern als Ausbreitungen und Verkürzungen von Beobachtungen in Sprache« (Sander 2009: 50). Allen ethnografischen Beschreibungen sind damit von vornherein Selektivität, Perspektivität und Interpretativität eingespeist (vgl. Breidenstein et al. 2013).
5 Erkenntnischancen und Herausforderungen Fakultäten als heterogene Kontexte – Entdeckungen und Verdeckungen Wie bereits in Kapitel 3 angedeutet, realisierte sich der Zugang und die Möglichkeiten, relevante Daten zu generieren in den verschiedenen Fakultäten sehr unterschiedlich, was zu einem permanenten Ringen um die Vergleichbarkeit der Daten führte. Der Einbezug in kleinere diskussionsreiche Seminargruppen oder Arbeitsbesprechungen und die sich daraus entwickelnde Responsivität in den Fakultäten MATNAT und GSW bot andere Möglichkeiten als die Anonymität großer Hörsäle in der Fakultät IW, in der 300 Studierende schweigend den Ausführungen eines Professors folgten. Das geschäftige kollaborative Arbeiten an Modellen in den weitläufigen Arbeitsräumen der Fakultät BU inklusive gegenseitiger Feedbackrunden bot hingegen einen geeigneten Schauplatz für das Beobachten disziplinärer Praktiken und ermöglichte begleitende Gespräche, ohne zu stark zu intervenieren. Der ethnografische Forschungsstil, sich dem vom Feld auferlegten Zwängen und Angemessenheitsregeln anzupassen, bot den Vorteil, geradewegs in die Verästelungen der Wissenschaft hineinzuführen, die eben kein homogenes Gebilde darstellt, sondern durch eine Vielzahl disziplinärer Kulturen geprägt ist, die sich wiederum in ihrer Arbeitsorganisation, den hierarchischen Strukturen und Kommunikationsformen, aber auch in ihren Wissenskulturen und ihrem Geschlechterwissen drastisch unterscheiden. Aufgrund des theoretischen Samplings bildeten die Fakultäten die organisationalen Einheiten, innerhalb derer wir gemeinsame fachkulturelle Charakteristika im Kontrast zu den anderen gewählten Einheiten konstruierten. Es zeigte sich aber, dass auch innerhalb dieser fachkulturellen Konstrukte Differenzen und Widersprüche bestehen, sich in den Fakultäten unterschiedliche »communities of practice« (Wenger 1998) ausgebildet hatten, die eigene Arbeitsformen und Forschungsstile pflegen bis hin zu einzelnen Lehrstühlen, die als »Biotope« bezeichnet wurden und die in ihrer Heterogenität die Kontexte bilden, in
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denen Geschlecht relevant gemacht und sozial folgenreich wird – oder auch nicht. Der ethnografische Zugang machte diese Unterschiedlichkeit bereits beim Feldzugang, aber auch über die ganze Forschung hinweg am eigenen Leibe erfahrbar. Die hierarchische Entscheidung in der Fakultät IW, ob und wo die Forschenden Zutritt bekommen, die beständige Relevanzsetzung der Geschlechtlichkeit der Forschenden und die Hinterfragung der Sinnhaftigkeit der Forschung stand zum Beispiel im deutlichen Gegensatz zur Fakultät GSW, in der die Forschenden breites Interesse und Unterstützung erfahren haben. Die Art, wie sie als Expert*innen geprüft und dann in die diskursive Gemeinschaft aufgenommen wurden, wie Geschlecht auf der einen Seite als relevant markiert und auf der anderen Seite im alltäglichen Umgang entdramatisiert wurde, verweist auf den Stellenwert wissenschaftlichen Geschlechterwissens und steht im Zusammenhang mit dem numerischen Wandel in den Geschlechterverhältnissen, der in dieser Fakultät in den letzten Jahren stattgefunden hat. Der im Vergleich sehr unproblematisch verlaufende Zugang in die Fakultät BU und die Einbindung der Forschenden in gesellige Situationen am Rand von Veranstaltungen verweist wiederum auf deren Informalitätskultur, die sowohl hohe Integrationspotenziale als auch Spielräume für die heteronormative Aufladung geschlechtlicher Interaktionen beinhaltete. Die unterschiedlichen Feldzugänge mit ihren differenzierten Reaktionen und Grenzziehungen waren also einerseits hochgradig erkenntnisrelevant. Nimmt man jedoch die Settings in den Blick, aus denen wir in manchen Fakultäten von vornherein aktiv ausgeschlossen wurden (Berufungskommissionen, Arbeitsbesprechungen, Fakultätsratssitzungen), oder in denen wir im wahrsten Sinne des Wortes ›vor die Tür geschickt wurden‹, so zeigen sich andererseits auch die Grenzen der Ethnografie, indem viele Möglichkeiten zur Beobachtung verwehrt wurden. Auch die häufige Weiterleitung an Personen in der Fakultät, die der Genderthematik aufgeschlossen gegenüberstehen oder der Hinweis in der Fakultät GSW, »dass sie sich aufgrund ihrer Gender-Expertise besser verstellen könnten« (Beobachtungsprotokoll Institutsratssitzung GSW1) lässt den Schluss zu, dass Gatekeeper*innen sich bewusst waren, wo möglicherweise relevante Prozesse stattfinden, diese Räume aber verschlossen blieben. Über die Unterschiedlichkeit hinaus ließen sich aber auch fakultätsübergreifende Muster herausarbeiten. Gerade die Kombination des ethnografischen Zugangs mit Gruppendiskussionen ermöglichte es, »Differenzen zwi-
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schen den diskursiv vermittelten Konzepten und beobachtbaren Handlungsstrukturen« (Münst 2010: 384) zu entdecken und so Ungleichzeitigkeiten und Widersprüche innerhalb des Wandels der Geschlechterordnungen aufzuzeigen.
Geschlecht spielt (k)eine Rolle – die widersprüchliche Gleichzeitigkeit von Neutralisierung und geschlechtlicher Differenzierung Ein gemeinsames Muster, dass sich über alle Fakultäten hinweg in unterschiedlichen Spielarten zeigte, war die widersprüchliche Gleichzeitigkeit von Neutralisierung und geschlechtlicher Differenzierung. Die unterschiedlichen beobachteten Artikulationsformen der Geschlechterdifferenzierung lassen sich in diesem Rahmen nur sehr exemplarisch darstellen. Besonders in den Fakultäten mit sehr hohem Männeranteil wurde das Geschlecht der Forschenden permanent zum Thema gemacht. Durch die körperliche Erscheinung wurden wir etwa in der Fakultät ING sofort als Mitglieder einer Minderheit sichtbar und als Repräsentantinnen der eigenen Geschlechtsgruppe wahrgenommen. Diese besondere Visibilität und Dramatisierung von Geschlecht ging zum einen mit einem »System des höflichen Umgangs« (Goffman [1977]: 119) einher, das auch sprachlich durch die Bezeichnung als »Damen« markiert wurde, zeigte sich aber auch in Situationen, in denen die Forscherinnen zu einem Gruppendiskussionstermin in der Fakultät aufgefordert wurden, selbst den Kaffee für alle Anwesenden zu kochen und anschließend das Geschirr abzuwaschen. Eine weitere Spielart, wie Geschlecht relevant gemacht wurde, zeigte sich in der Reaktion auf unser Forschungsthema. In allen Fakultäten wurden wir auf die Frage nach möglichen Ansprechpartner*innen und Beobachtungssettings an Frauen, Genderexpert*innen oder Gleichstellungsbeauftragte verwiesen. Das Thema Gender betrifft in dieser Deutung vorrangig die Frauen, nicht die männlichen Forscher oder die Fachkultur selbst. Praxen der Geschlechterdifferenzierung wurde aber auch in Gremien und Veranstaltungen bei situativen geschlechterstereotypen Zuweisungen von Aufgaben (wer schreibt das Protokoll, wer überreicht die Blumen, wer leitet die Sitzung?) bis hin zur geschlechtlichen Kodierung bestimmter Tätigkeitsbereiche (beispielsweise Forschung als männlich, Lehre als weiblich) sichtbar. Eine weitere Relevanzsetzung von Geschlecht ließ sich beim Umgang mit den Studierenden in der jeweiligen Minderheitensituation (den sog. Token, vgl. Kanter 1977) erkennen. Während beide Gruppen mit Visibilitäts- und
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Polarisierungseffekten konfrontiert sind, wird deutlich, dass den männlichen Token in der Fakultät GSW mit Blick auf die gegengeschlechtliche Berufswahl ein erhöhtes Interesse und erhöhte Kompetenz zugeschrieben wird und ihnen mehr Möglichkeiten eröffnet werden, sich zu präsentieren und Aufmerksamkeit zu bekommen, während die weiblichen Token in der Fakultät IW eher eine Infragestellung ihrer Kompetenz erfahren. Mit der Geschlechtszugehörigkeit sind also weiterhin auf einer vorreflexiven Ebene Geschlechternormen und -zuschreibungen verbunden, auf der anderen Seite wird, ohne dies als Widerspruch zu verstehen, die Kategorie Geschlecht als irrelevant markiert oder als »inzwischen erledigt« entsorgt. Die Illusio der geschlechtsneutralen Universität zeigt sich in den Deutungsmustern über alle Fakultäten hinweg als dominierender Bezugspunkt (vgl. Glöckner et al. 2019). Zentraler Bestandteil dieses Deutungsmusters ist die Annahme einer funktionalen und rationalen Organisation, die auf dem meritokratischen Prinzip der Bestenauslese basiert, das sich als leistungsgerecht und neutral gegenüber askriptiven Diversitätsmerkmalen wie Geschlecht, Ethnie und sozialer Herkunft versteht. Jede*r, der oder die eine bestimmte, als wichtig erachtete Leistung erbringt und darin zu den Besten gehört, kann in die Gemeinschaft aufgenommen werden. Um an diesem Ideal festhalten zu können, werden eine Fülle von Neutralisierungsmustern sichtbar, die sich empirisch in die Muster Externalisierung, Naturalisierung, Individualisierung, De-Thematisierung, Substituierung und Bagatellisierung ausdifferenzieren ließen. Diese expliziten und impliziten Neutralisierungsmuster befreien die Akteur*innen von der Verantwortung, am doing gender beteiligt zu sein und damit gleichstellungspolitisch aktiv werden zu müssen. Das explizite Argumentationsmuster der Externalisierung lehnt sich an sozialisationstheoretische Geschlechterwissensbestände an und verortet Erklärungen für die weibliche Unterrepräsentanz von Frauen außerhalb der Universität. Die Ausbildung von Geschlechterunterschieden sei an der Universität bereits abgeschlossen, der Interventionszeitpunkt daher zu spät.7 Externalisierung zeigt sich auch darin, dass konkrete Fälle von Benachteiligung
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Das Deutungsmuster zeigt sich auch in einer naturalisierenden Spielart, in der Frauen und Männer als naturhaft unterschiedliche homogene Gruppen konstruiert werden und in dessen Rahmen Gleichstellung als künstlicher Eingriff und als verfehlte Intervention erscheint.
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immer woanders zu finden sind (z.B. in der Wirtschaft), während an der eigenen Fakultät Männer und Frauen gleichbehandelt werden würden. Bei der Suche nach Ursachen für die horizontale und vertikale Geschlechtersegregation wird auch häufig auf individualisierende Zuschreibungen von Interessen oder Motivationen zurückgegriffen und Frauen als weniger karriereaffin konstruiert. Dies verbindet sich mit einem vergeschlechtlichten »Unvereinbarkeitsdiskurs« (vgl. Paulitz et al. 2015: 135), bei der die wissenschaftliche Logik als unvereinbar mit der familialen Logik behandelt wird, dies allerdings nur in Bezug auf Frauen problematisiert wird. Der Ausstieg von Frauen aus der Wissenschaft beziehungsweise Differenzen in den Karriere- und Biografieverläufen werden hier als Resultat individueller Entscheidungen und unterschiedlicher Prioritätensetzung verstanden und die Ungleichheiten damit individualisiert. Die Gründe für die Unterrepräsentanz werden damit vor allem außerhalb des Wissenschaftssystems verortet: in den tradierten Paararrangements, in ökonomischen Voraussetzungen, die bestimmte Konstellationen nahelegen und in der geringeren Karriereorientierung von Frauen mit Kindern. Das Muster der De-Thematisierung bezieht sich darauf, dass in den Gruppendiskussionen Benachteiligungen und Ungleichbehandlung kaum thematisiert wurden. Wurden diese doch einmal angedeutet und darauf bezogen konkret nachgefragt, erfolgte zumeist ein Abbruch der Kommunikation. Erlebte Benachteiligung wurden vornehmlich in geschlossenen Räumen – in Nebengesprächen, im Nachgang an Gruppendiskussionen bei ausgeschaltetem Tonbandgerät oder in Einzelinterviews – angesprochen mit der Bitte, dieses Beispiel nicht in der Studie aufzuführen. Wurde Geschlecht doch einmal öffentlich relevant gemacht, zeigte sich häufig das Muster der Substituierung. Damit wurden andere Differenzen – zum Beispiel das Alter – als wichtiger markiert und die Bedeutung der Geschlechterkategorie gegenüber anderen erklärenden Variablen abgeschwächt. Eine solche Abschwächung erfolgte auch performativ über Bagatellisierungen (»ist doch nur ein blöder Spruch«, »erzählst du jetzt, wie Du bei uns diskriminiert wirst«) oder durch das Anführen positiver Gegenbeispiele. Ironische Brechungen und Scherze sowie das »Weglachen« von thematisierten Ungleichheiten zeigen sich über die Fakultäten hinweg als Strategien, Geschlecht zu neutralisieren. Auch Hericks (2011) verweist auf die Funktion von Scherzen und Lachen als Möglichkeit, die Widersprüchlichkeit zwischen der sichtbar gewordenen Geschlechterungleichheit und den Glauben an die geschlechtsneutrale Universität aushalten zu können.
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Diese Deutungsmuster führen zu einer Nicht-Wahrnehmung von geschlechtlicher Differenzierung und Hierarchisierung und damit zugleich zu einer Delegitimierung von Gleichstellung. Gleichstellung ist dann keine anzustrebende Norm, zu der auch die Universität oder die eigene Fakultät etwas beitragen kann. Thematisiert werden können Ungleichheiten, wenn sie in Form von Statistiken sichtbar werden, nur bei gleichzeitiger Externalisierung, Individualisierung und Naturalisierung, das heißt bei Verlagerung der Verantwortung auf externe Instanzen oder auf die Frauen selbst. Der ethnografische Zugang erwies sich hier als ein wichtiges Erkenntnisinstrument, um die »hidden gender structures« (Baader 2015: 171) hinter den De-Thematisierungen und Neutralisierungen empirisch aufzudecken. Eine große Herausforderung lag dabei darin, das System der Zweigeschlechtlichkeit durch die eigene Forschung nicht zu reifizieren, was ein hohes Maß an kritischer methodischer Selbstreflexion und intersubjektiver Validierung bedurfte.
6 Fazit Universitäten sind in vielerlei Hinsicht besondere und sensible Organisationen, die sich keineswegs selbstverständlich einer Betrachtung und Analyse öffnen. So durchlaufen sie in den letzten Jahrzehnten grundlegende Wandlungsprozesse und müssen sich in diesem Kontext neuen Anforderungen stellen, die ihrem ursprünglich institutionellen Charakter teilweise diametral entgegenstehen. Die neue Hochschulagenda zur Umsetzung von Chancengerechtigkeit erhöht den gleichstellungspolitischen Innovations- und Handlungsdruck, was Fortschritte und auch Gegenbewegungen hervorruft. Die Kombination des ethnografischen Zugangs mit Gruppendiskussionen und hochschulstatistischen Analysen in diesem Projekt erwies sich bei allen methodischen Herausforderungen als eine Möglichkeit, den Diskrepanzen zwischen diskursiven Ansprüchen, praktischen Orientierungen und strukturellen Veränderungen auf die Spur zu kommen und die widersprüchlichen Entwicklungen zwischen Wandel und Beharrung in den Geschlechterordnungen herausarbeiten zu können. Für die geschlechtertheoretische Debatte lässt sich ableiten, dass über Hochschulen als Orte der Chancen(un)gleichheit beziehungsweise über das Verhältnis von Organisation und Geschlecht im Hochschulkontext wenig ausgesagt werden kann, ohne sich selbst in die »Verästelungen« dieser hetero-
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genen Kontexte zu begeben, um dort die »kontingenten Kopplungen« (Wilz 2002)8 von Organisation und Geschlecht und ihre potenziellen sozialen Folgen aufspüren, aber auch Prozesse des Degenderings und ihre Bedingungen aufdecken zu können. Zum anderen wurde deutlich, auf welche unterschiedlichen Ausgangssituationen und Wissenskulturen top down gesteuerte Gleichstellungsanforderungen treffen, wie diese jeweils sehr selektiv weiterverarbeitet und interpretiert werden und welche impliziten Wissensbestände zu einer Delegitimierung von Gleichstellungsarbeit führen können (vgl. Glöckner et al. 2019). Wenn diese nicht aufgegriffen und in einen partizipativen Prozess der Konsensfindung und Konfliktlösung eingebunden werden, kommt es zu Entkopplung von formaler Struktur und organisationaler Praxis (vgl. Kehm 2012), sodass Universitäten nur nach außen »Legitimationsfassaden« (ebd.) hinsichtlich des erwarteten Organisationsverhalten aufbauen, während sich auf der Mikroebene weiterhin die traditionellen Normen und Werte reproduzieren und das Handeln der Akteur*innen bestimmen.
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Mit dem Begriff der »kontingenten Kopplungen« arbeitet Marlene Wilz heraus, dass Geschlecht in Organisationen nicht mehr durchgängig die gleiche Relevanz hat, sondern dass dieses von Situationen und Kontexten abhängig ist und ein hohes Maß an Kontingenz aufweist, ohne beliebig zu sein: Das Relevant-Werden von Geschlecht ist »abhängig von der je spezifischen, Konsens erzeugenden Konstruktion von Normen und Sinn, es ist abhängig von Funktionalitätsannahmen und es ist abhängig davon, ob Geschlechterklassifikationen und Stereotypisierungen jeweils geeignet sind, Komplexität zu reduzieren« (Wilz 2002: 317f.)
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»Mein Gott, das war das glücklichste Jahr in meinem Leben« Das Wissenschaftskolleg zu Berlin als Milieu und Offenbarung. Zur Ethnografie einer antiuniversitären Institution Thomas Etzemüller
1 Einleitung1 Das Wissenschaftskolleg zu Berlin (Wiko) hat eine außerordentlich interessante Quelle hervorgebracht, nämlich die Arbeitsberichte der »Fellows« (Kollegiat:innen), die seit 1981 für drei bis zehn Monate an diese Institution eingeladen werden. Die Berichte sind im Jahrbuch des Wiko publiziert worden und entsprechen seit den späten 1980er Jahren in vielen Fällen nicht den üblichen Erfolgsbilanzen, sondern sind sehr persönlich gehalten. Sie thematisieren Scheitern, eine fröhliche Kolleg-Gemeinschaft und – wie es die Überschrift andeutet – regelrechte Erweckungserlebnisse: die Entdeckung des savoir-vivre, aber mehr noch, dass man der Tretmühle der Universität entkommen kann. Insoweit kann man eine Ethnografie der Universität dadurch konturieren, dass man deren Mitgliedern nach Berlin in einen als überwältigend empfundenen Freiheitsraum folgt. Das Wiko ist maßgeblich vom Berliner Wissenschaftssenator Peter Glotz Ende der 1970er Jahre nach dem Vorbild des ›Institute for Advanced Study‹ in 1
Ich danke Dietz Bering, Almut Höfert, Wolf Lepenies, Joachim Nettelbeck, Helga Nowotny und Uwe Pörksen für ausführliche Hintergrundgespräche, die ich im Juni, Juli und September 2021 geführt habe. Weitere Gespräche habe ich nach Abschluss des Manuskripts Anfang 2022 geführt. Für kritische Anmerkungen zum Text danke ich Iris Carstensen, Sabrina Deigert, David Kuchenbuch und Anna Irene Siebold, für korrigierende Hinweise außerdem Katharina Wiedemann und Dominik Hagel.
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Princeton geplant und 1981 in der Wallotstraße, im bürgerlichen Berliner Westen, eröffnet worden. Es sollte herausragenden Wissenschaftlern (das waren zunächst vor allem Männer) verschiedener Nationalität eine Auszeit von der Massenuniversität bieten; einziger Arbeitsauftrag war, die Aufgabe zu erfüllen, die die Kollegiaten (und Kollegiatinnen) sich selbst stellten. Erster Rektor war der Germanist Peter Wapnewski, der zusammen mit dem Sekretär Joachim Nettelbeck und einem außerordentlich kompetenten Mitarbeiter:innenstab die besondere Atmosphäre des Kollegs prägte (Grimm 2006: 41–69; Nettelbeck 2019: 25–48). Vor allem der Bibliotheksdienst versetzte die Kollegiaten und Kollegiatinnen immer wieder in Euphorie. Sie bekamen nicht nur die bestellten Bücher aus Berliner Bibliotheken prompt geliefert, sondern die Bibliothekarinnen machten es sich zum Sport, die Kollegiat:innen zusätzlich mit ihnen unbekanntem, aber höchst relevantem Material zu versorgen. Von Anfang an lasen die Kollegiaten und Kollegiatinnen wesentlich breiter, als sie es ursprünglich gedacht hatten. Viele schlossen ihre Projekte nicht ab, verließen das Kolleg vielmehr mit ganz ungeplanten Ergebnissen. Der erste Jahrgang bestand aus 16 Männern und zwei Frauen. Diese Fellows sowie Glotz und Wapnewski mussten sich in den ersten Jahren dem Misstrauen der beiden Westberliner Universitäten erwehren, von deren Professor:innen laut Satzung niemand ans Wiko durfte, vor allem aber des Vorwurfs, ein »Elite Institut« zu sein, wie ein gleichnamiger Film des WDR von 1983 betitelt war. Der Sender fragte, wie man so viel Freiheit, Fröhlichkeit und gutes Essen in einer teuer eingerichteten Villa dem einfachen Arbeiter am Stammtisch erklären könne. Die Universitäten sahen in der Konkurrenz eine Missachtung ihrer Arbeit; die Gewerkschaften forderten mehrere Kollegiat:innen auf, sich zu rechtfertigen. Nach einigen Jahren war die Finanzierung auf Dauer gestellt und hatte sich die Kritik gelegt. Das Wiko ist seitdem ein spezifischer Raum wissenschaftlicher Vergemeinschaftung und kollektiver Wissensproduktion.
2 Die »Sozialität des Denkens« Grundsätzlich gehen Wissenschaftler:innen davon aus – das zeigen zahlreiche Selbstbeschreibungen (z.B. in Koelbl 2020) –, dass sie Teil eines Kollektivs sind und als ›Arbeiter im Weinberg des Herrn‹ einer überindividuellen, höheren Sache dienen. Auch geben sie zu, dass Herkunft, Habitus, Ehrgeiz, Opportunismus, Eitelkeit, Gruppendruck, Machtverhältnisse oder ökonomische
Thomas Etzemüller: »Mein Gott, das war das glücklichste Jahr in meinem Leben«
Verwertungsinteressen ihren Platz in der Wissenschaft haben. Aber letztlich verdanke sich ihr für die Gemeinschaft der Wissenschaft erbrachtes Werk allein ihrem je einzigartigen Intellekt, unbeeindruckt von wissenschaftsfremden Kontaminierungen subjektiver oder institutioneller Art. Selbst Wissenschaftstheoretiker reduzieren den wissenschaftlichen Erkenntnisprozess zumeist auf Eigennamen einflussreicher Denker, denen singuläre Werke zugerechnet werden; ein Kollektiv von Denkern und Texten, die den ›wissenschaftlichen Fortschritt‹ besorgen (z.B. Brühl 2015; Schülein/Reitze 2012; Seiffert 1983/1985). Die Wissenschaft suspendiert sich bislang weitgehend selbst von einer Selbsterkundung, die die »Sozialität des Denkens« (Zill 2020: 230) in den Blick nimmt (Kohli 1981; Etzemüller 2018). Es gibt nur wenige Studien, die soziale Herkunft, wissenschaftliche Sozialisierung, die Körper der Forscher:innen, performative Aspekte, Emotionen, die Ideologie des Nichtscheiterndürfens oder, im Anschluss an jüngere Ansätze der Praxeologie, Prozesse der Subjektwerdung von Wissenschaftler:innen untersuchen (z.B. Beaufaÿs 2003; Bourdieu 1992/1984; Dressel/Langreiter 2005; Ehn/Löfgren 2007; Engler 2001; Etzemüller 2013, 2019; Schnicke 2015). Tatsächlich wäre wissenschaftliche Erkenntnis ohne diese Aspekte gar nicht denkbar. Das soziale Gewebe der scientific community bildet zusammen mit der institutionellen Organisation der Wissenschaft und intellektuellen Formationen einen komplexen Produktions- und Rezeptionsraum, in dem permanent ausgehandelt wird, was nun als relevante wissenschaftliche Erkenntnis gilt, und was nicht. Erkenntnis, das wissen wir spätestens seit Ludwik Fleck (1993/1935), ist in höchstem Maße in kollektiven und sozialen Prozessen fabriziert – ›kollektiv‹ aber eben nicht im Sinne einer freiwilligen Seelenverwandtschaft autonomer Denker, wie sie viele Intellektuelle und die klassische Ideengeschichte feiern, sondern als soziale Vergemeinschaftung, die Individuen zu Subjekten macht, die zwischen den Polen eines bloß exekutierenden Agenten und eines autonom handelnden Akteurs angesiedelt sind – weder ›determiniert‹ noch ›frei‹, sondern als Einheit von Formatierung und Autonomie agency gewinnend (Alkemeyer/ Buschmann 2015). Nun kommt am Wiko eine mit den Jahrgängen zunehmend heterogene Schar von Kollegiat:innen aus ganz unterschiedlichen Fächern und Ländern zusammen. Macht es da Sinn, von kollektiven Prozessen der Wissensproduktion zu sprechen? Wenn ein Evolutionsbiologe für einen Althistoriker seine Kompetenz performiert – welche Gemeinsamkeit soll daraus entstehen? Im besten Falle Neugier, doch kaum Verstehen und selten gemeinsame Forschung. Helfen die soziologischen Begriffe der ›Gruppe‹ und des ›Mi-
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lieus‹, um das Wiko zu beschreiben? Gruppen sind hinreichend kleine soziale Gebilde, deren Mitglieder miteinander interagieren, gemeinsame Ziele und ein Wir-Gefühl entwickeln; außerdem differenzieren sie interne Rollen aus und gehen Außenbeziehungen ein. Gruppen können wachsen, sich verändern und zerfallen, müssen aber Kontinuität aufweisen und benötigen Führung. Sie werden von zufälligen Menschenansammlungen (›Menge‹), kollektiv handelnden Mengen (›Masse‹) oder der Gesellschaft abgegrenzt (vgl. Edding/ Schattenhofer 2015). Die Angehörigen sozialer Milieus teilen Werthaltungen und »Prinzipien der Lebensgestaltung«, sie »interpretieren und gestalten ihre Umwelt folglich in ähnlicher Weise und unterscheiden sich dadurch von anderen sozialen Milieus« (Hradil 2006: 4). Sie können, wie Gruppen, ein WirGefühl ausbilden; die »Beteiligten beeinflussen sich wechselseitig, ohne sich bewusst an einem gemeinsamen Programm zu orientieren und oft ohne persönlich etwas miteinander zu tun zu haben. Es ist eine an einen bestimmten Ort und eine bestimmte Zeit gebundene Sozialisationserfahrung, die den Zusammenhang unter den Angehörigen eines Milieus begründet« (Bude/Kohli 1989: 10f.). Der Unterschied zur sozialen Gruppe liegt zum einen in der Größe und der räumlichen Ausdehnung begründet. Ein Milieu kann sich auf eine Kleinstadt beschränken oder aber die Angehörigen einer Religion oder Profession weltweit umfassen. Zum anderen zeichnen sich Gruppen primär durch Interaktion, Milieus durch Mentalität aus. Das ist, sehr holzschnittartig, eine Art kleinster gemeinsamer Nenner, der durch empirische Beispiele – etwa aus dem katholischen oder dem alten sozialdemokratischen Milieu – sehr schnell angezweifelt werden kann. Tatsächlich bleiben beide Begriffe in der Forschung unscharf. Genau darin aber scheinen sie das Wiko gut zu treffen. Ich möchte das an einem Beispiel deutlich machen. Ursprünglich hatte ich mich dem intellektuellen Milieu der 1980er Jahre, das sich im Umkreis der Freien Universität Berlin konstituiert hatte, anzunähern versucht. Dessen Charakter wurde einmal so beschrieben: »West-Berlin war kein Ort, sondern ein Zustand, Traumpotential in besonderer Verdichtung, Turbulenz auf einer Nadelspitze und erhöhte Temperatur als Dauerzustand. Geschlossene Gesellschaften – ob gewünscht oder erzwungen – neigen zur Exaltation nach innen: Forcierung der Temperamente, Pflege von Besonderheiten aller Art, Dramatisierung von Konflikten. Ich erinnere mich an Treffen im akademischen Milieu, bei denen der prominente
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Gastgeber, die Leninmütze auf dem Kopf, pausenlos Klavier spielte, um seine Argumente zur politischen Situation abhörsicher gegen Wanzen vorzutragen. […] West-Berlin […] war ein ideales Feld für symbolische Handlungen, auf dem keine Konsequenzen in flagranti drohten, denn Entscheidungen von größerer politischer oder auch nur kultureller Reichweite waren von hier aus kaum möglich. Andererseits war diese Spielsituation selbst unkalkulierbar labil, ein Ausnahmezustand, der die Phantasie anregte, doch ohne daß Gelegenheit (oder Versuchung?) bestand, ihr in schnellen Taten ein Ende zu bereiten. Im Rückblick scheint mir, daß nicht einmal der Wunsch danach besonders stark war. Hätte in West-Berlin jemand die Begriffe Verstetigung und Nachhaltigkeit auch nur denken können? Kein Wunder, daß die Parolen ›wilden Denkens‹ ihr frühestes deutsches Echo in diesem Milieu zwischen Laboratorium und Hexenküche fanden« (Mattenklott 2008: 5f.). Das ist metaphorisch hochverdichtet und zugleich außerordentlich eingängig, ohne dass man als Nachgeborener auch nur annähernd begriffe, was die damaligen Zeitgenossen sofort decodieren, »entpacken« können, um die eigenen Erinnerungen zu mobilisieren. Das intellektuelle West-Berlin erscheint den Nachgeborenen als vollkommen fremde Welt. Würde man sie soziologisch-distanzierend analysieren, ginge umgehend das Besondere verloren, das man nur noch sekundär, in Zitaten von Interviewpartner:innen erahnte. Vielleicht muss ein Milieu mehr als andere Sozialformationen in eine Innen- und eine Außen-, eine ›ethnografische‹ und eine ›soziologische‹ Seite geteilt werden. Wie die »Hexenküche« durch die Beteiligten hergestellt und erlebt wurde, lässt sich nicht soziologisch, sondern wohl primär mit literarischen Techniken erfassen. Ein wissenschaftliches Milieu wäre in diesem Sinne als ein Resonanzboden, Probenraum, eine Bühne, Echokammer, Schutzhülle zu umreißen, als »eine Art moralische[s] Spiegelzimmer«, wie Agnès Poirier über die Pariser Intellektuellenszene der unmittelbaren Nachkriegszeit schrieb (2019: 405). Dort werden virulente Themen von wachen Beobachtern und intellektuellen Produzenten aufgegriffen und verdichtet (Bude/Kohli 1989: 11); es entstehen Diskursgemeinschaften, gemeinsame Mythen, Praktiken und Deutungsmodelle; das Milieu verortet – wie eine Gruppe – das Individuum, stabilisiert dessen Identität und schreibt es in Rezeptionskontexte ein. Und genau so erscheint das Wiko in den Arbeitsberichten seiner Kollegiat:innen: als ein Ausnahmeraum, in dem einige von ihnen ihr Erweckungserlebnis hatten, das sie ihr Verhältnis zum Wissenschaftsbetrieb und zu ihrer eigenen Rolle als Wissenschaftler:in überdenken ließ.
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Diese literarisch gefasste Innenseite möchte ich aus den Berichten destillieren: Wie wurde das Wiko als Milieu praktiziert und erfahren, inwieweit diente es als Reflexionsinstanz, und wie spiegelt sich darin die Universität? Die Rekonstruktion der Innenseite wird zugleich deutlich machen, wo die Grenzen einer solchen Darstellung liegen, nämlich weniger in der Selektivität und Subjektivität der Quelle, als vielmehr im Unwillen von Wissenschaftler:innen, zu intensiv über die eigenen Praktiken und Lebensformen zu reflektieren. Die Berichte sind in dieser Beziehung einerseits erstaunlich offen, deutlich offener als andere publizierte Quellen, und doch bremsen deren Verfasser:innen immer wieder scharf ab, bevor sie Konsequenzen aus dem am Wiko Erlebten ziehen müssten.
3 (K)eine Ethnografie des Wiko Das Wiko war eine Institution, die räumlich in einer Villa im Berliner Grunewald situiert war, eine eigene Organisationsstruktur und einen spezifischen Arbeitsauftrag aufwies: Spitzenwissenschaftler:innen aus der ganzen Welt sollten mehrere Monate ungestört und ohne Vorgaben arbeiten und dabei nach Kräften unterstützt werden. Aus diesem Grund fehlt, was andere wissenschaftliche Institutionen oft auszeichnet, nämlich ein Satz an Gegenständen und Methoden, der disziplinäre Einheit stiftet. Peter Wapnewski hatte vielmehr forciert ein Klima herstellen wollen, das gerade Befreiung ermöglichen sollte, vom üblichen Zeitdruck, von disziplinären Begrenzungen, von ökonomisierten Lesegewohnheiten und sogar von der Beschränkung auf die Wissenschaft selbst. Die Fellows sollten lesen, wozu sie Lust hatten, zwanglos miteinander über alles reden, nichts produzieren müssen, auch scheitern dürfen. Kurz und gut: Sie sollten die Gelegenheit haben, ihr Denken noch einmal umpolen zu können. In den späteren Jahrgängen wurden Künstler:innen eingeladen; die Kollegiat:innen brachen in Gruppen nach Berlin auf, in die Museen, Theater, Kneipen und ins Nachtleben; sie feierten am Wiko, nahmen Gesangsunterricht, musizierten, versuchten sich in literarischen Experimenten, spazierten im Grunewald. Wapnewskis feste Überzeugung war: Dabei wird schon etwas herauskommen. Gerade dank dieser dezidiert anti-universitären Offenheit sollte sich in den Kollegiat:innen intellektuell etwas entwickeln, was dann der Wissenschaft dienlich sein würde. Das Wiko als eine Art booster, als Zwischentriebwerk in den Universitätsalltag eingeschaltet. Wapnewski hätte diesen neudeutschen Begriff nie geduldet, denn er lebte
Thomas Etzemüller: »Mein Gott, das war das glücklichste Jahr in meinem Leben«
das Ideal des Gentleman-Wissenschaftlers, stets in feines Tuch gekleidet, mit vollendeten Manieren und von ausgesuchter Sprache. Nach Vorbild Oxfords hatte er den gemeinsamen, verpflichtenden (und umstrittenen) Mittagstisch eingeführt, an dem die Kollegiat:innen einmal am Tag mit dem Rektor zusammenkamen, um gemeinsam zu speisen und zu parlieren. Der Rektor residierte an der Stirnseite, und zwanglos war die Atmosphäre nicht. Dietz Bering, der zur ersten Generation der Kollegiaten gehörte, berichtete mir, dass man wegen seines quicken Intellekts und des »High Table-Gehabes« ungern neben Wapnewski habe sitzen wollen, und Helga Nowotny bestätigte: Zu Tisch herrschte nur hohes Niveau, es gab keinen small talk. Es gab eine Kleiderordnung, im Pullover brauchte man sich bei Tisch nicht blicken zu lassen. Vordergründig war die Freiheit grenzenlos: »They say to me: We trust you. Completely. Work on whatever you think is best. Follow any diversion that you think promising, wherever it leads. You know best. Trust yourself. Don’t be afraid. We support you absolutely« (Wiko 2014/15: 55). Dahinter tat sich eine subtile Spannung auf, die der Literaturwissenschaftler Albrecht Koschorke als »double bind« bezeichnete: »Gleich in den ersten Tagen werden dem frisch eingetroffenen Fellow zwei entgegengesetzte Impulse gegeben […]. Der erste, offizielle Auftrag lautet: Schreib dein Buch. Der zweite, etwas informellere Rat heißt: Nutze die Gelegenheit zum Austausch mit Forschern aus aller Welt, lass dich auf neue Ideen bringen und arbeite nicht stur deine Agenda ab!« (Wiko 2010/11: 131). »Es bleibt jeder und jedem überlassen, wie er damit umgeht – und welche Bilanz er oder sie daraus zieht«, ergänzte der vierte Rektor, Luca Giuliani, kurz darauf lapidar (Wiko 2012/13: 12). Er zog allerdings mit Koschorke den versöhnlichen Schluss, dass innere Widersprüchlichkeit für die Vitalität eines Systems unerlässlich sei, damit es nicht in Harmonie zugrunde gehe (Wiko 2010/11: 11f.). Das ist ein typisches Beispiel für das, was man als gebremste Reflexion bezeichnen kann. Kritische Themen werden angesprochen, jeder kann selber etwas daraus machen. So wurde es auch mit der Ethnografie des Wiko gehalten. Wolf Lepenies schrieb 2006, dass jeder Kollegiat zum »Ethnologen auf Zeit« werde. »Ein Jahr lang lebt er unter den Eingeborenen eines ihm vertrauten und zugleich fremden Stammes: Es ist ein Stamm, der nur aus Ethnologen besteht« (Lepenies 2006: 96). Dieter Grimm, dritter Rektor, meinte, dass man den Aufenthalt am Wiko »als einjährigen Crashkurs disziplinärer oder wissenschaftskultureller Selbstbeobachtung zu nutzen«, kaum vermeiden könne. »Selbst die metho-
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disch und epistemologisch mit allen Wassern gewaschenen Fellows dürften genügend Stoff zur Selbstbeobachtung bekommen haben« (Wiko 2003/04: 73). Tatsächlich findet man in den Berichten immer wieder interessante Hinweise auf Rituale am Mittagstisch oder im Kolloquium, oder eine gruppensoziologische Beschreibung von Mikromilieus und Subkulturen (z.B. Wiko 1991/92: 46–48). Doch das bleiben Fragmente. Den meisten ging es wohl eher so, wie dem Sozialphilosophen Lolle Nauta. Ihm fiel erst nach der Rückkehr in die Niederlande auf, dass er »das intellektuelle Leben im Wissenschaftskolleg à la Latour [hätte] beschreiben können.« Doch er tat, »was Intellektuelle meistens tun: Ich schrieb über die Lage des Intellektuellen im allgemeinen und nicht über die [kommunikationsfeindliche] Akustik im Speisesaal im besonderen« (ebd.: 104). Nur einmal wäre dieses Potenzial beinahe genutzt worden. Eine argentinische Soziologin, Elisabeth Jelin, hatte Luca Giuliani in Versuchung gebracht, eine Ethnografie der Kollegiaten »als regelrechtes Projekt in Erwägung zu ziehen; das Projekt wurde dann doch wieder fallen gelassen – aus berufsethischen Gründen: man könne nicht ethnographisch tätig sein, ohne die Objekte seiner Forschung, d.h. die fellow-Fellows, darüber zu informieren; wenn man sie aber informiere, so würde sich zwangsläufig ihr Verhalten ändern, das Projekt verliere seinen Reiz. Der Herausgeber bedauert diese Entscheidung [der Soziologin]: Für die Planung zukünftiger Jahrgänge hätten die Ergebnisse der Untersuchung eine große Hilfe sein können«, schrieb er im Vorwort des Jahrbuches (Wiko 2007/08: 11). Dabei hatte Jelin umfangreiche Notizen angefertigt und beispielsweise Elemente von Marcel Maussʼ Theorie der ›Gabe‹ im Ritual des Dienstagskolloquiums entdeckt. Aber sie meinte, ihre Mitkollegiat:innen, allesamt in die Arbeit vertieft, nicht mit dem Ansinnen behelligen zu dürfen, als Untersuchungsobjekte zu fungieren. Der Rektor war überrascht, dass Jelin die Gemeinschaft der Kollegiat:innen nicht als paradiesisch und klassenlos beschrieb, wie es zum Kanon der Arbeitsberichte gehöre, sondern »patterns of power, prestige and reciprocity« entdeckte (ebd.: 86). Viel überraschter sollte man meines Erachtens jedoch über den methodischen Einwand sein, das Projekt abzusagen. In der Ethnografie verändern die Beobachteten immer ihr Verhalten, wenn man sie teilnehmend beobachtet. Vielmehr dürfte tatsächlich der alte Reflex ausgelöst worden sein, Seinesgleichen nicht zu Objekten systematischer Analysen zu machen. Fast schon arrogant war dann Monique Borderhoff Mulder, die am
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Wiko Parallelen zu einem tansanischen Dorf sah, sich aber einer Ethnografie des Kollegs (anders als des Dorfes) enthielt. Vielmehr beschwor sie, um das Wiko zu charakterisieren, ein a-modernes »village life« unserer Vorfahren, deren Sinn für Gemeinschaft und deren selbstverständlichen Umgang mit den Standpunkten andersdenkender Menschen – als würde das die soziale Interaktion der Bewohner von (vormodernen) Dörfern auszeichnen (Wiko 2011/12: 47f.). Immerhin kann man die Arbeitsberichte der Kollegiat:innen als ethnografisches Material lesen. Sie sind im Mittel zwei bis drei Seiten lang, und ab Ende der 1980er Jahre nahmen sie eine eigentümliche Form an, nämlich eine Mischung aus Rechenschaftsbericht und Bekenntnis. Es gibt Berichte, die im Wesentlichen aufzählen, was der Kollegiat oder die Kollegiatin in zehn Monaten erreicht hat, verbunden mit einem nüchternen Dank an das Wiko für den Freiraum, manchmal auch mit einer mehr oder weniger langen Liste fertiggestellter Publikationen. Viele Berichte jedoch gingen – im Laufe der Jahre immer stärker – ins Persönliche über. Sie thematisierten, kurz gesagt, grundlegende intellektuelle Revisionsprozesse, sogar Scheitern, die Entdeckung des Hedonismus und der Stadt Berlin, die Kollegiat:innengemeinschaft, aber inklusive der Ehepartner und Kinder (sowie Hunden und Hühnern), außerdem das Erweckungserlebnis akademischer Freiheit – samt der Schwierigkeiten, damit umzugehen. Auch stilistisch haben eine Reihe der Kollegiat:innen überraschende Formen gewählt, indem sie ihren Aufenthalt in Form fiktiver Dialoge, offener Briefe an ihre Nachfolger:innen oder von Gedichten, als ausfaltbare statistische Infografik oder aus der Perspektive ihres Hundes schilderten.2 Die Komponisten reichten ihre Berichte gerne als Partituren ein (pars pro toto Wiko 1995/96: 38–42; 1998/99: 65f., 69, 81–83; 1999/00: 156ff.; 2005/06: 119f.; 2017/18: 184–187). Bald begannen einzelne Kollegiat:innen, die Berichte der älteren Jahrgänge zu lesen und sich zu fragen, ob sie das Lob des Wiko noch in einer individuellen, statt bloß repetierenden Weise singen konnten (z.B. Wiko 1999/00: 16). Die Berichte sind deutlich zu einem Genre geworden, das die kommenden Respizient:innen in die Pflicht nahm. Deshalb werde ich sie im Folgenden entlang von Topoi, die wieder und wieder mobilisiert wurden, untersuchen. Sie geben weniger preis, wie es wirklich am Wiko gewesen ist, als vielmehr, was die Kollegiat:innen teils existenziell berührte, wie sie das Wiko als Gemeinschaft stilisierten, und wie sie über ihre Rolle im Wissenschaftsbetrieb 2
Warum habe ich auch durch die Hintergrundgespräche nicht erhellen können.
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(nicht-)reflektierten. Diese ›Ethnografie‹ lässt sich in zwei Abschnitten bündeln: Zuerst die historische Bewegung vom Herrenclub zur Wohngemeinschaft, dann das Wiko als einschneidendes Erlebnis und akademische Ausnahmesituation, als temporäre, mentale, aber zumeist folgenlose Befreiung von der Universität.
4 Vom Herrenclub zur Wohngemeinschaft Das Wiko der frühen 1980er Jahre ist heute so fremd wie die materielle Welt Westdeutschlands damals. Man muss nur an die schwerfälligen, rumpeligen Nahverkehrszüge aus dunkelgrünen Umbauwagen ohne automatische Türschließung und an die stundenlangen Fahrplanlücken (auch auf Hauptstrecken) denken, an die Bestellung der Forschungsliteratur auf Zetteln, im Lesesaal die Bücher aus dem 18. Jahrhundert im Original, an das reichhaltige Bildungs- und Kinderfernsehen der Dritten Programme, an die Antenne auf dem Dach, die gen Osten gedreht wurde, um den »Schwarzen Kanal«, Fußballübertragungen oder Spielfilme aus der DDR zu empfangen, während die öffentlichen schwarzen Telefone verschwanden, bei denen die Münzen in einen durch Glas sichtbaren Schacht fielen und klackernd im Abrechnungstakt verschwanden, und an die Autos aus dünnem Blech. Es war, trotz der eleganten 1970er Jahre zuvor, nach wie vor die schwere Moderne, in der man lebte, in der man Kursbücher wälzte und ein kleiner Adressstempel für die Bestellzettel schon eine erhebliche Rationalisierung der Forschungsarbeit bedeutete. In Uwe Pörksens Erinnerungen an das erste Jahr im Wiko und im erwähnten WDR-Film Das Elite Institut wird diese Fremdheit gedoppelt. Wir treffen auf einen Club distinguierter Herren, denen einige wenige Kollegiatinnen beigesellt waren (was allerdings früh als Defizit zumindest thematisiert wurde). Sie waren zumeist in Anzüge gekleidet, viele von ihnen arbeiteten über Größen der Geistesgeschichte. Untereinander verständigten sie sich oft in klassischen Zitaten und Anspielungen, manchmal so selbstreferenziell, als gebe es keine Außenwelt. Es ist schwer, auf wenigen Zeilen die besondere Stimmung und den Habitus zu beschreiben. Sie zeichneten sich – in den überlieferten Texten! – durch Ernsthaftigkeit aus, nicht humorlos oder gar anti-hedonistisch, aber in gemessenem Duktus eine gewissenhafte Forschung repräsentierend: »Illich spricht davon, dass zu Beginn des 13. Jahrhunderts sich etwas in der Geschichte der Geschlechterverhältnisse ändert […]. Hentig zweifelt verblüfft. Das Verhalten ist doch erfasst bei Plato, meint er, mit ei-
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nem Verdikt belegt von Paulus, sagt Gauger…« (Pörksen 2014: 119). »Montinari […] liest etwas von Nietzsche vor: Man solle sich selbst nicht zu viel erläutern. […] ›He lett nix rut‹, sage ich [Pörksen] zu Lepenies, der sehr lacht. ›Aber ich mag ihn‹, sagt er« (ebd.: 104f.). Dietz Bering meinte in einem Gespräch mir gegenüber, dass sich diese erste Generation als Angehörige einer humanistischen Ära begriffen, wodurch eher Gemeinsamkeiten akzentuiert wurden. Eine ›gesittete‹ oder ›ganz feine‹ ›Persönlichkeit‹, sind Begriffe, die damals in der Wissenschaft immer noch einen festen Platz für die Charakterisierung von Kollegen hatten. Es gab inhaltliche Differenzen, aber es scheint, als wären sie wie unter kultivierten Oratoren einer Republik der Gelehrten ausgehandelt worden. Selbst die scharfe Kritik Gershom Scholems, oft gewürzt mit dem Wort »Dummkopf«, habe darauf beruht, »dass man die Wahrheit sagen muss«, und sei nicht persönlich genommen worden (Lepenies 2012: 236). Ein Artikel im Spiegel aus dem Jahre 1982 zitierte Wapnewski, man lade die »›in sich gefestigt ruhende Persönlichkeit‹, mit ›Stil‹, ›Geschmack‹ und ›souveräner Lebensführung‹« ein, die »in ›anderen den unbezähmbaren Wunsch erweckt, ähnlich zu sein wie er‹« (Pörksen 2014: 127). Uwe Pörksen sagte mir, dass Peter Wapnewski sich einen bunten Kreis an Wissenschaftlern zusammengestellt habe – den Ivan Illich vorzeitig verließ, weil er sich nicht beheimatet gefühlt habe –, aber allesamt Leute, die einer Sache hinterher spürten, als Gegenentwurf zu den Universitätsangehörigen, die aus der 68er-Bewegung hervorgegangen waren. Ihnen diente das Wiko als Bühne, um voreinander und dem gehobenen, studierten Berliner Bürgertum, das die öffentlichen Vorträge besuchen durfte, eine empfindsame Gelehrsamkeit aufzuführen. Auch der Dank an das Wiko in den Arbeitsberichten fiel gemessen aus, beispielsweise so: »Die sehr geliebte Stadt Berlin lockte mich immer wieder aus dem Haus, und das Kolleg behalte ich in Erinnerung als einen Ort interessanter, freundschaftlich-zwangloser Gespräche« (Wiko 1987/88: 120). Es gab natürlich exzentrische Intellektuelle wie Ivan Illich oder regelrecht schrille Figuren wie Nikolaus Sombart, dessen Erinnerungen an das Wiko von manierierten Verführungsgeschichten strotzen (Sombart 2003). Es gab Charismatiker wie Gershom Scholem, zerrissene Figuren wie Hans Egon Holthusen und Feingeister wie Prinz Rudolf zur Lippe. Trotzdem vermittelten die Kollegiaten, wenn man die Quellen vorsichtig verallgemeinern will, in den frühen 1980er Jahren mehr als später das Bild einer sozial und habituell homogenen Gemeinschaft. Ihre Ehefrauen kamen gelegentlich ans Wiko; einige Ehepaare freundeten sich an. Wolfgang Frühwald behauptete zwar, dass Kinder am Kolleg eine
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Selbstverständlichkeit gewesen seien und »die – oftmals gelehrten – Partnerinnen und Partner der Fellows« sich aufgenommen gefühlt hätten, »als ob sie selbst Fellows wären« (Frühwald 2006: 33) – doch in ihren Berichten liest man davon nichts, und die Bildstrecken weisen eine Männergesellschaft aus (z.B. Grimm 2006: 70–75). Helga Nowotny erinnert sich im Gespräch ebenfalls nicht an Ehe-, erst recht nicht an unverheiratete Lebenspartner:innen, dafür lebhaft an die Diskussion, ob schwangere Kollegiatinnen nicht das Wiko verlassen sollten. Gegen ihre Pläne animierte sie das 1981 zu ihrem öffentlichen Kolloquiumsvortrag über Frauen in der Wissenschaft (Wiko 1981/82: 238–255). Pörksens Erinnerung zufolge wurde der Vortrag im Kolleg als ›Frauenthema‹, außerdem als »ein politisch parteiliches und praktisches Problem« in wissenschaftlicher Hinsicht für irrelevant erklärt. Er »entsprach damals nicht dem dominanten Stil des Hauses« (Pörksen 2014: 201f. [kursiv im Orig.]). Nowotny legte nicht Goethe aus, sondern die aktuelle Geschlechterordnung. Sie und Michal Ginsburg kritisierten im Manifest der Pilgermütter, dass sie »in einer Atmosphäre, die nicht überwiegend auf das Erbringen professioneller Leistungen hin orientiert ist, sondern ein diffuses, wohlmeinendes[,] unverbindliches Klima ausstrahlt«, als Wissenschaftlerinnen nicht immer ernst genommen worden seien (ebd.: 203). Das war »eine kleine Bombe, die durch Verschweigen entsorgt wurde«, kommentierte Pörksen im Rückblick die Wirkung (ebd.: 224). Nowotny hat das im Gespräch bestätigt – doch im Publikum hätten Berliner Feministinnen gesessen. Die klugen Männer hätten geschwiegen, die unbedarften seien scharf angegangen worden. Bei den Kollegiaten hatten Vortrag, Diskussion und Manifest jedoch tatsächlich keinen größeren Eindruck hinterlassen. 1986 bedauerte Hartmut von Hentig in galantem Stil, dass die Kollegiaten damals mit ihren »beiden Damen« nicht so umgegangen seien, »daß sie ihre kollektiven Verletzungen für zwölf Monate vergaßen – und daß sie eine Minderheit waren« (Wissenschaftskolleg zu Berlin o.J.: 15). Wenn man die Fragmente zusammenträgt, ergibt sich trotz aller persönlichen und inhaltlichen Differenzen unter den Kollegiaten doch das Bild einer relativen Geschlossenheit. Das änderte sich in den 1990er Jahren deutlich. Mehr Frauen, Nachwuchswissenschaftler:innen und Gäste aus Asien, Afrika und Südamerika wurden eingeladen. Der Stil der Berichte änderte sich ebenfalls. Das Motiv der Fellows als einer Wohn- oder Lebensgemeinschaft taucht auf. Immer ausführlicher wird beschrieben, wie sie sich gegenseitig die Bars in Kreuzberg und Schöneberg zeigen, wie sie gemeinsam im Grunewaldsee schwimmen, Wochenmärkte besuchen, und ins Kino oder Theater gehen. Sie informieren sich nicht nur gegenseitig über wissenschaftli-
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che Fragen, sondern lehren einander, wie man im Wiko an die Herald Tribune herankommt, wie man das Leben genießt, sprechen über die besten FitnessStudios, Jogging-Strecken und Schwimmbäder (z.B. Wiko 1991/92: 61; 1996/97: 118–121; 2010/11: 118). Lolle Nauta wurde bedeutet, er »solle ja nicht glauben, man könne hier arbeiten. Dafür sei die hier versammelte Gesellschaft viel zu anregend, und abgesehen davon: ›Vergiß nicht, Du bist jetzt in Berlin. West und Ost. Kultur und so‹« (Wiko 1991/92: 103). Am schönsten fand er, dass die Frage »›Wie geht es Dir?‹ denselben Stellenwert gehabt habe wie die Frage »›Wie steht es um Deine Arbeit?‹« (ebd.: 105). Die Fellows berührten und umarmten einander gerne. Diese Erosion der Grenze zwischen Arbeit und Leben erklärte Nauta mit dem Gemeinschaftsleben, dem höheren Anteil an Frauen am Wiko, die die Grenze leichter überschritten, und einer neuen Generation von Wissenschaftler:innen, denen die Grenze per se weniger bedeutete. Die Medizinethikerin Bettina Schöne-Seifert sprach 1995 von einer »Doppelchance«, dem »Doppelaspekt des anders Arbeitens und anders Lebens« (Wiko 1994/95: 139 [kursiv im Orig.]). Entsprechend fanden bei ihr die hitzigen Debatten und anregenden Gespräche auf ganz unterschiedlichen Bühnen statt, privat beim Kaffee, in der S-Bahn, der Kollegs-Lounge oder beim nächtlichen Glas Rotwein: »Gespräche über Mumps, Moskau und Menschenrechte« (ebd.: 140). In ihren Blick fielen Seerosenteppiche, eilige Entenfamilien oder der Himmel über der neuen Synagoge. Das erinnert mit seinen schnellen Schnitten und unterschiedlichen Schauplätzen an eine filmische Inszenierung. Die intellektuelle Gemeinsamkeit im Disput begründete sie nicht mehr mit dem »humanistischen Bogen« (Dietz Bering), unter dem sie sich befanden, sondern mit der »in Monaten gewachsene[n] Freundschaft, die das Verstehenwollen des anderen so dringlich macht« (ebd.: 139). Noch wurde das intensive Leben auf dem Rücken der Restfamilien bzw. der alleinerziehenden Fellows ausgetragen, wobei erste Kollegiatinnen von Ehemännern den Rücken freigehalten bekamen (Wiko 1995/96: 55). Alleinerziehende Fellows hatten mit größeren Widrigkeiten zu kämpfen – aber es gab sie nun. Die Kollegiat:innen untereinander praktizierten einen unprätentiösen, herzlichen Umgang miteinander, ohne Gesprächsbarrieren (ebd.: 86). Auch die Vergemeinschaftung durch Musik funktionierte anders, indem ein cross over der Musikstile praktiziert wurde (ebd.: 127). Es wurden durchaus Differenzen ausgemacht, etwa interne Wahlverwandtschaften, ›nationale‹ Tische: »the French table; the Arabists table« (Wiko 1997/98: 52), disziplinäre Abneigungen, ›Fragen‹ im Dienstagskolloquium als Demonstrationen der jeweiligen »Duftmarkierungskompetenz«
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(Wiko 2003/04: 150) oder die Missachtung von Ehefrauen beim Dinner, weil man lieber seine Kollegen belehre, statt sich mit den Damen zu unterhalten (Wiko 1997/98: 52). Doch solche Verwerfungen belässt auch diese Generation Wissenschaftler eher im Dunkel der Andeutungen (ebenso wie amouröse Affären, von denen nirgendwo die Rede ist). Die unsympathischen Kollegiaten kann man kaum schemenhaft erahnen. Wortreich und manchmal geradezu lyrisch beschworen sie dagegen, dass »das Leben zwischen Kolleg und Familie im gemeinsamen Takt verlief wie seit langem nicht« (Wiko 1997/98: 77). Eine junge Familie wuchs in der Wallotstraße zusammen (Wiko 2009/10: 25). »[F]riendship merged with scholarly discussion. There were happy evening meals and discussions with Tapan and Hashi, evenings over black tea with Huri, walks with Cornelia, films with Renata, peeling forty kilograms of potatoes with Rainer for a party […]. I could discuss problems that interested me, from molecular biology to sociology and literature, and show drafts of the chapters I have just written to colleagues whom I trusted to be critical and sincere, and get extremely important and useful comments. […] We also had great fun planning and preparing the Santa Lucia party in the Villa Jaffé in December« (Wiko 1997/98: 93). Das steigerte sich, bis das Kolleg zu einem Gewusel von Ehepartner:innen, Kindern und Tieren geworden war, und jeder kümmerte sich um die anderen (Wiko 2011/12: 161, 184). Nach der Jahrtausendwende konnte in einem Arbeitsbericht ganz selbstverständlich vermerkt werden, dass eines der mitgereisten Kinder, Leo, beschlossen habe, das Laufen zu lernen. »At the colloquia and various lunch tables, the locomotion group made me understand that this is one of the most complicated tasks a human being can undertake. […] Leo finally mastered the art of walking. He had been cheered on by forty keen-eyed Fellows who, especially on Thursday evenings, had noted his gradual progress. […] Seriously, how many of the Fellows managed to achieve as much as our children did?« (Wiko 2001/02: 49). Die Kolleggemeinschaft hat Leos Projekt wissenschaftlich und sympathisierend begleitet, und die Kleinkinder werden als die erfolgreichsten Kollegiat:innen dargestellt. Die Differenz zur Atmosphäre der 1980er Jahre wird durch solche Passagen besonders erkennbar. Aber in der Frühphase wie später diente die Vergemeinschaftung einem wichtigen Ziel: Rezeption zu befördern. Mehrfach wird in den Berichten an-
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gemerkt, dass man die Texte der anderen lese, weil man in privaten Gesprächen auf sie aufmerksam gemacht wurde. Es ist deshalb so verwunderlich, dass die Alltagsgeschichte des Wissenschaftsbetriebes nach wie vor auf Verständnislosigkeit stößt. Pörksens Buch, so lautete die Kritik in der Neuen Zürcher Zeitung, sei locker erzählt, erhelle aber kaum die seriöse wissenschaftliche Arbeit der Kollegiaten (10.1.2015: 53). Würde man jedoch aus den Berichten die Gruppenbildungen und Kontaktnetzwerke der Fellows rekonstruieren, würde man möglicherweise entdecken, dass sich diese – und die diskutierten Fragen – plötzlich in den Fußnoten der Texte, die während und nach dem Kollegaufenthalt entstanden sind, abzeichnen. Der »kommunikative Speed, der zu visionären Höhenflügen Anlass gibt […] – Abstürze inbegriffen« (Wiko 2007/08: 32), hat nach Auskunft der Kollegiat:innen nicht nur die eigenen Projekte oft radikal verändert, sondern gleich ihr Denken. Juliane Vogel hat es so formuliert: »Die Wiko-Tische sind nicht nur Esstische, sie sind auch kleine Konstellationen und Spieltische: Einer wirft irgendetwas auf den Tisch, dann ein anderer, etwas überkreuzt sich und am Ende hat man viel zu lange dort gesessen, zu viel Kaffee getrunken und muss, da nun alles anders ist, einen Text oder ein Kapitel noch einmal neu schreiben« (Wiko 2018/19: 211). Das besondere scheint gewesen zu sein, dass man die Leidenschaft des Denkens mit den anderen Tag und Nacht ausleben konnte, anders als an einer Universität. Übereinstimmend wird berichtet, dass der Ertrag des Aufenthaltes im Grunewald sich oft eben nicht bloß in Publikationen ausdrückte (die ideengeschichtlich referiert werden könnten), sondern in einer regelrechten Umpolung der Denkstrukturen. Man sollte Anekdoten deshalb eben auch erkenntnistheoretisch lesen.
5 Offenbarung und Ausnahme »A typical day pre-Wiko: A hundred e-mails. Meetings. Deadlines. Phone calls. Frantic students. Marking. More marking. More meetings. Report to Dean. Report to granting agency. More meetings. Student in tears. Late for class. Ring, ring, ring. Knock, knock, knock. Late again. A hundred more e-mails. Knock, ring, e-mail, meeting, repeat« (Wiko 2015/16: 212 [kursiv im Orig.]).
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Ein typischer Wiko-Abend: »I get a call, or an e-mail, or a knock on the door: 6 p.m., meet you downstairs, going Salsa; or: apartment 312, drinks and dinner, 7 p.m.; or: Serbian movie, 8 p.m. tonight, White Villa, bring snacks. Before I know it, it’s the middle of the night!« (ebd.: 20). Der Aufenthalt am Wiko markierte in auffallend vielen Berichten eine Zäsur, nicht allein wegen des Freiraums, Interessen und Lektüren nachzugehen, für die man im Universitätsalltag keine Zeit hat, und ohne zu wissen, wozu dieses Stöbern wirklich gut ist (z.B. Wiko 1991/92: 134; 1995/96: 117f.). Die Befreiung von Routinen wurde als Irritation wahrgenommen. Es ist von einem Zustand der Konfusion die Rede, weil man plötzlich zu schreiben und ohne schlechtes Gewissen zu forschen vermag (Wiko 1994/95: 58; 1997/98: 74). Dieser Druckabfall konnte paradoxerweise zu verminderter Produktivität oder gar Sinnkrisen führen (Wiko 1991/92: 23, 29). Einigen Kollegiat:innen wurde klar, wie sehr ihr bisheriges Leben aus einem Berg überhastet abzuschließender Projekte bestand, zu dem immer neue hinzu kamen (Wiko 1993/94: 159f.); sie stießen auf ihr »Arretiert-Sein« und nahmen ihre »Lebensbahn auch als Ausschluss von Alternativen wahr« (Wiko 2011/12: 175). Einer scheiterte mit überambitionierten Projekten an der großen Freiheit, erkannte dafür aber schmerzhaft, dass seine manische Schreib- und Arbeitssucht mangelndes Selbstbewusstsein kompensierte (Wiko 1994/95: 120–122). Vermutlich ging es mehreren Bewohner:innen der Wallotstraße so, wie dem Rechtswissenschaftler Peter Behrens. Er musste lernen, »Nein« zu immer neuen Anfragen zu sagen (Wiko 1997/98: 25). Auf jeden Fall wurde das Wiko oft mit dem ›Zauberberg‹ verglichen, als Ort der Wandlung, Verwandlung und Reifung (Wissenschaftskolleg zu Berlin o.J.: 30), oder als Jungbrunnen, der »das Kind im Manne – und nicht weniger das Kind in der Frau – lebendig erhält, oft überhaupt erst wieder zum Leben erweckt und mit Nahrung versorgt, also eine ganz besondere alma mater« (Wiko 1999/00: 95 [kursiv im Orig.]). »Wie erstaunlich: Man gerät in ein Kontinuum der Gedankenentwicklung« (Wiko 2011/12: 175). Gerade in der Peripherie des Gebäudes, im Speisesaal unterhalb des Vortragsraumes, geschehe, was an der Universität nicht mehr gelinge: »die Bereitschaft, das ebenso freie wie ernsthafte Sprechen nicht nur zu ermöglichen, sondern als die entscheidende Instanz anzuerkennen, ihr im jährlichen Wechsel der Lebens- und Arbeitsgemeinschaften Nachdruck und Geltung zu verschaffen« (Boehm 2012: 43). In Nachrufen, Laudationes, Dokumentar- und natürlich Spielfilmen werden verstorbene, zu ehrende oder zu bewundernde Größen konturiert, in-
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dem man ihnen wenig fähige oder gar sinistere Gestalten beigesellt, die den Helden in hellerem Licht strahlen lassen. Im Falle des Wikos wurde der Universität diese Rolle zugewiesen. Die Kollegiat:innen scheinen untereinander extensiv geklagt zu haben. In den Berichten spiegelt sich die Universität fast schon wie ein Dämon, der die Wissenschaftler:innen in Geiselhaft nimmt, und das Wiko erscheint als Ritter, der die unschuldigen Jungfrauen wenigstens auf zehn Monate dem Drachen entreißt. Eigentlich müssten die Universitäten, heißt es an einer Stelle, »einen heiligen Krieg gegen das Wiko führen, und sie müssten mit massenhafter Desertation rechnen« (Wiko 1997/98: 75). Tatsächlich jedoch ist das Wiko ein Paradies, das sie wieder verlassen müssen, das wissen die Kollegiat:innen. Deshalb muss die Universität den heiligen Krieg nicht führen, niemand desertiert. Die Literaturwissenschaftlerin Barbara Vinken verglich »Das Experiment des Wissenschaftskollegs« mit den Lebensreformbewegungen, »wie sie die letzte Jahrhundertwende bestimmten. Für ein Jahr kehrt man dem bürgerlichen Leben und seinem Rhythmus, seinen Einladungen, seinen Gepflogenheiten, der Trennung von privater und öffentlicher Sphäre […] den Rücken, um in Raufasertapete mit vierzig Leuten aus aller Herren Länder und aus allen Forschungsgebieten ein Jahr zusammenzuleben« (Wiko 2015/16: 206f.). Und dann kehren sie zurück. Aber die Lebensreform hatte die Lebensführung nachhaltig verändern wollen. Vinken und andere dagegen sprechen von einem Jungbrunnen; heute würde man eher sagen, dass man die Batterien wieder auflädt. Diese Metaphorik ist bezeichnend, weil sie Regeneration innerhalb des Systems, nicht dessen Reform impliziert. In den Berichten ist wenig davon zu spüren, dass die Kollegiat:innen den Ursachen ihrer Klagen ein Ende bereiten wollen. Horst Bredekamp hatte in einer Sinnkrise den Beschluss gefasst, das Schreiben gleich ganz aufzugeben; nach wenigen Monaten lagen »als Ergebnis dieses Beschlusses« zwei vollkommen ungeplante Buchmanuskripte vor (Wiko 1991/92: 23). Wolfgang Streeck stellte nach selbstkritischen Überlegungen zufrieden fest, dass er in den zehn Kollegsmonaten nicht weniger als 20 Vorträge gehalten habe, sechs in Berlin, neun in Europa und den USA (Wiko 1993/94: 161). Claus Leggewie freute sich, die Erfahrungen des Wiko für einen frischen Start an der Massenuniversität nutzen zu können (Wiko 1999/00: 113). Nur bei einigen wenigen Kollegiat:innen löste der Aufenthalt die Konversion von der Wissenschaft zur Belletristik aus (z.B. Wiko 1994/95: 95–101). Die Universität erscheint wie ein Schicksal. Dort fehle systembedingt die Möglichkeit zu selbstbestimmter Zeit, heißt es an einer Stelle (Wiko 2007/08: 178). An den Wissenschaftler:innen liegt es also nicht. Deshalb fällt
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eine weitere Form der abgebrochenen Thematisierung auf. Die Politologin Patrizia Nanz fragte immerhin explizit: »Warum stöhnen bloß alle Professoren (außer die Kategorie der professoralen Bürokraten), machen aber zugleich mit? In den Diskussionen mit Ingolf Dalferth, Hans Joas, Dietrich Niethammer, Oliver Primavesi fiel immer wieder das Wort ›ziviler Ungehorsam‹… nur so könne man weiterhin die vorrangige Pflicht eines Professors erfüllen, sein Fach ›in Forschung und Lehre selbstständig [zu] vertreten‹, wie es in der Ernennungsurkunde heißt.« (Wiko 2005/06: 116). Bezeichnend ist, dass niemand eine Antwort formulierte. An anderer Stelle beschreibt die Juristin Tine Destrooper ihre Generation, die vollständig gewohnt sei, ihre Forschung an den Vorgaben von Institutionen auszurichten, selbst wenn das ihren eigenen Interessen zuwiderlaufe. »I would even argue that most researchers of my generation never knew anything else. Eat. Sleep. Grade. Repeat. […] ›Busy‹ had become my natural state of being« (Wiko 2016/17: 48). Sie schließt mit der Bemerkung, dass der Aufenthalt in Berlin wichtig für ihre Karriere sei und fügt eine zweieinhalbseitige Liste mit Vorträgen, Aufsätzen und Anträgen an. Das illustriert recht gut, dass das Wiko durchaus einen Riss in der Wissenschaftsbiografie darstellt, der zur Reflexion über eben diese biografische Normalverlaufsform anregt. Doch die allermeisten Kollegiat:innen ziehen offenbar die Rückkehr in die Sicherheit gewohnter Zug- und Sachzwänge vor, mit ihren disziplinär klar umrissenen Arbeitsgebieten und dem erprobten System materieller und immaterieller Gratifikationen. Dietz Bering hatte das Wiko im Gespräch mit mir für das erste Jahr als »Jugendherberge für ganz schlaue Leute« bezeichnet. Er hatte das auf den unfertigen Bau des Wiko bezogen, man kann die Metapher aber auch so lesen: Wie auf Klassenfahrt entdecken Wissenschaftler:innen ausgelassen ihre Jugend. Insoweit bekommt auch die regelmäßige Betonung des Lachens in den Berichten eine andere Note, es hat, denkt man es mit den Universitäten zusammen, etwas vom Rabelais’schen, anarchischen, widerständigen Lachen, das wie im Karneval die herrschende Ordnung (der Hochschule) auf den Kopf stellt und zeitweise außer Kraft setzt (Bachtin 1987/1965). Oder ist es doch nur das ausgelassene Gelächter derjenigen, die ein Jahr lang befreit wurden und die Erkenntnis verdrängen wollen, dass man etwas tun könnte, statt die Universität bloß als Schicksal zu erdulden?
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6 Fazit Es gibt kaum wissenschaftsethnografische Arbeiten, die minutiös den Alltag beispielsweise an einem Institut rekonstruieren (zu den Ausnahmen zählen Williams 2002 und natürlich die frühen Laborstudien, z.B. Knorr Cetina 1991). Man müsste dazu archivalische Unterlagen auswerten, idealerweise Tagebücher finden und Beteiligte befragen. Insoweit habe ich weniger eine dichte Beschreibung der Situation am Wiko angefertigt, als vielmehr eine dichte Beschreibung von Texten. Schon die wenigen Hintergrundgespräche zeigen die Differenz zwischen Text und Miterleben. Die Zeitzeug:innen zeichnen nicht unbedingt das wahrere Bild, aber sie können das, was im Text bedeutsam erscheint, nuancieren und relativieren. Dass meine Idee trägt, das Wiko im Sinne eines Proben- oder Möglichkeitsraums als Milieu zu begreifen, hat mir Joachim Nettelbeck im Gespräch bestätigt, und er hat gerade die Unschärfe des Begriffs verteidigt, weil man in ihm die überwölbende Großzügigkeit des Wiko, das Denken umpolen zu dürfen, als auch die rasche Verschmelzung vielfältiger Kollegiat:innen zu jeweils einzigartigen, voneinander unterscheidbaren Jahrgängen fassen könne. Umgekehrt jedoch zeichnen sich für mich als außenstehenden Beobachter in den sehr persönlichen Arbeitsberichten deutliche überindividuelle Muster und Topoi ab, die meinen Gesprächspartner:innen wegen einer teils temporär, teils durch Einbettung limitierten Perspektive nicht notwendig bewusst waren. Weiteres Material wird meine Skizze zweifellos differenzieren, doch aus den Berichten lese ich ein dreifaches Leitmotiv des Wiko ab: 1. eine begrenzte Reflexionsbereitschaft, 2. den wissenschaftshistorischen Längsschnitt vom Herrenclub zur Wohngemeinschaft, 3. den Topos der Ausnahmesituation. Verschwommen bleibt in den Berichten einiges, etwa die Rolle der Familien in der Frühzeit des Wiko oder Konflikte zwischen den Verfechtern kultivierter Umgangsformen und den Vertretern der »Jeans-und-Bart-Generation«, die in kurzer Zeit den amerikanischen Wissenschaftsstil in das Wiko importierten (Frühwald 2006: 11–13). Ein einziger Kollegiat, ein Inder, hat, wenn ich es richtig sehe, vermerkt, dass er mehrfach von der Berliner Polizei kontrolliert wurde. »Reine Routine«, versicherten ihm die Schupos freundlich (Wiko 1996/97: 153). Die Berichte könnte man qualitativ und quantitativ sehr viel detaillierter auswerten; dafür ist hier nicht der Platz. Aus ihrer ersten Analyse hat sich für mich jedenfalls die Frage nach der Rolle des Wiko im Wissenschaftsbetrieb ergeben. Zweifellos stattet es die Fellows mit Reputation aus. Hat das Kolleg
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darüber hinaus die Funktion eines boosters oder Katalysators, indem ein ›tacit knowing‹ im Kolleg entsteht und durch die erwählten Kollegiat:innen in die Universitäten transportiert wird (Frühwald 2006: 29), bzw. weil sich Dank des Kollegs »das Bild ganzer Fächer und Fächergruppen verändert« (Lepenies 2006: 97)? Dann hätte das Kolleg einen reformierenden Effekt. Und inwieweit stellt es eine Art Karneval dar, den Ausbruch aus einer ungeliebten Struktur, in die man sich anschließend gestärkt und von glücklichen Erinnerungen zehrend, wieder einfügt? Das wäre ein eher konservierender Effekt. In welchem Verhältnis stehen Aufbruch, Ausbruch und Unterwerfung zueinander? Helga Nowotny hat mir gegenüber eine dritte Variante genannt: Die kritische Masse des Wikos sei zu klein, um die Universitäten zu ändern. Aber es habe lange Zeit für die Hochschulen in Westberlin gewissermaßen als ein Fenster zur Welt der internationalen Wissenschaft gedient, vor dem, Jahrgang für Jahrgang, Spitzenforscher aller Länder vorbeidefilierten. Der Gründungsimpetus war jedenfalls die Diagnose eines Defizits, nämlich der Unfähigkeit der Massenuniversität, noch selbstständige, originelle Forschung zu ermöglichen. In den Arbeitsberichten zeichnet sich insoweit und ungewollt ein ambivalentes Bild des Wiko ab, als Ausnahmeinstitut, das originelles und möglicherweise strukturkonservatives Denken befördert. »Intelligenzfreier, aber fröhlicher Klatsch«, wie es in einer insgesamt positiven Kritik der Badischen Zeitung (28.11.2014) von Pörksens Buch hieß? Nicht, wenn man die Quellen ›ethnografisch‹ zu lesen versucht. »I feel that this is the first time in years that I have been allowed to be a scholar. […] [A]t Wiko I have had time to THINK!« (Wiko 2015/16: 213). Was sagt das über die Universität aus? Und was, vor allem, über die Universitätsangehörigen?
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Praxeologie der Ethnografie Christian Meier zu Verl Der professionellen Soziologie1 sind Stufen von Reflexivität eingeschrieben, die ihren Ausgangspunkt in der Reflexivität des Sozialen selbst haben (Lynch 2000). Reflexivität ist nicht nur ein konstitutives Moment der Soziologie und des soziologischen Wissens, sondern praxeologisch betrachtet auch eine sozio-praktische Ressource, um Soziologie als Soziologie zu betreiben. Historisch wird mit dem Werturteilsstreit und der frühen deutschen Wissenssoziologie die Reflexivität der Soziologie selbst zum Gegenstand der Soziologie (vgl. u.a. Weber 1904; Scheler/Hashagen 1924). Jedoch führt diese reflexive Selbstaufklärung – wie sie unter anderem von Max Scheler und Karl Mannheim formuliert wurde – in einen Wissensrelativismus. Die proklamierte Seinsverbundenheit des Wissens relativiert ex aequo auch das eigene soziologische Wissen und gefährdet damit den Geltungsanspruch der Soziologie als Wissenschaft (vgl. Mannheim 1978). Das Potenzial dieses reflexiven Relativismus wurde – mit Blick auf den eigenen soziologischen Geltungsanspruch – von der frühen Wissenssoziologie jedoch verkannt und nur unzureichend problematisiert.2 Die Reflexivität der Soziologie ist daher auch im Anschluss an diese Debatten immer wieder Gegenstand soziologischer Selbstthematisierungen. Der vorliegende Beitrag diskutiert einen Teil dieser Thematisierungen und schließt zugleich mit einem eigenen Entwurf
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Die Ethnomethodologie relativiert teilweise die Differenz zwischen Alltag und Soziologie, indem sie von einer Laiensoziologie und einer professionellen Soziologie spricht (vgl. Garfinkel 1967; Garfinkel/Sacks 1970). Zur Lösung des Relativismusproblems der Wissenschaft schlug Mannheim (1978: 258) einen Sonderstatus der Wissenschaft vor, um weiterhin wahres wissenschaftlichen Wissen von Ideologie trennen zu können. Neuere praxeologische Ansätze reformulieren diesen Relativismus und kommen mit Blick auf die Praxis der Soziologie – wie nachfolgend diskutiert wird – zu anderen Einsichten über den Status und die Beschaffenheit soziologischen Wissens.
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einer Praxeologie der Ethnografie oder auch praxeologischen Ethnografie der Ethnografie daran an. Grundlage hierfür sind die sozial- und kulturtheoretischen Überlegungen von Pierre Bourdieu (Praxeologie) und Harold Garfinkel (Ethnomethodologie)3 sowie meine eigene Forschung über die Praxis der Ethnografie (vgl. Meyer/Meier zu Verl 2013; Meier zu Verl 2018, 2020, 2021; Meier zu Verl/Tuma 2021). Eine Praxeologie der Ethnografie fragt nach den praktischen Bedingungen des Gelingens ethnografischer Forschung und formuliert – im Gegensatz zur normativen Wissenschaftstheorie – wissenschaftsempirische Antworten. Wie wird ethnografisches Wissen in der Praxis der Ethnografie medial und praktisch hervorgebracht? Welche technischen Fertigkeiten und Praktiken machen Akteure zu Ethnograf:innen und Beobachtungen zu Daten? Wie werden empirische Materialien praktisch hergestellt und wie werden sie medial in ethnografische Daten transformiert? Diese Fragen, die in unterschiedliche Richtungen erweitert werden können, zielen letztlich immer auf eine praxeologische Respezifizierung von dem, was wir bislang wissenschaftstheoretisch und methodologisch unter Ethnografie verstehen. Dies gelingt, indem die Praktiken der Ethnografie und deren Materialität, Medialität und Indexikalität als das Fundament ethnografischer Erkenntnisproduktion untersucht werden. Dieses Fundament ermöglicht die Produktion von ethnografischen Sinndifferenzierungen und letztlich auch die Produktion von neuen ethnografischen Erkenntnissen. In diesem Sinne ist die Praxeologie der Ethnografie Teil eines soziologischen Diskurses der Selbstreflexion, der Potenziale für eine neue wissenschaftsempirische Verortung der Soziologie insgesamt in sich trägt.
1 (Neo)Praxeologie Praxeologische Ansätze der Soziologie sind stark reflexiv. Diese Reflexivität wurde theoretisch formuliert (vgl. u.a. Garfinkel 1967; Bourdieu/Wacquant 1996), aber nur vereinzelt und nicht systematisch empirisch untersucht (vgl. dazu meine Publikationen, aber u.a. auch Berli 2017; Lippert/Mewes 2021; Neubert/Trischler 2021; Niermann 2021; Schindler/Schäfer 2021).
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Garfinkel tendierte kurzzeitig dazu, seinen soziologischen Ansatz nicht als Ethnomethodologie, sondern als Neopraxeologie zu bezeichnen (Meyer 2015: 91–2).
Christian Meier zu Verl: Praxeologie der Ethnografie
Alfred Schütz und Garfinkel diskutieren eine empirische Erforschung der Soziologie bereits Anfang der 1950er Jahre auf der Grundlage verschiedener eigener Aufsätze.4 Diese frühe Diskussion kann als ein Ausgangspunkt für die nachfolgende (Neo)Praxeologie der Soziologie gelesen werden. In einem Brief an Garfinkel kommentiert Schütz dessen unveröffentlichtes Manuskript Notes on the Sociological Attitude5 ausführlich (vgl. für den Briefwechsel Psathas 2009). Schütz spricht sich darin für eine empirische und vor allem soziologische Erforschung der Praxis der Soziologie aus, die über eine rein phänomenologische und methodologische Untersuchung hinausgeht. Die Praxis selbst stellt für Schütz ein »unknown territory« dar, ein bisher noch unerschlossenes Gebiet der Soziologie, das als Gegenstand der Soziologie ein »undiscovered treasure island« sei, dessen Erschließung erst noch bevorsteht.6 Ein Baustein dafür erarbeitet Garfinkel mit seinem Manuskript, indem er phänomenologisch versucht der natürlichen Einstellung von Schütz eine soziologische Einstellung zur Seite zu stellen, die – wie die natürliche Einstellung – eine Grundlage für das Handeln von Soziolog:innen bildet. Auf dieser Grundlage beschreibt er dann (operationale) Regeln, die Soziolog:innen bei ihren methodischen Entscheidungen praktisch anleiten und anwenden. In den Strukturen der Lebenswelt (Schütz/Luckmann 1975) versucht auch Schütz ein Kapitel über diese reflexive Form der Methodologie7 der Sozialwissenschaften und ihrer lebensweltlichen und praktischen Fundierung zu schreiben. Die Arbeiten an den Strukturen der Lebenswelt konnte Schütz jedoch Zeit seines Lebens nicht beenden, so dass das Kapitel fragmentarisch blieb und nach Einschätzung von
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Unter anderem der Aufsatz Common-Sense and Scientific Interpretation of Human Action (Schütz 1953) und das unveröffentlichte Manuskript Notes on the Sociological Attitude (Garfinkel 1951). Der unveröffentlichte Aufsatz Notes on the Sociological Attitude befindet sich im Garfinkel Archive in Newburyport unter der Leitung von Anne W. Rawls. In diesem Aufsatz fragt sich Garfinkel, was den soziologischen Blick zu einem spezifisch soziologischen Blick macht (»treating familiar things in strange ways« Garfinkel 1951). Schütz schreibt an Garfinkel: »If you say that the study of methodological decisions upon which the actual practice of sociologists based are practically unknown territory you have my full approval and I hope you will be one of the explorers of this undiscovered treasure island.« (Schütz zit.n. Psathas 2009: 424, Herv. i. Orig.) An einer »reflexiven Methodologie« wird aktuell auch innerhalb der deutschen Wissenssoziologie gearbeitet (vgl. u.a. Knoblauch 2020).
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Thomas Luckmann (2003: 21) argumentativ nicht über den Aufsatz CommonSense and Scientific Interpretation of Human Action (Schütz 1953) hinausgeht.8 Die nachfolgenden Generationen von Soziolog:innen bauen verstärkt Momente der Reflexivität in ihre sozial- und kulturtheoretischen Überlegungen ein. Diese Momente werden vor allem in den theoretischen Entwürfen von Bourdieu und Garfinkel deutlich sichtbar. Beide liefern damit wichtige Bausteine für eine Praxeologie der Ethnografie. Bourdieus Praxeologie hat ihren Ausgangspunkt in seiner ethnografischen Forschung über die kabylische Gesellschaft. Dabei reflektiert Bourdieu nicht nur die beobachtete Praxis, sondern auch die eigene Praxis des Beobachtens und entwickelt auf dieser Grundlage »einen praxeologischen modus operandi des Forschens« (Schmidt 2014: 193, Herv. i. Orig.). Mit diesem Modus kann Bourdieu nicht nur das praktische Zusammenspiel von Theorie und Empirie beobachtbar, sondern auch den Einfluss des Sozialen auf die soziologische Erkenntnisproduktion kritisierbar machen. Ausgangspunkt für die Formulierung einer praxeologischen Methodologie ist die Annahme, dass »[d]ie Denker […] die Voraussetzungen ihres Denkens im Ungedachten (doxa) [lassen], d.h. die sozialen Bedingungen der Möglichkeit der scholastischen Sicht« (Bourdieu 1988: 205, Herv. i. Orig.) nicht reflektieren. Damit werden blinde Flecken erzeugt, die sich in das produzierte soziologische Wissen einschreiben, da die eigenen praktischen Grundlagen des soziologischen Denkens nicht oder nur unzureichend thematisiert werden. Bourdieu geht es in diesem Sinne um eine »Soziologie der Soziologie« (Bourdieu et al. 1991: 273) oder »Soziologie soziologischen Wissens« (ebd.: 79) als ein integraler Teil der Soziologie, die sich selbst als Wissenschaft und nicht als Spontansoziologie versteht. Letztere ist nach Bourdieu nicht in der Lage, die eigene Praxis reflexiv und kritisch zu thematisieren.
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Dieser Aufsatz enthält zwar methodologische Einsichten über die Praxis der Sozialwissenschaften – wie das Beobachtungstheorem und unterschiedliche Postulate –, die methodologische Praxis selbst wird jedoch nicht untersucht. Luckmann selbst versucht Ende der 1970er Jahre die Praxis der Sozialwissenschaften im Rahmen des Forschungsprojekts »Analyse unmittelbarer Kommunikation und Interaktion als Zugang zum Problem der Entstehung sozialwissenschaftlicher Daten« empirisch zu erforschen. Ein Teil der Projektergebnisse wurde bislang nicht veröffentlicht (vgl. für eine Rekonstruktion des Forschungsprojekts Meier zu Verl 2018: 4–9). Die erhaltenen Projektunterlagen befindet sich im Sozialwissenschaftlichen Archiv Konstanz unter der Leitung von Christian Meyer und Hubert Knoblauch.
Christian Meier zu Verl: Praxeologie der Ethnografie
Wie Marx mit seinen Thesen über Feuerbach, sieht auch Bourdieu die Soziolog:in nicht als eine außenstehende Beobachter:in, die isoliert von der Gesellschaft lebt und forscht, sondern sie macht dies als Mitglied der Gesellschaft. Bourdieu (1998: 210) fügt dieser Einsicht eine spezifische scholastische Situation hinzu, mit der es den Soziolog:innen gelingt, den Handlungsdruck von Beobachtungssituationen temporär auszuklammern, um Wissenschaft zu betreiben. Es geht ihm daher nicht nur um eine Beschreibung der Möglichkeit Soziologie zu betreiben, sondern im Sinne einer praktischen Vernunft auch um eine Beobachtung des Einflusses sozialer Bedingungen auf den Inhalt des Gedachten (ebd.: 206), aber auch Gesagten und Gemachten. Die Analyse der wissenschaftlichen Praxis verbindet Bourdieu weitergehend mit seinem Konzept des Habitus. Mit dieser Verbindung wird die wissenschaftliche Praxis nicht nur als epistemische Praxis entworfen, sondern es können auch weitergehend Fragen zu Macht- und Herrschaftsverhältnissen gestellt werden. Dabei interessiert sich Bourdieu unter anderem für den Einfluss soziologischer Wissenskulturen auf die Körper der Soziolog:innen. Dieser Einfluss manifestiert sich als ein spezifischer soziologischer Habitus. Erkenntnistheoretisch präformiert dieser Habitus die Möglichkeit der Erfahrung sozialer Wirklichkeit. Das schließt auch die zu erforschende Wirklichkeit mit ein. Daneben wirkt das im Feld vorherrschende epistemische doxa präformierend auf die Erfahrungs- und Erkenntnishorizonte innerhalb der Soziologie ein (Bourdieu 1998: 205). Bourdieu spricht von einem Mikrokosmos der Soziologie, der sich teilweise unabhängig von anderen Bereichen entwickelt. Für diesen Mikrokosmos gilt, dass seine Bewohner:innen ihre sozial geprägten Erfahrungen oftmals auf wissenschaftlich unzulässige und implizite Weise auf ihren Untersuchungsgegenstand übertragen. Für Bourdieu lautet die Frage daher, wie soziologische Arbeit ihre Gegenstände praktisch und jenseits von Wissenschaftstheorie und Methodologie formen kann. Das heißt, es sollten »Methoden und Theorien im Akt ihrer praktischen Umsetzung danach […] befrag[t] [werden], was sie welchen Gegenständen antun« (Bourdieu et al. 1991: 14). Bourdieu führt somit den Praxisbegriff zunächst als ein methodologisches Mittel zur Differenzierung von wissenschaftlichem und alltäglichem Tun ein, um anschließend die Logik der Wissenschaft selbst herauszuarbeiten. Die alltägliche Praxis wird damit zum Antonym der wissenschaftlichen Theorie. Seine reflexive Wende der soziologischen Theoriearbeit als eine »Objektivierung des objektivierenden Subjekts« (Bourdieu/Wacquant 1996), ein »relationales Denken« (ebd.: 258) und ein »radikaler Zweifel« (ebd.: 269) versucht somit soziologisches Wissen als
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wissenschaftliches Wissen in Ordnung zu bringen und von spontansoziologischem Wissen zu unterscheiden. Die Ethnomethodologie von Garfinkel (1967: VII), die zeitweise auch Neopraxeologie genannt wurde, interessiert sich wie Bourdieus Praxeologie für die Relation zwischen Alltag (Laiensoziologie) und Soziologie (professioneller Soziologie). Garfinkel setzt aber im Gegensatz zu Bourdieu bei der Indexikalität der natürlichen Sprache an. Beide Formen der Soziologie, die alltägliche und die professionelle, haben ihren Ausgangspunkt in einer geteilten ›natürlichen Sprache‹, deren Indexikalität auf unterschiedliche Weise problematisch wird. Mit dem Begriff der Indexikalität bezeichnet Garfinkel die fehlende Möglichkeit einer (dauerhaften) Bedeutungsfixierung.9 Im Anschluss an Aaron Gurwitsch versteht er soziale Bedeutungskonstruktion als non-egologisch und thematisch-relational beziehungsweise kontextsensibel (vgl. für Überlegungen zu den Eigenschaften phänomenaler Felder Garfinkel 2021; Meyer i. E.). Die praktischen Lösungen des Problems der Indexikalität sind somit konstitutiv für das Wissen über soziale Phänomene – alltäglich und wissenschaftlich (Garfinkel/Sacks 1970). Reflexiv betrachtet ist eine solche praktische Lösung selbst ein soziales Phänomen, das zum Gegenstand gemacht werden kann. Aus der Perspektive der Ethnomethodologie ist es eine empirische Frage, ob sich Lösungen des Indexikalitätsproblems in der Wissenschaft und im Alltag praktisch beziehungsweise (ethno)methodisch voneinander unterscheiden. »The fact that natural language serves persons doing sociology, laymen or professionals, as circumstances, as topics, and as resources of their inquiries, furnishes to the technology of their inquiries and to their practical sociological reasoning its circumstances, its topics, and its resources.« (Garfinkel/ Sacks 1970: 338, Herv. i. Orig.) 9
Mit seiner Konzeption von Indexikalität bezieht sich Garfinkel zunächst auf Yehoshua Bar-Hillel (1954), der mit dem Begriff »indexical expression« auf besondere sprachliche Phänomene bestimmter Wörter wie »hier«, »dort«, »jetzt«, »ich«, »du«, »wir« etc. verweist. Diese Wörter bekommen erst aus ihrem pragmatischen Kontext heraus eine Bedeutung. Garfinkel bezieht sich daneben auch auf Edmund Husserl (1950) und geht damit in seiner Konzeption über die »indexical expressions« hinaus. Damit macht Garfinkel darauf aufmerksam, dass Akteure Bedeutungen von Gegenständen nicht in jeder Situation neu erschließen müssen, sondern dass sich ein »vorgemeinter« mit dem »zu verwirklichenden Sinn« verbindet. Indexikalität – wie Garfinkel und Sacks (1970) betonen – wird in der alltäglichen und wissenschaftlichen Soziologie gleichermaßen praktisch beziehungsweise (ethno)methodisch behandelt.
Christian Meier zu Verl: Praxeologie der Ethnografie
Garfinkel relativiert dementsprechend wissenschaftliche Ansprüche auf eine privilegierte epistemische Position gegenüber einer Laiensoziologie. Zum Fundament allen soziologischen Wissens zählt somit der praktische Gebrauch natürlicher Sprache. Jenseits aller wissenschaftlichen Formalisierungsversuche ist dieser Gebrauch Bedingung, Thema und Ressource einer jeden Untersuchung des Sozialen. Als ein konstitutives Medium durchdringt die natürliche Sprache nicht nur das Wissen über Sozialität, sondern auch das praktische soziologische Denken und die praktischen soziologischen Methoden. Die medialen Eigenschaften der Sprache sind ebenso relevant wie jene Praktiken, die auf bestimmte Eigenschaften der Sprache reagieren. Für Garfinkel und Sacks (1970: 342f., 353f.) stellen »glossing practices«10 situierte Lösungen des Indexikalitätsproblems dar. Diese Praktiken zeichnen sich dadurch aus, dass mit ihnen versucht wird, identifizierte indexikale Elemente durch neue Glossierungen (temporär) zu heilen. Diese Heilungen sind jedoch nur kontextsensible Lösungen des Problems. In allen Bereichen der Wissenschaft tauchen glossing practices, oder auch Formen einer »documentary method of interpretation«11 auf. Beispiele für die dokumentarische Methode lassen sich etwa in der Sozialforschung finden, wenn Forscher:innen den von ihnen beobachteten Akteuren subjektive Motive und Intentionen zuschreiben. Damit identifizieren die Forscher:innen konkrete Beobachtungen als Dokumente eines latenten Musters (Garfinkel 1967: 95–6). Diese sozialen Objekte – wie die Motive und Intentionen, die die Forscher:innen untersuchen wollen – werden durch die dokumentarische Methode nicht nur mit konkreten Beobachtungen verknüpft, sondern dadurch auch als Objekte verkörpert. Das etwas als Dokument von etwas behandelt werden kann, ist laut Garfinkel (ebd.: 97) möglich, da die von den Forscher:innen untersuchten Akteure ihr eigenes Handeln selbst auch als Dokumente praktisch darstellen und behandeln. Beide nutzen letztlich dasselbe praktische Verfahren, um sich die Wirklichkeit im Jetzt-hier typisierend verständlich zu machen. Damit reformuliert Garfinkel das Fundament der Soziologie
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Mit glossing practices wie formulations (dt. Reformulierungen) paraphrasieren Gesprächsteilnehmer:innen nicht nur ihre Gespräche, sondern sie verobjektivieren diese auch retrospektiv. Damit können sich die Teilnehmer:innen reflexiv und wechselseitig darauf aufmerksam machen, um was es in ihrem Gespräch eigentlich retrospektiv ging und prospektiv gehen soll. Garfinkel (1967: 76) bezieht sich im Sinne eines ethnomethodologischen Misreading auf Mannheims Konzept der dokumentarischen Methode.
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von den Konstrukten ersten und zweiten Grades – wie noch bei Schütz (1953) – hin zu den im Alltag und in der Soziologie geteilten impliziten praktischen Verfahren. Die ethnomethodologische Perspektive relativiert den wissenschaftlichen Anspruch einer professionellen Soziologie, die sich mit ihren impliziten Verfahren nur bedingt von einer Laien- oder auch Spontansoziologie (Bourdieu) unterscheidet. Zugleich wird die Soziologie aber auch als eine eigene Wissenskultur aufgefasst, die sich durch ihre wissenschaftlichen Beschreibungen von alltäglichen Beschreibungen (inhaltlich) abgrenzt. Sie ist selbst ein soziales Phänomen sui generis und keine bloße Verdopplung einer Laiensoziologie. Die Ethnomethodologie macht es möglich, jene impliziten praktischen Verfahren der (alltäglichen und professionellen) soziologischen Praxis zu beschreiben, ohne zugleich normative Vorstellungen über richtiges und falsches soziologisches Arbeiten mitführen zu müssen.
2 Ethnografie Die Praxeologie der Ethnografie macht die Ethnografie zu ihrem eigenen Thema. Sie ist aber auch in der methodologischen Lage die Ethnografie als Ressource zu nutzen, um als Ethnografie der Ethnografie die eigene Praxis reflexiv zu beobachten. Aus dieser Perspektive wird die Ethnografie zum Thema und zur Ressource der eigenen Forschung. Deshalb muss eine Praxeologie der Ethnografie auch epistemologische, wissenschaftstheoretische und methodologische Überlegungen mit in ihre Forschung einbeziehen. Ethnografie kann als eine Kultur wechselnder Mündlichkeit und Schriftlichkeit verstanden werden, die als ein spezifisches »Aufschreibesystem« (Kittler 1980) innerhalb der Wissenschaft organisiert wird. Zentral ist der Wechsel zwischen Medien und die Bildung von Referenzen und deren (Dis)Kontinuierung über den ethnografischen Forschungsprozess hinweg (vgl. für den Begriff der Referenzkarriere Meier zu Verl 2020: 250–69). Die zahlreichen Traditionen der Ethnografie konzeptualisieren Medienwechsel und Formen der Referenzbildung unterschiedlich. Dadurch gelangen sie teilweise zu abweichenden Einschätzungen über den epistemischen Einsatz des Körpers der Ethnograf:in, von Sprache und Schrift. Nachfolgend werden drei Varianten der Ethnografie thematisiert, ohne dabei den Anspruch auf eine umfassende Darstellung zu erheben (vgl. Meier zu Verl 2018: 83–95).
Christian Meier zu Verl: Praxeologie der Ethnografie
Die semiotische Ethnografie positioniert Geertz (1973) als ein methodologisches Gegenprogramm zum frühen naturalistischen Verständnis, das sich darauf beschränkte, beobachtbares menschliches Verhalten nachvollziehend zu dokumentieren. Geertz geht es dem entgegen, um ein hermeneutisches Verstehen fremder kultureller Symbolsysteme. Die Sozialwelt – deren kleinste Einheit für ihn die symbolische Handlung ist – entfaltet sich für die Ethnograf:in als ein zu interpretierendes fremdes Manuskript, in dem sie lesen muss, um den Sinn des vor ihr liegenden Textes interpretativ zu erschließen. Der semiotischen Ethnografie geht es nicht um eine eigene körperliche Erfahrung eines Enkulturationsprozesses oder eine performative Nachahmung beobachteter Aktivitäten, sondern um ein ethnografisches Übersetzen fremder Diskurse. Geertz fordert daher von der Ethnografie ein Verstehen fremder Kulturen, ohne dass sich Ethnograf:innen in diese Kulturen (körperlich) einfühlen. Für die korporale Ethnografie ist es nicht möglich, die zu erforschenden Praxis wie ein fremdes Manuskript zu lesen. Das Soziale muss in dieser Variante überhaupt erst zur Sprache gebracht werden. Diesem sozialtheoretischen Verständnis nach dient die Ethnografie dazu, die »Schweigsamkeit des Sozialen« (Hirschauer 2001) durch den körperlichen Einsatz der Ethnograf:in empirisch zu durchbrechen. Die korporale Ethnografie betont dabei – im Gegensatz zur semiotischen Ethnografie – die epistemologische Bedeutung des Körpers. Goffman (1989: 125) spricht in diesem Zusammenhang auch von dem Stimmen des Körpers wie bei einem Musikinstrument. In diesem Sinne muss die Ethnograf:in soziale Situationen selbst durch ihre körperliche Kopräsenz inkorporieren, um sie abseits davon im Medium der Schrift sukzessiv zur Sprache zu bringen. Diese unvermittelte körperliche Erfahrung des Sozialen muss dann im Medium der Schrift auch für andere verstehbar gemacht werden. Die ethnomethodologische Ethnografie plädiert stärker als alle anderen Varianten für eine Teilnahme der Ethnograf:innen an der zu erforschenden Praxis (Garfinkel/Wieder 1992; Meyer/Meier zu Verl 2022). Die Ethnograf:in ist nicht mehr teilnehmende Beobachter:in, sondern beobachtende Teilnehmer:in. Sie wendet die zu erforschenden Praktiken selbst kompetent an, um sie reflexiv zu erforschen. Die im Rahmen der Forschung angefertigten technischregistrierten Konservierungen sozialer Ereignisse (wie Audio- und Videoaufzeichnungen) müssen durch das praktische und verkörperte Wissen der Ethnograf:in analytisch angereichert werden, um soziale Phänomene für sich und andere nachvollziehbar zu machen. Die Ethnograf:in erinnert sich zum Bei-
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spiel in Datensitzungen an ihr verkörpertes Wissen über die Praxis. Sie befragt dieses Wissen, um es anschließend anhand der vorliegenden Aufzeichnungen zu explizieren. Für eine adäquate Rezeption ethnomethodologischer Beschreibungen sollten die Rezipient:innen entweder auch kompetente Mitglieder der erforschten Praxis sein oder die Beschreibungen selbst müssen – soweit dies möglich ist – die Rezipient:innen in Form einer Anleitung in die praktische Lage versetzen, sich jene Kompetenzen anzueignen (vgl. exemplarisch Livingston 1986).
3 Die Ethnografie der Ethnografie als eine Praxeologie der Ethnografie Eine Praxeologie der Ethnografie macht die Ethnografie also nicht nur zum Thema, sondern nutzt sie auch als Ressource, um etwas über die eigene ethnografische Praxis zu erfahren. Die Ethnografie der Ethnografie ist in diesem Sinne eine methodisch-reflexive Reformulierung von kultur- und sozialtheoretischen Überlegungen über die Praxis der Soziologie und Ethnografie. Die drei nachfolgenden empirischen Ausschnitte machen diese ethnografische Praxis als eine spezifische Praxis beobachtbar. Damit können die diskutierten Überlegungen von Bourdieu und Garfinkel (u.a. die doxa des soziologischen Denkens, die scholastische Situation, die Indexikalität natürlicher Sprache, die Documentary Method of Interpretation) und die diskutierten methodologischen Annahmen über die Ethnografie untersucht werden. Die Ausschnitte sind Teil meiner ethnografischen Forschung über die Praxis der Ethnografie, für die ich als Wissenschaftsethnograf die Ethnograf:innen des Forschungsprojekts »Alltag in Bildungseinrichtungen »12 über 18 Monate teilnehmend beobachtete (vgl. Meier zu Verl 2018: 96–113). Die Mitarbeiter:innen des Projekts forschten ethnografisch zur praktischen Hervorbringung von Bildungsungleichheiten in Kindergärten und Grundschulen.
3.1 Das Indexikale der Praxis: das handschriftliche Beobachtungsprotokoll Ausgangspunkt für die Untersuchung der ethnografischen Praxis ist ein handschriftliches Beobachtungsprotokoll (Tr. 1). Dieses Beobachtungspro12
Die im Rahmen dieses Beitrags verwendeten Namen sind Pseudonyme.
Christian Meier zu Verl: Praxeologie der Ethnografie
tokoll ist eine erste schriftliche Beschreibung einer Situation, die durch die Ethnografin Anne Adler teilnehmend beobachtet wurde. Die mit der schriftlichen Beschreibung »dauernd fixierten Lebensäußerungen« (Dilthey 1927) sind aber nicht nur Ausgangspunkt für die empirische Untersuchung, sondern auch Zwischenpunkt innerhalb der untersuchten ethnografischen Forschungspraxis. Für diese Praxis liegt mit dem Beobachtungsprotokoll eine erste Beschreibung vor, die anschließenden durch die beobachteten Ethnograf:innen weiterverarbeitet wurde. Tr. 1 – Abschrift der handschriftlichen Beobachtungnotiz »Testbesprechung Gruppe 4« 1
zweisprachig R
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+ Problem: Türkisch/Kurdisch
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brauche ein Land, das ich eintragen kann
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Kinder brauchen Migrationshintergrund
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für Sprachförderung
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Deutsche Kinder bekommen nur
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Lesepaten, keinen Sprachkurs
Im handschriftlichen Beobachtungsprotokoll (Tr. 1) fixiert die Ethnografin Anne ein mitgehörtes Gespräch zwischen einer Erzieherin (Kindergarten) und Lehrerin (Grundschule). Beide haben im Vorfeld des protokollierten Gesprächs die deutschen Sprachkenntnisse von mehreren Kindergartenkindern getestet. Im Ausschnitt des Beobachtungsprotokolls unterhalten sich die beiden über das Kind R (Abkürzung des Vornamens), dessen Sprachkenntnis von ihnen bewertet wird. Zunächst lässt sich festhalten, dass die handschriftliche Beschreibung inhaltlich fragmentarisch ist und dass die beschriebene Situation wenig allgemein und vielmehr spezifisch zu sein scheint. Ein Verständnis der von Anne miterlebten Situation ist auf der Grundlage ihrer ethnografischen Beschreibung nicht ohne zusätzliches Wissen möglich. Nicht nur die beschriebenen Aktivitäten der beobachteten Akteure sind indexikal, sondern auch die Beschreibung selbst. Mit dieser Beschreibung wird Indexikalität nicht temporär und kontextsensibel aufgelöst beziehungsweise geheilt, sondern sie wird mit ihr überhaupt erst textlich produziert. Es ist nicht die Indexikalität der
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(beschriebenen) Situation, sondern die Indexikalität der Beschreibung, die dieses situierte Produkt einer ethnografischen Praxis kennzeichnet.
3.2 Das Mediale der Praxis: die digitale Textproduktion13 Die Medien der Ethnografie werden vor allem durch die technischen Fertigkeiten der Ethnograf:in hervorgebracht. Diese Fertigkeiten sind Teil einer praktischen Grundlage, die Erkenntnisse durch Schriftlichkeit ermöglicht und mit denen sich die Ethnograf:in selbst zum Medium unter anderen Medien macht (vgl. allgemein Schüttpelz 2019; Ayaß 2020). Dabei fügt sich die Ethnograf:in – ähnlich zur Praxis der Naturwissenschaften – körperlich in eine technisch-mediale Infrastruktur der Forschung ein. Durch die Sequenzialität ihrer Medienpraktiken verleiht sie dieser Infrastruktur zugleich eine temporale Dimension.
Tr. 2 – Digitalisierung handschriftlicher Notizen (2:19-3:01 min.) 1
Anne liest im handschriftlichen Beobachtungsprotokoll.
Abb. 1
13
Ich danke Gioia Caruso für ihre Unterstützung beim Erstellen des Transkripts.
Christian Meier zu Verl: Praxeologie der Ethnografie
Abb. 2
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Sie tippt auf der Tastatur und blickt dabei auf die Tastatur. Anschließend schaut sie auf den Bildschirm. Die Blickkoordination zwischen Tastatur und Bildschirm wiederholt sie zehnmal bis sie den Satz in Zeile 34 geschrieben hat.
Abb. 3 3
Sie liest anschließend im Text auf dem Bildschirm
Abb. 4 4
Sie markiert einen Textteil auf dem Bildschirm.
Abb. 5 5
Sie verschiebt den markierten Textteil.
Abb. 6
Christian Meier zu Verl: Praxeologie der Ethnografie
Die Ethnografin Anne kehrt nach dem Feldaufenthalt in ihr Büro zurück, um ihr während der Beobachtung geschriebenes handschriftliches Protokoll zu überarbeiten. Überarbeiten steht hier synonym für eine Reihe von Medienpraktiken, die das handschriftliche Beobachtungsprotokoll in ein digitales Beobachtungsprotokoll übersetzen. Anne positioniert die Kladde, in die sie ihre Beobachtungen protokollierte, zwischen Bildschirm und Tastatur (Abb.1). Dabei liegt die Kladde aufgeschlagen auf einem anderen Gegenstand, so dass der handschriftliche Text (Abb. 2) von Anne gut eingesehen werden kann. Sie übersetzt ihr handschriftliches Protokoll, das zwischen ihr und dem Bildschirm positioniert ist, in ein digitales Protokoll, dessen Beobachtungen sie mit der Übersetzung auch weitergehend elaboriert. Beobachtungsprotokolle sind methodologisch betrachtet prinzipiell unabgeschlossen, während Audiooder Videoaufzeichnungen mit dem Ende ihrer technischen Aufzeichnung abgeschlossen sind. In diesem praktischen Sinne kann jede Ethnograf:in ihrem Beobachtungsprotokoll auch im Anschluss an eine Beobachtungssituation noch etwas Weiteres hinzufügen. Sie selbst fungiert als Zeugin, die über die vergangene Situation Auskunft geben und auf ihr verkörpertes Wissensreservoir zurückgreifen kann. Auch Anne erweitert ihre Aussage und fügt sich als ein Medium unter anderen Medien körperlich in eine technisch-mediale Infrastruktur ein. Zunächst liest sie einen Teil ihres handschriftlichen Protokolls (Z. 1, Abb. 1 und 2). In den nächsten 32 Sekunden tippt Anne den folgenden Satz in die Zeile 34 ihres digitalen Textdokuments: »D wirkt auf mich etwas entnervt, sagt ohne von der Plüschkatze aufzuschauen, ›Jaha.‹« (Abb. 3) Dabei blickt sie abwechseln auf Bildschirm und Tastatur (Z. 2). Anschließend liest sich Anne ihren Bildschirmtext vier Sekunden lang durch (Z. 3, Abb. 4), ohne dabei ins handschriftliche Protokoll zu schauen. Nachfolgend reorganisiert sie ihren digitalen Text, indem sie mit einem cut-and-paste den Satz »Nach einigen Versuchen gelingt es ihr.« (Abb. 5, Z. 31–2) digital markiert, ausschneidet und hinter den letzten Satz einfügt (Abb. 6, Z. 34–5). Damit verändert sie die temporale Struktur ihrer ethnografischen Beschreibung. Ihr digitaler Text weicht an dieser Stelle auch entscheidend von ihrem handschriftlichen Text ab, sodass es sich nicht um eine digitale Abschrift, sondern vielmehr um eine durch Anne elaborierte und reorganisierte Übersetzung handelt. Diese scholastische Situation im Büro der Universität befreit die Ethnografin vom Handlungsdruck des beobachtenden Protokollierens im Feld, sodass sie den Text ihres Beobachtungsprotokolls digital neu organisieren kann. Das Digitale ihrer Textpraktiken tritt mit dem Verschieben eines Satzes deutlich hervor. Das handschriftliche Protokoll ist durch seine Materialität sta-
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tisch und Änderungen am Text bleiben als Änderungen im Text sichtbar enthalten. Verschiedene Überarbeitungsphasen wären weiterhin referenzierbar. Das Protokoll auf dem Computerbildschirm ist im Gegensatz dazu durch seine Digitalität fluider. Es kann Textänderungen unsichtbar machen und stellt somit nur den textlichen Ist-Zustand dar. Es unterbindet eine Referenzbildung zwischen verschiedenen Überarbeitungsphasen.14 Das digitale Beobachtungsprotokoll fügt sich durch diese mediale Eigenschaft anpassungsfähiger in den praktischen Arbeitsprozess im Büro ein.
3.3 Das Ko-operative der Praxis: Das Interpretieren ethnografischer Beschreibungen Erkenntnisse werden nicht nur in medialen Interaktionen zwischen Ethnograf:in und Schrift beim Schreiben, sondern auch in sozialen Interaktionen zwischen zwei und mehreren Ethnograf:innen produziert. Dabei bringen sie die materiellen und medialen Grundlagen der Erkenntnisproduktion in bestimmte praktische Relationen zueinander. Die Interpretation einer ethnografisch beschriebenen Situation vollzieht sich demnach auch als ein ko-operatives Handeln zwischen Ethnograf:innen, die gemeinsam an einem Forschungsprojekt arbeiten (vgl. allgemein zum ko-operativen Handeln Goodwin 2017). Dabei nutzen sie nicht nur technisch-mediale Infrastrukturen, sondern auch ihre eigenen situativen Redebeiträge als sozio-praktische Infrastruktur der Erkenntnisproduktion. Im dritten und letzten empirischen Ausschnitt interpretieren die beiden Ethnografinnen Anne Adler und Brit Brand einen Teil ihres empirischen Datenmaterials (die Nachbesprechung eines Sprachtests für vierjährige Kinder zwischen einer Erzieherin [hier »Silke«] und einer Lehrerin [hier »Cornelia Wulms«], Abb. 7). Dafür nutzen sie unter anderem ihr präreflexives Alltagswissen, um das Material performativ-interpretativ auszuschließen. Dieses Wissen ist auch explikationsfähig und kann durch die Interpretinnen selbst zum Gegenstand ihres Interpretationsgesprächs gemacht werden (s. Tr. 3). Damit wird die sozio-praktische Dimension einer Infrastruktur der Interpretation beobachtbar, die zwar für alle sichtbar ist, sich aber oft unbemerkt vollzieht.
14
Diese Eigenschaft kann jedoch auch mit einem Modus der Nachverfolgung oder Versionierung digital simuliert werden.
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Abb. 7 – Beobachtungsprotokoll: Testbesprechung Gruppe 4, Z. 19–20
Tr. 3 – Interpretationssitzung der Ethnografinnen (50:06-50:57 min.) 01 Brit in dieser (.) vierfachen verneinung find ich drück sich so ne ABsurdität (1.0) aus- so ne absurdität äh von silkes (.) °h aussage. 02
aber eigentlich könnt man auch sagen das ist fast ne un- °h UNnötig das (--) zu sagen;
03 weil [(-) ] wir- also wie WIR es gerade besprochen 04 Anne [mhm,] 05 Brit haben es gibt nicht mehr oder weniger zweisprachig; ® 06
°h a:ber vielleicht ist es auch so_ne- so_ne SELBSTtpositionierung (.)°h nochmal a:ls klar dasäh das is genAuso zwei[sprachig;]
07 Anne [mhm; ] ((schreibt)) 08 Brit also so dieses vo:n sICh weisen ® 09 Anne das ist total LUSTig aber du machst das auch oft, (---) ® 10 Brit nein nein nein nein; 11 Anne doch (.) [te- echt?] 12 Brit [ja_ha; ] ® 13 Anne das du sagst (--) oder so? 14 [ALso] (.) das ist e:cht total interessant; 15 Brit [ja? ] 16
aber das ist so: würde ich sagen so ne STARke zurückweisung von den[jenigen;]
17 Anne 18 [sta::rke 19
[ja::? ]
[((schreibt))] ((schreibt))
] ja,
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Tr. 4 – Abschrift der handschriftlichen Interpretationsnotiz zur Äußerung »Nein, neineinein« 1
[19-20] nein/v 4-fache Verneinung, Selbstpositionierung
2
starke Zurückweisung
Den beiden Interpretinnen Anne und Brit liegt ein »audiogestütztes Beobachtungsprotokoll«15 einer Testbesprechung zwischen Silke (Erzieherin) und Cornelia Wulms (Lehrerin) vor. Mit dem Sprachtest erheben diese beiden Akteure die deutschen Sprachkenntnisse von vierjährigen Kindern, die teilweise auch aus postmigrantischen Familien stammen und zweisprachig aufwachsen. Beide Interpretinnen nutzen das vor ihnen liegende Beobachtungsprotokoll und ihre wechselseitigen Redebeiträge als semiotische Ressource, um Interpretationen und Deutungen der ethnografischen Beobachtungssituation ko-operativ hervorzubringen. Die Interpretin Brit beginnt ihre Deutung der Äußerung von Cornelia Wulms (Abb. 7), indem sie eine erste Kategorie artikuliert (»Absurdität«, Z. 1) und anschließend versucht, diese für sich und ihre Ko-Interpretin Anne zu begründen (Z. 1–5). In einem zweiten Anlauf reformuliert sie ihren vorherigen Vorschlag. Sie kategorisiert zunächst die Äußerung neu und plausibilisiert diese neue Kategorie anschließend performativ durch eine mündliche Reinszenierung der verschriftlichten Äußerung (Z. 6). Dafür moduliert sie ihre Stimme und artikuliert die Äußerung als ob eine andere Sprecherin sprechen würde (vgl. hierfür Goffman 1979). Brit verändert mit ihrer Reinszenierung auch den Wortlaut der verschriftlichten Äußerung, um diese textlich-performativ an ihre Kategorie anzupassen. Die neu eingeführte Kategorie »SELBSTpositionierung« (Z. 6) wird anschließend nach dem praktisch etablierten Schema (Kategorisierung und körperliche Reinszenierung) spezifiziert (Z. 8). Die Interpretin Anne verschiebt mit ihrer nachfolgenden Äußerung dann zunächst den thematischen Rahmen des Interpretationsgesprächs, indem sie reflexiv das Verhalten ihrer Ko-Interpretin Brit thematisiert. Damit wird die implizite sozio-praktische Ressource der vorherigen
15
Die Ethnografin Anne Adler bezeichnet die Kombination von ethnografischer Beschreibung und transkribierter Audioaufzeichnung derselben Situation als »audiogestütztes Beobachtungprotokoll«.
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Kategorisierungsversuche expliziert (wie z.B. der performative Körper als Forschungsinstrument der Ethnografie und Interpretation). Dies macht sie in Form einer bewertenden Feststellung (Z. 9), auf die Brit mit einer ambivalenten vierfachen Verneinung antwortet (Z. 10). Die Ambivalenz entsteht durch die praktische Validierung und gleichzeitige inhaltliche Verneinung der Feststellung. Anne schließt an diese ambivalente Äußerung von Brit an, als ob sie der inhaltlichen Verneinung widerspricht. Sie plausibilisiert ihre vorherige Feststellung und reinszeniert eine Äußerung ihre Ko-Interpretin Brit (Z. 13). Dabei markiert sie zum Ende ihres Redebeitrags mit einem relativierenden »oder so«, dass es sich dabei nicht um eine Reinszenierung einer konkreten Äußerung, sondern vielmehr um eine Reinszenierung eines allgemeinen Verhaltens handelt. In der parallel zum Interpretationsgespräch von Anne angefertigten handschriftlichen Interpretationsnotiz (Tr. 4) wird der Teil der von ihr thematisierten sozio-praktischen Infrastruktur (als praktisches Alltagswissen über die Performativität des Sprechens und deren interpretative Reinszenierung) unsichtbar gemacht. Dies macht Anne, indem sie es unterlässt, diesen Teil des Interpretationsgesprächs schriftlich zu referenzieren. Die praktischen Voraussetzungen des Denkens bleiben also nicht im Ungedachten – wie Bourdieu kritisiert –, sondern werden nach ihrer mündlichen Thematisierung durch die Interpretinnen nicht ins Schriftliche übersetzt. Ohne eine schriftliche Referenz im Interpretationsprotokoll wird aber die zuvor thematisierte sozio-praktische Infrastruktur dann wieder invisibilisiert.
4 Fazit Eine Praxeologie der Ethnografie – wie sie mit diesem Beitrag skizziert wird – beobachtet die sichtbare methodologische Praxis der Ethnografie aus unterschiedlichen Perspektiven. Die Ethnografie der Ethnografie ist eine Perspektive, die die Ethnografie reflexiv zum Thema und zur Ressource der eigenen empirischen Untersuchung macht. Diese empirisch-reflexive Untersuchung fußt dabei auf praxeologischen und methodologischen Überlegungen, die theoretisch formuliert, aber noch nicht systematisch als ein empirisch-reflexives Forschungsprogramm umgesetzt wurden (vgl. exemplarisch Meier zu Verl 2018). In den drei empirischen Ausschnitten konnte die indexikale, mediale und ko-operative Hervorbringung ethnografischen Wissens beobachtet werden. Dabei unterscheiden sich diese deskriptiven Beschreibungen einer ethnogra-
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fischen Praxis von normativ formulierten methodologischen Annahmen über die Ethnografie: Erstens sind sie detailreicher, sodass mit ihnen der praktische Vollzug der Ethnografie beobachtet werden kann (ethnography in the making). Zweitens lassen sich diese Ausschnitte entlang eines ethnografischen Schaffenszyklus punktuell einordnen. Dies gelingt vor allem durch eine Reflexion methodologischer Annahmen innerhalb der empirischen Untersuchung (relocating ethnography). Drittens können methodologische Annahmen und empirische Erkenntnisse dazu genutzt werden, um unser Wissen über die Ethnografie zu irritieren, zu erweitern und aufzuklären, was Ethnografie ist (respecifing ethnography). Hierfür sind unterschiedliche Momente von epistemologischer Relevanz, wie die Materialität, die Medialität, die Indexikalität oder auch die Ko-Operativität der ethnografischen Praxis. Diese Momente schreiben sich als Spuren der Praxis in handschriftliche Texte, in digitale Texte und in den Vollzug technischer Fertigkeiten und körperlicher Praktiken ein. Schriftliche Situationsbeschreibungen sind Produkte einer ethnografischen Praxis, mit denen beobachtete Handlungen ins Medium Schrift übersetzt werden. Diese Übersetzungen sind Teil einer rekonstruktiven Gattung (Bergmann/Luckmann 1995), die das beobachtete Gegenwärtige als ein erinnertes Vergangenes dauerhaft fixieren kann. Damit wird nicht nur das Indexikale einer beobachteten Situation verdoppelt, sondern auch neue Indexikalität durch die ethnografische Beschreibung schriftlich erzeugt (s. Abschn. 3.1). Diese doppelte Indexikalität wird in der ethnografischen Praxis zum Beispiel im Universitätsbüro im Anschluss an den Feldaufenthalt weitergehend bearbeitet. Für die Bearbeitung fügt sich die Ethnografin in eine technisch-mediale Infrastruktur als ein Medium unter weiteren Medien ein, um die Indexikalität ihrer Protokolle kontextsensibel zu transformieren. Hierfür bietet das Digitale mehr technische Freiheiten, als Stift und Papier dies können (s. Abschn. 3.2). Neben der technisch-medialen Infrastruktur des Verschriftlichens, die sich immer auch im Vollzug der Praxis invisibilisiert, konnte eine weitere Infrastruktur beobachtbar gemacht werden, die als sozio-praktische Infrastruktur des Interpretierens bezeichnet wird. Teil dieser Infrastruktur, sind die praktisch durch die Interpretinnen in einer Datensitzung hervorgebrachten und sich wechselseitig zur Verfügung gestellten semiotischen Ressourcen (wie kontextsensible Kategorisierungen und Reinszenierungen schriftlich fixierter Äußerungen), um ko-operativ zu situativ gültigen Deutungen zu gelangen. Dabei ist diese sozio-praktische Infrastruktur, die mit ihrer Hervorbringung zugleich auch invisibilisiert wird und damit implizit bleibt, explikationsfähig und kann durch die Interpretinnen in
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Form einer reflexiven Reformulierung ihres Interpretationsgesprächs ex post factum thematisiert werden. Die Voraussetzungen der Interpretation werden also auch in der interpretativen Praxis reflexiv mitbehandelt, auch wenn sie nicht – wie im analysierten Ausschnitt – als eine schriftliche Referenz ins handschriftliche Interpretationsprotokoll überführt werden (s. Abschn. 3.3). Es kann daher festgehalten werden, dass die Praxeologie der Ethnografie ein wissenschaftsempirischer Ansatz ist, der methodologische Annahmen irritieren kann, ohne dabei wissenschaftsnormative Ansprüche geltend zu machen. Die Praxeologie der Ethnografie ermöglicht damit eine neue empirischreflexive Wissenschaftstheorie und Methodologie der Ethnografie.
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Ein ethnografischer Selbstversuch im double bind1 Franz Schultheis »Die besondere Schwierigkeit der Soziologie liegt ja gerade darin, dass sie Dinge lehrt, die jeder irgendwie weiß, aber nicht wissen will oder nicht wissen kann, weil es das Gesetz des Systems ist, sie zu kaschieren.« (Pierre Bourdieu, Soziologische Fragen)
1 Irrungen und Wirrungen auf dem Wege der Objektivierung eigener Lebenswelten Der vorliegende Beitrag zum Sammelband verdankt sich einerseits der freundlichen Mahnungen der Herausgeber*innen, diesen doch endlich – better late than never – zu liefern, den mehrfachen Hinweisen des Autors, keine wirklich passende Idee zur Einlösung des von ihnen vorgeschlagenen Titels zu finden, und schließlich einer E-Mail mit folgendem Wortlaut, die sich als Auslöser für den Schreibprozess erweisen sollte: »17. September 2021 um 22:53: Mein Name ist XX, ich bin Masterstudent an der Universität St. Gallen. Vergangenes Semester habe ich mich im Rahmen einer Arbeit bei Prof. YY mit Formen der Machtreproduktion an der HSG auseinandergesetzt, woraus ich derzeit einen kürzeren Beitrag, der im Ostschweizer Kulturmagazin X erscheinen soll, verfasse. Ihre Studie »›Simply the Best‹. Habitusformation und Milieusozialisation an der Universität St. Gallen« aus dem Jahr 2013 bildet eine zentrale Stütze meiner bisherigen 1
Dieser Beitrag ist dem Andenken an Stephan Egger, dem im Juli 2021 verstorbenen guten Freund und Kollegen, gewidmet.
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Auseinandersetzung, die ich Ihnen im Anhang mitsende. Gerne möchte ich Sie anfragen, ob Sie in den nächsten Tagen Zeit für einen kurzen telefonischen oder digitalen Austausch hätten. Interessant zu erfahren wäre auch, weshalb die Studie bislang unveröffentlicht blieb?« Diese Anfrage, der ein längerer telefonischer Austausch folgen sollte, war für den Autor in mehrfacher Hinsicht bezeichnend: Zum einen erinnerte hier ein ihm unbekannter Student an eine Studie, hervorgegangen aus einem von ihm an der Universität St. Gallen geleiteten Forschungsprojekt zum Thema »Simply the Best«. Habitusformation und Milieusozialisation an der Universität St. Gallen. Selektion – Integration – Segregation (Autor*innen: Stephan Egger, Franz Schultheis, Tina Willner, Anja Zwingenberger) aus dem Jahre 2013, die ihm völlig aus Blick und Gedächtnis geraten und ihm zuvor als mögliche Grundlage eines Beitrags zu diesem Band gar nicht in den Sinn gekommen war. Weiterhin war bemerkenswert, dass eine mit Fördermitteln der Uni St. Gallen durchgeführte Studie, die nie publiziert worden und auch nur wenigen Leser*innen zugänglich gemacht worden war, hier plötzlich einem Studierenden fast zehn Jahre später für ein Referat im Kurs eines Kollegen zur Verfügung stand, und er sich darüber hinaus dieser Studie für einen Beitrag in einer lokalen, klar politisch links positionierten Zeitschrift bedienen wollte. Last but not least dessen Frage an meine Adresse: Weshalb blieb diese Studie denn unveröffentlicht? Eine gute Frage, die mich mit der Nase auf subjektive Widerstände und Widersprüche schubste, die meine Doppelrolle als homo academicus ethnographicus und zugleich Mitglied der beforschten Institution mit sich brachte. Diese Ambivalenz hier zu thematisieren, mag vielleicht den ein oder anderen Leser mit ähnlichen Erfahrungen interessieren. Soziologische Objektivierung macht bekanntlich bei den Objektivierten nicht nur Freude und Freunde. Das konnte der Autor in seiner rund vier Jahrzehnte langen Forschungserfahrung oft genug feststellen, wenn beispielsweise Interviewte bei der späteren Lektüre ihrer Aussagen brüskiert schienen, obwohl man mittels des Transkripts die wortgetreue Wiedergabe belegen konnte, oder aber sich die Direktoren einer großen Kunstmesse nach der Veröffentlichung einer soziologischen Studie über das Verhältnis von Kunst und Kapital in ihrem Kontext sehr ungehalten zeigten. Damit kann, ja muss der Soziologe leben. Aber wenn es nun um die eigene akademische Lebenswelt, wie im Falle unserer ethnologischen Feldforschungen, geht? Hier warten beim Offenlegen von Widersprüchen zwischen Ansprüchen und Wirklichkeiten, von Diskrepanzen zwischen Prätension und Faktischem
Franz Schultheis: Ein ethnografischer Selbstversuch im double bind
und beim Aussprechen allseits bekannter, aber geflissentlich verschwiegener Spannungen und Konfliktlinien oft genug Antipathien auf den Überbringer unerwünschter Botschaften. Man begegnet dabei aber auch durchaus ernsten moralischen Dilemmata und unangenehmen kognitiven Dissonanzen, wenn man den ethnologischen Blick, üblicherweise in die Ferne und Fremde gerichtet, auf das Nahe und Vertraute lenkt und riskiert den Vorwurf, sich als Nestbeschmutzer zu betätigen und den Ruf des eigenen Kollektivs zu schädigen, ein Risiko, dass man ernst nehmen sollte, soweit man nicht gerade Ressentiments gegen seine Arbeitgeber*in hegt und etwaigen Frustrationen Ausdruck verleihen möchte. Beides war und ist dem Autor damals wie heute völlig fremd: »Seine« Universität war ihm gegenüber stets wohlgesonnen und großzügig und einen angenehmeren Arbeitsort hätte er sich kaum wünschen können. Außerdem hatte der Autor während der gesamten Verweildauer an dieser Universität ein sehr gutes, freundschaftliches Verhältnis mit den Mitgliedern der beiden Rektorate seiner Zeit und diversen Kolleg*innen und respektierte deren durchgehend ausgesprochen starke Identifikation mit dieser Institution, hatte also auch Hemmungen, diese zu schädigen und sie damit zu verletzen. Auf der anderen Seite jedoch blieb ihm diese Universität mit der ihr eigenen »Unternehmenskultur«, ihrem elitären Anspruch, ihrer oft engen Verwobenheit mit der Welt der Ökonomie, ihrem Stolz darauf, sich zum überwiegenden Teil aus nicht-öffentlichen Mitteln selbst zu finanzieren, unter anderem durch das Angebot kostspieliger MBAs für Führungskräfte, und nicht zuletzt dem ostentativ zur Schau getragenen elitären Habitus vieler Studierender bis zur Emeritierung – und auch noch danach – fremd.
2 Von der Malaise zur Sozioanalyse Diese Fremdheit, die fehlende Passung des eigenen Habitus in das Habitat dieser Universität, das häufige Befremden beim Beobachten institutioneller Riten und dem Wahrnehmen von Sprachspielen eigener Art, wo Begriffe wie »Exzellenz« und »Qualität« sich ständig die Hand reichten, dem innerlichen Widerstreben, wenn wieder einmal auf die Bestplatzierung eines Studienganges in den Rankings der Financial Times verwiesen wurde, führte nicht nur zu einem dauerhaften Gefühl der, wenn auch komfortablen, Deplatziertheit, sondern auch zum Bedürfnis, diesem mit den eigenen vertrauten soziologischen Instrumenten und Methoden »auf den Grund« zu gehen und für ei-
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ne kritisch-reflexive Objektivierung zugänglich zu machen. Anders gesagt: es ging bei diesem Vorhaben auch um eine Form der Auto-Sozioanalyse. Im akademischen Alltag traf der Autor auf Schritt und Tritt Situationen an, die miteinander kaum in Einklang zu bringen waren. Kam er mit einem bekannten Betriebswirt ins Gespräch, der schon seit vier Jahrzehnten die mittelständischen Betriebe der Schweiz mit Führungskräften seines Schlages versorgte, so bekam er zu hören, dass die »heutigen« Studenten sich für diese Art Karriere überhaupt nicht mehr interessierten, sondern alle zu den Big Playern der Finanzwelt strebten. Genau dafür aber bereiteten ihnen Kolleg*innen einer jüngeren Generation den Weg, wenn sie – auch unter sich – in englischer Sprache die großen Karrierechancen der HSG-Abgänger auf dem internationalen Arbeitsmarkt multinationaler Unternehmen priesen. Wie kam es, dass das schon seit Jahrzehnten als Alleinstellungsmerkmal der HSG dienende Konzept »integratives Management« je nach Ansprechperson völlig andere Konnotationen anzunehmen schien und sich mit diesem wie selbstverständlich, wenn auch polysemisch, verwendeten Begriff eine Art fiktiver Konsens etabliert zu haben schien, unter dessen Schutz sich Platz für alles und jedes zu bieten schien. Auch fragte sich der Autor, warum fast alle HSG-Professor*innen trotz des stolz herausgehängten Anspruchs einer EliteUniversität anzugehören, im Hinblick auf die Einwerbung von Forschungsmitteln seitens des Schweizer Nationalfonds – ein wichtiges Kriterium bei (Re-)Akkreditierungen! – ein nationales Schlusslicht bildeten und die Universitätsleitung sogar einen großzügigen Bonus für diejenigen in Aussicht stellte, die, wie im Falle des Autors, dort erfolgreich Mittel einwarben? Auch die eigene Stellung als einziger Lehrstuhlinhaber für Soziologie und die seiner Fakultät für Kultur- und Sozialwissenschaften warf genügend Fragen auf. Warum hatte man ein von amerikanischen Elite-Unis entwickeltes Studienmodell übernommen, bei dem diesen für die HSG doch eher randständigen, um nicht zu sagen »exotischen« Disziplinen ein hohes Gewicht bei den Studierenden auferlegten Studienprogrammen zugewiesen wurde, letztere allerdings nach den Ergebnissen unserer Befragungen hierin in großer Mehrheit einen gut verzichtbaren Nebenschauplatz sahen, wo man sich allerdings Credits müheloser als in den Kernfächern abholen konnte? Staunen konnte der Autor auch, wenn er in der Regel sehr treffsicher bei seinen Reisen nach Zürich, Bern oder Genf im Zug ihm unbekannte Mitreisende als Studierende oder Ehemalige der HSG anhand ihres Outfits, ihrem Auftreten, ihrer Gestik und Mimik zu identifizieren vermochte und wenn er mitverfolgen konnte, wie sehr sich nach bestandenem Assessment-Jahr bei den Studierenden bis
Franz Schultheis: Ein ethnografischer Selbstversuch im double bind
hin zum Bachelor mehr und mehr ein relativ homogener Habitus zur Geltung brachte, und sie von einer gemeinsam organisierten intensiven Campuskultur mehr und mehr eine milieuspezifische Prägung erfuhren. Überhaupt erstaunte der Autor, wenn er beobachtete, wie zeitintensiv das Engagement der Studierenden für Aktivitäten außerhalb des eigentlichen Studiums war, obwohl der Leistungsdruck in den Veranstaltungen als enorm geschildert wurde. Hierzu zählte zunächst die Existenz von vielen Dutzend verschiedener Vereine aller möglichen Orientierung, dann aber und vor allem die Organisation eines jährlichen Symposiums mit hochkarätigem internationalen Publikum, das von den Studierenden weitgehend in Eigenregie organisiert wurde, bis hin zur Abholung von internationalen Bankdirektoren oder CEOs großer Beratungsfirmen mit dem von Audi gratis bereitgestellten Luxuslimousinen. Dieses Campusleben wirkte immer aufs Neue und unter verschiedensten Konstellationen wie eine Art Treibhaus für ein schrittweises »Aufblühen« eines kollektiv geteilten entrepreneurialen Ethos. Oft genug ergab sich hier der Eindruck, dass das Einüben in einen karriereförderlichen elitären Habitus sich besonders effizient in diesem hautnahen Kontakt zu den Big Playern aus Wirtschaft, Verwaltung und Politik abspielte. Die Einübung in Netzwerk-Management und Optimierung von Sozialkapital fand des Weiteren gezielt beim Einbezug der mehreren Tausend Alumni in die Karriereplanung der Studierenden statt, wobei die Beziehungspflege durch ein eigenes Büro kontinuierlich sichergestellt wurde. Es war wohl auch die jahrelange Zusammenarbeit mit Pierre Bourdieu2 und die Vertrautheit mit seinem praxeologischen Ansatz und seiner sozioanalytischen Forschungsmethode mit im Spiel, als der Autor 2012 die Initiative ergriff und einen Forschungsantrag an die Adresse der Forschungskommission seiner Universität richtete.3 Hierbei ging es explizit um eine Studie zur 2
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Aus Bourdieus Erzählungen blieb damals wie heute gut in Erinnerung, wie sehr er selbst unter den moralischen Lasten seiner Rolle als kritischer Analytiker gesellschaftlicher Verhältnisse gelitten hat, eine Erfahrung, die für ihn anlässlich seiner Antrittsvorlesung am Collège de France gipfelte, bei der er vor seinen künftigen Peers, die ihm gerade die Ehre angetan hatten, ihn in ihren erlauchten Kreis aufzunehmen, die Institution der Antrittsvorlesung selbst zum Gegenstand kritischer Objektivierung nahm und dieses akademische Ritual und mit ihm die es tragende Institution damit gewissermaßen entweihte. Es war geplant, dass sich aus dieser »Pilotstudie« ein größeres Forschungsprojekt zu Händen des Schweizer Nationalfonds ergeben sollte, bei dem ein Vergleich der drei unterschiedlichen »Elite-Universitäten« der Schweiz – HSG, ETH und EPFL – mit den
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Erforschung der spezifischen Zusammenhänge von universitärer Kultur, für die ja seitens der Universitätsleitung immer aufs Neue Alleinstellungsmerkmale postuliert wurden, dem Sozialisationskontext »Campusleben«, welches ja tatsächlich von allen mir bekannten Hochschulen markant absticht, und schließlich den bei den Studierenden im Laufe des Studiums typischerweise auftretenden Prägungen von mentalen, moralischen oder verhaltensmäßigen Dispositionen – dem Habitus des »Homo St. Gallicus«. Dieser Antrag wurde bewilligt und dank dieser großzügigen Unterstützung verfügten wir nicht nur über die nötigen finanziellen Mittel für die Durchführung einer breit angelegten ethnologischen Feldforschung mit einem mixed-methods-Ansatz, sondern auch über ein offizielles Mandat der Universität, das uns die Türen zu vielfältigen interessanten und relevanten Akteuren des Forschungsfeldes öffnete.
3 Eine eigene Art der Eliten-Soziologie: Qualitative Feldforschung an einer »führenden Wirtschaftsuniversität« Wenn soziologisches »Verstehen« gesellschaftlicher Realitäten, wie Max Weber betonte, nicht zuletzt darin besteht, sie in ihrem So-und-nicht-andersGewordensein zu rekonstruieren, so bedurfte unsere Forschung in einem ersten Schritt einer soziohistorischen Annäherung an die Entwicklung der HSG. Hierbei wurde nachvollziehbar, wie sehr sich der spezifische Hybrid-Charakter dieser Institution einer schrittweisen Metamorphose über den Zeitraum eines Jahrhunderts verdankt. Die HSG hat seit ihren Anfängen als »Handelsakademie« eine Entwicklung durchlaufen, die sie ab den 1960er Jahren als »Kaderschmiede« des betriebswirtschaftlichen, zwar vornehmlich inländischen Führungsnachwuchses in der Wirtschaft, mit allerdings schon beachtlicher Ausstrahlung im gesamten deutschsprachigen Raum ausweist. Die Eckpfeiler des Prestiges der Hochschule waren dabei ganz unbestritten die »Solidität« der fachlichen Ausbildung und der enge Bezug zur Praxis. Seit Ende der 1980er Jahre hat die HSG in dieser Hinsicht aber einen massiven Wandel erlebt: Von der »Handelsakademie« zur »Hochschule« (1989), von der »Hochschule« zur »Universität« (1994). Dieser Wandel ging, parallel zur wachsenden Internationalisierung der hier erprobten theoretischen Perspektiven und methodischen Zugängen vorgesehen war. Dieses kam dann aus verschiedenen Gründen letztlich nicht zustande.
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schweizerischen Wirtschaft, einher mit einer verstärkten Strategie der Internationalisierung, aber auch der Akademisierung des universitären Profils – die HSG hat seither nicht nur versucht, sich als internationale »Business School« zu etablieren, sondern auch als bedeutende Institution im Bereich der Wirtschaftswissenschaften. Diese Metamorphose – von der bodenständige Raupe zum bunten Schmetterling – zeigte sich in unseren Annäherungen an die spezifischen Merkmale des Selbstverständnisses ihrer Akteure darin, dass die je vorausgehenden Stadien dieser vielfältigen Transformationen nicht einfach »überwunden« waren, sondern wie Sedimente einer vielschichtigen geologischen Lagerung präsent blieben, jedoch weitgehend im akademischen Unbewussten der Institution verblieben und bestenfalls von ihren älteren Mitgliedern noch erinnert wurden. Insgesamt lässt sich wohl zu dieser Erfolgsgeschichte der HSG feststellen, dass sie mit einem zunehmend elitären Anspruch, einerseits hinsichtlich ihrer Positionierung im internationalen Feld der Wirtschaftshochschulen, andererseits betreffend die Exzellenz ihrer Mitglieder und der Ansprüche an ihre Studierenden, einherging. Den naheliegenden Ansatzpunkt unserer Forschung bot demnach der von der Hochschule St. Gallen (HSG) unverbrämt reklamierte Anspruch, eine »führende europäische Wirtschaftsuniversität« zu sein, die als bedeutende Rekrutierungsinstitution ökonomischer Eliten im deutschsprachigen Raum den Ruf der »Marke HSG« vor allem über das Aushängeschild des ökonomischen Erfolgs und die Spitzenkarrieren ihrer Absolvent*innen transportiert. Nach einer Erhebung des Bundesamts für Statistik aus dem Jahre 2020 verdienen HSG-Masterabsolvierende fünf Jahre nach dem Abschluss CHF 114.000 (Median) jährlich – ein Spitzenwert unter den Schweizer Universitäten. Ein Alleinstellungsmerkmal au-dessus de tout soupçon. Dabei spielen offensichtlich nicht nur die spezifischen Kompetenzen der Abgänger*innen für ihre privilegierte Position auf dem Markt eine Rolle, sondern vor allem die Persönlichkeitsbildung in Form eines bestimmten »Habitus«. Die Existenz und implizite Förderung dieser spezifischen »Haltung« wird sowohl im Leitbild der Universität als auch in internen Kommunikationen unter Berufung auf ein Selbstverständnis von »Exzellenz« und »Klasse« immer wieder thematisiert. Die Ausbildung und Einprägung dieses Komplexes von Persönlichkeitsmustern und Verhaltensdispositionen war bis dahin noch kaum untersucht worden. Das Forschungsprojekt wollte deshalb der Frage nachgehen, über welche sozialisatorischen Prozesse und Institutionen, Normen und Konventionen an einer exemplarischen Ausbildungsstätte für
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den »Führungsnachwuchs« die Herausbildung eines spezifischen »Habitus« erfolgt, in welchen charakteristischen Milieus seine Merkmale verstärkt werden, und welche Rolle diese Faktoren bei der »Elitenproduktion« in der Wirtschaft spielen. Die hier zugrunde gelegte Problemstellung bezog sich demnach auf die konkreten Prozesse der »Anerziehung« von Verhaltensmustern während der Ausbildung als entscheidendes Scharnier zwischen sozial geprägten Dispositionen des »Führungsnachwuchses« und der sozialen Reproduktion von Wirtschaftseliten. Das Forschungsprojekt zielte darauf ab, solche Vermittlungsprozesse einzukreisen. Ausgangshypothese war, dass vor allem in der »späten« Sozialisation an wirtschaftswissenschaftlichen Hochschulen eine entscheidende Prägung charakteristischer Muster der Normen und Konventionen, des Selbstverständnisses, der Formen des Denkens und Verhaltens späterer Entscheidungsträger in der Wirtschaft stattfindet, die in spezifischen »Settings« des universitären Zusammenhangs gefordert, gefördert und eingeübt, ausgelesen oder »belohnt« werden – ein konkreter Ursachenkomplex, welcher rein quantitativen Ansätzen in der Elitenforschung bisher entgehen musste. Einer der Ausgangspunkte unseres Projektes war dabei die Vermutung, dass mit dem Eintritt in die Institution HSG und in der tagtäglichen Erfahrung ihrer kulturellen Muster eine Formierung von Werten und Einstellungen, Verhaltensmustern und sozialen Bindungen erfolgt, die nicht nur forcierend und differenzierend auf bestehende Motivationslagen und Kompetenzbestände der Studentenschaft einwirkt, sondern auch in hohem Ausmaß das Selbstverständnis der Studierenden, ihre »Haltung« und ihr Verhalten prägt. Dazu gehören neben den »Botschaften« der HSG und ihrem regelmäßig kommunizierten Selbstbild, der universitären Lehre mit ihren materiellen wie inhaltlichen Strukturen und ihren charakteristischen Protagonisten sicher auch eine Reihe institutioneller Momente – Mitgliedschaften in Clubs, Verbindungen, ehrenamtliches Engagement, Teilnahme an Komitees, Wettbewerben, Symposien – und nicht zuletzt die subtilen Prägungen des Studienalltags und »Studentenlebens«. Hierbei beanspruchte unser Projekt ja nur einen explorativen Charakter, bei dem vielfältige qualitative Zugänge zum Einsatz kommen sollten, man sich aber auch auf schon zuvor seitens des Soziologischen Seminars durchgeführte repräsentative Erhebungen bei der Studentenschaft stützen konnte. Als bereits abgeschlossene Arbeiten standen zur Verfügung ein »Graduate Survey Report« mit Zahlen aus den Absolventenbefragungen und das von Rek-
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torat und Chancengleichheit geförderte Forschungsprojekt »Frauen an der HSG« mit Tiefeninterviews von Assessment-Studentinnen. Im Rahmen dieses Projektes waren erstmals multivariate Berechnungen im Hinblick auf den Zusammenhang von studentischer Partizipation, sozialer Herkunft und universitärer Selektionsprozesse durchgeführt worden. Vor diesem Hintergrund führten wir dann ab 2012 zunächst ein Dutzend Experteninterviews mit Verantwortlichen der Universität durch, über das »normative« Selbstverständnis der HSG, eine explizite oder implizite »HSG-Kultur«, den Charakter der Studentenschaft und zukünftige Perspektiven der Hochschule, dazu inhaltsanalytische Auswertungen von weit über tausend Antworten auf offene Fragen zur »Eigenart« der HSG aus den Surveys der letzten vier Assessment-Jahrgänge, Analysen der allgemeinen Einschätzungen des Studiums in den langjährigen Absolventenbefragungen, und nicht zuletzt auch Untersuchungen des öffentlichen Auftritts der HSG und ihrer Studentenschaft, sowie einer systematischen Inhaltsanalyse der thematisch einschlägigen Artikel in der studentischen Zeitschrift – ein überaus reichhaltiges Material, das die ursprüngliche Fragestellung wenigstens stärker zu fokussieren half. Bei der Feldforschung wurde des Weiteren auf intensive, fotografiegestützte teilnehmende Beobachtung bei spezifischen Anlässen wie der Einführungswoche für neu Immatrikulierte gesetzt. Hier nahmen zwei Mitarbeiter*innen des Projekts aktiv an der Durchführung teil und konnten danach die von ihnen betreuten Studierenden über das gesamte Assessment-Jahr begleiten und mehrfach betreffend ihrer Erfahrungen an der HSG befragen. Ein besonderes Augenmerk wurde dabei den weiblichen Studierenden aus der Region der Ostschweiz zuteil, da diese in unseren Statistiken als besonders stark von einem Studienabbruch im ersten Studienjahr betroffen waren. In den mit diesen Abbrecherinnen geführten Tiefeninterviews ergab sich dann jeweils ein besonders facettenreiches Bild der Wahrnehmung und Einschätzung einer universitären Institution seitens einer Personengruppe, die sich selbst als »nicht dahin gehörend« outete und die eigene habituelle Inkompatibilität mit dem elitären Anspruch der HSG, schon in den Begrüßungsreden durch ihre Professoren unverbrämt zum Ausdruck gebracht, ausführlich erläuterte. Bemerkenswert war hierbei, dass auch erfolgreich studierende junge Frauen überproportional stärker das Studium abbrachen und mit Kommentaren wie »Wahrscheinlich war mein Problem eher so das Klima an der Uni allgemein« (Clarissa) zum Ausdruck brachten.
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Dieses Unwohlgefühl im besonderen Klima dieser Institution teilte der Autor selbst gleich zu Beginn seiner Tätigkeit an diesem Ort. Dies könnte natürlich auch, zumindest teilweise, den subjektiven Wahrnehmungen und Beurteilungen, das heißt der eigenen biografischen Flugbahn des Autors, zugeschrieben werden und es wäre gewiss nicht falsch, dessen Malaise in dieser akademischen Welt seinem gebrochenen Habitus als Aufsteiger aus einer bildungsfernen Familie zuzuschreiben. Nur hatte er aber, bevor er an die Uni St. Gallen berufen wurde, genug Gelegenheit gehabt, an Universitäten wie Neuchâtel oder Genf, wo er zuvor lange Jahre Professuren innehatte, sich in universitäre Lebenswelten einzufinden und dies dort auch ohne vergleichbare Dissonanzen bewerkstelligt. Auch im Umgang mit elitären akademischen Betrieben hatte er bereits ausreichend Erfahrung, nachdem er in Paris an der Sorbonne, am Institut d’Études Politiques und der EHESS Lehrstuhlvertretungen und Lehraufträge innehatte. Es scheint also ganz so, als ob die hier interessierende HSG sich doch als eine Art Sonderfall von üblichen universitären Lebenswelten markant unterscheidet.
4 Die zwei Gesichter der HSG: Hybrid aus regionaler Fachhochschule und internationaler Business School Unsere qualitativen Befragungen legten ein spannungsreiches Selbstverständnis der HSG offen: »Einerseits bestehe die Kultur der alten ›Handelsakademie‹, in der stark praxisorientiertes Wissen nicht zuletzt von Persönlichkeiten aus der Praxis vermittelt wird und vermittelt werden soll, die nicht nur im Sinne von ›Vorbildern‹ fungieren, sondern eine wirksame Vernetzung mit den Unternehmen anbahnen.« Der Schwerpunkt liegt bei diesem Typus »Kaderschmiede« nach Auskunft unserer ethnografischen Informanten auf einem umsetzbaren Handlungswissen und der vornehmlich nationalen Reproduktion von Führungskräften. Auf der anderen Seite verwies man uns aber auch auf eine Kultur, die eine international konkurrenzfähige »Business School« mit höheren akademischen Ansprüchen anstrebte, die sich in der massiv gestiegenen Bedeutung von Rankings und Akkreditierungen und der Prämierung von Forschungstätigkeit und Publikationspraxis, inkarniert und konsekriert im Kult der Publikationen in sogenannten »A-Journals«, ausspricht. Diese beiden Momente und Gesichter der Universität – praxisorientiert oder grundlagenwissenschaftlich ausgerichtet – erwiesen sich trotz kultureller Gegensätzlichkeiten
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in ihrem Zusammenspiel als komplementär. Die interviewten Akteure der Universität bescheinigten ihr die Fähigkeit, diese unvereinbar erscheinenden »Kulturen« in einer Art stillschweigendem Kompromiss, der ganz pragmatisch funktioniert und deshalb die Institution tatsächlich ziemlich robust aufgestellt erscheinen zu lassen. Dieser Kompromiss erwies sich dabei weniger als Ausdruck einer harmonischen Wechselbeziehung als vielmehr Hinweis auf eine gegenseitige Abhängigkeit unter klarer interner Hierarchie: die Praktiker vor den »Wissenschaftlern«, die Lehre vor der Forschung. Denn als Grundbestand des institutionellen Selbstverständnisses erschien nach und nach ein Anspruch auf eine primär praxisorientierte und ganzheitliche Ausbildung, die »wissenschaftlich« nur in ihren aktuellen technischen Standards und in ihrer Außenwirkung sein brauchte. In den diversen Erzählungen rund um die Eigenart der HSG-Kultur schälte sich immer wieder ein »traditioneller« Grundbestand des institutionellen Selbstverständnisses heraus, wurde regelmäßig das Narrativ einer praxisorientierten, und dabei »ganzheitlich« sich verstehenden Ausbildung thematisiert, die »akademisch« nur in ihren aktuellen »technischen« Standards sein sollte – es sieht alles danach aus, als ob die Ausbildung als Menschenbildung bei diesem Narrativ eine entscheidende Rolle spielte. Bei den in diesen Erzählungen immer wiederkehrenden Verweisen auf die für das zugrunde liegende Menschenbild notwendige »Leistungsstärke«, schien mit dieser Formel vor allem einen Komplex sozialer Leistung normativ prämiert zu werden, der sich eben gerade nicht ausschließlich, nicht einmal vorwiegend, auf die »akademische« Performanz bezog, sondern auf eine »Leistung an sich«, in der sämtliche Konnotationen auf soziale Kompetenzen verweisen. Eine spezifische habituelle Ausrichtung also, die in Eloquenz, Selbstsicherheit oder forcierten Ambitionen Ausdruck findet und dadurch natürlich letztlich auch eng an die soziale Herkunft der Studierenden beziehungsweise deren individuelle Passung an ein soziales Milieu geknüpft ist. Hören wir zu dieser spezifischen Wahlverwandtschaft von sozialer Herkunft und dem seitens der universitären Kultur geförderten Habitus einen Professor der HSG: »Da ist die Studentenschaft so aktiv vom Campusleben sehr ausgeprägt und, und die Studierenden sind da, die kommen, weil die tendenziell aus mittleren Oberschichten kommen und manchmal eine Selbstsicherheit haben […] Man kann mit allen Leuten reden, aber eine Art Selbstsicherheit, die mit diesen Schichten zu tun hat. Aber die dafür auch wieder ein Unternehmergeist
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haben, ein Selbstvertrauen haben, das zu enorm vielen Aktivitäten führt, und zu enorm viel eben Unternehmergeist.« Dass damit soziale Benachteiligung einhergeht, ist kein unschöner Nebeneffekt, kein bedauernswerter Kollateralschaden, sondern bildet gerade den institutionellen Sockel: Daraus ergibt sich der tendenziell exklusive Charakter, an dem die Glaubwürdigkeit der HSG als »führende europäische Hochschule« und »Elite-Universität« letztlich hängt. Vieles von dem, was unsere ethnologische Feldforschung mittels ihrer verschiedenen empirischen Zugänge offengelegt hat, war zuvor schon einem intuitiven Verstehen auf der Grundlage tagtäglicher teilnehmender Beobachtung zugänglich und für spontansoziologische Interpretationen handhabbar. Die daraus genährten Erzählungen hätten dann allerdings nur den Status subjektiver Impressionen, während die mit einer größeren Zahl an qualitativen Interviews mit einschlägigen Akteuren des interessierenden Feldes und standardisierten Befragungen einer repräsentativen Stichprobe der Studierenden dieser Universität erhobenen Daten unserer Sozioanalyse doch ein gewisses Maß intersubjektiver Nachvollziehbarkeit liefern. Die wurde uns auch durch die Rezeption unseres Forschungsberichts bestätigt. Er wurde vom Rektorat der Uni und einer gewissen Zahl an Kolleg*innen zur Kenntnis genommen. Bei einer mündlichen Präsentation der Ergebnisse bekamen wir fast durchgängig spontane Zustimmung. Auch diese homo academicus verfügten ja über eine »Theorie« hinsichtlich der Spezifika »ihrer« Universität und fanden diese wohl in unserer Studie insoweit treffend wiedergegeben, als wir von keiner Seite je kritische Rückmeldungen erhielten. Aber warum wurde dann diese Studie schubladisiert und blieb unveröffentlicht? Es dürfte wohl daran gelegen haben, dass die schonungslos kritische Aufdeckung von Widersprüchen den Insidern der betroffenen Institution noch akzeptabel erscheinen konnte und zum Teil sogar mit Amüsement aufgenommen wurde, dies jedoch unter der Bedingung, dass man diese »Familiengeheimnisse« »unter sich« behielt. Da die Universität St. Gallen durch ihren ostentativ zur Schau getragenen elitären Anspruch schon ausreichend kritische Blicke auf sich zog, war man, um es euphemistisch auszudrücken, wenig daran interessiert, diese Studie öffentlich zugänglich zu machen. »Toute vérité n’est pas bonne à dire«, so lautet ein gängiges französisches Sprichwort und mit der
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bereits eingangs zitierten Feststellung Bourdieus wollen wir daher die Klammer um unseren kleinen ethnografischen Selbstversuch schließen: »Die besondere Schwierigkeit der Soziologie liegt ja gerade darin, dass sie Dinge lehrt, die jeder irgendwie weiß, aber nicht wissen will oder nicht wissen kann, weil es das Gesetz des Systems ist, sie zu kaschieren.« (Pierre Bourdieu, Soziologische Fragen)
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Autor:innen
Die Autor:innengruppe AEDiL besteht aus Promovierenden, Postdocs und Professor:innen, aus Leiter:innen und Mitarbeiter:innen aus medien- und hochschuldidaktischen Einrichtungen. Die interdisziplinär arbeitende Gruppe verbindet die Perspektiven von Sozial- und Bildungswissenschaften, Medien- und Informationswissenschaften sowie der Medizin mit Einblicken aus dem Feld der Hochschulprofessionals. Durch Zusammenarbeit auf Augenhöhe wurde und wird die Diversität der Autor:innengruppe AEDiL für kollaborative autoethnografische Forschung zu Lehren und Lernen in unterschiedlichen Strukturen genutzt. Oliver Berli, PD Dr. phil., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Department für Erziehungs- und Sozialwissenschaften der Universität zu Köln im Bereich Erziehungs- und Kultursoziologie. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Hochschul- und Wissenschaftsforschung, Kultursoziologie, Methoden der qualitativen Sozialforschung, Soziologische Theorie, Soziologie des Wertens und Bewertens, Wissenssoziologie. Aktuell befasst er sich mit der Statuspassage professoraler Ruhestand und Fragen textueller Performanz in der qualitativen Forschung. Kornelia Engert, Dr. phil., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Soziologie der Johannes Gutenberg-Universität Mainz im Arbeitsbereich Wissen, Bildung und Qualitative Methoden. Forschungsgebiete: Wissens- und Wissenschaftssoziologie, Bildungssoziologie, qualitative Hochschul- und Bewertungsforschung, Ethnografie und Ethnomethodologie (»workplace studies«). Derzeit forscht sie in einem DFG-Projekt zur Praxis universitärer Urteile in den Geschichts- und Ingenieurswissenschaften.
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Ethnografie der Hochschule
Thomas Etzemüller, Dr. phil., ist Professor für Kulturgeschichte der Moderne an der Universität Oldenburg. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Kulturgeschichte Nordwesteuropas im 19. und 20. Jahrhundert, Biografieforschung, Wissenschaftsanthropologie sowie doku-fiktionale Darstellungsformen (»fiktionale Empirie«). Barbara Friebertshäuser, Dr. phil., ist Professorin für Allgemeine Erziehungswissenschaft an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Arbeitsund Forschungsschwerpunkte: Empirisch-pädagogische Geschlechterforschung, Statuspassagen und Rituale im menschlichen Lebenslauf, Übergangsforschung, Jugend-, Schul- und Hochschulforschung, qualitative Forschungsmethoden sowie ethnografische Feldforschung. Julian Hamann, Dr. rer. pol., ist Juniorprofessor für Hochschulforschung am Institut für Erziehungswissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin. Arbeitsschwerpunkte: Soziologische Wissenschafts- und Hochschulforschung, Bewertungssoziologie, Ungleichheitsforschung. Aktuelle Forschungsinteressen: Akademische Karrieren, Fachkulturen und Regime der Leistungsbewertung. Björn Krey, Dr. phil., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Soziologie der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Seine Forschungsinteressen liegen in den Bereichen der Wissenschafts- und Technikforschung, der Soziologie der Kognition und Emotion, der Soziologischen Theorie und der qualitativen Methoden. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen gegenwärtig im Bereich der soziologischen Lese- und Schreibforschung und der Ethnografie des Träumens und Schlafens. Theresa Lempp, Dr. phil, ist Professorin für Theorien und Methoden Sozialer Arbeit mit dem Schwerpunkt Diversität an der Evangelischen Hochschule Dresden. Forschungs- und Arbeitsschwerpunkte: Geschlechterforschung, Organisations- und Hochschulforschung, Inklusion, junges Erwachsenenalter und Übergänge. Christian Meier zu Verl, Dr. rer. soc., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Arbeitsgruppe für Allgemeine Soziologie und Kultursoziologie der Universität Konstanz. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Wissenschafts- und Tech-
Autor:innen
nikforschung, Migrationsforschung, Dis-/Ability Studies, Methodologie qualitativer Forschung, Kultur- und Sozialtheorie. Daniel Meyer, M.A., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bereich Erziehungs- und Kultursoziologie an der Universität zu Köln und Doktorand am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung. Interessengebiete: Wissenschafts- und Hochschulforschung, Sozialstrukturanalyse, Wirtschafts- und Arbeitsmarktsoziologie, Kultursoziologie. In seiner Dissertation untersucht er die Konstruktion von Karriereaspirationen in Wirtschaftshochschulen. Julia Reuter, Dr. phil., ist Professorin für Erziehungs- und Kultursoziologie am Department für Erziehungs- und Sozialwissenschaften der Universität zu Köln und Sprecherin der Forschungsstelle für interkulturelle Studien. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Allgemeine (Kultur-)Soziologie, Migrationssoziologie, Bildungs- und Ungleichheitsforschung, ausgewählte Fragen der Wissenschaftssoziologie u.a. zu Karrierewegen, Elternschaft und WorkLife-Balance sowie zur Statuspassage Ruhestand von Wissenschaftler:innen. Sophia Richter, Dr. phil., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachbereich Erziehungswissenschaften der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Schul- und Hochschulforschung, Jugend- und Kulturforschung, qualitative Forschungsmethoden, insbesondere ethnografische Feldforschung, systemische Theorie und Praxis, Beratung im Kontext Hochschule. Tobias Röhl, Dr. phil., ist Professor für Digitales Lernen und Lehren am Zentrum Bildung und Digitaler Wandel sowie am Zentrum für Medienbildung und Informatik an der Pädagogischen Hochschule Zürich. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Bildungssoziologie, qualitative Unterrichtsforschung, sozialwissenschaftliche Technik- und Medienforschung, derzeit vor allem im Bereich Künstliche Intelligenz und Datafizierung der Bildung. Kerstin Schoof, M.A., M.A. (LIS), ist Kulturwissenschaftlerin, Soziologin und Medienwissenschaftlerin und leitet die Bibliothek des Max-Planck-Instituts für empirische Ästhetik in Frankfurt am Main. Ihre Forschungsinteressen liegen in der bibliothekarischen Nutzungsforschung mit Fokus auf ethnografischen und qualitativen Herangehensweisen, insbesondere visuellen Metho-
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den. Sie ist Gastdozentin an der Fachhochschule Potsdam und an der Hochschule der Medien in Stuttgart. Franz Schultheis, Dr. phil., ist Senior Professor für Soziologie an der Zeppelin Universität in Friedrichshafen, nachdem er zuvor an den Universitäten Neuchâtel, Genf und St. Gallen Professuren innehatte. Seine Forschungsschwerpunkte liegen auf der Soziologie des Kunstfeldes und der Kreativarbeit sowie im Bereich der Visuellen Soziologie. Er ist u.a. Präsident der Stiftung Bourdieu. Tanya Tyagunova, Dr. phil., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im DFG-Graduiertenkolleg »Fachlichkeit und Interaktionspraxis im Grundschulunterricht« der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg und der Universität Kassel. Ihre Forschungsinteressen liegen in den Bereichen der Ethnomethodologie, Konversationsanalyse und Ethnografie. Ihre aktuellen Arbeitsschwerpunkte sind Unterrichtsinteraktion, schulische Leistungsbewertung und universitäre Prüfungspraxis.
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