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German Pages 336 [337] Year 2022
v. A. STOFF, MODELLIERUNG UND PHILOSOPHIE
v . A. STOFF
MODELLIERUNG UND
PHILOSOPHIE
AKADEMIE-VERLAG•BERLIN 1969
Russischer Originaltitel B . A. IIlTo$, MonejiHpoBaHHe H OHJIOCO^HH HanaTejibCTBo „Hayna" MocKBa • JlenHHrpafl 1966 Deutsche Ausgabe besorgt von Hubert Laitko Übersetzt von Siegfried Wollgast
Erschienen im Akademie-Verlag GmbH, 108 Berlin, Leipziger Straße 3—4 Copyright 1969 by Akademie-Verlag GmbH Lizenznummer: 202 • 100/21/69 Herstellung: IV/2/14 V E B Werkdruck, 445 Grafenhainichen • 3107 Bestellnummer: 5684 • ES 3 B 4
Inhalt
Vorwort zur deutschen Ausgabe Vorwort
7 13
KAPITEL 1
Der allgemeine Begriff des wissenschaftlichen Modells Die erkenntnistheoretische Spezifik der Modelle Die Klassifikation wissenschaftlicher Modelle
17 17 36
KAPITEL 2
Die Modellproblematik in der Philosophie und Methodologie der Wissenschaften des 19. und 20. Jahrhunderts Der Modellbegriff in der Methodologie der Naturwissenschaft des 19. Jahrhunderts Neopositivismus und Modellproblematik Die neothomistische Modellauffassung
51 52 68 93
KAPITEL 3
Das Modell als Mittel experimenteller Forschung Das Verhältnis der Grundformen der Modelle zum realen Experiment und zum Gedankenexperiment Das Wesen des Experiments Die Struktur des gewöhnlichen Experiments Der Platz der Modelle in der Struktur des Experiments. Das Modellexperiment Das Verhältnis von Modell und Objekt bei der physikalischen Modellierung Die Beziehung von Modell und Objekt in Systemen, die verschiedenen Bewegungsformen der Materie angehören Das Verhältnis von Modell und Objekt in kybernetischen Systemen . .
99 99 102 109 115 121 124 131
KAPITEL 4
Das Modell als spezifische Art der Widerspiegelung Der Begriff der Widerspiegelung in der Philosophie und in den Naturwissenschaften. Widerspiegelung und Information. Widerspiegelung und Isomorphie Die Widerspiegelungsfunktion des Modells. Modell und Analogie . . .
138
138 154
5
KAPITEL 5
Das Modell als Abstraktion besonderer Art, als Verkörperung der Einheit von Abstraktem und Konkretem in der Erkenntnis Das Modell als besondere Form der wissenschaftlichen Abstraktion . . Besonderheiten des Übergangs vom Abstrakten zum Konkreten mit Hilfe von Modellen
176 176 191
KAPITEL 6
Das Modell als Mittel der Interpretation und der wissenschaftlichen Erklärung Zum Begriff der Interpretation Zur Rolle der Modelle bei der Interpretation von Theorien Zur Rolle der Modelle bei der Interpretation und Erklärung von Erscheinungen und Objekten der Wirklichkeit Die Diskussion über Interpretation und Modellerklärung in der „Philosophie der Wissenschaft" („Philosophy of Science")
195 195 198 212 228
KAPITEL 7
Modell und Gedankenexperiment Die Natur des Gedankenexperiments Der objektive Inhalt der Methode des Gedankenexperiments Die Bedeutung des Gedankenexperiments für die Erkenntnis
238 238 244 248
KAPITEL 8
Modellierung und Wahrheitsproblem Über die Wahrheit als Eigenschaft der Modelle Die Wahrheit der Modelle im Lichte der Lehre von der objektiven, absoluten und relativen Wahrheit Das Modellexperiment als Kriterium der Wahrheit einer Theorie . . .
258 258 266 275
KAPITEL 9
Die Modelle und das Problem der Anschaulichkeit Die Fragestellung. Sind Modelle anschaulich? Der Kampf gegen die Anschaulichkeit in der bürgerlichen „Philosophy of Science" Der Begriff der Anschaulichkeit. Kritische Analyse einiger Definitionen . Das Modell als spezifisches Mittel der Wissenschaft und die Form der Anschaulichkeit Die gnoseologische Bedeutung der Anschaulichkeit von Modellen . . .
279 279
313 323
Schlußbemerkungen
329
Grundlegende Literatur zu philosophischen Fragen der Modellierung . . .
331
284 296
Vorwort zur deutschen Ausgabe
Das dem deutschen Leser hier vorliegende Buch wurde vor mehr als drei Jahren geschrieben. Seit seinem Erscheinen in der Sowjetunion sind neue Arbeiten zu philosophischen Problemen der Modellierung erschienen — im allgemein wissenschaftlichen und erkenntnistheoretischen Bereich wie auch in den Einzelwissenschaften, vor allem in der Physik, Medizin und Ästhetik. Dies zeugt davon, daß das Interesse an der Modellierung als einem Gegenstand philosophischer Überlegungen weiterhin anhält. Die Modellierung ist also nicht nur eine in den verschiedensten Wissenschaften umfassend angewandte Methode, sondern auch ein Problem der modernen Philosophie und Erkenntnistheorie des dialektischen Materialismus. Die Ausarbeitung dieses Problems ist ein Feld f ü r gemeinsame Bemühungen von Philosophen und Naturwissenschaftlern, von Vertretern technischer und Humanwissenschaften. In unserem Buche haben wir die gnoseologischen Fragen der Modellierung unter dem Aspekt der sich in den Naturwissenschaften vollziehenden Erkenntnisprozesse untersucht. Dabei haben wir die Physik, die Chemie und zum Teil auch die Kybernetik und Mathematik berücksichtigt. Natürlich ist die Untersuchung auch für diese Bereiche nicht erschöpfend. Die Spezifika der Modellierung solcher wesentlich komplexeren Systeme wie der biologischen und der sozialen wurden ü b e r h a u p t nicht untersucht. Indes gewinnen die Modellierungsmethoden gerade im Bereich der Biologie, der Soziologie, der Ökonomie, der Linguistik und der Ästhetik immer mehr an Bedeutung. Daraus ergibt sich eine Reihe von Problemen, die eine philosophische Analyse erfordern. Es ist eine exaktere Definition und Klassifikation der in diesen Wissenschaften angewendeten Modelle erforderlich. Die Wechselbeziehungen dieser Modelle zu den entsprechenden Theorien, der Erkenntniswert und die Effektivität derartiger Modelle müssen geklärt werden usw. Außerordentlich wichtig und interessant ist das Problem der Kriterien f ü r die Ähnlichkeit von Modellen und Objekten, die zum Bereich der biologischen und sozialen Prozesse gehören. Auch das Problem der Extrapolation von Daten, die in diesen Bereichen auf der Grundlage von Modellexperimenten
gewonnen wurden, auf die modellierten Erscheinungen ist von besonderer Bedeutung. Infolge der ungewöhnlichen Kompliziertheit der hier zu untersuchenden Objekte und infolge der Spezifik der in diesen Gebieten bestehenden Gesetze gibt es bei der Lösung dieser Probleme Schwierigkeiten, und die Fachwissenschaftler wären an der Meinung der Philosophen über die Wege und Möglichkeiten zu ihrer Lösung interessiert. Schon dieses eine Beispiel zeigt, daß viele Probleme der Modellierung noch unter philosophischem bzw. erkenntnistheoretischem Aspekt zu untersuchen sind. Seit dem Erscheinen dieses Buches sind zu ihm mehrere wissenschaftliche Rezensionen erschienen. 1 Die Arbeit des Autors wurde zwar insgesamt positiv eingeschätzt, es wurden aber auch kritische Bemerkungen gemacht. Von ihnen verdienen vor allem zwei Beachtung. Unsere Kritiker wenden sich gegen das Postulat eines prinzipiellen methodologischen Unterschieds zwischen der Theorie als der Gesamtheit miteinander verbundener allgemeiner Sätze über Gesetze und andere spezielle Zusammenhänge in der Welt und dem Modell als einem bestimmten konkreten System, das vom Menschen geschaffen oder von ihm aus den vielfältigen Naturerscheinungen ausgewählt wird und diese Theorie erfüllt oder realisiert. Unsere Definition des Modells, die diese Unterscheidung vorschlägt, erscheint vielen zu eng; deshalb wird eine weitere Definition gefordert. A. I. Rakitov schlägt nun folgende Definition vor, die es nach seiner Auffassung ermöglicht, auch die Theorie als ein Modell besonderer Art zu betrachten: „. . . Das Objekt A ist ein Modell des Objektes B , wenn wir bei Vorliegen einer bestimmten Abhängigkeit, die in der Form y = f ( x ) ausgedrückt ist (dabei ist f das Symbol eines mathematischen, logischen oder andersartigen funktionalen Zusammenhangs), bei Einsetzung gewisser Charakteristiken oder Werte von A für x an der Stelle y eine bestimmte Menge von Werten der Charakteristiken von B erhalten . . . " 2 Diese Definition ist tatsächlich umfassender und logisch hinreichend exakt. Unsere Definition genügt dem, sie ist jedoch weniger umfassend, sozusagen der Spezialfall der Definition Rakitovs. Aber in dieser „ E n g e " unserer Definition sehen wir gegenüber der umfassenderen ihren gnoseologischen Vorzug. Bei der zitierten weiten Definition bleibt der erkenntnistheoretische und methodologische Status des Modells als eines Zwischengliedes zwischen Theorie und Wirklichkeit unklar. Sicherlich 1
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Vgl. A. I. Rakitov, MoaejmpoBaHHe Kau npe^MeT $Hnoco$CKoro HCCJieftOBaHHH, in: Voprosy filosofii, Nr. 11/1967; J. F. Solopow, CepieaHbifl BKJiafl B pa3pa6oTKy BaiKHoft coBpeMeHHoii npoßjieMLi Teoprni no3traniifl, in: Filosofskie nauki, Nr. 6/1967. 2 A. I. Rakitov, a. a. 0., S. 154.
vermag sie den Fall zu beschreiben, wo eine Theorie Modell einer anderen Theorie ist, die als Forschungsobjekt erscheint, denn in den Beziehungen zwischen isomorphen Theorien kann die Bedingung y — f ( x ) erfüllt sein, wobei f ein Symbol ist, das die Regel der Zuordnung der Elemente der einen Theorie zu den Elementen der anderen bezeichnet. Aber diese Definition reicht nicht aus, wenn es um das Verhältnis zwischen einer Theorie und der Wirklichkeit bzw. einem durch die Theorie beschriebenen Fragment der Wirklichkeit'geht, denn in diesen Fällen liegt keine strukturelle Ähnlichkeit zwischen den Gliedern dieser Beziehung vor. Eine Theorie widerspiegelt ihr Objekt nicht in Form der strukturellen Ähnlichkeit, sondern in bedeutend komplizierterer Form, vorwiegend mit Hilfe der Bedeutungen ihrer Termini und Sätze, in Form eines Systems von Begriffen und Urteilen, die strukturell unterschiedlich miteinander verbunden sein können. Folglich kann eine Theorie, die sich auf das gleiche Objekt bezieht, in verschiedenen Varianten formuliert werden, die ihrer logischen Struktur nach unterschiedlich, ihrem objektiven Inhalt, ihrer objektiven Wahrheit nach aber gleichbedeutend sind. Außerdem hat die logische Struktur einer Theorie kein unmittelbares ontologisches Pendant, vielleicht mit Ausnahme der Fälle, in denen die logische Aufeinanderfolge der Kategorien und Leitsätze einer Theorie der historischen Aufeinanderfolge des Auftretens der in der Theorie abgebildeten Eigenschaften und Beziehungen des Objektes entspricht, also mit Ausnahme jener Fälle, in denen die logische Methode ein sich entwickelndes Objekt reproduziert und nichts anderes ist „als die historische, nur entkleidet der historischen Form und der störenden Zufälligkeiten." 3 In der Mehrzahl der naturwissenschaftlichen Theorien, die ihr Objekt ohne Beziehung zu seiner Entwicklung erforschen, widerspiegelt die logische Struktur jedoch nicht unmittelbar die Struktur des Objekts. So beschreibt zwar die logische Struktur der klassischen Mechanik, die von Newton in Form eines Systems von Definitionen, Axiomen oder Bewegungsgesetzen, Folgerungen, Lemmata und Theoremen dargestellt wurde, durchaus die Welt der mechanischen Bewegung, aber sie ist nicht ihre unmittelbare strukturelle Reproduktion. Daher sagen wir, daß die Theorie im Modell erfüllt wird und daß das Modell mit einem bestimmten Ähnlichkeitsgrad unmittelbar das Objekt widerspiegelt. Das verdeutlicht insbesondere auch den „Mechanismus" der komplizierten Widerspiegelung des Objekts in der Theorie mit Hilfe eines Modells. Nach unserer Meinung ermöglicht diese Auffassung, bei der Untersuchung des komplizierten dialektischen Charakters der Er3
F. Engels, Zur Kritik der Politischen Ökonomie (Rezension), in: F. Engels, Werke, Bd. 13, Berlin 1961, S. 475.
K.Marx/
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kenntnis als Widerspiegelung einen Schritt weiter zu kommen. Damit werden die qualitativen Unterschiede im Wesen und in den Methoden der theoretischen Widerspiegelung der Wirklichkeit und ihrer Widerspiegelung durch ein Modell geklärt und damit ihr wechselseitiger Zusammenhang. Man kann sagen, daß der Begriff der erkenntnistheoretischen Widerspiegelung in bezug auf die Theorie untrennbar mit dem Begriff der Erfüllbarkeit der Theorie in einem Modell zusammenhängt, das dem realen Objekt (einem Fragment der Wirklichkeit) isomorph (homomorph) ist. Diese Auffassung des Modells als eines Verbindungsgliedes zwischen Theorie und Wirklichkeit liegt der in diesem Buch entwickelten Auffassung von der Modellierung zugrunde. Eine zweite Gruppe von Einwänden richtet sich gegen unsere Auffassung von der Anschaulichkeit der Modelle. Es werden Zweifel daran geäußert, ob es zweckmäßig ist, allen Modellen Anschaulichkeit zuzuschreiben. Dabei beruft man sich oft auf mathematische und auf Informationsmodelle, die offenbar nicht anschaulich sind. Wir möchten in Beantwortung der Kritiken unserer Rezensenten zur Problematik der Anschaulichkeit von Modellen die Aufmerksamkeit vor allem auf folgendes richten. Fast alle Autoren, die die Anschaulichkeit der Modelle leugnen, gehen von einer zu weiten Auffassung des Modells aus. Sie beziehen in diesen Begriff Theorien, formale Zeichensysteme, mathematische Schemata und andere gnoseologische Konstruktionen ein, insbesondere auch Begriffe. Wir diskutieren das Problem der Anschaulichkeit als einer Funktion von Modellen jedoch in einem etwas engeren Sinn. Natürlich wäre es falsch, wollte man Begriffen und Theorien Anschaulichkeit zusprechen; dazu nehmen wir im Kapitel 1 unseres Buches ausführlich Stellung. Aber selbst im Rahmen der von uns angenommenen Modellauffassung stößt die Lösung dieses Problems auf Schwierigkeiten, weil die materiellen und gedanklichen, bildlichen und Zeichenmodelle auf verschiedene Art und in unterschiedlichem Grade anschaulich sind. Es sei darauf verwiesen, daß die spezifische Anschaulichkeit der Zeichenmodelle eines der Merkmale ist, die sie von den Theorien unterscheiden. Es ist auch zu betonen, daß wir die Anschaulichkeit weniger als ein obligatorisches Merkmal eines jeden Modells, als seine conditio sine qua non betrachten, sondern eher als eine wichtige gnoseologische Funktion, die es ermöglicht, eine Brücke von der Theorie zur Praxis, von der theoretischen zur empirischen Ebene, vom Logischen zum Sinnlichen zu schlagen. In dieser Funktion ist das Modell ein wichtiges Glied der dialektisch-materialistischen Analyse der Erkenntnis als einer Widerspiegelung der Wirklichkeit. Diese Tatsache kann zur Kritik der positivistischen Erkenntnisauffassung benutzt werden, die in die Sackgasse
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geraten ist, weil sie das theoretische Wissen als analytisches und tautologisches auf dualistische Art dem empirischen Wissen als synthetischem und faktischem entgegensetzt. Diese positivistische Version eines Dualismus von theoretischem und analytischem Wissen ist ein Schritt rückwärts zum Idealismus und zur Metaphysik selbst im Vergleich mit Kant, denn dieser unternahm in seiner Lehre vom transzendentalen Schema der Formen den Versuch, das Glied zu finden, das diese Widersprüche verbindet. Diese Überlegungen können der Diskussion zu den hier berührten, aber auch zu anderen Fragen der Modellierung als erkenntnistheoretischem Problem vielleicht neue Impulse geben. Der Autor stellt seine Arbeit dem Urteil des deutschen Lesers anheim und wird dankbar jede Kritik entgegennehmen, die er als wichtige Anregung bei der weiteren Untersuchung dieser Problematik betrachtet. Abschließend möchte ich Dr. Siegfried Wollgast, der die nicht leichte Aufgabe übernahm, mein Buch ins Deutsche zu übersetzen, und Dr. Hubert Laitko, der die wissenschaftliche Redaktion besorgte, meinen herzlichen Dank aussprechen. Leningrad, September 1968
V. A. Stoff
Vorwort
Erst vor verhältnismäßig kurzer Zeit wurde die Modellierung zum Gegenstand philosophischer Analyse, zum Thema vieler philosophischer Artikel und Bücher. Zweifellos wurde das wachsende Interesse der Philosophie und Methodologie der wissenschaftlichen Erkenntnis an diesem Thema durch die Bedeutung hervorgerufen, die die Modellierungsmethode in der modernen Wissenschaft gewonnen hat. Das gilt vor allem für die Physik, die Chemie, die Biologie, die Kybernetik und natürlich für die vielen technischen Wissenschaften. Die Modelle als spezifisches Mittel und spezifische Form des Wissens sind jedoch keine Erfindung des 19. oder 20. Jahrhunderts. Man braucht nur auf die Vorstellungen Demokrits und Epikurs von den Atomen, von ihrer Form und der Art ihrer Verbindung und auf die Erklärung physikalischer Eigenschaften verschiedener Stoffe (und durch sie hervorgerufener Empfindungen) durch Vorstellungen von runden und glatten Teilchen oder Häkchen zu verweisen, die „gleichsam ästig verschränkt, fest aneinander sich schließen" 1 . Es sei weiter daran erinnert, daß der berühmte Streit zwischen geozentrischer und heliozentrischer Weltauffassung auf zwei prinzipiell verschiedenen Modellen des Weltalls basierte, die im „Almagest" des Ptolemäus und in Nikolaus Kopernikus' Werk „Über die Kreisbewegungen der Weltkörper" beschrieben wurden. Daher läßt sich behaupten, daß die Modellmethode schon sehr alt ist. Wenn man die historische Entwicklung wissenschaftlicher Ideen und Methoden aufmerksam verfolgt, so wird man unschwer feststellen, daß Modelle stets in den Wissenschaften Anwendung gefunden haben. Als W. Thomson (Kelvin) in seinen bedeutsamen „Baltimore Lectures" die Auffassung vertrat, daß man, wolle man eine Erscheinung verstehen, ihr mechanisches Modell angeben müsse, war dies keine methodologische Novität, sondern vielmehr die Verallgemeinerung einer jahrhundertealten Erfahrung wissenschaftlichen Schaffens. Jedoch bestand die Bedeutung dieser Periode in der Entwicklung der Modellierung darin, daß 1
T. Lucretius Carus, Von der Natur der Dinge, Buch II, V. 433.
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in dieser Zeit die erkenntnistheoretische Reflexion der Modellmethode begann. Sie wurde im Ergebnis der vorangegangenen exakten theoretischen Forschungen von I. Newton (1686), J . Bertrand (1848) und J . C. Maxwell in den 50er und 60er Jahren des 19. Jahrhunderts allmählich nicht nur in der geistigen Sphäre des wissenschaftlichen Schaffens, sondern auch in praktischen Bereichen, so in Laboratorien und im EXT periment, angewendet. Das 20. Jahrhundert brachte der Modellmethode neue Erfolge, stellte sie aber gleichzeitig vor ernste Prüfungen. Einerseits eröffnete die Kybernetik neue Möglichkeiten und Perspektiven dieser Methode bei der Aufdeckung von allgemeinen Gesetzmäßigkeiten und Strukturen von Systemen unterschiedlicher physikalischer Natur, die zu verschiedenen Organisationsstufen der Materie, zu verschiedenen Bewegungsformen gehören. Andererseits wurde aber von der Relativitätstheorie und vor allem von der Quantenmechanik der relative Charakter der mechanischen Modelle nachgewiesen. Mit der Modellierung verbundene Schwierigkeiten wurden deutlich. Aber insgesamt wurde das Interesse an Modellen und an der Modellierung allgemein. Heute gibt es wohl kaum eine Wissenschaft, wohl kaum ein Wissensgebiet, wo nicht von Modellen gesprochen wird, wo man sich nicht mit der Modellierung befassen würde. All dies bewog nicht nur die Philosophen, sondern auch andere an der Erarbeitung theoretischer und methodologischer Probleme der Wissenschaft interessierte Gelehrte, diese Methode einer speziellen Untersuchung zu unterziehen und sie auf die Vielfalt ihrer Anwendungsmöglichkeiten hin zu untersuchen. In den letzten zwei Jahrzehnten wurden — beginnend mit dem Artikel von N. Wiener und A. Rosenblueth „The Role of Models in Science" (1945) — in der ausländischen und in der sowjetischen philosophischen Literatur erkenntnistheoretische und methodologische Aspekte des genannten Problems umfassend erörtert. Große Bedeutung für die Ausarbeitung einer dialektisch-materialistischen Auffassung der Modellmethode hatte die Diskussion dieses Problems in der Zeitschrift „Voprosy filosofii", die in den Jahren 1958 bis 1964 geführt wurde. In den letzten Jahren sind einige Monographien erschienen, die erste Forschungsergebnisse zur Modellmethode von den Positionen des dialektischen Materialismus vermitteln und weitgehend philosophisch-erkenntnistheoretisch und methodologisch angelegt sind. 2 In diesen Arbeiten wurden wesentliche Schritte zur Erforschung der Modellierung als Erkenntnismethode getan, zur Untersuchung des Zusammenhangs dieser Methode mit anderen Methoden, zur Kennzeichnung der Erkenntnisfunktionen 2
Vgl. das Literaturverzeichnis S. 331 f.
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des Modells, zur Spezifik der verschiedenen Modellarten, besonders der kybernetischen Modelle. Es stellte sich gleichzeitig heraus, daß es hinsichtlich der Auffassung und Behandlung einer Reihe von philosophischen Fragen der Modellierung gewisse Unterschiede gibt. Dieses Buch stellt sich zur Aufgabe, die dialektisch-materialistische Auffassung von der Modellmethode systematisch darzustellen. Es vertritt gleichzeitig einen Standpunkt, der nach Meinung des Autors dieser Auffassung weitgehend entspricht und die Möglichkeit gibt, den Modellbegrifl sowie die Erkenntnisfunktionen der verschiedenen Arten von Modellen folgerichtig zu bestimmen. Ausgangspunkt ist dabei das Fundamentalprinzip der marxistischen Erkenntnistheorie, das Prinzip der Widerspiegelung. Ich danke allen Genossen, die dieses Buch im Manuskript durchgesehen haben, besonders Prof. L. 0 . Resnikov, für wertvolle Ratschläge und Hinweise.
KAPITEL 1
Der allgemeine Begriff des wissenschaftlichen Modells
Die erkenntnistheoretische
Spezifik der Modelle
Eine Untersuchung der erkenntnistheoretischen Bedeutung der Modellierung kann nur dann erfolgreich sein, wenn zunächst der Inhalt des in der Wissenschaft benutzten Modellbegriffes hinreichend klar und bestimmt herausgearbeitet wird. Eine erkenntnistheoretische Analyse aller nur möglichen Arten von Modellierungen muß also mit dem Nachweis der genauen Bedeutung oder der Bedeutungen des Terminus „Modell" beginnen. Diese Aufgabe ist nicht einfach, denn dieser schon im vorigen J a h r hundert in die Wissenschaft eingeführte Begriff hat seitdem eine Vielzahl von Bedeutungen gewonnen. Manche von ihnen stehen miteinander im Zusammenhang, andere sind einander völlig entgegengesetzt. Zunächst sind aus der Untersuchung jene Bedeutungen dieses Terminus auszuschließen, die ihm in der Umgangssprache beigelegt werden; hier spricht man von Schuh- oder Kleidermodellen, bzw. überhaupt von Modellen von Industrieerzeugnissen. Dann beschränkt sich die Analyse der Bedeutung dieses Terminus auf jene Fälle, in denen er im Zusammenhang mit Aufgaben, Methoden und Zielen der wissenschaftlichen Erkenntnis benutzt wird — unabhängig davon, ob es sich um angewandte, technische oder theoretische Wissenschaften handelt. Auch dann verbleibt noch ein sehr breiter Anwendungsbereich dieses Begriffes. In der Kybernetik ist die Modellierung eine der hauptsächlichen Untersuchungsmethoden. Vornehmlich durch die Erfolge der Kybernetik verbreitete sich im letzten Jahrzehnt der Terminus Modell unter Mathematikern und Logikern, Physikern und Chemikern, Astronomen und Biologen, Ökonomen und Sprachwissenschaftlern und natürlich in erster Linie unter den Kybernetikern selbst. Würde man nun aber verschiedenen Wissenschaftlern die Frage stellen, was eigentlich ein Modell ist, so würde man kaum übereinstimmende Antworten erhalten. Mary Brodbeck bemerkte nicht zu Unrecht, daß von zehn Modellkonstrukteuren wenigstens fünf darauf ganz unterschiedliche Antworten geben würden. 1 1
2
Vgl. M. Brodbeck, Models, meaning and theories. Symposium on sociological theory. Ed. by L. Gross, New York 1959, S. 373. In diesem Zusammenhang Stoff
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Was meint man wirklich, wenn man von Atom- und Kernmodellen oder von Modellen spricht, die die Ausbreitung des Lichts oder die Bewegung der Moleküle in einem Gas nachahmen? Benutzt man den gleichen Modellbegriff, wenn man Laboratoriumsmodelle für komplizierte industrielle und technische Einrichtungen a u f b a u t ? Handelt es sich um den gleichen Begriff, wenn man in kybernetischen Anlagen einen bedingten Reflex oder die Übertragung einer Nervenreizung durch Synapsen zu modellieren sucht? Oder wenn lebhafte Diskussionen um Probleme der Modellierung des Gehirns, der Psyche und des Denkens geführt werden? Und schließlich: Wird dieser Terminus im gleichen Sinne gebraucht, wenn Logiker oder Mathematiker von Modellen formaler, deduktiver Systeme sprechen, oder wenn Ökonomen und Soziologen mathematische Modelle verschiedener gesellschaftlicher Systeme und Erscheinungen schaffen? Wir wollen versuchen, diese Fragen zu beantworten. Offensichtlich enthält schon die Möglichkeit, eine solche Serie von Fragen zu stellen, eine Antwort. Sie besteht darin, daß man offenbar verschiedene Bedeutungen des Terminus „Modell" unterscheiden muß. Davon ausgehend erhebt sich die weitere Frage: wie tiefgehend sind diese Unterschiede? Gehen sie so weit, daß dieser Terminus als Ausdruck völlig verschiedener und sogar entgegengesetzter Begriffe benutzt wird? Oder handelt es sich nur um Unterschiede innerhalb eines Begriffs, die verschiedene Modifikationen, Aspekte, Seiten, Eigenschaften und Verwendungsweisen ein und desselben Wesens zum Ausdruck bringen? Wir wollen mit der Erörterung der letztgenannten Frage beginnen. Eine Analyse der wissenschaftlichen Literatur, in der der Terminus „Modell" Anwendung findet, und der komplizierten Prozedur des Aufbaus wissenschaftlicher Theorien, ihrer experimentellen Prüfung, der Beschreibung und Erklärung der untersuchten Erscheinungen, zeigt, daß dieser Terminus vor allem in zwei völlig verschiedenen, direkt entgegengesetzten Bedeutungen gebraucht wird: erstens in der Bedeutung von Theorie muß auf die interessanten Berechnungen hingewiesen werden, die von Yuen Ren Chao, einem Linguisten von der kalifornischen Universität angestellt wurden. Er untersuchte nur 15 hauptsächlich linguistische Kontexte und stellte fest, daß allein in ihnen der Terminus „Modell" in dreißig Bedeutungen, die seiner Meinung nach einander ähnlich waren, und noch in weiteren neun verschiedenen Bedeutungen gebraucht wurde. Unter ihnen waren solche Bedeutungen dieses Terminus wie Struktur, Beschreibung, Methode der Sprachbenutzung, Grammatik, Theorie, Schema, Stil, Analogon, vorgeschlagene Forschungsmethode, Repräsentation, Abstraktion, formalisierte oder teilweise formalisierte Theorie, psychologische Hilfsmittel zur Theorie, mögliche Realisierung für die Theorie, Vorbild, konkretes System, physisches Objekt, Realität usw. Wenngleich der von Yuen Ren Chao gelieferte Überblick sehr
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u n d zweitens in der Bedeutung dessen, worauf sich die Theorie bezieht; d. h. was sie beschreibt oder widerspiegelt. 2 Das W o r t „Modell" k o m m t vom lateinischen Wort „modus, modulus", was Maß, Bild, Weise, Art usw. bedeutet. Seine ursprüngliche Bedeutung w a r mit der Baukunst verbunden, und fast alle europäischen Sprachen verwenden dieses W o r t zur Bezeichnung eines Musters, eines Urbildes oder eines Dinges, das in irgendwelcher Hinsicht einem anderen Ding ähnlich ist. 3 Gerade diese äußerst allgemeine Bedeutung des Wortes „Modell" diente offenbar als Grundlage dafür, es als wissenschaftlichen Terminus in der Mathematik, den Naturwissenschaften, den technischen u n d den Sozialwissenschaften zu benutzen. Dabei h a t dieser Terminus zwei entgegengesetzte Bedeutungen erhalten. Nachdem Descartes und F e r m a t die analytische Geometrie geschaffen h a t t e n , auf deren Grundlage der Gedanke von der Übereinstimmung zwischen den verschiedenen Teilen der Mathematik entstanden war, wurde der Modellbegriff zur Entwicklung dieses Gedankens b e n u t z t . Dabei wurde es üblich, mit Modell eine Theorie zu bezeichnen, die einer anderen Theorie strukturell ähnlich ist. Zwei derartige Theorien werden als isomorph bezeichnet 4 ; eine Theorie dient als Modell der anderen und umgekehrt. Das Aufkommen des Modellbegriffes in der Mathematik wird von Bourbaki in den „Abrissen zur Geschichte der Mathematik" unterr sucht. Nach einer Würdigung der Verdienste Descartes' bei der Ausarbeitung des Gedankens einer Übereinstimmung der mathematischen Wissenschaften untereinander schreiben die Autoren dieses Buches, daß Leibniz „als erster den allgemeinen Begriff der Isomorphie untersuchte (den er ,Ähnlichkeit' nannte) und die Möglichkeit voraussah, isomorphe oberflächlich und unsystematisch ist, so gibt er doch eine gute Illustration für die oben angemerkte Vieldeutigkeit des Terminus „Modell". (Yuen Ren Chao, Models in linguistics and models in general, in: Logic, methodology and philosophy of science, Stanford 1962, S. 563f.) 2 J. Gastev verweist in seinem Artikel „Modell" auf Unterschiede zwischen „Modell" als Beschreibung und „Modell" als Beschriebenem (®HJl0C0$CKaH B H U H K J i o n e H H H , t . 3, M o c K B a 1964, CTp. 481—482). Er betrachtet diese Unterschiede jedoch als formalen und inhaltlichen Aspekt des Modellbegriffs, ohne den wesentlichen erkenntnistheoretischen Unterschied zwischen ihnen zu beachten. 3 Vgl. dazu ausführlicher: G. Frey, Symbolische und ikonische Modelle, in: The concept and the role of the model in mathematics and natural and social sciences. Ed. by H. Freudenthal, Dordrecht 1961. 4 Wir werden weiter unten eine genauere Bestimmung der Isomorphie geben; hier ist es ausreichend, wenn wir sie als strukturelle Ähnlichkeit oder Ähnlichkeit von Systemen seitens ihrer Elemente und Beziehungen bestimmen. 2*
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Beziehungen und Operationen zu identifizieren'. Als Beispiel führte er Addition und Multiplikation an . . . Aber diese kühnen Gedanken fanden bei seinen Zeitgenossen keinen Widerhall, man mußte die Entwicklung der Algebra abwarten, die sich in der Mitte des 19. Jahrhunderts vollzog . . ., um den Beginn der Realisierung dessen zu erblicken, von dem Leibniz geträumt hatte . . . Gerade zu dieser Zeit beginnen ,Modelle' einen größeren Raum einzunehmen . . ., und die Wissenschaftler gewöhnen sich daran, von einer Theorie zu einer anderen durch einfache Veränderung der Terminologie überzugehen." 5 Dieser Begriff des Modells als isomorphe Theorie und als isomorphe Struktur überhaupt steht mit der Spezifik abstrakter mathematischer Objekte und dem Wesen mathematischer Methoden in engem Zusammenhang. Wir werden im folgenden sehen, daß in der Mathematik auch ein etwas anderer Modellbegriff entstand, der sich der in den physikalischen und mechanischen Wissenschaften gebräuchlichen Bedeutung des Terminus „Modell" annähert. Aber wie dem auch sei — die Deutung des Modells als eine isomorphe Theorie ist in der Geschichte des wissenschaftlichen Denkens eine Tatsache. Es ist daher nicht verwunderlich, daß der Terminus „Modell" in dieser Bedeutung auch in unserer Zeit in einer Reihe von wissenschaftlichen Zusammenhängen Verwendung findet. Wir werden auf diese Frage noch zurückkommen und erörtern, inwieweit dies zweckmäßig ist. Andererseits wurde der Terminus „Modell" in den Naturwissenschaften (Astronomie, Mechanik, Physik, Chemie, Biologie) in einem anderen Sinne angewandt. Er wurde nicht zur Bezeichnung einer Theorie verwendet, sondern zur Bezeichnung dessen, worauf sich die jeweilige Theorie bezieht oder beziehen kann, dessen, was sie beschreibt. Hier sind mit dem Wort „Modell" zwei verwandte, aber etwas unterschiedliche Bedeutungen verbunden. Erstens wird unter dem Modell in weiterem Sinne eine gedanklich oder praktisch geschaffene Struktur verstanden, die einen bestimmten Bereich der Wirklichkeit in vereinfachter (schematisierter oder idealisierter) und anschaulicher Form nachbildet. So war schon in der Antike die Entwicklung von Wissenschaft und Philosophie mit der Schaffung anschaulicher Bilder der Wirklichkeit verbunden, die verschiedene Erscheinungen im Kosmos oder in der Mikroweit hypothetisch wiedergaben. In diesem Sinne betrachtete Anaximander die Erde als einen platten Zylinder, um den, durch Luftströmungen bewegt, radförmige, mit Feuer gefüllte und mit Öffnungen versehene Hülsen kreisen. Hierher gehört auch die im „Almagest" niedergelegte Vorstellung des Ptolemäus, wonach 5
N. Bourbaki,
20
OiepKH
no HCTOpira
MaTeMaTHKH,
Moskau 1963, S. 34.
sich „die Welt" um die unbewegliche Erde dreht. Vorstellungen dieser Art von der Mikroweit waren die Ideen Demokrits und Epikurs von den Atomen, ihrer runden oder häkchenförmigen Gestalt und ihrer ungeordneten oder geradlinigen Bewegung. Sicher kann die Einschätzung der gnoseologischen Rolle derartiger Modelle je nach der philosophischen Position des einzelnen Wissenschaftlers unterschiedlich sein. Dennoch bilden Modelle in diesem Sinne ein notwendiges Element der n a t u r wissenschaftlichen Erkenntnis, weil sie sich nicht auf den mathematischen Formalismus beschränkt, sondern nach Aufdeckung des objektiven Inhalts, der qualitativen Seite der Theorie strebt. Derartige Modelle sind ein wesentliches Moment jedes historisch entstandenen wissenschaftlichen Weltbildes, und man kann die Frage aufwerfen, inwieweit diese Modelle wissenschaftlich begründet sind und worin ihre Funktion, ihre Bestimmung, ihr Ziel besteht. Immer t r i t t jedoch das Modell in diesem Sinne als eine gewisse Idealisierung, als Vereinfachung der Wirklichkeit auf, obwohl sich Charakter und Grad der im Modell ausgedrückten Vereinfachung der Wirklichkeit im Laufe der Zeit ändern können. Weiter enthält das Modell als Bestandteil eines wissenschaftlichen Weltbildes, als P r o d u k t der schöpferischen Einbildungsk r a f t auch ein Element der Phantasie. Dabei'muß dieses phantastische Element in gewissem Grade immer durch Tatsachen, Beobachtungen und Messungen eingeschränkt werden. In diesem Sinne sprechen Heinrich Hertz, Max Planck, N. A. Umov und andere Physiker über Modelle. I n einem etwas anderen, engeren Sinne wird der Terminus „Modell" dann verwendet, wenn man einen Erscheinungsbereich mit Hilfe eines anderen darstellen will, der besser untersucht, leichter verständlich, gewohnter ist — wenn man, mit anderen Worten, Unbekanntes auf Bekanntes zur ü c k f ü h r e n will. So suchten die Physiker des 18. J a h r h u n d e r t s optische u n d elektrische Erscheinungen durch mechanische darzustellen. Sie sahen zum Beispiel das Licht als Schwingungen von „Äthermaterie" (Chr. Huygens) oder als Korpuskelstrom (I. Newton) an. Sie verglichen den elektrischen Strom mit einer durch Röhren strömenden Flüssigkeit, die Bewegung der Moleküle im Gas mit der Bewegung von Billardkugeln, d e n Atomaufbau mit dem Aufbau des Sonnensystems („Planetenmodell des Atoms") usw. E i n solcher Modellbegriff ist mit dem Begriff der physikalischen Analogie als Beziehung der Ähnlichkeit zwischen Systemen verbunden, die aus E lementen von verschiedener physikalischer N a t u r bestehen, aber gleiche S t r u k t u r e n haben. Oft werden derartige Modelle Analogiemodelle oder einf ach Analogien genannt — unabhängig davon, ob sie real oder fiktiv sind. Man bemerkt unschwer, daß in allen bisher beschriebenen Fällen unter einem Modell etwas von einer Theorie wesentlich Verschiedenes ver-
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standen wurde. Betrachtet man eine Theorie in diesem Zusammenhang als Gesamtheit von Aussagen über die allgemeinen Gesetze des gegebenen Gegenstandsbereichs, die logisch so verbunden ist, daß aus den Ausgangsprämissen gewisse Folgerungen gezogen werden können, so versteht man unter einem Modell entweder a) ein konkretes Abbild des Untersuchungsobjekts (Atom, Molekül, Gas, elektrischer Strom, Galaxis usw.), in dem reale oder angenommene Eigenschaften, die Struktur und andere Besonderheiten dieser Objekte dargestellt werden, oder b) irgendein anderes, neben dem untersuchten (oder angenommenen) Gegenstand real existierendes Objekt, das ihm hinsichtlich einiger bestimmter Eigenschaften oder struktureller Besonderheiten ähnlich ist. So sehr sich auch diese beiden Bedeutungen unterscheiden 6 , so ist ihnen doch gemeinsam, daß Modell hier ein gewisses endliches System bedeutet, ein gewisses Einzelobjekt — unabhängig davon, ob es real existiert oder nur ein Produkt der Einbildungskraft ist. In diesem Sinne ist das Modell keine Theorie. Es ist vielmehr das, was von der betreffenden Theorie beschrieben wird — also ein spezifischer Gegenstand der jeweiligen Theorie. Wir haben auf die am meisten verbreiteten Deutungen des Terminus „Modell" in der wissenschaftlichen Literatur verwiesen. Aber d a m i t ist das Spektrum seiner Bedeutungen noch nicht erschöpft. Man braucht nur auf die vielen Fälle zu verweisen, in denen der Terminus „Modellierung" als Synonym für Erkenntnis oder für erkenntnistheoretische Widerspiegelung oder überhaupt für Widerspiegelung, für Isomorphie gebraucht wird. Das Modell wird mit der Hypothese, der Abstraktion, der Idealisierung und sogar mit dem Gesetz identifiziert. In vielen Diskussionen zur erkenntnistheoretischen und methodologischen Bedeutung der Modellierung wurde völlig zu Recht auf die Unhaltbarkeit dieser Situation verwiesen, und verschiedene Methoden zur Vereinheitlichung dieses Begriffes wurden vorgeschlagen. 7 6
7
M. B. Hesse macht den Vorschlag, diese Unterschiede in den Bedeutungen des Terminus Modell 1. als wissenschaftliche Vorstellung und 2. als Analogo n, wenn es notwendig und wesentlich ist, mit besonderen Indizes, nämlich Modell ( und Modell 2 zu bezeichnen. (Vgl. M. B. Hesse, Models and analogies in science, London-New York 1963, S. 10-12) So schlägt z. B. M. Brodbeck angesichts der Vieldeutigkeit des Terminus „Modell" vor, alle Bestimmungen außer „Isomorphie von Gesetzen oder Theorien" als ungeeignet auszuschließen (vgl. M. Brodbeck, Models, meaning and theories, S. 378). P. Suppes verweist nach unserer Auffassung mit größerer Berechtigung auf den grundlegenden Unterschied bei der Deutung des Modells als „linguistische Wesenheit" (Theorie) und als „nicht-linguistische Wesenheit" (in der die Theorie erfüllt ist). Er schlägt vor, den Modellbegriff in einer einheitlichen und allen Wissenschaften gemeinsamen Bedeutung im Sinne Tarskis
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Wir halten diese Lage ebenfalls für unnormal. Offenbar besteht der Ausweg darin, daß aus der wissenschaftlichen Sprache solche Bedeutungen des Terminus „Modell" eliminiert werden, für deren Ausdruck bereits andere, fest fixierte Termini existieren. Der Terminus „Modell" sollte nur für solche spezifischen Erkenntnissituationen Anwendung finden, die von den Begriffen „Theorie", „Hypothese", „Formalismus" usw. nicht erfaßt werden. Wir werden unten einige derartige ungeeignete Deutungen des Terminus „Modell" untersuchen, die mittels anderer in der Wissenschaft gebräuchlicher Termini gut ausgedrückt werden können. Eine dieser ungeeigneten Anwendungen des Terminus „Modell" ist seine Benutzung als Synonym für Theorie. Dabei meint man nicht die Isomorphie verschiedener Theorien, den Umstand, daß eine gegebene Theorie die gleiche oder eine ähnliche logische Struktur wie eine andere Theorie besitzt, sondern einige andere Besonderheiten der Theorie. Dieser Wortgebrauch ist anscheinend dann üblich, wenn man der Verteidigung einer bestimmten Theorie ausweichen will. Wenn eine Theorie noch ungenügend ausgearbeitet ist, wenn sie gerade erst geschaffen wird und nur wenige deduktive Ableitungen, aber viele Vereinfachungen, viele hypothetische Elemente und Unklarheiten enthält, so bezeichnet man oft eine solche sich herausbildende Theorie oder eine ihrer Varianten als Modell. So wird beispielsweise in der Physik manchmal der Terminus „Modell" zur Bezeichnung eines vorläufigen Entwurfs oder einer Variante einer zukünftigen Theorie gebraucht, wenn beträchtliche Vereinfachungen vorgenommen werden, um das Auffinden der Wege zu erleichtern, die zum Aufbau einer exakteren und vollkommeneren Theorie führen. 8 aufzufassen — als Objekt oder System, in dem eine Theorie Bestätigung findet (vgl. P. Suppes, A. comparison of the meaning and uses of models in mathematics and empirical sciences, i n : The concept and the role of the model in mathematics and natural and social sciences, S. 163—176). 8 In diesem Sinne wurde der Terminus „Modell" z. B . von W. Heisenberg bei Schaffung seiner Theorie der Elementarteilchen benutzt. E r hält es bei der Erklärung seines Anliegens für zweckmäßig, „zuerst ein vereinfachtes Modell zu untersuchen, das den oben dargelegten Prinzipien entsprechend konstruiert sein soll. Das noch zu erörternde Modell ist natürlich zu einfach, u m ein reales Spektrum der Elementarteilchen geben zu können. Aber es illustriert die Grundzüge der künftigen adäquaten Theorie, denn es beschreibt eine Welt, die aus Elementarteilchen besteht, deren Eigenschaften denen der uns bekannten Teilchen qualitativ ähnlich sind." (Vgl. HejuraeäHaH KBaHTOBaH TeopHH noJiH, Moskau 1959, S. 225. Hervorhebung — V. S.) Wir sehen, daß m a n nach unserer Auffassung das als Modell bezeichnen müßte, was in den von uns hervorgehobenen Worten ausgedrückt ist. In diesem Sinne spricht auch A. Einstein v o m „theoretischen" oder „mathematischen Modell": „Ich glaube
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Gegen eine derartige Verwendung des Wortes „Modell" kann man einwenden, daß es zur Kennzeichnung solcher Theorien oder einzelner ihrer Merkmale, Züge und Besonderheiten entsprechende Begriffe und Termini gibt: Hypothese, Abstraktion, Idealisierung usw. Natürlich haben echte Modelle, wie weiter unten nachgewiesen wird, einige gnoseologische Eigenschaften und Funktionen mit den Theorien gemeinsam, aber in einer Beihe anderer Eigenschaften unterscheiden sie sich von ihnen. Es ist natürlich klar, daß die einfache Ersetzung eines Terminus durch einen anderen keine neuen erkenntnistheoretischen Probleme hervorruft und kein wirksames Mittel zu ihrer Erforschung oder Lösung darstellt. Eine andere naheliegende, aber nicht weniger untaugliche Anwendung des Terminus „Modell" ist seine Benutzung als Synonym einer beliebigen quantitativen Theorie, eines mathematischen Schemas oder ü b e r h a u p t einer mathematischen Beschreibung. Dieses Vorgehen ist nicht in den physikalischen Wissenschaften gebräuchlich, wo der mathematische Apparat von der Theorie selbst nicht zu trennen ist. Es findet sich aber sehr o f t in den Wissenschaften, in denen mathematische Methoden erst Anwendung zu finden beginnen. Als Modelle und besonders als mathematische Modelle werden hier sehr oft, wenn auch nicht ausschließlich, die mathematischen Beschreibungen selbst bezeichnet. Einer derartige, Auffassung des Modells kann man in den biologischen und ökonomischen Wissenschaften, aber auch in der Psychologie und Soziologie neben anderen Interpretationen dieses Terminus begegnen. So wird in dem Buch von B. Bush und F. Mosteller „Stochastische Unterrichtsmodelle" der Terminus „Modell" synonym f ü r ein mathematisches Schema, eine mathematische Konstruktion benutzt, die zur Beschreibung einer konkreten Situation angewendet wird: „Die Brücke zwischen der mathematischen und der empirischen Wissenschaft ist die Identifizierung von mathematischer Konstruktion und Experiment. Wenn eine derartige Identifizierung durchgeführt ist, so sagen wir, daß wir das mathematische Modell einer bestimmten Situation haben. Dieses Buch beschreibt ein solches Modell." 9 In gleicher oder ähnlicher Bedeutung als quantitative Theorie oder Hypothese wird der Terminus „Modell" von N. Bashevsky, G. Simon und anderen Soziologen und Ökonomen 1 0 , aber auch von
9
10
noch an die Möglichkeit eines Modells der Wirklichkeit, d. h. einer Theorie, die die Dinge selbst und nicht nur die Wahrscheinlichkeit ihres Auftretens darstellt." (A. Einstein, Mein Weltbild, Berlin 1956, S. 118) R. Bush/F. Mosteller, CTOxacTHHecKHe MOßejffl oßyiaeMOCTH, Moskau 1962, S. 15. Vgl. Mathematical thinking in the social science, ed. P. F. Lazarsfeld, Glencoe 1954.
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einigen Mathematikern, Logikern und Sprachwissenschaftlern 1 1 verwendet. Eine dritte ungeeignete, hauptsächlich in der Logik weit verbreitete Verwendungsweise des Terminus „Modell" ist seine Auffassung als formales oder formalisiertes System. Allerdings findet sich in der Logikliteratur auch eine andere, unserer Meinung nach geeignetere und zweckmäßigere Anwendung des Terminus „Modell" im Zusammenhang mit Problemen der inhaltlichen Interpretation formaler Systeme. Aber daneben werden sehr oft formale Systeme (logische Formalismen) oder Kalküle als Modelle bezeichnet. 12 Dabei werden unter formalen Systemen solche Systeme verstanden, in denen die Ausgangselemente, die Regeln des Aufbaus komplizierter Gesamtheiten aus ihnen und die Umwandlungsregeln genau fixiert und klar formuliert werden. Diese Formalisierung, die ein System von abstrakten Elementen und ihren Beziehungen ausdrückt, wird mit Hilfe der Symbolisierung realisiert. Die Symbolisierung besteht darin, daß die Zeichen und Ausdrücke der natürlichen Sprachen mit der ihnen eigenen Ungenauigkeit, Redundanz und Vieldeutigkeit durch ein Zeichensystem einer künstlichen Sprache ersetzt werden. Diese Zeichen haben eine genaue Bedeutung und sind günstig für Operationen mit ihnen. Der Vorzug einer solchen formalisierten Sprache gegenüber der natürlichen oder Umgangssprache besteht darin, 11
J . G. Kemeny und J . L. Snell bezeichnen als mathematisches Modell eine Theorie, aus der interpretierbare Folgerungen deduziert werden (vgl. J . G. Kemeny/ J . L . Snell, Mathematical models in social sciences, Boston etc. 1962, S. 4 ; vgl. J . Kemeny/J. Snell/J. Thompson, BBefleHHe B KOHenHyio MaTeMaTMKy, Moskau 1963). Es ist interessant, daß die genannten Autoren den Terminus „Modell" neben seiner Auffassung als mathematische Theorie auch in einer völlig anderen Bedeutung benutzen — als physikalisches Analogon der untersuchten Erscheinung. Sie beziehen sich besonders auf das sogenannte Ehrenfestsche Modell für den molekularen Mechanismus der Durchmischung von Gasen (S. 330). I. I. Revzin betrachtet in seinem Buch „MofleJlH H 3 U K a " (Moskau 1962) die Modelle als „Hypothesen über den Aufbau der Sprache als eines abstrakten semiotischen Systems", aus denen mit den Fakten übereinstimmende Folgerungen gezogen werden (S. 8). Die Beispiele für einen ähnlichen Wortgebrauch und eine entsprechende Auffassung der Modelle lassen sich vermehren.
12
Wie A. L. Subbotin richtig bemerkt, sind die Begriffe „formales S y s t e m " und „ K a l k ü l " in ihrer allgemeinen Fassung nicht identisch (vgl. A. L. Subbotin, C M H C J I H IJEHHOCTB
(JIOPMANHAAIJHH B J i o n i K e ,
in: ®HJioco$CKHE B o n p o c a
co-
Moskau 1962, S. 91 f.; vgl. auch H. Gurry/ R. Feys, Combinatory Logic, vol. I, Amsterdam 1958, S. 26f.). Für unsere Ziele ist es jedoch ausreichend, wenn wir beide Begriffe als identisch ansehen.
BpeMeHHOit $ o p M a J i b H o f t JiorMKH,
25
daß darin die logische F o r m m i t der F o r m des Aufbaus des sprachlichen S y s t e m s selbst übereinstimmt. Ein Beispiel f ü r eine derartige Modellauffassung ist der S t a n d p u n k t von F . George. E r bezeichnet als Modell „ein bestimmtes System von Postulaten (vom T y p der euklidischen Geometrie in der E b e n e ) " 1 3 u n d identifiziert Modell u n d Kalkül. Als Beispiel f ü r Modelle n e n n t er „die S y n t a x des Aussagenkalküls und andere Kalküle, die m a n in Urteilen u n d F u n k tionen interpretieren k a n n " 14. George e r k e n n t einen Unterschied zwischen dem Modell einer Theorie u n d der Theorie selbst an. E r sieht diesen Unterschied darin, daß „das Modell das Skelett bildet, die Theorie aber den ganzen Organismus m i t dem Fleisch darstellt" 1 5 . Es ist offensichtlich, d a ß hier der Terminus „Modell" ein S y n o n y m f ü r einen Formalismus oder K a l k ü l ist, der die a b s t r a k t e logische oder m a t h e m a t i s c h e S t r u k t u r (das „Skelett") einer bestimmten inhaltlichen Theorie a u s d r ü c k t . Natürlich ist die Wahl wissenschaftlicher Termini zum Ausdruck bes t i m m t e r Begriffe und zur Bezeichnung entsprechender Gegenstände, Gegenstandsbereiche oder Beziehungen im gewissen Grade willkürlich, Ergebnis von Konventionen oder Gewohnheiten. Ist die B e d e u t u n g des betreffenden Terminus genau b e s t i m m t u n d fixiert und wird dieser T e r m i n u s im gegebenen wissenschaftlichen Z u s a m m e n h a n g eindeutig entsprechend dieser f ü r ihn festgelegten B e d e u t u n g b e n u t z t , so ist darin keine Gefahr zu sehen. Aber leider ist das nicht immer so. Wir sahen, daß f ü r den Terminus „Modell" verschiedene Bedeutungen nebeneina n d e r v e r w e n d e t werden. Das f ü h r t oftmals zu Verwirrung und behindert sinnvolles Schließen und eine richtige Einschätzung der erkenntnistheoretischen und methodologischen Rolle verschiedener Modelle in der wissenschaftlichen E r k e n n t n i s . Versteht m a n den Terminus „Modell" in der B e d e u t u n g einer hypothetischen Theorie, einer q u a n t i t a t i v e n Theorie (mathematisches Schema, m a t h e m a t i s c h e Beschreibung) oder eines formalen Systems (Formalismus), so ergibt sich, erkenntnistheoretisch gesehen, eine unbefriedigende Situation. Ein derartiger Wortgebrauch bringt keinerlei neue erkenntnistheoretische Probleme hervor, die f ü r das Modell spezifisch sind u n d n i c h t 13
F. George, Mo3r Kau BtiqHCJiHTejitHaa Mamma, Moskau 1963, S. 36. Ebenda, S. 87; vgl.: F. H. George, Models and theories in social sciences. Symposium on sociological theory, New York 1959, S. 312f. Es ist interessant, daß George in seinem Aufsatz „Modelle in der Kybernetik" als Modell bereits ein System bezeichnet, das aus den Elementen nach bestimmten Regeln aufgebaut ist und einen Eingabe- und Ausgabeteil besitzt, und ein solches Modell der Theorie entgegensetzt. (Vgl. MoAeJiiipoBaHHe B ÖnoJiorHH, Ilofl pej(. H. A. EepHuiTeilHa, Moskau 1963, S. 231.) 15 G. H. George, Models and theories in social sciences, S. 313.
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auch bei Analyse der Erkenntnisfunktion der Theorie überhaupt, der Hypothesen von logischen und mathematischen Formalismen und anderen Widerspiegelungsformen auftreten. R. B . Braithwaite verwies zu Recht auf diese unnötige Verdoppelung der Termini, die mit der Identifizierung von Modell und Theorie verbunden ist 1 6 . Allerdings zeigt seine Bestimmung des Modells nicht dessen wirkliche Spezifik im Erkenntnisprozeß. Faktisch deutet Braithwaite das Modell als Spezialfall der Theorie. Nach seiner Auffassung unterscheidet es sich von der Theorie lediglich durch die Methode der Interpretation seiner (theoretischen) Ausgangstermini, ist aber mit ihr hinsichtlich seiner deduktiven Struktur identisch. Nach Braithwaite haben eine Theorie und ihr Modell also dieselbe deduktive Struktur, aber „im Modell bestimmen die Ausgangsprämissen logisch die Bedeutung der theoretischen Termini und der im Kalkül vorhandenen Folgerungen, in der Theorie bestimmen hingegen die logisch sekundären Folgerungen die Bedeutung der Termini, die im Kalkül der Prämissen vorhanden sind." 1 7 Damit ist das Modell ein deduktives System mit interpretierten theoretischen Ausgangstermini und Formeln. Die Theorie ist ein deduktives System gleicher Art, aber in ihr sind die theoretischen Ausgangstermini nicht interpretiert, sondern erhalten ihre Bedeutung allein durch den logischen Zusammenhang mit den Folgerungen. Darin bestehen nach Braithwaites Meinung auch die erkenntnistheoretischen (oder, nach seiner Terminologie, die epistemologischen) Unterschiede von Modell und Theorie. Es ist deutlich, daß damit der Bereich gnoseologischer Forschungen außerordentlich eingeengt und allein auf das Gebiet der Semantik beschränkt wird. Das entspricht übrigens völlig der neopositivistischen Konzeption von der „Philosophie der Wissenschaft". Der Terminus „Modell" soll bei Braithwaite den Unterschied zweier isomorpher Theorien betonen. Aber er bringt keine spezifische erkenntnistheoretische Kategorie, keine Erkenntnisformen oder -mittel zum Ausdruck. Eine erkenntnistheoretische Untersuchung des Modells kann aber nicht auf die Analyse der Isomorphie verschiedener Theorien beschränkt bleiben. Sie muß vielmehr den wirklichen Inhalt des Modellbegriffs ermitteln, der seine spezifische Rolle in der komplizierten Dialektik der Erkenntnis, in der Bewegung der Erkenntnis von der Erfahrung zur Theorie und von der Theorie zur Erfahrung (Praxis, Experiment) zu erklären vermag. Zur Identifizierung von Modell und Theorie führt vornehmlich der Umstand, daß beide qualitativ unterschiedliche Verfahren oder Formen der 16
17
Vgl. R. B. Braithwaite, Models in the empirical sciences, in: Logic, methodology and philosophy of science, S. 225. R. B. Braithwaite, Scientific Explanation, Cambridge 1963, S. 90.
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Vereinfachung, Abstraktion und Schematisierung darstellen. Wenn man diese vorhandenen qualitativen Unterschiede für unwesentlich hält oder einfach nicht berücksichtigt, so entsteht die genannte Identifizierung. S i e ist in einzelnen Fällen durchaus berechtigt und zulässig. Aber in derartigen Fällen hat der Modellbegrifl keinen spezifischen erkenntnistheoretischen Inhalt, der ihn vom Inhalt der Theorie unterscheiden würde. Nun werden im wissenschaftlichen Erkenntnisprozeß aber Modelle geschaffen, deren gnoseologisches Wesen von der Theorie verschieden ist, ungeachtet dessen, daß in beiden Fällen eine Vereinfachung vorgenommen wird. Worin besteht also der Unterschied zwischen Modell und Theorie? Das wesentliche Unterscheidungsmerkmal zwischen Modell und Theorie ist nicht der Vereinfachungsgrad (wie I. T. Frolow annimmt 1 8 ), nicht der Abstraktionsgrad und folglich auch nicht die Menge der vollzogenen Abstraktionen, sondern die für das Modell charakteristische Ausdrucksweise dieser Abstraktionen und Vereinfachungen. Der Inhalt einer Theorie wird in einer Gesamtheit von Urteilen ausgedrückt, die untereinander durch logische und spezialwissenschaftliche Gesetze verbunden sind und „unmittelbar" gesetzmäßige, notwendige und allgemeine Zusammenhänge und Beziehungen der Wirklichkeit widerspiegeln. Im Modell wird der gleiche Inhalt dagegen in Form typischer Situationen, Strukturen, Schemata, Gesamtheiten idealisierter (d. h. vereinfachter) Objekte u s w . 1 9 dargestellt, in denen diese gesetzmäßigen Zusammenhänge und Beziehungen realisiert oder, was dasselbe ist, die in der Theorie formulierten Gesetze erfüllt sind, aber sozusagen in „reinerForm". Deshalb ist ein Modell immer ein konkretes Gebilde, das in einer bestimmten Form oder in einem bestimmten Grade anschaulich, endlich und der Betrachtung oder der praktischen Tätigkeit zugänglich ist. Der Unterschied von Modell und Theorie wird bei stofflich-materiellen Modellen, die eine Theorie praktisch-gegenständlich realisieren, besonders deutlich. Während Theorie und Modell die Eigenschaft gemeinsam ist, die Wirklichkeit (das Objekt) in vereinfachter, abstrahierter Form widerzuspiegeln, unterscheidet sich das Modell von der Theorie durch die Eigenschaft, 18
Vgl. I . T. Frolov, r H o c e o n o r n n e c K H e n p o Ö J i e M H M O f l e n H p o B a H H H C n o j i o r H i e c K H x in: Voprosy filosofii, Nr. 2/1961, S. 41; I. T. Frolov, OiepKH MeTOflOj i o r u H Ö H O J i o r i i i e c K o r o H c c n e n o B a H H H , Moskau 1965, S. 159. N. A. Amossov verweist auf diese Besonderheit des Modells, das Objekt in einer Struktur mit konkreter raum-zeitlicher Bestimmtheit widerzuspiegeln: „Das Modell ist eine Struktur, in der die Veränderung einer physikalischen Einwirkung in der Zeit oder im Raum widergespiegelt wird." (N. A. Amossov, M o R e i r a p o B a H H e HHIFIOPMANHH H n p o r p a M M B CJIOJKHBIX c H C T e M a x , in: Voprosy filosofii, Nr. 12/1963, S. 27). CHCTeM,
19
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diese Widerspiegelung in Gestalt eines einzelnen, konkreten und daher mehr oder weniger anschaulichen Systems zu vollziehen. In unserer philosophischen Literatur werden ebenfalls unterschiedliche Definitionen des Begriffs „Modell" gebraucht. In einigen dieser Definitionen fehlt ein vom Standpunkt der marxistischen Erkenntnistheorie wesentliches, wichtiges und prinzipielles Merkmal, nämlich die Fähigkeit, das Objekt abzubilden. So betonen A. A. Zinov'ev und I. I. Revzin, das Modell selbst sei kein Wissen, kein gnoseologisches Abbild, sondern nur Mittel zur Erkenntnisgewinnung. Sie geben folgende Definition des Modells: „X sei eine gewisse Menge von Urteilen, die das Verhältnis der Elemente bestimmter komplizierter Objekte A und B beschreiben . . . Y sei eine gewisse Menge von Urteilen, die durch das Studium von A gewonnen werden und von den Urteilen X verschieden sind . . . Z sei eine gewisse Menge von Urteilen, die sich auf B beziehen und ebenfalls von X verschieden sind. Wenn Z aus der Konjunktion von X und Y nach logischen Regeln gewonnen wird, so ist A ein Modell für das Objekt B, und B ist das Original des Modells." 20 Aus dieser Definition wird ersichtlich, daß das Modell deshalb nicht als •erkenntnistheoretisches Abbild betrachtet wird, weil man es mit dem Objekt A identifiziert, das als stoffliches Analogon zum untersuchten Objekt B auftritt. Aber auf diese Weise werden die gedanklichen Modelle aus der Betrachtung ausgeschlossen, die ideellen und idealisierten 21 Objekte, deren Bedeutung als Wissenselemente und spezifische gnoseologische Abbilder realer Objekte jedoch nicht bestritten werden kann. Andererseits unterscheiden sich die stofflichen Modelle als Mittel zur Wissensgewinnung in einer Hinsicht wesentlich von anderen Erkenntnismitteln. Der Unterschied des Modells als Mittel zur Erkenntnisgewinnung gegenüber anderen wissenschaftlichen Forschungsmitteln 20
A. A. Zinov'ev/I. I. Revzin, JIormecKaH Mojuejib Kau cpejjCTBO HayiHoro HCCneaoBaifflH, in: Voprosy filosofii, Nr. 1/1960, S. 81. Diese Definition vertritt auch J. A. Zdanov in seinem Artikel „MoaeJinpoBaHHe B opraHH^ecKOft XHMHH", in: Voprosy filosofii, Nr. 6/1963, S. 63. Allerdings erkennt er in einer anderen Arbeit (in seiner Monographie „OiepKH MeT0A0Ji0rHH opraHHTOCKoft XHMHH" Moskau 1960) an, daß das gedankliche wie das reale Modell Formen der Anwendung der Analogiemethode sind und als Abbildung, als Reproduktion des Erkenntnisobjektes auftreten. So schreibt er zum Beispiel: „Das Tetraedermodell wiederspiegelt richtig die .Stereochemie des aliphatischen Kohlenstoffatoms." (S. 232) Über die von Bungenberg de Yong gewonnenen Koazervate wird z. B. gesagt: „Dieses grobe Modell widerspiegelt gewisse wesentliche Züge eiweißartiger Kolloide" (S. 233). Der mögliche Einwand, daß hier die Wiederspiegelung nicht erkenntnistheoretisch aufgefaßt wird, soll in Kapitel IV erörtert und widerlegt werden.
21
Vgl. Anmerkung 39 auf Seite 40.
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besteht gerade in ihrer Widerspiegelungsfunktion; das wird ausführlich in Kapitel 3 und 4 gezeigt. Modell und Gerät als Vermittlungen im Erkenntnisprozeß unterscheiden sich wesentlich dadurch, daß sich das Modell als Vertreter eines Objekts mit diesem in einer gewissen Übereinstimmung befindet und in diesem Sinne das Objekt widerspiegelt. Für die anderen Forschungsmittel ist diese Besonderheit hingegen nicht typisch und notwendig. Andere Bestimmungen des Modellbegrifls haben den Vorzug, daß ihnen das erwähnte Merkmal zugrunde liegt. So meint I. T. Frolow zwar, das Modell sei lediglich ein Erkenntnismittel, gibt jedoch eine Definition des Modells, in der die Widerspiegelung zu seinem Hauptmerkmal wird: „. . . Modellierung heißt eine materielle oder gedankliche Imitation real existierender (natürlicher) Systeme durch spezielle Konstruktion von Analoga (Modellen), in denen die Organisations- und Funktionsprinzipien dieser Systeme widergespiegelt werden." 2 2 Der Terminus „Imitation" entspricht hier erkenntnistheoretisch dem Begriff der Widerspiegelung. Wir wollen noch eine weitere Definition des Modellbegriffs anführen, die ebenfalls die Widerspiegelungsfunktion des Modells als sein wichtigstes und entscheidendes Merkmal hervorhebt. I. B. Novik definiert: „Unter Modellierung ist eine Methode des mittelbaren praktischen oder theoretischen Operierens mit einem Objekt zu verstehen. Dabei wird als Hilfsmittel ein künstliches oder natürliches ,Quasiobjekt' (Modell) benutzt, das sich in gewisser objektiver Übereinstimmung mit dem zu erkennenden Objekt befindet, dieses in bestimmter Hinsicht zu ersetzen vermag und letzten Endes bei seiner Erforschung Information über das modellierte Objekt selbst vermittelt." 2 3 In dieser Definition ist mit den Worten „objektive Übereinstimmung" die Widerspiegelung in erkenntnistheoretischem Sinn gemeint. Der Wert des Vorschlags von Novik besteht in dem Versuch, die Modelldefinition zu verallgemeinern und gleichzeitig zu konkretisieren. Dazu werden neben der Widerspiegelung auch folgende wesentliche Merkmale einbezogen: a) die Fähigkeit des Modells zur Repräsentation des Untersuchungsobjekts, b) das Bestehen klarer Regeln des Übergangs von der Information über das Modell zur 2 2
1. T. Frolov,
rHOceojiorHiecKHe
npoßjieMu
MOAejmpoBaHHH
ÖHOJiorHiecKHX
a. a. O., S. 39; I. T. Frolov, Besonderheiten des Organismus als „ S y stem" im Zusammenhang mit der Modellbildung, in: Arzt und Philosophie, Berlin 1961, S. 160f.
CHCTeM,
23
I. B . N o v i k ,
THOceojiorHHecKaH
xapaKTepHCTHKa
KH6epHeTHnecKHx
Molenei!,
in: Voprosy filosofii, Nr. 8/1963, S. 92. Vgl. I. B. Novik, Anschaulichkeit und Modelle in der Theorie der Elementarteilchen, in: Philosophische Probleme der Elementarteilchenphysik, Berlin 1965, S. 257 ff.
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Information über das Objekt (man müßte auch die Regeln zum Aufbau des Modells selbst nennen) und c) die Fähigkeit, experimentell überprüfbare Information zu liefern. Interessante Überlegungen zum erkenntnistheoretischen Wesen des Modellbegriffs finden sich bei K. D. Wüstneck. E r betont zu Recht die Dreistelligkeit der Modellbeziehung: „Folglich gehört es zum Wesen des Modellbegriffs, daß eine Relation zwischen drei Komponenten vorliegt, daß das Modell als solches nur in bezug auf ein bestimmtes Original und ein bestimmtes ,Subjekt1 definiert werden kann.'HJioco$CKHe Bonpocu coBpeMeHHOit $opMajibHoö JiorHKn",. Moskau 1962.
7»
von Zwischenstufen vermittelt abbildet, wird als Interpretation des formalen Systems bezeichnet. 6 9 Man bedient sich der Modellmethode bei derartigen Interpretationen von formalen Systemen in Logik und Mathematik sowie in anderen Wissenschaften, in denen die Konstruktion deduktiver Modelle zweckmäßig erscheint. Durch Benutzung des Modells als Mittel der Interpretation eines formalen Systems wird es ermöglicht, dieses System als Abbildung bestimmter inhaltlicher konkreter Theorien oder Wissenschaftszweige anzuwenden, deren Wahrheit durch die Praxis festgestellt und geprüft ist. Dadurch gewinnen alle Ausdrücke des formalen Systems einen Sinn; das Problem der Wahrheit ihrer Formeln (als Entsprechung zu einem bestimmten Teil der objektiven Wirklichkeit) erhält einen konkreten Inhalt. E s ist offensichtlich, daß sich das Modell auch in diesem Bereich im Endergebnis als ein Glied im komplizierten Prozeß der Widerspiegelung verschiedenartiger materieller Objekte im Bewußtsein des Menschen und als spezifische Form einer derartigen Widerspiegelung erweist. Ebenso verhält es sich in der Physik, wo unter der Deutung einer Theorie die Erhellung ihres physikalischen Sinns verstanden wird. Eine Theorie interpretieren heißt letzten Endes auf das reale Objekt hinweisen, auf das sie sich bezieht. Wenn dieses Objekt nicht unmittelbar der Beobachtung zugänglich ist, so dient das Modell als Mittel des Übergangs von der Theorie zum Objekt und erleichtert damit die Deutung der Theorie. Klassische Beispiele einer solchen Deutung sind die vielen Äthermodelle, mit deren Hilfe man die elektromagnetischen Feldgleichungen Maxwells (die Theorie) mit einem bestimmten physikalischen Objekt zu verbinden suchte. So heißt Deutung der Theorie Feststellung ihres objektiven Inhalts, und das Modell ist das Mittel zu seiner Kennzeichnung. Die Lösung der Frage, auf welchem Wege und mit welchem Erfolg dieses Ziel erreicht werden kann, ist Aufgabe der weiteren Untersuchung. In diesem Zusammenhang ist eine prinzipielle Bemerkung erforderlich. Wenn man das Modell als Interpretation ansieht, so wird oft behauptet, daß inhaltliche Theorien Modelle von formalen Theorien seien. Nimmt man solche Behauptungen isoliert, außerhalb des Zusammenhanges mit anderen Wesensmerkmalen und Eigenschaften der Modelle, verleiht man ihnen selbständige erkenntnistheoretische Bedeutung, so kann die Illusion entstehen, das Modell widerspiegele nicht die Wirklichkeit, sondern eine reine Theorie. Diese Illusion kann noch dadurch verstärkt werden, daß der Terminus „Abbildung" in mathematisch-logischen Arbeiten zur 69
Vgl. JIornKa HayiHoro HccneffOBamiH, Moskau 1965, Kap. V.
80
Kennzeichnung der Isomorphie von Systemen verwendet wird, wobei kein System als erkenntnistheoretisches Abbild des anderen auftritt. In dieser Illusion ist eine erkenntnistheoretische Quelle der idealistischen Modellauffassung verborgen. Ihr Wesen besteht in der Behauptung, daß die Modelle ein anschaulicher Ausdruck und in diesem Sinne eine Abbildung der inneren Welt des Bewußtseins, nicht aber der objektiven Welt darstellen. Danach sind die Modelle ein P r o d u k t des reinen Denkens, und als bestimmte Strukturen erfüllen sie die Funktion der Ordnung von Sinnesdaten. In diesem Sinne wird dann auch behauptet, ein inhaltliches S y s t e m sei Modell eines formalen. Auf die Falschheit einer Verabsolutierung dieses Gesichtspunktes wurde in der Literatur bereits hingewiesen. A. D. Getmanova bemerkt zu Recht, daß die Anwendung des Terminus „Modell" in derartigen Fällen nicht sinnvoll ist. „Mehr noch, sie kann zu idealistischen Verzerrungen führen. Wie der holländische Mathematiker von Dantzig richtig bemerkte, bezeichnen wir nicht die S t a d t Paris als .Modell' ihres Planes. U m g e k e h r t : der Stadtplan von Paris ist ,Modell' dieser S t a d t . Analog gilt auch für das Verhältnis zwischen einem formalisierten' (und überhaupt einem axiomatischen) S y s t e m und seinem inhaltlichen Modell, daß das Modell und nicht seine Formalisierung primär i s t . " 7 0 E s muß jedoch besonders betont werden, daß erkenntnistheoretisch gesehen sowohl das „formalisierte" System als auch seine inhaltliche Interpretation im ideellen (und sogar im materiellen) Modell gegenüber der Wirklichkeit gleichermaßen sekundär sind. E r s t wenn diese prinzipielle philosophische F r a g e im materialistischen Sinne gelöst ist, kann man davon sprechen, daß das Modell gegenüber der Theorie sekundär ist. So errichtet man in der axiomatischen Methode zuerst das formale S y s t e m und interpretiert es dann durch ein Modell. Die positivistische Auffassung des Modells als Mittel zur Interpretation einer Theorie geht von einer anderen Voraussetzung aus. Das ist ganz natürlich, denn der Positivismus leugnet die objektive R e a l i t ä t und erklärt sogar diese Fragestellung selbst für veraltet, für unwissenschaftliche Metaphysik und lehnt „sowohl die These von der R e a l i t ä t der Außenwelt als auch die These von ihrer Nichtrealität als Pseudobehaupt u n g e n " 7 1 ab. In einer Philosophie, die die Realität der Außenwelt leugnet, wird auch der Begriff des Modells als Interpretation subjektiv-idealistisch verstanden. Nach Carnap „soll die Ableitung der Theoreme eine rein logische 70
71
A. D. Getmanova, O cooTHomeHHH MaTeMaTHKH h jiornKH b CHCTeMax ™na Principia Mathematica, in: JIorHiecKHe HCCJieROBaHHfl, Moskau 1959, S. 194. R. Carnap, 3HaHemie h HeoCxoRUMoari», a. a. 0., S. 312.
6 Stoff
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Deduktion sein. In ihr darf also nicht etwa auf die Anschauung verwiesen werden . . . und keine Kenntnis der Gegenstände der Theorie darf verwendet werden außer der, die in den Axiomen ausgesprochen ist . . . " ; „ . . . dies wird als Konstruktion von Modellen für die axiomatischen Grundzeichen bezeichnet" und ist „eine Interpretation für einen Kalk ü l " . 7 2 Bei näherer Betrachtung stellt sich jedoch heraus, daß diese Brücke nicht ins Reich realer Objekte, sondern in die subjektive Welt sinnlicher Erlebnisse führt. Ein Beispiel für eine solche Auffassung der Interpretation eines Kalküls mit Hilfe von Modellen gibt R. B . Braithwaite in seinem Buch „Scientific Explanation". Braithwaite versteht unter einem Modell eine Theorie, die hinsichtlich ihrer logischen Struktur mit einer anderen Theorie übereinstimmt. Zur Begründung seiner Auffassung über den Zusammenhang von Modell und Theorie benutzt er eine Reihe von Begriffen wie „Kalkül", „deduktives System", „Interpretation", „epistemologisch primär und sekundär" und legt einigen von ihnen einen spezifischen Sinn bei. Unter einem Kalkül versteht er ein System von formalen Beziehungen, die zwischen Zeichen bestehen, Regeln der Verknüpfung von Zeichen usw. Ein deduktives System ist ein bereits interpretierter Kalkül, ein inhaltliches System. Ein Kalkül kann aber auf verschiedene Weise interpretiert werden, so daß inhaltlich verschiedene deduktive Systeme, d. h. solche Systeme, die sich auf unterschiedliche Gegenstandsbereiche beziehen, Interpretation ein und desselben Kalküls sein können. Nach Braithwaites Auffassung kann die Bedeutung der Sätze eines gegebenen Kalküls durch zwei unterschiedliche Verfahren festgestellt werden. Zu ihrer Erklärung führt er die Begriffe des epistemologisch Primären und des epistemologisch Sekundären ein. 7 3 Dieser Wortgebrauch hat mit unserer Auffassung des erkenntnistheoretisch Primären und Sekundären im Sinne der Grundfrage der Philosophie über das Verhältnis von Materie und Bewußtsein nichts gemein. Wenn in einer Theorie die Bedeutungen der Ausgangssätze (Formeln), die theoretische Termini enthalten, zuerst fixiert wurden und die Bedeutungen der abgeleiteten Sätze (Formeln) durch die Bedeutungen der Ausgangsformeln bestimmt werden, so sind die allgemeinen Sätze (Formeln) dieser Theorie epistemologisch primär gegenüber den abgeleiteten Formeln. In einer anderen Theorie ist das Gegenteil der Fall, d. h., die abgeleitete Formel ist epistemologisch primär, weil in diesem Falle ihre Bedeutung 72
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R. Carnap, Symbolische Logik mit besonderer Berücksichtigung ihrer Anwendungen, Wien 1960, S. 173 f. R . B. Braithwaite, Scientific Explanation, S. 89f.
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fixiert wird und davon ausgehend die Bedeutung der Ausgangsformeln. In diesem Falle, so schreibt Braithwaite, „sagt man, daß sich das erste deduktive System zum zweiten als Modell zur Theorie verhält" 7 4 . Diese Auffassung über das Wechselverhältnis von Modell und Theorie wird vom Autor durch den Vergleich mit einem Reißverschluß illustriert. Modell und Theorie sind die zwei parallelen Hälften dieses Reißverschlusses. Sie haben dieselbe logische Struktur, aber eine unterschiedliche Interpretationsrichtung im Sinne des Zusammenhangs zwischen Kalkül und empirischen Gegebenheiten. „Theorie und Modell haben eine u n t e r schiedliche epistemologische S t r u k t u r : im Modell bestimmen die logisch primären Prämissen die Bedeutung der Termini des Kalküls, die in den Folgerungen enthalten sind, in der Theorie bestimmen die logisch sekundären Folgerungen die Bedeutung der theoretischen Termini in den Prämissen des Kalküls. Wenn wir wiederum den Vergleich m i t dem Reißverschluß verwenden, so können wir sagen, daß der Kalkül an die Theorie von unten anschließt und der Verschluß sich nach oben bewegt; an das Modell schließt der Kalkül von oben an, und der Verschluß wird nach unten bewegt." 7 5 Wir sind mit Braithwaites Deutung des Modells als Theorie nicht einverstanden. Unabhängig davon, wie m a n sich zu dieser Deutung verhält (der Streit t r ä g t hier in gewissem Maße terminologischen Charakter), ist es vom materialistischen S t a n d p u n k t jedenfalls unhaltbar, das Modell als Interpretation im Sinne eines Verfahrens der Zuordnung von Termini eines Kalküls zu Sinnesdaten aufzufassen. Tatsächlich fungiert das Modell als ein Verbindungsglied zwischen Theorie und Wirklichkeit, das den Übergang von der logischen S t r u k t u r zur S t r u k t u r der realen Welt erleichtert. Braithwaite leugnet hingegen die Einheit der logischen S t r u k t u r der Theorie und der objektiven Wirklichkeit. E r interpretiert die bekannten Worte von H. Hertz über die Beziehung zwischen der logischen S t r u k t u r der Abbilder und der Wirklichkeit im Sinne einer positivistischen Leugnung der objektiven Wirklichkeit selbst. So gelangt er letztlich zum Fiktionalismus, wenn er behauptet, das Denken über eine wissenschaftliche Theorie mit Hilfe eines Modells sei immer Denken „als ob" (as if thinking) 7 6 . 74
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Ebenda, S. 90. Diese Konzeption wird im Buch von F. George „Mosr KaK BHHHCjrHTejifcHaH ManiHHa", Moskau 1963, S. 110f., im Kapitel „Philosophie, Methodologie, Kybernetik" erörtert. Allerdings erfaßt der Autor nicht das wirkliche philosophische Wissen der Gedanken Braithwaites. R. B. Braithwaite, Scientific Explanation, S. 90. Ebenda, S. 91, S. 93. Eine kritische Einschätzung der Auffassungen Braithwaites und Huttens findet sich in dem interessanten Artikel von E. Götlind,
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Braithwaites Modellauffassung ist nur ein Glied seiner allgemeinen subjektiv-idealistischen Theorie der wissenschaftlichen Erklärung als einer vollkommen willkürlichen künstlichen Konstruktion. 7 7 R. Carnap steht auf ähnlichen philosophischen Positionen. Seine subjektiv idealistische Modellauffassung kommt deutlich bei seinem Versuch zum Ausdruck, die Funktion der Modelle in der modernen Physik zu untersuchen. Carnap analysiert vor allem die Rolle der Interpretation in der Physik und bemerkt zu Recht: „Die neuere Entwicklung der Physik, vor allem in den letzten Jahrzehnten, hat bei Aufbau, Überprüfung und Anwendung der physikalischen Theorien immer mehr zu jener Methode geführt, die wir Formalisierung nennen, d. h. die Konstruktion eines Kalküls, ergänzt durch eine Interpretation." 7 8 Gleichzeitig betont Carnap, die neue Physik wäre seit Maxwells Elektrodynamik auf das Problem gestoßen, daß die Interpretation ihrer abstrakten Termini, Axiome und Theoreme durch deren unmittelbare Zuordnung zu den Empfindungen, Wahrnehmungen und Vorstellungen Schwierigkeiten bereitet. Diese Auffassung der Theorie bezeichnet Carnap als induktiv und schließt, sie sei für die moderne Physik nicht annehmbar. Deshalb habe das Modell nach seiner Auffasssung in der neuen Physik keinerlei Erkenntnisfunktion, denn es sei eine Brücke von den Axiomen und Theoremen zur Sinneserfahrung, und letztere sage nichts über solche Begriffe wie zum Beispiel den Vektor der elektrischen Feldstärke in den Maxwellschen Gleichungen. In der Erfahrung gibt es nichts, was derartigen Begriffen entspräche, deren Zahl sich in der modernen Physik noch vergrößert. Deshalb wird die Frage nach einer realen Existenz der Dinge und Beziehungen jenseits der Grenzen der Erfahrung und unabhängig von ihr für „sinnlose Metaphysik" erklärt. Die Bedeutung von Modellen für die Erkenntnis als Brücke zwischen Theorie und Wirklichkeit wird rundweg abgelehnt. Carnap schreibt: „Als abstrakte, nichtintuitive Formeln wie zum Beispiel die Maxwellschen Gleichungen des Elektromagnetismus als neue Axiome vorgeschlagen wurden, bemühten sich die Physiker, sie ,intuitiv' zu machen, indem sie ein ,Modell' konstruierten, d. h. ein Verfahren, den elektromagnetischen Mikroprozeß durch Analogie zu einem
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Two views about the function of models in empirical theories, in: Theoria, 1961, vol. 27, pt. 2, S. 58-69. Götlind betont, daß sich die Modellauffassung Braithwaites von der wirklichen Rolle der Modelle in den Naturwissenschaften unterscheidet. Er kommt jedoch in seiner Kritik nicht über die positivistische Auffassung hinaus. R. B. Braithwaite, Scientific Explanation, S. 367 ff. R. Carnap, Foundation of logic and mathematics, Chicago 1939, S. 67.
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bekannten Makroprozeß, zum Beispiel zur Bewegung sichtbarer Körper, darzustellen. In dieser Richtung wurden zahlreiche Versuche unternommen, allerdings ohne befriedigendes Resultat. E s ist wichtig zu verstehen, daß die Schaffung von Modellen nicht mehr als einen ästhetischen, didaktischen oder bestenfalls heuristischen Wert hat, aber für die erfolgreiche Anwendung einer physikalischen Theorie keinesfalls wesentlich i s t . " 7 9 Nach Carnap darf man also in solchen Theorien wie beispielsweise der Quantenmechanik keinerlei objektive Bedeutung suchen, weil die Axiome dieser Theorien keine Modelle haben. Carnap stimmt allerdings nicht mit denen überein, die aus dem Fehlen eines „intuitiven" Verständnisses (im Sinne einer Modellierungsmöglichkeit) den Schluß ziehen, daß solche Theorien überhaupt keine Theorien über die Natur seien, sondern „rein formalistische Konstruktionen" oder „leere K a l k ü l e " . Eine Theorie darf kein leerer Kalkül sein, sie muß interpretiert werden. Aber in der modernen Physik können in Termini der Erfahrung nur elementare Zeichen, Basiszeichen, interpretiert werden. Solche komplizierten physikalischen S y m b o l e wie zum Beispiel der Vektor der elektrischen Feldstärke in Maxwells Elektrodynamik oder die iP-Funktionen in der modernen Q u a n t e n mechanik, können nach Carnap nicht so anschaulich interpretiert werden, um sie „intuitiv" verständlich zu machen, weil ihre direkte Übersetzung in Termini, die auf die Beobachtung bezogen sind, unnötig und unmöglich ist. Die Interpretation dieser Symbole kann „ n u r indirekt durch semantische Regeln angegeben werden, die sich auf elementare Zeichen beziehen, und gemeinsam mit den Formeln, die sie mit dem Feldstärkevektor E verbinden" 8 0 . Die Unmöglichkeit einer Anwendung von Modellen zur Interpretation sei keine Besonderheit der modernen Physik. Nach Carnap kann der Physiker nur ein solches Verständnis erlangen, das sich mit der Kenntnis begnügt, wie diese S y m b o l e (H, E, W) im Kalkül zu verwenden sind, um mit Hilfe der Beobachtung überprüfbare Voraussagen machen zu können. 8 1 Der Verzicht auf jegliche Modellinterpretation einer physikalischen Theorie in der modernen Physik würde also bedeuten, den S t a n d p u n k t des Operationalismus einzunehmen. Die Ablehnung der Interpretation mit Hilfe von Modellen ist bei Carnap so mit einem agnostizistischen Verbot verbunden, in die objektiv existierende Struktur der Mikroweit einzudringen; diese Auffassung beruht auf einer rein operationalistischen Deutung der Begriffe und Theorien der modernen Physik. 79 Ebenda, S. 67 f. so Ebenda, S. 68.
81 Ebenda, S. 69.
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E. H. Hutten sieht im Unterschied zu Carnap im Modell ein wichtiges Mittel zur Interpretation abstrakter Theorien. Er geht ebenfalls von dem Gedanken aus, daß die Interpretation einen Übergang zwischen formalem Kalkül und Erfahrung darstellt. Dabei meint Hutten, man dürfe sich bei der semantischen Analyse nicht darauf beschränken, lediglich die Basistermini der Erfahrung zuzuordnen. Er fordert eine semantische Interpretation der Axiome und Sätze der deduktiven Theorie im Ganzen. Hutten beschäftigt sich mit der Analyse der Struktur physikalischer Theorien und ihrer Bedeutung. Dabei sieht er zeitweilig von den Unterschieden zwischen mathematischen Gleichungen und logischen Regeln und Zeichen ab und bezeichnet alles zusammen als formalen Kalkül. Dann läßt sich nach Hutten eine physikalische Theorie in zwei Bestandteile zerlegen: 1. in den Formalismus, d. h. den Kalkül im oben genannten Sinne; 2. in ein System von semantischen Regeln, die die Interpretation liefern. Hutten folgt in seiner Aufgabenstellung im gewissem Maße Kant und dessen Problem von der Möglichkeit synthetischer Urteile a priori. Allerdings lehnt Hutten als Vertreter des Positivismus den Kantschen Apriorismus ab und bevorzugt den Konventionalismus.82 Von Kant unterscheidet sich Hutten auch durch seinen reinen Empirismus (ohne das „Ding an sich") und durch die Ersetzung des Problems des Verhältnisses von Logischem und Sinnlichem durch das Problem des Verhältnisses von Formalismus und Erfahrung. Kant versuchte Verstand und sinnliche Anschauung mit Hilfe eines transzendentalen Schemas in Form einer apriorischen Bestimmung der Zeit zu verbinden, da die Zeit einerseits mit den Kategorien gleichartig ist, andererseits aber der sinnlichen Anschauung zugehört.83 In ähnlicher Weise sucht auch Hutten ein Mittelglied in einem anderen Bereich. Dieses Bindeglied von Theorie und Erfahrung ist nun das Modell, das heißt ein Erkenntnismittel, das nicht eine künstliche (wie bei Kant), sondern eine echte Einheit von Logischem und Sinnlichem ist. Das Modell ist einerseits eine logische Form der Widerspiegelung, denn es ist Vgl. E. H. Hutten, The language of modern physics, London 1956, S. 36 ff.; vgl. auch E. H. Hutten, The role of models in physics, in: Brit. Journ. Phil. Sei., 1954, vol. IV, Nr. 16, S. 284 ff. 83 Vgl. I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, Leipzig 1944, S. 237-245. Es sei darauf hingewiesen, daß auch Schelling den Begriff des Schemas für die Zuordnung von Begriff und Objekt, Abstraktion und anschaulicher Wahrnehmung verwendet (vgl. F. W. I. Schelling, System des transzendentalen Idealismus, in: Werke (Auswahl in drei Bänden), 2. Bd., Leipzig 1907, S. 182ft.). 82
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im gewissen Sinne eine Abstraktion, ein vereinfachter, schematisierter Ausdruck einer Wirklichkeitsstruktur, eines Systems von wesentlichen Wechselbeziehungen, von Gesetzmäßigkeiten. Diese Eigenschaft zeichnet nicht allein die klassischen Modelle aus (zum Beispiel das Modell des Gases in Form elastischer Kugeln oder des elektrischen Stromes in Leitern in Form einer Flüssigkeitsbewegung in Röhren). Sie ist auch für die modernen Modelle des Atoms, des Atomkerns oder einzelner Nukleonen kennzeichnend. Dabei ist aber andererseits für die Modelle die Bewahrung der Anschaulichkeit in Form der räumlichen Anordnung seiner Elemente, Schemata, Graphiken, Diagramme oder Symbolsysteme (Zeichen) spezifisch. In all diesen Fällen verkörpert die den Modellen eigene Anschaulichkeit die sinnliche Seite der Erkenntnis. Grundlage dieser Einheit von Logischem und Sinnlichem, Abstraktem und Konkret-Anschaulichem ist nicht die subjektive Tätigkeit des erkennenden Subjekts, das willkürlich und frei verschiedene Systeme von Begriffen (Axiomen) schafft und ebenso willkürlich nach von ihm erfundenen Regeln diese Begriffe auf die sinnlichen Gegebenheiten bezieht, wie dies die Positivisten meinen. Quelle und Grundlage dieser Einheit ist vielmehr die dialektische Einheit von Allgemeinem und Einzelnem, von Wesen und Erscheinung, die der gesamten Wirklichkeit und jedem ihrer Elemente eigen ist. Diese einzig richtige Methode zur Erforschung der erkenntnistheoretischen und methodologischen Funktion der Modelle ist dem Positivismus wegen seiner extremen Abneigung gegen eine „Ontologie", d. h. gegen eine Anerkennung der Außenwelt, und gegen die „Metaphysik", also gegen den Materialismus, verschlossen. Die Unzufriedenheit mit der positivistischen Lösung der Modellproblematik durchdringt fast alle Arbeiten der bekannten englischen Logikerin und Methodologin M. B . Hesse, die die methodologische Funktion der Modelle ausführlich untersucht hat. 8 4 M. B. Hesse ist nicht der Ansicht Duhems und anderer Positivisten, wonach Modelle für den Aufbau einer Theorie nicht erforderlich sind und ihre Anwendung lediglich ein Zugeständnis an den Wunsch der Physiker ist, die Theorie anschaulich darzustellen. Hesse stimmt auch 84
M. B. Hesse, Operational definitions and models in physical theories, in: Brit. Journ. Phil. Sei., 1952, vol. II, Nr. 8; M. B. Hesse, Models in physics, in: Brit. Journ. Phil. Sei., 1953, vol. IV, Nr. 15; M. B. Hesse, Science and the Human imagination, London 1954; M. B. Hesse, Theories, dictionaries, and observations, in: Brit: Journ. Phil. Sei. 1958, vol. I X , Nr. 33; M. B. Hesse, On defining analogy, in: Proc. Aris. Soc., 1959/60, vol. L X ; M . B . H e s s e , Forces and fields, London etc. 1961; M. B . H e s s e , Models and analogies in science, London — New York 1963.
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nicht der Auffassung zu, daß die Modelle lediglich nützliche heuristische oder didaktische Verfahren darstellen, keineswegs aber zum Verständnis der logischen Struktur der Theorie notwendig sind. Die methodologischen Ausgangspositionen von M. B. Hesse kommen den Auffassungen des bekannten englischen Physikers Norman R. Campbell nahe. Er hat in seinem Buch „Physics: the elements" eine Variante der hypothetisch-deduktiven Methode entwickelt. 85 Sie haben auch mit K. Poppers Auffassungen Ähnlichkeit, denen M. B. Hesse prinzipiell zustimmt. 8 6 Nach ihrer Auffassung ist das Modell ein verbindliches Element der hypothetisch-deduktiven Methode als einer grundlegenden Methode zum Aufbau von Theorien. Sie schreibt: „Wissenschaftliche Theorien werden nicht allein nur aus sinnlichen Gegebenheiten oder operationalistischen Bestimmungen geschaffen, sondern sind ihrer Form nach hypothetisch-deduktiv; das heißt, sie bestehen aus Hypothesen, die an sich kein Verhältnis zur unmittelbaren Beobachtung haben, aus denen aber Schlüsse gezogen werden können, die den Experimentresultaten unter der Bedingung entsprechen, daß sie angemessen in die Sprache des Experiments übersetzt werden." 8 7 Bei der Erklärung ihrer Auffassung von der hypothetisch-deduktiven Methode geht Hesse davon aus, daß es keine Regeln geben kann, die den Prozeß der wissenschaftlichen Entdeckung formalisieren und reglementieren. Sie schreibt: „Die Hypothese wird nicht durch eine deduktive Maschine ausgearbeitet, die mit experimentellen Beobachtungen gefüllt ist; sie ist das Produkt der schöpferischen Einbildungskraft des Intellekts, der die experimentellen Tatsachen so lange in sich aufnimmt, bis er ihnen ein bestimmtes Muster gibt (fall into a pattern), das dem wissenschaftlichen Theoretiker ein Verständnis dafür vermittelt, daß er durch die Oberfläche der Erscheinungen zur wirklichen Struktur der Natur vordringt." 8 8 M. B . Hesse neigt zu jener Form des physikalischen Idealismus, dessen erkenntnistheoretische Quelle in der Mathematisierung und Formalisierung der Wissenschaft besteht. Sie bemüht sich daher, besonders in ihren ersten Arbeiten, den Modellbegriff der Struktur einer Theorie anzunähern. Hierbei will sie das Modell so bestimmen, daß die Definition „sowohl den mathematischen Formalismus als auch die physikalisch vorstellbaren Modelle einschließt . . . Das Modell besitzt eine 85
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N. R. Campbell, Physics: the elements, Cambridge 1920; vgl. auch N. RCampbell, Readings in the philosophy of science, New York 1953, S. 288—308. Vgl. M. B. Hesse, Forces and fields, a.a.O., S. 3. M. B. Hesse, Models in physics, a.a.O., S. 198. Ebenda, S. 198.
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notwendige innere S t r u k t u r , die einfach aus Axiomen und Schlußregeln bestehen kann, wie bei den mathematischen Modellen, oder ergänzend eine gewisse Zahl von Axiomen enthalten kann, die den empirischen Gesetzen eines bestimmten physikalischen Prozesses entsprechen, wie bei den mechanischen oder elektrischen Modellen." 8 9 Diese Modellbestimmung unterscheidet sich offensichtlich kaum von d e r Beschreibung der S t r u k t u r einer deduktiven (formalisierten oder inhaltlichen) Theorie. In ihren letzten Arbeiten neigt M. B. Hesse zur Deutung des Modells als Analogon untersuchten Objektes. Offenbar ist diese Entwicklung in der Modellauffassung Resultat der Unmöglichkeit, die erkenntnistheoretische Spezifik der Modelle durch Annäherung an den logisch-mathematischen Formalismus und sogar Identifizierung m i t ihm zu erklären. J e t z t wird unter einem Modell keine Theorie, sondern ein Objekt verstanden, das im Vergleich zu den modellierten Erscheinungen drei Gruppen von Eigenschaften besitzt. Es sind dies: 1. Eigenschaften, die den Eigenschaften des modellierten Objekts ähneln (positive Analogie); 2. Eigenschaften, die beim modellierten Objekt fehlen (negative Analogie); 3. Eigenschaften, hinsichtlich deren noch nicht b e k a n n t ist, ob sie auch zu der modellierten Erscheinung gehören (neutrale Analogie). Die letzte Gruppe ist am interessantesten, denn sie ermöglicht Voraussagen. 90 Hesse benutzt diese allgemeine Modellbestimmung (Modell 2 ) als Ausdruck dieser dreifachen Analogie und l ä ß t eine engere Definition des Modells als eine gewisse Kopie zu (Modell = Modell 2 „minus d e r uns bekannten negativen Analogie"). Sie n i m m t an, daß die Modelle in allen diesen Bedeutungen f ü r die Logik wissenschaftlicher Theorien wesentlich sind. Ihre Notwendigkeit wird durch drei Faktoren b e s t i m m t : Erstens ermöglichen die Modelle ein tiefes Verständnis der Theorie. Sie geben ihr eine Interpretation, erklären Unbekanntes und Unverständliches in den Termini einer gut bekannten und verständlichen Situation oder einer Theorie, die diese Situation beschreibt und erklärt (zum Beispiel das Wellenmodell f ü r Schall und Licht; die Analogie zwischen Wärmetheorie und Elektrostatik usw.). Die Modelle ermöglichen zweitens, die Theorie in mit den experimentellen Ergebnissen vergleichbaren Termini zu prüfen. Drittens wäre es, was besonders wichtig ist, „ohne Modelle unmöglich, die Theorie f ü r einen ihrer wichtigsten Zwecke zu n u t z e n : f ü r Voraussagen in neuen Wissensgebieten" 9 1 . Man m u ß zugeben, daß die genannten P u n k t e wirklich die wesentliche Rolle der Modelle bei der Schaffung einer wissenschaftlichen Theorie 89 Ebenda, S. 212. 90 M. B. Hesse, Models and analogies in science, S. 9f. 91 Ebenda, S. 4 f.; auch S. 6.
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z u m Ausdruck bringen. Obwohl sie nicht alle Funktionen erfassen, die die Modelle in der Erkenntnis ausüben, sind die Arbeiten von M. B. Hesse, in denen sie die Notwendigkeit der Modelle beweist und einige andere logisch-methodologische Aspekte der Modellierung und der Analogiemethode herausarbeitet, ein beachtlicher Beitrag zur erkenntnistheoretischen Modelltheorie. Allerdings wird M. B. Hesse durch ihre philosophischen Auffassungen daran gehindert, eine objektive und exakte wissenschaftliche Analyse der methodologischen Bedeutung der Modellund Analogiemethode zu geben. Die f ü r das 20. J a h r h u n d e r t charakteristischen Tendenzen zur Mathematisierung und Formalisierung der Wissenschaft haben sich im Zusammenhang mit den Erfolgen der mathematischen Logik und der Kybernetik noch verstärkt. Diese Tatsache h a t auch auf M. B. Hesse merklichen Einfluß ausgeübt. Obwohl sie in der Kontroverse zwischen den Anhängern Duhems und Campbells über die Rolle der Modelle in der Erkenntnis auf der Seite des englischen Physikers steht, m a c h t sie auch dem französischen Positivisten Zugeständnisse. Sie leugnet zwar nicht die Wichtigkeit der Modelle, verzichtet aber in einer Reihe von Fällen doch faktisch zugunsten des Formalismus auf erstere. Eine andere Quelle f ü r modellfeindliche Tendenzen ist bei M. B. Hesse der unanschauliche Charakter der Objekte der modernen Physik. Hesse b e r u f t sich auf die Ergebnisse der modernen Physik, die mit Objekten und ihren Eigenschaften zu tun hat, welche (wie zum Beispiel der Spin des Elektrons) nicht unmittelbar zu beobachten oder in einem a d ä q u a t e n sinnlichen Bild anschaulich darzustellen sind. Daher erklärt sie: „Wir können keine anschaulichen (picturable) mechanischen oder elektrischen Modelle verlangen" 9 2 , welche dem Modell aus elastischen Kugeln (in der kinetischen Wärmetheorie) oder dem aus geladenen Teilchen, die sich unter der Einwirkung von elektrostatischen Anziehungskräften bewegen, bestehenden Modell (in der Elektrizitätslehre) ähneln. Nach Hesse erfüllen in den modernen Theorien mathematische Hypothesen erfolgreich die Funktion, die früher den Modellen zukam. M. B. Hesse schreibt: „Der bei der Beschreibung physikalischer Erscheinungen als Hypothese benutzte mathematische Formalismus kann eine ähnliche Funktion ausüben wie auf früheren Entwicklungsstufen der Physik die mechanischen Modelle, ohne allerdings eine mechanische oder andere physikalische Interpretation zu besitzen." 9 3 In anderen Arbeiten sucht Hesse das mathematische Modell als rein a b s t r a k t e Analogie zu deuten, die jeglicher Elemente der Anschaulichkeit e n t b e h r t und außerhalb des Zusammenhangs mit der E r f a h r u n g 92 M. B. Hesse, Models in physics, a.a.O., S. 199.
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Ebenda, S. 198f.
steht. Sie schreibt: „Das in der Physik gebrauchte Modell ist m a n c h m a l seinem Charakter nach rein mathematisch, und dieser U m s t a n d erklärt, weshalb das Wort ,Analogie' gewöhnlich gegenüber dem W o r t ,Modell' bevorzugt wird, denn das letztere verlangt etwas Mechanisches oder wenigstens Anschauliches." 9 4 F ü r den Idealisten ist diese Tendenz zur völligen Trennung des Logischen vom Sinnlichen, oder, u m mit M. B. Hesses Termini zu sprechen, des mathematischen Formalismus von der Anschaulichkeit, ganz verständlich und natürlich. Das Streben, das Logische m i t dem Sinnlichen zu verbinden, entspringt aus dem Grundsatz des materialistischen Sensualismus, daß alle unsere Kenntnisse aus den Empfindungen gewonnen werden und daß diese als Widerspiegelungen der äußeren, materiellen Welt im Gehirn die einzige Quelle unserer Kenntnisse bilden. Wenn aber die Existenz der Außenwelt geleugnet oder f ü r sinnlose Metaphysik erklärt wird, so ist in der T a t die Forderung unbegründet, sich einerseits bei logischen Konstruktionen auf eine sinnliche Grundlage zu stützen und andererseits in diesen Konstruktionen den Übergang zu irgendeinem objektiven Inhalt zu suchen, wie er in den sinnlich gegebenen Bildern, Schemata und anschaulichen Modellen widergespiegelt wird. M. B. Hesse v e r t r i t t in ihren Arbeiten nachdrücklich die Auffassung, es liege keine Notwendigkeit vor, die Wissenschaft auf Erfahrungstatsachen und Beobachtungen aufzubauen. Sie kritisiert von dieser Position her den traditionellen Positivismus mit seiner Lehre von den Sinnesdaten sowie den Operationalismus und die im Bereich dieser philosophischen Richtungen entstandene Konzeption der „Beobachtbarkeit". Aber diese Kritik wird von rechts, vom objektiven Idealismus her, von Positionen geführt, die der Philosophie Whiteheads und Thomas von Aquinos nahekommen. Daß M. B. Hesse dabei zu reaktionären, fideistischen Schlußfolgerungen kommt, zeigt ihr Buch „Science and the h u m a n imagination" besonders deutlich. Hier fordert sie eine Annäherung der Wissenschaft an die christliche Religion, propagiert die Notwendigkeit der Theologie als Wissenschaft und sucht „epistemoIogische" Argumente f ü r die Existenz Gottes beizubringen. M. B. Hesse wendet sich dabei vom Sensualismus und Empirismus ab und entwickelt eine mit der thomistischen Philosophie verwandte Konzeption von der Hierarchie des Seins. Sie schreibt: „Die Physik h a t letzten Endes mit hinreichender Deutlichkeit auf den Beweggrund hingewiesen, der uns sagen läßt, daß es, wenn es in der N a t u r viele Spielarten von geschaffenem Sein gibt, die wir untersuchen können und von denen ein M. B. Hesse, Science and the human imagination, S. 138.
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Teil durchaus nicht ,empirisch' im Humeschen Sinne des Wortes ist, nicht weniger vernünftig scheint, noch von einer anderen Art des Seins zu sprechen: vom Sein Gottes und dem Ort seines Weilens in den Himmeln. Der Gebrauch einer solchen Sprache der Analogien hinsichtlich Gottes muß ebenso sorgfältig erforscht werden, wie wir die Korpuskularanalogie hinsichtlich des Elektrons untersuchen. Und wir bitten zu Recht die Theologen, diese Untersuchungen vorzunehmen, weil das diesen Analogien zugrunde liegende Prinzip nicht sehr differiert (is not so different)." 9 5 M. B . Hesse fügt dabei hinzu, daß das Sein der Elektronen nicht als rein „geistiges" Sein betrachtet werden darf und daß man überhaupt „den Unterschied zwischen Materiellem und Geistigem durch den Unterschied von Geschaffenem und Schöpfer ersetzen m u ß " 9 6 . Am Beispiel der Äußerungen M. B . Hesses können wir uns erneut von der Richtigkeit der marxistisch-leninistischen Auffassung überzeugen, daß die Philosophie parteilich ist. Hesse wendet sich gegen Positivismus und Operationalismus, und in einer Reihe von Fragen ist ihre Kritik berechtigt. Dabei propagiert sie jedoch eine idealistische, thomistische Ontologie und sucht einige wissenschaftliche Erkenntnisverfahren (Modell, Analogie) theologischen Zwecken anzupassen. Das ist die gesetzmäßige Krönung der positivistischen Auffassungen über Modell und Analogie. Alle Versuche, die Modell- und Analogiemethode außerhalb der Widerspiegelungstheorie und außerhalb des Zusammenhangs mit anderen Erkenntnismethoden und -mittein zu untersuchen, besonders losgelöst von der experimentellen Praxis in ihrem materialistischen Verständnis, kann letzten Endes zu nichts anderem als zum Fideismus führen. Die gleiche Konsequenz ergibt sich unausweichlich auch aus der positivistischen Auffassung von der Erfahrung. „Wenn uns die Naturwissenschaft", schrieb W. I. Lenin, „in ihren Theorien nicht die objektive Realität, sondern nur Metaphern, Symbole, Formen der menschlichen Erfahrung usw. zeichnet, so ist die Menschheit ganz unbestreitbar berechtigt, sich für ein anderes Gebiet nicht weniger ,reale Begriffe1, wie Gott usf., zu schaffen." 9 7 Diese Worte schrieb Lenin vor mehr als einem halben Jahrhundert. Sie bringen klar das Wesen, die Parteilichkeit des heutigen Positivismus und der „Philosophie der Wissenschaft" zum Ausdruck. Mit vollem Recht läßt sich auf diese Philosophie anwenden, was W. I. Lenin über das Verhältnis der Philosophie Machs zur Naturwissenschaft sagte, daß sie sich „zur Naturwissenschaft wie der Kuß des Christen J u d a s 95 Ebenda, S. 157. 96 Ebenda. 97 W. I. Lenin, Materialismus und Empiriokritizismus, a.a.O., S. 352 f. 92
z u Christus" 9 8 verhält. Sie verrät die Naturwissenschaft an den Fideismus. All dies zeugt davon, daß es keine unübersteigbare Grenze zwischen Positivismus und Thomismus gibt und daß eine versteckte Neigung zum Fideismus leicht zu offener und direkter U n t e r s t ü t z u n g der Theologie führen kann. Davon können wir uns erneut bei der Untersuchung der Auffassungen über die Rolle von Modellen und Analogien in der Erkenntnis bei objektiv-idealistischen Philosophen, bei Thomisten und Theologen überzeugen.
Die neothomistische Modellauffassung Wir wollen in diesem Abschnitt nicht nur die Modellauffassungen solcher Philosophen untersuchen, die sich offen zum Neothomismus bekennen, sondern auch solcher, die der neothomistischen Philosophie nahestehen oder ü b e r h a u p t objektiv-idealistische Positionen beziehen. Den Überlegungen all dieser Philosophen über Erkenntnisprobleme liegt im Unterschied zu den Positivisten die Anerkennung der Ontologie als allgemeiner Lehre vom Seienden z u g r u n d e . " Aber wenn die heutigen Thomisten und die ihnen nahestehenden Philosophen auch die Ontologie gegen den Positivismus verteidigen, die Existenz der Außenwelt und die Möglichkeit ihrer Erkenntnis bejahen, so ist dennoch ihre Konzeption m i t der wissenschaftlichen Erkenntnis noch weniger vereinbar als die der Positivisten selbst. Die Verteidigung und Ausarbeitung der Ontologie steht bei den Neothomisten mit ihrem Kampf gegen den Materialismus in unmittelb a r e m Zusammenhang, ist ein Glied in der Kette der auf Unterordnung •der Wissenschaft und der Philosophie unter die Theologie, auf Untero r d n u n g der wissenschaftlichen Erkenntnismethoden unter den religiösen Glauben gerichteten Argumente. Diese allgemeine Tendenz bestimmt auch besonders die Behandlung des Modellbegriffs. E r wurde in Arbeiten vieler Neothomisten, vieler objektiv-idealistischer Philosophen und selbst erklärter Theologen untersucht. I. M. Bochenski, einer der bedeutendsten Vertreter der Neoscholastik, beschäftigt sich beispielsweise in seiner Arbeit über die zeitgenössischen Denkmethodeh auch mit dem Modellbegriff. E r untersucht ihn im Zusammenhang mit allgemeinen Problemen der Erkenntnistheorie. Dabei geht er von den traditionellen thomistischen Dogmen von der begrenzten «8 Ebenda, S. 353. 99 Vgl. zum Beispiel: I. M. Bochenski, Freiburg/Br. 1960, S. 92.
Wege zum philosophischen
Denken,
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Zuständigkeit der Wissenschaft aus und stimmt in der Einschätzung der Möglichkeiten der wissenschaftlichen Erkenntnis mit dem Skeptizismus überein. 100 Zugleich bedient er sich aller möglichen Argumente, um die Wissenschaft zugunsten der Theologie herabzusetzen. Deshalb bezieht er auch hinsichtlich des Modellproblems in der modernen Wissenschaft faktisch einen operationalistischen Standpunkt und ist in dieser Frage mit seinen „Gegnern" aus dem Lager des Positivismus durchaus einig. Bochenski versteht unter einem Modell „ein physisches, durch das unbewaffnete Auge prinzipiell beobachtbares Gebilde, . . . welches dem durch die wissenschaftliche Aussage (Theorie usw.) dargestellten Sachverhalt gleichförmig ist." 1 0 1 Er führt als Beispiel das Bohrsche Atommodell an und bemerkt, wenngleich man derartige Modelle nicht immer bauen könne, so könnten sie doch wenigstens „gedacht", das heißt vorgestellt, werden. Gleichzeitig erklärt er, die Bestätigung der Unmöglichkeit, für die modernen physikalischen Theorien entsprechende Modelle anzugeben, bezeuge die Unmöglichkeit, sich derartige Gebilde anschaulich vorzustellen. Und das bedeute wiederum, daß „die betreffende wissenschaftliche Aussage (Theorie usw.) keinen eidetischen Sinn, sondern nur einen operativen Sinn habe . . . Handelt es sich aber um naturwissenschaftliche modellose Theorien, dann gilt in den meisten Fällen, daß sie überhaupt keinen eidetischen Sinn besitzen" 102 . Was ist unter diesem eidetischen Sinn einer Theorie zu verstehen? Bochenski bezeichnet mit diesem Terminus den semantischen Aspekt der Theorie, ihren objektiven Inhalt. „Ein Zeichen hat in einem System einen eidetischen Sinn, wenn wir sein semantisches Gegenstück kennen, d. h. wenn wir wissen, was es bezeichnet bzw. bedeutet." 103 So stellt sich heraus, daß die Theorien, für die es unmöglich ist, ein Modell zu konstruieren, überhaupt keinen Inhalt, überhaupt keine Beziehung zur Außenwelt besitzen. Sie sind leere Formalismen. Da nun aber zu den modernen physikalischen Theorien vor allem die Quantenmechanik und die Relativitätstheorie gehören, sind alle Überlegungen Bochenskis zum Modellproblem nichts anderes als Versuche, diesen Theorien jeglichen objektiven Inhalt abzusprechen. Eine ähnlich unwissenschaftliche Argumentation verwendet der Theist A. E. Nickeil, ein Anhänger des sogenannten kritischen Realismus, in seiner Monographie „Das ,physikalische Modell' und die ,metaphy10« Ebenda, S. 45, S. 67. 1 0 1 1 . M. Bochenski, Die zeitgenössischen Denkmethoden, München 1954, S. 45. W2 Ebenda, S. 46. «8 Ebenda, S. 44.
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sische Wirklichkeit' ". Sein Ziel besteht ebenfalls darin, durch Analyse der Rolle der Modelle in der Erkenntnis die Begrenztheit der Wissenschaft und die Notwendigkeit der Theologie zu erweisen. E r b e h a u p t e t , die Wissenschaft schaffe nur funktionelle physische oder gedankliche (imaginäre) Modelle. Dabei verfälscht Nickell die Wissenschaft, stellt sie als Beschreibung einzelner F a k t e n dar, die nur die Oberfläche der Erscheinungen, der äußeren Seiten der Realität erfaßt. Die funktionelle Modelle konstruierende Wissenschaft kann angeblich das Wesen der Dinge nicht erkennen; dies vermögen angeblich n u r die „prinzipielle Modelle" schaffende Philosophie und die Theologie. Nach Nickell ist der Versuch, in das Wesen der Erscheinungen einzudringen, mittels Funktionsmodellen auf die Frage nach dem „ W a r u m " zu antworten, zum Scheitern verurteilt. „Wenn mein Modell funktioniert (wenn dementsprechend beim gedanklichen Modell meine Berechnungen m i t der Erfahrung übereinstimmen), so halte ich dafür, daß d a m i t d a s , W a r u m ' begründet ist. Aber die faktische Summe des ,Wie' erklärt niemals das ,Warum', wie eine Summe von Tönen auch keine Melodie erklärt. Und wenn, dessen ungeachtet, das Modell funktioniert, so wird dadurch klar, daß jedem Teil des ,Wie' ein ,Warum' zugrunde liegt." 1 0 4 Einsichtigere Vertreter der Neoscholastik nehmen keine derartige grobe und primitive Trennung von Wissenschaft und Philosophie vor. J . Maritain meint zum Beispiel, die Behauptung, die Wissenschaft müsse sich mit der Frage des „Wie", die Philosophie hingegen m i t der Frage des „ W a r u m " beschäftigen, sei „eine der größten Banalitäten unserer Zeit". Nach seiner Auffassung beschränkt sich die Wissenschaft nicht auf die einfache „Faktologie". „Demgegenüber, was die Positivisten sagen, und demgegenüber, was man heute in vielen zeitgenössischen Vulgarisierungen der Wissenschaft und der wissenschaftlichen Methode finden kann, müssen wir zugeben, daß die Wissenschaft der Frage des ,Warum' nicht ausweichen kann." 1 0 5 Maritain sagt sogar, die mechanischen Modelle der Physiker der Victorianischen Zeit seien ebenfalls aus einer Auffassung heraus geschaffen worden, die auf die Frage „ W a r u m " Antwort zu geben suchte. Schwierigkeiten ergäben sich jedoch in der neuen Physik. Heisenbergs Unbestimmtheitsprinzip spricht nach Maritains Auffassung nicht f ü r die Nichtbeobachtbarkeit der Mikroweit. Es bringe lediglich die Diskontinuität der Beobachtung in diesem Bereich im Unterschied von der kontinuierlichen und vollständigen Beobachtung in der Makroweit zum Ausdruck. Das Fehlen der Anschaulichkeit 104
105
A. E. Nickell, Das „physikalische Modell" und die „metaphysische Wirklichkeit", Basel 1962, S. 18. J. Maritain, Philosophy of nature, New York 1961, S. 64 f.
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schließe die Anwendung von Modellen in der Mikroweit aus. „Es ist dieser Atomismus der Beobachtung und Messung, der die Einbildungskraft daran hindert, ein Modell der untersuchten Erscheinung zu konstruieren, aber wir befinden uns immer im Bereich des Beobachtbaren. Eine solche Welt stellen wir uns nur verzerrt oder einseitig {by default or „privatively") vor." 1 0 6 Allerdings spekulieren Maritain und andere Theologen trotz dieses Zugeständnisses an die Wissenschaft, bestehend in der Anerkennung ihres Rechtes auf das „ W a r u m " , und trotz dieser feineren Unterscheidung der Begriffe Anschaulichkeit und Beobachtbarkeit auf Schwierigkeiten bei der wissenschaftlichen Erkenntnis der Mikroweit, um die wissenschaftlichen Wahrheiten (die Verstandeswahrheiten) als angeblich unvollständige Teilwahrheiten der Theologie (dem Glauben) als der angeblich umfassenden, tiefen und absoluten Wahrheit unterzuordnen. Der wissenschaftliche Apparat — zu dem auch die Modelle gehören — vermag nicht in tiefere Seinsschichten vorzudringen. Das ist das Leitmotiv fast aller Äußerungen von Philosophen dieser Richtung bei der Erörterung erkenntnistheoretischer Probleme, darunter auch der Modellproblematik. Der idealistische Philosoph Friedrich Dessauer erklärt beispielsweise: „Daß freilich eine Abbildung, eine in diesem Sinne verstandene logisch-mathematische oder modellhafte innere Reproduktion niemals das Seinsobjekt vollständig wiedergeben kann, haben wir . . . begründet." 1 0 7 Modelle sind demnach nur Analogien. Es gebe keinen •Grund zu der Annahme, daß sie Kopien grundlegender Realitäten Ebenda, S. 18 f.
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Der Begriff der Anschaulichkeit.
Kritische
Analyse einiger
Definitionen
Bei der Analyse der Diskussionen über die Anschaulichkeit und der zahlreichen Argumente pro und contra haben wir zunächst bewußt davon abstrahiert, daß die streitenden Parteien dem W o r t „Anschaulichkeit" o f t einen ganz unterschiedlichen Sinn beilegen. Ein aufmerksames Studium der Arbeiten der Physiker, die sich zum Problem der Anschaulichkeit in der modernen Physik äußern, läßt eine bemerkenswerte Vieldeutigkeit bei der Benutzung dieses Terminus und damit bei
der
Definition
des Begriffs der Anschaulichkeit
sichtbar
werden. Dieser Begriff wird in folgenden Bedeutungen verwendet: 1. Logische Widerspruchsfreiheit einer Theorie ( W . Heisenberg, P. Jordan); 2. Einfachheit,
erreicht durch
Anwendung
vereinfachender
Abstrak-
tionen und Idealisierungen ( P . Jordan); 3. Anwendbarkeit des Korrespondenzprinzips auf eine Theorie (Grenzübergänge bei h
0 und c -*• oo) ( P . Jordan);
4. „Anschaulich nennt man eine Schilderung, die das Bild eines angeschauten Gegenstandes in der Seele des Zuhörers wieder erstehen l ä ß t " (C. F. von Weizsäcker); 5. Möglichkeit,
einen der sinnlichen
Anschauung
nicht
zugänglichen
Gegenstand in Analogie zu sinnlich wahrnehmbaren Gegenständen in einem sinnlichen Bild darzustellen (C. F. Weizsäcker); 6. Möglichkeit, ein Objekt mit Hilfe mechanischer Modelle darzustellen (C. F. von Weizsäcker); 7. „Anschaulich ist . . ., wenn ich erzähle, was ich angeschaut habe." (C. F. v o n Weizsäcker); 8. Vorhandensein räumlicher (geometrischer) Eigenschaften im O b j e k t ( W . Heisenberg); 9. Mechanischer Charakter der Bewegungsgesetze des Objekts ( W . Heisenberg) ; 10. Gewöhnung an bestimmte Begriffe (J. Jeans, A. March, M. Planck, L . I. Mandelstam, A. F. J o f f e ) . « Offensichtlich haben nicht alle diese Begriffserklärungen eine Beziehung zum erörterten Problem der Anschaulichkeit als einer Eigenschaft der 41
Vgl. P. Jordan, Anschauliche Quantentheorie, Berlin 1936, S. V f.; W. Heisenberg, Über den anschaulichen Inhalt der quantentheoretischen Kinematik und Mechanik, in: Zeitschrift für Physik, 1927, Bd. 43, H e f t 2-3, S. 172; W. Heisenberg, Wandlungen in den Grundlagen der Naturwissenschaft, S. 87; C. F. v. Weizsäcker, Zum Weltbild der Physik, S. 50; C. F. v. Weiz-
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Modelle. Die drei ersten Bedeutungen beziehen sich weder auf das Problem der Anschaulichkeit im allgemeinen noch auf die F r a g e der Anschaulichkeit von Modellen im besonderen. Sie charakterisieren Besonderheiten von Theorien. Wenn man sich hierbei des Terminus „Anschaulichkeit" bedient, so ruft das Verwirrung hervor. Nicht weniger untauglich ist der Gebrauch des Terminus „Anschaulichkeit" zur Bezeichnung irgendwelcher Eigenschaften eines Objektes, sei es für räumliche Eigenschaften, für die mechanische oder irgendeine andere Bewegung, für d a s Kausal Verhältnis usw. Dies sind Eigenschaften des Objektes selbst. Von ihrer Anschaulichkeit läßt sich nur im übertragenen Sinne hinsichtlich ihrer Zugänglichkeit für die sinnliche Anschauung sprechen. Weit verbreitet ist die Auffassung der Anschaulichkeit im Sinne von Gewohnheit. Wir wollen die Begründung dieser Auffassung etwas näher untersuchen. Sie enthält wirklich ein Moment der Wahrheit, denn die Welt der unserer sinnlichen Anschauung und Beobachtung unmittelbar zugänglichen Erscheinungen, Gegenstände, Prozesse, mit denen wir es historisch und praktisch vor allem und am meisten zu tun haben und an deren unmittelbare Wahrnehmung unsere Sinnesorgane angepaßt sind, ist in unserem Bewußtsein deutlich und dauerhaft eingeprägt. Deshalb neigen wir dazu, alles in der Umwelt in ein S y s t e m solcher Bilder zu fassen. Die Abbilder dieser Erscheinungen scheinen uns verständlicher, natürlicher, normaler als jene Vorstellungen, die nicht in dieses gewohnte, traditionelle, längst ausgebildete und sich über lange Zeiträume nicht verändernde Weltbild passen. So waren seinerzeit den Menschen die Ideen von der Kugelgestalt der Erde, von den Antipoden, von der Bewegung der Planeten um die Sonne und andere Vorstellungen von einer nichtgeozentrischen Welt fremd und ungewohnt. Die gewohnte geozentrische Welt war aber keineswegs anschaulicher als die heliozentrische. Man kann durchaus ein anschauliches Bild der f ü r die Menschen des Mittelalters so ungewohnten heliozentrischen Welt herstellen. So ist es auch nicht unmöglich, sich die geometrische S t r u k t u r einer nichteuklidischen Welt anschaulich vorzustellen, obwohl sie auch den Menschen der Gegenwart noch ungewohnt erscheint. Schon Helmholtz hat seinerzeit gezeigt, daß es unterschiedliche Methoden der anschaulichen Darstellung von nichteuklidischen „ g e k r ü m m t e n " (sphärischen, pseudosphärischen) R ä u m e n gibt. 4 2
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säcker, Zur Deutung der Quantenmechanik, in: Zeitschrift für Physik, 1941, Bd. 118, H. 7/8, S. 493; A.March, Die physikalische Erkenntnis und ihre Grenzen, S. 12; M. Planck, Wege zur physikalischen Erkenntnis, S. 312—322; L. I . Mandelstam, ITOJIH. coßp. TpyflOB, T. V I , Moskau 1950, S. 403f; A. F. Joffe, OcHOBHtie npeffCTaBJieHHH coBpeMeHHoit