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German Pages 446 [448] Year 1991
STUDIEN UND TEXTE ZUR SOZIALGESCHICHTE DER LITERATUR
Herausgegeben von Wolfgang Frühwald, Georg Jäger, Dieter Langewiesche, Alberto Martino, Rainer Wohlfeil
Band 33
Michael Titzmann (Hg.)
Modelle des literarischen Strukturwandels
Max Niemeyer Verlag Tübingen 1991
Gedruckt mit Unterstützung der Fritz Thyssen Stiftung
Redaktion des Bandes: Georg Jäger
CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Modelle des literarischen Strukturwandels / Michael Titzmann (Hg.) - Tübingen : Niemeyer, 1991 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur ; Bd. 33) NE: Titzmann, Michael [Hrsg.]; GT ISBN 3-484-35033-4
ISSN 0174-4410
© Max Niemeyer Verlag GmbH & Co KG, Tübingen 1991 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Satz und Druck: Druckerei Maisch + Queck, Gerlingen Buchbinderei: Heinr. Koch, Tübingen
Inhaltsverzeichnis
MICHAEL TITZMANN
Einleitung: Zum Problem des literarischen Strukturwandels 1.
1
FALLSTUDIEN:
Diskussion der Bedingungen adäquater Strukturwandeldarstellung am historischen Beispiel KLAUS W .
5
HEMPFER
Intertextualität, Systemreferenz und Strukturwandel: die Pluralisierung des erotischen Diskurses in der italienischen und französischen RenaissanceLyrik (Ariost, Bembo, Du Beilay, Ronsard)
7
GERHARD REGN
Schicksale des fahrenden Ritters. Torquato Tasso und der Strukturwandel der Versepik in der italienischen Spätrenaissance
45
MANFRED PFISTER
Auf der Suche nach dem verlorenen Leib
69
ROSMARIE ZELLER
Gesetzmäßigkeiten literarischen Wandels am Beispiel des Dramas in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts
89
DAVID E . W E L L B E R Y
Überlegungen zum Strukturwandel der Symbolik
103
VOLKER HOFFMANN
Strukturwandel in den »Teufelspaktgeschichten« des 19. Jahrhunderts . . . 117 HANS Z E L L E R
Modelle des Strukturwandels in C. F. Meyers Lyrik
129
KLAUS P . H A N S E N
Die Überforderung des Lesers: Strukturwandel der amerikanischen Kurzgeschichte nach 1853 149 FRIEDERIKE M E Y E R
Zum Wandel von Diskursbeziehungen: die Relation der Erzählliteratur im Realismus und der Psychiatrie 1850-1900 in Deutschland 167 MARIANNE WÜNSCH
Vom späten »Realismus« zur »Frühen Moderne«: Versuch eines Modells des literarischen Strukturwandels
187
VI
Inhaltsverzeichnis
IGOR P . SMIRNOV
Geschichte der Nachgeschichte: Zur russisch-sprachigen Prosa der Postmoderne
205
G E O R G JÄGER
Die Avantgarde als Ausdifferenzierung des bürgerlichen Literatursystems. Eine systemtheoretische Gegenüberstellung des bürgerlichen und des avantgardistischen Literatursystems mit einer Wandlungshypothese . . . . 221
2.
DESIDERATE:
Ungenügen am kategorialen und methodischen Umgang der Literaturwissenschaft mit ihrem Gegenstand
245
R O L F KLOEPFER
Für eine Geschichte der Literatur als Kunst - Sympraxis am Beispiel Diderots
247
JÜRGEN LANDWEHR
Von der Repräsentation zur Selbstbezüglichkeit und die Rückkehr des/zum Imaginären. Konzepte von Literatur und literarischem (Struktur-)Wandel und ein »verkehrtes« Mimesis-Modell
3.
275
MODELLSKIZZEN:
Theoretische Entwürfe zur Beschreibung/Erklärung von Strukturwandel . 297 H A R T M U T LAUFHÜTTE
Entwicklungs- und Bildungsioman in der deutschen Literaturwissenschaft. Die Geschichte einer fehlerhaften Modellbildung und ein Gegenentwurf . 299 HERTA SCHMID
Die entwicklungsgeschichtlichen Ideen Jan Mukarovskys und Michail Bachtins
315
KARL EIBL
Zurück zu Darwin. Bausteine zur historischen Funktionsbestimmung von Dichtung 347 CLAUS-MICHAEL O R T
Literarischer Wandel und sozialer Wandel: Theoretische Anmerkungen zum Verhältnis von Wissenssoziologie und Diskursgeschichte
367
MICHAEL TITZMANN
Skizze einer integrativen Literaturgeschichte und ihres Ortes in einer Systematik der Literaturwissenschaft Adressen der Beiträger
395 439
Michael
Titzmann
Einleitung: Zum Problem des literarischen Strukturwandels
Der vorliegende Band vereinigt, mit einer Ergänzung, Beiträge zu einem vom Herausgeber veranstalteten Kolloquium »Modelle des literarischen Strukturwandels« (Universität Passau: 13. 10. 1986 - 15. 10. 1986); das Kolloquium wie die Drucklegung des Bandes wurden jeweils durch die finanzielle Unterstützung der Fritz Thyssen Stiftung ermöglicht. Die interdisziplinäre Fragestellung des Kolloquiums war motiviert aus der Erfahrung eines fundamentalen Defizits der Literaturwissenschaft, zu dessen Behebung die Beiträge dieses Bandes beisteuern wollen. Die Literaturwissenschaft der verschiedenen Philologien hat es zwar mit historischen Gegenständen zu tun, für die Wandlungsprozesse charakteristisch sind, aber sie verfügt bis jetzt über keine theoretischen und hinreichend komplexen Modelle zur adäquaten Darstellung solchen Wandels. Eine solche Darstellung hätte alle relevanten Faktoren, literarische wie nicht-literarische, also denk- und sozialgeschichtliche zu erfassen und ihre Relationen und Interaktionen zu integrieren, um so einem Wandlungsprozeß in seiner tatsächlichen Komplexität Rechnung zu tragen, und müßte sowohl eine deskriptive als auch eine explanative Komponente umfassen. Mit der umfänglichen Produktion literarhistorischer Arbeiten und nicht weniger, ambitionierter Literaturgeschichten in den beiden letzten Jahrzehnten hat die theoretische und methodologische Reflektion über Wandlungsprozesse und deren adäquate Darstellung nicht Schritt gehalten. Die älteren (expliziten oder implizierten) theoretischen Entwürfe von Wandlungsmodellen, z.B. »geistesgeschichtlicher« oder »marxistischer« oder »formalistischer« Provenienz, erweisen sich, angesichts des differenzierten Standes interpretatorischer Praxis und des literatur-, denk-, sozialgeschichtlichen Wissens, als unzulänglich oder sogar indiskutabel. Die Folgen dieses Defizits machen sich auch in den literarhistorischen Arbeiten bemerkbar, die, aufgrund eben dieses Defizits, einen eventuellen Wandel im Grunde nur konstatieren, aber nicht eigentlich rekonstruieren können: sie können den Prozeß der Veränderung nicht wirklich beschreiben und schon gar nicht erklären, will man nicht ad-hoc-Hypothesen als Erklärungen akzeptieren - so plausibel diese auch sein mögen, fehlt ihnen doch ein theoretisches Fundament, in dessen Rahmen überhaupt erst begründet werden könnte, warum man diese oder jene Faktoren für den Wandel verantwortlich macht und inwiefern solche Faktoren für den literarischen Prozeß Folgen haben (können). Das Kolloquium ging davon aus, daß die theoretisch-methodologischen Probleme adäquater Rekonstruktion von Wandel grundsätzlich dieselben sind, ob sich der Wandlungsprozeß nun innerhalb eines Autorenoeuvres (vgl. den Beitrag
2
Michael
Titzmann
von H. Zeller in diesem Bande), innerhalb eines Texttyps (vgl. Hempfer, Regn, R. Zeller, Hansen, Meyer, Smirnov, Laufhütte) oder eines anderen literarischen Subsystems (vgl. Pfister, Wellbery, Hoffmann) oder auf der Ebene des Literatursystems insgesamt (vgl. Wünsch, Jäger) vollzieht; es wurden dabei Wandlungen verschiedenster Teilstrukturen diskutiert: solche formaler Strukturen (z.B. H. Zeller), solche von Erzählsituationen (z.B. Wünsch), solche von literarischen Normensystemen (z.B. R. Zeller), solche von narrativen Modellen (z.B. Regn, Hoffmann, Hansen, Laufhütte), solche von Strukturen der Zeichenhaftigkeit (z.B. Wellbery), solche von anthropologischen Konzeptionen (z.B. Pfister, Meyer, Wünsch), usw. und es wurde in verschiedenem Umfang versucht, diese Wandlungen mit anderen Strukturen zu korrelieren (vgl. z.B. Hempfer, Wellbery, Hansen, Meyer, Jäger). Es sollte entweder ein konkretes historisches Beispiel eines Wandels (in einem CEuvre, in einer Gattung, in oder zwischen epochalen Systemen) vorgestellt und ein Modell seiner adäquaten Rekonstruktion skizziert werden oder ein theoretisches Modell diskutiert oder vorgeschlagen werden; jeder theoretische Beitrag sollte empirische Beispiele geben, jeder historische Beitrag sollte die theoretischen Probleme des Beispiels reflektieren. Die unterschiedlichen Kombinationen von Theorie und Empirie, die auf diese Weise entstanden sind, habe ich, etwas willkürlich, in die Gruppen der »Fallstudien« und der »Modellskizzen« geordnet, je nach dem, ob der Anspruch auf ein generalisierbares Modell dominierte oder die Darstellung eines konkreten historischen Prozesses; zu diesen kommt noch eine dritte Gruppe der »Desiderate« hinzu, bestehend aus zwei Beiträgen (Klopfer, Landwehr), die ein grundsätzliches Ungenügen am Umgang der Literaturwissenschaft mit ihrem Gegenstand artikuliert haben. Insofern äußern sie sich zwar nicht unmittelbar zum Thema des Strukturwandels, indirekt aber doch, insofern sie die Kategorien infragestellen, in deren Rahmen andere Beiträge die Bewältigung von Wandel versucht haben. Diese beiden Beiträge würden eine ganz andere als die gewohnte Literaturgeschichtsschreibung erforderlich machen, falls ihre Einwände in dieser Form akzeptiert werden. Theoretisch sollten vorliegende Modelle von Strukturwandel auf ihre Brauchbarkeit zur Rekonstruktion von Literaturgeschichte befragt oder neue Modelle vorgeschlagen werden (Komponenten dazu finden sich z.B. in Hempfer, Wünsch, Jäger, Ort). Die Modelle sind teils literaturwissenschaftlicher (vgl. Schmid), teils nicht-literaturwissenschaftlicher Provenienz, wobei insbesondere sozialwissenschaftlich-systemtheoretische (vgl. Ort und Jäger), biologisch-evolutionstheoretische (vgl. Eibl) sowie wissenschaftsgeschichtliche Ansätze (einige Beiträger, z.B. Eibl, streifen diesen Bereich) in Frage kamen. Die Relevanz der jeweils verwendeten theoretischen Kategorien wird nicht zuletzt dort erwiesen, wo aufgezeigt wird, wie eine bestimmte literaturwissenschaftliche Kategorienbildung die adäquate Beschreibung von Wandel geradezu unmöglich macht (vgl. Hempfer und Laufhütte), und wo »Desiderate« markiert werden. Mir schien sich in den Diskussionen ein von nicht wenigen Beiträgen und Beiträgern geäußerter und von keinem in Frage gestellter Konsens über einige Rahmenbedingungen von Strukturwandelmodellen abzuzeichnen, der darin bestünde,
Einleitung
3
daß Wandel nur als Transformation von Systemen in Korrelation mit deren systematischen Umwelten adäquat beschrieben werden kann; animiert von der vermuteten Konsensfähigkeit eines solchen Rahmens habe ich einen eigenen theoretischen Beitrag hinzugefügt, von dem freilich abzuwarten bleibt, inwieweit die Diskussionsteilnehmer sich in ihm wiedererkennen mögen. Es schiene wünschenswert, wenn die Beiträge des vorliegenden Bandes, im Interesse der praktischen und empirischen Probleme der Literaturgeschichtsschreibung, eine - wie ich glaube: überfällige - Diskussion über deren theoretische und methodologische Bedingungen auslösen, die, wie in diesem Kolloquium, von vornherein interdisziplinär sein sollte, da sie Anglisten, Germanisten, Romanisten, Slawisten usw. gleichermaßen betrifft. Passau, im August 1989
1.
FALLSTUDIEN:
Diskussion der Bedingungen adäquater Strukturwandeldarstellung am historischen Beispiel
Klaus W. Hempfer
Intertextualität, Systemreferenz und Strukturwandel: die Pluralisierung des erotischen Diskurses in der italienischen und französischen Renaissance-Lyrik (Ariost, Bembo, Du Beilay, Ronsard) Ziel der folgenden Überlegungen ist es zu zeigen, daß ein überdehnter Intertextualitätsbegriff, der neben der Relation zwischen einzelnen, konkreten Texten auch Phänomene wie etwa das Verhältnis eines Einzeltextes zur Gattung, also das Verhältnis von System und Aktualisierung oder gar die Relation von Systemen meint, nicht nur nicht adäquat theoretisierbar ist, sondern es grundsätzlich unmöglich macht, System- und Strukturwandelphänomene überhaupt zu beschreiben. Da die neuere Intertextualitätsdiskussion ihren Ausgangspunkt von Kristeva nimmt, werde ich in einem ersten Abschnitt zu zeigen versuchen, inwiefern die Probleme der späteren Diskussion im wesentlichen bereits in den Aporien der Definition des Konzepts bei Kristeva angelegt sind. Dabei werde ich auch kurz auf neuere Versuche eingehen, an einem umfassenden Intertextualitätskonzept als einer alle denkbaren Relationen zwischen Texten umfassenden literaturwissenschaftlichen Globaltheorie festzuhalten. In einem zweiten Abschnitt werde ich für einen wieder eingeschränkten Intertextualitätsbegriff plädieren, dem zwar nurmehr reduzierte Applikabilität im literaturwissenschaftlichen Diskurs zukommt, der aber zugleich Phänomene in einer Weise >besprechbar< macht, wie dies mit keinem der bereits vorliegenden historischen und/oder systematischen Begriffe möglich ist, haben neue Begriffsbildungen doch nur dann einen Sinn, wenn sie nicht bloß Bekanntes neu benennen, sondern noch nicht oder nicht adäquat Bekanntes angemessen benennbar machen. In einem letzten Abschnitt werde ich in praxi zu zeigen versuchen, daß ein zentraler Strukturwandel, der sich in der italienischen und französischen Lyrik des 16. Jahrhunderts vollzieht, nur beschreibbar ist, wenn zwischen Einzeltext- und Systembezügen unterschieden wird. Dabei ist notwendig auf die Frage zurückzukommen, die ich bereits an anderer Stelle diskutiert habe, nämlich ob und inwiefern der Petrarkismus als >System< zu bestimmen ist, das nicht auf intertextuelle Bezüge zurückgeführt werden kann.
1. Kristeva und die Folgen: Aporien des Intertextualitätskonzepts Ich möchte mich im folgenden auf drei frühe Definitionen von Intertextualität durch Kristeva beziehen, die zwischen 1966 und 1968 entstanden sind und bereits für diesen Zeitraum eine grundsätzliche Inkonsistenz der Begriffsbildung belegen können. Dabei geht es mir um den Nachweis, daß Kristeva über >Intertextualität< wesentlich verschiedene Textgruppen zu spezifizieren versucht und daß es ihr
8
Klaus W. Hempfer
nicht gelingt, Einzeltextbezüge und Systemreferenzen in einem kohärenten Modell zu vermitteln. Kristevas früheste, aus Bachtins Dialogizitätskonzept abgeleitete Definition lautet folgendermaßen: [...] tout texte se construit comme mosa'ique de citations, tout texte est absorption et transformation d'un autre texte. A la place de la notion d'intersubjectivit£ s'installe celle ä'intertextualiti, et le langage podtique se lit, au moins, comme double}
Diese vorgeblich Bachtins Konzeption wiedergebende Aussage ist zum einen hinsichtlich Bachtin, wie Pfister gezeigt hat, falsch, 2 und enthält zum anderen eine Charakterisierung von Intertextualität, die sich eindeutig und ausschließlich auf die Relation zwischen Einzeltexten, verstanden als konkret vollzogenen Äußerungsakten bezieht: Nur unter dieser Voraussetzung ist sinnvoll von einem »mosa'ique de citations« zu sprechen. Während aus dem Kontext des Bachtin-Aufsatzes hervorgeht, daß Kristeva >Intertextualität< hier als Spezifikum des literarischen Textes begreift, bestimmt sie in einem anderen, etwa zur gleichen Zeit entstandenen Aufsatz >Intertextualität< als eine von zwei grundsätzlichen Eigenschaften jeglichen Textes, wenn sie feststellt, ein Text sei une permutation de textes, une intertextualitd: dans l'espace d'un texte plusieurs 6nonc6s, pris ä d'autres textes, se croisent et se neutralisent.3
Auch diese Formulierung scheint ausschließlich auf die Relation von Einzeltexten abzuheben, wie insbesondere die Verwendung des Ausdrucks »enonces« annehmen läßt, ist aber explizit weiter als die erste, insofern es hier um jeden Text geht, denn Gegenstand des Aufsatzes ist »le texte« als semiotisches Objekt im allgemeinen. Ferner postuliert das Zitat als notwendiges Ingrediens von Intertextualität die Diskrepanz zwischen den kombinierten Texten bzw. zwischen den Äußerungen aus verschiedenen Texten, womit zum einen wiederum der Ursprung des Intertextualitätsbegriffs im Dialogizitätskonzept Bachtins aufscheint und zum anderen eine Einschränkung vorgenommen wird, die kaum auf alle Texte zutreffen kann, sondern bereits eine bestimmte historische Ausprägung von - literarischen! - Texten im Blickfeld hat. Das zusätzliche Problem ergibt sich, wenn die gegebene Definition auch die Systemreferenz umfassen soll - hierauf komme ich gleich zurück. In dem 1968 entstandenen Aufsatz Poesie et negativite definiert Kristeva verblüffenderweise >Intertextualität< wiederum als differentia specifica eines spezifischen Diskurstyps, nunmehr aber nicht mehr des literarischen Diskurses im allgemeinen, sondern des poetischen im engeren Sinne:
1
2 3
Kristeva 1969, S. 146 (das Zitat stammt aus dem Aufsatz Bakhtine, le mot, le dialogue et le roman (1966 geschrieben, 1967 zuerst veröffentlicht). Vgl. Pfister 1985, S. 6f. Kristeva 1969, S. 113 (es handelt sich um den Aufsatz Le texte clos von 1966/67, der wörtlich in Kristeva 1970, S. 12ff. wiederholt wird; das Zitat ebd., S. 12).
Intertextualität, Systemreferenz und
Strukturwandel
9
Le signifte poötique renvoie ä des signifies discursifs autres, de sorte que dans Ι'όηοηοέ po^tique plusieurs autres discours sont lisibles. II se cr6e, ainsi, autour du signifi6 po6tique, un espace textuel multiple dont les Aliments sont susceptibles d'etre appliques dans le texte po^tique concret. Nous appellerons cet espace intertextuel. Pris dans l'intertextualit6,1'έηοηοέ po6tique est un sous-ensemble d'un ensemble plus grand qui est l'espace des textes appliqu£s dans notre ensemble. 4
Etwas weiter unten heißt es dann: Nous donnerons ici comme exemple frappant de cet espace intertextuel qui est le lieu de naissance de la po£sie et/ou comme exemple du paragrammatisme fondamental du signif y poetique, les Poesies de Lautr6amont. 5
Wenn Intertextualität der >GeburtsortIntertextualität< zukommen soll. Denn eine Intertextualitätstheorie ist einsichtigerweise wesentlich anders zu konstruieren, wenn sie bestimmte Eigenschaften von Texten ganz allgemein abdecken soll, oder wenn sie auf bestimmte Eigenschaften von literarischen oder gar nur poetischen Texten im engeren Sinne zielt. Im ersteren Fall ist sie Teiltheorie einer allgemeinen Texttheorie, die Invarianten der Textkonstitution beschreibt, im zweiten Fall fungiert sie als Möglichkeit der Textgruppendifferenzierung und kann als Variable notwendig nicht zugleich Invariante der Textkonstitution im allgemeinen sein. Ähnliche Inkonsistenzen wie bei der extensionalen Definition des Begriffs - der Klasse von Texten, die er umfassen soll - finden sich auch bei der Bestimmung der Begriffsintension, den Eigenschaften, die den Begriff konstituieren. Wir haben bereits gesehen, daß die erste und zweite Definition aufgrund der Formulierung eigentlich nur die Beziehung zwischen zwei oder mehr Texten qua parole-Akten meinen kann. In »Le texte clos« und dem etwas späteren Buch, in das dieser Aufsatz integriert wurde, geht aus den weiteren Ausführungen jedoch eindeutig hervor, daß mit Intertextualität auch oder gar vorrangig etwas ganz anderes gemeint ist, bei der dritten Definition wird diese andere Zielsetzung schon in der Formulierung offenkundig. Kommen wir zunächst nochmals zur zweiten Definition zurück. Die sich schon in den frühen Arbeiten Kristevas manifestierende Entgrenzung des Intertextualitätsbegriffs resultiert, wie Pfister und andere gezeigt haben, aus der völligen Metaphorisierung des Textbegriffs. Diese spiegelt sich etwa in einer Formulierung wie der folgenden, wonach es Aufgabe einer »typologie des textes« sei, »de definir la specificite des differentes organisations textuelles en les situant dans le texte general (la culture) dont elles font partie et qui fait partie d'elles«. 6 Diese Metaphorik wird in der Folge hinsichtlich einer Typologie des Romans
4 5 6
Kristeva 1969, S. 255. Ebd., S. 255f. Ebd., S. 113.
10
Klaus W. Hempfer
dergestalt präzisiert, daß Kristeva ein »ensemble textuel extra-romanesque T e « von einem »ensemble textuel du roman Tr« unterscheidet, zwischen denen eine »fonction intertextuelle« existiere, »definie sur T e et ä valeur dans T r «. 7 Trotz des offenkundigen Bezugs auf den mathematischen Funktionenbegriff bleibt die Angelegenheit dubios, und zwar schon deshalb, weil sich der Typenbegriff als komparativer Begriff nicht einfach auf den Mengenbegriff ( = ensemble) als klassifikatorischen Begriff zurückführen läßt. 8 Wenn wir einmal von diesem Problem absehen und Kristeva so verstehen, daß sie einen >Zusammenhang< zwischen Typen des Romans und dem sozio-kulturellen Gesamtsystem ( = le texte general = la culture) herstellen will, so ist dies nichts unbedingt Neues. Daß sie dies will, ergibt sich aus der Fortsetzung des Zitats, insofern es Kristevas Absicht ist, eine »typologie des enonces romanesques« zu erstellen, »pour rechercher, dans un deuxieme temps, leur provenance extra-romanesque«,9 und zwischen diesen beiden >Bereichen< siedelt sie nunmehr also die intertextuelle Funktion an. Damit ist Intertextualität aber weder eine Relation zwischen Einzeltexten noch zwischen System e n ) und Aktualisierungen, sondern eine spezifische Interdependenz von verschiedenen >TexttypenTexttypen< nicht einfach als ungeordnete Mengen von Elementen auffaßt, was Kristeva trotz der Verwendung des Mengenbegriffs offenkundig nicht intendiert, und wenn man die Metaphorik des Textbegriffs auflöst, dann handelt es sich bei diesem Intertextualitätsbegriff um das Problem der Interdependenz verschiedener sozio-kultureller Teilsysteme, ein Problem, das zumindest seit den Tynjanov-Jakobson-Thesen von 1928 - ohne daß dort freilich ein Kausalverhältnis (»provenance«) von literarischem und außerliterarischem System postuliert würde - als solches benannt ist 10 und das in der neueren soziologischen Systemtheorie als >Interpenetration< von Systemen theoretisiert wird.11 Wenn nunmehr also >Intertextualität< als Relation zwischen sozio-kulturellen Teilsystemen beschrieben wird, dann ist jeder Text allein deswegen intertextuell, weil er verschiedene Systeme aktualisiert, doch ist dieses Verständnis von Intertextualität kaum mit der im selben Artikel eingangs gegebenen Definition zu vermitteln, denn es werden ja nicht einfach »plusieurs enonces pris ä d'autres textes« kombiniert, sondern es werden Strukturen aus verschiedenen Systemen >irgendwie< verbunden und erfahren durch und in dieser Verbindung eine spezifische konkrete Realisation. Könnte man dieses Problem vielleicht dadurch zu lösen versuchen, daß man Kristevas Eingangsdefinition dahingehend uminterpretiert, daß in einer konkreten Äußerung Strukturen aus verschiedenen Diskursrypen kombiniert und transformiert erscheinen, so bleibt als nicht beseitigbare Aporie, daß sich solche aus verschiedenen Diskurstypen stammenden Strukturen keines-
7 8 9 10 11
Ebd., S. 115. Vgl. hierzu etwa Kutschera 1972, S. 16ff. Kristeva 1969, S. 115. Die Thesen sind abgedruckt in Stempel (Hg.) 1972, S. 386ff. Vgl. hierzu zuletzt Luhmann 2 1985, S. 286ff. Eingeführt wurde der Begriff von Parsons.
Intertextualität, Systemreferenz
und
Strukturwandel
11
wegs notwendig >neutralisieren< und aufheben müssen. Beleg hierfür ist die interpretative Praxis von Kristeva selbst, die im Intertextualitätskapitel ihres Romanbuches zum Beispiel den Zusammenhang zwischen dem deduktiven Charakter scholastischen Denkens und der deduktiven Anlage der »construction romanesque« im Jehan de la Saintre herausstellt, d.h. die spezifische Realisationsform dieses literarischen Textes wird zurückgeführt (»provenance«!) auf die zeitgenössisch (noch) dominante Denkform. Somit wird nicht nur ganz fraglos als >Intertextualität< bezeichnet, was in anderen Theoriebildungen als Relation/Interdependenz/Interpenetration verschiedener sozio-kultureller Teilsysteme (>Literatur und Theologie/PhilosophieMosaik von Zitaten< darstellt, sondern der poetische Text aktualisiert mehrere Codes und eben hierauf beruht seine Intertextualität. Demgegenüber wird aus den früheren Definitionen die wechselseitige > Aufhebung < der intertextuellen Bezüge beibehalten, obgleich Kristeva in praxi auch ein ganz anderes Funktionieren von Intertextualität vorgeführt hat. Damit sind wir bei einem entscheidenden Punkt: Invariant in Kristevas divergenten Definitionen von Intertextualität, die auf gänzlich unterschiedliche Struktureigenschaften von Texten und/oder semiotischen Systemen abheben, bleibt die Funktion von Intertextualität; sie dient nicht der Konstitution von Sinn, sondern ist, wie A. Kablitz näher gezeigt hat, ein »Instrument der Sinndestruktion«.13 Die invariante Funktion von Intertextualität verweist somit auf ein Sprach- und Textverständnis, wie es von Kristeva und der Tel-Quel-Gruppe insgesamt seit Mitte der sechziger Jahre ausgearbeitet wurde, ein Modell, das zum einen die kommunikative, auf Ausdruck und Darstellung gerichtete Funktion von Sprache als ideologische Reduktion verwirft und zugunsten der Produktivität von Sprache zu überwinden sucht, und das zum anderen insbesondere die prinzipielle Polyvalenz, die unbegrenzte Bedeutungsvielfalt des literarischen bzw. poetischen Textes postuliert. Wie ich bereits an anderer Stelle formuliert habe, ist das Intertextualitätskonzept wohl nicht zuletzt deshalb für die Gruppe »d'une importance fondamentale«, 14 weil sich hiermit die Möglichkeit ergibt, die Abgeschlossenheit des Einzeltextes, die der infiniten Produktivität der ECRITURE widerspräche und diese letzten Endes doch in einem Produkt erstarren ließe, zu überwinden. Der abgeschlossene Einzeltext wird in diesem Zusammenhang nämlich verstehbar als »partie d'un ensemble non fini«, als Fragment eines »texte generalise« und damit notwendig als >offen< für eine >produktive< Lektüre, die in letzter Instanz also von der grundsätzlichen »non-clöture du texte gen6ral« garantiert wird. 15
Zusammenfassend können wir bisher folgendes festhalten: Kristeva liefert sowohl extensional wie intensional nicht aufeinander rückführbare Bestimmungen von Intertextualität; invariant bleibt die funktionale Charakterisierung des Begriffs, doch wird in konkreten Analysen auch diese aufgehoben. Während unter extensionalem Gesichtspunkt unklar bleibt, ob >Intertextualität< ein Merkmal aller Texte oder nur der literarischen oder gar nur der poetischen im engeren Sinne ist, finden sich hinsichtlich der Eigenschaften des Begriffs zumindest folgende drei bzw. vier Bestimmungen: 1) Intertextualität ist eine Relation zwischen konkreten Texten (der Text als »mosa'ique de citations«);
13 14 15
Kablitz 1985, S. 33. Sollers 1968, S. 323. Hempfer 1976, S. 55. Die Zitate stammen von Sollers und Baudry aus der Theorie d'ensemble. Genauere Angaben in den Anmerkungen der zitierten Arbeit.
Intertextualität,
Systemreferenz
und
Strukturwandel
13
2)
Intertextualität ist eine Relation zwischen Systemen im Sinne einer Interdependenz bzw. Interpenetration von Systemen; hierbei sind zwei Fälle zu unterscheiden: 2a) Intertextualität ist eine Relation zwischen sozio-kulturellen Teilsystemen als solchen (zwischen >dem< Roman qua Diskurst y ρ und anderen sozialen Systemen); 2b) Intertextualität ist eine Relation zwischen der spezifischen Transformation eines Diskurstyps und einem anderen sozialen System {Jehan de la Saintre und die Scholastik); 3) Intertextualität ist die Relation der gleichzeitigen Aktualisierung von zumindest zwei Codes/Systemen in einem poetischen Text. Invariante Funktionsbestimmung von Intertextualität ist die Destruktion einer fixierten Bedeutung, letztendlich von Bedeutung überhaupt und verweist solchermaßen auf die Vorgaben einer bestimmten Texttheorie, die den Übergang vom produit zur productivite postuliert. 16 Zumindest für die Definition (2b) ist eine solche Funktionsbestimmung logisch freilich unmöglich, wie sich nicht zuletzt aus Kristevas eigener Analysepraxis ergibt. Daß Intertextualität grundsätzlich nicht auf eine invariante Funktion festgelegt werden kann, wird in der Folge näher zu erörtern sein. Aufgrund der Heterogenität der Bestimmungen von > Intertextualität bei Kristeva selbst ist es nicht weiter verwunderlich, daß der Begriff in der Rezeption so ziemlich alles - und damit letztendlich nichts mehr - bezeichnen konnte. Von der traditionellen Quellen- und Einflußforschung17 über die Übersetzung bis hin zur Totalität möglicher - und unmöglicher - Einzeltextbezüge und Systemreferenzen: alles war plötzlich >intertextuellgestes litterairesGattungen< und der Relation von Gattung und Einzeltext, wie sie seit geraumer Zeit u.a. von mir vertreten wird. Hierfür brauchen wir weder einen neuen Begriff noch beschreibt dieser etwas, was mit Kristevas Konzeptionen zu verrechnen wäre, da es ja gerade nicht um die >simple< Aktualisierung eines Systems in einem Text geht. Schließlich deckt die Bestimmung von Jenny gerade jenen Aspekt nicht ab, der zumindest intuitiv vorrangig mit dem Intertextualitätsbegriff verbunden wird, die Relation zwischen Einzeltexten, und wofür in der Tat ein systematischer Begriff wie eine umfassende Theoriebildung fehlen. Warum hierfür nicht einfach ein historischer Begriff wie die imitatio eintreten kann, wird sich aus dem folgenden ergeben. Nahezu dieselbe Problematik wie bei Jenny ergibt sich auch bei der Definition von Culler, der Einzeltextbezüge zwar miteinbezieht, gleichwohl das Schwergewicht auf das Verhältnis von System und Aktualisierung legt 20 und sich damit natürlich das bereits bei Kristeva ungelöst gebliebene Problem einhandelt, wesentlich verschiedene Relationen, die, wie noch näher zu zeigen sein wird, nicht aufeinander rückführbar sind, mit ein und derselben Theorie beschreiben zu müssen. Manfred Pfister ist einer der wenigen, der dieses Problem erkennt und explizit thematisiert, doch läßt meines Erachtens gerade sein Versuch, ein in der Regel nur als universales postuliertes Konzept in ein wirklich universales zu überführen, es geraten erscheinen, Relationen zwischen Einzeltexten, zwischen Texten und Systemen sowie zwischen Systemen als solchen auseinanderzuhalten und den Intertextualitätsbegriff nur für erstere zu verwenden. Die folgenden Überlegungen sind im wesentlichen als Dialog mit Manfred Pfister angelegt.
2. Plädoyer für einen wieder eingeschränkten Intertextualitätsbegriff Wenn man Intertextualität als ein universales Konzept begreifen möchte, dann setzt dies notwendig voraus, daß man eine einheitliche Theorie für alle potentiell 19 20
Jenny 1976, S. 257 (zit. in Pfister 1985, S. 13f.). Vgl. hierzu Pfister 1985, S. 15f.
Intertextualität,
Systemreferenz
und
Strukturwandel
15
denkbaren Einzeltext-, Text- und System- sowie Intersystemrelationen formuliert. Entwickelt man nämlich keine solch einheitliche Theorie, dann besteht entweder die Gefahr, daß man vorgibt, die potentielle Vielfalt von Relationen zu beschreiben, in Wirklichkeit jedoch nur einen bestimmten Typ erfaßt, wie dies schon bei Kristeva angelegt ist, oder aber der Begriff wird zu einem Pseudokonzept, das nur sprachlich eine Einheit von Phänomenen vortäuscht, die in deren Beschreibung nicht eingelöst wird, insofern - trotz eines sprachlich einheitlichen Konzepts Systemreferenzen, Systemrelationen und Einzeltextbezüge in unterschiedlicher Weise theoretisiert werden. Was eine solch einheitliche Theorie zu leisten hätte, läßt sich vielleicht am besten hinsichtlich der Frage erläutern, auf welche Weise die verschiedenen Ebenen von > Intertextualität< im weiteren Sinne kommunikativ relevant werden. Zur Lösung dieses Problems entwickeln Autoren, die nicht zulassen wollen, daß sich Intertextualität in die Beliebigkeit von subjektiv herangetragenen Assoziationen auflöst, eine Markierungstheorie, die angeben soll, wann ein intertextueller Bezug kommunikativ relevant ist. 21 Es ist leicht einzusehen, daß eine solche Theorie grundsätzlich verschiedener Natur sein muß, je nachdem ob es um Einzeltextbezüge, um Systemreferenzen oder gar um Systeminterdependenzen geht. Hierfür zunächst vielleicht ein einfaches Beispiel außerhalb des Petrarkismus, das genau auf die von Pfister intendierte Nichtdifferenzierung von Einzeltextbezügen und Gattungsreferenzen abhebt. Um Boileaus Paris-Satire als Satire zu verstehen und nicht etwa als ein Enkomium, genügt ein Wissen um Konstitutionsprinzipien einer Satire im Unterschied etwa zu einer Ode oder einer Elegie, ein Wissen, das sich der Rezipient aufgrund seiner Lektüre anderer satirischer Texte erworben hat. Um nun aber Boileaus Paris-Satire in ihrem intertextuellen Bezug zur Rom-Satire Juvenals lesen zu können, bedarf es der Kenntnis genau dieses Einzeltextes und seiner einzelnen Strukturebenen (Gedankenführung, Zielrichtung der Kritik, Bildlichkeit etc.), und erst eine solche parallele Lektüre erschließt das volle Sinnpotential des Boileau-Textes durch das Mitlesen seiner Differenz zu Juvenal. Daß man die Boileau-Satire ohne weiteres als Satire erkennen kann, ohne sie deshalb zugleich als Juvenal-Imitatio zu verstehen, hat den offenkundigen Grund, daß einmal nur Strukturen, allgemeine Regeln und d.h. ein endliches Repertoire bekannt sein müssen, das andere Mal jedoch eine partikular-spezifische Aktualisierung dieser allgemeinen Strukturen. Nimmt man hinzu, wie ich unten näher ausführen werde, daß in einem Ritterroman wie dem Orlando Furioso sehr wohl Bezüge auf einzelne Gedichte Petrarcas oder Bembos vorkommen können, ohne daß der Ritterroman deswegen zum canzoniere wird, während umgekehrt die Einführung narrativer Strukturen in ein Drama zu einer fundamentalen Transformation dramatischer Kommunikation führt, 22 dann ist einsichtig, warum sich das Markierungsproblem für Systemaktualisierung und Einzeltextbezug grundsätzlich verschieden stellt. Texte sind immer und notwendig Aktualisierung allgemeinerer textkonstitutiver Strukturen, zusätz21 22
Vgl. hierzu Broich 1985. Vgl. hierzu Pfister 1977, S. 103ff.
16
Klaus W.
Hempfer
lieh können sie Bezüge zu anderen, konkreten Einzeltexten aufweisen. Das, was fakultativ ist, muß speziell markiert werden, textkonstitutive Strukturen müssen notwendig verwendet werden. So bedarf es denn auch zur wissenschaftlichen Erklärung der Tatsache, daß Boileaus Paris-Satire eine Satire und der Orlando Furioso ein narrativer Text ist, keiner Markierungstheorie, sondern einer Satiretheorie einerseits und einer Theorie narrativer Strukturen andererseits; daß in beiden Texten intertextuelle Bezüge im engeren Sinne eine Rolle spielen, hierzu benötigt man dann eine >Markierungstheoriedekonstruieren< versucht, indem er darauf verweist, daß auch Systeme immer nur in Aktualisierungen vorliegen.23 Dies ist unbestritten, doch ist deswegen die Relation von System und Aktualisierung nicht auf die Relation zwischen zwei Aktualisierungen zurückzuführen. Auf Normalsprache übertragen würde dies bedeuten, daß Pfister das Sprachsystem mit dessen potentiell unendlichen Aktualisierungen identifiziert und damit der Kenntnis der Strukturen etwa des Deutschen denselben Status zuspricht wie der Kenntnis sämtlicher potentieller Äußerungen - die nicht möglich ist und folglich für die Sprechfähigkeit nicht in Frage kommen kann-, und daß er die normalsprachlich in der Regel nicht vorhandenen Bezüge zwischen zwei beliebigen konkreten Äußerungen auf dieselbe Stufe stellt wie die für Sprechen und Verstehen notwendige Relation von System und Aktualisierung.24 Pfisters Ausgangspunkt, daß die Differenz von Systemreferenz und Intertextualität etwas auseinanderreißt, was »von der Intuition her zusammengehört«,25 und sein Verweis auf den speziellen Fall der Parodie ist nur scheinbar plausibel, insofern der Unterschied zwischen einer Textklassen- und einer Einzeltextparodie kommu-
23 24
25
Pfister 1985, S. 18f. Daß auch für >avancierte< semiotische Positionen der Codebegriff und damit das Problem von System und Aktualisierung, auch wenn es in anderem theoretischen Rahmen als dem klassisch-strukturalistischen angegangen wird, unverzichtbar bleibt, vgl. Eco 1979/1985, S. 13ff. Pfister 1985, S. 18.
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nikativ in der Tat ein zentraler ist. Im Don Quichote ist die Parodie des auktorialen Erzählens, wie es sich in den Ritterromanen findet, jedem zugänglich, der irgendwelche auktorialen Romane kennt, er braucht nicht spezielle Ritterromane zu kennen, während die Parodie spezifischer Strukturen der Ritterromane oder gar die Parodie konkreter Passagen aus konkreten Ritterromanen in der Regel nur Spezialisten der Ritterliteratur zugänglich ist, und zwar im gleichen Maße wie etwa die nichtparodistischen intertextuellen Bezüge zum Orlando Furioso. Dies heißt jedoch nichts anderes, als daß sich beim Don Quichote unter dem Parodieaspekt dasselbe Kommunikationsproblem stellt wie bei dem Beispiel der BoileauSatire. Daß für die Schreibweise der Parodie trotz dieser fundamentalen kommunikativen Differenz dennoch ein gemeinsamer struktureller >Kern< angegeben werden kann, der Parodien, unabhängig, ob es sich um Einzeltext- oder Textklassenparodien handelt, etwa von Satiren abgrenzbar macht,26 darf nun aber eben gerade nicht auf das generelle Verhältnis von Intertextualität im engeren Sinne und Systemaktualisierung verallgemeinert werden, weil auch bei der Einzeltextparodie der konkrete Text Aktualisierung allgemeinerer Strukturprinzipien, eben der parodistischen Schreibweise, ist, was bei den Einzeltextbezügen als solchen gerade nicht gilt. Um ein obiges Beispiel zu wiederholen: Ein Petrarca-Zitat in einem Epos macht aus diesem noch keinen canzoniere. Im übrigen sei hier nur angemerkt, daß Kristevas Funktionsbestimmung von >Intertextualitätdekonstruieren< zu können, dann müßte man diesen Aspekt sehr wohl in eine globale Intertextualitätstheorie integrieren. Umgekehrt legt natürlich gerade diese Konsequenz den Verzicht auf eine globale Theorie nahe, denn daß eine Theorie der Relationierung von Systemen nicht auf eine Theorie der Systemaktualisierung und erst recht nicht auf eine solche der Wechselbeziehung zwischen einzelnen Texten zurückzuführen ist, bedarf keiner eigenen Begründung. Gegen das Postulat einer Globaltheorie spricht schließlich das Argument, daß Pfister mit seiner abschließenden skalaren Bestimmung von Intertextualität27 im wesentlichen nur Einzeltextbezüge abdeckt. Dies gilt eindeutig etwa für das Refe-
26 27
Vgl. Verweyen/Witting 1979, insb. S. 112ff. Vgl. Pfister 1985, S. 25ff.
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rentialitätskriterium, womit gemeint ist, daß ein Text um so intensiver intertextuell sei, »je mehr der eine Text den anderen thematisiert, indem er seine E i g e n a r t [ . . . ] >bloßlegtPrätext< metaphorisch auch als System zu verstehen, bliebe etwa das Problem, daß sich ein Romanautor seiner Erzählverfahren natürlich nicht explizit bewußt sein muß, ja, er sogar eine hinsichtlich seiner Praxis inadäquate Theorie explizit formulieren kann;30 des weiteren muß er seine Verfahren, wie wir gesehen haben, nicht markieren, er muß sie aber sehr wohl verwenden, weil sonst sein Text gar nicht entstünde; daß er sie darüber hinaus durch metasprachliche Thematisierungen markieren und solchermaßen explizit machen kann, ist ein ganz anderes Problem. Am deutlichsten zeigt sich Pfisters Orientierung an Einzeltextbezügen jedoch beim Kriterium der Selektivität, d.h. der Frage, »wie pointiert ein bestimmtes Element aus einem Prätext als Bezugsfolie ausgewählt und hervorgehoben wird und wie exklusiv oder inklusiv der Prätext gefaßt ist«. 31 Wenn Pfister in diesem Zusammenhang feststellt, daß »der Verweis auf einen individuellen Prä text prägnanter und damit intensiver intertextuell [ist] als der Bezug auf die Normen und Konventionen einer Gattung, auf bestimmte Topoi und Mythen oder auf noch abstrakter definierte textkonstituierende Systeme«, 32 dann ist dies sinnvoll sagbar nur, wenn >Intertextualität< eben doch allein den Einzeltextbezug meint. Denn wenn eine Intertextualitätstheorie auch die Relation von System und Aktualisierung erfassen können soll, dann darf sie nicht gerade das als schwach intertextuell ausweisen, was den Text überhaupt erst konstituiert - die satirische Schreibweise bei einer Satire, das Erzählen im Roman-, um umgekehrt rein fakultative Bezüge
28 29 30 31 32
Ebd., S. 26 (Hervorh. von mir). Ebd., S. 27 (Hervorh. von mir). Ich habe dies am Tel-Quel-Roman zu zeigen versucht. Vgl. hierzu Hempfer 1976. Pfister 1985, S. 28. Ebd.
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- auf eine konkrete andere Satire, aber auch auf Texte ganz anderen Diskurstyps als stark intertextuell zu bestimmen. Um auf ein letztes Argument Pfisters für eine Globaltheorie einzugehen, das zugleich deutlich macht, wovon sich eine eingeschränkte Definition und Verwendung des Intertextualitätskonzepts zu differenzieren hat: Für Pfister bietet sich nämlich eine Nichtscheidung von Systemreferenz und Einzeltextbezug auch aus wissenschaftstaktischen Erwägungen an, da eine »eng definierte Intertextualitätsforschung in besonderer Weise der Gefahr ausgesetzt [ist], zu einer traditionellen sources-and-analogues-Forschung zu degenerieren«. 33 Nun könnte man sich fragen, ob nicht manche Arbeit aus dem Bereich der traditionellen Quellenforschung ergiebiger ist, sofern man sie nur richtig >befragtQuelle< gegenübergestellt wird. Die traditionelle Quellenforschung war ganz ausschließlich produktionsästhetisch orientiert und betrachtete Texte unter dem Aspekt, >woher< bestimmte Elemente des untersuchten Textes stammten bzw. möglicherweise stammen konnten. Ihr war es in der Regel genug, wenn sie die Herkunft von Elementen angeben konnte, die Funktion dieser Elemente im neuen Kontext, deren Veränderung oder gar die Frage, was es bedeutet, daß ein Text sich in Relation zu einem anderen konstituiert: all dies interessiert die Quellenforschung wenig. Und genau hier ist nun die Lücke für einen Intertextualitätsbegriff, der sich nicht auf Umbenennung von Bekanntem beschränkt. Unter >Intertextualität< soll die Menge der Relationen von einem Text Τ zu einem oder mehreren Texten tj n verstanden werden dergestalt, daß sich die message von Τ qua Hypertext nicht nur durch die Aktualisierung und gegebenenfalls Modifikation vorgegebener Codes konstituiert, sondern zusätzlich durch Bezüge syntaktischer und/oder semantischer und/oder pragmatischer Dimension zu ti...n Intertextualität< als kommunikativ-semiotisches Phänomen verstanden wird, das in einer von der normalen Bedeutungskonstitution von Texten grundsätzlich verschiedenen Weise zu eben dieser Bedeutungskonstitution beiträgt. Zur Bedeutungskonstitution beiträgt heißt, daß diese Funktion natürlich nicht nur die semantischen Intertextualitätsrelationen erfüllen, sondern gleichermaßen die pragmatischen und syntaktischen, 34 und sei dies nur in
33 34
Ebd., S. 19. Zu Beispielen für die vielleicht nicht ohne weiteres einsichtigen syntaktischen Intertextualitätsrelationen vgl. unten Abschnitt 3. Eine pragmatische Intertextualitätsrelation
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dem Sinne, daß sie eine Lektüre des Hypertextes in Relation zum Hypotext bedingen, und somit an die Stelle der Lektüre eines Textes die Lektüre der Differenz von zwei - oder mehr - Texten tritt. Die Analyse einer solchermaßen verstandenen Intertextualität hat hinsichtlich ihrer Zielsetzung demnach nichts mit der traditionellen Quellenforschung gemein, doch kann diese, insbesondere wenn sie mit positivistischer Gründlichkeit betrieben wurde, Intertextualitätsanalysen sehr erleichtern, insofern sie eine Vielzahl potentieller Bezüge auflistet, die hinsichtlich ihrer intertextuellen Relevanz überprüft werden können. Gerade weil der Intertextualitätsbegriff ein kommunikativ-semiotischer ist, wird etliches von dem, was die Quellenforschung unter genetischen Aspekten anführte, unter kommunikativen Aspekten auszugrenzen sein, etwa, weil die vorgebliche Quelle viel zu unspezifisch ist, als daß sie als Differentiale für eine intertextuelle Lektüre fungieren könnte, oder weil bestimmte Texte nicht als Bestandteile der >intertextuellen Kompetenz< eines bestimmten Publikums zu einer bestimmten Zeit anzusehen sind usw. Wenn Intertextualität als ein kommunikativ-semiotischer Begriff verstanden wird, der die differentielle Lektüre eines Textes im Hinblick auf zumindest einen anderen Text meint, dann ergibt sich hiermit nicht nur ein deutlicher Unterschied zur Quellenforschung, sondern der Begriff ist auch eindeutig abgrenzbar gegenüber Erscheinungen wie »Übersetzung«, »Plagiat«, »Einfluß und Epigonentum«, »Adaptation«, »Imitation«, »Dramatisierung«, »Verfilmung« u.a., die von Pfister in seinen Ausführungen zur Skalierung von Intertextualität als - in unterschiedlicher Weise und Intensität zwar, aber immerhin doch - intertextuelle Phänomene bezeichnet werden. 35 Im Unterschied zu meinem Versuch, >Intertextualität< als >normierten Prädikatorweiter< als selbst Kristevas Konzept, in deren Ausführungen eine bestimmte Funktionsbestimmung eine zentrale Rolle spielt, wodurch Intertextualität, wie wir gesehen haben, im wesentlichen als Instrument der wechselseitigen Aufhebung von Sinn erscheint. Gegen ein solches Verständnis, das allenfalls auf bestimmte Ausprägungen (post)-moderner Literatur zutrifft, hat Rainer Warning die Notwendigkeit einer Historisierung betont, 38 und Andreas
35 36 37 38
wäre etwa ein analoger Verwendungszusammenhang eines Textes bzw. Textteils; z . B . stehen die Einleitungsgedichte petrarkistischer canzonieri unabhängig von semantischen Bezügen in einer pragmatischen Intertextualitätsrelation zueinander. Vgl. Pfister 1985, S. 25ff. Vgl. Kamlah/Lorenzen 1967, S.70ff. Zu diesem Begriff vgl. Eco 1979/1985, S. 24ff. Vgl. Warning 1983, S. 300.
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Kablitz hat durch einen Vergleich poststrukturaler Intertextualitäts- bzw. Dialogizitätskonzepte mit dem imitatio-Begriff der italienischen Renaissance zeigen können, wie dabei geradezu oppositive Funktionsbestimmungen der Einzeltextbezüge vorgenommen werden. 39 Hieraus ergibt sich mit Notwendigkeit, daß, wenn man >Intertextualität< als systematischen Begriff einer Texttheorie einführen will, dieser nicht apriorisch mit historisch spezifischen Funktionen belastet werden darf. Vielmehr ist über die Variabilität der Funktionen zugleich die Historisierung des Konzepts einholbar, so daß sich imitatio als eine historisch spezifische Funktionalisierung von Intertextualität bestimmen läßt. Daß der von Kristeva entwickelte, in der Tel-Quel-Gruppe popularisierte und von den Dekonstruktivisten internationalisierte Intertextualitätsbegriff geradezu eine Verhinderungsinstanz für die Beschreibung von Struktur- und/oder Systemwandel ist, braucht nach dem bisher Gesagten kaum mehr eigens ausgeführt zu werden. Nun gäbe es freilich Aspekte in der vielgestaltigen Definition von intertextualität bei Kristeva, die eine Beschreibung von Struktur- und Systemwandelphänomenen möglich machen würde wie etwa die transepochal ja keineswegs >fixe< Interdependenz verschiedener sozio-kultureller Systeme, doch werden solche Möglichkeiten durch die invariante Funktionsbestimmung zunichte gemacht eine Bestimmung, die Intertextualität immer nur auf Verhinderung von Sinnkonstitution festlegt, die diese für jeden Text postuliert und solchermaßen als invariantes textkonstitutives Prinzip nur das >Spiel der Differenz< zuläßt, 40 wodurch es keinen historischen Wandel mehr geben kann. Wenn man noch die oben skizzierte, im Umkreis von Tel-Quel verbreitete Vorstellung hinzunimmt, daß jeder Text Teil eines allumfassenden Textes ist, eines »texte general(ise), 41 der alle kulturellen Manifestationsformen umfaßt - die Kultur als »le texte« - , 4 2 dann ist die Diachronie als Textrelation überhaupt beseitigt, und es gibt nur noch die Ubiquität aller Texte in der Synchronic des »texte general(ise)«. Dieser erhält nur hinsichtlich seiner »non-clöture«, seiner Ergänzbarkeit, ein temporales Moment, das ihn zwar quantitativ erweitert, nicht aber diachronisiert: Neue Texte ermöglichen nur neue Differenzen, aber keinen grundsätzlichen Wandel des Spiels der Differenzen als solcher. Kann demnach das Text- und Intertextualitätskonzept von Kristeva und den Tel-Queliens insgesamt aufgrund seiner quasi-definitorischen Beseitigung der Diachronie naheliegender Weise keine Wandelphänomene beschreiben, bleibt die Frage, wie es mit Intertextualitätskonzepten steht, die gleichfalls als globale eingeführt werden wie etwa bei Pfister, die aber zugleich von der invarianten Funktionsbestimmung befreit und solchermaßen historisch differenzierbar sind. Auch in diesem Fall glaube ich, daß bei einer Nichtscheidung verschiedener Relationstypen zwischen Texten ein Struktur- bzw. Systemwandel nicht zu beschreiben ist,
39 40 41 42
Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.
Kablitz 1985 und 1986. hierzu ausführlich Kablitz 1985. hierzu oben das Zitat aus Hempfer 1976, S. 55. das Kristeva-Zitat oben S. 9.
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oder daß, schwächer formuliert, zumindest bestimmte Wandelphänomene nicht beschrieben werden können. Da ich mich im folgenden auf einige konkrete Beispiele beschränke, kann ich nur letzteres zeigen, doch scheint mir, daß, von diesen konkreten Problemen ausgehend, Argumente für die stärkere Variante abgeleitet werden können. Da meine Beispiele etwas mit >Petrarkismus< zu tun haben, ist die Frage nach der Unterscheidbarkeit von Intertextualität und Systemreferenz zugleich die Frage nach der Möglichkeit und Notwendigkeit der Bestimmung des Petrarkismus als System.43
3. Die Pluralisierung des erotischen Diskurses oder die analysepraktische Notwendigkeit der Scheidung von Intertextualität und Systemreferenz 43a Ich möchte mit einem Beispiel beginnen, das zwar nicht aus einem lyrischen Text stammt, aber sehr wohl einen Bezug zum erotischen Diskurs innerhalb der Lyrik hat, und zwar mit einer Stelle aus dem bereits mehrfach zitierten Orlando Furioso. Nachdem Orlando im XXIII. Gesang, als er die Bauminschriften von Angelica und Medoro entdeckt hat, wahnsinnig geworden ist, beginnt der Erzähler den XXIV. Gesang mit einer Reflexion über die >Verrücktheit< der Liebe: Chi mette il pie su l'amorosa pania, cerchi ritrarlo, e non v'inveschi l'ale; che non e in somma amor, se non insania, a giudizio de' savi universale: e se ben come Orlando ognun non smania, suo furor mostra a qualch'altro segnale. Ε quale έ di pazzia segno piu espresso che, per altri voler, perder se stesso?44
Der Schluß der Oktave enthält einen eindeutigen intertextuellen Bezug auf eine Canzone aus den Asolani Bembos, und zwar dem ersten Buch, in dem das Konzept der Schmerzliebe (»amare senza amaro non si puö«)45 mit vielfältigen intertextuellen Bezügen - in der Prosa gleichermaßen wie in den eingelegten Gedichten - auf den Canzoniere Petrarcas entwickelt wird. Bei Bembo heißt es: Ε 'η tanto mi riscuoto e veggio expresso, che per cercar altrui perdo me stesso. (V. 51 f.) 46
Ist in den Orlando-Furioso-Ausgaben von 1516 und 1521 der Bezug noch eindeutiger, insofern der letzte Vers wörtlich übernommen ist,47 so ist ein solcher Bezug
43 43a 44 45 46 47
Vgl. hierzu Hempfer 1987b und die Gegenposition in Warning 1987. Die folgenden Ausführungen entsprechen z.T. Hempfer 1988. Zit. nach Ariosto 21971, S. 698. Bembo 1978, S. 329 (1,9). Ebd., S. 372 (1,33). Vgl. die Anm. in Ariosto 21971, S. 698.
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doch auch für die Endfassung fraglos anzusetzen. Dabei konstituiert sich Intertextualität nicht nur semantisch, sondern auch syntaktisch durch die Übereinstimmung der Reimwörter. Die semantische Refunktionalisierung beginnt freilich mit der satzsyntaktischen Refunktionalisierung von espresso, wodurch insgesamt eine gänzlich gegenläufige Aussage zustandekommt. Während bei Bembo das Zitat eine der zahllosen Metaphern für das Leiden an der Liebe ist, das, wie die Verbindung von amaro und amore zeigt, notwendiges Konstituens einer bestimmten Liebeskonzeption ist, wird bei Ariost die Metapher mehr oder weniger wörtlich genommen und als Zeichen der besonderen Verrücktheit, zu der Liebe führen kann, ausgewiesen. Durch den intertextuellen Bezug auf Bembo geht es Ariost offensichtlich nicht darum, das petrarkistische System zu realisieren oder seinen Text bzw. den vorliegenden Abschnitt als in irgendeinem Sinn »petrarkistisch« auszuweisen, ganz im Gegenteil. Indem er den besonderen >Irrsinn< der Liebe gerade mit einem Versatzstück zum Ausdruck bringt, das über den konkreten Bembo-Text hinaus auf das, was man relativ unstrittig als den >Kern< des petrarkistischen Diskurses begreift, 48 verweist, wird dieser als gleichermaßen >abwegig< ausgewiesen wie das Verhalten Orlandos. In dieselbe Richtung weisen weitere Indizien des Textes, wie etwa eine Feststellung in der folgenden Strophe: a chi in amore s'invecchia, oltr'ogni pena si convengono i ceppi e la catena, (ο. F. XXIV, 2, 7/8)
Der erste Vers paßt in besonderem Maße auf den Sprecher des petrarkischen Canzoniere, denn Petrarca galt zeitgenössisch - durch die Identifizierung von Sprecher und Autor - als ein Muster an >Ausdauer< in der Liebe. 4 9 In dem Proömium des XXIV. Gesangs finden sich weitere intertextuelle Bezüge, die als Zitate eindeutig auf den petrarkischen Canzoniere verweisen, und doch handelt es sich bei Ariost offensichtlich um keinen petrarkistischen Diskurs, sondern ganz im Gegenteil um dessen komisierende Aufhebung. 4 9 3 Das heißt aber zum einen, daß intertextuelle Bezüge ganz eindeutig von Systemaktualisierungen zu unterscheiden sind, und das heißt zum anderen, daß der Petrarkismus nicht auf Intertextualität als solche zurückgeführt werden kann, sondern als ein von anderen Formen des erotischen Diskurses zu unterscheidender Diskurstyp zu bestimmen ist. Ersteres ergibt sich daraus, daß durch einen intertextuellen Bezug innerhalb des neuen Textes keineswegs das System aktualisiert werden muß, das im Hypotext aktualisiert ist, sondern der intertextuelle Bezug indiziert nur dieses System, das damit in eine je spezifische Relation zu dem vom Hypertext selbst aktualisierten System gerät. Die zweite Konsequenz ist darin begründet, daß nur dann, wenn der intertextuelle Bezug ein System indiziert, nämlich das im Hypotext von ihm aktuali-
48 49
49a
Vgl. hierzu Hempfer 1987b. Im Kommentar wird »s'invecchia« mit »indugia troppo a lungo, consuma la propria vita« erklärt. Vgl. Ariosto 2 1971, S. 698. Bigi 1953/54 kann dies nicht angemessen herausarbeiten, weil er nicht zwischen Petrarca
als modello di lingua einerseits und als modello dipoesia andererseits unterscheidet. Vgl. hierzu Hempfer 1987 b.
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sierte, überhaupt unterschiedliche erotische Diskurse gegeneinander montiert werden können, weil der intertextuelle Bezug ja nicht als solcher, sondern nur in seiner Aktualisierung eines spezifischen Diskurstyps distinktiv und damit potentiell diskrepant zum Hypertext sein kann, wenn dieser seinerseits einen anderen Typ des erotischen Diskurses aktualisiert. Dies läßt sich umgekehrt, sehr schön daran sehen, daß man die Diskursmontage nicht erkennt, wenn man die intertextuellen Bezüge nicht versteht, d.h. ohne die Systemindizierung fügen sich die Bezüge zum Hypotext bruchlos in den Hypertext. Wenn nun einerseits die intertextuellen Bezüge im Hypertext die Systeme des Hypotextes nur indizieren, nicht aber notwendig aktualisieren, so ist andererseits freilich auch festzuhalten, daß solche Bezüge vielfach gerade dazu dienen, die Systemreferenz des Hypertextes zu >markierenausgespielt< werden, sondern die Bezogenheit eines bestimmten Diskurses auf einen bestimmten Diskurstyp deutlich werden soll. Gerhard Regn hat dies hinsichtlich Tassos Rime in umfassender Weise gezeigt, 50 Entsprechendes läßt sich bei einer Mehrzahl anderer Autoren nachweisen. So ist etwa Ariosts Sonett IV (»La rete fu di queste fila d'oro«) - ein typisches Schmerzliebe-Gedicht, das abschließend explizit die dolendi voluptas thematisiert - mit einer Mehrzahl bei Petrarca wörtlich vorfindlicher Wendungen durchsetzt, 51 und ein analoges Sonett (XXIV) ist in den metrisch-syntaktischen Strukturen der Oktaven mit sieben anaphorischen Apostrophen und einem Nebensatz in der achten Verszeile auf Canzoniere CLXI bezogen. 52 Demgegenüber finden sich in einem der schon intuitiv apetrarkistischsten Sonette Ariosts (XIII), einem Preis der Liebesfreude, eindeutige Übernahmen aus Catull und Properz. 53 Daß dieser Text dennoch in einem sozusagen >dialogischen< Verhältnis mit dem petrarkistischen Diskurs - nicht mit Petrarca allein - steht, resultiert aus der Tatsache, daß er die Schmerzliebe explizit negiert, indem er sein Liebeskonzept mit einer zum Petrarkismus antonymen Bildlichkeit realisiert: Aventuroso carcere soave, dove ηέ per furor ne per dispetto ma per amor e per pietä distretto la bella e dolce mia nemica m'ave; gli altri prigioni al volger de la chiave s'attristano, io m'allegro: che diletto e non martlr, vita e non morte aspetto.54
50 51 52
53 54
Vgl. Regn 1987. Vgl. die Belege von Segre in Ariosto 1954, S. 133. Freilich nicht ohne kleine Variation: Sind es bei Petrarca zwei Apostrophen pro Verszeile, beschränkt sich Ariost auf jeweils eine, und auch die Terzette sind verschieden strukturiert. Vgl. die Anm. Segres in Ariosto 1954, S. 136. Ariosto 1954, S. 135 (Hervorh. von mir).
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Hier finden sich natürlich Einzellexeme, die auch bei Petrarca nachweisbar sind, doch lassen sich diese genauso bei einer Mehrzahl von Petrarkisten aufweisen. Entscheidend ist, daß die Liebe nicht Leid, sondern Freude bringt, und daß unter diesem Blickwinkel von der Allegorie des Gefängnisses an zentrale Metaphern bzw. Allegorien des petrarkistischen Diskurses qua System und nicht qua spezifischer Aktualisierung durch ihre Antonyme (diletto vs. martir, vita vs. morte) ersetzt werden. In der Fortsetzung des Textes werden dann die weitgehend wörtlichen Übernahmen aus Catull und Properz verwendet, die »dolci baci« (V. 12) und >mehrVorlage< von Bernardino Daniello vergleicht, dann wird die Differenz der beiden Diskurstypen unübersehbar: ivi έ quel sommo ben ch'ogni uom desia; ivi Ί vero riposo; ivi la pace ch' indarno tu quaggiü cercando vai.78
Während sich bei Du Beilay im Jenseits die Idee der Schönheit findet, die er im Diesseits >anbetetEinstieg< in die Transzendenz begreift und die solchermaßen überhaupt nicht als »torment« erfahren werden kann. Im Unterschied zu Bembos Einleitungsgedicht, wo programmatisch eine Aufhebung des Petrarkismus durch den Piatonismus formuliert wird, stehen bei Du Beilay die unterschiedlichen Konzeptionen einfach nebeneinander, ohne daß Vermittlungsmöglichkeiten aufgezeigt werden. Dabei scheint gerade die Tatsache, daß Du Beilay eine eindeutig petrarkistische Vorlage platonistisch umformuliert, dafür zu sprechen, daß es ihm in der
77 78 79
Vgl. ebd., S. 163. Zitiert ebd. (Hervorh. von mir). So Ley 1975, S. 71.
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Olive nicht darum geht, eine kohärente Konzeption zu entwickeln, sondern vielmehr darum darzustellen, wie man unterschiedlich über Liebe reden kann. Die sich solchermaßen innerhalb eines canzoniere konstituierende Pluralität, die nicht durch Vermittlung, Aufhebung u.ä. abgeschwächt ist, ist natürlich radikaler als das Durchspielen verschiedener erotischer Diskurse in Einzelgedichten, weil solchermaßen das für einen canzoniere durch Modelle wie dasjenige Petrarcas vorausgesetzte Kohärenzprinzip aufgebrochen wird, und damit Pluralität nicht nur Konstituens des Systems der erotischen Diskurse ist, sondern als Diskrepanz von Äußerungen in den einzelnen Diskurs eingeht. Daß es sich bei der hier angedeuteten Struktur der Olive nicht um ein hapax handelt, das man dem Autor als >Kunstfehler< anlasten könnte oder das eventuell genetisch dadurch zu erklären wäre, daß sich Du Beilay, wie die Quellenforschung zweifelsfrei geklärt hat, neben dem Canzoniere Petrarcas vor allem auf eine bei Giolito erschienene Anthologie italienischer Lyrik bezieht, 80 die natürlicherweise nicht dem Kohärenzprinzip eines canzoniere gehorcht, zeigt ein Blick auf die Amours Ronsards. Diese konkretisieren den potentiellen Spielraum des erotischen Diskurses nicht nur in unterschiedlichen Sammlungen oder verschiedenen Büchern, wobei der Diskurstypwechsel zum Teil explizit thematisiert wird,81 sondern die einzelnen Sammlungen können als solche pluralisiert werden. Am extremsten ist dieses Prinzip sicherlich in den späten Sonnets pour Helene (1578) realisiert, in denen etwa auf zwei Sonette (I, XLII und XLIII), die sich explizit gegen den Piatonismus aussprechen (»Aimer Fesprit, Madame, est aimer la sottise« XLIII, 8) und zwei weiteren Gedichten, die Themen des antiken erotischen Diskurses aufnehmen, ein Text folgt (I, XLVI), der nicht nur platonistische Konzepte verwendet, sondern in dem der Sprecher explizit die platonistische Position akzeptiert, um hierauf mit zwei Texten fortzufahren, die geradezu paradigmatisch den petrarkistischen dissidio (I, XLVII) und die dolendi voluptas (I, XLVIII) zum Ausdruck bringen, was es im Rahmen der platonistischen Liebeskonzeption freilich genauso wenig geben dürfte wie die physische Vereinigung, die in der folgenden chanson evoziert wird, ein Text, der wohl nicht zuletzt wegen seiner erotischen Deutlichkeit 1584 in die Amours Diverses >verbannt< wurde. 82 Ich möchte mich auf diesen Hinweis beschränken, da im vorliegenden Zusammenhang die komplexe Pluralität der Sonnets pour Helene, die natürlich nicht einfach eine beliebige ist, nicht angemessen dargestellt werden kann. Statt dessen möchte ich noch etwas auf den einfacheren Fall< der Amours de Cassandre (1552-1553) eingehen. Diese Sammlung gilt in der Forschung als der petrarkistischste recueil Ronsards, und man kann sicherlich zu Recht von einer Dominanz des Petrarkismus
80 81
82
Vgl. Caldarini in Du Beilay 1974, S. 19. Vgl. etwa die Elegie a son livre, die ab der Amours-Ausgabe von 1560 das II. Buch eröffnet (Ronsard 1963, S. 251ff.). Zur Thematisierung unterschiedlicher Diskurstypen in diesem Text vgl. Hempfer 1987b. Vgl. die Anmerkungen in Ronsard 1963, S. 410.
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sprechen, was freilich auch davon abhängt, was man unter >Petrarkismus< versteht. Unter den 221 Gedichten, die die Sammlung in der Ausgabe von 1553 konstituieren, lassen sich eine Vielzahl von Texten anführen, die in paradigmatischer Weise das Konzept der Schmerzliebe und die contrari affetti bis hin zu deren oxymoraler Potenzierung in der dolendi voluptas aktualisieren, doch findet sich auch anderes. Es sind nicht nur die Traumsonette, die wesentlich über das etwa bei Petrarca und Bembo Vorfindliche hinausgehen, auch wenn die Thematisierung der sexuellen Erfüllung im Modus der Wunschvorstellung verbleibt - dies ließe sich augenfällig durch einen Vergleich von Sonett XXX mit Bembos »Sogno, che dolcemente m'hai furato« zeigen, zu dem eindeutig markierte intertextuelle Bezüge bestehen, die im Hypertext freilich in eine gänzlich andere Aussageintention >eingepaßt< werden - , auch außerhalb der Traumsonette findet sich eine Thematisierung des sinnlichen Verlangens, die im >orthodoxen< Petrarkismus nicht vorstellbar ist. Paradigmatisch in diesem Zusammenhang ist das Sonett XLIV: Ores l'effroy & ores l'esperance, De (ja de lä se campent en mon cuoeur Or l'une vainq, ores l'autre est vainqueur, Pareilz en force & en perseverance. Ores doubteux, ores plain d'asseurance, Entre l'espoyr & le froyd de la peur, Heureusement de moy mesme trompeur, Au cuoeur captif je prometz delivrance. Verray-je point avant mourir le temps, Que je tondray la fleur de son printemps, Soubz qui ma vie ä l'ombrage demeure? Verray-je point qu'en ses bras enlassi, De trop combatre honnestement lasse, Honnestement entre ses bras je meure?83
In den Oktaven und Terzetten werden jeweils unterschiedliche Systemreferenzen realisiert, die zudem durch intertextuelle Bezüge markiert sind. Während es sich in den Oktaven weniger um eindeutig fixierbare und fixierte Bezüge auf Einzeltexte handelt, sondern vielmehr ein Gedichttyp Petrarcas und der Petrarkisten durchgespielt wird, nämlich das Antithesensonett als idealtypischer Realisationsmodus der contrari affetti,M verweisen die Terzette durch nunmehr eindeutige intertextuelle Bezüge zu Ovid und Properz auf den erotischen Diskurs der römischen Elegie, 85 den sie nicht nur indizieren, sondern in der expliziten Thematisierung der sexuellen Vereinigung unmißverständlich aktualisieren. Das spezifische Interesse dieses Textes ist nun darin begründet, daß Quartette und Terzette und damit die beiden unterschiedlichen erotischen Diskurse so aufeinander bezogen werden, daß die Begründung für die contrari affetti das Streben nach sinnlicher Erfüllung ist, d. h. die Hoffnung und damit auch das Leiden an der Liebe erhalten 83 84
85
Ebd., S. 29. Vgl. etwa aus dem Canzoniere Petrarcas die Sonette CXXXII-CXXXIV oder CLXXVIII und die Nachahmungen von »Pace non trovo« in Keller 1974, S. 350ff. Vgl. die Angaben in Ronsard 1963, S. 524.
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bei Ronsard eine ganz konkrete inhaltliche Füllung, die sich bei Petrarca nicht nur nicht findet, sondern die der Offenheit der Zielsetzung der petrarkischen speranza grundsätzlich entgegensteht. 86 Wird diese bei Petrarca - gleichermaßen wie bei Bembo - in den abschließenden Reuegedichten christlich refunktionalisiert und als einzige wirkliche Hoffnung des Menschen die Hoffnung in Gott ausgewiesen - »Tu sai ben che 'n altrui non ö speranza«-, 87 so verzichten die Amours de Cassandre in ihrer ursprünglichen Fassung völlig auf einen wie auch immer motivierten Reuegedanken, den Bembo in den Asolani explizit als notwendige Konsequenz und einzig mögliche Beendigung des Leidens an der Liebe darstellt 88 und der ja auch, wie wir gesehen haben, in Du Beilays Olive thematisch wird. Ronsard verzichtet nun bereits in seinem »Voeu« betitelten Einleitungsgedicht auf jegliche Distanzierung von der im folgenden vermittelten >Liebesgeschichteorthodox< petrarkistischen Sammlungen. In Sonett CCXVIII gibt die Geliebte dem Sprecher - völlig unpetrarkistisch (»qu'en vain je ne languisse«) - ein Zeichen ihrer Gegenliebe: Hier au soir me dit, que je tondisse D e son poil d'or un lien amoureus (V.
Ii.),90
ein Motiv, das aus der Anthologia greca übernommen ist, 91 während der nächste Text ein nunmehr völlig überraschendes Gelübde an die Heureuse, saincte & alme Libert^ 92
86
87
88 89
90 91 92
Wie Regn 1987 gezeigt hat, kommt es in der Petrarca-Exegese des Cinquecento zu einer Diskussion um die Natur der petrarkischen Liebe, die in der Regel für den amore onesto entschieden wird, doch gibt es auch einzelne Gegenstimmen, die solchermaßen auch für einen genuin petrarkistischen Kontext die Möglichkeit stärkerer Sensualisierung eröffnen. Daß andererseits für Ronsard selbst wie für das generelle Canzoniere- Verständnis in Frankreich um 1550 eine >spiritualisierte< Liebesauffassung anzusetzen ist, läßt sich aus programmatischen Texten wie Ronsards Eligie ä son livre oder Du Beilays Contre les Petrarquistes ableiten. Vgl. hierzu Hempfer 1987b. Canzoniere CCCLXV, 14 in Petrarca 5 1974, S. 454. Bei Bembo heißt es: e si'l mio cor del tuo desio riempi, che quella, che 'n te sempre ebbi, speranza, quantunque peccator, non sia di vetro. Rime CLXIV, 12-14, zit. nach Bembo 1978, S. 648. Vgl. Bembo 1978, S. 359f. (I, 25). Ronsards »Voeu« ist im wesentlichen eine amplificatio von Bembos Rime I, 5 - 8 . Vgl. Bembo 1978, S. 507 und Ronsard 1963, S. 3. Ronsard 1963, S. 138. Vgl. ebd., S. 579 (Anm. 1 zu Sonett CLXXIX). Ebd., S. 139.
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beinhaltet, ihr einen Tempel zu errichten, wenn der Sprecher endlich von seiner Liebe befreit sei. Dieser Wunsch nach Befreiung von der Liebe, der in seiner Gelübdeform Tibull aufnimmt,93 steht nun nicht allein in Opposition zum vorausgehenden Sonett, sondern zugleich zum Sonett CXXV, wo der Sprecher seiner Geliebten einen »temple« errichten möchte, um auf dessen Altar seine Seele als Opfergabe darzubringen und solchermaßen der Geliebten auf ewig verbunden zu bleiben.94 Nach den diskrepanten Aussagen der Sonette CCXVIII und CCXIX, die sich gleichwohl beide auf unterschiedliche Motive des antiken erotischen Diskurses zurückführen lassen, der seinerseits Diskrepanzen zu anderen Komponenten der Sammlung insgesamt konstituiert, hebt das vorletzte Sonett die sammlungskonstitutive Schmerzliebe durch die Refunktionalisierung charakteristischer Prinzipien des petrarkistischen Diskurses unmittelbar auf: Veu la douleur qui doulcement me lime, Et qui me suit compaigne, paz ä paz Je congnoy bien qu'encor' je ne suis pas, Pour trop aymer, ä la fin de ma ryme. Dame, l'ardeur qui de chanter m'anime, Et qui me rend en ce labeur moins las, C'est que je voy qu'aggreable tu l'as, Et que je den de tes pensers la cyme. Je suis vrayment heureux & plusque heureux, De vivre aym6 & de vivre amoureux De la beaultö d'une Dame si belle: Qui lit mes vers, qui en fait jugement, Et qui me donne ä toute heure argument De souspirer heureusement pour elle. 95
Der Reim von »lime« auf »cyme« bildet einen syntaktischen Intertextualitätsbezug auf Petrarca, der das Substantiv lima auf cima reimt und diese Begriffe auch wiederholt metaphorisch verwendet.953 Bleibt dabei der erste Vers durchaus im Rahmen von bei Petrarca Vorfindlichem, wenn mit der //ma-Metaphorik die Wirkungen Amors zum Ausdruck gebracht werden, so entfernt sich das zweite Quartett trotz des intertextuellen Bezugs grundsätzlich von Petrarca. Während bei Petrarca Amor oder die Geliebte den Inbegriff des Lebens und Denkens des Sprechers ausmachen, ist bei Ronsard in direkter Umkehrung einer PetrarcaStelle der Sprecher der »cyme« der Gedanken der Geliebten.96 Solchermaßen wird nicht nur in eindeutig intertextuellem Bezug zu Petrarca eine völlig unpetrarkische Reziprozität der Liebe dargestellt, sondern es wird zugleich ein gänzlich 93 94 95 95a
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Vgl. die Anm. 2 des Hgs. ebd., S. 597. Ebd., S. 78f. Vgl. die Anm. 2 des Hgs. ebd., S. 597. Ebd., S. 139f. Vgl. etwa Canz. LXV, 4/5 und CCXCIII, 6/7. Zum metaphorischen Gebrauch von lima (re) und cima vgl. ferner LXXIII, 5,9; CXXXV, 10; CLXXXII, 13 u.ö. Zu einem analogen Gebrauch von limare bei Ariost vgl. Orlando Furioso I, 2, 6. Bei Petrarca heißt es: »Morta colei che mi facea parlare, / e che si stava de' pensier' miei in cima« (CCXCIII, 5/6).
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anderer Zusammenhang von Liebe und Dichtung thematisch. Während Petrarca in Canzoniere CCXVIII zum Ausdruck bringt, daß er nach dem Tode Lauras keine »si dolce lima« mehr habe, um »rime aspre e fosche far suavi e chiari« (V. 7/ 8), und in Canzoniere CCXXXIX beklagt, daß Laura »non euro giä mai rime ne versi« (V. 12), ist bei Ronsard die Dame der Antrieb zu weiterem Dichten. Schließlich wird in den Terzetten im Unterschied zum petrarkistischen Liebesleid ein Liebesglück thematisch, das auch dem abschließenden, als solchem durchaus petrarkistischen Oxymoron »souspirer heureusement« eine gänzlich andere Bedeutung verleiht. Damit ist dieses Sonett nicht nur ein weiterer Beleg dafür, wie intertextuelle Bezüge in ihrer systemindizierenden und nicht notwendig systemaktualisierenden Funktion von der Relation System vs. Aktualisierung zu unterscheiden sind, sondern es belegt zugleich die Tatsache, daß gerade durch die systemindizierende Funktion die wesentliche Veränderung des solchermaßen indizierten Systems >markiert< wird und erst hierdurch Strukturwandelphänomene erfaßbar werden. Wenn Ronsard im vorletzten Text der Amours de Cassandre das Liebesglück in der Reziprozität der Liebe thematisiert und damit Sonett CCXVIII weiterführt, transzendiert er in entscheidendem Maße das nicht nur bei Petrarca, sondern das in >orthodox< petrarkistischen Sammlungen generell Übliche, doch ist dies nicht sein letztes Wort: Im Schlußsonett kommt er in den beiden Eingangsversen auf die petrarkistischen contrari ajfetti zurück, die in direkter Opposition zu den V. 9/10 des vorausgehenden Textes stehen: J'alloy roullant ces larmes de mes yeulx, Or plein de doubte, ores plein d'esperance,
um im Anschluß hieran ein Enkomium auf Heinrich II. anzubringen und das Gedicht in Analogie zum Eröffnungstext mit einem Musenanruf und der Bitte um Unsterblichkeit für den poetischen »souspir« (V. 12) zu schließen. Ergibt sich solchermaßen zwar eine metapoetische Kohärenz der Gesamtsammlung im Ruhmesgedanken, so ist es andererseits doch nurmehr als explizite Thematisierung der Pluralität von Liebesdiskursen zu begreifen, wenn nach der Thematisierung des Liebesglücks der >Rückfall< in die petrarkistischen contrari affetti erfolgt, der als Voraussetzung ja gerade die Nichterfülltheit der Liebe oder zumindest die Fraglichkeit einer potentiellen Reziprozität hat. Dieser >Rückfall< wäre natürlich weniger signifikant, würde nicht auch das drittletzte Sonett mit dem Verlangen nach der Befreiung von der Liebe eine Haltung thematisieren, die nicht mit dem Entgegenkommen der Dame, wie es in Sonett CCXVIII und CCXX beschrieben wurde, zu vereinbaren ist. In den Ausgaben von 1560 bis 1578 schließt die CassandreSammlung mit einer »Elegie«, die 1584 in die Amours Diverses verlagert wird und in der posthumen Ausgabe von 1587 ganz entfällt, einer Ausgabe, die statt dessen durch eine entscheidende Variante des ursprünglichen Schlußsonetts die Bezogenheit der Sammlung auf Petrarca97 und damit deren petrarkistischen Charakter 97
»Si autrefois m'avez permis de boire / L'eau dont Amour a Petrarque abreuve« (V. 11/ 12).
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betont. 98 Während Ronsard ab 1578 versucht, den einzelnen Sammlungen bzw. Büchern einen einheitlicheren Ton zu g e b e n , " wobei allerdings Diskrepanzen der Schlußsonette der Cassandre-Sammhing erhalten blieben, verfolgte er ursprünglich ein ganz anderes Ziel, wie insbesondere der Abschluß des ersten Buches der Amours ab 1560 deutlich machen kann. Allein schon durch die Gattungswahl distanziert sich Ronsard vom petrarkistischen Diskurs, und diese Distanznahme wird histoire-immanent in den Eingangsversen explizit formuliert: Cherche, Cassandre, un poete nouveau Qui apres moy se rompe le cerveau A te chanter: il aura bien affaire Fusse un Bayf, s'il peut aussi bien faire. (V. 1-4) 1 0 0
Diese >frivole< Absage an die Geliebte, die im Eingangsvers, kontextuell freilich grundsätzlich modifiziert, den Beginn von Ovids Epilog zu seiner Liebesdichtung aufnimmt (Amores III, 15), ist im genuin petrarkistischen Kontext aufgrund der ganz anderen Relation von Sprecher und Dame genauso unvorstellbar wie die im folgenden gegebene Begründung für diese Absage: Or, pour t'avoir consacrd mes escris Je n'ay gaign£ sinon des cheveus gris, La ride au front, la tristesse en la face, Sans miriter un seul bien de ta grace. (V. 13-16)
Diese Verse stehen nun einerseits hinsichtlich der konkreten Aussagen in offenkundigem Widerspruch zum Sonett CCXVIII und CCXX, nehmen aber eine Haltung des Sprechers auf, wie sie in Sonett CCXIX thematisch wurde, wobei allen vier Texten der grundlegende Bezug auf den antiken erotischen Diskurs gemeinsam ist. Andererseits wiederholt die »Elegie« eine Struktur, die bereits Sonett CCXX charakterisierte, nämlich die Palinodie auf den Petrarkismus mittels refunktionalisierter intertextueller Bezüge zu Petrarca: Ceux qui amour cognoissent par espreuve Lisant le mal dans lequel je me treuve, Ne pardon'ront ä ma simple amytii Tant seulement, mais en auront ρύίέ. Or, quand ä moy, je pense avoir perdue En te servant ma jeunesse, espendue De?a, delä dedans ce livre icy. Je voy ma faulte & la prens ä mercy, Comme celuy qui sfait que nostre vie N'est rien que vent, que songe, & que folye. (V. 27-36)
Die Verse 27 bis 30 sind nahezu eine Paraphrase des zweiten Quartetts des Einleitungsgedichts Petrarcas und die beiden letzten Verse schließen unmittelbar an das Schlußterzett Petrarcas an: 98
Vgl. den textkritischen Apparat in Ronsard 1963, S. 140. Vgl. hierzu Weber in Ronsard 1963, S. LX. Das Streben nach größerer Einheitlichkeit zumindest der beiden Amours-Bücher dürfte u. a. auch ein Grund dafür sein, daß die Sonnets pour ΗέΙέηε 1578 >nur< in die Amours Diverses aufgenommen wurden. 100 Ronsard 1963, S. 276.
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e del mio vaneggiar vergogna e Ί frutto, e Ί pentersi, e Ί conoscer chiaramente che quanto piace al mondo t breve sogno.101 Nimmt Ronsards »Elegie« also das zunächst ausgesparte pentimento petrarkistischer canzonieri auf, so ist die Begründung für die >Reue< offensichtlich eine fundamental andere: Es geht nicht um eine Absage an die Liebe, weil diese, wie alles Irdische, nur ein >kurzer Traum< ist, sondern die Vergänglichkeit des Irdischen wird zum Argument, dieses voll zu genießen, so daß eine unerwiderte petrarkistische - Liebe zur >verlorenen Zeit< wird. Während also canzonieri wie diejenigen Petrarcas, Bembos und, in modifzierter Weise, auch noch D u Beilays damit beginnen und enden, daß der Sprecher die Liebe bereut, gilt bei Ronsard die Reue der Vergeblichkeit der Liebe. Der »Elegie« kommt nun freilich zugleich ein metapoetischer Charakter zu, denn gerade dadurch, daß die Distanzierung von einer Liebe, die nichts >einbringterweichen< lassen, und wenn dieser Verzicht zugleich als Kontrafaktur des petrarkistischen Diskurses formuliert ist, dann präsupponiert dies ein Verständnis von Petrarkismus, zu dem die Unerreichbarkeit der D a m e und damit die Unmöglichkeit der Liebeserfüllung als conditio sine qua non gehört, eine Auffassung, die an anderen Stellen explizit thematisch wird. 1 0 2 Zusammenfassend läßt sich demnach festhalten, daß die Amours de Cassandre als Sammlung eben jene Strukturmerkmale des erotischen Diskurses aufweisen, die die Einzelgedichte und deren Verhältnis zueinander in der Lyrik Ariosts charakterisierte: N e b e n punktuell diskrepanten Aussagen findet sich eine Pluralität verschiedener Diskurstypen, die nicht miteinander >vermitteltneue< Begründung liefert, sondern er strukturiert den Schluß seines recueil so, daß die semantischen Diskrepanzen die Aktualisierung unterschiedlicher Diskurstypen evident machen. Schließlich fügt er 1560 einen Text an, der mit intertextuellen Bezügen auf Petrarca die Absage an petrarkistisches Dichten zum Ausdruck bringt. Die Pluralisierung des erotischen Diskurses reicht in dieser Sammlung somit von der paradigmatischen Aktualisierung konstitutiver Strukturen des Petrarkismus über den hedonistischen Diskurs antiker Erotik bis zum expliziten Antipetrarkismus, wobei ich die punktuelle Übernahme platonistischer Komponenten noch ausgespart habe. 105 Im Unterschied zu Bembo, der die Pluralität erotischer Diskurse zu vermitteln suchte, werden diese bei Ronsard nicht erst in den Sonnets pour Helene ganz explizit durchgespielt und gegeneinander montiert, so daß die Pluralität und prinzipielle Verfügbarkeit unterschiedlicher erotischer Diskurse selbst zum Thema wird. 103
Vgl. oben Anm. 86. Vgl. hierzu die Belege in Huguet 1925-67. los v g i . hierzu die Sonette LXXV, CLXVII oder CCI sowie die knappen Ausführungen von Weber in Ronsard 1963, S. XI. 104
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4. Epistemologischer Wandel als Erklärung des Strukturwandels Diese Pluralisierung des erotischen Diskurses in der Renaissancelyrik ist nun keineswegs ein isoliertes Phänomen, sondern nur spezifische Realisation einer generellen Tendenz, die sich auch in anderen Diskurstypen wie dem Epos oder dem literaturtheoretischen Diskurs nachweisen läßt, wobei sich diese Pluralisierung natürlich auf ganz unterschiedlichen Ebenen manifestieren und etwa soweit getrieben werden kann, daß in ein und demselben Text zueinander im Widerspruch stehende Aussagen möglich werden. 106 In Hempfer (1987a) habe ich diese Spezifik des Renaissancediskurses auf einen grundsätzlichen epistemologischen Wandel zurückgeführt, der sich als Relativierung des Wahrheitsbegriffs bestimmen läßt, eine Relativierung, die zeitgenössisch - etwa in Castigliones Libro del Cortegiano (1528) - auch explizit formuliert und mit der »varietä de' giudizi« begründet wird.107 Unter der Bedingung, daß sich der Strukturwandel in der Lyrik als spezieller Fall einer generellen Pluralisierungstendenz der Diskurse in der Renaissance-Literatur (im weiteren Sinne) ausweisen läßt, kann der angeführte epistemologische Wandel als Erklärung des beschriebenen Strukturwandels fungieren, wobei freilich eine Regelmäßigkeitsannahme zumindest statistischen Charakters108 etwa der folgenden Art vorausgesetzt ist: epistemologischer Wandel bedingt
(in der Regel) Diskurswandel. Diese Annahme mag trivial erscheinen, sie steht jedoch in Konkurrenz zum fundierenden Axiom traditioneller Literatursoziologie, wonach der ökonomische Wandel die Letztbegründungsinstanz für jede Form des Wandels darstellt: Die Schlagwörter vom »aufsteigenden Bürgertum« oder vom »funktionslos werdenden Adel«, mit denen man von der Entstehung der Novelle über die Struktur des Renaissance-romanzo, den bürgerlichen Roman und die Aufklärung insgesamt bis hin zur Lyrik Baudelaires alles - und nichts - »erklären« zu können glaubte, sind hinlänglich bekannt, aber trotz der offenkundigen Aporie, in die dieses Erklärungsschema geraten ist, 109 nach wie vor im Schwange. Wenn »Literatursoziologie« eine Zukunft haben soll, ist das Basis-Überbau-Schema nicht nur zu >liberalisieren< - was, wie Eibl gezeigt hat, nur eine Immunisierungsstrategie darstellt, um das Modell gegen falsifizierende Erfahrung zu halten-, 1 1 0 sondern grundsätzlich dahingehend aufzugeben, daß von keiner notwendigen, sondern von einer histo-
106
Zur »Diskrepanzstruktur« des romanzo am Beispiel des Orlando Furioso vgl. Hempfer 1983, insb. S. 19ff.; zu unterschiedlichen Normensystemen im literarischen Diskurs vgl. Weinberg 1961/1974, passim und Hempfer 1987, passim, wo ein expliziter Zusammenhang zur epistemologischen Problematik hergestellt wird. 107 Vgl. die Skizze in Hempfer 1987a, S. 96ff. 108 Zur logischen Struktur des Erklärungsbegriffs vgl. Stegmüller 1969, S. 72ff. (allgemein) und S. 335ff. (zu historischen Erklärungen). 109 Zur wissenschaftstheoretischen Selbstverständlichkeit, daß »Gesetze und Antecedensbedingungen nicht ein Explanans für jedes beliebige Explanandum bilden dürfen« vgl. Stegmüller 1969, S. 89. 110 Vgl. Eibl 1976, S. 16ff., insb. S. 19.
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risch variablen Relation zwischen den einzelnen sozio-kulturellen Teilsystemen ausgegangen wird, die dementsprechend für das jeweilige epochale System nicht apriorisch zu postulieren, sondern nur empirisch zu eruieren ist. Dabei ergeben sich bereits aus der Verschiebung der jeweiligen Relationen von Teilsystemen vielfältige Faktoren für Strukturwandelerscheinungen. Daß eine fundamentale, umfassende und nicht auf einzelne Diskurstypen bezogene Restrukturierung des Systems der Diskurse aufgrund einer sich verändernden epistemologischen Konfiguration statthat, ist die zentrale Präsupposition des Foucaultschen Ansatzes, denn nur dann, wenn sich eine Veränderung der episteme in veränderten Strukturen des Diskurssystems manifestiert, kann eine Diskursanalyse die impliziten epistemologischen Voraussetzungen sichtbar machen. Eine solch >stillschweigende Voraussetzung< leuchtet ein, sie wirft gleichwohl eine Mehrzahl theoretischer und methodologischer Probleme auf, die bisher nicht gelöst sind. So stellt sich etwa die Frage nach dem Abstraktions- und Generalisierungsgrad, den die Diskursanalyse erreichen muß, damit sie wirklich generelle epistemologische Voraussetzungen des Diskurssystems erfaßt. So scheint mir etwa das aus bestimmten Diskursen abgeleitete Ähnlichkeitsprinzip, womit Foucault die Spezifität der Renaissanceepisteme zu bestimmen sucht, 111 für diese Epoche nichtspezifisch, sondern dürfte wohl eher als ein >Relikt< mittelalterlichen Denkens, der analogia entis, zu begreifen sein. Ungelöst ist bei Foucault ferner das Problem, wie denn der Wandel epistemologischer Konfigurationen zu erklären sei, denn wenn man den Wandel von Diskursstrukturen hiermit erklären kann, bleibt natürlich der epistemologische Wandel selbst erklärungsbedürftig. Speziell für die Herausbildung der Renaissanceepisteme und nur für diese habe ich gleichfalls in Hempfer (1987a) eine Erklärungsmöglichkeit angedeutet, die sowohl auf bestimmte, dem Wissenssystem immanente Gegebenheiten wie systemexterne Faktoren rekurriert. Während die sich in der Spätscholastik herausbildende Lehre von der zweifachen Wahrheit eine > Krise < des spätmittelalterlichen Wissenssystems markiert, das geoffenbarte Wahrheit und natürliche Erkenntnis nicht mehr zu vermitteln vermag, so führt andererseits die durch die humanistische Bewegung seit Ende des 14. Jahrhunderts geleistete Wiederentdeckung einer Vielzahl antiker Texte zugleich zu einer enormen Vermehrung des Wißbaren. Die reine Vermehrung des Wissensfundus wäre nun vielleicht folgenlos geblieben, wäre diese nicht gebunden an ein Erkenntnisprinzip, das die Konstitution von Erkenntnis nicht an eine wie auch immer näher zu bestimmende Beobachtung von Wirklichkeit koppelt, sondern an die Auslegung autoritativer Texte. Insofern die antiken Autoren im Humanismus als normbildende Autoritäten für das Sag- und Denkbare überhaupt galten, mußte eine Pluralisierung der Autoren und Werke zu einer Pluralisierung der Autoritäten führen. Da die Antike nun aber alles andere als ein homogener >Block< ist, kommt es notwendig zu einer Vielzahl unterschiedlicher Auffassungen und Diskurse, die sich alle autoritativ begründen lassen. Speziell für
111
Vgl. Foucault 1966, S. 32ff.
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die Dichtung in der Volkssprache kompliziert sich das Problem dadurch, daß auch bestimmte heimische Autoren als autoritativ und damit als nachahmenswert gelten konnten - wie etwa Petrarca für die Lyrik so daß ein zusätzliches Pluralisierungspotential entstand, das nicht nur die Vertretung gänzlich unterschiedlicher Auffassungen, sondern auch die Praxis nicht aufeinander rückführbarer Diskurse ermöglichte. Diese Pluralität kann >überspielt< werden, indem Unterschiedliches zu >versöhnen< versucht wird, sie kann aber auch >ausgespielt< werden und macht solchermaßen in der Struktur der Diskurse die Relativierung des Wahrheitsbegriffs als fundierende epistemologische Konfiguration explizit.
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Schicksale des fahrenden Ritters Torquato Tasso und der Strukturwandel der Versepik in der italienischen Spätrenaissance
Unter dem gewollt paradox anmutenden Titel von der Verwilderung des Romans als Ursprung seiner Möglichkeiten hat Karlheinz Stierle vor nicht allzu langer Zeit einen gattungsgeschichtlichen Abriß der italienischen Ritterepik der Renaissance gegeben, und zwar von ihren französischen Antezedenzien bis hin zu ihrem ereignisgeschichtlichen Höhepunkt, dem Rasenden Roland des Ariost. Ermöglichungsgrund der Gattung ist für Stierle der Strukturwandel, der >chanson de geste< und >roman courtois< nach ihrer Blütezeit ergriff. Diese ehedem klar geschiedenen und zum Teil auch deutlich oppositiv strukturierten Gattungen begannen sich nämlich bereits im französischen Mittelalter immer nachhaltiger gegenseitig zu durchmischen. Was sich unter Rückblick auf die vorausgegangenen Gipfel werke der >chanson de geste< und des >roman courtois< als Verwilderung und somit als ein Negativum darstellen muß, das zeigt sich in der Vorausschau auf die Zukunft als etwas Positives. Diese Durchmischung wurde nämlich mit der Transposition der beiden Gattungen nach Italien getragen und weiter vorangetrieben, mit dem Ergebnis der Konstitution einer eigenständigen Gattung, des italienischen >romanzo cavalleresco in ottava rimaromanzo cavalleresco< der italienischen Renaissance wird beschreibbar als beständige Vermehrung einer narrativen Komplexität, die der Gattung von Anfang an als ihr inneres Organisationsprinzip vorgegeben war, und die im Orlando furioso zu ihrer vollen Entfaltung findet. 1 Stierles Ausführungen zu Entstehung und Werdegang des italienischen >romanzo cavalleresco < bis hin zu Ariost sind in ihrer Klarheit und Konzentration auf das Wesentliche eine gelungene literarhistorische Fallstudie. Darüberhinaus können sie aber - ohne daß Stierle dies eigens thematisierte - als eine nachgerade
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Stierle 1980, S. 253-313. Zur Poetik der Heterogenität im >romanzo cavalleresco< vgl. auch Hempfer 1983, S. 21.
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exemplarische Bestätigung einer Annahme gelesen werden, die bereits in der formalistischen Evolutionstheorie von zentralem Belang war, und die dann im Zug der Rezeption dieser Theorie weitere Resonanz fand: die Annahme, daß Konstitution und Verlauf von Gattungen sich in strukturgeschichtlicher Hinsicht schrittweise und kontinuierlich vollzögen.2 Eine solche einseitige Betonung des Momentes der Kontinuität wird freilich nicht überall vorgenommen. In einigen der neueren Arbeiten, die die formalistische Grundkonzeption aufgreifen, wird nämlich durchaus auch der Versuch gemacht, dem Evolutionsmodell neben der Komponente der Kontinuität auch diejenige der Diskontinuität einzuschreiben und so den unerwarteten, plötzlichen und tiefgreifenden Wandel als eine grundsätzliche Möglichkeit der Gattungsentwicklung in Rechnung zu stellen. 3 Wie angebracht eine solche Differenzierung ist, das zeigt sich bereits, wenn man die Untersuchung der italienischen Versepik über den von Stierle abgedeckten Zeitraum hinaus vorantreibt. Für die Versepik nach Ariost ist der vorhergegangene >romanzo cavalleresco< weiterhin durchwegs als relevanter Bezugspunkt von Belang. In den literarhistorisch besonders bedeutsamen Bereichen dieser Versepik artikuliert sich diese Bezugnahme auf den überkommenen >romanzo cavalleresco< allerdings nicht unter dem Signum der Kontinuität. Sie artikuliert sich vielmehr unter dem Zeichen der absichtsvoll inszenierten Umkehr, des Bruches, der Diskontinuität.
I Für die Ritterepik des Cinquecento war bis in die vierziger Jahre hinein Ariost die alles beherrschende Orientierungsinstanz. Dies gilt in doppelter Hinsicht. Es gilt zunächst einmal für den produktionsästhetischen Bereich. Vor Ariost kam es nur gelegentlich zur >Literarisierung< der >romanzi di cavalleriaKonsumware< ohne literarästhetischen Anspruch waren. Bereits im Gefolge der ersten, mehr aber noch im Gefolge der zweiten und dritten Fassung des Orlando furioso verstärkte sich die Tendenz, den bis dahin häufig anonym verfaßten >romanzo cavalleresco< auf breiter Basis zu einer >Autorenliteratur< zu machen und die ihm unterliegende Poetik der Heterogenität vom Odium der Verwilderung, des Ungeschlachten zu befreien; und bei diesen Bestrebungen fun2
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Zu >Kontinuität< als dominantem Faktor in den Evolutionsmodellen formalistischer Provenienz vgl. insb. Titzmann 1980, S. 266. Stierles Ausführungen zum >romanzo< sind übrigens auch ein überzeugender Beleg dafür, daß die für die formalistische Evolutionstheorie so zentralen Verfahren der >Entautomatisierung< dem Kontinuitätskonzept in idealtypischer Weise verrechenbar sein können. In diese Richtung weisen etwa die Ausführungen von Jauß 1973, bes. S. 118-136. Die Berücksichtigung des Momentes der Diskontinuität innerhalb der Modelle literarischen Strukturwandels mahnt besonders nachdrücklich Titzmann 1980, S. 266, an; er tut dies allerdings auf der Basis eines Theorieentwurfes, der bereits ganz entschieden jenseits der formalistisch geprägten Evolutionsmodelle liegt.
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gierte der Orlando furioso gleichsam als eine >koine narrativaromanzoromanzo< geführt wurde, da geschah dies in der Regel mit Blick auf Ariost. Dies ist nicht zuletzt hinsichtlich des Strukturwandels von Belang, der die Gattung um die Mitte des 16. Jahrhunderts erfaßte, und dem in der Folge unser Interesse gelten soll: Dieser Wandel hat nämlich sowohl unter dem Aspekt seiner produktionsästhetischen Inszenierung wie auch unter dem Gesichtspunkt seiner rezeptionsästhetischen Registrierung in Ariost seinen obligatorischen Bezugspunkt;5 er kann mit anderen Worten historisch adäquat beschrieben werden, wenn man Ariost als Kontrastmodell ins Auge faßt. Was nun die Poetik der Heterogenität und der Pluralisierung betrifft, die den >romanzo cavalleresco< im allgemeinen und den Orlando furioso im besonderen bestimmt, so genügt es, diejenigen Aspekte herauszugreifen, die für die Problematik des Strukturwandels von ausschlaggebender Wichtigkeit sind. Angelpunkt der Poetik der Heterogenität und Pluralisierung ist die für den >romanzo cavalleresco< charakteristische Heldenkonzeption. An der Heldenkonzeption läßt sich nämlich das, was Stierle als den elementaren gattungskonstitutiven Faktor des >romanzo cavalleresco< herausgearbeitet hat, am deutlichsten ablesen: der hybride Zusammenschluß von >chanson de geste< und >roman courtoisromanzo cavalleresco< bringen zum einen ein Rollenverhalten ins Spiel, das man aus der >chanson de geste< kennt: ein Rollenverhalten, welches einen Protagonisten als Träger einer Gemeinschaftsaufgabe von nationaler oder gar von weltgeschichtlicher Bedeutung voraussetzt, wie dies etwa beim Krieg der Christen gegen die Heiden unter Karl dem Großen der Fall ist. Zum anderen aber treten die Helden des >romanzo cavalleresco< immer wieder auch in die Rolle des >cavalier errante< ein, des fahrenden Ritters, der ersichtlich der Tradition des >roman courtois< entstammt. Und das Verhalten dieses fahrenden Ritters wiederum ist gerade nicht kollektiv, sondern ganz im Gegenteil selbstbezüglich orientiert. Selbstbezüglich ist das Handeln des >cavalier errante< dabei insofern, als seine Suche nach Aventüren zuallererst im Dienste der Konstitution bzw. der Sicherung seines individuellen ritterlichen Wertes steht. Zum Tragen bringt dieses selbstbezügliche Handeln unter anderem die Themenbereiche der >cortesiakoine narrativa< vgl. Beer 1988. Vgl. dazu die einschlägigen Abhandlungen von Weinberg 1961, S. 954-1073, und Hempfer 1987, S. 58-117.
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tiv agierenden Helden der idealtypischen >chanson de geste< wiederum ohne zentrale Bedeutung sind. 6 Welch vielfältige Möglichkeiten dieser Zusammenschluß der eigentlich gegensätzlichen Heldenrollen in sich birgt, kann und braucht hier nicht im einzelnen ausgeführt zu werden. Der Erwähnung bedarf lediglich ein Aspekt, der vor allem bei den >Literarisierungsbestrebungen< der >romanzi di cavalleria< zur Wirksamkeit kommt. Die Interferenzen, die aus der Verklammerung der oppositiven Heldenrollen resultieren, werden vorzüglich mit Blick auf deren wechselseitige, bewußte Ironisierung ausgestaltet. Es ist dies freilich eine Ironisierung, die nie durchgängig beibehalten wird, sondern die in gewollter Partialität verharrt.7 Diese Tendenz zu einer Ironisierung, die in absichtsvoller Partialität verbleibt, beinhaltet schon einen signalhaften Hinweis auf eine weitere Dimension, die der Poetik der Heterogenität und Pluralisierung zugehört. Die Rede ist von der Dimension der Stilmischung. Ein wesentliches Merkmal des >romanzo cavallerescokoine narrativa< hervorgetrieben erscheint, ist der pointierte Wechsel der Stilregister, und zwar vor allem der Wechsel von Komik und Ernst, von Niederem und Hohem, von Kreatürlichem und Sublimem. Korrelat des Zusammenschlusses der in ihrem Kern gänzlich verschiedenen Heldenrollen ist nun nicht nur die eben angesprochene Verschränkung heterogener Stillagen. In funktionalen Bezug zu diesem Zusammenschluß tritt vielmehr auch die ausgeprägte Vielfalt von ineinander verflochtenen Handlungssträngen, die für die Handlungsstruktur der >romanzi di cavalleria< typisch ist, und die mit einer pointierten Pluralisierung der handelnden Personen einhergeht. Das labyrinthische Handlungsgeflecht gewinnt nämlich unter anderem auch emblematischen Wert: Es wird zum Zeichen für die Verstrickungen, die die Interferenz konträrer Handlungsrollen für die Protagonisten nach sich zieht. Die solcherart beschaffene Poetik der Heterogenität und Pluralisierung blieb bis fast zur Mitte des 16. Jahrhunderts weitgehend inkontestiert und stabil. Gegen Ende der vierziger Jahre kam es dann freilich sehr abrupt zu bewußt angestrebten und von der intendierten Leserschaft ebenso bewußt wahrgenommenen Veränderungen, die eine einschneidende Reorganisation des gesamten Systems der Versepik nach sich zogen. Die Position, die bis dahin der der Poetik der Heterogenität verpflichtete >romanzo< innehatte, und die innerhalb des Systems der Versepik die absolute Dominante darstellte, wurde ab diesem Zeitpunkt nämlich gleich mehrfach besetzt. Von besonderer Relevanz sind dabei drei Gruppen von Texten. Eine erste Gruppe besteht aus Werken, die die überkommene >romanzochanson de geste< und >roman courtois< vgl. insbes. Jauß 1962 und Jauß 1972, S. 114-118. Vgl. dazu Stierle 1980, S. 288f. Vgl. dazu Beer 1987, S. 141-206. Aus den vorbildlichen bibliographischen Erhebungen von Beer erhellt, daß es sich dabei um eine zahlenmäßig sehr umfangreiche Gruppe von Werken handelt.
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von Werken bilden Versepen, die ebenfalls einen deutlichen Anschluß an den tradierten >romanzo< herzustellen trachten. Sie gestalten diesen Rekurs indes in gezielt selektiver Weise und auf der Grundlage einer tiefgreifenden Umformung der narrativen Strukturen, denen die Poetik der Heterogenität ihr spezifisches Gepräge verdankte. Trotz offenkundiger Filiationen zum alten >romanzo< konstituiert sich also ein eigenständiger Gattungsstrang, den man als den Strang des regularisierten, des reformierten >romanzo< bezeichnen könnte. Programmatisch inauguriert wird dieser neue Strang der italienischen Ritterepik von Luigi Alamannis 1548 veröffentlichtem Girone il Cortese.9 Eine dritte Gruppe von Texten machen schließlich jene Werke aus, die sich noch weit demonstrativer als der reformierte >romanzo< vom >romanzo< alten Typs abgrenzen wollen. Diese Texte waren von ihrem poetologischen Programm her als Negation der Gattung des >romanzo< insgesamt angelegt, und zwar sowohl des tradierten wie des reformierten >romanzoromanzo< dann aber doch nicht ohne den Rekurs auf das Negierte auszukommen war - was wiederum eine verschlungene und keineswegs kontinuierlich ablaufende Gattungsentwicklung bewirkte - , das wird nachfolgend noch zu erörtern sein. Dieser Gattungszweig innerhalb der Versepik, für dessen Benennung sich der im 16. Jahrhundert geläufige Begriff des >poema eroico< empfiehlt, wird ebenfalls 1548 eröffnet, und zwar mit Giovan Giorgio Trissinos umfangreicher Italia liberata dai Goti, die in diesem Jahr erstmals integral erscheint. 10 Um die Mitte des 16. Jahrhunderts lassen sich also innerhalb der italienischen Versepik einschneidende Strukturveränderungen registrieren, die ganz unter dem Zeichen der Plötzlichkeit erfolgen, und die nach einer langen Phase kontinuierlicher Entwicklung der Gattungsgeschichte ein unverkennbares Moment der Diskontinuität einschreiben. 11 Anders als häufig sonst, kann man im vorliegenden Fall einen unmittelbaren Auslöser für diesen markanten und mehrsträngigen Strukturwandel ziemlich leicht ausfindig machen. Der Anstoß ging aus von der Dichtungslehre, deren Situation sich ab den vierziger Jahren in doppelter Hinsicht nachhaltig zu verändern begonnen hatte. Zum einen vermochte sich die normative Einheitspoetik klassizistischen Zuschnitts endgültig mit Macht als eine wirkungsvolle Orientierungsinstanz für die dichterische Praxis zu affirmieren, und zwar gerade auch für 9
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Gesondert zu untersuchen wäre, inwieweit zwischen der Konstitution eines reformierten >romanzo< und dem Aufkommen der >romanzi spagnoliromanzi spagnoli< am Abbau der Poetik der Heterogenität teilhaben. Zum Aufkommen der >romanzi spagnoli< vgl. insbes. Beer 1988. Das erste Buch dieses aus drei >libri< bestehenden >poema eroico< erschien bereits 1547. In der neueren Forschung zur Versepik des Cinquecento wird dieses Moment der doppelten Diskontinuität, die sich um die Jahrhundertmitte manifestiert, gelegentlich ungebührlich marginalisiert. Und auch die Differenzen zwischen >poema eroico< und reformiertem >romanzo< werden mitunter zugunsten der Filiationen zwischen diesen beiden Gattungssträngen allzusehr in den Hintergrund abgedrängt. In diese Richtung gehen die ansonsten fundamental wichtigen Darlegungen von Baldassarri 1982.
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jene >große< Gattung, die sich bis dahin einer solchen Konditionierung entzogen hatte: die Versepik. Zum anderen erhielt diese normativ ausgerichtete Einheitspoetik durch die Versuche des Zusammenschlusses von horazisch-rhetorischer Tradition und Aristotelismus ihr eigentümliches Gepräge. 12 Der tentative Charakter dieses Zusammenschlusses äußerte sich darin, daß unter dem gemeinsamen Dach der poetologischen Einheitsforderungen die horazische und die aristotelische Komponente häufig nicht zu einem in sich konsistenten, dichtungstheoretischen Diskurs verschmolzen wurden. Sie konnten vielmehr durchaus als alternative Möglichkeiten fungieren, als verschiedene Varianten der Einheitspoetik, ohne daß diese ihre Verschiedenheit auch schon notwendigerweise explizit hätte reflektiert werden müssen; so wurde nicht selten bei Bedarf die horazische Komponente einfach auf Kosten der aristotelischen akzentuiert und ausgespielt. 13 Diese Situation mag erklären helfen, weshalb die nachariostsche Versepik dem Druck der Einheitspoetik in doppelter Weise respondieren konnte, eben mit dem Ergebnis der Konstitution zweier Gattungszweige, die beide auf eine neue Homogenität bedacht waren, die diese Homogenität aber strukturell ganz verschieden realisierten. Um die bislang nur höchst summarisch skizzierten Probleme des Strukturwandels der nachariostschen Versepik etwas detaillierter und anschaulicher zur Darstellung zu bringen, sei nachfolgend der Blick auf das epische Werk Torquato Tassos gerichtet. Es ist dies nämlich ein Werk, in dem - wie übrigens schon bei Alamanni - reformierter >romanzo< und >poema eroico< nebeneinander existieren. Dabei werde ich mich vorzüglich auf den Aspekt des fahrenden Ritters konzentrieren, von dem aus der hier interessierende, strukturgeschichtliche Fragenkomplex ein besonders scharfes Profil erhält.
II Spätestens 1561 hatte Tasso ein erstes Fragment seines zukünftigen >poema eroico< über die Befreiung des Heiligen Grabes entworfen, 14 und nach einer nicht allzu langen Unterbrechung nahm er, 1563 oder 1564, die Arbeit an diesem Projekt erneut auf. 15 In der Zeit, in der die Beschäftigung mit dem >poema eroico< ruhte, blieb Tasso nichtsdestoweniger auf dem Felde der Versepik weiter tätig. Bereits 1562 trat er, gerade achtzehnjährig, mit dem Rinaldo an die literarische Öffentlichkeit, mit einem Rittergedicht, das den Gattungstyp des reformierten >romanzo< in modellhafter Weise verkörpert. Der Rinaldo16 beginnt mit einem
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Zu den Bemühungen um einen Zusammenschluß von horazisch-rhetorischer Tradition und Aristotelismus vgl. neben der älteren Arbeit von Herrick 1946 insbes. Weinberg 1961, S. 111-200 und passim. Vgl. dazu insbes. Weinberg 1961, S. 155, 416, 418, 428 und passim. Zur Datierung des Gerusalemme vgl. Caretti 1953, S. 17ff. und Bonora 1961, S. 8. Zu dieser Datierung vgl. Caretti 1977, S. 100. Zitiert nach der Ausgabe von Bruno Maier (= Torquato Tasso 1964).
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epischen Prolog, der in regelkonformer Weise aus >propositioinvocatio< und >dedicatio< gefügt ist. 17 Unter den Intertextualitätsverweisen, die diesem epischen Prolog eingeschrieben sind, stechen insbesondere die Bezüge zum traditionellen >romanzo< ins Auge, genauer: die Bezüge zu Ariost. Schon ein flüchtiger, vergleichender Blick auf die respektiven Anfangsoktaven vermag dies zu bestätigen. Wenn Tasso beginnt: Canto i felici affanni e i primi ardori Che giovinetto ancor soffri Rinaldo, Ε come il trasse in perigliosi errori Desir di gloria ed amoroso caldo; Allor che, vinti dal gran Carlo, i Mori Mostraro il cor piü che le forze saldo; Ε Troiano, Agolante e Ί fiero Almonte Restär pugnando uccisi in Aspramonte (1,1)
so hallt in diesem Beginn unüberhörbar die erste Strophe des Orlando furioso nach: Le donne, i cavallier, l'arme, gli amori, le cortesie, l'audaci imprese io canto, che furo al tempo che passaro i Mori d'Africa il mare, e in Francia nocquer tanto, seguendo l'ire e i giovenil furori d'Agramante lor re, che si die vanto di vendicar la morte di Troiano sopra re Carlo imperator romano. ( I , l ) 1 8
Mit diesem Anklang an Ariost will Tasso ganz fraglos sofort am stark rezeptionslenkenden Textanfang signalisieren, daß sich sein Werk auch an den etablierten >romanzo< anschließt, und zwar vor allem im stofflich-thematischen Bereich. Denn Tassos Titelheld entstammt dem Figurenarsenal der Karlsepik, das über Rinaldo hinaus anzitiert wird, und auf dem ja schon der Orlando furioso aufbaute. 19 und wie bei Ariost, so wird auch bei Tasso die Thematik des heldenhaften Wagemutes mit der Liebesthematik kurzgeschlossen. Der offenkundige Bezug zum Orlando furioso, den Tasso gleich am Beginn seines Rinaldo stiftet, dient aber mehr noch als ein geeigneter Kontrasthintergrund, vor dem sich die strukturellen Differenzen zum etablierten >romanzo< effektvoll in Szene setzen lassen. Diese Unterschiede betreffen zunächst einmal die Anzahl der Protagonisten. Ariost stellt die >propositioromanzoromanzonarrationes< selbst dann in der Tat auch ein: Der Fülle mehr oder minder gleichberechtigt nebeneinander agierender Personen im Orlando furioso20 steht die konsequente Konzentration auf einen einzigen Protagonisten im Rinaldo entgegen. 21 Die anderen Figuren, die Tasso in seinen >romanzo< hineinnimmt, verbleiben allesamt in einer überaus klar akzentuierten, funktionalen Abhängigkeit von der Titelfigur und gewinnen nie auch nur annähernd die Statur von zentralen Handlungsträgern. Dies gilt für die Gruppe der >donnecavalieriromanzo< einen ganz entscheidenden Beitrag zur Vereinfachung jenes komplexen Handlungsgefüges, wie es dem überkommenen >romanzo< eigen war. Dort war die Protagonistenfülle ja vorzüglich ein Mittel zur Pluralisierung der Handlungsstränge, und zwar der einander überkreuzenden Handlungsstränge.22 Von dieser labyrinthischen Handlungsstruktur hebt sich die einsträngige Handlungsstruktur des Rinaldo in ihrer Transparenz pointiert ab. Im Rinaldo beschränkt sich Tasso auf der primären Narrationsebene, im Rahmen der Erzählerrede also, mit bemerkenswerter Konsequenz auf den Bericht dessen, was dem Haupthelden widerfährt. Dieses Geschick des Helden wird vom Primärerzähler dabei nicht nur in seiner chronologischen Abfolge präsentiert;23 es wird auch in eine klar überschaubare Anzahl von Sequenzen gegliedert, die in der Regel scharf voneinander abgegrenzt und jeweils in sich abgerundet sind. Die Erlebnisse anderer Figuren, an denen Rinaldo selbst nicht unmittelbar teilnimmt, und die daher der Haupthandlung nicht zugehören, werden dagegen auf die sekundäre Narrationsebene abgedrängt. Und auch dies geschieht nach einem feststehenden Schema: Wenn der Protagonist Rinaldo auf seinem Weg auf Figuren trifft, die ihm 20
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Vgl. dazu Dalla Palma 1984, wo diese Pluralität gleichberechtigt nebeneinander agierender Personen im Rahmen einer strukturalen Handlungsanalyse des Orlando furioso herausgearbeitet wird. Dies stellt Tasso in seinem Vorwort zum Rinaldo als wesentlichen Punkt seines poetologischen Programms eigens heraus. Das Vorwort zum Rinaldo findet sich in der von Solerti besorgten Ausgabe der Poemi minori ( = Torquato Tasso 1891), S. 3 - 8 . Die hier interessierende Stelle, wo Ariosts »varj cavalieri« dem »un sol cavaliero« des eigenen >romanzo< gegenübergestellt werden, ebd. S. 8. Vgl. dazu Stierle 1980, S. 302. Die einzige Ausnahme findet sich in Rinaldo IX, 33-54, wo Rinaldo in Form eines erzählerischen Rückgriffs Floriana eine Episode aus seiner frühen Jugend berichtet, in der es um den für die >romanzi di Rinaldo< so charakteristischen Konflikt zwischen Chiaromontesi und Maganzesi geht.
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- und dem Leser - bis dahin unbekannt waren, oder die für geraume Zeit aus seinem Gesichtsfeld entschwunden waren, so läßt Tasso diese Figuren die mit ihnen verknüpften Geschichten immer kurz selbst erzählen. Im Rinaldo wird also die narrative Struktur des etablierten >romanzo cavallerescoandare a ritrovar Ventura nova< umreißen: 24 Der Held zieht aus, sucht ein Abenteuer, findet und besteht es, zieht weiter, sucht, findet und besteht ein neues Abenteuer und so fort. Diese Formel vom >andare a ritrovar Ventura nova< besagt nun zunächst einmal, daß die Serialisierung der ritterlichen Taten der Titelfigur der bestimmende Faktor der Geschichtsebene von Tassos >romanzo< ist. Doch dies ist nicht alles. Die Semantik von >ventura< darf nämlich auch als ein Signal dafür gewertet werden, daß die einzelnen Aventüren dem Helden scheinbar zufällig widerfahren,25 daß sie mithin nicht nach den Kriterien der Folgerichtigkeit und der Notwendigkeit auseinander heraus entwickelt werden. Und mehr noch: Die >ventura< wird in der Regel an den Topos des Umherschweifens, des >errareromanzo< ist also geprägt durch die akausale, paradigmatische Reihung der ritterlichen Taten des Helden. Diese Paradigmatisierung der >histoireromanzo< zu beschließen. Sie ist keinesfalls ein Ziel, auf das der Handlungsbogen von Anfang an ohne Unterlaß gespannt wäre, auf das hin die Ereignisse schrittweise progredieren würden. Das Clarice-Thema leuchtet im Verlauf der Handlung immer nur so punktuell auf, daß sich eine syntagmatische Orientierung der Geschichtsebene, die sich gegenüber der paradigmatischen Serialisierung affirmieren könnte, nicht wirkungsvoll herauszubilden vermag. Die unverkennbare Dominanz der akausalen, paradigmatischen Reihung der Handlungssegmente bedingt also, daß die Handlungsstruktur von Tassos >romanzo< dem aristotelischen Konzept der Handlungseinheit nicht verrechenbar ist. Tasso war sich dessen übrigens vollauf bewußt. Im Vorwort zum Rinaldo räumt der in den Fragen der aristotelischen Poetik bemerkenswert kundige junge Dichter freimütig ein, daß man bei seinem Werk von einer >unitä d'azione< im strikten - und damit meint er: im aristotelischen - Sinn nicht reden könne.29 Dieser Mangel an aristotelischer Handlungseinheit ist nun nicht einfach dichterischem Unvermögen anzulasten, wie dies seit Mazzonis Anmerkungen zum Rinaldo immer wieder getan wird.30 Dieser Mangel ist vielmehr strukturell bedingt. Er entspringt dem Willen, die heterogene und hybride Ritterepik des alten >romanzo< in eine >gereinigtepropositiopropositiochanson de geste< ins Spiel
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Die er, wie gesagt, bereits besitzt. Zu dieser Sequenz vgl. Rinaldo 1,53-59. Rinaldo XII, 87-88. Vgl. Torquato Tasso 1891, S. 6: »E ben vero che ne l'ordir mio poema mi sono affaticato ancora un poco in far si che la favola fosse una, se non strettamente, almeno largamente considerata«. Mazzoni 1891, S. XXIV.
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gebracht, und das heißt gleichzeitig auch: die Erwartung auf Helden als Träger einer Gemeinschaftsaufgabe. Die zu Anfang der >propositio< erwähnten Handlungsschemata lassen nun aber keinen Zweifel daran, daß diese Erwartung zumindest partiell konterkariert werden wird. Einige nämlich (wie »amori« und »cortesie«) konnotieren unverkennbar den narrativen Kontext des selbstbezüglichen Handelns fahrender Ritter und damit eine Heldenrolle, die gegenstrebig ist zur Rolle des kollektiv orientierten Handelns, welches der historische Rahmen fordert. Ariost signalisiert also bereits in der >propositio< das Interferenzpotential, das er im Verlauf seines >romanzo< dann auch überaus genüßlich ausschöpfen wird, und zwar häufig mit dem Ziel der wechselseitigen Ironisierung der solcherart zusammengeschlossenen, disparaten Heldenrollen. Bei Tasso scheint nun die >propositio< in ihrer Zweiteilung der zweigeteilten ersten Oktave bei Ariost genau zu entsprechen. Auch Tasso benennt zunächst seinen Protagonisten und die ihm zugeordneten Handlungsschemata, um im Anschluß daran den historischen Rahmen thematisch zu machen, der dem von Ariost gewählten analog ist. Schärft man nun allerdings den vergleichenden Blick, so tritt hinter den vordergründigen Korrespondenzen rasch ein wesentlicher Unterschied hervor. Wenn Tasso den Krieg zwischen Christen und Heiden unter Karl dem Großen als historischen Bezugshorizont für Rinaldos Taten evoziert, so ist dies nicht einfach eine bloße Wiederholung des Schemas, dessen sich schon Ariost bedient hatte. Denn anders als bei Ariost ist bei Tasso dieser Horizont tendenziell als ein solcher der Vergangenheit perspektiviert. Als Rinaldo auszieht, um sich durch ritterliche Taten Ruhm zu erwerben, da hat die Kriegssituation ihre Aktualität nämlich weitestgehend eingebüßt. Die Heiden sind fürs erste so gut wie besiegt, 31 und die Zeit, in der durch den Rachefeldzug Agramantes der Krieg erneut aufflammen wird - davon handelt der Orlando furioso - , diese Zeit ist noch fern. Was die >propositio< diskret andeutet, das wird im Verlauf der >narratio< nicht nur konsequent realisiert, sondern auch mehrfach thematisiert. So hebt etwa die >narratio< gleich mit der Feststellung an, Karl der Große habe seinen Gegner bereits niedergeworfen, »domo e represso«. 32 Und als im sechsten Gesang dieses zwölf >canti< zählenden >romanzo< - also etwa in der Mitte - Rinaldo endlich an den geschichtsträchtigen Ort des Kampfes zwischen Christen und Heiden gelangt, da wird erneut in Erinnerung gebracht, daß das Heer der Ungläubigen besiegt sei, »domo e conquiso«. 33 Und als im letzten Gesang Rinaldo schließlich mit seiner Ciarice vereint und die Serie der Aventüren damit an ihr Ende gekommen ist, da gibt der mit der Gabe der Weissagung belehnte Zauberer Malagigi zu verstehen, daß es dafür auch höchste Zeit sei; denn eine ganz andere Zeit stehe kurz bevor, eine Zeit erneuten Krieges gegen die Heiden - eine Zeit also, die wieder unter
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Vgl. insbes. Rinaldo 1,1, V. 5f. Rinaldo 1,6. Dort auch der Hinweis, daß zu Beginn der >narratio< bereits zwei der drei in der >propositio< genannten heidnischen Feldherrn nicht mehr am Leben sind. Rinaldo V 1,7.
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dem Zeichen des kollektiven Handelns stehen und in der es für das selbstbezügliche Handeln fahrender Ritter keinen Platz mehr geben wird. 34 Tasso koppelt also Rinaldos Handeln in ebenso kalkulierter wie konsequenter Weise von der Kriegssituation ab. 35 Er entzieht damit durchgängig den für Ariost so charakteristischen Interferenzen von vorneherein jegliche Entfaltungsgrundlage; denn abgekoppelt von der Kriegssituation wird ja, wie zu sehen war, ein Handeln, das ausschließlich als das eines fahrenden Ritters bestimmt ist, und das Tasso daher ja auch immer wieder explizit unter dem von Anfang an verwendeten Leitbegriff der >errori< subsumiert. Tassos Rinaldo ist ein modellhafter Repräsentant des reformierten >romanzo< vorzüglich deswegen, weil das Schema vom fahrenden Ritter aus seiner Verflechtung mit dem kollektiven Handlungsschema gelöst wird, das der Tradition der >chanson de geste< entstammt. Das Schema vom fahrenden Ritter gewinnt neue Autonomie und steigt auf zum unkontestierten kohärenzstiftenden Faktor der >histoireromanzo< 1548 inauguriert wird. Alamanni präsentiert die Geschichte seines Rittergedichtes im Prolog als das, was sie dann auch weitestgehend sein wird: als die Geschichte der »awenture« eines »errante Cavaliero«.36 Und im Prosavorwort macht er darüber hinaus auch noch ausdrücklich thematisch, daß der »errante Cavaliero«, der fahrende Ritter, als der auch sein Titelheld Girone auftreten werde, seine eigentliche >ratio existendi< nicht in Kriegs-, sondern in Friedenszeiten habe. 37 Die Vermeidung von Interferenzen zwischen den Heldenrollen von >chanson de geste< und >roman courtois< und die damit verbundene Ausrichtung der ganzen Handlungsstruktur am Schema vom fahrenden Ritter sind Ausdruck eines Strukturwandels, mittels dessen die als problematisch erfahrene Heterogenität des alten >romanzo< in eine neue Homogenität überführt werden sollte. Eine solche neu gewonnene Homogenität beinhaltete übrigens gleichzeitig einen Abbau an jener narrativen Komplexität, wie sie den etablierten >romanzo cavalleresco< ausgezeichnet hatte. Wenn nun diese neue Homogenität und Einfachheit erst der kohärenzstiftenden Kraft des Schemas vom fahrenden Ritter entspringen, so bedeutet dies, daß sie nur um den Preis eines Verzichtes auf aristotelische Orthodoxie im Bereich des Handlungsgefüges zu gewinnen waren. Eine Handlungsstruktur, die sich der durchgängigen Entfaltung des Schemas vom >cavalier errante< verdankt, und die sich erst so ihr elementares, einheitliches Gepräge sichert, kann sich gar nicht anders verwirklichen denn als paradigmatische Reihung von Aventüren. Und deren Verkettung wiederum entzieht sich geradezu per definitionem den aristotelischen Kriterien von Kausalität und Wahrscheinlichkeit. Dies heißt nun
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Rinaldo XII,84-85. Capasso 1940, S. 469, verkennt diese Enthebung der Kriegssituation völlig. Girone il Cortese I, 1-2. De arte poetica, V. 23. In: Horaz 1961, S. 203.
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nichts anderes, als daß die Homogenität des reformierten >romanzo< ihre dichtungstheoretische Legitimität von der horazischen Komponente der Einheitspoetik bezieht. Für den Bereich der Handlungsstruktur gab die horazische Einheitspoetik, die in erster Linie ja als eine Poetik des >decorum< konzipiert war, nämlich keine präzisen Anweisungen vor. In Hinblick auf die >azione< brauchte aus dem Horazischen »simplex et unum«38 somit kaum mehr als die Forderung nach Klarheit, nach Überschaubarkeit und vor allem nach Kohärenz herausgelesen zu werden. 39 Wie groß trotz - oder besser: wegen - des Mangels an aristotelischer Orthodoxie die einheitsstiftende Kraft des Schemas vom fahrenden Ritter ist, das erhellt noch von einem anderen Aspekt her: vom Aspekt der Gradlinigkeit der Handlungsführung, in die die paradigmatische Aufreihung der >venture< des einen Haupthelden einmündet. 40 Die wahre Bedeutung dieser gradlinigen Handlungsführung ist nämlich erst dann erfaßt, wenn man sie als ein sinnstiftendes Strukturmuster in Opposition zur verschlungenen Handlungsführung des alten >romanzo< bringt. Im reformierten >romanzo< konnotiert der gradlinige Handlungsverlauf, daß der >cavalier errante< bei seiner Abenteuersuche wohl dem Zufall folgen mag, daß er dabei aber im Grunde genommen nie vom rechten Weg abkommt, daß er dabei nie in die Irre geht. Vielmehr bewegt er sich gleichsam mit märchenhafter Sicherheit und gewinnt sich unfehlbar denjenigen Ruhm zu, den zu gewinnen er ja ausgezogen war, und in dem sich sein ritterlicher Wert bestätigen soll. Dies beginnt schon damit, daß ein um den ritterlichen Ruhm des Helden besorgter Zauberer als Ermöglichungsinstanz und Initiator von dessen >errori< fungiert, 41 die solcherart schon von vornherein das Konnotat der Vorsehung zugespielt erhalten; und es gipfelt darin, daß eine andere wohlwollende Zaubermacht unserem cavalier errante< ein wundersames Schifflein bereitstellt, das ihn schnurstracks und wiederholt in die Aventüre-Situationen bringt, in denen er sich als tapferer Ritter erweisen kann: Mit größerer Prägnanz läßt sich der für die Konzeption des Werkes so wichtige Kurzschluß der eigentlich gegenstrebigen Momente der >errori< und der >sicurezza< nicht bewerkstelligen. 42 Damit ist auch schon die Funktion beleuchtet, die das dem >romanzo< seit jeher unabdingbar zugehörige märchenhafte Wunderbare im reformierten Zweig der Gattung primär hat. Das Wunderbare garantiert, daß der Zufall als ein solcher von sinnerfüllter Art wirksam werden kann, und zwar sinnerfüllt in Hinblick auf die Gewährleistung eines kontinuierlichen Voranschreitens der wertattribuieren-
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Girone il Cortese, S. III v. Vgl. dazu auch Weinberg 1961, S. 125, 130, 171, 221ff., 227. Den Aspekt der gradlinigen Handlungsführung betont Tasso im Vorwort zum Rinaldo übrigens selbst, wenn er anmerkt, sein »poema« sei »con perpetuo e non interrotto filo tesso«, Torquato Tasso 1891, S. 8. Rinaldo 1,32-48. Rinaldo V I I , 8 3 - 8 6 und VIII, 1-46. In VII, 84 die prägnante Formulierung von der Barke, die »gli erranti guerrier securi porta / lä dove il lor ardir possin mostrare«.
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den Aventüren des Helden.43 Im alten >romanzo< dagegen waren die >cavalieri erranti< nicht nur einfach fahrende Ritter. Sie waren vielmehr potentiell immer auch irrende, sich im Labyrinth ihrer komplex strukturierten Handlungswelt verirrende Ritter, und zwar nicht selten sich komisch verirrend.44 Die Aktualisierung des Schemas vom >cavalier errante< war im alten >romanzo< also aufs engste verbunden mit der Möglichkeit, die Polysemie von >errare< zum Tragen zu bringen und so das Schema seiner ungebrochenen Sinnhaftigkeit, seiner durchgängigen Idealität zu entheben. Der Strukturwandel, den der reformierte >romanzo< vollzog, war also gleichzeitig auch ein Versuch zur Restitution verlorener oder doch zumindest brüchig gewordener Idealität.45 Daß der Ritterepik eine solche ungebrochene Idealität nur im Rahmen eines Erzählens restituiert werden konnte, das seinen Charakter als den eines bewußt inszenierten, fiktiven Spiels demonstrativ und unmißverständlich hervorkehrte, ist für unsere Fragestellung lediglich von sekundärem Belang. Von primärem Belang ist dagegen, daß die dem Schema vom fahrenden Ritter zugewonnene Idealität eine Korrektur der Poetik der Heterogenität und Pluralisierung auch im letzten der drei eingangs genannten Bereiche impliziert: im Bereich des Stils. Seinen Rinaldo hat Tasso in einem einheitlich >getragenen< Stil abgefaßt. Er grenzt die für den traditionellen >romanzo< so konstitutive Stilmischung aus. Und das heißt vorzüglich: Er exkludiert die Interferenzen von >genus grande< und >genus humileroman courtois< zurück. Vgl. dazu Jauß 1972, S. 116. Vgl. dazu auch Stierle 1980, S. 289. Zur Entidealisierung im >romanzo cavalleresco< bis Ariost vgl. Stierle, S. 292f. und 299f. Rinaldo 1,2. Dort die Abgrenzung des Stiles des Rinaldo von der »umiltä« des »rozzo stil«. Der Signalwert dieser Stelle wird auch dadurch nicht geschmälert, daß mit dem »rozzo stil« gattungsmäßig auf die (bukolisch perspektivierte) Lyrik angespielt wird. Orlando furioso 1,2, V. 4 - 8 . Zur stilistischen Heterogenität im Proömium des Orlando furioso vgl. auch Hempfer 1983, S. 22.
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III Die zahlreichen Nachdrucke des Rirtaldo im Cinquecento 48 belegen, daß Tasso sich auf dem Felde des reformierten >romanzo< erfolgreich zu profilieren verstand. Sein literarischer Ehrgeiz freilich zielte in eine andere Richtung: in die Richtung des >poema eroicoromanzo< ihre Entstehung und ihr basales Gepräge zuallererst dem entschiedenen Rekurs auf die aristotelische Komponente der Einheitspoetik wie auf die epische Praxis der antiken Musterautoren verdanken wollte. Diese doppelte Orientierung signalisiert in exemplarischer Weise wiederum bereits der epische Prolog seiner Gerusalemme liberata. Dies vermag schon ein flüchtiger Blick auf den Auftakt dieses Prologs, auf die >propositio< zu bestätigen: Canto l'arme pietose e Ί capitano che Ί gran sepolcro liberö di Cristo. Molto egli oprö co Ί senno e con la mano, molto soffri nel glorioso acquisto; e in van l'Inferno vi s'oppose, e in vano s'armö d'Asia e di Libia il popol misto. II Ciel gli die favore, e sotto a i santi segni ridusse i suoi compagni erranti. ( I , l ) 4 9
Wie sehr diese >propositio< nach dem Beginn der Aeneis modelliert ist, ist ebenso offenkundig wie bekannt und bedarf keiner weiteren Erwähnung. 50 Erwähnenswert ist lediglich, daß diese Modellierung gleichzeitig der Einlösung grundlegender aristotelischer Postulate dient. So wird, anders als im Rinaldo, der mit der Thematisierung der pluralischen >errori< des Helden anhebt, schon im Prolog unmißverständlich eine Zentralhandlung benannt, die als eine einheitliche Handlung denkbar ist, und die das nachfolgende Epos dann auch als eine in sich geschlossene und dominant syntagmatisch ausgerichtete Handlung mit Finalspannung zur Darstellung bringen wird: die Eroberung Jerusalems durch die Kreuzritter unter der Führung von Gottfried von Bouillon. 51 Diesem Aspekt der Handlungseinheit gilt in Übereinstimmung mit den aristotelischen Normen das primäre Interesse, wie übrigens schon der Titel des Werkes signalisiert. Die Frage, ob diese Einheit an die unzweideutige Beschränkung auf einen Haupthelden gebunden sei oder nicht, ist demgegenüber nachgeordnet und wird daher auch flexibel beantwortet. Wohl ist Gottfried, der gleich im ersten Vers als Handlungssubjekt herausgestellte »ca-
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Zwischen 1562 und 1589 wurde der Rinaldo mindestens sieben Mal aufgelegt, vgl. Torquato Tasso 1891, S. LXVIIff. Zitiert nach der Ausgabe von Caretti ( = Torquato Tasso 1971). Vgl. dazu die einschlägigen Kommentare, ζ. B. Ferrari 1890, S. 2f., Bruno Maier 1963, S. lOf. Die Vergil-Verweise werden natürlich noch durch andere Intertextualitätsbezüge komplementär ergänzt. Vgl. dazu Hirdt 1975, S. 314f. Zur bereits von Anfang an vorgegebenen Finalität der epischen Struktur der Gerusalemme vgl. auch Stierle 1986, S. 393f.
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pitano«, als Zentralfigur konzipiert. Die Haupthandlung, die Eroberung Jerusalems, wird nämlich von ihm als der alles entscheidenden Planungsinstanz ins Werk gesetzt. 52 Er agiert dabei aber, wie das Proömium formuliert, oft »col senno«. So ist es wenig erstaunlich, daß er auf der Ebene der konkreten Handlung im Unterschied zum Haupthelden des Rinaldo häufig zurücktritt, um anderen Akteuren Platz zu machen. Deren Handeln aber bestimmt sich relational zu den Plänen Gottfrieds. Wenn die Gerusalemme also im Vergleich zum Rinaldo durch eine gewisse Protagonistenfülle gekennzeichnet ist, so beinhaltet dies aber nicht einfach eine plane Wiederannäherung an den alten >romanzopropositio< noch in einem weiteren Punkt, und zwar bezüglich der wirklichkeitsreferentiellen Dimension der Handlung. Die Handlung des >poema eroico< ist im Cinquecento durchgängig als eine >azione illustre< bestimmt. Diese wiederum ist dem aristotelischen Wahrscheinlichkeitspostulat vorzüglich dann verrechenbar, wenn sie, so die geläufige Auslegung der Poetik des Stagyriten, als eine in ihren Eckwerten historische Handlung konzipiert ist. 54 Tasso präsentiert daher gleich zu Beginn der >propositio< die Zentralhandlung als ein herausragendes Geschehen, dessen Historizität für jeden Leser auf der Hand lag. Und im Epos selbst sucht er insbesondere in den ersten, in den stark rezeptionslenkenden Gesängen den Eindruck von der Geschichtlichkeit der dargestellten Handlung durch deren rekurrente Rückkoppelung an den zeitgenössischen historiographischen Diskurs über die Eroberung Jerusalems im ersten Kreuzzug zu verfestigen. Indem er diesen spezifischen historischen Stoff zum handlungsfundierenden Faktor erhebt, erreicht Tasso gleichzeitig noch ein Weiteres: Er erreicht, daß die epische Handlung als eine solche von kollektiver Bedeutung und die handelnden Helden als Träger einer Gemeinschaftsaufgabe perspektiviert werden. Daß eine derartige >azione illustre< nach dem >genus grande< als der dominanten Stillage verlangt und damit die prononcierte stilistische Heterogenität des alten >romanzo< ausschließt, das versteht sich bei dem der Einheitspoetik verpflichteten Tasso von selbst.55 52
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Zur Zentralität Goffredos als »protagonista vero« des Epos vgl. Fubini 1948, S. 235 und Leo 1958, S. 31-40. Diese kontrollierte und der Handlungseinheit verrechenbare Pluralisierung situiert sich im Rahmen dessen, was Tasso in den Discorsi del poema eroico als >varietä nell' unitä< theoretisiert. Vgl. Torquato Tasso 1977, S. 241-244. So etwa Tasso in den Discorsi del poema eroico, vgl. Torquato Tasso 1977, S. 175. Zum >stile eroico< vgl. die Discorsi del poema eroico, in Torquato Tasso 1977, S. 311f. Tasso macht unmißverständlich klar, daß die stilistische Variationsbreite im Epos nicht mit der Stilmischung des alten >romanzo< zu verwechseln ist.
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Bereits zu Beginn der Gerusalemme liberata kehrt Tasso also klar die aristotelische Orientierung seines Epos heraus, und er macht diese kenntlich als eine Orientierung, der als Intertextualitätsrelation der Bezug zur Epik der antiken Musterautoren eingeschrieben ist. Damit betont er natürlich zunächst einmal die entschiedene Distanz, die das >poema eroico< dem >romanzo< gegenüber sucht. Doch bereits im epischen Prolog zeigt Tasso noch etwas anderes an. Er zeigt an, daß sich für ihn diese Distanz nicht in einer simplen Marginalisierung oder gar einer völligen Ausblendung der Welt des >romanzo< niederschlägt, sondern in Form einer Problematisierung; und diese Problematisierung, die bis zur Negation gesteigert werden kann, ist so gestaltet, daß dem in die Distanz Gerückten gleichzeitig eine werkstrukturell höchst relevante Präsenz auf der narrativen Achse verschafft wird. Wie wir gesehen haben, werden in der >propositio< neben Gottfried als der Zentralfigur auch noch dessen Gefährten erwähnt. Und sie werden vermittels ihrer Epithetierung so erwähnt, daß sie unmißverständlich die Konnotate von fahrenden Rittern zugespielt erhalten: Sie sind „compagni erranti«. Doch die >propositio< gibt gleichzeitig auch die Perspektive an, aus der heraus die fahrenden Ritter in die Welt des >poema eroico< eingebracht werden dürfen: Es ist dies die Perspektive ihrer Rückführung unter die »santi / segni«, unter die Zeichen des kollektiven epischen Handelns. Wie diese Rückführung des fahrenden Ritters im Epos selbst narrativ umgesetzt wird mittels eines gebändigten Rekurses auf die Welt des >romanzopoema eroico< obligatorisch zugehörigen Heereskataloges. 56 Die Aufzählung der christlichen Streitmacht gipfelt in der Präsentation der >squadra di Dudonecavalieri erranti< vorgestellt: Sie sind »aventurieri«, und zwar »aventurieri«, vor denen, so der Text, die fahrenden Ritter des Artushofes verblassen müssen. 57 Zur Aktualisierung dieses im ersten Gesang angelegten Potentials kommt es dann im vierten und fünften Gesang. Diese Aktualisierung ist dabei gedoppelt, und in beiden Fällen ist es die Zauberin Armida, die - einmal direkt, einmal indirekt - als auslösender Faktor fungiert. Dadurch wird bereits von Anfang an eine ideologische Negativierung des Schemas der fahrenden Ritter bewirkt, deren >errori< nunmehr im doppelten Verstehen des Wortes auch als Irrwege, als moralische Verfehlungen verstanden werden können. Armida soll im Auftrag der Mächte der Finsternis das christliche Lager schwächen. Zu diesem Zweck verleitet sie zunächst einmal die Ritter der >squadra di Dudone< mehrheitlich dazu, aus ihrer angenommenen Rolle als Träger einer Gemeinschaftsaufgabe heraus - und in die ihnen 56 57
Zum Heereskatalog vgl. Baldassarri 1982, S. 100-127. Gerusalemme liberata 1,52. Zu dieser Stelle vgl. auch Leo 1958, S. 17. Später, in IV,79, bezeichnen sich die Ritter der >squadra di Dudone< selbst als »guerrier . . . di Ventura / senz' alcun proprio peso e meno astretti / a le leggi de gli altri«.
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eigentlich angestammte Rolle als selbstbezüglich handelnde >cavalieri erranti< hineinzutreten. Sie bewerkstelligt dies, indem sie eine jener Situationen fingiert, in denen >cavalieri erranti< immer schon die Bestätigung ihrer Identität suchten und fanden: Sie simuliert eine ebenso schöne wie hilfsbedürftige Prinzessin, deren Leben und Thron bedroht sind. Die >aventurieri< der >squadra di Dudone< respondieren selbstverständlich dieser Situation. Sie ziehen aus und machen sich - zum Teil gegen das ausdrückliche Verbot Gottfrieds - auf den Weg zur Vollbringung einer Tat, die, wie der Schutz von Schutzbedürftigen, fester Bestandteil des ritterlichen Ehrenkodexes ist. 58 Rinaldo, der ebenfalls der >squadra di Dudone< angehört, und der mit Gottfried und Tancredi zu den drei wichtigsten Personen des Epos zählt, zieht zwar nicht zusammen mit den anderen aus. Doch zum fahrenden Ritter wird auch er. Im Zuge der von Armida und den Mächten der Finsternis betriebenen Destabilisierung des christlichen Lagers bricht ein Ehrenhändel zwischen Rinaldo und dem norwegischen Königssohn Gernando auf, der in einen Zweikampf einmündet. Damit verstößt Rinaldo aber gegen Gottfrieds Verbot, das es den christlichen Rittern untersagt, sich untereinander zu duellieren. Sinn dieses Duellverbotes ist es, zu verhindern, daß individuell orientiertes, kavallereskes Ehrstreben die Solidarität der Heeresgemeinschaft erschüttert und den geschichtlichen Auftrag gefährdet. Rinaldo soll daher bestraft werden, doch bevor er entwaffnet und arretiert werden kann, verläßt er, in seinem ritterlichen Selbstwertgefühl zutiefst verletzt, im Zorn gegen den obersten Feldherrn das christliche Heer. Lediglich von zwei Schildknappen begleitet, zieht er als einzelner Ritter in die Ferne, um auf seinen Fahrten sein Ruhmverlangen so zu stillen, wie er dies seinem »nobil core« schuldig zu sein glaubt. 59 Tasso baut das Schema vom fahrenden Ritter also von vornherein ganz bewußt dergestalt auf, daß davon eine Bedrohung ausgeht für die primär kollektiv fundierte Handlungswelt des >poema eroicopoema eroicocavalieri erranti< verweist ausdrücklich der der >squadra di Dudone< zugehörige Eustazio, Gerusalemme liberata IV,80-81. Gerusalemme liberata V, 15-52. Zu Rinaldos Verwandlung in einen »irrenden Ritter« und zu den Auswirkungen, die diese »Verlockung zum Selbstsein« für die narrative Struktur des Werkes hat, vgl. auch die schönen Ausführungen in Stierle 1986, S. 394-402.
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stränge in der Manier des traditionellen >romanzo< kommt, noch zu jener Art von Paradigmatisierung der Handlungsstruktur, die für den reformierten >romanzo< charakteristisch war. Auf dieser Linie werden etwa die im Text explizit so benannten »errori«60, die abenteuerlichen Fahrten der um Armidas willen ausgezogenen Ritter, nicht direkt und breit zur Darstellung gebracht. Sie werden vielmehr bloß aus der Perspektive des Rückblicks - also nach der Rückkehr der Ritter ins christliche Lager - erzählt, und zwar in Form einer eingelegten Erzählung in der Erzählung.61 Und wichtiger noch: Diese eingebettete Erzählung faßt die Erlebnisse der vielen Ritter dezidiert zu einem narrativen Strang zusammen, innerhalb dessen zudem noch der Akzent auf den Zielpunkt, auf die Gefangennahme und Verzauberung durch Armida, gelegt ist. Auf diese Weise wird jegliche Tendenz zur narrativen Ausfaserung schon im Ansatz blockiert. Das Geschehen um den in die Ferne hinausgezogenen Rinaldo wird dagegen überaus breit und dazu noch großenteils auf der primären Narrationsebene berichtet. Doch auch hier werden die >errori< nicht wirklich sukzessive entfaltet, so daß es zu der für den >romanzo< typischen Serialisierung von Abenteuern käme. Sieht man von der in weniger als einer Oktave angedeuteten Befreiung der durch Armida gefangengesetzten Ritter ab,62 so wird im Grunde genommen nur die Situation erzählt, in die die >errori< Rinaldos eingemündet waren: die Situation seines Aufenthaltes im Reiche der Armida. Im Reiche der Armida, wo sich die dem >cavalier errante< stets affilierten Momente des märchenhaften Wunderbaren und der - sinnlich orientierten - Liebe in höchst massiver Weise versammeln, und wo die Intertextualitätsbezüge zu Ariost eine besonders große Transparenz gewinnen,63 ersteht überdeutlich die Welt des >romanzoromanzo< aber auch ausfällt: Sie ereignet sich im Rahmen eines aufs Exemplarische reduzierten Erzählens. Die Tendenz zur selektiven Beschränkung auf den Endpunkt von Rinaldos >errori< wird narrativ dadurch plausibilisiert, daß die Geschichte des in die Irre gegangenen Helden ganz aus der Perspektive seiner Rückholung berichtet wird.64 Es ist dies die Perspektive von Carlo und Ubaldo, die im Auftrag Gottfrieds ausziehen, um Rinaldo aufzuspüren, ihn der Welt Armidas - und damit gleichzeitig der Welt des >romanzo< - zu entreißen und seiner epischen Bestimmung zuzuführen. Daß die Rinaldo-Handlung aus der Perspektive der Rückführung des Helden vermittelt wird, zeigt bereits auf der Narrationsebene an, wie sehr Tasso an einer Rückkoppelung dieser die Welt des >romanzo< evozierenden Seitenhandlung an die Haupthandlung gelegen war, und zwar unter dem Vorzeichen der aristotelisch konzipierten Handlungseinheit. Mehr noch zeigt sich dies aber auf der Geschichts-
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Gerusalemme Uberata X, 59, V. 2. Gerusalemme liberata X, 60-72. Gerusalemme liberata X, 71. Vgl. dazu etwa Leo 1958, S. 27-30. Diesem Bericht sind im wesentlichen die Gesänge 14, 15 und 16 vorbehalten.
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ebene selbst. Dort wirkt nämlich Rinaldos Abwesenheit vom Schauplatz des Hauptgeschehens vor Jerusalem als ein die Progression der Haupthandlung arretierender Faktor. D i e entscheidende Wendung des Kriegsglücks ist, so besagt es eine Weissagung, von Rinaldos wagemutigem Handeln abhängig. 65 Rinaldos U m kehr markiert also den entscheidenden Umschwung der Handlung. Sie fungiert als eine Art Peripetie; und es ist dies eine Peripetie, die - ganz wie es sich die Aristoteliker für eine idealtypische Handlung wünschten - an ein Element gekoppelt ist, das sich als Anagnorisis interpretieren läßt: 66 Als sich Rinaldo in dem spiegelnden Schild erschaut, den ihm Ubaldo vorhält, da erkennt er, was er in der Welt Armidas geworden ist: ein »effeminato«, der seiner »virtute« verlustig gegangen ist. 6 7 Diese Erkenntnis, in der er sein wahres Selbst wiederfindet, motiviert ihn umgehend zur Rückkehr in die epische Welt. Von diesem Punkt an kann die Handlung ungebremst und gradlinig auf ihr gattungstypisches gutes Ende hinstreben: die Befreiung Jerusalems. D a ß Rinaldo dabei als erstes den Zauber der >selva incantata< bricht, 68 der ganz an einen >romanzoincanto< gemahnt, und der der Vollendung des epischen Projektes bis dahin im Wege stand, sei nur am Rande erwähnt. Abgerundet wird die aristotelische Legitimierung der Rinaldo-Handlung über die Entfaltung geeigneter Intertextualitätsverweise. D i e Verzahnung der RinaldoHandlung mit der übergreifenden Handlung, der Eroberung Jerusalems, ist nämlich unverkennbar als Zitat der Handlungsstruktur der Ilias angelegt. 6 9 In beiden Fällen ist die Absenz eines Helden prägender Faktor des globalen Handlungsgefüges. In beiden Fällen ist diese Absenz durch den Zorn gegenüber dem obersten Feldherrn begründet. In beiden Fällen schließlich muß der Held einer Weissagung gemäß erst zurückkehren, bevor das Kriegsgeschehen sein glückliches Ende nehmen kann, ein glückliches Ende, das jeweils durch die Teilnahme des zurückgekehrten Helden an einem Entscheidungsduell besiegelt wird. Indem Tasso in dieser Weise die Handlungsstruktur der Ilias zitiert, zitiert er ein Werk, das im Cinquecento immer wieder als Muster für eine artistisch gekonnte Verwirklichung der aristotelischen Handlungseinheit gewertet wurde. 7 0 D o c h dies ist nicht alles: Bei der Verknüpfung der Rinaldo-Handlung mit dem Gesamtgeschehen ruft Tasso auch noch ein zweites unter den großen antiken Epen auf, die für die Aristoteliker Modellcharakter besaßen: die Aeneis. Als Rinaldo die Welt der Armida verläßt, da inszeniert Tasso in Hinblick auf die Entfaltung der Intertextualitätsbezüge einen Paradigmenwechsel. Er löst den im Rahmen der Rinaldo-Sequenz bis dahin
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Gerusalemme liberata XIV, 13-14. Eine idealtypische und dem Einheitspostulat verrechenbare Handlung ist für die Aristoteliker des Cinquecento eine deutlich dramatisch modellierte Handlung. Zur dramatischen Modellierung der Handlung in der Gerusalemme liberata selbst vgl. insbes. Raimondi 1980, S. 71-202. Gerusalemme liberata XVI,30 und 33. Gerusalemme liberata XVIII, 17-37. Vgl. dazu auch Bonora 1961, S. 131f. Vgl. dazu insbes. Baldassarri 1982, S. 77ff (»II mito >omerico< dell'>unitä< del poema«).
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so deutlich akzentuierten Verweis auf Ariost durch eine ostentative Vergil-Referenz ab: Rinaldos Abschied von Armida ist so gestaltet, daß er unausweichlich vor dem Hintergrund des Abschieds von Dido und Aeneas gelesen wird. 71 Wie man sieht, hat sich Tasso nicht einfach damit begnügt, die Rinaldo-Handlung dem aristotelischen Einheitskonzept nur so weit als unbedingt nötig zu kompatibilisieren. Er hat diese Rinaldo-Handlung vielmehr sogar zum Ermöglichungsfaktor dafür werden lassen, daß die übergreifende Handlungsstruktur der Gerusalemme sich als eine nachgerade mustergültige Verwirklichung des Konzeptes >komplexer Einheitlichkeit«:, wie es von den Aristotelikern des Cinquecento gedacht wurde, darstellen kann. Und diese so unmißverständlich auf die Einlösung des aristotelischen Einheitspostulates hin berechnete Rinaldo-Handlung ist gleichzeitig auch der Ort, an dem der Rekurs auf die Welt des >romanzo< besondere Prägnanz gewinnt. Dieser genau kalkulierte und handlungsstrukturell zentrale Rekurs auf den >romanzo< unterscheidet Tassos Gerusalemme liberata von Trissinos Italia liberata, dem ersten planmäßigen >poema eroico< der Renaissance. Dort waren der programmatische Aristotelismus und die programmatische Orientierung an der epischen Praxis der Antike gleichzeitig als ebenso demonstrative wie radikale Absage an den >romanzo< gedacht. 72 Nichtsdestoweniger kam aber auch Trissino nicht umhin, dem vom >romanzo< geprägten Publikumsgeschmack Tribut zu zollen. 73 Und so öffnete er sein >poema eroico< dann eben doch für das, was eigentlich ausgesperrt werden sollte. Diese Öffnung auf die Welt des >romanzo< hat jedoch wenig überraschend den Charakter einer bloßen Konzession ohne weiterreichende handlungsstrukturelle Konsequenzen. Dies erhellt erneut schon vom Schema des fahrenden Ritters her. Die Handlungsstruktur der Italia liberata hat genau wie diejenige der Gerusalemme liberata ihren Angelpunkt im Motiv des abwesenden Helden, wobei Trissino die Analogien zur Ilias noch weit schärfer hervortreibt als Tasso. Und als Trissinos Corsamonte im Zorn gegen den obersten Feldherrn Belisario das Heerlager verläßt, da tritt er, ganz wie Tassos Rinaldo, sofort in die Rolle des fahrenden Ritters ein und findet sich auch prompt in einer Situation, in der im Rahmen des märchenhaften Wunderbaren eine ritterliche Tat gefordert ist. Deren Ausführung aber - es gilt einen zu bestimmten Zeiten wiederkehrenden Drachen zu erschlagen - ist an eine Wartefrist gebunden. Bevor diese freilich abläuft, kehrt Corsamonte ins Lager zurück. Das Bestehen der Aventüre, auf das die Leser immerhin zehn lange Gesänge (von insgesamt 27) gewartet haben, kommt somit erst gar nicht zustande. 74 Wo sich also bei Trissino ein fahrender Ritter anschickte, von der Peripherie der Handlung in deren Zentrum vorzudringen, da wird ihm,
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Diese Aktualisierung des Vergil-Bezuges wird in der Literatur zum 16. Gesang daher auch wie selbstverständlich vorgenommen. Vgl. etwa Caretti 1977, S. 143. Vgl. dazu auch Quondam 1980, S. 89f. Vgl. ebd., S. 96-100. Im 10. Gesang verläßt Corsamonte das Heerlager, im 19. Gesang kehrt er wieder zurück.
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anders als bei Tasso, sofort der Weg abgeschnitten. Damit ist nicht nur besagt, daß bei Trissino das Schema vom fahrenden Ritter ohne die handlungsstrukturelle Relevanz bleibt, die ihm bei Tasso zuwächst. Damit ist insbesondere auch besagt, daß Trissino von vornherein die Möglichkeiten verschenkt, die Tasso daraus gewinnt, daß er den Rückgriff auf das Schema des fahrenden Ritters als einen solchen von problematischer Art transparent macht. Denn Tasso zeigt ja, wie Rinaldo und die anderen Ritter der >squadra di Dudone< durch ihr Hineintreten in die Rolle von >cavalieri erranti< in Konflikt mit ihrer epischen Bestimmung geraten. Tasso vergegenwärtigt in seinem >poema eroico< also eine Interferenz, die bereits für den traditionellen >romanzo< charakteristisch war: Dort kollidierten ja ebenfalls selbstbezügliches Handeln fahrender Ritter und kollektiv orientiertes Handeln von Trägern einer Gemeinschaftsaufgabe. Tasso führt im Gegensatz zum traditionellen >romanzo< aber vor, daß diese Interferenzstruktur nicht notwendig in eine Poetik der Heterogenität und Pluralisierung einmünden muß, sondern daß sie domestizierbar ist und zu einem tragenden Faktor werden kann im Rahmen jener Poetik der - komplexen - Einheitlichkeit, der das >poema eroico< verpflichtet ist. Tasso entwirft seine Gerusalemme liberata also als ein >poema eroicoromanzo< eingeschrieben erhält, und zwar im Sinne eines bewußt problematisierten Bezuges. Die Präsenz des >romanzo< im >poema eroico< leistet bei Tasso einen ganz entscheidenden Beitrag zur Erneuerung des Epos, das auf diese Weise trotz des gewollten Rekurses auf die Antike als eine Gattung von entschieden moderner Prägung Gestalt gewinnen kann. Die Präsenz des >romanzo< im >poema eroico< ist bei Tasso mithin von substantieller Art, während sie bei Trissino strukturell gesehen nur von akzidenteller Natur war. Das neuzeitliche >poema eroicoromanzo< konstituiert hatte, eröffnet mit Tasso dem >romanzo< neue Möglichkeiten der Artikulation - ein Beleg dafür, wie verschlungen Gattungsentwicklungen verlaufen können.
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Auf der Suche nach dem verlorenen Leib
1. Zur Theoretisierung des Körpers Alle reden vom Körper, davon, wie der Körper, der eigene und der der anderen, zu uns redet. Der Körper hat Konjunktur, freilich in komplexerer und widersprüchlicherer Weise, als dies Paul Valery in einer apokalyptischen Notiz seiner Cahiers vorausgesagt hatte: »Somatismus (Häresie am Ende der Zeiten): Anbetung, Kult der Lebensmaschine«.1 In dem Maße, in dem uns angesichts der Abstraktionsleistungen des Spätkapitalismus und der dritten Industriellen Revolution die Sinne schwinden, reden und träumen wir von einer Wiederkehr des Körpers und von früheren Epochen unserer Individual- und Stammesgeschichte, in denen wir uns mehr über unseren Körper definierten, mehr auf ihn hörten, ihn weniger kontrollierten, sublimierten, wegsteckten und einsperrten, in denen wir, mit Helmuth Plessner zu sprechen, eher Körper waren als Körper hatten.2 Eine ganze therapeutische Industrie hat sich inzwischen an dieser Nostalgie bereichert, hat diese Sehnsucht noch stimuliert, indem sie deren Stillung in Selbsterfahrungsgruppen und Entspannungsübungen, durch autogenes Training, Bioenergetik und Körpertechniken in Aussicht stellt. Was der 68er Generation die marxistische Vision einer geglückten Gesellschaft war, ist heutzutage »Alternativen« und »Yuppies« in gleicher Weise die promesse du bonheur des eigenen Körpers, einer bewußt erfahrenen und genossenen Körperlichkeit. Wieweit dieses gegenwärtige »gesteigerte Interesse an den unterschiedlichen Modalitäten des Körpergefühls [...] ein Symptom der ausgeprägten narzißtischen Komponente, die unsere moderne abendländische Zivilisation charakterisiert«, ist, mag dahingestellt bleiben.3 Wenn auch wir als Literaturwissenschaftler nun vom Körper reden, handelt es sich nicht einfach um eine verspätete Fortsetzung dieser neuen Körperkulte mit anderen, mit philologischen Mitteln, und es kann sich auch nur in ganz vordergründiger Weise um den Versuch einer mittleren Kritikergeneration handeln, das nun zumindest theoretisch aufzuarbeiten, was sie lebensweltlich in Bibliotheken 1
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Paul Valery: Cahiers, Paris 1973, Bd. 1, S. 1126. Den Hinweis und die Übersetzung verdanken wir Jean Starobinski: Kleine Geschichte des Körpergefühls (Konstanzer Bibliothek 7) Konstanz 1987, S. 13. Helmuth Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie, 3. Aufl. Berlin 1975, S. 288ff. Der Anfang meines Satzes spielt an auf Dietmar Kamper / Christian Wulf (Hg.): Das Schwinden der Sinne, Frankfurt/M. 1984 und D. Kamper / Ch. Wulf (Hg.): Die Wiederkehr des Körpers, Frankfurt/M. 1982. Starobinski 1987 (s. Anm. 1) S. 28.
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und an Schreibtischen versäumt hat. Das Thema stellt sich vielmehr auch im Zug der eigenen Theorieentwicklung und bestimmter übergreifender philosophischer Tendenzen. Gerade weil die Kategorie des Subjekts als einer unveräußerlichen, unentäußerbaren Innerlichkeit brüchig geworden ist, sich als Konstrukt von Sprache und Ideologie erwiesen hat, 4 bietet sich der Körper in seiner Materialität und Äußerlichkeit als Ausgangspunkt einer neuen Selbstversicherung und einer neuen anthropologischen Selbstreflexion an. Dabei werden Philosophen wieder aktuell, die im Kontext eines logisch-positivistischen, sprachphilosophischen oder systemtheoretischen Denkens als irrationalistisch verdrängt wurden - Schopenhauer und Heidegger zum Beispiel, oder Nietzsche, der seinen Zarathustra ekstatisch ausrufen ließ: »Leib bin ich ganz und gar, und nichts außerdem; und Seele ist nur ein Wort für ein Etwas am Leibe. Der Leib ist eine große Vernunft [,..].« 5 Und ebenso brüchig wie die Kategorie des Subjekts ist die des Sinns geworden; beide sind als aufeinander bezogene und angewiesene Kategorien zusammen in die Brüche gegangen. Die bequem überschaubaren Vorstellungen einer strukturalistischen Semantik haben sich als zu einfach erwiesen. Der Zeichenkörper in seiner Materialität geht eben nicht im willkürlich kodierten Bezeichneten auf, sondern bringt sehr viel mehr ins semantische Spiel ein als die im strukturalistischen Modell allein vorgesehenen phonologisch-digitalen Differenzqualitäten. Er lockt vielmehr sirenengleich mit seinem Leib in Richtungen, die vom Sprecher nicht gewollt und dem Hörer nicht gewärtig sind, wie überhaupt die souveräne Intentionalität der Kommunikationspartner, wie sie das Modell unterstellt, in problematischer Abstraktion davon absieht, daß Sprache kein neutrales Medium oder verfügbares Werkzeug ist, sondern eigenwillig Resonanzen früherer Verwendungen einbringt und das Subjekt in seinem Sinnbegehren mindestens ebenso beherrscht wie sie selbst von diesem beherrscht wird. Dieses freie Spiel der Signifikanten einerseits und die Grenzen, an die eine digitale Analyse der Bedeutungsoppositionen zwischen den Signifikaten stieß, andererseits, lenkten die Aufmerksamkeit zurück auf den Sprachkörper, die materiale Körperlichkeit der Sprache und die Körpersprache, die sich von vornherein und weitgehend dem strukturalistischen Beschreibungsmodell entzogen hatte. Man könnte diese Entwicklung als einen Weg zurück beschreiben, als eine Regression - eine Regression vom Geist zum Körper und dem Bewußtsein von ihm, von den Bedeutungen zu den konkreten Akten und Mitteln des Bedeutens, von den Zeichen zu den Anzeichen, von der Semantik zur Symptomatik, vom Sinn zur Sinnlichkeit. Als Weg zurück fordert dieser Weg zu einer Spurensuche und Spurensicherung auf, zu einer historischen Rekonstruktionsarbeit, die auf eine
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Vgl. dazu in aller Kürze die Zusammenfassung der Theorien des Subjekts von Althusser, Derrida und Lacan bei Catherine Belsey: Addressing the Subject. In: C. Β.: Critical Practice, London 1980, S. 56 - 8 4 . Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra. In: F. N.: Werke. Hg. v. Karl Schlechta, München 1956, Bd. 2, S. 300. Vgl. dazu Christian L. Hart Nibbrig: Die Auferstehung des Körpers im Text, Frankfurt/M. 1985, S. 13f.
Auf der Suche nach dem verlorenen
Leib
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Geschichte des Körpers, der Körpererfahrung und der Körpersprache abzielt. Das Interesse, das gerade in den letzten Jahren die kulturgeschichtlichen Arbeiten eines Mikhail Bachtin, Norbert Elias oder Michel Foucault gefunden haben Arbeiten, die zum Teil mit großer Verspätung jetzt erst intensiv rezipiert werden speist sich aus dieser neuen Forschungsperspektive. Ihr Brennpunkt ist der Übergang vom späten Mittelalter zur frühen Neuzeit: In diesem Zeitraum vollzieht sich für Bachtin der Niedergang des Karnevals, in dem der Leib noch einmal seine grotesken - Urstände feiert;6 in diesem Zeitraum findet jener »Prozeß der Zivilisation« statt, den Elias als einen Prozeß zunehmender Stilisierung des Körpers und körperlicher Verrichtungen beschreibt;7 und für diesen Zeitraum hat Foucault eine rapide fortschreitende Perfektionierung der Kontrolle und Fremdbestimmung des Körpers herausgearbeitet.8 Ein Forschungsprojekt dieser Art bedarf, soll es nicht im Anekdotischen und Aphoristischen steckenbleiben, der interdisziplinären Zusammenarbeit von Anthropologen und Historikern, von Volkskundlern und Sozial- und Medizingeschichtlern, und auch der Kunst- und Literaturgeschichte wird dabei eine wichtige Funktion zukommen, denn ihre Gegenstände - Bilder, Skulpturen, Texte und Theaterstücke - sprechen in besonders beredter Weise vom Körper, ja lassen ihn selbst zur Sprache kommen und sind selbst von eindringlicher Materialität und Körperlichkeit. (Daß dies in besonderer Weise für das Theater gilt, das den menschlichen Körper in bewegter Dreidimensionalität darstellt, versteht sich von selbst.) Die Werke der bildenden Kunst, der Literatur und des Theaters sind in ihrer Vermittlung des Allgemeinen mit dem Partikulären, des Abstrakten mit dem Konkreten »körpernäher« als der theoretische Diskurs der Wissenschaft etwa; sie schmiegen sich dem Körper an und verwandeln sich ihn an. Die ästhetische Erfahrung ist immer auch eine körperliche Erfahrung und nicht nur Sinnsuche und Sinnfindung. Der Kunst- und Literaturwissenschaftler, der Susan Sontag zumindest soweit folgt, daß er von der Ergänzungsbedürftigkeit einer Hermeneutik der Kunst durch eine Erotik der Kunst ausgeht, 9 wird sich daher für dieses Projekt einer historischen Anamnese des Körpers - der Körpergefühle, der Körpererfahrung, des Körperbewußtseins und der Körpersprache - zuständig wissen. Freilich muß er oder sie sich dabei der Risiken bewußt sein, die ein solcher Versuch der Theoretisierung des Körpers und seiner historischen Rekonstruktion mit sich bringt: Die Sinnlichkeit treibt leicht den Sinn aus, und der Diskurs über den
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Michail Bachtin: Rabelais and His World. Übers, v. Helene Iswolsky, Cambridge/Mass. 1968. Norbert Elias: Über den Prozeß der Zivilisation, Frankfurt/M. 1976, 2 Bde. Vgl. vor allem Michel Foucault: Surveiller et punir Paris 1975; dt.: Überwachen und Strafen. Übers, v. Walter Seitter, Frankfurt/M. 1977. Eine neue Studie aus England hat diese Entwicklungsperspektive einer fortschreitenden »de-realization of the body« im England des 17. Jahrhunderts bestätigt, vgl. Francis Barker: The Tremulous Private Body. Essays on Subjection, London 1984, S. 12. Susan Sontag: Against Interpretation. In: David Lodge (Hg.): 20th Century Literary Criticism, London 1972, S. 660.
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Körper verkommt leicht zum nostalgischen Schwärmen, das sich selbst die Möglichkeit konkreter Einsichten und theoretischer Entwürfe verbaut. Insofern ist der Warnung Stefan Hardts in seiner kürzlich erschienenen literaturhistorischen Studie über Tod und Eros beim Essen durchaus zuzustimmen: »Obwohl das theoretische Interesse am Körper in den sogenannten Geisteswissenschaften in letzter Zeit rapide gestiegen ist, verschwindet dafür die Radikalität des Denkens. Die Sinne scheinen eher Surrogat der großen Entwürfe von Sinn zu sein, als daß sie die spekulative Kraft der Reflexion befördern würden. Stattdessen breitet sich diese über den Körper aus, versucht ihn zu erfassen, zu umfassen, um sein Inneres zu spüren, bleibt jedoch meistens an der Oberfläche und nimmt sich zurück, als Deskription. Er wird von allen Seiten beleuchtet, das Interesse gilt den Schattierungen des Schimmers, der auf ihn fällt. So erscheint seine Theorie als >genie ä la modeSchlüsseltradition< geprägt für ein Normenbündel, welches auf breiterer Basis akzeptiert ist als andere Normen. Die Schlüsseltradition ist dementsprechend langlebig und hat ihre historische Merkmalhaftigkeit fast verloren. Das sieht man daran, daß solche Schlüsseltraditionen manchmal die Funktion von Idealtypen übernehmen. So funktioniert z.B. das aristotelische Drama als Idealtyp des Dramatischen in Staigers Gattungstypologie. Sowohl Brecht wie Dürrenmatt beziehen sich in ihren dramatischen Werken noch auf diesen Dramentyp. Ich wende mich nun dem zweiten grundsätzlichen Problem zu, nämlich der Frage, welche Faktoren zu einer Veränderung des literarischen Systems bzw. der literarischen Tradition führen. Da man nicht zweimal das gleiche Kunstwerk schaffen kann, enthält jedes Werk innovative Elemente, von einem Strukturwandel kann man aber nur sprechen, wenn hierarchisch hohe Elemente angegriffen und erneuert werden. Jede Struktur läßt nämlich offensichtlich gewisse Varianten zu, welche nicht als Erneuerung der Struktur aufgefaßt werden. Jede Veränderung einer Struktur wird zugleich von dieser als ihrem Ausgangspunkt bestimmt. 11 8
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Mukarovsky 1973 beschreibt die Norm als »principe regulateur de caractere 6nergetique. Elle fait sentir sa presence ä l'individu agissant comme inhibition de la liberty de son action; ä l'individu qui apprecie, eile apparait comme dirigeant son jugement.« (S. 73) Vgl. auch Fricke 1981. Okopien-Slawinska 1975 spricht von Konvention. Als Beispiele kann man Benns Λ/orgwe-Gedichte nennen, die zu einer außerordentlich heftigen Reaktion geführt haben, man könnte aber auch einen Fall wie V. Hugos Le roi s'amuse nennen, wo die negative Darstellung des Königs zum Verbot des Stücks geführt hat. Zum Begriff des literarischen BewußtseinserschreibenGeschichte der Generäle< genannt hat. Es ist dies eine unhistorische Orientierung an Autoren, die wir auch heute noch für wichtig halten, die aber in ihrer Zeit keineswegs einen Traditionszusammenhang bildeten. Die strukturale Literaturgeschichte bemüht sich dagegen, die historischen Zusammenhänge zu rekonstruieren, die für die Rezipienten der jeweiligen Zeit bestanden. Diese Rekonstruktion geschieht aufgrund von Rezeptionsdokumenten, welche solche Zusammenhänge explizit darstellen, und aufgrund der Werke selbst, welche sich durch die Übernahme von Konstruktionselementen, von Personenkonstellationen und thematischen Elementen in eine gewisse Tradition stellen. Eine Folge dieser Konzeption des literarischen Wandels scheint mir, der Verzicht auf eine einheitliche Periodisierung zu sein. Es bestehen nämlich in jeder Periode ganz verschiedene Normenbündel und damit Traditionsstränge nebeneinander: neben dem shakespearesierenden Götz von Berlichingen, der sogleich ein großer Erfolg wurde, werden die klassizistischen Dramen von Gotter ebenfalls gelobt. Die beiden Traditionsstränge bestehen unabhängig voneinander. Es fällt keinem Rezensenten ein, Goethes Götz am klassischen französischen Drama zu messen. Es fällt aber den Rezensenten umgekehrt auch nicht ein, nur noch den Götz als dramatisches Muster gelten zu lassen. Eine weitere Folge dieser Konzeption literarischen Wandels ist, daß die so beliebte, an politischen Modellen gewonnene Rede von literarischen Revolutionen nicht zulässig ist, denn gerade die Notwendigkeit, gewisse Normen um der Verständlichkeit willen fortzuführen, verhindert Revolutionen. Die französische »Nouvelle Histoire«, welche über 40 Jahre alt ist, 15 hat schon lange zwischen dem raschen Gang der politischen Geschichte und der langsamen Ablösung von Systemen in der Mentalitätsgeschichte unterschieden. Doch ist diese Unterscheidung bis heute kaum in die Literaturgeschichtsschreibung eingedrungen, die es immer noch liebt, sich für die Periodisierung der politischen Geschichte und insbesondere der französischen Revolution zu bedienen. Dieses Festhalten an alten Denkmodellen ist um so unverständlicher, als die Literatur sicher ein Bestandteil der Mentalitätsgeschichte und nicht der politischen Geschichte ist. Die Unterschei-
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Edward Mclnnes: Das deutsche Drama des 19. Jahrhunderts. Berlin 1983. Das epochemachende Werk von Fernand Brau del La Mediterranee et le monde mediterraneen ά l'epoque de Philipp II ist 1947 erschienen. Einen guten Überblick über die Konzepte geben die Artikel im Magazine littiraire No 212, novembre 1984, S. 16-39.
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dung zwischen einem schnellen und einem langsamen Verlauf der Geschichte ist den von Slawinski gemachten Unterscheidungen zwischen kurz- und langlebigen Normenbündeln analog. Mit diesem Hinweis auf neue Denkmodelle wende ich mich der konkreten Analyse einiger Beispiele von Strukturwandel zu. Die folgenden Ausführungen basieren auf einer umfangreichen Untersuchung zu den poetologischen Normen des Dramas in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. 16 Ich kann hier nur zwei Fälle herausgreifen, das sogenannte bürgerliche Drama und das Ritterdrama. Die literarische Struktur, welche die Möglichkeiten für Veränderungen eröffnet, ist das aristotelische oder klassische Drama. Dieser Dramentyp bildet bis weit ins 19. Jahrhundert hinein die Schlüsseltradition des Dramas. Ich kann hier nur andeuten, daß diese Langlebigkeit der Struktur mit den spezifischen Bedingungen der Aufführbarkeit von Dramen zusammenhängt und zwar weniger mit der Bühnentechnik als mit der Aufnahmefähigkeit des Zuschauers und mit der Wirkung, die man auf ihn ausüben will. Es ist kein Zufall, daß Brechts Postulat eines nicht-aristotelischen Dramas auch mit einer anderen Wirkungsweise des Dramas einhergeht. Die Diskussion um die Teleologie der Gattung müßte dahingehend präzisiert werden, daß es zwar nicht irgendwelche unhistorischen Idealformen von Gattungen gibt, daß es aber zur Erreichung eines bestimmten Ziels adäquatere und weniger adäquate Strukturen gibt. 17 Das aristotelische Drama, welches den Bezugspunkt der Gattungsdiskussion, in dem mich hier interessierenden Zeitraum bildet, setzt einen Zuschauer voraus, welcher starken emotionalen Wirkungen ausgesetzt werden soll, die etwa mit dem Paar >Furcht und Mitleid< umschrieben werden. Damit eine solche Wirkung zustande kommt, müssen gewisse Bedingungen erfüllt sein; so muß der Zuschauer z.B. gut informiert sein, damit er das Schreckliche kommen sieht, das Stück muß zudem so gestaltet sein, daß der Zuschauer nicht aus der Illusion fällt. Die entsprechenden strukturellen Normen sind aus einer langen Diskussion bekannt: Einheit der Handlung sowie eine mehr oder weniger strenge Beachtung der Einheit des Orts und der Zeit, eine strenge Kausalverknüpfung der Handlung, die auf das Ende hinzielt. Da die Wirkung um so größer ist, je größer das Unglück ist, werden Stoffe gefordert, denen eine gewisse Würde eigen ist, was auch eine entsprechende rhetorische, versifizierte Sprache mit sich bringt. Das klassische französische Drama galt als der Repräsentant dieses Dramentyps. Das klassische französische Drama gehörte während des ganzen 18. Jahrhunderts zum literarischen Bewußtsein, selbst Schiller und Goethe haben Dramen von Racine und Voltaire für die Bühne bearbeitet. Etwa in der Mitte des 18. Jahrhunderts beginnen verschiedene Versuche, diese Dramenform zu erneuern. Diese führen schließlich im Bereich des ernsthaften Dramas um etwa 1770 zu einer Vervielfachung der Systeme, und zwar kann man
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S. Zeller 1988. Ich verzichte im folgenden alle Aussagen mit komplizierten Quellenzitaten zu belegen, man wird alle Belege in der angegebenen Arbeit finden. Vgl. Hankiss 1972. Sein Begriff der maximalen Adäquanz der guten Gestalt (S. 43).
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zunächst drei Hauptsysteme unterscheiden, welche sich wiederum in untergeordnete Systeme aufgliedern. Durch Differenzierung des Stoffes und zum Teil auch der Konstruktionsnormen entstehen die drei Typen: bürgerliches Drama, historisches Drama und erneuerte klassische Tragödie, wie sie vor allem von Schillers klassischen Dramen repräsentiert wird. Das System des bürgerlichen Dramas teilt sich nochmals auf in bürgerliches Trauerspiel und das sogenannte Schauspiel. Das historische Drama teilt sich auf in Ritter-Schauspiel und vaterländisches Schauspiel. Historisch gesehen begannen die Angriffe auf das klassische dramatische System mit dem sogenannten bürgerlichen Drama. Die uns heute bekannte Reihe bürgerlicher Dramen (Miss Sara Sampson, Emilia Galotti, Kabale und Liebe und Maria Magdalena) ist eine Rekonstruktion des 19. Jahrhunderts, im 18. Jahrhundert sah diese Serie ganz anders aus. Angeführt wurde sie von Lillos Kaufmann von London, dem sowohl in Frankreich wie in Deutschland die Funktion eines Prototyps zukommt, es sind dann Moores Spieler, Diderots Fils naturel und Ρere de famille, Gemmingens Hausvater, die Stücke von Iffland, Kotzebue und Babo zu nennen. Es scheint mir bezeichnend zu sein, daß der erste Angriff auf die Normen des aristotelischen Dramas vom Stoff ausging. Die thematischen Normen haben mit den ideologischen Normen zusammen den direktesten Bezug zur Wirklichkeit, weshalb sie schnelleren Veränderungen unterliegen als andere Normen. Literarische Veränderungen geschehen sehr oft über die thematischen Normen. Die Schriftsteller in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts äußern denn auch mehrfach, die Stoffe seien verbraucht, man könne nichts Neues mehr darstellen und ganz im Sinne von Mukarovskys Desautomatisationstheorie, man könne den Zuschauer nicht mehr frappieren. 18 Es gibt schon in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts einzelne Versuche, neue Stoffe einzuführen, indem man z.B. nicht antike, sondern näher bei der Gegenwart liegende Stoffe behandelt. Beispiele sind Voltaires Zaire, La Mottes Ines de Castro19 und J. E. Schlegels Canut. Diese Versuche blieben aber vereinzelt. Im literarischen Bewußtsein entstand erst etwas Neues, als Diderot und andere ihre Stoffe nicht mehr der Geschichte, sondern den Romanen, Balladen- und Novellensammlungen oder gar einfach dem Bereich der »Faits divers« entnahmen. Solche Stoffe galten als näher bei der Wirklichkeit liegend, sie betrafen den privaten und nicht den öffentlich-staatlichen Bereich wie die Stoffe des klassischen Dramas. Das bürgerliche Drama stellt damit ein Beispiel dafür dar, wie die Übernahme von Elementen einer andern Gattung zum literarischen Wandel führen kann. 20 Daß man im Streben nach Erneuerung der Gattung
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Diderot schreibt z.B.: »On dit qu'il n'y a plus de grandes passions tragiques ä cmouvoir; qu'il est impossible de presenter les sentiments eleves d'une maniere neuve et frappante.« (Denis Diderot: CEuvres completes. ed. Chouille, Bd. 10, S. 140). Aus diesem Drama übernahm Lessing Elemente in Miss Sara Sampson. Okopieü-Slawinska 1975, S. 29 weist auf diese wichtige Quelle literarischer Erneuerung hin.
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in diese Richtung suchte, hängt mit verschiedenen Faktoren zusammen: zum einen veränderte sich die Konzeption dessen, was als wahrscheinlich und natürlich galt; ich erinnere nur an die ästhetische Diskussion um das Prinzip der Naturnachahmung, welche letztlich wohl auch zum Erfolg des Romans beitrug, der dann seinerseits auf das Drama einwirkte. Zum andern ist aber auch eine neue Wirkungskonzeption, welche auf eine direktere Belehrung des Zuschauers ausging und der Zugang neuer, weniger gebildeter Kreise zum Theater einzubeziehen. Die Übernahme solcher Stoffe aus Bereichen, welche dem Zuschauer aus eigener Erfahrung bekannt waren, wirkte sich auf andere Normen aus. Dies zeigt, daß durch die Veränderung einer Norm das ganze System destabilisiert wird und die Veränderung anderer Normen provoziert wird. Die naheliegendste Auswirkung ist jene auf die Sprechweise der Personen. Die auf der Bühne dargestellten Bürger, die mit ihren Alltagsangelegenheiten beschäftigt sind, können nicht in den stilisierten Versen der heroischen Tragödie sprechen, sie müssen Prosa sprechen, Verse wurden als übertrieben empfunden. Es entstanden neue stilistische Normen, welche sich am umgangssprachlichen Sprachgebrauch orientieren. Ausrufe, abgebrochene Reden und der Gebrauch von ausdrucksstarken Gesten traten an die Stelle der durch brillante Rhetorik dominierte Ausdrucksweise des klassischen französischen Theaters. Diese neue stilistische Norm setzte sich so schnell durch, daß Schillers Verwendung des Verses Aufsehen erregte. Das deutet darauf hin, daß stilistische Normen ebenfalls relativ kurzlebig sind im Gegensatz etwa zu gewissen Konstruktionsnormen, die meist lange beibehalten werden. Auch im Falle des bürgerlichen Dramas war man zunächst der Meinung, dieses stelle dieselben Tugenden und Laster dar wie die heroische Tragödie, bloß eben im bürgerlichen Milieu. So schrieb Lessing bekanntlich, er wolle mit Emilia Galotti eine bürgerliche Virginia schreiben. Es zeigte sich aber schon bald, daß die Handlungsmotive im bürgerlichen Milieu im Alltäglichen liegen müssen: Gewinnsucht, Spielleidenschaft, Vermeidung von Mesalliancen, Sorge um die Familie geben die wichtigsten Motive ab, während im klassischen Drama Ehrgeiz, Rache, Exzeß der Leidenschaft die Handlungsantriebe waren. Die Alltäglichkeit der Handlungsmotivation im bürgerlichen Drama rechtfertigte den tragischen Schluß in den meisten Fällen nicht, wie die Diskussion um den Schluß der Emilia Galotti nur allzu deutlich zeigt (vgl. Zeller 1987). Das bedeutet, daß zwischen den Handlungsmotiven und dem tragischen Schluß eine Diskrepanz entsteht, die immer unbefriedigender wird, so daß sich immer häufiger die Lösung eines glücklichen Schlusses anbietet. Dieses neue Konstruktionsprinzip scheint das bürgerliche Drama endgültig aus dem Bezugsfeld der klassischen Tragödie gelöst zu haben, als deren Variante es bis dahin aufgefaßt wurde; es wird zu einer eigenen Gattung, »der dritten Gattung«, wie Roger Bauer 21 sie nennt (die Zeitgenossen nennen sie häufig einfach »Schauspiel«), welche sich nun nicht mehr an der klassischen Tragödie
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Siehe Roger Bauer: Die wiedergefundene dritte Gattung; oder wie bürgerlich war das bürgerliche Drama. In: Revue d' Allemagne 5, 1973, S. 475-496.
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zu orientieren braucht, wodurch weitere Möglichkeiten eröffnet werden. Wenn man aus diesem Sachverhalt, der sich meiner Ansicht nach auch beim Ritterdrama bestätigt, eine Gesetzmäßigkeit für die Entstehung neuer Gattungen ableiten möchte, so könnte man sagen, eine Variante einer Gattung erhält dann Eigenständigkeit, wenn ihre Normen sich so geändert haben, daß sie nicht mehr auf die ursprüngliche Gattung bezogen wird und folglich als eigene Form im literarischen Bewußtsein existiert. Empirisch kann man diesen Sachverhalt an den Rezensionen nachweisen, welche die jeweiligen Stücke, sei es auf die Tragödie, sei es eben auf das bürgerliche Drama beziehen. Durch die theoretischen Arbeiten von Diderot, die durch Lessing in Deutschland bekannt wurden, stand den Rezensenten ein neues Bezugssystem zur Verfügung. Hat sich die Gattung einmal abgespalten, unterliegt sie eigenen Entwicklungen. Im Falle des bürgerlichen Dramas wurden die Konstruktionsnormen immer mehr gelockert, man war der Meinung, das Schauspiel bzw. Familiengemälde habe weniger strengen Regeln zu gehorchen als die klassische Tragödie. 22 Es wurde auch insbesondere die Ausrichtung auf den Schluß hin gelockert, man liebte es, Szenen allein wegen ihrer rührenden Wirkung einzufügen, auch wenn sie keinen stringenten Zusammenhang mit dem Ganzen hatten. Die ästhetischen Anforderungen waren geringer als bei der Tragödie, was nicht zuletzt auch damit zusammenhängt, daß eine andere Publikumsschicht, deren Normen eher am Roman als am Schauspiel gebildet waren, ins Theater ging. Das neue Publikum wollte ein direktes Vergnügen aus den Stücken ziehen, welche ihm eine bekannte Welt vorstellten. Die Wirkungsmechanismen der Stücke von Kotzebue und Iffland sind uns aus der Trivialliteratur bekannt. Die Ausrichtung auf die unmittelbare Wirkung kam noch einer anderen Tendenz der Zeit entgegen, nämlich der Auffassung, Literatur hätte eine belehrende Wirkung auszuüben. Wenn man in den Poetiken manchmal auch der klassischen Tragödie belehrende Wirkung zuschrieb, so war man doch der Auffassung, daß andere Gattungen diese Funktion wirkungsvoller übernehmen. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts übernahm nun das bürgerliche Drama diese Funktion einer direkten Belehrung, das Drama sollte dem öffentlichen oder Privatnutzen dienen, wie Valdastri in seiner Preisschrift über das bürgerliche Trauerspiel von 1794 schreibt. Man kann wohl ohne Übertreibung sagen, daß das bürgerliche Drama die erfolgreichste dramatische Gattung der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts geworden ist, weil es wie keine andere dramatische Gattung den Erwartungen des Publikums, den Anforderungen, die man an die Literatur stellte, entgegenkam. Sie ermöglichte zudem Schreiberlingen, welche relativ wenig poetisches Talent hatten, sich in der angesehenen Gattung des Dramas Ruhm zu erwerben. Aufschlußreich für das Funktionieren der literarischen Evolution ist schließlich auch ein Blick auf die Nachbarliteraturen. In seinem Nachwort zu Lillos Kauf22
Ich halte es aber trotzdem nicht für richtig, das bürgerliche Drama global als »unregelmäßig« zu bezeichnen. Eine solche Bezeichnung bringt diese Gattung in ein falsches Bezugssystem.
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mann von London stellt K.-D. Müller fest, daß das bürgerliche Drama in England und Frankreich weit weniger Erfolg hatte als in Deutschland, wo das Bürgertum weniger emanzipiert war.23 Dies zeigt, daß für die Erklärung literarischen Wandels einfache soziologische Bezüge nicht ausreichen, sondern daß eine Gattung bzw. Untergattung in einem komplizierten Bezugssystem steht, welches erst über viele Vermittlungen mit soziologischen Fakten zusammenhängt. Daß sich in Frankreich das bürgerliche Drama nicht durchsetzen konnte, ist verständlich, wenn man bedenkt, daß in Frankreich die Normen des klassischen Dramas noch bis zu Hugos berühmtem Preface de Cromwell von 1827 gelten, während in Deutschland beim Auftreten des bürgerlichen Dramas kein festes Normengefüge bestand, da man keine Dramatiker vom Range eines Corneille, Racine oder Voltaire aufzuweisen hatte, die normenbildend gewirkt hätten. Lessing vertritt in seiner Hamburgischen Dramaturgie nebeneinander die Poetik des klassischen Dramas und jene Diderots. Dieses labile Normensystem ermöglichte wohl auch eine einflußreichere Shakespeare-Rezeption als in Frankreich, so daß auch von dieser Seite die Lockerung der Konstruktionsnormen und die Einführung neuer stofflicher Elemente begünstigt wurden. Damit sich eine neue Gattung durchsetzt, braucht es auch eine gewisse Produktion, welche in Deutschland durch ein Fehlen von »Original-Schauspielen« herausgefordert wurde. Man hat also mit einer komplexen Interaktion von Faktoren zu rechnen, die verschiedenen Systemen angehören: der Zustand des Gattungssystems führt zum Bedürfnis nach gewissen Innovationen, welche ihrerseits von den Anforderungen übergeordneter Systeme in gewisse Richtungen gelenkt werden. Die These, daß die literarische Evolution vom vorangehenden literarischen System bestimmt werde, läßt sich gerade an der unterschiedlichen Bedeutung des bürgerlichen Dramas in Frankreich und Deutschland zeigen. War in Frankreich das klassische Drama unangefochten, so erlaubte in Deutschland die labile Situation des dramatischen Systems die Durchsetzung neuer Gattungen mit weniger Aufwand. Andererseits zeigt aber auch das Beispiel des Ritterdramas, daß in einer Situation, wo nach neuen Lösungen gesucht wird, nicht nur eine, sondern mehrere Richtungen der Veränderung zur Verfügung stehen. Das Ritterdrama dient mir dazu, einen anderen Typus literarischen Wandels zu beschreiben. Der Unterschied zum bürgerlichen Drama wird sofort deutlich, wenn man sich klarmacht, daß beim bürgerlichen Drama der Anfang der Gattung keineswegs feststeht und zum Teil erst viel später rekonstruiert wurde,24 während beim Ritterdrama mit dem Erscheinen des Götz von Berlichingen eine neue Gattung geschaffen wurde, welche zu einer Flut von Ritterdramen führte bis hin zu Kleists Parodie auf diese Gattung im Käthchen von Heilbronn. Konnte das bürgerliche Drama in seinen künstlerisch befriedigenden Ausprägungen und insbesondere am Anfang als Variante des aristotelischen Dramas 23 24
George Lillo: Der Kaufmann von London ( . . . ) Hrsg. von K. D. Müller, Tübingen 1981. Die Diskussion geht darum, ob das sogenannte rührende Lustspiel als Vorstufe des bürgerlichen Dramas angesehen werden soll oder nicht.
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aufgefaßt werden, so ist dies für das historische Drama und seine spezielle Form das Ritterdrama nicht der Fall, weil eine Umschichtung der Normen stattgefunden hat. Eine solche hat innerhalb des bürgerlichen Dramas mindestens in seinen Anfängen nicht stattgefunden: die Hierarchie der Normen blieb dieselbe wie im klassischen Drama. Diese Umschichtung der Normen ist ein von den tschechischen Strukturalisten häufig beschriebenes Phänomen der literarischen Evolution. Normen, die im vorhergehenden Gattungssystem eine dominante Rolle innehatten wie die Handlung und die Einheit der Handlung im aristotelischen Drama, sinken ab und andere Elemente übernehmen die dominante Rolle, im Falle des historischen Dramas die Darstellung von Charakteren und Milieu. An die Stelle der Ökonomie der auf Handlung ausgerichteten Mittel des aristotelischen Dramas tritt eine Vervielfachung von Szenen, Personenzahl und beschreibenden Details, was zu sogenannten Gemälden führt. Das Ritterdrama ist zugleich ein Beispiel für die Wirkung des Individuums in der Literaturgeschichte. Ohne den Götz von Berlichingen hätte es schwerlich eine Flut von Ritterdramen gegeben, ohne Emilia Galotti hätte es aber sehr wohl ein bürgerliches Drama gegeben. Es scheint, daß die individuelle Initiative um so wichtiger wird, je mehr das Werk gegen die gültigen Normen verstößt. Solche Initiativen können aber, wenn sie nicht günstig fallen, im Sand verlaufen und damit historisch unwirksam werden, man könnte als Beispiel für das letztere die zeitgenössische Rezeption von Büchners Dantons Tod nennen, dessen Innovationen keinerlei Wirkung zeitigten in einer Situation, wo sich die klassischen Normen erneut durchzusetzen begannen. Im Falle des Götz war eine günstige historische Situation gegeben, da man auf der Suche nach neuen Stoffen auch auf solche gestoßen war, welche sich den Darstellungsmöglichkeiten des klassischen Dramas entzogen. So erfand man das Lesedrama, wodurch man sich von der Aufführbarkeit und damit von den strengen Konstruktionsnormen lossagte. Als erster Beleg für diese Konzeption dürfte Klopstocks Der Tod Adams (1757) gelten. Klopstock plädiert in der Vorrede für das Lesedrama, um mehr Freiheit bei der Darstellung zu erhalten. Diese Freiheit erstreckt sich nicht nur auf die Nicht-Einhaltung der drei Einheiten, sondern auch auf stoffliche Elemente, die gegen den Anstand verstoßen und deswegen bei der Aufführung nicht geduldet werden können. Dieser Verstoß gegen ideologische Normen ist ein Grund dafür, warum z.B. Schiller sein auf einer Intrige aufbauendes Drama Die Räuber für unaufführbar hielt und ihm den Untertitel »Schauspiel« und nicht »Trauerspiel« gab. Als Vorbild für diese Neuerungen galten Shakespeares sogenannten Historiendramen, deren Muster die Richtung der Innovationen bestimmte und wohl auch deren Durchsetzung erleichterte. Daß das Ritterdrama im Gefolge des Götz zu einer eigentlichen Modeerscheinung werden konnte, hängt aber noch mit weiteren Faktoren zusammen. Zum einen kamen die Ritterdramen dem Verlangen der Zuschauer nach Stoffen, die ihn unmittelbar angehen, entgegen, denn man sah die Stoffe der eigenen Geschichte, auch wenn sie noch so unbekannt waren, als aktuell an. Weit wichtiger für den Erfolg beim Publikum war aber wohl, daß diese Ritterdramen wie das
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bürgerliche Drama rührende Szenen zwischen Ehegatten, Vater und Kindern brachten, daß sie diese aber mit fremdartigen Elementen wie Zigeunerszenen, Geheimgerichte, prachtvolle Aufzüge kombinierten und so mit zusätzlichen Reizen versahen, die dem etwas alltäglichen bürgerlichen Drama abgingen. Gerade diese »exotischen« Elemente, die im Götz mehr oder weniger zufällig dastanden, wurden zusammen mit den zunächst wohl auch eher zufälligen Namen sehr bald zu den bedeutendsten Faktoren, ja zu den Kennzeichen der Gattung und wurden deshalb in den meisten Ritterdramen nachgeahmt. Im Laufe der Zeit verselbständigen sich diese Konventionen so sehr, daß das Ritterdrama zum realitätsfernsten Dramentyp des ausgehenden 18. Jahrhunderts wird und sich in seinen Mitteln immer mehr der Oper nähert - , ein Element, welches im Käthchen von Heilbronn deutlich zutage tritt. Vom Götz von Berlichingen hat sich eine zweite Untergattung abgespalten, das sogenannte vaterländische Drama, denn Götz war auch der Inbegriff eines deutschen Mannes. Im Gegensatz zum Ritterdrama übernimmt es nicht so sehr die übernatürlichen Elemente als die historischen. Es interessiert aber nicht die Geschichte allgemein, sondern eben die vaterländische, die sich im Falle Deutschlands oft auf die einzelnen Länder beschränkt. Im übrigen liebt aber auch das vaterländische Schauspiel rührende Szenen, und es ist ebenfalls durch eine lockere Handlungskonstruktion und durch eine Vorliebe für beschreibende, charakterisierende Szenen gekennzeichnet. Dem vaterländischen Drama war keine längere Lebensdauer beschieden als dem Ritterdrama, welche sich beide ständig an der Grenze zur Trivialdramatik bewegten, wenn sie nicht geradezu dahin abglitten. Um so interessanter ist es, daß ein Autor wie Schiller aus diesen Gattungen Elemente in seine Dramen übernahm, das deutlichste Beispiel ist die Verwendung von Prachtsszenen und übernatürlichen Elementen in der Jungfrau von Orleans. Wir haben es hier mit dem interessanten Fall der Übernahme von Elementen aus der Trivaldramatik zu tun, die der Belebung einer höhern dramatischen Gattung dienen. Das Phänomen ist ja vor allem aus Kleists literarischem Werk bekannt. Daß Götz von Berlichingen diese Rolle eines Prototyps für zwei neu Untergattungen übernehmen konnte, hängt mit seiner spezifischen Verwendung literarischer Normen zusammen. Was G. Jäger 1974 für die Wirkung des Werther gezeigt hat, nämlich daß er auf dem Hintergrund verschiedener Normen gelesen werden konnte, gilt in gleicher Weise für den Götz• Den stofflichen Normen des bürgerlichen Dramas entspricht die Rolle von Götz als Familienvater, dem Interesse am heroischen Drama kommt die Adelheid-Weisslingen-Handlung entgegen, dem vaterländischen Interesse die Zeichnung von Götz als deutschem Mann. Goethe erfüllte damit die Erwartungen des Publikums und sicherte sich so seine Wirkung. Der Fall des Götz zeigt, wie zahlreich die Faktoren sind, die bei der Durchsetzung literarischer Innovationen eine Rolle spielen, er zeigt auch, daß der Rezipient eine neue Gattung mit den ihm zur Verfügung stehenden Normen wahrnehmen können muß, damit eine erfolgreiche Rezeption zustande kommt, welche ihrerseits Bedingungen für die Durchsetzung neuer Systeme ist. A. Okopien-Slawinska
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(1974) macht darauf aufmerksam, daß nur eine konventionalisierte, d.h. vom Publikum sanktionierte Originalität zur literarischen Evolution beiträgt. Der in der traditionellen Literaturgeschichte so wichtige Begriff der Originalität, des Bruchs mit der Tradition wird damit relativiert zugunsten des Begriffs der Konventionalität, welcher die Kontinuität der literarischen Tradition sichert. Originalität ist nur ein momentaner, vorübergehender Zustand. Götz von Berlichingen hat seine Originalität im Augenblick seines Erscheinens durch die zahlreichen Nachahmungen allmählich verloren, aber nur diese Nachahmungen sichern ihm die Rolle, die er in der Entwicklung des Dramas im 18. Jahrhunderts einnimmt. Die Gegenbeispiele sind zahlreich: die Versuche von Klopstock und Klinger trugen ebenso wenig zu einer Erneuerung des Dramas bei wie ein halbes Jahrhundert später jene Grabbes oder Büchners. Die Sanktion durch das Publikum ist unabdingbar für die Durchsetzung neuer Formen und damit für den literarischen Wandel. Das Beispiel des Götz wie jenes des Werther zeigt, daß die Initiative zur Erneuerung dem Individuum zukommt,25 und Goethe scheint in ausgeprägtem Maße diese Rolle gespielt zu haben. Das Beispiel von Goethe zeigt aber auch, daß das Auftreten starker Persönlichkeiten, wie Mukarovsky (1977) sagt, von der internen Entwicklung der Literatur bestimmt ist. Man könnte als Gegenbeispiele die schon einmal erwähnten Grabbe und Büchner anführen. Grabbes Napoleon und Büchners Danton enthalten Innovationen, die sich durchaus mit denjenigen des Götz vergleichen lassen, sie konnten sich aber auf dem Hintergrund eines sich in klassizistische Richtung entwickelnden Geschmacks nicht durchsetzen, und sie können daher im Sinne Mukafovskys nicht als starke Persönlichkeiten betrachtet werden. In diesem Sinne bedeutet diese Theorie der Literaturgeschichte auch die Abwendung vom Konzept einer Genieästhetik, wie es seit dem 18. Jahrhundert die literarische Diskussion beherrscht, und dies obwohl man in benachbarten Wissenschaften von der Konzeption eines für alle Entwicklungen und Veränderungen verantwortlichen Individuums längst Abschied genommen hat.
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25
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David Ε. Wellbery
Überlegungen zum Strukturwandel der Symbolik
I Die Thesen, die ich hier zur Diskussion stellen möchte, knüpfen an Gedanken an, die Gerard Genette - es sind nun siebzehn Jahre her - unter dem Titel Poetique et histoire vorgetragen hat. 1 Genette geht davon aus, daß historische Darstellung mit Transformationen zu tun hat, daß heißt, daß ihre Gegenstände sowohl Permanenz als auch Variation aufweisen müssen. Diese elementare Überlegung hat zur Konsequenz, daß die literarischen Werke als solche unmöglich den Gegenstand literaturhistorischer Darstellung ausmachen können. Es kann keine Geschichte der Werke geben, es sei denn man begnügt sich mit der Feststellung bloßer Sukzession. Daß diese Argumentation Grundannahmen gegenwärtiger Forschung in Frage stellt, dürfte auf der Hand liegen, denn sowohl die literaturwissenschaftliche Geschichtsschreibung, wie sie sich in den neuen Sozialgeschichten der Literatur manifestiert, als auch die einflußreiche wirkungsgeschichtliche Hermeneutik Gadamers, orientieren sich noch am Werk als Bezugseinheit ihres wissenschaftlichen Verfahrens. Vorausgesetzt wird, daß die Werke im geschichtlichen Prozeß aufgehen, daß sich ästhetisches Bewußtsein in geschichtliches auflösen läßt. 2 Genettes Ausführungen machen klar, daß diese Annahme als >category mistake< zu betrachten ist. Genau wie Sprachgeschichte keine der einzelnen Äußerungen ist, so ist Literaturgeschichte nicht als Geschichte der Werke durchführbar. Gegenstand literaturhistorischer Darstellung sind vielmehr nach Genette die werktranszendenten Elemente oder Formen, beispielsweise die rhetorischen Kodes, die narrativen Verfahrensweisen, die poetischen Strukturen. Diese sind es, und nicht die Werke, die sich geschichtlich erhalten und modifizieren. Daß solche über den Einzeltext hinausgehenden Strukturen den geeigneten Gegenstand literaturhistorischer Darstellung konstituieren, ist meines Erachens eine trifftige Feststellung; der Begriff der »Form« jedoch, unter den Genette diese Strukturen subsumiert, scheint mir einen gewissen Widerspruch in sich zu bergen. Der Formbegriff ist nämlich dem Begriff des Werkes innigst verwandt; er führt daher ungewollt zur Vermengung von ästhetischer Kritik und historischer Darstellung, die es zu vermeiden galt. Hierin wurzelt das perennierende Problem historischer Untersuchungen, die sich an Formen orientieren: ihre Befunde lassen sich mit anderen
1 2
Genette 1972, S. 13-20. Vgl. Stierle 1983.
104
David Ε. Wellbery
Aspekten der sozialen und kulturellen Wirklichkeit nicht mehr in Verbindung bringen. Mit anderen Worten, der Formbegriff präjudiziert die historische Analyse auf eine Weise, die die auch von Genette erwünschte Synthese von Literaturgeschichte und >histoire generale< von vornherein unmöglich macht. Damit komme ich zu meinem eigenen Theorie Vorschlag. Um dauerhafte und modifizierbare, also transformationsfähige Strukturen zu gewinnen, die den Gegenstand literaturhistorischer Darstellung abgeben sollen, reicht es nicht hin, vom ästhetischen Bereich der Werke Formen zu abstrahieren, die dann erst nachträglich mit anderen Lebensbereichen vermittelt werden. Es müssen vielmehr solche Strukturebenen untersucht werden, die sowohl der literarischen Domäne als auch der umgebenden Kultur zukommen. Es gilt Untersuchungsebenen aufzufinden, deren Elemente auch in nichtliterarischen Praktiken vorkommen. Das führt keineswegs zur Homogenisierung der kulturellen Domäne, zur Verwischung des spezifischen Charakters von >LiteraturSehen< und >Sprache< (genauer: >Schriftkontinuierliche < bzw. >diskontinuierliche< Auffassungsweisen von Wirklichkeit, als wirkungsv o l l bzw. >wirkungsarme< Erfahrungs- und Darstellungsmodi. Im Werk des jungen Goethe und seiner Zeitgenossen entfaltet sich diese Opposition über verschiedene Bereiche. Das zweite Textbeispiel, das von Herder stammt, artikuliert sie im
3
Levi-Strauss 1958 a.
Überlegungen zum Strukturwandel der Symbolik
105
Zusammenhang mit einem dichterischen Problem, das dritte, gleichfalls von Herder, im Hinblick auf eine historische Unterscheidung. Indem wir schließlich mit Text 4 zum Wertherroman zurückkehren, treffen wir auf eine homologe Gegenüberstellung zweier Charaktertypen. Schema 1 resümiert die Ergebnisse als Tabelle der homologen Oppositionen. Nun will ich nicht behaupten, daß diese kursorische Analyse die in den zitierten Texten operative Symbolik adäquat darstellt. Zwar bin ich der Auffassung, daß die Matrix entscheidende Aspekte der geniezeitlichen Unmittelbarkeitsideologie ans Licht bringt; und ich bin gleichfalls der Auffassung, daß manches, was sich als literaturwissenschaftliche Deutung der zitierten Texte versteht, nur die umrissenen symbolischen Oppositionen fortschreibt; doch der Zweck meiner Darlegung war es lediglich, ein handgreifliches Beispiel zu liefern, woran sich der Begriff der Symbolik näher präzisieren läßt. Was ist der Status einer solchen Matrix? Welcher ist der Gegenstand, den er beschreibt? Auf diese Fragen hat Dan Sperber, wie mir scheint, eindringliche Antworten gegeben, die für die Literaturwissenschaft von höchster Relevanz sind. 4 Sperber räumt nämlich mit der These auf, symbolische Elemente seien Bedeutungsträger, die Symbolik selber sei ein Kode, der die Übermittlung verschlüsselter oder verdeckter Botschaften ermöglicht. Um nur bei unserem rudimentären Beispiel zu bleiben: der Term >Pedant< (den ich freilich ohne weitere Erklärung eingeführt habe) bedeutet nicht etwa einen der auf gleicher Ebene stehenden Terme >Schrift< oder >Literaturtot< oder >diskontinuierlichDer Pedant ist ein Todfeind aller Inversionenursprünglicher< Poesie, die >unmittelbaren, >lebendiger< Ausdruck ist, Vorbild >geniehafter< Produktion. Die Orientierung an >Regelntöten< hingegen diese spontane Ausdruckskraft ab, >zerstückeln< die hervorströmende Empfindung. Das >Gesetz< erdrosselt die >NaturVater< - und hier gehe ich über das bisher Entwickelte hinaus, aber, wie ich meine, nicht ohne Berechtigung unterwirft das Begehren des Sohnes seinem Nein. Man sieht: das Setzen in Anführungszeichen und die daraus resultierende Fokalisierung delimitieren das Feld der Evokatiton, aber die Wahl der assoziativen Pfade, denen diese folgt, bleibt relativ frei. Nicht nur das: die symbolische Darstellung schreibt ihrer Interpretation kein Ende vor, denn die Evokation trifft im Laufe ihrer Bewegung durch das kulturelle Wissen auf weitere symbolische Darstellungen, die ihrerseits eine evokative Verarbeitung in Gang setzen. Eine ausgebaute kulturelle Symbolik ist immer auf diese Art durch einen >feed-backGeschenk des Phallus< ans Subjekt, andererseits >sexuelle Vereinigung< mit dem weiblichen Du. Die unter 6 angeführten Texte sollen diese Behauptungen unterstützen. Es gibt nun Texte, die ausschließlich um diese Ursprungserfahrung kreisen; sie sind euphorischen Charakters und geben einen Anschein von Autoproduktivität, die nur durch Ausblendung der anderen Momente des Komplexes aufrecht erhalten wird. Verleugnet wird in solchen Texten vor allem das Moment des >VerbotsTrennung< einschreibt und damit die Identität des Subjekts bedroht. Solche Bedrohung erscheint in den Texten mal als Einbruch des >Dunklen< ins visuelle Feld, mal als >Verlust< der Immanenz künstlerischer Produktivität, mals als Intervention einer >männlich-göttlichen< Instanz, die das >Gesetz< vertritt. In vielen Texten wird die Trennung als schon vollzogen gesetzt; das Subjekt redet dann als >Wanderer< im Zustand des Abgeschnittenseins vom Ursprung und sein Monolog versucht die verlorene Einheit, wenigstens als >Bildmeteorologischen< Erscheinungen verbirgt. In einer satirischen Tonalität, die allerdings die Ernsthaftigkeit des Konfliktes nicht ganz zu verschleiern vermag, erscheint die bedrohliche Instanz als >Kunstmarkt< und >pedantische KritikGenie< (unmittelbarer, lebendiger Ausdruck)
vs.
>Pedant< (geregelte, tote Sprache)
5) Die Deutung einzelner mythologischer Gebilde ist von uns nicht oft versucht worden. Sie liegt für das abgeschnittene, Grauen erweckende Haupt der Meduse nahe. Kopfabschneiden = Kastrieren. Der Schreck der Meduse ist also Kastrationsschreck, der an einen Anblick geknüpft ist. Aus zahlreichen Analysen kennen wir diesen Anlass, er ergibt sich, wenn der Knabe, der bisher nicht an die Drohung glauben wollte, ein weibliches Genitale erblickt. Wahrscheinlich ein erwachsenes, von Haaren umsäumtes, im Grunde das der Mutter. Wenn die Haare des Medusenhauptes von der Kunst so oft als Schlangen gebildet werden, so stammen diese wieder aus dem Kastrationskomplex und merkwürdig, so 17 18 19
Herder 1953, I, S. 578. Ebd. S. 836. Fischer-Lamberg 1963ff., IV, S. 146.
114
David Ε. Wellbery
Schema 1: kontinuierlich lebendig unmittelbar
diskontinuierlich tot mittelbar
Wirklichkeitsauffassung
>Sehen
Schrift
Gestik
Schrift
Naturpoesie
Literatur
Genie
Pedant
der sich dem Teufel ergeben hätte und [ . . . ] mit allerlei Teufelskünsten sich abgebe ω -S a υ § ω α ω Χ) U i C A υ Χ Λ3Μ S 3 : •S l-s Ο ε« •ίΛ S.SΌ• Ν CU 5 1/523 2 •π Q.aΤ Οc J ο e ω 0 ) ^ ε 3 οο ( Λ . 3 S? a 3 ω χ ι ' 5 ε Sο Ο sΛ β ^ Χ) υ V Β 3 Βω •ε ^ o«nι α Λ 'δ ω α « Ι § ι—I "öQh ω Ji a3 Β ω S ·™ 2 « ω ε Λ Ο > . wο «SJ S Ο • Ό 00 Ι-ε . CO ο Βa S2Ο 3W S c Ο JJε * ^ Ε • C Τ 3 rt J .Τ 3 ° « Q β . a S « 2 5 3 χι .2 [ P u B 3 Q ϊ § ΒS 3 ££ . α Β .2 3 C O ΒC§ Όω Ό ωÄ Β ε XaI a ^t> ε _cο -ο•υ α ' ö bω β ε2 ω . υεω Α ο υ ο ο r n .5uw • = ω j= 5 IE ε Ö Ο cΒ ω o p J 3 1 ο δ ω C υ Ό—1 c υ > . χυ:Q)Β s-S'ä οΜΤu ^ Ε :3 is 1£c 33 UΧ> ιΓ [ΰ Ä.-S Ε .2 ω 313 ηυ • < u Ν !> Τ3S -a C/5 Cd a ca3ν 00
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BildungsromanVerwirklichungen< der Gattung jenseits der produktiven Phase ihrer Voraussetzungen? Nach der präzisen historischen Situierung des Anfangs, der Bedingungen seiner Möglichkeit, ist es inkonsequent, wenn Jacobs - wenn auch aus ganz anderen Gründen als Borcherdt - den Bildungsroman oder das, was von ihm übrigblieb, nach oben hin offen hält, um so mehr, als ja seit Dilthey ein Romanschluß, der Scheitern anzeigt, also die Darstellung eines vergeblichen Bemühens beendet, die Grenze dessen sichtbar macht, was sinnvollerweise so benannt werden kann.
IV Was ist zu tun? Die Art der bisher geführten Bildungsroman-Diskussion zeigt es ebenso deutlich wie ein Blick auf den Stand der Dinge im Bereich anderer Textarten. Wissenschaftlich brauchbare Gattungsbegriffe müssen möglichst weitgehende Epochentranszendenz besitzen. Dennoch dürfen sie die historischen Gegenstände, die sie vergleichbar machen sollen, weder durch allzu große Abstraktion verfehlen noch ihnen durch Überdehnung historischer Merkmale zum Status vermeintlicher Überzeitlichkeit Gewalt antun. Das erstere aber geschieht, wenn jede kontinuierliche Darstellung eines größeren Stücks Lebenszeit als Darstellung einer Entwicklung aufgefaßt wird, und das zweite, wenn eine historische Erscheinung wie der Gesamtbereich aufklärerischer Entwicklungs- und Bildungskonzeptionen, der sich zur Zeit der Klassik in kritischer Spiegelung von Gegenwartserfahrungen in Romanen konkretisierte, zum Maßstab wird, mit welchem in par26
Dazu ausführlicher Verf.: Gottfried Keller: >Der grüne Heinrichneuzeitliche< Beispiele: In demjenigen, was unter dem Namen Picarischer Roman zusammengefaßt wird, dürfte eine der verschiedenen historischen Konkretisationen der Gattungsstruktur vorliegen, eine gemeineuropäische, im Simplicissimus und den anderen Simpliciaden eine weitere, eng verwandte, doch wohl nur in der deutschen Literatur entwickelte. Sie haben eine wichtige Gemeinsamkeit: für beide besteht unerschüttert der umfassende Sinngebungs- und Ordnungszusammenhang der Heilsge-
Entwicklungs- und Bildungsroman
311
schichte; seine Gültigkeit wird demonstriert. Exemplarik der Einzelexistenz im Hinblick auf diesen Sinngebungsrahmen schaffen im einen Fall satirisch entlarvend gefügte Abenteuerreihen und eine - trotz ihres Involviertseins als gewesener Picaro - urteilsfähige Darbietungsinstanz. Der Simplicissimus dagegen ist eine mehrschichtige Allegorien-Konstruktion, in welcher bereits auf der Erlebnisebene der heilsgeschichtliche Zusammenhang in Erscheinung tritt, den dann die nachträgliche Reflexion des Erzählers Simplex zu bestätigender und ausweitender Betrachtung anbietet. Als Erlebender und später Erzählender aber, als Objekt und Subjekt dessen, was erzählt wird, ist Simplex selbst eine allegorische Gestalt: Allegorie auf menschliches Dasein in der zum Heil bestimmten, doch der Sünde anheimgegebenen Welt. Im unerleuchteten Sündenstand geboren (dafür steht das Bauernleben im Spessart), früh zum Christenmenschen gemacht (die erste Einsiedelei steht zeichenhaft für Taufe und Belehrung im Christentum, über die Simplex von da an verfügt), bei grundsätzlich gutem Willen den Verlockungen der Welt und der Sünde ausgesetzt (beides bedeutet das Toren- und das Abenteurerleben), erfährt er fortwährend die Folgen der sträflichen Abweichung vom stets bekannten rechten Weg und kehrt am Ende zu seinem Heil dahin zurück, wo er, wie er immer wußte, hätte bleiben sollen: in die weltabgeschiedene Einsiedelei, zeichenhaft für die Existenzform des christlichen Weisen, die freilich, Continuatio und unendliche Fortsetzbarkeit zeigen es an, im Diesseits stets gefährdet bleibt. In einer solchen Darstellung nach Entwicklung zu suchen, ist wenig sinnvoll. Eine weitere Serie exemplarischer Biographie-Erzählungen läßt sich im Vorfeld des Bildungsromans ansiedeln. Sie reagieren zwar schon auf den mit der Aufklärung besiegelten Verlust der alten, jenseitsorientierten Integrationsgewißheiten, deren Unangefochtenheit ein Werk wie den Simplicissimus ermöglicht hatte, sind aber noch nicht im Sinne der späteren Bildungsromane utopiefähig. In aller Kraßheit spielen sie daher den Surrogatcharakter, die Unzulänglichkeit nur diesseitiger Integrationsversuche gegen die tradierten Sinnerwartungen aus. Der Anton Reiser könnte der Prototyp dieser bislang terminologisch noch nicht fixierten Gruppe 27
sein. Die geläufigen Vorstellungen von der Eigenart des Entwicklungs- wie des Bildungsromans sind ausschließlich von aufklärerisch-klassischen anthropologischen und pädagogischen Konzeptionen und ihren literarischen Ausprägungen her gewonnen. Diese aber sind seit Jacobs als der Ursprungsbereich des Bildungsromans auch der Sache nach gesichert.28 Als dem von aufklärerisch-idealistischem Denken her begründeten Typus ganz entsprechend erweisen sich nur die Werke vom Agathon bis zum Titan.29 Deswegen sollte man die beiden Termini Entwicklungs- und Bildungsroman als Synonyma auf diese kleine Gruppe von Romanen des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts beschränken. Wir haben abermals mit einer historischen Spezifizierung der Gattungsstruktur zu tun. 27 28 29
Vgl. Jacobs, S. 49-53. Vgl. Jacobs, S. 16-38, 64-119. Vgl. Jacobs, S. 57-119.
312
Hartmut
Laufhütte
Die Art, in welcher fast gleichzeitig mit dem Wilhelm Meister die romantischen Romane wie Sternbald und Ofterdingen die Einzelexistenz repräsentativ machen, weist gleichwohl - hier ist Dilthey nicht zu folgen - große Unterschiede zu dem Verfahren der aufklärerisch-klassischen Texte auf, bei allen augenfälligen Ähnlichkeiten und trotz direkter Abhängigkeiten, die alle diese Werke wie so viele jüngere zwar zu Romanen der Wilhelm A/eisier-Nachfolge, aber deswegen eben nicht zu Bildungsromanen machen. Stets geht es um die Wirklichkeit verändernde, den Menschen, ja die Welt zu sich selbst erlösende Macht der Kunst, den Künstler als den problematisch-exemplarischen Menschen. 30 Neues und anderes bringen vollends - wenn man vom Nachsommer absieht die Werke der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ins Spiel, denen der Hyperion in mancher Hinsicht präludiert. Ich will es an Kellers Grünem Heinrich andeutend erläutern.31 Gewiß spielt dieser Roman die Positionen des Bildungsromans durch, und gewiß hätte er ohne den Wilhelm Meister und die romantischen Romane nicht geschrieben werden können. Aber die Motiv- und Ablaufsentsprechungen lassen um so krasser die andersartige geistig-weltanschauliche Grundlage hervortreten. Die aufklärerisch-idealistische Glaubenslehre vom sich entwickelnden Menschen ist durch den frommen Materialismus Feuerbachs ersetzt, den Goethes »Weltlichkeit« legitimieren hilft. Die für den Materialisten Keller nur noch diesseitige Wirklichkeit läßt die Vorstellung selbstgesetzlicher Entwicklung in prästabilierter Harmonie mit dem großen Ganzen nicht mehr zu, in welcher sich der jugendliche Held gleichwohl wiegt, sondern fordert verantwortliche Leitung des Heranwachsenden. Und vollends die Auffassung der Künstlerexistenz als einer zu Offenbarung und gottähnlichem, befreiendem Schaffen kompetenten - auch ihr hängt der Held an - erscheint subjektiv als Kompensation und objektiv als rückständige Ideologie. Aber indem der Roman mit der Unzulänglichkeit alter Positionen abrechnet - denen, die Bildungsroman und romantischer Künstlerroman vertreten hatten - , bringt er, keineswegs bloß desillusionierend, wie öfter behauptet wird, eine neue, als zeitgemäß hingestellte, mitsamt ihr entsprechenden Verhaltenskonsequenzen zum Vorschein, in Verwirklichung einer abermals neuen historischen Unterspezies der Gattung der Exemplarik erstrebenden Biographie-Erzählung. Zu den Merkmalen dieser Unterspezies könnte gehören, daß in wirkungsästhetischer Kalkulation die Art der Entstehung der Autobiographie - als solche ist Kellers Roman ja durchgeführt - thematisiert, die Darbietungsstruktur innerfiktional inhaltlich relevant gemacht wird, der Vorgang der Rechenschaftslegung in den Vordergrund rückt. Es ist sicher kein Zufall, daß in der zweiten Jahrhunderthälfte die Zahl der Autobiographie-Fiktionen zunimmt.
30 31
Vgl. Jacobs, S. 124-153. Vgl. Verf.: Wirklichkeit und Kunst in Gottfried Kellers Roman >Der grüne HeinrichVerantwortungsästhetik< vorgeschlagen, ein Begriff, der verdeutlicht, daß es Bachtin um eine ethisch fundierte Ästhetik geht, die letztlich der Tradition der Inhaltsästhetik verpflichtet ist.
1. Strukturkonzept und Konzept des literarischen Wandels bei Jan Mukarovsky Mukarovsky definiert die Struktur in einer allgemeinen und in einer speziellen Weise. Die allgemeine Definition reklamiert Gültigkeit für eine Reihe von Einzelwissenschaften wie Psychologie, Linguistik, Kunstwissenschaft, allgemeine Ästhetik, Ethnographie, Biologie »und vielleicht noch andere Wissenschaften« (Mukarovsky 1941a, S. 16). Die spezielle Definition betrifft die kunsttheoretisch orientierte Ästhetik und die Literaturwissenschaft sowie insbesondere auch die Theorie der Literaturgeschichte. Grundlegend für die allgemeine Definition ist ein ganzheitliches Konzept übersummativer Art, bei dem »das strukturelle Ganze jeden seiner Teile bedeutet und umgekehrt jeder dieser Teile gerade dieses und nicht ein anderes Ganzes bedeutet« (ebd., S. 16; Kursiv des Autors). Das strukturelle Ganze ist energetisch und dynamisch, wobei die Energetik durch die spezifische Funktion jeder Einzelkomponente im gemeinsamen Ganzen gegeben ist, die Dynamik durch die Veränderlichkeit dieser Funktion in bezug auf die übrigen Einzelkomponenten und das Ganze. Der Begriff der Energetik hebt dabei auf ein bestimmtes funktionales Wirkpotential der Komponenten ab, die Dynamik auf die Aktualisierung dieses Potentials in variablen formalen Erscheinungsweisen der Komponenten und funktionalen Relationen. Diese Definition stimmt bis in den Wortlaut hinein mit der von dem sovetischen Phänomenologen Gustav Spet gegebenen überein, mit dem Mukarovsky auch die phänomenologisch inspirierte Auffassung des strukturellen Ganzen als eines Zeichens verbindet, das zu seinen Um-
Gegenstands eindringen wollen, erinnert, vgl. dazu weiter unten. Manfred Smuda 1979 versucht, Kandinskijs Typologie der modernen Kunst auf die phänomenologische Ästhetik Husserls zu beziehen. Smudas Ansatz verwende ich im folgenden für die zeichentypologische Charakterisierung der Kunstauffassung Mukafovskys und Bachtins.
Jan Mukarovsky
und Michail Bachtin
317
gebungsfaktoren immer nur in zeichenhafte Beziehungen eintreten kann. 4 Durch die Zeicheninterpretation des Strukturganzen reiht sich die strukturelle Ästhetik und Literaturwissenschaft in die »allgemeine Wissenschaft vom Zeichen oder Semiologie ein« (ebd., S. 25; Kursiv des Autors). Wichtig an Mukarovskys Strukturkonzept ist die Betonung der Individualität jedes Strukturganzen und seiner inneren Dynamik, welche die Aufrechterhaltung der Identität des Ganzen auch in den veränderlichen Strukturzuständen erlaubt. Übertragen auf literarische Ganzheiten bedeutet dies, daß der Strukturalismus einen Weg zur immanenten Entwicklungsgesetzlichkeit und damit zur Autonomie der Veränderungsbewegungen im literarischen Bereich eröffnet, der es erlaubt, einfache kausale Erklärungsversuche literarischer Veränderung über den Einfluß anderer, strukturferner Bereiche, wie sie etwa die soziologische oder psychologische Betrachtungsweise praktizieren, abzuweisen und sie durch ein Konzept wechselseitiger Korrelation zwischen strukturellen Entwicklungsreihen zu ersetzen, bei dem die Impulse aus Nachbarreihen immer nur in dem »Maße« und in der »Richtung« aufgenommen werden, wie es den immanenten Entwicklungsbedürfnissen einer Struktur in einem gegebenen Entwicklungsmoment entspricht (ebd., S. 17). Gleichzeitig impliziert der Begriff der Korrelation zwischen autonomen Reihen auch die Vorstellung, daß jedes Ganze Teil eines neuen Ganzen übergeordneter Größe werden kann, worin es eine spezifische Funktion, die wiederum durch Energetik und Dynamik ausgezeichnet ist, annimmt. Auf diese Weise kann der Strukturalismus das Problem einzelner literarischer Komponenten wie etwa spezifische formale Verfahren, die ihrerseits ganzheitliche Evolutionsreihen bilden und sich wechselnden literarischen Ganzen wie den Gattungen anschließen können, aber auch die Konkretisationsgeschichte eines Einzelwerks und schließlich die Großstruktur der Literatur in deren Integration in die »Struktur der Strukturen« (Mukarovsky 1941a, S. 238) lösen. Mit dem Begriff der »Struktur der Strukturen« greift Mukarovsky auf das von Roman Jakobson und Jurij Tynjanov entwickelte Konzept des »Systems der Systeme« zurück (Jakobson/Tynjanov 1972, S. 391; ursprünglich Novyj LEF: 1928), worin die Vorstellung einer strukturalen Integration der Literatur in die Einheit der Kultur enthalten ist, und gleichzeitig greift er damit Jakobsons Idee der Diachronie in der Synchronic (bezogen auf das System der Sprache) auf. 5 Bei der Applikation des allgemeinen Strukturmodells auf die Spezifik der Ästhetik und Literatur betont Mukarovsky eine hier wichtig werdende Struktureigenschaft, die insbesondere für seine Vorstellung von der Entwicklung der modernen Literatur und Kultur relevant wird. Es ist dies die Vorstellung einer ständig gegebenen Spannung der inneren und äußeren Strukturrelationen im ästhe-
4
5
Vgl. Spet 1923. Einer mündlichen Information Peter Steiners zufolge hat Mukarovsky in noch unedierten Vorlesungen auf Spets Strukturkonzept als inspiratorischer Quelle seiner eigenen Ideen hingewiesen. Vgl. auch Jakobsons Kritik an Saussures Zeitkonzept, das die Koexistenz von Simultaneität und Sukzessivität ausschließe (Jakobson / Pomorska 1980, insb. S. 17).
318
Herta
Schmid
tisch-künstlerischen Bereich. Diese Spannung entsteht, was den inneren Bereich betrifft, aus der Neigung bestimmter Komponenten, einen aus der unmittelbaren Vergangenheit ererbten konventionellen Zustand zu bewahren, während andere Komponenten diesen Zustand innovatorisch umgestalten. Die Spannung verlangt »Ausgleich, d.h. neue, weitere Veränderungen der künstlerischen Struktur« (Mukarovsky 1941a, S. 18). Der gegebene Spannungszustand bestimmt die ästhetische Wahrnehmung des Ganzen in der Weise, daß die konventionellen Komponenten den Hintergrund, die von der Konvention abweichenden, ästhetisch aktualisierten Komponenten den Vordergrund des gesamten Wahrnehmungsfeldes besetzen. Die im Vordergrund gelegenen Komponenten bilden die ästhetische Dominante, ein von den russischen Formalisten entlehnter Begriff, der dem im ästhetischen Bereich gültigen Gesetz der Automatisierung der Wahrnehmung und der Notwendigkeit ihrer Desautomatisierung verpflichtet ist. 6 Grundsätzlich ist in ästhetischen Ganzen jede Komponente dominantenfähig - hierin liegt, wie später zu erörtern sein wird, ein wesentlicher Unterschied zur Ästhetik Michail Bach tins. In bezug auf den äußeren Strukturbereich setzt Mukarovsky eine ständige Spannung zwischen drei Erscheinungsbereichen an: dem Ästhetischen in der Kunst, dem Ästhetischen außerhalb der Kunst und dem außerästhetischen Bereich, wobei er letzteren auch zusammenfassend als den Bereich aller »praktischen« Funktionen bezeichnet, wozu er die Erkenntnisfunktion des Menschen, die religiös-magische und die pragmatisch-handlungsmäßige im eigentlichen Sinn zählt. 7 Michail Bachtin hat der modernen Literaturwissenschaft den Vorwurf gemacht, sie könne mit dem Problem des Ästhetischen außerhalb der Kunst nicht fertig werden. 8 Dieser Vorwurf trifft den tschechischen Strukturalismus nicht. Vielmehr können wir beobachten, daß Mukarovsky gerade aus dem jedem der beiden Hauptfunktionskreise des Menschen (Funktionskreis des Ästhetischen innerhalb und außerhalb der Kunst, Funktionskreis der »praktischen«, außerästhetischen Funktionen) zugesprochenen, gegen einander gerichteten Expansionsstreben das Bild eines kultur- und literargeschichtlichen Umbruchs ableitet, welcher im Übergang zur Moderne stattgefunden hat und gerade das strukturale Denken in der Literaturwissenschaft für eine adäquate Erfassung des Zustande von Literatur und Kunst im zwanzigsten Jahrhundert >nötig< gemacht hat. 6
7
8
Zur Bedeutung des Begriffs der Dominanten für das Konzept des künstlerischen Ganzen vgl. Jakobson 1979, S. 212-219. Mit der funktionalen Ästhetik, deren Wegbereiter die funktionale Linguistik und die funktionale Architektur sind, wendet sich Mukafovsky vor allem gegen den Neoplatonismus in der Ästhetik, der die »Natur der Kunst« unterordnet, während Piaton die »Kunst der Natur« untergeordnet habe (Mukarovsky 1966, S. 66). Als Neoplatoniker könnte man Bachtin ansehen, insofern für ihn Kunst eine Art Wirklichkeit zweiten Grades über der Primärwirklichkeit der Erkenntnis und des ethischen Handelns ist: »Die Kunst schafft die neue Form als neue Wertbeziehung zu dem, was für Erkennen und Handeln bereits Wirklichkeit geworden ist: in der Kunst erkennen wir alles wieder und erinnern wir alles« (Bachtin 1979, S. 116). Vgl. Bachtins vierten Vorwurf gegen die russische Formale Schule: »Die Materialästhetik ist nicht imstande, ästhetisches Sehen außerhalb der Kunst zu erklären« (ebd., S. 108).
Jan Mukarovsky
und Michail
Bachtin
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Damit kommen wir zu dem Problem des literaturgeschichtlichen Wandels in der Auffassung des tschechischen Strukturalismus, das sich uns als Demonstration der explikativen Kraft des Strukturmodells an einem konkreten Fall darstellt. Mukarovsky geht von einem Zweiphasenmodell der Kunst und Literatur aus, dessen zeitlicher Schnitt zwischen Realismus-Naturalismus und Symbolismus liegt, was die Literatur betrifft, sowie zwischen Impressionismus und Nachimpressionismus, was die Malerei betrifft. 9 Inhaltlich könnte man beide Phasen als Phasen der mimetischen und nicht-mimetischen Kunst bezeichnen, wobei >nicht-mimetisch< mit Moderne gleichzusetzen ist. Die Wurzeln der Moderne sieht Mukarovsky in der Epoche der Romantik angelegt, insofern schon in ihr das Bewußtsein um die bloße Zeichenhaftigkeit des Kunstwerks geweckt ist, während die mimetische Kunst von einer direkten Entsprechung zwischen Werk und Wirklichkeit ausgeht. Von der Moderne unterscheidet sich die Romantik jedoch darin, daß sie die noetische Verantwortlichkeit des Individuums für den schöpferischen Eingriff in die Zeichenstruktur des Werks und die damit bewirkte Deformation der konventionellen Sicht von Wirklichkeit bestärkt, während die moderne Kunst, die Mukarovsky bis in die zeitgenössische Phase des Surrealismus hinein verfolgt, durch die »Unterdrückung oder - wenn wir so wollen - den Zerfall des Individuums« (Mukarovsky 1941b, S. 386) gekennzeichnet ist, was gleichzeitig beinhaltet, daß das Individuum für die Deformation von Wirklichkeit in der Kunst noetisch nicht mehr verantwortlich sein kann. In der Kunst des Realismus und Naturalismus erkennt Mukarovsky eine Zwischenphase des Bemühens um eine Wiederannäherung zwischen Kunstwerk und Wirklichkeit dadurch, daß die individualisierenden Zwischeninstanzen des subjektiven Gefühls und der individuellen Wertung ausgeschaltet werden (Realismus), bzw. eine wissenschaftlich-dokumentarische Genauigkeit bei der Wiedergabe der empirischen Wirklichkeit angestrebt wird (Naturalismus). Die Seinsungewißheit der Romantik in bezug auf die empirische Wirklichkeit war kompensiert durch ein gesteigertes Vertrauen in das Individuum (ausgedrückt in den beiden Kontrasthaltungen des »Titanismus« und des »Weltschmerzes«; ebd., S. 387), wohingegen die Moderne das Gefühl der Seinsungewißheit steigert, indem nun auch die Gewißheit um die Beherrschbarkeit von Wirklichkeit in der Zeichenpraxis verlorengeht. Die Ursachen hierfür liegen nach Mukarovsky in der modernen Lebenswelt, die immer kompliziertere gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Organisationen aufbaut, die durch Zeichen und Zeichenüberbauten (»Zeichen des Zeichens«; Mukarovsky 1966, S. 285) dargestellt werden, welche nicht mehr durchschaubar sind. Die Krise des Individuums, ausgedrückt in der Deformationskunst der Moderne, findet somit eine Entsprechung in der modernen Kultur und Gesellschaft, worin das Individuum einen Orientierungsverlust sowohl hinsichtlich der es umgebenden gesellschaftlichen Wirklichkeit wie auch hinsichtlich seiner selbst erfährt.
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Mukarovsky sieht im Impressionismus einen Extremfall des Realismus-Naturalismus und zugleich ein Übergangsmoment zur antimimetischen Kunst. Vgl. Mukarovsky 1941b, S. 386.
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Unter der Annahme einer einfachen kausalen Wirkung zwischen Gesellschaft und Kunst müßte nun die Kunst eine Entindividualisierung anstreben. Mukarovsky konstatiert für die Moderne jedoch gerade das Gegenteil: eine zunehmende Individualisierung der Kunstwerke und eine Betonung der Werthaftigkeit gerade des individuellen, einmaligen und unwiederholbaren Werks bis hinein in das Schaffen des einzelnen Künstlers, dessen Gesamtwerk in spezifische individuelle Perioden zerfällt, worin auch wieder jedes Einzelwerk eine einmalige Position einnimmt: »[...] wenn in der modernen Kunst das Individuum von der noetischen Verantwortlichkeit ausgeschlossen ist, ist damit die künstlerische Individualität keineswegs als Faktor der Werkstruktur entfernt. In dieser Richtung ist sie durch den Wegfall der noe tischen Verantwortlichkeit eher befreit und gestärkt.« (Mukarovsky 1941 b, S. 390). Die Überzeugung vom Wert des individuellen, von aller vorhergehenden Kunst abweichenden Kunstwerks wird somit gerade zum Kennzeichen der modernen Kunstepoche des zwanzigsten Jahrhunderts. Statt einer einfachen Kausalwirkung zwischen Gesellschaft und Kunst gilt eine komplizierte Wechselwirkung, worin die Kunst auf die von der Gesellschaft ausgehenden Wirkfaktoren entsprechend ihrem eigenen Wesen reagiert. Das sich in der Moderne auftuende Bild der Kunst, dessen Gesamtüberschrift Individualisierung des Einzelwerks< lauten könnte, offenbart sich nun vom Standpunkt des Strukturbegriffs als eine solche Struktur, worin deren wesentliches Merkmal, das wir als individualisierende ganzheitliche Qualität bestimmt hatten, in besonderem Maße hervortritt. Auch der Autonomieanspruch, begründet in der strukturimmanenten Dynamik, kann sich erst in der Moderne, worin das schöpferische Individuum von den noetischen Aufgaben gegenüber der empirischen Wirklichkeit, wie sie in der Epoche der mimetischen Kunst gegeben war, »befreit« ist, voll entfalten. Zu der Durchsetzung des Autonomieanspruchs tritt noch ein besonderer soziologischer Umstand begünstigend hinzu, den Mukarovsky in der Loslösung des Künstlers aus der Klassenbindung der traditionellen Gesellschaftsstruktur sieht und der negativ gewendet als »Entwurzelung« charakterisiert wird. 10 Zum Adressaten der modernen Kunst wird anstelle der ehemals eigenen Klasse des Künstlers nun die ganze, sozial vielschichtige und differenzierte Gesellschaft, die keine klassenspezifischen Erwartungen mehr an den Künstler stellen kann. Durch die Befreiung vom Druck gesellschaftlicher »Aufgaben« 11 findet die moderne Kunst einen eigenen, beschleunigten Entwicklungsrhythmus mit einer Beziehungsform deutlicher Kontraste zwischen den einzelnen Phasen und Schulen der Moderne, wie sie sich in den schnell aufeinanderfolgenden Richtungen vom Symbolismus über Futurismus zu Dadaismus und Surrealismus in der Literatur, über Nachimpressionismus, Futurismus, Kubismus, zu Suprematismus und Sur-
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Das soziologische Moment der Entwurzelung der Künstler wird auch von Bachtin (in bezug auf Dostoevskij) diskutiert, vgl. Bachtin 1971, S. 28f. Eine Darstellung dieser »Aufgaben« gibt auch Felix Vodiöka, der die unterschiedlichen gesellschaftlichen Konstellationen der russischen und tschechischen Literatur berücksichtigt. Vgl. Vodiöka 1976, S. 131f.
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realismus in der Malerei ausdrücken. 12 Mit der Freisetzung der Autonomie einher geht eine Befähigung der Struktur der Einzelkunst, in neue strukturelle Beziehungen zu Nachbarkünsten einzutreten wie etwa im Fall des Symbolismus, der sich der Musik nähert, oder des Surrealismus in der Literatur, der sich der Malerei zuneigt. Vom Standpunkt des inneren Zustands in der Struktur tritt in der modernen Kunst eine zunehmende Ausdifferenzierung der Einzelkomponenten auf, die man als experimentelles Erproben der Dominantenfähigkeit jeder Strukturkomponente bezeichnen könnte. So kann die Zeichenstruktur des literarischen Werks, befreit von Darstellungs- und Erkenntnisaufgaben gegenüber der empirischen Wirklichkeit, die konstruktive Kraft und ästhetische Tragfähigkeit der Laute und Lautgebilde der Sprache erproben (in den kunstsprachlichen Experimenten des Futurismus), die Malerei die gegenstandsevozierende Kraft der reinen Farben (Suprematismus). Bei diesem Prozeß, der ja vom Standpunkt der inneren Strukturbeziehungen ständig wechselnde Über- und Unterordnungsverhältnisse zwischen den Komponenten erfordert, treten die strukturimmanent immer gegebenen latenten Spannungsbeziehungen offen hervor, da die Komponenten, die experimentell in eine Dominanzstellung gehoben werden, die bis dahin gültigen Dominanten >gewaltsam< verdrängen. Mit der inneren erhöhten Spannungsdynamik zeichnen sich Tendenzen zur Expansion der Kunst in bisher ausgegrenzte Bereiche ab: Gerade die hochentwickelte Avantgarde-Kunst nähert sich archaischer, >primitiver< Kunst oder greift Formen auf, die bis dahin als nicht kunstfähig galten wie Variete und Zirkus sowie Erscheinungen des Ästhetischen außerhalb der Kunst wie Reklame und Sport. 13 Vom Standpunkt des Modells der künstlerisch-literarischen Struktur her stellt Mukafovskys Konzeption des zweiphasigen geschichtlichen Prozesses einen Umschlag von einem Strukturzustand in den anderen dar: Die mimetische Kunst bis zur Moderne repräsentiert den Zustand latenter Spannungsbeziehungen, die nichtmimetische moderne Kunst denjenigen offener, bis zur extremen Polarisierung gesteigerter Spannungen. Beide Zustände sind legitime, den Möglichkeiten der Struktur entsprechende Aktualisierungen der immanenten Energetik, so daß das allgemeine Strukturkonzept tatsächlich zu einem explikativen Modell des ganzheitlichen literarischen Prozesses wird. Hierbei erkennt Mukarovsky gerade der Moderne einen besonderen heuristischen Wert für das Aufdecken der Struktureigenschaften zu: Es ist kein Zufall, daß parallel zur modernen Kunst auch die Kunsttheorie auf verschiedenen Wegen in verschiedenen Bereichen zum Begriff der künstlerischen Struktur als einer 12
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Mit Bezug auf die tschechische Literatur nimmt Vodißka eine Dreiteilung der Moderne vor (»Tschechische Moderne« von 1895, »Zweite Moderne«, die vor dem ersten Weltkrieg entsteht, neue literarische Avantgarde der zwanziger und dreißiger Jahre), deren Phasenmerkmal die »Sprache der Symbole«, der »befreiten Worte«, der »freien Phantasie« sei (Vodiöka 1976, S. 149). Bei Mukarovsky findet sich nur eine Aufzählung der einzelnen Richtungen der Moderne ohne untergliedernde Dreiteilung. Eine Darstellung dieser Expansion im Bereich des tschechischen Poetismus (Avantgarde der zwanziger Jahre) gibt Vladislav Müller 1978.
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ununterbrochenen Entwicklungsreihe gelangt, die im kollektiven Bewußtsein existiert und sich unter dem Einfluß der in ihr enthaltenen Widersprüche entwickelt. (Mukafovsky 1941b, S. 391; Kursiv H. S.).
Auf der anderen Seite ist auch und gerade das strukturale Denken geeignet, den eigenen Wert der modernen Kunst anzuerkennen. Dieser Wert liegt darin, daß erst in der Moderne die Dominanz der ästhetischen Funktion im künstlerischen Bereich voll in ihre Rechte eintritt, insofern sie von erkenntnishaften, moralischen, informativen und auch national-gesellschaftlichen Funktionen, mit denen sie in der gesamten mimetischen Epoche belastet war, »befreit« wird. Mit dieser positiven Evaluation der Kunst der Moderne setzt Mukarovskys Strukturalismus die Tradition der russischen Formalen Schule fort, die von ihren Kritikern geradezu als theoretisches Sprachrohr der Avantgarde-Kunst bezeichnet wurde. 14 Demgegenüber verurteilt Michail Bachtin sowohl die Formale Schule, den Strukturalismus (allerdings bezogen auf den sovetischen Strukturalismus Jurij Lotmans) wie auch die moderne Kunst. 15 Es klingt wie eine Apologie dieser vielkritisierten Kunst, wenn Mukafovsky feststellt: Die moderne Kunst wird sehr häufig als eine Erscheinung der Krise der zeitgenössischen Kultur und Gesellschaft kritisiert. Eine solche Charakterisierung ist nur dann gerechtfertigt, [ . . . ] wenn sie von dem Bewußtsein darum begleitet wird, wieviel Bestreben nach einer Rekonstruktion der Welt der Werte gerade in der modernen Kunst ist und wie stark in ihrem scheinbaren Chaos das - freilich dynamische - Bemühen um eine Ordnung ist. (Ebd., S. 407).
2. Monadologisches Ganzes und Konzept des literarischen Wandels bei Michail Bachtin Bachtins Ganzheitskonzept läßt sich begrifflich-systematisch nur schwer fassen, da es stark bildliche Züge aufweist. Das Ganze selbst bezeichnet er als »Monade«, ein Begriff, den er der Philosophie Leibnizens entlehnt. Doch kritisiert er dessen Idee der Geschlossenheit und Selbstgenügsamkeit sowie eine Spiegelungsrelation, bei der die einzelne Monade »die ganze Welt der eigenen inneren Einheit einverleibt« (Bachtin 1983, S. 203). 16 An die Stelle des Bildes der selbstgenügsamen, geschlossenen Monade setzt er das Bild einer gleichzeitig geschlossenen und offe-
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P. N. Medvedev, ein Mitglied des Bachtin-Kreises, weist besonders auf die enge Verbindung zwischen dem frühen Formalismus und dem Futurismus hin (Medvedev 1928). Die kritische Auseinandersetzung mit der Formalen Schule erfolgt in dem Aufsatz Das Problem von Inhalt, Material und Form im Wortkunstschaffen, der 1924 verfaßt wurde. Mit dem Strukturalismus Jurij Lotmans setzt sich Bachtin in mehreren Aufsätzen aus den sechziger Jahren auseinander, die z.T. auch unvollendet blieben; vgl. Bachtin 1986. Insbesondere greift er Lotmans Textbegriff an (ebd., S. 355-380). Das monadologische Ganze, für Bachtin immer auf das menschliche Bewußtsein bezogen, verbindet sich mit dem Problem der »ganzheitlichen Persönlichkeit« (Bachtin 1983, S. 203), das Bachtin im romantischen Idealismus Schellings und Fichtes formuliert findet.
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nen Monade, geschlossen in bezug auf die in sie eingehenden Elemente und offen in bezug auf das »sie umgebende Sein« (ebd., S. 204-205). Übertragen auf das Kunstwerk, ergibt sich das Bild einer zweiseitigen Spiegelung der Monade, die alles Äußere in sich widerspiegelt und selbst in allem widergespiegelt wird. Erst durch diese zweiseitige Spiegelungsrelation erhalte das Kunstwerk als Faktum der Kultur auch Bedeutung und Sinn. Mit dem Bild der Monade wehrt Bach tin das funktionale Strukturganze ab, worin die Elemente ihren Sinn gerade durch die Beziehung zu ihrem bestimmten, individuellen Ganzen erhalten. Vielmehr wird der Sinn erst aus dem Außenbezug jedes Elementes konstituiert: Der traditionelle Begriff des Ganzen und des Elementes, das nur im Ganzen Sinn gewinnt, muß hier neu und gründlicher gefaßt werden. Jedes derartige Element repräsentiert gleichzeitig irgendein anderes Ganzes (z.B. die Volkskultur), aus dem es vornehmlich seinen Sinn bezieht. Die innere Ganzheit der Gogol'schen Welt ist also nicht in sich geschlossen, sie genügt nicht sich selbst. (Bachtin 1979, S. 347; Kursiv des Autors).
Diese auf das Werk Nikolaj Gogol's bezogene Aussage reklamiert in Bachtins Denkgebäude durchaus allgemeine Verbindlichkeit. Dementsprechend lehnt er auch den Begriff der Energetik, der in Mukarovskys Ganzheitskonzept mit der Funktion der Teile zum Ganzen verbunden ist, ab, behält aber den Begriff der Dynamik bei, den er auf den »Kampf der lebensweltlich-ideologischen Motive« in der Psychik bezieht (Bachtin, 1983, S. 199). Letztlich steht hinter Bachtins Konzept des monadologischen Ganzen eine Vorstellung der Harmonie der Innen- und Außenrelationen, die dem Spannungsbezug insbesondere im künstlerisch-ästhetischen Ganzen Mukarovskys deutlich widerspricht. Auf der Ebene der allgemeinen Ästhetik äußert sich dieser Harmoniegedanke darin, daß die spezifische Leistung des künstlerischen Schaffens in einer intuitiven Vereinigung der Erkenntnis- und ethischen Handlungswelt gesehen wird, eine Leistung, die die ästhetische Form gegenüber dem außerästhetischen erkenntnishaften und ethischen Inhalt erbringt. Bachtin schließt sich hier bewußt an die traditionelle Ästhetik an: »Die Form veräußerlicht den Inhalt, das heißt, sie verkörpert ihn, indem sie ihn von außen umfaßt - die klassische traditionelle Terminologie bleibt also in ihrem Kern wahr.« (Bachtin 1979, S. 118; Kursiv des Autors). Das ästhetische Vermögen erscheint bei Bachtin somit als ein wesentliches Vermögen des Menschen, das die voneinander getrennten Welten der Erkenntnis und des ethischen Handelns, die nicht in der Lage seien, voneinander Kenntnis zu nehmen (also monadologisch geschlossen sind), aufeinander zu beziehen und in die Einheit der Gesamtkultur einzubringen. 17 Dieser Leistung des
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Gustav Spet gibt eine Kritik dieser »normativen« Ästhetik, deren Grundlagen in dem unangemessenen dreiteiligen System der Philosophie liege: Logik, Ethik, Ästhetik. Er wirft ihr vor, aus der Ästhetik eine »nützliche Sache« zu machen, der die Aufgabe der »Versöhnung« der beiden übrigen Bereiche der Philosophie zukomme, während die eigenen Aufgaben der Ästhetik übersehen würden (Spet 1923a, S. 51). Für Spet selbst ist das Ästhetische mit der geschlossenen Gestalt verbunden.
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Ästhetischen (die nur vom schöpferisch-künstlerischen Menschen erbracht werden kann) findet auf der Ebene der Literatur eine Entsprechung in der Gattung des Romans. Dieser vermag aufgrund der strukturellen Position der »Außenbefindlichkeit« (im Russischen: »vnenachodimost'«) des Romanautors gegenüber der Bewußtseins- und Handlungswelt des Helden die zwischen der konkreten Lebenswelt dieses Helden und den von einer offiziellen, »falschen« Ideologie geprägten Welt- und Wertvorstellungen seines Bewußtseins auftretenden Diskrepanzen in der Form des Romanganzen aufzuzeigen und zugleich zu ihrer Erhellung und Überwindung beizutragen.18 Das Bild der gleichzeitig geschlossenen und offenen Monade dient Bachtin als Folie für die Strukturierung des literarischen Prozesses, wobei die doppelte Spiegelungsrelation des monadologischen Bildbereichs auf die Form des sprachlichen Geschehens übertragen wird, die ihm entspricht: den Dialog. Ausgehend von einer im Sokratischen Dialog angelegten Vorstellung des dialogischen Wesens der Wahrheit und der dialogischen Methode der Wahrheitsfindung,19 fordert Bachtin eine neue linguistische Disziplin, die er »Metalinguistik« nennt. Gegenstand dieser neuen Disziplin soll statt des abstrakten Bedeutungssystems der Saussureschen Linguistik, worin die Bedeutung der sprachlichen Zeichen allein aus ihrer Position in einem statisch konzipierten System kodifizierter Bedeutungen abgeleitet wird, der lebendige Redevollzug sein, der stets in einer konkreten Redesituation zwischen konkreten Personen abläuft. Aufgrund der Einbettung der Rede in die Situation gewinnt Bachtins Modell des sprachlichen Zeichens eine Dimension hinzu, von der die Linguistik Saussures absieht. Dies ist die Wertkomponente und die in der Intonation ausgedruckte »emotionale Färbung«.20 Die »emotionale Färbung« weist auf das subjektive Engagement des Sprechenden in der gegebenen Kommunikationssituation hin, die Wertkomponente auf die ideologische Struktur des Bewußtseins des Sprechenden. Innerhalb der ideologischen Struktur wirken zwei wertkonstitutive Ebenen, die Bachtin »Lebensideologie« (»zitejskaja ideologija«; Bachtin 1983, S. 178) und »offizielle Ideologie« (»ideologija oficial'naja;
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Eine besondere Form der Ausnützung der »Außenbefindlichkeit« des Romanautors ist nach Bachtin die Autormaske, deren konkrete historische Formen als »Schelm«, »Hanswurst« und »Dummkopf« er in einer Studie zur historischen Poetik des Romans untersucht (Bachtin 1975, insb. S. 308-316). Seine philosophischen Ideen legt Bachtin in den Kapiteln Die Idee bei Dostoevski] und Besonderheiten der Gattung und der Sujetkomposition in den Werken Dostoevskijs dar. Er beruft sich vor allem auf die frühen Schaffensperioden Piatons, während er der letzten Schaffensperiode eine Tendenz zum »Monologismus« (Bachtin 1971, S. 123) zuspricht. Die Idee der »Metalinguistik« und die mit ihr verbundene Kritik der Saussureschen Linguistik sowie Bachtins Lehre von den zu den Bedeutungen der sprachlichen Zeichen hinzutretenden Komponenten der Emotion und des Werts sind in den Aufsätzen Avtor i geroj ν esteticeskoj dejatel'nosti (Autor und Held in der ästhetischen Tätigkeit) und in Problema teksta ν lingvistike, filologii i drugich gumanitarnych naukach. Opyt filosofskogo analiza (Das Problem des Textes in der Linguistik, in der Philologie und den anderen humanitären Wissenschaften. Versuch einer philosophischen Analyse) enthalten (Bachtin 1979a). Vgl. die Anmerkung des Herausgebers (ebd., S. 401-402).
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ebd., S. 177) nennt. Die »Lebensideologie« umfaßt den Bereich der »inneren und äußeren Rede«, ein Konzept, das Bachtin in Anlehnung an den Sprachpsychologen L. S. Vygotskij zur Bezeichnung der unmittelbaren situationsbestimmten Wertorientierung der Sprecher in der gegebenen Situation verwendet. 21 Dieser Bereich hat zwar keine festen, normierten Werte, ist aber gleichwohl nicht rein individuell, sondern gesellschaftlich bestimmt ebenso wie der Bereich der Werte der »offiziellen Ideologie«, der sich von dem ersteren Wertbereich dadurch unterscheidet, daß seine Werte feste, institutionalisierte Formen annehmen, die allgemein anerkannten gesellschaftlichen Wertvorstellungen entsprechen wie etwa die »ideologischen Systeme der Wissenschaften, der Künste, des Rechts usw.« (ebd.). Aufgrund der kommunikativen Beziehung des Redevollzugs zwischen Sprechendem und Hörendem ist die ideologische Wertkomponente der sprachlichen Zeichen jeweils doppelt perspektivisch gebrochen. Denn jede Äußerung eines Sprechers nimmt die vermutete Wertinterpretation im ideologischen »Horizont« (»krugozor«) durch den Partner innerlich vorweg in einem Versetzungsakt des Sprechers aus dem eigenen »Horizont« in den des anderen, wobei jedoch die Differenz zwischen der eigenen Wertposition zu der jeweils fremden nicht verwischt wird. Jedes Wort einer Äußerung und die Äußerung als Ganze ist somit innerlich dialogisch gespannt, und nur künstliche Manipulationen der Bewußtseinseinstellung können diese wesensmäßige Dialogizität der Rede monologisch verengen. Bachtin verbindet so eine axiologische Zeichenauffassung mit der Theorie des dialogischen Wesens der Sprache überhaupt, welche seiner allgemeinen Erkenntnistheorie und Wahrheitslehre entspricht. 22 Im Gegensatz hierzu geht Jan Mukarovsky von der Gleichwertigkeit des Monologs und Dialogs als zwei möglichen Formen der Rede aus und von einem eher monologischen Wahrheitskonzept, 23 während das Wertproblem eine besondere Aspektierung erfährt, auf die später noch zurückzukommen sein wird. Rückgeführt auf das Bild der Monade und dessen Darstellungsfunktion für den literarhistorischen Prozeß ergibt sich aus dem axiologischen und dialogischen Zeichenkonzept Bachtins nun folgendes. Das literarische Werk, das Bach tin zusammenfassend auch als »Wort« bezeichnet, 24 spiegelt in seinem inneren Aufbau einerseits die innere Bewußtseinsstruktur seines Autors (Geschlossenheit der Monade), gleichzeitig aber auch die des gesamtgesellschaftlichen ideologischen Systems (Offenheit der Monade). Das gesamtgesellschaftliche ideologische System kennt nach Bachtin zwei grundlegende Zustände, deren einer dem Monologismus und deren anderer dem Dialogismus zustrebt. Beide Tendenzen sind immer 21
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Eine Darstellung der Beziehung Bachtins zu Vygotskij findet sich bei Vjaöeslav V. Ivanov 1973. Zur axiologischen Sprachauffassung Bachtins vgl. Rainer Grübel 1979. Vgl. dazu die beiden Studien zum Monolog und Dialog (Mukarovsky 1941a, S. 145-175). Die Konzeption des Werktextes als eines »Worts« verbindet sich mit dem für Bachtin wichtigen Moment der »Stimme« und der »Intonation«, das er auf Heideggers Philosophie des »sprechenden Seins« zurückführt. Vgl. Bachtin 1986, S. 355-380. Der Autor lausche auf das »sprechende Sein« und habe daher selber keine eigene Sprache.
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gleichzeitig als »Kräfte« wirksam, doch sind sie vom Wesensaspekt der Sprache und auch der Wirklichkeit her nicht gleichberechtigt. Der Monologismus streik vielmehr eine Tendenz zu »falscher Ideologie« dar, begründet in einem Wahrheitsmonopol einer herrschenden Klasse, die das dialogische, viele Perspektiven und Facetten offerierende Gesicht der Wirklichkeit monologistisch vereinfacht um der eigenen egoistischen Herrschaftsinteressen willen. Demgegenüber repräsentiert der Dialogismus einen solchen Zustand der Gesamtgesellschaft, worin die Vielperspektivik der Wirklichkeit, eingefangen in den Wertinteressen aller Gruppen und Schichten und der in sie eingebundenen Individuen, sich frei äußern kann. Im Redeverhalten äußert sich dieser Zustand in einem freien Übergang der schwankenden Wertkomponenten der »Lebensideologie« der Individuen, die aus der »inneren Rede« kommen, in die Formen der »äußeren Rede«. Nur in der dialogischen Gesellschaft ist somit das Harmoniestreben der Monade tatsächlich voll verwirklichbar. Daraus folgt für den literarhistorischen Prozeß, daß nur in solchen Epochen, in denen die dialogische Gattung dominant wird, das gesellschaftlich-ideologische Bewußtsein und damit die gesamte Kultur der monadologischen Lehre Bachtins gerecht werden. Vom Standpunkt der wissenschaftlichen Orientierung mündet Bachtins Monadenlehre letztlich in eine Überführung der Literaturwissenschaft in eine allgemeine »Wissenschaft von der Ideologie«, die zumindest in den frühen Schriften dieses Autors stark marxistisch orientiert ist.25 Vom Standpunkt der Literaturgeschichte wiederum ergibt sich, daß der literargeschichtliche Prozeß als Prozeß des allmählichen Werdens der dialogischen Redegattung kat echochen, des Romans, beschrieben wird. Denn nur dieser ist von seiner konstitutiven Redeform her dialogisch, während Lyrik, Epos und die Tragödie als hohe Form des Dramas wesensmäßig monologisch sind. 26 Die von Bachtin vorgenommene literaturgeschichtliche Einteilung ist im Unterschied zu derjenigen Mukarovskys dreiphasig angelegt. Vom Umfang der Kunstgattungen her ist sie enger als bei Mukarovsky, da sie nicht wie jener bildende Künste und Literatur, sondern nur Epochen des literarisch manifestierten Sprachund Kulturbewußtseins rekonstruiert. Die drei Epochenschnitte umfassen die antike und mittelalterliche Literatur bis zum Beginn des siebzehnten Jahrhunderts, wobei als führende Gattung dieser ersten Phase das Epos erscheint; mit Beginn der Neuzeit setzt die zweite Phase als Prozeß der Herausbildung der neuen Gattung des Romans ein, und die dritte Phase beginnt mit dem Symbolismus, auf den Impressionismus, Futurismus, Akmeismus, Expressionismus und Dadaismus folgen, Erscheinungen, die durch ihre lyrisierend-monologische Tendenz vereint sind. Da Bachtin den Roman mit dem Realismus in der Literatur gleichsetzt, kann
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Dies kommt besonders in der zusammen mit V. N. Volosinov verfaßten Studie Frejdizm (Der Freudianismus) von 1927 (Bachtin / VoloSinov 1983) zum Ausdruck. Zum Monologismus des Dramas vgl. insb. Bachtin 1971, S. 41. Renate Lachmann setzt sich kritisch mit Bachtins These von der monologischen Natur der Lyrik auseinander (Lachmann 1984).
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die zweite Phase auch als Epoche des Realismus bezeichnet werden. Innerhalb ihrer bildet das Werk Dostoevskijs einen evolutionären Wendepunkt im ästhetischen Denkens Bachtins selber. In einer unvollendet gebliebenen Studie zum Problem des Autors (Problema avtora) aus der Mitte der zwanziger Jahre wertet er Dostoevskijs Romane als Ausdruck der »Krise des Autors« und der ganzen Kultur. Das 1929 erschienene, inzwischen zum Meilenstein der Dostoevskij-Forschung gewordene Werk Die Probleme der künstlerischen Praxis Dostoevskijs (Problemy tvorcestva Dostoevskogo) feiert dagegen Dostoevskij als »größten Neuerer im Bereich der künstlerischen Form« (Bachtin 1971, S. 7). Sein »polyphoner Roman« gilt nun als Vollendung der Entwicklung der Romangattung überhaupt. Auf den vermutbaren Grund dieser Umwertung wird später noch einzugehen sein. Zunächst geht es um die Darstellung der Idee eines kulturellen Wandels in den drei Phasen, der sich nach Bachtin im System der literarischen Gattungen ausdrückt. In den beiden ersten Phasen der literarischen Entwicklung rekonstruiert Bachtin für uns die Epoche, die Mukarovsky unter dem Etikett des künstlerischen Mimetismus nur recht global qualifiziert hat. Sie umfassen in Termini der Kulturgeschichte die Phasen des vorindividuellen Selbstbewußtseins des Menschen und die allmähliche Herausbildung des Begriffs des Individuums seit der Renaissance. Die »Krise des Individuums«, die für Mukarovsky Kennzeichen der Moderne wird und deren zeitlichen Schnitt er wie Bachtin mit dem Symbolismus setzt, ist möglich erst durch die vorausgehende Entstehung des Individuums. Anzumerken bleibt, daß bei dem Marxisten Bachtin die »Krise des Individuums« nicht dieselbe Wertung erfährt wie bei Mukarovsky. In seiner Kritik der Monadologie von Leibniz wertet er das Konzept der individuellen Persönlichkeit als Erscheinung des Idealismus ab. 27 Wenn wir versuchen wollen, Bachtins Ganzheitskonzept zur methodologischen Beschreibungskategorie zu machen, so müssen wir wieder auf die doppelte Spiegelung der Monade zurückkommen, welche in ihrer Geschlossenheit alles Äußere in sich spiegelt und in ihrer Offenheit selbst in allem widergespiegelt wird. Materielles Mittel der Spiegelung ist die künstlerische Redeform. Ihre dialogische bzw. monologische Form spiegelt den ideologischen Zustand der Kultur. Dieser methodologischen Orientierung folgt auch Bach tin, indem er die Gattungen des Epos, des Romans und die lyrisierenden Gattungen als jeweilige Dominanten des epochenspezifischen Gattungssystems heraushebt. Die tragende Achse für die Beschreibung der inneren Spiegelungsrelation ist für Bachtin die Relation Autor-Wort-Gegenstand, Das »poetische Wort«, auskristallisiert in der lyrischen Gattung, ist für Bachtin ein »direktes« Wort, das nur sich selbst und den von allen gesellschaftlichen Konventionen und Wertungen entblößten Gegenstand kennt. Bei einem solchen Wortgebrauch versucht der Autor, mit dem Wort unmittelbar in die »ungesagte Natur des Gegenstands« (Bachtin 1979, S. 171) einzudringen, um dessen innere Vielfalt aufzudecken. Poetische 27
Vgl. Bachtin / VoloSinov 1983, S. 203-204.
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Bilder und Symbole sind ein Mittel, die Bedeutungsfülle des Gegenstands zu erfassen, die soziale Wertung hingegen wird ausgeschaltet. Das »Prosawort« ist bestrebt, neben der inneren Fülle des Gegenstands auch die »soziale Redevielfalt«, das den Gegenstand umgebende »babylonische Sprachengewirr« (ebd.) zu reflektieren, in dem jeweils auch die sozial relevanten Wertungen enthalten sind. Das poetische Wort ist somit wesensmäßig monologisch, das Prosawort dialogisch. Beim poetischen Wortgebrauch begibt sich der Autor durch Abstraktion von der konkreten Redesituation seiner Position der »Außenbefindlichkeit« und der mit ihr verbundenen Wertsperspektive, beim »Prosawort« benutzt er sie, um auch eine »Außenposition« gegenüber der sozialen Redevielfalt zu gewinnen. Die Phase der Dominanz des Epos ist nun dadurch charakterisiert, daß der Autor von seiner »Außenbefindlichkeit« noch keinen Gebrauch machen kann. Das Epos, so Β achtin, ist eine Gattung der festgelegten, in der »Überlieferung« kodifizierten Verbindung zwischen Form (episches Wort) und Inhalt (Schicksal des Helden), die weder dem Helden eigene Handlungs- und Wertinitiative, noch dem Autor sprachliche Initiative erlaubt. Die vorgegebene Verbindung von Wortform und Gegenstand des Worts macht aus der epischen Welt ein »sowohl im Ganzen wie auch in jedem beliebigen seiner Teile« geschlossenes und vollendetes Ganzes, das nur in einer »absoluten Vergangenheit« denkbar ist (Bachtin 1975, S. 474). Das darin sich offenbarende »naive und ganzheitliche« (ebd., S. 477) Bild des Menschen spiegelt ein Weltbild der Konformität aller Mitglieder eines Kollektivs in bezug auf die Werte und sprachlichen Formen. Eine Diskrepanz zwischen Innen und Außen des Menschen, Sicht von sich selbst und Sicht der anderen auf ihn ist weder denk- noch ausdrückbar. Die allein herrschende »offizielle Ideologie« verbindet sich mit einer offizialisierten Sprache und einem hierarchisierten Gattungssystem, in dem alle von der Hierarchie erfaßten »hohen« Gattungen episiert sind, d.h. das Prinzip der epischen Wortstruktur wiederholen. Dennoch ist die Phase der Dominanz des Epos Vorbereitung der zweiten Phase, die unter der Dominanz des dialogischen »Prosaworts« im Roman steht. Vorbereitend wirkte jedoch nicht das Epos selbst, sondern die »niederen« Gattungen der Peripherie des Gattungssystems. Hierbei ist anzumerken, daß Bachtin grundsätzlich von einem Systemkonzept der Literatur ausgeht, worin zwei Ebenen spiegelbildlich aufeinander bezogen sind: die Ebene der Gattungsformen und die Ebene der außerliterarischen Redeformen. Die Gattungsebene sieht er dem Prinzipienstreit von hierarchisierenden und dehierarchisierenden Kräften unterstellt, die Ebene der Redeformen demjenigen von zentralisierenden und dezentralisierenden Kräften. Beide Ebenen drücken in ihrer Aufeinanderbezogenheit autoritäre, zentralistische Herrschaftsbestrebungen des allgemeinen ideologisch-kulturellen Bewußtseins bzw. antiautoritäre, individualisierende Tendenzen aus. Die an tinomischen Kräfte wirken immer zugleich, doch durch Pendelausschwingungen in die eine oder andere Richtung wird die Entwicklungsdynamik des literarischen Systems bestimmt. Ein ähnliches Konzept sieht auch der tschechische Strukturalismus für die literarische Entwicklung vor, mit dem Unterschied, daß die entscheidenden dynamischen Impulse nicht dem allgemeinen Kulturbewußtsein zuge-
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schrieben werden, das deterministisch in die Literatur eingreift, sondern der Struktur der Literatur als autonomer Struktur selber. 28 In der Phase der Entstehung und Dominanzgewinnung der Gattung des Romans treten die ehemals peripherischen »niederen« Gattungen in das Zentrum des gesamten Gattungssystems, was zu einer »Romanisierung« auch der übrigen Gattungen führt. Denn der Roman, so Bachtin, ist »nicht einfach eine Gattung unter anderen Gattungen«, sondern eine solche, die sich mit den übrigen Gattungen »schlecht versteht«, sie zur »Zersetzung« und Anpassung an den Roman zwingt (Bachtin 1975, S. 448). Die »Romanisierung« bedeutet Prosaisierung und damit auch Dialogisierung. Diejenigen »niederen« Gattungen, welche zur Herausbildung des Romans im siebzehnten Jahrhundert beigetragen haben, nennt Bachtin die »ernsthaft-komischen« Gattungen. Ihre Wurzeln reichen bis in die Antike zurück. Sie verbinden sich mit der Weltanschauung des Karnevals, deren Charakteristikum Bachtin in einer »ambivalenten« Wertung des Gegenstands erblickt. Bei dieser Sicht wird die monovalente, eindeutig ernste Wertung der »offiziellen Ideologie« um ihren kontrastiven Wertepol des Heiteren, Unernsten und des inoffiziellen Privaten komplementiert - ein Wertepol, der im Unterschied zur »offiziellen« Sicht, die aus der Distanz gewonnen wird, einen Blick auf den Gegenstand aus unmittelbarer Nähe verlangt, worin der Gegenstand fühlbar, umkehrbar, von innen nach außen umwendbar erfahren wird. Die Annäherung des Gegenstands an den unmittelbaren Körperkontakt wird begleitet von einer Distanzierung in bezug auf die tradierte »hohe« sprachliche Form. Diese erscheint als eine dem Gegenstand gegenüber zu enge Hülle, welche gesprengt werden muß. Sprengungsformen sind das travestierende und parodierende Wort, so daß Travestie und Parodie sich organisch mit der karnevalistischen Welt>anschauung< verbinden. Travestie und Parodie hatten jedoch bis zur Herausbildung des Romans keine eigene, feste Gattungsform, sondern schlossen sich etwa in Form des »vierten Dramas« komplementhaft den ernsthaften Gattungen an. 29 Erst der Roman verleiht ihnen die eigene, normierte Form, die, nachdem sie einmal entstanden war, die zerstörende Kraft von Parodie und Travestie gegenüber den Normen des tradierten Gattungssystems freisetzen. Zerstörung der überlieferten episch»hohen« Redeformen durch Distanzierung von ihnen und Annäherung an den Gegenstand selber gehen somit Hand in Hand und bedingen den Realismus der Romangattung. Für die triadische Relation Autor-Wort-Gegenstand ergibt sich daraus folgendes. Der Gegenstand - im Roman immer der Held - rückt in den unmittelbaren Kontaktbereich des Autors, und aus dieser Nahsicht zeigt es sich, daß Innen und Außen, einmaliges Schicksal und menschliche Möglichkeiten nicht, wie das Epos suggeriert hatte, zusammenfallen. Vielmehr erblickt der Autor im Verhältnis von realisiertem Schicksal des Helden und menschlichen Potenzen des Inneren einen 28 29
Vgl. insb. die Studie zur Ästhetischen Norm (Mukarovsky 1966, S. 74-77). Im »vierten Drama« sieht Bachtin einen obligatorischen Teil der antiken tragischen Trilogie. In ihm werde das »zweitonige Wort« (Bachtin, 1975, S. 421) gestaltet.
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»Rest« unausgeschöpfter Möglichkeiten, der zu einer ambivalenten Wertung des Heldenschicksals führt. Die karnevalistische Weltsicht dringt in den Roman ein (in Form des »fröhlichen Rests« am Helden gegenüber dem zumeist tragischernsten Schicksal; vgl. Bachtin 1975, S. 479), ein Phänomen, das Bachtin »Karnevalisierung der Literatur« nennt. 30 Mit ihm bereitet sich ein »Zerfall der epischen (und tragischen) Ganzheitlichkeit des Menschen im Roman« vor und zugleich »seine neue komplizierte Ganzheitlichkeit auf einer höheren menschlichen Entwicklungsstufe« (ebd., S. 480). Für die Relation Autor - Wort resultiert aus der Distanzierung der alten epischen Redeformen eine Erscheinung von sprach- und literaturwissenschaftlich besonderem Reiz. Auf der einen Seite wird der Romanheld selber zum redenden Menschen, da die Rede eines anderen Menschen über ihn (episches Autorwort) sich als verengende Hülle erwiesen hat, insofern die mit diesem Wort verbundene Annahme eines Zusammenfalls von Innen und Außen des Helden nicht mehr gilt. Dies zeitigt das »Objekt-Wort« (Bachtin 1971, S. 222), d.h. das Wort einer dargestellten Person, dessen sich der Autor zur Darstellung dieser Person bedient. Das Objekt-Wort ist vom Standpunkt des Autors aus ein »Wort« des Autors über ein anderes Wort (Wort des redenden Helden), was man auch als Wort zweiter Ordnung auffassen könnte. Auf der anderen Seite verliert der Autor, nachdem der Romanheld zum redenden Helden geworden ist (im Unterschied dazu ist der epische Held nicht redender, sondern nur handelnder Held), jede Möglichkeit direkter Rede; der Romanautor, so Bachtin, hat keine eigene Sprache wie der Autor der lyrischen Gattungen, sondern nur einen eigenen Stil.31 Der Stil des Romanautors manifestiert sich anders als derjenige des lyrischen Autors. Sind für jenen die tropischen und symbolischen Formen relevant, mit denen er sich dem Gegenstand nähert, so ist für diesen das Paradigma aller Redeformationen und Redestile des literarischen wie des außerliterarischen Bereichs relevant. Aus diesem Paradigma, das die ganze Redevielfalt einer Epoche umfassen kann (dies schreibt Bachtin besonders Dostoevskij zu), selegiert der Autor eine für ihn signifikante Menge und bringt sie in der Fläche des Romantextes zum Schnitt. Der Romanautor manifestiert sich dann innerhalb des Werks selbst nur als dieser Schnittpunkt aller ausgewählten Rede- und Stilparadigmen. Zur Untersuchung dieser spezifischen Romanstilistik >ohne Sprache< fordert Bachtin eine neu zu begründende stilistische Disziplin der Prosastilistik, insofern die traditionelle Stilistik nur das »direkte Wort« der lyrischen Gattungen zu erfassen fähig sei. 32 30 31
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Zum Begriff der »Karnevalisierung« vgl. u.a. Bachtin 1971, S. 120. Bachtin verbindet den Stil mit der Gattung, nicht mit der »Sprache« des Autors. In Aufzeichnungen aus den Jahren 1970-71 bezeichnet er die Suche nach Gattung, Stil und Autorposition als Hauptproblem der zeitgenössischen Literatur, das zur Absage an die Romanform und zum Aufkommen der Literatur des Absurden geführt habe, die er als Form des »Schweigens« bezeichnet (Bachtin 1979, S. 354). Die Kritik an der traditionellen Stilistik formuliert Bachtin vor allem in Das Wort im Roman (Bachtin 1979); vgl. aber auch Avtor i geroj ν esteticeskoj dejatel'nosti (Der Autor und der Held in der ästhetischen Tätigkeit) (Bachtin 1986, S. 9-191).
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Ist die Umwandlung des Helden im Roman vom nur Handelnden zum Handelnden und Sprechenden Resultat einer komplizierteren ganzheitlichen Sicht des Menschen als Individuum, so kann man in der Umwandlung der epischen Autorsprache in einen bloßen Stil eine Konsequenz eines gewandelten Verhältnisses zur Sprache überhaupt sehen. Die Voraussetzung für die neue Sicht des Menschen ist eine veränderte Einstellung des Menschen der Neuzeit zu seiner eigenen Wirklichkeit, welche Bachtin insbesondere in seiner Lehre vom literarischen »Chronotop« dargelegt hat. Dieser Lehre zufolge spiegelt die Hinwendung des Romanautors zum ihm nahen, d.h. empirisch gegenwärtigen Menschen eine Umbewertung der Zeit-Raum-Dimensionen der Renaissance im Vergleich zu derjenigen des Mittelalters und der Antike. Galt dort nur die überlieferte, vergangene Zeit des heroischen Menschen als gestaltenswert, so verliert die Vergangenheit in der Renaissance ihren absoluten Wert und gewinnt die Gegenwart, die zuvor des Erzählens nicht für >wert< befunden worden war, einen neu entdeckten Wert. Das Wertzentrum verlagert sich dabei von dem utopischen Vergangenheitspol des Epos in das ebenfalls utopische, aber doch als empirisch erreichbar vorgestellte Zukünftige. Der neue axiologische Chronotop der Renaissance und mit ihr der ihrer führenden Gattung, des Romans, ist futurologisch-utopisch und offen für eine einholbare Zukunft, im Gegensatz zum unerreichbaren, abgeschlossenen, mythisch-utopischen »Nirgendwo« des Epos. 33 Die gegenwarts- und zukunftsgesicherte Wirklichkeitsorientierung verbindet sich mit einem grundsätzlich neuen Verhältnis zur Sprache, von Bachtin als Verhältnis »aktiver Vielsprachigkeit« bezeichnet. 34 Dies meint Öffnung des sprachlichen Bewußtseins für koexistierende andere Sprachen, Aufnahme aller sozial differenzierten Redestile der Nationalsprache und zugleich »wechselseitige Erhellung« der Sprachen mit dem Ergebnis der Einsicht in die Bedingtheit der Weltanschauung und möglichen Welterfahrung durch Sprache sowie Einsicht in die Möglichkeit der Befreiung von dieser Bedingtheit durch die dialogische Öffnung des Bewußtseins für die Vielheit des »sprachlichen Universums« und der mit ihm verbundenen Welten. Veränderung der chronotopischen Axiologie und »wechselseitige Erhellung der Sprachen« sind somit die in der »offiziellen Ideologie« (die sich in den in der Neuzeit aufkommenden Naturwissenschaften und den Entdeckungen der neuen Kontinente manifestiert sowie sprachlich in der Entthronung des »heiligen Lateins«35 durch die Nationalsprachen und Regionaldialekte) gegebenen Voraussetzungen für die Verdrängung des Epos durch den Roman im System der literarischen Gattungen.
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Zum Utopie-Begriff vgl. auch Karl Mannheim 1986. Bachtin unterscheidet die aktive Vielsprachigkeit von dem Zustand bloßen Nebeneinanders vieler Sprachen, der in der antiken Welt bestanden habe. Aktive Vielsprachigkeit ist für ihn mit dem Zerfall autoritärer Bewußtseinsstrukturen verbunden, der erst in der Renaissance einsetzte; vgl. die Studie Epos i roman (Bachtin 1975). Die Rolle des Lateins in der Spannung zwischen wiederentdecktem antiken Latein und »heiligem« Latein des Mittelalters im Sprachbewußtsein der Renaissance behandelt Bachtin in Aus der Vorgeschichte des Romanwortes (Bachtin 1979).
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Die Entdeckung der spezifischen Romanstilistik scheint nun den Umschlag in der Bewertung der evolutionären Position der Werke Dostoevskijs bewirkt zu haben. Im Aspekt dieser Stilistik entdeckt Bachtin statt des in der Studie Das Problem des Autors beklagten Verlusts der »Außenbefindlichkeit« des Autors Dostoevskij zugunsten eines Sichverlierens in der inneren Welt der Helden nun eine neue ästhetische Qualität, die er »Polyphonie« nennt. Die Polyphonie läßt sich als eine spezifische Variante des romankonstitutiven Chronotops darstellen. Sie kann uns auch als Folie für die Darstellung der dritten Entwicklungsphase der Kultur und Literatur, wie Bachtin sie ansetzt, dienen. Polyphonie ist zunächst einmal ein aus der Musikwissenschaft in die Literaturwissenschaft übertragener, im neuen Anwendungsbereich nur metaphorisch zu verstehender Begriff. 36 Mit ihm ist ein besonderes Verhältnis der Rede der dargestellten Personen des Romans zueinander und der vom Autor ausgehenden >Rede über die Rede der Helden< gemeint. Aus dem ursprünglichen Anwendungsbereich geht in die Metapher das Moment der Stimmlichkeit der Rede, der Gleichzeitigkeit mehrerer »Stimmen« und ihre Gleichwertigkeit in bezug auf die in der Rede enthaltenen Wertstandpunkte ein. Polyphonie ist nach Bach tin nur in der Prosa möglich, da das Stimmelement Dominanz der Intonation voraussetzt, was Merkmal der Prosa ist, wohingegen in den Lyrikgattungen der Rhythmus dominiert. 37 Die spezifische Chronotopik der polyphonen Romane Dostoevskijs liegt nun in folgendem. Auf der Ebene des dritten Glieds unserer Strukturtriade Autor - Wort - Gegenstand, der Ebene des und der Helden also, meint Polyphonie die gleichzeitige Befindlichkeit aller Reden der Romanhelden in dem Bewußtseinsraum eines - zumeist des zentrierten - Helden (so etwa ist Stavrogin in dem Roman Die Dämonen Träger des zentralen Bewußtseinsraums, wo alle Reden der Helden zusammenkommen). Hier spielt die Gleichzeitigkeit im Sinne von »chorischer« Synchronie der »Stimmen« die entscheidende Rolle. Dies impliziert aber nicht Zusammenfall der Wertpositionen der verschiedenen »Stimmen« zu einer summativen Wertung, sondern im Gegenteil Bewußtsein um die Wertungsdifferenzen und deren Anerkennung. Ausdruck der Bewußtheit um die Anerkennung der fremden Wertung ist besonders der Typus des sogenannten »verschieden-gerichteten zweistimmigen Worts« und des »reflektierten fremden Worts« (Bachtin 1971, S. 222-223), Typen, die innere und äußere Dialogisierung ermöglichen. Auf der Ebene des ersten Glieds unserer Strukturrelation, der Ebene des Autors somit, bedeutet Polyphonie einerseits dasselbe wie auf der Ebene des Gegenstands, an36
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Den metaphorischen Charakter seines Polyphoniebegriffs legt Bachtin im ersten Kapitel seines Dostoevskij-Buches dar (Bachtin 1971, bes. S. 27f.). Rhythmus und Intonation werden bei Bachtin zu gattungskonstitutiven Faktoren, wobei wohl die Zuordnung des Rhythmus zur lyrischen Gattung durch Jurij Tynjanovs verssprachliche Forschungen beeinflußt sein mag. Dem Rhythmus spricht Bachtin eine solche Modifikation der intentionalen Einstellung zu, die die gegenständliche Zielintention einklammert und sich auf die Intention selber richtet, so daß hier eine Entgegenständlichung resultiert, die zugleich Abstrahierung von Wertung und damit von Intonation (als Ausdruck der Wertung) bedeutet (vgl. Avtor i geroj ν esteticeskoj dejatel'nosti, Bachtin 1986).
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dererseits aber kategoral völlig Verschiedenes. Identisch sind die Zentralisierung aller Personenstimmen im Bewußtseinsraum des Autors (analog demjenigen des zentralen Helden) sowie die Gleichzeitigkeit und differenziale Gleichwertigkeit der in den »Stimmen« enthaltenen Wertpositionen. Der Autor selber wird hier nur Träger einer »Stimme« unter anderen: Der Autor verzichtet in den Romanen Dostoevskijs auf die ihm von der monologisierenden Literaturtradition - die Bachtin neben der dialogisierenden Linie auch in der Geschichte des Romans wirksam sieht38 - verliehene Macht über die Helden und ihre Rede und begibt sich auf eine Ebene der Gleichzeitigkeit und Gleichwertigkeit seines Wortes zum Wort der Helden. Dies impliziert einen scheinbaren Verlust seiner »Außenbefindlichkeit«, welche wohl den Grund für Bachtins ursprüngliche Verurteilung der Romane Dostoevskijs liefert. Doch neben der in das Werk hineingreifenden Dimension der Gleichzeitigkeit kommt dem Chronotop des Autors noch eine Dimension der über das Werk hinausgreifenden Diachronie zu, an der die Romanhelden keinen Anteil haben. Diese Dimension ergibt sich daraus, daß das Werk, verstanden als »Redeäußerung« des konkreten Autors in einer konkreten »Redesituation«, selber Reaktion auf vorangegangene »Redeäußerungen« anderer Autoren ist. Aufgrund seiner zweidimensionalen Struktur ermöglicht der Chronotop des Autors somit einen zweifach gerichteten Dialog: einen Dialog mit den »Stimmen« der Helden des Romans (Innendimension) und einen solchen mit den gleicherweise als »Stimmen« verstandenen Werken der literarischen Tradition (Außendimension). Letztere Dimension impliziert nach Bach tin nicht nur einen Dialog mit der Vergangenheit, sondern auch eine dialogische Öffnung in Richtung auf die Zukunft, auf weitere Werke, so daß jedes Einzelwerk »Glied einer Kette« in einem nach vorn und nach hinten offenen, sogenannten »großen Dialog« ist. Der »große Dialog« vollzieht sich in der Dimension der »großen Zeit«, ein Begriff, der nach Bachtin die gesamte Geschichte der menschlichen Kultur umfaßt. 39 Wenn wir uns nun der dritten Phase des Entwicklungsmodells von Bachtin zuwenden, so kann uns die zweidimensionale Struktur des Romanchronotops helfen, zwei wesentliche Momente dieser Phase zu erfassen. Deren eines ist die in der Zeit nach Dostoevskij realisierte Literatur, die für Bachtin ähnlich wie Mukarovskys Phase der Moderne mit dem Symbolismus einsetzt und bis zu Dadaismus und Surrealismus verfolgt wird. 40 Ihr zweites Moment ist eine von Bachtin geforderte
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Zu den zwei Linien der Romangeschichte vgl. Das Wort im Roman (Bachtin 1979, S. 154-300, hier das Schlußkapitel). Der »große Dialog« des Autors mit der Geschichte der Kultur steht dem »kleinen Dialog«, der innerhalb des Einzelwerks zwischen Autor und Held(en) stattfindet, gegenüber. Beide Begriffe werden in Bachtins Dostoevskij-Buch (1971) immer wieder verwendet, v. a. aber auch in der Studie Κ metodologii literaturovedenija (Zur Methodologie der Literaturwissenschaft) (Bachtin 1979), wo der »großen Zeit« die »kleine Zeit« des »großen Dialogs« gegenübergestellt wird, in der sich die für die formalistische Ästhetik relevante Opposition des »Neuen« und »Alten« abspielt. Zum Begriff der »großen Zeit« vgl. auch Rainer Grübel 1979. Vgl. auch Anm. 31.
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Literatur, deren Merkmal darin besteht, daß sie die ästhetische Entdeckung der Romanpolyphonie, welche Dostoevskij für die gesamte Weltliteratur geleistet hat, aufgreifen und mit neuen Mitteln fortsetzen soll. Dahinter steht ein durchaus normatives Verständnis der Literatur und Ästhetik, welches auch die Verurteilung der Literatur der Moderne begründet. Konstitutiv für die realisierte Literatur der Moderne ist in Bachtins Augen der Rückgriff auf das »direkte«, »poetische Wort« - ein Wort also, das ohne Rücksicht auf soziale Wertpositionen und ihnen zugehörige konkrete »Redesituationen« unmittelbar auf den nackten Gegenstand zielt. Aufgrund der axiologischen Sprachauffassung Bachtins ist eine solche Wort-Gegenstands-Relation jedoch eine Fiktion, denn sowohl ist der Gegenstand immer schon als vielfältig bewerteter vorgefunden, wie auch das Wort immer schon vielfach intoniertes, mit vielen expressiven und intonationshaft-wertemäßigen Akzenten versehenes Wort ist. Innerhalb der Periode nach Dostoevskij unterscheidet Bachtin zwei Richtungen: den Symbolismus, der von der Fiktion der allein in die Benennungsautonomie des Dichters gegebenen Wort-Gegenstands-Relation ausgeht und dies mit einer an die Poetik der Romantik anknüpfenden Lehre vom Dichter als Demiurgen und mythischem Seher begründet, sowie die ihm in der Sprachauffassung verwandten Richtungen wie Futurismus41 und Akmeismus, denen er die experimentellen Formen des Dadaismus und Surrealismus gegenüberstellt. Das Experiment ordnet Bachtin der Ästhetik des Formalismus zu, insofern hier die künstlerische Aufgabe auf das inhaltlose Material der Sprache gerichtet sei, das als »technischer Apparat« experimenteller Erprobung unterliege. 42 Charakteristikum beider Richtungen ist das Heraustreten des Autors aus seinem konkreten Chronotop der gegebenen »Redesituation« und damit Heraustreten aus dem Dialog mit der Geschichte der Literatur. Damit wird in Bachtins Augen Dostoevskijs Entdeckung der Romanpolyphonie zunichte gemacht. Wie sieht nun die von Bachtin geforderte Weiterentwicklung der Romanstruktur aus? Das wesentliche Merkmal dieser Struktur ist die Einführung der Historizität des Bewußtseins. Voraussetzung dafür ist »die Wiederherstellung des agierenden, akkumulierten Gedächtnisses in seinem vollen Bedeutungsumfang« (Bachtin 1979, S. 345) - eine Leistung, zu der Dostoevskijs Romantypus ein erster Schritt war, der nun jedoch sowohl durch das zu fordernde neue literarische Schaffen als auch durch eine Neuorientierung der Literaturwissenschaft in Richtung auf eine nichtstrukturalistische hermeneutische Wissenschaft vom Verstehen fortgesetzt werden muß. Hinter dem Begriff des agierenden, akkumulierten Gedächtnisses steht eine 41
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Symbolisten und Futuristen (bes. Chlebnikov) haben nach Bachtin das Streben nach einer einheitlichen Sprache der Poesie gemeinsam, hinter dem sich ein in der »Ptolemäischen Konzeption« der sprachlichen Welt gründendes »utopisches Philosophem« des Worts verberge (Das Wort im Roman, Bachtin 1979, S. 168-191). Vgl. dazu Problema avtora (Das Problem des Autors, Bachtin 1986, S. 172-191), aber auch Das Problem des Inhalts, Materials und der Form im künstlerisch-literarischen Schaffen (1979), wo Bachtin das Konzept der »Materialästhetik« der russischen Formalen Schule entwickelt.
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neue Modellvorstellung von der Monade, die sich aus dem kontrastiven Vergleich mit dem von Dostoevskij realisierten monadologischen Ganzen darstellen läßt. Für Dostoevskij s Monadentypus ist charakteristisch die Transformation der Zeitlichkeit in Räumlichkeit: »Hauptkategorie der künstlerischen Sehweise Dostoevskijs war nicht das Werden, sondern Koexistenz und Wechselwirkung. Er sah und dachte seine Welt vor allem im Raum und nicht in der Zeit.« (Bachtin 1971, S. 34; Kursiv des Autors). Damit ist gemeint, daß Dostoevskij auf der Ebene des Chronotops des Autors zwar in einen Dialog mit der ganzen Geschichte des Romans eintritt, indem er alle darin entwickelten Gattungs- und Redeformen in den Text eingibt und als »chorische Stimmen« erklingen läßt, dies jedoch unter Absehung vom konkreten historischen Nacheinander dieser Formen, was gerade das dem metaphernspendenden musikalischen Bereich des Polyphoniebegriffs entnommene Moment der chorischen Gleichzeitigkeit ausdrückt. Auf der Ebene der Romanhelden findet dieses Moment der Gleichzeitigkeit eine Entsprechung darin, daß die Helden keine eigentliche Biographie im Sinne des erlebten Nacheinanders der Lebensphasen haben, sondern daß einzelne wichtige Erlebnisse von den Helden wie noch gegenwärtige Wirkfaktoren erlebt werden, auf die sie, insbesondere in bezug auf beschämende Situationen oder begangene Verbrechen, mit dem ständig wachen Bedürfnis nach Beichte reagieren - so etwa die Beichte des Menschen aus dem Untergrund in der Erzählung gleichen Titels oder Stavrogins Beichte in den Dämonen. Vom Standpunkt der Entwicklungsvoraussetzungen des Romans folgt diese Transformation der Zeitlichkeit in Räumlichkeit durchaus einer inneren Logik. Denn durch sie wird der Wertparameter der absoluten Vergangenheit, der - aus dem Epos ererbt - auch die Anfänge des Romans noch überschattet hatte, außer Kraft gesetzt und durch den konträren Gegenwert absoluter Gleichzeitigkeit alles Vergangenen ersetzt. Der nach Dostoevskij »wiederherzustellende« Gedächtnistypus »agierender Akkumulation« sieht demgegenüber vor, daß mit der erinnernden Rückwendung auf historische Ereignisse »auch die nachfolgenden Ereignisse (im Rahmen des Vergangenen)« erinnert werden, so daß das historische Ereignis in seiner Öffnung für die Kette der nach ihm eingetretenen Ereignisse bis hin zum Moment des Erinnerns selber erfaßt wird; das Erinnerte soll in den »Kontext des unvollendeten Vergangenen« (Bachtin 1979, S. 355) gestellt werden. An die Stelle der Simultaneität alles Geschichtlichen im polyphonen Gedächtnisraum der Romane Dostoevskij s tritt somit ein solches Gedächtnis, das die zeitliche Position jedes geschichtlichen Ereignisses mit-erinnert. Das Gedächtnis wird selber linear-diachron strukturiert, ohne daß die Synchronie der Vielstimmigkeit verloren geht; denn jede erinnerte Position spiegelt in sich - wie in den Romanen Dostoevskijs - weiterhin simultan die ganze historisch geschaffene Vielfalt, die gerade diese bestimmte Position hervorgebracht hat, gleichzeitig jedoch wird sie als diese bestimmte Position in ihrer diachronen Verkettung mit vorausgehenden und nachfolgenden Positionen im erinnernden Gedächtnis gespiegelt. Es ergibt sich folglich ein monadologisches Ganzes, worin jeder Teil, d.h. jeder erinnerte Zeitmoment, synchroner Schnitt aller vorausgehenden Teile ist (der Teil spiegelt das Ganze), und worin das
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Ganze (das Gedächtnis) alle Teile (die Gesamtheit der Geschichte) so spiegelt, daß die individualisierende zeitliche Kettenposition jedes Teils mitgespiegelt wird. 43 Die moderne Literaturwissenschaft soll nun nach Bachtins Vorstellung an der Wiederherstellung des »agierenden, akkumulierten Gedächtnisses« mitarbeiten, indem sie die - insbesondere dem Strukturalismus der Prägung Jurij Lotmans und seiner Tartuer Schule unterstellten - Textbegriff aufgibt, der, in der Nachfolge der Saussureschen Linguistik, den Text immer noch als Ausdruck identischer Bedeutungen auffaßt, die durch die Beziehungen der Textelemente zum abstrakten Bedeutungssystem der »langue« hergestellt werden. Statt dessen soll die moderne Literaturwissenschaft zu einer Wissenschaft vom historischen, veränderlichen Sinn werden, eine Forderung, die hinter Bachtins Konzeption der »Metalinguistik« steht. Voraussetzung dafür ist, daß sich der Wissenschaftler gegenüber dem Text in eine Position begibt, die derjenigen des Schriftstellers gegenüber der Literatur und ihrer Geschichte analog ist. So wie jener die Geschichte der Literatur in seinem Werk des monadologisch neuen, synchron-diachronen Typs umgestaltend spiegelt, soll der Literaturwissenschaftler jeden Text als spezifische Sinnposition eines Autors in seiner Zeit begreifen. Diese Sinnposition soll nach einer FrageAntwort-Relation strukturiert werden, worin ein gegebener Text Antwort auf alle durch die vorangegangenen Texte gestellten Fragen gibt, zugleich aber selbst eine Frage an alle ihm folgenden Texte stellt. Die Frage-Antwort-Struktur ist nach Bachtin aus der traditionellen Linguistik und der strukturalen Literaturwissenschaft ausgeschlossen, sie ist hingegen konstitutiv für die zu begründende »Metalinguistik«. Dort wird sie zum heuristischen Hauptinstrument für die Rekonstruktion eines sehr weit gefaßten Kontextbegriffs, der - im Extremfall - die ganze Geschichte der Literatur in einem Werktext >akkumuliert< sieht. Daß dieser Kontextbegriff nicht identisch ist mit dem der modernen Intertextualitätsforschung, welcher letztlich von dem >strukturalistischen< Textbegriff ausgeht, ergibt sich daraus, daß auch der Wissenschaftler selber sich als Glied in der Kette der FrageAntwort-Relation begreifen soll, dergestalt, daß er aus dem »Horizont« seines eigenen, historisch geprägten Bewußtseins heraus an einem Text verborgene, unentdeckte Sinnpotentiale aufdecken soll, die nur seiner aktuellen chronotopischen Position zugänglich sind. Vergleicht man Jan Mukarovskys strukturalistisches Konzept des literarischen Wandels mit dem von Michael Bachtin entwickelten Konzept, so ergeben sich Übereinstimmungen, aber auch frappierende Abweichungen. Die Übereinstimmungen liegen in dem wichtigen Phasenschnitt zur modernen Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts, der bei beiden Theoretikern eine letztlich bipolare Entwick43
Das Akkumulationsprinzip als eines von drei Bedeutungsprinzipien des Textes - neben dem Prinzip der Bedeutungseinheit und der Oszillation zwischen Bedeutungsstatik und -dynamik - findet sich auch bei Jan Mukarovsky, allerdings begrenzt auf den Text des Einzelwerks ( Ο jazyce bäsnickem 1941a). Jifi Veltrusky verweist auf den Zusammenhang dieses Prinzips mit Edmund Husserls Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins (Veltrusky 1977).
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lungsauffassung markiert. Für Mukarovsky bedeutete der Übergang zur Moderne den Übergang vom mimetischen zum antimimetischen Zeichentypus der Kunst und Literatur und gleichzeitigen Wechsel vom Typus verdeckter Spannungen in der Struktur zum Typus offener, gesteigerter, allseitiger Spannungsbeziehungen. Bachtin dagegen betrachtet die Literatur bis zur Moderne als Geschichte des Werdens der Romangattung bis hin zum Entwicklungshöhepunkt im Werk Dostoevskijs, während die Literatur der Moderne eine Art »dekandenten« Abweichens von der Romanevolution darstellt, dem er die Vision einer idealen Norm gegenüberstellt.44 Im geschichtlichen Werden und in den noch nicht realisierten Möglichkeiten des Romans ist für Bachtin der Prozeß der Herausbildung unterschiedlicher monadologischer Ganzheiten enthalten, die sich über den Typus der im Ganzen und in den Teilen identischen Monade (Epos) und den synchronen Polyphonietypus (Dostoevskijs Roman) bis zum synchron-diachronen Idealtypus (nicht realisierte Weiterentwicklung nach Dostoevskij) erstrecken. Übereinstimmend ist in beiden Konzeptionen auch das Moment der Wertschätzung der Individualität künstlerischer Werke. Mukarovsky sieht gerade sie als wesentliches Merkmal der modernen Literatur an, realisiert in der traditionszerstörenden Abweichungsstruktur der Werke der künstlerischen Avantgarde, während Bachtin das Wertmoment der Individualität im einmaligen Chronotop des Romanautors lokalisiert sowie - auf der Ebene des monadologischen Ganzen - in den diachronen Kettenpositionen des akkumulierten Gedächtnisses. Die wesentlichen Abweichungen beider Konzeptionen liegen auf der Ebene der Gesamtwertung des geschichtlichen Prozesses. Ist für den Strukturalisten die moderne Kunst und Literatur Ausdruck der Befreiung der wesensmäßigen Autonomie künstlerischen Schaffens von den Fesseln kunstfremder Aufgaben, so verurteilt der >Monadologe< gerade dieses Autonomiestreben und mit ihm den Strukturalismus (und russischen Formalismus) zugunsten einer Widerspiegelungstheorie von Werk und Bewußtsein. Diese Frontstellung zwischen beiden Theoretikern soll nun von den jeweiligen zeichentheoretischen und allgemeinen ästhetischen Voraussetzungen her beleuchtet werden.
3. Zeichentheorie und allgemeine Ästhetik bei Jan Mukarovsky und Michail Bachtin Der Begriff der »Materialästhetik«, den Bach tin in abwertender Weise für die formalistische und strukturalistische Ästhetik geprägt hat, kann als Leitbegriff der semiotischen und ästhetischen Konzeption des Strukturalismus durchaus akzep44
Mit dem Verdikt der »Dekadenz« belegt Bachtin die gesamte »idealistische Kultur«, die das »Ich« zu »auswegsloser Vereinsamung« verurteilt. Ihr stellt er die Lehre vom bewußtseinskonstitutiven Akt der Öffnung des »Ich« für das »Du« gegenüber, zu dem sich auch noch ein autoritätsschaffender »Dritter« hinzugesellt, den er mit Bezug auf Heidegger auch als »man« bezeichnet (vgl. u.a. die Studie Κpererabotke knigi ο Dostoevskom, dt.: Zur Überarbeitung des Buchs über Dostoevskij, Bachtin 1986, S. 326-346).
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tiert werden, wobei zu der Komponente des »Materials« eine zweifache »Form« hinzugedacht werden muß, die linguistische und die künstlerisch-ästhetische. Für Bachtins ästhetische Zeichenkonzeption läßt sich der Gegenbegriff der >Verantwortungsästhetik< begründen, bei dem das Moment des hermeneutischen Sinns zentral ist. Grundlage der Zeichenkonzeption Mukarovskys ist die Doppelheit des linguistischen Zeichens von materiellem Signifikanten und immateriellem Signifikat, zu dem in der Applikation der Zeichen in der satzmäßig geformten Äußerung der aktuelle Sachbezug und dessen gegenständliches Korrelat hinzutreten. 45 Bei der Verwendung der sprachlichen Zeichen in ästhetischer Einstellung wird die auf das außerzeichenhafte Sachkorrelat gerichtete Intention, welche aus dem Zeichen ein bloßes Mittel macht, so verändert, daß die strukturellen Relationen des Zeichens selber zum Focus der Aufmerksamkeit werden. Das ästhetische Zeichen ist »selbstzielig«, und das gegenständliche Korrelat erfährt eine bewußtseinsmäßige Einklammerung, die bis zur Zerstörung der Gegenstandsvorstellung gehen kann. Die Transformation der intentionalen Einstellung wird erreicht durch die künstlerischen Verfahren, welche die das Zeichen formenden Normen der Sprache umformen bis hin zu einer möglichen Deformation, ein Vorgang, der gerade für die moderne Kunst charakteristisch ist. Umformung und Deformation folgen jedoch eigenen Regeln und Gesetzen der Veränderung dieser Regeln, die an dem Grundprinzip ästhetischer Wahrnehmung, dem Formdifferenzial, ausgerichtet sind. Das ästhetische Differenzial sieht eine zweiseitige immanente Spannungsrelation vor: zu den normierten, usuellen sprachlichen Formen und zu den durch Gewöhnung an bestimmte historische Kunstformen ebenfalls usualisierbaren künstlerischen Verfahren. Beide Spannungsrelationen müssen immer wieder reaktualisiert werden, doch folgt die Reaktualisierung der künstlerischen Verfahrensformen einem schnelleren Rhythmus, der insbesondere in der Kunstepoche der Moderne aufgrund der »Befreiung« von mimetischen Aufgaben eine solche Beschleunigung erfährt, daß jedes einzelne Kunstwerk eine individuelle Reformulierung des gesamten vorgefundenen künstlerischen Formeninventars anstrebt. Insgesamt ergibt sich daraus für das moderne Kunstwerk eine zweifache Formschichtung mit einem je eigenen schichtenspezifischen diachronen Bewegungstempo: die >langsame< Formdifferenzierung im Bereich der sprachlichen Formen, die in der Gesamtepoche der Moderne auf den gemeinsamen Nenner der Zerstörung des Sachbezugs und damit der Entgegenständlichung der sprachlichen Zeichen hinausläuft (> AntiMimetismusAbstraktionismusschnelle< Formdifferenzierung im Bereich der künstlerischen Formen selber, die jedes Einzelwerk einer Opposition >alterneuerinternen< Wissenschaftsgeschichte.
Zurück zu Darwin
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verstärkten Anpassungsdrucks zu verdanken sind - daß vielleicht der in Permanenz übergegangene Wissenschaftsschub der Gegenwart auf eine permanente Erhöhung des Anpassungsdrucks an selbsterzeugte Umwelten zurückgeht. Das zweite Beispiel: Da gibt es den berühmten Satz, daß das Sein das Bewußtsein bestimme. 23 Für den, dem das nicht nur ein Glaubenssatz ist, stellt sich sogleich die Frage, was denn hier unter >Bestimmen< zu verstehen sei und wie es dabei genauer zugeht. Handelt es sich um ein Herrschaftsverhältnis (der Chef bestimmt, was zu tun ist), ein Kausalverhältnis (die Erdanziehung bestimmt den freien Fall), ein Steuerungsverhältnis (der Thermostat bestimmt die Temperatur)? - Am plausibelsten sind wohl Beispiele wie: >Das Wetter bestimmt die Kleidung< oder >Die Steuergesetzgebung bestimmt das Investitionsverhaltenletzter InstanzSein< das Wort >Problemsituation< und für >Bewußtsein< das Wort >ÜberzeugungssystemKlasse< oder als Kultur. Auch unter den Überzeugungssystemen gibt es falsch gefärbte Birkenspanner oder Dinosaurier. Nur: Birkenspanner können nicht ihre Farbe ändern, Menschen aber zumindest grundsätzlich - ihre Überzeugungen und sogar ihre Umwelt. Alt-Marxisten werden dies wohl für eine schändlich idealistische Entstellung der wahren Lehre halten. Aber die Alternative Idealismus/Materialismus ist falsch, verdeckt die wahren Zusammenhänge: Handlungsleitend sind immer die Überzeugungen (aufruhend auf den genetischen Dispositionen); die einzige, freilich in letzter Instanz entscheidende, umgekehrte Aktivität, wenn man dies indolente Verhalten überhaupt so nennen will, besteht darin, daß die Problemsituation (System/Umwelt-Grenze) als Selektionsinstanz bestimmte Lösungsversuche gelingen, andere scheitern läßt. Sie meldet höchst lakonisch: >PaßtPaßt nichtDialektik< ließe sich befriedigend klären. Gegen die Annahme von >Widersprüchen< in der Gesellschaft oder gar in der Natur wird ja immer wieder eingewandt, daß hier eine logische Kategorie zur Seinskategorie umgedeutet wird, was nur unter der Voraussetzung einer Hegelianischen Ineinssetzung beider
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Es wäre freilich falsch, wenn man, wie die Beispiele und das Konzept Problemlosem nahelegen mögen, Überzeugungssysteme rein instrumentalistisch deutete. Die Idee der Wahrheit als genetische Disposition treibt das Denken immer wieder über den Bereich möglicher Erfahrung und Anwendung, den >MesokosmosWeltanschauungPaßtPaßt nicht< der System-UmweltGrenze gerät. Bei den nicht-empirischen Anteilen aber wäre es ein unzulässiger Schluß a nescire ad non esse, wenn man sie als Unsinn abtäte; wir wissen nur nicht, ob und in welcher Weise ihnen ein objektives Korrelat entspricht, können sie nur danach beurteilen, ob sie sich mit den empirischen vertragen.
Zur Funktion von Dichtung Eine historische Systemtheorie kann nicht mit einem festen Bestand an Bedürfnisse und ihnen entsprechenden Funktionen operieren (entsprechend dem Parsonschen AGIL-Schema), oder die Aufzählung wird zu einem »Passepartout« (Willke, S. 93), das eben - ein Passepartout ist und bei der konkreten Analyse allenfalls im Anfangsstadium zu ein paar Fragen verhilft. Und sie kann schon gar nicht >die< Funktion von Dichtung bestimmen. Um aber diejenigen, die nach all dem Aufwand eine Funktionsbestimmung von Dichtung erwarten, nicht völlig zu enttäuschen, seien einige fragmentarische Hinweise gegeben, welche Funktionen Dichtung erfüllen kann. Noch einmal zwei Vorbemerkungen: Erstens: Auch Dichtung ist eine menschliche Problemlösungsaktivität. Darauf kommt mir viel an, weil ich meine, daß man nur auf dieser Basis auf qualifizierte Weise Dichtung im historischen Kontext (>Systemüberkohärenten< Text. Das sei kurz erläutert. Normalsprachliche Texte sind durch zwei Momente bestimmt: 1. Interne Kohärenz (Pro-Formen, Thema-Rhema-Gliederung, Logizität usw.). 2. Externe Referenz (Deiktika, Eigennamen, Kennzeichnungen usw.). Bereiche möglich sei, und einige alberne Beispiele von Engels zeigen auch die Absurdität solcher Konfundierung. Überzeugungssysteme hingegen können durchaus logische Widersprüche enthalten, so daß man aus ihnen abgeleitete Handlungsweisen, enthymematisch, als >widersprüchlich< bezeichnen kann. Solche Widcrsprüchc sind aber keineswegs generell negativ zu beurteilen. Ein völlig widerspruchsfreies Überzeugungssystem hätte wahrscheinlich keine Chance, sich an neue Herausforderungen anzupassen.
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Ein solcher Text ist an eine ganz bestimmte Situation gebunden und dazu verurteilt, mit der Situation zu verschwinden (das gilt auch für Schriftstücke, die irgendwann einmal im Papierkorb oder im Reißwolf landen). - Der überkohärente Text zeichnet sich demgegenüber durch zwei andere Merkmale aus: 1. Die Kohärenz ist durch zusätzliche Mittel verstärkt. Das können bedeutungsneutrale Rekurrenzen wie Vers und Reim sein, aber auch bestimmte Bildverknüpfungen, Geschichten mit Anfang, Mitte und Ende, von denen man nicht einfach irgendetwas wegnehmen kann, dazu kommen soziale Stabilisierungsfaktoren wie Auswendiglernen usw. Wahrscheinlich kann man die Mittel zur Herstellung von Überkohärenz nur in einer offenen Liste aufzählen. Durch sie wird der Text in besonderem Maße >verschnürterklärende< (ätiologische) Mythen, frühe kulturstiftende Epen gehören hierher, >eingemeißelt< ins Gedächtnis von Priestern und Rhapsoden. Und so fort bis an die Schwelle der Gegenwart; denn auch die bildungsbürgerliche Klassiker-Pflege galt kanonischen Bezugstexten, in deren Medium sich InterSubjektivität stabilisieren konnte. Die Verfremdungsund Abweichungs-Ästhetik modernen Datums kann das nur unvollständig erfassen; jedenfalls geht es bei der hier angedeuteten Funktion überkohärenter Texte nicht darum, die Wirklichkeit zu verfremden und die Menschen ein >neues Sehen< zu lehren, sondern die poetischen Verfremdungen haben den Zweck, die Aufmerksamkeit auf den herausgehobenen Text zu lenken, damit die ihm inkorporierten und in ihn hineingedeuteten Regelmäßigkeitsannahmen als ein Objektives erscheinen, und so das jeweilige Weltbild (oder >Systemsignifikanten< Geschichten, die man immer wieder in der Frankfurter Allgemeinen und der Frankfurter Rundschau über das Verhältnis von Arbeitgebern und Arbeitnehmern lesen kann - Dichtungen insofern, als kein Leser sie nachprüfen kann und sie auf etwas hinterhältige Weise beanspruchen, über den Einzelfall hinaus typisch zu sein. Ich nenne diesen stabilisierenden Funktionsbereich den der >subsidiären< Funktionen. Im deutschen Sprachraum - und nur von ihm kann ich hier sprechen - gibt es aber spätestens seit den 70er Jahren des 18. Jahrhunderts noch einen anderen Funktionsbereich von Literatur. Ich nenne ihn den >komplementärenWahrheitsWahrheit< konstituieren - kann gerade die Thematisierung der Kosten solcher Reduktion von Komplexität zu ihrer eigentlichen Domäne machen. Und während die anderen Instanzen ihre Raison darin finden, daß sie Lösungen unterbreiten (Ungelöstes verschweigen), kann sie es sich sogar leisten, nichts anderes zu sein als wohlformulierte Ratlosigkeit. In äußerster Verkürzung:25 Das heterogen zusammengewürfelte Neu-Bürgertum des 18. Jahrhunderts hatte seine Intersubjektivitäts- (Kontingenz-)Probleme dadurch gelöst, daß es sich unter den Titeln von >Vernunft< und >Moral< ein neues gemeinsames Weltbild erarbeitete. Die Generation von 1770 jedoch, die nicht wußte, welche Probleme durch die vielerlei Reduktionen gelöst wurden, empfand das - so das Schlüsselwort des Werther - nur noch als »Einschränkung«. 26 Sie versuchte, im Namen eines emphatischen Begriffs von Wahrheit, aus den Reduzierungen auszubrechen, >Ursprünglichkeit< zurückzugewinnen, und sie stieß dabei auf drei Problembereiche, die von den offiziellen Problemlösungsinstanzen nur unzureichend und kalmierend behandelt worden waren: Die Problembereiche des sozialen Konflikts, der Liebe und des Todes. Seither, spätestens, ist es eine hervorragende Funktion von Dichtung, komplementär zur jeweiligen Standardisierung der Wirklichkeit auf die jeweils unbeleuchtete Seite der Wahrheit hinzuweisen. Auch damit leistet sie einen Beitrag zum Bestand des sozialen Systems, nämlich unter den Bedingungen eines seither akzelerierten Anpassungsdrucks: Sie sorgt für erhöhtes Kontingenzbewußtsein (Luhmann 1986) und damit für erhöhte
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Nähere Ausführung demnächst in der Dokumentation des DFG-Symposions zur Sozialgeschichte der Literatur 1987. Einer der Gründe, weshalb die Luhmannsche >Systemtheorie ohne Menschen< historisch nur begrenzt brauchbar ist: Generationenwechsel wie auch intrapersonelle Interferenzphänomene an den historisch besonders interessanten Krisenpunkten können nur unvollkommen erfaßt werden. »Nicht der Geschmack wird in der Regel ein anderer und neuer, sondern andere werden Träger eines neuen Geschmacks.« (Levin Ludwig Schücking: Soziologie der literarischen Geschmacksbildung, Bern 1961, S. 85.) - Fruchtbar erscheint es mir jedoch, Luhmanns Thesen zur Religionssoziologie hier zu applizieren, nicht zuletzt um der bekannten, aber oft eher redensartlich gebrauchten These, Poesie werde zum funktionalen Äquivalent< für Religion, die nötige Präzision zu verleihen. Das Referenzproblem der Religion ist nach Luhmanns Auffassung die von den Selektionen des jeweiligen sinnkonstituierende System unberücksichtigte, doch durch >Appräsentation< als >irgendwie< existent erfahrene Umwelt (>Transzendenz< als >Systemtranszendenzuneigentlichen< Rede der Poesie und im klassisch-romantischen Symbolbegriff geleistet.
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Bereitschaft, Regelmäßigkeitsannahmen zu revidieren und neu erscheinenden Problemen mit neuen Methoden zu begegnen.
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Literarischer Wandel und sozialer Wandel: Theoretische Anmerkungen zum Verhältnis von Wissenssoziologie und Diskursgeschichte
[...] was sie (die archäologische Beschreibung der Diskurse, C.-M.O.) ans Licht bringen will, ist die eigenartige Ebene, auf der die Geschichte begrenzte Diskurstypen verursachen kann, die ihren eigenen Typ von Historizität haben und mit einer Menge verschiedener Historizitäten in Beziehung stehen. (Michel Foucault, Archäologie des Wissens, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1981, S. 235).
Es wird mir im vorgegebenen Rahmen schwerlich gelingen, meinem Thema auch nur annähernd gerecht zu werden. Dies liegt nicht zuletzt daran, daß dessen (potentielle) Komplexität von literatur- wie sozialwissenschaftlicher Seite bisher kaum systematisch entfaltet worden ist und die darüber hinaus mit ihm verknüpften theoretischen Probleme allenfalls vereinzelt erkannt, nicht jedoch gelöst oder methodisch fruchtbar operationalisiert worden sind. Um sich nicht in einem bloßen Katalog heterogener Defizite und Desiderate zu erschöpfen, werden die folgenden theoretischen Anmerkungen allerdings die Komplexität der Fragestellung ihrerseits mittels einiger weniger, zumeist noch nicht einmal ausreichend definierter Grundbegriffe und kategorialer >Leitdifferenzen< auf eines der gleichwohl wichtigsten theoretischen wie methodischen Basisprobleme reduzieren müssen. Beansprucht werden kann dabei lediglich, zu einer systematischen Explikation und Präzisierung des impliziten Problemkerns jeder - so die Hypothese - sozialhistorisch konzipierten Geschichte der Literatur beizutragen. Eine darauf aufbauende, im engeren Sinn systemtheoretische Rekonstruktion dieses Basisproblems muß jedoch fernerer, interdisziplinärer Modellbildung vorbehalten bleiben. Im folgenden werde ich demnach eine definitive diachronische Modellbildung auch nicht in Umrissen skizzieren können: literarischen Wandel und sozialen Wandel auf nichtreduktive Weise miteinander zu korrelieren bzw. literarischen Wandel als sozialen Wandel zu beschreiben oder zu (re-)konstruieren, setzt ein synchronisches Modell der Beziehungen von Literatur und Gesellschaft voraus, dessen mögliche Komponenten zwar in ersten Ansätzen bereits entwickelt worden sind,1 hier aber nicht näher diskutiert werden können. Meine Ausführungen verstehen sich stattdessen
1
Vgl. v. a. den von der funktionalistischen Soziologie Talcott Parsons' ausgehenden, struktural-funktionalen Modellentwurf der Münchener DFG-Forschergruppe »Sozialgeschichte der Deutschen Literatur 1770-1900« (speziell Meyer/Ort 1988 und allgemein Pfau/Schönert 1988).
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als ein nachdrückliches Plädoyer für eine konsequente interdisziplinäre und theoretisch reflektierte Verkomplizierung literaturbezogener Sozialgeschichtsschreibung, deren konzeptuelle Schwächen nach dem offensichtlichen Abflauen ihrer modischen Hochkonjunktur (zu den einzelnen Verlagsprojekten vgl. Weber 1981) deutlich genug hervorgetreten sind. Die in der Folge aufgekommene theoretische und methodologische >ErnüchterungZuviel< an Theoriebildung angelastet werden, sondern beruht vielmehr umgekehrt auf Defiziten des desolaten theoretischen Diskussionsstandes innerhalb der Literaturwissenschaft . Daß in meiner Formulierung des Themas erst gar nicht von >Sozialgeschichte der Literatur< die Rede ist, deutet bereits an, daß meine rein theoretischen Anmerkungen zum Verhältnis von literarischem Wandel und sozialem Wandel vorerst lediglich einen möglichen Rahmen abstecken wollen, innerhalb dessen aus der vagen Leerformel >Sozialgeschichte (der Literatur)< ein intensional und extensional enger gefaßter, definierter und operationalisierbarer Begriff werden könnte. Eine derartige Modellbildung wird, wie ich meine, eine wissenssoziologische (bzw. auch > diskurssoziologischewissensgeschichtlichenSozialgeschichte der Literatur< per se erhobene interdisziplinäre Anspruch jemals theoretisch und methodisch eingelöst werden, müßten >Literatur< und >Gesellschaft bzw. >Literatursystem(e)< und >Sozialsystem(e)< bzw. literarische Strukturem und >soziale Strukturem auf nicht reduktive oder vorschnell explanative Weise und auf mehreren Abstraktionsebenen korreliert werden können, müßte eine bloß immanente Literaturgeschichtsschreibung ebenso vermieden werden, wie >sozialgeschichtliche< Kurzschlußzurechnungen von Handlungs- oder Sozialsystemen auf Texte, Genres oder Gattungen. Dem Komplexitätszuwachs der daraus resultierenden methodischen und theoretischen Probleme scheinen allerdings weder Soziologie noch Literaturwissenschaft bisher gewachsen: Wenn nämlich anstelle >geistes-< oder kulturgeschichtlichen Synthesen eine Vielfalt einzelner >Teilgeschichten< ausdifferenziert wird, dann stellt sich das Problem ihrer systematischen Re-Integration; die drohende wechselseitige Beziehungslosigkeit heterogener Einzelgeschichten wird nur dann abzuwenden sein, wenn es gelingt, diese ebenso systematisch voneinander abzugrenzen wie aufeinander zu beziehen. Erschwert wird dies zudem erheblich, wenn sich - wie häufig der Fall - die jeweiligen Teil- oder Einzel-
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geschichten ihrerseits als komplexe Synthesen erweisen, die oft aus ganz unterschiedlichen Quellen diffuse Bezugswege zwischen >Diskursen< / symbolischen Formen< / >Wissen< und >sozialem Handeln< / >sozialen Strukturem / >sozialer Praxis< herstellen, ohne das >Knäuel< ihrer heterogenen Partialgeschichten zu entwirren. 2 I
Wer vor diesem Hintergrund über die Beziehung von literarischem Wandel und sozialem Wandel nachdenkt, wird mit einer Fülle je einzelwissenschaftlicher Probleme konfrontiert, deren Lösung die Voraussetzung einer Methodologie für eine >Sozialgeschichte< der Literatur bildet. Anstatt in diese Probleme hier in extenso einzuführen, werde ich den Problemhorizont auf das Verhältnis von >Diskursgeschichte< (bzw. -Soziologie) und >Wissenssoziologie< (bzw. -geschiehte) verengen, deren Funktion innerhalb einer systematischen Sozialgeschichte der Literatur bisher nicht explizit diskutiert worden ist und in deren Überschneidungsfeld eine der fundamentalen Aufgaben sozialhistorisch dimensionierter Literaturgeschichtsschreibung angesiedelt ist. Dieses >FeldÜberschuß< zu leben sein; daraus heuristischen, forschungspraktischen Nutzen zu ziehen und dieses Mißverhältnis zu korrigieren, muß zukünftigen Anstrengungen überlassen bleiben. Ein theoretisches Modell für eine Sozialgeschichte der Literatur (ab jetzt abgekürzt SgL) wird sich nicht in einer Sozialgeschichte im engeren Sinn erschöpfen 2
Um nur einige wenige, beliebige und methodisch höchst unterschiedliche Beispiele für solche Synthesen und impliziten >Kreuzungen< etwa von Politik-, Gesellschafts-, Wirtschaftsgeschichte mit Technik-, >AlltagsSittenMentalitätenDenk Kulturgeschichte < (z.B. Kunst- und Literaturgeschichte) zu nennen, sei u.a. etwa erinnert an die Geschichte(n) des >Todes< und der >Kindheit< (Aries 1980, 1975), der >Liebe als Passion< (Luhmann 1982), der >Angst< (Delumeau 1985), des >Geruchs< (Corbin 1984), der >Sexualität< (Gay 1986), der >Genußmittelkünstlichen Helligkeit^ der >Eisenbahnreise< (Schivelbusch 1980, 1983, 1977), der >Tränen< (Berkenbusch 1985) oder an den Wandel der Tischsitten und der sexuellen Verhaltensweisen im >Prozeß der Zivilisation (Elias 1969) und an die Geschichte des >Alltags< (Braudel 1985). - Den bisher vorgelegten >Sozialgeschichten der Literatur< (etwa Grimminger 1980, Glaser 1980, ZmegaC 1978) mangelt es dagegen meist umgekehrt an nicht-analogisierenden/-homologisierenden Bezügen zwischen den Geschichten einzelner Gattungen, Genres, CEuvres oder einzelner Institutionen des literarischen Lebens< und den davon relativ isolierten, politik-, wirtschafts-, sozial- oder auch ideologiehistorischen Teilgeschichten.
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dürfen, die - um mit Jürgen Kocka zu sprechen (Sozialgeschichte. Begriff - Entwicklung - Probleme, 1977, S. 77ff., 80ff.) - als Struktur- und Ereignis-»Geschichte des Teilbereichs >Soziales internen < semantisch-logischen Strukturen literarischer Diskurse haltmacht oder diese in voreilig analogisierender oder kausalgenetischer Weise auf soziale Strukturen/Prozesse >zurechnetSozialsystem Literatur«. Vgl. Titzmann 1983, der vor synchronisierenden Kurzschlüssen und einer a priori unterstellten Einheit verschiedener Teilgeschichten ebenso warnt, wie vor der bloßen Applikation politikgeschichtlicher bzw. ereignisgeschichtlicher Periodisierungen auf literarischen Wandel (ebd. S. 112/113).
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3. diskursiven (semantisch-logischen) und sozialen (dynamisch-prozessualen) diachronen Reihen/Serien zu formulieren. Bestehen für die zwei zuerst genannten Bezugswege zumindest vereinzelte Vorarbeiten von literatur- und sozialwissenschaftlicher Seite, 5 so ist dagegen der sozialgeschichtlich relevanteste und methodisch schwierigste (weil interdisziplinär situierte) dritte Bezugsweg noch weitgehend ungeklärt. Genau dieser Bezugsweg zwischen sozialem Handeln / Sozialsystemen einerseits und Zeichensystemen / s y m bolischen Formen< / Diskursen / Wissensstrukturen andererseits bildet jedoch das entscheidende wissenssoziologische Zurechnungsproblem, mit dessen theoretischer und praktischer Bewältigung eine SgL im hier vertretenen Sinn steht oder fällt. 6 V. a. dieser dritte Bezugsweg soll nun weiterverfolgt werden. D a es eine systematische (oder gar systemtheoretische) und zugleich auch diachronische Soziologie des Wissens / der symbolischen Formen< / der Diskurse noch nicht bzw. allenfalls in ersten heterogenen Entwürfen gibt (so etwa bei Bourdieu 1974, Barber 1975, Rewar 1980, Luhmann 1980, 7 Bühl 1984) 8 und die fehlende (wissens-)
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Für den ersten Bezugsweg von literaturwissenschaftlicher Seite zumindest im Ansatz ζ. B. Linder/Schönert 1983 und Schönert 1987 (am Beispiel des literarischen Diskurses über Kriminalität), Renner 1985 oder Titzmann 1984 sowie im Anschluß an Foucault z.B. Kolkenbrock-Netz 1981, Wegmann 1986, Müller/Wegmann 1985, Müller 1986 (die beiden letzteren jeweils theoretisch) und - z.T. >motivsymbolKollektivsymbolikDiskursanalyse< und >Interdiskurssoziologische< oder >sozialgeschichtliche< Interpretationen literarischer Texte (vgl. etwa Fügen 1982 oder Frühwald 1983) scheinen sich der theoretischen und methodischen Tragweite dieses Zurechnungsproblems - falls überhaupt - nur sehr vage bewußt zu sein; so propagiert Frühwald 1986 zwar »eine an Sprache orientierte Sozialgeschichte« als »noch nicht bewältigte« (ebd., S. 129) und »zentrale Aufgabe einer modernen Sozialgeschichte der Literatur« (ebd., S. 130), meint sie jedoch auf >MythenKultursoziologie< zu erhoffen, v. a. von einer diachronischen Systemtheorie der Kultur(-systeme), wie sie neben Luhmann 1986 v.a. Bühl 1986 und 1987 inaugurieren.
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soziologische Einbindung einer Diskursgeschichte Foucault'scher Prägung ebenfalls noch nicht in Aussicht steht, gilt es zunächst, den wissens-/diskurssoziologischen und diskurs-/wissensgeschichtlichen Problemkern der SgL zu präzisieren. Zu diesem Zweck sind vorläufig bereits mindestens die nachstehenden Punkte explizit festzuhalten: 1. Eine SgL hat die Beziehungen zwischen literarischem Wandel und sozialem Wandel, d.h. die sich wandelnden Beziehungen zwischen Literatur und Gesellschaft zu rekonstruieren. 2. Die Differenzierung und Isolierung einzelner, relativ autonom gesetzter Teilgeschichten einerseits und deren Re-Integration und Relationierung andererseits bilden die beiden wesentlichen, komplementären Theoriekomponenten einer SgL. 3. Unter der Beziehung von Literatur/literarischem Wandel und Gesellschaft/ sozialem Wandel sind zunächst die Relationen zwischen einem Sozialsystem >Literatur< und seinen sozialen >Umwelten< (anderen gesellschaftlichen - etwa kulturellen, politischen, wirtschaftlichen usf. - Subsystemen), sodann aber auch im engeren Sinn die Relationen zwischen literarischen Diskursen (als semiotischen Systemen) und ihren sowohl semiotischen >Umwelten< (anderen nicht-literarischen Diskursen) als auch sozialen, literatursysteminternen wie -externen Umweltsystemen zu verstehen (also die mikrosoziale Praxis von rezeptiven, produktiven, verarbeitenden oder institutionalisierenden Anschlußhandlungen bzw. deren makrosozial und sedimentierte Strukturen). Die Komplexität und Vielfalt der somit denkbaren synchronen und diachronen Bezugswege zwischen Literatur und Gesellschaft wird im folgenden jedoch zugunsten der im engeren Sinn wissens- bzw. diskurssoziologischen Beziehung zwischen der semiotischen und der sozialen Systemreferenz ausgeblendet. In deren Verknüpfung ist m.E. das für eine nicht-reduktive SgL entscheidende Desiderat interdisziplinärer Theoriebildung zu erblicken. 4. Der Rahmen für die weiteren Überlegungen wird also von zumindest drei kategorialen >Leitdifferenzen< abgesteckt: - >ZeichensystemText< (>DiskursSozialsystemPraxisSynchronieDiachronieWandel< als zwei komplementären Analyseperspektiven für beide Systemreferenzen, und - >Mikrostruktur< versus >Makrostruktur; damit sind wiederum für beide Systemtypen zwei je verschieden abstrakte Systemebenen markiert. Für Zeichensysteme resultiert daraus z.B. die Unterscheidung von Einzeltextstrukturen und Textcorpusstrukturen (>DiskursstrukturenZeichensystemTextDiskurs< angeht, so muß vorerst auf Ort/Titzmann, (i. Vorb.) verwiesen werden.
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sehen >Oberflächenstrukturen< und davon abstrahierbaren >Tiefenstrukturensozialen Systemen< bzw. (mikro- wie makro-)sozialer >Praxis< sprechen. Explizit festzuhalten ist jedoch, daß Mikro- und Makrosoziologie (>Individuum< und >Gesellschaftsoziales Handeln< und Systemtheorie/>soziale SystemeExtreme< auf einer Skala, d.h. als zwei komplementäre Perspektiven eines Gegenstandsbereiches verstanden werden sollten, bei dessen nicht-reduktiver Analyse keine der beiden, emergenten - d. h. nicht vollständig aufeinander reduzierbaren und auseinander ableitbaren - Untersuchungsebenen a priori und auf Dauer beiseite gelassen werden sollte. 10 Im folgenden schließen sich nun zunächst einige allgemein wandlungslogische Bemerkungen zum Verhältnis von >Synchronie< und >Diachronie< bzw. von synchronischer und diachronischer Untersuchungsebene an, die bisher in erster Linie von der Soziologie für soziale Systeme und den Wandel ihrer Strukturen und Funktionen angestellt worden sind, sich jedoch für semantisch-logische Systeme (wie etwa einen literarischen Diskurs) und deren Struktur- und Funktionswandel gleichermaßen als relevant erweisen. In einem zweiten Schritt soll dann die jeweilige ReSpezifikation für die semiotische und die soziale Systemreferenz sowie für deren synchrone und diachrone Korrelationen angedeutet werden.
II Reinhart Koselleck (Sozialgeschichte und Begriffsgeschichte, 1986) betont zwar den theoretischen Zusammenhang von >Synchronie< und >Diachronie< (ebd., S. 101), postuliert aber zugleich auch, daß »sich wie bei der Relation von Sprechen
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Darauf hat gerade die systemtheoretische Soziologie immer wieder hingewiesen und auf einer integrativen, mikro- wie makroskopischen Modellbildung bestanden (vgl. auf Parsons basierend Münch 1982, programmatisch Bühl 1982, aber auch Luhmann 1984 und zuletzt Schwemmer 1987, S. 244-287, der die »Systemtheorie als kritische Umkehrung der naiven Handlungstheorie« [ebd., S. 248-252] begreift und von >Handlungssystemen< spricht). Noch Kocka 1986 sieht dagegen in >Strukturgeschichte< und >ErfahrungsgeschichteStrukturen< und >Prozessen< einerseits und >Handlungen< und >Erfahrungen< andererseits (ebd., S. 79) Gegensätze, die durch eine zwischen ihnen vermittelnde >Sozialgeschichte< integriert werden sollen; anstatt obsolete Dichotomien im Objektbereich versöhnen zu wollen, müßten auf der Metaebene der Modellbildung die Beziehungen zwischen M/crostrukturen/-prozessen und A/a/crostrukturen/-prozessen präzisiert werden.
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und Handeln im Vollzug des Geschehens Synchronie und Diachronie empirisch nicht trennen« ließen (ebd., S. 100, Hervorh. von C.-M. O.). Mit seiner expliziten Parallelisierung von >Synchronie/Ereignis/Sprechen/Handeln versus Diachronie/ Struktur/Sprache/Handlungsvoraussetzungen< (ebd., S. 100-108) modelliert er die >Leitdifferenz< >Synchronie versus Diachronie< sprachanalog nach einem generativen >parole-languesynchron< und >diachron< umstandslos mit deren empirischer Unauftrennbarkeit gleich (vgl. auch Koselleck 1979, S. 107-157). Mit dieser latenten Trivialisierung von >Synchronie< und >Diachronie< verliert die Unterscheidung jedoch m.E. ihre methodische und heuristische Fruchtbarkeit. Eine nicht-kurzschlüssige Präzisierung des wandlungslogischen Konnexes von >Synchronie< und >Diachronie< scheint demnach sinnvoll und geboten. Daß >Dauer< und >WandelSynchronie< und >Diachronie< einander wechselseitig voraussetzen, eine Wandelsanalyse also nicht ohne eine Analyse der jeweiligen Konstanten denkbar ist, bildet eine wandlungslogische Grundeinsicht, die sowohl für literarischen Wandel als Wandel von Diskursstrukturen, als auch für Prozesse des sozialen Wandels gilt. Wenn >Synchronie< und >Diachronie< also keine kontradiktorischen Gegensätze darstellen, sondern ein Wandlungsmodell zugleich ein Synchronmodell relativ stabiler Systemzustände erfordert, d.h. >Wandel< nicht absolut, sondern nur in Beziehung auf System zustände beschrieben werden kann, so bedeutet dies allerdings gerade nicht, daß beide Analyseperspektiven empirisch nicht mehr zu trennen wären. Es bedeutet aber auch ebensowenig, daß eine diachronische Modellbildung auf der Stufe des »Querschnittvergleichs« (Peter Waldmann: Zeit und Wandel als Grundbestandteile sozialer Systeme, 1975, S. 135-138) stehen bleiben muß, somit lediglich fähig wäre, synchrone Schnitte bzw. >Zustände< diachron zu vergleichen. Wie Waldmann hervorhebt, liegen die Schwächen eines solchen Vorgehens nämlich darin, daß es »zwar den sozialen Wandel (mißt)« (ebd., S. 136), also quasi im >Abstandsmeßverfahren< etwas über das Ausmaß von Strukturdifferenzen, »aber paradoxerweise über den Wandel selbst nichts aus(sagt). Das Geschehen zwischen den Querschnitten, der Wandlungsprozeß, wird weder analysiert, noch erklärt.« (ebd.). Weiter führt Waldmann dazu aus (ebd.): Das Fehlen einer integrierenden Bezugsgröße [ . . . ] zwischen den Querschnitten verleitet dazu, die Verbindungsklammer in den Prozeßverlauf selbst hineinzuprojizieren, ihm ein kausales, ein finales oder ein dialektisches Bewegungsprinzip zu unterstellen. Auf diese Weise wird das Hauptproblem einer Untersuchung des [ . . . ] Wandels: die systematische Erfassung des Wandelsprozesses, die Erforschung seiner Funktion und seiner Strukturen übergangen.
Soll Wandel also nicht nur als Bruch zwischen zwei Systemen bzw. Systemzuständen - als Leerstelle zwischen mindestens zwei synchronen Schnitten-, sondern selbst als >systemhaftTeile< und >GanzesSubsystemeTeilstrukturen< miteinander in Beziehung stehen und auf der nächsten, hierarchisch höheren Systemebene bzw. auf der je abstrakteren Ebene der Makrostrukturen des Gesamtsystems dessen Konstanz oder dessen Wandel hervorbringen. Bleibt z.B. ein soziales System in seiner Makrostruktur über einen längeren Zeitraum hinweg konstant, so bedeutet das meist gerade nicht, daß es auf der Ebene seiner internen Mikrostruktur (Subsysteme/Teilstrukturen) in völliger Statik verharrt: ein derartig starres System wäre wenig anpassungsfähig und setzte sich der Gefahr eines verzögerten, aber dafür radikalen, kollapsartigen >Wandels< aus, so daß nicht mehr vom Wandel ein und desselben Systems die Rede sein könnte, sondern von seinem >Ende< und der Ausdifferenzierung eines neuen Systems. Um also die jeweilige Systemidentität insgesamt zu erhalten, wird meist eine Vielzahl interner mikrostruktureller Wandlungsprozesse - etwa auf der Ebene von Handlungssystemen - nötig sein (>UltrastabilitätMakroStabilität durch MikrovariabilitätWandel als Problemlösung^. 12 Umgekehrt kann sich ein hinreichend komplexes System auch makrostrukturell wandeln, ohne daß dieser Wandel sämtliche internen Subsysteme/Teilstrukturen erfaßt (>NischenbildungAbkoppelungUmfunktionalisierung< von Subsystemen/Teilstrukturen). Als Ergebnis dieses kleinen, hier vorerst abzubrechenden Ausfluges in die (soziologische) Systemtheorie ist für soziale und semiotische Systeme festzuhal-
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Von literaturwissenschaftlicher Seite vgl. Titzmann, 1983, S. 106 zum »epochenspezifischen!-typischen Abstraktionsgrad [ . . . ] , ab dem innerhalb dieser Epoche überhaupt erst eine epochale Invarianz sichtbar wird«. (Hervorh. i.O.) und ebd., S. 107, 127. Die Diskussion, die innerhalb der funktionalistischen und systemtheoretischen Sozialwissenschaft zu den Problemen >SystemidentitätSystemerhaltungAus-/Entdifferenzierung von Systemen< >Problemlösung< usf. seit Malinowski und Parsons geführt wird, kann hier auch nicht in Umrissen skizziert werden; ob die interdisziplinäre Kompatibilität von soziologischer Systemtheorie und Literaturwissenschaft durch die Übernahme der auch außerhalb von Biologie und Soziologie zunehmend beliebten Modelle >autopoietischerselbstreferentieller< Systeme (vgl. nur Luhmann 1984, 1987 oder 1986a zur »Selbstreproduktion der Kunst«) wesentlich gefördert wird, scheint nach wie vor zweifelhaft: bis jetzt beschränkt sie sich auf das allgemein epistemologische Vorfeld (vgl. die Beiträge in Schmidt 1987). Die fachsoziologischen Versuche, die obigen Probleme innerhalb solcher Modellvorstellungen zu reformulieren, stehen erst am Anfang (z.B. kritisch zu Luhmann in Haferkamp/Schmid 1987 und bei Bühl 1987a; vgl. auch Bühl 1986, der die Probleme und Möglichkeiten der neueren Systemtheorie perspektivenreich und differenziert diskutiert.)
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ten, daß in beiden oben genannten Fällen jeweils die Beziehung und der Anteil der sich wandelnden und der invariant bleibenden Subsysteme/Teilstrukturen nicht nur auf je unterschiedlich abstrakten, in hierarchischen Relationen stehenden Ebenen zu untersuchen ist, sondern auch und zugleich jeweils für Strukturen derselben Abstraktionsebene anzugeben ist: hierarchisch->vertikale< und heterarchisch->horizontale< Systemanalyse müssen einander somit ergänzen und prinzipiell ineinander überführbar sein.13 Des weiteren ist zu konstatieren, daß sich aufgrund des für literarischen Wandel und sozialen Wandel gleichermaßen anzunehmenden >Mehrebenencharakters< von Wandel - Strukturkonstanz oder -wandel auf hierarchisch gleicher oder hierarchisch höherer Systemebene - die je verschiedenen Abstraktionsniveaus als historische (gegenstandsspezifische) Variablen interpretieren lassen: der jeweilige Unterschied an relativer Abstraktheit, der zwischen je >konkretemaktuellem< Wandel von Teil- oder Mikrostrukturen und den jeweils relativ konstanten Super- oder Makrostrukturen festzustellen ist, wird vom >UmfangSynchronie-Diachronie-AnalyseMischungsverhältnis< von Stabilität/Konstanz/Synchronie und Dynamik/Wandel/Diachronie wird je nach gewählter Systemgrenze anders ausfallen. Die Wahl dieser Systemgrenze bzw. des Systemumfangs ist jedoch nicht beliebig, sondern hat methodisch kontrolliert zu erfolgen. Dabei wird eine Wandelsanalyse zunächst einmal genau soweit zu abstrahieren bzw. Systemumwelt oder -kontext einzubeziehen haben, bis eine Abstraktheitsstufe bzw. eine Systemebene erreicht ist, auf welcher relative (makrostrukturelle) Invarianz bzw. Stabilität festzustellen ist. Die Höhe dieses Abstraktionsniveaus entspricht dem Ausmaß an Verschiedenheit der Systemstrukturen bzw. -zustände, die zu verschiedenen Zeitpunkten innerhalb eines wiederum unterschiedlich lang anzusetzenden Zeitraumes als Indizes für den Wandel ein und desselben übergeordneten Systems interpretiert werden können, dessen >MakroKultursystem< oder gar Sozialsystem >Gesellschaft< zum jeweiligen Ensemble der heterarchischen Beziehungen zu präzisieren, welche >horizontal< zwischen dem Literatursystem und anderen kulturellen oder gesellschaftlichen Subsystemen bestehen und dessen soziale >Umwelt< überhaupt erst strukturieren. Genau darin ist auch eines der ungelösten Methodenprobleme bei Luhmann zu erblicken, der >horizontale< Beziehungen zwischen verschiedenen Systemen als >vertikale< >System-Umwelt-Differenzen< begreift: strukturierte Systemkomplexität reduziert unstrukturierte (!) Umweltkomplexität (s. Luhmann 1984, S. 242-285).
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ahistorischer (etwa anthropologischer) Konstanten beschreiben läßt. 14 Die Invarianz und Dauer derartiger Strukturen umfaßt dann nämlich nicht mehr nur genau die (zumindest zwei) Phasen, zwischen denen sich der jeweils zu beschreibende Wandel vollzieht; es handelt sich dabei somit nicht mehr um je wandelsspezifische Konstanten, welche nur relativ auf einen bestimmten historischen Wandel anzunehmen sind. Deutlich wird in diesem Zusammenhang außerdem, daß Struktur geschickte und sogenannte >Ereignisgeschichte< auch insofern einen obsoleten Gegensatz bilden, als sie einander in keiner Weise ausschließen, sondern lediglich zwei verschiedene, aber noch miteinander vermittelbare Abstraktheits- bzw. Spezifitätsstufen auf einer Skala bezeichnen, welche sich zwischen der jeweils relativ höchsten Abstraktheit bzw. Spezifität historischer Konstanten bzw. historischen Wandels erstreckt. Für die jeweils hierarchisch gleichrangigen Strukturen/Subsysteme folgt aus dem oben angedeuteten engen Nexus zwischen >vertikalem< und >horizontalem< >Mehrebenencharakter< von Wandel, daß dieser von vornherein nur als Wandel von Systembeziehungen zu beschreiben ist, d.h. als systemhafte Relation zwischen mindestens zwei diachron entfernten Systemen bzw. Systemzuständen und/oder als Wandel von synchronen (Sub-)Systembeziehungen (Titzmann 1980, S. 266: »Wandel ist Wandel zwischen Systemen, und der Wandel läßt sich als System beschreiben.«). Spezifiziert für soziologische Wandelstheorien resultiert aus diesem allgemein wandlungslogischen Prinzip, daß sozialer Wandel als umweltrelativer und interaktiver Vorgang aufzufassen ist, welcher weder als rein kausal erklärbar (bezüglich des sich wandelnden Systems also rein exogen), noch als rein immanent und autonom (teleologische bezüglich des sich wandelnden Systems als rein endogen) interpretiert werden kann, sondern sich zwischen den beiden wandlungslogischen Extremen abspielen wird. Insbesondere eine Systemtheorie, die von homogenen, konfliktfreien und geschlossenen Systemen Abschied genommen hat, muß auf monokausale Erklärungen von Wandel ebenso verzichten, wie auf bruchlos evolutionäre Entwicklungsmodelle: »Alle modernen Theorien des sozialen Wandels [...] sind - nachdem die unilinearen Entwicklungstheorien gescheitert sind - in der einen oder anderen Form Interaktionstheorien.« (Bühl 1982, S. 454; als Überblick und Einführung vgl. dazu v. a. Wiswede/Kutsch 1978 und Schmid 1982). Was am Ende dieses wandlungslogischen Exkurses als Aufgabe einer (zukünftigen) diachronischen Modellbildung für Prozesse des sozialen Wandels resümiert werden kann, nämlich die verschiedenen Phasen des (sozialen) Wandels auf ihre
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Wie etwa tendenziell bei Levi-Strauss (zur strukturalen Anthropologie und deren Begriff des >menschlichen Geistes< vgl. Fleischmann 1970); ähnliches gilt auch für Bornscheuer 1985, der zwar einen »anthropologiegeschichtlichen Interpretationshorizont« in die Literaturgeschichte einführen will, diesen jedoch ausdrücklich nicht mehr an eine >Sozialgeschichte der Literatur< rückbindet (ebd., S. 434f.) und somit den prinzipiellen Unterschied zwischen einer Geschichte anthropologischen Denkens und der Anthropologie selbst verwischt.
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je spezifische >Verteilung< von >Stabilität< und >DynamikMischungsverhältnis< strukturell selektiver >Konstanz< und strukturell selektiven >Wandels< hin zu untersuchen, gilt auch für die semiotische Systemreferenz: Die >Wandlungsstruktur< etwa eines literarischen Diskurses kann mit denselben logischen Kategorien beschrieben werden. So ist das spezifische Abstraktionsniveau, auf welchem jeweils die konstanten semantischen (Makro- oder >Tiefeninterdiskursiven< bzw. >intertextuellen< Beziehungen) gekennzeichnet sein wird. Eine Mehrebenenanalyse des semantischen Strukturwandels hätte somit 1. derartige strukturelle Differenzen und 2. deren diachrone Verteilung zu ermitteln, also zu rekonstruieren, in welchen zeitlichen Abständen und in welcher Häufigkeit die je differierenden Textbzw. Textcorpusstrukturen auftreten, und schließlich 3. das je spezifische Abstraktionsniveau anzugeben, auf welchem diese synchronen wie diachronen Strukturdifferenzen als >System< beschrieben werden können; dessen relative, abstrakte >Identität< bildet gerade die Voraussetzung, daß von einem >Wandel < seiner Strukturen oder Funktionen überhaupt sinnvoll die Rede sein kann. Struktureller Wandel ist also nur relativ auf strukturelle Invarianten zu beschreiben, deren jeweilige Abstraktionshöhe eine corpus- bzw. diskursspezifische, historische Variable darstellt (vgl. dazu in der Literaturwissenschaft schon Hempfer 1973, S. 139-153 sowie Titzmann 1983 und Link 1985). In der Regel werden sich Wandelsverläufe dabei auf einem relativ mittleren Abstraktionsniveau kennzeichnen lassen, auf welchem die relative Konstanz von Tiefenstrukturen< in Bezug auf den relativen Wandel von Oberflächenstrukturen und vice versa einen mehr oder weniger >evolutionärenKonstanz< und >Wandel< integrieren können: einerseits den Zusammenfall von makro- und mikrostrukturellem Wandel, (was sich wiederum als fundamentaler Wandel kontinuierlich, also während eines längeren Zeitraumes, oder diskontinuierlich, d.h. als struktureller Bruch in sehr kurzer Zeit vollziehen kann) und andererseits eine längerfristige makro- und mikrostrukturelle Invarianz.15 Auch diese beiden Grenzfälle implizieren jedoch einerseits noch mini15
Vgl. die Konzeptionen literarischer Evolution« im >Russischen Formalismus« (Tynjanov 1927) sowie ferner z.B. VodiCka 1975, Slawinski 1975, S. 151-172 oder Eibl 1976 und für die Soziologie etwa Luhmann 1978 und Luhmann 1985.
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male Korrelationen zu anderen Systemkontexten, innerhalb welcher ein systemidentitätsgefährdender Wandel strukturell verarbeitet und historisch oder zumindest anthropologisch >aufgefangen< werden kann, und andererseits - im Falle der Mehrebenenkonstanz / des >Nicht-Wandels< - noch basale Systemprozesse, die eine solche extreme Stabilität erhalten. 16 Auch diese Problematik ist hier vorläufig abzubrechen. Deutlich geworden sein sollte jedoch wenigstens, daß sowohl eine Theorie des sozialen als auch des semiotischen Systemwandels von einer gemeinsamen, wandlungslogischen Basis ausgehen kann; darauf aufbauend, sollte es in Zukunft möglich sein, eine Theorie des (System-)Wandels im Rahmen einer allgemeinen Theorie der (System-) Dynamik / der (System-) Prozesse zu formulieren, welche wiederum auf einem noch allgemeineren theoretischen Modell der (System-)Zeit!Diachronie zu beruhen hätte. 17 Solange die Systemtheorie keine klaren Unterscheidungskriterien für >Wandel< als Spezialfall von >Dynamik< und für >Dynamik/Prozessualität< als je systemspezifischer >Form< von >Zeit< entwickelt hat, bleiben auch die entsprechenden soziologischen oder gar literaturwissenschaftlichen Wandlungstheorien unscharf. 18 Festzuhalten bleibt vorerst, daß >sozialer Wandel< und literarischer Wandel< gleichermaßen komplexe theoretische Konstrukte bilden, und ein naiv-ontologisches, einseitiges Fundierungsverhältnis - kausal oder als >Basis-Überbau-Widerspiegelung< - von sozialem und literarischem Wandel sowie eine vorschnelle Periodisierung des literarischen Wandels mit Hilfe politik- oder >sozialgeschichtlicher< Zäsuren infolgedessen in einer systematischen SgL von vornherein keinen Platz finden werden.
III Im vorangehenden Abschnitt habe ich versucht, zumindest in groben Zügen anzudeuten, welche wandlungslogischen Implikationen und methodischen Konsequenzen sich aus einer Verknüpfung der beiden kategorialen >Leitdifferenzen< >Synchronie/Diachronie< und >Mikro-/Makrostruktur< ergeben könnten. Die Überle-
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Dies betont insbesondere Luhmann 1984, S. 7 0 - 8 3 ; für den literarischen Diskurs siehe Link, Was heißt »Es hat sich nichts geändert«? Ein Reproduktionsmodell literarischer Evolution mit Blick auf Geibel, 1985. Jeder Systemprozeß verläuft zwar in der Zeit, nicht jeder Systemprozeß aber führt zu strukturellem Wandel, ist also ein Wandlungsprozeß. Da diese Unterscheidung und die damit verbundene Problematik im folgenden vernachlässigt werden müssen, werden >Diachronie< und >Wandel< weiterhin gleichbedeutend verwendet. Der Verlockung zu philosophischen Spekulationen scheint gerade bei dem Thema >Zeit< Luhmann 1984, S. 7 0 - 8 3 , S. 377-487 streckenweise nicht widerstehen zu können; >härter< systemtheoretisch, aber immer noch sehr allgemein argumentiert dagegen Bühl 1982, S. 285-313 zur »Strukturierung der sozialen Zeit«. Die von Rusch 1987 für die Literaturwissenschaft konzipierte >Diachronologie< unterscheidet dagegen nicht nur nicht genau zwischen >DiachronieDynamik< und >WandelWandel< vorschnell durch das Problem > Systemdynamik Niemandsland< zwischen wissenssoziologischen und diskursgeschichtlichen Fragestellungen präziser zu strukturieren sein. Die dabei allein durch die bloße Kombinatorik der drei oben eingeführten (Abschnitt I, S. 372) >Leitdifferenzen< (nun einschließlich >Zeichensystem/Sozialsystemkontrolliert< zu reduzieren und wenigstens potentiell für Anschlußüberlegungen zu erhalten, könnte nachstehende schematische Darstellung hilfreich sein; daß sie soziologische und logische Relationen und synchrone wie diachrone Dimension jeweils als Vektoren >enthält< und soziale wie semiotische Systeme - verstanden als Mengen ihrer Elemente und Strukturen - verräumlicht darstellt, tut dem keinen Abbruch. Ausgehend von einem gegebenen Text bzw. Textcorpus zum Zeitpunkt tn bzw. während eines begrenzten Zeitraumes t n - t n + 1 als >relativer< Synchronic ergeben sich prinzipiell zwei theoretisch klar zu unterscheidende, systemische Kontexte, auf welche bestimmte Text- oder Textcorpusstrukturen zu beziehen sind und in welchen diese bestimmte Funktionen erfüllen können, nämlich der semiotische Kontext anderer (synchron koexistierender oder diachron >entfernterPraxen< produktiven, rezeptiven, verarbeitenden oder distribuierenden Anschlußhandelns umfaßt (in der Skizze symbolisiert durch die beiden kurzen und fett gezogenen, von >Text/ Textcorpus Zj< ausgehenden >Vektorenliterarischen Handelnsintern< differenziert und strukturiert werden, bevor - sei es theoretisch oder historisch->empirisch< - deren (selektive) Beziehungen überhaupt systematisch
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Ganz im Sinne von Voßkamp 1977, der den Gattungen als > literarisch-sozialen Institution e n eine »doppelte Funktion [...] einerseits im symbolischen und andererseits im sozialen System« (ebd. S. 32; Hervorh. v. C.-M. O.) zuschreibt; ähnlich auch Voßkamp 1978 zur >Romansoziologie< (S. 28) oder Köhler 1977.
Literarischer Wandel und sozialer Wandel
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ε Bezugswege< zwischen diesen Systemtypen nur im günstigsten (Ausnahme-)Fall vollständig rekonstruiert werden kann bzw. muß, steht außer Zweifel; diesen Komplex jedoch nicht einmal modellhaft und als theoretischen Maximalrahmen zu explizieren, hieße m.E. die falschen Schlußfolgerungen aus forschungspraktischen Schwierigkeiten zu ziehen. Festzuhalten ist prinzipiell, daß in der schematischen Darstellung die Diachronie der semiotischen Systemebene (des Literatursystems, oberer horizontaler Bezugsweg) eine diskursgeschichtliche Komponente und die Beziehungen zwischen semiotischer und soziologischer Systemebene im synchronen Schnitt (vertikaler Bezugsweg) die wissens- bzw. diskurssoziologische Komponente einer systematischen SgL repräsentiert. Deren wesentliche praktische Aufgabe und zugleich ihr zentrales theoretisches Problem besteht somit darin, diese beiden Komponenten fruchtbar und konsistent miteinander zu verknüpfen. Im einzelnen sind also die folgenden >Bezugswege< zu unterscheiden (>abc< usf. beziehen sich auf die Figur, S. 381), wobei ab jetzt aus Gründen der Überschaubarkeit meist nicht mehr zwischen >Mikro-< und > Makrostrukturen differenziert wird: a: Synchrone Relationen zwischen Text-/Textcorpusstrukturen: >intertextuelleinterdiskursive< Beziehungen; literaturbezogene Funktionalisierung kulturellen WissensModelle< des Wandels semantischer Strukturen (>TransformationWandel als Problemlösung^ >Evolution der literarischen Reihe< usf.). 22
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Der Entwurf einer noch primär synchronischen Modellbildung für eine SgL bei Meyer/ Ort 1984 und v. a. bei Meyer/Ort 1988 stellt sich dieses Problem bereits explizit, ohne es allerdings definitiv lösen zu können. Vgl. u.a. die Beiträge von Klaus W. Hempfer und Friederike Meyer im selben Band oder Jürgen Links Definition von >Interdiskurs< als »Gesamtheit diskursiver Elemente [...], die nicht diskursspezifisch, sondern mehreren Diskursen gemeinsam sind«. (Link 1984a, S. 149) und »strukturierende (generierende) Teilmengen von Gesamtdiskursen« bilden (ebd. S. 150); dagegen versteht Foucault 1981, S. 225/226f.) unter »interdiskursiver Konfiguration« (ebd. S. 226) - wie Link 1984a, S. 150 zurecht betont - eher die »Gesamtheit solcher interdiskursiv verbundener Diskurse« (ebd., Hervorh. i. O.). Zur Relation von >Text< und >kulturellem Wissen< vgl. Titzmann 1977, S. 263-330; wie sich strukturalsemiotische Textanalyse und >Diskursgeschichte< zueinander verhalten, bedürfte generell einer Präzisierung: vgl. dazu etwa Link 1985a oder Ort/Titzmann (i. Vorb.). Die Evolution isolierter literarischer Reihen bei Tynjanov ist systematisch in die Kontexte ihrer synchronen wie diachronen Beziehungen zu anderen kulturellen, mikro- und makrosozialen >Reihen< einzubetten, bedarf also, wie Günther 1983 unterstreicht, einer systemtheoretischen Reformulierung. Hierfür könnte sich die im Kern zweckrationale Logik von >Problem< und (problemadäquater) >Lösung< als fruchtbar erweisen, wenn deren Grenzen als funktionalistische, aus Ethnologie und Soziologie übernommene Me-
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Eine weitere Diachroniedimension bildet der Wandel von Diskursbeziehungen, also die diachrone Korrelation zweier synchroner Schnitte (Kombination von >a< und >bAustauschprozesse< zwischen bzw. innerhalb Sozial(sub)systemen, Interaktionsprozesse zwischen bzw. in Handlungssystemen, funktionale Differenzierung von sozialen (Sub-)Systemen usf. (funktionalistische Systemtheorie, Theorie sozialer Interaktionsmedien). 23 Diachrone Relationen zwischen sozialen Systemen/Systemzuständen: soziale Prozesse als Wandlungsprozesse; sozialer Wandel als Gegenstand individualistischem (mikrostruktureller) und (makro-)>struktureller Theorienc > Lerntheories >NutzentheorieMotivationstheorieTheorie symbolischer Interaktion< einerseits und >Theorie strukturellen Gleichgewichtsc, struktureller Differenzierung< und struktureller Selektion< andererseits (nach Michael Schmid: Theorie sozialen Wandels, 1982). Eine wichtige Diachroniedimension stellt der Wandel von (Sub-)Systembeziehungen dar (>Interpenetrations-< oder >Vermittlungssysteme< nach Richard Münch: Die Struktur der Moderne, 1984, S. 14). Synchrone Relationen zwischen >DiskursenGattungen< als >InstitutionenSemantikenCodierung< sozio-kulturellen >Wissensdiskursive Praxis< usf.; dieser >Bezugsweg< bildet die im engeren Sinn >literatursoziologische< und Wissens- bzw. diskurssoziologisch zu re-interpretierende Komponente einer SgL. 24 Diachchrone Relationen zwischen >DiskursenDiskursstrukturen< und sozialen Systemen/Strukturen: Dieser >Bezugsweg< verbindet mit >e< und >b< die >semiotisch-diachronische< mit der >soziologisch-synchronischen< Systemreferenz von >LiteraturDiskursge-
taphorik bewußt bleiben und literarischer Wandel als >Problemlösung< bzw. als Wandel von (logischen) >Problemen< und >Lösungen< auf ein Konzept semantischen Strukturwandels als >Strukturtransformation< bezogen bleibt (zur Diskussion siehe Karl Eibls Beitrag im selben Band und Eibl 1976, Titzmann 1980, S. 265-266, Titzmann 1983 oder die Wandlungslogik im Beitrag von Marianne Wünsch, im selben Band). Insbesondere die Theorie sozialer >Interaktions-< oder >Handlungsmedien< (Parsons: vgl. Jensen 1980) bzw. symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien< (im Sinne von Luhmann 1975) bietet Ansatzpunkte für die Analyse des Nexus von Symbolsystemen und Sozialsystemen, etwa von literaturbezogenen Interaktionsprozessen (dazu Meyer/Ort 1984, 1988 und Georg Jägers Beitrag im selben Band; auf ähnlicher theoretischer Basis Schwarz 1982 zur Mode und Rotter 1985 zur Musik). Foucault 1981, S. 231-235 postuliert zwar in Abgrenzung von Kausalanalyse und >Hermeneutik< diesen Bezugsweg zwischen >diskursiven Formationen< und »nichtdiskursiven Systemen« (ebd. S. 231) als wesentlich >archäologischenWissenssoziologie< den theoretischen und methodischen >Problemkern< einer systematischen SgL. Eine systemtheoretische, weder die Dimension >e< noch die Dimension >b< ausblendende Rekonstruktion der damit implizierten, komplexen >Zurechnung< von >LiteraturGesellschaftDimension< >eQuerschnittvergleich< s. oben, Abschnitt II, S. 374), sondern hätte darüber hinaus die >Leerstellen< zwischen den >Zurechnungsquerschnitten< aufzufüllen (etwa durch die Untersuchung von >SteuerungsRückkopplungs(Ent-)Funktionalisierungsprozessen< oder Prozessen der Umstrukturierung/-funktionalisierung zwischen semiotischen (semantisch-logischen) Systemen oder Systemstrukturen und mikro- oder makrosozialen Systemen/ Systemstrukturen). Dies würde sowohl eine diachronische und systemtheoretische Wissens- bzw. Kultursoziologie, als auch die soziologisch >kontrollierende< Einbettung oder Rückbindung der immanenten Diskursgeschichte voraussetzen. Bislang sind die soziologischen >Schnittstellen< der Diskursgeschichte bzw. die komplementären, diskursgeschichtlichen (semantisch-logischen) >Anschlußstellen< der Wissenssoziologie jedoch noch kaum erkannt, geschweige denn präzisiert worden. 25 Es würde zweifellos und endgültig zu weit führen, nun im einzelnen die Unzahl von z.T. noch gänzlich ungelösten theoretischen Problemen diskutieren zu wollen, die allein schon diese sechs >Bezugswege< aufwerfen. Dies muß anderer Gelegenheit vorbehalten bleiben (vgl. etwa Ort/Titzmann, i. Vorb.). Stattdessen sollen abschließend und dem Thema des Kolloquiums folgend, v. a. zu den diachronischen >Zurechnungsschneisen< einige allgemeine Bemerkungen folgen (obwohl zumeist noch nicht einmal die synchronischen Systembeziehungen hinreichend geklärt scheinen). Dabei ist zunächst mit >gi< und >g2< auf zwei weitere, aus >a< bis >f< abstrahierte Dimensionen der vorliegenden Modellbildung hinzuweisen, die sich nicht nur >formal(istisch)< innerhalb der Matrix ergeben, sondern durchaus auch heuristischen Wert beanspruchen können:
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Eine (zukünftige) wissens- und kultursoziologische Systemtheorie wird nicht bei einer Kybernetik der negativen Rückkopplung stehen bleiben und Zeichenprozesse nicht nur als soziale Steuerung/Kontrolle/Stabilisierung durch >Signale< enthalten dürfen, sondern hätte die komplexen sozialen Funktionen von bzw. die (positiven) Rückkopplungsprozesse zwischen sozialen und semiotischen Strukturen (Symbole, kulturelle Codes und Semantiken, Weltbildannahmen, logische Basisprämissen einer bestimmten Kultur usf.) herauszuarbeiten. Wie komplex diese, durch den Bezugs weg >f< mit gemeinte Aufgabe sein wird, verdeutlicht einführend Bühl 1986, der >Kultur< als weitgehend selbstregulatives, »lose gekoppeltes, dynamisches und zum Teil fluktuierendes Mehrebenensystem« (ebd. S. 121) versteht und Analysedimensionen der »Dynamik des Kulturwandels« (ebd. S. 132-140) skizziert.
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gi. Diese >Dimension< des Modells >durchmißt< zweimal die Spanne vom mikrostrukturellen zum makrostrukturellen Systemkontext, und zwar einml >in Richtung< auf pragmatisch >entkoppelteWerke< im emphatischen Sinn) und zum anderen >in Richtung< auf soziale Systemstrukturen, die zwar aus Aktorhandlungen und -Verhaltensweisen hervorgehen und dieses auch mehr oder weniger >steuern< können, nicht aber auf die mikrostrukturelle Ebene zu reduzieren sind (beide Ebenen sind also >emergent kollektive Handlungsfolgengi< können nun derartige Prozesse zu verschiedenen Zeitpunkten verglichen werden, d.h. unter relativer Vernachlässigung der je internen Strukturwandelsverläufe eines Diskurses (>bdFunktionsgeschichteeSynchronie< und >Diachronie< vgl. oben Abschnitt II, S. 375-377). Diachronischer Vergleich von Varianten je synchronischer Systembeziehungen und Abstraktion der zugrunde liegenden, relativ konstanten Beziehungstypik dürfen jedoch nicht isoliert und verabsolutiert werden, sondern sind um ihre jeweils komplementären, >horizontalen< Gegenstücke zu ergänzen. Gemeint ist die durch >g2< bezeichnete >Achse< des Modells: g2: In diesem Fall werden nun die (>vertikalene immanente < Diachronie bzw. die internen Strukturwandelsverläufe der jeweiligen (semiotischen, sozialen) Systemebene für sich' - als Einzel- oder Teilgeschichten (>b< und >dImmanenz< gewonnenen Wandelsverläufe oder Wandlungslogi26
So v. a. von Berger/Luckmann 1970, Bourdieu 1974 und 1979 (zum Verhältnis von Struktur - Habitus - Praxis< jeweils S. 125-158 bzw. S. 139-202), Schmid 1982 (aus wandlungstheoretischer Perspektive) und zuletzt von Vester 1986, der ein integratives, semiotisches wie systemtheoretisches Modell der >Sinntransformation< auf mehreren Mikro- wie Makroebenen skizziert (auf Goffman, Bourdieu und Eisenstadt basierend).
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ken können ihrerseits verglichen und zu relativ konstanten Wandlungslogiken abstrahiert werden, die für bestimmte Diskurse und bestimmte Sozialsysteme während eines längeren Zeitraumes gelten; deren jeweilige Strukturwandelsprozesse können beispielsweise >homologkoevolutivTransformation< von >Beziehungstypik< und Differenz/Äquivalenz von >Wandlungslogik-verlaufsform< können schließlich ihrerseits z.B. auf die jeweilige Zeitdauer ihrer Konstanz bzw. Äquivalenz hin verglichen werden. Entscheidend ist dabei generell, daß >gi< und >g2< in jedem Fall zu kombinieren sind und einander wechselseitig >kontrollieren< oder >begrenzen< sollten, daß also auf keine der jeweils zunächst ausgeblendeten Dimensionen auf Dauer verzichtet werden darf. >gi< und >g2< bezeichnen somit Extremfälle von >Synchronie< und >Diachronie< - Vergleich von Synchronschnitten >e< (ohne >b< und >db< und >deBezugsweg< >f< sozusagen >umspielt< und >umrahmt< bzw. ihn in seine Teildimensionen (>EinzelvektorenBeziehungs-Funktionsgeschichte< einer >immanenten< Strukturgeschichte nur adhoc und sporadisch appliziert wird oder letztere vorschnell abgebrochen und in erstere überführt wird. Eine systematische SgL hätte der Verlokkung zu derartigen Kurzschlüssen ebenso zu widerstehen, wie sie logische von soziologischen Beziehungen strikt zu unterscheiden hätte. Etwa zwischen Wandelsverläufen >HomologieAnalogieZurechnung< abstrakter, diachronischer Verlaufsstrukturen auf einem niederigeren Abstraktionsniveau auch die soziologische >Zurechnung< konkreter semiotischer (Teil-)Systeme/Diskurselemente auf konkrete soziale (Sub-)systeme/>Institutionen< usf. tritt.27 V. a. für die Konkretisation der >Bezugswege< >efgx< und >g2ZeichensystemSozialsystemstrukturalistisch-genetische Methode in der LiteraturgeschichteHomologien< ausgehende Literatursoziologie anschließt (Goldmann 1970, S. 15-40 und S. 233-251).
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Wandel
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Basisvokabular (z.B. >SystemStrukturFunktionZurechnung verschwindet theoriebewußten< literaturwissenschaftlichen bzw. -geschichtlichen Ansätzen dazu, daß sie sich der eigentlichen theoretischen Probleme stillschweigend und von vornherein entledigen jedoch, wie ich meine, auf theoretisch wie forschungspraktisch sehr unergiebige Weise. Insbesondere Luhmanns Theorieaufbau, der grundbegrifflich (mit >DifferenzNegationSelektionSinnProzeß< usf.) sowohl hinter Systemtheorie (als Theorie dynamischer, etwa sozialer Systeme) als auch Strukturalismus (in seiner sirukluraX-semiotischen Komponente) zurückgeht, scheint Literaturwissenschaftler zu verleiten, im voreiligen Rückgriff auf sozialwissenschaftliche Modelle das je eigene, iniradisziplinäre Theoriedefizit zu überspielen. 28 Die spezifisch Wissens- oder diskurssoziologische Komponente etwa einer SgL kommt jedoch genau dann zwangsläufig zu kurz, wenn >Texte< als >Handeln< und >HandelnPraxis< als >SpracheZeichenPraxis< als >Diskurs< und >Diskurse< als >PraktikenKulturCode< oder >Denksystem Systemtheorie und Literaturgeschichte^, Mohr 1985 (zu einer > Funktionsgeschichte der Literatur^ oder Disselbeck 1987 genannt, der das >Problem der Kunstautonomie< innerhalb des >systemtheoretischen Paradigmas< in letztlich trivialsoziologischer Weise reformuliert (ebd. S. 130-175). Wie z.B. bei Frese 1967, Ricceur 1972, Zima 1980 (zu >Diskurs< und >Intertextualität< v.a. im Abschnitt Gesellschaft als Text, ebd. S. 6 6 - 8 7 ) , bei Röttgers 1982 (zu >Text< und >Diskurs< S. 2 4 - 8 8 ) und Frese 1985, der für die Bildung von >Soziotexten< plädiert, welche sich »durch wechselseitige Metaphorisierung der Strukturen von Texten, Personen und Gruppen konstituieren«, (ebd. S. 254, zum >Soziotext< S. 125-243). Link 1984 kritisiert zu Recht die »theoretische Leere« (S. 63), die Foucaults Diskursbegriff insofern überdeckt, als er zwischen einer >internenRegelsystemFormationsregelnexternenPraktikendiskursive Praxis< schwankt. Die »funktionale Korrelation von Diskurs und sozialen Trägern« (ebd.) bleibt damit genau unklar (vgl. auch ebd. S. 64 zu den Schwächen eines »zwischen Soziologie und Linguistik >gleitenden< >Diskurs-WissensInstitutionenTextsozialer Wandel< (>dliterarischen Wandel< (>bwann< eine (relativ) immanente Strukturwandelsbeschreibung literarischer Diskurse zugunsten >externer< Beziehungen zu sozialen Systemen (Trägerinstitutionen, Handlungssysteme) abzubrechen oder zu unterbrechen ist, wie differenziert und auf welchem (historisch variablen) Spezifitäts- bzw. Abstraktheitsniveau also welche internen (Teil-)Strukturen eines bestimmten Diskurses analysiert werden müssen, um sie in nicht-tautologischer oder soziologisch nicht-trivaler Weise auf bestimmte soziale (Sub-)Systeme bzw. (Teil-)Strukturen selektiv beziehen zu können. Die Modellbildung wird somit insofern struktural(istisch) sein müssen, als in ihr Systemstrukturen wenigstens so komplex rekonstruiert werden können, daß ein sinnvoller Übergang zu funktional(istisch)en Fragestellungen möglich ist, d.h. bestimmte Teilstrukturen identifiziert werden können, die mit bestimmten Teilstrukturen anderer Systeme in Relation stehen und jeweils bestimmte, spezifische Funktionen übernehmen. Vorgängige hypothetische Funktionszuweisungen (in Richtung >e< etwa) lassen sich umgekehrt nur im erweiterten (semiotischen, sozialen) Kontext >strukturaler< Analyse überprüfen und als historische je variable) Selektionen interpretieren. Michel Foucault sagt über seine >Archäologie< (Archäologie des Wissens, 1981, S. 239-240): Die Archäologie nimmt [ . . . ] weder ein rein logisches Schema von Gleichzeitigkeiten noch eine lineare Ereignisabfolge zum Modell; sondern sie versucht die Überschneidung der Beziehungen, die notwendig sukzessiv sind, mit anderen, die es nicht sind, zu zeigen. Es ist [ . . . ] nicht anzunehmen, daß ein Positivitätssystem eine synchronische Figur ist, die man nur wahrnehmen kann, wenn man die diachronische Gesamtheit des Prozesses in Klammern setzt. (Hervorh. von C.-M. O.).
Wenn es gelänge, dies systemtheoretisch zu reformulieren und für historische Einzeldisziplinen zu konkretisieren, also jeweils mehrere Teilgeschichten synchron wie diachron, auf mehreren Systemebenen und Abstraktionsniveaus sowie für mehrere Systemreferenzen vergleichend zu korrelieren, wären auch einer systematischen Sozialgeschichte der Literatur neue und komplexe Bezugswege zwischen >literarischem Wandel< und »sozialem Wandel< eröffnet.
es sich hier um Wörter, Gegenstände, Ideen, Werte, Gefühle, Gesten oder Verhaltensweisen handelt« und allein die Semiotik als »wissenschaftliche Form der Kulturanthropologie« anzuerkennen (ebd. S. 186, Hervorh. von C.-M. O.), ist von ihm inzwischen abgeschwächt worden (Eco 1987, Abschnitt O. In Richtung einer Theorie der Kultur, S. 21-56); sie besagt nur mehr, »daß jeder Aspekt der Kultur (als möglicher Inhalt einer Kommunikation) zu einer semantischen Einheit werden kann.« (ebd. S. 52, Hervorh. von C.-M. O.). - Zur »Codierung von Semantiken und Systemen< siehe schließlich Luhmann 1986.
Literarischer Wandel und sozialer Wandel
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Meine eigenen Ausführungen hierzu wollten und konnten vorerst nur in groben Zügen die Problemlage skizzieren. So schematisch und reduktiv sie sich zunächst auch ausnehmen mögen: das allein schon aus der Kombinatorik von drei, noch sehr fundamentalen >Leitdifferenzen< erreichte Komplexitätsniveau der Modellbildung sollte zumindest die Notwendigkeit und ungefähre Richtung einer vertiefenden, interdisziplinären Theoriebildung vor Augen geführt haben.
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Michael
Titzmann
Skizze einer integrativen Literaturgeschichte und ihres Ortes in einer Systematik der Literaturwissenschaft
0. In meinen Bemerkungen soll es um einen terminologischen und methodologischen Rahmen für die Rekonstruktion der Geschichte von Literatur gehen. 0.1. Dieser Rahmen soll die folgenden Bedingungen erfüllen: 0.1.1. Er soll möglichst viele der theoretischen und terminologischen Unterscheidungen umfassen, die wir mindestens brauchen, um adäquat Literaturgeschichte schreiben zu können, und er sollte so beschaffen sein, daß er offen ist für möglichst viele weitere Unterscheidungen, die sich als nötig erweisen könnten. 0.1.2. Er soll die methodologischen und terminologischen Probleme der Literaturgeschichte wenigstens näherungsweise in einer Systematik der Literaturwissenschaft situieren; er sollte also ungefähr festlegen, welche literaturwissenschaftlichen Probleme und Tätigkeiten der Möglichkeit einer Literaturgeschichte logisch oraus liegen. 0.1.3. Er soll so offen sein, daß er alle (derzeit) als relevant geltenden literaturgeschichtlichen Fragestellungen integrieren kann, von welcher der sogenannten »methodischen Richtungen«, die derzeit konkurrieren, sie auch gestellt seien. Daher nenne ich die intendierte Literaturgeschichte eine integrative Literaturgeschichte. Zwei solche zentrale Komplexe von Fragestellungen seien hier als Beispiel genannt: 0.1.3.1. Der Rahmen muß die neueren denkgeschichtlichen und sozialgeschichtlichen Fragestellungen in sich aufnehmen können. 0.1.3.2. Der Rahmen muß das Problem des literarischen Wandels in sich aufnehmen können. 0.2. Was nun diese »Richtungen« anlangt, die wir normalerweise allzu leichtfertig »Methoden« nennen, scheinen mir zwei Unterscheidungen notwendig, um das Problem - das in hohem Ausmaß ein Scheinproblem ist - der Konkurrenz verschiedener Richtungen einerseits, verschiedener Interpretationen andererseits auf seinen wahren - bescheidenen - Kern zu reduzieren: 0.2.1. Zu unterscheiden ist zwischen den Fragestellungen, die diese Richtungen aufwerfen und den Methoden, derer sie sich bedienen, d.h. den Verfahren, die angewandt werden, um die gestellten Fragen am jeweils gegebenen Textmaterial zu beantworten. So ist etwa jene (Gruppe von) »Richtung(en)«, die (Geschichte der) Literatur in ihre denk- und sozialgeschichtlichen Kontexte eingebettet beschreiben will, primär durch zunächst noch sehr globale Fragestellungen definiert - die, um beantwortbar zu sein, in Teilfragestellungen zerlegt werden müssen, die wiederum bis zu einer Menge operationalisierbarer Fragen konkretisiert werden müssen: Terminologien und Methoden sind damit noch nicht festge-
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Michael
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legt. So ist umgekehrt die »Richtung« des Strukturalismus primär durch Terminologien und Methoden definiert: eine Menge von Fragestellungen ist damit noch nicht festgelegt. Die Denk- und Sozialgeschichte von Literatur kann somit auch im Rahmen strukturalistischer Positionen behandelt werden. (Natürlich ist nicht jede Fragestellung mit jedem terminologisch-methodologischen Rahmen, nicht jeder terminologisch-methodologische Rahmen mit jeder Fragestellung vereinbar: im Konfliktfalle muß ein anderes Kriterium - siehe unter 0.3.1. - darüber entscheiden, ob Fragestellung oder Terminologie/Methodologie hier aufzugeben bzw. zu modifizieren sind.) 0.2.2. Zu unterscheiden ist zwischen non-evaluativen (also: deskriptiven oder explanativen) und evaluativen Aussagen über Texte; interpretatorische Aussagen sollen dabei als non-evaluative gelten: sie sind, ihrer Intention nach, deskriptive Aussagen zur Textsemantik (denn »deskriptiv« heißt nicht »unmittelbar wahrnehmbar« oder »nicht-abstrakt«: es heißt nur, daß ein Sachverhalt konstatiert wird, er sei nun unmittelbar beobachtbar oder erst im Gefolge komplexer Operationen beschreibbar.) Zu unterscheiden ist also zwischen der deskriptiven Behauptung, ein(e) Text(stelle) habe die Bedeutung S, und der evaluativen Behauptung, S sei als Ε (z.B. gut - böse, wahr - falsch, reaktionär - progressiv, usw.) zu bewerten: über deskriptive Behauptungen läßt sich anhand der Textdaten, über evaluative Behauptungen hingegen nur im Rahmen ideologischer Systeme entscheiden. Zwei Präzisierungen seien angedeutet: a) Die Behauptung, S werde im Text (von einer/mehreren der Figuren, von der Sprechinstanz) als Ε bewertet, ist eine interpretatorische, somit deskriptive Aussage. b) Welche von zwei konkurrierenden interpretatorischen Behauptungen, Sj und S 2 , wahr ist, kann nur im Rahmen zusätzlicher Kriterien - siehe unter 0.3.1. und 2.1. - entschieden werden: wenn der Text bzw. die Textstelle ambig ist, ist weder »Si« noch »S2«, sondern nur »Si und S2« wahr. 0.3. In meinen Bemerkungen mache ich zudem zwei Klassen von Voraussetzungen: 0.3.1. Theoretisch setze ich Logik und analytische Wissenschaftstheorie voraus (vgl. für beide etwa Stegmüller 1969ff.). Ich behaupte also, daß auch Literaturwissenschaft, welcher »Richtung« sie auch anhängen mag, den elementaren Normen und Regeln der Logik und Wissenschaftstheorie genügen muß. Zur Illustration dafür drei einfache Beispiele: 0.3.1.1. Begriffe, die die Literaturwissenschaft einführt, müssen definiert werden (oder zumindest im Prinzip definierbar sein). 0.3.1.2. Literaturwissenschaftliche Aussagen müssen widerspruchsfrei sein, literaturwissenschaftliche Folgerungen nach den Regeln der Logik vorgenommen werden. 0.3.1.3. Literaturwissenschafte Aussagen müssen empirisch fundiert sein, d. h. direkt oder indirekt am Gegenstand bestätigt werden können: direkt, indem die elementaren Behauptungen der Argumentationskette unmittelbar durch sprachliche Daten am Text belegt werden können: indirekt, indem nicht unmittelbar
Skizze
einer integrativen
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belegbare Behauptungen logisch aus unmittelbar belegten Behauptungen gefolgert werden. 0.3.2. Terminologisch setze ich zwei elementare Mengen von Begriffen voraus (und unterstelle die Akzeptabilität dieses Vokabulars für alle vorhandenen »Richtungen«): 0.3.2.1. eine formal-abstrakte Begriffsserie: Element - Relation - Struktur System - Funktion. Diese Begriffe stellen im übrigen ein »transdisziplinäres« Vokabular dar, dessen sich z.B. ebenso Mathematik, (Sozial-)Geschichte, Psychologie, Soziologie, Ethnologie, Biologie, Wissenschaftsgeschichte bedienen (können) und das insofern auch interdisziplinäre Zusammenarbeit vielleicht erleichtert. 0.3.2.2. eine semiotische Begriffsserie: Zeichen - Zeichensystem, usw. Vermutlich wird heute kaum mehr bestritten werden, daß Semiotik im allgemeinen und Linguistik im besonderen für Literaturwissenschaft konstitutive - ihr vorausliegende - Sachverhalte beschreiben. 0.4. Diese Voraussetzungen lassen natürlich immer noch verschiedene »Richtungen« zu: Ich wähle hier einen semiotischen und strukturalen Ansatz, weil dieser mir, im Rahmen der hier gestellten Aufgabe, am ehesten dem Bedürfnis nach systematischer und kohärenter Theoriebildung entgegenzukommen scheint. 0.5. Mein Ziel muß noch in doppelter Hinsicht spezifiziert werden. 0.5.1. Es geht hier nicht um die Probleme der Darstellung von Literaturgeschichte, sondern um die Probleme ihrer Rekonstruktion, die jeder Darstellung vorausliegen. 0.5.2. Dieser theoretisch-terminologische Rahmen ist keine Gebrauchsanweisung für Forschungsoperationen. Der kreative Akt des einzelnen Forschers mag völlig irrational, spontan, intuitiv, chaotisch Zustandekommen und verlaufen: das Ergebnis dieses Aktes muß aber so formulierbar sein, daß es bestimmte minimale Bedingungen für Wissenschaftlichkeit erfüllt - dieser Rahmen versucht einige davon anzugeben. 0.6. Der geringe Umfang des verfügbaren Raumes hat zur Folge, daß ich in meinen Bemerkungen eine Menge von Voraussetzungen machen muß, die ich nicht explizieren, sondern (z.B. durch Literaturverweise) nur andeuten kann. Wenn der Leser diese Voraussetzungen nicht kennt, muß ich ihm also einiges an theoretischer Phantasie abverlangen; aber ohne Phantasie dürfte es ohnedies schwerlich kreative und fruchtbare Wissenschaft geben. 1. Konstitutiv für die Möglichkeit einer Literaturgeschichte sind zwei Bedingungen: Gegeben sein muß zunächst eine Menge von Texten und die zeitliche Verteilung dieser Texte. 1.1. Vorausgesetzt seien demnach hier die Tätigkeiten der Linguistik, die unsere Kenntnis der Sprache der Texte bzw. des jeweiligen historischen Entwicklungsstandes dieser Sprache sichert, und der Editionsphilologie, die bei Bedarf die korrekte Form dieser Texte zu rekonstruieren und die Texte zu datieren hat. 1.2. Schon der Begriff »Text« wirft natürlich textlinguistische und literatur-
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wissenschaftliche Probleme auf. Text sei, für den jetzigen Zweck, vereinfachend festgelegt als geordnete Menge sprachlicher Zeichen, die kulturell, zumindest in bestimmten sozialen Kontexten, als selbständige Äußerung akzeptiert wird. (Im Normalfalle ist ein Text eine geordnete Menge von Sätzen - aber die Umschreibung des Begriffes muß weit genug sein, um z.B. auch moderne Lyrik zu umfassen.) Dieser pragmatisch fundierte Rahmen erlaubt natürlich präzisere Definitionen (vgl. dazu z.B. die Beiträge von mir und anderen in Petöfi 1979). 1.3. Natürlich sind für die Literaturgeschichte auch nonverbale Äußerungen relevant, »Texte« also, die aus geordneten Mengen nicht-sprachlicher Zeichen bestehen. Sprachliche Texte und nicht-sprachliche »Texte« können z.B. komplexe Relationen unterhalten: so z.B. in Emblematik, Theater, Oper, Film, Werbung, »konkreter Poesie« usw. Auf die Probleme der Analyse nicht-sprachlicher Äußerungen und ihrer Kooperationen mit Texten gehe ich hier nicht ein; im Prinzip gilt für sie ähnliches, wie es hier für Texte angedeutet wird, und der gegebene theoretische Rahmen dürfte weit genug sein, um in ihm auch die Relationen von Texten und »Texten« unterbringen zu können (vgl. dazu Titzmann 1990a). 1.4. Die zeitlich geordnete Menge der Texte ist die Menge der Ereignisse, die die empirische Basis der Literaturgeschichte bildet. Aber Literaturgeschichte ist mehr und anderes als eine Auflistung zeitlich geordneter Texte. Literaturgeschichte ist eine Abstraktion über einer Menge von interpretierten Texten: ein System, das wir über jener Menge von Systemen konstruieren bzw. rekonstruieren, zu denen die Textereignisse durch Interpretationsakte geworden sind. 2. Um Literaturgeschichte (re-)konstruieren zu können, müssen wir also zunächst Texte analysieren/interpretieren (ich verwende »Textanalyse« und »Interpretation« als Synonyme): die Möglichkeit von Textanaly seiInterpretation ist also Voraussetzung der Möglichkeit von Literaturgeschichte. Um Texte zu interpretieren, bedürfen wir einer Interpretationstheorie. (Wie eine solche Interpretationstheorie beschaffen sein könnte, habe ich an anderer Stelle zu zeigen versucht: vgl. Titzmann 1977). 2.1. Wann immer wir Texte interpetieren, liegt diesem Akt eine Interpretationstheorie zugrunde: entweder eine nicht-bewußte und implizite oder eine bewußte und explizite. Da Wissenschaft ihre Voraussetzungen und Verfahrensweisen explizit zu machen hat, um sie rationaler Kontrolle und Überprüfung zugänglich zu machen, ist eine Literaturwissenschaft nicht denkbar ohne eine - zumindest im Prinzip explizierbare - rationale Interpretationstheorie. 2.2. Eine (implizite oder explizite) Interpretationstheorie besteht aus einer Menge von (definierten!definierbaren) deskriptiven Termen (Begriffen) und einer Menge von Interpretationsregeln. 2.2.1. Wir benötigen also deskriptive Terme, mittels derer wir immer wieder auftretende und relevante Teilstrukturen von Texten benennen und unterscheiden. Dieses Beschreibungsinventar stammt seinerseits aus verschiedenen Theorien, z.B. aus den linguistischen Theorien zur Syntax, Semantik, Pragmatik der natürlichen Sprache oder aus den poetologischen Theorien, in denen wir unser
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(wiederum in Textanalysen erworbenes) Wissen über strukturelle Möglichkeiten von Texten festhalten, Theorien also etwa über metrische Strukturen, über rhetorische Strukturen, über mögliche Sprechsituationen im allgemeinen (vgl. z.B. Wünsch 1984) und Erzählsituationen im besonderen, über narrative Strukturen (vgl. z.B. Lotman 1972; Renner 1983; Titzmann 1980, § 15), über Gattungen (vgl. z.B. Hempfer 1973; Pfister 1977), usw. Dieses theoretisch fundierte Beschreibungsinventar ermöglicht die schnelle Identifizierung und begünstigt die Kommunikation über sie: Soweit ein solches Vokabular freilich nicht vorhanden ist, müssen wir die relevanten Strukturen eben mit ad hoc geprägten Termen umschreiben: auf ein standardisiertes, intersubjektiv akzeptiertes terminologisches System kann ggf. verzichtet werden; es kann nicht darauf verzichtet werden, daß Terme, seien sie auch ad hoc eingeführt, intersubjektiv verstehbar definiert werden bzw. definierbar sind. Unentbehrlich ist hingegen die zweite Komponente einer Interpretationstheorie : 2.2.2. Wir benötigen eine Menge von Interpretationsregeln, die festlegen, welche Operationen zulässig und nötig sind, um die gegebenen Textstrukturen und deren systematische Relationen im Text interpretatorisch zu rekonstruieren und ein Modell des Textes zu produzieren, das zumindest dessen relevanteste Gegebenheiten (im logisch-mathematischen Sinne) abbildet. Interpretationsregeln können Kreativität, Phantasie, Intuition nicht ersetzen. Wenngleich sie bis zu einem bestimmten Umfang auch eine Gebrauchsanweisung für Textanalyse liefern, stekken sie doch primär einen Rahmen dafür ab, was legitim - d.h. wissenschaftlich akzeptabel - in Interpretation möglich ist. Selbstverständlich steht es dem Forscher frei, in seinem kreativen Interpretationsakte völlig »intuitiv« und »irrational« zu verfahren: Interpretationsregeln werden aber dann relevant, wenn er daran geht, die Ergebnisse seiner Einfälle zu sortieren und in wissenschaftlich akzeptable Form zu bringen. Interpretationsregeln liefern aber vor allem einen Apparat von Normen und Regeln, der es erlaubt, im Falle des Dissenses zwischen Interpretationen zu entscheiden, welche Interpretation inwieweit (d.h. in welcher Teilmenge ihrer Aussagen) wissenschaftlich akzeptabel ist. 3. Grundsätzlich zu unterscheiden sind jedenfalls Interpretation von Texten durch die Literaturwissenschaft und Rezeption von Texten durch zeitgenössische oder spätere Leser (vgl. dazu z.B. Titzmann 1977 und vor allem Wünsch 1984). 3.1. Die Untersuchung der Rezeption von Texten kann die Interpretation von Texten schon deshalb nicht ersetzen, weil wir Informationen über die Rezeption von Texten wiederum nur aus Texten - also durch Interpretation - erschließen können. 3.2. Jede Interpretation ist zwar ihrerseits immer auch ein Akt der Rezeption; aber während die Rezeption von Texten durch beliebige Leser nicht an wissenschaftlich akzeptable Normen und Regeln gebunden ist, soll hier Textanalyse/ Interpretation nur ein solcher Rezeptionsakt heißen, der solchen Normen zu genügen und nach solchen Regeln zu verfahren versucht. 3.3. Das empirische Basismaterial der Literaturgeschichte müssen jedenfalls
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Textinterpretationen, nicht Textrezeptionen, sein. Die Rekonstruktion der Rezeption von Texten innerhalb einer historischen Phase oder über mehrere Phasen hinweg ist zwar ein wichtiges Material für eine Literaturgeschichte, aber nicht diese selbst. Geschichte der Literatur ist mehr als die Geschichte ihrer Rezeptionen: diese sind nur ein, wenn auch wichtiger, so doch untergeordneter Teil jener. 3.3.1. Die tatsächliche Rezeption von Texten ist in den überlieferten Rezeptionszeugnissen nur unvollständig und selektiv dokumentiert; eine statistische und soziale Repräsentativität der in diesen Zeugnissen dokumentierten Rezeptionsakte ist nicht gesichert; relevante und nachweisbare Textstrukturen mögen in den Rezeptionszeugnissen keine Rolle spielen, ohne daß das hieße, diese Strukturen seien nicht wahrgenommen worden oder sie hätten keine Auswirkungen auf die lesenden Subjekte gehabt (ob sie nun bewußt wahrgenommen wurden oder nicht) oder sie seien nicht relevant (ob sie nun Auswirkungen hatten oder nicht). 3.3.2. Welche Operationen die Rezipienten mit den Texten vorgenommen haben, welche Strukturen sie (nachweisbar) an den Texten wahrgenommen haben und welche nicht, welche Daten der Texte sie korrekt interpretiert haben und welche nicht, kann überhaupt erst beschrieben und seinerseits interpretiert werden, wenn das Produkt der - in der Überlieferung dokumentierten - Rezeptionsakte mit einer Interpretation der Texte verglichen wird: Relevante Folgerungen zur Rezeption lassen sich erst im Rahmen einer Interpretation ziehen; erst im Rahmen einer Interpretation werden die Daten aus der Rezeption sinnvoll und funktional für Literaturgeschichte. 4. Historisch adäquate Interpretation soll nun eine solche Interpretation heißen, die im Rahmen wissenschaftlicher Normen und Regeln, die Bedeutung des Textes rekonstruiert, die er in der historischen Phase gehabt hat, von der und für die er ursprünglich produziert worden ist. Interpretation rekonstruiert also die Bedeutung, die eine Textstruktur für einen optimalen/idealen Leser der Kultur des Textes gehabt hätte, der über alle die intellektuellen und kulturellen Voraussetzungen verfügt, die zum Verständnis des Textes erforderlich sind und zudem in dieser Phase überhaupt zugänglich waren. Interpretation kann sich dabei natürlich eines wissenschaftlichen Beschreibungsapparates bedienen, der dem ursprünglichen Leser nicht zur Verfügung stand, sofern dieser Leser die damit bezeichneten Strukturen, im Rahmen seines Denk- und Sprachsystems, grundsätzlich wahrnehmen und umschreiben kann. 4.1. Der Nachweis, daß der ideale Leser das kann, kann freilich erst geliefert werden, wenn dieses Denksystem seinerseits rekonstruiert ist. Eine Interpretation, die den Normen und Regeln der Interpretationstheorie genügt, für die dieser Nachweis aber (noch) nicht erbracht werden kann, soll daher, im Unterschied zur historisch adäquaten Interpretation wissenschaftlich korrekte Interpretation heißen. Selbstverständlich muß jede historisch adäquate Interpretation auch eine wissenschaftlich korrekte Interpretation sein. 4.2. Die Interpretation eines Textes ist normalerweise unvollständig: Die vollständige Interpretation des Textes würde alle Bedeutungen aller Textstrukturen
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rekonstruieren - eine solche Interpretation ist natürlich eine Fiktion, die nur den theoretischen Grenzwert benennt. Auch die unvollständige Interpretation kann aber korrekt und adäquat sein. 5. Die gegebenen Ereignisse, die Texte, sind nun zwar in der Interpretation als komplexe semantische Systeme analysierbar, aber sie sind keine isolierten Systeme: Sie sind Systeme, die in vielfältigen Relationen zu einer (ebenfalls sehr komplexen) Umwelt, d.h. zu einer Menge anderer Systeme, stehen; diese anderen Systeme können ebenfalls durch vielfältige Relationen untereinander korreliert sein. Es ist ein trivialer Gemeinplatz, daß Texte nicht unabhängig von ihren kulturellen Kontexten (vollständig) interpretiert werden können. Die Interpretationstheorie muß dem Rechnung tragen, indem sie Regeln formuliert, die festlegen, unter welchen Bedingungen welche Daten aus welchen Kontexten auf welche Weise in der Interpretation verwendet werden dürfen. Die damit verbundenen Probleme, die notwendigen Unterscheidungen, die Begründungen für meine Problemlösung kann ich hier nicht skizzieren (vgl. dazu Titzmann 1977). Im jetzigen Argumentationszusammenhang ist nur die fundamentale These wichtig, daß nur genau solche Daten aus dem kulturellen Kontext in der Interpretation verwendet werden dürfen, die die doppelte Bedingung erfüllen, daß sie a) Element des »kulturellen Wissens« der Zeitgenossen des Textes sind; b) ihre Relevanz für die semantische Struktur des Textes nachgewiesen werden kann. 5.1. Für jeden interpretatorischen Umgang mit solchem kulturellen Wissen ist eine Regel konstitutiv: Durch die interpretatorische Anwendung solcher Wissenselemente auf die Textdaten können zwar aus den Textdaten interpretatorische Folgerungen gezogen werden, die ohne diese Wissenselemente nicht gezogen werden könnten; was aber anhand der Textdaten allein schon gefolgert werden kann, ist in jedem Falle ein korrektes interpretatorisches Ergebnis, das durch die Einbeziehung von kulturellem Wissen nicht falsifiziert werden kann. 5.2. Konstitutiv ist diese Regel in doppelter Hinsicht: 5.2.1. Wenn wir die Gültigkeit dieser Regel nicht annehmen würden, wäre es faktisch unmöglich, daß ein Text kreativ, innovativ, originell sein könnte. Denn um eben dieses zu sein, muß er entweder gegebenem Wissen widersprechen oder gegebenes Wissen zu erweitern suchen. Das heißt, ein solcher Text setzt Aussagen als wahr, die potentiell neue Wissenselemente sein oder werden können, wenn sie von einer kulturellen Gruppe akzeptiert werden. 5.2.2. Wenn wir die Gültigkeit dieser Regel nicht annehmen würden, wäre die Rekonstruktion des kulturellen Wissens selbst unmöglich. Denn für die Gegenwart können wir das Wissen von Individuen und Gruppen nicht nur aus ihren verbalen Äußerungen, sondern auch aus ihren beobachtbaren non-verbalen Verhalten erschließen, für die Vergangenheit hingegen können wir dieses Wissen aber nur aus ihren zeichenhaften Äußerungen (Texten und »Texten«), und das heißt vor allem: aus ihren sprachlichen Texten, erschließen. Da wir also das kulturelle Wissen in jedem Falle zumindest weitgehend durch Interpretation von Texten
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erschließen, darf die Kenntnis dieses Wissens logischerweise nicht schon selbst Voraussetzung jeder richtigen interpretatorischen Folgerung sein. 5.3. (Mehr oder weniger) Vollständig kann eine Interpretation also nur bei Einbeziehung des kulturellen Wissens sein; sie kann aber auch ohne Einbeziehung des kulturellen Wissens wissenschaftlich korrekt oder/und historisch adäquat sein. 6. Nun können wir präzisieren, was hier unter Textbedeutung verstanden werden soll. Die Bedeutung eines Textes ist die Menge aller aus dem Text - mit oder ohne Anwendung von Elementen des kulturellen Wissens - ableitbaren Propositionen und die Menge aller Propositionen, die aus dieser Menge logisch gefolgert werden können. 6.1. Propositionen nenne ich diese Aussagen, um sie sprachlich von den Sätzen einer Äußerung zu unterscheiden: Aus verschiedenen Sätzen desselben Textes oder verschiedener Texte kann dieselbe Proposition folgen. Die Propositionen sind also jene Aussagen, die von Teilsätzen, Sätzen, Satzmengen inkludiert oder impliziert werden. (Vgl. dazu Bellert 1970 und 1973, Titzmann 1977 und 1981a und b.) Zur Verständigung ein extrem einfaches Beispiel; der Satz (1) »Machen Sie das Fenster zu!« setzt mindestens die folgenden Propositionen als wahr (was nicht bedeutet, daß sie wahr sein müssen): (2) Es gibt einen Raum. (3) In diesem Raum gibt es ein Fenster. (4) Das Fenster ist geöffnet. (5) In diesem Raum befinden sich (mindestens) zwei Personen. (6) Eine dieser Personen wendet sich als Sprecher an (mindestens) eine andere Person als Adressat. (7) Der Sprecher erteilt dem Adressaten den Auftrag, das Fenster zu schließen. (8) Der Sprecher befindet sich nicht in einer Relation familiärer, freundschaftlicher, erotischer Vertrautheit mit dem Adressaten. (Er »duzt« ihn nicht, er »siezt« ihn.) (9) Der Sprecher postuliert eine soziale Relation zum Adressaten derart, daß er ihm Anweisungen erteilen kann.
6.2. Explizite Propositionen eines Textes sollen die Aussagen heißen, für die es ein semantisches Äquivalent in einer Zeichenfolge an der Textoberfläche gibt, implizite Propositionen hingegen solche, die kein solches Äquivalent an der Textoberfläche haben und also unausgesprochene Voraussetzungen (darunter die Präsuppositionen im logisch-linguistischen Sinne) oder unausgesprochene Folgerungen der Zeichenmenge (des Teilsatzes, des Satzes, der Satzmenge) darstellen. 7. Der Begriff des kulturellen Wissens ist nun aber von fundamentaler Relevanz nicht nur für eine Interpretationstheorie, sondern auch für eine integrative Literaturgeschichte, wie ich zu zeigen hoffe; ich muß daher etwas näher auf ihn eingehen. Kulturelles Wissen soll die Menge aller Propositionen heißen, die die Mitglieder eines kulturellen Systems für wahr halten. 7.1. Das kulturelle Wissen ist also der Durchschnitt (im logisch-mathematischen Sinne) aus den Wissensmengen der Kulturmitglieder. Da uns die Gehirne
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dieser Subjekte nicht unmittelbar zugänglich sind, stellt sich das kulturelle Wissen in der historischen Rekonstruktion dar als Durchschnitt aus den Propositionen, die die Texte (und die »Texte«) dieser Kultur als wahr setzen. 7.2. »Wissen« wird hier in der weiten Bedeutung verwendet, wie sie jüngeren Arbeiten zur Wissenssoziologie (vgl. z.B. Berger/Luckmann), zur Wissenschaftsgeschichte (vgl. z.B. Th. S. Kuhn), zur Wissensgeschichte (vgl. z.B. Foucault) zugrunde liegt. Das heißt: »Wissen« umfaßt hier alle Aussagen, die das Kulturmitglied mit »ich weiß« / »wir wissen« / »sie wissen«, mit »ich glaube« / »wir glauben« / »sie glauben«, usw. einleiten würde oder könnte. 7.3. Jede Proposition, die zum kulturellen Wissen gehört, ist ein Wissenselement; die systematisch geordnete Menge aller Wissenselemente ist das Wissenssystem dieser Kultur. 7.4. Allgemeines Wissen soll die Menge jener Wissenselemente heißen, die (fast) alle Kulturmitglieder für wahr halten, gruppenspezifisches Wissen jene Wissenselemente, die nur die Mitglieder einer oder mehrerer Gruppen teilen. Solche Gruppen mit (teilweise) unterschiedlichen Wissensmengen können aufgrund verschiedenster sozialer Merkmale konstituiert sein; z.B. durch Altersgruppen, Geschlecht, soziale Schicht, Ausbildung, Beruf, religiöse, politische, sonstige ideologische Positionen. Auch gruppenspezifisches Wissen kann interpretatorisch relevant sein: Die Interpretationstheorie muß also Bedingungen auch für diesen Fall formulieren (vgl. Titzmann 1977). Das Wissenssystem der Kultur kann somit sehr komplex sein und aus konkurrierenden Sub- bzw. Teilsystemen bestehen; zwei Gruppen können zum selben Sachverhalt einander logisch ausschließende Wissensmengen besitzen; zwei Gruppen können zu verschiedenen Sachverhalten Wissensmengen besitzen, wo die jeweils andere Gruppe über kein Wissen verfügt. 7.5. Unterschieden werden muß zwischen bewußtem Wissen und nicht-bewußtem Wissen, d.h. solchem Wissen, das den Subjekten so selbstverständlich ist, daß es ihnen normalerweise gar nicht bewußt wird. Es kann bewußt werden, indem es etwa mit einer abweichenden Wissensmenge einer fremden Gruppe oder Kultur konfrontiert wird. Die Entdeckungsreisen seit dem 16. Jahrhundert oder das Interesse am psychisch oder sozial abweichenden Verhalten seit dem 18. Jahrhundert machen in der Erkenntnis der Strukturen des Anderen immer auch Strukturen des Selbst bewußt. Als bewußt soll ein Wissenselement gelten, wenn es in einer hinreichend umfänglichen Textmenge als explizite Proposition repräsentiert ist; wenn es hingegen im Normalfalle nur als implizite Proposition und nur in wenigen Texten als explizite Proposition belegt ist, soll es als in der Kultur zumindest grundsätzlich bewußtseinsfähig gelten. Wenn eine Proposition in vielen Texten implizit repräsentiert, aber in keinem Text explizit belegt ist, kann nicht entschieden werden, ob es sich um ein bewußtes oder bewußtseinsfähiges oder nichtbewußtseinsfähiges Wissenselement handelt, jeder dieser Fälle kann vorliegen. 7.6. Das kulturelle Wissen umfaßt ebenso das vortheoretische, partiell nicht explizite, partiell nirgends artikulierte Alltagswissen wie das theoretische, spezialisierte Wissen der Theologien, Philosophien, Wissenschaften. Alles, worüber eine Kultur überhaupt Behauptungen aufstellen kann, kann auch Gegenstand von Wis-
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senspropositionen sein. Das kulturelle Wissen umfaßt also Wissen über Ereignisse und Individuen wie über Regularitäten und Systeme, Wissen über faktisches Verhalten wie über Werte und Normen, Wissen über Texte/»Texte« wie über Zeichensysteme, Wissen über Probleme wie über Lösungen oder Lösungsstrategien, Wissen über eigenes wie über fremdes Wissen. 7.7. Die Vermittlung von Wissen wie die Verhinderung von Wissen wird in der Kultur mehr oder weniger systematisch durch soziale Strukturen und Institutionen geregelt und gehört zu den zentralen Elementen jedes Sozialisationsprozesses (vgl. dazu die Arbeiten zur Wissenssoziologie). Das kulturelle Wissen gehört zu den Prämissen der Produktion, Distribution, Rezeption von Texten: Allein schon über dieses Wissen sind Texte mit anderen Strukturen des soziokulturellen Systems korreliert. 7.8. Was die Soziologie Einstellung, die Sozialgeschichte Mentalität (etwa in der französischen »histoire des mentalites«) genannt hat, ist nichts anderes als ein Wissenselement, in dem eine kognitive Einheit zudem mit einer affektiven und evaluativen Komponente verknüpft ist und daher zu einer bestimmten Handlungsdisposition, d.h. zu einer Präferenz für eine bestimmte Verhaltensweise (unter mehreren möglichen Alternativen) in bestimmten Typen von Situationen führt. Eine Einstellung oder Mentalität ist also ihrer logischen Form nach eine komplexe Aussage e(p), die ein kognitives Element, eine Proposition p, mit einem affektivevaluativen Element, einer Proposition e, kombiniert und bei der e den Standpunkt der Sprechinstanz ausdrückt. (»Ich mag [nicht] p/wir mögen [nicht] p; ich halte / wir halten ρ für einen positiven/negativen Wert« drücken demnach Einstellungen/Mentalitäten des oder der Sprecher aus; »die Gruppe X mag [nicht] p/ hält ρ [nicht] für einen Wert« drückt hingegen ein Wissen über fremde Einstellungen/ Mentalitäten aus.) 7.9. Generell gehören im übrigen die Strukturen der Affektivität/Emotionalität der Subjekte in einer Kultur mindestens insoweit ebenfalls zu den Elementen des Wissenssystems, als sie selbst immer auch kognitive und evaluative Elemente umfassen. Das Kulturmitglied lernt (und weiß dann), welche Emotionen seine Kultur überhaupt unterscheidet und sprachlich benennt; es weiß, welche Emotionen unter welchen Bedingungen - d.h.: in welche Situationstypen gegenüber welchen Personenklassen - zulässig oder erwartet oder verboten sind. Die bekannten neueren Ansätze zur Sozialgeschichte der Familie, der Sexualität, des Todes haben die Beispiele dafür geliefert. 8. Nun ist uns freilich das kulturelle Wissen seinerseits nicht gegeben: wir müssen es - primär wiederum aus den Texten (bzw. »Texten«) der Kultur - erschließen. Das aber hat vier relevante Folgen. 8.1. Zur Rekonstruktion des kulturellen Wissens bedürfen wir wiederum der Interpretation. 8.2. Nun ist aber nicht jede in Texten nachweisbare Proposition zugleich auch Element des kulturellen Wissens: über die allgemeinen Interpretationsregeln hinaus muß es also zusätzliche und spezifische Interpretationsregeln der Wissensrekon-
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struktion geben, mit deren Hilfe wir aus der Menge der ableitbaren Propositionen die Teilmenge der Propositionen selegieren, die zudem auch Wissenselemente sind und von mindestens einer kulturellen Gruppe für wahr gehalten werden. 8.3. Da es nicht um die Annahmen einzelner Subjekte, sondern um die Annahmen von Gruppen oder Kulturen geht, bedürfen wir ferner eines repräsentativen Textkorpus: aus der Menge der tradierten Texte muß ein Korpus ausgewählt werden, das auch im statistischen Sinne repräsentativ ist. Aber nicht alle Texte sind kulturell gleichrangig: das Korpus muß also nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ repräsentativ sein. Es muß, in anderen Worten, auch die von den Zeitgenossen, in ihrem Rezeptionsprozeß, ausgezeichneten Texte umfassen, die für diese Zeitgenossen modellbildende Referenztexte waren (ζ. B. die Bibel). 8.4. Zu rekonstruieren ist nun aber nicht, was die Kultur irgendwann geglaubt hat, sondern was sie in einem ganz bestimmten Zeitraum geglaubt hat. Wir müssen also das Kontinuum der physikalischen Zeit in Phasen zerlegen, d.h. eine Periodisierung in Epochen vornehmen. 9. Damit sind nun zugleich auch schon zwei elementare Operationen jeder Literaturgeschichte genannt. (Näheres dazu in Titzmann 1983). 9.1. Literaturgeschichte kann nur auf der Basis quantitativ wie qualitativ repräsentativer Textkorpora adäquat rekonstruiert werden. (Das bedeutet unter anderem, daß Statistik eine unerläßliche Hilfswissenschaft für Literaturgeschichte ist.) 9.2. Literaturgeschichte kann nur auf der Basis einer Periodisierung in Epochen rekonstruiert werden. Eine Epoche ist ein zeitlich begrenztes System, das wir von einer Menge von Texten abstrahieren und von dem wir behaupten, daß seine fundamentalen Merkmale bzw. Strukturen in diesem Zeitraum konstant bleiben. Epochen sind unvermeidliche Arbeitshypothesen, die insofern wissenschaftlich sind, als sie falsifiziert werden können, entweder indem gezeigt wird, daß diese Merkmale/Strukturen nicht für den gesamten Zeitraum invariant bleiben oder über den Zeitraum hinaus invariant sind, oder indem gezeigt wird, daß diese Merkmale/Strukturen für die Textmenge nicht fundamental sind. 10. Bislang war hier aber nur von Texten im allgemeinen, nicht aber spezifisch von literarischen Texten, die Rede. Um Literaturgeschichte rekonstruieren zu können, bedürfen wir der einen wie der anderen und müssen sie zudem unterscheiden können. 10.1. Jede Literaturwissenschaft ist notwendig auch eine Wissenschaft von Texten im allgemeinen, seien diese nun literarisch oder nicht. Poetologische Theorien unterscheiden und beschreiben mögliche Textstrukturen, die nicht spezifisch für Literatur sind; Interpretationstheorien formulieren Interpretationsregeln, die nicht spezifisch für Literatur sind. Jede Literaturgeschichte hat es notwendig auch mit der Geschichte nicht-literarischer Texte zu tun: sie bedarf ihrer ζ. B. als Quelle für das kulturelle Wissen. 10.2. Da es hier aber um die Geschichte einer bestimmten Klasse von Texten, nämlich um Literatur, geht, muß festgelegt werden, was unter Literatur verstan-
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den werden soll. Die Diskussion über Kriterien der Literarizität in den siebziger Jahren ist gescheitert: es kommt also nur ein pragmatischer Literaturbegriff in Frage, der auf der Rezeption - und dem aus dieser ableitbaren Wissen - der jeweiligen Zeitgenossen basiert. Literatur sei daher die Menge aller Texte, die von der jeweiligen Kultur für Literatur gehalten werden oder die dieselben Strukturen wie jene Texte aufweisen, die die Kultur für Literatur hält. (Der zweite Teil des Definiens erlaubt es uns, auch über den Status solcher Texte zu entscheiden, über den uns keine kulturelle Äußerung tradiert ist.) 11. Die Gesamtmenge der Texte einer Kultur ist damit aber nur in zwei Teilklassen, »Literatur« und »Nicht-Literatur«, zerlegt worden; offenkundig gibt es aber weitere relevante Subkategorisierungen beider Klassen, wie sie etwa durch Begriffe wie »Texttyp«, »Gattung«, »Diskurs« ausgedrückt werden. (Vgl. zum folgenden Hempfer 1973; Titzmann 1989 a). 11.1. Texttyp/-sorte soll jede Klasse von Texten heißen, die auf Grund von Kriterien gebildet worden ist, die am Einzeltext als erfüllt oder nicht-erfüllt nachgewiesen werden können. Texttypen sind theoretische Konstrukte; je nach der Wahl unserer Kriterien können wir im Prinzip beliebig viele Texttypologien aufbauen. 11.2. Gattungen soll hingegen nur die Teilmenge theoretisch denkbarer Texttypen heißen, die in der Kultur selbst unterschieden wurden und also nachweisbar Elemente des kulturellen Wissens waren. 11.3. Der Begriff »Diskurs« erfreut sich derzeit geradezu inflationärer Beliebtheit, wobei ein einheitlicher Begriffsgebrauch kaum zu erkennen ist. Dieser relativ junge Begriff wäre überflüssig, wenn er entweder jede Form der Rede bezeichnet oder nur benennt, was schon mit anderen Begriffen, z.B. eben Texttyp, Gattung, usw. benannt worden ist. Seine Bedeutung sollte also so festgelegt werden, daß das terminologische System der Literaturwissenschaft ökonomisch bleibt. 11.3.1. Ich schlage daher die folgende Definition vor: Diskurs ist ein System des Denkens und Argumentier ens, das von einer Textmenge abstrahiert ist und das erstens durch einen Redegegenstand, zweitens durch Regularitäten der Rede, drittens durch interdiskursive Relationen zu anderen Diskursen charakterisiert ist. (Für genauere Erläuterungen und Abgrenzungen muß ich nochmals auf Titzmann 1989a verweisen.) 11.3.1.1. Ein Diskurs ist durch einen Redegegenstand charakterisiert, der allen Texten gemeinsam ist, die sich dieses Diskurses bedienen. Was als »Gegenstand« gilt, ist wiederum abhängiges Produkt der kulturellen Kategorisierung der Realität, d.h. ein Element des kulturellen Wissens. In einer Epoche kann etwas als Gegenstand autonomer und kohärenter Rede gelten, was in einer anderen Epoche kein solcher Gegenstand ist. So wird z.B. die menschliche Psyche erst mit der Aufklärung im 18. Jahrhundert ein solcher Redegegenstand, über den es dann einen psychologischen Diskurs gibt (der sich zumindest in einigen Texten auch explizit als »Psychologie« bezeichnet), während vorher über sie nur punktuell
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Aussagen in Diskursen über andere Gegenstände (ζ. B. theologischen oder moraltheoretischen Diskursen) gemacht wurden. 11.3.1.2. Ein Diskurs ist durch Regularitäten der Rede über diesen Gegenstand charakterisiert. Diese Regularitäten sind die diskursspezifischen epistemologischen Basisprämissen, die festlegen, auf welche Weise im Diskurs über den Gegenstand gedacht und gesprochen werden soll: z.B. also vorausgesetzte erkenntnistheoretische und ontologische Annahmen, Argumentationsregeln, Folgerungsregeln, Formulierungsregeln. Der theologische Diskurs und der religionsphilosophische Diskurs in der Aufklärung denken und reden über annähernd denselben kulturellen Gegenstand »Gott«, aber eben auf durchaus verschiedene Weise. 11.3.1.3. Ein Diskurs ist durch seine interdiskursiven Relationen zu anderen Diskursen charakterisiert, wodurch nicht zuletzt sein Stellenwert im kulturellen System festgelegt wird. Ein Diskurs kann einem anderen z.B. übergeordnet oder untergeordnet sein. So begrenzt z.B. im 17. Jahrhundert der theologische Diskurs jeden anderen Diskurs, insofern in anderen Diskursen nur solche Aussagen zulässig sind, die dem theologischen Diskurs nicht widersprechen; dieser legt also fest, in welchen Grenzen rationales und autonomes Denken und Reden über seinen und andere Gegenstände möglich ist. In der deutschen Frühaufklärung dominiert der religionsphilosophische Diskurs alle anderen, darunter den anthropologischen; in der Spätaufklärung dominiert hingegen der anthropologische Diskurs alle anderen, darunter den religionsphilosophischen. 11.3.2. Wir können nun erstens einige weitere terminologische Festlegungen vornehmen. 11.3.2.1. Ein Diskurs ist also ein System, das die Produktion von Wissen regelt; eine Theorie ist eine Wissensmenge, die ein Diskurs produziert hat; innerhalb eines Diskurses können somit (theoretisch) verschiedene Theorien koexistieren und konkurrieren. Im medizinischen Diskurs des 18. Jahrhunderts konkurrieren z.B. unvereinbare Theorien der sexuellen Zeugung. 11.3.2.2. Verschiedene Diskurse bilden eine Diskursgruppe, wenn sie Gemeinsamkeiten im Gegenstand haben, aber die Rederegeln verschieden sind: so z.B. eben Theologie und Religionsphilosophie in der Aufklärung. 11.3.2.3. Verschiedene Diskurse bilden einen Diskurstyp, wenn sie verschiedene Gegenstände haben, aber Gemeinsamkeiten in den Rederegeln aufweisen. So bildet sich etwa aus inhaltlich verschiedenen Diskursen im 18. Jahrhundert der Diskurstyp, den wir »Aufklärung« nennen. 11.3.3. Wir können nun zweitens die Relationen des Begriffes »Diskurs« zu anderen relevanten Begriffen klären. 11.3.3.1. Ein Diskurs kann sich verschiedener Texttypen/Gattungen bedienen. Der juristische Diskurs des 18. Jahrhunderts äußert sich etwa in Gesetzbüchern, Kommentaren, Rechtsphilosophie, usw. Ein(e) Texttyp/Gattung kann sich verschiedener Diskurse bedienen; a fortiori können somit auch in einem Text Strukturen verschiedener Diskurse koexistieren. 11.3.3.2. Literatur ist kein Diskurs; sie kann sich aber verschiedener Diskurse bedienen und sie in sich integrieren.
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12. Mit Hilfe der bisherigen Unterscheidungen können wir nun einige wichtige Oberbegriffe einführen. 12.1. Diskurse sind also nicht zuletzt durch ihre epistemologischen Basisprämissen charakterisiert, wobei wir zwischen solchen unterscheiden können, die für einen Diskurs spezifisch sind, solchen, die mehrere Diskurse teilen (Diskurstyp), solche, die alle Diskurse teilen. Die geordnete Menge aller solcher epistemologischer Basisprämissen bildet die Denkstruktur der Epoche. Die Denkstruktur kann also rekonstruiert werden als eine Menge hierarchisierter Aussagen, die die Bedingung für alle anderen Aussagen darstellen. Die Denkstruktur umfaßt Denkkategorien, Denkregeln, Formulierungsregeln, Basispostulate über die Struktur der Realität. Einerseits können Elemente der Denkstruktur zugleich auch Elemente des kulturellen Wissens sein: so z.B. in Logik und Wissenschaftstheorie, wenn die Kultur über solche Diskurse verfügt und in ihnen Theorien aufstellt. Andererseits regelt die Denkstruktur die Produktion von Wissen in der Kultur. 12.2. Die Basispostulate über die Struktur der Realität (die fundamentalen ontologischen Annahmen der Kultur) bilden den Realitätsbegriff der Kultur. Der Realitätsbegriff ist also die Menge von Annahmen, mit der die Kultur festlegt, was sie überhaupt für möglich oder unmöglich hält. 12.3. Der Realitätsbegriff ist ein für die Literaturwissenschaft notwendig fundamentales Konzept (vgl. dazu Wünsch 1991). Es handelt sich bei einem literarischen Text um »phantastische« Literatur, wenn in der Welt des Textes Phänomene auftreten, die Basispostulaten des Realitätsbegriffes widersprechen; es handelt sich um »mimetische« Literatur, wenn nichts in der Welt des Textes diesen Basispostulaten widerspricht. Die Literatur des »Realismus« im 19. Jahrhundert ist nicht dadurch charakterisiert, daß ihre Welten die »reale Welt« abbilden; eine fiktive Geschichte kann ohnedies nicht die Realität abbilden. Die Literatur des »Realismus« ist dadurch charakterisiert, daß sie fiktive Welten entwirft, in denen nichts vorkommt, was dem kulturellen Realitätsbegriff widerspräche; sie entwirft also Welten, die kulturell als möglich und denkbar gelten. 12.4. Denkstruktur und Wissenssystem zusammen bilden das Denksystem der Kultur. 12.4.1. Das Denksystem regelt die Wahrnehmung und Interpretation der »Realität«: von der Denkstruktur hängt ab, welche Daten der »Realität« die Kulturmitglieder überhaupt wahrnehmen und wie sie sie interpretieren. Was der Kultur als »Realität« erscheint, ist immr selbst schon ein kulturelles Konstrukt - ein Produkt der Interaktion zwischen Denksystem und - einer hypothetisch von uns angenommenen »tatsächlichen« - Realität: ob Daten, die diesem Konstrukt widersprechen, überhaupt zur Kenntnis genommen werden und wie auf sie reagiert wird, hängt vom Denksystem, nicht von der Realität, ab. Auch die fundamentale Unterscheidung in »Natur« und »Kultur« ist eine Funktion des Denksystems der Kultur; verwiesen sei auf das bekannte Beispiel, wie kulturelle Normen, etwa Sexualnormen, immunisiert werden, indem sie als natürliche Normen ausgegeben werden. Zwischen Denksystem und Realität finden komplexe Interaktionen statt. Einerseits wirkt das Denksystem auf seine Umwelt ein, insofern es Praktiken
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hervorbringt, die Realitäten tilgen, verändern, schaffen; andererseits wirkt die Umwelt auf das Denksystem ein, insofern es sich im Rahmen seiner Möglichkeiten und Grenzen den Realitäten und ihren Transformationen anpaßt. 12.4.2. Das kulturelle Denksystem, in dem die Subjekte aufwachsen und leben, steuert also begrenzend ihr Denken und ihre Textproduktion. Solcher Systemzwang schließt aber Abweichung/Innovation/Originalität/Kreativität nicht aus. Jeder neue (literarische oder nicht-literarische) Text kann versuchen, das Denksystem - sei es nur das Wissenssystem oder sei es gar die Denkstruktur - zu transformieren. Das gelingt ihm aber nur, wenn seine Abweichung erstens rezipiert und zweitens akzeptiert wird: sie wird das in genau dem Ausmaß, in dem sie Bedürfnisse dieses Denksystems erfüllt. Ob und inwieweit solche Abweichung in Texten überhaupt versucht wird und ob und inwieweit solche Abweichung akzeptiert wird und Folgen für die Kultur hat, ist also selbst schon eine vom Denksystem abhängige Funktion. Im Literatursystem des 17. Jahrhunderts wird »Originalität« ausgeschlossen, seit dem »Sturm und Drang« wird sie verlangt; jeder Blick auf - zum Beispiel - den »Sturm und Drang« zeigt im übrigen, daß das Ausmaß kreativer Abweichung systembedingte Grenzen hat, woraus die auffälligen Gemeinsamkeiten der Autoren dieser Phase, deren jeder für sich »Originalität« in Anspruch nimmt, resultieren. 12.4.3. Die Gesamtmenge der Texte/Theorien/Wissensmengen/Diskurse, die für das Denken mindestens einer oder mehrerer der kulturellen Gruppen einer historischen Phase relevant sind, soll intellektuelle Synchronie der Phase heißen. Die intellektuelle Synchronie umfaßt nicht nur Texte, die in dieser Phase selbst produziert worden sind, sondern auch Texte anderer Phasen und Kulturen, die aber in dieser Phase (noch) relevant sind und diskutiert werden. So gehören zur intellektuellen Synchronie etwa der Goethezeit nicht nur die Literatur der Antike, sondern auch bestimmte Theorien und Diskurse der Antike, so die Lehre von den vier Temperamenten oder die Lehre von den vier Elementen; beide werden in den Theoriebildungen der Goethezeit noch diskutiert. Die aristotelische Physik hingegen gehört nicht mehr zur intellektuellen Synchronie der Goethezeit: sie ist durch den Diskurs der neuzeitlichen Physik im 18. Jahrhundert substituiert worden. Wenn Systeme einer anderen Phase noch zur intellektuellen Synchronie gehören, muß sich das natürlich in den Texten manifestieren, die die Phase selbst hervorgebracht hat: d.h. in den phaseneigenen Texten muß eine Rezeption phasenfremder Texte/Theorien/Wissensmengen/Diskurse nachweisbar sein; es muß zumindest eine eindeutige Referenz auf diese Texte bzw. Systeme geben. 12.5. Wir können nun den Status der Untersuchung von Rezeptionsprozessen bestimmen: Rezeptionsprozesse stellen im Rahmen dieses terminologischen Apparats keine autonome Ebene dar, die um ihrer selbst willen relevant wäre; Daten der Rezeptionsgeschichte stellen hier nur Indikatoren für Strukturen des Wissens, Denkens, Empfindens dar. Zu den Indikatoren von Rezeptionsprozessen gehören nicht zuletzt die Intertextualität (vgl. dazu Broich/Pfister 1985 und Hempfer in diesem Band) und ihre Verwandten, also alle Formen der Referenz von Texten auf andere Texte, auf Gattungen, auf Diskurse, auf Wissens- und Denksysteme.
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12.6. Wenigstens grob muß der Begriff der »Kultur« festgelegt werden, der hier im umfassenden Sinne der Ethnologie verwendet wird (vgl. z.B. Panoff/ Perrin 1973; Posner 1988 und 1988/89): Kultur sei die Gesamtmenge der in einem bestimmten, raumzeitlich begrenzten, sozialen System gegebenen menschlichen regelgeleiteten oder abweichenden - Praktiken und der Strukturen, aus denen diese Praktiken resultieren bzw. die diese Praktiken produzieren. 12.6.1. Bei - für den Betrachter - gegenwärtigen Kulturen kann das Kultursystem auch aus der Beobachtung der zeichenhaften oder nicht-zeichenhaften Praktiken der Kulturmitglieder rekonstruiert werden, soweit das jeweilige kulturelle Teilsystem eine solche Beobachtung zuläßt (aus normativen Gründen können im Regelfalle Formen der Sexualität, aus sachlichen Gründen psychische Akte nicht direkt beobachtet werden). Bei vergangenen Kulturen kann das Kultursystem nur aus den Resultaten solcher Praktiken rekonstruiert werden, soweit diese konserviert sind. 12.6.2. Aus heuristischen Gründen bedarf die Unterscheidung zwischen der von der Kultur entworfenen Welt, dem Bild der »Realität«, im kulturellen Denkund Wissenssystem, und der tatsächlichen Welt, der »Realität« selbst, noch einmal der Hervorhebung. Auf der einen Seite also steht das Denk- und Wissenssystem: die Menge der Annahmen - und der Einstellungen zu diesen Annahmen - über die »Realität«, ob diese nun und inwieweit sie als menschlich beeinflußt (»Kultur«) oder als nicht menschlich beeinflußt (»Natur«) gilt. Die Kultur kann Kulturbedingtes - z.B. Wert- und Normensysteme - für naturbedingt und Naturbedingtes für - ζ. B. durch Magie - kulturbedingt halten. Zu diesen Annahmen über die »Realität« gehören nicht nur die Vorstellungen, wie sie ist, sondern auch, wie sie sein sollte, nicht nur die theoretisch für das Verhalten der Kulturteilnehmer verbindlichen Werte und Normen, sondern auch Vorstellungen darüber, ob und inwieweit diese Werte und Normen von den Individuen bzw. Gruppen der Kultur tatsächlich gelebt werden, d.h. eventuell auch Annahmen über eine Differenz zwischen wünschenswertem Sollzustand und tatsächlichem Istzustand. Die faktische »Realität« ist ein theoretisches Konstrukt: die »kulturelle« und »natürliche« Welt, wie sie »wirklich« ist, unabhängig von Wahrnehmungen und Interpretationen der Kulturteilnehmer; dazu gehören also im kulturellen Bereich die »tatsächlichen« Verhaltensweisen und Verhaltensregularitäten der Individuen und Gruppen und die »tatsächlichen« psychischen und sozialen Strukturen und Prozesse. Diese heuristische Unterscheidung ist in diesem Kontext sinnvoll und notwendig aus einem doppelten Grunde: 12.6.2.1. aus einem methodologischen Grunde, der im Falle einer Rekonstruktion vergangener Kulturen besonders deutlich wird. Denn aus den zeichenhaften Äußerungen (Texten und »Texten«) kann zwar interpretatorisch, soweit es Umfang und Art der konservierten Äußerungen erlauben, das Bild der »Realität« im kulturellen Denk- und Wissenssystem rekonstruiert werden, aber aus diesem Bild der »Realität« kann nicht notwendig und ohne weiteres auf die faktische »Realität« dieser Kultur geschlossen werden. Bild der »Realität« und »Realität« differieren extensional wie intensional: extensional, insofern die Kultur über in
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der »Realität« Nicht-Existentes dennoch etwas denken und wissen kann (z.B. Dämonologien, usw.) bzw. über in der »Realität« Existentes nichts denken und wissen muß (seien es nun eigene psychische oder soziale Strukturen und Prozesse oder solche der »natürlichen« Umwelt); intensional, insofern die Kultur über ihre eigenen Strukturen oder die ihrer Umwelt falschen Annahmen machen kann. Eine Geschichtsschreibung nicht nur des Bildes der »Realität«, sondern der »Realität« selbst bedürfte somit einer zusätzlichen Methodologie, die es erlaubt, aus den kulturellen Äußerungen auf die »Realität« zu schließen, d.h. die zu unterscheiden vermag, welche der ableitbaren »Text«- bzw. Text-Propositionen zugleich auch wahre Aussagen über die faktische »Realität« sind und welche nicht; aus später zu erörternden Gründen (vgl. dazu 16.2.) braucht dieses schwierige methodologische Problem hier aber nicht zu interessieren. 12.6.2.2. aus einem theoretischen Grunde, der die Relationen des literarischen (oder eines anderen kulturellen Teil-)Systems zu denkgeschichtlichen und sozialgeschichtlichen Systemen betrifft. Denn zwar ist der Gegenstandsbereich der Denkgeschichte koextensiv mit der Geschichte dessen, was hier Denk- und Wissenssysteme genannt wird, aber der Gegenstandsbereich der Sozialgeschichte ist nicht koextensiv mit der Geschichte dessen, was hier als »faktische Realität« vom Denk- und Wissenssystem abgegrenzt wird. Zum einen umfaßt der sozialgeschichtliche Gegenstandsbereich nur die Teilmenge »Kultur«, nicht die Teilmenge »Natur« der »faktischen Realität«; wo man z.B. Klimageschichte getrieben hat, gehört nicht diese selbst, sondern nur die Geschichte sozialer und ökonomischer Folgen klimatischer Schwankungen oder Veränderungen zur Sozialgeschichte. Zum anderen sind Denk- und Wissenssysteme natürlich ebenso Teil des sozialen Systems wie die tatsächlichen Praktiken und Strukturen der sozialen »Realität«: und damit legitimer Gegenstand der Sozialgeschichte (was in jüngerer Zeit sowohl die »histoire des mentalites« als die Wissenssoziologie praktiziert haben - und seit eh und je die Ethnologie); wie sehr etwa auch gedachtes und faktisches Sozialsystem extensional wie intensional differieren mögen, interagieren sie natürlich auch. Die Denkgeschichte ist also potentiell auch eine Teilmenge der Sozialgeschichte. Die Relationen seien schematisch festgehalten: 12.6.3. In jedem Kultursystem - in ihrem Bild von der »Realität« im Denken und Wissen einerseits, in ihrer faktischen »Realität« andererseits - lassen sich kulturelle Teilsysteme unterscheiden, deren jedes wiederum verschiedene Subsysteme umfassen mag. Anzahl und Art dieser Teil-/Subsysteme sind ebenso kulturspezifisch/historische Variable wie die (kausalen, funktionalen, logischen, hierarchischen, ideologischen) Relationen zwischen den Teil-/Subsystemen innerhalb der gedachten »Realität«, zwischen den Teil-/Subsystemen innerhalb der faktischen »Realität«, zwischen den Teil-/Subsystemen der gedachten und der faktischen »Realität«. Jedes solche Teil-/Subsystem ist/kann sein ein relativ autonomes System in dem Sinne, daß das System zwar mit anderen interagiert und Daten systemexterner Provenienz zu verarbeiten hat, es aber von seinen eigenen Strukturen abhängt, welche Daten es auf welche Weise verarbeitet. 12.6.4. Insofern ein Teil-/Subsystem der Kultur relativ autonom ist, kann es
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Schaubild 1 Kulturelles Denk- und Wissenssystem: Annahmen über Ereignisse, Verhaltensweisen, Strukturen, Prozesse
vs
Faktische »Realität«: Tatsächliche Ereignisse, Verhaltensweisen, Strukturen, Prozesse
in der
in der
Λ.
Λ
als nicht menschlich beeinflußt geltenden »Realität« (»Natur«)
als menschlich beeinflußt geltenden »Realität« (»Kultur«; u.a.: »gedachtes Sozialsystem«)
»kulturellen Realität« (u.a.: »faktisches Sozialsystem«)
»natürlichen Realität«
Gegenstandsbereich der Denkgeschichte
Gegenstandsbereich der Sozialgeschichte
KULTURSYSTEM
»Natürliche« Rahmenbedingungen der Kultur
demgemäß seine eigene (Teil-)Geschichte haben: die Epochen etwa der Literatur, der bildenden Kunst, der Musik, der religiösen, der philosophischen, der wissenschaftlichen Diskurse, der ökonomischen, der politischen, der sozialen Strukturen müssen nicht zeitlich zusammenfallen; die Prozesse in den Einzelsystemen der Kultur verlaufen nicht notwendig synchron. 12.6.5. Sowohl »Kultur« als »Epoche« bezeichnen zeitlich befristete Systeme, innerhalb derer jeweils bestimmte fundamentale Strukturen konstant bleiben. Der Begriff der Epoche soll dabei für kulturelle Teil-/Subsysteme reserviert bleiben; der Begriff der Kultur soll für die Gesamtmenge dieser Teil-/Subsysteme verwendet werden. Somit kann z.B. von einer Epoche »Barock« gesprochen werden, wenn von einem Teilsystem - der Literatur oder der Malerei oder der Musik oder der Wirtschaft oder der Philosophie usw. - die Rede ist; es kann von einer Kultur des »Barock« gesprochen werden, wenn von der Gesamtheit der kulturellen Teilsysteme - der Literatur und der Malerei und der Musik und der Wirtschaft und der Philosophie usw. - die Rede ist. 13. »Literatur« ist ein kulturelles Teilsystem mit kulturspezifisch/historisch variablen Relationen zu und Abhängigkeiten von anderen kulturellen Teil-/Subsystemen. »Literatur« ist eine kulturelle Redeform ohne spezifischen Gegenstand. »Literatur« gehört zu den »modellbildenden, sekundären, semiotischen Systemen« (Lotman 1972) - »semiotisch«, da sie sich mindestens eines Zeichensystems,
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der Sprache, bedient; »sekundär«, da sie ihr eigenes Zeichensystem aus den Elementen des primären Zeichensystems der natürlichen Sprache über diesem konstruiert; »modellbildend«, da sie Modelle der »Realität« entwirft, wobei sie sich im Prinzip zu jedem beliebigen Teil-/Subsystem der gedachten bzw. faktischen »Realität« direkt oder indirekt äußern kann - inwieweit sie das tut, hängt vom epochenspezifischen Literatursystem ab. 13.1. »Literatur« kann kognitive, affektive, evaluative Bedeutungen vermitteln; sie kann Strukturen oder Prozesse darstellen; sie kann Resultate oder Strategien präsentieren; sie kann Modelle des Handelns, Empfindens, Denkens, Redens vorschlagen bzw. in Frage stellen; sie kann Ideologien, Werte, Normen setzen oder mit ihnen spielen; sie kann Bedeutungssysteme konstruieren oder dekonstruieren; sie kann Bedeutungen vermitteln wollen oder sich für die Prozesse der Konstitution von Bedeutung interessieren. Was immer sie aber macht und wie immer sie es macht, ergibt wieder »Bedeutung«, nur eben unter Umständen Bedeutungen sehr verschiedener Art, sehr verschiedene Komplexität, sehr verschiedenen Abstraktheitsgrades, sehr verschiedener Modalisierung, auf sehr verschiedenen (Meta-)Ebenen: es ist der Beschreibung nur durch Interpretation (wie sie hier verstanden wird) zugänglich und läßt sich logisch notwendig immer nur als Menge der ableitbaren (und aus diesen folgerbaren) Propositionen repräsentieren. Die Unterschiedlichkeit der verschiedenen möglichen Leistungen von Literatur wird damit nicht nivelliert: denn genau die textspezifischen Leistungen sind durch eine textspezifische Menge von (textspezifischen Typen von) Propositionen abzubilden.* 13.2. »Literatur« ist das Produkt kulturellen - mentalen und nicht-mentalen Handelns und kann zu kulturellem Handeln führen: insofern ist sie Teil des faktischen Sozialsystems. Sie entwirft Modelle der »Realität«: insofern ist sie Teil des kulturellen Denksystems. Sie ist also zwar Teil der Denk- und Sozialgeschichte: um aber ihre Relationen zum sonstigen kulturellen Denken und Handeln beschreiben zu können, muß das Teilsystem »Literatur« - als ein relativ autonomes zunächst einmal theoretisch isoliert und ausgegrenzt werden: nur was unterschieden wird, kann verglichen werden, und nur dann kann das System in seinen Relationen zu anderen Systemen und in seinem Stellenwert im Gesamtsystem beschrieben werden. * In 13.1. findet implizit eine doppelte Auseinandersetzung statt. Der Passus ist einerseits meine Antwort auf die Richtung(en), die man »Poststrukturalismus«/»Dekonstruktivismus« genannt hat (vgl. Culler 1988). Bei diesen handelt es sich ganz sicher nicht um eine »Methode« im Sinne von 0.2.1., sondern um Mengen von Theoremen einerseits, Mengen von Fragestellungen andererseits. Insofern es sich um sinnvolle Fragestellungen handelt, sollte, wie ich hoffe, angedeutet zu haben, der hier entworfene theoretische Rahmen weit genug sein, sie in sich zuzulassen und aufzunehmen; insofern es sich um Theoreme handelt, können sie hier natürlich nicht diskutiert werden. Der Passus ist andererseits zugleich meine (naturgemäß rudimentäre) Antwort auf die kritischen Herausforderungen an die Literaturwissenschaft durch die Beiträge von Kloepfer und Landwehr in diesem Band (vgl. dazu dann auch 16.1.): ob ich sie richtig verstanden habe? und falls ja: ob sie die Antwort werden akzeptieren können?
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14. Eine »integrative Literaturgeschichte« ist eine Spezifizierung von »Literaturgeschichte« im allgemeinen; somit ist zunächst dieser Begriff einzuführen, bevor jener eingeführt werden kann. 14.1. Zu rekapitulieren bzw. zu präzisieren ist somit zuerst, was denn überhaupt Datenmaterial und Rekonstruktionsobjekt von Literaturgeschichte sein soll und kann. 14.1.1. Gegenstand der Literaturgeschichte sind primär die Strukturen von Literatur zu einem gegebenen Zeitpunkt und ihre Transformationen in der Zeit. Primäre Datenbasis der Literaturgeschichte sind somit nicht die (zeitgenössischen oder späteren) Rezeptionen literarischer Texte, sondern Interpretationen dieser Texte, in deren Rahmen das zusätzliche Datenmaterial einer Rezeptionsforschung überhaupt erst sinnvoll und fruchtbar ausgewertet werden kann (vgl. 3. und 12.5.). 14.1.2. »Literatur« ist mehr als die Summe ihrer »Meisterwerke«. Eine Geschichte der Literatur eines bestimmten Zeitraums kann nur auf der Gesamtmenge aller literarischen Texte dieses Zeitraums (bzw. auf einem quantitativ wie qualitativ repräsentativen Textkorpus) basieren: aber niemals auf der Teilmenge der privilegierten Texte, die durch deskriptiv nachweisbare, epocheninterne (literarhistorische Relevanz oder durch die evaluative Setzung einer Wertung ausgezeichnet worden sind. Eine zeitlich geordnete Serie interpretierter »Meisterwerke«!»Meisterautoren« mag didaktisch nützliche Funktionen der Literaturvermittlung erfüllen können: eine Geschichte der Literatur ergibt sie selbst dann nicht, wenn durch den Bezug der Interpretationen aufeinander zugleich intra- oder interepochale Konstanzen und Wandlungsprozesse sichtbar gemacht werden sollen. Eine solche Pseudogeschichte bleibt notwendig inkohärent und inadäquat und sie bleibt unverstehbar: denn ihr fehlt der Kontext der (quantitativ weit überwiegenden) Menge der sonstigen literarischen Texte, in deren Rahmen überhaupt erst die privilegierten Texte sinnvoll situiert werden können: jene anderen Texte sind der Rahmen, in dem erst die Leistung der privilegierten Texte beschrieben und beurteilt werden kann; ihre Strukturen, Probleme, Innovations- oder Konservierungsversuche bilden die evolutionären Zwischenglieder und Voraussetzungen für die Problemlösungsversuche der privilegierten Texte. (Zur Vermeidung von Mißverständnissen sei an 0.5.1. erinnert: es geht hier um die Rekonstruktion von Literaturgeschichte, nicht um ihre Darstellung; in der Darstellung mag ein Text oder Autor sehr wohl ein(en) System(zustand) exemplarisch und illustrierend repräsentieren können, aber dazu muß das System bzw. der Systemzustand vorher anhand eines repräsentativen Korpus rekonstruiert worden sein.) 14.1.3. Aber auch die zeitlich geordnete Menge aufeinander bezogener Interpretationen aller literarischen Texte eines Zeitraums ergibt keine Geschichte der Literatur: sie ist, wenn man so will, allenfalls eine Ereignisgeschichte, nicht aber jene Systemgeschichte, die eine Geschichte der Literatur einzig und allein sein kann; diese Ereignisgeschichte ist freilich insofern von zentraler Relevanz, als sie die primäre Datenbasis einer Systemgeschichte ausmacht. Jedes der Ereignisse jeder Text - ist verschieden von jedem anderen und erscheint einer reinen Ereig-
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nisgeschichte somit als neuartig und innovativ: in ihr kann aber weder das Ausmaß der Innovation spezifiziert noch zwischen intraepochal normalen und abweichenden Texten unterschieden werden, noch ist ihr die Differenzierung zwischen Texten, die eine bloße Variation in einem System darstellen, und solchen, die einen Systemwandel initiieren, möglich. Der reinen Ereignisgeschichte präsentiert sich die historische Zeit als homogen und gleichförmig: als quantitatives Kontinuum ohne qualitative Einschnitte, in dem jeder Zeitpunkt gleichrangig ist und wo in jedem Zeitpunkt sich Neues ereignet; sie kann somit der historischen - qualitativen - Zeiterfahrung nicht Rechnung tragen, in der Phasen synchroner Konstanz oder diachroner Transformation unterscheidbar sind. Sie kann somit keinen Wandel beschreiben, da sie keine Dauer kennt. Wo sie dies dennoch tut, motiviert etwa durch Daten der Rezeption und der Intertextualität, auf Grund derer sie, z.B., dem Werther einen innovativ systemverändernden Status zuschreibt, da kann sie einen solchen Status entweder nur als Votum der Zeitgenossen postulieren, ohne selbst Art und Umfang der Innovation und des Wandels bestimmen zu können, oder sie muß von den Vorgängertexten - z.B. - des Werther gemeinsame Merkmale abstrahieren, auf Grund derer erst angegeben werden kann, daß und inwiefern der neue Text von seinen Vorgängern abweicht. Mit anderen Worten: jede Literaturgeschichte, die sich als Ereignisgeschichte präsentiert, aber den Status von Einzeltexten zu bestimmen oder Wandel zu beschreiben versucht, entwirft damit notwendig, eingestanden oder nicht, bewußt oder nicht bewußt, explizit oder implizit, zumindest rudimentär schon ein Literatursystem: Literaturgeschichte ist somit nur als Systemgeschichte möglich. 14.2. Literaturgeschichte ist nun auch möglich als immanente Geschichte des Systems »Literatur« ohne seine Relationen zu den kulturellen Kontexten anderer Teil-/Subsysteme. Eine solche Literaturgeschichte vermag durchaus wissenschaftlich korrekt Strukturen und Transformationen von Literatur zu beschreiben (das folgt unter anderem aus 5.1.), wenngleich natürlich eine integrative Literaturgeschichte, die diese Kontexte mit einbezieht, ihren Gegenstand adäquater und vollständiger (zu diesen Begriffen siehe unter 4.) zu beschreiben vermag. 14.3. Eine integrative Literaturgeschichte ist also eine Systemgeschichte; sie rekonstruiert a) im Rahmen einer Periodisierungs-IEpochen-Hypothese auf der Basis eines quantitativ und qualitativ repräsentativen Korpus das Literatursystem eines bestimmten Zeitraums (und kann im Rahmen dieses Systems dann auch historischen Status, Leistung, Funktion des Einzeltextes im historischen Prozeß bestimmen): b) die Relationen des Literatursystems zu nicht-literarischen Strukturen, zu denkund sozialgeschichtlichen Phänomenen des jeweiligen Kultursystems; c) die Funktion von literarischen Strukturen, Texten, Texttypen, Literatur insgesamt im jeweiligen Kultursystem; d) den Wandel - d.h. Voraussetzungen, Art, Verlauf, Ergebnis der Transformationen - in bzw. von literarischen Systemen im Kontext des jeweiligen Kultursystems.
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15. »Literatursystem« ist ein theoretischer (= theorieabhängiger) Begriff (vgl. Stegmüller 1968ff.), der hier so festgelegt werden soll, daß die Rekonstruktion dieses Systems, im Rahmen der verfügbaren Datenbasis wie der verfügbaren Methodologien, auf keine unüberwindlichen Schwierigkeiten stößt und daß zum anderen das hier skizzierte terminologische System, zu dem auch der Begriff »Literatursystem« gehört, geeignet ist, die Probleme einer integrativen Literaturgeschichte (vgl. 14.3.) zu präzisieren und einen brauchbaren Rahmen zu ihrer Lösung vorzugeben. »Literaturgeschichte« ist nun nur dann möglich, wenn literarische Texte tradiert sind, und sie soll schon dann möglich sein, wenn nur literarische Texte tradiert sind, d.h. auch dann, wenn Informationen über für diese Literatur möglicherweise relevante kulturelle Kontexte (also denk- und sozialgeschichtliche Strukturen) nur unvollständig oder gar nicht verfügbar sind. Das bedeutet, daß der Begriff »Literatursystem« so eingeführt werden muß, daß dieses System allein schon auf der Basis der literarischen Texte rekonstruierbar ist. 15.1. Literatursystem soll somit eine Abstraktion über einer Menge von Systemen, nämlich den interpretierten Texten eines repräsentativen Korpus eines raumzeitlichen Segments, heißen: und zwar die Gesamtmenge der Regularitäten, die für die Texte dieses Systems gelten; das Literatursystem ist also eine (geordnete und hierarchisierte) Menge von Propositionen. Zur Menge dieser Regularitäten gehören auch alle Folgerungen, die (mit oder ohne Zuhilfenahme von kulturellem Wissen) aus diesen Regularitäten gezogen werden können. Diese Regularitäten bilden gewissermaßen die (statistischen und spatiotemporalen) Gesetzmäßigkeiten des Systems (vgl. Eibl 1976 und Eibl in diesem Bande): Sie gelten nicht notwendig ausnahmslos (daher statistisch), und ihre Gültigkeit ist auf ein bestimmtes Raumzeitsegment begrenzt (daher spatiotemporal); wenn diese Regularitäten rekonstruiert sind, erlauben sie für Texte, die diesem System angehören, eine Art retrospektiver Vorhersagbarkeit: »wenn ein Text diesem System angehört, dann gilt für ihn p« oder »wenn ein Text diesem System angehört und wenn in ihm q gilt, dann gilt in ihm auch r«; eine solche Gesetzmäßigkeitshypothese, die auf Grund eines begrenzten Korpus aufgestellt worden ist, kann somit auch an weiteren, dem Korpus nicht angehörenden Texten dieses Literatursystems getestet werden. Der Begriff »Literatursystem« ist einerseits so komplex, andererseits so relevant, daß er einiger weiterer Erläuterungen bedarf. 15.1.1. Was Anzahl und Art solcher Regularitäten betrifft, kann es theoretisch so viele und so vielerlei geben, wie es mögliche Fragestellungen gibt, die sinnvoll an das Textkorpus herangetragen werden können - der Katalog der möglichen Fragestellungen ist aber eine notwendig offene und unabschließbare Liste. Ebenso wie die Vollständigkeit der Interpretationen (vgl. 4.2.) bezeichnet daher auch Vollständigkeit der Rekonstruktion des Literatursystems nur den theoretischen Grenzwert, der praktisch weder erreicht werden kann noch muß. Regularitäten kann es auf allen Textebenen geben, die wir überhaupt, beim jeweiligen Stande der Literaturtheorie, unterscheiden können: Regularitäten auf der Ebene der Zeichen (der Selektion und Kombination der Signifikanten) wie auf der Ebene der Bedeutungen (der Signifikate, die die Texte vermitteln), Regularitäten der Art der
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Konstitution (oder Dekonstruktion) von Bedeutungen mittels Zeichen; Regularitäten der Strategien und Techniken, deren sich die Texte bedienen, wie Regularitäten der Resultate; Regularitäten der Darstellungsakte der Texte wie Regularitäten der dargestellten Welt in den Texten; kurz: zu den Regularitäten können ebenso »strukturbeschreibende« Propositionen wie »bedeutungsabbildende« Propositionen gehören (wobei natürlich nach der semantischen Funktion nicht-semantischer Regularitäten zu fragen ist, d.h. nach Möglichkeit aus strukturbeschreibenden Propositionen im Systemkontext wiederum bedeutungsabbildende abzuleiten sind). Regularitäten kann es bezüglich jeder beliebigen Klasse von Sachverhalten, seien sie kognitiv, affektiv, evaluativ, geben. Regularitäten können die logische Korrelation oder Hierarchisierung zwischen Regularitäten derselben oder verschiedener Ebenen oder Sachverhalte festlegen. Wie viele Regularitäten welcher Art auf welchen Ebenen in welchen Korrelationen und Hierarchisierungen im Korpus existieren, kann nicht prognostiziert werden: alle diese Größen sind systemspezifische Variable. Wenngleich kein Katalog gegeben werden kann, welche Regularitäten möglich sind, seien doch einige wenige - beliebige - Beispiele zur Illustration angedeutet: - Zu den Regularitäten eines Literatursystems (oder literarischen Subsystems) können z.B. Gattungsregeln, Präferenzen für bestimmte Typen von Sprech-, Erzählsituationen (z.B. die Vorliebe des deutschen Realismus für die Einbettung einer retrospektiven (Ich-)Erzählung in eine ebenfalls retrospektive (Ich-) Rahmenerzählung) oder Präferenzen für bestimmte Symbolsysteme (vgl. dazu Link 1984 und Wellbery in diesem Bande) gehören (z.B. die Vorliebe des deutschen Realismus, in der Darstellung des Todes mit bestimmten sekundären Zeichenkomplexen - »Wasser«, »Tiefe«, »Abgrund« - und deren semantischen Implikationen zu arbeiten. - Zu den Regularitäten können solche der Empfindungs-, Denk-, Argumentations·, Verbalisierungsstrukturen, sei es der Sprechinstanz des Textes, sei es der Figuren in der dargestellten Welt des Textes gehören, z.B. Art der und Umgang mit den »Empfindungen«/»Gefühlen« in der deutschen Literatur um die Mitte des 18. Jahrhunderts). - Zu den Regularitäten können explizite oder implizierte kosmologische, theologische, dämonologische, anthropologische Annahmen der Texte gehören. Die anthropologischen Konzeptionen des Textkorpus umfassen wiederum etwa die Annahmen über tatsächliche oder wünschenswerte biologische, psychologische, soziale, ökonomische, politische Strukturen, also z.B. über Geschlechterrollen, Sexualität, Familie, Tod, über das Konzept der Person (ihre Grenze nach außen, die verschiedenen Instanzen in ihr und deren Relationen), über Wert- und Normensysteme, über kognitive, affektive, evaluative Einstellungen, über wünschenswerte und nicht wünschenswerte Verhaltensmodelle. In der Erzählliteratur der Goethezeit z.B. verlaufen »Bildungswege« der Helden nach bestimmten Regeln; in dieser Literatur gibt es auch Regeln, die festlegen, unter welchen Bedingungen es zu inzestuösen Situationen kommt, wovon es abhängt, ob der
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Inzest vollzogen wird oder nicht, und welche Folgen der Vollzug bzw. NichtVollzug hat (Titzmann 1990c). - Zu den Regularitäten können, auf noch abstrakterer Ebene, die Grundbedürfnisse des Systems gehören: die konstanten und in jedem Falle zu lösenden Probleme. So gehört es zu den Grundstrukturen des Aufklärungsdenkens, eine einheitliche, durch möglichst wenige, auf alle Teilbereiche der Welt anwendbare Kategorien strukturierte Realität zu erwarten, deren Ordnung zudem moralisch - »gut« und »gerecht« (»Theodicee«-Problem) - ist. Das Problem ist konstant: wie man es zu lösen versucht, um das Postulat einer solchen Weltordnung zu erfüllen, variiert, je nach dem Entwicklungsstand dieses Denksystems. Wenn etwa der Druck der empirischen Daten zu hoch wird, um eine göttlich gerechte Weltordnung im Hier und Jetzt zu behaupen, hilft die Erfindung der Geschichtsphilosophie: das Postulat einer positiven Entwicklung der Welt zu Fortschritt und Perfektion ermöglicht die Erfüllung des Theodicee-Postulats zumindest für die Zukunft. 15.1.2. »Literatursystem« bedeutet nicht, daß in den Texten, die ihm angehören, alles geregelt sei: sonst gäbe es nur einen Text und nicht die Vielzahl der Texte, aus denen wir ein Gemeinsames erst rekonstruieren müssen. Der Raum des Ungeregelten, wie er sich zum jeweiligen Betrachtungszeitpunkt präsentiert, besteht einerseits aus dem scheinbar Ungeregelten, wo eine Regularität bloß noch nicht erkannt ist, und andererseits aus dem tatsächlich Ungeregelten, wo im System keine Regularität existiert. Im Prozeß der Konstituierung eines neuen Literatursystems S, gegen ein vorangehendes System Sj_i erscheint Sj den Zeitgenossen - vor allem dann, wenn der Wandel als zumindest scheinbar tiefgreifend und diskontinuierlich empfunden wird - gern zunächst als bloße Negation non-Sj.j, die die Regeln von S; zumindest partiell außer Kraft setzt, ohne selbst neue zu schaffen; die neuen Regularitäten von Sj existieren faktisch als Regularitäten erst dann und können erst dann erkannt werden, wenn das neue System von einer hinreichenden Menge von Texten repräsentiert wird, so daß rekurrente Strukturen sichtbar werden. So tritt ja z.B. die Dramatik des »Sturm und Drang« unter den Konzepten von »Genie« und »Originalität« an, die theoretisch totale Individualität, Beliebigkeit, Unvorhersagbarkeit von Richtung und Ausmaß der Abweichung vom vorangehenden System legitimieren würden, wobei diese Freiheit freilich schon durch das kulturelle und ideologische Konzept der »Natur« als Dichtungsnorm eingeschränkt wird: was scheinbar bloße Negation des Vorgängersystems ist, erweist sich aber als System sui generis, in dem eine Vielzahl ideologischer und anthropologischer Regularitäten das Verhalten der Helden und den Verlauf der Handlung steuert. Ein Raum des (scheinbar oder tatsächlich) Ungeregelten kann im System »horizontal« neben der Regelmenge existieren, wenn ein Teilbereich der Darstellungsweise oder des Darstellungsgegenstandes geregelt, ein anderer ungeregelt erscheint; er kann »vertikal« unter oder über der Regelmenge existieren: - »unter« der Regelmenge: denn jede Regularität ist eine Abstraktion und läßt um so mehr verschiedene konkrete Realisationen an der Textoberfläche zu, je
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abstrakter sie ist. Wenn im Märchen etwa eine Handlungseinheit »Ein Handlungsträger erleidet eine Schädigung oder erfährt eine Mangelsituation« auftritt, dann können der Handlungsträger, der Schaden bzw. Mangel, die Operation und ggf. der Kontrahent, durch die sie erlitten bzw. erfahren werden, im konkreten Text inhaltlich sehr verschieden besetzt sein; freilich ist in jedem Falle zu fragen, ob diese Besetzungen nicht selbst wiederum ein System bilden, etwa dadurch, daß kombinatorische Regeln festlegen, welche Besetzung z.B. des Handlungsträgers mit welcher Besetzung z.B. des Schadens oder Mangels zusammen auftreten kann und welche nicht, oder dadurch, daß die Besetzungen einer Kategorie z.B. der des Handlungsträgers, aufgrund ihrer Merkmale selbst ein für die Textklasse relevantes System bilden (vgl. Propp 1972; Levi-Strauss 1973). - »über« der Regelmenge: das ist etwa bei allen bedingten Regularitäten des Systems der Fall, die die Form »wenn in einem Text x/in einem Texttyp χ eine Größe der Art y auftritt, dann gilt von ihr eine Menge von Regeln z« haben, wo zwar geregelt ist, was im Text bzw. Texttyp passiert, falls y vorkommt, aber nicht angegeben werden kann, wovon es abhängt, ob y vorkommt. Das gilt etwa für den Inzest in der Goethezeit. Alle Gattungsregeln, z.B. Normierungen, die für barocke und klassizistisch orientierte Tragödien und Komödien etwa den sozialen Status der Handlungsträger oder Sprachform und Sprachniveau festlegen, oder Regeln des Handlungsverlaufs, wie sie sich für das barocke Märtyrerdrama oder zentrale Dramentypen des Sturm und Drang wie des Expressionismus formulieren lassen, sind ebenfalls solche bedingte Regularitäten: sie gelten, wenn dieser Texttyp, eines der möglichen Subsysteme des Literatursystems, gewählt wird. Das Ausmaß der Abstraktion von der Textoberfläche, das erforderlich ist, um überhaupt Regularitäten zu entdecken, und die Relation zwischen dem Geregelten und dem Ungeregelten im System sind jedenfalls signifikante Größen: signifikant für das System oder für den Erkenntnisstand. 15.1.3. Nicht alle Texte des Raumzeitsegments müssen nun dem rekonstruierbaren Literatursystem angehören, das seinerseits aus Subsystemen mit komplexen Relationen untereinander bestehen kann. 15.1.3.1. Texte, die dem Literatursystem nicht angehören, weil sie dessen fundamentale Regularitäten partiell oder total nicht erfüllen, können entweder abweichend-singuläre Ausnahmetexte, die sich keinem Literatursystem eindeutig subsumieren lassen, oder Texte eines alternativen Literatursystems sein, z.B. etwa späte Exemplare eines in Destruktion begriffenen Systems oder frühe Exemplare eines in Konstitution begriffenen Systems. Quantitatives und qualitatives Ausmaß und temporale Distribution der abweichend-singulären Texte sind für das Literatursystem signifikante Größen, insofern der Grad möglicher Abweichung vom System Aussagen über den Status des Systems erlaubt. Solche Texte, aus denen sich kein neues System konstituiert und die (in diesem Sinne) folgenlos sind, sind wohl am ehesten in Krisen- bzw. Experimentierphasen zu erwarten; zu
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solchen Texten mag in der Goethezeit etwa Goethes Faust II gehören. Alte und neue Systeme koexistieren in den Phasen der Ablösung und des Übergangs; »Epoche« soll der Zeitraum heißen, in dem ein Literatursystem dominant ist. 15.1.3.2. In Literatursystemen lassen sich wie in anderen Systemen auch Subsysteme und Systemzustände unterscheiden. Alternative, aber nicht konkurrierende Subsysteme, die im Gesamt- oder einem Teilzeitraum konstant bleiben, stellen etwa die im System unterschiedenen Gattungen/Texttypen dar. Alternative, aber nicht konkurrierende Systemzustände sind etwa die sukzessiven Phasen eines Systems, so etwa »Sturm und Drang« und »Klassik« in der Goethezeit. Alternative und konkurrierende Subsysteme bzw. Systemzustände stellen z.B. simultan koexistierende »Richtungen« innerhalb desselben Literatursystems dar; so entstehen in der Goethezeit »Klassik« und »Romantik« zwar nacheinander, koexistieren aber lange nebeneinander; so ist das unglücklich als »Biedermeier« benannte Literatursystem zwischen Goethezeit und Realismus durch die Konkurrenz formal wie ideologisch alternativer Subsysteme bzw. Systemzustände charakterisiert, die sich, grob schematisiert und ohne Bewertung gemeint, als »konservativ«, »liberal«, »revolutionär« umschreiben lassen. Zwei Subsysteme/Systemzustände S; und Sj, die logisch sukzessiv sind, weil Sj von Sj präsupponiert wird und Sj auf Si reagiert, können im übrigen chronologisch simultan koexistieren (vgl. Smirnov in diesem Bande). Als solche Beziehung ist eventuell die Relation von »Klassik« und »Romantik« beschreibbar. Ein einfaches Beispiel dafür liefert das Denksystem der Aufklärung, das sich aus seiner eigenen Logik heraus notwendig transformiert: Dabei wird jeder neue Schritt nur von einem Teil der Aufklärer mitvollzogen: wo zu tx ein Zustand Α existiert, haben wir zu t 2 Α und die weiterentwickelte Position B, zu t 3 schließlich Α und Β und C, so daß das System »Aufklärung« sich in koexistente, aber logisch sukzessive Positionen ausdifferenziert, zwischen denen dann auch, vor allem im letzten Drittel des Jahrhunderts, konsequenterweise intern um die Grenzen von Aufklärung gestritten wird. 15.1.3.3. In einem Raumzeitsegment können, wenn ein älteres Literatursystem noch oder ein neueres Literatursystem schon existiert, zwei Literatursysteme koexistieren, insofern beide logisch sukzessiv sind; es können aber nicht zwei logisch simultane Literatursysteme koexistieren. Wenn dieser Fall scheinbar vorliegt, handelt es sich um zwei synchrone Subsysteme desselben Literatursystems, wie heterogen sie auch scheinen mögen. Denn zu jedem Zeitpunkt funktionieren Literatursysteme und ihre Transformationen vor dem Hintergrund des kulturellen Denkens und Wissens, und das heißt: im Rahmen einer mehr oder weniger umfänglichen Menge gemeinsamer Prämissen. Das wiederum bedeutet, daß zwei solche Systeme insofern notwendig logisch aufeinanderbezogen sind, als sie zumindest auf der Ebene der Probleme, die sie zu lösen versuchen, korreliert sind und in der Kultur als komplementäre Varianten fungieren. Entweder teilen sie zumindest die Probleme, auch wenn sie verschiedene Lösungen für sie vorschlagen; oder sie versuchen, verschiedene Probleme zu lösen, zwischen denen aber im Denk- und Wissenssystem notwendig eine wie auch immer geartete Relation besteht. So zerfällt die Literatur der Übergangsphase zwischen »Goethezeit« und
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»Realismus«, das »Biedermeier«, nur scheinbar in heterogene Texte und Richtungen, die sich als alternative und konkurierende Systeme präsentieren. Sie stellen verschiedene Lösungsversuche der Probleme dar, die für diese Phase aus Krise und Zerfall des Denksystems einerseits, des Literatursystems andererseits der Goethezeit resultieren, wobei die Vielzahl, Heterogenität, Richtung der Lösungsversuche selbst zunächst von den Strukturen der zerfallenen Systeme bestimmt ist. Erst in einer Serie von Experimenten, bei denen sukzessiv die aus der Goethezeit ererbten Grundbedürfnisse aufgegeben werden, die sich als nunmehr unlösbare Probleme herausstellen, kann sich dann das neue - sehr stabile - System etablieren, das wir als »Realismus« kennen. Ich verdeutliche die in 15.1.3. getroffenen Unterscheidungen in einem Schema: Schaubild 2 Sukzessive »Epochen«
Si_i dominant χ
Sj dominant
S,+i dominant
A
κ
II—
•χ
II-
Literatursystem S n
Zeitachse
Literatursystem Sj+i 2a
St si
Si
Literatursystem Si:
2b
sukzessive Systemzustände: s ' , sf, sf. simultane Systemzustände: Sf, S?.
keinem Literatursystem zugehörige Einzeltexte
Legende:
Konstituierungs- bzw. Destruierungsphasen des Literatursystems II Phasengrenzen I Subsystemgrenzen
15.1.4. Die hier vorgenommene Festlegung des Begriffs »Literatursystem« impliziert, daß einige für Literatur relevante Faktoren nicht dem Literatursystem selbst zugerechnet werden. 15.1.4.1. Nicht zum Literatursystem gehörig sind demnach die Individuen und Institutionen, die Produktion, Distribution, Rezeption von Literatur tragen bzw. kontrollieren. Zwar existieren sie im jeweiligen Kultursystem real, aber einer historisch-rekonstruktiven Methodologie sind sie keine unmittelbare Gegebenheit
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wie die (literarischen oder nicht-literarischen) Texte, sondern können selbst erst und nur aus Texten erschlossen werden, soweit solche Texte tradiert sind, aus denen sich derartige Informationen folgern lassen. Diese Individuen und Institutionen aus den Texten zu erschließen, erfordert zudem jene Methodologie, die aus Texten auf Realitäten folgert (vgl. 12.6.2.), mit deren Probleme ich die Literaturwissenschaft/Literaturgeschichte nicht belasten möchte. 15.1.4.2. Nicht zum Literatursystem gehörig, aber für das Literatursystem charakteristisch (und somit, falls möglich, zu rekonstruieren) sind: a) die vom Literatursystem vorausgesetzten kulturellen Wissensmengen und Denkstrukturen, die nicht aus den literarischen Texten selbst, sondern nur aus anderen Texten bzw. Diskursen erschlossen werden können; soweit sie hingegen aus Literatur selbst schon ableitbar sind, gehören sie selbstverständlich (auch) zum Literatursystem. Die Menge solcher vorausgesetzter, aus der Literatur nicht ableitbarer kultureller Propositionen soll deshalb vom Literatursystem ausgegrenzt werden, um nicht eine adäquate Rekonstruktion des Literatursystems an die Bedingung einer (partiellen oder totalen) Rekonstruktion der gesamten Kultur zu binden und damit zugleich von der Verfügbarkeit ausreichender Daten zur Kulturrekonstruktion abhängig zu machen. Die Literatur setzt solche Propositionen insoweit voraus, als aus ihr selbst Propositionen ableitbar sind, deren Wahrheit bzw. Verstehbarkeit für die Zeitgenossen von der Wahrheit einer solchen kulturellen Proposition(smenge) abhängt oder deren Aussage einer expliziten oder impliziten (bestätigenden, verneinenden, modifizierenden, relativierenden, usw.) Stellungnahme zu einer kulturellen Proposition(smenge) äquivalent ist. b) die Abhängigkeitsrelationen des Literatursystems gegenüber kulturellen Diskursen (z.B. poetologischen, moralphilosophischen, theologischen, usw.), die die Menge der möglichen literarischen Strukturen begrenzen, d.h. mehr oder weniger festlegen, was in den Texten des Literatursystems zulässig oder nicht zulässig ist, gleichgültig, ob sich das Literatursystem solchen Diskursen freiwillig unterwirft (wie z.B. der Naturalismus bestimmten wissenschaftlichen Diskursen) oder ihnen unfreiwillig unterworfen ist (wie z.B. die Literatur zur Zeit der Aufklärung da, wo sie etwa bezüglich sexueller oder theologischer Sachverhalte abweichend denkt, den normierenden Diskursen doch soweit unterworfen ist, daß sie zu Strategien wie Verschleierung, Selbstrelativierung und Entschuldigung, Anonymität usw. greifen muß). Die Ausgrenzung solcher Abhängigkeiten geschieht aus demselben praktischen Grunde wie die Ausgrenzung vorausgesetzter Wissensmengen und Denkstrukturen. 15.2. Das Konzept »System« löst teilweise in den Humanwissenschaften noch immer gern und leicht Befürchtungen und Mißverständnisse aus; der Versuch, sie auszuräumen, lohnt um so mehr, als diese Probleme nicht nur das Literatursystem, sondern völlig analog, auch alle anderen kulturellen (Teil-/Sub-)Systeme betreffen, von denen die Rede war und sein wird. 15.2.1. In einem Raumzeitsegment gegeben sind Texte, nicht Systeme, wie in der Natur Lebewesen gegeben sind, nicht aber jene komplexen Systeme, als die
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sie sich in der biologischen Beschreibung erweisen. Jedes System ist ein Konstrukt, das wir über einer Datenmenge durch Abstraktion errichten. Wenn dieses Konstrukt aber zum einen die wissenschaftlichen Normen erfüllt, wenn es zum anderen nachweisbare Regularitäten und nachweisbare Relationen zwischen diesen Regularitäten beschreibt, ist es, in eben dem Umfang, als es dies tut, die adäquate Rekonstruktion einer Realität. Was im Falle der kulturellen und literarischen Systeme rekonstruiert wird, ist nicht der Bewußtseinsinhalt der produzierenden oder rezipierenden Subjekte, denen diese Regularitäten partiell bewußt sein mögen (womit sie zugleich zu Elementen des kulturellen Wissens werden), aber nicht bewußt sein müssen. Insofern sie sich an der Textmenge nachweisen lassen, existieren sie gleichwohl und haben Folgen auch da, wo sie nicht bewußt werden. Sie werden ähnlich den Regeln des Sprachsystems oder den Regeln des kulturellen Denksystems anhand von Beispielen erlernt, denen ein normierender oder modellhafter Charakter von den kommunizierenden Subjekten explizit oder implizit zugeschrieben wird. Aufgrund eines bestimmten Zustande des gegebenen Literatursystems und des gegebenen Denksystems werden z.B. Goethes Götz oder Werther zumindest von einer kulturellen Teilgruppe positiv rezipiert und akzeptiert und werden modellbildend, indem sie Nachfolgetexte auslösen: in der Sukzession dieser Texte konstituiert sich dann ein Literatursystem »Sturm und Drang«. 15.2.2. Jeder der sukzessiven Texte des Raumzeitsegments ist von jedem anderen verschieden. Das Literatursystem abstrahiert von dieser Individualität, und das aus doppeltem Rechte. Die Individualität der Texte rekonstruiert die Interpretation; die Literaturgeschichtsschreibung abstrahiert von diesen Individualitäten ein kollektives System: zum einen geht die Individualität der Texte also nicht verloren, insofern sie Voraussetzung für die Systemrekonstruktion ist; zum anderen erlaubt überhaupt erst diese Systemrekonstruktion, Art und Grad der Individualität und der eventuellen Innovation der Texte zu bestimmen. Erst die Systemgeschichte kann den Platz, die Leistung, die Funktion des individuellen Textes in der Serie seiner Vorgänger und Nachfolger beschreiben; erst sie kann angeben, ob das Spezifische des Textes nur eine neue Variante desselben System(zustand)s ist oder ob es Vertreter eines neuen Systemzustands oder gar Systems ist, zu dessen Genese der Text vielleicht wesentlich beigetragen hat. Rekonstruktion der Individualität und Rekonstruktion des Systems sind also keine sich ausschließenden Alternativen, sondern bedingen einander und sind nur zusammen möglich. 15.2.3. Zu jedem Zeitpunkt können im Prinzip vom Literatursystem abweichende, d.h. seine fundamentalen Regularitäten verletztende Texte produziert werden. Es bedarf dazu nur eines Subjekts, das aufgrund seiner psychischen oder sozialen Bedingungen entweder die Regularitäten des Systems nicht erlernt hat oder sich darüber hinwegzusetzen bereit ist. Das Auftreten einer individuellen Abweichung, eines singulären Textes, kann weder jemals ausgeschlossen noch vorhergesagt werden: ein solches Einzelereignis erscheint aus der Perspektive der Literaturgeschichte als unkontrollierbar und zufällig (wie sehr es auch in der Bio-
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graphie des Subjektes motiviert oder determiniert sein mag). Nicht zufällig hingegen ist es, wenn ein solcher singulärer Text rezipiert und akzeptiert wird oder gar modellbildend für Folgetexte wird: solche Akzeptanz zunächst singulärer Texte ist notwendig eine Funktion des Zustandes des Denk- bzw. Literatursystems. Ob die zunächst singuläre Abweichung eine solche bleibt oder eine Serie vergleichbarer Abweichungen inauguriert, aus denen ein neues Literatursystem abstrahierbar ist, wie dies bei Goethes Götz bzw. Werther der Fall war, hängt von rekonstruierbaren Strukturen dieser Systeme ab: von ihnen hängt es ab, ob eine theoretisch denkbare systeminterne oder systemsprengende kreative Innovation akzeptiert wird. Als Serie individueller Texte ist Literaturgeschichte zufällig, als Systemgeschichte ist sie motiviert. 15.2.4. Das System ist keine statische Größe: nicht nur konstituiert oder destruiert es sich in komplexen Prozessen, sondern es ist immer durch Prozessualität charakterisiert. Jeder Text ist neu und anders und seine individuelle Spezifizität kann einen neuen Systemzustand oder ein neues System einleiten, falls das System für einen solchen Wandel in diesem Zeitpunkt anfällig ist. 15.2.5. Das System ist keine geschlossene Größe: es interagiert in jedem Moment seiner Existenz auf eine für den Systemzustand charakteristische Weise mit seiner kulturellen Umwelt und ist dieser gegenüber immer nur partiell autonom, weil es immer partiell offen ist. Eine relative Autonomie hat das Literatursystem nur in genau dem Ausmaß, in dem es literaturspezifische Regularitäten in ihm gibt, die es von anderen kulturellen (Teil-/Sub-)Systemen unterscheiden und in dem diese Regularitäten resistent gegenüber den Strukturen und Transformationen dieser Umwelt sind. 15.2.6. Das System ist keine notwendig widerspruchsfreie Größe: zwischen den Propositionen, als die sich die Merkmale bzw. Regularitäten des Systems in der Rekonstruktion des Systems präsentieren, sind manifeste oder latente Widersprüche möglich. Zu solchen Widersprüchen in einem (Teil-/Sub-)System kann es mindestens auf die folgenden Weisen kommen: a) Das System kann sich schon seit seiner und durch seine Genese mit koexistenten, aber widersprüchlichen Bedürfnissen konfrontiert sehen. Ein Beispiel liefert etwa der »Bildungsroman« der Goethezeit, der auf dem Denksystem der Aufklärung basiert. Seinem Helden ist einerseits Entwicklung zur Autonomie als Ziel vorgegeben; dieser Autonomie steht andererseits ein Heteronomiebedürfnis gegenüber, das die Autonomie mindestens durch die Unterwerfung der Subjekte unter ein konstant gehaltenes Normensystem begrenzt. Was entsteht, ist ein instabiles Subsystem immer neuer Kompromißbildungsversuche zwischen beiden Bedürfnissen, ein Zwang zur beständigen Transformation, da im System keine befriedigende Problemlösung möglich ist. Innerhalb des Renaissance-Systems des späten 15. und frühen 16. Jahrhunderts widersprechen sich eine Tendenz zur Legitimation von Individualität, Abweichung, Autonomie, die zur Neigung zur Transgression führen, und die Tendenz zu rationaler und kontrollierter Durchorganisation und Normierung der Welt, von denen sich im Barock die letztere durchsetzt, in einem Akt der Domestikation des Selbst und
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der anderen, da sich die erstere Tendenz schon in Reformation und Gegenreformation als angstauslösend erwiesen hat (vgl. Titzmann 1990f). b) Das System kann sich aufgrund seiner Prozessualität allmählich in logische Dilemmata verstricken: seine eigenen Prämissen führen dann dazu, daß das ursprünglich widerspruchsfreie System sich so transformiert, daß es zu systeminternen Widersprüchen kommt. So hat die Frühaufklärung im Glauben an ihr Postulat einer rationalen Deduzierbarkeit einer ebenso rationalen Weltordnung die Relevanz empirischer Daten einräumen können, da diese die Deduktion nur bestätigen zu können schienen; genau diese Legitimation empirischinduktiver Argumente führt in der mittleren Aufklärung aber zur Krise des Theodic£e-Postulats: zum Widerspruch von wahrnehmbarer Wirklichkeit und postulierter Weltordnung, der dann durch die Erfindung der Geschichtsphilosophie bewältigt wird (vgl. 15.1.1.). Die Transformationen des Systems, dem man selbst angehört, können auch zu Widersprüchen zwischen der Ebene des Gedachten, der expliziten Ideologie, und der Ebene des Gelebten, der faktisch praktizierten mentalen Einstellungen führen. Wenn sich in der mittleren Aufklärung etwa ein Haller oder Geliert theoretisch zu ihrem Glaubensbekenntnis äußern, halten sie eher traditionell eine orthodoxe theologische Position fest; wo sie in ihren literarischen Texten an Sprechern oder Figuren religiöse Einstellungen illustrieren, geraten ihnen diese eher in heterodoxe aufklärerischdeistische Richtung. Auf der theoretischen Ebene gilt noch das Alte, mental wird schon das Neue gelebt. Die Radikalisierung der Positionen in der späten Aufklärung führt geradezu zu einer Umkehrung: das frühere Neue ist jetzt das Alte geworden; mental wird noch das alte Neue gelebt, während man theoretisch das neue Neue postuliert - und im Gegensatz zur mittleren Aufklärung, wo diese subjektinternen Widersprüche latent blieben, sind sie zudem in der späten Aufklärung manifest, explizit, bewußt geworden, was niemand schöner als Schiller in seinem Gedicht Freygeisterei der Leidenschaft thematisiert hat. c) Das System kann ein in ihm entstandenes Problem zu lösen versuchen; im Rahmen des Systems können dabei alternative und oppositionelle Lösungen zugleich möglich sein, so daß es zur Entstehung logisch unvereinbarer, konkurrender Subsysteme kommt. Krise und Zerfall des Goethezeit-Systems führen etwa im »Biedermeier« zur ideologischen Ausdifferenzierung in logisch nicht kompatible Subsysteme, obwohl aus der Goethezeit das Bedürfnis nach Einheit und Harmonie erhalten geblieben ist, was sich hier, nur scheinbar paradox, als Intoleranz gegenüber konkurrierenden Positionen manifestiert. 16. Nachdem der Begriff »Literatursystem« festgelegt ist, sind im nächsten Schritt die Interaktionen zwischen Literatur und ihrer Umwelt zu präzisieren, die definitionsgemäß zu den Gegenständen einer integrativen Literaturgeschichte gehören. Die Relationen zwischen den Strukturen literarischer Texte oder literarischer (Sub-)Systeme und den denkgeschichtlichen Strukturen einerseits, den sozialgeschichtlichen Strukturen andererseits, haben seit über einem Jahrzehnt gesteigertes Interesse in der Forschung gefunden, wobei freilich explizite theoreti-
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sehe Reflektionen über diese Relationen eher selten waren; hervorzuheben ist hier insbesondere die Münchner Forschergruppe, die sich um eine theoretische Fundierung der Relationen von Literatur zu sozialgeschichtlichen Strukturen bemüht und dabei auch den literatur- wie sozialwissenschaftlichen Forschungsstand ausgewertet hat (vgl. Schönert 1985; Pfau/Schönert 1988; Meyer/Ort 1988; Schönert 1990; Ort 1985 und 1990 und Ort in diesem Bande; vgl. auch Jäger in diesem Bande). 16.1. Bedingt durch das Zeichensystem »Sprache«, dessen sie sich bedient, kann es Literatur, auch wenn sie es in einigen wenigen Extremfällen versucht hat, praktisch gar nicht vermeiden, explizit oder implizit Aussagen über die Welt zu machen, Behauptungen auf- oder infragezustellen; diese kognitiv-bedeutungsvermittelnde Dimension kann zwar im Dienste anderer Dimensionen funktionalisiert werden: zu entgehen ist ihr kaum. Da Literatur keinen fest definierten Gegenstand hat, sind in ihr Äußerungen zu beliebigen Klassen möglicher und nichtmöglicher »Realitäten« denkbar, sofern nicht das jeweilige Literatursystem eine Begrenzung der möglichen Gegenstandsklassen literarischer Rede vornimmt. Soweit die Gegenstandsklassen einer literarischen Äußerung nun mit den Gegenstandsklassen der theoretischen Texte und Diskurse, aus denen sich das kulturelle Denk- und Wissenssystem abstrahieren und rekonstruieren läßt, sich überschneiden, was unvermeidlich immer, wenn auch in wechselndem Umfang, der Fall ist, ergibt sich notwendig immer eine Menge von Relationen zwischen Propositionen des literarischen Textes oder Literatursystems und Propositionen des Denk- und Wissenssystems: in beiden Klassen von Äußerungen versuchen schließlich Subjekte die Welt, in der sie leben, zu bewältigen. Daß immer eine unmittelbare Relation zwischen Literaturgeschichte und Denkgeschichte existiert, ist unvermeidlich und trivial. 16.2. Zu jedem Zeitpunkt, wo »Realität« wahrgenommen und »Literatur« produziert oder rezipiert wird, existiert aber immer schon ein kulturelles System des Denkens und Wissens, dessen Vermittlung durch Texte und Diskurse schon in der primären Sozialisation der Subjekte einsetzt. Wenn es nun von diesem System abhängt (vgl. 12.4.1.), was in der »Realität« wahrgenommen wird, wie es wahrgenommen wird, wie es interpretiert wird, ob und welche theoretischen Folgerungen daraus gezogen werden, ob und welche praktischen Konsequenzen daraus resultieren, dann gibt es keine unmittelbare Relation zwischen Literaturgeschichte und der faktischen »Realität« der kulturellen und natürlichen Umwelt. Für die Geschichte der Literatur ist es also gleichgültig, was in der faktischen »Realität« tatsächlich stattfand und wie sie tatsächlich beschaffen war: Für die Geschichte der Literatur ist nur wichtig, wie die faktische »Realität« im kulturellen Denk- und Wissenssystem wahrgenommen und interpretiert wurde. Nicht die Französische Revolution oder der Erste Weltkrieg haben transformierende Folgen für das Literatursystem, sondern nur - und allenfalls - die vom Denksystem bedingte und gesteuerte Verarbeitung solcher Ereignisse im kulturellen Wissen. Was den Umgang der »Literatur« mit der »Realität« anlangt, sind also nicht »Literatur« und »Realität« zu vergleichen, sondern »Literatur« und kulturelles Denken und Wis-
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sen über die »Realität«: Die faktische »Realität« ist zwar relevant für eine Geschichte der Denk- und Wissenssysteme, nicht aber für eine Geschichte der Literatursysteme. Wenn eine Differenz zwischen faktischer »Realität« und kulturellem Denken über diese »Realität« besteht und wenn ein kulturell abweichendes Subjekt diese faktische »Realität« adäquat in einem literarischen Text darstellen würde, dann würde dieser Text notwendig als eine merkwürdige Fiktion rezipiert. Was historisch wirklich war, ist also nicht wichtig für Literaturgeschichte: für sie ist wichtig nur, was darüber gedacht wurde. 16.3. Eine Relation der Literaturgeschichte zur Sozialgeschichte ist also nur genau insoweit zu integrieren, als die Sozialgeschichte selbst Denkgeschichte ist (vgl. die Unterscheidungen in 12.6.2., insbesondere 12.6.2.2.). Eine adäquate Darstellung der epochen- bzw. literatursystem- bzw. textspezifischen Relationen zwischen Literatur und Sozialgeschichte ist also nichts anderes als eine adäquate Darstellung der Relationen zwischen Literatur und Denkgeschichte unter Einbeziehung sozialgeschichtlicher Fragestellungen, d.h. der Rekonstruktion dessen, was das kulturelle Denk- und Wissenssystem über solche sozialgeschichtlichen Sachverhalte angenommen hat. Eine integrative Literaturgeschichte macht in der Zeit, was die Ethnologie im Räume macht: eine Rekonstruktion fremder Kulturen. Sie ist nicht zuletzt ein Beitrag zu einer historischen Ethnologie des Empfindens, Denkens, Redens einer vergangenen Kultur. 16.4. Literatur wird zwar im Rahmen eines bestimmten Denk- und Wissenssystems produziert, aber sie trägt selbst auch zu diesem bei: In ihr kann u.U. empfunden, gedacht, geredet werden, was im Denk- und Wissenssystem nicht mehr oder noch nicht empfunden, gedacht, geredet werden kann; sie kann sich über Klassen von »Realitäten« äußern, über die sich die theoretischen Texte und Diskurse nicht äußern, und sie kann sich über Klassen von »Realitäten«, über die sich auch theoretische Texte und Diskurse äußern, von diesen abweichend äußern. Ob und in welchem Ausmaß solche Differenzen zwischen Literatursystem und Denksystem möglich sind, hängt von der kulturspezifischen Regelung der Beziehung beider ab: Ob und in welchem Ausmaß der Literatur eine relative Autonomie gegenüber den kulturellen Diskursen eingeräumt wird. Wo etwa die deutsche Literatur zur Zeit der frühen und mittleren Aufklärung aufgrund ihrer Relationen zum Diskurstyp »Aufklärung« eher applizierende, illustrierende, einübende Funktionen für das Denksystem der Kultur erfüllte, da erfüllt sie in der Spätaufklärung/Goethezeit eher komplementäre Funktionen (vgl. Eibl in diesem Bande): Sie wendet nicht mehr nur Wissenselemente und Denkstrukturen theoretischer Diskurse auf mögliche Welten an, sondern sie ergänzt das Denken der theoretischen Diskurse - sie denkt das, was in den Diskursen nicht mehr oder noch nicht legitim gedacht werden darf oder kann; eine für das Kultursystem funktionale Ausdifferenzierung und Arbeitsteilung ist eingetreten. Die Funktionen literarischer Strukturen im Kultursystem hängen ab von und sind erschließbar aus den epochenspezifischen Relationen der Strukturen des Literatursystems - der von ihm transportierten Bedeutungsmengen, der Modi der Bedeutungsvermittlung, den nicht-bedeutungshaften Strukturen - zum jeweiligen Denksystem und zu
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den Texten und Diskursen, die es transportieren. Funktionen sind die Leistungen, die ein Teil-/Subsystem aufgrund seiner Relationen zu anderen Teil-/Subsystemen für das jeweilige übergeordnete Gesamtsystem erbringt (vgl. Jäger in diesem Bande). Die Frage nach der Funktion von Literatur in einer kulturellen Phase kann somit erst nach der Rekonstruktion des Literatursystems und des Denksystems beantwortet werden. Die literarischen Strukturen haben zum einen literaturinterne Funktionen, die Bestandteil adäquater Literaturinterpretation sind: so Teilstrukturen eines Textes bezogen auf die Gesamtstruktur, bezogen auf Gattung/Texttyp, bezogen auf das Literatursystem. Die literarischen Strukturen Teilstrukturen von Texten, Textgesamtstrukturen, Gattungsstrukturen, Strukturen des Literatursystems insgesamt - haben zum anderen literaturexterne Funktionen, die erst aufgrund der Relationen zum kulturellen Denksystem rekonstruierbar sind. Jede literarische Struktur (Textteilstruktur, Textgesamtstruktur, Gattungsstruktur, Struktur eines Subsystems, Strukturen des Literatursystems insgesamt) ist also literaturintern wie literaturextern polyfunktional: Jeder solchen Struktur entspricht ein ganzes Bündel verschiedener, teils untereinander korrelierter und hierarchisierter Funktionen. So kann etwa die Menge der kulturell relevanten Funktionen der Häufung inzestuöser Situationen in der Literatur der Goethezeit und des Systems ihrer Regularitäten in seiner Korrelation zum Literatursystem und zu verschiedenen kulturellen Diskursen und Wissensmengen rekonstruiert werden (vgl. Titzmann 1990c). 17. Ein Wandel literarischer Strukturen findet nun statt, wenn sich eine Transformation der Menge der systemkonstitutiven Propositionen ereignet, d.h. wenn aus dieser Menge von Propositionen eine Teilmenge getilgt wird, d.h. daß bestimmte Regularitäten nicht mehr für die Texte des Systems gelten (und bisher Geregeltes nicht mehr geregelt ist), oder hinzugefügt wird, d.h. daß zusätzliche Regularitäten von den Texten des Systems erfüllt werden müssen (und bisher Ungeregeltes geregelt wird), oder verändert wird, d.h. daß Regularitäten inhaltlich partiell durch Tilgung oder Hinzufügung von Elementen modifiziert oder formal durch Veränderungen ihrer Gültigkeitsbedingungen modalisiert werden, oder ausgetauscht wird, d.h. daß Regularitäten durch andere substituiert werden, oder wenn eine beliebige Kombination dieser Operationen vollzogen wird. 17.1. Variation im System und Transformation des Systems können demnach formal so voneinander abgegrenzt werden, daß die Variation zwar innovativ ist, aber im Rahmen der systemkonstitutiven Regularitäten verbleibt, die sie nicht verletzt, während beim Wandel die Innovation die Systemgrenzen überschreitet, Regularitäten verletzt und außer Kraft setzt. Jeder neue Text stellt auch eine neue Variante im System dar, insofern er von jedem seiner Vorgänger unterschieden ist, wozu er nur den Raum des im System Ungeregelten ausnutzen muß; nur wenige Texte verletzen die systemkonstitutiven Regeln so, daß sie als Träger einer Systemtransformation überhaupt in Betracht kommen. 17.2. Unter den Systemtransformationen kann wiederum zwischen einem systemimmanenten Strukturwandel, der zu einem neuen Systemzustand innerhalb
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des Systems führt, und einem systemtranszendierenden Strukturwandel, der zu einem neuen System außerhalb des bisherigen Systems führt, unterschieden werden. Ob eine Verletzung der Systemregularitäten einen neuen Zustand oder ein neues System inauguriert, hängt von der Quantität und der Qualität der Teilmenge der Regularitäten ab, die verletzt werden, d.h. vom Umfang der betroffenen Menge von Propositionen einerseits, vom hierarchischen Rang dieser Propositionen andererseits: ob es sich um fundamentale oder sekundäre, um universell im System oder nur partiell in bestimmten Subsystemen gültige Regularitäten handelt. Ein genaueres Kriterium zur Unterscheidung von Systemzuständen und Systemen könnte nur im Rahmen einer Methodologie literarhistorischer Rekonstruktion anhand konkreter Beispiele für Wandlungsprozesse entwickelt werden. 17.3. Literarische Wandlungsprozesse können auf verschiedenen Ebenen stattfinden: in einem Autorenoeuvre (vgl. z.B. Wünsch 1975; in diesem Band: H. Zeller), so daß die Texte einer früheren und einer späteren Phase jeweils verschiedene Systeme bilden (vgl. z.B. Autoren wie Goethe, Hölderlin, C. F. Meyer usw.), in einer Gattung (vgl. z.B. in diesem Band: Hempfer, Regn, R. Zeller, Hansen, Meyer, Smirnov, Laufhütte) oder einem anderen Subsystem des Literatursystems (vgl. z.B. in diesem Bande: Pfister, Wellbery, Hoffmann), schließlich im Literatursystem als ganzem selbst (vgl. z.B. in diesem Bande: Wünsch, Jäger; Titzmann 1990e und f). Die theoretischen und methdologischen Probleme des Wandels sind aber immer dieselben, auf welcher Ebene er auch stattfindet: Ein abstrahierbares System, das mit einer Umwelt - anderen Systemen - interagiert, transformiert sich zu einem neuen Zustand oder neuem System. Alle diese Varianten literarischen Strukturwandels können daher hier zusammengefaßt werden. Um aber nicht jedes Mal alle möglichen Wandlungsfälle aufzählen und unterscheiden zu müssen, sei hier, zur sprachlichen Vereinfachung, das Problem des Wandels exemplarisch am Wandel von Literatursystemen insgesamt erörtert. 17.4. Der Wandel kann sowohl ein Wandel von Strukturen wie ein Wandel von Funktionen sein: Strukturen können konstant bleiben und andere Funktionen übernehmen; Funktionen können konstant bleiben und durch andere Strukturen besetzt werden; sowohl Strukturen als auch Funktionen können sich zugleich transformieren. Da eine Funktion die Leistung einer Struktur für eine übergeordnete Struktur ist, können alle diese Fälle hier unter »Strukturwandel« bzw. »Systemtransformation« zusammengefaßt werden. 17.5. Um einen Wandel überhaupt als solchen erkennen und den erkannten Wandel beschreiben zu können, müssen in jedem Fall immer zunächst zwei sukzessive Systeme/Systemzustände gegeben sein, d.h. beschrieben werden: erst danach können die Transformationen beschrieben werden, d.h. die Menge der Operationen mittels derer ein System(zustand) in das (den) andere(n) überführt werden kann. 17.6. Ein Modell zur Abbildung literarischer Wandlungsprozesse hat im Idealfall nicht nur eine deskriptive Komponente, insofern es beschreibt, welche Transformationen auf welche Weise in oder zwischen Systemen stattgefunden haben, sondern auch eine explanative Komponente, insofern es erklärt, warum dieser
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Wandel stattgefunden hat (zu diesen beiden Komponenten in diesem Bande explizit die Beiträge von Eibl, Hempfer, Wünsch). Derzeit scheint nur ein einziges Modell in der Literaturwissenschaft verfügbar, das beide Komponenten der Rekonstruktion von Wandlungsprozessen empirisch wie wissenschaftstheoretisch befriedigend abzudecken vermag: das Modell von Wandel als Problemlösungsversuch (theoretisch eingeführt: Wünsch 1975, Eibl 1976; am literarhistorischen Beispiel vorgeführt: Wünsch 1975; vgl. in diesem Bande auch: Eibl, Hempfer, Wünsch). 17.6.1. Die explanative Komponente dieses Modells liefert keine nomologische Erklärung, bei der der Wandlungsprozeß unter ein - kausal-ausnahmsloses oder statistisches - Gesetz subsumierbar wäre und aus der Applikation des Gesetzes auf den Ausgangszustand der Endzustand folgen würde, sondern eine funktionale Erklärung (vgl. Eibl 1976 und Eibl in diesem Bande): Der Wandel erfüllt eine Funktion, und die angestrebte Erfüllung dieser Funktion erklärt den Wandel. 17.6.1.1. Diese funktionale Erklärung setzt aber ein heuristisches Postulat voraus, das gewissermaßen einer nomologischen Gesetzeshypothese äquivalent ist: Das Wandlungsmodell basiert auf der Annahme einer Systemrationalität, auf der Unterstellung, daß ein kulturelles (Teil-/Sub-)System sich im Rahmen seiner eigenen Prämissen, wie irrational und unlogisch diese auch scheinen oder sein mögen, rational und logisch verhält und somit Probleme, die sich ihm stellen, zu lösen versucht, ggf. durch systemimmanenten oder systemtranszendierenden Wandel. 17.6.1.2. Eine solche funktionale Erklärung ist nicht teleologisch: sie impliziert nicht, daß Systeme sich zielgerichtet auf wünschenswerte zukünftige Ziele hin entwickeln; sondern Systeme transformieren sich, um aktuelle Probleme zu lösen. Natürlich kann es nicht nur solche Systeme geben, die sich nur genau dann und nur genau soweit transformieren, wie sie müssen, um entstandene Probleme zu beseitigen; es kann auch Systeme geben, die aufgrund ihrer eigenen Prämissen auf Transformation programmiert sind. Das gilt ζ. B. vom Denksystem der Aufklärung, das aufgrund seiner eigenen Prämissen, in systeminterner Logik, sich transformieren muß, wobei diese Transformation durch Daten aus der Umwelt, die das System entweder »freiwillig« aufgrund seiner eigenen Prämissen oder »zwangsweise« aufgrund diskursiver Abhängigkeiten zu verarbeiten hat, gefördert, gebremst, modifiziert wird: denn das Basispostulat dieses Systems - daß alle Propositionen über die Welt sich vor dem menschlichen Verstand als höchster Instanz und einziger Autorität zu verantworten haben - führt notwendig, wenn das System im Sinne der postulierten Systemrationalität konsequent ist, zur Extrapolation der Aufklärung auf alle Realitätsbereiche und zur Radikalisierung ihrer Positionen. Ähnlich haben die neuzeitlichen wissenschaftlichen Diskurse ihrer eigenen Logik nach eine solche Transformationstendenz. 17.6.1.3. Spätestens hier muß nun wohl eine Bemerkung gemacht werden, die sich der Leser vielleicht schon sehr viel früher gewünscht hätte. Die sprachliche Anthropomorphisierung von Systemen als Handlungsträgern ist natürlich nichts anderes als eine abkürzende Redensweise, die weder eine anthropomorphe Entität
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noch eine Intentionalität unterstellt. Die korrekte, aber extrem umständliche, ausformulierte Fassung solcher abkürzender Redeweisen sei an zwei im gegebenen Kontext argumentativ interessanten Beispielen vorgeführt: a) Die Aussage »Das Literatursystem verlangt die Einhaltung einer Regularität« ist in etwa äquivalent mit der folgenden Paraphrase: »In einem gegebenen Zeitraum hat eine Menge von Subjekten aus verschiedenen Motiven und mit verschiedenen Absichten eine Menge von Texten produziert, aus der sich eine, möglicherweise keinem dieser Subjekte bewußte, möglicherweise von keinem dieser Subjekte gewollte Regularität abstrahieren läßt; in diesem Zeitraum akzeptiert die Menge der rezipierenden Subjekte aus möglicherweise verschiedenen Gründen nur solche Texte, die zugleich auch diese Regularität erfüllen, ob sie den Subjekten bewußt ist oder nicht.« Daß es unabhängig vom Wissen und Willen der produzierenden oder rezipierenden Subjekte zu solchen Gemeinsamkeiten kommen kann, erklärt sich durch die Gemeinsamkeiten der Sozialisation, des Denksystems, der von diesem ermöglichten Erfahrungen der Subjekte eines Zeitraums. Sowohl bei Produzenten wie Rezipienten können jederzeit Ausnahmen und Abweichungen auftreten: kulturelle Systeme sind immer statistische Systeme. Das Handeln jedes einzelnen (produzierenden oder rezipierenden) Subjektes ist aus der Perspektive der Systemgeschichte unvorhersehbar, wenngleich es aus der Perspektive biographischer Geschichte motiviert/determiniert sein mag, deren Daten freilich kaum je hinreichend verfügbar sind und zudem für die Systemgeschichte irrelevant wären; aus den systemgeschichtlich zufällig erscheinenden Ereignissen, dem individuellen Handeln, bildet sich aber statistisch ein nicht zufälliges, kollektives System. b) Die Aussage »Das Literatursystem wandelt sich« ist in etwa äquivalent mit der folgenden Paraphrase: »Bis zu einem bestimmten Zeitpunkt t; hat eine Menge von Subjekten Texte produziert, aus denen sich ein System(zustand) Α abstrahieren läßt, das bis zu einem bestimmten Zeitpunkt tj (tj = tj oder t; φ tj) dominant ist; ab einem bestimmten Zeitpunkt tk (wobei: tk = ti oder tj, oder: tk Φ tj oder tj) hat eine Menge von Subjekten Texte produziert, aus denen sich ein System(zustand) Β abstrahieren läßt, das ab einem bestimmten Zeitpunkt ti (ti = tk oder tj φ t k ) dominant ist.« 17.6.2. Ein Problem im System liegt nun genau dann vor, wenn es eine Differenz zwischen Sollzustand und Istzustand, d.h. zwischen von den Systemprämissen her wünschenswerten und tatsächlichem Zustand gibt (vgl. Klaus 1969; Herkner 1986). Im Rahmen der im System geltenden Regularitäten gibt es Systembedürfnisse, die im Rahmen eben dieser Regularitäten nicht erfüllt werden können: Wenn sie dennoch erfüllt werden sollen, muß das System sich also mindestens partiell transformieren. Der einfachste und häufigste Fall ist die qualitative (vs quantitative) Differenz, die sich regelmäßig als Widerspruch zwischen Systempropositionen abbilden läßt. Ein solcher Widerspruch liegt vor, wenn der »Bildungsroman« der Goethezeit sich vor dem Problem sieht, Autonomie und Heteronomie der Subjekte zu vereinbaren; er liegt vor, wenn in der mittleren Aufklärung das theoretische Theodicee-Postulat von den wahrgenommenen Daten über den Welt-
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zustand falsifiziert wird. Ein solches Systemproblem kann in sehr verschiedener Weise gegeben sein; zur Vereinfachung sei der - zentrale! - Fall des Widerspruchs von Propositionen gewählt: 17.6.2.1. Erstens kann das Problem manifest oder latent sein. »Manifest« soll ein Systemproblem heißen, wenn sich zumindest aus einer Teilmenge der dem System zuzurechnenden, d.h. seine Regularitäten erfüllenden Texte explizite oder implizierte Propositionen ableiten lassen, die ein Problem darstellen, sich also z.B. widersprechen. Das gilt etwa für die eben erwähnten Beispiele aus mittlerer Aufklärung und Goethezeit. »Latent« soll ein Systemproblem heißen, wenn das Problem, der Widerspruch, sich weder aus den expliziten noch implizierten, an den Texten nachweisbaren Propositionen ableiten Iäßt, sondern nur sichtbar wird, wenn man die Konsequenzen aus den Systempropositionen logisch zu Ende denkt, aber diese Konsequenzen in keinem der Texte, weder explizit noch implizit, gezogen werden. Ob und wo ein System zu Ende denkt, ist wiederum eine Funktion der Regeln des Literatur- bzw. Denksystems. Ein latentes Problem kann somit jederzeit zu einem manifesten werden, sobald eine Teilmenge der Systemregeln außer Kraft gesetzt ist, die die Unterdrückung des Problems garantiert, d.h. verhindert, daß eine theoretisch mögliche logische Folgerung aus den Systempropositionen auch tatsächlich gezogen wird. So sieht die frühe Aufklärung keineswegs, daß aus der gleichzeitigen Gültigkeit der postulierten rationalen Deduzierbarkeit der Weltordnung und der Legitimation empirischer Induktion Probleme und Widersprüche entstehen könnten, während dieses latente Problem in der mittleren Aufklärung manifest wird. So haben Spätaufklärung und Goethezeit, wo sich ein eigenständiger psychologischer Diskurs etabliert hat und empirische Argumentation legitimiert ist, ein latentes Problem mit der von ihren Propositionen her eigentlich unvermeidlichen Folgerung eines individuellen Nicht-Bewußten in der Person. Dessen Anerkennung würde zu einem Problem führen, insofern es mit dem Konzept bewußter Autonomie kollidieren würde und, insofern es ein individuelles wäre, zugleich der Heteronomietendenz einer für alle Individuen verbindlichen Normierung widerspräche. Lieber also beraubt sich dieses Denk- und Literatursystem der Erklärungsmöglichkeiten, die ihm die Annahme eines individuellen Nicht-Bewußten böte (Erklärungsmöglichkeiten etwa scheinbar okkulter oder psychopathologischer Phänomene), als daß es diese Systemkrise riskiert; ein Nicht-Bewußtes wird folglich nur als kollektives und zudem umstrittenes in den Randzonen des Systems (»Magnetismus«/»Mesmerismus«) thematisiert. Im Zusammenbruch des Goethezeitsystems wird auch dieses latente Problem manifest: Ein individuelles Nicht-Bewußtes taucht in der Literatur (z.B. Grabbe, Mörike) als Gefahr auf, wird schließlich vom neuen stabilen System des Realismus dann zwar theoretisch zugelassen, aber unter Kontrolle gebracht und wird erst in der Umstrukturierung des Konzepts der »Person« in der Frühen Moderne (vgl. Meyer in diesem Bande; Titzmann 1989b) tatsächlich akzeptiert und integriert. 17.6.2.2. Wenn das Problem manifest ist, kann der Widerspruch zweitens zwischen zwei expliziten oder zwei impliziten Propositionen oder einer expliziten und einer implizierten Proposition, die in den Texten gegeben sind, auftreten.
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17.6.2.3. Ein solcher Widerspruch kann aus den Propositionen ein und desselben Textes folgen, wenn etwa das Subjekt zwischen alten und neuen Positionen schwankt bzw. ein solches Schwanken thematisiert (vgl. z.B. Schiller, Freygeisterei der Leidenschaft). Ein solcher Widerspruch kann sich zwischen Propositionen eines in sich widerspruchsfreien Textes und von ihm vorausgesetzten, aber unausgesprochenen Systempropositionen ergeben (das scheint z.B. der Fall der frühen Lyrik Goethes: vgl. Wünsch 1975). Ein solcher Widerspruch kann sich schließlich ergeben zwischen Propositionen verschiedener Texte, deren jeder in sich widerspruchsfrei ist: Ein Systemproblem entsteht dabei nur, wenn entweder eine der Propositionen anderen Systempropositionen widerspricht oder wenn das System eine Ausdifferenzierung in alternative ideologische Propositionen eigentlich nicht zuläßt. 17.6.2.4. Ein Widerspruch kann sich schließlich einerseits aus in den Texten explizit oder implizit gegebenen Systempropositionen oder aus möglichen Konsequenzen solcher Propositionen ergeben. Dieser Fall umfaßt wieder zwei Varianten: Der Widerspruch kann aus im Rahmen des Systems logisch möglichen, aber unvorhergesehenen Folgerungen aus solchen Systempropositionen oder aus den Implikationen unvorhergesehener, aber nicht ausgeschlossener inhaltlicher Besetzungen und Konkretisierungen von Systempropositionen in den Texten resultieren. Selbstverständlich kann ein Widerspruch auch auf einer Kombination von Propositionen aus zwei verschiedenen dieser drei Klassen basieren. 17.6.3. Das Problem - und mit ihm der Wandel, der es zu lösen versucht kann systemintern bedingt sein und also aus den Bedingungen des Systems selbst heraus entstehen: Das System kann von Anfang an widersprüchliche Bedürfnisse umfassen oder ein scheinbares widerspruchsfreies System kann sich, wenn es die Konsequenzen aus seinen eigenen Prämissen zieht oder mit allen theoretisch möglichen Besetzungen seiner Regularitäten experimentiert, in Widersprüche verstricken; die bisherigen Erläuterungen und Beispiele sollten zur Illustration ausreichend sein. Das Problem - und mit ihm der Wandel - kann interaktiv bedingt sein und also aus den Relationen zwischen System und Umwelt, d.h. zwischen Literatur- und Denksystem, entstehen, was nur möglich ist, wenn und insoweit das Literatursystem vom Denksystem bzw. einem seiner Subsysteme - Diskursen oder Wissensmengen - abhängt. Ein Problem und die Notwendigkeit eines Wandels kann dann daraus resultieren, daß sich das Literatursystem transformiert hat (um ein systeminternes Problem zu lösen) und das Denksystem konstant blieb oder daß das Literatursystem konstant blieb und das Denksystem sich transformiert hat (um ein systeminternes Problem zu lösen): Beide Male kann eine Differenz entstehen, die das Literatursystem zum Wandel zwingt. 17.6.4. Ob und wie ein Problem durch eine Problemlösung beseitigt wird, hängt vom Status des Problems im System und den spezifischen Problemlösungsmöglichkeiten des Systems ab. Während latente Probleme ungelöst bleiben können, solange sie nicht manifest werden und die Systemregularitäten funktionieren, die ihre (explizite oder implizite) Thematisierung in den Texten des Systems unterdrücken, müssen manifeste Probleme gelöst oder ertragen werden; Probleme
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werden dann ertragen, wenn ihre Lösung im System noch gravierendere Probleme aufwerfen würde; ranghöhere Probleme müssen eher als rangniedere Probleme gelöst werden. Widersprüche zwischen zwei fundamentalen (oder zwei expliziten) Propositionen sind ranghöher als solche zwischen einer fundamentalen (oder expliziten) und einer sekundären (oder impliziten) Proposition und diese wiederum ranghöher als solche zwischen zwei sekundären (oder impliziten) Propositionen. Das Problem kann entweder im Rahmen der fundamentalen Systempropositionen gelöst werden: dann entsteht ein neuer Systemzustand; oder es kann nicht in diesem Rahmen gelöst werden: dann entsteht ein neues System. 17.6.4.1. Gelöst wird ein Problem des Widerspruchs zweier Propositionen, indem eine oder beide von ihnen getilgt, ersetzt oder verändert wird oder indem ihnen eine dritte, die ihren Widerspruch aufhebt, übergeordnet wird. Jede Problemlösung kann an einer anderen Stelle des Systems zu neuen Problemen führen, die ihrerseits der Lösung bedürfen (vgl. Wünsch 1975). Eine Lösung kann mehrere Probleme beseitigen; so löst die Erfindung der Geschichtsphilosophie in der Aufklärung drei Probleme auf einmal: Sie erfindet eine rationale Ordnung in der Geschichte; sie löst das Problem der Theodicee und ihres Widerspruchs zur Empirie; sie löst das Problem divergenter Wert- und Normensysteme in verschiedenen Kulturen, indem sie das Nebeneinander in eine Serie sukzessiver Entwicklungsstufen uminterpretiert. Ein Problem kann ebenso mehrere Lösungen zulassen. Je mehr Probleme sich im System häufen, desto komplexer werden die Lösungsmöglichkeiten und desto unüberschaubarer die Folgen der Lösungsversuche. Erfolgreicher Wandel zu einem neuen stabilen System(zustand) basiert daher gern auf einer Menge untereinander korrelierter Transformationen (vgl. R. Zeller und Wünsch in diesem Bande; Titzmann 1989b, 1990e und f). 17.6.4.2. Die optimale Problemlösung ist also eine Transformation, die erstens ökonomisch ist und möglichst viele Systempropositionen konstant läßt, die zweitens kein neues Problem schafft und die drittens mit anderen Transformationen kompatibel ist. 17.6.5. Theoretisch könnte ein System(zustand) zwecks Problemlösung sich in beliebigem Umfang und in beliebiger Richtung transformieren: Jede Substitution der problematischen Strukturen durch jede theoretisch denkbare Struktur, die diese Probleme nicht aufwirft, könnte als Problemlösung fungieren; Literaturoder auch Denkgeschichte könnten radikal diskontinuierlich verlaufen. Praktisch zeigt die historiographische Erfahrung, daß dem nicht so ist. Es muß also in jedem historischen Wandlungsprozeß den Wandel steuernde und begrenzende konstante Rahmenbedingungen geben, die die Selektion aus den denkbaren Lösungsversuchen vornehmen und nur eine oder wenige Problemlösungen zulassen, die entweder gleichermaßen optimal sind oder bei Ermangelung einer optimalen Lösung gleichermaßen zweitbeste Varianten darstellen. Zu diesen Rahmenbedingungen gehören bei jedem Strukturwandel die Strukturen des Denk- und Wissenssystems, soweit sie sich selbst nicht wandeln: bestimmte Transformationen sind in diesem Rahmen undenkbar oder unannehmbar. Sofern der Strukturwandel zu einem neuen Systemzustand führt, gehören die invariant bleibenden Propositionen des
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Systems selbst zu den Rahmenbedingungen, die seinen eigenen Wandel regulieren. Aber auch insofern der Strukturwandel zu einem neuen System führt, bedingt der letzte Zustand des abgelösten Systems die Strukturen des ersten Zustands des neuen Systems mit: insofern die Transformationen aus den Problemen des alten Systems resultieren, sind sie strukturell notwendig auf dieses bezogen (vgl. Wünsch in diesem Bande). Umfang und Richtung des Wandels sind also selbst (literatur- bzw. denk-)systembedingt, ob der Wandel nun als eher kontinuierlich oder als eher diskontinuierlich sich vollzieht, was wiederum von den systembedingten Problemen und den systemspezifischen Lösungsmöglichkeiten abhängt. Ein Wandel erscheint als eher kontinuierlich, wenn er sich langsam und in kleinen sukzessiven Schritten, als eher diskontinuierlich, wenn er sich schnell und mit wenigen Zwischengliedern vollzieht (vgl. Regn in diesem Bande). 17.7. Damit ein Wandel sich ereignet, muß also ein System in eine Krise geraten: in ihm müssen ungelöste Probleme auftreten, die nach seinen eigenen Prämissen gelöst werden müssen. Die reduzierte Verbindlichkeit des Systems in der Krise ermöglicht das (mehr oder weniger gehäufte) Auftreten abweichender und zunächst singulärer Texte, die gewissermaßen, bewußt oder nicht, intendiert oder nicht, Transformationen des Systems - in dieselbe oder verschiedene Richtungen - vorschlagen und als Experimente der Problemlösung fungieren, wenn und insoweit sie die problematischen Strukturen substituieren. Eine erfolgreiche Problemlösung, d.h. die Einleitung eines Wandels, können diese singulären Texte nur leisten, wenn sie akzeptiert und modellbildend werden: das hängt von den invarianten Rahmenbedingungen ab, die eine systembedingte Selektion aus den angebotenen Alternativen treffen und entweder nur ein(en) System(zustand) oder alternative und konkurrierende Subsysteme bzw. Zustände als Problemlösung zulassen. Der Prozeß der Konstitution des neuen System(zustand)s hat (ebenso wie der Prozeß der Destruktion des alten) zum einen qualitative Komponenten, indem sukzessiv, in den selben Texten oder auf verschiedene Texte verteilt, die später konstitutiven Propositionen auftreten, in den selben Texten vereinigt werden und ihre späteren logischen und hierarchischen Abhängigkeitsrelationen ausbilden; zum anderen eine quantitative Komponente, insofern sich ein statistischer Prozeß der allmählichen Häufung von Texten vollzieht, die partiell oder total die später konstitutiven Strukturen aufweisen. 17.8. Das hier skizzierte literaturwissenschaftliche Modell von Strukturwandel (wie es in verschiedenen Varianten in nicht wenigen Beiträgen dieses Bandes ganz ähnlich skizziert wird), zeigt deutliche Konvergenzen zu Wandlungsmodellen anderer Disziplinen, die teils auf der Aneignung von Anregungen dieser Disziplinen basieren (vgl. z.B. Eibl 1976 und Eibl in diesem Bande), teils unabhängig aus der internen Forschungslogik insbesondere struktural-semiotischer Ansätze in der Literaturwissenschaft hervorgegangen sind (vgl. z.B. Wünsch 1975). Was sich, wie mir scheint, abzeichnet, wäre somit die Möglichkeit eines transdisziplinären Wandlungsmodells für Transformationen beliebiger Systeme, das gleichermaßen in Psychologie (vgl. z.B. Piaget etwa 1975, 1977, 1979), in Biologie (vgl. Riedl 1975, 1988; Maturana/Varela 1987; Stegmüller 1975; und in diesem Bande Eibl), in
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systemtheoretischen oder wissenssoziologischen Ansätzen der Soziologie (vgl. z.B. Luhmann 1987; in diesem Bande auch Jäger, Meyer, Ort), in Sozial- und Wirtschaftsgeschichte (vgl. z.B. Bauer/Matis 1988), in Wissens- und Wissenschaftsgeschichte (vgl. Kuhn 1962, 1978, 1981; Stegmüller 1973 (11,2), 1975) praktikabel ist und in interdisziplinärer Kooperation beschleunigt ausgebaut werden könnte, was freilich nicht bedeuten darf, daß eine Disziplin schon ausgebautere Wandlungsmodelle anderer Disziplinen einfach übernimmt: Ein transdisziplinäres Modell kann erst sekundär aus den fachspezifischen Bedürfnissen und den Bedingungen der sich wandelnden Objekte angepaßten Wandlungsmodellen der einzelnen Disziplinen abstrahiert werden. Nur drei Aspekte dieser möglichen theoretischen Konvergenz heterogener Disziplinen seien hier angedeutet: a) Der Wandel von beliebigen Entitäten wird als Wandel von Systemen in Relation zu Umwelten (anderen Systemen) gedacht. b) Der Wandel vollzieht sich als Versuch der Lösung von Problemen, die entweder systemintern bedingt oder interaktiv bedingt entstanden sind. c) Der Prozeß der Transformation wird weder allein von der Umwelt bestimmt, die auf das System als passives Objekt kausal einwirken und es transformieren würde, wie es sich die eher »materialistischen« Positionen des 19. Jahrhunderts vorstellten, noch allein vom System, als einzig aktivem Subjekt, bestimmt, wie es sich die »idealistischen« Positionen aus dem 19. Jahrhundert vorstellten. Das System reagiert zwar auf seine Umwelt, deren Daten und Wandlungen es zu verarbeiten hat, aber die Systembedingungen selbst steuern die Art der Verarbeitung von Umweltdaten und die problemlösenden Transformationsoperationen. Der antiquierte Gegensatz »materialistisch« vs »idealistisch« ist damit im übrigen definitiv überwunden.
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Prof. Dr. Marianne Wünsch
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Prof. Dr. Hans Zeller
Universite de Fribourg Faculte des Lettres CH-1700 Fribourg
Priv.-Doz. Dr. Rosmarie Zeller
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