Mitteldeutsches Tagebuch: Aufzeichnungen aus den Anfangsjahren der SED-Diktatur 1945-1950 9783486707755, 9783486590333

Der Tübinger Historiker Gerhard Schulz, der zur Gründergeneration der Zeitgeschichtsforschung in der Bundesrepublik gehö

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German Pages 269 [272] Year 2009

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Mitteldeutsches Tagebuch: Aufzeichnungen aus den Anfangsjahren der SED-Diktatur 1945-1950
 9783486707755, 9783486590333

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Schulz · Mitteldeutsches Tagebuch

Biographische Quellen zur Zeitgeschichte Herausgegeben im Auftrag des Instituts für Zeitgeschichte von Manfred Kittel und Udo Wengst Band 25

R. Oldenbourg Verlag München 2009

Gerhard Schulz

Mitteldeutsches Tagebuch Aufzeichnungen aus den Anfangsjahren der SED-Diktatur 1945-1950

Herausgegeben, kommentiert und eingeleitet von Udo Wengst

R. Oldenbourg Verlag München 2009

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. © 2009 Oldenbourg Wissenschaftsverlag GmbH, München Rosenheimer Straße 145, D-81671 München Internet: oldenbourg.de Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Umschlagentwurf: Dieter Vollendorf Umschlagabbildung: Gerhard Schulz; Foto privat (1945/46) Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier (chlorfrei gebleicht). Satz: Typodata GmbH, München Druck: MB Verlagsdruck, Schrobenhausen Bindung: Thomas Buchbinderei, Augsburg ISBN: 978-3-486-59033-3

Inhalt Einleitung

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Tagebucheintragungen

1945

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Tagebucheintragungen

1946

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Tagebucheintragungen

1947

79

Tagebucheintragungen

1948

141

Tagebucheintragungen

1949

195

Tagebucheintragungen

1950

235

Abkürzungsverzeichnis

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Personenregister

267

Einleitung Am 17. April 2004 erschien in der FAZ ein Nachruf auf den wenige Tage zuvor verstorbenen Zeithistoriker Gerhard Schulz unter dem Titel „Homo tübingensis". 1 Die Überschrift war der Tatsache geschuldet, dass Gerhard Schulz 1962 nach Tübingen berufen wurde und an dieser altehrwürdigen Universität bis 1990 forschte und lehrte. Hier übernahm er den neu errichteten Lehrstuhl für Zeitgeschichte und gründete im Folgenden mit dem Seminar für Zeitgeschichte die erste eigenständige Abteilung innerhalb einer deutschen Universität für das nach dem Krieg neu geschaffene historische Teilfach, das zunächst vor allem außeruniversitär betrieben wurde. 2 In seiner Lehrtätigkeit beschränkte sich Schulz jedoch nicht auf die Zeitgeschichte, sondern behandelte auch Themen des 19., ja sogar des 18. Jahrhunderts. Schwerpunkt war jedoch die Zeitgeschichte, die auch in seinen Forschungen bei weitem überwog. Wie im bereits erwähnten Nachruf in der FAZ mit Recht betont wurde, führte Gerhard Schulz in Tübingen eine „zurückgezogene Gelehrtenexistenz alter Art". Politikberatung interessierte ihn ebenso wenig wie große Auftritte in der Öffentlichkeit - für die Tätigkeit in wissenschaftlichen Gremien und die damit verbundene Wissenschaftspolitik fehlte ihm die Neigung. Gerhard Schulz war immer nur an der Wissenschaft selbst interessiert und das Seminar für Zeitgeschichte an der Universität Tübingen war, solange er ihm als Direktor vorstand, keine Karriereschmiede für Nachwuchswissenschaftler. Die Zahl der Schüler von Gerhard Schulz blieb überschaubar - noch geringer war die Zahl derjenigen, die auf Dauer in der Wissenschaft reüssierten. Der Tübinger Historiker hatte stets eine höchst eigenwillige Auffassung von Universität und Wissenschaft, die mit den Usancen seiner Zeit oft nicht übereinstimmte.

Lebenslauf und wissenschaftliches Werk Geboren wurde Gerhard Schulz am 24. August 1924 in Sommerfeld/Niederlausitz, einem kleinen schlesischen Städtchen, das heute in Polen liegt. Sein Vater war Angestellter und später Leiter der dortigen Stadtwerke. Nach dem Besuch der Volksschule und des Real-Reformgymnasiums in seiner Heimat1 Rainer Blasius: H o m o tübingensis. Akribie alter Art: Zum Tode des Zeithistorikers Gerhard Schulz, in: F A Z vom 17.4.2004, S.36. 2 Dazu im Überblick U d o Wengst: Geschichtswissenschaft und „Vergangenheitsbewältigung" in Deutschland nach 1945 und nach 1989/90, in: G W U , 46. Jg. (1995), S. 192-198. Dabei handelt es sich um das Institut für Zeitgeschichte (zunächst unter dem Namen „Deutsches Institut für Geschichte der nationalsozialistischen Zeit") in München, die Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien in Bonn, das Institut für Politische Wissenschaft in Berlin (mit einer selbstständigen historischen Abteilung) und das Institut für Europäische Geschichte in Mainz.

8

Einleitung

Stadt wechselte Gerhard Schulz, der keine Geschwister hatte, im April 1941 an die Wirtschaftsoberschule in Leipzig. Diese verließ er zunächst ohne Abschluss im Oktober 1942, weil er zum Kriegsdienst eingezogen wurde. Das Reifezeugnis erhielt er im März 1943 ausgestellt, als er schon im Fronteinsatz war. Im Januar 1944 wurde er in Italien schwer verwundet (Bauchschuss) und erlebte das Kriegsende im Lazarett, aus dem er Anfang 1946 entlassen wurde. Gerhard Schulz lebte daraufhin mit seinen Eltern in dem kleinen Örtchen Mahlis, im Herzen Sachsens, im Zentrum des Dreiecks Leipzig-DresdenChemnitz gelegen. Da die Aufnahme eines Studiums zunächst scheiterte, arbeitete er für einige Monate als „Neulehrer". Im Herbst 1946 wurde er dann an der TH Dresden immatrikuliert, und zwar in der Pädagogischen Fakultät. Nach nur einem Semester wechselte Gerhard Schulz an die Universität Leipzig, an der er Ende 1949 in die Philosophische Fakultät eingeschrieben wurde und im Hauptfach Geschichte studierte. Aber zu diesem Zeitpunkt hatten die Fluchtgedanken, die ihn seit 1948 beschäftigten, immer konkretere Gestalt angenommen. Im Sommersemester 1950 setzte Gerhard Schulz sein Studium an der FU Berlin fort. Hier wurde er im Oktober 1952 mit einer Dissertation über das Thema „Die deutsche Sozialdemokratie und die Entwicklung der auswärtigen Beziehungen vor 1914. Ein Beitrag zur Geschichte des politischen Denkens und des Parteiwesens" promoviert. Doktorvater war Hans Herzfeld. Im Anschluss hieran wurde Gerhard Schulz wissenschaftlicher Assistent an der Deutschen Hochschule für Politik. Am 1. April 1955 wechselte er als wissenschaftlicher Oberassistent in die Historische Abteilung des Instituts für Politische Wissenschaft an der FU Berlin, dessen Leitung er als Nachfolger Karl Dietrich Brachers am 1. Januar 1959 übernahm. Im November 1960 wurde Gerhard Schulz, der seit 1952 mit Cornelia Popitz, einer Tochter des ehemaligen preußischen Finanzministers und Widerstandskämpfers, verheiratet war, habilitiert. 3 Die Habilitationsschrift behandelte die Verfassungspolitik und Reichsreform in der Weimarer Republik der Jahre 1919 bis 1930.4 Dies war der erste Band einer Untersuchung, die Gerhard Schulz unter die Überschrift „Zwischen Demokratie und Diktatur" stellte. Damit hatte er das zentrale Forschungsfeld beschrieben, das ihn bis in die 1990er Jahre, unter erweiterter Fragestellung bis an sein Lebensende nicht mehr losließ. Wie kaum ein anderer Forscher griff er immer wieder die Frage auf, warum die Weimarer Republik gescheitert und in eine totalitäre Diktatur gemündet war.

3

Angaben aufgrund von verschiedenen Lebensläufen von Gerhard Schulz in dessen Nachlass, BA Ν 1312 Bü 59. 4 Zwischen Demokratie und Diktatur. Verfassungspolitik und Reichsreform in der Weimarer Republik. Bd. 1: Die Periode der Konsolidierung und der Revision des Bismarck schen Reichsaufbaus 1919-1930, Berlin 1963; 2., durchgesehene und ergänzte Auflage Berlin - New York 1987.

Einleitung

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Trotz seiner intensiven Beschäftigung mit der Weimarer Republik musste das Publikum lange auf die Veröffentlichung des bereits 1963 angekündigten zweiten Bandes zur Verfassungspolitik und Reichsreform warten. Schulz veröffentlichte zunächst eine Reihe von Aufsätzen zur Auflösungsphase der Weimarer Republik 5 und brachte eine Edition zur Ära Brüning auf den Weg6, deren Ergebnisse er abwartete, bis er sich an die Fortsetzung seiner Habilitationsschrift machte. Bereits etliche Jahre vor dem Erscheinen dieser Quellenbände publizierte er im Jahr 1975 eine umfangreiche Studie unter dem Titel „Aufstieg des Nationalsozialismus" über „Krise und Revolution in Deutschland". 7 Erst 1987 erschien der zweite Band von „Zwischen Demokratie und Diktatur", 8 der allerdings chronologisch keine Fortsetzung war, da er ebenfalls nur bis 1930 reichte. Dagegen brachte er aber thematisch eine Ausweitung, weil in ihm - über die Themen „Verfassungspolitik und Reichsreform" hinausgehend - der große Rahmen dargestellt wurde, „in dem die Geschichte der Weimarer Republik bis dahin gelaufen" war.9 Diesem Ansatz entsprach dann schließlich auch der 1992 erschienene dritte Band unter dem Titel „Von Brüning zu Hitler", 10 in dem Gerhard Schulz den „Wandel des politischen Systems in Deutschland" von 1930 bis 1933 darstellte und damit eine Totalgeschichte des Untergangs der Weimarer Republik vorlegte. Es war nahe liegend, dass ein Weimar-Forscher wie Gerhard Schulz, der die erste deutsche Demokratie stets unter dem Aspekt ihres Scheiterns untersuchte, sich auch dem Nationalsozialismus zuwandte. Ein erster wegweisender Beitrag zu dieser Thematik war seine Darstellung „Die Anfänge des totali-

5

Erwähnt seien die Aufsätze Artikel 48 in politisch-historischer Sicht, in: Der Staatsnotstand. hrsg. von Ernst Fraenkel, Berlin 1965, S. 39-71; Staatliche Stützungsmaßnahmen in den deutschen Ostgebieten. Zur Vorgeschichte der „Osthilfe" der Regierung Brüning, in: Staat, Wirtschaft und Politik in der Weimarer Republik. Festschrift für Heinrich Brüning, hrsg. von Ferdinand A. Hermes und Theodor Schneider, Berlin 1967, S. 141-204; ..Preußenschlag" oder Staatsstreich? Neues zum 20. Juli 1932. in: Der Staat, Bd. 17 (1978), S.553-581 sowie Reparationen und Krisenprobleme nach dem Wahlsieg der N S D A P 1930. Betrachtungen zur Regierung Brüning, in: Vierteljahresschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Bd. 67 (1980), S. 200-222. 6

Staat und N S D A P 1930-1932. Quellen zur Ära Brüning, eingeleitet von Gerhard Schulz, bearb. von Ilse Maurer und U d o Wengst, Düsseldorf 1977; Politik und Wirtschaft in der Krise 1930-1932. Quellen zur Ära Brüning, eingeleitet von Gerhard Schulz, bearb. von Ilse Maurer und U d o Wengst unter Mitwirkung von Jürgen Heideking, 2 Bde., Düsseldorf 1980. 7

Aufstieg des Nationalsozialismus. Krise und Revolution in Deutschland, Frankfurt/Main u.a. 1975. 8 Zwischen Demokratie und Diktatur. Verfassungspolitik und Reichsreform in der Weimarer Republik. Bd.2: Deutschland am Vorabend der Großen Krise, Berlin - N e w York 1987. 9 Ebd., S. VII. 10 Zwischen Demokratie und Diktatur. Verfassungspolitik und Reichsreform in der Weimarer Republik, Bd. 3: Von Brüning zu Hitler. Der Wandel des politischen Systems in Deutschland 1930-1933, Berlin - N e w York 1992.

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Einleitung

tären Maßnahmenstaates" in dem erstmals 1960 erschienenen Standardwerk „Die nationalsozialistische Machtergreifung", für die er gemeinsam mit Karl Dietrich Bracher und Wolfgang Sauer verantwortlich zeichnete. In weit ausholenden Betrachtungen hat Gerhard Schulz in seinem Beitrag die Staatsumwälzung im Bereich von Verfassung, Verwaltung und Wirtschaft dargestellt und zentrale Elemente des NS-Staates herausgearbeitet, insbesondere die permanente Diktatur, die auf einem latenten Ausnahmezustand beruhte, in dem die „Instrumente der Zwangsgewalt" ungehindert agieren konnten und lediglich ein „fiktiver Rechtsstaat" übrig blieb.11 Der Nationalsozialismus blieb für Gerhard Schulz auch im Folgenden ein Thema. Im Jahr 1974 behandelte er ihn unter einer theoretischen Perspektive, als er ein Buch mit dem Titel „Faschismus - Nationalsozialismus" vorlegte.12 Er befasste sich auch wiederholt mit dem Widerstand im Dritten Reich 13 und hat im Zusammenhang hiermit ebenfalls die Geheimdienste in den Blick genommen. 14 Die damit verbundene Internationalisierung der Perspektive findet sich auch in anderen Veröffentlichungen. Zu nennen sind hier vor allem das Werk „Revolutionen und Friedensschlüsse 1917-1920", das erstmals 1967 erschienen ist15, sowie das von Gerhard Schulz herausgegebene Bändchen mit dem Titel „Partisanen und Volkskrieg", das die Revolutionierung des Krieges im 20. Jahrhundert zum Gegenstand hat.16 Gerhard Schulz setzte sich auch immer wieder mit Grundsatzfragen des Faches Zeitgeschichte auseinander. Seine Überlegungen über ihre „historiographische Aufgabe" schlug sich in mehreren Aufsätzen nieder, die ganz un-

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Die Anfänge des totalitären Maßnahmestaates, in: Karl Dietrich Bracher, Wolfgang Sauer, Gerhard Schulz: Die nationalsozialistische Machtergreifung, Köln-Opladen 1960, S. 369-681; 2., durchgesehene Auflage Köln-Opladen 1962; 3. Auflage (erweiterte Neuausgabe als Taschenbuch) Frankfurt/Main u. a. o. J. 12 Faschismus - Nationalsozialismus. Versionen und theoretische Kontroversen 1922-1972, Frankfurt/Main 1974. 13 Als Beispiele seien genannt Johannes Popitz, in: Rudolf Lill / Heinrich Oberreuter (Hrsg.): 20. Juli. Portraits des Widerstands, Düsseldorf / Wien 1984, S. 237-251; Nationalpatriotismus im Widerstand. Ein Problem der europäischen Krise und des Zweiten Weltkriegs - nach zwei Jahrzehnten Widerstandsgeschichte, in: VfZ, 32. Jg. (1984), S. 331-372; Widerstand und Attentat. Schwierigkeiten mit dem 20. Juli 1944 in der deutschen Geschichte, in: Zeugnis für ein anderes Deutschland. Ehemalige Tübinger Studenten als Opfer des 20. Juli 1944, Tübingen 1984, S. 9-34. 14 Geheimdienste und Widerstandsbewegungen im Zweiten Weltkrieg (Hrsg.), Göttingen 1982 (mit zwei längeren eigenen Beiträgen zu den alliierten und englischen Geheimdiensten, S. 7-18 und S. 19-78). 15 Revolutionen und Friedensschlüsse 1917-1920, München 1967; weitere, teilweise ergänzte Auflage 1969,1974,1976,1980,1985; illustrierte Ausgabe Lausanne 1969; englische Ausgabe London 1972, Paperback-Ausgabe London 1974. 16 Partisanen und Volkskrieg. Zur Revolutionierung des Krieges im 20. Jahrhundert (Hrsg.), Göttingen 1985 (mit einem eigenen Beitrag über Die irregulären Guerilla, Partisanen und die Wandlungen des Krieges seit dem 18. Jahrhundert. Eine Einführung, S. 935).

Einleitung

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terschiedliche Aspekte behandelten. 1 7 Zusammengefasst hat Gerhard Schulz das Ergebnis seines langjährigen Nachdenkens über das Fach in einer „Einführung in die Zeitgeschichte", die im Jahr 1992 erschienen ist. 1 8 Diese Einführung ist nicht so sehr ein Propädeutikum für Studienanfänger, sondern die in ihr enthaltenen Beiträge sind als tiefgründige Auslassungen zu ganz unterschiedlichen Aspekten des Faches zu verstehen. Dabei greift Gerhard Schulz weit in die Vergangenheit zurück - bis zu den griechischen und römischen Klassikern wie Thukydides und Tacitus - , betont die Notwendigkeit, die universalhistorischen Gegebenheiten in den Blick zu nehmen, und bezieht schließlich auch die Kategorie der Zukunft in die Betrachtung ein, denn - so Gerhard Schulz - die „mit dem Ziele der Aufklärung über die letzte Vergangenheit perennierende Arbeit wird nur mit Rücksicht auf die Zukunft - das mögliche Kommende - wirklich gegenwärtig". 1 9 Wie diese Ausführungen zeigen, bewegte sich das Forschungsinteresse von Gerhard Schulz nicht nur im engeren Rahmen der Zeitgeschichte. Wie in seinen Lehrveranstaltungen behandelte er auch in etlichen Veröffentlichungen die Zeit des 18. und 19 Jahrhunderts. Die Mehrzahl dieser Abhandlungen ist in einem Sammelband mit dem Titel „Das Zeitalter der Gesellschaft" publiziert worden, der 1969 erschienen ist. 2 0 Im Zentrum des Bandes steht ein Beitrag über „Die Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft", ein Thema, das Gerhard Schulz gerade auch für die Zeitgeschichte von Bedeutung hielt, da in diesem Zeitraum die Bedingungen geschaffen worden seien, die das gegenwärtige soziale Dasein bestimmen. Die bürgerliche Gesellschaft zählt daher für Schulz „neben der Antike und dem Christentum zu den historischen Kräften, die in der Geschichte der europäischen Völker die größte Wirkung erlangt haben". 2 1 Zur Zeitgeschichte rechnete Gerhard Schulz den Zeitraum von 1917 bis 1945. Für die Nachkriegsgeschichte hat er in seinen Tübinger Jahren kaum Interesse gezeigt, obwohl seine erste große Veröffentlichung 1955 die C D U behandelt hatte. 2 2 Mit der Bundesrepublik befasste er sich hinfort nicht als Zeithistoriker, sondern als Zeitgenosse, der - infolge der studentischen Revolte mit Sorgen deren weitere Entwicklung betrachtete. In einem längeren Aufsatz 17 Z.B. die Aufsätze Vom Bildungswert der Zeitgeschichte, in: Woche der Universität Tübingen, 1963, S. 30-41; Geschichtliche Theorie und politisches Denken bei Max Weber, in: VfZ, 12. Jg. (1964), S.325-350; Bemerkungen zur Zeitgeschichte, in: Saeculum. Jahrbuch für Universalgeschichte, Bd.21 (1970), S. 287-311; Geschichte heute. Positionen. Tendenzen, Probleme, Göttingen 1973 (mit einem eigenen Beitrag über Die Gegenwartsproblematik der Geschichtswissenschaft, S. 146-189).

Einführung in die Zeitgeschichte, Darmstadt 1992. Ebd., Klappentext. 2 0 Das Zeitalter der Gesellschaft. Aufsätze zur politischen Sozialgeschichte der Neuzeit, München 1969. 21 Ebd., Klappentext. 2 2 Die CDU. Merkmale ihres Aufbaues, in: Max Gustav Lange, Gerhard Schulz, Klaus Schütz: Parteien in der Bundesrepublik, Stuttgart-Düsseldorf 1955, S. 1-153. 18

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Einleitung

über „Entwicklungstendenzen in der Nachkriegsdemokratie" aus dem Jahr 197123 bezeichnete er die Bundesrepublik als einen Staat ohne „ausgeprägte politische Kultur". Darüber hinaus machte er eine ganze Reihe konkreter Defizite aus, u. a. die Unterwanderung des Parlaments durch die Staatsbürokratie und die starke Einflussnahme der Verbände, insbesondere der Gewerkschaften. Sorgen bereitete ihm insbesondere die heranwachsende Generation, die „ohne Erinnerungen an die politischen Ungewissheiten und Unsicherheiten der Jahre des Krieges und nach dem Zusammenbruch" lebe, und der er unterstellte, sich von den Prinzipien der Nachkriegsordnung „ohne angebbare Ziele und Grenzen" abzuwenden. 24 Dies war insbesondere an die Studentenschaft gerichtet, für deren Revolte er kaum Verständnis aufbrachte. Hierin kamen aber auch die Sorgen eines Historikers zum Ausdruck, der sich intensiv mit der Geschichte der Weimarer Republik auseinandersetzte und befürchtete, dass auch der zweite Anlauf einer Demokratie auf deutschem Boden in einer Katastrophe enden könnte. In einem umfassenderen Sinn war diese Fragestellung auch die Leitlinie in Gerhard Schulz' Alterswerk. Dabei handelte es sich um zwei Monografien, deren erste mit dem Titel „Europa und der Globus" im Jahr 200125 und deren zweite unter der Überschrift „Geschichte im Zeitalter der Globalisierung" wenige Wochen nach seinem Tod im Frühjahr 2004 erschienen ist.26 Auch in diesen beiden Werken, mit denen Gerhard Schulz einen weiten Bogen von der Alten Geschichte bis in die Gegenwart schlug, wobei der Schwerpunkt auf der Zeit nach der Aufklärung liegt, zeichnet er ein Bild vom Auf und Ab unterschiedlicher politischer, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Systeme, von Krisen und Krisenbewältigungsversuchen, vom Umschlag von Demokratien in Diktaturen. Mit dem zuletzt genannten Aspekt, der dann auch wieder im Mittelpunkt seines letzten Werkes steht, griff Gerhard Schulz die Fragestellung wieder auf, die auch den Weimar-Forscher immer wieder umgetrieben hatte. Als Quintessenz seiner langjährigen Beschäftigung mit dieser Frage führte er hierin aus, „dass die Grenzen der Demokratie [ ] überall dort sichtbar und fühlbar" werden, „wo sie die Integrationskraft einbüßt, so daß aus ihr ein Zwangssystem erwächst oder die offene Diktatur an ihre Stelle tritt oder sie zur bloßen Herrschaft der Dummheit, zur Bewahrung des formalen Majoritätsprinzips bei subversiver Tendenz der Maßstäbe herabsinkt, was Gesellschaft und Staat zugrunde richten kann". 27 Diese in Demokratien stets drohende Entwicklung abzuwenden, hielt er nur so lange für möglich, „als 23

Entwicklungstendenzen der Nachkriegsdemokratie, in: Demokratisches System und politische Praxis der Bundesrepublik. Für Theodor Eschenburg, hrsg. von Gerhard Lehmbruch u.a., München 1971, S. 13-54. 24 Zitate ebd., S. 31 und S. 41 f. 25 Europa und der Globus. Städte, Staaten und Imperien seit dem Altertum, Stuttgart München 2001. 26 Geschichte im Zeitalter der Globalisierung, Berlin - N e w York 2004. 27 Ebd., S. 373f.

Einleitung

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eine ausreichende Auswahl frei und vorausahnend entscheidender, umsichtig handelnder und über angemessenen Einfluss verfügender Persönlichkeiten" vorhanden sei. 28 Er sah - wie diese Ausführungen erkennen lassen - die Existenz von der demokratischen Staatsform verpflichteten Eliten als Voraussetzung für deren Stabilität an. Da er an der Dauerhaftigkeit solcher Eliten zweifelte und eine Auflösung der Ordnung überall in der Welt konstatierte, blieb Gerhard Schulz bis zum Ende seines Lebens skeptisch, ob die Demokratien westlicher Prägung eine Überlebenschance besitzen.

Das Tagebuch Erstmals hat Gerhard Schulz - auf Anregung seines Vaters - im Alter von sieben Jahren angefangen, ein Tagebuch zu führen. Dies geschah anlässlich einer Ferienreise in das Riesengebirge. Diesen Versuch gab er ebenso schnell wieder auf wie einen zweiten Anlauf im zehnten Lebensjahr, als er „kurze Notizen über eigene Erlebnisse" machte. Gerhard Schulz war damals in den Ferien allein bei den Großeltern in Hamburg und die Tagebucheintragungen dienten ihm wohl als Mittel zur Bekämpfung des Heimwehs. „Durchgehend und regelmäßig" führte er seit seinem 18. Lebensjahr Tagebuch - wobei er sich anfangs „dazu zwingen musste und gerade das stärkste Erleben [...] nie festzuhalten vermochte". 29 Das Tagebuch, das Gerhard Schulz in unterschiedlicher Intensität bis fast zu seinem Lebensende führte, ist nicht vollständig überliefert. Die ersten drei Jahrgänge gingen in Sommerfeld verloren und auch die erhalten gebliebenen Teile weisen Lücken auf. Dies gilt insbesondere für die Aufzeichnungen aus dem Jahr 1945, da das Heft, in dem diese festgehalten wurden, Beschädigungen (herausgerissene und zerrissene Seiten) aufweist. Für seine Eintragungen hat Gerhard Schulz ganz unterschiedliche Formate gewählt. Sie reichen von kleinen Notizblöcken über Poesiealben bis zu dicken, fest eingebundenen „Büchern". Das Tagebuch war für Gerhard Schulz seit seinem 22. Lebensjahr „bedeutsam". Seit dieser Zeit notierte er all das, was ihm über den Augenblick hinaus von Interesse zu sein schien. Dies waren in erster Linie Reflexionen wissenschaftlicher Art, Erörterungen über die politische Entwicklung, persönliche Erlebnisse und Probleme. Erst in späteren Lebensjahren werden die Eintragungen spärlicher und beschränken sich schließlich auf Notizen, die Gerhard Schulz während einiger größerer Reisen anfertigte. Das Tagebuch befindet sich im Besitz der beiden Söhne von Gerhard Schulz, Cornelius Schulz-Popitz und Johannes Schulz. Es soll dem Nachlass von Gerhard Schulz im Bundesarchiv Koblenz zugeführt werden. 28 29

Ebd., S. 383. Tagebucheintrag vom 10. April 1949.

14

Einleitung

Die Edition Mit Beginn der 1990er Jahre begann ein intensiver Dialog zwischen Gerhard Schulz - dem akademischen Lehrer - und mir - dem Schüler in dessen Verlauf er mir nach einiger Zeit erstmals eröffnete, dass er seit seinen jungen Jahren ein Tagebuch geführt habe, das insbesondere für die Zeit der SBZ seiner Ansicht nach von zeitgeschichtlicher Bedeutung sei. Auf meine Bitte, mir diesen Teil zugänglich zu machen, da ich mir gern ein Bild davon machen und gegebenenfalls eine Publikation erwägen würde, ging er jedoch nicht ein. Als mir seine Söhne nach dem Ableben von Gerhard Schulz die Tagebücher zugänglich machten, konnte ich feststellen, dass unsere Gespräche nicht ohne Konsequenzen geblieben waren. Denn bei seinen Tagebüchern fand ich Vorarbeiten für eine Teilpublikation der Aufzeichnungen aus den Jahren von 1945 bis 1949. Außerdem hat Gerhard Schulz die Eintragungen vom 14. und 20. Mai 1948 (allerdings in leicht überarbeiteter Form) in der FAZ vom 28. Mai 1998 publiziert. Als ich im Herbst 2004 mit der Lektüre der Tagebücher begann, fand ich die Einschätzung von Gerhard Schulz bestätigt, dass seine Tagebucheintragungen aus den Jahren, die er in der SBZ bzw. in der D D R gelebt hat, editionswürdig sind. Dies trifft sicherlich nicht für alle Teile zu - insbesondere nicht für sehr private Notate über erste Liebesbeziehungen und längere Zitate aus wissenschaftlichen Werken - , so dass nur - wie auch von Gerhard Schulz vorgesehen - eine Teilveröffentlichung vorgenommen werden kann. Die Veröffentlichung umfasst den Zeitraum vom 15. November 1945 bis zum 2. Juni 1950, d. h. von der ersten überlieferten Eintragung bis zum (auch innerlichen) Vollzug des Überwechseins nach Berlin (West). Gerhard Schulz lebte in dieser Zeit anfangs bei seinen Eltern in Mahlis, in das er auch immer wieder für längere oder kürzere Zeit zurückkehrte, während er zunächst in Dresden (WS 1946/47) und dann in Leipzig (SS 1947-WS 1949/50) studierte. An die Stelle von Mahlis als Flucht- und Ruhepunkt trat am Ausgang des Jahres 1949 das kleine Städtchen Perleberg im Landkreis Prignitz, in dem der Vater von Gerhard Schulz im Sommer des Jahres eine Beschäftigung gefunden hatte. Es kann im Folgenden nicht darum gehen, detailliert auf den Inhalt der Notate einzugehen. Stattdessen sollen nur die wichtigsten Themenkreise vorgestellt werden, die im Tagebuch dieser Jahre ihren Niederschlag gefunden haben. Dieses enthält eindrucksvolle Schilderungen über die Not, die in den ersten Jahren das Leben der Bevölkerung der SBZ prägte. Kälte und Hunger waren an der Tagesordnung und machten insbesondere das Leben in der Stadt zur Qual. Immer wieder finden sich Schilderungen von Gerhard Schulz, in denen die Schwierigkeiten betont werden, in ungeheizten Räumen und mit leerem Magen dem Studium nachzugehen. Erst im Dezember 1949 konstatiert er ein Ende der Ernährungssorgen und einen Tag vor Heilig Abend schreibt er in sein Tagebuch: „Zu Weihnachten winkt erstmalig seit Jahren eine fette Gans."

Einleitung

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Das Tagebuch gibt anschauliche Einblicke in das Schulwesen in der SBZ im Jahr 1946. Denn Gerhard Schulz heuerte - in Ermangelung eines Studienplatzes - zunächst als „Neulehrer" an. Dabei handelte es sich um zumeist junge Leute, die ohne entsprechende Ausbildung als Lehrer angestellt wurden, um die große Zahl der Lehrer zu ersetzen, die wegen einer NS-Belastung aus dem Dienst entlassen worden waren. Gerhard Schulz schildert anschaulich die vielfältigen Probleme des Schulalltags für die „Neulehrer", die sich gegenüber ihren Schülern oft nicht durchzusetzen vermochten und sich bisweilen nur durch Prügelstrafe zu helfen wussten. Zutage tritt aber auch das entschiedene Bestreben der SED, die „Neulehrer" ideologisch auf Kurs zu bringen. Ähnlich plastisch sind die Schilderungen über die Zustände an den Universitäten. Die Aufzeichnungen informieren über die Probleme, 1945/46 überhaupt einen Studienplatz zu bekommen. Sie zeigen, wie gering die Wahlmöglichkeiten waren und welche Schwierigkeiten zu überwinden waren, wenn der Studienort oder die Fakultät gewechselt werden sollten. In diesen Fällen hatte man nicht nur gegen SED-Bürokraten anzukämpfen, sondern war letztlich abhängig von der Entscheidung der Besatzungsmacht, die in letzter Instanz bestimmte. Da sich Gerhard Schulz bereits 1946 durch den Eintritt in die LDP politisch engagierte und an der Universität Leipzig als Vertreter dieser Partei im Dezember 1947 in den Studentenrat gewählt wurde, vermitteln seine Notate auch tiefe Einblicke in die Hochschulpolitik in der SBZ. Sie zeigen, mit welcher Brutalität die SED den politischen Kampf mit den anderen Parteien innerhalb der Studentenschaft führte und zu harten Maßnahmen griff, wenn sich deren Vertreter nicht an ihre Vorgaben hielten. So geriet auch Gerhard Schulz in das Visier der Kommunisten, die ihn zwar nicht wie andere verhafteten und verurteilten, aber sein Stipendium strichen und ihn einschüchterten, indem sie ihn öffentlich diskreditierten. Im Zusammenhang hiermit entstanden bei Gerhard Schulz im November 1948 erstmals Fluchtgedanken, die ihn bis in das Frühjahr 1950, als er sie nach langem Zögern in die Tat umsetzte, nicht mehr losließen. Durchgängig findet man in den Tagebucheintragungen eine entschiedene Ablehnung des Bolschewismus und damit der Sowjetunion. Deren Einwirkungen auf Entscheidungen bis auf untere Ebenen erlebte er ein um das andere Mal am eigenen Leib, was ihn - wie er am 10. Juni 1948 dem Tagebuch anvertraute - „von jedem auch nur vorübergehenden Hauch leichten Verständnisses gegenüber dem östlichen System" geheilt habe. Ein gutes Jahr später - am 9. August 1949 - bezeichnete er die SBZ als ein „Seuchengebiet", in dem „die Pest des zur Macht gelangten fanatischen Bolschewismus" wüte. Dieses Verdikt bezog sich selbstverständlich auch auf die SED, deren Vorgängerpartei, der KPD. er schon am 18. November 1945 vorwarf, dass sie „nichts weiter als die Einheit der politischen Fallschirmjäger des Bolschewismus" sei, „die Rußland im deutschen Volk ausgesetzt" habe. Deutlich anders bewertete Gerhard Schulz den Sozialismus. Sozialismus war für ihn - wie er am 14. Januar 1947 seinem Tagebuch anvertraute - „bei

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weitem mehr [...] als nur eine Lösung ökonomischer Probleme", sondern er sah in ihm die Chance, „dem Menschen ein freies und würdiges Leben in der Gesellschaft zu ermöglichen." Im Sozialismus sah er die Grundlage für eine „neue Ordnung" (4. Dezember 1947), deshalb galt es, „die Bevölkerung der Ostzone im Sinne sozialer Demokratie zu erziehen" (10. März 1948). Am 22. September desselben Jahres zeigte er sich überzeugt, „daß die sozialistische Gesellschaftsordnung gewiß funktionieren kann". Dabei ließ er sich von der Überzeugung leiten, dass „der Kern des Sozialismus [...] humanitär" sei. Verbunden war diese positive Einschätzung allerdings mit der Sorge, dass eine „politische Funktionärsgesellschaft" entstehen und „darüber der Sinn des Sozialismus" verloren gehen könne (31. März 1949). Der an sich positiven Einschätzung der Zukunftsfähigkeit des Sozialismus - ja des Kommunismus entsprach [die] negative Einstellung gegenüber dem Bürgertum, das er als „Übergangserscheinung" etikettierte (29. März 1949), und ein ausgeprägter Skeptizismus gegenüber der Demokratie, die er in seinen Aufzeichnungen wiederholt problematisierte. Trotzdem blieb er bei seiner distanzierten Haltung gegenüber dem sich herausbildenden SED-Regime. Dass dies so selbstverständlich nicht war, ergibt sich aus den Aufzeichnungen, in denen Gerhard Schulz seine Gespräche mit Egon Groschopp festhält. Dieser war wie er Student, der anfänglich ebenso dem SED-Regime kritisch gegenüberstand. Er näherte sich aber im Laufe der Zeit immer stärker dem SED-Kurs an und wurde schließlich zu einem Funktionär dieser Partei. Im Zentrum der Aufzeichnungen steht die geistige, wissenschaftliche Entwicklung von Gerhard Schulz. Diese will ich unter vier Aspekten zusammenfassen. 1. Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit; 2. die Prägung durch Lektüre von Zeitschriften und der Schriften herausragender Wissenschaftler; 3. die Annäherung an die Geschichtswissenschaft; 4. die Entscheidung für den Beruf des Historikers. 1. Wie die Tagebucheintragungen zeigen, tat sich Gerhard Schulz schwer, einen klaren Trennungsstrich zum Dritten Reich zu ziehen. So notierte er am 2. Juni 1946: „Ich bin weit davon entfernt, all das, was die nationalsozialistische Zeit hervorgebracht, in summa zu verurteilen." Sicherlich empfand er den „Gedankefn] der KZ" entsetzlich (7. Juni 1946). Das hinderte ihn aber nicht daran, bis in das Jahr 1948 hinein von „konstruktiven Tendenzen" des Nationalsozialismus zu sprechen und den Namen „Nationalsozialismus in gewisser Hinsicht auch für uns" als „Verheißung" zu bezeichnen, „die uns den Weg in die Zukunft weist" (17. August 1948). Es war daher nur folgerichtig, daß Gerhard Schulz stolz auf Albert Speer war (24. Juni 1949) und den Nürnberger Prozess als „politischen Akt der Siegermächte" ablehnte (2. Oktober 1946). Bei aller immer wieder durchscheinenden Distanzierung bestimmter mit dem Nationalsozialismus verbundener Fehlentwicklungen, hielt er an einer ambivalenten Beurteilung Adolf Hitlers fest („Riesengestalt", die „jedes Maß der Wirklichkeit zerbricht und sich schließlich ergießt in einem wild

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schäumenden Vernichtungsdrang, der alles Konstruktive ertränkt", 15. Dezember 1946); und er war von einem „vernünftigen dem Nationalsozialismus zugrundeliegenden G e d a n k e n g u t " überzeugt (8. Januar 1947). Mit Nachdruck wies er einen Schuldvorwurf an das deutsche Volk zurück („Eine Urschuld fühlte ich nicht."), da er erst heute „nach intensivem Studium seit der Katastrophe von 1945 einige Zusammenhänge zu begreifen und Erkenntnisse zu gewinnen beginne" (11. Januar 1947). Dies hatte Auswirkungen auf sein Urteil über die Männer des 20. Juli 1944, denen er bescheinigte, dass sie „die besten und vor allem gerechte und verantwortungsbewußte Kräfte waren" (9. Oktober 1946), die „dem Ethos der Verpflichtungen über Menschheit und Menschlichkeit" den Vorrang gegeben hätten gegenüber dem Ethos des „soldatischen Gehorsams" (23. März 1947). 2. Gerhard Schulz las regelmäßig eine Reihe von Zeitschriften, darunter insbesondere solche, die in den Westzonen erschienen. Während er den „Aufbau", eine vom Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands herausgegebene Zeitschrift in der S B Z äußerst negativ („Plattheit fast aller Verfasser") bewertete (30. Januar 1946), erhielt die in Freiburg im Breisgau erscheinende Zeitschrift „Die Gegenwart" ein positives Urteil, da „der größte Teil ihrer Artikel [...] scharfe und tiefe G e d a n k e n " wiedergäben (9. Oktober 1946). Noch positiver schätzte Gerhard Schulz die „Göttinger Universitätszeitung" ein, deren „freiheitlichen Geist" er schätzte ( 1. Dezember 1946) und in der er selbst einen kleinen Artikel publizierte ( 25. März 1947). Geradezu Begeisterung weckte bei ihm die „Amerikanische Rundschau". Hier fand er „so manchen prägnant formulierten G e d a n k e n " , dem er „freudig" zustimmte (8. Januar 1947). G r o ß war die Zahl der Werke bedeutender Autoren, mit denen sich Gerhard Schulz in den Jahren von 1945 bis 1950 auseinandersetzte und die sein Weltbild prägten. Sie können an dieser Stelle nicht alle genannt werden. Eine Auswahl muss genügen. Intensiv beschäftigte er sich mit Gustav Le Bon, Edgar Daque, Karl Marx, Lorenz von Stein, Franz Mehring, Richard Löwenthal, Karl Jaspers und in besonders starkem Maße mit Sören Kierkegaard, bei dessen Lektüre er „den Eindruck gewisser Verwandtschaften und enger Sympathien" gewann (7. Dezember 1949). Wenn man bedenkt, dass der Lesestoff von Gerhard Schulz aber weit darüber hinaus reichte und im Prinzip alle deutschen Klassiker bis hin zu modernen Schriftstellern wie Bert Brecht einbezog, wird der geistige Horizont deutlich, der sich ihm in diesen Jahren erschloss. 3. Es war die Pädagogik, die Gerhard Schulz zu Beginn seines Studiums als die Wissenschaft pries, die nach seiner Meinung den höchsten Rang einnahm. Es dauerte aber nicht lange, bis er die Geschichtswissenschaft höher einschätzte. Ihre Bedeutung lag für ihn zu Beginn des Jahres 1947 darin, „den Sinn der Entwicklung zu erfassen, um den Lauf, den natürlichen Lauf der Dinge, die Evolution ein Stück in die Z u k u n f t hinein verfolgen zu können". Der Pädagogik wies er zu dieser Zeit nur noch eine der Geschichtswissenschaft dienende Funktion zu, indem sie die Erkenntnisse der Geschichtswis-

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senschaft den Menschen vermittelte, um sie damit „in eine politische Existenz hineinzuführen" (22. Januar 1947). Vom „Bildungswert der Geschichte" schrieb er auch mehr als ein Jahr später, als er als Zweck der Geschichtswissenschaft ihren Beitrag zum „Verständnis der Gegenwart" bezeichnete, da keine „gründliche Aussage über das Augenblickliche" möglich sei, „wenn wir nicht um sein Gewordensein wissen" (30. Mai 1948). In die gleiche Richtung zielen seine Betrachtungen Mitte 1949, in denen er längere Ausführungen über die „Aufgaben des Historikers" anstellte. Er sah sie in der „wissenschaftlich gründlichen und exakten Betrachtung des Vergangenen", in der „Nutzbarmachung der Vergangenheit für das Leben der Gegenwart" und schließlich „in der Enthüllung der Realität der Gegenwart von jeder spekulativen Verschleierung im Verfolgen der historischen Entwicklungslinien". Letzteres verstand er als „kritische Geschichtswissenschaft". Hieraus zog er die Folgerung, dass der Historiker, der zugleich auch Pädagoge sein müsse, die Funktion eines Volkserziehers haben müsse (4. August 1949). Und wiederum ein gutes halbes Jahr später griff Gerhard Schulz das Thema erneut auf, als er der Geschichtswissenschaft, die die „Verbindungen von Gegenwart und Vergangenheit und von der Vergangenheit zur Gegenwart" herstelle, die „Vermittlung von Kultur" zuwies. Denn durch Ordnung und Vergleiche leiste sie „das Unersetzliche, in der Orientierung über Zustand und Werden zu höherer Einsicht zu gelangen". Deshalb, so Gerhard Schulz den Gedanken abschließend, sei ihr Nutzen „schlechthin unmeßbar" (26. März 1950). 4. Vor dem Hintergrund dieser Erwägungen stellte sich Gerhard Schulz immer wieder die Frage, welches Ziel er selbst anstreben sollte. Er schwankte längere Zeit zwischen den Berufen des Politikers oder Wissenschaftlers bzw. des Erziehers. Letztlich - so schrieb er am l.Mai 1948 nieder - wolle er die Befähigung erlangen, „gestaltend in das Werden der Gesellschaft, in der ich lebe, einzugreifen". Dabei neigte er mehr und mehr dazu, seine Aufgabe als Wissenschaftler zu sehen: So notierte er am 12. März 1947 in sein Tagebuch, er habe den Eindruck, als bräche jetzt seine „ganze Freude und Liebe zur Wissenschaft auf", wobei damit mehr und mehr die Geschichtswissenschaft gemeint war. Allerdings stellte er sich auch gegen Ende des Jahres 1948 noch die Frage: „Warum studiere ich Geschichte?", ohne eine ihn befriedigende Antwort zu finden (29.November). Trotz immer wieder auftauchender Zweifel war die Entscheidung für den Beruf des Historikers spätestens bei seinem Wechsel an die FU Berlin gefallen, wobei es sein Ziel war, „einmal etwas Besonderes zu sein und Ungewöhnliches" zu tun. Der junge Gerhard Schulz wollte „etwas Besonderes, Einmaliges, etwas Neues" leisten und es ängstigte ihn die Vorstellung, „keinen Platz in der Welt einnehmen und keine Aufgabe in Einmaligkeit erfüllen zu können" (3. April 1950). Dies war fürwahr ein gewaltiger Anspruch an das eigene Ich, den einzulösen Gerhard Schulz stets bestrebt war, ohne dass er je davon überzeugt war - wie seine späteren Tagebucheintragungen ausweisen ihm gerecht geworden zu sein.

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In der Edition werden die Auslassungen nicht kenntlich gemacht, Lebensdaten (und Vornamen) von Personen aus dem Umkreis von Gerhard Schulz wie z.B. Lehrer und Lehrerkollegen, Parteifreunde und Amtsträger auf örtlicher Ebene, Kommilitonen und Dozenten an Parteischulen - , die auch später keine herausragenden Positionen erlangt haben, nicht nachgewiesen. Die Kommentierung ist bewusst knapp gehalten, auf Literaturangaben wurde - wenn irgend möglich - verzichtet. Als Belege herangezogen wurden Archivalien aus dem Nachlass von Gerhard Schulz im Bundesarchiv Koblenz (N 1312), die in einigen Fällen äußerst hilfreich waren. Für die Unterstützung für das Entstehen dieser Edition ist mehreren Personen Dank abzustatten. An erster Stelle den beiden Söhnen von Gerhard Schulz, Cornelius Schulz-Popitz und Johannes Schulz, die mir das Tagebuch ihres Vaters kurz nach dessen Tod aushändigten und meinem Vorschlag zustimmten, einen Teil dieses Tagebuchs zu edieren. Ich bin ihnen außerdem dankbar, dass sie nicht auf schnelle Rückgabe der Tagebücher drängten, als sich das Editionsunternehmen aufgrund anderer dienstlicher Inanspruchnahme über Gebühr verzögerte. Zu danken habe ich meiner Mitarbeiterin Frau Renate Naeve-Hoffmann für die Übertragung der handschriftlichen Vorlage in Maschinenschrift und meiner Doktorandin Elisabeth Zellmer für die Unterstützung bei den Kommentierungsarbeiten.

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Mahlis, den 15. November 1945 In der letzten Nacht ist der erste Schnee gefallen; draußen ist alles weiß. Wahrhaftig, es ist Winter geworden. Die Kälte der letzen Tage hat man kaum beachtet, vielleicht weil es in den letzten Wochen schon öfters kalte Tage gegeben hat, vielleicht auch weil in dieser schweren Zeit die Not unsere Gefühle für Hunger und Kälte abgestumpft hat. Die weiße Decke aber, die nun über die Flur gebreitet ist, ruft unerbittlich unser Bewußtsein. Der Gedanke an Weihnachten aber ist zum ersten Mal voller Traurigkeit. Das Heimweh macht sich mit Heftigkeit bemerkbar. Der Gedanke an unser gutes Haus, den Garten, die warmen Stuben und die Geborgenheit daheim stimmt uns wehmütig und läßt manches Mal Tränen in die Augen treten. 1 Mahlis, den 18. November 1945 Je öfter ich in unsere heutigen Zeitungen schaue, desto verlogener und falscher erscheinen mir die kommunistischen Parolen und Phrasen vom Nationalbewußtsein, Zusammengehörigkeitsgefühl des deutschen Volkes, von der Betonung des Eigentumsprinzips und der Ablehnung des bolschewistischen Kollektivgedankens. Die Kommunisten tarnen sich. Nur aus gelegentlichen Entgleisungen erfährt man ihre wahren Absichten. Doch sicherlich kennen nur wenige deutsche Kommunisten die wahren Ziele ihrer Partei. Die KPD verfolgt eine Geheimpolitik, die, nach außen hin allerdings kaum erkennbar, sich nach den jeweiligen Weisungen aus Moskau richtet. Und jetzt gibt es den Versuch, das deutsche Volk auch innerlich geistig wehrlos zu machen und es möglichst restlos dem Kommunismus und damit dem Bolschewismus zuzuführen. Das aber kann nur [mit] äußerster Vorsicht geschehen. Der Weg zu diesem Ziel führt nur über die deutsche Intelligenz. Vor allem ist es Rußland angelegen, nicht nur Ost- und Mitteldeutschland zu beherrschen, sondern ganz Deutschland, um damit das Herz Europas für sich schlagen zu lassen. Eine Herrschaft über das ungeteilte Europa wird nur von seinem Zentrum aus möglich sein. Darum geht es. Solange die Westmächte aber als Gegner in Frage kommen können, gilt es, das deutsche Volk von innen her zu bolschewisieren. Wir müssen uns abgewöhnen, in der Kommunistischen Partei eine politische Willensrichtung der Demokratie zu sehen. Sie ist nichts weiter als die 1 Gerhard Schulz war in Sommerfeld in der Niederlausitz geboren worden und dort aufgewachsen. Anfang des Jahres 1945 war die Familie geflüchtet. Sommerfeld fiel an Polen und trägt seit 1945 den Namen Lubsko.

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Einheit der politischen Fallschirmjäger des Bolschewismus, die Russland im deutschen Volk ausgesetzt hat. Mahlis, den 21. November 1945 Die Zeitungen bringen Berichte von Stalingrad. Vor drei Jahren trat die Rote Armee zum Gegenangriff an, der zur Einkesselung und im Januar 1943 zur vollständigen Vernichtung unserer 6. Armee führte. 2 Der große Schlag für uns; das Verdun dieses Krieges! 3 Aber diese Schlacht war mehr als eine Ausblutungsschlacht: Sie wurde zur Entscheidungsschlacht des zweiten Weltkrieges. Mit seiner besten und stärksten Stoßarmee verlor Deutschland mehr als eine Viertelmillion seiner besten Soldaten. Die Wolga machte der deutschen Offensivkraft ein Ende. Hier begann die große Tragödie unseres Ringens. Heute spielen deutsche Lichtspieltheater den sowjetischen Siegesfilm von Stalingrad. 4 Es ist nun Tatsache geworden, was wohl manche von uns in den Stunden der Trauer vor fast drei Jahren als bösen Traum erlebten. Unsere Führung hat das furchtbare Unheil nicht abwenden vermögen [sie!]. Unser Wille konnte das Schicksal nicht aufhalten. Stalin sagte: „Bei Stalingrad ging die faschistische Armee unter." 5 Damals war die Furcht in den Herzen weniger, derer wir nach kurzer Zeit im jugendlichen Optimismus Herr wurden; heute ist es uns allen erbarmungslos zur Klarheit geworden. Mahlis, den 25. November 1945 6

Ab morgen soll Papa nun Waldarbeiter sein. Es gibt keine anderen Stellungen für ihn als ehemaligen Pg. Er sieht eine Möglichkeit in der Änderung seines Schicksals lediglich in dem Versuch, [in] eine der vier Parteien 7 aufgenom2

Am 2. Februar 1943 kapitulierte die 6. Armee der deutschen Wehrmacht nach zahlreichen Kämpfen in Stalingrad. Dieser Tag gilt als Wendepunkt des Zweiten Weltkrieges, der die Niederlage der deutschen Wehrmacht einleitete. 3 Die Schlacht um Verdun vom 21.Februar 1916 bis 20.Dezember 1916 eröffnete die großen Materialschlachten des Ersten Weltkriegs. 4 Titel des Films: „Die Stalingrader Schlacht", Regie: Wladimir Petrow. Der monumentale Historienfilm (Dauer: 200 Minuten) feierte die „monumentale Feldherrnkunst" Stalins. 5 Zitat aus dem Bericht des Vorsitzenden des Staatlichen Verteidigungskomitees in der Festsitzung des Moskauer Sowjets der Deputierten der Werktätigen gemeinsam mit den Partei- und gesellschaftlichen Organisationen der Stadt Moskau vom 6.11.1953, abgedruckt in J. W. Stalin: Werke, Bd. 114: Februar 1934 - April 1945, CD-ROM (nach der Ausgabe J. W. Stalin Werke, Dortmund 1976), S. 184. 6 Ernst Albert Curt Schulz (1894-1973). 7 Infolge des Befehls Nr. 2 vom 10.6.1945 der SMAD waren in der SBZ bis Anfang Juli 1945 die KPD, die SPD, die C D U D und die LDPD gegründet worden.

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men zu werden. Heute hat Papa seinen Antrag auf Aufnahme in die SPD geschrieben; das ist die einizige Partei, die hin und wieder ehemalige Pgs aufnimmt. Ich habe anfangs Papas Entschluß widersprochen. Doch nun glaube ich, daß keine andere Möglichkeit für ihn besteht, sein Los zu bessern, unter dem er und auch Mama 8 so furchtbar leiden. Die Wahl der Partei spielt dabei vorläufig kaum eine Rolle. Hauptsache ist, Papa tritt nicht einer Partei bei, die die Kommunisten unterstützt. Eine solche gibt es Gott sei Dank nicht. Auch die SPD steht trotz aller Freundschaftsbeteuerungen tatsächlich nicht auf Seiten der KPD. - Zum dritten Male verspürt Papa den Fluch der notwendigen Parteibindung. Wider seinen Willen muß er sich einer politischen Richtung anschließen, die er niemals gutheißen kann; nur um seine Existenz wiederzufinden. Die Demokratie in Wirklichkeit!

Mahlis, den 8. Dezember 1945 Frohen Mutes kam ich gestern zurück, trotz der Kälte. Es kommt mir manchmal vor, als gäbe es im Leben, wenn es gerade am traurigsten erscheint, manchmal Augenblicke, in denen die Sonne gleichsam mit neuer strahlender Kraft die trüben Wolken durchbricht. In Halle habe ich einen Antrag auf Immatrikulation gestellt, der wahrscheinlich positiv beantwortet wird, doch ist noch nichts gewiß über den Eröffnungstermin. Im letzten Moment, wie ich bereits glaubte, alle Schwierigkeiten überwunden zu haben, sagte man mir jedoch, daß ich trotz meines neu ausgestellten Reifezeugnisses an einem Ergänzungskurs teilnehmen und bis zur Beendigung des ersten Semesters eine regelrechte Reifeprüfung mit Latein und allen Schikanen ablegen müsse. Ich habe S. Magnifizenz schriftlich um Befreiung von dieser Prüfung gebeten. Hoffnung habe ich allerdings wenig. Wie ich wieder in Leipzig ankam, war ich nicht gerade hochgestimmt. Von Luise9 erfuhr ich, dass sie sich um Anstellung in einer Volksschule als Laienlehrkraft 10 beworben [hat]. Sie wird wahrscheinlich zum 1. Januar anfangen können. 8

Johanna Elise Schulz, geb. Dvorsak (1895-1981). Luise Langendorf (geb. 1925), seit WS 1946/47 Studentin an der Universität Leipzig (Geschichte. Geographie, Publizistik), am 10.9.1947 von den Sowjets wegen angeblicher Spionage verhaftet und im Mai 1948 von einem sowjetischen Militärtribunal zu einer Haftstrafe von 25 Jahren verurteilt. 1955 aus der Haft entlassen. 9

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Zur „Demokratisierung" der Lehrerschaft und wegen der hohen Zahl entlassener Lehrer wurden auf der Grundlage des Befehls Nr. 162 der SM A D ca. 24000 Neulehrer eingestellt. Dabei handelte es sich um meist junge Menschen unter 30 Jahren (z.T. sogar unter 20 Jahren) überwiegend aus Arbeiter-, Handwerker- und Bauernfamilien, die neben dem Unterricht in achtmonatigen Lehrerkursen ausgebildet wurden. Obwohl viele dieser „Neulehrer" ihre Arbeit wieder aufgaben, blieb ihr Anteil vor allem an den achtklassigen Grundschulen hoch. Oskar Aweiler: Bildungspolitik, in: Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Bd. 1: 1945-1949. Die Zeit der Besatzungszonen, Sozialpolitik zwischen Kriegsende und der Gründung zweier deutscher Staaten. Bandherausgeber: U d o Wengst. Baden-Baden 2001, S.724.

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Gestern Vormittag bin ich in der gleichen Angelegenheit beim Schulrat des Landkreises Leipzig gewesen. Es würde auch bei mir klappen, wenn ich die Schwierigkeiten, ein politisches Zeugnis und eine Zuzugsgenehmigung für Leipzig zu erlangen, überwinden könnte; und das scheint mir möglich. Jedenfalls sehe ich wieder einmal meine Zukunft in rosigstem Licht. „Mit unseren jungen Leuten wie Sie steht und fällt unser Bildungswesen", sagte mir der Schulrat, ein in mittleren Jahren stehender energischer und zielbewußter Mann von einfachem Äußeren. E r verlangt von mir restlosen Einsatz. Ich soll mich für die nächste Zeit ganz der Schule verschreiben. Ich erwiderte, daß ich alle meine Kräfte in den Dienst des Lehrberufes stellen und daß ich bis zur Erlangung meiner Studienmittel ihn möglichst vollkommen auszufüllen versuchen würde. Mahlis, den 13. Dezember 1945 Doch ich hoffe auf eine baldige Beschäftigung, die noch vor Beginn des Studiums meinem Herumsitzen ein Ende bereitet: Der Schulrat des Kreises Oschatz hat mir versprochen, mich irgendwo in der Umgebung als Laienlehrer einzusetzen. Meine Bewerbung habe ich ihm schon zugestellt. Doch wie oft haben wir schon gehofft! Mahlis, den 14. Dezember 1945 Unter der Oberfläche der Stille gärt es heimlich. Wilde Gerüchte schwirren umher. Der Russe hat heimlich durch die kommunistischen Bürgermeister Menschen und Vieh zählen lassen. Es mußten alle wehrfähigen Männer angegeben werden. Mahlis, den 18. Dezember 1945 Heute mußten sich alle ehemaligen Wehrmachtsangehörigen auf dem Gemeindeamt melden. Gestern gab es zum ersten Male seit langem wieder so etwas wie Bezugsscheine, allerdings nur für wenige Gemeindemitglieder. Das Dorf [1200 Einwohner] erhielt eine schriftliche Zuweisung von zwei Paar Herrensocken und 15 Hemden; für jedes Stück war der Preis R M 0,50, die im voraus bezahlt werden mußten. Diese Art der Bedarfsdeckung kann man wohl nur in einer bolschewistischen Wirtschaft finden.

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Leipzig, den 20. Dezember 1945 Großstadt! Eigentlich bin ich mehr für das Land, doch kann ich mich ihrem Zauber nicht versagen. Je öfter ich nach Leipzig komme, desto inniger besinne ich mich auf meine alte Liebe zu ihr. 11 Auch das ist Großstadt: Sie gaukelt einem die holdesten Bilder vor und macht sie wieder verschwinden. Nichts Stetiges! Alles vergeht im großen Strudel von Menschen und Geschehnissen. Nichts bleibt als Wehmut im Herzen oder man müßte schnell zupacken, die Gunst des Augenblicks im Nu erfassen; doch ich bin mehr fürs Land, schade, leider. Mit Schulrat Flämig fuhr ich nach Oschatz. Er hat mir zugesichert, daß ich zum 1. Januar als Laienlehrer eingestellt würde. Doch ich habe kein völliges Zutrauen zu ihm. Flämig hat etwas Unbeständiges, sogar etwas Bonzenhaftes an sich. Er scheint mir übrigens viel zu vergessen oder vergessen zu können. Scheinbar wollte er mir auf den Zahn fühlen, als er von den Segnungen der Demokratie für das Schulwesen sprach und besonders die Förderung erwähnte, die Schule und Bildung in der Sowjetunion erfahren. Ich habe zu fast allem geschwiegen. Es gab auch kaum etwas zu sagen für mich. Die Politik kennt nur schwarz und weiß. Und die Schule hat nun einen Platz in der Politik zugewiesen bekommen; eigentlich paßt das nicht zur Demokratie. Die wahre Demokratie haben wir aber auch nicht. Allerorten geht es nur darum, den „Faschismus" auszurotten. Dabei fällt man nur von einem Extrem ins andere. Der Tausch hat sich jedoch als schlecht erwiesen. Die Zustände sind überall nicht mehr länger haltbar, sagt sogar Flämig. Das war das eine, meine Fahrt nach Halle das andere. Mein Antrag auf Immatrikulation ist noch nicht von der Regierung beantwortet, die neuerdings alle Angelegenheiten der Universität einer Prüfung unterzieht. Ich habe wieder einen Antrag gestellt, jetzt aber auf Gewährung eines Stipendiums. Neuerdings bestehen wieder Förderungsmöglichkeiten.

Mahlis, den 24. Dezember 1945 Heiliger Abend! Ganz unweihnachtlich ist es draußen, sonnig und warm. Die Erinnerungen an daheim erwachen heute mit besonderer Stärke. Noch vor einem Jahr sind wir für die Kriegsverhältnisse außerordentlich beschenkt worden. Danach konnten wir uns noch am Fleisch satt essen. Doch wenige Wochen später mußten wir in aller Eile Abschied nehmen von daheim. Weihnachten wie noch nie! So schreiben heute die Zeitungen. So ist es auch, wenn auch in anderem Sinn, als die es wohl meinen: Im vergangenen Jahr haben wir unser bisheriges

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G e r h a r d Schulz hatte v o n 1941 bis 1942 die W i r t s c h a f t s o b e r s c h u l e d e r Industrie- und H a n d e l s k a m m e r in Leipzig besucht.

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Leben verloren. Nun streben wir danach, ein neues Dasein zu finden. Dieses Suchen wird zu einer inneren Revolution für jeden einzelnen. Sie ist unheimlich opfervoll. Immer noch sind Unmut und Verzweiflung da und drohen, Gewalt über uns zu gewinnen. In dieser Zeit des Chaos suchen wir unter Trümmern nach dem Rechten und Guten, um ein neues Gebäude für unser Sein zu errichten. Wie kann es in dieser Zeit und unter diesen Umständen auch nur eine Stunde innerer Ruhe geben? Wir sind zu sehr innerlich aufgewühlt und zerrissen, als daß wir den weihnachtlichen Frieden in uns spürten. Und wie es in uns aussieht, so ist es auch um [uns] umher. Wir haben zum ersten Male keinen Weihnachtsbaum. Drei Zigarren sind das einzige, das diesen Tag aus der Reihe der anderen Tage heraushebt, und ein wenig Kuchen. Mahlis, den 27. Dezember 1945 Heute habe ich Herrn Dietze 12 aufgesucht, den Schulleiter in Wermsdorf und Stützpunktleiter der Liberal-Demokratischen Partei. Ein dünnes, zierliches Männchen mit Brille ist das, eifrig und stets Lehrer, der Typ des Lehrers, wie ich ihn nicht achten kann, der nichts weiß und doch stets belehren will. Dieser Mann, der natürlich heute auch glaubt, Richter sein zu können über Nationalsozialismus und Vergangenheit, hat wohl in seinem bestimmt an die fünfzig Jahre zählenden Leben nichts anders gekannt als den Lehrberuf. Seine Kenntnisse] von den vielen Dingen des Daseins sind gleich null. „Bildung" ist das wichtigste Hauptwort für ihn. Doch dürfte bei ihm selbst nicht allzu viel davon zu finden sein. Dieser Mann vertritt nun hier die L.D.R, die er als die Partei auffaßt, die die Rechte und Forderungen des Lehrers verwirklichen will. Alle anderen Dinge des politischen Lebens sind für ihn und seiner Meinung nach auch für seine Partei unwichtig. - Er hat mir lange und viel erzählt. Erfahren habe ich von ihm gar nichts. Er wußte ja nichts. Sicherlich aber glaubt dieser Schlaumeier, einen ungeheuren Eindruck zu machen, wenn er die Schleusen seines imaginären Wissens öffnet. Nun, ich lasse ihm gern diese Einbildung. Mittelmäßigkeit und gar Dummheit regieren zu sehen, ist heute nichts Neues. Dieser Mann hat vielen anderen Menschen noch voraus, daß er an und für sich nicht bösartig und gemein ist.

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Johann Dietze.

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Schloß Hubertusberg, den 3. Januar 1946 Seit dem 28. Dezember liege ich wieder im Lazarett. Darmverschlingung und -verklemmung in der noch immer aufgebrochenen Bauchnarbe! 1 Ich glaubte, die Schmerzen in der Nacht vom 27. zum 28. Dezember nicht mehr zu überstehen. Morgens um 4.00 Uhr spannte Strobach an, brachte mich hierher. 2 Noch am gleichen Tag wurde ich operiert. Schloß Hubertusberg, den 18. Januar 1946 Reichsgründungstag! Zum ersten Male seit Bestehen Deutschlands als Reich um den Kern Preußen wird dieses Tages nicht gedacht. Freilich, von wem sollte das Gedenken kommen, da unsere Feinde nicht den Anstoß dazu geben. Wenn etwas dazu angetan ist, mich in Aufregung zu versetzen, so die Nachricht, dass am 1. Februar die Universität Halle ihre Vorlesungen in vier Fakultäten, auch in der Rechts- und Staatswissenschaftlichen beginnt. In einigen Tagen werde ich entlassen. Noch in diesem Monat will ich nach Leipzig und Halle fahren. Allerdings wäre eine mehrwöchige Erholung jetzt für mich durchaus angebracht. Mahlis, den 22. Januar 1946 Nun wieder „zu Hause". Es ist bitter kalt. Ununterbrochen geht seit gestern ein scharfer Ostwind. Selbst bei ständigem Feuern werden die Stuben nicht recht warm. Die Fahrt nach Mügeln war unnütz. Wir erhielten unsere Papiere, ohne dem russischen Kommandanten vorgestellt zu werden. Doch es war das letzte Zusammensein mit Kameraden. Wie nichts in meinem Leben bisher hat mir das Leben mit Kameraden, das mich auch jetzt wieder aufgerichtet hat, unendlich viel gegeben. Das längere ungestörte Zusammensein in großer Kameradschaft wird mir meine Lazarettzeit trotz allem immer zur schönen Erinnerung werden lassen. Das Dahinvegetieren der letzten Monate im vergangenen Jahr soll nun ein Ende finden. Übermorgen will ich nach Leipzig und Halle fahren.

1 Schulz war 1944 in Italien durch e i n e n B a u c h s c h u s s verletzt w o r d e n . D i e s e r m a c h t e auch in s p ä t e r e n Jahren w i e d e r h o l t O p e r a t i o n e n nötig. 2

S c h l o s s H u b e r t u s b e r g d i e n t e d a m a l s als Lazarett.

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Mahlis, den 27. Januar Durchgefroren und abgespannt kam ich gestern abend von Leipzig und Halle zurück. Im Zuge brannte kein Licht; durch die Fenster schimmerte matt die weiße Schneedecke, die der Januar über das Land gebreitet. Es war die rechte Dämmergemütlichkeit, zumal der Wagen, in dem ich saß, geheizt war. Da formen sich die Gedanken am leichtesten. Wie wohltuend die Dämmerung über der weiten, nur hin und wieder gehügelten weißen Fläche war. Vereinzelt tauchten Bäume und Büsche auf; verschiedentlich fuhr der Zug an einigen Wäldchen vorüber. In den Mulden lagen die Menschenhäuser, wie junge Hunde nebeneinander zusammengekrochen. Und überall Stille. Es war mir, als durchführe ich zum ersten Male dieses Land, das im Herzen Deutschlands liegt und mich anmutete in seiner Unendlichkeit wie eine Landschaft im Osten. Mit einmal war ich dort, wo es in Europa noch Ferne und Ruhe gibt. Es war wie ein Traum. Und in ihm lag plötzlich wie eine Erlösung die Erkenntnis, dass diese Weite es ist, nach deren Ruhe ich mich sehne, nach der ich in Unrast gesucht. Sie allein, das glaube ich, kann Frieden geben und in der Stille die Tiefe. Wer je die Ferne im Osten geschaut, des Herz kehrt nie in die Enge zurück. Weite und Stille nur sind ihm vertraut, sie alleine schenken ihm Glück.

Mahlis, den 28. Januar 1946 In mir ist eine prickelnde Spannung. Morgen wird an der Universität der Entscheid über die Zulassung zum Studium für alle Studenten bekannt gegeben. Wenn ich, wie wir alle hoffen, zugelassen bin, beginnt für mich ein neues Leben. Schon jetzt bin ich im Geiste überall, nur nicht in Mahlis. Ich weiß nicht, ob mich das neue Leben befriedigen wird, da ich ja Stille und Weite suche, doch wird es mir neue Wege weisen. Und das zieht mich nach Halle. Mahlis, den 30. Januar 1946 Neulich habe ich zwei Nummern der Monatszeitschrift „Aufbau" erstanden. 3 Nur mit Empörung über die erstaunliche Plattheit fast aller Verfasser, die geradezu verantwortungslos ist, kann man die Aufsätze lesen. Fast alle Seiten der umfangreichen Hefte strotzen von Geistlosigkeit. Gewiß wäre eine bestimmte Kritik am Nationalsozialismus berechtigt. Diese Zeitschrift des soge-

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D i e Zeitschrift „Aufbau" wurde vom Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands herausgegeben und wandte sich an einen intellektuellen Leserkreis.

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nannten „Kulturbundes" 4 aber bringt nichts als hohle Propaganda und billige Haßgesänge. Dieser „ A u f b a u " m u ß von jedem vernünftig denkenden Deutschen unbedingt als liederlich e m p f u n d e n werden. Die Aufgabe wahrer Kulturträger der deutschen Nation wäre es, das Volk nach dieser ungeheuren Katastrophe den Weg innerer Einkehr finden zu lassen und es zur Läuterung zu führen. Doch der „Kulturbund" ist lediglich eine Vereinigung von Propagandamachern, sowohl aus dem Lager der Kommunisten als auch aus dem der längst ad absurdum geführten Reaktion, die immer noch ihre längst als Blödsinn erwiesenen Phrasen drischt. Kein wahrer Könner ist unter ihnen. Sie entbehren der geringsten Spur von Originalität und Glaubwürdigkeit. - Solange das deutsche Volk diesen Menschen ausgeliefert ist, gibt es keinen Aufbau. Aber man kann von dieser Zeitschrift nicht einmal sagen, daß sie zerstörend wirke; denn zu zerstören gibt es nichts mehr. Diese Aufsätze muten an wie Wutorgien an einem Grabe, unter dem einer liegt, an den sich zu seinen Lebenszeiten niemand herangewagt und den sie nicht getötet haben. Der Tag ist Spannung und Warten. Vorgestern habe ich telegraphisch die Universität um Bescheid über meine Zulassung gebeten; bisher keine Antwort. Gestern morgen habe ich ein dringendes Ferngespräch mit Halle angemeldet; ohne Erfolg. Heute scheint es ebenso zu werden. Jeder Tag ist jetzt kostbar, jede Stunde der Ungewißheit wird zur Qual. Wenn ich heute nachmittag keine Nachricht habe, werde ich mein Studium bis zum Beginn des Sommersemesters hinausschieben und nach Liptitz zum dortigen Schulleiter gehen.

Mahlis, den 31. Januar 1946 Ich war in Liptitz, gestern und heute wieder. Montag soll ich nun dort anfangen. Trotzdem ich immer noch keine Antwort aus Halle habe, begrabe ich meine H o f f n u n g doch nicht, in diesem Semester mit meinem Studium zu beginnen. Meine Sachen sind gepackt. Morgen früh fahre ich aufs Geratewohl nach Halle.

Mahlis, den 3. Februar 1946 Das Tor der alma mater bleibt vor mir geschlossen. Ich werde wohl immatrikuliert, für dieses Semester aber nicht mehr zum Studium zugelassen, da ich keiner der beiden Arbeiterparteien angehöre. - So sieht die Demokratie in Wirklichkeit aus. Fast meinen ganzen Aufenthalt in Halle habe ich damit zugebracht, ein Zimmer zu suchen. Endlich hatte ich eine nette Wohnung und eine freundliche Wirtin gefunden in einer Siedlung in einem der Außenviertel 4

Der Kulturbund war 1945 von der S M A D gegründet worden und stand bis 1958 unter der Leitung von Johannes R. Becher. Zu seinen Mitgliedern zählten u.a. die Schriftsteller Victor Klemperer, Anna Seghers, Christa Wolf und Arnold Zweig.

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Halles. Doch nun ist das umsonst gewesen. Schweren Herzens habe ich meine Sachen wieder gepackt und bin abgezogen. Nun werde ich vorläufig den Dorfschulmeister spielen müssen. Morgen trete ich mein Amt in Liptitz, eine knappe Wegstunde von Mahlis, an. Mahlis, den 4. Februar 1946 Mein erster Tag als Neulehrer. Zum ersten Male habe ich heute gesehen, daß der Lehrberuf bei weitem nicht so einfach und mühelos ist, wie allgemein angenommen wird. Mehr als einundeinehalbe Stunde Hin- und Rückweg, fünf Stunden fast ununterbrochen vor fast vierzig quicklebendigen kleinen Geistern stehen und reden, unzählige Male dasselbe, dort ermahnen, hier wieder unterbrechen. Das ist keine leichte Arbeit. Und zu Hause geht es weiter. Zwei Stunden reichen nicht zur Vorbereitung. Heute abend jedenfalls bin ich todmüde und erschöpft, als hätte ich schwere körperliche Arbeit geleistet. Meine Kinder, 5. bis 8. Schuljahr, sind fast ausnahmslos infolge der schlechten Schulverhältnisse während des letzten Jahres sehr zurückgeblieben. Es ist furchtbar viel nachzuholen, was noch erschwert wird, daß vier Jahresklassen zugleich unterrichtet werden müssen. Es ist für mich nicht leicht, plötzlich Pädagoge sein zu müssen. Und gerade diese kleinen Geister verlangen schon eine ganze Portion Pädagogik. Der Lehrer muss in erster Linie Erzieher sein. Ich versuche, Strenge und Grobheit zurückzustellen und, besonders gegenüber den älteren Jungen und Mädchen, einen freundlichen Ton anzuschlagen. Das wird auf die Dauer freilich viel Geduld kosten. Mahlis, den 7. Februar 1946 Jeder Tag ist ausgefüllt mit unermüdlicher Arbeit. Die Stunden des Unterrichts sind noch das wenigste. Der Weg hin und zurück und die gründlichen Vorbereitungen lassen kaum eine Stunde Freizeit. Und selbst die ist ausgefüllt mit den Gedanken an die Schule und an die Kinder. Immer wieder kommen mir neue Gedanken, wie ich den Unterricht gestalten muß, doch niemals scheint mir das Richtige getroffen. Der Tag ist zu einem Schaffen ohne Pause geworden. Die Nachtruhe empfinde ich endlich wieder als wohlverdienten Lohn. Die Augen fallen zu, fast ehe ich im Bett bin. Und doch ist Freude an dieser Arbeit. Heute zum ersten Male lernte ich das glückliche Gefühl des Lehrers kennen, als nach der Erdkundestunde die Kinder enttäuscht waren, daß die Zeit so schnell vergangen ist. Ich glaube sagen zu können, daß der Lehrer dann den Kindern eine gelungene Unterrichtsstunde geboten hat, wenn auch ihn der Stoff ergriffen, wenn auch ihm die Stunde gefallen hat. So war es auch mit dieser Erdkundestunde. Ihr Ende kam auch mir zu rasch.

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Gestern Nachmittag war Schulung der Neulehrer. Sie wurde in Wernsdorf von Schulleiter Dietze durchgeführt. Wenn ich auch so manches an dieser Dreistunden-Lektion von Dietze, der alles langweilig und langatmig und zuletzt dennoch zu oberflächlich behandelt, weil es ihm nicht gegeben ist, tatsächlich in ein Stoffgebiet einzudringen, auszusetzen habe, so bietet sie doch auch einiges Interessante. Vor allem freut mich diese Gelegenheit zur Aussprache über den Lehrberuf. Mahlis, den 8. Februar 1946 Der letzte Schnee ist nun verschwunden unter den Wassermassen - Regen ist ein viel zu schwacher Ausdruck - , die seit gestern ununterbrochen vom Himmel stürzen. Nur in Italien habe ich bisher solch Regenwetter von dieser Stärke erlebt. Das Tal von Mahlis gleicht einem einzigen See. Auf meinem Wege zur Schule und mittags zurück bin ich jedesmal bis auf die Haut durchnäßt worden. Papa muß bei diesem Wetter feiern. 5 In der Schule fiel heute die erste Ohrfeige. Ihr Erfolg war aber wesentlich anders, als ich erwartet hatte. Der betreffende Schüler nahm sie weniger mit Zerknirschung als vielmehr mit Betroffenheit und Wut entgegen. Sie hat keine heilsame Wirkung mehr. Ist einmal auf notwendige Strenge verzichtet worden, so ist der Weg zu ihr zurück schwer, wenn nicht gar unmöglich. Bei meinem Antritt hätte ich vielleicht die Möglichkeit gehabt, durch anfängliche Strenge die Sünden meiner Vorgänger wettzumachen. Doch aus Unerfahrenheit und langjähriger Gewöhnung an den Ton unter Kameraden gewährte ich manche Freiheiten und begann mit Großzügigkeit. Nun läßt sich das Versäumte nur schwer nachholen. Ich habe hier wieder einmal den Beweis für eine Feststellung, die ich schon längst gemacht hatte: Unbekannten Menschen, erst recht Kindern, muß man mit Zurückhaltung und einer gewissen Strenge begegnen. Nicht zu weit aus sich herausgehen muß man, sondern sie aus ihrer Reserve herauslocken. Aber noch etwas erkenne ich: Die Kinder der Volksschule - erst recht auf dem Dorfe - müssen als Kinder genommen werden, selbst wenn sie im letzten Schuljahre sind. Den Begriff „Jugendliche" kann man auf sie noch nicht anwenden. Es ist hier wieder ein wesentlicher Unterschied selbst zwischen Schülern von Volksschulen und höheren Schulen, die durch höhere geistige Veranlagung und eine ganz andere Umgebung und elterliche Erziehung bereits wesentlich gereifter sind. Als besonders hindernd bei meinem Lehrversuch empfinde ich die Tatsache, daß ich Kinder aus fünf Geburtsjahrgängen und aus den verschiedensten Gegenden Deutschlands - obendrein noch beiderlei Geschlechts - zu unter-

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D. h. der Vater von Gerhard Schulz konnte bei diesem Wetter seiner Arbeit nicht nachgehen.

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richten habe. Für einen Laien ist das fast zuviel. Doch ich will mit dieser Aufgabe fertig werden. Mahlis, den 9. Februar 1946 Auf Anordnung des Schulrats mußte ich über den Nürnberger Prozeß 6 Unterricht halten. Diese lächerliche Gemeinheit, das Kind, dessen Vorstellungswelt noch gar nicht in das Gebiet der Politik hineinragt, bereits in den politischen Kampf hineinzuziehen und es einseitig und undeutsch auszubilden, habe ich zu verhindern gesucht. Ich habe das Äußere dieses Prozesses behandelt und so darstellen lassen, wie es tatsächlich ist. Vor allem habe ich versucht herauszuarbeiten, daß es sich um die Spitzen der Führung des deutschen Volkes vor und während des Krieges schlechthin handelt, die hier auf der Anklagebank sitzen und von unseren Feinden abgeurteilt werden. Ich habe kurz die Bedeutung der sogenannten Kriegsverbrecher vor Kriegsende erwähnt. Ich habe diese Stunde so abgehalten, wie es einmal der Anordnung des Schulrates entsprach, wie es aber andererseits mein Gewissen von mir als deutschem Menschen erforderte. Ich hoffte nur, die Kinder hätten ein klein wenig von meinem Wollen verstanden. Unendlich verantwortungsvoll ist die Stellung des Lehrers. An ihm liegt es gerade heute, ob unsere Jugend einmal eine Blüte unseres Volkes wird hervorrufen können oder ob sie von Anfang an verdirbt und unser Volk von unten her abstirbt.

Mahlis, den 13. Februar 1946 Schulung in Oschatz. - Da sprach ein häßlicher, bereits älterer Schulleiter mit unangenehmem und falschem Pathos über „Friedrich Engels 7 und sein Zeitalter". In fast zwei Stunden suchte dieser Dummkopf zu beweisen, daß alle Großen tatsächlich verächtliche und skrupellose Menschen gewesen seien vom Großen Kurfürsten 8 bis zu Friedrich dem Großen 9 , Bismarck 10 , Schopenhauer 11 und Nietzsche 12 , weil sie sich als Herren gefühlt haben und noch nicht im sowjetischen Phrasenwahn versumpft sind. Für den Redner sind nur die unseligen Ideologen des Marxismus große und überlegene Geister: Marx 13 ,

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Der Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher fand vom 20.11.1945 bis 1.10.1946 statt. G e g e n 24 Angeklagte wurden 12 Todesurteile verhängt. 7 Friedrich Engels (1820-1985), zusammen mit Karl Marx Begründer des Marxismus. 8 Friedrich Wilhelm I. von Brandenburg (1620-1688). 9 Friedrich II., König in bzw. von Preußen (1712-1786). 10 Otto von Bismarck-Schönhausen (1815-1898), ab 1871 Fürst von Bismarck-Schönhausen, von 1871-1890 Reichskanzler des Deutschen Reiches (und preußischer Ministerpräsident). 11 Arthur Schopenhauer (1788-1860), Philosoph. 12 Friedrich Nietzsche (1844-1900), Philosoph, Dichter und klassischer Philologe. 13 Karl Marx (1818-1883), zusammen mit Friedrich Engels Begründer des Marxismus.

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Engels, Lenin 14 , Stalin 15 , Liebknecht 16 und Rosa Luxemburg 17 , jenes teuflischste Scheusal, dessen Bild ich jemals gesehen habe. Auf einige geschichtliche Verdrehungen - wer weiß, woher bezogen - kam es dabei nicht an. „Wir müssen uns neu orientieren, was für manchen schwer, für viele sogar etwas schmerzlich sein mag, die an unserer bisherigen Geschichtsauffassung festgehalten haben mögen", sagte zum Abschluß Schulrat Flämig. „Wir Lehrer stehen nun einmal in einer Stelle des Lebens, die eine ständige Ausrichtung der Betrachtungsweise nach neuen Gesichtspunkten verlangt." Was ich in der letzten Zeit gesehen habe, läßt den Lehrer gewiß nicht zum geistigen Gestalter am Volke werden. Denn dazu gehört höchst eigenes Vertiefen in die Dinge, eigenes Erarbeiten und Schaffen, nicht aber dieses verantwortungslose Den-Mantel-nach-dem-Winde-hängen! Mahlis, den 15. Februar 1946 Heute habe ich mein erstes Gehalt empfangen. - Wenn es möglich wäre, daß unser Geld weiterhin seinen Wert behielte, so wären jetzt die Mittel für zwei Semester meines Studiums beisammen. Auch Papa hat neulich einen ganz guten Betrag erhalten. Er bekommt als Kolonnenführer im Sägewerk den höchsten Tarif, in der Stunde RM 1,80. Unter normalen Verhältnissen könnten wir gut auskommen. So aber bleibt uns nichts, als trotz aller Bedürftigkeit das Geld auf die hohe Kante zu legen, wo es schließlich eines Tages doch wieder in nichts zerfließt wie all das andere, was [wir] 25 lange Jahre erworben hatten. Unserer Welt fehlt die Gediegenheit. Alle unsere Arbeit vermag zuletzt doch nicht, uns festen Boden zu erringen, weil allen Dingen unseres Lebens die feste Wurzel fehlt. Unser aller Dasein ist von einem ruhelosen Schweben im ewig Wechselvollen geworden. Die aber, die noch gesunde Vorstellungen und Sehnsüchte haben, streben nach neuem Grund, um in ihm die Wurzel zu suchen und aus ihm die Kraft zu schöpfen.

Mahlis, den 16. Februar 1946 Ich korrigiere Diktathefte. Dies ist meine Beschäftigung am Sonnabendnachmittag. Es ist zum Verzweifeln, wie dumm und unwissend der größte Teil meiner Kinder ist. Das letzte Jahr, vielleicht auch die letzten Jahre haben eine 14 Wladimir Iljitsch Uljanow, genannt Lenin (1870-1924), führender Kopf der Oktoberrevolution 1917 in Russland, Vorsitzender des Rates der Volkskommissare. Begründer des Marxismus-Leninismus. 15 Joseph Dschugaschwili, genannt Stalin (1878-1953). in verschiedenen Funktionen ab 1924 einflussreichster Funktionär und später Alleinherrscher in der Sowjetunion. 16 Karl Liebknecht (1871-1919), SPD-Politiker, 1918 Gründer der KPD. 17 Rosa Luxemburg (1871-1919), Marxistische Theoretikerin in der polnischen und deutschen SPD, Gründerin der KPD.

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entsetzliche Lücke in die Erziehung unserer Jugend gerissen. Das Schlimmste aber ist: Es wird mir in den zwei Monaten, die ich in Liptitz Dorfschullehrer sein will, kaum möglich sein, wesentliche Abhilfe zu schaffen. Der furchtbare Zustand ist unter den gegenwärtigen Umständen nicht zu ändern. - Wir brauchten Erzieher und Lehrer in größter Zahl. Statt aber dieser dringenden Forderung nachzukommen, jagt man verdiente Männer aus ihren Ämtern, weil sie einer Partei angehörten, die die gegenwärtigen Machthaber bekämpfen. 18 Das Wort Demokratie ist eine Lüge. Wer es gebraucht, sucht etwas zu bedecken, was das Licht des Tages scheut. Noch niemals ist von der Demokratie so oft geredet worden wie heute. Diese Tatsache wirft ein bezeichnendes Licht auf unser Zeitalter. Ein führender Kommunist hielt vor einigen Tagen auf einem Kongreß der Gewerkschaften eine Rede, die heute die Zeitungen wiedergeben. „Das Ruhrgebiet ist deutsch und wird deutsch bleiben", lauten die Schlagzeilen. Ein Ruf, der wahrhaftig zu Begeisterung hinreißen kann. Doch wer weiß, was an dem nationalen Kleid, das heute die KPD anlegt, echt ist! Wer weiß, was mit solch einer Melodie ihre Meister, die Weisen von Moskau, bezwecken? Nur allzu oft hat die KPD ihre antinationale Einstellung bewiesen. Ja: „Das ganze Deutschland soll es sein!" Aber nicht für Moskau. Mahlis, den 17. Februar 1946 Seit einigen Tagen hausen im Gastzimmer nebenan einige Russen, die ihr Fahrzeug wegen Benzinmangels hier unterstellen mußten und nun darauf warten, daß sie abgeholt werden. Sie sind schmutzig und erfüllen die Stube mit einem unangenehmen Geruch. Jedoch hat die ständige Nähe deutscher Menschen sie zurückhaltend und bescheiden gemacht, sodaß sie kaum zur Last fallen. Diese ursprünglichen Menschen spüren äußerst deutlich, ob ihnen jemand überlegen oder unterwürfig ist. Das Benehmen der Deutschen vermag mit ihnen alles zu machen. Sie müssen behandelt werden wie große Kinder. Mahlis, den 18. Februar 1946 Dieser Tag war voller Aufregungen. Schon morgens kurz nach zwei Uhr wurden wir aus dem Schlaf geweckt. Eine Streife der russischen Militärpolizei hatte bereits das ganze Dorf rebellisch gemacht und begehrte ungeduldig Einlaß. Die beiden Iwans, die immer noch in der Gaststube hausten, wurden vernommen. Es kam zu unerklärlichen Auseinandersetzungen mit Schimpfen und Telefongesprächen. Schließlich mußten die Iwans ihre Papiere abgeben. Um drei Uhr war wieder Ruhe. Die Streife fuhr in ihrem Auto ab. 18 In der SBZ wurden 1945/46 ca. 20000 Lehrer wegen ihrer Parteizugehörigkeit zur NSD A P entlassen. Oskar Anweiler: Bildungspolitik, in: Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945; 1945, Anm. 10.

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Morgens wurde festgestellt, daß das Scheunentor angehoben und eins der russischen Motorräder verschwunden war. Nachmittags erschien erneut eine Streife. Drohungen und Verhöre aller in der Gaststube anwesenden Männer. Der Bürgermeister mußte geholt werden, dann der Kommandant von Wernsdorf und der Wermsdorfer Bürgermeister. Die Diebe sollen die Leute der nächtlichen Streife, diese wieder eine „deutsche Bande" gewesen sein. Nach zahlreichen Telefongesprächen wurde schließlich festgestellt, daß die Streife doch von der Kommandantur Oschatz geschickt worden - also regulär - sei. Das Abhandenkommen der Motorräder hatte plötzlich „seine Richtigkeit". Trotzdem hatte man Papa und Strobach mit drohender Geste „Faschisten" genannt. Schließlich wurde die Scheune besichtigt. Dann verschwanden alle Russen schlagartig in ihren Autos, auch unsere beiden „Freunde". Ein Sack Getreide und eine Anzahl Eier sind seitdem verschwunden. Wieder ein Erlebnis mit unseren „Befreiern" mehr! Auch die Schule verlief heute mit einer Überraschung. Ein Schüler bat mich, nach Hause gehen zu dürfen, um dort zu helfen. Als ich das zuletzt wegen seines schlechten Betragens nicht gestattete, brannte mir der Frechdachs einfach in der Pause durch. Das ist bezeichnend für die Ordnung in der Schule. Der Lehrer steht allein. Von den Eltern ist nicht an Unterstützung zu denken. Mahlis, den 21. Februar 1946 Gestern wieder Neulehrerschulung in Wermsdorf. Herr Dietze, der dort die Schulungen leitet, empfiehlt den Neulehrern, eine Bindung zu einer politischen Richtung einzugehen, um sich „eine feste Grundlage zu schaffen". Für manchen würde das vielleicht bitter sein; doch es ist eine Notwendigkeit. Diejenigen, die auf ein baldiges Umschwenken des politischen Kurses hofften, würden wohl kaum eine Verwirklichung ihrer Hoffnungen erleben. Im übrigen könne gerade von uns Neulehrern zum Beispiel in der Jugendbewegung manche neue Anregung ausgehen. Unsere Initiative könne viele Übel abstellen und darüber hinaus neue Ziele anstreben. Herr Dietze ist zwar das Gegenteil von einem politischen Menschen; die Unterredungen mit ihm und seine Vortrage sind jedoch bei weitem denen kommunistischer Demagogen und phrasendreschender Bonzen vorzuziehen. E r ist der Typ des demokratischen Bürgers. Kampf ist ihm ein Greuel, Unhöflichkeit ein Verbrechen, schroffe Wahrheit aber eine Unhöflichkeit. Doch stets ist er zu leichter Kritik aufgelegt, vielleicht weniger, um zu fördern und schöpferisch zu wirken, als vielmehr aus einem inneren Bedürfnis heraus. Unsere Front gegen den Bolschewismus ist zusammengebrochen. Ihm gegenüber steht jetzt lediglich die soundsovielte Garnitur, die schwächlichen Demokraten. Immerhin sind wir die einzigen, die gegen den Bolschewismus stehen.

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Mahlis, den 22. Februar 1946 Paßt ein Wort besser für eine Kritik am Nationalsozialismus als dieses, daß es „die ganze menschliche Tragik" sei, „die von den Göttern gewollt ist, wenn es sie dürstet: auf Seiten der Menschen stehen [zu] wollen, aber ihrer einige töten müssen; für das Leben sein, und damit deshalb auch für den Tod." - Freilich hat Heinrich Mann 1 9 dieses Wort auf die Französische Revolution gemünzt und dabei wohl kaum an die vergangenen Jahre des Nationalsozialismus gedacht. Mahlis, den 27. Februar 1946 Lehrertagung in Oschatz. Als Gewinn dieses Tages kann ich die Erlaubnis verbuchen, an der Arbeitsgemeinschaft für Geschichte teilnehmen zu dürfen. Diese Arbeitsgemeinschaft besteht aus etwa 25 Lehrern der Oberschule Oschatz und einiger Volksschulen des Kreises Oschatz. Die Vorträge und Aussprachen behaupten eine Ebene, die sich wohltuend aus dem Einerlei des Üblichen heraushebt. Ich glaube, hier einen Ort gefunden zu haben, wo ich viel lernen werde. Ich will den Zugang finden zu den Geistern, die unsere Zeit bewerten. Nur wenn ich sie kenne, kann ich selbst urteilen. Ich glaube in dieser Arbeitsgemeinschaft, deren jüngstes Glied ich bin, tatsächlich berufene Wissenschaftler gefunden zu haben. Mahlis, den 4. März 1946 Die Einheit von KPD und SPD scheint Tatsache zu werden. 20 Die Forderung der Weisen von Moskau! Die Zeitungen bringen den Entwurf zu dem Programm der „Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands". 21 Es ist schroffer und schärfer als das der KPD von 1945.22 Ganz klar wird auf die Abschaffung des Privatkapitals hingezielt und allen Gegnern des „Sozialismus" schärfster Kampf auf revolutionärer Grundlage angesagt. - In dem Augenblick, in dem die Einheit Wirklichkeit 19 Heinrich Mann (1871-1950), Schriftsteller, älterer Bruder von Thomas Mann. Der entsprechende Essay ist abgedruckt in: Heinrich Mann: Verteidigung der Kultur. Antifaschistische Streitschriften und Essays. Berlin 1971, Zitat S.475. 20 Am 21.122.4.1946 vereinigten sich in Berlin KPD und SPD zur SED. Dabei handelte es sich um eine „Zwangsvereinigung", die auf Druck der Besatzungsmacht und der KPD zustande kam. 21 Grundsätze und Ziele der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, verabschiedet vom Vereinigungsparteitag der SPD und KPD am 22.4.1946, abgedruckt in: Dokumente zur parteipolitischen Entwicklung in Deutschland seit 1945, hrsg. von Ossip K. Flechtheim, dritter Band, Berlin 1963, S. 355-359. 22 Aufruf des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Deutschlands vom 11.6.1945, abgedruckt in: ebd., S.313 - 319.

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wird, hat praktisch die SPD aufgehört zu bestehen und ist in der K P D aufgegangen. Alle außerhalb der „Einheitspartei" Stehenden, und das wird wohl der beste und vielleicht auch der größte Teil des deutschen Volkes sein, aber sind die Gegner des „Sozialismus" und werden bekämpft. Was heute nur die Millionen Pgs sind, wird dann die Masse des deutschen Volkes sein: Freiwild für die sogenannte Arbeiterklasse, d.h. für diejenigen, die sich „vom Osten orientieren" lassen. (Diesen Ausdruck gebrauchte neulich ein Redner auf einer Tagung für Geschichtslehrer in Meißen.) Die Entwicklung steuert auf einen Bürgerkrieg zu; denn kampflos lassen wir Deutsche uns den Bolschewismus auch nach diesem Kriege nicht aufzwingen. Entweder der Bolschewismus kapituliert vor unserem Volke, oder wir erleben eine noch weit größere Katastrophe als die, die hinter uns liegt, in der entweder der Bolschewismus oder das deutsche Volk zugrunde geht. Unsere „demokratische" Gesellschaftsform macht sich auch in der Schule unliebsam bemerkbar. In der Bestrebung, Ordnung um jeden Preis zu schaffen, habe ich einige Male zum falschen Mittel gegriffen: Ich nahm den Stock, als mir Ohrfeigen nicht genügend Nachdruck zu haben schienen. Doch meine Jungen aus dem achten Schuljahr, die politisch organisiert und besser als ich über die Befugnisse des Lehrers in bezug auf Bestrafungen orientiert sind, machen mir Vorhaltungen und beginnen mit offenem Ungehorsam. Sie wollen mich wohl zum dauernden Niederlegen des Knüppels zwingen. Ich würde es nur zu gerne tun. Aber ich glaube, ohne seinen zeitweisen heilsamen Einfluß ist in dieser Schule nicht durchzukommen. Wenn sich jemand über mich beschwert, dürfte es für mich wahrscheinlich einen nicht ganz folgenlosen Fall geben. Allzu scharf darf ich nicht noch einmal auftreten. Soweit sind wir gekommen, daß sich der Lehrer nach ewigen Rüpeleien seiner Schüler auch noch von ihnen die Art der Bestrafung vorschreiben lassen muß. Das Gesetz aber, das heute alle schützt, die kein Recht kennen, steht nicht hinter ihm. Ich bin gewiß nicht für die Prügelstrafe in der Schule. Als höchstes Strafmaß für die schwersten und wiederholten Vergehen haben sie aber unbedingt eine heilsame Wirkung, vorausgesetzt, daß die Kinder nicht „demokratisch" angehaucht sind, wie es bei meinen Zöglingen der Fall ist, und die Unterstützung Erwachsener genießen, die sie in gewissenloser Weise womöglich gar gegen den Lehrer aufhetzen. Diesen Verdacht hege ich.

Mahlis, den 6. März 1946 Heute wieder eine kleine Pause im alltäglichen Schulbetrieb: Neulehrerschulung. Dieser Tag hat angeregte Diskussionen gebracht. Den Höhepunkt bildete ein Referat über dialektischen und historischen Materialismus.

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Ich halte es nicht für angebracht, sich mit diesen Dingen in einem Vortrag vertraut zu machen. Man spürte immer wieder das Bedürfnis, den geistigen Fluß einmal zu unterbrechen, ein wenig umzuschalten, nachzudenken und wiederholt zu reflektieren. Gerade bei den höchst prägnanten Sätzen der marxistischen Theoretiker ist das während eines Vortrages nicht möglich, weil sofort die Möglichkeit besteht, daß man den Faden verliert. Der dialektische Materialismus ist also ein äußerst schwieriges Vortragsthema, was äußerste Konzentration vom Zuhörer fordert. Die Logik, die hier in reiner und höchster Form angewendet ist, macht das eigene Weiterdenken und Folgern unmöglich. Man ist außerstande, für den Stoff eine Wärme aufzubringen und sich in ihn einzufühlen. Die Logik hat hier bereits die Wirkung der Abstraktion. Ist es aber angebracht, auf einem Gebiet der Geisteswissenschaft, zu der ja Philosophie, Geschichtsphilosophie und Geschichte gehören, allein die auflösende und auseinandersetzende Logik gelten zu lassen? Gerade auf diesem Gebiet sprechen Gefühl, Intuition, Instinkt, ja Takt ein gewichtiges Wort mit. Die Geisteswissenschaften möchte ich in gewissem Sinne als Künste ansehen. Es ist der große Fehler der Materialisten zu behaupten, ihre Philosophie sei die einzig richtige, der Materialismus überhaupt sei die Grundwissenschaft. Indem sie der Philosophie und Geschichtsphilosophie die Struktur der Naturwissenschaften aufoktroyiert haben, erhoben sie ihre Anschauung durchaus nicht in die Sphäre des Unantastbaren. Ihre Tat ist eine Unmöglichkeit, die ihrer Anschauung jeden ernsthaften Charakter nehmen muß. Es ist ihr Bestreben, ihre sozialistische Weltanschauung zu einer Wissenschaft zu stempeln. Der Materialismus muß herhalten, jene Sätze zu beweisen, die den Sozialismus als unumstößlich erkennen lassen sollen. Sie begehen also weiterhin einen Fehler, nämlich den, daß sie dem, was sie als Stein der Weisen entdeckt zu haben glauben, eine dienende Stellung gegenüber dem Sozialismus verleihen, um diesem wieder einen streng wissenschaftlichen Anstrich zu geben. So entstehen Klassenkampftheorie usw. und jene Sophistik, daß die Geschichte von der Klasse gemacht wird. Ähnliche Ausführungen habe ich im Anschluß an das Referat gemacht. Ich fand damit auch bei den meisten Anwesenden Zustimmung. Infolgedessen ist mir ein Vortrag für die nächste Schulung aufgegeben worden. Mahlis, den 7. März 1946 Heute war der Schulrat in Liptitz. Der Erfolg für mich war ganz gut. Der Schulrat hat anerkennende Worte für mich gefunden, mit denen ich auf keinen Fall gerechnet hätte. Ich habe alle Fragen zur Klärung gebracht. Der Schulrat stellte sich restlos hinter mich. Auch die Wiederherstellungsversuche einer guten Ordnung und notwendiger Schuldisziplin hat er nicht nur gut geheißen, sondern darüber hinaus die beiden größten Rüpel, die sich immer auf die „Demokratie" berufen, wie sie und die Dorfpolitiker sie verstehen, ener-

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gisch zur Rede gestellt. Und auch einige Ohrfeigen hat er verteilt. Ich kann also mit dem Schulratsbesuch nur zufrieden sein. Mahlis, den 13. März 1946 Heute war wieder Schulung und Geschichtslehrertagung in Oschatz. Die Vorträge gelangen nach und nach auf die Ebene des Pazifismus und beschränkten Internationalismus, die manche wertvolle Gedankenblüte zunichte machen. Seit vorgestern findet der Unterricht in Liptitz wegen Kohlenmangels nur noch in Form von täglicher Aufgabenerteilung statt. Die Freude bei den Kindern ist natürlich groß. Doch auch mir kommt die Zeit, die ich so für mich gewinne, sehr gelegen. Ich habe jetzt Gelegenheit, mich gründlich mit dem Gedankengut von Materialismus und Marxismus vertraut zu machen und demnächst in einem Vortrag zu verwerten. Fast jeden Tag sitze ich nun bis in die Nacht über Schriften und Notizen und mir eröffnet sich die Gedankenwelt, die weitgehend den Verlauf unserer Zeit bestimmt! Vielleicht werde ich mein ganzes Leben hindurch dieser Zeit trotz all der Not, die sie über uns brachte, dankbar sein für Einsichten, die sie mir zu geben vermag und die sich zu fruchtbaren Gedanken umwandeln.

Mahlis, den 20. März 1946 Mein Vortrag ist gehalten. Thema: Über die Grundlagen und die Entwicklung des marxistischen Sozialismus. Strahlender Sonnenschein an einem herrlichen Frühlingstag, wie ihn dieses Jahr zum ersten Male hervorgebracht hat! Der letzte Schnee war heute morgen restlos verschwunden. In diesem Wetter ging es nach Ablaß, einem niedlichen Dörfchen etwa ein und eine halbe Stunde Weg von hier. Dort fand heute die Schulung statt, die restlos von meinem Vortrag ausgefüllt war. Interessante Aussprachen mit Gleichgesinnten bildeten schließlich den Abschluß, der von einem bescheidenen aber guten Mittagsmahl gekrönt wurde.

Mahlis, den 23. März 1946 Mein Vortrag wird in mehreren Exemplaren mit Schreibmaschine geschrieben. Ich diktiere ihn Frau Gerhardt, einer Neulehrerin in Wermsdorf, fast doppelt so alt wie ich, eine hochkultivierte Dame, mit der sich angeregte Gespräche in ununterbrochener Folge ergaben. Der heutige Nachmittag war geistig höchst produktiv.

Mahlis, den 27. März 1946 Wieder war Schulung in Wermsdorf. Mein Vortrag steht nach wie vor im Mittelpunkt. Und auch dieses Mal sind wir durch all die Probleme, die er behan-

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delt, noch nicht hindurchgedrungen. Ich muß aber feststellen, daß unsere letzten Zusammenkünfte mir innerhalb der Lehrerschaft der Union Wermsdorf eine Stellung verschafft haben, wie ich sie kaum für möglich gehalten hätte. Auf allen Gebieten des Wissens, die über die Pädagogik hinausgehen, gelte ich nun mit einmal als absolute Autorität. Mahlis, den 3. April 1946 Jena war wieder ein Mißerfolg für mich. Obwohl die Immatrikulationen erst seit dem 1. April vorgenommen werden, war bereits am Nachmittag des gleichen Tages das Zulassungskontingent für Volkswirtschaft und Rechtswissenschaft erreicht. Obwohl allem Anschein nach in politischer Hinsicht nicht die einseitigen Voraussetzungen zur Bedingung gemacht wurden, ist mir wieder kein Glück beschieden gewesen. In Leipzig habe ich mich wieder einmal mit Luise 23 ausgesprochen. Vielleicht wird später einmal eine Zusammenarbeit in der Presse zwischen uns möglich sein. In der nächsten Woche wollen wir uns weiter darüber unterhalten. Luise und ihre Mutter sind sehr aktive Personen in der Parteiarbeit der CDU, die ich als das tätigste Zentrum gegen den Bolschewismus ansehen muß. Sie scheint tatsächlich die repräsentativsten Köpfe in dieser Zeit zu vereinen und beachtlicher zu sein als die Liberalen, deren Name etwas Unangenehmes, etwas veraltet Klingendes an sich hat. Die C D U sammelt alle Elemente - ganz gleich, welcher Konfession - , die die alten abendländischen kulturellen Welten, die sittlichen und moralischen Werte, die das Christentum in die Menschheit gebracht hat, bejahen. Sie stellt also den Konservativismus im besten Sinne des Wortes dar, das einzige Element, das als positive Weltanschauung dem Kommunismus entgegensteht. Ohne den „Faschismus" irgendwie in die Erinnerung zu rufen, werden hier in dieser Partei die alten Werte, die das tatsächliche Wesen unseres Volkes bedeuten, hochgehalten und bewahrt. Ich bedauere, daß ich heute erst die Bedeutung dieser Partei erkenne, da ich mich der L D P angeschlossen habe, die offenbar nicht jeden Vergleich mit ihr aushält. Die C D U stellt in dieser Übergangszeit das positivste Moment in unserem Volke dar. Vielleicht läßt sich noch viel aus ihr machen.

Mahlis, den 8. April 1946 Heute wieder den ganzen Vormittag über Unterricht mit meinen vier Schuljahren. Die Bengels sind einfach nicht mehr zu zähmen. Nachdem Zucht und Unterricht in den vergangenen vier Wochen des eingeschränkten Unterrichts weiter absinken mußten, ist es jetzt nur mit größter Schwierigkeit möglich, das fünfte bis achte Schuljahr gemeinsam zu unterrichten, zumal die Sonne draußen lacht und die rüden Bengels noch übermütiger macht als sie schon sind. 23

Luise Langendorf, 1945, Anm. 9

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Ich sehe für die Z u k u n f t nur die eine Möglichkeit erfolgreich weiterzugehen und Ordnung in die Schar hineinzubringen: Je zwei Jahre müssen getrennt unterrichtet werden. - Sollte ich auch noch nach diesem Monat Neulehrer bleiben, so muß unbedingt das Problem der weiteren Aufgliederung der Schule gelöst werden. Nur so wird mir eine Weiterarbeit überhaupt möglich sein. Doch erst will ich in Halle noch einmal versuchen, zum Studium zugelassen zu werden. Donnerstag werde ich wieder fahren.

Leipzig, den 12. April 1946 Auch Halle war wieder ein Mißerfolg. Die Immatrikulationsfrist ist vorerst verschoben worden. Voranmeldungen werden noch nicht entgegengenommen. Wie ich nach Jena zu spät gekommen bin, so kam ich nach Halle zu früh. Ein kleiner Trost: Ich habe in Halle eine Anzahl brauchbarer Bücher antiquarisch erstehen können, allerdings zu anormalen Preisen - soweit man heute das Wort „normal" überhaupt noch gebrauchen darf, sodaß ich restlos abgebrannt bin. Es wird Zeit, daß ich wieder nach Hause komme.

Mahlis, den 14. April 1946 Gestern vormittag besuchte ich [in Leipzig] eine Kunstausstellung, „Befreite Hände", Malerei, Grafik und Plastik, die die nationalsozialistische Bewegung unterdrückt hatte: Käthe Kollwitz 24 , Barlach 2 5 , Liebermann 2 6 , Pechstein 2 7 , Kokoschka 2 8 , Marc 2 9 und viele mir Unbekannte. Einiges hat mir gefallen; doch niemals werde ich Beziehungen zu den Künstlern des Expressionismus finden können. Die Kunst wird sich niemals auf die getreue Wiedergabe des Naturgegebenen beschränken dürfen. Sie will mehr als „objektiv" sein. Sie strebt danach, auch Stimmungen und Anschauungen des Künstlers auszudrücken. Jede Kunst wird als in gewissem Sinne „Ausdruckskunst" sein. Jedoch die aufgelösten Formen und wilden Farben des vollentwickelten Expressionismus können nicht mehr Wiedergabe natürlicher Empfindungen sein. D e m Maßstabe des Natürlichen jedoch muß jede Kunst standhalten. Sie sind die Gestalt gewordene, häufig an Wahnsinn grenzende Überspanntheit dieser Zeit. Doch, wie sinnlos ist es, von Staats wegen solche Kunstäußerungen zu unterdrücken und zu verfolgen; die ihr zugrundeliegenden Anschauungen und Gefühle las24

K ä t h e Kollwitz ( 1 8 6 7 - 1 9 4 5 ) , Künstlerin ( R a d i e r u n g e n , L i t h o g r a p h i e n , H o l z s c h n i t t e ) und Bildhauerin. 25 E m s t Barlach ( 1 8 7 0 - 1 9 3 8 ) B i l d h a u e r u n d Schriftsteller. 26 27 28 29

M a x L i e b e r m a n n ( 1 8 4 7 - 1 9 3 5 ) , Maler. M a x P e c h s t e i n ( 1 8 8 1 - 1 9 5 5 ) , M a l e r u n d Graphiker. O s k a r K o k o s c h k a ( 1 8 8 6 - 1 9 8 0 ) , Maler, G r a f i k e r und Schriftsteller. Franz M a r c ( 1 8 8 0 - 1 9 1 6 ) , Maler.

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sen sich doch nicht totschweigen. Für den Staat gibt es, wenigstens, soweit die Gefühle aller nicht verletzt werden, nur einen Weg der Kulturpolitik, der hier Einfluß ausüben kann: die Erziehung, doch Erziehung nicht nur von außen, sondern hauptsächlich von innen, d.h. nicht nur die Organe des Staates dürfen Träger des Erziehungsgedankens sein, sondern die Erziehung muß im Volke wurzeln und ihr Gedanke aus ihm emporwachsen. Das ist übrigens tatsächlich Demokratie, daß jeder im Volke in der Form an der Politik beteiligt ist, als er Träger des den Staatswillen darstellenden Gedankens ist. Das setzt natürlich eine weitgehende physische und psychische Gleichheit, also Zusammengehörigkeit aller Volksteile voraus. Das ist kein Staat, wo kein einheitlicher Gedanke herrscht. Nur der Staat hat ein Recht auf Existenz, kann auf die Dauer auch nur bestehen, der von einem in seinem Wollen und Streben einigen Volke getragen wird. Das einzig Schöne auf der Rückfahrt war die Kleinbahn. Immer wieder entzückt mich der Horstsee 30 mit seiner Insel, die die Dämmerung gleichsam zur Silhouette macht. Meistens werden wohl die Stunden geistiger Produktivität an Augenblicke besonderer äußerer Eindrücke gebunden sein. Für mich gehören bei jeder Heimfahrt von Leipzig jene abendlichen Stunden auf der Kleinbahn von Meichen nach Wermsdorf dazu, wenn ich allein im Abteil sitze an einem Fenster, mir und meinen Gedanken überlassen, und in die dämmerungumfangene Landschaft blicke. Überhaupt ist es jenes herrliche Erleben der Schwelle zwischen Tag und Abend, das allein das Leben lohnte. Manchmal scheint es mir, als sei es die große Aufgabe der Menschheit, das Wesen dieser Welt bis zum letzten zu ergründen. Doch nicht mehr fern ist die Lösung. Damit wäre das geschichtliche Werden unserer Welt abgeschlossen. Sicherlich wird die Menschheit weiter existieren. Doch ihre Entwicklung kann sich dann nicht mehr auf die Welt in ihrer heutigen Gestalt beschränken. Die Menschheit greift über die Erde hinaus. Mahlis, den 17. April 1946 Trotz sommerlich warmen Wetters, trotz Ferien heute Schulung in Oschatz. Ich habe vorgestern meine Sorgen und Verdrießlichkeiten in der Liptitzer Schule, vor allem die großen Aufgaben, denen ich in pädagogischer Hinsicht kaum gewachsen bin, Herrn Dietze vorgetragen und ihn gebeten, auf den Schulrat dahin einzuwirken, daß ich eine andere Verwendung finde, wenn das Liptitzer Problem nicht in absehbarer Zeit gelöst wird. Die Lösung dieser Frage wird aber nun vom Schulrat auf Mitte nächsten Monats verschoben. Ob sie dann allerdings in meinem Sinn erfolgen wird, ist äußerst zweifelhaft. Während meiner Abwesenheit in der vorigen Woche sprach in Mahlis ein Redner der L.D.P. in offener und selbstbewußter Weise.

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See bei Mahlis.

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Die Zeit der Selbstbestimmung scheint allgemein zu dämmern. Die geduckten Häupter erheben sich hie und da. Das Denken beginnt bei einigen. Eine gesunde Kritik macht sich mehr und mehr bemerkbar. Auch in Mahlis könnte eine aktive demokratische Ortsgruppe entstehen, meint Kläuer 31 , wenn wir beide die Absicht hätten, hier zu bleiben und hier etwas zu schaffen. Kläuer ist überhaupt brauchbar, sicherlich der beachtlichste aller Kollegen. Berner ist wieder in Mahlis. Auf der Fahrt von Oschatz hierher hat er mir nur seine Rehabilitierungssorgen auseinandergesetzt. Die Sorge um eine Stellung droht auch meinen alten Lehrer geradezu lächerlich zu machen. Mahlis, den 18. April 1946 Heute wieder Schulung in Oschatz. Der stellvertretende Kreisführer der bisherigen SPD sprach über „Geschichtsunterricht als Mittel der politischen Erziehung". Es war der erste Vortrag in der Reihe der Oschatzer Schulungen, der positiv zu werten ist. Wenn auch fast alles stark kritisiert werden muß, was der Redner vortrug, so verriet das Referat doch immerhin Wissen. Vor allem aber: Der Referent führte zahlreiche Meinungen aus allen politischen Richtungen an. Sein Vorgehen war zwar nicht restlos klärend, jedoch in gewissem Maße wissenschaftlich. - Ein winziger Lichtblick in der bisherigen geistigen Öde der Oschatzer politischen Schulungen. - Einer Diskussion im kleineren Kreis, zu der ich den Redner auffordern wollte, ging er jedoch aus dem Wege. Er scheint mehr als politischer Redner und weniger als Wissenschaftler gewertet werden zu müssen. Sympathie bei den meisten Zuhörern hat seine Forderung erregt, ein eigenes politisches Leben eines freien deutschen Volkes anzustreben. Unsere eigene Politik nur kann uns aufwärts führen.

Halle, den 25. April 1946 Es gibt Momente, da ich glaube, die Gegenwart nicht mehr ertragen zu können, und danach strebe, um jeden Preis eine Änderung meines Daseins zu erzwingen. Die Neulehrerschulung gestern Vormittag in Wermsdorf hat mich so trist gestimmt, daß ich mich am Nachmittag wieder auf die Bahn setzte nach Leipzig und heute früh dann weiter nach Halle fuhr, um einen letzten Versuch zu unternehmen, an der Hallischen Universität aufgenommen zu werden. Das wird wohl vorerst meine letzte Fahrt gewesen sein. Zum Sommersemester sollen überhaupt keine Immatrikulationen neuer Studenten vorgenommen werden. Innerhalb von zehn Minuten hatte sich mein Vorhaben erledigt. Es war eine trostlose Fahrt, vorbei an abgebauten und im Abbau befindlichen Bahnkörpern und elektrischen Leitungen. In den vierzehn Tagen seit 31

Kläuer wurde schließlich Vorsitzender der Ortsgruppe Mahlis der L.D.P.

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meinem letzten Aufenthalt in Leipzig und Halle hat die Abbauaktion im öffentlichen Verkehr solch ein Ausmaß angenommen, daß es auf den ersten Blick auffällt. 32 Der Leipziger [Hauptbahnhof] liegt fast tot da, wie einst nach schwersten Bombenangriffen. Abgesehen von den Zügen nach Osten werden fast alle anderen auf den weit außerhalb gelegenen Bahnhöfen der Vororte eingesetzt. Selbst der Verkehr auf der Strecke nach Halle wird nur während einiger Stunden am Tage und nur streckenweise aufrechterhalten. Dennoch ist auf keinen Zug Verlaß. Mehrere Stunden Verspätung sind auf dieser kurzen Strecke die Regel. Aber auch die Strecke nach Dresden ist teilweise abgebaut. Von Würzen bis nach Leipzig ist sie nur noch eingleisig. Die unzähligen Menschen aber, die auf die Züge warten - oft stundenlang warten, stürmen die Abteile. Puffer und Trittbretter sind lange vor Abfahrt überfüllt. Dennoch kommt noch lange nicht alles mit. Rücksichtnahme ist fast nirgends mehr zu finden. Doch ist es nicht natürlich, daß in dieser Zeit der Auflösung und Zersetzung jeder an sich denkt? Nichts ist da, dem irgendjemand auch nur eine Spur des Vertrauens entgegenbringen könnte. Gleichgültigkeit und Egoismus sind Merkmale dieser Zeit, die sich in ihrem Wesen wieder mehr und mehr dem der ersten Wochen und Monate nach dem Zusammenbruch angleicht. - Das Wort Aufbau ist als eine zynisch-gewissenlose Phrase enthüllt. Unter diesen Umständen zu studieren, wäre vielleicht tatsächlich nicht angebracht. Jedoch halte ich das ungestörte Weiterbestehen dieses Zustandes für nicht lange möglich. Selbst wenn der Abbau noch ungehindert weitergehen sollte, sind ihm doch schließlich Grenzen gesetzt. Darüber hinaus aber scheint mir eine Auseinandersetzung zwischen West und Ost unumgänglich. Sie allein vielleicht vermag eine Besserung in unserem furchtbaren Los herbeizuführen. Mahlis, den 27. April 1946 Übermorgen geht der Unterricht wieder los. Heute war ich in Liptitz und habe den neuen Stundenplan ausgearbeitet. In mir ist eine gewisse Spannung darauf, wie ich nun nach den Ferien mit den großen Problemen in der Schule fertig werde. Heute allerdings sehe ich alle Dinge im rosigen Licht. Etwas habe ich mir fest vorgenommen: Bestrafungen sollen von mir nur als letztes Mittel angewendet werden, das sie ja auch tatsächlich sind. Bestrafungen hemmen und unterdrücken, doch kann man sie nicht als Grundlage eines Erziehungssystems benutzen. Sie sind die Gewalt, die nur angewendet werden darf, wenn eine Gemeinschaft - in diesem Falle die Ordnung der Klasse - gefährdet wird. Den einzelnen selbst zu bilden, sind sie ungeeignet. 32

Diese Bemerkungen spielen auf die Demontagen an, die die SU in großem Ausmaß in der SBZ vornahm.

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Freiheit des einzelnen, Ordnung in der Gemeinschaft! Dieser Grundsatz ist auch der Grundgedanke jeder gesunden Erziehung. Die Schule aber ist die Institution, die den werdenden Menschen in das erste Verhältnis einer Gemeinschaft einführt. Gibt es übrigens ein Gebiet, auf dem man einen besseren Einblick in das Wesen der Politik erhält, als das der Pädagogik und der Erziehung? Mahlis, den 29. April 1946 Der erste Unterricht war kurz, aber schrecklich. Die ältesten Kinder sind außer Rand und Band und zerstören die ganze Ordnung. Ich weiß einfach nicht mehr, wie ich mit ihnen fertig werden soll. Liptitz, den 3. Mai 1946 Ein schriftliches Versetzungsgesuch an den Schulrat ist abgegangen. Ich habe nun erkannt, daß ich nicht zum Lehrer gemacht bin. Für die Übergangszeit, für mein „Interim" aber sind meine Kräfte nur einer Stelle mit nicht übernormalen Voraussetzungen und Beanspruchungen gewachsen. Liptitz ist für mich ein Kreuz geworden. Ich muß dort weg. Der Unterricht sinkt von Tag zu Tag mehr ab. Mehr und mehr nimmt eine völlige Gleichgültigkeit gegenüber den Kindern von mir Besitz. - Ich wünschte mich nach Wernsdorf oder wenigstens nach Mahlis. Liptitz, den 9. Mai 1946 Wie ich heute erfuhr, bin ich vom Schulrat zum Teilnehmer am Lehrgang in Dahlen bestimmt worden. Heute in fünf Tagen werde ich dorthin aufbrechen. Ich freue mich, meine Umgebung wechseln zu können, obgleich ich mich keinen großen Illusionen hingebe in bezug auf das, was meiner in Dahlen wartet. Es wird viel Arbeit sein und langweiliger politischer Kram, Unterbringung schlecht, Verpflegung sicherlich unzureichend. Doch, für acht Wochen werde ich als ehemaliger Soldat das schon aushalten können. Lernen werde ich bestimmt noch einiges können und - vielleicht bahnt mir das Schicksal noch vor Ablauf dieser acht Wochen einen neuen Weg. Liptitz, den 11. Mai 1946 Ich bereite mich nun in jeder Weise auf Dahlen vor. Froh und gespannt sehe ich den Dingen entgegen. Gespannt, daß ich einem Gefäß gleiche, in dem ein ungeheurer Druck herrscht, sodaß es zu zerspringen droht.

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Dahlen, Krs. Oschatz, den 14. Mai 1946 Eine neue Umgebung hat mich aufgenommen. Und nun sitze ich hier in der an sich recht schön gelegenen Jugendherberge von Dahlen, die jedoch recht verwahrlost ist. Heimschule heißt sie heute und ist in allem ein Abbild unserer Zeit. Zerbrochene Fensterscheiben überall; Möbel und Einrichtungsgegenstände wie in einer alten Kaserne. Ein kleiner Teil verhinderter Akademiker, der andere Durchschnitt, das ist unser Lehrgang. Mehr oder weniger sind es wohl alles politisch unerfahrene Menschen, die man nun in den nächsten Monaten in ein Meer politischer, einseitig politischer Agitation tauchen wird. Dahlen, den 17. Mai 1946 Allmählich gewöhne ich mich an den Betrieb hier. Ich habe bereits im politischen Unterricht einige Einwürfe gemacht, mit denen ich nicht mehr zurückhalte, seitdem man die Parteizugehörigkeit jedes einzelnen festgenagelt hat. Der Dozent Uschner zeigt immer mehr seine Unfähigkeit als politisch Schulender. Er ist nicht einmal in die Gedankengänge des Marxismus soweit eingedrungen, dass er sie mit eigenen Worten darstellen, geschweige denn, dass er überhaupt eine Debatte führen könnte. Allerdings ist das allgemeine Niveau auch nicht einer Debatte gewachsen. Heute ist der Schülerrat gewählt worden. Ich vertrete in ihm die L.D.P. Dahlen, den 19. Mai 1946 Vom Nachrichtenamt beim Landrat in Oschatz ist mir unerwartet ein vertrauensvoller Auftrag erteilt worden. Neulehrer Lotzmann in Wermsdorf und ich sind zu Nachrichtenverbindungsleuten der Landesverwaltung eingesetzt worden. Als Wahrer der „Demokratischen Entwicklung" darf uns keine öffentliche Institution verschlossen sein. Auch zu geheimen Gemeinderatssitzungen muß uns Zutritt gewährt werden. Dahlen, den 20. Mai 1946 Der Schülerrat tagte mehrere Stunden. Eine dicke Beschwerde über Unterkunft, Verpflegung und Herrn Uschner wurde aufgesetzt. Der größte Teil geht auf meine Kosten. Wir wollen Dozenten, die diese Bezeichnung verdienen. Dahlen, den 22. Mai 1946 Unsere Stubengemeinschaft ist ausgezeichnet. Wir vier Kameraden, Abiturienten und ehemalige Soldaten, verstehen uns sehr gut. Zwischen uns herrscht Brüderschaft.

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Dahlen, den 23. Mai 1946 Uschners Sturz scheint tatsächlich nur noch eine Frage von Tagen zu sein. Die SED hat gut und gründlich gearbeitet. Wenn sie sich nicht geschlossen hinter mich gestellt hätte, wäre der Erfolg wohl nie spürbar geworden. D. h. vielleicht war ich nur der Anlaß, etwas schon längst Fälliges endgültig zu stürzen. Man hat wohl erkannt, daß Uschner nicht als Repräsentant des Marxismus auf unsrer Burg gelten kann. Eben war der Vorsitzende des Schülerrats bei mir, SED-Funktionär. Ich glaube, aus seinen Äußerungen, mehr noch aus seinem Wesen entnehmen zu können, daß wohl ein zuverlässiger politischer Schulungsredner Nachfolger Uschners wird. Doch dann dürfte ich wohl kaum in Diskussionen auf Unterstützung in irgendeiner Form rechnen. Es wäre schade, wenn unser „Burgfrieden" darüber zerstört würde. Es sind zum großen Teil anständige, ordentliche Kameraden in den Reihen der SED. Die gut durchdachte politische Argumentation ist einzig ihre Gabe. Bei den anderen beiden Parteien gibt es wohl, das gilt für das gesamte politische Leben, wohl gute Köpfe, doch keine klugen Politiker. Lange, der Vorsitzende unseres Schülerrates, ist ein sympathischer, intelligenter Mensch. Doch seine Überzeugung vom Marxismus ist die Mauer, die jeder kameradschaftlichen Brücke hindernd entgegensteht. Mehr und mehr scheint mir eine Konzentration der Deutschen auf „Weiß" und „Rot" vor sich zu gehen. Gute Köpfe sind auf beiden Seiten. Doch ein tiefer Graben, den die strikte Parteibindung geschaffen, liegt zwischen ihnen, macht alles andere vergessen. Wohin führt der Weg? In eine gewaltige Auseinandersetzung. Und ich glaube nicht, daß die Demokraten auf die Dauer werden erfolgreich sein können. Dahlen, den 29. Mai 1946 Gestern war der Schulrat hier. Nach längerer Diskussion zwischen ihm, den Dozenten Hasche und Uschner und Lange, unseren Schülerratsvorsitzenden, wurde Uschner nahegelegt, das Feld freiwillig zu räumen. Der Sturz ist also vollbracht. Nun stehen wir in der Erwartung des Nachfolgers. Mahlis, den 1. Juni 1946 Zum Wochenende wieder in Mahlis, um mich satt zu essen. Gestern abend war ich zur LDP-Versammlung in Dahlen. Es war eine Versammlung, wie sie hundert andere Vereine auch bieten können. Allgemeines Bild: Spießer und weltfremde Bürger, Handwerker, Hausfrauen und auch Arbeiter, von denen die besten Köpfe noch eine gewisse Freude an Reden und pathetischen Worten haben. Die wenigen Jungen scheinen noch eine Elite dieser Liga der politisch Zurückgebliebenen zu sein.

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Die Enttäuschung war allgemein. Der erste Eindruck war niederschmetternd. Als einziges Positivum dieses Abends nahm ich die Eröffnung mit, daß eine Vereinigung aller deutschen demokratischen Parteien in Aussicht stünde. Dahlen, den 2. Juni Daheim las ich eine Betrachtung im „Aufbau": Hegel und die Nazis. 33 War ich anfangs geneigt, abfällige Glossen an den Rand zu schreiben, so stieg in mir während der Lektüre doch eine Spur von Erkenntnis der Irrtümer der nationalsozialistischen Weltanschauung auf. Es ist die Tragik des Nationalsozialismus, dass er auf der Rassenkunde aufgebaut hat, noch ehe sie zu einer exakten Wissenschaft geworden ist. Das irrationale Element wurde beherrschend, die Weltanschauung zum Fundament des gesamten Seins. Die Gemeinschaft allein beherrschte den Staat und sog auch die bis dahin unantastbare Sphäre des Individuums und seines Rechts in sich auf. Das Recht im ganzen wurde zu einer bloßen Funktion der Weltanschauung. Dieser Staat mußte sich zwangsläufig umgestalten; die Forderung nach wahrer Demokratie stellt die gesunde Reaktion auf das Gewesene dar. Ich bin weit davon entfernt, all das, was die nationalsozialistische Zeit hervorgebracht, in summa zu verurteilen. Die tiefen Ursachen unseres Zusammenbruchs zu erkennen, sehe ich jedoch als Forderungen dieser Zeit. Mahlis, den 7. Juni 1946 Ernst Wiecherts „Totenwald".34 Entsetzlich war dieser Gedanke der KZ. Er hat unendlich dem Ansehen des deutschen Volkes geschadet. Und das im Staate des Nationalsozialismus, der den Gedanken der Rasse aufs Schild gehoben hatte. Gerade in diesem Staate wurde so häufig gegen die gute Rasse gesündigt. Niemals konnte Mißachtung des einzelnen Menschen ohne Sühne bleiben. Und so wird es immer sein: Wer die aufstrebenden Ähren beschneidet, kann nie ernten. Aufstrebt aber jeder, der gestaltend in seine Umwelt greift. Diese Schöpferkraft ist das Große im Menschen. Wer es tötet, wird zum Verbrecher am ganzen menschlichen Geschlecht. Es ist Wahnsinn, dort, wo Überzeugungskraft nicht mehr fruchtet, zerstörende Gewalt zu setzen. Die zahllosen Henker- und Abenteurernaturen, die als Repräsentanten der rassischen Reinheit das Schicksal unzähliger Deutscher in die Hand gelegt bekamen und die es vernichteten, verdienten, ausgelöscht zu werden. Auch sie haben beigetragen, den großen Kampf der Deutschen sinnlos zu machen. 33

Georg Lukacs: Die Nazis und Hegel, in: Aufbau. Kulturpolitische Monatsschrift, 3 (1946), S. 278-289. 34 Ernst Wiechert (1887-1950), Schriftsteller. Der Totenwald. Bericht aus dem KZ-Lager Buchenwald, 1939 geschrieben, 1946 veröffentlicht.

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Mahlis, den 8. Juni 1946 H e u t e bin ich mit Dietze zusammengeraten. E r kann nicht begreifen, daß ich die L.D.P.D. wegen ihrer Zustimmung zum Volksentscheid kritisiere. 35 „Die L.D.P. ist Ihnen wohl noch nicht genug?" rief er aus. Vergeblich habe ich ihm klarzumachen versucht, daß eine Massenenteignung von Betrieben verhindert werden müsse, wolle man der privaten Unternehmerinitiative nicht das G r a b schaufeln. Auch er hat sich bereits von den Propagandabeispielen der Roten blenden lassen. Mahlis, den 9. Juni 1946 Die Ziegelei nebenan ist seit gestern nach kurzem Betrieb wieder stillgelegt. Für „unwichtige" Betriebe dieser Art stehen keine Kohlen mehr zur Verfügung. Das im Zeichen des „Aufbaus". Unser wirtschaftliches Leben wird jede Woche armseliger. Auch die öffentliche Verwaltung scheint vor dem Schiffbruch zu stehen. Die Straßen sind belebt. Überall sieht man Russen, deren Zahl ständig steigt. Die Zeitungen aller Zonen berichten von ständig wachsenden Spannungen zwischen Ost und West. Der Bruch scheint unaufhaltsam. Doch: Wird es tatsächlich zum Kriege kommen? Ich finde einfach keine Antwort auf diese Frage.

Mahlis, den 11. Juni 1946 Liesel ist heute morgen wieder abgefahren. Sie will versuchen, für mich die Zulassung zum geschichtswissenschaftlichen Studium im Wintersemester zu ermöglichen. Ich habe wieder ein klein wenig Hoffnung. Auf keinen Fall will ich längere Zeit Lehrer bleiben, vor allem jetzt nicht mehr, da durch das neue Schulgesetz 36 unser gesamtes Bildungswesen eine unglaubliche Primitivierung erfahren hat. Die Oberschulen existieren nur in der Form der bisherigen Aufbauschulen. Humanistische Gymnasien verschwinden ganz. Damit wird auf einen großen Prozentsatz der Lehrer an höheren Schulen verzichtet; vielleicht ist das gar ein Zweck. A n Volksschulen sollen dafür in Z u k u n f t zwei Fremdsprachen unterrichtet werden. - Einfach Blödsinn! Man kann jetzt immer wieder die Tendenz feststellen, den allgemeinen Bildungsstand ein wenig zu heben, um den Massen des Volkes etwas vorzuspiegeln, jedoch die höhere Bildung stark einzuschränken. Bolschewistische Methoden! 35

Volksentscheid über das „Gesetz über die Übergabe von Betrieben von Kriegs- und Naziverbrechern in das Eigentum des Volkes" im Land Sachsen am 30.6.1946. 36 „Gesetz zur Demokratisierung der deutschen Schule", das zwischen dem 22.5. und 2.6.1946 in den einzelnen Ländern der S B Z verkündet wurde. Oskar Anweiler: Bildungspolitik, S.713; 1945, A n m . 1 0 .

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Dahlen, den 13. Juni 1946 Ich wünschte, ich könnte mich des öfteren mit Dr. Schumacher 37 befassen. Die Aufsätze von ihm in westdeutschen Zeitungen fand ich recht beachtlich. Mehr noch: Ich habe durch sie einen Eindruck von dem Mann bekommen, den ich, nach dem, was ich von ihm bisher lesen konnte, als den bemerkenswertesten deutschen Politiker der Gegenwart ansehen möchte. Sein entschlossener Kampf gegen den Bolschewismus muß unbedingt Eindruck auf jeden deutschfühlenden Menschen machen. Vor allem: Dr. Schumacher hat als einziger aller heutigen deutschen politischen Führer ein festumrissenes Ziel, dem er unbeirrt mit ganzer Kraft zustrebt. Ein Ziel, das keine Neuauflage überlebter alter Wünsche, sondern tatsächlich eine neue Gestalt Deutschlands ist. Dahlen, den 14. Juni 1946 Etwa insgesamt vier Stunden sprach heute vor uns ein Ministerialrat, Präsident der Industrie- und Handelskammer. Sprach ist eigentlich zuviel gesagt. Er hämmerte mit dem Holzhammer der Rhetorik auf uns ein, bis kaum noch jemand zu denken wagte, bis sich Empörung zu öligem Beifall glättete. Das Wesen dieses Mannes und seine Ausführungen haben mich wieder klar erkennen lassen, dass es für mich kein Leben unter dem Zeichen des Bolschewismus geben kann. Sture, unwissenschaftliche Menschen, die rücksichtslos die Befehle Moskaus ausführen, regieren als Bonzen, jeden Versuch, nach den Rechten und Freiheiten wahrer Demokratie zu tasten, unterdrückend, auf jede Entgegnung mit der längst abgedroschenen Phrase deutscher Schuld antwortend. Mit der Forderung nach Arbeit versuchen die Menschen seines Schlages, dem deutschen Volke die Augen zu verbinden, damit es nicht sehe, dass seine Arbeit nicht ihm selbst dient, sondern nur für „Wiedergutmachungen" geleistet wird. Wo solche Menschen regieren, muß Deutschland untergehen.

Dahlen, den 24. Juni 1946 Vor den Abendnachrichten hörten wir vom Sender London eine Übertragung vom Prozeß in Nürnberg. 38 Speer 39 sprach. Man hatte den Eindruck, einen selbstbewußten, geraden, verantwortungs- und pflichtbewußten Mann zu hören, der keine Ausflüchte machte, sondern die Dinge so schilderte, wie sie waren, der stets das getan hat, was er für seine sittliche Aufgabe hielt, und der sich seinem Volke aufs höchste verantwortlich fühlt. 37

Kurt Schumacher (1895-1952), 1945 Wiederbegründer der SPD in den Westzonen und von 1946 bis 1952 Vorsitzender der SPD. 38 Siehe 1946, Anm. 6. 39 Albert Speer (1905-1981), Architekt, enger Mitarbeiter Hitlers, ab 1942 Reichsminister für Bewaffnung und Munition. Im Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher zu 20 Jahren Haft verurteilt.

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Man kann als Deutscher stolz sein, einen solchen Mann in dieser Zeit zu hören und selbst in den Worten des englischen Rundfunkkommentators Anerkennung und gerechte Beurteilung zu spüren. MaMis, den 29. Juni Dieses Zeitalter der Massen steht im Zeichen der Herausbildung eines neuen Individualismus. Mehr und mehr wird die Bedeutung der Massenströmungen hinter der des sittlich hochstehenden, verantwortungsbewußten Einzelmenschen zurücktreten. Inmitten dieser beginnenden Umwandlung stand der Nationalsozialismus, der im aristokratischen Führertum als Grundprinzip, aber gleichzeitig in seiner Ausrichtung auf Ansprüche und Eigenheiten der Masse den Zwiespalt unserer Epoche in seinem Wesen aufgenommen hat. Noch hat sich kein erlösender Gedanke sieghaft offenbart. Das Wort von der Demokratisierung wird jedoch mehr sein als eine bloße Phrase, als die man es heute vielfach empfindet. In ihm spiegelt sich bereits der Beginn des neuen Werdens wider. Heimat! Bisher hat dieses Wort in mir lediglich die Sehnsucht nach vergangenem Wohlstand geweckt. Heute aber spüre ich plötzlich bei den Gedanken an Sommerfeld, die sich immer hartnäckiger einstellen, einen tiefen Schmerz, rechtes Heimweh. Ich denke an unser Haus, den Wiesenweg und den Kroatenhügel. Ich wünsche mir, daß ich dieses liebe Land Wiedersehen kann. Ich liebe es. Revolutionen sind ebenso verabscheuungswürdig wie Kriege. Gesunde Entwicklung kennt keine Revolutionen. Sie werden stets vom wechselvollen, unzufriedenen Element der Masse hervorgerufen, nicht von denen, die jene Geistesrichtung hervorrufen, die Veränderungen erstreben. Die vom Pöbel unverstandenen Ideen werden durch ihn zu Gewalt und Vergewaltigung. Morgen meine erste Wahl, der Volksentscheid. 40 Ich werde als verantwortungsbewußter Mensch ohne Achtung der Massenpropaganda stimmen. Ich werde antworten, als würde man eine persönliche Frage an mich stellen, so wie ich die Politik im ganzen als etwas Persönliches betrachte. Der Nationalsozialismus sieht die Gemeinschaft als Selbstzweck an. Das kann sie jedoch nicht sein. Das erste ist die Persönlichkeit, die jedoch nicht existieren kann außerhalb der Gemeinschaft. Diese Gemeinschaft ist allerdings mehr als nur die Summe ihrer Glieder, als eine bloße Interessengemeinschaft. Zwischen ihren Gliedern besteht eine Unmenge vielfacher unsichtbarer Bindungen.

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Siehe 1946, A n m . 3 5 .

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Dahlen, den 2. Juli 1946 Das Resultat des Volksentscheids ist inzwischen bekannt geworden 41 . Im Oschatzer Gebiet, wie überhaupt in weiten Gebieten des ländlichen Sachsens, beträgt der Anteil der Ja-Stimmen etwa 60 bis 70 Prozent der abgegebenen Stimmen. Für ganz Sachsen ist dieser Anteil mit 77% bekanntgegeben worden. Ein Dahlener Papiergeschäft hängt ein Plakat aus, auf dem steht, daß etwa eine halbe Million sich „als Kriegsverbrecher bekannten". Mir scheint, daß die holde Göttin Demokratia wohl so manches Mal in bittere Tränen ausbrechen muß, wie sie in diese Gefilde ausgesprochener Blödheit gerät. Dahlen, den 14. Juli 1946 Gustave Le Bons „Psychologie der Massen" hat mir viel gegeben. 42 In der Masse ist der Mensch gleich einem Kinde, noch weit zurück in seiner Entwicklung. Entwicklung des Menschen war das Moment der Vergangenheit. Vielleicht ist die Entwicklung der Massen das Moment der Zukunft. Das eine ist jedoch vom anderen nicht zu trennen. Eine Kultivierung der Masse ist nur durch Einwirken auf den Einzelmenschen möglich. Die Psychologie ist wahrscheinlich nicht nur die interessanteste, sondern wird wohl die wichtigste aller Wissenschaften werden. Dahlen, den 16. Juli 1946 Alle Umwandlungen gehen auf eine Umgestaltung des Menschen zurück. Das Wesen des Menschen wird im Laufe der Zeit anders. Mit dieser Veränderung hält die Umwelt Schritt. Nicht rassische Reinheit, sondern das Vorhandensein eines bestimmten Mischtypus ist Voraussetzung für große Taten. Höheres Wissen gestaltet keinen Charakter, sondern führt vielfach gar zu Charakterlosigkeit. Nicht Belehrung, sondern Erziehung ist die erste Aufgabe des Unterrichts. Die Methode sei darauf abgestimmt, die Persönlichkeit in ihrer freien Entfaltung zu fördern, ihr dann aber auch die durch das Leben in der großen Gesamtheit gesetzten Grenzen ins Bewußtsein zu führen.

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Bei einer Beteiligung von 93,7% hatten 77,6% für das Gesetz, 16,6% dagegen gestimmt; 5,8% hatten ungültige Stimmzettel abgegeben. SBZ-Handbuch. Staatliche Verwaltungen, Parteien, Gesellschaftliche Organisationen und ihre Führungskräfte in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands 1945-1949, herausgegeben von Martin Broszat und Hermann Weber, München 1990, S.382. 42 Gustave Le Bon (1841-1931), Arzt, Begründer der Massenpsychologie. Sein Buch „Psychologie der Massen" war 1895 in französisch und 1911 in deutscher Übersetzung erschienen.

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D e n jungen Menschen bilden heißt, ihn allmählich und schrittweise in möglichst viele neue Kreise des Lebens hineinzuführen.

Dahlen, den 18. Juli 1946 Heute ist letzter Prüfungstag. Morgen abend geht der Lehrgang zu Ende. Mein Geld auch.

Mahlis, den 21. Juli 1946 Gestern war ich beim Schulrat in Oschatz. E r schlägt mich zum Studium an der Pädagogischen Fakultät der Universität Leipzig vor.

Mahlis, den 26. Juli 1946 Gestern abend Gemeindeversammlung. Die erste, an der ich teilnahm. Unfähigkeit überall, wohin man schaut. Man könnte wahrhaftig m ü d e werden, sich jeden Tag dieses Elend anzusehen.

Mahlis, den 27. Juli 1946 Ährenlesen. Deutsche aus allen Gegenden unseres Vaterlandes sammeln auf den Feldern Sachsens die Brosamen der Ernte. Die Kornpuppen haben kaum die Äcker verlassen, da sieht man schon emsige Ährenleser bei der Arbeit. Es ist eine mühsame Arbeit; und oft macht es den Bauern Spaß, den geringen Ertrag durch intensives Harken noch mehr zu vermindern. Doch auch die schwerste Arbeit gedeiht bei frohen Gesprächen. Ernte ist Ernte, wenn es auch nur die der Ärmsten ist. Da schallt es in allen möglichen Dialekten. Eine Schar schwatzender Schlesierinnen zieht unbefangen über das große Feld, flüchtig lesend und doch etwas schaffend. Still und beharrlich sucht die ruhige Ostpreußin nach Ähren, tief auf den Boden geduckt ohne aufzusehen; nur hin und wieder wendet sie einige wenige beruhigende Worte in ihrer breiten Mundart an ihre Kinder. Überall aber ist das Mundwerk des Rheinländers zu hören, der, H a h n im Korbe, große Reden schwingt, alle in der Welt gebräuchlichen Ausdrücke in seine Umweit wirft, ungeachtet der Frauen und Kinder, teils scherzend, teils schimpfend. Den Arbeitsausfall sucht er dadurch auszugleichen, daß er auf dem Nachbarfelde einmal in die Puppen langt und gleich eine ganze Handvoll Ähren herauszieht.

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Mahlis, den 28. Juli 1946 Parteisitzung. Es wurde über die Zusammenstellung unserer Kandidatenliste für die Gemeinderatswahl 43 beraten. Nach allen denkbaren Gesichtspunkten wurden die vorgeschlagenen Kandidaten geprüft. Wir bemühen uns, einige Männer und Frauen in den Gemeinderat zu schicken, die das Ansehen des gesamten Dorfes genießen, zur politischen Arbeit innerhalb der Gemeinde befähigt und als gerade deutsche Menschen für eine achtbare Meinung einzutreten bereit und in der Lage sind. Ich erkenne, wie wichtig es ist, über einen guten Namen zu verfügen, und daß eine kleine Tat bereits genügt, an Achtung zu verlieren. Jeder, der einmal in der Politik - und sei es auch nur im kleinsten Rahmen - eine Rolle spielt, muß in jeder Lage des Lebens seine Ehrbarkeit beweisen. Mahlis, den 1. August 1946 In der in Stuttgart erscheinenden „Wirtschaftszeitung" finde ich einen Aufsatz, der sich mit dem ungeheuren Andrang der Studenten auf die Universitäten befaßt, obwohl die Berufsaussichten für Akademiker in absehbarer Zeit überaus schlecht sein dürften. In dem Artikel wird von der Umschulung solcher, die zum Studium nicht zugelassen werden können, auf andere Berufe gesprochen. 44 Ich halte das nicht nur für vernünftig, sondern für unbedingt notwendig. Einmal dürfte die Zukunft gerade für Handwerker vielversprechend sein; außerdem bietet gerade das Leben des aus dem Handwerk hervorgegangenen kleinen Unternehmers große und schöne Aufgaben. Davon abgesehen aber ist der Typ des intelligenten Handwerkers für die Zukunft des deutschen Volkes durchaus wünschenswert. Nicht nur, daß wir in dieser Zeit, da Intensivierung die große Forderung ist, unternehmende Menschen mit eigener Tatkraft und Denkvermögen in allen Schichten brauchen; durch das Heranwachsen eines tüchtigen und mächtigen Mittelstandes wird der gesamte Volkswohlstand gehoben und wesentlich krisenfester gemacht, der Proletarisierung ein Ende gesetzt. Das würde auch eine unüberwindliche Barriere gegen Kommunismus und Bolschewismus bedeuten. Von dieser Seite her wäre eine weitgehende Lösung aller sozialen Fragen möglich. Für die Gegenwart ergibt sich die allerdings nicht zu unterschätzende Aufgabe, dem deutschen Volke und vor allem den Studienbewerbern diese Aspekte klar vor Augen zu führen und sie planmäßig zum Denken in diesem Sinne zu erziehen. A m 1 9 . 6 . 1 9 4 6 hatte die S M A D bekannt gegeben, dass „sie zur weiteren Demokratisierung Deutschlands den deutschen Verwaltungen der Provinzen und Länder in der Sowjetischen Besatzungszone erlaubt, Gemeindewahlen .... durchzuführen". F ü r Sachsen wurde der 1 . 9 . 1 9 4 6 als Termin festgelegt. S B Z - H a n d b u c h , 1946, A n m . 4 1 , S . 3 8 3 . 4 4 Nicht ermittelt. 43

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Mahlis, den 6. August 1946 Die Lage zwischen den Westmächten und der Sowjetunion wird immer gespannter. Viele Artikel in den Zeitungen unserer Zone tragen den Charakter unverhüllter Hetze. Und unter diesem Zeichen steht die Friedenskonferenz von Paris. 45 Die Ernährungslage gestaltet sich immer schwieriger. 46 Die diesjährige Ernte dürfte wesentlich schlechter ausfallen als die des Vorjahres. Es wird so fraglich, ob die an sich schon äußerst geringen Lebensmittelnormen bis zum nächsten Sommer gehalten werden können. Die Not steigert sich durch ein Höchstmaß an Korruption, die sich überall spürbar macht. Im Gemeindekreis der Wermsdorfer Union entlarvt sich ein Bonze nach dem anderen als Schieber oder Verbrecher.

Mahlis, den 15. August 1946 Heute habe ich den ganzen Tag über geschrieben. Studienantrag für Leipzig. Es ist der dritte und endgültig der letzte. Vorgestern war Geschichtsschulung in Oschatz. Oberstudienrat Ullrich sprach, das Übliche, völlig geistlos. Politischer Klatsch als Geschichtsunterricht. Immer wieder das Motto: Nieder mit allem, was gewesen ist! Jedoch keine neue Gestalt taucht hinter den Ruinen auf. Dann stand ich auf und gab eine Antwort. Ich sprach nicht vom Platze aus, sondern den 250 Anwesenden ins Gesicht blickend. Anfangs war ich ein klein wenig nervös. Das legt sich aber noch. Meine Sätze waren scharf: Nicht das Zerstören des Vergangenen darf [im] Vordergrund des Geschichtsunterrichtes stehen. Seine Aufgabe ist konstruktiv, nicht destruktiv. Wir müssen dem Gang der Entwicklung unvoreingenommen folgen und sachlich darlegen, also etwas Positives bieten. Es ist wenig demokratisch, aus den Menschen die bestehenden Vorstellungen herauszureißen. Wir müssen ihnen etwas darbringen, das sie freiwillig annehmen. Man kann den Menschen nicht den Weg zum Besseren weisen, indem man den alten Gott vernichtet, sondern indem man ihnen einen neuen Gott bringt. Ullrich forderte Wahrheit. Was ist denn Wahrheit? Sie scheint auch relativ zu sein, abhängig von Zeit und Raum. Das Geschichtsbild hat im Verlaufe der letzten Generation mehrere Wandlungen durchgemacht. Und jede nahm für sich in Anspruch, die „Wahrheit" zu bringen. Wir können den Versuch einer realistischen Betrachtungsweise lediglich machen, indem wir wissenschaftlich vorgehen, uns mit Sachkenntnis hineinfühlen. Die Historie ist eine Ganzheit aus vielen Teilgebieten. Jedes einzelne verlangt nicht nur Wissen, sondern 45

D i e K o n f e r e n z d a u e r t e v o m 29.7. bis 1 5 . 1 0 . 1 9 4 6 . A u f ihr w u r d e n F r i e d e n s v e r t r ä g e zwis c h e n d e n vier S i e g e r m ä c h t e n d e s Z w e i t e n Weltkriegs und Italien, R u m ä n i e n , U n g a r n , Bulgarien u n d Finnland v e r h a n d e l t , die am 1 0 . 2 . 1 9 4 7 u n t e r z e i c h n e t w u r d e n . 46 In d e r S B Z betrug die durchschnittliche tägliche Kalorienzahl 1946 1080.

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auch Können. Die großen Zusammenhänge zu erblicken, ist Kunst. Es dürfte niemand Literaturgeschichte betreiben, der nicht Literatur, Sprachen, Philologie kennt, niemand Kunstgeschichte, dem Kunstbetrachtung etwas Fremdes ist, niemand Wirtschaftsgeschichte, der nicht eine Ahnung vom Wesen der Wirtschaft und ihrem Verhältnis zu Volk, Staat und Recht hat. Es dürfte schließlich niemand Geschichte lehren, der politischen Fragen interesselos gegenübersteht. Was wir also vom Geschichtslehrer verlangen, ist universale Bildung. Ullrich sprach von Hitler und tat ihn als verunglückten Gefreiten ab. Ich halte solche Betrachtungen für wenig sinnvoll, höchstens sensationell. Wenn man die letzte Zeit kritisieren will, muß man sich schon an eine Betrachtung des Nationalsozialismus und seiner Herkunft machen. Eisiges Schweigen war die Antwort der Zuhörer, hie und da verstohlenes Kopfnicken. Dann zog wieder Ullrich vom Leder, aggressiv und persönlich. Doch das letzte Wort hatte ich. Es war ganz kurz. Montag beginnt der Unterricht wieder. Ich bekomme in Mahlis das vierte Schuljahr, ausgerechnet das vierte. Doch diese Lösung ist für mich die bequemste, da ich doch auf das Studium hoffe und vorher keine großen Veränderungen vornehmen möchte. Mahlis, den 17. August 1946 Nachmittags kam Kläuer. Er brachte die Nachricht, daß die russische Kommandantur [in Oschatz] unsere Ortsgruppe [der LDP] nicht anerkannt hat. Wir können also zu den Wahlen keine Liste aufstellen. Alle Arbeit umsonst! Abends war Lotzmann bei mir. In Wermsdorf erzählt man, wir hätten in Mahlis Handzettel verbreitet, die sich mit den Vorgängen in Wermsdorf befassen, der Verhaftung des Bürgermeisters und den vier Morden während der letzten vierzehn Tage, von denen zwei auf Russen zurückzuführen sind. Lotzmann sucht nach einem Wege. Doch das Bilden eigener Anschauung ist ihm zu wenig und zu mühsam. Er will von mir ein schnell wirkendes Allheilmittel, doch auch nicht gegen den Strom schwimmen müssen. Doch ich habe gestern begriffen, daß der Standpunkt der Ich-Anschauung, die ganze Welt vom Ich aus zu sehen, überwindbar ist, vielleicht allerdings nicht von uns Heutigen. Oder doch? Überwunden wurde diese Anschauung von jenen Mönchen, die ganz auf das Leben verzichteten und sich nur dem höheren Ruhme Gottes widmeten. Überwunden wurde dieser Standpunkt von dem alten preußischen Offizier, der auf die Fahne schwört und sich dessen bewußt ist, daß nichts mehr ihm selber gehört, weder das eigene Leben, noch seine Persönlichkeit; nur die Ehre war sein eigen, und die hieß: Treue meinem Worte. Wo es aber zu Konflikten kam zwischen persönlicher Ehre und der Pflicht, zu einer Spaltung der Ehre, dort gab es nur ein Ende des Lebens, ein Aufhören der Persönlichkeit.

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Die Mystiker sind die Suchenden nach dem Gott in uns selbst. Mit ihnen erwacht das Bekennen zum eigenen Ich. Noch zwei freie Tage sind mir gegeben; dann beginnt die Schule. Wenn ich an die kommende Arbeit denke, werde ich immer unmutiger. Mahlis, den 19. August 1946 Mein erster Unterricht im vierten Schuljahr. Hier gibt es keine Probleme für mich. Dennoch werde ich kein Glücksgefühl finden. Mahlis, den 21. August 1946 Heute Schulung in Wermsdorf. Zum Davonlaufen! Der ganze Lehrerkram hängt mir zum Hals heraus, zumal es ein aussichtsloses Bemühen scheint, den Lehrerstand zu einem angesehenen und ausschlaggebenden Stand im deutschen Volk zu machen. Immer wieder stößt man anstatt auf ernsthafte Aufbauversuche nur auf bombastische Phrasen. Mahlis, den 25. August 1946 Den Abschluß des gestrigen Tages bildete eine Sitzung des Ausschusses der Volkssolidarität 47 zur Gestaltung des Kinderfestes Ende September. Auch ich nahm daran teil. Viel Gerede um klar festgelegte Dinge. Doch zuletzt blieben Kläuer, der SED-Ortsgruppenvorsitzende Reimann, Flüchtling aus Schlesien, noch beisammen. Wir unterhielten uns über politische Dinge. Ich habe Reimann immer für einen tatkräftigen, anständigen Mann gehalten, der von allem etwas versteht und stets als guter Deutscher empfindet. Das habe ich gestern wieder bestätigt erhalten. E r ist gerade, offen und zielbewusst, ein Führer in seinem kleinen Kreise. Das Wirken solcher Männer im Dorf bedeutet Demokratie. E r hängt an seinem Schlesien. Und hier hört auch seine Verpflichtung gegenüber der Partei auf.

Mahlis, den 27. August 1946 Ich habe noch ein Eisen ins Feuer gelegt. Meinen Studienantrag an der Technischen Hochschule Dresden habe ich erneuert. Es dürfte interessante Antworten auf meine Immatrikulationsanträge geben. Ich kann die stets beizulegenden Stellungnahmen zu aktuellen The-

Nach Bildung von Vorläuferorganisationen auf Landesebene (besonders Sachsen) wurde die „Volkssolidarität" im Mai 1946 auf Z o n e n e b e n e gegründet. Als ihre Hauptaufgabe sah sie „die Unterstützung des wirtschaftlichen Aufbaus und sozialer Selbsthilfe, die ergänzend zur öffentlichen Fürsorge und in enger Zusammenarbeit mit deren amtlichen Stellen geleistet werden sollte". S B Z - H a n d b u c h , 1946, A n m . 4 1 , S . 7 9 3 - 7 9 7 , Zitat S.796. 47

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men 4 8 wohl als durchaus originell bezeichnen. Zum ersten Male tue ich amtlichen Stellen meine Meinung kund. Nun, Demokratie: Hic Rhodos, hic salta. Mahlis, den 28. August 1946 Heute wieder Schulung in Wermsdorf. Dietze ist einfach unausstehlich. Vielleicht macht das der Wahlkampf, der von der SED in unflätigster Form geführt wird. 49 Dietze glaubt, in jeder Meinung, die geäußert wird, persönliche Angriffe bekämpfen zu müssen. Er ist entsetzlich steif und vermag einfach nicht, dem Gedankengang eines anderen zu folgen. Mahlis, den 30. August 1946 Wir haben Aussicht, eine Wohnung zu bekommen, eine Wohnung aus einer kleinen Stube und einem großen ausgebauten Zimmer auf dem Boden der Schule. Die Lehrkräfte sollen „ordnungsgemäß" untergebracht werden; natürlich heißt das, dass Flüchtlinge eben doch flüchtlingsgemäß, d. h. armselig hausen müssen. Mahlis, den 31. August 1946 Die „Tägliche Rundschau" 5 0 bringt Bilder und Werke der Preisträger ihres literarischen Wettbewerbs. Es sind alles keine Zufallsblüten, wenn auch kaum der breiten Öffentlichkeit bekannte Namen unter ihnen zu finden sind. Einige herrliche Offenbarungen sind gerade unter den lyrischen Werken zu finden. Doch wie überall steht auch hier das Werk augenblicklicher politischer Tendenz im Vordergrund und wird am höchsten gewertet. Mahlis, den 1. September 1946 Ein Sonntag ohne Rast und Ruh: Gemeindewahl. Als Mitglied des Wahlausschusses habe ich den ganzen Nachmittag im Wahllokal zubringen müssen.

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In der S B Z waren „politische Stellungnahmen" vor Aufnahme des Studiums von Mitgliedern der politischen Parteien und Massenorganisationen erforderlich, die der Zulassungskommission vorgelegt werden mussten. Auskunft von Dr. Matthias Lienert, Universitätsarchiv Dresden. 49 C D U und L P D wurden im Wahlkampf vor den Gemeindewahlen im Herbst 1946 stark benachteiligt. SBZ-Handbuch, 1946, A n m . 4 1 , S.384f. 50 D i e „Tägliche Rundschau" wurde ab Mai 1945 von der Roten A r m e e in der S B Z herausgegeben. Sie erschien bis Ende Juni 1955, zunächst als „Frontzeitung für die deutsche Bevölkerung", dann mit dem Untertitel „Zeitung für Politik, Wirtschaft und Kultur".

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Etwa 60% der Stimmen, bei großzügiger Zählung, erhielt die SED. Der Rest ist ungültig. 51 Mahlis, den 2. September 1946 Obwohl man es nicht sehr eilig hat mit der Veröffentlichung der Wahlresultate, wird doch eins nach dem anderen bekannt. Trotz der ungeheuren und ungeheuerlichen Propaganda der SED, die alles in den Schatten stellte, ist der Erfolg der beiden „bürgerlichen" Parteien gewaltig. Es gibt kaum einen Ort, an dem die SED mehr als 50% der Stimmen bekommen hätte. Meistens hat sie das aber noch nicht einmal. In Wermsdorf gab es gänzlich unerwartet einen Sieg der LDP. Sie erhielt mehr als 40% aller abgegebenen Stimmen, die SED etwa 33% und die C D U fast 25%. Unzweifelhaft ist diese Wahl ein Zeugnis dafür, dass das deutsche Volk tatsächlich allmählich beginnt aufzuwachen. Sie ist ein herrliches Zeugnis dafür, dass der freiheitliche deutsche Geist niemals durch die plumpen Gewaltmethoden des Ostens zu unterdrücken ist. Vielleicht wird das deutsche Volk wirklich noch zu einer demokratischen Haltung finden. Eines scheint jedoch bereits jetzt gesagt werden zu dürfen: Nachdem, was unser Volk in letzter Zeit erlebt hat, nimmt es nicht mehr blind alles hin, was man ihm vorschwatzt. Viele deutschen Menschen beginnen, sich selbst eine Meinung zu bilden. Und das ist das größte Geschenk dieser Zeit.

Mahlis, den 4. September 1946 Gestern abend Sitzung des Festausschusses für das Kinderfest und Schulfest am 22. September. Es wäre die erste Sitzung in Mahlis, die nicht mit Lärm und Krach zu Ende geht, gewesen, wenn, ja wenn es eben nicht in Mahlis gewesen wäre. Doch der Krach war zum großen Teil erheiternd. Viel ist natürlich nicht dabei herausgekommen. Alte Beschlüsse wurden nach mehrstündiger Diskussion erneut ins Gedächtnis zurückgerufen und gefestigt. Heute habe ich nun meinen Kindern vom Festzug erzählt, der das Schulfest einleiten soll. Die Begeisterung war groß. Sie freuen sich riesig. Wir wollen eine Gruppe im Festzug darstellen. Ich habe mich für „Ali Baba und die vierzig Räuber" 5 2 entschlossen, um möglichst viel Kinder dabei unterzubringen. Mein Vorschlag wurde mit ungeheurem Hallo entgegengenommen. Hoffentlich hält die Begeisterung auch weiterhin an und wird nicht im schlechten Wetter verregnen.

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D a s entsprach u n g e f ä h r d e m Z o n e n d u r c h s c h n i t t , d e r bei 57.1 lag. S B Z - H a n d b u c h . 1946, A n m . 4 1 , S.386. >2 Ali B a b a ist eine Figur der 270. Geschichte aus d e r M ä r c h e n s a m m l u n g „Tausend und eine N a c h t " , die in E u r o p a weit verbreitet war.

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Mahlis, den 15. September 1946 Seit gestern abend wohnen wir in der Schule. Russischer Befehl: Die Schulwohnungen müssen für Lehrer freigemacht werden. Ich musste Hals über Kopf in eine Zweizimmerwohnung im Schulgebäude einziehen. Wohnung ist etwas zuviel gesagt. Es sind ein kleiner Raum mit Kochmöglichkeit und eine ausgebaute Stube auf dem Boden darüber. Papa und Mama mussten mit. Bei meinem Verschwinden aus Mahlis werden sie sicherlich wieder auf die Straße gesetzt. Als ich nicht sofort einverstanden war, wurde mir Verhaftung durch die GPU in Aussicht gestellt. In vier Stunden musste der Umzug bewerkstelligt werden. Bürgermeister Köhler: „Ich führe jeden Befehl aus, und wenn ich das halbe Dorf auf die Straße setzen muß." Mahlis, den 23. September 1946 Hinter mir liegen Tage schwerer Arbeit. Gestern stieg unser Kinder- und Schulfest. Die letzten Tage vorher waren restlos mit Vorbereitungen ausgefüllt. Es gab Krach genug, und alle waren wir hochgradig nervös. Der Sonntag brachte dafür einen vollen Erfolg. Der Ablauf des Festes klappte tadellos. Auf die Minute genau konnte jede vorgesehene Zeit eingehalten werden. Der Festzug und der Lampionumzug zum Abschluss werden allerseits gelobt. Auch die Gruppe meiner Klasse, „Ali Baba und die Räuber", fand berechtigte Beachtung. Schließlich aber war das Bezeichnende dieses Tages, dass die Mahliser in meisterhafter Ausschmückung ihrer Häuser zum ersten Male seit Kriegsende eine Anteilnahme an einem Geschehnis bewiesen haben. Damit wäre unser Ziel erreicht: dem Dorfe wieder ein Fest gegeben zu haben, das es unabhängig von seiner politischen Gliederung vereint und das für alle Bewohner zur Tradition wird. In der Aufregung der Vorbereitungsarbeiten und des ständigen Bangens um das Wetter, das zuletzt doch noch schön wurde, hat mich die Nachricht von meiner Nichtzulassung zum pädagogischen Studium halb so schwer getroffen, wie es normalerweise der Fall gewesen wäre. Mahlis, den 25. September 1946 Allmählich wird es bei uns wohnlicher. Gestern war der Maler in unserer Bodenstube, die Wohn-, Schlaf- und Arbeitszimmer ist. Gestern abend und heute vormittag haben wir eingeräumt. Von einem Arbeitskollegen Papas bekam ich sogar einen schönen Bücherschrank; und es fehlt nicht viel, bis er wieder voll ist. Es scheint so, als sollten wir langsam Wurzeln schlagen. Doch dann und wann folgt wieder ein kleiner Nasenstüber. Schaue ich jetzt aus meinem Fenster in das Dorf hinunter, so wird mir jedes Mal bewußt, daß hier ein Bürgermeister regiert, der Kläuer und mich als Reaktionäre bezeichnet und versichert hat, daß er gegen uns vorgehen werde.

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Kleinere Enttäuschungen wechseln mit größeren ab. Sie pflastern gemeinsam den Weg des Lebens. Gestern bei der Schulung in Oschatz mußte ich mit saurer Miene so manchen freundlichen Händedruck abwehren, der mit Erkundigungen nach meinem Studium verbunden war. Ich resigniere. Ein langweiliger Vortrag über die Französische Revolution blieb gänzlich ohne Widerhall. Kaum ein Mensch war mit Interesse gefolgt. Suchend schaute der Schulrat nach einer Meldung zur Diskussion aus. Dann forderte er mich zu einem Worte auf. Doch auch ich blieb sitzen. Mahlis, den 2. Oktober 1946 Inzwischen ist das Urteil im Nürnberger Prozeß verkündet worden. Es gab doch wider Erwarten einige Freisprüche. 5 3 Beschämend ist zu empfinden, daß die Hinrichtungen durch den Strang erfolgen. Allerdings ist diese Form an den Leuten vom 20. Juli auch angewendet worden. Nichts wird mich davon überzeugen können, daß dieser Prozeß auf einer gesunden rechtlichen Grundlage stattfand. 5 4 Für jeden wehrhaften Deutschen ist es ein politischer Akt der Siegermächte, dem wir unsere Anerkennung versagen. Oderau, den 4. Oktober 1946 Gestern war ich in Leipzig. Nachdem ich von der T.H. Dresden die Mitteilung erhalten [hatte], daß ich wahrscheinlich zugelassen, wenn auch vorläufig auf eine andere Fachrichtung eingeschrieben werde, wollte ich Klarheit über meinen Studienantrag in Leipzig haben. Drei Stunden währte mein Aufenthalt dort. Der Bescheid war natürlich abschlägig. Ein 18jähriger Schnösel in zerrissenem Anzug machte mir die Mitteilung mit bissigem Bedauern. Auf meinen Antragpapieren stand in großen Buchstaben: L.D.P. Leipzig hat sich seit meinem Aufenthalt dort Ende April sehr zu seinen Gunsten verändert. Im Stadtbild und vor allem am Hauptbahnhof machen die Aufräumungsarbeiten merkliche Fortschritte. Der größte Teil der Schuttmassen ist beseitigt und hat die bizarren Formen der Ruinen abgerundet und die unverhüllten Fundamente freigelegt. Heute morgen bin ich nach Dresden gefahren. Mein Besuch bei der T.H. ist ganz zu meiner Zufriedenheit ausgefallen. Ich werde, um unterkommen zu

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Freigesprochen wurden Hans Fritzsche, Rundfunkkommentator, Franz von Papen und Hjalmar Schacht. 54 Entgegen dieser Auffassung ist heute die herrschende Lehre der Rechtswissenschaft und die Mehrheit der Historiker der Meinung, dass der Prozess als Fortentwicklung des Völkerrechts zu werten ist und zur Aufklärung der NS-Verbrechen beigetragen hat.

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können, an der Pädagogischen Fakultät - Abteilung Holzgewerbe - immatrikuliert. Jedoch werde ich ohne Bindung an dieses Fach mein Studium nach Maßgabe der technischen Fächer, jedoch auf breiter Grundlage aufbauen können. Die Eröffnung einer nationalökonomischen Fakultät steht für das kommende Jahr in Aussicht. Dann kann ich mich ganz diesem Studium widmen. Der vorherige Ausflug in die Grenzgebiete der Technik kann nur gut sein. Organisation und Einrichtung der stark zerstörten T.H. machen einen guten Eindruck. Sie ist bescheidener als die der Universität Leipzig, gewiß jedoch besser, zweckmäßiger und gefälliger als die der Universitäten Leipzig und Halle. Ein Blick auf das Schwarze Brett der Studentenschaft sagte mir, daß offenbar die L.D.P. das beherrschende Element dieser Hochschule ist. In Hochstimmung verließ ich das Sekretariatsgebäude. Am 1. November werden die Vorlesungen wahrscheinlich beginnen. Meine Annahme ist so gut wie sicher. Dresden macht einen erschütternden Eindruck. Lediglich die Gegend am Neustädter Bahnhof scheint unzerstört zu sein. Die Altstadt ist vom Elbufer bis zu den Außenvierteln ein riesiges Ruinenfeld, wie ich es in diesen Ausmaßen bisher noch nicht gesehen. Keine Straße ist wiederzuerkennen. Die Straßenbahn fährt durch menschenleere Steinwüsten. Die Stadt scheint ausgestorben. Man möchte nicht glauben, daß auch nur 50000 Menschen in ganz Dresden beisammen wohnen. Hie und da wuchert bereits ungehegtes Leben über den toten Steintrümmern. Unkraut und selbst mannshohes Gebüsch verdeckt gewaltige Steinbrocken... Ruinen einer großen, schönen Stadt, der „heiteren Stadt". Kreischend biegt die Straßenbahn in eine Kurve. Mitten zwischen den Trümmern und Büschen steht eine einzelne ältere Frau, sauber gekleidet. Sie schlägt Mörtel von den herumliegenden Ziegelsteinen ab und schichtet sie vor den Überresten eines ehemals ansprechenden Hauses - wohl dem ihren - zu sorgfältigen Haufen auf. Mahlis, den 8. Oktober 1946 Heute wieder Schulung der Kreislehrerschaft. Wieder bin ich mit Mißmut geradezu geladen worden. Stundenlang muß man sich Dinge anhören, die einfach nicht ernst zu nehmen sind. Und nicht einmal ein energisches Wort dagegen kann man riskieren. Mit tierischem Ernst wird von politischen Dingen gefaselt, die mit einer Unmenge propagandistischer Kraft dem deutschen Volke tagtäglich vorgehalten werden, die auch nicht das geringste mit der ernsthaften Beseitigung der großen und schwerwiegenden Probleme zu tun haben. Nur indem man die fähigsten und besten Köpfe in die Führung der Verwaltung beruft, kann man mit einem Höchstmaß von durchdachter und zweckmäßiger Organisation den großen Fragen zu Leibe gehen. Aber das ist das Erste und Wichtigste, mit

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dem angefangen werden muß. Nur dann könnte man das Volk am Aufbau des Gemeinschaftslebens interessieren und zur aktiven Mitarbeit bringen, aber nicht dadurch, indem man mit dogmatischen Phrasen die Wunden einer unfähigen und korrupten Verwaltung zu verdecken versucht. Etwas Positives habe ich in Oschatz doch erreicht: Der Schulrat wie auch der Stellvertreter des Landrates versicherten, daß für den Fall meines pädagogischen Studiums Papa und Mama in der Schule wohnen bleiben können. Außerdem steht mir höchstwahrscheinlich die Möglichkeit offen, in den Semesterferien vertretungsweise wieder als Lehrer eingesetzt zu werden. Hoffentlich sind diese Zugeständnisse nicht nur Produkte der guten Laune des Schulrates heute. Mahlis, den 9. Oktober 1946 Dieser Tage ist eine der beachtlichsten deutschen Zeitungen in meine Hand gelangt, die in Freiburg i. Br. erscheinende „Gegenwart". 55 Der größte Teil ihrer Artikel ist in ausgezeichnetem Deutsch geschrieben und gibt scharfe und tiefe Gedanken wieder. Diese Zeitung ist mehr, als alle bisher gelesenen Blätter zusammen geben können. Ich las die nicht gehaltene Rundfunkrede Goerdelers zum 20. Juli 1944.56 Man mag die Tat dieses Tages auch noch so skeptisch betrachten. Für mich wird es klar, daß unter den Männern dieser Bewegung die besten und vor allem gerechte und verantwortungsbewußte Kräfte waren. Heute sind sie nicht mehr oder ist ihr Einfluß ausgeschaltet. Wäre diese Tat geglückt, so hätte trotz aller möglichen inneren Zwiespalte das deutsche Volk doch eine weit günstigere Lage gefunden als die ist, in der es heute lebt. Wir hätten einen neuen Weg einschlagen können, ohne den äußersten Punkt unserer Existenz (auch der moralischen) erreicht zu haben. Allmählich erkenne ich, wie tief wir geistig gefallen sind, wie verderblich die Gestalt Hitlers für uns Deutsche geworden ist. Doch diese Erkenntnis gibt mir keinen Mut zu neuem Planen. Die Kräfte, die überall am Werk sind, sind nicht die des Aufbaus. Wir taumeln ziellos im Chaos dahin. Unser letztes Recht, unsere letzte Kraft, unsere Würde haben wir vergeben und uns Mächten anvertraut auf Gedeih und Verderb, die selbst nicht gemeinsam uns einen Weg weisen. Die große Auseinandersetzung ist mit unserem Zusammenbruch nicht beendet. Sie geht weiter nur mit anderen Mitteln und in veränderter [Form]. Chaos! 55

„Die Gegenwart", eine Halbmonatszeitschrift, erschien ab Dezember 1945 in Freiburg i. Br. 56 Carl Friedrich Goerdeler (1884-1945, hingerichtet). Politiker und Widerstandskämpfer. - Das Regierungsprogramm vom 20. Juli 1944. Karl Goerdelers geplante Rundfunkrede nach Übernahme der öffentlichen Gewalt. A u s dem Nachlaß herausgegeben von Professor Dr. Gerhard Ritter, Freiburg, in: Die Gegenwart, 1. Jg., Nr. 12/13 vom 24. Juni 1946, S. 11-14.

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Mahlis, den 11. Oktober 1946 Gestern letzte Ferienschulung in Oschatz. Prüfung. Doch dieses Wort ist kaum angebracht. Die Aufgaben waren für ein Niveau berechnet, das eines intelligenten Menschen, auf jeden Fall eines Lehrers unwürdig ist. Die Zeitung bringt einen wüsten Aufruf der Oberschule Oschatz. Da wurde ein Schüler, der seine und seiner Eltern dunkelrote und prosowjetische Einstellung allzu oft in dümmlicher Weise herausstrich, von Kameraden verklopft. Er geht hin und schreibt einen unflätigen Artikel für unser Skandalblatt, in dem er Kameraden und Lehrer verunglimpft. Rache „demokratisch"! Denunziantentum und Suderei bereits in der Jugend. Das sind Früchte „unserer" Erziehung und des gesamten politischen Lebens. Mahlis, den 13. Oktober 1946 Morgen beginnt wieder die Schule. Ich bereite mich bei diesem häßlichen Wetter, das einem das Spazierengehen verleidet, auf den Unterricht vor. Dabei arbeite ich den neuen Geschichtslehrplan durch, bin ich doch neuerdings Geschichtslehrer für Mahlis. Diese Aufgabe ist schön und könnte auf die Dauer Begeisterung in mir wecken. Der Lehrplan ist im allgemeinen auch sehr brauchbar, wenn man von der voreingenommenen und parteipolitisch dargestellten Neuzeit absehen will.

Mahlis, den 14. Oktober 1946 Verfassungsfragen in allen Ländern. 57 Meist versucht man, augenblickliche politische Zustände zu verewigen, ohne zu bedenken, daß eine Verfassung auch zukünftiger Entwicklung Rechnung tragen muß. „Die Gegenwart" erinnert in diesem Zusammenhang an das Wort Talleyrands 58 : „Verfassungen müssen kurz und undurchsichtig sein." 59 Vor allem sehe ich als die große Gefahr die Konsolidierung der vielfach das gilt in besonderem Maße für die russische Besatzungszone Deutschlands - bereits juristisch fundierten Parteiherrschaft an. 57

Die Verfassungsberatungen in den Ländern hatten in der zweiten Jahreshälfte 1946 in der amerikanischen Zone begonnen, wo sie sich über vier bis fünf Monate hinzogen. In der SBZ begannen die Verfassungsberatungen erst am Ausgang des Jahres 1946 in ein ernsthaftes Stadium zu treten und wurden innerhalb von wenigen Wochen zum Abschluss gebracht. 58 Charles-Maurice de Talleyrand-Perigord (1754-1838), französischer Staatsmann und Diplomat. 59 Für das Talleyrand zugeschriebene Zitat lässt sich keine Quelle angeben. Darüber hinaus ist es in unterschiedlichen Formulierungen überliefert, z.B. Verfassungen müssen „kurz und dunkel", „kurz und unklar", „kurz und unpräzise" oder „möglichst kurz und unbestimmt" sein.

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Mahlis, den 15. Oktober 1946 Der Wahlkampf erreicht seinen Höhepunkt 6 0 , der allerdings nicht vergleichbar ist mit dem zu den Gemeindewahlen. Auch hier im Dorf prangen die Plakate. Heute findet unsere LDP-Versammlung statt, sicher nur in kleinem Kreise, denn das Wetter ist denkbar schlecht. Kläuer, Fräulein Hausmann und ich haben gestern Plakate geklebt. So sieht meine politische Tätigkeit innerhalb der LDP aus. Noch nie in meinem bisherigen Leben habe ich dergleichen getan. Ausgerechnet in dieser Zeit als Neulehrer klebe ich Propagandaplakate für die LDP.

Mahlis, den 17. Oktober 1946 Es ist nun soweit. Der Wechsel, den ich seit langem herbeigesehnt, steht nun unmittelbar vor der Tür. Gestern brachte die Post die Nachricht von der T.H. Dresden, daß ich mich einige Tage vor dem 21. Oktober dort melden soll. Es geht nun an das Abschiednehmen. Und das fällt mir auf einmal nicht so leicht. Die Menschen meiner engsten Umgebung möchte ich nicht so plötzlich missen. Und sie haben mich auch recht gern. Dresden, den 18. Oktober 1946 Nach einem gemütlichen Abschiedsabend in unserer Stube mit Kläuer und Hausmännchen nahm ich heute morgen Abschied von Mahlis. Es fing nicht gut an: Der Zug hatte viel Verspätung. Ich konnte infolgedessen nicht viel erledigen. Ich bin auf Wohnungssuche gewesen. Diesen Abend bringe ich in einem kleinen, kühlen, wenn auch nicht unfreundlichen Zimmer zu bei einem offenbar netten älteren Herrn. O b ich mich damit jedoch bescheiden werde, ist noch fraglich. Ich bin immatrikuliert. Als Erstes mußte ich durch Unterschrift bezeugen, daß ich mir klar bin, daß während des Studiums die Fakultät nicht gewechselt werden darf. Es ist lediglich ein Wechseln der Fachrichtung und der Hochschule erlaubt. Das war für mich alles andere als eine freudige Feststellung. Doch ich bin kaltschnäuzig geworden. Seitdem ich Großstadtpflaster trete, habe ich restlos meine Sicherheit wiedergefunden. Nicht daß ich besonders selbstbewußt wäre. Alles läßt mich kalt. Ich bin gleichgültig. Dresden, den 22. Oktober 1946 Ich bereite alles zur ersten Vorlesung vor, die morgen steigen wird, ausgerechnet „Elementarmathematik", dann „darstellende Geometrie". Mir ist 60

Für die Kreistags- und L a n d t a g s w a h l e n a m 2 0 . 1 0 . 1 9 4 6 .

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ganz unbeschreiblich zumute. Was wird der morgige Tag, da zum ersten Male die Tore der Hochschule sich vor mir auftun werden, für mich bringen? Heute kehrte ich nach Dresden zurück. 61 An meinem leeren Magen spüre ich bereits jetzt die Großstadt. Mama brachte mich bis nach Oschatz. Die Fahrt ging durch Nässe und Nebel im überfüllten Zuge, der diesmal fast pünktlich war. Die Laufereien wollten schier kein Ende nehmen. Nun ist mir mein Zimmer zugesprochen und ich bin angemeldet. Das hat den ganzen Nachmittag gekostet. Schließlich aber noch lief ich zur Hochschule, um mir den Vorlesungsplan, soweit bereits bekannt, anzusehen. Wie war ich erfreut, als ich unter meinen Pflichtvorlesungen auch „Wirtschaftslehre" fand! Der Volkswirtschaft wird doch in aller Zukunft mein größtes Interesse - ja meine Liebe gehören. Dresden, den 23. Oktober 1946 Heute hörte ich die ersten Vorlesungen: Zur ersten kam ich zu spät. Ich schlich an die Tür des Hörsaals und schaute durch das Glasfensterchen hinein. Ich war freudig erregt, als ich den schönen, hellen, großen Hörsaal mit den fast 500 amphitheatralisch aufgebauten Plätzen erblickte. Drinnen hörte ich in den ersten Minuten gar nicht auf die Worte des Professors, sondern mußte erst das ganze Bild in mich aufnehmen. Wir haben recht viel Vorlesungen, in der Woche etwa 34 Stunden. Ich muß dabei viel Uninteressantes mitnehmen. Mathematik ist hin und wieder ganz reizvoll, Geometrie jedoch ist für mich nur ein Zwang. Zwei Stunden Mathematik und zwei Stunden Geometrie habe ich heute gehört und hatte fast die Nase voll. Dann jedoch folgten zwei Stunden Pädagogik bei Professor Trinks62. Das war ein Lichtblick. Dieser noch elastische, umfassend gebildete Mann mit seiner herrlichen plastischen Sprache, der temperamentvoll vorträgt, weiß genau, was er aus seinen Zuhörern machen will. Jedes Wort, jede Handlung, jede Geste an ihm ist ein in sich geschlossenes pädagogisches Meisterstück. Mit diesem Manne ein vertraulicheres Verhältnis einzugehen, wäre mein Wunsch. Dresden, den 24. Oktober 1946 Bereits am zweiten Tage meines Studiums übersteigt die mathematische Vorlesung mein Fassungsvermögen. Ich verliere den Anschluß. Allerdings scheint es nicht nur mir so zu gehen. Die Vorlesungen werden in einem Tempo gehalten, daß es kaum möglich ist, die Aufzeichnungen des Professors an der Tafel 61

Schulz war am 20. und 21. 10. noch einmal in Mahlis gewesen. Karl Trinks (1891-1981), 1946-1951 Professor für Theoretische Pädagogik und Geschichte der Pädagogik an der T H Dresden. 62

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zusammenhängend nachzuschreiben. Seinen erklärenden Worten kann man fast gar keine Beachtung schenken. Und wie die Mathematikvorlesungen sind, so scheint das ganze Semester zu werden. Es ist ein Hasten ohne Verschnaufen. Ich komme bei 42 Stunden in der Woche, von denen kaum eine zu versäumen ist, will man nicht den Überblick über die ganze Vorlesung verlieren, nicht zu einer Stunde der Ruhe. Es fehlt ganz und gar die Sphäre der Behaglichkeit und Beschaulichkeit, in der allein man wachsen und werden kann. Ich fühle mich bereits am zweiten Tage meines Hierseins in ein Dasein gepfercht, das meine Entwicklung eher hemmt als fördert. In mühevoller Arbeit muß ich mir das geforderte Wissen aneignen, unter der ständigen Angst, den Anschluß zu verlieren. Jede produktive eigene geistige Tätigkeit wird in dem ununterbrochenen Hasten, hinzu kommen noch Hunger und Kälte, zur Unmöglichkeit. Dresden, den 25. Oktober 1946 Aus der Berufsschulpädagogik herauszukommen, wird nicht einfach sein. Ein Gang zur Landesverwaltung deswegen hat mich belehrt, daß die Aussichten, in ein anderes Studium zu finden, sehr gering sind. Jeden Tag sitze ich bis tief in die Nacht hinein frierend in meinem Zimmer, das ich immer noch nicht heizen kann, weil mir Holz fehlt. Ich versuche, hinter die Geheimnisse der Determinanten zu kommen. Mathematische Grübeleien haben gewiß ihre Reize und lassen Zeit und Raum vergessen. Doch sie können mir nichts anderes sein als ein geistreicher Zeitvertreib wie etwa das Schauspiel auch. Dresden, den 26. Oktober 1946 Es ist in diesen Tagen winterlich kalt geworden. Wir haben jede Nacht Frost gehabt. Ich mußte zuletzt bei meinen Arbeiten furchtbar frieren und habe mir dabei einen Schnupfen zugezogen. Nun aber habe ich einige Briketts und heute auch etwas Holz bekommen, sodaß ich mir morgen, zum Sonntag, ein gemütlich warmes Zimmer machen kann. Das Wetter ist nicht zum Herumlaufen. Der eisige Wind geht selbst durch dicke Mäntel hindurch. Und warum auch Spazierengehen? In Dresden gibt es keine Dinge, die es zu entdecken lohnte, weder Bücherläden, die man durchstöbern könnte, noch andere sehenswerte Schönheiten. Dresden hat seine Pracht verloren. Nur wenn man über die Elbe geht und auf das Ufer der Altstadt blickt, glaubt man, in den Konturen der Ruinen noch jene Spur einstiger Schönheiten zu erkennen, die selbst in der geschändeten Fassade dieser Stadt noch das eigentliche Wesen erkennen. Doch der Blick von Elbufer zu Elbufer ist trotzdem niederdrückend, ebenso wie jeder Blick aus den Straßenbahnwagen auf die lange Mauer aufgeschichteter Trümmer.

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Um mir zum ersten Wochenende etwas zu gönnen, ging ich heute abend ins Kino zum ersten deutschen Nachkriegsfilm „Die Mörder sind unter uns". 63 Für den Anfang nicht schlecht. Er spricht vielfach mehr an, als ich dachte. Leider wird auch hier die politische Tendenz fast zur billigen hochaktuellen Phrase herabgewürdigt. Besonders zuletzt wird in simpler Übertreibung aus der Tiefe ergreifender Herzenstöne kitschige Propaganda. So muß es mit jedem Kunstwerk gehen, wenn es nicht des Erlebnisses, sondern des Zweckes wegen gemacht wurde. Meine Tage sind einsam. Demzufolge fehlt mir auch die geistige Schaffenskraft. Ich lebe in meinem Studium müde und ohne rechten Schwung dahin. Wenn das so bleiben sollte, gehe ich einer großen Enttäuschung entgegen. Dresden, den 27. Oktober 1946 In der Not kann man unendlich sparen. In den letzten Tagen bin ich mit äußerst geringen Lebensmittelrationen ausgekommen. Heute habe ich den ganzen Nachmittag gearbeitet von 14 bis 22 Uhr. Ich habe meine Stube nur bescheiden warm bekommen und nach dem Mittagessen kaum etwas gegessen. Die Mathematik hat mich kaum den Hunger spüren lassen. Dresden, den 28. Oktober 1946 Professor Trinks ließ uns heute die Allgemeine Deutsche Kunstausstellung besichtigen. 64 Im nächsten Seminar werden wir sie kommentieren. Die Ausstellung ist gut aufgebaut. Jeder Besucher bekommt einen Zettel in die Hand gedrückt, auf dem er anonym einige Fragen über seine Meinung zu den Kunstwerken beantworten soll. Und viele machen davon Gebrauch. Die Zettel werden gesammelt und liegen für jeden zur Einsicht frei. Es ist ergötzlich, das Urteil der Menschen zu lesen. Es ist meist grob, doch gesund empfunden, wenn der Hochexpressionismus als „Mist" bezeichnet wird. Häufig ist die Meinung zu finden, daß die letzten zwölf Jahre mit der Verurteilung „entarteter Kunst" recht hatten. Auch eine Statistik ist zu sehen, in der man feststellen kann, daß mit Ausnahme der Frauen in allen Volksschichten die hier ausgestellten Werke mehr Ablehnung als Zustimmung finden. Dennoch kann ich diese Ausstellung nicht verächtlich abtun. Schon diese Art der freien Meinungsförderung ist beachtlich. Aber darüber hinaus kann man dieser Ausstellung nur Lob spenden.

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Ein Film der D E F A nach einem Buch von Wolfgang Staudte, der auch Regie geführt hatte. 64 D i e erste Allgemeine Deutsche Kunstausstellung fand in Dresden vom 25.8. bis 31.10.1946 statt. Veranstalter waren die Landesverwaltung Sachsen, der Kulturbund und die Stadt Dresden. Ausgestellt wurden vor allem Malerei und Grafik sowie Plastiken. In der ersten Ausstellung waren Werke von 250 Künstlern zu sehen.

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Ohne Rücksicht auf ihre Kunstrichtung sind wohl alle nennenswerten Maler und Bildhauer der Gegenwart (im engsten Sinne) vertreten, so daß diese Ausstellung tatsächlich einen Querschnitt durch das künstlerische Schaffen und somit durch die geistige Situation dieser Zeit gibt. Wie überall ist freilich auch hier alles, was zum Nationalsozialismus gehörte, verschwunden. Nichts Überragendes ist zu finden. Nun, das kann auch nicht unbedingt erwartet werden. Genies sind selten auch unter den Namhaften. Aber viele Sachen, die man als nett oder gut bezeichnen möchte, trifft man an. Freilich, den größten Teil bilden die Werke hochexpressionistischer und kubistischer Verwirrung. Das eben ist der Grund zur allgemeinen Ablehnung. Das eben aber ist auch das Kriterium unserer Epoche. Dresden, den 30. Oktober 1946 Heute ging ich mit Kommilitonen heim, die gleich mir Enttäuschung über den wenig studentischen Betrieb an der T.H. und vor allem über die fehlende Vielfalt der Bildungsmöglichkeiten [empfanden]. Wir sind nun in den Lehrgang der T.H. hineingeschoben worden, aus dem so leicht kein Entweichen sein wird. Das Interesse der Studierenden selbst wird gering geschätzt. Man will ausbilden, aber nicht bilden; man will heranziehen, nicht fördern. Ein Studium ohne im voraus fest umrissenes Berufsziel ist verpönt. Man soll nur studieren, um zu lernen. Es ist diese Hast und dieser Zwang, der uns Menschen von heute zu gehetzten Tieren macht, uns Eifer und Begeisterung, Freude und freien Willen nimmt. Eine Schulreform wird durchgeführt 6 5 und schmerzlich müssen wir empfinden, daß die höchsten Bildungsträger, unsre Hochschule, in dieser Notzeit abgleiten. Dresden, den 9. November 1946 Heute Vormittag nahm ich an einer Besprechung in der studentischen Arbeitsgemeinschaft teil. Wir wollen ein Zeitungsreferat bilden. Ich werde in einer Wandzeitung mitarbeiten, die auf meinen Vorschlag hin den Namen „Der Dresdener Student" bekommen soll. Dresden, den 10. November 1946 Die „Tägliche Rundschau" bringt einen Artikel über das Buch eines amerikanischen Schriftstellers, der von der Wahl Europas zwischen Russland und Amerika spricht. A m Beispiele Schwedens beleuchtet er das Schicksal Europas. So sagt Robert P. Rice 66 in „Kolonie der USA oder Provinz der UdSSR", dass es Schweden leichter sein wird, sich ans Englische zu gewöhnen als ans 65 66

Siehe 1946, Anm.43. Artikel und biographische Angaben über den Verfasser nicht ermittelt.

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Russische - man brauche das Alphabet nicht zu wechseln. Schweden habe „keine Zukunft in nationaler, politischer und kultureller Hinsicht. Hier gibt es nichts, was zu verteidigen sich lohnte, worauf die Zukunft aufzubauen wäre und wovon man leben könnte." - „Die europäische Kultur ist schon lange tot und begraben ... Paris hat aufgehört, der intellektuelle Mittelpunkt der Welt zu sein, und seinen Platz hat New York eingenommen." - „Die USA haben als Werkzeug in den Händen der Geschichte gedient, um das Verschwinden der europäischen Kultur zu beschleunigen." Ist es schon so weit? Wenn man diese Zeilen liest, kann man nur tiefen Schmerz empfinden darüber, daß durch die Katastrophe, in der dieser Krieg endete, mit dem Nationalsozialismus jede deutsche Politik zusammengebrochen ist. Wird sie noch einmal in neuer Form entstehen oder sind wir Heutigen nur mehr Epigonen des deutschen Volkes? Ich glaube, dass es noch an der Zeit ist, auf diese Frage der Geschichte eine Antwort zu erteilen. Das deutsche Volk als solches könnte sie geben. Wenn wir Deutschen uns besinnen, daß der Staatsgedanke, die Idee der völkischen konstruktiven Gemeinschaft, das Opfer des Eigeninteresses wert ist; wenn wir Deutschen fähig sind, eine politische Haltung einzunehmen; wenn wir Fundamente schaffen, auf denen sich das Gebäude eines neuen Staates errichten läßt. Ansätze dazu sind Gott sei Dank hier und da zu spüren. - Viel wird von der akademischen Jugend abhängen. Dresden, den 11. November 1946 Im pädagogischen Seminar bei Professor Trinks heute die erste Diskussion über die allgemeine Deutsche Kunstausstellung. 67 Man setzt sich wohl mit dem abstrakten Expressionismus auseinander, findet jedoch nicht das geringste Verständnis für ihn. Abgesehen von diesem Punkte aber kam nicht viel Besonderes heraus. Der kalte große Hörsaal wirkte offenbar lähmend auf die Tätigkeit des Geistes. Ganz besonders konnte ich das an mir beobachten. Kein Einwurf ist mir recht geglückt. Und auch ein Gespräch, das ich nachher mit Trinks auf dem Heimweg anknüpfte, ließ keine persönliche Wärme aufkommen. Eher noch gefiel mir die Unterhaltung mit [dem] Kommilitonen Jesberg etwas später, der die gesunde Meinung des deutschen Studenten von heute fest in sich trägt. Ich hatte heute abend nicht geheizt, um die knappe Feuerung zu sparen, und saß bei Herrn Berndt 68 in der Stube, mußte von meiner Soldatenzeit, von meiner Verwundung und von Italien erzählen. Und wieder war es, daß der Name dieses Landes alle Eindrücke der Gegenwart von mir nahm und mich gleichsam entführte in die Schönheit des Daseins. In der Erinnerung ging mir 67 68

Siehe Anm. 64. Mitbewohner von Gerhard Schulz.

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die Sonne auf, und wieder schaute ich die damals kaum geachteten Herrlichkeiten. Dresden, den 13. November 1946 Heute entwarf uns Prof. Trinks ein glänzendes Bild von der Entwicklung des Pädagogischen im Laufe der Zeiten. Mir drängt sich die Erkenntnis auf, daß die fortlaufende Durchschöpfung - wie ich es nennen möchte - , Spezialisierung, Ausbildung und Absonderung bestimmter Gebiete unseres kulturellen Lebens zu einer Auflösung unserer Daseinsganzheit führt. Die Entwicklung der Pädagogik, oder besser: des Pädagogischen, ist ein ausgezeichnetes Beispiel hierfür. Während beispielsweise in der Antike das Pädagogische noch harmonisch völlig aufgeht in der Ganzheit der Lebensäußerungen, sie also als Kulturerscheinung oder als eine der kulturellen Äußerungen anzusehen ist (Sophokles 69 und Piaton 70 diskutierten mit ihren Schülern, weil es sie von innen heraus dazu trieb, nicht der Erziehung wegen; sie wirkten noch völlig aus sich heraus ohne Beachtung strenger Regeln, ohne Schema und System), bildete sich das erzieherische Element im Lauf der Jahrhunderte mehr und mehr zu einer Wissenschaft aus, die jetzt durch die Gründung pädagogischer Fakultäten vollberechtigt in den Kreis der anderen Wissenschaften aufgenommen werden. Der erzieherische Gedanke, ursprünglich allen kulturell hochstehenden Menschen eigen, entwickelt [sich] zur Exaktheit und ist nur noch einem bestimmten Kreise von Menschen, die sich berufsmäßig mit ihm befassen und ihn studieren müssen, zugängig.

Dresden, den 14. November 1946 „Plenus venter studet non libenter". - Ich glaube, daß dieses Wort nur in Zeiten geprägt werden konnte, die die Not nicht kannten und nicht die entsetzlichen Qualen eines leeren Magens, die noch weit hinderlicher sein dürften am Studieren. Ich jedenfalls kann überhaupt nur das Gefühl körperlicher Befriedigung haben, wenn mein Magen nicht knurrt. Ständiger Hunger macht mich müde und apathisch. Ich bin dann einfach zu jeder geistigen Unternehmung unfähig. Heute abend lag ein frisches Brot auf dem Tisch; neben ihm stand ein Glas mit Marmelade. Ich hatte Heißhunger. Erst wollte ich den Genuß nur in den Grenzen des Zulässigen halten. Doch mit jedem dieser herrlichen Bissen wuchs das unbedingte Bedürfnis, mehr zu speisen von diesem köstlichen, weichen Brot und der süßen Marmelade. Und aus dem Hunger wurde ein schier unstillbarer Durst. Ich aß und würgte, verschlang die Bissen ohne Ende. Immer nur mehr! Erst wurde es meinem Verantwortungsbewusstsein gegenüber 69 70

S o p h o k l e s (497/96-406/05 v. Chr.), griechischer D i c h t e r u n d Politiker. Piaton (427-347 v. Chr.), griechischer Philosoph.

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den nächsten Tagen schwer, Schnitte auf Schnitte mich abschneiden zu lassen. Doch dann schwand es dahin und ich aß nur noch, gab mich ganz hin dem sinnlichen Genüsse des Essens. Ich zählte nicht mehr die Stullen, als ich das Gefühl, halbwegs satt zu sein, in mir spürte und mit wiedererwachender Energie Brot und Messer fortlegte. - Weit mehr als die Hälfte dessen, was eine Woche hätte reichen müssen, ist draufgegangen. Doch, ich bin satt. Dresden, den 18. November 1946 Die „Arbeitsgemeinschaft demokratischer Studenten" wird eine Wandzeitung in der Hochschule erscheinen lassen. Auf meinen Vorschlag erhält sie den Namen „Der Dresdner Student". Ihre Ausgestaltung wird mit in meinen Händen liegen. Der Bußtag teilt die Woche, die kaum das Arbeiten in Dresden lohnt, zumal man knapp mit Brot dran ist. Ich breche meine Zelte ab, lasse den Montag ersten und zugleich letzten Tag der Woche sein und fahre morgen nach Mahlis. Allerdings muß ich mir einen ganzen Wust Arbeit mitnehmen. Mahlis, den 20. November 1946 Wieder bin ich für ein paar Tage in Mahlis, habe Ruhe und esse mich satt. Jedoch abends ist es auch hier dunkel. Die Stromabschaltungen dauern noch länger als in Dresden. Von Luise 71 lag ein Brief vor. Sie studiert Pädagogik in Leipzig und weist mich auf einige Möglichkeiten hin, zum nächsten Sommersemester auch an die Leipziger Universität zu kommen. Wie elektrisiert hat mich die Neuigkeit, daß Dr. Kühn 72 einen Lehrauftrag an der Pädagogischen Fakultät hat. Diese Tatsache zeigt die Möglichkeit eines Studiums in Leipzig in ganz neuem Licht. Außerdem schreibt mir Luise von der Aussicht, dort vielleicht etwas für den Rundfunk arbeiten zu können. Dresden, den 26. November 1946 Der erneute Auftakt ist gut. Meine Wirtsleute haben mich dank der Zwiebeln, die ich in Mahlis für sie besorgte, freudig empfangen. Heute haben wir die erste Nummer unserer Wandzeitung „Der Dresdner Student" fertiggestellt. Unsere Hochschulzeitung ist somit aus der Taufe gehoben. 71

Luise Langendorf, 1945, A n m . 9 . Gemeint ist Dr. Herbert Kühn, Lehrer von Gerhard Schulz am Gymnasium in Leipzig 1941-1942. Mit diesem stand Gerhard Schulz im Frühjahr 1946 im Briefwechsel. B A N1312, Bü 43. 72

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H e u t e hörte ich auch meine erste Vorlesung „Einführung in die Wirtschaftslehre" von Professor Gehrig. 7 3 Ich spüre: Hier ist mein eigentliches Element.

Dresden, den 28. November 1946 Die Studentenschaft ist apathisch. D e r Mangel an älteren Semestern läßt keinen akademischen Ton aufkommen. Alle Dinge, die den Lehrbetrieb nicht angehen, werden völlig interesselos aufgenommen. Bisher ist auch unsere Wandzeitung von einem Teil nur gelesen und ohne Kommentar hingenommen worden. Man weiß offenbar nicht, was man damit anfangen soll. Allgemein macht sich eine pennälerhafte Haltung breit. Unsere Hochschule nähert ihren Charakter dem einer höheren Fachschule. Wir aber, die das erkennen, sind selbst akademisch unerfahren, so daß wir kaum als Lehrmeister der Studentenschaft auftreten können.

Dresden, den 1. Dezember 1946 Ein sonniger Sonntag leitet den Dezember ein. Für mich war er ebenso wie der Sonnabend fast restlos mit der Arbeit an Mathematikaufgaben ausgefüllt. Nur für wenige Stunden wurde sie unterbrochen. Gestern mittag trafen wir Pädagogik-Studenten mit Professor Trinks, der übrigens in der vergangenen Woche eine glänzende Antrittsvorlesung „Über den Wert der Theorie für die Pädagogik in unserer Zeit" gehalten hat, in Pillnitz zur Besichtigung der Gemäldesammlung im Schloß zusammen. 7 4 Wir beschränkten uns diesmal auf die Abteilung der Romantik, durch die wir ausgezeichnet geführt wurden. Es ist erstaunlich, wie groß die Anzahl der besten und namhaftesten Bilder von J o h a n n A n t o n Koch 7 5 , Julius Schnorr von Carolsfeld 7 6 , Ludwig Richter 7 7 , Caspar David Friedrich 7 8 und vielen anderen Meistern der Romantik ist. D e r Versuch, in einigen R ä u m e n auf unauffälligen Wandtäfelchen das geschichtliche Geschehen der Zeit, in denen diese Werke entstanden, anzudeuten, ist allerdings daneben gegangen. Man hat alles in der Perspektive des Marxismus gesehen.

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Hans Gehrig (1882-1968), 1915-1934 und 1945-1947 Professor für Nationalökonomie und Statistik an der TH Dresden. 74 Diese Gemäldesammlung war am 6.7.1946 eröffnet worden. ^ Richtig: Joseph Anton Koch ((1768-1839), österreichischer Maler. 76 Julius Schnorr von Carolsfeld (1794-1872), deutscher Maler. 77 Ludwig Richter (1803-1864), deutscher Maler und Zeichner. 78 Caspar David Friedrich (1774-1840), deutscher Maler.

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Immer wieder veranlaßt mich die „Göttinger Universitäts-Zeitung" 79 zu einem Aufatmen. Zweifellos ist in den akademischen Kreisen Nordwestdeutschlands der frische, freiheitliche Geist der Angelsachsen eingezogen. Und die studierende Jugend macht sich - gewiß unbewußt - zu seinem Künder. Dresden, den 2. Dezember 1946 Jede Vorlesung von Trinks ist begeisternd. Auch andere Studenten äußern bereits die Meinung, daß dieser Mann zur Pädagogik „bekehren " könne. Meine Wirtschafterin taut zusehends auf. Seitdem ich ihr die Zwiebeln brachte, hat sie mir schon mehrere Male zum Abend eine schöne Mehlsuppe gekocht. Dresden, den 3. Dezember 1946 Heute abend nehme ich an einem Diskussionsabend einer Gemeinschaft von CDU-Studenten teil. Ich muß jetzt die CDU mit einem gewissen Argwohn betrachten. 80 Der christliche Sozialismus81 scheint mir diese Welt doch etwas voreingenommen zu betrachten. Vor allem hege ich gegen ihn den Verdacht nicht grenzenloser Ehrlichkeit. Sie allein aber kann uns helfen. Meinen Zweifel an der bedingungslosen Wahrheit der universalen Liebe, den ich vorbrachte, erregte wohl Aufsehen, wurde jedoch abgelehnt. Ich habe einige Anregungen erhalten und auch die Aufforderung zu einem eigenen Referat im Januar bekommen; Menschen hat mir dieser Abend nicht näher gebracht. Dresden, den 4. Dezember 1946 Heute hörte ich die erste Vorlesung von Professor Janentzky 82 über Schiller83. Ein großer breitschultriger Mann stand vor uns, trotz seiner weißen Haare jugendlich und voller Elastizität, eine imponierende Erscheinung. In einer herrlichen, kraftvollen Sprache, die allein schon an das Dichterische mahnte und vielfach in ein tiefes Pathos mündete, gewann er Gewalt über uns.

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Die „Göttinger Universitäts-Zeitung" erschien seit Herbst 1945. Ihr Untertitel lautete: „Herausgegeben von Dozenten und Studenten der Universität mit Genehmigung der Militärregierung". 80 Siehe dagegen die Einschätzung im Eintrag vom 3.4.1946. 81 Dazu Rudolf Uertz: Christentum und Sozialismus in der frühen C D U . Grundlagen und Wirkungen der christlich-sozialen Ideen in der Union 1945-1949, Stuttgart 1981. 82 Christian Janentzky (1886-1968), 1922-934 und 1946-1952 Professor für Deutsche Sprache und Literatur an der T H Dresden, 1946-1952 auch kommissarischer Direktor der Bibliothek der T H Dresden. 83 Friedrich Schiller (1759-1805), Dichter, Dramatiker, Philosoph und Historiker.

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Seine Vorlesung verdient die Bezeichnung einer Rede über die Freiheit und Gott. Und er sprach nicht mehr nur über Schiller; er sprach aus sich heraus über die Welt und Gott. Und manches klang an an die Themen von gestern abend. Doch hier sprach nicht ein Politiker oder ein Nur-Wissenschaftler, sondern jemand, der Dichtung in ganzer Tiefe durchlebt. Dresden, den 6. Dezember 1946 Heute las Professor Kafka 84 zum ersten Male Geschichte der Philosophie. Diese Vorlesung wird mir am meisten geben. Ich habe erkannt, wie weit ich doch noch von tatsächlicher Wissenschaft entfernt bin. Hier aber werde ich lernen. Nun habe ich begriffen, daß die Philosophie die Mutter, aber auch die Krone aller Wissenschaften ist. Dresden, den 8. Dezember 1946 Übrigens: Seit einiger Zeit begegnet man kaum noch einem Ausdruck der Hoffnung, das Land jenseits von Oder und Neiße als deutsch wieder einmal zu bezeichnen. Es sind wohl nur noch wenige, die an die Rückkehr glauben. Mir treibt der Gedanke an die Heimat Tränen in die Augen. Dresden, den 11. Dezember 1946 Seit Tagen habe ich nun schon meine Stube nicht mehr geheizt. Ich friere entsetzlich. Doch bei den Ausarbeitungen der Vorlesung über Schiller könnte ich das fast vergessen. Prof. Janentzky: Was ist das doch für ein Mann? Von Vorlesungen kann man bei ihm kaum sprechen. Seine starke, elegante Erscheinung wandert ständig auf und ab, immer gleichmäßig; dabei hat er die Hände in den Hosentaschen und den Kopf etwas nach unten gesenkt. Schaut er einmal auf, so scheint er gleichsam an seinen Hörern vorbeizusehen. Überhaupt scheinen sie ihm gleichgültig zu sein. Nur selten redet er uns direkt an, dann mit kurzen, manchmal fast barschen Worten. Seine Sprache ist großartig. Gerade das etwas Harte, das Menschen aus Oberschlesien in ihrer Mundart haben, ist bei ihm zu glänzender Aussprache entwickelt, die er hin und wieder ein wenig anschwellen läßt, kaum merklich. Er spricht gleichmäßig und gänzlich unpathetisch; und dennoch liegt über seiner Rede ein Pathos. Seine Sätze sind fließend und fesseln, so daß die Zeit 84

Gustav Kafka (1883-1953), 1923-1934 o. Professor für Philosophie und Pädagogik an der T U Dresden. Während des Dritten Reiches war er Repressalien ausgesetzt. Nach Wiederaufnahme seiner Lehrtätigkeit an der T U Dresden 1946 erhielt er 1947 einen Ruf an die Universität Würzburg, den er annahm.

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geradezu entflieht. Sie sind fest umrissen, geben offenbar keinen Raum für die Suche nach feinen Nuancierungen; und dennoch sind sie treffend und prägnant, ohne ins übermäßig Komplizierte zu greifen. Hin und wieder fällt ein trockenes Witzwort. Doch er ist sofort darüber hinaus. Und manchmal ist man im Zweifel, ob es bewußt geschehen ist. Er mutet uns eigentlich viel zu. - Sein Vortrag ist auf einem durchaus anspruchsvollen Niveau. - Oder ist es ihm gleichgültig, ob alle folgen? Fast hat es den Anschein. Nun, unbedingt wäre das Opfer größer, wenn man diesen Mann nicht so reden lassen wollte. Seine Vorlesung und er selbst lohnten allein ein Studium. So kann man ihn aber leider nur als Zugabe betrachten. Mahlis, den 15. Dezember 1946 Inzwischen ist viel Schnee gefallen. Das Thermometer zeigt ständig -5° bis -10° an. Seit gestern nachmittag bin ich wieder hier. Morgen geht es weiter nach Leipzig. Die „Gegenwart" bringt wieder eine Darstellung Hitlers. 85 Sie scheint den Mann in manchem zu treffen, in seiner gewaltigen psychologischen Fähigkeit, in seiner gewaltigen Dämonie, die die Grenzen zwischen Bewußtem und Unbewußtem im eignen Ich verwischen. Er war eine jener Riesengestalten, in denen der Trieb zum Umsturz - zur Neukonstruktion so elementar war, daß er jedes Maß der Wirklichkeit zerbricht und sich schließlich ergießt in einen wild schäumenden Vernichtungsdrang, der alles Konstruktive ertränkt. Das deutsche Volk ist nicht arm an solchen Menschen gewesen. Sie sind die Verkörperlichung des Irrationalen in unserer Seele. Schöpfung jedoch ist stets im tiefsten Sinne rational. Mahlis, den 19. Dezember 1946 Entsetzlich kalte, jedoch - wie ich wohl annehmen darf - erfolgreiche Tage in Leipzig liegen hinter mir. Es ist weniger Luise 86 als vielmehr Dr. Kühn, auf den ich jetzt am meisten baue. Er ist mir sehr offen entgegengekommen und hat sofort auf meine stillen Wünsche reagiert. Er wird mein weiteres Studium in Leipzig freudig aufnehmen und will sich für mich einsetzen. Ich habe mit dem Dekan der Pädagogischen Fakultät 87 sprechen können und auch von ihm die Zusage erhalten, daß

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[Bernhard Guttmann:] Der Mensch des Unheils, in: Die Gegenwart, 1. Jg, Nr. 20/21 vom 30. Oktober 1946, S.7-9. 86 Luise Langendorf, 1945, Anm. 9. 87 Maximilian Lambertz (1882-1963), 1946-1954 Professor für Vergleichende Sprachwissenschaft, 1946-1950 Dekan.

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er sein Mögliches für meinen Hochschulwechsel bereits zum Sommersemester tun wird, dem jedoch einige Schwierigkeiten im Wege stehen. Zum nächsten Wintersemester aber kann ich dann mit Sicherheit damit rechnen, nach Leipzig kommen zu dürfen. Man hat Interesse an Menschen mit wahrhaft wissenschaftlichen Absichten und den erforderlichen Voraussetzungen, wie mir Dr. Kühn sagte. „Sie müssen nach Leipzig kommen!" Dr. Kühn, den wir einst Boxer nannten 8 8 , ist schmaler geworden, doch, wie er sagt, fühlt er sich in seiner wissenschaftlichen Arbeit wohl. Er gleiche dem Studenten im ersten Semester, der mit Feuereifer die Universität nach allen Richtungen und allen sich bietenden Möglichkeiten hin durchstreift. Wenn ich nach Leipzig komme, wird mein erstes Fach Geschichte sein. Endlich erwacht wieder meine unbändige Lust zum Studium.

Mahlis, den 28. Dezember 1946 Heute nachmittag kam ich von Cavertitz zurück. Familie Hausmann hat mich in liebenswürdiger Weise bewirtet. Ich habe 24 Stunden hindurch geschwelgt in Gänsebraten, Wurst und Kuchen wie kaum einmal in Vorkriegszeiten. Seit langer Zeit hatte ich wieder das Gefühl völliger Übersättigung. Heute abend Streitgespräch mit Papa über die Glaubensformen christlicher Religion. Ich kann nicht glauben, was zu meinem Wissen im Widerspruch steht! Diesen Satz hat Papa nicht erfaßt. Er hat eine andere Grundhaltung als ich. Fast saß ich genau so unverstanden vor ihm wie an jenem Abend in der CDU-Studentengruppe. 8 9 Für mich ist nur das Religion, was das Wesen des Menschen aus der Tiefe hervorbringt. Sie muß unbedingte Wahrheit sein in dem Sinne, daß sie aus dem Unbewußten erwächst. All das ist Tand, was der Mensch in Form einer Lehre als Religion annimmt. Religion ist in uns; sie kann nicht gelehrt werden. Und was ist die Erziehung in diesem Zusammenhange? Ich vermag hierauf noch keine Antwort zu geben. Hier muß weiter das Leben sprechen; denn nur das Leben kann das letzte Wissen geben. Aber gerade diese Erkenntnis läßt mich den Glauben aus Überlieferung und das kritiklose Hinnehmen der Dogmen als „Opium" - hier paßt wohl dieses Wort - ablehnen. Großvater 9 0 in Hamburg mag vielleicht ähnlich empfunden haben und empfinden. Doch wohl nie hat er versucht, dem bis zur letzten Konsequenz nachzudenken und seinen Gedanken klaren Ausdruck zu geben.

88 89 90

Siehe 1946. Anm.72. Siehe Eintrag 3.12.1946. Johann Dvorsak, gest. 1947

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Unsere Zeit ist „Abkehr vom grenzlosen Absolutum". - Dieses Wort aus dem „Mythus"91 möchte ich übernehmen. - Kein Totalitätsanspruch eines Glaubens oder einer „Weltanschauung" kann mehr Geltung haben. Es kommt auf die Echtheit unseres Gefühls an und darauf, daß wir aus uns heraus handeln. Selbstverständlich gilt das ebenso für das politische Leben. „Shaw als Neunziger". - Ich glaube, bei Shaw92 könnte ich so manche Anregung finden. Vorerst habe ich in diesem Aufsatz der „Amerikanischen Rundschau"93 die Anregung gefunden, mich baldmöglichst mit Shaw zu befassen.

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Alfred Rosenberg: Der Mythus des 20. Jahrhunderts. Eine Wertung der seelisch-geistigen Gestaltungskämpfe unserer Zeit, München 1930, S.21. Das Zitat lautet richtig: „Abkehr vom grenzenlosen Absolutum". 92 George Bernard Shaw (1856-1950), irischer Dramatiker, Satiriker und Musikkritiker. 93 Das erste Heft der „Amerikanischen Rundschau" erschien bereits im Mai 1945. Sie erschien im Folgenden als Zweimonatszeitschrift. Im Frühjahr 1950 wurde das Erscheinen eingestellt. In der „Amerikanischen Rundschau" wurden bis auf wenige Ausnahmen Beiträge aus amerikanischen Publikationen in deutscher Sprache veröffentlicht. Beabsichtigt war, die „Leser mit dem amerikanischen Schrifttum der Zeit bekannt zu machen, wobei Themen aus ganz unterschiedlichen Bereichen behandelt wurden. Birgit Bödeker: Amerikanische Zeitschriften in deutscher Sprache 1945-1952. Ein Beitrag zur Literatur und Publizistik im Nachkriegsdeutschland, Frankfurt am Main u.a. 1993, Zitat S.76. Verfasser des Artikels zu Shaws 90. Geburtstag war Eric Bentley, ebd., S. 82.

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Mahlis, den 8. Januar 1947 Die „Amerikanische Rundschau" 1 enthält eine solche Vielzahl guter wissenschaftlicher Aufsätze, wie sie deutsche Zeitungen heute in vielen Monaten nicht bieten. Mit Schwung und ohne viel Umstände wird hier an größten Problemen gerührt. Man findet dabei keinen Artikel, dem man nicht begeistert folgt, der nicht irgendeine wertvolle Anregung gibt. Vor allem aber: Ich entdecke so manchen prägnant formulierten Gedanken, der schon vorher - wenn auch verschwommen - da war, dem ich daher freudig zustimme. So fern ist übrigens die Tendenz dieser Zeitschrift gar nicht von dem vernünftigen dem Nationalsozialismus zugrundeliegenden Gedankengut. Vor allem immer der eine Gedanke taucht auf: Es geht um den Menschen. Er steht im Vordergrund aller Betrachtungen. Alles, was von ihm und seiner Gemeinschaft ausgeht und geschaffen wird, ist in einem tiefen Sinne einheitlich. Innerhalb seiner Gemeinschaft erfüllt der Mensch bestimmte Funktionen, zu denen es ihn zu erziehen gilt. Niemals aber ist diese Gemeinschaft ein Selbstzweck, die sich über Freiheit und Dasein ihrer einzelnen hinwegsetzt. Treffende und äußerst bedeutsame Erwägungen werden angestellt, von denen jede einzelne Antwort auf eine ganze Reihe von Problemen sein könnte, an denen unser Volk in dieser Zeit leidet, wenn man aufmerksam liest und die Folgerungen zu ziehen bereit ist. Ich glaube, wir dürfen Amerika nicht so beurteilen, wie wir es bisher getan haben, als sei es für uns Europäer untragbar. Sicherlich ist der Durchschnittsamerikaner eine gehörige Portion menschlicher (im tiefen Sinne dieses Wortes), ehrlicher, mutiger, frischer und gesünder als der Mitteleuropäer. In der Zukunft wird zweifellos das Volk der Amerikaner als die stärkste und leistungsfähigste Nation zu gelten haben. Und wer Vertrauen zu sich und seinem Können hat, die Alte Welt in ihrer Engheit und Verschrobenheit jedoch nicht mehr erträgt, geht über den Ozean nach dem Westen.

Mahlis, den 10. Januar 1947 Nach recht kalten Tagen, die die kältesten einer ganzen Reihe von Jahren gewesen sein dürften, ist heute eine leichte Milderung eingetreten. Kaum habe ich mich jedoch mit dem Gedanken vertraut gemacht, um doch endlich nach Dresden zurückzukehren, erhalte ich ein Telegramm, nach dem die Vorlesungen um weitere vier Wochen aussetzen.

1

Siehe 1946. A n m . 9 3

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Mahlis, den 11. Januar 1947 Manchmal scheint es mir, als sei es ein sinnloses, zu keinem Ziel führendes Unterfangen, eine geistige Lösung in unserer Zeit zu erstreben, als müßten alle Versuche eines klaren Verständnisses der gegenwärtigen geistigen Situation und des Neubaus unseres Weltbildes, das uns endlich innere Festigkeit, Zuversicht und Mut wiedergewinnen läßt, hoffnungslos in endloser Wirrnis verlaufen. Vielleicht kann unsere Stellung überhaupt nicht geistig verstanden, sondern nur von mit überragender Intuition Begabten gefühlsmäßig erfaßt und durchdrungen werden. Vielleicht ist die Aufgabe des Neubaus unseres Lebens vielmehr eine dichterische. Ich glaube, ich sprach schon einmal davon, daß es eine religiöse sei. Immer wieder dieses Gerede von unserer Schuld. 2 Gewiß hat jedes Verbrechen eine Sühne zu finden. Doch ist es ein Verbrechen, wenn Menschen mit nun einmal begrenztem Horizont und mangelnder Einsicht in den wahren Sachverhalt der Dinge ihre besten Kräfte entfalteten für - wie sie meinten ihr Volk? Schuld ist die Propaganda in ihrer betörenden, alles Denken in phrasenhafter Demagogie zerschlagender Gewalt. Schuld sind jene Menschen, die uns trotz Kenntnissen, Stellung und Wissen sehenden Auges den Fall tun ließen. Eine Urschuld fühle ich nicht, der ich heute erst nach intensivem Studium seit der Katastrophe von 1945 einige Zusammenhänge zu begreifen und Erkenntnisse zu gewinnen beginne. Als Mitträger einer Kollektivschuld fühle ich mich als Angehöriger des unterlegenen deutschen Volkes, der ich wohl meine Pflicht erfüllt, nie jedoch ein Verbrechen begangen habe, nicht. Ich für meine Person muß also diese Geisteserzeugnisse eines selbstgefälligen und servilen, dabei dünnblütigen Literatentums ablehnen. Jawohl, wir kommen nur weiter mit Ehrlichkeit und innerer Einkehr, aber nicht mit dergleichen Schwätzereien, die wohl ihren Mann nähren, mit innerer Aufrichtigkeit jedoch nichts zu tun haben. Mahlis, den 14. Januar 1947 Ich bin erfreut, in der Schrift „Freier Sozialismus" von Alexander Mitscherlich und Alfred Weber 3 die Gedanken wiederzufinden, die auch mich bewegen.

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Zum Schulddiskurs in den Besatzungsjahren in sprachgeschichtlicher Perspektive Heidrun Kämper: D e r Schulddiskurs in der frühen Nachkriegszeit. Ein Beitrag zur Geschichte des sprachlichen Umbruchs nach 1945, Berlin - N e w York 2005. In diesem Zusammenhang besonders weiterführend die Gegenüberstellung des Schulddiskurses der Opfer und der Nichttäter, S.467f. und 4 7 3 ^ 8 0 . 3 Die Schrift erschien im Verlag Winter in Heidelberg 1946. Alexander Mitscherlich (1908-1982), Arzt, Psychoanalytiker und Schriftsteller; Alfred Weber (1868-1958), Nationalökonom und Soziologe.

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Ausgangspunkt aller Erwägungen ist der Mensch. Sozialismus, der bei weitem mehr ist als nur eine Lösung ökonomischer Probleme, bedeutet, dem Menschen ein freies und würdiges Leben in der Gesellschaft zu ermöglichen, heißt „Auflösung der Massen", eine Lebensform, die den einzelnen in einer genossenschaftlichen Gesellschaft die durch die Technisierung verlorenen Wurzeln wiederfinden läßt. Der einzelne muß in der Wirtschaft eine möglichst weitgehende Selbständigkeit besitzen. Jeder fähige Mensch muß Wege finden, Unternehmer zu werden; er muß zum Unternehmer erzogen werden. Der Produktionsvorteil der Riesenunternehmungen muß durch Qualitätssteigerung aufgewogen werden. Das bedeutet Intensivierung, weiter Intensivierung auch im Geistigen. Es wird für unsere Generation zum historischen Auftrag, da die Lebensbasis unseres Volkes erheblich eingeschränkt ist, die noch zur Verfügung stehende Materie restlos zu durchdringen und zu beherrschen und der menschlichen Einzelexistenz ein integrierendes Dasein zu sichern, das heißt: Beschränkung und Qualifizierung, aber auch Ende der ständig fortschreitenden Spezialisierung. Die Existenz darf nicht mehr an ein Kulturgebiet gebunden sein. Alle Gebiete unserer Lebensäußerungen bilden in unserer Kultur ein Ganzes. Der Mensch hat sie geschaffen; er muß auch wieder ihr Meister werden. Mahlis, den 15. Januar 1947 Jedesmal, wenn ich mich mit der tatsächlichen wirtschaftlichen und politischen Situation Deutschlands befassen muß, überfällt mich wieder der alte Pessimismus und die Unlust, in dieser Gemeinschaft weiter zu leben. Das schlimmste Problem dabei ist das des deutschen Menschen. Es ist so schwer, Vertrauen zu haben. Hinzu kommt, daß ich mich selbst jetzt keiner konstruktiven Tat fähig halte. Überblicke ich rückschauend mein bisheriges Leben, so zwingt sich mir die Erkenntnis auf, daß das Erlebnis des Krieges, meine Verwundung mich körperlich schwach und apathisch gemacht, mir damit aber auch jede Fähigkeit zu konsequenter geistiger Arbeit geraubt hat. Trotz der Augenblicke, in denen mich Jubel, Begeisterung, Eifer und Freude erfüllen, ist mir jede Minute als die letzte meines Daseins recht. Ich finde kein Ziel, nach dem zu streben es sich lohnte. Was ich tue, meistens sind es ja nur Worte, tue ich lediglich nur in der hastenden Suche nach lebensfüllender Betätigung. Ich hänge mich einmal an diese Idee, dann an jene. Wohl entspringen sie alle einer bestimmten Charakterhaltung, doch immer schwebe ich im luftleeren Räume; und werde ich mir dann, wie es stets geschieht, der eigentlichen Nutzlosigkeit meines Tuns bewußt, so kommt der Zusammenbruch, jenes Gefühl der Lustlosigkeit, das im Gedanken mündet, meinem Dasein ein Ende zu machen. Ich bekämpfe Thesen und stelle eigene Grundsätze auf und bin selbst nur wurzelloser, ruheloser, zerrissener Gesell.

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Mahlis, den 21. Januar 1947 Die Fahrt nach Dresden war erfolgreich. 4 Ich fand eine ganze Menge Post vor. Dr. Kühn weist mich auf einen Leipziger Studenten hin, der gerne nach Dresden übersiedeln will. Ich habe bereits zu ihm Verbindung aufgenommen und dem Dekan den ganzen Austauschplan vorgeschlagen. Es dürfte alles in Ordnung abgehen, wenn die Landesverwaltung damit einverstanden ist, was allerdings erst zu klären wäre. Luise 5 berichtet von einem neuen Skandal an der Leipziger Universität. Ein Professor darf nicht mehr lesen, obwohl seine Vorlesungen gut belegt sind. Die Studentenschaft empört sich und beschließt, den Rektor zu bitten, daß er dem besagten Professor weitere Vorlesungserlaubnis erwirkt. Am festgesetzten Tage der Beschlußfassung erscheint unerwartet ein SED-Funktionär, der mit der Universität überhaupt nicht in Berührung steht und bringt schließlich mit einer langen Rede, in der er den Professor der einstigen Abfassung profaschistischer Schriften beschuldigt und am Ende plumpe Drohungen ausstößt, den Beschluß zu Fall. Das ist die „andere" Demokratie. Mit vollem Recht kann man feststellen, daß solche Manöver dem nationalsozialistischen Staate alle Ehre gemacht hätten. (Dort hätte ich jedoch noch eher Verständnis dafür finden können.) Dieser Vorgang ist aber zugleich im höchsten Grade beschämend. Wertvolle Elemente, die Zivilcourage besitzen, sind selten, zu unserer Schande auch in der Studentenschaft. Wenn wir jedoch keine Akademiker mehr haben werden, die dies nicht nur der absolvierten Hochschule wegen sind, so ist das Letzte für uns verloren.

Mahlis, den 22. Januar 1947 Die politische Bedeutung der Geschichtswissenschaft liegt darin, den Sinn der Entwicklung zu erfassen, um den Lauf, den natürlichen Lauf der Dinge, die Evolution ein Stück in die Zukunft hinein verfolgen zu können und hierbei in stetiger zielbewußter politischer Arbeit, bei der die Pädagogik nicht die geringste Rolle spielt, die Menschen in eine glückliche Existenz hineinzuführen. Wissenschaft der Politik unterzuordnen, bedeutet eine Herabwürdigung. Wohl aber sollte sich die Wissenschaft der Politik bemächtigen. Neulich bereits las ich in einem Artikel der „Amerikanischen Rundschau" von der Genauigkeit der anatomischen Zeichnung vormenschheitlicher Lebewesen in den Drachen und Schlangen alter Sagen und Märchen, die durchaus den Rekonstruktionen moderner Forschung entsprechen. 6 Die Frage nach dem Wieso? wird mit dem „Ureindruck" des Menschen beantwortet, der älter sein muß als das Menschengeschlecht überhaupt.

4 5 6

Gerhard Schulz war am 20.1. für einen Tag nach Dresden gefahren. Luise Langendorf, 1945, Anm.9. Nicht ermittelt.

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Erich Obst schließt eine geopolitische Studie Russlands, „Das Raumschicksal des russischen Volkes" (1928)7 mit den Worten: „Wenn wir aus der bolschewistischen Revolution und ihren Folgen etwas lernen wollen, so kann es m. E. nur dieses eine sein, unscheinbar und gigantisch zugleich: dass uns Deutschen die Pflicht auferlegt wurde, in zielbewusst revolutionärer Arbeit eine neue Staats- und Gesellschaftsordnung zu schaffen, die dem einzelnen das für seine Höchstleistung notwendige Maß von Freiheit belässt und zugleich die Balance der Gesamtheit nachdrücklichst wahrt."

Mahlis, den 25. Januar 1947 Die Einheit der Wissenschaften um den in seiner Umgebung begriffenen Menschen, der zum Angelpunkt wird, ist der große Gedanke, der mich seit gestern bewegt. Anlaß gab ein Artikel in der „Göttinger Universitäts-Zeitung" über „Die Krise der Staatswissenschaften". 8 Ich habe heute eine Entgegnung darauf abgefaßt, die freilich mehr eigenes Bekenntnis als wissenschaftliche Arbeit ist. Doch es kommt auf die Sicherheit des Fühlens an. 9 Und fast will mir die Erkenntnis Eduard Sprangers in seinen „Lebensformen" 1 0 erlösend erscheinen, daß die Zeiten, in denen es gelingt, die differenzierten Kulturgebiete zu einer Harmonie zu führen, Zeiten der Blüte und jene, in denen die Differenzierung fortschreitet, solche des Zerfalls sind. Mahlis, den 27. Januar 1947 Nochmals sind unsere Ferien verlängert worden: bis zum 10. Februar. Erfrischend kräftig und frei ist der Ton, den die „Göttinger Universitäts-Zeitung" 11 - vor allem der Rektor und der Asta-Vorsitzende - anschlägt. Es ergeht der Ruf an alle Studenten, den Charakter der Universität zu wahren und allen Tendenzen der Massenpolitik in den Hochschulen, aber auch im ganzen deutschen Volke und der Menschheit entgegenzuwirken. 12 Es geht darum, die Masse aufzulösen und den Menschen in seinen individuellen Werten freizumachen, eine menschenwürdige Existenz zu ermöglichen. Die Forderung unserer Zeit ist die Gestaltung des menschlichen Daseins.

7 Erich Obst (1886-1981) deutscher Geograph und Geopolitiker, Professor an den Universitäten in Breslau (1918-1921,1938-1945) und Hannover (1921-1938, ab 1945). 8 W. W. Schütz: Krise der Staatswissenschaften. Ein abendländisches Problem, in: Göttinger Universitätszeitung, 2. Jg., Nr. 1 vom 6. Dezember 1946, S.4-6. 9 Schulz schickte den Text am 26.1.1947 an die Redaktion der G U Z . Er wurde aber nicht veröffentlicht. B A , N1312, Bü 107. 10 Eduard Spranger (1882-1963), Philosoph, Pädagoge und Psychologe. Der Titel des gesamten Werkes lautet vollständig: Lebensformen. Geisteswissenschaftliche Psychologie und Ethik der Persönlichkeit, Halle 1921. 11 Siehe 1946, Anm. 79. 12 Nicht ermittelt.

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Die studentische Jugend muß zur wahren Führerschaft und Bahnbrecherin unseres Volkes werden. Das heißt aber, daß vor allem sie die politischen Gegebenheiten erkennen und danach handeln muß. Mahlis, den 30. Januar 1947 Im kommenden Monat steigen an den Hochschulen unserer Zone die Studentenwahlen. 13 Das Statut der „Studentenräte" ist von der Zentralverwaltung und der Besatzungsbehörde ausgearbeitet worden. Die Studenten erhalten eine Möglichkeit, sich zu verwalten in der schmalen Bahn, die man von oben her festlegt. Trotz des berüchtigten Rufes, den die deutsche Wissenschaft und die Universitäten während der Nazizeit erworben haben, wollen die sowjetischen Okkupationsbehörden der Studentenschaft eine Chance geben, sich vor der „Weltöffentlichkeit zu rehabilitieren", schreibt die „Tägliche Rundschau". 14 Unter dem Vorwand der „Rehabilitierung" glaubt man alles verlangen zu dürfen. Aber wehe dem, der eine Meinung dagegen äußert. Er riskiert, als „Reaktionär" ein für alle Male diskreditiert zu werden. Nach Jahren verderblicher Diktatur macht sich heute eine weit finsterere breit, die vernünftig denkende Menschen nicht zu gewinnen, sondern auszuschalten trachtet. Die Hochschulen werden vergewaltigt in einer Rücksichtslosigkeit, die über alle Argumente der wertvollen Kräfte hinwegschreitet, wie sie sich eben nur eine siegreiche Besatzungsmacht mit dem Kreis ihrer von Demokratie faselnden kompromißlosen Collaborationisten erlauben kann.

Mahlis, den 31. Januar 1947 Das Moment der Trägheit ist bei jedem Tun erst zu überwinden, was häufig gar nicht leicht wird. Während dieser Ferien ist es mir recht oft gelungen, zu dem Zustand inneren Eifers zu kommen. So manches ist dabei aus meiner Feder geflossen. Doch betrachte ich es mir, nachdem die Zeit mich einen gewissen Abstand und sei es auch nur von einigen Tagen oder Wochen - hat gewinnen lassen, besteht es kaum noch vor mir selber: einige treffende Formulierungen, sonst nichts. Nichts Ganzes, aber auch nichts, was Grund zu einem Ganzen legen könnte. 13

Wahltermin war der 6.2.1947. Das Statut war im Dezember 1946 in Kraft getreten. Danach hatte die Vertretung der Studenten den Rektor zu unterstützen, und zwar „bei der Bekämpfung militaristischen und faschistischen Ungeistes und bei der Förderung demokratischen Denkens und Handelns". Desweiteren hatten sie mitzuwirken bei der Förderung des Studiums, bei der Verbesserung der materiellen Lage der Studenten, bei der Pflege des kulturellen und gesellschaftlichen Lebens in der Studentenschaft. Johannes Weberling: Für Freiheit und Menschenrechte. Der Ring Christlich-Demokratischer Studenten (RCDS) 1945-1986, Düsseldorf 1990, S.24f. 14

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Z u r Konstruktion gehört reiches Wissen. Intuition alleine kann im höchsten Falle Stückwerk hervorbringen. U n d immer wieder verfalle ich in flache Journalistik, die zuletzt nur Wort- und Ausdrucksakrobatik ist. A b e r um mir in gründlichem Selbststudium das erforderliche Wissen anzueignen, fehlt es mir hier an allem. Ich empfinde es immer wieder als drückend, daß mir alle Bücher fehlen. U n d wenn ich wieder nach Dresden komme, m u ß ich notgedrungen meine Zeit mit dem Denken von Dingen ausfüllen, die mich schließlich doch nicht weiterbringen. Jeder Tag bringt die Meldung eines neuen Vorschlages auf der Konferenz in London über den Frieden mit Deutschland. 1 5 Es zeigt sich, daß jeder Staat fast andere Interessen in Deutschland hat, die sich kaum auf einen gemeinsamen Nenner bringen lassen. Es kann kaum noch jemand ernstlich behaupten, daß diese vielen Staaten anderes als höchst eigennützige Interessen vertreten. Es hat den drohenden Anschein, als sollte Deutschland für immer Opfer völlig unvereinbarer Forderungen werden. Die verständigste Haltung nehmen bisher noch [die] Engländer ein insofern, als sie sich selbst wie auch uns für die Z u k u n f t einige Türen offen lassen. Frankreich dagegen fordert eine völlige Auflösung Deutschlands, indem die zentrifugalen Kräfte gefördert, die zentripetalen dagegen vernichtet werden. Dieser Vorschlag ist noch weit rücksichtsloser als die im Westfälischen Frieden 1 6 gefundene Lösung. Die Tschechoslowakei und Polen stellen noch weit über das bisher Erhaltene hinausgehende Forderungen. U n d selbst Staaten wie Holland, Belgien usw. melden unerfüllbare Ansprüche an. Wieder einmal macht sich der verhaßte und jedem demokratischen Prinzip hohnsprechende Schachergedanke bemerkbar, so viel zu fordern, daß selbst bei starker Einschränkung der Ansprüche ein beträchtlicher Gewinn verbleibt. Ü b e r die Grenzen des eigenen Landes hinaus denkt dabei niemand. Wir Deutschen sind gewiß nicht das einzige Volk, in dem der Nationalismus lächerliche Blüten zu treiben vermag, daß schließlich die Grenze zum Horizont wird. Doch sind, gerade durch das Erlebnis des letzten Krieges geläutert, in unserem Volke Kräfte frei geworden, die in einem übernationalen Wirken gewiß der ganzen abendländischen Welt, der ganzen Menschheit wertvolle Beiträge zu bieten hätten. Aber wie kann man das verstehen, wenn man hier der eigenen Nation einen Vorteil verschaffen will, an die Menschheit aber nur denkt, wenn es die Forderung eigener Not gebietet?

Mahlis, den 1. Februar 1947 Die Forderung, die die Geschichte im Sinne der Wiedergesundung unseres Volkes und neuer kultureller Leistung an die zukünftige deutsche Politik stellt. Bezieht sich auf die K o n f e r e n z der S o n d e r b e a u f t r a g t e n der alliierten M ä c h t e für D e u t s c h l a n d u n d Österreich, die am 14. J a n u a r in L o n d o n b e g o n n e n hatte. 16 D e r Westfälische Frieden von 1648 b e e n d e t e den 30jährigen Krieg.

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kann nur die sein, Egoismus und dominierenden Individualismus in den Gemeinsinn überzuführen. Eine bundesstaatliche Organisation unseres Vaterlandes scheint mir vorerst diesem Ziele am ehesten zu dienen. Mahlis, den 2. Februar 1947 Alle großen Beispiele zur Geschichte zeigen, daß eine gewisse individualistische Auflockerung der Gesellschaft Voraussetzung für kulturelle Leistung ich möchte es ruhig als Fortschritt bezeichnen - ist. Allerdings ist Gemeinschaft - beim einzelnen der „Gemeinsinn" - , womit nicht allein die „augenblickliche Gesellschaft, sondern auch die Wirksamkeit ihrer Vergangenheit" zu verstehen ist, - Grundlage der Kultur. Das von mir manchmal mit Begeisterung übernommene Beispiel aus der Zoologie, des Bienen- und Ameisenvolkes als „familiäre" Gemeinschaft im Gegensatz zu der „genossenschaftlichen" Gemeinschaft der Rudel höherer Tiere, verliert seinen Wert als Analogie für die Menschen. Hier lassen Geist und Gefühl etwas Unvergleichbares entstehen. Gemeinschaft ist mehr als eine momentane Assoziation von Einzelwesen. Vielleicht sollte man in der Tierwelt überhaupt nur von Gesellschaft sprechen und den Begriff der Gemeinschaft lediglich dem Menschen vorbehalten; denn gerade das Wort „Gemein" bedingt Wirksamkeit von Geist und Gefühlen. Dennoch bin ich davon entfernt, der Gemeinschaft etwa den gleichen mystischen Glanz zuzuerkennen wie der Nationalsozialismus oder als grenzenloses Absolutum zu nehmen, das den Einzelmenschen schließlich hinter Gitter des Fatalismus weist. Sie bleibt eine Genossenschaft, der sich das Individuum lediglich unter dem Zwange des inneren Gesetzes einfügt, weil es ihm seine Vervollkommnung erst möglich macht, allerdings keine reine ökonomische Genossenschaft, sondern eine geistig-psychologische, eben eine menschliche. Auf die Definition des „Gemeinsinnes" kommt es also an. Setzen wir dafür: Verlangen nach Gemeinschaft. Die von mir vertretene bundesstaatliche Organisation, darüber bin ich mir klar, muß einen Fortschrift gegenüber der der Weimarer Epoche im Sinne größerer Annäherung und Zusammenfassung darstellen. Die über ganz Deutschland verteilten Ostvertriebenen können wohl als befruchtendes Element in dieser Hinsicht gewertet werden. Ebenso wichtig ist aber auch die Stellung der Parteien, die zwar Bahnen politischer Betätigung sein und somit auf den Gemeinsinn fördernd wirken sollen. Sie dürfen jedoch keineswegs die einzigen Faktoren politischen Lebens darstellen, also keine Monopolstellung in politischer Hinsicht beziehen. Gemeinsinn: Streben nach Bildung, Gestaltung und Erhaltung einer bestimmten Gemeinschaft.

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Mahlis, den 5. Februar 1947 17

Ich muß Spengler ablehnen. Manche seiner Erkenntnisse sind nicht ohne Wahrheit. Das Ganze seiner Anschauung jedoch finde ich einfach undiskutabel. Die Verachtung für die zahlreichen dekadenten Erscheinungen unserer Zeit läßt ihn den Zustand vor der Französischen Revolution - wenigstens in Preußen - als beispielhaft darstellen. Er will einfach die zwingende Dynamik in der menschlichen Entwicklung nicht anerkennen. Es geht ihm gar nicht darum, ihren Sinn zu begreifen, indem er an die Tiefe der Ursachen herangeht, sondern lediglich zu verurteilen. Wenn er niederträchtige Züge am Menschen erkennt, genügt es ihm festzustellen, daß der Mensch ein Tier ist und ein Tier stets sein wird; wenn er es auch nicht ganz so schroff ausdrückt. Und weil es bisher nicht gelungen ist, in einer geschichtlichen Epoche ohne Krieg auszukommen, gilt für ihn: „Menschengeschichte ist Kriegsgeschichte." Bei Spengler ist die Philosophie zu finden, die soviel Entsetzen und Not über die Menschheit gebracht hat: Die Erkenntnis des Vorhandenseins von Rücksichtslosigkeit und nackter Vitalität ergibt deren Anerkennung und noch mehr: ihre Lobpreisung und die Verachtung alles Edleren als Schwäche und Traum. Der Mensch hat sich im Verlaufe der Jahrtausende sehr weit entwickelt, kurz: von einem rein vegetativen Dasein zu einem kulturellen. Ich wage, von einer Höherentwicklung zu sprechen. Spengler jedoch nimmt offenbar davon keine Notiz; denn wie könnte er die gewaltigen kulturellen Gestaltungskämpfe, die allerdings viel Unklares und nicht Lebensfähiges hervorgebracht haben und auch gewiß noch lange nicht abgeschlossen sein werden, wie könnte er dieses Ringen um eine neue kulturelle Form, das freilich voller vieler Irrungen ist, als solches überhaupt negieren, wie könnte er unserer Kultur, nur weil sie in vielem brüchig und unverständlich ist, den Rücken kehren und eine Beschränkung auf die Zivilisation fordern? Nicht die Kräfte unseres Lebens zu meistern, verlangt er, sondern sie zu vernichten. Die nackte Robustheit im Menschen will er wieder wecken. Das ist nicht die neue Form. Sie ist der Mensch und nicht das Lebewesen im Menschen. Ich lehne Spengler nicht ab, weil er pessimistisch ist, aber weil ich an seinem Werk schlechthin zum Optimisten werden muß. Er versucht, die Verirrungen unserer Zeit zu bekämpfen, und wird doch selbst nur zu einer Verirrung. Man muß mit dem Worte „reaktionär" vorsichtig und gewissenhaft umgehen. Doch wenn irgend jemand dieses Wort - gemäß seinem landläufigen Sinne als nicht die Zeit erfassend - als Bezeichnung seines Wesens verdient, so Spengler.

17 Oswald Spengler (1880-1936), Geschichtsphilosoph und politischer Schriftsteller. A u tor des W e r k e s „ D e r U n t e r g a n g des A b e n d l a n d e s " .

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Mahlis, den 8. Februar 1947 Es ist eine Narretei etwa zu glauben, man könne solange sein Leben nicht sinnvoll gestalten, als man nicht den Sinn seines Daseins erfaßt hat. Will man das Suchen danach zum Inhalt eines Lebens machen, so kann man nur - wenn es hoch kommt - die alte und weiseste Erkenntnis wiederfinden: Ich weiß, daß ich nichts weiß. 18 Eigentlich ist das sehr viel; jedoch das Leben selbst, gemessen an dem Ziele, das man ihm gesetzt hat, wäre nutzlos gewesen. Aber mit gutem Recht kann man einwenden: Auf dem Wege zu dem großen, nie erreichten Ziele ist gewiß so manches gereift. Jawohl! Das ist es, was das Leben schließlich doch zweckvoll macht: Der Mensch ist schöpferisch, ehe es ihm bewußt ist. Religion als Idee ohne Glauben! Sie verliert somit jeden unmittelbar bildenden Charakter. Jede religiöse Einflußnahme wird sinnlos. So erhellt auch der wahre Wert aller Belehrungen und Künstlich-Konstruierte der kirchlichen Tätigkeit, [sie!] Gewiß kann Religion einen Menschen beeinflussen, jedoch nur als Erlebnis, das das eigene Wesen nicht zu verändern vermag. Niemals ist sie mehr als Ausdruck eigener Haltung. Zur Religion kann man sich nicht bekennen; ebenso wenig wie die Kunst kennt die Religion Begriffe. Mahlis, den 9. Februar 1947 Der Beginn unsrer Vorlesungen ist erneut verschoben worden. Ich bin damit durchaus einverstanden, denn jetzt macht mir die Arbeit hier wieder Spaß. Mahlis, den 11. Februar 1947 In dem Weiher der Behaglichkeit und frohen Arbeitens, der für die letzte Woche in Mahlis so klar geworden, ist unversehens ein schlitternder Tropfen gefallen: Ein Telegramm aus Dresden. Ich soll zurückkehren. Meine Umschreibung nach Leipzig steht zur Debatte. Warum werde ich gebraucht? Ich kann mir nicht vorstellen, daß einige Tage von Wichtigkeit sind; vor allem: ich kann mich nicht entschließen, den so lange ersehnten und doch sicher nur kurze Zeit währenden Zustand, der Ruhe und freudige Betriebsamkeit zugleich gibt, Hals über Kopf zu beenden und bei der immer noch anhaltenden strengen Kälte in mein kaltes unwirtliches Zimmer im geschändeten Dresden zurückzukehren. Noch sechs Tage will ich meine Ruhe und Arbeit hier genießen. Ich vertraue meinem Glück, daß mir dadurch kein Nachteil entsteht. Leipzig ist mein dringendster Wunsch, den ich hege. Es wird werden, weil ich es will! Bis zum großen Sprung, das wird Leipzig werden - daran zweifle ich nicht mehr - , aber will ich hier ausruhen. Jeder Tag ist wertvoll!

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Ein geflügeltes Wort, das Sokrates zugeschrieben wird, das aber auf Piaton zurückgeht.

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Mahlis, den 12. Februar 1947 Eine lange Debatte mit Kläuer, schon fast ein Streit. Das soziale Problem hält er für unlösbar wie auch die Quadratur des Kreises. Ich entgegnete ihm, daß man wohl in der Naturwissenschaft lösbare und unlösbare Probleme feststellen könne, weil die Naturwissenschaft mit festen Größen arbeitet. Der Mensch aber ist absolut keine unveränderliche Größe. Er ist entwickelbar und veränderlich, er ist bildsam. Das ist ja die Tatsache, die erst die Pädagogik möglich macht, ihr eine Daseinsberechtigung gibt. Es kommt darauf an, dem Arbeiter Anreiz zum Denken zu geben, und zum anderen, ihn die Arbeit nicht mehr als bitteren Zwang auffassen zu lassen. Er muß eine innere Beziehung zu seiner Arbeit und zu seinem Arbeitsplatz gewinnen. Man muß ihn darüber hinaus seßhaft machen. Im ganzen: Dasjenige Interesse, das ihm seine Arbeit gibt, muß mit seinem eigenen weitgehend gleich laufen. Freilich wird sich das nicht von heute auf morgen und gewiß nicht ohne Schwierigkeiten erreichen lassen. Aber das ist es ja, was das Wesen eines Problemes ausmacht, daß der menschliche Geist unermüdlich arbeiten muß, ehe es gelöst ist. Daß das soziale Problem immer noch besteht, ist nur auf ein Versagen der Intelligenz in dieser Hinsicht zurückzuführen. Sie muß es lösen. Der Arbeiter alleine kann es nicht, wie man auch vom Lehrer die pädagogischen Fähigkeiten verlangt und nicht vom Kinde. Die heranwachsende Intelligenz jedoch auf das soziale Problem als eines Teils des großen Aufgabengebietes unseres Daseins hinzuweisen und mit ihm vertraut zu machen, läge in der Hand der Hochschulen. Mahlis, den 15. Februar 1947 Man ist nicht in der Lage, auch nur eine der heute von deutschen Herausgebern redigierten Zeitschriften Nummer für Nummer ernsthaft und intensiv zu lesen. Selbst in einer solchen wie der „Deutschen Rundschau" 1 9 bleiben wahrhaft brauchbare Artikel nur Rosinen im Kuchen. Man spürt des öfteren wohl bewußtes pädagogisches Bemühen. Es kann dies jedoch höchstens dem Ziel nach als solches gewertet werden. In der Methode geht nichts über Propaganda hinaus: Glänzender Stil, flüssige Sprache - nur zu häufig hochtrabend und gewollt akademisch - müssen nur allzu häufig Oberflächlichkeit und die so gefährliche gedankliche Verschwommenheit verbergen. Kurz: Glänzende Schreibertechnik ist oft das Gewand dünnblütiger, erlebensfremder Duseleien, die meistens in Blödsinn oder Unwahrheiten münden. Der Blick für das zusammenhängende Ganze fehlt so gut wie immer.

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Die 1874 gegründete „Deutsche Rundschau" war eine kulturelle Monatszeitschrift, die von 1945 bis 1961 von Rudolf Pechel, einem Gegner des Nationalsozialismus und Mitbegründer der C D U , geleitet wurde.

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Von Geistreicheleien strotzende Scheinanalysen sind auf jeder Seite zu finden. Ein Einundzwanzigjähriger bemüht sich, in hochtrabendem Tone von den Voraussagen „Einsichtsvoller" zum 20. Juli [19]44 zu schreiben 20 , zu denen er sich wohl rechnet, wohl aber kaum mit seinen damals 19 Jahren gerechnet werden kann. Nichts erlebt, alles erkünstelt. Nichts Neues, Aufbauendes; nur Schein überall! Mahlis, den 19. Februar 1947 Ich kam nicht einmal dazu, in Dresden Tagebuch zu schreiben. Unsere Kohlenferien haben eine erneute Verlängerung - nun bis zum 3. März - erfahren. Die 36 Stunden waren mit Laufereien restlos ausgefüllt. Die Aussichten für den Übergang nach Leipzig sind ungünstiger geworden. Hierzu trägt auch die unterschiedliche Semesterdauer bei. Leipzig hat das Wintersemester beendet, wir haben noch nicht einmal die Hälfte hinter uns. Leipzig fängt möglicherweise das Sommersemester an, ohne daß das Wintersemester in Dresden beendet ist. Die Dekane der Pädagogischen Fakultäten in Leipzig und Dresden haben das Ihre getan für den Austausch. Mehr konnte ich mir von ihnen nicht wünschen. Nun liegen die Gesuche bei der Landesregierung und - wie alles dort mit wenig Aussicht auf Genehmigung, zumal der Russe noch mitzureden hat. (Viel Lärm um Kleinigkeiten!) Ein persönlicher Versuch, dort Näheres zu erfahren, war zwecklos. Ein junger Regierungsrat, der ein Aussehen hat wie die Unzuverlässigkeit selbst, machte mit vagen Zusicherungen dem Gespräch ein schnelles Ende. Im Vorzimmer des berüchtigten Häntzsche 21 , der nicht anzutreffen war, mußte ich gewaltig an mich halten, um nicht von mir aus dem unsachlichen und gänzlich verständnislosen Gefasel der Sekretärinnen gleich ein Ende zu machen. Die Landesregierung habe ich bisher stets mit merklich abgesunkener Laune verlassen. Die ganze Traurigkeit der Lage unserer Hochschulen tritt hervor, wenn man sich vergegenwärtigt, von welch ungeeigneten Beamten Rektoren, Dekane, Professoren und Studenten ihre Weisungen erhalten. Rein administrativ - und meistens noch nicht einmal das, sondern rein parteipolitisch - treibt die Behörde Hochschulpolitik. Eine gesunde und dauernde Entwicklung, die den Namen „Demokratie" rechtfertigen könnte, ist hierbei völlig ausgeschlossen. Darüber hinaus sind aber die Beamten des Ministeriums nun nicht mehr „Bürokraten", aber dafür Parteifunktionäre - keine Männer, die menschliches Verständnis aufzubringen vermögen - und das muß heute Voraussetzung für jede Administration im öffentlichen Leben sein. Sie kön-

20 21

Nicht ermittelt. Hellmuth Häntzsche, Oberregierungsrat im Ministerium für Volksbildung.

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nen darum kein Vertrauen genießen. Doch wohin führt in diesen Fragen schon unsere Kritik? Mahlis, den 25. Februar 1947 Diese Tage waren ausgefüllt mit Arbeit für die Presse, für die Dresdener Wandzeitung, wie auch für die „Göttinger Universitäts-Zeitung". Den dritten Aufsatz habe ich gestern an diese durchaus wertvolle Hochschulzeitung abgeschickt. Bisher ist noch keiner gedruckt worden. Ganz und gar bin ich von dem Gedanken besessen, die ganze Lebenssphäre mit dem pädagogischen Gedanken förmlich zu durchtränken. Es gibt die so verhängnisvolle Kluft zwischen einsichtsloser Geistesarmut der Mächtigen und der machtlosen Geistigkeit der Einsichtigen zu überbrücken. Das Thema „Universität - Professor - Student" steht allgemein zur Diskussion. Die Hochschule ist - wie die Wissenschaft ein Teilgebiet der Kultur eine Institution der Gesellschaft und kann ihre Aufgabe nur erfüllen, wenn sie einmal der Forschung nach der Wahrheit, zum anderen aber der Erziehung für die Gesellschaft dient, also gleichsam die Wechselbeziehungen zwischen kultureller Leistung und Menschheit pädagogisch wirksam macht, indem sie also nicht ausbildet, sondern erzieht und bildet. Das erfordert von dem Professor in erster Linie die pädagogische Kraft einer gefestigten und charakterlich wertvollen Persönlichkeit, die allein den Studenten auf den Weg zum voll ausgereiften Individuum zu führen vermag. Wird das gedruckt? Sicher ist meine Ausdrucksweise oft nicht elastisch genug. Doch diese ausgesprochenen Gedanken dürften für unsere Zone immerhin einigen originalen Wert haben. Mahlis, den 2. März 1947 Der Schnee will immer noch nicht verschwinden. Wenn in der Mittagsstunde etwas taut, so gibt es am Abend neue Schneefälle. Unter diesen Umständen würde die nächste Zeit in Dresden kein Behagen sein. Sie ist es auch so nicht. Mein Aufenthalt in Dresden erscheint mir jetzt geradezu als widerwärtig. Ich wünschte nur zu sehr, daß ich Dresden und der T.H. den Rücken kehren könnte. Es ist dabei die große Frage, ob mir das Hochschulleben überhaupt gefallen kann - unter all den durch die Gegenwart bedingten Erscheinungen? In Dresden wohl kaum. Sollte man mich dazu zwingen, noch ein Semester in Dr[esden] zuzubringen, so wird es unter den gegenwärtigen Umständen das letzte sein. Vor allem: Ich habe mich noch nie so verlassen und trotz einiger weniger anregender Vorlesungen so gleichgültig gefühlt wie in Dresden - Ich glaubte in den letzten Wochen, den trüben Zustand der letzten Monate des vergangenen Jahres überstanden zu haben. Nun, da Dresden wieder in greifbare Nähe rückt, beschleicht mich von neuem das alte Unlustgefühl.

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Mahlis, den 5. März 1947 Wieder einmal zurück! Nun ist der erneute Vorlesungsbeginn auf unbestimmte Zeit verschoben worden. (Dasselbe scheint auch für milderes Wetter zu gelten.) Infolge des verstärkten Bahnverkehrs, den die gestern begonnene Leipziger Messe notwendig macht, konnte ich nur mit dem Abendzug bis Oschatz kommen. Mit schmerzenden Füßen marschierte ich die Nacht durch nach Mahlis. Um mich her die im bleichen Mondlicht liegende weiße Landschaft, alles still, in der Ferne Häuser und Bäume nur schemenhaft. Hunger, Müdigkeit! Alles fiel von mir ab. Nur noch das Sehnen nach dem Bett und dem ZuHause-Sein war in mir. Für Stunden war die Not über mich gefallen, die alles Geistige niederdrückt und nur noch ein unendliches Begehren im Menschen bestehen läßt. Mechanisch schleppte ich mich meinen Weg - nachdem ich drei Stunden von Dresden bis Oschatz im überfüllten Abteil auf einem Fuß gestanden hatte bis ich in mein Bett hineinfiel! Es war diesmal eine hindernisreiche Hin- und Rückfahrt. Mahlis, den 10. März 1947 Heute hat die Konferenz, die über den Frieden mit Deutschland beraten soll, in Moskau begonnen. 22 Wird es eine Friedenskonferenz werden? Überall in unserer Zone erheben die Parteiführer den Ruf nach der Einheit Deutschlands. In der ganzen Studentenschaft Deutschlands, die die Zeit begreift, hat er bereits Widerhall gefunden. Zum ersten Male nach dem Zusammenbruch scheinen große Teile des deutschen Volkes wieder aus der politischen Lethargie zu erwachen. Mahlis, den 11. März 1947 Über fünf Jahre ist es her - noch genau entsinne ich mich des Tages: Es war der 17. Januar - , da ich in meinem Tagebuch die Aufzeichnung machte. Ich schrieb: Auch ich beschloß, Politiker zu werden. 23 Inzwischen sind Jahre allmählich beginnender Reife, sehr ereignisreiche Jahre für die gesamte Menschheit, vergangen, und ich schäme mich fast, nicht daß ich dieses Wort damals schrieb, wohl aber der Naivität, mit der ich es niederschrieb. Es war ganz die des Siebzehnjährigen. Mag dieses Wort aber auch einen faden Beigeschmack haben; ich fühle es nach wie vor als Verpflichtung für mich, die ich mir nicht willkürlich auferlegt habe, sondern die meinem ganzen Wesen entspricht. 22

Moskauer Außenministerkonferenz vom 10.3.-29.4.1947. Hierauf einigten sich die Alliierten auf die Rückführung der Kriegsgefangenen bis Ende 1948, auf die wirtschaftliche Eingliederung des Saarlandes in Frankreich, nicht jedoch über die deutschen Reparationszahlungen. 23 Dieser Teil des Tagebuches ist verloren gegangen. Formulierung in Anlehnung an ein Zitat aus Hitlers „Mein Kampf".

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Freilich ist heute der Sinn dieses Wortes für mich ein anderer als er es damals war, als ich es aussprach. Wenn ich jetzt für mich das Wort Politik gebrauche, so ist damit Tätigkeit in der Menschheit für die Menschheit gemeint, die Tiefe der menschlichen Existenz zu erfassen und für sie zu wirken. Mein Streben geht danach, die Gesetze des menschlichen Daseins zu erkennen und sie der Menschheit nutzbar zu machen, soweit mir das meine Kräfte gestatten. O b das der Sinn meines eigenen Lebens ist, vermag ich freilich nicht zu sagen; denn mir liegt auf die Dauer nichts am Ruhm. Daß das Einzelleben aber in der Gesamtheit sich auflösen soll, widerstrebt meinen tiefsten Empfindungen. Vielleicht aber ist es der elementare Gestaltungsdrang in mir, der die Fähigkeit meiner selbst gefunden hat, die nun den Weg weist, der mich also zu handeln zwingt. Wie dem auch sei: Jedermann ist zuletzt einem Gesetz Untertan, das ihn bestimmt.

Mahlis, den 12. März 1947 All diese Tage habe ich mit philosophisch-psychologischen Studien zugebracht. Es ist mir, als bräche erst jetzt meine ganze Freude und Liebe zur Wissenschaft auf. Zutiefst erfüllt bin ich von dem Wunsche, ihr zu dienen und ihr mein Leben zu widmen. Es ist, als nähme dieser Gedanke alles Schwere des augenblicklichen Daseins von mir. Mahlis, den 14. März 1947 Die ersten Frühlingsstürme lassen den Schnee verschwinden. Auf den Feldern öffnen die Bauern ihre Mieten und müssen erkennen, daß der strenge Winter unglaubliche Frostschäden an dem Kartoffelvorrat angerichtet hat. Eine Hungersnot von großem Ausmaß steht uns bevor. Auch unser eigener Kartoffelvorrat ist auf einen Bruchteil, von dem Papa und Mama allein höchstens noch zwei bis drei Wochen leben können, zusammengeschmolzen. In der kommenden Woche muß ich nach Dresden, auch wenn die Vorlesungen noch nicht beginnen sollten. Hier ist keine Möglichkeit mehr, daß wir uns alle drei erhalten können. Mahlis, den 16. März 1947 Von einem Gang über Land, um Kartoffeln oder sonst etwas zur Ernährung aufzutreiben, sind wir fast unverrichteter Dinge zurückgekommen. Die Kartoffelmieten sind meist noch nicht zugänglich, die Frostschäden noch nicht zu übersehen. Die Wassermassen, die das Tauwetter gebracht hat, tragen zu allem Überfluß dazu bei, die Lage noch übler zu gestalten, als sie an sich schon ist. Diese Nacht habe ich vor Hunger kaum schlafen können.

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Nur nach reiflicher Überlegung habe ich mich bestimmen lassen, noch einen Tag länger hierzubleiben, da ich in Dresden vorerst nichts versäume. Es ist soweit gekommen, daß ich jeden Tag hier meiner Eltern Ernährung schmälere. Immer wieder kehren die Gedanken zu der drückendsten aller Sorgen zurück, die augenblicklich alles in den Hintergrund drängt. - Ein bezeichnendes Wort, das ein russischer Offizier der Oschatzer Kommandantur ausgesprochen haben soll, erzählt man sich: „Wir behandeln Deutschland wie eine Blume, die wir nicht gießen." Es ist an der Zeit zu erkennen, daß Ideale nicht etwa mit einem Schlage oder in kurzer Frist zu verwirklichen sind, sondern vom menschlichen Willen gesetzte Zielpunkte, deren Erreichung klares Herausarbeiten der Gesetze der Entwicklung und ihre Befolgung notwendig macht. Nur Schritt für Schritt, konsequent und intensiv an der Linie der Evolution anknüpfend, kann das geschehen. Lediglich die Pädagogik beginnt seit Pestalozzi 24 , diesen Weg zu verfolgen. Mich ergreift jenes Zittern, das gewaltiges Erkennen begleitet, obwohl die Weite der Bedeutung dieser Erkenntnis mein Bewußtsein noch nicht zu erfassen vermag. Das gesamt seelische Wesen Mensch ist im Wachsen mit der unendlich kleinsten Zeiteinheit. Und indem es wächst, ist es! Dresden, den 19. März 1947 Jetzt habe ich meine Einsamkeit in der Großstadt wieder. Der Schnee ist zwar weg und mit ihm die strenge Kälte. Dafür aber regnet es fast ununterbrochen. Nach wie vor ist der Tag - obwohl die Vorlesungen erst wieder in einigen Tagen beginnen - ausgefüllt mit Laufereien und endlosen Straßenbahnfahrten, die jetzt eine wahre Qual sind. Morgen will ich zum Dekan gehen. Soviel aber habe ich bereits erfahren, daß der Studienplatztausch nicht möglich sein wird. Überhaupt werde ich frühestens im Herbst nach Leipzig kommen können, und dann nur, wenn ich mich in Dresden exmatrikulieren lasse und mich erneut zum Studium bewerbe und erneut zugelassen werde. - Ich glaube, es ist nur wenigen Menschen im Leben beschieden, so viele Hindernisse auf ihrem Weg überwinden zu müssen. Doch mein Entschluß bleibt fest: Wenn ich nicht in der von mir gewünschten Form studieren kann, breche ich das Studium ab. Dresden, den 20. März 1947 Heute war ich beim Dekan und beim Rektor. Beide sind befremdet ob der Schwierigkeiten, die im Ministerium meinem Hochschultausch gemacht werden. Aber das hat meine Sache noch nicht weiter gebracht. 24

Johann Heinrich Pestalozzi (1746-1827), Schweizer Pädagoge, Philantrop, Schul- und Sozialreformer, Philosoph und Politiker.

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Morgen wird die Auseinandersetzung fortgesetzt - bei der Landesregierung. An Dr. Kühn habe ich auch geschrieben. Dresden, den 21. März 1947 Heute war ich im Ministerium und ein kleiner Hoffnungsschimmer ist wieder erwacht. Oberregierungsrat Häntzsche, der Sachbearbeiter in Angelegenheiten wie der meinen, steht jetzt meinem Fall nicht mehr von vornherein ablehnend gegenüber. Morgen lege ich nochmals Unterlagen vor. Zweifellos leben wir in einem sozialistischen Zeitalter, d.h. in einem des Erkennens der gesamtmenschheitlichen Zusammenhänge. Aber der soziale Gedanke, dem das Suchen nach der Strukturformel der Gesellschaft entspricht, kann nur verwirklicht werden, wenn man den Menschen in seiner Umgebung zum Ausgangspunkt nimmt, wenn man ihn als biologisches Wesen betrachtet. Das bedeutet freilich einen weitgehenden Abbau der bisher üblichen alle möglichen ökonomischen Perspektiven verfolgenden Orientierungen. Hier hat die Pädagogik ihre große Arbeit zu leisten. Dresden, den 23. März 1947 Der erste Frühlingstag ist mit diesem lachenden Sonntag angebrochen, nachdem es gestern Abend noch einmal in Strömen geregnet hat. Ich wollte wieder einmal ins Kino gehen. So sah ich mir denn zum Wochenende einen russischen Film an: „Die Jugend des Dichters" (Puschkin). 25 Sowohl dem Inhalt nach, als auch vom filmtechnischen Standpunkt war er überaus schlecht. Immer wieder - besonders im Hinblick auf die Tat vom 20. Juli [19]44 spricht man von der Diskrepanz von Gehorsam und Menschenpflicht. Ich glaube, daß dieses Datum weit mehr ist als nur das eines mißlungenen politischen Attentats. In unserer Zeit erleben wir die Ablösung des Ethos' soldatischen Gehorsams, das durch den abgelegten Eid bedingt ist, durch das Ethos der Verpflichtungen über Menschheit und Menschlichkeit, am besten ausgedrückt durch den Satz: Was um uns geschieht, macht uns verantwortlich. Der 20. Juli machte diese Ablösung offensichtlich, vor allem dadurch, daß gerade hohe Offiziere, in deren Sphäre der soldatische Gehorsam erwachsen ist, führend an der Tat dieses Tages teilnahmen.

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Der Film war 1936/37 in Leningrad entstanden. Regie: Abram Naroditkij; Buch: Aleksandr Slominskij. Anlass für den Film war der 100. Todestag Puschkins. Auf der Pariser Weltausstellung 1937 wurde der Film mit einer Goldmedaille ausgezeichnet. In der S B Z lief der Film in deutscher Sprache. (Auskünfte von Frau Dr. Elke Scherstjanoi). Alexander Sergejewitsch Puschkin (1799-1837), russischer Nationaldichter, Begründer der modernen russischen Literatur.

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Die menschheitliche Verantwortung und ihr Bewußtwerden bei jedem einzelnen setzt allerdings eine menschliche Bildungsstufe voraus, die keineswegs überall vorhanden ist - vor allem im deutschen Volke nicht. Sie muß jedoch als Ideal, als Ziel der alle Lebenssphären durchdringenden Erziehung bestehen. Die große Gefahr für uns liegt vor allem darin, daß das alte Ethos gestürzt, das neue aber noch nicht in allen Schichten machtvoll eingezogen ist, was zum Nihilismus bei der Intelligenz, zur Resignation bei den Massen führt. Gerade bei den Kräften, die das Alte gestürzt, in diesem Sinne also fortschrittlich waren, ist zu großen Teile das konstruktiv Neue noch nicht spürbar. Das ist unsere Krise, die Krise jeder Revolution, daß die fortschrittlichen - d. h. die Entwicklung tragenden - Kräfte von gestern zu den reaktionären - d.h. zu den nicht zu neuer Form strebenden - von heute werden. Das muß den Menschen bewußt gemacht werden. Dresden, den 25. März 1947 Die Vorlesungen haben nun wieder begonnen. Mit weniger Interesse denn je gehe ich zur Hochschule. Aber nicht nur bei mir, der ich einen anderen Weg einschlagen will, sondern bei vielen anderen Kommilitonen selbst macht sich eine steigende Unlust bemerkbar. Und dementsprechend wohl auch bei den Professoren. Prof. Kafka, der mir die wertvollsten Vorlesungen hielt, ist an die Universität Würzburg gegangen. Ich selbst bedauere das sehr; denn er erschien mir als der hervorragendste Geist in Dresden. In der Arbeitsgemeinschaft] d[er] S[tudenten] hat man bereits unliebsam meinen ersten Bericht in der G U Z vermerkt. 26 Man nimmt Anstoß daran, daß ich nicht nur die positiven Seiten erwähne. Wörter wie „Bücherknappheit" oder „Papiermangel" bringt die Leutchen bereits aus dem Hause. Etwas habe 26

Der Text unter der Überschrift „Dresden" lautete wie folgt: „Die Zahl der an der technischen Hochschule Dresden Studierenden beträgt zwischen 400 und 500. Sie kann vorerst noch keinen Vergleich mit Vorkriegsverhältnissen aushalten. Manches Provisorium muß in Kauf genommen werden. Wie überall fehlt es an Büchern. Papier ist überaus rar. Geräte fehlen. Ein wichtiges Positivum ist, daß die Zerstörungen durch den Luftkrieg noch zu ertragen sind, so daß für den Lehrbetrieb zumindest in seinen gegenwärtigen Ausmaßen genügend Hörsäle zur Verfügung stehen. Die Studenten sind fast ausschließlich Studienanfänger, da die eröffneten drei Fakultäten - die pädagogische, die Fakultät für Kommunalwirtschaft und die für Forstwirtschaft (in Tharandt) - nur mit Vorlesungen für das erste Semester begonnen haben. Zweifellos macht sich das Fehlen der im akademischen Leben erfahrenen Jahrgänge bemerkbar. Die weitere Entwicklung wird wesentlich von dem Maß an Frische und Aufgeschlossenheit abhängen, mit dem die augenblicklich Immatrikulierten das Trägheitsmoment überwinden. Einige Kommilitonen haben sich aus eigenem Antrieb zusammengefunden und in intensiver Arbeit wirschaftliche und soziale Nöte der Studierenden weitgehend behoben. Sie haben auch die ersten Nummern einer Studentenzeitung ,Der Dresdner Student' - allerdings in der bescheidenen Form einer Wandzeitung - zusammengestellt. Kulturelle Veranstaltungen sind vorgesehen. Gerhard S c h u l z , stud, paed., Dresden." GUZ, 2. Jg., Nr. 6, S.13.

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ich jedoch erreicht: Man hat sich schleunigst hingesetzt und selbst einen Bericht zusammengezimmert. Dresden, den 28. März 1947 Ich war im Ministerium. Mein Gesuch bedarf nur noch der Genehmigung des Russen. Wenn die erteilt ist, kann ich möglicherweise schon in drei Wochen nach Leipzig. Recht schnell hat sich die Lage geändert. Heute abend ist die Versammlung der LDP-Studenten zur Studentenratswahl. Die Parteien durchbrachen das Persönlichkeitsprinzip: nachdem die SED damit begonnen und die CDU folgte, bleibt der LDP nun auch nichts anderes übrig, wenn sie nicht ganz hinten runterfallen will. Aber es zeigt sich glücklicherweise, daß in allen Parteien vernünftige Studenten sind, die die studentischen Interessen höher als die ihrer Partei stellen. Dresden, den 29. März 1947 Man hat mich gestern zweimal als Kandidaten zur Studentenratswahl in Vorschlag gebracht. Erst als ich das zweite Mal auf die Möglichkeit meiner baldigen Exmatrikulation hinwies, nahm man davon Abstand. Nun soll ich die LDP in der Wahlkommission vertreten. In einer kleinen Rede habe ich auf die Grundforderung studentischer Interessen hingewiesen, daß nur solche Kommilitonen in den Studentenrat zu kommen verdienen, die als achtbare und tätige Persönlichkeiten bekannt und bereit sind, in studentischen Angelegenheiten für fünf Minuten ihre Parteizugehörigkeit zu vergessen. Die Zusammenkunft war fruchtbar. Wenn ich auch für die LDP keinen günstigen Ausgang der Wahl sehe, so glaube ich doch, daß hier die lange entbehrte wahrhaft demokratische aufbauende Arbeit einen kleinen Anfang genommen hat. Dresden, den 31. März 1947 Das soziale Jahrhundert hat vorerst mit einem Rückfall in die Zeit vor den Steinschen Reformen 2 7 begonnen. Leibeigenschaft, keine Freizügigkeit usf., alles ist wieder da, wenn auch in anderer Form, und läßt auch uns nicht mehr Herren unseres Daseins sein. Jedoch die jetzige Entwicklung des menschlichen Individuums hat alles Erlebte zu festem Besitz werden lassen, der keinen Rückfall duldet. Die innere Freiheit kann uns nichts nehmen, wenn nicht unser Wille erlahmt und wir selbst bereit sind, sie aufzugeben. 27

Reformen in Preußen in den Jahren 1807 und 1808: Aufhebung der Leibeigenschaft der Bauern und Einführung der kommunalen Selbstverwaltung. Initiator war Reichsfreiherr von und zum Stein (1757-1831), 1807-1808 leitender Staatsminister in Preußen.

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Dresden, den 8. April 1947 Nach meiner Ankunft erhielt ich im Sekretariat die amtliche Mitteilung von der Genehmigung des Tausches nach Leipzig. Mit dem Ende dieser Woche will ich Dresden verlassen und nach Leipzig übersiedeln. Dresden, den 9. April 1947 Unter dem Eindruck der letzten Vorlesung Prof. Janentzkys: Es gibt offenbar zwei Arten von Kunstwerken. Während die einen aus vollem Bewußtsein heraus geschaffen werden, brechen die anderen aus dem Unterbewußtsein gleichsam hervor, ihren Schöpfer zum Werkzeug machend. Dresden, den 10. April 1947 Die Zeit drängt und erfordert Eile; dennoch bin ich meiner Sache nicht ganz sicher. Zudem weiß ich nicht einmal den genauen Tag des Semesterbeginns in Leipzig. Zum dritten Male habe ich heute meinen Austauschpartner Streubel anzutreffen versucht. Ich fand ihn in Radebeul und konnte ihn bewegen, morgen nach L[eipzig] zu fahren. Ich hoffe, übermorgen endgültige Klarheit zu haben. - Eine Exmatrikulation ist eine schwerwiegende Sache, zu der man sich nur entschließt, wenn alle weiteren Schritte auf festen Boden führen, zumal man seine Zulassung zum Studium schwer erkämpfen mußte.

Dresden, den 12. April 1947 Heute, am letzten Tage dieser Woche, habe ich meine Exmatrikulation vornehmen lassen. Kurz darauf traf ich Streubel. In Leipzig scheint alles geordnet zu sein. Morgen Nachmittag fahre ich ab. Es liegt dem Menschen zu ordnen. Ich krame meine Sachen, die mir innerhalb der vier Wände meiner Behausung gehören, zusammen, ich packe und ordne. Dabei werfe ich einen Blick in die Mappe meiner Erinnerungen, und es ist, als stiege mit einmal ein zarter, rührseliger Hauch aus ihr empor. Jedes Stück in ihr ist ausgefüllt mit Poesie; doch alles ist Wehmut. Behutsam schlage ich sie zu und lege sie sacht aus den Händen. Aber die Macht des Vergangenen ist über mich gekommen. Auch das, was vor einem oder einem halben Jahr gewesen, ist in mir wieder aufgewacht und hat einen Schein von Schönheit erhalten. Leipzig, den 15. April 1947 Manchmal ist es mir, als müsse ich jubeln trotz unzureichender Ernährung (was sich mit der praktisch fortfallenden Kartoffelzuteilung täglich mehr bemerkbar macht), jubeln über alles, was um mich ist.

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Ich bin zwar noch nicht immatrikuliert, weil die Genehmigung vom Russen immer noch aussteht. Doch ich bin tatsächlich mitten im Studium, ohne noch an die Möglichkeit einer Ablehnung zu denken. Es fing bereits am Sonntag gut für mich an, als der Dresdener Zug auf die Minute pünktlich in Leipzig ankam und ich fast zufällig ein überraschend gutes Nachtquartier fand. Dann kamen die Laufereien; und keine ist bisher erfolglos gewesen. Ich erhalte meine Zugangsgenehmigung; ich habe ein angenehmes Quartier gefunden (nur wenige Häuser von der Wohnung Dr. Kühns entfernt); ich werde sogar in das Kulturhistorische Institut, das noch am besten erhaltene, aufgenommen - dank der Voranmeldung durch Luise. 2 8 Und heute hörte ich die ersten Vorlesungen: Professor Litt 2 9 : Dieser Mann wird ewig in meinem Gedächtnis haften bleiben. E r wird mich nicht blenden, wie es Trinks für kurze Zeit getan hat. Dieser Mann hat etwas wahrhaft Geniales an sich, das Vermögen, strukturell zu sehen und klar darzustellen. Mit einer Erscheinung ist ihm gleichsam die Linie des Vergangenen u[nd] Kommenden gegeben. Dabei bedient sich seine Sprache einer erstaunlichen Prägnanz und ist stets gleichmäßig dahinfließend, unbedingt mit dem Gedanken gleichen Schritt haltend. - Und so scheint es mir, als verhalte sich schlechthin Leipzig zu Dresden wie Litt zu Trinks. Das Leben in den Straßen flutet dahin, bunt und flink, dabei gar nicht einmal so armselig, wie man es in dieser Zeit zu sehen gewohnt ist. Man glaubt fast nicht, sähe man nicht hin und wieder Trümmer, daß Leipzig wie alle anderen Städte diesen schrecklichen Krieg durchgemacht hat. Leipzig, den 17. April 1947 Es ist nicht alles Gold, was glänzt: Es gibt scheinbar auch in Leipzig Dozenten, die einem Studenten nicht viel geben können. Doch damit mußte ich rechnen. Hauptsache ist; daß ich Lust und Möglichkeit zur Arbeit habe. Gestern war ich bei Dr. Kühn und habe mich angeregt mit ihm unterhalten. E r forderte mich auf, öfters zu ihm zu kommen, was ich mal tun will. Morgen fahre ich nun nach Mahlis u[nd] anschließend nach Dresden, um mich endgültig abzumelden. Dresden, den 21. April 1947 In Mahlis habe ich mich wieder einmal satt gegessen, freilich nur durch Menge, nicht durch Güte dessen, was ich vertilgt habe. Zum Sonntag abend war R. H. bei mir. Sie will Kartoffeln für mich besorgen, was ich allen Grund habe dankbar anzunehmen. Luise Langendorf, 1945, A n m . 9. T h e o d o r Litt ( 1 8 8 0 - 1 9 6 2 ) , Pädagoge und Philosoph. 1 9 4 6 - 1 9 4 7 Professor für Philosophie und Pädagogik an der Universität Leipzig, danach an der Universität B o n n . 28 29

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Heute habe ich nun hier meine Abmeldungen vorgenommen. Morgen geht es nach Leipzig, zurück nach Leipzig, wo ich, wie ich hoffe, vorerst meinen Stall gefunden habe. Leipzig, den 24. April 1947 Unter Stürmen wird die wärmere Jahreszeit geboren. Mindestens an jeder Straßenecke verliere ich einmal meinen Hut. Er wird dabei ständig größer und findet immer weniger Halt auf dem Kopfe seines Herrn. In Dresden Laufereien, um die Formalitäten der Abmeldung zu vollziehen; in Leipzig ebenfalls und noch schlimmer. Heute nun habe ich es endgültig geschafft: Ich bin wieder Leipziger Bürger. Es ist etwas Eigenartiges um die Menschen der Großstadt. Man fügt sich ein in einen großen Strom und läßt sich tragen. Der Verstand ist dabei meist ausgeschaltet aus der Sphäre, die außerhalb der eigenen körperlichen Begrenzung ist. Man muß schon innerlich stark bewegt sein, um gegen die lähmende geistige Schlaffheit angehen zu können. Meistens aber ist es nur der Hunger, der innerlich wütet u[nd] gar noch stumpfer macht. Übrigens gibt es auch in Leipzig eine ganze Reihe von Dozenten, die dem Rufe einer Hochschule nicht dienen. Heute bin ich sogar einer Uschner-Figur 30 begegnet: Prof. Riemann 31 spricht über Methodik des Geschichtsunterrichts in der Oberstufe. Ich habe mir vorgenommen, diese Stunden möglichst oft zu besuchen; ich glaube, es wird zwar nichts zu lernen, aber vielleicht manches lehrreiche Kuriosum geben. Leipzig, den 25. April 1947 An der Straßenbahnhaltestelle traf ich Dr. Günzel. 32 Er war überaus freundlich und an meinem Geschick interessiert. Er macht nicht mehr den Eindruck des unnahbaren Chefs und sturen Paukers. Freilich fragt sich, welches der Bilder von ihm das richtige ist. Zum ersten Male war ich in der Oper. „Tiefland" 33 mit der Besetzung, wie ich sie bereits aus meiner früheren Leipziger Zeit kannte. Doch diese Welt ist mir fremd geworden. Sie ist mir eine Anstrengung geworden. Ich bin ihrer entwöhnt. Die dauernde Beanspruchung von Geist und Gefühl empfinde ich als Spannung. Ich kann nicht genießen, aber ebenso wenig verstehend erleben.

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Uschner war Dozent an der Heimschule Dahlen im Mai 1946. Dazu die Einträge vom 17.5., 20.5., 23.5. und 29.5.1946. 31 Robert Riemann (1877-1962), ab 1946 Direktor der Leibniz-Schule Leipzig, Professor für Geschichtsdidaktik mit Lehrauftrag an der Universität Leipzig. 32 Dr. Günzel, ehemaliger Lehrer von Gerhard Schulz. 33 „Tiefland", Musikdrama von Eugen d'Albert (1864-1932).

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Leipzig, den 29. April 1947 Im Institut für Kultur- und Universalgeschichte, in dem ich ständig arbeite, kam es heute für mich zum ersten Male zu regeren Gesprächen und Diskussionen. Es ist erstaunlich, mit welcher Voreingenommenheit und Blasiertheit man mir anfangs entgegenkommt. Gänzlich unwissenschaftlich argumentiert man gegen mich, tut mich in einer Weise ab, wie ich es überhaupt noch nicht erlebt habe. Freilich habe ich im Verlaufe einer Stunde immerhin den Wert meiner Gedanken veranschaulichen - wenn schließlich auch nicht überzeugen - können. Der Marxismus ist trotz aller Kritik bei den SED-Studenten undiskutierbare Voraussetzung. Man ist nur zu sehr gewohnt, eine Norm zu empfangen und jede Kritik an ihr als Ketzerei zu verschreien. Die anderen aber debattieren über Promotionsordnungen. Nach meinen Dresdener Erlebnissen will es mir immer fraglicher erscheinen, ob ich in der Studentenschaft überhaupt Berührungspunkte finden kann. Doch jetzt bin ich mutlos und müde. Freilich mag daran die nun bei ständigem Fehlen der Kartoffeln katastrophal mangelhaft gewordene Ernährung und das frühe Aufstehen (kein Phosphyll 34 mehr zu bekommen) mit schuld sein. Die Hungerkur dieser Tage übertrifft alles bisher Dagewesene! Dabei keine Aussicht auf Besserung, weder in nächster noch in absehbarer Zeit, nachdem die Moskauer Konferenz 3 5 ohne effektiven Erfolg beendet wurde und zumindest noch dieses Jahr hindurch der Status quo auf allen Gebieten unseres Lebens erhalten bleibt. Leipzig, den 30. April 1947 Nur so im Vorbeigehen habe ich mich wieder bei der Immatrikulationssachbearbeiterin nach dem Stande meiner Angelegenheit erkundigt. Ich wurde ziemlich vor den Kopf gestoßen, als ich erfuhr, der Russe habe alle Neuimmatrikulationen abgelehnt. Freilich wurde mir gesagt, daß ich noch keine Befürchtungen hegen dürfe, mein Fall werde einer erneuten Bearbeitung unterzogen, da es sich ja lediglich um eine Umschreibung handle. Eine Anfrage sei bereits an das Ministerium abgegangen, Antwort in der nächsten Woche zu erwarten. Doch ich habe nicht mehr die rechte Kraft, auf einen günstigen Ausgang zu hoffen. Das phlegmatische und stereotype Arbeiten des Ministeriums habe ich ja erfahren, so daß ich allen Grund habe anzunehmen, daß die Entscheidung der Besatzungsmacht - auch wenn es sich um einen Irrtum handelt - verbum non disputandum ist. Ich sehe alle Wege verschlossen. Ich bin rettungslos in eine Sackgasse geraten. Ein Zurück nach Dresden würde - selbst wenn ich es als Ausweg wünschte

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P h o s p h y l l war ein im D r i t t e n R e i c h weit v e r b r e i t e t e s Stärkungsmittel. 1947, A n m . 2 2 .

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- wohl kaum noch möglich sein. Ganz abgesehen davon, daß die erneute physische Beanspruchung einer Umsiedlung in dieser Hungerzeit für mich einfach zu viel ist. Ich weiß keinen Rat mehr. Dennoch merke ich, daß mich all das in der Tiefe eigentlich unberührt läßt. Die Gleichgültigkeit hält mich mit eisernen Fesseln, aus der mich sogar Schmerz u[nd] Enttäuschung nicht zu befreien vermögen. Oder besser: Es ist die körperliche u[nd] seelische Müdigkeit. Ich glaube, ich wäre in der Lage, dieses Dasein in ewiger Ausweglosigkeit aufzugeben, da der so mühsam errungene Optimismus wieder versiegt. Ich kann nicht mehr. Wie Bitterkeit nur kommt es über mich, daß ich denken muß, alle meine Bemühungen, meine Eltern aufzurichten, wären damit zu Hohn und Spott und Lüge geworden. Ich habe nicht konsequent gelebt. Doch das Leben ist ein Nichts für den, der im Tode ist. Leipzig, den 1. Mai 1947 Die Massen zogen zum Karl-Marx-Platz. Zum ersten Male seit zwei Jahren waren wieder Musikkapellen zu hören, die Militärmärsche spielten. Und unwillkürlich zwangen sie zum Gleichschritt. Was soll auch eine Kapelle an der Spitze eines Menschenzuges spielen? Manche glaubten, mit ständigen Wiederholungen der Internationale das Richtige zu treffen. Einige Kolonnen folgten Klampfengruppen, die sich Mailieder ausgesucht hatten. Freilich paßte das nicht recht zur zähen Bewegung der rote Fahnen und Transparente mit sich führenden Masse. Denn wo war hier noch mailiche Natur? Starke Polizeiaufgebote säumten den Platz, dessen schwarzes Gewimmel durch ununterbrochenen Zustrom immer gewaltiger wurde. Und in diesen ständig wachsenden Brei aus Menschen hinein sprachen von irgendwoher Redner, deren Stimmen aus den Lautsprechern klangen. Doch die meisten Menschen hörten kaum auf die Worte. Die neu eintreffenden Züge rissen nicht ab; ein Summen und Schallen war über der Masse. Fast niemand hatte keine papierne rote Nelke, das Zeichen dieses Tages, im Knopfloch stecken. Und immer noch liefen Frauen mit Kartons voller Abzeichen umher und machten Jagd auf die mit ungeschmücktem Revers. Vor mir standen am Rande des Bürgersteiges zwei ältere Frauen, die sich über das, was da vor ihren Augen vorbeizog, unterhielten. Die eine trug eine Papiernelke im Knopfloch ihres Mantels, während die andere keine angesteckt hatte. Da trat eine Abzeichenverkäuferin zu ihnen heran. Die bereits mit dem roten Papier versehene Frau kaufte sofort zwei Stück und überreichte eins davon ihrer Nachbarin. „Da, die schenke ich Ihnen. Ich selbst kaufe mir noch eine!" Die andere wehrte erst ab, sie habe bereits ein Abzeichen daheim, konnte schließlich jedoch nicht anders, als das Geschenk anzunehmen.

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Auf dem Marktplatz tönte eine Stimme aus dem Lautsprecher: „Dieser Tag gibt dem ganzen deutschen Volke Gelegenheit zu beweisen, daß es das Vertrauen der Welt verdient und geschlossen an dem Aufbau einer friedlichen Welt arbeiten will." Was mag wohl ein ausländischer Beobachter, derer es sicher manche geben wird, hierzu sagen? Ich glaube, daß er fragen muß, worin denn der Beweis liege? Im gewaltigen Pathos der Redner? Im Organisieren großer Kundgebungen mit roten Fahnen, Transparenten mit allen möglichen Parolen („Wir wollen einen deutschen Einheitsstaat") und dem begleitenden Tamtam? In dem geduldigen Mitlaufen und Mitsingen der Masse, die nun schon 14 Jahre hindurch das Gleiche tut? Nein, damit beweisen wir der Welt gar nichts, höchstens, daß es [das Volk] politisch weiterhin hörig sein will wie bisher. Der alte Geist ist nur verkümmert in den Deutschen, ein neuer noch nicht erwacht. Leipzig, den 2. Mai 1947 Es ist, als löse sich meine Müdigkeit. Heute erst spüre ich den Schreck, den mir die gestrige Mitteilung brachte. Ich bin einfach nicht mehr fähig, einen Brief zu schreiben, eine Zeitung zu lesen, überhaupt einen Gedanken zu fassen. Mein ganzer Körper ist von der Aufregung, der Verzweiflung durchpulst. Gestern war es Reflexion, heute fühle ich es: Ich weiß nicht mehr weiter; ich bin am Ende. Als ich heute morgen aufwachte, war ein Fünkchen Hoffnung in mir. Vielleicht kann ich mich diesen Sommer als freier Schriftsteller durchschlagen und mit dem nächsten Semester wieder ins Studium steigen. Aber nach wenigen Stunden hatte ich meine Zuversicht wieder verloren. Ich halte Warten nicht mehr aus. Ich kann einfach auch nicht mehr der Hilfe anderer Menschen vertrauen. Ich könnte wohl auch nichts mehr arbeiten, wenn hinter jedem Federzug die drückende Sorge steht. Leipzig, den 3. Mai 1947 Gestern war ich beim Dekan und habe ihm berichtet über den Stand meiner Angelegenheit. Er bestätigt offenbar meine pessimistische Betrachtung. Jedenfalls riet er mir, selbst nach Dresden zu fahren, um im Ministerium um erneutes Vorstelligwerden bei der Besatzungsbehörde „zu bitten". Ich muß also bitten. Von der Überzeugungskraft meiner Worte und der Energie meines Auftretens hänge es ab, ob das Mögliche verwirklicht werde. Freundlicherweise will er mir sogar die Fahrtkosten ersetzen lassen. Heute war ich bei der Immatrikulationsbearbeiterin, die gerade ein Ferngespräch mit Oberregierungsrat Häntzsche angemeldet hatte. Sie riet mir, bis Montag mit meiner Fahrt zu warten.

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Ich glaube, daß ich wohl werde fahren müssen und daß dann meine Fahrt wenig Aussicht auf Erfolg haben wird. Es ist so schwer ohne Protektion weiterzukommen. Wahrscheinlich ist es mir beschieden, über einen engen Kreis nicht hinauszukommen. Wenn ich wieder als Neulehrer nach Mahlis zurückkann, muß ich vielleicht noch froh sein. Ich bin mir heute klar, daß ich kaum als Autodidakt, sondern nur in umfassendem und intensivem Studium den Weg des Wissenschaftlers gehen kann. Ablehnung meines angestrebten Studiums bedeutet für mich Aufgabe dieses Weges. Ich müßte mich beschränken, so ich das Leben noch wage. Leipzig, den 4. Mai 1947 Dr. Kühn, den ich heute vormittag aufsuchte, hat mir wieder etwas Mut gemacht. Er sieht durchaus keine Hoffnungslosigkeit meiner Lage. Vor dem Weg nach Dresden liegt noch der zum Rektor, der immerhin Rat geben kann. Ich darf mein Studium, um das es mir mit hohem Ernst zu tun ist, nicht kampflos aufgeben. Ich bin also auch weiterhin gewillt, fest zu meiner Absicht zu stehen und alle Widerstände zu überwinden trachten. Und nun sitze ich an diesem kalten Sonntagabend frierend in meinem Zimmer, wie ich in Dresden so manches Mal gesessen habe. Reinhold Schneiders „Las Casas vor Karl V" 3 6 habe ich gelesen. Mag man diese Erzählung auch als ein typisches Aposteriori unserer Zeit ansehen, so bleiben doch die gewaltigen Worte und die Größe, die Schneider dem spanischen Dominikaner verleiht, in mir haften als tief ehrliches Streben für die großen Aufgaben unter den Menschen. Es verschwindet die Zeit, in die der Autor sein Gemälde gestellt hat. Die Worte Las Casas, aus christlichem Geiste heraus gesprochen, gelten der Welt und vor allem denen, die in sich die Kraft haben aufzubauen. Mag auch Las Casas in manchem eher in unsere Zeit passen als in die Karls V., so ist doch die Redlichkeit des Zweckes offenbar. Und das muß entscheiden. Es verschmelzen Religionen und Weltanschauungen, wenn sie von einer hohen Ethik her verstanden werden und wenn die Ethik über allem steht. Leipzig, den 6. Mai 1947 Mein Fall ist erneuter Bearbeitung durch die Universität unterzogen worden, eine Anfrage an das Ministerium bereits abgegangen. Trotzdem hatte ich mich nach langer Unschlüssigkeit heute morgen für eine Fahrt nach Dresden entschieden. Doch sie wurde dadurch vereitelt, daß ich keine Fahrkarte mehr bekam. Es trat der wohl gewiß nicht alltägliche Fall ein, daß die Fahrkartenma-

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Reinhold Schneider (1903-1958), Schriftsteller. D i e Szenenfolge „Las Casas vor Karl V" erschien 1938. Hierin prangerte Schneider Unterdrückung, Rassenwahn und falsch verstandene Religiosität an.

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schine plötzlich nicht mehr funktionierte, die einzige auf dem ganzen Hauptbahnhof, die heute morgen in Betrieb war. Es ist, als ob mit dem langsam wärmer werdenden Wetter auch meine Lebenskräfte erwachen. Ich spüre nur noch den Hunger und den Drang etwas zu tun. Nicht einmal müde bin ich heute abend. Leipzig, den 10. Mai Heute fahre ich nun nach Mahlis, um mich endlich wieder einmal satt zu essen. Ich wünschte nur, daß ich in der nächsten Woche dann mit Ruhe und Intensität an ernstliche Arbeit gehen kann. Bis jetzt ist sie durch Aufregung [und] qualvolle Zweifel an meiner endgültigen Zulassung immer wieder vereitelt worden. Es treten immer wieder Ereignisse ein, die für neue Aufregung sorgen. So ist nun die Immatrikulationssachbearbeiterin, die meinen Fall genau kennt, plötzlich schwer erkrankt. In der Universitätsverwaltung ist jetzt niemand, der über den Stand meiner Angelegenheit Auskunft geben kann. Doch vielleicht wird mir ein Sonntag an frischer Landluft gut tun. Leipzig, den 13. Mai 1947 Zwei Tage war ich in Mahlis. Ich bin satt geworden und bin auch für die nächste Woche die Sorge des Hungers los. Freilich habe ich fast die ganze Zeit daheim an der elektrischen Heizplatte zugebracht mit Kochen. Die Landluft hat mir wohlgetan. Ich fühle mich überaus wohl, wenn ich die Großstadt für einige Zeit verlassen kann. Es gibt nichts Schöneres, als der satten Ordnung und der ruhevollen Arbeit, dem stillen und geschäftigen Leben auf einem Bauernhof zuzuschauen. Der Mensch ist nur Mensch, wo er über ein unantastbares Reich seiner selbst verfügt. Und es ist schön, dieses Reich ständig zu erweitern und an seiner Festigung und Sicherung zu arbeiten. Wurzeln braucht der Mensch, an denen er fest werden kann, und einen Boden, in den er sie zu treiben vermag. Es ist mehr, Herr in der Enge und Kleinheit zu sein, als Stäubchen in der großen Weite, Stäubchen unter Staub. Die Fahrt war anstrengend, vor allem infolge der nahezu hochsommerlichen Hitze und Trockenheit. Zu allem Überfluß hat die doppelte Sommerzeit 37 den ganzen Tageslauf durcheinander gebracht. Abends ist es noch warm und hell, daß man kaum schlafen kann. Ich habe mich noch nicht erholt von der kleinen Reise, bin müde zum Umfallen. Hinzu kommt die Sorge um meine endgültige Zulassung. Sie ist immer noch nicht ausgesprochen. 17

Von 1947 bis 1949 gab es in den Besatzungszonen in Deutschland zwischen dem 11.5. und 29.6. die sog. doppelte Sommerzeit, d.h. dass die Uhr zwei Stunden vorgestellt wurde.

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Leipzig, den 15. Mai 1947 Himmelfahrtstag in brütender Hitze. In der Nacht kam Papa aus Hamburg zurück, schwer beladen und weniger ausgehungert als ich. Nun habe ich bald zwei Zivilanzüge - zwei Jahre nach Kriegsende kann ich endlich die Uniform ausziehen. Das Bild der englischen Besatzungszone, das Papa gibt, ist durchaus nicht rosig. Man ist manchmal versucht anzunehmen, daß unsere Gegner auch an uns Wehrlosen noch als Feinde handeln. - Doch auch das würde uns nicht der Aufgabe entpflichten, nach einem neuen Leben zu streben. - Im übrigen glaube ich, daß trotz allem eine deutschfeindliche Grundausrichtung der Siegervölker im Kollektivum nicht vorhanden ist. Wie stets im Leben der Völker ist jeder politische Akt nur die Tat einer Kräftegruppe, die zum Zuge kommt. Darum gründet sich mein Vertrauen auf die Völker, in denen ein freies Spiel aller politischen Kräfte möglich ist; in ihnen erhebt sich die Stimme der Vernunft. Mama ist in Hamburg geblieben und wird erst später zurückkommen. Großvater ist schwer krank, so daß täglich mit dem Ende seines Lebens zu rechnen ist. In den Jahren, die ich ihn nicht mehr sah, ist mir sein Wesen sehr nahe gekommen. Ich wünschte, ihm die Torheiten früherer Jahre abbitten zu können. Morgen früh werden Papa und ich gemeinsam von Leipzig abfahren, Papa nach Mahlis, um wiederum Schwerstarbeit aufzunehmen, und ich nach Dresden, um endlich Klarheit über mein Studium zu gewinnen. Leipzig, den 17. Mai 1947 Gestern war ich in Dresden. Ich betreibe vorerst mein Studium weiter. Meine Angelegenheit wird erneut der Besatzungsbehörde vorgetragen. Heute war Studentenversammlung. Die Diskussion wurde zwar nicht immer mustergültig betrieben, jedoch kann man sich mit den Ergebnissen im großen und ganzen einverstanden erklären. Ein- oder zweimal mag ein Einwurf des Rektors dazu beigetragen haben. Im Winter können vier Studenten der Universität Leipzig Freiplätze an schweizerischen Universitäten erhalten. Ich wünschte mir, auch einmal im Laufe meines Studiums zu solch Glücklichen zählen zu dürfen. Doch bis dahin ist noch ein weiter Weg, der nur über hervorragende Leistung führt. Leipzig, den 20. Mai 1947 Wieder einmal ist mein Tabak zu Ende. Ich empfinde diesen Mangel stärker als Hunger. Ich brauche den Reiz. Und das scheint mir auch der Grund zu sein, warum mein Leben jetzt ohne rechte Kraft dahinfließt. Es fehlt mir ein Reiz, das Neuartige, mich dürstet nach Wildem.

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Leipzig, den 21. Mai 1947 Der Schöpfungstag ist nicht zu Ende! Edgar Dacque 38 gibt mir eine Darstellung dessen, was ich schon immer empfunden, wenn auch nie in dieser Stärke und Klarheit. Jetzt wird mir auch bewußt, wo mein zuletzt immer wieder siegender Optimismus herrührt. Aus der metaphysischen Ahnung, die das Jetzt nur als lässiges Spiel zu nehmen wagt. Hier, an der Grenze von Wissenschaft, Philosophie und Religion oder besser: in der Einheit dieser drei, die Dacques „Urwelt, Sage und Menschheit" 39 offenbar macht, spüre ich eine Wende meiner eigenen geistigen Entwicklung sich vollziehen. Nicht so, daß ich morgen neue Wege sehe. Vielleicht wird sie gar Jahre gebrauchen. Doch meinem Blick hat sich eine neue Weite aufgetan, die zu erfassen ein Leben nicht zuviel ist. Zum Anfang muß ich aussprechen: Ich glaube den großen Gedankengängen Dacques. Ich bin nicht überzeugt worden. Nein, es ist, als spräche hier jemand von Dingen, die er kennt u[nd] von denen ich geträumt habe. Heute war kein übler Tag: Unerwartet ist mir ein mächtiger Fischzug mit Büchern geglückt, bei dem mehr als all mein augenblicklich verfügbares Geld draufging. Leipzig, den 22. Mai 1947 Großvater ist vor einer Woche gestorben. Ich habe bisher nicht an sein bevorstehendes Ende glauben können. Nun ist es doch eingetreten, ohne daß er die trostlose Gegenwart durchstanden hätte. Und gerade er hätte es verdient [gehabt], noch eine Zeit der Hoffnungen zu sehen, für die Menschheit wie für seine Familie. Vor allem hätte ich ihm so viel abzubitten. Fast zur gleichen Stunde, da ich diese Nachricht über Papa erhielt, wurde mir mitgeteilt, daß ich endgültig an der Universität zugelassen bin. Diese Sorge ist also von mir genommen. Übermorgen fahre ich nach Mahlis. Bis dahin wird Mama hoffentlich auch zu Hause sein. Nun hat uns unsere große Stütze in Hamburg verlassen, und für mich ist Hamburg heute eine Stadt wie viele andere Städte auch. Nur wenig mehr als Erinnerungen verbindet sich mit ihr.

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Edgar Dacque (1878-1945). Paläontologe und Theosoph. Dacques Verdienst liegt in der Weiterentwicklung der Evolutionstheorie von Charles Darwin um Aspekte der Metaphysik. 39 Dieses Werk war 1925 erschienen.

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Mahlis, den 25. Mai 1947, Pfingstsonntag Mama ist wieder daheim! Der Sonnabend abend glich einem Weihnachtsfest. Zum ersten [Mal] seit zweieinhalb Jahren habe ich wieder meinen eigenen Zivilanzug anziehen können. Und in ihm bin ich ein anderer Mensch. Ferienstimmung ist um mich. Wir drei sind jetzt wieder beisammen, neu gekleidet, ausreichend zu essen und zu rauchen. Am Sonnabend vormittag befaßte ich mich mit den letzten Seiten von Dacques Buch. Sie sind die schönsten. „Das Maß heißt nicht Gut und Böse, sondern Liebe zu Gott oder zu sich." Es ist die gewaltige Erkenntnis, die von „unserem physisch orientierten spätzeitlichen Diesseitssinn" sprechen läßt, die neben die äußere, oder besser: über die äußere eine innere Erfahrung setzt, die schließlich in der Seele das All, dem Gott, in dem das Ich wurzelt, den metaphysischen Urgrund erblickt. Doch entspricht nicht die Entwicklung vom Mythischen zum „physisch orientierten Diesseitssinn des Menschen" der Ausbildung des Intellekts? Doch der Weg geht weiter, und das ist das Entscheidende, über die Naturwissenschaften hinaus zur bewußten Anerkennung des metaphysischen Seins. Und hierfür ist das Werk Daques selbst ein Beispiel. Es wird die Zeit kommen, da die heute so häufige naturwissenschaftliche Einseitigkeit des Denkens, das zu immer weiterer Spezialisierung führt, nur noch eine Schau ist; es wird die Zeit kommen, da die Erfüllung und Vervollkommnung der Naturwissenschaften auf dem Wege des Bewußtseins die Wurzel der Mystik entdeckt hat. Der Intellekt vermag Erkenntnis nur mit Hilfe der Geschichte zu schöpfen, Geschichte, die im Bereich des eigentlich Historischen - d. h. im Zeitraum des aus unserer eigenen Erfahrungssphäre verständlichen Geschehens - Geschichte des Bewußtseins, im Gesamtbereiche des Werdens jedoch Geschichte der Seele ist. Mahlis, den 27. Mai 1947 Ich wage es, ein Gutes trotz all unserer Not in dem Schwebezustand zu sehen, in dem wir uns befinden, solange der endgültige Frieden noch nicht geschlossen ist. Die schroffen Parteiungen des letzten Krieges müssen überwunden werden. Der Frieden kann nur dauerhaft sein, wenn er neue Wege eröffnet, wenn nicht nur die militärischen Kämpfe beendet werden, sondern politische, wirtschaftliche und geistig-kulturelle Auseinandersetzungen in den Fluß friedlicher Entwicklung münden. Und das erfordert Zeit. Noch ist die Menschheit nicht so weit, daß ein Schlußstrich unter diese Zeit des Ringens auf allen Gebieten auch Beginn eines neuen Kapitels in ihrer Geschichte sein könnte. Dieser Frieden muß wachsen.

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Mahlis, den 31. Mai 1947 Helle, warme Nächte! Doch in mir ist etwas tot, so daß ich den Frühling kaum empfinde, die Wärme des Tages mich nur müde macht. Ich kann nicht lieben. Ich kenne nur noch Schmerz und Trauer, und keine Freude vermag länger mich zu erheben. Und wieder zieht eine neue Sorge drohend auf. Unsere kleine Wohnung in der Schule, in der wir nach diesem strengen Winter etwas heimisch geworden sind, wo ich mich wohl fühle, wenn ich auf Tage die Großstadt verlasse, ist in Gefahr uns genommen zu werden, wenn nicht in diesem Monat, dann im nächsten. Wohin dann? Niemand fragt, wie groß unser Elend sein wird. Angst vor Hunger und Not stellen sich immer wieder in neuer Gestalt dar. Wann werden wir aus dieser schlimmen, sorgenvollen Zeit einmal heraus sein? D a ß man diese Frage nur mit verzweifelter Resignation übergehen kann, ist das Schlimmste von allem. Das Spiel des Lebens verursacht Schmerz und Unlust, und dennoch fliehen wir es nicht. Es ist die Hoffnung auf eine neue, freie Sphäre des Daseins, die in uns wohnt und, obgleich durch nichts bewiesen, weiter in uns wirkt.

Mahlis, den 1. Juni 1947 Barbarische Hitze. 45° lassen selbst die fanatischsten Sonnenbadnehmer in kühlenden Schatten flüchten. Der Weg der Methodik ist der Aufbau des inneren Gefüges, den es aufzudecken gilt. Methodik muss somit den Gedanken der Rekonstruktion verfolgen. Forschung ist ihre Voraussetzung.

Mahlis, den 2. Juni 1947 Die schönen Tage von Aranjuez sind zu Ende. 4 0 In drückender Schwüle geht es wieder zurück in die Großstadt. Die nächsten Wochen werden ein gewaltiges Maß an Arbeit bringen. Doch der Hunger ist fürs erste wieder einmal gebannt. Diesen Monat über werde ich durchhalten ohne schwere Sorgen. Leipzig, den 5. Juni 1947 Gestern abend kam Mama ganz überraschend zu mir. Nun liegt Großmutter im Sterben. Mama hat sich aufgemacht, um trotz aller Strapazen ein zweites Mal nach Hamburg zu fahren. Nach einer gewitterdonnernden Nacht hat sie mich heute morgen wieder verlassen. 40

Zitat aus „ D o n Carlos" von Friedrich Schiller.

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Ich habe den Tag über zu Hause gesessen und intensiv gearbeitet. In den letzten Tagen war bei der beispiellosen Hitze nicht daran zu denken. Mein Referat zur Frage der mittelalterlichen Landesherrschaft muß in vier Wochen fertiggestellt sein. Der größere Teil der Arbeit liegt noch vor mir. Leipzig, den 8. Juni 1947 An diesem Sonntag nachmittag erwache ich aus meinem Mittagsschlaf, und es ist, als sei dies das Erwachen aus einem unendlich langen Schlaf. Im Zimmer nebenan spielt mein Wirt Klavier, daß ich nicht anders kann als mitsingen. Doch mit dem Singen allein ist es nicht getan. In mir schlägt eine Flamme hoch, die mich im Kreise drehen lassen möchte mit all dem was Leben ist. Ich tauge im Grunde doch nicht für dieses Mönchsleben in der Klause, das ich in diesen Monaten führe. Immer wieder drängt einmal diese Kraft sieghaft ins Bewußtsein, die den Dichter ausrufen läßt: „Freude, schöner Götterfunken,....". 41 Wo sind die Menschen, die ich umfangen kann? Ich möchte wieder einmal von ganzem Herzen froh sein und das aller Welt zeigen, wieder einmal in der Stimmung sein, die allem Schweren dieses Daseins gegenüber nur ein lustvolles Lachen aufbringt, die im Schwung alle Tore der Welt erstürmt und im Fluge die höchsten Gipfel dieses Lebens nimmt. Freudig leben, ohne Wehmut, Sorge und Not! Alle Schalen, die das Leben reicht, sorglos leeren! Dieses Leben ist ja ein großes Ganzes, das man nur erfüllt, wenn man all seine Sphären durchstreicht, nie stehen bleibt und auf seinem Wege alles Erleben, alles Dargebrachte zu einem Trünke vermischt. Er wird köstlich sein. Doch es bedarf der Freunde; denn ohne sie ist der herrlichste Trunk nichts anderes als Flüssigkeit. Leipzig, den 10. Juni 1947 Große Historiker, die aus innerem Erleben heraus Geschichte zu schreiben vermögen, sind rar geworden, vor allem auch jene, die aus der Erkenntnis ein eigenes Weltbild zu formen vermögen, am Stoff zur Persönlichkeit werden, die sich ständig in Worten und Taten zeigt. Man findet heute entweder voreingenommene platte Betrachter, die nichts anderes wollen, als irgendwelche Thesen mit geschichtlichen Belegen „beweisen", oder jene, denen jedes Gefühl für Geschichte und Bedeutung des historischen Werdens überhaupt abgeht. Ich meine damit die Menschen, die mit erstaunlicher Unverfrorenheit alles zu vergröbern wissen, so daß alles Werden vor ihnen zuletzt entsetzlich zusammenschrumpft zu einer wesenlosen Bewe41

Gedicht von Friedrich Schiller, im 4. Satz der 9. Sinfonie von Ludwig van Beethoven vertont.

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gung in der Zeit oder, was ebenso schlimm ist, zu einer Folge von Ereignissen gleich den Alltäglichkeiten im Hinterhaus. Doch das sind die Menschen, auf die der selbstbewußte Historiker hinabschaut. Er ist sich selbst genügend in seiner Überlegenheit. Doch mit welchem Recht? Auch sein Werk ist leblos. Ich habe den Eindruck, als bestünde es nur im Ablesen und Abschreiben und fleißigem Zusammenstellen. Wehe, wenn etwas Neues auftaucht, von dem kein Wort geschrieben steht. Es existiert einfach nicht. Doch es gibt noch Ausnahmen! Zu ihnen gehört Professor Kühn, der erst vor einigen Wochen aus Dresden hierher gekommen ist. 42 Leipzig, den 12. Juni 1947 Gestern traf ich das erste Mal mit dem Vorsitzenden unseres Studentenrates zusammen. Er hatte mir eine Karte zu übergeben, die von Dresden aus an ihn gelangt ist. Auf meinen Bericht in der „Göttinger Universitätszeitung" 43 hin wendet sich ein Kriegsgefangener aus England an mich mit der Bitte um Briefwechsel.44 Ich habe mich sofort hingesetzt, um ihm eine Antwort zu geben, um so das Meine dazu beizutragen an der geistigen Überwindung des Schlagbaumes, den das Schicksal zwischen Deutsche gelegt hat. Leipzig, den 15. Juni 1947 Zur Feier des Sonntags ziehe ich heute zum ersten Male meinen guten neuen Anzug an. Aber der neue Habitus ist etwas Ungewohntes. Ich kann mich kaum ungezwungen bewegen. Jede Faltung der Hose versetzt mir einen Stich. Es ist gerade, als sollte dieser Anzug Jahrzehnte hindurch seinen Glanz behalten. Wie sehr habe ich erst geschwankt, ob ich ihn tatsächlich heute anziehen solle, 42

Johannes Kühn (1886-1987), Historiker, 1925 Privatdozent an der Universität Leipzig, 1927 a.o. Professor an der T H Dresden, 1928-1947 o. Professor an der T H Dresden, 19471949 o. Professor an der Universität Leipzig, 1949 Wechsel an die Universität Heidelberg. 43 Siehe 1947. Anm.26. 44 Die Karte datierte vom 5.5.1947. D e r Text lautete wie folgt: „Sehr geehrter Herr Schulz! In der Göttinger Universitätszeitung las ich hier in England als Kriegsgefangener Ihren Artikel über die Technische Hochschule Dresden. Ich selbst nehme hier an einem pädagogischen Kursus für Kriegsgefangene teil und interessiere mich deshalb sehr für Ihre Arbeit in der pädagogischen Fakultät in Dresden, zumal ich selbst gebürtiger Dresdener bin. Es würde mich sehr freuen, wenn Sie mir einige Aufklärung in dieser Hinsicht bieten könnten. Während wir hier über die Westzonen einigermaßen gut informiert werden, fehlt uns fast alle Nachricht über den Osten. Ihnen wird es vielleicht umgekehrt gehen, deshalb ist ein Briefwechsel begrüßenswert. Mit herzlichem Gruß Günter Jahren." B A Koblenz. N1312, Bü. 43.

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ob Sonntag und Konzertbesuch ausreichende Argumente seien, es nicht bei dem zweiten neuen Anzug bewenden zu lassen! Erst der herrliche Sonnenschein nach trüben Tagen ließ mich zugunsten des besten all meiner Stücke entscheiden. Prof. Kühn in einer seiner letzten Vorlesungen: Kulturen sind durch Grundprinzipien bestimmt, die ihnen ihr Wesen aufdrücken und Wirkung auf die ganze Welt haben. Sie sind Ausdruck einer Zeit, durch die sie lebensfähig werden. Leipzig, den 16. Juni 1947 Gestern in der Thomaskirche zu Haydns „Schöpfung". 45 Das war es, was ich brauchte und was ich öfters brauchte. Doch noch nie empfand ich so stark wie gestern den Wunsch, bequem zu sitzen und ganz für mich allein zu hören. Schon vorher hatte mir Frau Kindscher 46 - freilich andere - Musik vorgesetzt: einige Schallplatten mit amerikanischen Schlagern, denen wir in kurioser Haltung ebenso aufmerksam lauschten, wie man das sonst wohl nur bei Symphonien tut. Wir sind nicht gewohnt, in Schlagern eine Tiefe zu suchen. Gemeinhin verabscheue ich sie. Doch sie haben ebenso ein tiefes Wesen, in dem sich der Volksgeist offenbart, in dem sie zur Welt kommen, wie - jawohl wie ein Volkslied. Die Sehnsucht ist die am häufigsten anzutreffende Grundform. Doch wie anders ist sie in einem englischen Schlager oder etwa in einem amerikanischen als in einem deutschen. Was bei uns tief erschütternde Wehmut ist - häufig in schmelzende Süßigkeit mündend - , Trauer um das Ersehnte, das ist dort voller Festigkeit, die Trauer hat dort etwas fast Selbstverständliches an sich. (So ist es nun einmal!) Kein Selbstverzehren liegt in ihr. Auch Schlager sind echt. Leipzig, den 18. Juni 1947 Jetzt bin ich so lange in Leipzig, wie ich insgesamt nur in Dresden war. Nur, daß ich mich anders hier fühle, und mit anderem Mut an die Arbeit gehe, nie die Angst vor dem Stoff habe, ist selbstverständlich. Meine Befriedigung ist schon so weit fortgeschritten, daß mich auch eine Beendigung des Studiums nach sechs Semestern mit anschließender Lehrtätigkeit nicht schrecken könnte. Aber immer wieder taucht lähmend die Frage auf nach dem Ziel meines Daseins. Und immer nachdrücklicher heischt sie Antwort. 45

Joseph Haydn (1732-1809), Komponist. Das Oratorium „Die Schöpfung" wurde 1801 uraufgeführt. 46 Frieda Kindscher-Tränckner (geb 1898), Konzertpianistin und Mutter von Luise Langendorf.

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Ebenso wie in Dresden finde ich nur allmählich Eingang in den Kreis der Kommilitonen. Doch dürfte er heute größer sein als er es zuletzt in Dresden war. Das danke ich vor allem dem immerhin in einigen Bahnen gleichlaufenden Interesse. Vor einen größeren Kreis bin ich noch nicht hingetreten. Doch mich dürstet auch gar nicht danach. Meine Arbeit ist reichlich und füllt mich bis zum Äußersten aus. Bisher habe ich einigermaßen zu essen gehabt dank meines Pfingstbesuches daheim. Doch seit einigen Tagen habe ich nichts mehr zu rauchen. Mein Brotvorrat ist aufgebraucht, und meine Kartoffeln reichen nur noch einige Tage. Nur da es fraglich ist, ob Mama bis zum kommenden Wochenende zu Hause sein wird, hält es mich davon ab, bereits in den nächsten Tagen nach Hause zu fahren. Doch das nächste Wochenende muß es unbedingt sein.

Leipzig, den 19. Juni 1947 Fast täglich sehe ich mich in eine philosophische Diskussion verstrickt. Ich kann ihnen nicht entgehen, obwohl ich sie nicht leiden kann. Man begibt sich in die Sphäre des Abstrakten, ohne Begriffe klar gefaßt zu haben. Diese Ausflüge sind völlig wertlos. Man kann entweder nur im Z u h ö r e n lernen, d. h. auch als Fragender, oder mit eigenen schon sich festigenden Kenntnissen und Meinungen diskutieren. In einem philosophischen Gespräch sollte man nur wenig sprechen, vielmehr die Dinge, die einen umgeben, betrachten, gemeinsam anschauen und deuten. Es wird meistens nicht gewußt, daß Philosophie dem Religiösen und dem künstlerischen Erleben näher ist als der Wissenschaft.

Leipzig, den 24. Juni 1947 Eben komme ich aus Mahlis zurück. Mama ist wieder daheim; Großmutters Zustand ist wieder besser. Nur wenig Lebensmittel habe ich diesmal mitbringen können. Um Papa und Mama ist es schlecht bestellt. Drohender denn je steht in den nächsten Wochen das Gespenst des Hungers vor uns. A m vergangenen Freitag wurde mir ein auserlesenes Geschenk dargebracht: Ein Konzert für mich von Kindschers. Diese G a b e kann ich ihnen nicht vergessen. Ich kann nicht anders als den Künstler beneiden, der in Vollendung zu sagen vermag, was alle logischen Systeme der Philosophie verblassen läßt. O b Marx, ob Spengler, ob Pareto 4 7 - und ihrer mögen noch mehr sein; - sie alle gehen zuletzt vorbei an der Größe des Historischen, das in der Veränderung gegeben ist.

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Vilfredo Pareto (1848-1923), italienischer Ö k o n o m und Soziologe.

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Man muß zwischen Zustand und Sein unterscheiden, erkennen, daß die formelhafte Darlegung der Verhältnisse in einem bestimmten Zustande innerhalb der Geschichte letztlich doch nur deskriptiven Charakter besitzt, aber keine gesetzesmäßige allgemeine Gültigkeit. Das Sein ist nur zu begreifen, zu begreifen als das Metaformale der sich in der Entwicklung verändernden Zustände. Leipzig, den 25. Juni 1947 Jeden Morgen entflammt die aufgehende Sonne die gelbrote Ziegelwand gegenüber meinem Fenster, die einzige Wand, die von einem Hause übrig blieb. Und es ist dann, als fände die Feuersbrunst Auferstehung, die hier gewütet haben mag, als fingen die schweigenden Trümmer plötzlich mit entsetzlichen Gebärden zu reden an, zu schreien. Mit steigender Sonne verblaßt das Glühen und die Farben fallen zurück in ihre öde, leblose Fahlheit. Auf dem Schutthaufen, am Fuße der Mauer klettert jetzt eines Mannes Gestalt in grauem Drillich herum. Bedächtig, fast matt, sucht sie Steine zusammen und schichtet sie am Rande des Bürgersteiges auf. Leipzig, den 27. Juni 1947 Die Hitze dieser Tage trieb in der letzten Nacht einiges Ungeziefer aus seinem Versteck. Es scheint mir, als hätte ich Wanzen in meinem Zimmer. Mein Wirt war gewiß nicht angenehm überrascht. Jedoch erschüttert ihn die neue Sorge zu den vielen Sorgen unserer Zeit nicht sonderlich. Man geht ihnen zu Leibe, läßt sich aber nicht aus dem eigenen Geleis werfen. Zum ersten Male sprach er heute mir gegenüber von einer Arbeit, an der er seit Jahren schreibt: Paläographie. Die Ergebnisse seiner Forschungen sind für mich nicht im Handumdrehen nachprüfbar. Die aufgestellten Thesen jedoch sind gewaltig. Er stellt alle unsere abendländischen Schriftzeichen als aus ähnlichen Mutterfiguren entsprungen dar, die aus den geometrischen Grundformen Dreieck, Viereck, Kreis gebildet wurden und die in ihrer Vielfältigkeit Welt und Kosmos erfüllen. So stellt sich die Entstehung der Schriften - von den germanischen Runen bis zu den verschiedenen Minuskeln - als das menschliche Erleben der Urformen und Urprinzipien der Welt dar. So dürften Schriftzeichen in ihrer Ursprünglichkeit vielleicht als metaphysische Symbolismen angesprochen werden. Das würde gewiss eine gewichtige Stützung für Dacques Hypothese 48 bedeuten. Herr Buchholz aber geht noch weiter. 48

Dacque hatte behauptet, dass der Mensch von jeher eine Sonderstellung in der Schöpfung eingenommen und bereits im Erdmittelalter existiert hat.

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In den demotischen Hieroglyphen Ägyptens sieht er die gleichen Gestalten, die Sigmund Freud 49 als Traumbilder bezeichnet und beschreibt. Noch niemals ist mir die geheimnisvolle Verwobenheit in Menschheit und Kultur so deutlich geworden wie nach dem heutigen Gespräch. Luise 50 hat mir bereits seit längerer Zeit einen günstigen Quartierwechsel angeraten, zu dem ich jetzt fest entschlossen war. Doch mein Entschluß ist ins Wanken geraten. Könnte ich hier vielleicht die Entstehung umwälzender Gedanken aus unmittelbarer Nähe miterleben. Leipzig, den 29. Juni 1947 An diesem Sonntag fand ich für einige Stunden von der Arbeit weg. Im Schauspielhaus, Robert Ardreys „Leuchtfeuer" 51 . Wahrhaftig, Ardrey hat in uns Menschen von heute hineingesehen. Und er hat eine Antwort mit unwiderlegbarem Optimismus all denen erteilt, die an unserer Zeit verzweifeln wollen. Alle Probleme, die die Menschheit angreift, werden gelöst. In ihrer Entwicklung bewegt sie sich von Stufe zu Stufe eines höheren Bewußtseins. Gut und geistvoll dargelegt! Doch ein Problem sieht Ardrey nicht, oder behandelt es wenigstens nicht: Was soll der einzelne Mensch tun, der einen schier endlosen Weg des Hungers und der Not geht, der mit einem hohen Bewußtsein begabt ist, an dem jedoch die von Tag zu Tag größer werdende Entbehrung mehr und mehr zehrt, der sich eingepfercht sieht in riesigen Mauern des Zwanges, die gerade eine einzige Lücke für den Weg seines Tun und Handelns lassen. Die Menschheit wird mit allen Problemen fertig, die sie angreift, daran zweifle ich nicht. Heute mag es sogar möglich sein, förmlich mit einem Druck auf den Knopf auf den ganzen durchorganisierten Apparat der menschlichen Gemeinschaft möglicherweise sogar den Krieg aus der Welt zu schaffen. Aber jedes gelöste Problem gebiert ein neues. Wird der einzelne mit dem Problem unserer Zeit fertig? Hier jedenfalls kann es kaum Erfinder und Bahnbrecher geben. Doch das Spiel hat mir gefallen. Als einige Zeit dem Theater Entwöhnter habe ich nichts auszusetzen. Nur die zunehmende Formlosigkeit im Publikum. Freilich mag die Hitze hierzu beitragen. Alte Damen in antiquierten Abendkleidern, junge Burschen in salopper Eleganz der Straße, die sich nach Dunkelwerden im Zuschauerraum ihre Jacken 49

Sigmund Freud (1856-1939), österreichischer Arzt und Psychologe, Begründer der Psychoanalyse. D i e Deutung von Traumbildern besaßen für Freud einen zentralen Stellenwert. 50 Luise Langendorf, 1945, Anm. 9 51 Robert Ardrey (1908-1980), amerikanischer Dramatiker. Das Stück „Leuchtfeuer" („Thunder Rock") wurde in den Nachkriegsjahren oft gespielt und auch als Hörspiel im Rundfunk gesendet und diente der „moralischen Aufrüstung", indem es den Menschen eine gute Zukunft in Aussicht stellte.

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ausziehen, neben dem Arbeiter oder Angestellten oder Geschäftsmann, der jetzt genügend Geld hat, sich an Stelle des sonntäglichen Kinobesuches auch einmal eine Theatervorstellung zu leisten. Das ist schlimmer als ausgefranste, durchgelaufene Teppiche auf Treppen und in Gängen, daß man sich fragen muß, warum gehen diese Leute wohl zu diesem Stück. Was mir am Theater nicht gefällt, ist das Publikum. Leipzig, den 6. Juli 1947 Die einsamen Sonntage sind furchtbar. Vor allem, weil trotz aller Lust zur Arbeit infolge des unbezwingbaren Hungergefühls ernstlich gar nicht daran zu denken ist. Gestern habe ich mich daher um ein Brot vom schwarzen Markt bemüht. Doch die Preise sind viel zu hoch für mich. Aber es gibt noch Menschen in dieser Zeit, deren menschliches Fühlen größte Beachtung abnötigen muß. Eine Frau, von der ich glaubte, daß sie mir Brot verkaufen könne, die aber, wie sich zeigt, über dergleichen nicht verfügt, teilt mit mir ihre Mahlzeit und gibt mir noch einige Marken ab. Sie hat zwei erwachsene Söhne. Und sie sagt in dieser Zeit: „Ich habe ein überfließendes mütterliches Herz und habe zu wenig Kinder." Da ist mir die große Unbegreiflichkeit des Muttertums aufgegangen. Leipzig, den 8. Juli 1947 Hunger! Der Magen ist wie eine Wunde. Den Tag über ist ihr Schmerz so dumpf und ununterbrochen, daß man ihn fast wie im Traume erlebt. Es ist mir, als sei ich ständig vom Schlaf umfangen. Alles um mich her ist weich und verschwommen. Und ebenso ist es in mir. Und dann kommt der Moment, da man etwas ißt. Als reiße eine unbarmherzige Hand Schorf von der Wunde, so ist es in den Eingeweiden. Ein Rausch überkommt mich: Essen und essen ohne Unterlaß, daß die Wunde heilt. Doch sie schließt sich selten nur noch für kurze Zeit. Und täglich wird sie größer. Langsam beginnt die geistige Kraft nachzulassen. Jener beglückende Strom der Erkenntnis ist sehr selten geworden. Immer sehne ich mich nach Schlaf. Wie lange noch? Wie lange soll das noch so gehen? Wie lange noch hält der Körper das aus?

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Leipzig, den 11. Juii 1947 Es ist wieder einmal fast Mitternacht geworden. Seit Tagen komme ich mit meinen Arbeiten einfach nicht zu Ende. Neben den hundert Laufereien, die der Tag in der Großstadt bringt, drängt die Arbeit an meinem historischen Referat, stehen Prüfungen in Aussicht und nehme ich meinen Umzug vor. Jede freie Minute wird ausgenutzt. Morgen will ich nun noch einmal nach Hause fahren. Es wäre sonst ausgeschlossen, bis zum Semesterende durchzukommen.

Mahlis, den 14. Juli 1947 Ich lebe förmlich auf, wenn ich der Weite der Felder und des reizvollen Wechsels von Wiesen, Wäldern, Hügeln und Mulden ansichtig werde. Jede Heimkehr nach Mahlis macht mich froh. Ich mag die Großstadt nicht. Das ruhevolle Leben auf dem Lande und die würzige Luft geben mir die alte Kraft zurück. Doch es scheint fraglich zu werden, ob ich hier noch öfter den Frieden genießen kann. Wieder einmal zieht die Gefahr des Ausgesiedeltwerdens heran. Papa und Mama werden wohl bald unsere kleine Schulwohnung, in der wir uns nun ganz wohl fühlen, verlassen müssen. Doch diese Sorge ist nicht die größte im Augenblick. Papa und Mama hungern. Es ist erschreckend festzustellen, wie Mama besonders von Woche zu Woche mehr in sich zusammensinkt bei alle der Hetze, die sie tagtäglich hat. Das Leben besteht nur noch aus harter Jagd nach Nahrung. U n d niemals mehr reicht das schwer Erarbeitete aus. Doch die Bitterkeit über diese Not löst sich in der unendlichen Größe und dem ewigen Frieden des Waldes, um den ich all die Menschen, die ihn täglich haben, beneide. Es gibt nichts Schöneres als einen Morgenspaziergang in den erwachenden Wald.

Leipzig, den 17. Juli 1947 Ich habe nun wieder eine neue Umgebung gefunden. Mein Umzug ist vollzogen. Täglich ist eine rührend freundliche alte D a m e mit Hingebung um mich bemüht, bereit, selbst ihr letztes Brot mit mir zu teilen. So manchen Vorteil bequemen Wohnens habe ich hier nicht. Doch habe ich dafür die unbezahlbare Sphäre gemütlicher Häuslichkeit eingetauscht. So fügt sich Stück an Stück zunehmenden Wohlgefühls, das mich nach und nach ganz wieder dem Leben zurückgibt. Wütet auch in manchen Stunden ein wütender Hunger in meinen Eingeweiden, so ergreift mich doch allmählich wieder der heilige Eifer des Lebens, der herrliche Durst, etwas zu tun.

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Leipzig, den 20. Juli 1947 Gestern abend „Torquato Tasso" 52 auf der Parkbühne des Gohliser Schlößchens. 53 Leider war mein Platz nicht günstig. So manches der tiefen Worte ist mir entgangen. Niemehr wieder werde ich am Eintrittsgeld sparen. Tasso und Antonio: Durchzieht diese Gegensätzlichkeit nicht die ganze Menschheit? Auch in mir wirkt sie. Die ästhetische Natur des Gefühlsmäßig-impulsiven und die kluge, maßvolle Bedenklichkeit des Ökonomisch-technischen. Doch schier unerreichbar die hohe Überlegenheit des Ästhetischen im Ertragen des Leidens, das ihn gleichsam dank seiner Erlebniskraft auf eine Stufe höher hebt: „....gab mir ein Gott, zu sagen, was ich leide." Die immer zahlreicher werdenden Gründe des gräßlichen Hungers am Tage lassen das Leben gerade als Wahnsinn erscheinen. Leipzig, den 22. Juli 1947 Gestern hat mich das Pech verfolgt. Nach fast dreistündigem Stehen auf dem Wohnungsamt hatte ich soviel erfahren, daß ich mein neues Zimmer nur mit großen Schwierigkeiten zugesprochen erhalten werde. Notfalls bin ich gezwungen, schwarz hier zu wohnen, dem Namen nach mein bisheriges Zimmer beizubehalten. Zuletzt ist es doch immer der Staat, der bei überspitzter Organisation den Schaden davonträgt, die Gemeinschaft, die allmählich der Auflösung entgegengeht. Noch eins: Zu Hause fand ich einen Brief aus Mahlis vor. Papa und Mama sollen die Wohnung in der Schule räumen. Es ist nun so weit, daß sie wieder einmal vor der Frage stehen: Wohin? Niemand zeigt Interesse an unserem Schicksal. Auch der Schulrat zeigt sich kalt und bequem. Und über alles hinaus: der Hunger.

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Schauspiel von Johann Wolfgang von Goethe, Uraufführung 1807 in Weimar. 1754-1756 als Sommersitz des Ratsherrn und Kaufmanns Johann Caspar Richter erbaut. Das Anwesen in der Nähe Leipzigs wurde zwischen 1780 und 1788 zum „Musenhof" umgebaut und diente seither als Veranstaltungsstätte für Konzerte und Theateraufführungen. 53

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Leipzig, den 25. Juli 1947 Wenn ich meine geistige Entwicklung der letzten Jahre rückschauend betrachte, so wird mir eine starke Hinwendung von dem noch vor einiger Zeit vorwiegenden Interesse am politischen Geschehen und den volkswirtschaftlichen Verhältnissen zu den Tiefen des geschichtlichen Werdens, dem Verstehenwollen des sich in der Geschichte offenbarenden Menschentums bewußt. Über das Studium der Geschichte finde ich den Weg vom Interesse am politischen Äußeren zum Eindringen in das menschliche Wesen, namentlich des Wesens meines Volkes. Das Problem des Christentums in der abendländischen Welt ist das eine, was sich mir darzustellen beginnt; das andere, noch umfassendere ist die Frage nach dem Urgrund allen Werdens überhaupt. Dacque ist hier der große, mahnende Name. Leipzig, den 26. Juli 1947 Auf den Straßen stehen Menschen in angstvollen Gruppen beieinander. Ein dunkles Wort macht die Runde: Der Typhus greift um sich. Straßenzüge sind gesperrt. Seit vorgestern gibt der Rundfunk Warnmeldungen. Am Ende der grimmen Hungerszeit steht das Gespenst der Epidemie auf. Leipzig, den 28. Juli 1947 Zum Ende des Semesters zeigt es sich, daß meine Arbeiten außerordentlichen Erfolg haben. Ich habe so gute Beurteilungen bekommen, daß ich es bereits jetzt unternommen habe, einen Antrag auf Umschreibung an die Philosophische Fakultät zu stellen. Damit wäre - falls dieses Unterfangen bereits zum nächsten Semester glücken sollte - der letzte Schritt zu dem mir vorschwebenden freien Studium getan. Leipzig, den 29. Juli 1947 Außerordentliche öffentliche Studentenratssitzung. Nach zwei Stunden ergebnisloser, recht erregter Diskussionen habe ich sie verlassen. Es ging ums Arbeiterstudium. 54 Dabei hat die Debatte Formen angenommen, die die Gefahr drohender Weiterungen für die gesamte Universität annimmt. Stundenlang geht es in heißen Wortgefechten hin und her. Hier wird der politische Kampf unserer Zeit ausgetragen. Es scheint gerade, als seien die Frontstellungen der großen Politik in dieses engere .Milieu hineinprojiziert. 54

Bereits Ende 1945 wurden in der S B Z Maßnahmen zur „Förderung des Arbeiterstudiums und unbemittelter Studenten und Schüler" eingeleitet. In Vorbereitungskursen und Abendschulen - später „Vorstudienanstalten" genannt - wurden die Betreffenden auf ein Studium an einer Universität vorbereitet. Ziel war es. auch auf diesem Weg eine „sozialistische Umgestaltung" der Hochschule herbeizuführen.

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Doch immer geht ein rücksichtsloses Verfechten von Doktrinen auf Kosten der Gemeinschaft. Kaum einer ist bereit, an die Aufgabe der Bildung einer ansehnlichen Studentenschaft zu gehen oder sein Tun an dieser Aufgabe zu messen. Die möglichen Schwächen in den Worten der anderen aufzudecken und zum Angriff zu benutzen, ist alles, was man tut. Leipzig, den 30. Juli 1947 Zu Sprangers strukturanalytisch-werttypischer Geschichtsmethode: Gewiß ist sie die höchste bisher erreichte geschichtsphilosophische Leistung. Doch sie kann für die Geschichtswissenschaft nicht als ausreichend betrachtet werden. Das Moment der Entwicklung wird zu sehr von dem statischen Moment der Strukturanalyse verdrängt. Leipzig, den 1. August 1947 Ich mag keine Gelegenheit zu einem Schritt vorwärts versäumen. Ich habe meine Umschreibung an die Philosophische Fakultät beantragt. Leipzig, den 2. August 1947 Mit beseligendem Glücksgefühl empfinde ich die Klarheit, mit der ich meine Aufgabe im historisch-philosophischen Studium gefunden habe. Leipzig, den 3. August 1947 Es bezeichnet die durch seinen geographischen Raum und seine innere Zusammensetzung bedingte Eigentümlichkeit des deutschen Volkes, daß alle im Verlaufe abendländischer Geistesentwicklung entstehenden Auseinandersetzungen in ihm am deutlichsten zum Ausdruck kommen. Manchmal fühle ich schier unbezwingbare Kräfte in mir aufsteigen. Und in voller Klarheit ersteht ein Ziel vor mir. Doch dann bricht es in mir wieder zusammen. Die physischen Kräfte versagen. Ohnmächtiger Grimm würgt in mir; doch das ist alles. Es will keine Tat, kein Werk entstehen. Der Körper ist zu schwach, zu hinfällig, zu müde, einen guten Gedanken zu tragen und fortzuentwickeln. Der bohrende Schmerz im leeren Magen behält zuletzt immer die Oberhand und verdrängt alles andere im Bewußtsein. Heute bei einem Sonntagsspaziergang vergaß ich plötzlich, wie alt ich bin. Mein Geburtsjahr wußte ich jedoch noch. So vermochte ich mein Alter auszurechnen, und jetzt weiß ich es wieder. Aber soll das denn ewig so weitergehen? Müde, zerschlagen und hungrig kam ich heute Mittag in die Pädagogische Fakultät, die Gemeinschaftsverpfle-

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gungsstätte, um mein Essen mit dem sonntäglichen Fleisch in Empfang zu nehmen. Doch es gab kein Fleisch. Es ist gestohlen worden. Leipzig, den 5. August 1947 Professor Litt Schloß seine Vorlesung über die Selbstkritik der modernen Kultur mit Nietzsche ab: eine des Philosophen würdige Darstellung. Kristallklar wie alles, was Litt darlegt, kristallklar, daß es auf den ersten Blick fast problemlos erscheint. Starke Worte vermag Litt zu gebrauchen. E r darf wohl die bedeutendste und markanteste Gestalt unserer Universität genannt werden. Wenn er uns im Herbst verlassen wird, so ist das ein bedauerlicher, unersetzbarer Verlust, über den die Leipziger Universität nicht so bald hinwegkommen dürfte. Seine letzten Sätze glichen einer großen Mahnung in dieser trüben Zeit, wenn er, auf Nietzsche weisend, alle Entartungen, alle Sklaverei als notwendige Voraussetzung für das Werden des Genies bezeichnet. „Wer einst den Blitz zu zünden hat, muß lange Wolke sein!" 5 5 „Geschichte wird nur von großen Menschen ertragen; die gebrochenen löscht sie vollends aus." 5 6 Leipzig, den 8. August 1947 Mit einem ganz anderen Gefühl als sonst bin ich heute morgen aufgestanden: Gestern habe ich von Rosemarie 5 7 ein Gemüsepaket bekommen und mich daher an rohen Möhren und Kohlrabi gütlich tun können. Die Nacht ohne Hunger hat einen guten Schlaf gespendet. Alle Kräfte sind gleichsam neu erwacht. Leipzig, den 10. August 1947 Vorgestern bekam ich Besuch aus Mahlis, Rosemarie und Frau K. Dadurch war ich zwei Tage gezwungen, mich etwas mehr als bisher ums Vergnügungsleben zu kümmern.

Teil eines Verses von Nietzsche, dessen vollständige Fassung wie folgt lautet: „Wer viel einst zu verhindern hat Schweigt viel in sich hinein Wer einst den Blitz zu zünden hat M u ß lange W o l k e sein." ^ Zitat aus Friedrich Nietzsche: U n z e i t g e m ä ß e Betrachtungen. Zweites Stück: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das L e b e n ( 1 8 7 4 ) . 5 7 Nicht ermittelt. 55

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Sonnabend in der Parkbühne im Gohliser Schlößchen. Scribes' „Ein Glas Wasser" 58 gab mir nicht entfernt so viel wie vor einigen Wochen der „Tasso". 59 Trotz guten Spieles in den Hauptpartien und einer leidlichen Inszenierung hinterließ das Stück selbst doch etwas Unbefriedigung. Ich sehe mich mit einmal nicht mehr in der Lage, irgendetwas nur von der leichten Seite zu nehmen. Auch der heutige Nachmittag war nichts mehr als Zeitvertreib: Völkerschlachtendenkmal, Kaffee, Bühnenschau und Film im Kino, ohne so rechte Freude zu empfinden. Mein Besuch ist enttäuscht, daß mit der letzten Straßenbahn bereits das „Großstadt-Nachtleben" erstirbt. Ich bin es längst nicht mehr. Mahlis, den 12. August 1947 Müde, hungrig, abgespannt kam ich gestern abend hier an. Ferien. Hätte ich gekonnt, wäre ich auf der Stelle wieder umgekehrt. Mama und Papa sind gespensterhaft in sich zusammengesunken; schlapp und apathisch sitzt Papa am Tisch. Er schwingt sich nicht einmal zu seinen sonst ständig wiederkehrenden Wutausbrüchen auf. Mama ist abgehetzt vom Ährensuchen, ausgezehrt, kaum zu einem ruhigen Wort fähig. Wie ich in die Küche trat, würgte es mich. Ich hätte weinen und schreien mögen; alle Ferienfreude ist unwiederbringlich dahin. Auch hier geht der Hunger ungemildert weiter. Gereizt, unbefriedigt, ohne Lust sitze ich herum, verzehre mich in Neid gegenüber den Leuten, die satt werden und vom großen Hunger nichts spüren. Morgen ist Papas letzter Arbeitstag. Dann ist er entlassen, arbeitslos mit verminderten Verpflegesätzen. Seit unserem Wiedersehen nach Kriegsende vor mehr als zwei Jahren ist diese Zeit die entsetzlichste. Es geht von Woche zu Woche, von Monat zu Monat immer weiter bergab; schier unendlich, ohne daß sich ein Ende zeigt, ist der Weg. Von Stufe zu Stufe gleiten wir den Pfad des Lebens hinunter. Wieder tauchte der Gedanke, diesem elenden Dasein ein Ende zu machen, auf. Ich sprach ihn nüchtern aus. Papa blieb teilnahmslos, Mama weinte und hielt mich ab, weiter davon zu sprechen. An Arbeit wird wohl kaum zu denken sein, an Erholung erst recht nicht. Aber ich mag auch nicht mehr arbeiten. Es ist so schwer, seine Gedanken zu sammeln. Sie lassen sich nur mühsam hervorziehen - wie Äste aus zähem Moor. Und immer nur Müdigkeit und Hunger. 58

Eugene Scribe (1791-1861), französischer Dramatiker und Librettist. Die Komödie „Ein Glas Wasser" ist 1840 entstanden und wird als einziger - außer den Libretti für einige Opern - seiner 400 Titel bis heute noch gespielt. 59 Siehe Eintrag unter 20. Juli 1947.

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Mahlis, den 13. August 1947 Immer wieder richtet mich das beglückende Erlebnis meiner Arbeit, das immer Gewisserwerden meiner Ziele auf, läßt mir das Leben in seiner Schönheit erscheinen und mich alle Nöte und Sorgen dieses Daseins für Stunden vergessen. - So ist heute wieder ein Brief an Dolf 6 0 zu einem Bekenntnis zur Forscherarbeit geworden. Ich wünschte mir nur, einmal aus dem Vollbesitz aller physischen Kräfte heraus den mich lockenden Wegen nachzugehen, zu forschen, zu schaffen und zu lehren. Mahlis, den 15. August 1947 Die Ferien bringen so manche außergewöhnliche Anstrengung mit sich. Gestern haben wir im Walde Holz gesägt und abfahren lassen. Diese Arbeit, die 13 Stunden - abgesehen von nur kurzen Pausen - starker körperlicher Anstrengungen erforderte, wobei Papa dafür sorgte, daß kein Säumen entstand und rücksichtslos weitergeschuftet wurde, hat mich ziemlich mitgenommen. Ich mag heute weder sitzen noch laufen oder irgendetwas tun. Ich bin wie zerschlagen. Freilich etwas Gutes hatte die Sache doch noch, abgesehen von der ansehnlichen Menge Holz, die sie einbrachte: Mama hat uns ein gutes Essen vorgesetzt: An Graupen mit Äpfeln, Kohl und etwas Kartoffeln konnten wir uns trotz unseres Bärenhungers sattessen. „Thesen zum Imperialismus" - Ein guter Artikel in der „Gegenwart" 61 Die Hauptpunkte und Folgerungen: Der Imperialismus ist Ausdruck des Kapitalismus. Der Kapitalismus ist jedoch nicht in erster Linie „System der Besitzverteilung, sondern - wie Max Scheler 62 zitiert wird - ein ganzes Lebens- und Kultursystem". Auf nationaler Grundlage ist der Imperialismus entstanden. Es war jedoch „der Geist des unbedingten Erwerbs", der ihn aufkommen ließ, die ökonomische Grundtendenz der Zeit, die das letzte Produkt des Rationalismus ist und die sich nicht nur im Bereiche des Wirtschaftlichen, sondern als Bestreben, alles zu „kapitalisieren", auf allen Lebensgebieten, auch auf dem der Politik äußert. Der Wirtschaftsgeist ist allerorts das Konstruktive. Der Nationalismus wandelte sich vom gesunden vitalen Bewußtsein des Volkstums zur grenzenlosen Extensität des Strebens nach rücksichtsloser Entfaltung. Dabei verbirgt dieser Zweig des Nationalismus in sich das durchaus anationale Interesse derer, deren ökonomische Interessen an den Bereich der Staatsgewalt gebunden sind. 60

Nicht ermittelt. R o b e r t H a e r d t e r : T h e s e n zum Imperialismus, in: Die G e g e n w a r t , 2. Jg.. Nr. 5/6 vom 31. März 1947, S. 11-15. 62 M a x Scheler (1874-1928), Philosoph u n d Soziologe. 61

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Sicherlich darf diese Erscheinung als eine Kontinuität mittelalterlicher Gewaltpolitik verstanden werden, freilich nun unter dem Vorzeichen des ökonomischen Prinzips, insofern als das eigene Interesse, das eigene Wollen alle Handlungen motiviert und sich selbst Staat und Nation zunutze macht. Am Ausgang dieser Zeit stehen wir heute. Die Periode des ständigen Erwerbs mündet in die Sozialisierung ein. Staat und Nation sind nicht mehr Mittel zur Erreichung eines ökonomischen Zweckes; Nation, ja Menschheit - und damit zuletzt der Mensch schlechthin - werden als höchster Zweck anerkannt, in deren Dienst alle Mittel gestellt werden. Das Prinzip der Nützlichkeit hat auf eine höhere Ebene der Sittlichkeit zu führen begonnen. Allerorten sind die Relikte des Einstigen noch stark, vielfach in der Führung. Doch die Anzeichen täuschen nicht, daß sich eine neue Zeit gebiert. Das allein hält uns aufrecht! Das Bewußtsein eines jeden Individuums ist bestimmt durch sein Sein in der Gesellschaft. Ich meine damit, daß die Prinzipien, die eine bestimmte Gesellschaft regieren, immerhin Gesetze für das Leben des Einzelnen sind. Diese Aussage läßt sich jedoch über einen weit umfassenderen Bereich als den der Gesellschaft mit der gleichen Gültigkeit machen: von der gesamten Umwelt des Menschen. Aber jedes Individualleben bedeutet eine ununterbrochene Veränderung dieser Gesetze. Jeder Augenblick liefert neue Eindrücke, neue Erkenntnisse und fordert als neues Gesetz eine neue Verhaltensweise. In der menschlichen Individualität liegt begründet, daß jede Verhaltensweise Gesetz werden kann. Mahlis, den 17. August 1947 Ein Ziel für die politische Erziehung der Deutschen in der „Gegenwart" (30. Juni 1947):63 „Die Deutschen sollten mit einem Wort in einer äußersten geistigen Neutralität verharren. Sie sollten Beamte und Funktionäre, die sich dieser Aufgabe nicht gewachsen zeigen, mit dem Mittel der Abstimmung gnadenlos entfernen und Presseerzeugnisse, die der Verstärkung internationaler Spannungen auf unserem Boden dienen, ebenso gnadenlos in Konkurs gehen lassen." Wenn wir so weit wären, hätten wir unsere Niederlage geistig überwunden. Diese Neutralität darf gewiß keine Teilnahmslosigkeit an den Dingen des weltpolitischen Geschehens sein; ganz im Gegenteil. Aber unser Wirken in der Weltpolitik sollte auf einem Verständnis der Kräfte beruhen und sie im Sinne der Synthese fördernd stützen. Jede frontale Gegenüberstellung weltpolitischer Gegensätze sollten wir im Kerne Europas mit allen Kräften zu eliminieren uns bemühen. 63

Deutsche Neutralität?, in: Die Gegenwart, 2. Jg., Nr. 11/12 vom 30. Juni 1947, S. 10-14, ZitatS. 13-14.

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Mahlis, den 20. August 1947 Es wird immer furchtbarer! Pro Kopf hat es in diesem Monat bisher 8 Pfund Kartoffeln gegeben. Das soll vorerst alles sein. Aber auch Gemüse soll in diesem Monat nicht mehr ausgegeben werden. Täglich fragt sich Mama, was sie kochen kann. Der gelesene Weizen, der als eiserner Bestand für den Winter gedacht war, ist schon mehr als zur Hälfte aufgebraucht. In zwei, spätestens drei Tagen haben wir nichts mehr als nur noch Äpfel und trockenes Brot allein. Ich habe mich kaum intensiv in meine Arbeit vertieft; schon meldet sich der Hunger. - Und in einigen Tagen wird es soweit sein, daß ich nichts mehr habe, um diesem entsetzlichen Gefühl auch nur für Stunden zu Leibe zu gehen. - Ich schaffe nichts mehr. Alle Verrichtungen sind nur ein Vorhang vor dem drohender und drohender werdenden Nichts. „Wer hungert und sich von den Feldern nicht holt, was er braucht, ist selbst schuld an seiner Not", sagen Papas Arbeitsgenossen; und sie beschreiben, wie man zu Werke gehen soll. Gewiß habe ich schon manche Skrupel verloren; doch ich vermag auch heute nicht auf Diebstahl auszugehen, ebensowenig wie ich nicht betteln kann. Und Papa und Mama geht es nicht anders. Mama steht in der Küche am Ofen und weint, daß sie es nicht kann. Und die Sonne scheint erbarmungslos. Tag für Tag die gleiche Hitze und kein Regen. Unser Brunnen im Schulhof ist versiegt und die Frucht auf den Feldern und in den Gärten trocknet dahin. Mahlis, den 26. August 1947 Ich finde mich auf dem Wege zum zurückgezogenen, stillen Stubengelehrten. Tag für Tag sitze ich in tiefer Erregung hinter meinen Büchern und Aufzeichnungen - spüre gleich einem Alchimisten. Bei Papa findet diese Art meines Arbeitens natürlich wenig Anklang. Nun, die Tage sind gezählt bis zu einer Unterbrechung dieser Tätigkeit. Mit Septemberbeginn will ich für kurze Zeit wieder nach Leipzig. Ich wandle zwischen zwei Heimen. Keines ist so, daß ich mich auf die Dauer ganz wohl und geborgen fühlte. Vielleicht ist es jetzt noch gut so; vielleicht läßt gerade das meine Tätigkeit nicht erlahmen. Mahlis, den 1. September 1947 Ein denkwürdiges Datum. 6 4 Vor acht Jahren heulten die schrecklichen Sirenen zum ersten Male und riefen zum ersten Probealarm. 64

Anspielung auf den Kriegsausbruch am 1.9.1939.

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Wir Fünfzehnjährigen mußten zum Feuerwehrdepot. Und dann saßen wir auf den rasenden Löschwagen, hingen mehr an ihnen, als daß wir saßen. An jeder Straßenecke ließ ich die Glocke schrill und aufpeitschend läuten. Die wenigen Straßenpassanten flüchteten mit ängstlichen Gesichtern über die Straße. Und in uns war ein großer Schauer, in dem sich Staunen, Erwartung, Stolz und Furcht vor dem kommenden Unbekannten seltsam mischten. So war es vor acht Jahren! Doch niemals hätte ich geglaubt, daß mit diesem Tage ein Leben zu Ende sein sollte. Wir alle, die wir diesen Tag erlebten, haben damals ein neues Dasein begonnen, ohne daß wir es wußten. Langsam, Schritt für Schritt, von Tag zu Tag, sind wir dem alten Leben entwachsen, bis wir gewahr wurden, daß unsere Existenz eine andere ist als früher. Und dieses Gewahrwerden war schmerzhaft, das Bewußtsein des eigenen Gestorbenseins. Und nun tragen wir das neue Leben. Wir tragen es noch wie eine Last. Doch in uns ist die starke Sehnsucht, nicht zurück nach dem alten Dasein, das unwiederbringlich dahin ist, aber danach, daß wir wieder Menschen und Meister sind über unsere Existenz, daß wir uns wieder aufrichten können unter der Last des Lebens, daß es uns wieder eine Lust wird. Acht Jahre ist es her, daß wir dieses Leben verloren. Damals war ich daheim. Heute fahre ich nach Leipzig, heute mittag, von Mahlis nach Leipzig. Das eine ist nicht Heimat, das andere nicht mehr Fremde. Leipzig, den 2. September 1947 Leipzig scheint neu erstanden. Alles im Zeichen der Messe 65 : Fahnen, vorwiegend rote, Schmuck überall, Sauberkeit und Ordnung, als erstes auf dem Bahnhof zu bemerken, Verkehr, Trubel, Eleganz wie einst - die Wirklichkeit des Hungers fast verborgen, und trotz aller Not eine Vielzahl von Taxis auf Straßen und Plätzen. Leipzig, den 4. September 1947 Der Messeverkehr nimmt ein gewaltiges Ausmaß an. Man glaubt, die Zeit sei zurück- oder vorgedreht. Nur zentimeterweise kann man sich im Gewühle der Innenstadt vorwärtsbewegen. Märchenhaft in aller uns umgebenden Not sind die Muster der Messestände. Doch vielfach steht hinter ihnen keine ausreichende Produktionsbasis. Exportmesse ohne Exportmöglichkeit: Potemkinsche Dörfer. Etwas Erfreuliches: Studenten sollen von nun an Schwerarbeiterkarte erhalten. 66 Ein gewaltiger Sprung! Endlich eine Verbesserung (dank des Bündnisses, das das „Proletariat" mit der Intelligenz anstrebt). 65

Die Leipziger Messe fand vom 2.-7.9.1947 statt. Die Schwerarbeiterkarten für Studenten, d.h. erhöhte Zuteilung von Lebensmitteln, wurden zum 1.9.1947 eingeführt.

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Mahlis, den 11. September 1947 Mein Messeausflug ist beendet. Über Oschatz bin ich gestern zurückgekommen. Und hier sieht es so trostlos aus wie vor fünf Wochen. Die Lebensmittelzuteilung ist schlecht. Es gibt weder Kartoffeln noch Gemüse, schon seit Ende August nicht mehr. Auch der Apfelsegen geht zu Ende, denn Papa ist nun nicht mehr Obstpflücker, sondern arbeitslos. Mahlis, am 16. September 1947 Dieser ungewöhnlich heiße und trockene Sommer behauptet sich auch jetzt, zu Beginn der zweiten Septemberhälfte in unverminderter Kraft. Jeden Tag steigt die Temperatur im Zimmer auf 30° bis 32° an, um nachts allerhöchstem bis 25° abzunehmen. Man wird schlaff, müde und gereizt. Alles sehnt sich nach Regen, der seit Mai ausgeblieben ist. Eine Schreckensernte steht uns bevor. „Weltanschauung" ist das schrecklichste Wort unserer Zeit. In ihm wird allem Elend das Mäntelchen einer Art Legitimität umgehängt; erstickt es doch alles Streben nach Wahrheit, wie sie nur der Wissenschaftlichkeit zu eigen ist. Mit diesem Wort endet alles Denken und beginnt das Tun und Handeln einer sich permanent aufspaltenden und auflösenden, einander bekämpfenden Menschheit. Aller Unsegen, dessen Höhepunkt wohl in unserer Zeit liegt, rührt aus der Flucht vor der Wissenschaftlichkeit, die alleine zu „der" Weltanschauung führen kann, in eine Mannigfaltigkeit von „Weltanschauungen". Es ist nichts weiter als eine Konsequenz dieser traurigen Erscheinung, wenn der Professor für Wirtschaftsgeschichte an der Universität Berlin, Kuczynski, 67 laut und für alle Welt vernehmlich verkündet, der Hochschullehrer habe Propaganda zu treiben. Das sei die ihm eigene Aufgabe.

Mahlis, den 20. September 1947 „Ich hoffe, daß ich einige Deutsche überzeugen und sie zur Einsicht bringen werde, daß es allein die Erziehung sei, die uns retten kann von allen Übeln, die uns drücken." Mit Fichte 68 möchte auch ich diese Worte aussprechen. Das große Ziel: den Staat zu der erzieherischen Macht zu machen.

Mahlis, den 24. September 1947 Die letzten Tage haben einen überraschenden Temperatursturz gebracht. Aus spätsommerlicher Hitze sind wir in die trübe, kalte, wolkenverhangene und 67

Jürgen Kuczynski (1904-1997), Historiker und Wirtschaftswissenschaftler. Neben zahlreichen Ämtern und Funktionen in der Wissenschaft war er Mitglied der Volkskammer in der D D R (1949-1958) und Mitglied des ZK der SED. 68 Johann Gottlieb Fichte (1762-1814), Erzieher und Philosoph, wichtiger Vertreter des deutschen Idealismus. Zitat aus den „Reden an die deutsche Nation" (1807/1808).

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ständig regenreiche Zeit des Herbstes gefallen. Zum ersten Male wieder seit Monaten berührte Feuchtigkeit die ausgedörrte Erde. Doch leicht und sanft, unmerklich fast im Nebel, fällt sie vom Himmel hernieder, dem Taue gleich, noch immer kein Regen. Die geschützten Wege im Walde sind staubig wie zuvor. Ein unbarmherziges Jahr. Und Schauer bereitet das Zeitungslesen. Immer unverhohlener bläst man zum Kriege. Alle Welt darf scheinbar nur zwischen zwei Parteien wählen, zwischen denen der Kampf unverhüllt ausgebrochen ist, wenn vorerst auch nur in den Sphären der Propaganda: Rußland und Amerika. In ihnen scheint sich das geschichtliche Gesetz unserer Zeit zu vollziehen. Unausdenkbar die Folgen, die aus einer Auseinandersetzung dieser beiden Mächte hervorgehen würden. Unser Vorstellungsvermögen scheint sie gar nicht fassen zu können. Doch freilich schon einmal hat sich erwiesen, daß das Geschehen entsetzlichere Bahnen zu gehen vermag als die immer nur am Erfahrenen gebildete Vorstellung. Doch als das Schlimmste droht, daß all die Losungen wie Demokratie, Freiheit, Erziehung der Menschheit, die die hinter uns liegende Katastrophe mit neuen Inhalten erfüllte, unwiederbringlich ins Nichts zu entsinken drohen, daß sie sich endgültig als leere Traumgespinste zeigen. Denn es ist zweifellos [so], daß die so schnelle Rückkehr zu den antiquierten Mitteln der Gewaltpolitik, der Hetze zum Kriege und die Unvernunft der Mächtigen das Vertrauen der Menschheit zu einem hoffnungsvollen Ausgang aus all unserer Krise aufs schwerste erschüttert. Mahlis, den 25. September 1947 Mein Studium, das mir immer wieder Freude beschert, weist mich den Weg der Forschung. Sie muß besonders dann fruchtbar werden, wenn es mir gelingt, auch die Kraft des Erlebens alles Gegenwärtigen ihr unterzuordnen. So spitzt sich dieser ganze Problemkomplex zu der Frage zu: Wie kann mir wissenschaftliche Arbeit ein Leben ermöglichen, das auch die konkreten Anforderungen des Alltags erfüllt? Die Antwort hierauf habe ich in meinem Entschluß gefunden, meine Arbeit in den Dienst planmäßiger Lösung der Aufgaben zu stellen, die meinem Volke und der Menschheit gestellt ist. Von ihnen soll mein wissenschaftliches Vorgehen seinen Ausgang nehmen. Noch in den letzten Wochen meiner Ferien will ich die Grundlagen zu einer Arbeitshypothese für meine nächsten Studien zu gewinnen trachten. Von den politischen - im weitesten Sinne dieses Wortes - Problemen der Gegenwart also will ich ausgehen in meiner wissenschaftlichen Arbeit. Hier ist das Objekt, an dem ich mich bilden will. Mahlis, den 29. September 1947 Nach wenigen Sonnentagen nimmt nun die Schlechtwetterperiode ihren Fortgang. Endlich finde ich wieder einige Stunden Zeit für meine Arbeiten, zu denen ich in den letzten Tagen so gut wie gar nicht gekommen bin.

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Eine Nachricht aus Leipzig versetzt mich in Unruhe. Frau Kindscher schreibt mir, daß Luise Langendorf seit dem 10. [September] verschwunden ist. Frl. Z., von der ich auch einen Brief erhielt, spricht von einer längeren Reise. Ich vermag das nicht von politischen Gründen zu trennen. Die G U Z berichtet, daß eine Reihe von Dozenten der Medizinischen Fakultät ihre Lehrtätigkeit einstellen. 69 Der Rektor verläßt Leipzig. 70 Und hinzu kommen die immer drohender werdenden Wolken am Himmel der Weltpolitik. Noch nie sah die Zukunft so ungewiß aus wie heute. Die armseligen Bausteine einer neuen Existenz, die man unter Mühen zusammengetragen hat, drohen, erneut verloren zu gehen. Mahlis, den 6. Oktober 1947 Die Ferien gehen zu Ende. Die kühlen und regnerischen Tage sind von einem wiederum heißen und trockenen Spätsommer abgelöst worden. Die Dinge um mich her reißen mich immer wieder aus meinem Denken. Jetzt ist es das „Kartoffelstoppeln", das mich jeden Tag in Anspruch nimmt und mich abends todmüde ins Bett fallen läßt. Doch freilich, diese Möglichkeit, der Drohung des Hungers ein Schnippchen zu schlagen, darf nicht außer Acht gelassen werden. So hacke ich denn unter einem bewegten Gewimmel hunderter von Menschen auf ein kleines Fleckchen inmitten eines abgelegenen Feldes ein. Jede Kartoffel gleicht einem gehobenen Schatz. Eine neue Arbeit: „Kartoffelschürfen" möchte ich sie fast nennen. Trotz Arbeitszwang und Arbeitskräftemangel finden sich unzählige Menschen aus den Städten zu dieser Tätigkeit ein. Hier zeigt sich ebenfalls, daß sich an einem Punkte die Schraube staatlicher Ordnung hoffnungslos überdreht; dort nämlich, wo die Maßnahmen der öffentlichen Gewalt nicht mehr ein Schutz sind für die Existenz des Einzelnen, sondern einem Angriff auf sie gleichkommen. Für die hungernde Stadtbevölkerung ist keine Maßnahme ausreichend, sie von der Sicherung ihrer Existenz abzubringen. Doch der Staat steht auf tönernen Füßen (auf Bajonetten), der sie anordnet. Leipzig, den 9. Oktober 1947 Jäh sind die Ferien vorbei, jäh in die Vergangenheit gedrängt. Alles liegt wieder in anderem Licht. Luise 71 ist am 10. September verhaftet worden. Seitdem fehlt jede Nachricht von ihr. Ich vermag kaum die Kraft aufzubringen, diese Nachricht zu fassen. 69

Nicht ermittelt. Hans-Georg Gadamer (1900-2002), Professor für Philosophie an der Universität Leipzig seit 1937, ging 1947 als Nachfolger von Karl Jaspers nach Heidelberg. 71 Luise Langendorff. 1945, Anm. 9. 70

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Leipzig, den 10. Oktober 1947 Endlose Laufereien und Formalitäten haben diesen Tag ausgefüllt, ehe ich meine Lebensmittelkarten und alle Papiere in Ordnung hatte. Heute abend war ich bei Frau Kindscher. So habe ich die Einzelheiten zur Verhaftung Luises erfahren. Eine dunkle, nicht angreifbare Macht verfolgt mit rücksichtslosen Mitteln das Ziel, politische Aktivitäten - vor allem der Jugend - einer bestimmten Richtung auszuschalten. Mir scheint das einzige Mittel dagegen zu sein, all das, was im Geheimen geschieht, in das breite, helle Licht der Öffentlichkeit zu ziehen. Doch wer wagt es? Es scheint mir, daß Frau Kindscher mir nicht ohne Absicht Luises Schicksal vor Augen führt. - Hic Rhodus, hic salta! So mag sie es wohl meinen. Mahlis, den 16. Oktober 1947 Immer wieder gibt es Stunden, da der Mut zum Leben und zum Unternehmen entschwindet. Das Bewußtsein von der ausweglos erscheinenden, von Monat zu Monat zunehmenden Not unserer Zeit unterdrückt nach einiger Zeit stets das Zutrauen zum Zwecke der Arbeit. Alles um uns her ist leer, öde und trostlos. Man mag versucht sein, den Untergang nicht mehr fern zu wähnen. Auflösung von Gemeinschaft und Ordnung, Zwang auf der anderen Seite, Flucht in schrankenlosen Egoismus, Abbrechen aller persönlichen, menschlichen Beziehungen, Lug und Trug und hinter allem entsetzliche Not an allen Dingen, die menschliches Leben fordert, bereiten ein gewaltiges Chaos. Verwundert nur müssen wir uns fragen, warum es uns noch nicht verschlungen hat. Abbau der Organismen nach dem Gesetz optimalen Lebens! Doch ein Fünkchen von Hoffnung läßt mich meinen Gang weitergehen: Es gilt die Rolle des Bewahrers des Geschaffenen zu übernehmen, d. h. aufnehmen und erfassen des Gewordenen über die Zeit der Rückbildungen hinaus, wenn es auch fraglich sein mag, sie zu überleben. Die Frage, was wir tun sollen, weiß ich schlechthin nicht zu beantworten. Uns bleibt nichts, als des Gewordenen bewußt zu werden und uns schlecht und recht zu erhalten. Allein die Zeit kann entscheiden, ob aus unserem Tun sich eine Grundlage zu neuem Leben bilden wird oder ob es unser Los ist, Epigonen zu sein. Mahlis, den 26. Oktober 1947 In winterlicher Kälte habe ich es unternommen, nochmals nach Hause zu fahren, ehe ich an meine Arbeit gehe, die ich nach Möglichkeit bis Weihnachten nicht unterbrechen möchte. Dieses Semester soll einen anderen Charakter haben als das letzte, vom ersten ganz zu schweigen. Immer klarerer Herausarbeitung meiner Lebensauf-

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gäbe soll meine Arbeit dienen. Hauptlinien einer großzügigen Skizze sind schon deutlich erkennbar. Hieraus soll sich ein Gehalt gewinnen lassen. Leipzig, den 4. November 1947 Seit Tagen habe ich heute endlich wieder ein wenig Zufriedenheit erreicht. Ich habe mich durch meine Zweifel hindurchgerungen zu meinem Studiengebiet. Immer wieder habe ich mich gefragt, ob ich auf dem rechten Wege bin, die Einheit von Studium, Leben und Beruf zu erreichen. Nun aber glaube ich, allen möglichen Erwägungen ihr Recht gelassen zu haben. Eine Umschreibung auf die Philosophische Fakultät wird einstweilen prinzipiell abgelehnt. Trotzdem habe ich es unternommen, mich einem neuen Fach zuzuwenden: Germanistik. Geschichte und Germanistik als Fachrichtungen! In den nächsten Tagen will ich einen klar formulierten Ansatz herausarbeiten; er wird historisch-soziologisch sein und weitgehend die Pädagogik in sich aufnehmen. Leipzig, den 9. November 1947 Ich war der Verzweiflung nahe. Ich sah keinen Weg zur Wahrheit. Keine Wissenschaft wüßte ich, die ihn zu finden vermag. Zugleich aber fehlt mir die rechte, uneingeschränkte Gläubigkeit, um im Religiösen einen Ausweg zu finden. Heute nun war ich mit Groschopp 72 in der Oper. Und „Fidelio" 73 richtete mich auf. Ich weiß, daß in Freiheit sein Leben zu gestalten und dennoch den Gesetzen der Wirklichkeit sich einzufügen, die gewaltigste Leistung ist. Das Leben in der Gemeinschaft ist die höchste geistige Fähigkeit des Menschen. Für sie muß er erzogen werden. Meine Aufgabe ist die deutsche Wirklichkeit. Ich habe mich in diesen Tagen als fehlerhaften, schwankenden, unklaren Menschen kennengelernt. Ich weiß, daß nur die Haltung Achtung abzwingt, die vorbildlich ist. Dessen will ich bewußt sein. Leipzig, den 11. November 1947 Ich pilgere zur Deutschen Bücherei, dem herrlichsten der Leipziger Tempel. Ja, tatsächlich ein Tempel. Der gewaltige, fast völlig unzerstörte Bau mit seinen weiten Sälen, in denen erfurchtheischende Ruhe herrscht, gleicht einer Kultstätte. Und in tiefer Sammlung schreite ich die Treppe zur majestätischen schmiedeeisernen Pforte empor. 72 73

Egon Groschopp, Kommilitone von Gerhard Schulz. Oper von Ludwig van Beethoven.

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Auf meinem Platze, zwischen Stößen von Büchern, ersteht ein neues Dasein, entbunden von der Welt umher, ein Dasein des Zwiegespräches mit dem Geiste, dem allmächtigen Geiste aus dem menschlichen Leben seit je. Aus Sammlung und Vertiefung erwächst der Augenblick herrlicher Gedanken, die mich überfallen, daß kaum ein Papier schnell genug zur Hand ist, sie zu bannen. Die Zeit vergeht, ohne daß ich es weiß. Erst das beginnende Verlöschen des Lichts reißt mich aus meiner frommen Ekstase. Mit frohem Mut und weiten Sinnen eile ich hinaus in den strömenden Regen, seiner nicht achtend, erfüllt von geistiger Bewegung, voll stillen Jubels. Das ist Erlösung! Leipzig, den 12. November 1947 Keine zwei Tage vergehen, ohne daß ich nicht enttäuscht nach Hause käme. Ich hätte fast den Fehler begangen, mehr das psychologische Studium in den Vordergrund zu rücken, um es mit meinen Arbeiten zur Soziologie zu verbinden. Doch rechtzeitig bin ich darauf aufmerksam geworden, daß ich mir jeden Ausweg aus der Pädagogischen Fakultät damit verbaue und darüber hinaus gewärtig sein müßte, ohne Rücksicht auf eigene Wünsche einmal in irgendeinen Beruf hineingezwungen zu werden. Leipzig, den 14. November 1947 Wieder endet eine Woche innerer Unklarheit und Zerrissenheit. Jeder Tag hat neue Gedankenkämpfe gebracht, die infolge äußerer Nöte und Sorgen geradezu verzehrend wirkten. Ich habe mich noch nicht fest für einen ganz bestimmten Studienweg entscheiden können. Immer wieder tauchen neue, umstürzende Gedanken gerade dann auf, wenn ich glaube, eine feste Bahn gefunden zu haben. Auch auf die Gefahr hin, Zeit zur Intensivierung zu verlieren, will ich alle endgültige Entscheidung der Zeit überlassen, um endlich Ruhe zu gewinnen. Es ist dies eine Auseinandersetzung, von der ich weiß, daß sie über meine ganze Zukunft den Spruch fällen wird, und die mich zerspaltet bis in die Fasern des religiösen Grundes hinein. Und manchmal droht mir fast, meinem gewaltsamen Drängen zur Lösung zum Opfer zu fallen. Leipzig, am 20. November 1947 Der heutige Nachmittag brachte eine mehrstündige heiße Studentenversammlung. Es ging um die Sozialisierung des Studentenwerkes. Der Vertreter der Regierung hatte kein leichtes Sprechen. Nur zu oft wurde jede Form durchbrochen. Die S E D hat eine entscheidende Schlappe erlitten, wofür freilich die Vergeltung nicht ausbleiben dürfte.

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Doch scheint es mir, als sei etwas nicht in Ordnung. Man hat ja diesen Erfolg gar nicht in ehrlichem Aushandeln errungen. Die meisten Kommilitonen waren schon mit einer fertigen Meinung am Versammlungsort angelangt. Hinter dem Antrag standen Schreckensworte wie Sozialisierung und SED. So wurde ein Sieg nicht ein solcher des politischen Denkens, sondern einer des Ressentiments. Was nun kommt, fragt keiner. Wie ist eine Studienförderung möglich, wenn nicht hinter ihr die Landesregierung steht, die alle ökonomischen Quellen kontrolliert, wie Oberregierungsrat Hfäntzschel] sehr richtig sagte. Es gibt ja außer ihr niemanden, der eine großzügige Studienhilfe gewährleisten kann. Doch wer von den anwesenden Studenten beachtete das? Niemand spürt, daß wir den Weg des Sozialismus schon zu weit gegangen sind, als daß wir es uns erlauben dürften, kleine Triumphe zu feiern, die nichts einbringen als lediglich das augenblickliche Hochgefühl, einem Gegner einmal die Zähne gezeigt zu haben. Es gibt für uns nur die Alternative, auf dem einmal beschrittenen Wege weiterzugehen und der Landesregierung eine Stellung einzuräumen, auf der sie Kraft der von ihr erworbenen Macht besteht, oder aufzubrechen und umzukehren, spontan - auf Biegen oder Brechen - grundsätzlich einen eigenen Weg gehen: Das bedeutete Kampf mit all den Konsequenzen, die dieses Wort in sich birgt. Doch wir Deutschen sind keine Politiker, heute weniger denn je. Diese Alternative sieht niemand. Man lebt in den Tag hinein und betreibt nebenbei Politik - als Spiel. Gewiß, auch mir ist der erste Weg nicht sympathisch, und zwar nur, weil das Wort „Sozialismus" bei uns immer wieder einen üblen Beigeschmack erhält, so daß man all dem, was es enthält, wenig Vertrauen entgegenbringen kann. Doch nichts wäre verloren, wenn allerorts anständige und würdige Menschen handelten und Vertrauen und Ehrlichkeit wieder erstünden. Das ist das Kernproblem, ein Problem, an dessen Lösung nur wenige arbeiten, vielleicht niemand in unserem Volke zu arbeiten berufen ist. Wir werden erst dann gute Zeiten erleben, wenn nur die Anständigen in der Politik handeln und umgekehrt jeder Einsichtige u[nd] Anständige weiß, dass er Politiker sein muß. Leipzig, den 23. November 1947 Ein Gespräch mit Egon Groschopp gestern abend ließ mich erkennen, daß es in unserer augenblicklichen politischen Situation nichts gibt, was wir erreichen können, als nur Kompromisse, in denen es immer wieder neue Lebensmöglichkeiten zu schaffen gibt. Leben zu ermöglichen und Leben zu sichern auch auf schmälstem Räume, der nur allzu oft erneute Einengungen erfährt, ist unsere politische Aufgabe. Der Politiker muß sich immer wieder um neue Synthesen bemühen: Ausgleich und Vereinigung. Eine Politik der Prinzipien und des eisernen Widerstandes muß notgedrungen zum Schaden des Gesamten werden. Sie kann nur dann Erfolg versprechen, wenn hinter ihr eine respektable Macht steht. Und das ist nicht der Fall.

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Meine Partei 74 beabsichtigt, mich als Vertreter der Pädagogischen Fakultät für den Studentenrat kandidieren zu lassen. Ich schätze meine Erfolgsaussichten nur gering ein. Sollte die Wahl jedoch zu meinen Gunsten entscheiden, so ist es mein Ziel, bei jeder sich bietenden Möglichkeit nichts unversucht zu lassen, um unter klarer Erfassung der Realitäten ein Einvernehmen herbeizuführen. Über die Gemeinsamkeit des Zieles gilt es, zur Gemeinsamkeit des Weges und zur Gemeinsamkeit der Mittel vorzustoßen. Leipzig, den 25. November 1947 Tausend Gedanken durchwühlen mich, daß ich nicht vermag, einen einzigen auszuspinnen. Ich drohe mich wieder einmal innerlich zu verzehren. Zu stark ist das Feuer, das in mir brennt, nun, da es wieder entfacht ist. Meine bevorstehende, wenn auch fast aussichtslose Kandidatur für den Studentenrat erfüllt mich mit zahllosen Plänen. Es scheint in mir eine grenzenlose Energie erweckt, aber mit ihr eine ebensolche Nervosität und Zerfahrenheit. Zu groß ist die Anspannung, kaum daß ich sie zu ertragen vermag. Leipzig, den 26. November 1947 Heute wieder Studentenversammlung. Aber es war für mich die furchtbarste aller bisherigen. Hier klang ein Ton an, trotz manch ärgerlicher und lächerlicher Szenen, der bisher kaum hörbar war: Man beginnt zu erkennen, daß es nicht unsere politische Aufgabe sein kann, Parteimeinungen unter Anwendung vollster Ellbogenfreiheit durchzusetzen, sondern daß es darum geht, ein Einvernehmen innerhalb der Studentenschaft herbeizuführen, um die zum akademischen Leben notwendige Vertrauenssphäre herzustellen. Leipzig, den 27. November 1947 Einen nicht unbeachtlichen Erfolg habe ich heute bei der Aufstellung der Kandidaten zum Studentenrat errungen. Ich hatte wenig Hoffnung, durch die öffentlich durchgeführte Vorwahl hindurchzukommen. Doch es gelang. Ich rangiere sogar an vierter Stelle. Freilich, eine Wahl steht noch bevor, und vor der ist noch nichts entschieden. Aber ich habe mich nun bereits soweit in den Vordergrund geschoben, daß ich mich nicht mehr bewegen kann, ohne allgemeiner Beachtung bewußt zu sein. Ich habe mich mit einmal wieder in das volle Licht der Aufmerksamkeit geschoben, in dem ich mich nun so vollendet wie möglich bewegen muß.

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LDPD.

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Ganz gleich, wie die Studentenratswahl auch ausfallen wird, meine Zeit des stillen Beobachtens ist vorbei, muß der Aktivität Platz machen. Und ich fühle mich noch gar nicht fertig. Leipzig, den 28. November 1947 Jeder Blick in die aus Westdeutschland herübergelangenden Zeitungen läßt deutlich erkennen, wie scheinbar unlösbar die Problematik unserer Zeit ist und wie sie sich immer mehr, auf die Entscheidung drängend, zuspitzt. In diesen Tagen, die für uns dahingehen, ohne daß wir an ihrem äußeren Verlauf Wesentliches von ihrer Bedeutung wahrnehmen, wird in London ein wichtiges Wort über das weitere Schicksal Deutschlands gesprochen, noch mehr: wird die politische Konstellation der ganzen Welt gestaltet werden. Denn das scheint mir sicher, daß mit dieser Außenministerkonferenz eine Wendung im bisherigen Gang der Dinge - entweder nach der einen oder anderen Seite - eintreten wird.75 Leipzig, den 2. Dezember 1947 Die politische Lage ist katastrophal: Die Londoner Konferenz hat trotz des etwas versprechenden guten Auftakts bisher keine greifbaren Erfolge gezeitigt. In Frankreich haben mehrere Millionen Arbeiter die Arbeit niedergelegt. In Italien sieht es nicht viel anders aus. 76 Die russischen Satellitenstaaten Südosteuropas schließen Militärbündnisse ab. 77 Und die SED ruft zu einem Volkskongreß anläßlich der Londoner Konferenz auf, der von den westdeutschen Parteien abgelehnt wird, mit Ausnahme der KPD. 78 Es sieht nach dem Vorabend einer gewaltigen Umwandlung aus. Das Wort „Revolution" ist unter uns bereits gefallen. Vielleicht mag die Zeit vor hundert Jahren entsprechend dem damaligen Milieu und damaliger Sicht eine vergleichbare Parallele bieten. Doch ich kann nicht eigentlich sagen, daß ich niedergeschmettert und mutlos bin. Ich bin bereit, jedem Ereignis gefaßt entgegenzusehen. 75

Londoner Konferenz der Außenminister der vier Siegermächte vom 25.11.-15.12.1947. Die Konferenz wurde ohne Ergebnis abgebrochen. 76 „Die Zeit" hatte schon im Oktober 1947 (2.10.) einen Artikel unter der Überschrift „Streiks überall" veröffentlicht. Darin Hinweise auf große Streiks in Frankreich und Italien, verbunden mit gewalttätigen Auseinandersetzungen. 77 Freundschafts- und Beistandspakte zwischen Jugoslawien und Bulgarien, zwischen Bulgarien und Albanien und zwischen Jugoslawien und Rumänien im November und D e z e m ber 1947. 78 Die S E D hatte Ende November einen „Deutschen Volkskongress für Einheit und gerechten Frieden" einberufen, der am 6. und 7.12.1947 zu seiner konstitutionellen Sitzung zusammenkam. Er bestand aus 2 2 0 0 Delegierten, die aufgrund nicht klar erkennbarer Kriterien in Ost und West gewählt worden waren. S E D , K P D und die mit ihr verbundenen Massenorganisationen besaßen mit ca. 72% eine überwältigende Mehrheit.

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Leipzig, den 3. Dezember 1947 Mein Vertrauen in die Wissenschaft beginnt zu schwinden. Oft scheint es mir, als könne lediglich der Künstler es wagen, eine Deutung der Welt vorzunehmen. Die Wissenschaft ist den Mängeln der Begriffsbildung unterworfen; sie leidet an ihr. Nie wird es möglich sein, einen Begriff zu schaffen, der einen Sinn völlig zu beinhalten vermag und der unantastbar gegenüber jeder Veränderung ist; es müßte dann jede neue Erkenntnis eine neue Sprache zu erschaffen in der Lage sein. Aber das wäre nur das eine; die andere Fragwürdigkeit ist die der Möglichkeit absoluter Erkenntnis überhaupt. Die Wissenschaft ist eine Religion unserer Zeit, besser vielleicht: eine Religiosität. Doch mir scheint es, daß es eines Tages offensichtlich wird, daß die Wissenschaft Hand an ihr eigenes Fundament legen muß. Darum glaube ich, daß vorerst für uns Menschen Wissenschaft nur Zweck an der sinnvollen Bewältigung der Wirklichkeit sein kann; d. h. der Mensch sollte Wissenschaftler sein, um, die Wirklichkeit erfassend, sinnvoll handeln zu können. Das schließt zweierlei aus: erstens die Forschung als Selbstzweck, zweitens aber ebenso die Nutzbarmachung wissenschaftlicher Ergebnisse um irgendeines außerwissenschaftlichen Zweckes willen. Leipzig, den 4. Dezember 1947 Immer wieder begegne ich - trotz allem - jenem Typ des bürgerlichen Studenten, der glaubt, alle Formen gesellschaftlichen Umganges restlos zu beherrschen, was meistens nicht der Fall ist, der glaubt, seine Hohlheit hinter Affektiertheit verbergen zu können, was ihm zuletzt doch nicht gelingt, der nicht einmal sonderliches Selbstbewußtsein besitzt, sondern lediglich eine übermäßige Portion Arroganz, bei jedem ernst an ihn gerichtetes Wort in Verlegenheit gerät oder sich in verletzter Blasiertheit jeder Auseinandersetzung entzieht, dazu aber nicht die geringste Originalität besitzt und jedes Originelle als Verletzung empfindet, bestenfalls ein gutes Deutsch spricht, aber dann aus seiner Reserve herausgeht, wenn er sich sicher fühlt und mit der Mehrheit laut und vernehmlich den Kultus der Bürgerlichkeit betreibt. Ein Mensch, der nicht in seinen Schienen fährt, ist nichts wert als ein verächtlich-überlegenes Lächeln. Denken kann er nur in ausgefahrenen Bahnen, Kraft hat er überhaupt nicht - in keiner Beziehung; aber er hält sich für den Repräsentanten der Intelligenz, die zu schützen er sich im Zurschautragen nicht vorhandener Überlegenheit bemüht - gegenüber all dem, das nicht dem engen Bereich seines Geistes entsprungen ist. Ihn gibt es noch. Seitdem ich das weiß, glaube ich nicht mehr an die Rettung deutscher Bürgerlichkeit. Diese Sorte ist im Aussterben, aber leider nicht infolge Selbstüberwindung, sondern weil sie der kraftvoll vordringenden, allmählich sich ausbildenden sozialen Intelligenz unterlegen ist. Da kann es kein

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Wunder nehmen, wenn mit der siegenden Gegenströmung das radikale Extrem nach oben gelangt, das mit den Akzidenzien einstiger Bürgerlichkeit alle Ordnung über Bord zu werfen droht. Es wäre eine lohnende Aufgabe für die deutsche Intelligenz, die Situation zu begreifen und sich des Sozialismus zu bemächtigen, nicht um ihn an der vergehenden Bürgerlichkeit zu entmannen - dem wäre heute kein Erfolg mehr beschieden sondern um ihm seine Radikalität zu nehmen und ihn fruchtbar zu machen einer neuen Ordnung. Doch diese Menschen sind zu eingeschränkt und zu kraftlos, als daß sie Phantasie hätten. Leipzig, den 10. Dezember 1947 Gestern habe ich zum ersten Mal frei gesprochen, fast llA Stunden, allerdings vor einem verhältnismäßig kleinen Gremium, den LDP-Studenten der Pädagogischen Fakultät. Es war das eine letzte Wahlrede. Damit dürfte ich alles getan haben, was bis zur Studentenratswahl, die übermorgen steigen wird, zu tun war. Nun kann ich zusehend abwarten, welche Entscheidung fällt. Leipzig, den 13. Dezember 1947 Die gestrigen Studentenratswahlen haben ein erstaunliches Ergebnis gebracht 79 : Der Studentenrat, zu dem ich nun auch gehöre, ist beschlußfähig selbst ohne die Mitglieder der SED, die von der stärksten zur schwächsten Fraktion zusammengeschmolzen sind, und ohne die Parteilosen. Übermorgen findet die konstituierende Versammlung statt. Die Arbeit des kommenden Jahres dürfte nicht leicht sein. Die Gefahr einer Aufspaltung zwischen links und rechts ist stärker noch als bisher. Nur zu leicht kann dem Ruck nach rechts eine Neigung zum radikalen Extrem folgen. Ich glaube, daß bei dieser Wahl mehr als die Vernunft wohl bürgerliche und nationalistische Ressentiments reinsten Wassers den Ausschlag gegeben haben. Wie sehr man sich über das Persönlichkeitsprinzip hinwegsetzt, geht schon daraus hervor, daß nur die Frage nach der Parteizugehörigkeit der Studentenratsmitglieder interessiert. Leipzig, den 16. Dezember 1947 Den ganzen Tag über bin ich in Weihnachtsstimmung. Draußen liegt Schnee; weihnachtliches reges Treiben herrscht in den Straßen und auf den Plätzen. Überall wird in erleuchteten Buden einfaches Gebäck und teurer Tand feilgeboten. Der Weihnachtsmarkt ist da mit all seinem Zauber; wenn es auch nur 79

Von den 30 zu vergebenden Mandaten erhielt die S E D nur acht. Auf die L D P entfielen elf, auf die C D U neun Mandate, dazu kamen zwei Parteilose www.rcds-thueringen.de/ festschrift.pdf.

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bedeutungsloses Zeugs gibt, so wird doch gekauft und verkauft. Die Menschen freuen sich an diesem Zauber, der seinen Mann nährt. Unsere gestrige Weihnachtsfeier war recht nett. Sie dauerte länger, als ich vorher angenommen hätte. In einer kleinen, dürftigen Gaststube, die gemütlich hergerichtet und geheizt war, haben wir - 12 Kommilitonen und 2 Kommilitoninnen - uns unterm Weihnachtsbaum bei Gebäck und einigen Gläschen Schnaps zusammengefunden. Es war recht gemütlich und zeitweise sogar angeregt. Schließlich gingen wir auseinander, um die letzte Straßenbahn noch zu erreichen, nachdem wir beschlossen hatten, diesem gemeinsam verbrachten Abend noch mehrere folgen zu lassen. Der Vormittag freilich war weniger angenehm. Wohl verlief die Konstituierung des Studentenrates ohne Zwischenfall. Trotz wochenlanger Pressehetze von links gegen den bisherigen 1. Vorsitzenden wurde er mit zwei Dritteln aller Stimmen wiedergewählt. Das allerdings war das Ergebnis mehrtägiger Verhandlungen, die kein besseres Ergebnis zeitigten. Mit gemischten Gefühlen sehen wir den kommenden Ereignissen entgegen. Ich habe unter den Gesichtern der Mitglieder des Studentenrates bisher keines gefunden, das mich der Arbeit des kommenden Jahres zuversichtlich entgegensehen läßt. Inzwischen hat die außenpolitische Lage eine neue Wendung erfahren: die Londoner Konferenz ist auseinander gegangen. - Rußland fordert, die Weststaaten geben nicht nach: Deutschland verzehrt sich in tausend Qualen. Bisher habe ich wohl geglaubt, daß das Jahr 1948 ein außerordentliches Jahr werden wird; nun weiß ich auch, daß es außerordentlich schwer sein wird. Ich wünsche mir Kraft und hin und wieder Ruhe, Zeit für gute Gedanken. Leipzig, den 18. Dezember 1947 Die Weihnachtsferien haben begonnen. Gestern nachmittag besuchte mich Egon 80 zu einer langen, fruchtbaren Diskussion. Ich glaube, wir sind wesentlich weiter gekommen. In den Ferien will ich versuchen, eine kleine Zusammenfassung unserer Gedanken vorzunehmen. Am Abend kamen Papa und Mama zu einem kurzen Weihnachtsbesuch hier an. Morgen werden wir gemeinsam nach Hause fahren. Soeben komme ich von einer Sitzung des LDP-Studentenreferates. Zum ersten Male nahm ich an einer Sitzung des erweiterten Vorstandes teil. Es gab nichts sonderlich Wichtiges. Dennoch war sie für mich sehr wichtig; habe ich doch einen gewissen Einblick in die Arbeit unseres Vorstandes genommen und festgestellt, wie die geistige Aktivität unserer Leute ist. Ich glaube, meine Reservestellung kann ich bald verlassen: Es fehlt hier manche Kenntnis und auch manches Denkvermögen. Freilich, sobald sie den wittern, der ihrer Herr wird, sind sie bereit, ihn zu stützen. Es besteht dabei die Gefahr, daß der Wille zur Kritik einschläft. Das zu verhindern, will ich beitragen. 80

Egon Groschopp.

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Ich bin überzeugt, daß aus Teilnahmslosigkeit und Trägheit unter dem Anreiz aktiver und phantasievoller Geister höchste Blüten ersprießen können. Mahlis, den 22. Dezember 1947 Was beweisen die Bilder hervorragendster Staatsmänner, wie ich in der Gestalt Abraham Lincolns 81 gerade vor mir habe, anderes, als daß große sittliche Persönlichkeiten, die die Welt kennen und die Menschen in ihr, auch Macht gewinnen über sie und zu ihren Führern werden. Ihr Wesen vermag das Antlitz ihrer Nationen mit zu prägen; und so wirken sie fort in der Erinnerung ihrer Völker für eine lange Folge von Generationen, fest aufgenommen in ihrem geistigen Besitz. Doch freilich nichts darf ohne das andere sein: weder sittliche Größe, noch Kenntnis der Welt und der Menschen. Aus beidem gemeinsam erst erwächst die historische Persönlichkeit von erzieherischer Macht. Mahlis, den 25. Dezember 1947 Die Festtage gehen eintönig dahin, ohne sonderliche Anspannung zu bringen. Der Tisch ist zu den Mahlzeiten etwas reicher gedeckt als sonst. Mit dem Gefühl der Sättigung gebe ich mich nun meinen philosophischen Studien hin. Ich vermag nicht recht froh zu werden. Immer wieder werde ich gewahr, daß der Boden, auf dem ich mich befinde, zu schwankend ist, als daß sich ein Problem deutlich umreißen ließe. Und so irre ich in einem Wald von Fragen umher, ohne auch nur zu einem Ziel zu gelangen. Die Kraft ist da und das Verlangen auch, jedoch sehe ich keine Bahn. Dabei drängt die Zeit nach greifbaren Ergebnissen. Jetzt bemühe ich mich um Jaspers. 82 Dabei empfinde ich mit aller Deutlichkeit, daß es so unsagbar schwer ist, ein Wissen, eine innere Reife in der Sprache zur Kommunikation werden zu lassen. Aber ebenso schwer ist es, jeden sprachlichen Ausdruck zu verstehen. Es bedürfte vieler Wochen und einer intensiven, vielseitigen Arbeit, um die Worte von Jaspers zu erfassen und voll auszudeuten.

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Abraham Lincoln (1809-1865), 1860-1865 16. Präsident der U S A . Karl Jaspers (1883-1969), Psychiater und Philosoph, herausragender Vertreter der Existenzphilosophie. D i e folgenden Ausführungen beziehen sich auf das Werk „Vernunft und Existenz" (1935), das Schulz zu der Zeit las.

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Leipzig, den 7. Januar 1948 1

In der „Neuen Zeitung" stoße ich auf den zu denken gebenden Satz in einer innerpolitischen Betrachtung zum Ende des vergangenen Jahres: „Vaterländischen Impulsen allein kommt heute keine politische Entscheidungskraft mehr zu; sie sind zu Hilfswaffen der übernationalen Mächte geworden, welche wir, vereinfachend, Demokratie und Totalitarismus nennen." 2 Leipzig, den 9. Januar 1948 Immer wieder gibt es Augenblicke, in denen man gewahr wird, daß nicht alles verworfen ist in unserer Zeit. Im Gegenteil: Ich glaube, daß gewaltige Triebkräfte eines Neuen sich gebären. Und das gerade jetzt, da die ganze Welt in tiefstes Chaos zu versinken droht. Diese Worte unseres verstorbenen großen Physikers Max Planck 3 sind ein beglückendes Zeugnis dafür, daß [in] unserer Epoche das Unendliche hinter dem Endlichen sichtbar wird: „So wenig sich Wissen und Können durch weltanschauliche Gesinnung ersetzen lassen, ebensowenig kann die rechte Einstellung zu den sittlichen Fragen aus rein verstandesmäßiger Erkenntnis gewonnen werden. Aber die beiden Wege divergieren nicht; sondern sie gehen einander parallel, und sie treffen sich in der fernen Unendlichkeit an dem nämlichen Ziel. Um dies recht einzusehen, gibt es kein besseres Mittel als das fortgesetzte Bemühen, das Wesen und die Aufgaben einerseits der naturwissenschaftlichen Erkenntnis, andererseits des religiösen Glaubens immer tiefer zu erfassen. Dann wird sich in immer wachsender Klarheit herausstellen, daß, wenn auch die Methoden verschieden sind - denn die Wissenschaft arbeitet vorwiegend mit der Gesinnung - der Sinn der Arbeit und die Richtung des Fortschrittes doch vollkommen miteinander übereinstimmen. Es ist der stetig fortgesetzte, nie erlahmende Kampf gegen Skeptizismus und gegen Dogmatismus, gegen Unglaube und gegen Aberglaube, den Religion und Naturwissenschaft gemeinsam führen, und

1 Die „Neue Zeitung" erschien ab Oktober 1945 zweimal wöchentlich in München. Herausgeber war die amerikanische Besatzungsmacht, die Autoren der Beiträge waren aber Deutsche. Neben Journalisten schrieben auch Schriftsteller wie Heinrich und Thomas Mann oder Politiker wie Ludwig Erhard Artikel. 2 Innerpolitische Rundschau der „NZ". Der große Verbündete: die Freiheit, in: Die Neue Zeitung vom 29.12.1947, S.7. 3 Max Planck (1858-1947), deutscher Physiker (Nobelpreisträger).

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das richtungsweisende Losungswort in diesem Kampf lautet von jeher und in alle Zukunft: Hin zu Gott!" (GUZ) 4 Wissenschaftlichkeit muß zu der menschlichen Haltung schlechthin werden. Ich vermag nichts am Menschen als so groß zu sehen wie sein Bemühen, das, was sich in seinem Wesen als Gültiges erhellt hat, zum Bewußtsein zu bringen, zur Kommunikation. Leipzig, den 16. Januar 1948 Die Wellen der Arbeit schlagen nun endgültig über meinem Kopf zusammen. In der gestrigen Studentenratssitzung wurde ich zum Außenreferenten gewählt, ein Amt, das ungeheuer viel Arbeit mit sich bringen wird. Heute nahm ich zum ersten Male Fühlung mit Dozent Dr. B[uchheim] 5 auf. Es ging um [das] Referat, das ich neulich über Rousseaus 6 „Contrat social" 7 gehalten habe. Ich entwickelte verschiedene Gedanken als Folgerungen aus der Theorie von der „volonte generale". Ich glaube, bei Dr. Bfuchheim] einiges Verständnis gefunden zu haben. Im übrigen stelle ich fest, daß ich nicht allein die Befürchtung hege, wie sie mich seit einer Woche bedrückt, daß die „Volkskongreßbewegung für die Einheit Deutschlands und gerechten Frieden" 8 die Gefahr in sich birgt, zu einer alle demokratischen Lebensformen untergrabenden Institution zu werden, gleichsam zu einer jeder Legitimität baren „Volksvertretung", deren Werk es sein könnte, die innerliche und äußerliche Trennung vom Westen Deutschlands zu vollenden. Und wir können nicht einmal beiseite stehen und nicht mitmachen, wie wir uns von unserem Schicksal nicht lösen können. Denn über uns würde eine unheimliche Welle von Gewalt hinweg brausen, auch das letzte unserer Würde und unserer Freiheit, das letzte was zu unserem Leben gehört, nehmend. Es gibt nichts, als zäh und beharrlich, Schritt für Schritt zurückweichend, wenn es sein muß, zu verteidigen, was uns mit den Deutschen des Westens und was uns mit Europa verbindet, den Ansturm zu hemmen und dort, wo seine Kraft einmal zu erlahmen droht, vorzurücken. Die Entscheidung kann nur die Zeit bringen. Ich glaube nicht, daß sich alte bürgerliche 4

Schlusswort des Vortrage „Religion und Naturwissenschaft"; Passage erstmals abgedruckt in: GUZ, 2. Jg., Nr. 24 (1947), S. 2. Da der Abdruck fehlerhaft war, hat die G U Z das Zitat nochmals publiziert (3. Jg., Nr. 5 [1948], S. 11). Danach lautet die Parenthese wie folgt: „denn auch die Wissenschaft arbeitet vorwiegend mit dem Verstand, die Religion vorwiegend mit der Gesinnung." 5 Karl Buchheim (1889-1972), Politiker und Historiker, 1945 Mitbegründer der C D U in Leipzig, 1946-1950 MdL in Sachsen, ab 1947 Direktor der Universitätsbibliothek Leipzig, 1950 legale Ausreise aus der D D R in die Bundesrepublik, 1950-1957 Professor für Neuere Geschichte an der TU München. 6 Jean-Jaques Roussseau (1712-1778), französisch-schweizer Schriftsteller, Philosoph, Pädagoge und Komponist. 7 Du contrat social ou principes du droit politique (1762). 8 1947, Anm.78.

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Ideale wieder beleben werden; aber ich glaube an die Zukunft eines europäischen Sozialismus. Leipzig, den 18. Januar 1948 Ein sehr fruchtbarer Sonntagnachmittag mit Egon Groschopp liegt hinter mir. Ich weiß nun, daß der Mensch als Einzelwesen hoffnungslos dem Nichts ausgeliefert ist, wenn er in sich nicht das Band wirksam fühlt, das seine Gemeinschaftlichkeit mit anderen ausmacht, wenn er in sich nicht die Kraft einer Gemeinschaft spürt. Leipzig, den 22. Januar 1948 Es will mir nicht leicht werden, mich im Studentenrat einzuarbeiten. Es fehlt mir der Kontakt mit den anderen Kommilitonen; und der will nicht recht aufkommen. Meinen Standpunkt vertrete ich allein und habe selbst nicht einmal die eigene Klarheit gewonnen, um ihn bei jeder Gelegenheit klarlegen zu können. Ich entbehre der äußeren und inneren Ruhe, um mir eine klare Linie festlegen zu können, die ich bei jeder Gelegenheit verfolge. Leipzig, den 24. Januar 1948 Der Mensch ist außerstande, sich der Einwirkungen natürlicher, wirtschaftlicher, kultureller, politischer Lagebedingungen seines Lebensraumes zu entziehen. Die ökonomisch-materiellen - und selbstverständlich auch die natürlichen - Gegebenheiten sind die „reale Basis" aller historischen Zustände, die Grundlage, auf denen sich alle geschichtlichen Vorgänge vollziehen. Und es kennzeichnet menschliches Schicksal, daß der Geist erlitten werden muß. Sein Emporstreben ohne Rücksicht auf diese reale Basis muß zu Spannungen führen, die den Menschen immer wieder vor neue Probleme stellt. Es ist einer der genialsten Gedanken der neueren Zeit, daß mit der Veränderung der realen Basis allein dem Geiste neue Möglichkeiten des Schaffens gegeben werden. Doch es irren jene, die meinen, man könne die Wirklichkeit des materiell-ökonomischen Grundes in eine verifizierbare Formel bringen. Das würde letztlich nichts anderes bedeuten als eine ewige Unterordnung des Geistes unter die ökonomisch-materiellen Bedingungen. Vielmehr geht es darum, diese Bedingungen in immer umfassenderer Synthese zu deuten. Im Deuten verändern wir die Welt.

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Leipzig, den 11. Februar 1948 Rastlose Arbeit und dazwischen wenig Ruhe. Der alte Tränckner 9 ist gestorben. Bei Kälte, Sturm und Regen wurde er in die sächsische Erde gebettet, kurz nachdem ihn ein Brief erreicht hatte, der ihn aufforderte, nach der Heimat Schleswig-Holstein zurückzukehren, um dort Ruhe, Sicherheit und Auskommen im Schutze des Heimatbundes zu finden. Heute ging es zweimal hoch her: einmal in der Pädagogischen Fakultät, wo ich jetzt der treibende Keil zu einer neuen Studienform bin; dann im LDPStudentenreferat, wo es mir um ein Haar geglückt wäre, einen zweifellos alle Teile befriedigenden Vorschlag zur Stellung der Vertreter der Vorstudienanstalt 10 im Studentenrat zu machen. Erst in letzter Minute geriet die Front ins Wanken; nun wird morgen ein harter Kampf ausgetragen. Leipzig, den 13. Februar 1948 Es ist schwer, den Mut zu behalten. Jeder Tag bringt endlose Arbeit, jeder Abend Sitzungen. Und der Erfolg ist so verschwindend. In der gestrigen Studentenratssitzung gelang es mir, meinen Antrag - wenn auch mit halbem Erfolg - durchzubringen. Heute erteilt der Minister für Volksbildung den Rat, die Mehrheit möge sich der Minderheit fügen! Unser Vorstoß gelangte lediglich bis in den Papierkorb des Ministers. Das politische Moment, die Universität zu einer Institution des allmächtigen proletarischen Staates zu machen, steht im Vordergrund. Fürderhin werden die noch nicht immatrikulierten Angehörigen der Vorstudienanstalten die gleichen Rechte des Einflusses auf die Universität haben wie die ordentlichen Studierenden selbst. Auch mein Versuch, eine Reform der Studiengrundlage an der Pädagogischen Fakultät herbeizuführen, hat nur unwesentliche Ergebnisse gezeitigt. Bereits die Kommilitonen sind nicht gewillt, in ihr mehr zu sehen, als Berufsausbildungsstätte lediglich des Lehrers, wobei noch viel erreicht wäre, wenn man darunter jeden Lehrer, d. h. für alle Schulstufen, und nicht nur den der bisherigen Volksschule sehen würde. - Eine Diskussion mit den Dozenten herbeizuführen, ist bisher nicht gelungen. Sie hätte auch wenig Sinn, solange ich mit meiner Ansicht allein stehe.

Leipzig, den 22. Februar 1948 Meine Eintragungen in dieses Buch werden immer spärlicher. Die Zeit gestattet kaum freie Stunden; und dennoch sind die Früchte der Arbeit gering an Zahl, fast nur bei bestem Willen überhaupt zu zählen. 9

Christian Tränckner, Vater von Frieda Kindscher-Tränckner. 1946 wurden in der SBZ „Vorstudienanstalten" eingerichtet, die Vorbereitungskurse für „Arbeiter und Bauern" für ein Studium anboten. Die „Vorstudienanstalten" wurden Ende 1947/ Anfang 1948 den Universitäten und Hochschulen als „Unterdienstabteilungen" angegliedert. 10

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Je mehr ich mich mit den Problemen der Erziehungswissenschaften auseinandersetze, desto mehr fühle ich mich zu ihnen hingezogen. Es gibt da so viel Dinge, die zu durchdenken sind und fruchtbare Tätigkeit versprechen. Gleichzeitig aber muß ich erkennen, wie ungünstig für dieses Unterfangen der Leipziger Boden ist. Die Verhältnisse sind hier denkbar ungünstig. U n d es besteht nicht die Aussicht, in kurzer Frist eine Änderung zu erleben. Die Universität verfügt über gar keine Rechte mehr. Und mit ihr ist die gesamte Wissenschaft hier zu einer Magd der Politik geworden. Ein Oberregierungsrat in Dresden, der wahrscheinlich niemals das Leben der Hochschulen aus eigener Anschauung kennengelernt hat, vermag in die entscheidendsten Fragen einzugreifen. Die Universität ist zum Objekt eines bloß politischen Interesses geworden, das über sie eine Herrschaft beansprucht, wie sie nur mit dem der Kirche über alles Leben im Mittelalter zu vergleichen ist. Außerhalb der Universität stehende Kräfte bestimmen ihre Struktur. A b e r aus der Geschichte wissen wir, daß es in Zeiten absoluter weltanschaulicher, religiöser Prinzipien keine Wissenschaft im wahren Sinne geben kann, und auch keine Universitäten. Wissenschaften gibt es nur dort, wo die Individualität sich frei entfaltet. Und die Aussichten für die Z u k u n f t sind düster. Es hat den Anschein, als würde sich der Zustand, der heute uns allen als für längere Zeit untragbar erscheint, zunehmend verknöchern und auf Unabsehbarkeit das Bild der Welt gestalten. Es will mir erscheinen als zweifelte [?] sich in einem gewaltigen Prozesse die gesamte Menschheit nach den Polen höchster Grade menschlicher Bewußtheit und stummer Fügung in Gewohnheit und endlosem Drill, Degeneration ins Biologische. Nur wir Deutschen leben in dem Raum, der angefüllt ist mit dem Getöse des großen Zerreißungsprozesses.

Leipzig, den 23. Februar 1948 Immer häufiger beginnt mein Vertrauen zum absoluten Wert der Wissenschaften in Zweifel umzuschlagen. Immer wieder beweist sich ihr Ungenügen für das Leben. Hier tut sich mir das große Problem auf. Es ist letztlich das von Vernunft und Existenz.

Leipzig, den 25. Februar 1948 Heute hat die Diskussion über die Studienplangestaltung an der Pädagogischen Fakultät ein vorläufiges E n d e gefunden. Ein ganz winziger Erfolg läßt sich vielleicht darin sehen, daß die Pforte zur Philosophischen Fakultät nun noch nicht endgültig zugeschlagen ist.

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Leipzig, den 28. Februar 1948 Die Zeitungen berichten von der Regierungskrise in Prag 11 , die nun durch einen radikalen Linksrutsch gelöst zu sein scheint. Der Kommunismus hat auch in der Tschechoslowakei gesiegt. In unserer Zone machen sich immer stärker die Tendenzen der Zentralisation und strafferen Anspannung im Sinne einer Ideologie bemerkbar. Schritt für Schritt verwirklicht sich ein ungeheuerliches System, in dem es für mich auf die Dauer keine Existenz geben kann. Auf der Universität, die allein dem östlichen Dogmatismus ernstlichen Widerstand wirksam entgegensetzt, gewinnt die andere Seite mehr und mehr an Boden. Man wagt es jetzt bereits, offen die heimtückischsten Worte auszusprechen. Von Semester zu Semester wird unsere Stellung stärker unterhöhlt. Und so geht es in allen Lebensgebieten: Sollte nicht eine außerordentliche Wendung eintreten, so ist unsere Zone in nicht mehr ferner Zeit bolschewisiert. Freilich vermag ich, wenn ich den Menschen auf den Straßen ins Gesicht schaue, nicht zu glauben, daß in Deutschland ein neues Sowjetrußland entstehen könnte. Ich bin überzeugt davon, daß in Deutschland neue Formen geboren werden. Doch freilich, das kann ein Prozeß sein, der über das Dasein des einzelnen hinweggeht. Was bleibt uns? Der Versuch, zusammenzufassen an Kräften, die dem Menschlichen zustreben, ohne Rücksicht auf parteiliche Trennungen. Und wenn die Gewalt alles gesunde Leben erstickt, dann bleibt nur der Weg nach dem Westen als die Rettung, als Heil vor der Verworfenheit. So ist denn das Leben zum Kampf geworden gegen rücksichtslose Macht und schrankenlose Gewalt, die den Menschen nicht achtet. Leipzig, den 2. März 1948 Als Delegierter des Leipziger Studentenrates nahm ich gestern am „2. Landeskongreß für die Einheit Deutschlands und gerechten Frieden" teil. 12 Der Empfang war gut: Es gab vor allem Zigaretten und etwas zu essen. Und die Zeiten sind trübe genug, um das zu erwähnen. Dann ging das Feuer von fünf Stunden Reden über uns. Aber auch manches gute Wort ist gefallen. Die Dinge liegen lange nicht so, daß nur eine „Einheitsmeinung" besteht. So mancher Redner hat zu erkennen gegeben, daß er den Zusammenhalt aller Deutschen darin sieht, das Auseinanderleben in den Zonen zu verhindern.

11 Am 25.2.1948 hatten die Kommunisten unter Klement Gottvald die alleinige Macht in Prag übernommen. 12 Der Kongress diente der Vorbereitung des „Zweiten Deutschen Volkskongresses für Einheit und gerechten Frieden", der am 17. und 18.3.1948 in Berlin tagte.

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Gefreut hat mich vor allem das Wiedersehen mit den bekannten Kommilitonen vom Studentenrat der T.H. [Dresden], die jetzt in den geschmackvoll eingerichteten Bau des Studentenhauses eingezogen sind. Einigen Erfolg, vor allem brauchbares Material, das ich in den Ferien für die Arbeit im nächsten Semester auszuwerten gedenke, haben mir eingehende Besprechungen im Ministerium für Volksbildung über die Gestaltung des Studiums an der Pädagogischen Fakultät geliefert. 13 Ich beginne allmählich zu erkennen, in welchen Punkten allein fruchtbare Ergebnisse erzielt werden können. Das kommende Sommersemester wird mir jedenfalls große Aufgaben stellen. Leipzig, den 3. März 1948 Diese Frühjahrsmesse darf wohl als die bedeutendste seit Kriegsende gelten. Für so manches darf man schon mit gutem Recht die Bezeichnung vorkriegsmäßig gebrauchen. Es ist erstaunlich, was für herrliche Dinge angeboten werden, erstaunlich vor allem deshalb, weil man außerhalb der Messe überhaupt keine Ahnung von ihrer Existenz hat. Hier zeigt sich das Wunder, das die Planwirtschaft hervorbringen kann: Die höchste Leistung selbst wird unter den ungünstigsten Verhältnissen erreichbar; doch niemand fragt nach ihrem Preis, keiner weiß von den Opfern, die ihr gebracht werden mußten, von dem grenzenlosen Elend, dem damit kein Ende gemacht wird. Es gibt alles in bester Qualität zu kaufen - jedoch nur gegen Devisen. Man produziert auf Befehl und für den Export. Und der Mensch ist nur für die Produktion da; doch sein Elend kümmert aus rein menschlichen Gründen niemand. Das ist es, was die Herrlichkeiten dieses Wirtschaftsfestes zur gemeinen Fratze macht. Mahlis, den 7. März 1948 Ich vermag nichts anderes zu denken, als daß der Mensch nur dann sein Dasein mit Sinn erfüllt, wenn er in jeder seiner Handlungen das spezifisch Menschliche zu verwirklichen trachtet, sich in einem ständigen Bildungsprozeß findet. Und auch nur von dieser Seite möchte ich theoretisch den Staat betrachten: Er verfügt über eine legitime Existenz lediglich als erzieherischer, zum Menschlichen bildender Status. Er ist die notwendige Instanz, die den Einzelmenschen innerhalb einer Gemeinschaft an das Reale bindet und ihn dem Gültigen entgegenwachsen läßt.

13 Hierüber gibt es eine Aufzeichnung von Gerhard Schulz vom 3.3.1948, B A Ν 1312, Bü 59. Als ein für ihn besonders wichtiges Ergebnis hielt Schulz darin fest, dass Oberregierungsrat Häntzsche ein Überwechseln von Studenten an der Pädagogischen Fakultät z.B. in die Philosophische Fakultät auf Antrag grundsätzlich für möglich erachtete.

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Bei allen Anrufen des politischen Interesses und der politischen Anteilnahme des deutschen Volkes läßt man doch häufig sehr gerne einfachste politische Überlegungen unangestellt. Man sollte bei allen hochtönenden Parolen mißtrauisch werden; nur allzu oft sind sie falsch und verbergen gemeinste Lügen. Ich bin sehr wohl der Meinung, daß wir Deutschen auch etwas zur Herstellung einer gesamtdeutschen Einheit beitragen können; aber ich glaube nicht, daß wir den richtigen Weg beschreiten, wenn wir dabei zu den Auseinandersetzungen der Besatzungsmächte Stellung nehmen. Die gegenwärtige, uns alle belastende und von allen Deutschen als nicht länger ertragbare Situation ist das Ergebnis einer wahnwitzigen deutschen Politik, die nur verurteilt werden kann. Daß Deutschland in Zonen geteilt ist und nicht als einheitliches Staatswesen existiert, ist der Wille [der] Besatzungsmächte. Und es fällt kein Blatt vom Baume der offiziellen Politik in Deutschland gegen ihren Willen. Wenn also vom deutschen Volke der gegenwärtige Zonenstatus Deutschlands angegriffen wird, so richtet es sich entweder gegen alle Besatzungsmächte en bloc - und das würde diese Bewegung in die Illegalität drängen - , oder diese deutsche Bewegung steht in Übereinstimmung mit dem Willen einer Besatzungsmacht, wenn der Wille der Besatzungsmächte nicht einhellig ist. Das aber heißt, Partei zu ergreifen für eine Besatzungsmacht. Diese Überlegung ist die entscheidende, wichtiger als die, daß die Frage der deutschen Einheit zum Anlaß genommen wird. Und diese Überlegung stellt an jeden Deutschen die Frage, wie er ein solches Verhältnis des deutschen Volkes zu einer der Besatzungsmächte zu motivieren gedenkt. Das bedeutet, daß er eine entscheidende Stellungnahme zu den Auseinandersetzungen der Besatzungsmächte als die wichtigste Voraussetzung jeder politischen Einstellung in Deutschland erkennt. Bei Lichte besehen, bleibt also von der Forderung nach der politischen Einheit Deutschlands nichts anderes übrig als eine einseitige Stellungnahme für den Willen einer Besatzungsmacht. Wir sind nun einmal von den die Welt beherrschenden Großmächten, die jede einen Teil unseres Vaterlandes als Faustpfand in den Händen halten, so grenzenlos abhängig, daß eine Lösung unserer Probleme nur denkbar ist in der Lösung der weltpolitischen Fragen; denn es gibt keine Politik ohne die bewegende Macht. Ich bleibe bei der Feststellung meines letzten Satzes, auch wenn sie auf den ersten Blick im Widerspruch zu stehen scheint gegenüber der Aussage, die ich früher machte, die die Politik von der Erziehung her zu begreifen sucht. Freilich möchte ich im Sinne einer klaren Terminologie Politik und Erziehung fortan deutlich unterscheiden: Bildung des Menschlichen erkenne ich als Sinn. Und die Politik hat diesem Sinne zu dienen. Sie soll Möglichkeiten für Erziehung schaffen. Das ist auch die Aufgabe des Staates: Sein Begriff schließt den realen Zustand einer Gemeinschaft, den Status, und seine gelenkte (nämlich durch Erziehung und Politik) Entwicklung, die Dynamik des Menschlichen, ein.

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Mahlis, den 10. März 1948 Es gilt die Bevölkerung der Ostzone im Sinne sozialer Demokratie zu erziehen. Das ist das Ergebnis der von mir in diesen Tagen angestellten Betrachtung unserer politischen Lage. Ich kann nur immer wieder betonen: Niemand, ob es sich um seine erklärten Anhänger handelt oder die, die sich deren Gegner nennen, darf achtlos an Marx vorübergehen. Mahlis, den 20. März 1948 Ich glaube, daß es ein der menschlichen Entwicklung immanentes Gesetz gibt, nämlich das, daß der Geist zu immer klareren Formen empordrängt. Seine Kraft, sein Wirken ist letztlich die Macht, die die Geschichte regiert; sie macht Geschichte erst möglich, die der Prozeß der Unterwerfung, Bändigung und Beherrschung des Physischen, Sinnlichen, Materiellen ist. Jede Epoche menschlicher Geschichte ist der Eintritt in eine neue Phase dieser ewigen Auseinandersetzung. Immer wieder entstehen dem sich emporschwingenden Geiste zwei Gefahren: die den Halt auf dem physischen Grund zu verlieren, sich völlig losgelöst zu verflüchtigen, und die, den Kampf aufzugeben, sich verschlingen zu lassen von der Materie; beides ist Tod. Jedes Zeitalter verlangt eine neue ausgleichende Harmonie, die von der ewig stürmenden Dynamik des Geistes wieder zerbrochen wird, neue Meisterschaft verlangend. Jedes Zeitalter, sage ich, jede Zeit, jeder Tag, jede Stunde, jede Minute, jede Situation spricht den Menschen an, sich zu entscheiden als Wesen aus Geist und Materie und die Herrschaft zu gewinnen als Geist. Dort wo der Geist waltet, schafft er Kultur. Sie trägt sein Wesen und ist Ausdruck der von ihm erreichten Herrschaft über das Physische: objektiver Geist. Jedes Kulturprodukt ist in seiner Bündigkeit Zeugnis einer zum Vollzug gelangten Weise der Kraft über die Materie. Aber nicht allein Zeugnis ist es; es ist Kraft von der Kraft des Geistes, die sich fortzeugend weiterpflanzt. Gedanken sind nichts, wenn sie nicht dazu führen, eine der menschlichen Sinnlichkeit zugängliche, eine wahrnehmbare Gestalt zu schaffen. Und so kann menschliches Wirken nur als das kulturelle Schaffen, das Mitgestalten der Kultur Sinn haben. Mahlis, den 21. März 1948 Und was verlangt das Leben in concreto? Es verlangt Selektion aus den Möglichkeiten subjektiver Aktivität nach dem Gesichtspunkt der Wirklichkeit. Diese Wirklichkeit selbst kennen wir nicht; aber wir erfahren sie im Verlaufe der Genesis, körperlich, dann geistig, d.h. im Denken.

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Die Genesis des Denkens ist darum eine fortschreitende Selektion in Richtung auf das letztlich Gültige, um es als Voraussetzung für alle Aktivität setzen zu können. Um dieser Aufgabe gerecht zu werden, das Selektieren aus den Möglichkeiten von Aktivität nach Maßgabe des Wirklichen, das wir nicht kennen, treiben wir Wissenschaft. Mahlis, den 22. März 1948 Manchmal gibt es doch noch Augenblicke und Stunden, in denen uns der köstliche Nektar beseligender Beruhigung zuteil wird. Seit mehreren Tagen schon versuche ich, meine Gedanken zu ordnen, die nun das Wesen der historischen Darstellung krönen und zu Papier gebracht werden sollen. Und immer tiefer mußte ich mich auf der Suche nach festem Grund unumstößlicher Voraussetzungen in das Gestrüpp der Philosophie verirren, bis schließlich alle Zweifelhaftigkeit der Wissenschaft vor mir erneut zutage zu treten drohte. Und nun erfüllt mich die ruhige und gültige Sprache, die Jaspers in der „Idee der Universität" anschlägt 14 : Die Wissenschaft bedarf der Führung durch die aus dem Einen der Transzendenz entspringenden Ideen, die in dem ständigen Zwiegespräch des Forschenden mit der Vieldeutigkeit des Erkennbaren wirkend werden. So wird die Wissenschaft „als erregende Funktion" Bedingung aller Wahrheit und Wahrhaftigkeit im menschlichen Dasein.

Mahlis, den 28. März 1948 Die Ruhe des herrlichen Frühlingstages, einer der ersten dieses Jahres, wird durchzittert von angstvoller Spannung. Die letzten beiden Wochen haben immer besorgniserregendere Nachrichten über die weltpolitische Lage gebracht. Der Gegensatz zwischen Ost und West scheint sich mehr und mehr zu verfestigen und zur Auseinandersetzung zu tendieren. Neue Unruhe befällt die Menschen, die abseits vom unmittelbaren Geschehen bisher vom großen politischen Schicksal wie einem Abstraktum redeten, einem geistigen Wesen, das selbst sie niemals anzusprechen vermöchten. Und nun droht erneut die langsam heilende Wunde des Entsetzens und Grauens der Jahre des vergangenen Krieges aufzubrechen. Noch ist Ruhe die Oberfläche dieser Tage; aber aus der Tiefe beginnt immer öfter eine gefahrvolle Bewegung aufzusteigen. Leichtfertig sind die meisten Menschen, die glauben, nichts mehr verlieren, aber vielleicht etwas gewinnen zu können. Sie wissen nicht, daß jeder noch soviel zu verlieren hat, auch der Ärmste. Doch das Geschick bleibt für sie eine ferne dritte Person, in ihrer Rätselhaftigkeit und Ungewißheit nur verheißungsvoll. Die Menschen sind gebunden und voller Glauben, das alles Den-

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Das Werk war 1923 erstmals, 1946 in einer Neufassung erschienen.

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ken verschlingt; echte Religion haben die wenigsten, dafür aber irgendein Idol, und vielfach ist es ein lächerlich ärmliches, ein entwürdigendes, daß man versucht wäre, darüber zu lachen, spürte man es nicht als etwas Tragisches, ja mit Verzweiflung Erfüllendes. Ich vermag nicht zu beten, auch wenn es mich noch so oft danach dürstet. Ich muß ausharren und den Spruch des gewaltigen Unbestimmten erwarten. Keine Flucht ist möglich, auch nicht die in die Gläubigkeit. Und doch werde ich eines kleinen, verborgenen Glaubens gewahr: Es ist die Zuversicht, die sich auf mich selbst baut. Mahlis, den 30. März 1948 Diese Tage sind warm und hell, und am Abend geht die Sonne unter in roter Glut. Und in gleichmäßiger Arbeit tönen die Geräusche der Motoren über die Felder. Und die Menschen gehen an ihre Werke wie alle Tage, wie alle Wochen und alle Monate, wie immer, wenn es Frühling wird. Und in den täglichen Gesprächen taucht die überall herrschende Not hin und wieder auf, aber als etwas zum Leben Gehöriges, etwas selbstverständlich Gewordenes, wie es das Wetter ist. Not ist diese enge Welt, und Mühe und Quälerei überall und dennoch köstlich. Im Tagwerk versinkt alles in einem gewaltig strömenden Choral der Arbeit, der unendlichen Tätigkeit, die die Seligkeit des Menschen ist, der auf Erden wandelt und es weiß. Keine Not ist wirklich, vermag zu bestehen vor der Tat im Dasein, nur die eine: Daß alles ein Ende haben kann und die Wellen des überwältigenden Geschicks herfallen können über alle Ohnmacht und Endlichkeit des Lebens, alles verschlingend ohne Gnade. Wehe uns! Leipzig, den 3. April 1948 Wie vollzieht sich Menschenbildung anders als in einem fortwährenden Gespräch zwischen Ich und Du! Es braucht niemals abzureißen und kann selbst im Schweigen noch fortgesetzt werden. Doch verlangt es vom Ich die Annahme, das Wissen um das Angesprochensein, die ständige Bereitschaft zu hören und das Suchen nach der Antwort. Gewiß, man kann sich diesem Gespräch entziehen; aber was ist unser Leben, wenn es zur ständigen Flucht wird? Wer aber in seinem Wesen offen ist, bereit ist zur Begegnung, wird die nie verstummenden Fragen selbst in den Subtilitäten des täglichen Lebens vernehmen. Und wenn wir überhaupt etwas auszusagen vermögen über den Sinn unseres Daseins, dann das, daß es nur im Leben selbst liegen kann, in dem Leben, das nicht allein vegetativ ist, sondern das erst menschlich wird im Bewußtsein des unaufhörlichen Gefragtseins und der Verantwortung daraus. Und nichts anderes vermag ich in der Wissenschaft zu sehen als den Weg. die verborgensten Fragen zu vernehmen. Doch die Antworten liegen nicht in

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ihrem Bereiche. Nur der Einzelne kann sie geben aus seinem Selbst heraus in der freien Sphäre der eigenen Entscheidung. Niemals aber hört das Fragen auf, und jede Antwort gibt ihr neue Gestalt. Unendlich groß ist die Last der unendlichen Fragen. Kein Mensch vermag sie geduldig zu tragen; sein Leid ist unendlich. Leipzig, den 4. April 1948 Nirgends findet der Mensch Halt auf dem endlosen Weg seines rastlosen Suchens, nur Ruhepunkte mag die Zeit ihm geben. Und die sind trügerisch, und der nimmer müde Geist des Menschen mahnt, aller Trägheit und Sehnsucht zur Ruhe zum Trotz sie zu verlassen. Wir können nur schaffen, um zu zerstören. Alles ist endlich in dieser Welt, und der Mensch ist ein ewiger Wanderer in ihr; „eine unnütze Passion" nennt ihn Sartre. 15 Ruhelos, ewig getrieben von der unergründlichen Kraft seines Wesens, durchzieht er das Dasein, gehorchend alleine der Forderung: „Nimm Abschied, Seele, und gesunde." 16 Gemeinschaft ist nur im ständigen Widerspruch, sonst ist sie Sklaverei. Leipzig, den 6. April 1948 Nichts kann die Einmaligkeit, Unberechenbarkeit und Eigentümlichkeit historischen Geschehens deutlicher machen als die gegenwärtige politische Entwicklung, die einen Gang nimmt, der geradezu jeder Erfahrung, jeder Erwägung des Möglichen Hohn spricht. Nicht das ist das Erstaunliche, daß sich die Mächte hart an der Grenze des Krieges bewegen, sondern vielmehr, daß die äußersten und letzten Mittel, die zur Anwendung gelangen, von denen man meinen müßte, daß sie unzweifelhaft einen Krieg im Gefolge haben müßten, durchaus nicht zu einem offenen Konflikt führen, der nicht einmal als unausweichlich angesehen zu werden scheint, wenn auch alle Welt immer wieder das Wort „Krieg" ausspricht. Die „ultima ratio" ist eben nicht die ultima. Ihre Mittel sind geradezu zu Mitteln der alltäglichen Politik geworden. In ruhiger Gelassenheit und dem Bewußtsein faktischer Unerreichbarkeit treiben die Gegner eine Politik des Äußersten, erweisen sich als Meister stahlharter Nerven. Das Prestige ist abgeschafft, seitdem nur noch zwei Weltmächte regieren; maßgebend sind allein die Fakten. Wir haben weder Krieg noch Frieden, sondern leben in einem Zustand permanenter subtiler Auseinandersetzungen, der aber durchaus nicht die Notwendigkeit einer jähen Begrenzung in sich zu tragen braucht. Es ist wohl nur das für alle bisherigen Geschlechter noch Unerfahrene dieses Zustandes, was 15

Jean-Paul Sartre (1905-1980), französischer Schriftsteller und Philosoph. Womöglich eine nicht ganz korrekte Übernahme einer Sentenz von Herrmann Hesse, die lautet: „Herz, nimm Abschied und gesunde!" 16

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die meisten Menschen nicht dazu kommen läßt, den großen Meistern dieses Spieles folgend, unangetastet von ständigem Angriff und Gegenangriff, unbeirrt an der eigenen Zukunft zu arbeiten. Freilich, wir sind nicht gleich den wohlausgeruhten Amerikanern Menschen mit kaltschnäuziger Gelassenheit. (Ich am allerwenigsten: Das hat sich gestern gezeigt bei meiner Ankunft in L[eipzig], als ich erfuhr, daß mein Kartoffelvorrat erschöpft ist und mir eine neue Hungerperiode bevorsteht. Es hat einen ausgesprochenen Krach gegeben.) Leipzig, den 15. April 1948 Es kann nur dann Sinn haben, Wissenschaft zu betreiben, wenn sich ihr weites Gebiet als Erleben zur Handlung konzentriert. Was kann ihr sonst für eine Bedeutung zukommen als die, den Menschen für Handlungen zu bilden. Ich bin bereit zu großer Arbeit. Es ist mir, als ginge ich nach dem Ringen der letzten Wochen neuer Reife entgegen. Leipzig, den 22. April 1948 Der gestrige Tag brachte wieder eine Studentenratssitzung, deren Ergebnisse klar vor Augen führen, daß der nach Osten weisende Strom zusehends an Stärke zunimmt. Ansätze zu radikalen Überwachungsmaßnahmen gegen die Studenten und scharfe Eingriffe in die bisherige Praxis der Stipendienvergebung bereiten erneut eine Umgestaltung der Studentenschaft vor, die uns alle vor neue, schwere Entscheidungen stellt. Deutlich hat sich gezeigt, daß die demokratische Mehrheit auseinanderzufallen droht. Der alte Mangel: Es ist keine einheitliche Überzeugung da, die in der Lage wäre, die stark differenzierten Meinungen der Einzelnen zu überwinden, um der geschlossenen Phalanx der Gegenseite entgegenzutreten. Im Hinblick auf mich persönlich scheint sich die allgemeine Meinung immer mehr zu meinen Ungunsten zu verschieben. Meine Lage hat sich nicht, wie ich in den vergangenen Monaten hoffte, gebessert, sondern bedeutend verschlechtert. Leipzig, den l . M a i 1948 Allmählich beginne ich mich wieder in der Wirklichkeit wohlzufühlen. Die Probleme, die mich die vergangenen Wochen hindurch so stark bewegten, weichen wieder zurück hinter dem Geschehen des Tages, das mir neuerdings etwas rosiger erscheint. Nun, der Frühling kann ja auch nicht spurlos am Menschen vorübergehen. Gestern machte mir der Prorektor eine Andeutung, nach der ich hoffen darf, jetzt doch zur Philosophischen Fakultät umgeschrieben zu werden. Damit hätte ich endlich eine deutliche Bahn vor mir, auf der ich - einstweilen unbesorgt - vorwärtssehen könnte.

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Mein letztes Schwanken und Unschlüssigsein hat heute ein langer gesprächsvoller Nachmittag beendet. Über meine nächsten Wege habe ich Klarheit gewonnen. Die Aufgabe, die ich mir stelle, weil ich sie in langem Leiden - ich darf dieses Wort hier gebrauchen - erkannt habe, ist, die Befähigung zu erreichen, gestaltend in das Werden der Gesellschaft, in der ich lebe, einzugreifen. Eine Grenze zwischen Erziehung und Politik gibt es dabei nicht. Es gilt, Arzt zu sein für die Nöte, die diese Zeit beherrschen. Ob Lehre oder Tat: Alles in diesem Sinne. Ich will den Weg suchen nach der Einheit von Arbeit und Leben, der nur zu finden sein wird vom Leben aus. Vielleicht werde ich Wissenschaftler, vielleicht werde ich Politiker, vielleicht Lehrer, vielleicht Journalist oder Schriftsteller; all das ist nicht mehr so wichtig. Eins freilich weiß ich heute: Am Ende steht das Denken. Und ist es schließlich nur ein einziger Gedanke, zu dem mich mein Leben befähigen wird; wenn er fortwirkt, habe ich nicht umsonst gelebt. Leipzig, den 6. Mai 1948 Dieser Himmelfahrtstag bringt die notwendige Ruhe nach der letzten Studentenratssitzung von gestern abend. Ich bin einfach rein körperlich nicht imstande, vier und mehr Stunden endlosen - häufig hitzigen - Diskussionen, auf dem Stuhl sitzend, zu folgen. Im Verlaufe der Sitzungen macht sich stets eine allgemeine Überreizung bemerkbar, die des öfteren in Überschreitungen der Grenzen von Recht und Anstand ihren Ausdruck findet, manchmal zu regelrechtem Krawall führt. Diese Gefahr besteht vor allem dann, wenn es sich um öffentliche Sitzungen handelt: Hinter jeder Miene, hinter jedem Wort eines einzelnen Studentenratsmitgliedes steht eine vielhundertköpfige Menge in Bereitschaft, ihm hundertfältiges Echo zu verleihen. Die Pfingstfeiertage bringen mir diesmal keine Gelegenheit zu ruhiger Arbeit, so notwendig ich sie auch gebrauchen würde. Mit vier anderen Kommilitonen des Studentenrates fahre ich auf Einladung der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität zur Hundertjahrfeier nach Frankfurt am Main. 17 Eisenach, den 14. Mai 1948 Pfingsttreffen der deutschen Studenten 18 : Eine frohe, launige Fahrt liegt hinter uns 19 Leipzigern, die wir an diesem Treffen teilnehmen. Das anfangs kühle Wetter hat sich in sommerliche Wärme und strahlenden Sonnenschein ver17 „Deutscher Studententag" anlässlich der Wiedereröffnung der Frankfurter Paulskirche. Die Studentenräte aus der S B Z beteilitgen sich an diesem Treffen jedoch nicht. 18 Das (dritte) Wartburgfest in Eisenach fand zeitgleich mit dem „Deutschen Studententag" in Frankfurt statt und wurde als Konkurrenzveranstaltung aufgezogen. D i e Einträge

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wandelt. In der näheren Berührung schon weniger Stunden scheinen die Gegensätze, die auf politischem Boden innerhalb unserer Gruppe bestehen und die in der gestrigen öffentlichen Studentenversammlung wieder in schärfster Form - selbst innerhalb der SED, der unser scharf angegriffener Prorektor 19 angehört, - zutage traten, zurückzutreten. In blendender Laune entsteht augenblicklich ein Gemeinschaftsgefühl, das das zwischen den meisten von uns noch trennend stehende Sie ins brüderliche Du umwandelt. Es mochte der Wunsch aufkommen, daß diese Stimmung recht lange anhalten und bei häufigen Gelegenheiten sich festigen möge. Seit den ersten Minuten auf dem Leipziger Hauptbahnhof sind unsere Gespräche erfüllt mit Witzen, launigen Einfällen und vollem Lachen. Aber das ist es nicht allein, was froh macht. Es ist, als erschlösse sich uns eine neue Art des Miteinanderlebens: Jede schroffe Gegensätzlichkeit scheint sich im ernsthaften, manchmal fast herzlichen, nach Verstehen suchenden Gespräch aufzulösen. Wir haben Gemeinsames entdeckt: Das Bewußtsein, daß wir ein neues Leben zu führen haben, dem alle Fragen an die Vergangenheit keine Hilfen entstehen lassen können. Wir wissen, daß wir der Kraft bedürfen, etwas zu schaffen.

Mahlis, den 20. Mai 1948 Die Tage von Eisenach liegen nun hinter mir. Das zusammenfassende Urteil ist positiv und negativ zugleich. Positiv insofern, als es einige recht schöne, abwechslungsreiche Tage waren, negativ aber, weil der eigentliche Sinn durchaus fragwürdig ist und darum auch nicht als ausreichender Grund für den nicht geringen Aufwand betrachtet werden kann. An ernsthaften Gesprächen und Diskussionen in verschiedensten Gruppen, wobei der Vorstoß häufig in die Gefilde der Grenzenlosigkeit ging, war zumindest in den ersten Tagen kein Mangel. Zu Tanz, Witz und einer gehörigen Portion Radau einschließlich aller Arten und Tonstärken von Gesang fanden sich ebenfalls reichlich ausgenutzte Gelegenheiten. Besonders wir Leipziger dürften als Delegation mit den besten Einfällen und der großartigsten Stimmung aufgefallen sein. Bei unserem Abschied machten wir die Erfahrung, daß unser Ruf „Es tönt ein Ruf wie Donnerhall: Leipzig, Leipzig ist überall! Vi - vat, cand. math."

womit unsere fürsorgende Kassenwartsseele, seit wenigen Tag[en] „cand. math." gemeint war, sogar unter den Kindern Eisenachs Aufnahme und Fortexistenz gefunden hatte.

vom 14. und 20.Mai 1948 von Gerhard Schulz in überarbeiteter Fassung bereits publiziert in: F A Z vom 28.5.1998, S. 14. 19 Horst Grimmer (1899-1975), 1946-1949 Professor für Allgemeine Didaktik der Volksschule und Stellv. Direktor des Instituts für praktische Pädagogik an der Universität Leipzig.

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Aber Leipzigs Ruhm war noch größer. Wolfgang Natonek 2 0 hielt am ersten Festtage als einziger Student ein Referat über [das Thema] Student und Wissenschaft, womit er so ziemlich als einziger Redner fast ungeteilten Erfolg bei Ost und West hatte. Dieses Referat und ein in die gleiche Sparte fallender Vortrag des Jenenser Rektors 21 waren neben den recht erstaunlichen Darbietungen der Jenenser Studentenbühne, bei rechtem Licht betrachtet, das eigentlich Erbauliche des Gebotenen. Der als Höhepunkt gedachte Festakt auf der Wartburg war langweilig und überaus unfestlich. Allgemeine Müdigkeit nach einer durchzechten Nacht ließen einen improvisierten, langweiligen Vortrag über das vielfach gehörte Thema der 48er Revolution, der infolge Verhinderung des vorgesehenen Referenten 2 2 das eigentliche Thema, „Die Studentenschaft 1848 und 1948", unberücksichtigt ließ, zur Qual werden, von der uns auch der von den Eisenacher Symphonikern gespielte Einzug der Sänger aus „Tannhäuser" 23 nicht erlösen konnte. Die Schläfrigkeit und Überflüssigkeit des ganzen Aktes wurde lediglich von den geschäftig arbeitenden Wochenschau-Leuten, den Gardisten der Propaganda, die gewiß mit einem erstaunlichen Aufwand von Jupiterlampen und Scheinwerfern die festliche Beleuchtung geschaffen haben, durchbrochen. Zweifellos wird das Licht der Propaganda selbst in die dunkelste Szene die von den Beteiligten nicht erlebte Helligkeit hineintragen. Am Burschenschaftsdenkmal ertrank die Zahl der Studenten förmlich unter der Masse der Einwohnerschaft Eisenachs, unter der sogar ein Transparent mit der Aufschrift „Wir Eisenbahner kämpfen für die Einheit Deutschlands", sichtlich verlegen von zwei biederen Männern gehalten, hervorragte. Das Abbrennen des Holzstoßes war bar jeder Feierlichkeit. Von den feierlichen Worten eines Jenenser Studenten konnte der größte Teil der Anwesenden nichts hören, teils weil der Standort zu ungünstig war, zum Teil aber, weil alles unterging in dem Geschrei der Kinder und dem Gemurmel der Masse. Alles, was studentisch war, wurde verschluckt von der apathischen Masse, die alles für den Sinn eines Pfingstspaziergangs nahm, billiges Vergnügen. Noch einmal singend - wie wenig kennen wir Burschenschaftslieder und verfallen immer wieder in Marschgesang - zogen wir truppweise auf den Marktplatz, der mit mehr als 10000 Menschen gefüllt war. Die Worte des thüringischen

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Wolfgang Natonek (1919-1994), Mitglied der L D P D , 1947-1948 Vorsitzender des Studentenrates der Universität Leipzig. Im November 1948 Verhaftung durch die sowjetische Geheimpolizei, 1949 Verurteilung zu 25 Jahren Zwangsarbeit durch ein sowjetisches Militärtribunal. 1956 Entlassung und Übersiedlung in die Bundesrepublik. Dort später Tätigkeit als Deutsch- und Geschichtslehrer in Göttingen. 21 Friedrich Hund (1896-1997), deutscher Physiker, 1946-1951 Professor an der Universität Jena, SS 1948 Rektor. 22 Rudolf Stadelmann (1902-1950), 1938-1950 Professor für Neuere Geschichte an der Universität Tübingen. Die französischen Besatzungsbehörden hatten Stadelmann die Ausreise versagt. 23 Oper von Richard Wagner.

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Ministerpräsidenten 2 4 hatten gänzlich den Charakter eines Appells an die Studentenschaft abgelegt und wurden zur bloßen politischen Demonstration. Einer nach dem anderen von uns löste sich aus der Menge. Im Saal des „Fürstenhofs" wartete man uns mit der Bekanntgabe einer Erklärung von Vertretern einer ganzen Reihe westdeutscher Hochschulen auf. Sie erklärten ihren Abstand von den Worten des Jenenser Studenten am Burschenschaftsdenkmal. So antworteten die Studenten. Umgehend bildeten sich viel[e] kleinere und größere Gruppen, in denen, zum Teil in scharfer Form, die Meinungen ausgetragen wurden. Was die Kommilitonen aus dem Westen veranlaßt hatte, in einer Distanzerklärung ihrer Empörung Ausdruck zu verleihen, wurde nicht ganz klar. Der Verdacht irgendwelcher Voreingenommenheiten, die nach den mißglückten Festakten zur Entladung drängten, liegt nahe. Die Argumentation blieb zuletzt stets an der Feststellung haften, daß man sich gegen den Gebrauch des Wortes „Einheit" wende, da darunter im Westen etwas anderes verstanden werde als im Osten. Auch dort, wo es tatsächlich einmal keine Gegensätze gibt, dort glaubt man auf beiden Seiten, sie zu wittern. Noch niemals ist mir so deutlich geworden, daß wir unsere Einheit nicht nur in politischer und wirtschaftlicher Hinsicht verloren haben und daß nichts Ernsthaftes geschieht, sie wieder herzustellen. Sicher wäre ein offener Riß das Ergebnis dieser Tage gewesen, wäre nicht Natonek in die Bresche gesprungen. Binnen einer Stunde gelang es ihm, eine Entschließung zu verfassen, hinter die sich alle vertretenen Hochschulen stellten. 2 5 Sie brachte wenigstens nach außen hin das Bekenntnis zur Einheit, stellte jedoch fest, daß die Worte des thüringischen Ministerpräsidenten nicht Ausdruck des Willens der deutschen Studentenschaft sei[en]. Die Kluft war überbrückt, nicht zuletzt dank der kompromißbereiten Haltung unserer SEDLeute. Die Gegensätze sind jedoch nicht tot. Alle Diskussionen werden durch die verbitternde Sprache der eisernen Tatsachen jäh abgebrochen. In Leipzig erhalte ich Einblick in die neuen Immatrikulationsrichtlinien. 2 6 Danach dürfte es hinfort keinem jungen Menschen, der nicht aus Arbeiteroder Bauernkreisen stammt, mehr möglich sein zu studieren. Ich trete für eine freie Bildung und politisches Entscheidungsrecht jedes Menschen unbeschadet seiner Besitzstellung und seiner sozialen Herkunft ein. Jedoch kann ich mich niemals damit einverstanden erklären, daß besten Kräften ohne ihr eigenes Verschulden der Weg nach oben versperrt wird. Im Westen aber wird man das erst recht nicht verstehen.

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Werner Eggerath (1900-1977), K P D / S E D , Ministerpräsident Thüringen von 1947 bis 1952. 25 Hinweis auf die gemeinsame Resolution, die nicht zur Veröffentlichung bestimmt war, in: Max Steinmetz (Hrsg.): Geschichte der Universität Jena 1548/58-1958. Festgabe zum vierhundertjährigen Universitätsjubiläum. Band 1: Darstellung, Jena 1958, S.716. 26 Näheres siehe Eintrag am 1. Juli 1948.

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Mahlis, den 23. Mai 1948 Diese Tage in Mahlis waren wie ein Schlag nach dem fremden Leben in Eisenach, das mich schon wieder so fern dünkt. Morgen früh fahre ich wieder zurück nach Leipzig. Damit hat die Ruhepause ihr Ende gefunden. Und es ist mir, als ginge ich in eine Schlacht. Ich weiß nun, daß dem Lebenden die Ruhe nicht beschieden ist. Leipzig, den 26. Mai 1948 Vier Professoren hielten eine Diskussion ab über die Aufgaben des Geschichtswissenschaftlers. Es wäre naheliegend gewesen, sich erst einmal über die Tatsache zu verwundern, daß vier völlig entgegengesetzte Meinungen zum Vortrag gelangen konnten und daß es ihrer wahrscheinlich noch eine ganze Reihe mehr gibt. Aber diese Tatsache wurde mit keinem Worte berührt. Nicht ein einziges Mal wurde die Frage, warum wir überhaupt Geschichtswissenschaft betreiben, direkt behandelt. Gerade diese Frage jedoch erscheint mir als die dringlichste und drückendste. Schon die Tatsache, daß wir unsere Meinungen über Sinn und Voraussetzungen von Wissenschaften einander gegenüberstellen - wie es heute oft geschieht - , zeugt für unsere Suche nach Grundlagen unseres Tuns, in diesem Falle des Forschens. Wir sind nicht mehr bereit, bedingungs- und kritiklos unser Tun in die von der Tradition eingefahrenen Bahnen führen zu lassen. Wir suchen - und das macht die Krise aus, in der wir stehen - nach Rechtfertigung unseres Tuns, hier: unseres historischen Forschens. Rechtfertigung läßt sich jedoch niemals auf abstrakt-spekulativem Wege gewinnen. Jedes Tun ist Äußerung unseres gesamten menschlichen Seins. Seine Rechtfertigung kann darum nur aus unserer Existenz selbst folgen. Der Sinn und Zweck historischer Forschung liegt in unserer eigenen Existenz. Es gilt zu existieren, sich des Daseins zu befähigen. Das heißt, daß der Wert der Geschichtswissenschaft in ihrer Erziehlichkeit [sie!] liegt. Leipzig, den 30. Mai 1948 Es gibt gleichsam zwei Dimensionen des Erfahrens: Die eine ist das mehr oberflächliche Wissen, zusammenhangloses, vorübergehendes geistiges Aufnehmen, die andere das unmittelbar zum Erleben werdende Wissen. In diesem Wissen erschließt sich ein tieferer Sinn. Es macht den Wissenden anders; er bildet sich zu einem anderen Wesen. Das ist der Lebensprozeß: die fortgesetzte Veränderung des eigenen Selbst in der tiefwirkenden Begegnung mit der Welt, das immer umfassender werdende Bewußtsein. Die Wissenschaft als bloße Technik ist längst an ihrem Ende. Ihr Wert liegt allein in der sittlich-geistigen Bildung. Bildend aber ist [nicht] die einzelne

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Tatsache als solche, sondern nur im Zusammenschluß durch die seelische Kraft des Aufnehmenden. Häufig hört man von der Forderung, daß der Mensch aus der Geschichte lernen solle. Ebenso oft wird jedoch die Feststellung getroffen, daß die Menschheit noch nie aus der Geschichte gelernt habe. Was soll denn unter „lernen" verstanden werden? Es ist nicht möglich, die Vergangenheit nach der vorzunehmenden Handlung in der Gegenwart zu befragen; denn jeder historische Augenblick ist einmalig und weist niemals völlig die gleichen Bedingungen auf wie ein anderer, der auf den ersten Blick als brauchbare Analogie erscheinen mag. Wir vermögen lediglich - das ist aber tatsächlich weit mehr - vom Bildungswert der Geschichte zu sprechen, von dem Wert, den die Geschichtswissenschaft für die Anreicherung, die Reifung des ihr Beflissenen als Persönlichkeit hat. Damit ist jedoch nicht einem romantischen oder ästhetischen individualistischen Bildungsideal das Wort gesprochen. Auch wer noch so aufrecht und stolz erhobenen Hauptes durch das Leben geht, weiß, daß seine Füße auf der Erde stehen. Das hic et nunc des eigenen Daseins fordert vom Menschen, daß er handelt. In der augenblicklichen Wirklichkeit weist sich der Wert der Persönlichkeit aus. Darum ist es durchaus richtig zu sagen, die Geschichtswissenschaft dient einem Zweck. Dieser Zweck ist das Verständnis der Gegenwart. Aber es gibt keine Wirklichkeit völlig voneinander isolierter Dinge. Alles gehört zueinander, sowohl in der Gegenwart als auch in der Zeit. Wir vermögen keine gründliche Aussage über das Augenblickliche zu machen, wenn wir nicht um sein Gewordensein wissen. So spricht Goethe: „Wer nicht von dreitausend Jahren Sich weiß Rechenschaft zu geben, Bleibt im Dunkeln unerfahren, Mag von Tag zu Tage leben." 2 7

Der Historiker wird nur dann den Zweck seiner Arbeit erfüllen, wenn er das Verständnis der Geschichte handelnd in gegenwärtiger Wirklichkeit ausweist. An die Wissenschaft, deren Selbstzweck wir bezweifeln müssen, muß darum die Forderung gestellt werden, daß sie auf die Existenz ihres Trägers hinführt. Die Forderung jedoch, die bereits den Begriff „Wissenschaft" einschließt, ist der Wille zur Objektivität, zur Gerechtigkeit gegenüber den Tatsachen, die „bedingungslose Bereitschaft, das eigene Urteil... den unbezweifelbaren Fakten der Wirklichkeit zu unterwerfen" (Gerhard Ritter, „Geschichte als Bildungsmacht". 28 ) Niemals aber ist damit vereinbar, die Geschichtswissenschaft dem Zwecke dienstbar zu machen, der im Sinne eines geschichtsphilosophischen Systems das letzte Ergebnis der Forschung bereits vorwegnimmt. 27

Zitat aus Johann Wolfgang von Goethe: West-östlicher Diwan. Gerhard Ritter: Geschichte als Bildungsmacht. Ein Beitrag zur historisch-politischen Neubesinnung, Stuttgart 1946. 28

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Leipzig, den 6. Juni 1948 Wir Deutschen können nur als ein Volk in eigenen Grenzen eigene Formen entwickeln, Formen, die der ganzen Welt zum Nutzen gereichen könnten. Es wäre ein schlechter Gewinn des hinter uns liegenden Krieges, wenn nur das Leben des bolschewistischen Ostens und des amerikanischen Westens sich Kraft derzeitiger Macht die Welt unterwerfen würden. Leipzig, den 8. Juni 1948 Tausend Aufregungen und Hetzereien füllen diese Tage. Ich soll zu einer Tagung nach Heidelberg, und noch habe ich keinen Interzonenpaß - dieses Wort hasse ich jetzt geradezu. Morgen muß ich weg, weiß aber kaum, wann, wie und wo. Leipzig, den 10. Juni 1948 Die Fahrt nach Heidelberg erweist sich jetzt als eine Illusion. Nach drei Tagen des Hastens und geduldigen Antichambrierens, an denen manches sich recht gut anließ, erhielt ich heute die Mitteilung, daß ich heute keinen Paß bekommen könnte. „Vielleicht morgen...." Das würde bedeuten, daß ich selbst im günstigsten Falle nicht vor Ende der Tagung in Heidelberg sein könnte. In willkürlicher Starrheit, in fast absolutistischer Hemmungslosigkeit und Launenhaftigkeit entscheidet ein blutjunger Leutnant, der sicherlich von all den Dingen, die im täglich vorgetragen werden, nicht das Geringste versteht, über Ausgabe, Zurückstellung oder Ablehnung eines Interzonenpaßanträges! Das heilige Zeichen der Bürokratie ist dieser Leutnant: Verantwortungslose, häufig allzu gleichgültige, unfähige und völlig unberufene Leute sitzen an allen maßgeblichen Positionen, für Minuten oder Stunden in ihrem Bereiche ihre kleine Macht auskostend, Menschen behandelnd wie dingliche Objekte. Mag diese ganze Angelegenheit auch nur unmittelbar damit zusammenhängen, jedenfalls bin ich für eine ganze Zeit von jedem auch nur vorübergehenden Hauch leichten Verständnisses gegenüber dem ostischen System geheilt. Für uns gibt es nur eins: ihm auf deutschem Boden Widerstand leisten. Leipzig, den 14. Juni 1948 Wieder einen ganzen Abend diskutiert. Die Währungsreform 29 scheint unmittelbar vor der Tür zu stehen und damit die Gefahr der Sanktionierung und Verschärfung der bestehenden Zustände.

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In den Westzonen und in der S B Z wurden ab dem 21.6.1948 bis 23.6. zwei parallele Währungsreformen durchgeführt; in den Westzonen war damit die Einführung der sozialen Marktwirtschaft verbunden.

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Das Ergebnis ist niederdrückend. Es ist kein Halt zu gewinnen. Es scheint kein Entrinnen vor dem Osten mehr zu geben. Leipzig, den 18. Juni 1948 Zwei Tage war ich in Berlin. Es ist mir jetzt offenbar geworden, daß es auch heute noch eine Steigerung von „Großstadt" gibt: Großstadt, d. h. Leben, Betrieb, Verkehr, Sorgen, Nöte, Lärm, Auseinandersetzung und Gegensätze, diese Meere von Häusern und Ruinen. Die radikalen neuen Zulassungsrichtlinien für das Hochschulstudium, die das Leistungsprinzip gänzlich hinter die Maßgabe sozialer Herkunft zurückdrängen, waren Hauptgegenstand einer Tagung der LDP-Studentenräte unserer Zone. Eine reichlich späte Zusammenkunft. Nun, da die L D P vor vollendeten Tatsachen steht, besinnt sie sich auf ihre eigene Hochschulpolitik, zu der freilich die elementarsten Grundlagen fehlen. Dabei hat es sich wieder einmal gezeigt, daß die politischen Tatsachen fast nirgends erkannt werden, daß es ausschließlich Vorurteile oder ferne Ideale sind, die da vertreten werden, nichts, was dem gewaltigen, radikal-rücksichtslosen Realismus der anderen entgegentreten kann. Leichtfertigkeit auf der einen Seite neben spröder Blasiertheit, Überspanntheit auf der anderen und immer wieder impotente Lust zur Resignation. Das, was tatsächlich noch nicht aus der bürgerlichen Welt herausgefunden hat, ist heute politisch entmannt. Es regiert die Tat allein. Doch die wenigsten, die das wissen, haben erkannt, daß auch die Tat rein und ehrlich sein muß. Mahlis, den 20. Juni 1948 Wie finden wir aus diesem Elend? Das deutsche Volk muß revolutionär werden. Es muß seine Stärke wiederfinden in einer Bewegung, die Geist und Herzen ergreift, die sich wie jede Revolution gegen die Wurzeln des Bestehenden richtet. Der Zustand, in dem wir leben, ist aber gekennzeichnet durch die Herrschaft von Bequemlichkeit und Engstirnigkeit derer, die noch besitzen, durch Dogmatismus derer, die neue Ordnungen zu verkünden meinen, durch Fanatismus derer, die noch Überzeugung haben und durch Verantwortungslosigkeit, Rücksichtslosigkeit und menschliche Gleichgültigkeit derer, die sich im Besitze von Macht finden. Mahlis, den 21. Juni 1948 Das allgemeine Thema aller Gespräche ist die Währungsreform. Seit gestern hat Westdeutschland eine neue, eigene Währung. Und trotz aller Versicherungen, daß alle notwendigen Vorsichtsmaßnahmen getroffen sind, ergreift eine

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erstaunliche Kopflosigkeit die Behörden der Ostzone. Die widersprüchlichsten Anordnungen werden getroffen. Es ist offensichtlich: der Westen ist am Zug. Leipzig, den 22. Juni 1948 Die allgemeine Unruhe infolge der zu erwartenden Währungsmaßnahmen unserer Zone nimmt ständig zu. Die Zahl der Mutmaßungen und die Ungewißheit über das Kommende sind weit größer, als sie es in der vorigen Woche in Hinblick auf die Währungsreform des Westens waren. Mit erschreckender Deutlichkeit beginnen sich die Erfahrungen abzuzeichnen, die mit der währungsmäßigen Aufspaltung Deutschlands verbunden sind. Was wird mit dem Interzonenverkehr? Das ist die bangste Frage, die uns erfüllt. Es scheint, als sei die Teilnahme an allen interzonalen studentischen Veranstaltungen dieses Sommers in Frage gestellt. Und das wäre der Anfang davon, daß wir auf Gedeih und Verderb mit dem Osten verbunden sind. Das ist die erste Realität unserer Unfreiheit: Wir sind an den Osten gekettet. Oder gibt es noch Auswege? Leipzig, den 23. Juni 1048 Dieser Tag hat auch unserer Zone die Währungsreform gebracht, d.h. uns über 2000,- RM Verlust, des letzten, was wir haben, zum Teil das Erbe von Großvater. 30 Aufregungen und Unruhe sind allgemein groß. Die Umwertung wird manche Schwierigkeiten mit sich bringen. Doch habe ich wieder einige Hoffnung auf nachträgliche Vereinheitlichung west- und ostdeutschen Geldes; denn so sehr unterschiedlich sind die Reformen hüben und drüben - abgesehen natürlich von dem enormen Vorzug, den die landeseigenen Betriebe genießen - gar nicht. Leipzig, den 25. Juni 1948 Gestern abend war der Studentenrat bei der Gesellschaft zum Studium der Kultur der Sowjetunion 31 zu Gast. Bei angenehmer und hervorragender Be30

Die Besitzer von Altgeldguthaben auf Sparkonten gehörten zu den Verlierern der Währungsreform in der SBZ. Das Umstellungsverhältnis bei Einlagen zwischen 1 0 0 0 und 5 0 0 0 - RM betrug 5,1:1, bei Einlagen über 5 0 0 0 - RM 12 :1. Frank Zschaler: Die vergessene Währungsreform. Vorgeschichte, Durchführung und Ergebnisse der Geldumstellung in der SBZ 1948, in: VfZ 45 (1997), S.214. 31 Vorläuferorganisation der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft, die im Juli 1949 gegründet wurde. Dabei handelte es sich um eine Massenorganisation, die den Deutschen in der SBZ/DDR Kultur und Gesellschaft der Sowjetunion vermitteln sollte.

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wirtung ließen sich bald zwanglose Gespräche an. Die Atmosphäre des bürgerlichen Clubs war hergestellt. Und in mancher Erkenntnis, nicht zuletzt dank der enthusiastischen Schilderungen des Schweizer Professors Mühlstein 32 , der ebenfalls Gast war, über kommunistische Wissenschaftler, läßt mich die Zeit allmählich Verständnis gewinnen gegenüber dem Anliegen des Kommunismus. Was trennt mich schon von ihnen außer der Nichtanerkennung des ökonomischen Vorranges und der mechanistischen Gesetzmäßigkeit des Geschichtsablaufes? Freilich sind das für sie wesentliche Dinge. Aber sind sie es in der Tat auch für mich? Diese Frage lege ich mir jetzt vor. Ist es nicht denkbar, daß sich auch in der kommunistischen Gesellschaft leben und streben läßt, das Glück des Menschseins finden läßt? Sind die ökonomischen Voraussetzungen erfüllt, ist noch gar nichts erreicht, aber auch nichts verloren. Die Menschheit vermag überall zu leben. Ich weiß, daß diese Gedanken niemals einem strengen Kommunisten verständlich sein werden. Aber ich werde auch niemals für mich in Anspruch nehmen, kommunistisch zu denken. Wohl aber scheint es mir glaublich, auch mit dem Kommunismus einiges zu erreichen. Leipzig, den 26. Juni 1948 Gestern abend Betriebsgruppenversammlung der LDP. Der Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt 33 sprach über die Hochschulpolitik der LDP. Es gab nicht allzu viel Neues, weder in seinem Referat noch in der anschließenden Diskussion. Bei allen Erörterungen des Problems der Hochschulreform erkenne ich immer deutlicher, daß sich zwei entgegengesetzte Standpunkte als Kern aller Widersprüche abzeichnen. Ein Teil der Diskutierenden, der nicht allein dem Lager lediglich einer bestimmten Partei entstammt, betrachtet die Universität als höchste Bildungsinstitution des Volkes, deren Aufgabe darin liegt, in möglichst umfassendem Maße alle Schichten des Volkes bildend zu beeinflussen. Für sie ist nicht die Erreichung hoher wissenschaftlicher Qualifikation das Entscheidende, sondern daß einem möglichst großen Teil des Volkes Zugang zur Hochschule gewährt wird. Die anderen dagegen vertreten die Ansicht, daß die Hochschule eine Bildungsstätte strenger Wissenschaft ist, die nur einem Teil des Volkes mit der höchsten wissenschaftlichen Qualifikation zugänglich gemacht werden kann. Irgendeine Klärung oder auch nur einen anregenden originellen Gedanken gab es auch gestern nicht.

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Nicht ermittelt. E r h a r d H ü b e n e r (1881-1958), LDP. 1945-1946 Präsident der Provinz Sachsen-Anhalt. 1946-1949 Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt.

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Leipzig, den 27. Juni 1948 Verlassen die Westmächte Berlin? 34 Diese Frage ist seit gestern, da man offensichtlich formell dieser Frage auch im Westen nähertritt, überaus aktuell. Die Russen zwingen offenbar zu diesem Schritt. Sie fühlen sich bereits als Sieger. Einer Reihe von hohen Persönlichkeiten der SMA wurden Orden verliehen. 35 Die Währungsreform war für sie ein glänzendes Geschäft, aber auch für den Schwarzen Markt, auf dem bogenweise die neuen Wertkoupons 36 (oder Westkoupons) gehandelt werden.

Leipzig, den 1. Juli 1948 Die Leipziger Studentenschaft hat wieder einmal ihren Semesterkrach. Die gestrige Studentenratssitzung mußte abgebrochen werden, weil die SED-Vertreter den Saal verließen und damit der Studentenrat seiner Beschlußfähigkeit beraubt wurde. Offenbar machen die sowjetischen Praktiken in den Sitzungen der Berliner Kommandantur Schule. 37 Der Anlaß lag in dem Ergebnis einer Abstimmung über einen von mir eingebrachten Antrag, der sich mit den Zulassungsrichtlinien der Zentralverwaltung befaßte. Diese Richtlinien, die schon öfters erörtert wurden, sehen eine Einteilung der sich bewerbenden Abiturienten in zwei Gruppen vor. Die erste umfaßt Söhne von Arbeitern und kleinen Bauern, die zweite alle anderen. Erst wenn die erste Gruppe - ohne Rücksicht auf Leistung - restlos zugelassen ist, dürfen die Befähigtesten der nachfolgenden Gruppe berücksichtigt werden. Ich schlug nun vor, einen Abänderungsantrag im Zonenrat erwirken zu lassen, der dahin geht, daß die Zulassung der begabtesten Bewerber aus allen Volksschichten gewährleistet ist. Nach einer Diskussion, in deren Verlauf ich keinen leichten Stand hatte, weil ich mich einmal gegen die lächerlichsten Vorwürfe - „Feind des Arbeiterstudiums", für das die Zulassung in Wirklichkeit außerhalb der Zulassungsrichtlinien geregelt wird, - wehren mußte, zum anderen aber auch keine einheitliche wirksame Unterstützung bei den Kommilitonen fand, die auf dem Boden meiner Meinung standen, kam es zur Abstimmung. Die Mehrheit sprach sich für meinen Antrag aus. Der Rest nahm nicht teil an der Abstim-

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Am Tag zuvor hatten die Westmächte auf die beginnende Berlin-Blockade der Sowjetunion mit der Einrichtung der Luftbrücke reagiert. Zu dieser Zeit bestanden jedoch noch Zweifel, ob es möglich sei, die Versorgung der Westberliner Bevölkerung mit Hilfe der Luftbrücke aufrechtzuerhalten. 35 Darunter befand sich Marschall Wassilij Sokolowskj, der mit dem Lenin-Orden ausgezeichnet wurde. 36 Da in der SBZ für die Durchführung der Währungsreform keine neuen Banknoten vorhanden waren, wurden auf die alten Reichsmarkscheine Kupons aufgeklebt. 37 Am 19.6. hatte der sowjetische Kommandant in Berlin die Einladung zur nächsten Sitzung der Kommandantur abgelehnt, die daraufhin nicht mehr zusammentrat.

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mung. Das veranlaßte zur Frage an den Rechtsreferenten, ob eine Enthaltung der Teilnahme an Abstimmungen von Anwesenden als Stimmenthaltungen zu rechnen seien oder nicht. Noch ehe eine Antwort gegeben werden konnte, erfaßten einige Kommilitonen der Gegenseite ihre Sachen und verließen mit Gefolge der anderen ihrer Richtung schleunigst den Saal. Während der einsetzenden Pause, in deren Verlauf ich etliche Glückwünsche für die erste klare Stellungnahme innerhalb des Studentenrates seit mehreren Monaten entgegennehmen mußte, wurde von einer Anzahl von uns der Standpunkt vertreten, diese Gelegenheit für einen sofortigen Rücktritt als gegeben zu erachten. Schließlich aber gelangte die Auffassung zum Durchbruch, die auch ich vertrat, bis zum nächsten Tage eine Stellungnahme der Ausgezogenen abzuwarten, ob sie sich völlig der weiteren Mitarbeit zu entziehen gedächten. Dem Vorsitzenden des Zonenrates gelang es schließlich, die Sitzungsabbrecher in den Parteiräumen der SED anzutreffen und eine kurze Stellungnahme zu erfahren. Der Auszug ist demnach als nicht endgültig anzusehen. Wohl aber will man auch nicht bedingungslos zurückkehren. Man macht uns den Vorwurf „unfairer Arbeit". - Sicherlich zerbricht man sich den Kopf jetzt darüber, was man unter „unfair" alles verstehen kann. Heute mittag werden wir weiteres erfahren. Ich bin zufrieden mit meinem Erfolg, den Studentenrat zu einer klaren Stellungnahme veranlaßt zu haben. Nicht zufrieden freilich bin ich mit der Lauheit vieler Kommilitonen, die sich freuen, es „den anderen einmal gezeigt zu haben", aber sofort bereit sind zu Kompromissen. Meine Stellungnahme dürfte kaum anfechtbar sein. Der Vorwurf unfairen Arbeitens läßt sich auch nicht im Ernst vertreten. Daher kann nach meiner Auffassung auch nicht die Annahme [der] von uns gestellten Bedingungen über die Weiterarbeit des Studentenrats entscheiden. Der Wille zur weiteren Zusammenarbeit muß nun schon aus ehrlicher Überzeugung kommen. Der Tag unserer aufregenden Studentenratssitzung scheint auch in der großen Politik Neues gebracht zu haben: Bevin 38 hat vor dem Unterhaus erklärt, daß in der Berliner Frage keinesfalls nachgegeben werde und daß man gefaßt allem Kommenden entgegensehe. 39 Und hinter all diesem vollzieht sich eine Auflockerung des sogenannten Ostblocks. 40 Es scheint nun das letzte Wörtlein doch noch lange nicht gesprochen worden zu sein.

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Ernest Bevin (1881-1951), britischer Gewerkschaftsführer und Politiker (Labour Party), 1945-1951 Außenminister. 39 Die Erklärung datiert vom 30.6.1948. 40 Anspielung auf die Auseinandersetzungen zwischen der Kominform und der Kommunistischen Partei Jugoslawiens, die die Teilnahme an einer gemeinsamen Sitzung am 27.6.1948 abgesagt hatte und deren Verhalten in einer Resolution scharf verurteilt wurde: Vorwurf des „Verrats an der Sache der internationalen Solidarität der arbeitenden Klasse" und von „antisozialistischen Ansichten".

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Unsere SED-Studentenratsmitglieder haben ihren Willen bekundet, sich über die aufgetretenen Meinungsunterschiede in Auseinandersetzungen einzulassen in der angeblichen Hoffnung auf die Möglichkeit weiterer Zusammenarbeit. Morgen vormittag steigt eine außerordentliche Studentenratssitzung, auf der die Lage geklärt werden soll. Leipzig, den 2. Juli 1948 Die heutige Studentenratssitzung fand ohne die SED-Vertreter statt. Nur einer von ihnen war zugegen, um eine Erklärung zu verlesen, in der es von Angriffen gegen uns und unhaltbaren Behauptungen wimmelte. Daraufhin haben wir den Senat um eine Untersuchung gebeten. Die nächsten Tage werden angefüllt sein von wichtigsten Ereignissen für mein weiteres Leben. Wenn mein Antrag dazu benutzt werden sollte, eine „Generalreinigung" unserer Universität vorzunehmen, dann ist freilich alles in Frage gestellt, nicht nur die weitere Studentenratsarbeit, sondern auch mein Studium und das Studium derer, die zu mir halten. Leipzig, den 4. Juli 1948 Wieder ein Arbeitssonntag. Heute bin ich ganz allein daheim, an einem schönen Tage nach zwei Regenwochen. Ich sitze nun Stunde für Stunde über Lorenz [von] Steins 41 „Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich" 42 , welche Arbeit ihren Niederschlag in einem Referat finden soll. Aber die Gedanken irren ab. Zu sehr erregen mich die Vorfälle der letzten Tage. Ich bin wenig befriedigt von den letzten Ereignissen. Einmal verursachen sie ein unangenehmes Gefühl vor dem Kommenden, zum anderen finde ich mein mangelndes Zutrauen zu dem Lager, in das ich nun, ohne es zu wollen, fest hineingeraten bin, immer wieder bestätigt. Gestern empfing uns der Rektor. 43 Zweifellos ist er mit ganzem Herzen nicht bei uns. Dennoch halte ich die Art, mit der wir mit ihm verhandelten, nicht für richtig. Er wird behandelt wie ein weltfremder, naiver, alter Mann ich weiß nicht, ob er es wirklich ist, vor allem aber, ob er das nicht merkt. Nur einen kleinen Erfolg haben wir erringen können. Diejenigen, die uns angegriffen haben, werden morgen veranlaßt werden, dazu Stellung zu nehmen. Bei unserem Fortgehen war der Rektor jedenfalls davon überzeugt, daß mein

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Lorenz von Stein (1815-1890), Staatsrechtslehrer, Soziologe und Ökonom. Vollständiger Titel: Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich von 1789 bis in unsere Tage, Leipzig 1850, 3 Bände. 43 Erwin Jacobi (1884-1965), Staats- und Kirchenrechtler, Professor an der Universität Leipzig, 1947/48 Rektor. 42

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Antrag auf der letzten Studentenratssitzung nicht im Widerspruch steht zu den Beschlüssen der vorhergegangenen. Eine Senatseinberufung freilich hat der Rektor abgelehnt. E r will die Gegenseite anhören und dann zu weiteren Schritten kommen, über die er nichts Näheres sagte. Damit ist nun die andere Seite [in die Lage] versetzt zu handeln. Und wir sind von vornherein die Angeklagten. Leipzig, den 5. Juli 1948 Die Zeitung brachte einen Aufsatz über die letzte Studentenratssitzung, aber verhältnismäßig gezähmt. Gewiß sind die Darstellungen schief, die Einzelheiten aber nicht näher behandelt. Mein Name ist fast krampfhaft verschwiegen worden, obwohl ich als anonymer „Antragsteller" des öfteren in Erscheinung trete. Ein gutes oder schlechtes Zeichen? Ich möchte fast geneigt sein, das letztere anzunehmen, was übrigens durchaus im Zusammenhange mit einer Drohung steht, die heute ein Mann der Gegenseite aussprach. Aber vielleicht bin ich doch etwas zu pessimistisch. Ich will [mich] jedenfalls davor hüten, nervös zu werden. Zweifellos neige ich, da ich zum ersten Male an einer derartigen Krise beteiligt bin, sehr stark dazu. Leipzig, den 13. Juli 1948 Die Nerven sind bis zum Zerreißen gespannt. Gestern abend war wieder eine Sitzung, die mehrere Stunden dauerte und auf der wir ergebnislos bis in die Nacht hinein diskutierten. Die Lage im Studentenrat ist höchst prekär. Die Gegenseite, die möglicherweise erkannt hat, daß ihr Verhalten nicht völlig gerechtfertigt war, hat sich nun auf eine letzte Forderung versteift: daß ich meinen Antrag zurückziehe. Damit steht und fällt ihr Prestige. Man muß dem Gegner goldene Brücken bauen, gewiß, aber nicht solche, die ihn in das eigene Lager führen. Die Stimmung ist bei uns nicht mehr ungeteilt für die Aufrechterhaltung meines Antrages. Die Meinungen gehen stark auseinander. Hinzu kommt, daß die Arbeitsfreudigkeit für die Studentenschaft zusehends sinkt und einer allgemeinen Müdigkeit Platz macht. Leipzig, den 14. Juli 1948 Auf der heutigen Studentenratssitzung fanden die beiden Parteien wieder zusammen. Aber der Preis war hoch und - vielleicht wird das die Zukunft lehren - möglicherweise vergeblich. Der Studentenrat hat sich in bedenkenloser Weise von seiner letzten Entschließung, die auf meinen Antrag zurückging, distanziert, ohne auch nur die geringste Gewähr für die Aufrichtigkeit des Willens zur Zusammenarbeit erhalten zu haben. Auch mein rückhaltloses Entgegenkommen, das darin lag, daß ich in aller Form meinen Antrag als

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durch neue Formulierungen, die nicht im Widerspruch zu ihm stehen, [als] überholt zurücknahm, konnte das nicht verhindern. - Die nächsten Nummern unseres Monopolblattes werden zeigen, wie man der Gegenseite die Mittel, ihren Sieg auszuschlachten, in die Hand gegeben hat. Der Wille, über eine sieben Seiten lange Erklärung, die uns gestern zugestellt wurde, zu diskutieren, war anfangs nicht vorhanden, da eine genaue Lektüre den meisten von uns noch nicht möglich gewesen ist. Dennoch hat sich einer nach dem anderen von uns auf dieses Gebiet begeben, obwohl auch die Gegenseite einer Behandlung dieser Fragen erst in einer Woche zugestimmt hatte. Und am Ende stand die Erfüllung der gestellten Forderungen, ohne daß mir die Gelegenheit geboten worden wäre, daß ich meinen Antrag hätte eingehend motivieren und verteidigen können. Wieder ist es angesichts fortschreitender Erhitzung und gewissenloser Wortverdrehung zu keiner sachlichen Auseinandersetzung gekommen. Der Studentenrat hat sich als gefährliche Schwatzbude gezeigt, in der bedenkenlos jede Möglichkeit, Kompromisse zu schaffen, ausgenützt wird. Seine Hauptaufgabe, politisch erzieherisch zu wirken, vermag er nicht zu erfüllen. Mich befällt starker Zweifel daran, daß überhaupt das Pflänzchen Demokratie auf deutschem Boden wird gedeihen können. Je mehr ich darüber nachdenke, nähere ich mich der Einsicht, daß meine Bemühungen im Sinne einer bestimmten klaren politischen Linie sinnlos sind. Leipzig, den 15. Juli 1948 Zwei Tendenzen nur können der sozialen Frage gemeinsam zu Leibe gehen. Nur sie machen den Sozialismus aus, der der Menschheit weiterzuhelfen vermag: Die Beseitigung von Not, Elend und Unterdrückung, Freiheit der Entwicklung und die Überwindung des Machtbewußtseins der Besitzenden. Die brennende Frage ist dabei für mich, ob dieses Letzte tatsächlich möglich oder etwa doch eine Utopie ist. Leipzig, den 19. Juli 1948 Dies sind die Tage meiner intensivsten Arbeit in diesem Semester. - Lorenz von Stein ist der Gegenstand meiner Betrachtungen. - Und ich habe den Eindruck, daß ich wieder einmal etwas schaffe. Ein Glücksgefühl durchströmt mich - trotz aller ungünstigen Aussichten für die weitere Zukunft - angesichts der völligen Freiheit eigenen Arbeitens, die mir das nächste Semester nach dem Ende der aufreibenden Tätigkeit im Studentenrat bringen soll. Heute ist unser „Dies". Ich bleibe trotz mehrerer ernster Aufforderungen dem Ball fern, um für meine Arbeit frisch zu bleiben. Allein in ihr liegt jetzt mein Glück. - Und das ist bereits wieder eine höchst wichtige Einsicht.

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Mahlis, den 6. August 1948 Nach Zeitungsmeldungen wird die „Freie Universität Berlin" bereits zum Wintersemester mit ihren Vorlesungen beginnen. 44 Seitdem ich das weiß, finde ich wieder keine Ruhe, durchziehen tausend Pläne mein Gehirn. Mahlis, den 11. August 1948 Aus der Rede eines SED-Führers, die die Zeitung vor einigen Tagen ausschnittweise zitierte: „Die Partei muß alle antisowjetischen Elemente ausschließen... Wer Angehöriger der SED ist, darf nicht nur Inhaber eines Mitgliedsbuches, sondern muß Aktivist sein." Diese offene Sprache, die in letzter Zeit geführt wurde, schnürt mir immer wieder die Kehle zu. Mich packt das Entsetzen. Unumwunden wagt man die Forderung zu erheben, daß rücksichtslose Bejahung der Politik der sowjetischen Besatzungsmacht erste Voraussetzung ist, eine Voraussetzung, deren Anerkennung von der Parteiführung mit allen ihr zu Gebote stehenden Mitteln erzwungen wird. Das bedeutet völlige Abhängigkeit der SED von der Politik der Besatzungsmacht. Die SED erklärt sich damit offen als der in das deutsche Volk hineingreifende Arm der Russen. Aber noch mehr: Die SED ist nicht eine Partei unter Parteien, sondern sie ist die politische Organisation, die sich in ständig zunehmendem Maße in den Besitz der Machtmittel unserer Zone, soweit sie überhaupt deutschen Stellen zukommen, setzt. Sie beherrscht unsere Zone, aber nicht nur als politische Organisation, sondern als die Organisation, die in alle Lebensäußerungen unseres Volkes innerhalb unserer Zone bestimmend eingreift und ihnen damit direktiv die sowjetische Politik zugrundelegt.

Mahlis, den 14. August 1948 Eine Bemerkung zum Kommunismus: Auf den Voraussagen von Marx beruht die Vorstellung, daß in der sozialistischen klassenlosen Gesellschaft, in der die Möglichkeit zu gründlicher Erziehung gegeben ist, die Übernahme jeder Funktion in Gesellschaft und Produktion durch jeden Menschen möglich ist, daß ausführende Arbeit und Leitung mehr und mehr zusammenfallen. Darum müßte es erreichbar werden, daß ein Industriedirektor zeitweise die Arbeit eines Kanalräumers, der Kanalräumer aber zeitweise die Aufgaben eines Direktors erfüllen könnte. Die zunehmende Komplizierung und Differenzierung von Produktion und Verwaltung, die zunehmende Verwissenschaftlichung erforderten, haben diese Annahme jedoch widerlegt. Jede leitende Funktion verlangt nicht nur besondere Be-

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Der Aufruf zur Gründung der F U Berlin war am 23.7.1948 erfolgt. Die feierliche Gründung erfolgte am 4.12.1948. Der Lehrbetrieb hatte mit Beginn des Wintersemesters 1948/49 begonnen.

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gabungen und Ausbildungen; die erforderlichen Fähigkeiten sind nur in einer längeren Folge kontinuierlicher Erfahrungen, wie Paul Sering 45 sehr treffend feststellt, zu erlangen. Es ist nicht abzusehen, daß der Traum von der Gleichheit der Menschen in der Gesellschaft, angesichts der Gesellschaft - in den Sphären von Wirtschaft und Politik zumindest - jemals zu verwirklichen sein wird. Die strenge Klassenunterscheidung der Hochzeit des freien Kapitalismus mag fallen; aber die Differenzierung bleibt in verschiedenen Formen bestehen: Die gesellschaftliche Stellung wird nicht mehr bestimmt durch die Bedeutung des Eigentums an Kapital, sondern durch die Befähigung zur Übernahme bestimmter wirtschaftlicher oder politischer - im weiteren Sinne: gesellschaftlicher - Aufgaben. Damit ist jedoch die Vorstellung der Gleichheit durchaus nicht etwa der Lächerlichkeit zu überantworten. Auf gesellschaftlichem Gebiet wird sie sich freilich nicht verwirklichen lassen. Aber wer will die Existenz der Basis eines allen Menschen Gemeinschaftlichen leugnen? Auf der Ebene des Menschlichen sind alle Erdenkinder gleich. Das jedoch muß sich in seiner ganzen beherrschenden Bedeutung durchsetzen. Das Menschliche selbst muß zum bestimmenden Prinzip des Lebens, des Daseins werden. Funktion in der Gesellschaft, Stellung und Arbeit können dann nur noch den Schein des Stationären, des bloß Aufgabenhaften behalten. Sie sind Verpflichtung auf ein Höheres, Gewand eines Bedeutenden. Das wäre der Sieg des Menschen über die Materie, aus der er sein Dasein formt, die volle Anerkennung der Tatsache, daß die das Leben der Gesellschaft bestimmenden Gesetze nicht in dem Gebiete der Wirtschaft liegen, sondern im Menschen. Mahlis, den 17. August 1948 Es scheint mir allmählich immer notwendiger zu werden, an eine sachliche Kritik des Nationalsozialismus heranzugehen; vor allem zu dem Zweck, die in ihm enthaltenen konstruktiven Tendenzen von den freilich überwuchernden destruktiven zu trennen. Es wäre ein unausdenklicher Verlust, wenn unsere Zeit völlig verlorenginge. Und gerade jetzt wird es für unser Volk dringende Forderung, aus völliger Verzweiflung oder Auflösung infolge zunehmender geistiger Abhängigkeit von den jeweiligen Besatzungsmächten herauszufinden, um sich auf seine kulturelle Autonomie zu besinnen. Gewiß sind den nationalistischen radikalen Tendenzen heute keine Fähigkeiten zu umgestaltenden politischen Entscheidungen von aufbauendem Wert zuzuerkennen; aber jede Politik größeren, mehrere Völker und Staaten umgreifenden Ausmaßes, kommt doch nur zustande auf der Grundlage der unangetasteten Existenz der 45

Deckname von Richard Löwenthal (1908-1991), deutscher Politikwissenschaftler. 1935 Emigration nach Großbritannien, dort bis 1959 als Journalist tätig, von 1961 bis 1974 Professor an der F U Berlin

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Völker als solche. Jedes menschliche Dasein verfügt über Verwurzelungen im festen Boden eines Volkes. Das dürfen wir Deutschen heute weniger denn je vergessen - oder wehe uns! Es ist an der Zeit, den eigenen Weg zu suchen aus dieser Not. Auch nur so werden wir neue Achtung in der Welt finden. Jede neue Lösung aber wird fortan im sozialen Lichte stehen. So ist bereits der Name Nationalsozialismus in gewisser Hinsicht auch für uns Verheißung, die uns den Weg in die Zukunft weist. Die Schwierigkeit unseres Unternehmens liegt allerdings zum guten Teile darin, daß es gilt, sich frei zu halten von all den entsetzlichen Kräften, deren Wirkung in der Hitlerzeit uns in diesen furchtbaren Abgrund gestürzt hat, in dem wir endlich erwacht sind. Nur zu stark ist noch der Überrest der vergangenen Urteile und Gewohnheiten in unserem Volk; er muß weiter abgetragen werden. National darf nicht Überheblichkeit und Feindschaft gegen andere Völker bedeuten; es heißt Verpflichtung, nicht Berechtigung. Sozialismus aber verlangt eine Lebensform, die unser Volk weder im Nationalsozialismus der Vergangenheit noch heute begriffen hat. Doch es ist noch nicht angebracht, offen den neuen Namen zu verkünden; noch könnten giftige Assoziationen geschaffen werden. Es gilt, zu erziehen unter behutsamer Zerstörung in langsamem Aufbau, die Deutschen sich ihrer selbst als ein Volk bewußt werden zu lassen, daß sie aus jeder auch nur halben Hörigkeit herausfinden. Das Gelingen freilich eines solchen Vorhabens ist letztlich abhängig von der Politik der Besatzungsmächte, den Mächten auf unserem Boden, deren Verhältnis zueinander für uns Fügung ist. Mahlis, den 18. August 1948 An diesem Tag hat mir Paul Serings wertvolles Buch „Jenseits des Kapitalismus" 4 6 zu entscheidenden Einsichten verholfen, die mich zuletzt ein klares Bekenntnis zum Sozialismus finden lassen. Ich bekenne mich zum Kampfe gegen Verhältnisse, die beherrscht sind von rein materiellem Streben der Menschen und jedes einzelnen Leben und Freiheit zur Erfüllung seines Menschseins abhängig machen von seinem Besitz. Der Besitz an Produktionsmitteln darf nicht mehr das Entscheidende für die persönliche Unabhängigkeit sein. Dieses Ziel weist bereits die Entwicklung, den die Wirtschaft in allen industriellen und vielen Agrarstaaten zu nehmen beginnt. Doch es genügt nicht, daß die Zahl derer, die bestimmend über das Schicksal der Menschen sprechen können, zusehends abnimmt; jeder einzelne selbst muß in den Besitz der Voraussetzungen gesetzt werden, die ihm freie Entscheidung über sein eigenes Tun und Schaffen ermöglichen. Jeder einzelne muß jederzeit Anteil haben können an der Bestimmung all dessen, was Vollständiger Titel: J e n s e i t s des Kapitalismus. Ein B e i t r a g zur sozialistischen Neuorientierung. L a u f bei Nürnberg 1946. 46

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ihn angeht. Das erfordert die Möglichkeit der Aneignung von Fähigkeiten, die zur Erfüllung leitender Aufgaben in der Gesellschaft notwendig sind. Jeder einzelne muß die Chance erhalten, in höhere Positionen aufzusteigen, die er dann nach eigenem Willen und nach dem Maße seiner Kräfte nutzen kann. Darüber hinaus aber muß allen Angehörigen der Gesellschaft das Recht zur Kritik aller Maßnahmen nicht nur eingeräumt werden, sondern gleichzeitig den Charakter öffentlicher Kontrolle erhalten. Das Volk ist das oberste Plenum, vor dem jede Handlung politischer oder ökonomischer Art zu verantworten ist. Es muß der Weg gefunden werden, um die Rechte, für die das Bürgertum seit mehr als hundert Jahren gekämpft hat, allen Angehörigen der Gesellschaft nutzbar gemacht werden. Nur das kann die Verwirklichung der Forderungen: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit sein. Vorrangstellungen müssen aufgehoben werden, doch nicht so, daß man sie allesamt abschafft, sondern daß man allen den gleichen Rang gibt. Diesem Ziel muß der Besitz an Gütern unterworfen werden; indem die Gesellschaft selbst die Besetzung der entscheidenden Posten in die Hand nimmt und damit den Einfluß des Großkapitals schrittweise eliminiert. Das alles bedeutet jedoch nicht nur Aufrechterhaltung der Bürgerrechte, sondern daß sie selbst den Weg, der einzuschlagen ist, mit zu bezeichnen haben. Aufhebung der Klassen und Befreiung der Menschen von der Lohnarbeit schweben [mir] als die schließlichen Ziele vor. Auf daß der Mensch - unbeschwert von ökonomischem oder politischem Druck - frei seine Kräfte ausbilde und zur Entfaltung seines Wesens gelange, daß er zur Erfüllung seines Lebens nach eigenem Trieb und Willen finde. Der kann nur darin liegen, daß der Einzelne durch sein Leben sich völlig in der Geschichte verewigt, in seinem gestaltenden Dienst an der Gesellschaft die Gewißheit des Nichtverlorenseins seines Lebens, seines Aufgehobenseins in allen Zeiten erlangt. Und darin sehe ich den Sinn dieser Entwicklung, daß der Mensch den Weg geht aus einer Welt, in der die von ihm vorgefundenen Zustände ohne seinen eigenen Willen seine Tätigkeit und gar jede einzelne seiner Lebensäußerungen bestimmen und von ihm abfordern, in eine Welt, in der er Herr ist über sich und sein Tun. Das ist die Geschichte der Freiheit des Menschen. Wir werden unsterblich, indem wir die Welt verändern. Die schwere Aufgabe, vor der wir Deutschen stehen, ist, eine demokratische Staatsform zu entwickeln und zugleich den Weg zu sozialistischer Planung zu finden. Wir haben beides nicht und wollen - ja müssen - beides zugleich erreichen. In jeder Gesellschaft der Planwirtschaft macht sich die Tendenz zum totalitären Staat bemerkbar. Das mag schon in der Ähnlichkeit des hierarchischen Aufbaus von Staat und Wirtschaft liegen. Offenbar bezeichnet die Demokratie eine höhere, differenziertere Form gesellschaftlicher Ordnung, das totalitäre Regime dagegen eine einfachere, primitivere. Es bedarf unbestreitbar

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einer größeren Reife des Zusammenlebens, um demokratische Formen zu entwickeln. Die drohende Gefahr, vor der wir stehen, ist die, daß das sozialistische Experiment unserer Zone die Ansätze zur Ausbildung einer Demokratie, die auf deutschem Boden über nur zu schwache Traditionen verfügt, wieder vernichtet. Die wirtschaftlichen Erfordernisse treten immer mehr in den Vordergrund und drohen, Selbstzweck zu werden. Leipzig, den 20. August 1948 Ich habe heute Mahlis verlassen. Für einen Tag bin ich in Leipzig, um morgen weiterzufahren nach Thüringen, nach Georgenthal zum einzigen Studentenlager, das in diesem Jahre in unserer Zone veranstaltet wird. Die Gelegenheiten zu studentischen Treffen und Gesprächen über die so beengenden Zonengrenzen hinweg werden immer seltener. Mein Semesterabschlußbericht als Außenreferent des Studentenrates war der Ausweis über einen ausgesprochenen Mißerfolg meiner Hauptarbeit. Bald einhundert Leipziger Studenten wäre die Teilnahme am Ferienlager in anderen Zonen möglich geworden, wenn Währungsreform und politische Gegensätze der Besatzungsmächte nicht einen Strich durch die schöne Rechnung gemacht hätten. Aber auch innerhalb unserer Zone ist der Zusammenhang der Hochschulen überaus mangelhaft, verfügt über nicht viel mehr als nur eine rein praktisch-technische Seite. Die Studentenschaft tritt nirgends als einheitliches und einiges Element auf; freilich besteht sie auch aus viel zu heterogenen Körpern, so daß schon viel gewonnen wäre, wenn überhaupt an den Hochschulen ein Zusammenschluß engerer Art zustande käme. Doch jetzt ist „Student" nichts anderes als bloße Tätigkeitsbezeichnung, noch keine soziologische Kategorie. Ich habe nun die traurige Tröstung bekommen, den einzigen der Leipziger Studentenschaft zur Verfügung stehenden Ferienplatz zu erhalten. Das ist freilich mehr als Aufgabe, weniger als Anrecht gedacht. Das Programm wird hauptsächlich von Professoren bestritten, die dem östlichen Sozialismus nahestehen. Diese Einseitigkeit ist zwar bedauerlich, jedoch sehe ich auch hier Möglichkeiten, weitere Klarheiten zu finden über die Probleme, denen ich seit geraumer Zeit nachgehe. Georgenthal, den 22. August 1948 Es ist nicht unrecht hier, trotz des schlechten Wetters. Alles ist herrlich ruhig, nur der Wind bewegt die Wipfel der Bäume im Park um unsere Villa; die Zimmer sind voll des Duftes der Sommerfrische, aus dem frischer Wäsche und guter Waldluft zusammengesetzt. Doch es ist bei weitem nicht so schön und komfortabel, als bisherige Berichte vermuten ließen. Es fehlt viel, vor allem der sich selbst ergebende freie Ablauf. Jedem Augenblick haftet die Eigentümlichkeit des Organisier-

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ten an. Ja selbst die Diskussionen sind stark verkrampft; freies, zwangloses, ganz menschliches Gespräch in Unmittelbarkeit findet sich kaum. Ich sage das, weil es am ersten Tage so gewesen ist und wohl kaum anders werden dürfte. Die Teilnehmer sind ein einigermaßen getreuer Spiegel der Elemente der deutschen Studentenschaft unserer Tage. Und unter uns - auch Abbild dieser Zeit - nicht unmittelbar - waltend und lenkend - die Zentralverwaltung. Georgenthal, den 23. August 1948 Referate und Diskussionen stundenlang. Und stets macht sich dabei die Überlegenheit unserer SED-Angehörigen in der Verbissenheit und Unermüdlichkeit der Diskussionsführung bemerkbar. Es scheint geradezu, als seien sie aus anderem Holze. Allerdings mußte ich erleben, daß außer mir kaum noch ein Vertreter der Ostzone entschieden gegen die SED Stellung nimmt. Und dabei schwiege ich ebenfalls am liebsten. Denn ich finde, daß keine Diskussion bisher weitere Klarheit gebracht hätte. Zweifellos gehört zu fruchtbarer Disputation eine höhere Form des Gespräches, derer wir noch nicht Meister geworden sind. Letztlich sind es doch nur politische Debatten, die wir führen. Kein Gespräch vermag das reifende Wachsen zu fördern. Nichts als Wissen, nacktes Wissen, wird von Mensch zu Mensch gereicht - und das noch meist in abgegriffener oder höchst unvollkommener Form. Georgenthal, den 25. August 1948 Gestern bin ich 24 Jahre alt geworden. Ich habe kaum daran gedacht. Doch das ist eine gute Feststellung, denn ich hatte keine ungenutzte Stunde. Die Abwechslungen des gestrigen Tages ließen kaum Raum für irgendwelche Reflexionen. Auch gestern wieder endlose Diskussionen. Doch werde ich ihrer bald müde. Denn sie spielen sich immer in ähnlichen Formen ab: Der Referent steht auf dem Boden eines mehr oder weniger dogmatischen Marxismus und stets geht dann die Diskussion um diese Anschauung; sie ist das Kernstück aller Aussprachen. Von wirklich fruchtbaren und anregenden Gesprächen kann darum nicht die Rede sein; alles wird von einem Punkte her bestimmt. Georgenthal, den 26. August 1948 Ich bin müde vom Diskutieren. Der Kopf ist wie eine Wunde, in die jeder neue Gedanke schmerzend hineinfällt. Dieses unentwegte Denken in der gleichen Bahn ist Gewalt in unerbittlicher Grausamkeit. Doch wer auf ihr wandelt, muß sie bis zum letzten Punkte verfolgen. Vorher keine Überwindung, sondern nur ständiger Rückfall, keine Befreiung.

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Kein Gefühl, kein Empfinden ist Entschuldigung, kann Ausweg sein; jedes Argument verlangt Rede und Antwort in jedem Augenblick. Manchmal ist ein Gefühl der Angst da, der Angst davor, daß die Kräfte versagen könnten. Georgenthal, den 27. August 1948 Professor Baumgarten 47 , der sein neutrales Basel als Domizil aufgegeben hat, um auf seine alten Tage noch zu wirken, wo die Front der Meinungen und Weltanschauungen die härtesten Kämpfe kennt, im umstrittenen Berlin, hielt heute einen vielstündigen Vortrag über den dialektischen Materialismus und seine Stellung zur idealistischen Philosophie. Ein recht respektabler alter Herr wies hier den Weg zu der Anschauung auf, mit der er sich am Ende seiner eigenen geistigen Entwicklung verbunden hat. Doch bei aller Bejahung des rationalistischen Geistes und des von ihm entwickelten Begriffes der Wissenschaft, dem Positivismus in manchem nahestehend, läßt ihn doch die Begegnung mit dem Reichtum des abendländischen Denkens über die Grenzen des handfesten Materialismus hinausdringen. Sein Weg führt weiter, weist auf eine umfassendere Sicht. Ich habe den Eindruck gewonnen, daß diesem alten Mann die Diskussionen der letzten Tage selbst wertvoll geworden sind. Seine verständnisvolle Haltung hat mehr Überzeugungskraft gehabt, als alles, was bisher gesagt worden ist. Georgenthal, den 31. August 1948 In zahlreichen Diskussionen und Gesprächen beginnt sich allmählich etwas zu lösen. Die Überzeugung dieser Menschen rührt mich an. Gestern sprach ein Wirtschaftswissenschaftler 48 zu uns, klar, offen, sympathisch. Dann kam zum Abend Wolfgang Langhoff 49 , Intendant des Deutschen Theaters in Berlin. In ihren Worten liegt Ehrlichkeit, die zu gewinnen vermag. Wir sind uns einig darin, daß es gilt, den Menschen zu gewinnen. Und dort, wo diese Einsicht auftritt, bin ich mit den Marxisten versöhnt, ja möglicherweise solidarisch. Ich zweifle nicht daran, daß auch auf der Ebene der kapitalistischen Wirtschaft

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Arthur Baumgarten (1884-1966), deutscher Rechtsphilosoph. 1948-1952 Professor an der Humboldt-Universität Berlin, ab 1952 Präsident der Deutschen Akademie für Staatsund Rechtswissenschaft. 48 Günther Kohlmey (1913-1999), Mitbegründer der Wirtschaftswissenschaften in der SBZ, Gründungsdekan des Instituts für Wirtschaftswissenschaft an der Verwaltungsakademie in Berlin (1954-1958), ab 1964 ordentliches Mitglied der Akademie der Wissenschaften der D D R . Die Anwesenheit Kohlmeys ergibt sich aus Aufzeichnungen von Gerhard Schulz über den Ferienkurs, B A Ν 1312, Bü 20. 49 Wolfgang Langhoff (1901-1966), deutscher Schauspieler und Regisseur. 1946-1963 Intendant des Deutschen Theaters Berlin.

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sich eine Entwicklung vollziehen kann und sicherlich auch vollziehen wird, die auf einen sozialen Zustand abzielt. Aber für uns sind die Gegebenheiten vorerst durch den Osten bestimmt. Er zeichnet den Rahmen. Unsere Aufgabe wird es sein, uns in ihm zu bewegen und zugleich die Werte des Westens zu erhalten. Radikalismus muß menschlich werden. Ich hege keine Zweifel daran, daß uns hüben wie drüben tausendfache Aufgaben und damit tausendfältige Chancen des Glücks gegeben sind. Und jede Kritik an dem zielgewiß sich gestaltenden Werk wird fruchtbar sein, wenn sie seinen Sinn erkennt und anerkennt und das Weiterwachsen fördern will. Georgenthal, den 3. September 1948 Gestern interessante Vorträge über Kunst und Gesellschaft, Professor Henselmann 50 und Professor Hamann. 51 „Die Städte in ihrem Ausdruck der Unordnung waren schon zerstört, ehe die Bomben auf sie herniederfielen." Henselmann bezeichnet den Anruf des Humanitären seit Käthe Kollwitz als die Thematik in der modernen Kunst. Er will Städte großzügig planen, um in ihnen die neue Ordnung der Gesellschaft zu finden: dem Individuum die größtmögliche Freiheit, aber in der Gemeinschaft. Ein impulsiver, manchmal ein wenig impertinenter Künstler sprach in ihm, dem Schaffen wohl mehr zugetan als dem Theoretisieren. Aber er hat uns angesprochen. Professor Hamann, alt, mit weißem Haar und Bart und der hohlen, fleißigen Stimme des eifrigen Museumsbeamten, forderte die „neue Sachlichkeit" auf dem Boden des Christentums, Könnerschaft und Kennerschaft als Hingabe an die Sachschöpfung. Ein begeisternder Gedanke, wenn er nicht - wie er bei Hamann manchmal Gefahr zu werden schien - festhängt am virtuosen Beherrschen des subjektiven Ausdrucksvermögens und aus der Könnerschaft nichts anderes wird als Aufblätterung, als Offenbarung des eigenen Ichs als mystischer Kult, als grenzenlose Hingabe an die Welt, als dem Objekt als Kern- und Ausgangspunkt der Betrachtung und Gestaltung, eingedenk des Wissens um die Bezogenheit und Zusammengehörigkeit der Dinge. Am Nachmittag Gespräch mit dem thüringischen Ministerpräsidenten 52 : Wir sind für ein sozialistisches Deutschland, das nur mit Hilfe der Sowjetunion, der Weltmacht gegen die kapitalistischen Mächte, entstehen kann. Darum muß es im Interesse der Ostzone liegen, daß die Sowjetunion stark ist in wirtschaftlicher und militärischer Hinsicht. Daher erkennt sie [die SED] auch die Notwendigkeit der Entnahmen aus der laufenden Produktion an, die, so sagte der Ministerpräsident, sicherlich mit zunehmender Stärkung der So-

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Hermann Henselmann (1905-1995), 1946-1972 Direktor der Hochschule für Architektur und bildende Künste in Weimar. 51 Richard Hamann (1879-1961), Kunsthistoriker, 1947-1957 Gastprofessor in Berlin, 1949 Nationalpreisträger der D D R . 52 Werner Eggerath.

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wjetunion abnehmen würden. Unter den Posten der Reparationen fallen diejenigen Betriebe, die als SAGs von den Sowjets übernommen worden sind. Nach Aussage des Ministerpräsidenten umfassen sie einen großen Teil der Exportproduktion. (Er erwähnte das Beispiel der Kalierzeugung.) Das, glaube ich, kann als Tatsache genommen werden. Seine anderen Aussagen waren entweder voller unbefangener Verharmlosung oder sie waren unwahr. Ein Mann, zu dem man kein rechtes Vertrauen gewinnen kann. Im übrigen betont er nach Art der Hochgekommenen sein eigenes Ich sehr deutlich, wenn auch nicht gerade plump. Leipzig, den 6. September 1948 Ließen die letzten Tage des Kurses, insbesondere der Abschiedsabend, ein wenig Bitterkeit zurück ob mancher Erfolglosigkeit in meinem Bestreben, engere Berührung mit Kommilitonen zu finden und Achtung zu erlangen auch von der anderen Seite, und das Gefühl des Verlorenseins der letzten Zeit, so muß ich nun jedoch, da ich in Leipzig wieder angelangt bin, rückschauend sagen, daß ich wohl einiges mitgenommen habe und meine Teilnahme nicht zu bereuen brauche. Immerhin habe ich einige Studenten kennengelernt, die in ihrer Zone einen Namen haben, und bin ihnen nähergekommen. Immerhin habe ich manches auch vom Gedankengut der Marxisten und ihrem Wollen verstehen gelernt. Es wird vieles für mich zu bedenken geben. Und ich bin nicht ohne jede Hoffnung für die Zukunft. Sehr häufig in letzter Zeit überwältigt mich ein herrlich erhabenes Gefühl der großen Möglichkeiten und Aufgaben des vor mir liegenden Lebens. Es ist so viel zu tun. Und es wird mir einiges davon zufallen können, wenn es mir gelingt, möglichst bald meine eigene Haltung zu festigen. Noch weiß ich nicht, wo mich das Leben hintreiben wird; überall aber sehe ich Aufgaben. Nicht zum wenigsten war der letzte Tag unseres Beisammenseins ein Gewinn: Besuch des Nationaltheaters in Weimar, ein großartiger, begeisternder Bau in seiner neuen Innenausstattung. Alles ist schlichte Wärme, gediegene Einfachheit, Zweckmäßigkeit im besten Sinne; der Theaterraum ein weites Halbrund, von der Bühne langsam ansteigend und sich nach allen Seiten erweiternd, auch den entlegensten Plätzen freies Blickfeld gewährend, die Wandelgänge, das Foyer in gleichmäßiger Beleuchtung und weißgrauer Farbe Wände, Decken und weich belegte Fußböden. Man gab Bert Brechts 5 3 „Elend und Furcht des 3. Reiches" 5 4 , Anklage gegen die Unmenschlichkeit, auf das „3. Reich" gemünzt, doch allzeit gültig, kein Schauspiel, überhaupt kein Spiel,

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Bert Brecht (1989-1956), deutscher Dramatiker und Lyriker. Begründer des „dialektischen Theaters". 54 Korrekter Titel: „Furcht und Elend des Dritten Reiches". Brecht schrieb das Stück 1935 im Exil in Dänemark. Uraufführung einiger Szenen 1938 in Paris; im selben Jahr wurde das Werk in Prag erstmals veröffentlicht.

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sondern eine eiserne Ansprache, kein Problem, nur Äußerung der frenetischen Empörung; Äußerung des verletzten Menschen. Ich bin es zufrieden, daß ich in Weimar war; ich bereue es nicht, in Georgenthal gewesen zu sein. Die Anregungen werden mir für die nächste Zeit zu arbeiten geben. Allzu schnell nur entschwindet das Jahr. Morgen fahre ich nach Berlin. Ich will meine lang gehegte Absicht ausführen, etwas über die Freie Universität zu erfahren, und bei Frau Kindscher mir Neues über die Berliner Lage berichten lassen. Es gilt jetzt vor allem, möglichst viel zu wissen und zu kennen, besonders aber Menschen. Das ist das wertvollste Studium. Leipzig, den 8. September 1948 Von Berlin zurück, das in diesen Tagen wieder neue Aufregung erlebt. „Der Mob stürmte vorgestern das Stadthaus" 55 . Das Ergebnis: Groß-Berlin hat nun zwei Stadtparlamente, da es der Magistrat nicht mehr auf sich nehmen will, in dem auf dem Boden des Ostsektors liegenden Stadthaus zu tagen, während die SED-Fraktion sich dem Auszug in das Studentenhaus der Technischen Universität nicht anschloß. 56 Eitel Aufregung überall! Erstaunlich und befremdend jedoch wirkt das bisher protestlose Zuschauen der westlichen Besatzungsmächte; denn einzelnen Äußerungen kann keinerlei Bedeutung beigemessen werden, solange sich nicht die Konsequenzen in Handlungen zeigen. Ich habe Beziehungen zur „Freien Universität" aufgenommen. Freilich scheint ihr Boden noch nicht sehr fest zu sein. Es fehlt hauptsächlich an Dozenten für die juristische und die philosophische Fakultät. 57 Eine Übersiedlung, die ich als Möglichkeit erwogen habe, bleibt also zu überlegen. 55

Die für den 6.9.1948 in das Neue Stadthaus im Ostteil der Stadt einberufene Stadtverordnetenversammlung für Groß-Berlin konnte nicht tagen, da das Stadthaus durch Demonstranten umstellt bzw. besetzt war. Da die Polizei des Ostsektors und die sowjetische Militärpolizei sich auf Seiten der Demonstranten und Besatzer schlug, berief der Vorsitzende der Stadtverordnetenversammlung, Otto Suhr, für den Abend eine neue Sitzung in das Studentenheim der TU in Charlottenburg im Westteil der Stadt ein, an der nur noch die Vertreter aus den Westsektoren teilnahmen. 56 Die SED hatte bereits am 7.9.1948 verkündet, dass ihre Vertreter in der Stadtverordnetenversammlung keine Sitzung besuchen würden, die im Westteil der Stadt stattfinden würde. 57 In der Juristischen Fakultät war es nahezu unmöglich, unbelastete Wissenschaftler für die Besetzung der Lehrstühle zu gewinnen. Deshalb wurde sie mit der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät zusammengelegt. Inhaber des einzigen juristischen Lehrstuhls war anfangs Martin Draht. Siegward Lönnendonker: Freie Universität Berlin. Gründung einer politischen Universität, Berlin 1988, S.355. Auch in der Philosophischen Fakultät (die mit der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen zusammengelegt wurde) war die Zahl der Lehrstuhlinhaber zunächst gering. Wie in der Juristischen Fakultät haben vor allem Lehrbeauftragte den Lehrbetrieb bestritten. Ebd., S.382.

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Frau Kindscher fühlt sich bei ihrer politischen Tätigkeit ganz in ihrem Element und ist mehr als nur zufrieden mit ihrer Übersiedlung nach Berlin trotz Stromsperren und vieler anderer Kleinigkeiten, die das Leben dort nicht gerade bequem machen. Mit fliegendem Geiste stürzt sie sich von Objekt zu Objekt in ihrer politischen Tätigkeit 58 , leidenschaftlich gegen den Osten Stellung nehmend. Nun hat sie allerdings mehr als jemals Grund dazu. Luise 59 ist inzwischen zu einer unbekannten Strafe verurteilt, ihr Vermögen beschlagnahmt worden. Und langsam schwimmen uns auch hier in Leipzig die Felle weg. Die Immatrikulation scheint einen recht bedenklichen Verlauf zu nehmen. Es wird gefeilscht und gehandelt; dabei geht es letztlich stets um Sicherung der SED-Bewerber. Wie ich heute von Natonek erfuhr, will er zu Beginn des kommenden Wintersemesters zurücktreten. Verschiedentlich sei ich als sein Nachfolger vorgeschlagen worden. Ich habe allerdings zu verstehen gegeben, daß meine Wünsche nicht nach diesem Posten gingen. Es bleibt abzuwarten, ob sich nun noch die Stimmung für mich halten wird. Morgen fahre ich nun wieder nach Hause. Ich habe jetzt Erholung und Ruhe dringend nötig, aber auch etliches zu bearbeiten und viel zu bedenken. Das neue Semester wird einen klaren Plan von mir verlangen. Mahlis, den 16. September 1948 So hat denn der Ferienkurs in Georgenthal noch eine unmittelbare Frucht getragen. In Weimar erstand ich das mir vorher bereits empfohlene Buch von Hewlett Johnson 60 , dem Dekan von Canterbury, über die Sowjetunion, „Ein Sechstel der Erde" 6 1 . Ich habe es in diesen Tagen gründlich durchstudiert und gefunden, daß es einen guten Wert hat. Es hat eigentlich für mich keine wesentlich neuen Tatsachen gebracht. Interessant und ergreifend geradezu ist die begeisterte Darstellung der Errungenschaften des Sowjetsystems, deren größter Erfolg zweifellos im Heranwachsen eines neuen Menschentypus liegt. Interessant ist auch die Betrachtung des kommunistischen Experiments aus der christlichen Perspektive heraus. In allen Abschnitten verspürt man ehrliches Bemühen um realistische Betrachtung und zugleich höchste Anerkennung. Das ist kein flaches Propagandamachwerk. Was aber war es, was dieses Experiment so erfolgreich werden ließ? Die gigantische Mobilisierung der zur Einheit geschmiedeten Kräfte der russischen Volksmassen. 58

Frieda Kindscher war nach der Verhaftung ihrer Tochter Luise Langendorf nach WestBerlin übergesiedelt. Im Mai 1948 war sie der C D U beigetreten. Nach der Freilassung ihrer Tochter kehrte sie 1955 nach Leipzig zurück. 59 Luise Langendorf, 1945, Anm.9. 60 Hewlett Johnson (1874-1966), englischer Geistlicher, 1931-1963 Dekan von Canterbury. 61 D a s Buch war 1943 in englisch erschienen und 1947 in deutscher Übersetzung herausgekommen.

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Das aber gibt zu denken, wenn man die Lage des unglücklichen deutschen Volkes betrachtet. Wo lassen sich in Deutschland die Volkskräfte mobilisieren, da jede Einheit an der Realität der Zonengrenzen ihr unüberwindliches Hindernis hat. Einer einheitlichen Entwicklung ist ein schwerer Riegel vorgeschoben. Nur zu groß aber ist die Gefahr, daß im augenblicklichen Zustand die 17 Millionen Deutschen der Ostzone einseitig russischen Einflüssen ausgesetzt und nicht in der Lage sein werden, ihren Besonderheiten Wirksamkeit zu verschaffen, zumal die SED als die sozialistische Partei unserer Zone nur zu sehr jede eigenständige Politik vermissen läßt. Der allzu dogmatische Gebrauch ihrer Thesen tendiert dahin, die Besonderheiten der soziologischen Struktur des deutschen Volkes unberücksichtigt zu lassen. Aber ebenso groß ist die Gefahr, daß die Sowjets von ihr in ihren Allüren als Besatzungs- und Eroberungsmacht ausschließlich Unterstützung erhalten. So notwendig auch für uns Deutsche eine ernstliche Auseinandersetzung und Anerkennung mit den Ergebnissen des sowjetischen Experiments ist, so groß ist jedoch auch die Gefahr einer Auseinanderreißung Deutschlands, die zur völligen Abhängigkeit des östlichen Teiles von Osteuropa führen kann, Verlust jeglicher Autonomie. Aber unbestreitbar: Der Sozialismus ist im Kommen. Ich zweifle nicht daran, daß das gleiche Ziel auf verschiedenen Wegen ebenso in der westlichen Welt wie in der östlichen erreicht werden kann. Ausgangspunkt für die Entwicklung zur neuen sozialistischen Gesellschaft ist die gesellschaftliche Wirklichkeit, die in den einzelnen Staaten durchaus unterschiedlich ist: Im Rußland von 1917 war sie gewiß eine andere als sie es im gegenwärtigen Amerika oder England ist oder auch im gegenwärtigen Deutschland. Wenn es dem deutschen Volk aber nicht beschieden sein wird, eine einheitliche Wirklichkeit zu finden, und [es] getrennt zu zwei verschiedenen Wegen verurteilt ist, dann kann es nur - hier wie da - die klägliche Rolle des nachhinkenden Trabanten spielen, Satellit derer, die führen, ohne eigenen Elan. Der Sozialismus aber läuft so in unserem Volke Gefahr, als moskowitischer Agent diskreditiert und mißverstanden zu werden. So sieht unser deutsches Problem des Sozialismus aus, klarer Ausdruck der tragischen Abhängigkeit unserer inneren Entwicklung von der außenpolitischen Mächtekonstellation. Mahlis, den 19. September 1948 Bei genauer Betrachtung dessen, was die letzten drei Jahre in der Ostzone gebracht haben, und wenn ich die Menschen von heute mit denen vor drei Jahren vergleiche, läßt sich nicht verleugnen, daß die Menschen kaum zuversichtlicher und mutiger geworden sind, doch es scheint, als sei ihre Bereitschaft, die Dinge entgegenzunehmen, sich den Tatsachen zu fügen, größer ge-

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worden. Man hegt keine großen Hoffnungen, und häufig stößt Bitterkeit auf. Aber ebenso hoffnungslos ist für sie der Widerspruch. Mahlis, den 22. September 1948 Heute habe ich die Durcharbeitung meiner Notizen über den Ferienkurs abgeschlossen. Siehe da, es hat sich eine ganze Reihe von wertvollen Anregungen gefunden. Ich bin zu der Überzeugung gelangt, daß die sozialistische Gesellschaftsordnung gewiß funktionieren kann. Entscheidend dafür wird sein, ob sich geistige, verantwortungsbewußte und humane Persönlichkeiten finden werden, die maßgeblichen Positionen zu übernehmen und die für ein neues Menschenbild erforderlichen Konsequenzen zu ziehen. Es wird darauf ankommen, daß die geistige Elite die Führung der Entwicklung in die Hand nimmt und zugleich ihren Ethos in die Massen des Volkes hineinträgt. Die Frage, ob wir bolschewisiert werden oder nicht, hängt nicht von der Wirksamkeit der Gewalt ab, sondern wie wir die sich neu prägenden Formen mit Leben erfüllen. Das ist letztlich unser hic Rhodus, hic salta! Mahlis, den 27. September 1948 Ein Brief vom „Forum" 6 2 ; mein Aufsatz über den Georgenthaler Ferienkurs wird nicht gedruckt. Mir wäre sehr viel daran gelegen gewesen. An noch so tiefschürfenden Untersuchungen ist nichts gelegen, wenn sie keine handgreiflichen, brauchbaren Thesen hervorbringen. Diese Zeit ist pragmatisch bis auf die Knochen. Prediger sind unbequem. Werde ich noch öfter scheitern? Es bleibt nichts, als das Leben für ein Abenteuer zu nehmen: des eigenen Endes stets gegenwärtig, bis dahin aber stets den eigenen Absichten dienen. Man muß den Glauben in sich überwinden und das Ganze als notwendige Station nehmen. In den Sachen liegt die Welt begründet. Wenn man über individuelle Kräfte verfügt, so werden sie im Tun sich zeigen. Sie sind da und brauchen nicht erst gewählt und erdacht zu werden. Der Mensch muß diesen Mut zum Leben haben: Es ist der letzte Versuch im Bewußtsein, sich selbst zu töten. Nachträglich möchte ich fast meinen, daß ich wieder einmal in die Existenzphilosophie geraten bin, zum ersten Male wohl in Richtung Sartres. Ich philosophiere und will es gar nicht tun. Das Periodikum „Forum. Zeitschrift für das Geistige Leben an den deutschen Hochschulen" erschien erstmals im Januar 1947. Lizenzgeber war die sowjetische Besatzungsmacht. Das Ablehnungsschreiben der Redaktion datierte vom 2 2 . 9 . 1 9 4 8 . B A Ν 1312, Bü 43. Begründet wurde die Ablehnung mit dem formalen Argument, dass in der Zeitschrift „nicht sehr viel R a u m zur Berichterstattung" über den Kurs in Georgenthal zur Verfügung stünde. Aus dem Text geht aber auch hervor, dass sich Gerhard Schulz kritisch geäußert hatte und diese Kritik von der Redaktion nicht geteilt wurde. 62

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Mahlis, den 4. Oktober 1948 Wochen hindurch habe ich mich um eine eigene Stellung zum Sozialismus bemüht, habe das Für und Wider erwogen, kann jedoch kaum zu einem anderen Ziele gelangen als es die Worte Paul Serings ausdrücken: „Wenn Europa sich fähig erweist, seine Probleme auf seine eigene Weise zu lösen, so können die Rückwirkungen auf die innere Entwicklung der beiden Weltmächte nicht ausbleiben. Denn die Tatsache, daß beide nach außen als gewaltige einheitliche Machtfaktoren erscheinen, darf uns nicht vergessen lassen, daß auch sie mit inneren Problemen ringen, und daß die Entwicklung weder des amerikanischen noch des russischen Systems abgeschlossen ist." 63 Doch gibt es einen deutschen Weg zum Sozialismus? Die Diskussion zwischen führenden Persönlichkeiten der SED ist zu einem gegenteiligen Ergebnis gekommen. 64 Wird damit das letze Wort gefallen sein? Ich fürchte daß es Kampf geben wird. Ein Pressefeldzug gegen Führer von LPD und CDU setzt ein. Sein Verlauf wird entscheidend sein. Die nächsten Wochen werden dem Kampf gehören. In ihm wird sich die Klärung vollziehen. Werden wir die Lehre der Gewalt überwinden, die sich im Nationalsozialismus ausgeprägt hatte? Das Erbe der Vergangenheit lastet auf allen Deutschen, wohl weniger in ideologischer Ausformung, jedoch in verheerender Barbarisierung der Menschen. Verfolgung erzeugt Haß und Ressentiments. Jede Verschwörung von Haß und Krieg kann nur ein Verbrechen sein. - Das ist der Maßstab. Mahlis, den 5. Oktober 1948 Ich scheide am Ende der Ferien von Mahlis mit dem Gefühl des vollen Magens, der eine leichte Appetitlosigkeit und Gleichgültigkeit verursacht. Leipzig, den 7. Oktober 1948 Der Wirbel hat mich wieder. Es gibt Arbeit über Arbeit. Mancher meiner Feriengedanken wird noch seine Fruchtbarkeit erweisen müssen. Heute ging es um die Neuwahl der Studentenratsvorsitzenden. Trotz meiner schon vor Wochen zum Ausdruck gebrachten Ablehnung, war bei einem Teil unserer Parteifreunde im Studentenreferat die Stimmung für mich recht günstig und sie hielt sich auch hartnäckig. Erstaunlicherweise wurden mir jedoch von Natonek einige nett offerierte Argumente der Ablehnung in den 63

Paul Sering (Richard Löwenthal): Jenseits des Kapitalismus. Ein Beitrag zur sozialistischen Neuorientierung, Regensburg 1947, S.254. 64 Der SED-Funktionär Anton Ackermann hatte 1946 die These von einem „besonderen deutschen Weg zum Sozialismus" in die Welt gesetzt. Nach dem Bruch zwischen Stalin und Tito musste Ackermann seine These widerrufen.

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Mund gelegt. Doch sie kamen mir recht gut zu passe. Deshalb kann ich nicht böse sein. Seine Absicht war möglicherweise auch die beste. Mahlis, den 14. Oktober 1948 Mit Beharrlichkeit muß unsere Politik drei unaufgebbare Ziele verfolgen: 1. die Erhaltung der deutschen Autonomie, zu der auch das Offensein gegenüber dem Westen gehört; 2. die Erziehung zur Demokratie; 3. die Gewährleistung der Integrationssphäre individueller Entwicklung. Ohne sie vermag sich keine Persönlichkeit zu bilden, die Gesellschaft würde zum blinden Vehikel, zum willenlosen Werkzeug willkürlichen Gebrauchs unkontrollierter Mächte. Mahlis, den 15. Oktober 1948 Die Aussagen des historischen Materialismus sind als erschöpfende wissenschaftliche Allgemeingültigkeiten nicht akzeptabel. Franz Mehring 65 gibt auf die entscheidende Frage, wo das Wissen um die ökonomische Grundlage der historischen Entwicklung herrührt, die Antwort, die sich wohl auch bei Marx oder Engels findet, daß die Menschen „erst essen, trinken, wohnen und sich kleiden müssen, ehe sie denken und dichten können". 6 6 Was die positive Aussage dieses Satzes angeht, ist dagegen nichts einzuwenden. Sie reicht jedoch nicht aus, um aus ihr die materialistische Geschichtsauffassung zu entwickeln. Die Bedeutung der Befriedigung der materiellen Bedürfnisse der Menschen innerhalb der Geschichte ist damit keineswegs geklärt. Völlig unberücksichtigt bleibt die Voraussetzung, die die Menschen bereits - bewußt oder unbewußt - machen, wenn sie essen, trinken und sich kleiden und sich somit am Leben erhalten: daß dieses Leben nämlich einen Sinn hat, daß sie dieses Dasein bejahen. Mit dieser Erkenntnis stößt man aber sofort auf die Frage nach dem Wie. Wie hat das Leben einen Sinn? Diese Frage stellt sich jedem Menschen; ob er sie weiß oder auch nicht, seine Existenz ist ihre Beantwortung. Und das heißt, daß er sich an einen Glauben bindet, daß er der Kraft, die sein Leben dirigiert, gehorcht. Nun ist es gewiß denkbar, daß sich ein Mensch in seinem ganzen Sein, Denken und Handeln von einer Lehre, einer Weltanschauung durchdringen läßt, sich uneingeschränkt in ihren Dienst stellt, was natürlich auch für den Marxismus gilt. Das kann Mehring nur meinen, wenn er den historischen Materialismus als die „Geschichtsauffassung der Arbeiterklasse" bezeichnet. Aber dann ist es eben Glaubensinhalt, Weltanschauung, die mit

^ Franz Mehring ( 1 8 4 6 - 1 9 1 9 ) , deutscher Publizist und Politiker sowie marxistischer Historiker. 6 6 Zitat aus Franz Mehring: Karl M a r x - G e s c h i c h t e seines Lebens, 15. Kapitel: Das letzte Jahrzehnt, in: ders.: G e s a m m e l t e Schriften, Bd. 3, Berlin ( O s t ) 1966. S . 5 0 4 - 5 4 2 .

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Wissenschaft im Sinne der Auffindung von Wahrheiten, die für die Menschen in gleicher Weise Gültigkeit haben, Existenzen, objektiven Wahrheiten, deren Möglichkeiten der dialektische Materialismus selbst anerkennt, nichts zu tun haben. Es ist zutreffend, daß die materiellen Gegebenheiten und die Befriedigung der elementaren Bedürfnisse zum menschlichen Leben gehören und auch ihren Ausdruck in der Geschichte finden. Historisch unrichtig aber ist die Behauptung, daß sie es sind, die den Gang der Geschichte bestimmen. Das Geschichtliche ist allein das Handeln und Denken der Menschen, das seine Wurzel im Seelischen hat. Das Leben, das nur ausgefüllt wäre mit der Befriedigung der materiellen Bedürfnisse - ja überhaupt der Bedürfnisse - wäre höchst armselig; Gott sei Dank hat es ein solches noch nicht gegeben. Leipzig, den 19. Oktober 1948 Der heutige Tag hat lange Diskussionen über die Neuordnung der Parteiarbeit gebracht. Und schließlich wurde die Parole der „dritten Kraft" aus der Taufe gehoben. Eine ideologische Klärung soll erstrebt werden zum Zwecke der politischen Aktivierung der Studentenschaft im Sinne der Behauptung einer Stellung, die frei von der Unterwerfung unter „Ost" oder „West" ist. Ich fühle mich nicht ganz unbeteiligt an diesem Ergebnis und dem Zustandekommen dieses neuen Kurses. Und ich vermag dieses zarte Pflänzchen nicht zu zerstören; denn vielleicht treibt es doch Früchte - trotz allem - , vielleicht vermögen Aufgeschlossenheit und Auseinandersetzung doch noch neue Kräfte zu entbinden. Doch ich fürchte Illusionen. Nur ein neues in der Wirklichkeit erwachendes Lebensgefühl kann den Sieg davontragen. Leipzig, den 21. Oktober 1948 Gestern erste Fakultätsversammlung im neuen Semester: Empfang der Neuimmatrikulanten. Wir sind nun nahezu die stärkste Fakultät der Universität. Und ein großer Betrieb läßt straffe Formen und Ordnungen erstehen. Das gilt auch für die Universität als Ganzes. Fast 4 Vi Tausend Studenten haben nun auch einen Kurator vorgesetzt bekommen als den Beauftragten für die Demokratisierung, weder Jurist noch Akademiker alter Schule, sondern ein „politischer Mensch". 67 Und noch geht unser Rätselraten um die beste Neubesetzung des Vorstandes des Studentenrates [weiter]. Noch einmal ist mir das Schriftführeramt angeboten worden. Aber mein Entschluß ist fest: in kürzester Frist aus der Studentenratsarbeit auszuscheiden. Meine Arbeit wird hinfort in größter Intensität der Beendigung und erfolgreichen Abwicklung meines pädagogischen Studiums gelten. Und das scheint dringend erforderlich zu werden. Gestern hat man mir den Zutritt zu meiner bisherigen Ar67

Ernst Eichler (1900-1986). Aufgabe des Kurators war die Gleichschaltung der Universität.

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beitsstätte, dem Kulturhistorischen Institut, versagt. Ähnlich erging es dem ganzen kleinen Stamm der alten Institutsmitglieder. Was kommt morgen? Leipzig, den 1. November 1948 Nachdem ich vor einigen Tagen bereits einige Mahnungen zur politischen Vorsicht erhalten habe und mir gegenüber bereits ein eigentümlich kühles Verhalten einiger SED-Leute merkbar geworden ist, was ich bisher nicht sonderlich ernst genommen habe, mußte ich heute eine neue Warnung entgegennehmen, nach der sogar die Kriminalpolizei mit meiner Überwachung beauftragt sein soll oder beauftragt werden soll. Ich weiß zwar nicht, welche Tatsache mich diesen Leuten gegenüber so kostbar macht, bin mir jedoch im Klaren darüber, daß ein einmaliger Anlaß in dieser Zeit des Mißtrauens bereits genügt, um ganze Ketten von Aktionen des Machtapparates auszulösen. Leipzig, den 2. November 1948 Die Spannungen an der Universität nehmen offensichtlich ständig zu. Dabei wird es jetzt deutlich, daß die SED-Leute, die in Erscheinung treten, keine Minderheit mehr sind. Allmählich beginnen sie Übergewicht zu erlangen. In den nächsten Tagen wird an der Pädagogischen Fakultät scharf geschossen. Das sagte mir unser bisheriger Prorektor 6 8 heute, als er mich kurz zu sich bat. Und seine weiteren Worte erhielten eine klare und in ihrer Eindringlichkeit deutlich vernehmbare Warnung für mich. Ich müßte gesund bleiben. Wofür? Eine kleine Freude jedoch bereitet das, denn in diesen Tagen konnte ich die Leute der anderen Seite, die ein Wort an mich richteten, zählen. Manchmal kommt es mir vor, als sei dieses Geschehen alles gar nicht wirklich, als verlöre man nur unnötig, wenn man es ernst nähme. Und doch kann es töten.

Leipzig, den 4. November 1948 Eine lange, wohltuende Unterredung mit Doktor Kühn. Zum ersten Male habe ich das Für und Wider der Möglichkeiten erwogen, Leipzig im nächsten Jahre zu verlassen. Er hat keineswegs abgeraten, nachdem ich meine Situation geschildert hatte. Ich werde diesem Gedanken also auch in Zukunft nachgehen, möchte jedoch nichts überstürzen und auf alle Fälle das Semesterende noch abwarten.

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G e o r g M a y e r ( 1 8 9 2 - 1 9 7 3 ) , P r o f e s s o r d e r Volkswirtschaftslehre an d e r Universität Leipzig bis 1964.

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Ob sich bis dahin eine Stabilisierung der politischen Lage ergeben haben wird? Jedenfalls scheint bei der in Amerika stattfindenden Präsidentschaftswahl Truman 69 den Sieg davonzutragen. Leipzig, den 11. November 1948 Gestern wieder eine Studentenratssitzung übelster Art. Wir stritten uns stundenlang um wirklich nicht entscheidende Dinge. Dabei scheute die Gegenseite auch vor dümmsten und rücksichtslosesten Angriffen, die den primitivsten Anstandsregeln Hohn sprachen, nicht zurück. Mit knapper Not kam die Ablehnung eines Verweisantrages gegen mich zustande. Ein von mir in ehrlicher Absicht vorgeschlagener Kompromiß gab den Anlaß zu - wohl taktisch begründeten - wütendsten Empörungen; Unfairness und Heimtücke wurden mir vorgeworfen. Ich habe zwar in einer mit gehörigem Beifall aufgenommenen Erwiderung auf die Anstandslosigkeit der Neigung, beim Angeben sachlicher Argumente zur persönlichen Diskriminierung zu schreiten, hingewiesen; jedoch kann ich eine arge Verbitterung nicht verbergen. Ich werde auch das Gefühl nicht los, daß es mir nie gelingen wird, mit allen Kollegen meiner Richtung richtig warm zu werden. Nur schwer komme ich von dem Gedanken los, ab sofort überhaupt nicht mehr an Studentenratssitzungen teilzunehmen. Eine solche Erklärung hätte ich noch während der Sitzung abgeben müssen. Der Studentenrat ist, wie ich gestern vollkommen erkannt habe, keine Institution mehr, die der politischen Erziehung der Studentenschaft in fruchtbarer Weise dienen kann. Die Formen, die die stärksten Aktivisten der SED in ihm eingeführt haben, sind seiner einfach unwürdig. Die immer wieder aufbrechende Gegensätzlichkeit läßt die andere Seite an keinem ehrlichen Gespräch teilnehmen. Aufrichtige Verständigung ist ausgeschlossen; jeder gerade und ehrlich Auftretende wird in häufig übelster Weise angegriffen. Immer mehr gewinnen leichtfertige Politiker, die ohne ernstes Verantwortungsbewußtsein sind, die Oberhand. Es mag sein, daß eine Mehrheit von Mitgliedern, die nicht der SED angehören, den einen oder anderen Vorteil für das Studium der echten Studenten erwirken kann. Ernstlich aber ist eine aufbauende Tätigkeit nicht mehr möglich. Und darum werde ich nicht mehr mittun. In vier Wochen sind Neuwahlen. Bis dahin wird meine Tätigkeit im Studentenrat beendet sein.

Leipzig, den 12. November 1948 Durch die Straßen marschieren Polizeikolonnen im Gleichschritt mit Gewehren hinter Marschmusik der Schalmeienkapelle und roter Fahne. In der letzten Nacht ist Natonek verhaftet worden.

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Harry S.Truman (1884-1972), Politiker, 1945-1953 Präsident der U S A .

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Leipzig, den 13. November 1948 Heute erfuhr ich, daß mein Stipendium vollkommen gestrichen worden ist. Als Begründung wurde angegeben, daß meine Tätigkeit im Studentenrat im Dienste der Spaltung gestanden habe. Aus dieser Tatsache und Bemerkungen von maßgeblichen Persönlichkeiten der anderen Seite habe ich entnommen, daß meine ganze Tätigkeit im letzten Jahre peinlichst genau registriert worden ist und von äußerstem Mißtrauen getriebene Auslegung erfahren hat. Ich bin unserem Gegenüber der Studentenschaft augenblicklich wohl der schärfste Dorn im Auge. Und nun sinniere ich, ob ich den Sprung tun soll durch das noch offene Fenster. 70 Leipzig, den 14. November 1948 Bei Licht betrachtet, fühle ich mich ohne Stipendium recht wohl. - Vielleicht findet sich doch bald eine Verdienstmöglichkeit. - Ich fühle mich wie ein dem Käfig entronnener Vogel, als hätte ich in Freiheit zu neuer Existenz gefunden Leipzig, den 15. November 1948 Die Zahl der Verhaftungen ist das Wochenende über erneut gestiegen. Kein Wunder, daß sich allmählich zunehmende Depression in der Studentenschaft bemerkbar macht. Die alte Kampffront beginnt abzubröckeln, obwohl es offensichtlich ist, daß die augenblicklicher Aktion sich lediglich gegen die LDP richtet. 71 Dem muß entgegengetreten werden. Trotz der horrenden Abänderungen des Wahlstatuts zu den Studentenratswahlen (u.a. für 25 Vorstudienschüler ein Vertreter, jedoch für 750 Naturwissenschaftler nur drei), die eine einseitige Bevorzugung der SED bedeutet, müssen wir den Wahlkampf wagen und versuchen, alle Chancen zu einer möglichen Halbierung des Studentenrates zu nützen. - Das Schiff muß weiterfahren auch ohne den alten Kapitän, wenn es auch nicht mehr in Führung liegen wird. Über meine eigene Position bin ich mir keineswegs im Klaren. Darf ich annehmen, da ich innerhalb der L D P selbst keine hervorragende Stellung einnehme, die augenblickliche Verhaftungswelle aber größere Kreise bisher noch nicht in Mitleidenschaft gezogen hat, daß mit der Streichung meines Stipendiums meine Maßregelung vorerst erschöpft ist? Oder ist diese Aktion nur Auftakt zu weiteren, von denen die nächsten sehr gut auch mich treffen können? Soll ich bleiben oder mein Domizil wechseln? Sehr zu denken gibt mir eine Mitteilung, nach der die Namen 70

Überwechseln nach Berlin (West) oder in die Bundesrepublik. Neben Natonek waren noch mindestens zehn weitere Mitglieder der LDP-Hochschulgruppe verhaftet, die Gruppe selbst verboten und ihren Mitgliedern die Stipendien gestrichen worden. 71

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all derer, die den Zielen der SED entgegenstehen, der SMA übergeben werden sollen. - Morgen will ich nach Hause fahren. Mahlis, den 17. November 1948 Noch nie war ein Sprung nach Mahlis mit so wenig Befriedigung und so viel innerer Bedrückung verbunden, brachte er so viel innere Unruhe wie dieser zum Bußtag. Die Unglückssträhne hat eine erneute Verstärkung erfahren: Papa ist in seiner Stellung zum 1. Januar gekündigt worden. Er steht nun vor dem Nichts, nachdem dieses Jahr bisher seinem Schicksal eine kleine Wendung zum Besseren gegeben hat. Dadurch wie auch durch die wohl berechtigte Annahme, daß auch Papa, gleich mir, zumindest von Seiten der SED-Kreisleitung genauerer Beobachtung untersteht, kompliziert sich die Frage nach der Fortführung meines Studiums weiterhin. Alle Vorhaben für die Zukunft sind in den Bereich völliger Unsicherheit gedrängt. Die Hauptentscheidung fällt zunächst mit dieser Möglichkeit des Erwerbes finanzieller Mittel.

Leipzig, den 18. November 1948 Die Spannungen dürften heute ihren Höhepunkt erreicht - vielleicht überschritten haben. Heute morgen fanden sich angeblich - ich selbst habe nichts davon gesehen - in einzelnen Gebäuden der Universität Anschläge, die - im Zusammenhang mit der Verhaftung Natoneks - zum Widerstand aufriefen und von einer „1. Widerstandsbewegung" unterzeichnet waren. Der Text ließ in seinem Aufbau immerhin einige Zweifel an der Echtheit dieser Aufrufe laut werden. - Doch die Gefahr war für Studentenschaft und Universität vorübergehend außerordentlich groß, zumal auch die Kommandantur bereits davon Kenntnis erhalten und den Rektor 7 2 aufgefordert hatte, schärfstens dagegen vorzugehen. Doch der Abend brachte wider Erwarten eine milde Studentenratssitzung, die der Rektor mit einigen ebenso milden Mahnworten eingeleitet hatte. Wohl fehlte es hier und da nicht an einigen Drohungen. Aber es fehlte jede Aggression. Nach der ersten Nervosität des Nachmittags erschien das als geradezu wohltuende Spannung. Freilich überwog wohl allgemein der Gedanke, zufrieden zu sein darüber, mit heiler Haut davonzukommen. Ich war aufs Äußerste vorbereitet. Meine Absicht war, morgen früh Leipzig zu verlassen. - Nun aber werde ich doch endlich wieder eine ruhige Nacht haben.

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Johannes Friedrich (1893-1972), 1936-1950 Professor für Altorientalische Sprachen an der Universität Leipzig, 1948-1949 Rektor der Universität Leipzig, 1950 Berufung an die F U Berlin.

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Leipzig, den 21. November 1948 Ein schaudererregendes Bild: Seit einigen Tagen zeigt eine Wandzeitung der SED in der Universität eine Zeichnung, auf der ich in einem engen Verließ vor einer verschlossenen Türe stehe. „Schulz sucht eine Hintertür", lautet die Überschrift des folgenden Artikels. Bild, Aufsatz und Schlagzeile stehen nur bedingt in logischem Zusammenhang. Aber das kann mein Unbehagen nur verstärken. Leipzig, den 22. November 1948 Ich war in Berlin. Man kann so viele sympathische Züge dort finden. Aber das Schicksal dieser Stadt ist schwer und ungewiß. Ein schlimmer Winter steht bevor. Und auch nicht alles, was sich dem genauen Betrachter als Erscheinung darbietet, kann verstehendes Urteil finden. Zweifellos: Hier steht das Bürgertum. Ich wünschte, Zeit zu haben, um selbst in ihr zur Klarheit und Reife zu gelangen, frei vom unmittelbaren Druck der die Seele erdrückenden Dinge. Doch das ist das Tragische unserer Tage, daß die eiserne Sprache unmißverständlicher Ereignisse sofort und ohne Zögern unerbittlich Entscheidung fordert, um jeden Schritt den Charakter des nicht mehr Ausgleichbaren, der Trennung von jeder weiteren Wahl zu geben. Verderblich liegt dieses entsetzliche pro oder contra über unserem Leben, immer stärker den Raum für Eigenes einengend. Leipzig, den 27. November 1948 Im Studentenrat beginnt der große Bergrutsch immer katastrophalere Formen anzunehmen. Die bisher führende LDP-Fraktion ist nach Auflösung der Betriebsgruppe geradezu in alle Winde verweht. Innerhalb von drei Wochen haben wir unsere hervorragende Position vollkommen eingebüßt. Stillschweigend - denn es wird kaum möglich sein, eine Abschlußsitzung zustandezubringen - tritt der alte Studentenrat ab. Die Vorwahlen vor einigen Tagen, die von Seiten der SED mit eiserner Parteidisziplin durchgeführt wurden, haben gezeigt, daß das aufoktroierte Wahlstatut die SED-Mehrheit vollkommen sicherstellen wird. Was nun kommen wird, ist nur noch Nachspiel. Im Laufe der kommenden Woche werde auch ich meine Tätigkeit einstellen. Keine Macht der Welt kann von den Menschen verlangen, für etwas zu leben und zu arbeiten, was ihnen keine Freude bereitet. Unser Werk muß unser ganzes Selbst werden können. Leipzig, den 28. November 1948 Ein trüber, dunkler und naßkalter erster Advent, doch voller Ruhe und Gedankenträchtigkeit: Die Gedanken eilen überallhin und lassen sich nur schwer

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einfangen. Wie eine dünne Flüssigkeit rinnen sie in alle Ecken und Spalten meiner erlebten Welt. Mit Ruhe und Abstand versuche ich mir Rechenschaft zu geben über meine Tätigkeit im Studentenrat. Dreimal habe ich in diesem Jahre versucht, einen klaren Ausdruck für das Wollen einer aufbauenden, aber die Idee der Universität nicht verleugnenden Studentenschaft zu finden. Es waren winzige Beiträge zur Neuformung der Universität auf unserem Boden. Einmal war - bei optimistischer Sicht - ein minimaler, aber bei aller Gegensätzlichkeit im Studentenrat beachtenswerter äußerer Erfolg das Ergebnis. Die anderen beiden Male, zuletzt in einer entscheidenden Frage, blieb er aus. Jedesmal habe ich in der Mehrheit des Studentenrates Einmütigkeit und Mut hervorzubringen vermocht. Jedesmal aber sah ich mich gegen meine anfängliche Absicht gezwungen, meine Stimme einem Kompromiß zu geben, um diese Einmütigkeit nicht zum Auseinanderfallen zu bringen. Heute ist der Wert meines Auftretens nur noch in der Erinnerung vorhanden. Die inzwischen eingetretenen Realitäten haben ihn überlebt. Der alte Studentenrat weicht einem neuen, von dem nicht anzunehmen ist, daß er eine Kontinuität erhalten wird. Damit wird alle Arbeit der Vergangenheit überantwortet. Für mich hat das alles nur Angriffe und nun erhebliche finanzielle Schwierigkeiten gebracht. Aber das ist wohl nicht entscheidend, zeigt sich doch darin nur das Los braver Leute in dieser Zeit, die es wagen, an den Grenzen des Raumes der ihnen zugemessenen Tätigkeit zu rütteln. Aber ich habe persönlich auch Lehren und Erfahrungen von einmaligem Wert mitgenommen. Vor allem habe ich ein gutes Stück politischen Lebens kennen und begreifen gelernt. Ich bin in eiserne Auseinandersetzung mit der Zeit hineingezwungen worden, aus der ich geradezu den zweiten Stoff meines Studiums empfangen habe. Gewonnen habe ich aber auch eine gründliche Abscheu und Verachtung gegenüber denen, die nur Politiker sind und allein in der Politik ihr Leben führen. Sie haben ihr Studium verfehlt und gehören nicht auf die Universität. Und über die Umgestaltung der Hochschule sollten nicht sie, die politischen Funktionäre, sondern die Fachleute entscheiden; das sind jene, die das Studium, die Lehre, Leben und Arbeit kennen. Doch das wird nun wohl mehr und mehr als frommer Wunsch erkennbar werden. Deshalb stelle ich mir die Frage, ob ich unter solchen Voraussetzungen, die nicht mehr die sind, unter denen ich mein Studium begonnen habe und weiterzuführen gedenke, noch längere Zeit in Leipzig bleiben kann. Und ich finde die Antwort, daß ich mich Ende dieses Semesters nach einer anderen Universität umsehen muß, die mich aufnimmt. Die Angriffe und Maßregelungen aufgrund meiner Studentenratstätigkeit haben mir den Boden Leipzigs verleidet. Hinzu kommt die tatsächliche Abhängigkeit von denen, die ich bisher bekämpft habe und mit denen ich kein Bündnis zu schließen vermag. Entscheidender aber ist das Wissen um meine Unsicherheit, die nur zunehmen wird, wenn die politischen Spannungen weiterhin wachsen. Ich bin fast völlig zum Schweigen verurteilt, wenn ich mich erhalten will. Die Ausweg-

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losigkeit der politischen Situation und politische Intoleranz auf allen Lebensgebieten lassen es mir wenig wahrscheinlich sein, daß ich in unserer Zone B e friedigung und Erfolg im Beruf finden werde. Ebenso zweifelhaft ist es mir nach den letzten Erfahrungen, ob fachliche Beurteilungen ausreichen werden, mir die Fortsetzung meines Studiums über das nächste Jahr hinaus zu ermöglichen. Aber vor allem: Es ist sehr ungewiß, daß ich überhaupt noch länger in Ruhe werde studieren können. Ich werde dorthin gehen, wo ich weiterwachsen kann ohne Furcht, ohne Angst, wo ich einer sicheren und gediegenen Ausbildung sicher bin. J e mehr ich mich in meine Arbeiten vertiefe, beginnt mir dieses Semester mehr zuzusagen. Die erst mich nicht recht ansprechende Lektüre Schleiermachers 7 3 bringt doch nach und nach einige Früchte hervor. So viel erscheint mir bekannt und verwandt. Da liegen die längst verstandenen Worte über die Unsterblichkeit: „Die Unsterblichkeit darf kein Wunsch sein, wenn sie nicht erst eine Aufgabe gewesen ist, die ihr gelöst habt. Mitten in der Endlichkeit eins werden mit dem Unendlichen und ewig sein in einem Augenblick, das ist die Unsterblichkeit der Religion." 7 4

Leipzig, den 29. November 1948 Warum studiere ich Geschichte? Ich habe wohl vorerst eine ausreichende Antwort gefunden: um einen Blick für die Gegenwart zu bekommen. Und was will ich in der Gegenwart? Keineswegs ihr entsagen oder aber mein Wissen an den Mann bringen. Ich will sie ganz erfassen, ganz in ihr sein und in ihr wirken. Wie? Ich bin so ehrlich zu gestehen, daß ich darauf noch nicht die rechte Antwort weiß. Frisch, froh, fröhlich, frei gelebt. Dann sollte es Wunder nehmen, wenn das Glück ausbliebe. Leipzig, den 8. Dezember 1948 Letzte Studentenratssitzung vor der Neuwahl. Der Studentenrat ist tot, noch ehe er verschwindet! Der billige Triumph der anderen beherrscht das Feld. Leipzig, den 11. Dezember 1948 Die Reihe der Ereignisse, die gleichsam einen immer fester werdenden Strick um unseren Hals legt, nimmt kein Ende. Auch dieses Wochenende bringt ei-

Friedrich Schleiermacher ( 1 7 6 8 - 1 8 3 4 ) , protestantischer Theologe. Philosoph und Pädagoge. 7 4 Zitat aus Friedrich Schleiermacher: Ü b e r die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern (1799). 73

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nen neuen Schreck in der Abendstunde: Die SED hat meine Exmatrikulation beantragt, wie ich soeben erfahre. Leipzig, den 13. Dezember 1948 Es drückt mir die Kehle zu. Der Druck, der ständig auf mir lastet, will auch für Stunden nicht mehr weichen. Mich schüttelt der Schauer der Bangnis vor dem ungewissen Kommenden. Heute wünschte ich, ich hätte den Sprung durchs Fenster schon getan. 75 Werde ich dieses Hinausschieben jemals rechtfertigen können? Ich habe vielfach in meiner Vergangenheit wie ein ungeschickter Blinder gehandelt. Zumindest hätte ich nicht die Macht so unmittelbar auf meinen Leib rücken zu lassen brauchen. Aber es ist wohl der Jugend zu verzeihen, wenn sie frohgemut und vertrauend in ihre Kräfte und das weite Reich der Möglichkeiten an das Werk geht. Heute weiß ich, daß wir politisch nur vor der Wahl stehen, passiv zu sein und schon dazu bedarf es einiger Klugheit - oder mit der Macht mitzulaufen. Jede eigene Konzeption ist dem Verderben geweiht. Doch das ist eine Erfahrung, die ich erst machen mußte, die ich nicht allein für mich, sondern auch für andere machen mußte. Aber Trost ist mir die Gewißheit, nicht untätig zugesehen zu haben, sondern aufgestanden zu sein, um zu sprechen, so gut ich es konnte. Und was ich getan habe, tat ich besten Wollens und nach ehrlicher Erwägung. Überschätzt nur habe ich den Wert der Demonstration und die Anständigkeit der anderen.

Leipzig, den 16. Dezember 1948 Gestern Konstituierung des neuen Studentenrats. 76 Einförmigkeit und propagandistischer Glanz sind nun auch in unserer Studentenschaft eingezogen. Still verließen die alten Studentenräte das Podium. - Das Gesicht der Universität ist, der Öffentlichkeit kaum merkbar, ein anderes geworden. Mahlis, den 21. Dezember 1948 Weihnachtsferien! Es ist traurig daheim. Papa und Mama sind in erneute Enttäuschung und Mutlosigkeit gefallen. Papa stumpft ab, Mama verzweifelt. Immer wieder einmal zerreißt der dünne Schleier, den die Alltäglichkeiten über das Innere decken. Es ist kalt daheim. Nur zeitweise kann gefeuert werden, da sonst Holz und Kohlen kaum den Winter über langen dürften. Ich friere und fürchte um meine Arbeit. 75 76

Überwechseln nach Berlin (West) oder in die Bundesrepublik. In den Studentenratswahlen hatte die SED die absolute Mehrheit errungen.

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Mahlis, den 31. Dezember 1948 Wenn ich gefragt würde, welches Wort Kierkegaards 77 ich für das bedeutsamste hielte, so müßte ich antworten, daß es dieses wäre: „Solche Menschen, wie das Christentum sie verlangt, leben nicht mehr." 78 Es ist dies die klarste Erkenntnis über das Verhältnis des Bibelchristentums zu den Menschen der Moderne. Nacht für Nacht liege ich stundenlang wach in klaren Gedanken. Aber wenn das Bild des Zukünftigen sich zu bilden anschickt, überkommt mich das Entsetzen. Trostlosigkeit und Verzweiflung halten mich in Unruhe und in ewigem Zittern vor dem Kommenden. - Und keiner vermag mir zu helfen. Aber das ist vielleicht die große Chance: Ich muß selbst Halt gewinnen.

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S0ren Kierkegaard (1813-1855), dänischer Philosoph, Theologe und Schriftsteller. Im Dezember 1948 hatte Schulz begonnen, sich mit Kierkegaard zu befassen und dabei den „Eindruck gewisser Verwandtschaften und enger Sympathie" gewonnen. Tagebucheinträge vom 6-/7.12.1949. Als Ergebnis seiner Auseinandersetzung mit Kierkegaard war eine Ausarbeitung zum Thema „Versuche einer Erneuerung der Religion im 20. Jahrhundert. Sören Kierkegaard" entstanden. BA Ν 1312, Bü 107. Darin die im Zusammenhang mit dem Zitat stehende Interpretation von Kierkegaards Deutung durch Schulz: „Die sich Christen nennen, sind in Wahrheit unendlich weit von Christen entfernt. Sie haben wohl den Namen Christen, den sie unberechtigt führen, sonst aber nichts." 78

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Leipzig, den 8. Januar 1949 In diesen Tagen habe ich mich so recht über meine Stipendienangelegenheit geärgert. 1 Ich habe sicherlich manches falsch angefaßt. Jedenfalls stehe ich jetzt völlig ohne irgendwelche Unterstützung da und muß überall auf Mißtrauen rechnen. Es ist erstaunlich, wie stark die Propaganda Psychosen erzeugen kann. Auch auf unserer Seite glauben mir wohl nur noch wenige, während dem, was von der anderen Seite verbreitet wird, mehr Ohr geschenkt wird; man trägt es ja am lautstärksten vor.

Leipzig, den 11. Januar 1949 „Wer nicht mitmacht, wird ausgeschlossen." Dieses Wort hörte ich heute als politisches Programm. Es scheint mir sehr treffend zu sein. Unter der Protektion der Besatzungsmacht schickt sich eine Gruppe an, ihren politischen Plan zu verwirklichen. Die Teilhaberschaft am gesellschaftlichen Leben wie an allen Lebensgütern stuft sich ab nach der Mitarbeit an diesem Plan. Jede Isolation aber, und das ist Teil dieses Planes, jede Unabhängigkeit wird abgebaut, so jeder einzelne in den Schmelztiegel der unterschiedslosen Gesellschaft hineingezogen, aus dem ein neuer Staat, getragen von einer neuen gesellschaftlichen Hierarchie, hervorgeht. Gewalt anzuwenden ist nur im Widerstandsfalle nötig. En Rezept, das todsicher zum Erfolg führen muß. Eingriffe können nur von außen kommen. Doch danach sieht es vorerst nicht aus.

Leipzig, den 13. Januar 1949 Die politische Situation scheint sich ein wenig aufzulockern. Augenblicklich ist einige Kompromißbereitschaft festzustellen, die verschiedenen Leuten wieder einmal den Glauben gibt, daß tatsächlich nur Prozesse der notwendigen Reinigung durchgemacht werden. [Daß] es unaufhaltsam, wenn auch etappenweise, in eine Richtung geht. Auf jeder erreichten Stufe wird mit neuer Bereitschaft, mit dem Vergangenen abzurechnen und abzuschließen und die Grenzen der Möglichkeiten abzustecken, die Arbeit aufgenommen und mit Intensität betrieben. Doch vor den ersten Erfolgen bereits machen sich die ersten Anzeichen der nächsten Erschütterung bemerkbar.

1

Gerhard Schulz war das Stipendium entzogen worden. Siehe Eintrag 13.11.1948.

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Leipzig, den 18. Januar 1949 Die Straßen sind verstopft. Die Betriebe haben um 15.00h die Arbeit beendet und entsenden nun in langen Zügen ihre Belegschaften in das Stadtinnere, zum Reichsgerichtsplatz. Man demonstriert gegen das Ruhrstatut. 2 Und so trotten denn die Menschen dahin in endlosen Zügen, gleichmäßig und schwatzend - wie zur Arbeit. Leipzig, den 4. Februar 1949 Meine letzte Tätigkeit in der LDP hat ihr Ende gefunden. Die Arbeitsgemeinschaft [Demokratischer] Studenten ist gestern zum letzten Male zusammengekommen. Etwas unvermittelt mussten wir die Eröffnung entgegennehmen, daß dieses Gremium nicht mehr weiterbestehen solle. Vorauszusehen war das wohl um so mehr, als es wohl kaum die Basis für eine neue Betriebsgruppe abgegeben hätte. Nun wird sich wohl ein neuer Apparat aufbauen nach Maßgabe allerhöchsten Fürgutbefindens. Dr. v. Stoltzenberg 3 will die bisher in schärfster Ablehnung verharrende LDP-Studentenschaft fest in seine Hand bekommen, um wenigstens in Leipzig über eine sichere Position zu verfügen. Ich kann diese Politik nicht akzeptieren. Wenn man nach seinen eigenen Worten Vertrauen als Voraussetzung jeglicher politischer Tätigkeit ansehen will, dann hat er hier bereits ein widersinniges Verhalten an den Tag gelegt; denn er hat nichts getan, um Vertrauen zu erwerben. Aber er hat auch in anderer Weise gegen das Gesetz der Politik verstoßen, insofern als er sie kaum als eine Tätigkeit für andere auffaßt. Das aber muß wohl Politik sein. Stoltzenberg, dieser blutige Realpolitiker, übersieht stets eine Realität, nämlich die, daß eine schwer ringende Partei über Gewaltmethoden in ihren eigenen Reihen zugrunde gehen muß. Oder er sieht diese Realität doch; dann wäre er der Teufel im Schafspelz. Die Existenz der Gemeinschaft ist nur auf einer festen gemeinsamen Grundlage gesichert. Alle Zeiten haben sie gehabt oder sie gesucht. Unsere Zeit nicht. Zwei Möglichkeiten bieten sich an: die der humanitären Demokratie des Westens und die des konsequenten Sozialismus des Ostens, den wir Bolschewismus nennen. - Die Frage geht weniger auf das Entweder - Oder als vielmehr auf die Möglichkeit der Existenz der einen oder der anderen Lebensanschauung oder beider nebeneinander, auf Kampf oder Ausgleich. 2

Das Ruhrstatut vom 28.4.1949, verabschiedet von Frankreich, Großbritannien, den USA und den Beneluxstaaten, errichtete eine internationale Ruhrbehörde. Ziel des Abkommens war die Förderung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit der westeuropäischen Staaten, aber auch die Kontrolle der deutschen Montanindustrie. 3 Wilhelm von Stoltzenberg (1895-1955), ab 1946 Mitglied des Zentralvorstands der LDP, 1947-1949 Bezirksverbandsvorsitzender der LDP in Sachsen.

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Es ist Unsinn, davon zu sprechen, Rußland gehöre Europa an. Rußland müßte mit „Europa" identisch gesetzt werden; und ein neuer Begriff wäre zu prägen. Leipzig, den 6. Februar 1949 Keine Situation, in der ich mich finde, ist gekennzeichnet, wenn nicht die Angst bewußt ist, von der stets ein kleiner, fast möchte ich sagen: ein glimmender Teil vorhanden ist, der allzu bald zu einem wild lodernden Feuer angefacht wird und mich erzittern macht. Ich habe versucht, mich zu zwingen, so zu tun, als sei sie nicht da, und unter einem kategorischen Trotzdem zu handeln. Doch darin verzehre ich meine Kräfte und vergehe wie schmelzender Schnee. Es ist etwas anderes notwendig, um diese entsetzliche Angst zu beseitigen, etwas, das sich wohl nur mit Worten wie Vertrauen, Zuversicht, Hoffnung umschreiben lässt, das allein Sicherheit zu verleihen vermag. Leipzig, den 17. Februar 1949 Gestern abend war Egon 4 bei mir - seit mehreren Wochen wieder einmal. Auch bei ihm hat sich eine gewisse Wandlung vollzogen. Er ist herzlich und rücksichtsvoll wie immer, ein ebenso unermüdlicher Gesprächspartner, der jetzt endlose Gedanken anspinnen und in scharfe, lebensvolle Formulierungen gießen wie dann wieder eine recht derbe, blutvolle Bemerkung machen kann. Er steht mit beiden Beinen fest in der Wirklichkeit und ist kerngesund. Und seine ganze Kraft entlädt sich in endlosen Spekulationen. Und er ist in die materialistisch-marxistische Bahn hineingefahren, aus der es für ihn kein Heraus mehr zu geben scheint. Er fällt vor der Wucht dieses Denkens, das die uneingeschränkte und intolerante Herrschaft auf unserem Boden angetreten hat. - Noch wehrt sich ein Empfinden in ihm. Doch er ist ein Gezeichneter. Und was soll ich ihm sagen, der ich doch selbst kaum genau weiß, wie weit ich schon Marxist bin und wie weit nicht. Leipzig, den 2. März 1949 Es möchte mir fast scheinen, als redete ich auch bereits an E[gon] vorbei. Die Worte, die ich ihm sage, klingen nicht mehr recht an. Es verlangt mich, immer wieder mit ihm zu sprechen. Und dann versandet jedes Gespräch. Es wird in das Allgemeine gezerrt und verläßt völlig das Persönliche und Augenblickliche. Ich vermag ihn in unseren Diskussionen nicht mehr unmittelbar anzusprechen.

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Egon Groschopp.

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Leipzig, den 3. März 1949 Heute ist es geschehen: Gleich zwei Stunden meines Schulpraktikums hintereinander wurden geprüft. Sie waren nicht meine besten. Ich habe auch keine außerordentliche Mühe angewendet. Aber die Kritik war noch schlimmer. Das Schlimme aber ist, daß ich die gemachten Vorschläge gar nicht einfach annehmen kann. Unsere Schulmethodiker behandeln das Erziehen wie ein Metier, das man erlernen soll. Lernen aber kann ich es nicht. Von einem Manne, von dem ich es niemals angenommen hätte, hörte ich heute das Wort, für ihn gebe es überall und immer Zweifel. - Ich frage mich: Wovon lebt wohl dieser Mensch? Denn es gibt doch kein Dasein, dass sich nur auf Zweifel gründet. Nicht der denkende Mensch ist gefragt, sondern der arbeitende und produzierende. Gebt acht, daß das Denken darüber nicht zum Teufel geht. Leipzig, den 6. März 1949 Heute habe ich eine glänzende Theateraufführung gesehen: Bert Brechts „Mutter Courage und ihre Kinder". 5 Noch nie habe ich in Leipzig einen solchen Beifall erlebt wie an diesem Abend. Und er war berechtigt, obwohl Stille eigentlich noch stärker für die Wirkung des Stückes gesprochen hätte. Ich verstehe heute, daß Brecht neulich sagen konnte, das Theater habe kaum noch irgendeine Wirkung. Man müßte ihm Recht geben, wenn man die Stärke sieht und erlebt, mit der Brecht zu wirken trachtet. Oder bedarf es anderer Seiten, die anklingen müssen, um das menschliche Ohr zu treffen? Fast möchte ich diese Frage stellen - bei aller Anerkennung und Achtung Brechts. Doch heute bin ich zu müde. Leipzig, den 15. März 1949 Bausteine einer zukünftigen Pädagogik: 1. Der Mensch soll in freier Sicherheit gedeihen und zur harmonischen Entfaltung seiner schöpferischen Kräfte gelangen. 2. Sein Leben soll in zuchtvoller Geholfenheit geführt werden. 3. Er soll die Wirklichkeit als aufgabenhaft erfassen. 4. Sein Tun und Streben soll von geistiger Klarheit und Zielhaftigkeit erfüllt sein. 5. Sein Ethos ist das der Ermöglichung und Förderung des freien menschlichen Gedeihens. 5

Das Theaterstück, 1938/39 geschrieben und 1941 im Schauspielhaus Zürich uraufgeführt, spielt im 30jährigen Krieg und stellt eine Anklage gegen den Krieg an sich dar, der stets zu Lasten der kleinen Leute gehe. Seit einer Modellaufführung des Berliner Ensembles mit Helene Weigel 1949 wurde das Stück bis heute häufig an deutschen Theatern gespielt.

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Auf sich selbst vertrauend und in freudiger Hingabe sieht sich der Mensch der Wirklichkeit gegenüber, die er erlebt, erkennt und begreift und in die er sein Leben handelnd und denkend einfügt. Leipzig, den 18. März 1949 Die Diskussionen mit E[gon] 6 beginnen sich totzulaufen. Auch an ihm muß ich den Prozeß der einseitigen und blutlosen Intellektualisierung erleben, der schließlich für die einfachsten Dinge der Welt Beweise heischt, jedoch bereit ist, jede logische Beweisführung für bare Münze zu nehmen und alles, [selbst] das Abstruseste sogar zu verstehen und anzuerkennen. Wir haben sogar einmal nach schlüssigen Beweisen dafür gesucht, daß der Mensch nicht beliebig töten darf. Im Grunde bleibt er allerdings ein recht blutiger und schwacher „Realist": Die Machtverhältnisse unserer Zeit, die er genau zu erfassen glaubt, möchte er gerne als nicht mehr diskutierbare Ausgangsbasis wissen, auf die man geruhsam aufbauen kann. Dabei geht seine Argumentation die gewundensten Wege, die jeder natürlichen Regel widersprechen. Ich lernte ihn als heftig Protestierenden kennen. In der Gemeinsamkeit unseres Protestes fanden wir zusammen. Nun ist sein Protest vorbei. Mahlis, den 19. März 1949 Der extrem radikale Sozialismus strebt die Herrschaft und das geltende Maß des Prolitariats an, wobei sich die unterste Schicht der bisher als unbefähigt Geltenden emanzipiert und zur Diktatur aufschwingt. Dieser „Aufstand der Massen" 7 ist nichts anderes als die Reaktion der im gesamten kulturellen Bereich Zukurzgekommenen ohne Gewinnung eines neuen gesellschaftlichen Ordnungsprinzips. Um die Gewinnung dieses neuen gesellschaftlichen Ordnungsprinzips aber gerade geht es. In seinem Sinne etabliert sich die Gerechtigkeit unter den Menschen. Doch seine Einsetzung vollzieht sich nicht in der Anerkennung, in der Gehorsamkeit einer spekulativen Konstruktion, sondern vielmehr in einem sich aus der Natur des gesellschaftlichen Zusammenlebens historisch ergebenden Prozeß. Um die als Unfreiheit bewußt gewordene klassenhafte Verhärtung der Gesellschaft zu beseitigen, gibt es nur die Mittel der Wahl, der erzieherischen Aufklärung, der Volkskontrolle und der allgemeinen Begabtenförderung, die Gültigkeit des Maßes der Intelligenz ohne Besitzinteressen, aber nicht der Zukurzgekommenen schlechthin. 6

Egon Groschopp. Titel eines Buches aus dem Jahr 1929 des spanischen Philosophen, Soziologen und Essayisten Jose Ortega y Gasset (1883-1955). 7

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Die Flüchtlingstatsache, Millionen von heimat- und besitzlos Gewordenen, macht für Deutschland zweifellos den Sozialismus notwendig und maßgeblich. Gewiß wird man einigen Mächten nicht den Vorwurf der bewußten Proletarisierung des deutschen Volkes ersparen können. Doch wir können Tatsachen nicht mit Ressentiments aus der Welt schaffen. Ein wesentlicher Teil unseres Volkes ist heute besitzlos. Das muß eine gesellschaftliche Neuordnung zur Folge haben. Der Kern des Sozialismus ist humanitär: Sozialismus ist Emanzipation des Menschen, wie ihn Marx bereits gedacht hat. Es geht darum, das Ganze der natürlichen Bedürfnisse des menschlichen Lebens festzustellen, wobei Soziologen, Psychologen, Anthropologen, Kulturhistoriker und Soziographen als erarbeitende Wissenschaftler eine große segensreiche Aufgabe zu lösen haben werden. Und dann wird der Staat ebenso wie jeder einzelne die Mittel bereitstellen und alle Kräfte mobilisieren müssen, um die Sphäre des menschlichen Lebens vorbeugend umzugestalten. Das geht kontinuierlich und permanent vor sich und ist am Effekt meßbar, nämlich dem Grad der Erfüllung von Voraussetzungen für ein ungehemmtes, gefördertes Wachstum des Menschen in der Gesellschaft. Mahlis, den 23. März 1949 Was die Persönlichkeit ausmacht, ist der gewaltige, sieghafte Kraftstrom, der den Menschen über seine Umwelt hinausträgt und ihn vorübergehend ganz Ich sein läßt. Dieser Kulminationspunkt der Subjektivität ist dann das Moment der Diktatur des Individuums über seine Umwelt. Wir Heutige vollziehen den Übergang vom Individualismus zum Sozialismus. Das bedeutet Überwindung der triebhaft-willkürlichen Ich-Kulmination, um zur Hingabe an die Mitmenschheit - allgemein mit dem Terminus „Gesellschaft" bezeichnet - zu gelangen. Das geschieht, indem das Individuum in Unmittelbarkeit sich mit der Gesellschaft identifiziert und sich zu ihrem Exekutor macht. Das ist kein Akt blinder Unterwerfung, sondern Aufgehen und Diktatur, Dienst und Führung in einem. (Diese Begriffe verlieren ihre Scharfkantigkeit.) Um einen bildlichen Vergleich anzuwenden: Es handelt sich um die unio mystica in der Gesellschaft. („Bildlich" insofern, als dieser Akt durchaus rational und darum seinem Wesen nach keineswegs „mystisch" sein kann.) Mahlis, den 29. März 1949 Stärke, Tiefe und Reinheit der Sitten sprechen das Urteil über die Gesellschaft. - Am besten faßt man alle drei Prädikate wohl zusammen unter dem Namen Ursprünglichkeit. - Das sagt vor allem aus, daß die Gesellschaft so lange in jugendlicher Frische und Gesundheit existiert, wie in ihr Sitten und Sittlichkeit erzeugt werden. Das ist auch der Grund, aus dem heraus ich das gesamte Bürgertum nur als Übergangserscheinung betrachten möchte. Denn es war Verhärtung und Verfall

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in ihm bereits zu Beginn seiner Blüte. Der ganze Anfang aber ist überschattet von dem Glänze der einstmals unvergleichlich starken Adelsgesellschaft. Übergangserscheinung - zu einem Neuen, von dem wir noch wenig wissen.

Mahlis, den 31. März 1949 Ich glaube an die Zukunftsträchtigkeit des Sozialismus. A b e r mir bangt vor einer drohenden Gefahr, der, daß die besitzhierarchische und in individualistischer Kraftlosigkeit ermattende bürgerliche Gesellschaft lediglich einer neuen hierarchischen Ordnung, die in ihrer Starrheit und Ausweglosigkeit nur noch viel unmenschlicher sein kann, Platz macht der politischen Funktionärsgesellschaft. D a ß darüber der Sinn des Sozialismus verloren geht, der da einzig und allein [in der Lage] ist, die Emanzipation des Menschen, die Rückführung der Gesellschaft zur Menschlichkeit, zu Ursprünglichkeit der Sitten [zu erreichen]. Zahllose Tränen und Schmerzen bringt die große Umwälzung mit sich. Nur unter Schmerzen wird geboren. Um so entsetzlicher erscheint die Gefahr, daß unter diesen Schmerzen nicht eine herrliche Erscheinung, sondern ein Scheusal zur Welt kommt. Es ist letztlich die individuelle Ohnmacht, die zermürbt. Papa soll eine Stellung erhalten. Nur im Nachbardorf, aber mit auskömmlichem Gehalt. Was wird daraus? Im Sozialismus liegt eine sehr tiefe Wahrheit, aber sie ist keineswegs auf den ersten Blick richtig zu erfassen. Das Dilemma liegt nun darin, daß man nicht immer von denen, die sich zum Marxismus bekennen, mit Sicherheit sagen kann, ob sie die tiefe Wahrheit gefunden haben oder lediglich an der Oberfläche haften geblieben sind und damit aller Wahrscheinlichkeit in die Irre laufen werden.

Leipzig, den 7. April 1949 Im übrigen habe ich nochmals den „Sprung durch das Fenster" durchdacht und - wenn ich so sagen will - vorbereitet. 8 Aber nach dem letzten Währungsmanöver 9 sind die Bedingungen hierfür ungünstiger denn je. Eine erneute Bedenkzeit von etwa drei Wochen ist das einzige Ergebnis, das ich gewonnen habe. Ich bezweifle, daß ich mich zu diesem Wagnis entscheiden werde, - trotz allem. Ich sehe mich hüben wie drüben in höchst ungünstiger Lage, in der ich mich völlig ohnmächtig fühle, unfähig, planvoll in die Z u k u n f t hineinzusteuern. Ich gestehe, daß ich im Stillen auf Zufälle baue. Und wie von jeher vermag ich diesen Faktor nicht zu negieren, sondern räume ihm einen wesentlichen Platz in meiner Hoffnung ein. Diese Ehrlichkeit bin ich mir schuldig. 8

Überwechseln nach Berlin (West) oder in die Bundesrepublik. Mit Wirkung vom 20.3.1948 war in den Westsektoren Berlins die D-Mark (West) als alleiniges gesetzliches Zahlungsmittel eingeführt worden.

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Leipzig, den 8. April 1949 Es ist ein großes, schwieriges Unterfangen, Meister der Sprache werden zu wollen. Es verlangt nicht allein die völlige Herrschaft über die Ausdrucksmöglichkeiten und ihre ständige Gebrauchsbereitschaft und sichere und treffende Verwendung. Vielmehr noch oder besser: im wesentlichen, bedeutet, Meister der Sprache zu sein, die vollendete Fähigkeit, die widerstandsfreie Elastizität in der rationalbegrifflichen Nachformung des Erlebten, wobei in diesem Begriff Erfahrung, Verstehen, Analyse und Synthese zusammengefaßt ist. Fast glaubte ich, den Ariadne-Faden 10 gefunden zu haben. Da klingelte es: Papa ist aus Berlin gekommen. - Und nun liegt alles in halbem Glänze noch vor mir, und doch bin ich nicht ohne Verdrießlichkeit. Mahlis, den 19. April 1949 Einem Bekannten im Westen schrieb ich von der Bereitschaft zur Einschränkung, von der Geduld, dem Aushalten und Ertragen. Nachdem der Brief fertig war, wurde mir erst bewußt, daß ich mir dies alles selbst zuredete. Über die Zukunft hat es wieder eine Auseinandersetzung mit Papa gegeben. Er resigniert und ist still und finster geworden. Dieses Verhalten erschüttert mich mehr als jemals; ich könnte nur in glühender Wut einen Ausweg aus dieser Erschütterung finden. Leipzig In demütiger Friedlichkeit sind wir zum Abschied gelangt. Aber vorher hat uns ein Sturm von Gefühlsausbrüchen durchrast. Ich fühle mich müde und zerbrochen. Ich kann nicht schreiben. Wenn ich an Mama zurückdenke, so würgt es mich und ich möchte aufschreien. Ich bin völlig erschöpft; mit fehlt jeder Mut, da ich mich wieder in Ohnmacht und Verzweiflung sehe. Und die schweren Fragen lasten schwerer auf mir als vorher. Wie ich es als kleiner Junge tat, will ich heute früh schlafen gehen und meinen Schmerz mit Schlaf besänftigen. Aber ich schreibe ja über all das - und weiß nicht, wie ich das noch fertig bringe - und warum eigentlich. Leipzig, den 20. April 1949 Wer wollte es bestreiten, daß wir in einer Diktatur leben, die sich anschickt, immer weiter in unserem Leben vorzudringen mit dem Ziel, es restlos zu er-

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Begriff aus der griechischen Mythologie. Mit Hilfe des Fadens, ein Geschenk der Prinzessin Ariadne, fand Theseus den Weg durch das Labyrinth, in dem sich der Minotaurus befand.

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füllen. Der Unterschied zu der vergangenen liegt lediglich im Qualitativen und in der Ersetzung der personalen Spitze der diktatorisch-bürokratischen Hierarchie durch die anonyme Vertretung der Besatzungsmacht. Was an deutscher Verwaltung und deutschen Parteien und Organisationen besteht, ist der immer fühlbarer werdenden Unterwerfung unter die Besatzungsmacht ausgeliefert. In ihrer Hand wird jede bestehende Organisationsform zum Mittel, ihre Herrschaft in dem einzelnen Menschen faktisch und ideologisch zu verwurzeln. Und wer künftig leben will, muß sich fügen. Es wird nur noch Emigranten, Bettler oder Gesinnungsgenossen geben - und natürlich die naiv-einfältigen Intellektuellen. Es ist zum Verzweifeln; und diesem Papier alleine kann ich das sagen. Man vermag wohl, ein gewisses Maß von Lüge, Rücksichtslosigkeit und Opportunismus zu ertragen. Wo dieses Maß jedoch überschritten wird, dort kann man nur Gegner sein. Uns wo man als Gegner aus dem Leben ausgeschlossen wird, dort kann man nur verzweifeln - oder das Leben aufgeben. In meiner Depression bin ich zu E [ g o n ] n gegangen. Wie Mama in meinen frühesten Jahren bestrich er einige Stullenschnitten mit Butter und Marmelade und bot mir davon an. Hoffnungen kann er mir nicht geben. Aber das scheint auch schon eine Antwort zu sein: die Kräfte zu stärken. Ich überfalle ihn mit einer Fülle von Fragen und er schneidet und bereitet Brot, um eine Stärkung zu geben. Wahrscheinlich war er sich der Tiefe seines Tuns gar nicht bewußt. Aber ich habe eine Antwort erhalten, ohne daß mir Worte gesagt worden wären, die mir helfen könnten. Das Lebenwollen ist Stärke, die sich überall durchsetzt. - Und es ist ja auch so schön: der Himmel sommerlich blau; die Bäume stehen in voller Blüte. Gelebt wird überall, und überall geht es um das Leben, hüben wie drüben. Und wer Hüter des Lebens sein will, hat überall Aufgaben. Die politische Verkrampfung allerdings muß gelöst und aufgelockert werden. Leipzig, den 25. April 1949 Prof. Kühn hat mich, wie ich erfahren habe, zum Sonderstipendium vorgeschlagen. 12 Ich war recht erstaunt, traf es mich doch völlig unerwartet, in Leipzig noch etwas Erfreuliches zu hören. Freilich wird ja nichts Ernstliches daraus

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Egon Groschopp. Überliefert ist eine Beurteilung von Johannes Kühn vom 29.4.1949. Sie lautet wie folgt: „Ich wurde aufgefordert, mich über Herrn Gerhard Schulz zu äußern. Ich tue das mit großem Vergnügen. D e n n ich kann nur bezeugen, dass auf dem akademisch-wissenschaftlichen Felde, auf dem er mir begegnet ist, ich einen sehr guten Eindruck von ihm bekommen habe. Er besitzt ohne Zweifel eine ganz überdurchschnittliche Begabung, die historisch-philosophisch-soziologisch gerichtet zu sein scheint. Ich glaube, dass ihm geistige Dinge wirklich am Herzen liegen und dass ihm eine ernste Lebensführung vorschwebt. Er hat an mehreren Seminarübungen von mir teilgenommen und verschiedene schwierige Themata in wirklich tief eindringender Weise behandelt." B A N1312, Bü 59. 12

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werden, wenn ich es mir auch für eine Minute nicht verkneifen konnte, an die herrliche Zeit zu denken, wenn die größte Not überwunden ist. Ich bin Prof. K[ühn] gewiß sehr zu Dank verpflichtet. Doch das wird wohl seine letzte gute Tat gewesen sein. Heute eröffnete er mir, daß er seiner Berufung nach Tübingen Folge leisten werde. 13 Die Regierung habe in ziemlich offener Weise zum Ausdruck gebracht, daß sie seinen Weggang nicht ungern sähe. Das hat ihn veranlaßt, umgehend seine Entlassung zu beantragen. Damit verliere ich auch diesen Mentor. Damit ist die Domäne des historischen Materialismus an unserer Universität gesichert. Die Frage wird nun sein, ob er sich in freier wissenschaftlicher Arbeit weiterentwickeln läßt, oder ob er dogmatisch verhärten wird. Mit Renaissance und Reformation gelangen die Menschen in immer mehr zunehmendem Maße zur freien Verfügung über sich selbst und zur Bestimmung über ihr eigenes Streben. Dabei findet sich dann ihr Leben vorherrschenden Zwecken untergeordnet. Die Gesellschaft, die wir gemeinhin als die bürgerliche bezeichnen, kennt vornehmlich das Streben nach Freiheit und Genuß des Individuums in allen erdenklichen Abstufungen und Variationen. Der manifestierte „Wille zur Macht" ist gleichsam das Bewußtwerden dieses Strebens in seiner äußersten Konsequenz. Die neu erstehende Gesellschaft nun scheint von einem neuen Prinzip beherrscht zu werden: dem Streben nach ökonomischer Sicherung. - Mit der letzten Schicht der Gesellschaft emanzipiert sich die letzte Schicht der menschlichen Bedürfnisse. Leipzig, den 27. April 1949 Die bereits seit einiger Zeit merkbaren Gerüchte von Verhandlungen zwischen Rußland und Amerika haben nun die Gestalt fester Nachrichten angenommen. 14 Die ersten Einigungen sind erzielt. Den Verlautbarungen nach sieht es nach Einleitung der russischen Retraite aus. Verschiedene Kommentare glühen in optimistischstem Feuer. Und Egon 15 findet sich mit einmal auf meinem eigenen Standpunkt, wenn er auch von jeglichem Optimismus entfernt zu sein scheint. Leipzig, den 30. April 1949 Nach einer Fahrt nach Berlin und kurzem Studium der dort erscheinenden Zeitungen weiß ich, daß noch kein Anlaß besteht, optimistischerweise eine

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Kühn wechselte nach Heidelberg. Am 26.4.1948 hatte ein Kommunique den bevorstehenden erfolgreichen Abschluss von Verhandlungen zwischen den Westmächten und der UdSSR über die Aufhebung der Berliner Blockade angekündigt und die Einberufung einer Außenministerkonferenz in Aussicht gestellt. 15 Egon Groschopp. 14

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Entspannung der politischen Lage als sicher anzusehen. Gewiß ist es nicht ausgeschlossen; aber noch gibt es in der Wirklichkeit kein einziges Zeichen dafür, daß eine Änderung der russischen Politik eintritt. Immer wieder fesselt mich das Bild des Berliners, ein Gemisch von Lebensfreude, zäher Lebensbehauptung, Eleganz und Lässigkeit, ungeheurer geistiger Schnelligkeit und Leichtigkeit, freilich häufig lediglich am Äußerlichen und Oberflächlichen haftend, kühl, trocken und nüchtern bis zur Härte und völligen Teilnahmslosigkeit. Weitere wesentliche Grundzüge sind eine erstaunliche Unbekümmertheit, die bis zur Dreistigkeit, ja Frechheit geht und im Verein mit der inneren Teilnahmslosigkeit häufig zur Rücksichtslosigkeit und Unbedenklichkeit führt, vor allem aber ein in starkem Selbstbewußtsein geförderter Witz, freilich auch mehr äußerlich als innerlich, dann aber auch eine vitale Lebendigkeit. In allem aber keimt irgendwo eine stille Sehnsucht, die gut und rein sein kann. Meine Stellung schwankt zwischen Sympathie und Antipathie. Ich glaube, wir müssen alle noch viel mehr das Aushalten und Ertragen erlernen; das ist ein Gehorchen. Es wimmelt von Friedensattributen und -parolen; man will sogar „für den Frieden" kämpfen und die Waffen für die Friedensmacht ergreifen. Neulich sah ich in einem Traum eine Batterie schwerer Geschütze, die unter dem Jubel ihrer Bedienungsmannschaften Granaten abschössen, auf deren metallenen Leib die Worte „Boten des Friedens" geschrieben standen. Niemand bedachte die Explosionen auf der anderen Seite und den Schaden, den sie anrichteten. Leipzig, den 3. Mai 1949 Ich muß erfahren, daß Studentinnen, die der SED angehören, Verweise erhalten, weil sie mit mir bekannt sind und sich mit mir unterhalten. Leipzig, den 8. Mai 1949 Im Verlaufe der letzten Jahre hat sich dieses Gefühl, als befinde sich das Bauchfell in rasenden Schwingungen, zu äußerster Scheußlichkeit ausgeprägt. Zugleich erscheint mit ihm ein Würgen und ein innerer Druck, der sich bis zur Unerträglichkeit zu steigern vermag. Ist das die physische Seite der Angst? Nein, es ist Verzweiflung. Es wird mir immer schwer, sie in Ruhe und geistiger Klarheit zu überwinden.

Leipzig, den 15. Mai 1949 Während ich mit mir selbst noch uneins war, ob ich meine Übersiedlung nach Berlin vornehmen sollte oder nicht, traf ich doch in diesen Tagen alle Vorbereitungen, um jederzeit abfahren zu können. Doch ganz war ich nie bei der

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Sache. Es ist etwas da, das mich festhält und die wenigen Bedenken, die ich gegen ein Weiterstudium in Berlin habe, immer wieder in den Vordergrund schiebt. Ich kann nicht einmal sagen, was es ist. Aber ich fühle mich gebunden. War im Anfang auch ein wenig Mutlosigkeit gegenüber dem unbekannten Neuen dabei, so trat sie doch bald zurück und machte einem deutlichen Gefühl der Gebundenheit Platz. Da sind die wenigen Menschen, die mir nahe stehen, und die vielen, die mich kennen. Ich kann von ihnen nicht los. Und auch die zahlreichen kleinen Verletzungen ändern nichts daran. Dann aber ist es auch die mir liebgewordene Arbeit, die mich festhält. Und dann traf ich Dr. Buchheim, den ich schon längere Zeit nicht mehr gesprochen hatte. Auch er legte mir nahe zu bleiben, wobei die nicht zu verleugnende Veränderung der allgemeinen politischen Situation, wie sie sich ankündigt, sehr stark den Grund mitbestimmte. Auf der einen Seite ein freies ungebundenes Studium in Berlin - soweit das Geld reichen würde - , freilich mit einigen Schwierigkeiten insofern verbunden, als es an einer noch im Aufbau begriffenen Universität vor sich gehen müßte, und auf der anderen [Seite] Einschränkungen, wenn auch auf einem fruchtbaren Boden, in Leipzig. Bis zur Verzweiflung habe ich in den letzten Tagen das Für und Wider erwogen, ohne einen klaren Entschluß fassen zu können. Ich freute mich über jede Stunde, die ich ihn aufschieben konnte. Nun inzwischen ist allerdings die letzte Stunde herangerückt, die mir noch für eine Entscheidung bleibt. Immer wieder höre ich das Wort Prof. Kühns, mit dem er auf meine Eröffnung, daß ich seinem Beispiel folgen und auch die Ostzone verlassen möchte, antwortete: „Es dürfen nicht alle schöpferischen, selbständigen Köpfe weggehen." Freilich, ich habe noch keinerlei Aufgaben entdeckt, deren Lösung ich mich zu widmen hätte. Ich suche vorerst noch nach dem Ort, an dem sich meine Kräfte voll entfalten können. Das Leben erweckende Frühjahr ist dem stets förderlich gewesen. Darum will ich versuchen, vorerst die Leipziger Verhältnisse zu ertragen und weiterzuarbeiten. Vielleicht führt das doch noch zu einem guten Ende.

Leipzig, den 10. Juni 1949 Die wenigen Tage guten Wetters, die den langen Regen unterbrochen haben, sind wieder vorbei. Seit zwei Tagen strömt es wieder vom Himmel. Und ich sitze nach längerem Arbeiten allein daheim und sinne, ob mir etwas verloren gegangen ist - halb zuversichtlich, halb wehmütig. Nun, ich kenne ja diese alte Stimmung. Aber jetzt ist es schon viel, daß ich Zeit für sie habe. Ist das vielleicht schon Genesung? Heute habe ich ein längeres Referat über Venedigs und Genuas Handelsund Kolonialpolitik im Mittelalter halten müssen. Ich habe völlig frei gesprochen. Abgesehen davon, daß ich die mir zur Verfügung stehende Zeit überschritten hatte, wäre alles einigermaßen geraten, wenn meine innere Spannung und Aufregung mich nicht jeder tieferen, fortlaufenden Überlegung

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beraubt hätte, so daß ich ganz unmerklich mein Gedächtnis leerte, ohne die möglichen guten Gedanken in ansprechenden Formulierungen zu verwenden. Da stand ich nun und quälte mich, wobei die drückende Schwüle meinen leicht flüssigen Schweiß stromweise aus den Poren trieb. Kann ich denn nicht Herr über mich werden und Ruhe bewahren? Es will mir manchmal scheinen, als zitterten meine Hände fortwährend und verschütteten von dem kostbaren Flüssigschweiß, die das Leben in sie gegeben hat. Letztlich ist der Mensch alleine. Doch nur allzu selten habe ich mich bereit gefunden, das zu ertragen. Leipzig, den 12. Juni 1949 Ich muß mir immer wieder zuraunen: Bleib ruhig, mein Herz! Der Dinge sind so viele, die mich in Erregung versetzen. Das geht bis zur völligen Selbstvergessenheit und innerer Eingespanntheit und Mitbewegung. Und dann finde ich mich im Zittern und tätigen Drängen ohne Rast. Ich liebe und wage es nicht einzugestehen, ja, ich scheue davor zurück, den Gedanken daran größeren Raum in meinen Überlegungen einzuräumen, aus Furcht vor dem Verlorengehen in den grenzenlosen Gefilden des blinden Gefühles, die mir immer so leicht offenstehen. Ich schweige in der kühlen Überlegung des Prüfens und Kontrollierens, im Verlangen nach Bewährung und Sicherheit - ja, und auch aus allerlei Rücksichten gegen andere, die mir nahestehen. Und dennoch ist mir dieses Schweigen eine Qual, die mich fast zermürbt. Immer wieder fahren meine Gedanken aus den Geleisen heraus, in die ich sie hineinzwingen möchte. Es scheint mir, als müßte ich unter einem inneren Drucke platzen. Und ich muß behutsam mit der äußeren Hülle umgehen, um dem nicht Vorschub zu leisten. Meine Lösung ist die Arbeit, in der ich wahrhaftig für einige Stunden alles Äußere vergessen kann. Doch dann ist es wieder aus. Ich möchte beten können, um Ruhe und Geduld zu finden und einen klaren Kopf zu behalten. Und dabei ist doch wohl gerade die Tatsache schuld an allen Bedrängnissen, daß mir hier der Austausch, die Kommunikation fehlt. Leipzig, den 16. Juni 1949 Tragisches Schicksal in unserer Zeit: E[gon] 16 hat vor dem ständigen Druck, unter den man ihn gesetzt hat, kapituliert. Er hat sich für seine Karriere entschieden. An ihm habe ich es mitansehen können, wie die fortgesetzte einseitige Beeinflussung ihr Opfer fordert. Noch meint er, durch sein Tun anderen helfen

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und nützen zu können. Aber was von ihm verlangt wird, scheint er selbst noch nicht zu wissen, aber wohl zu fürchten. Es läßt sich so wenig Bereitschaft finden zu entsagen, zu ertragen und in der Stille zu leben. Ich muß freilich eingestehen, daß auch ich sie kaum gefunden habe. Es ist ein deutlicher Ausdruck unseres spekulativen Zeitalters, daß wir uns hohe Ziele zu setzen vermögen und ohne Geduld und Bescheidung, häufig auch ohne Achtung unserer Mitwelt ihnen nachjagen. Für das stille Werk ist keiner gemacht. Es fehlen uns das rechte Maß zur Wirklichkeit und Vertrauen in das eigene Selbst. Jeder gebärdet sich als Genie. Eine Betrachtung der Geschichte unter dem Gesichtspunkt der realen, ökonomischen Verhältnisse, wie sie der historische Materialismus fordert, hat Berechtigung, wenn über die Würdigung der einfachsten und untersten menschlichen Lebensbedingungen und -Verhältnisse nicht der Gedanke an den Menschen als Einheit, der sich keineswegs durch das Ökonomische bezeichnen läßt, verlorengeht. Das jedoch wird keine Kritik am historischen Materialismus in Zweifel setzen können, muß also als richtig anerkannt werden: daß die gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse den Standort des Individuums erst einmal völlig unabhängig von seinem Willen festlegen. Von ihm aus ist erst sein Wachsen und Wirken zu sehen. Und dieses Wachsen und Wirken vollzieht sich in ständiger Auseinandersetzung mit der durch diesen Standort gegebenen gesellschaftlichen Umwelt. Unsere Zeit verlangt, daß sie sachlich und nüchtern angesehen werde. Das muß notgedrungen unser Geschichtsbild mitformen: Auch die Geschichte will sachlich und nüchtern betrachtet sein. Es kommt darauf an, ihre Realien aufzufinden. Leipzig, den 22. Juni 1949 Triumphator! Immer aufs Neue steigt ein sieghaftes Selbstbewußtsein in mir empor, einem eben geborenen starken Gedanken gleich, der ins Unendliche auszugehen sich anschickt. Es ist schwer für mich, an mich zu halten und nicht zu zittern; droht er doch, mich zu zersprengen und im Augenblick zu überwältigen, ehe ich ihm Form und Maß zu geben vermag. In Paris ging wieder eine Außenministerkonferenz auseinander 17 , ohne den sehnsüchtig Wartenden greifbare Ergebnisse vorzulegen. Das Kommunique gleicht einem X, zu dem im Augenblick der Schlüssel fehlt. Doch kann konstatiert werden: Man begnügte sich nicht damit, einfach die Verhandlungen abzubrechen. Es ist nicht zu unterschätzen, daß die Ostpolitiker eine beachtliche Portion für ihre Propaganda erhalten haben, möglicherweise nicht nur 17 Vom 23.5. bis 20.6.1949. Sie ging ohne eine Einigung über die deutsche Frage zu Ende.

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für ihre Propaganda; aber das kann ja wohl schwerlich ohne den Willen des Westens geschehen sein. Leipzig, den 4. Juli 1949 „Goethe-Tage der deutschen Studentenschaft", so nannte man die Veranstaltung in Leipzig während der letzten Tage. 18 Es wurde wieder einmal ein Riesentheater aufgeführt, sogar mit einer kurzen französischen Ansprache, unter deren ungewohnten Lauten sich die ganze Gesellschaft wohlig rekelte. Sehr vieles, was gesagt wurde, ist gewiß einem ehrlichen Bemühen entsprungen; und manche Anregung ist gegeben worden. Doch das ganze Arrangement war voller Lächerlichkeit, vor allem der pompöse Aufwand, mit dem ein „allgemeingültiges, reales Goethebild" aus der Taufe gehoben werden sollte, selbst als die Erfolglosigkeit dieses Unternehmens offen eingestanden wurde. Eine gründliche Organisation hat vorwiegend die SED-Leute der Studentenschaft der Ostzone in Erscheinung treten lassen. Und offensichtlich haben die Leute, die aus dem Westen kamen, das als selbstverständlich hingenommen. Im übrigen hat sich gezeigt, daß sie nicht im geringsten Maße irgendwie beeinflussend zu wirken vermögen. Von einer Anerkennung der OstzonenKonzeption kann keine Rede sein. Aber die SED-Studentenschaft hat nunmehr ohne irgendein Zugeständnis dieselbe Ausgangsbasis zur Führung überzonaler Gespräche, wie sie vor mehr als einem Jahr die von L D P und C D U beherrschte Studentenschaft der Ostzone hatte. Zielbewußt ergreift man die Initiative. - Und Natonek wird nur am Rande erwähnt.

Leipzig, den 9. Juli 1949 19

Professor Auguste Cornu , professeur agrege ä la Sorbonne, hält Gastvorlesungen in Leipzig. - „Je crois au marxisme, qui ne veut pas dire qu'il est bon." Leipzig, den 14. Juli 1949 In verschiedenen freundschaftlichen Diskussionen im Verlauf der letzten Wochen ist mit erstaunlicher Prägnanz immer wieder ein Thema aufgetaucht, nämlich der Eindruck, den ich auf andere Menschen mache. Es berührt mich

18 Die dreitägige Veranstaltung fand auf Einladung des Studentenrates mit Unterstützung durch die S M A D statt. Das Programm bestand aus einer Aufführung von „Die Geschwister" von Goethe der Leipziger Studentenbühne, aus Vortragen und musikalischen Darbietungen, die mit dem Klavierkonzert in b-Moll von Peter Tschaikowski abgeschlossen wurden. 19 Auguste Cornu (1888-1981), französischer Historiker, Biograph von Karl Marx und Friedrich Engels.

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eigentümlich, davon Kenntnis zu erhalten, daß ich selbst Gegenstand recht tiefgehender Reflexionen anderer bin, was ich bisher kaum angenommen hätte; ebenso aber, daß in Gesprächen so häufig Punkte erreicht werden, an denen man offen seine Meinung über mich verrät. Allerdings muß ich eingestehen, daß ich nicht selten ein wenig nachhelfe. Allzu böse ist es übrigens auch gar nicht für mich, denn ich habe nie Grund, etwa verletzt zu sein. Offensichtlich ist der Eindruck von meinem Selbstbewußtsein - manchmal wird ein Zug zur Überheblichkeit angedeutet - allgemein und geradezu primär, wobei allerdings auch manche Äußerung als selbstbewußt angesehen wird, die es wahrhaftig nicht ist. Teilweise versucht man sich sogar an Deutungen, von der mich eine geradezu erschüttert hat: selbstbewußte Äußerungen als Kompensation von Sensibilität und Melancholie. Auch Egon 20 , der sich zu einem scharfen Analytiker entwickelt, wobei sein Denken sich stets im gesellschaftswissenschaftlich-marxistischen Rahmen hält und häufig erstaunliche Tatsachen hervorbringt, hat mir schon des öfteren den Spiegel vorgehalten. Gestern abend kamen wir auf einem längeren gemeinsamen Weg nach Hause durch die stillen Straßen auch wieder auf meine zur Schau getragene Überlegenheit zu sprechen. Ich schleudere mein Wissen, wenn ich wüßte, daß es alleine steht, in schnodderiger Weise unter die Menschen, triumphal und zugleich verletzend meine Überlegenheit manifestierend, meinte er. Ich mußte ihm widersprechen: Wo ich meine ständige und absolute Überlegenheit spüre, verliere ich das Interesse an den Menschen, werden sie mir gleichgültig und pflege ich lediglich eine formale Kommunikation. Mein eigenes Wissen werfe ich ihnen hin ohne Freude, fast in Verzweiflung. Ständig suche ich Menschen, die Partner sein können, nicht allzu fern von mir, ständig suche ich das Gespräch. Und dann ist es mein höchstes Glück, primus inter pares zu sein. Verloren wäre ich, stünde ich einsam unter Schwachen. Und das ist die Tragik, daß so wenig Menschen nur für das Gespräch, wie ich es suche, taugen und daß ich keinen Weg finde zu den anderen. Und das hat Egon begriffen. Es gab eine lange anregende Auseinandersetzung mit seiner Forderung zu sprechen mit jedem, ihn aufzuziehen und zu führen versuchen, wozu es eigener Sammlung und Zielfertigkeit bedarf. Und so fanden wir in aller Klarheit den Gegensatz zweier Gemeinschaftsanschauungen. Und ich fand noch eins: den zweifachen Sinn der Pädagogik. Prof. M[arkov] 21 , mit dem ich hin und wieder ein kurzes Gespräch gefunden habe, bedeutete mir nunmehr, daß ein Weg weiter hinaus für mich nur außerhalb der Ostzone möglich sei. Hier darf ich nichts erwarten. - Und nun stehe ich wieder vor der gleichen Frage wie vor zwei Monaten.

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Egon Groschopp. Walter Markov (1909-1993), ab 1949 Professor für Neuere Geschichte an der Universität Leipzig.

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Leipzig, den 22. Juli 1949 Man ist bestrebt, die Studentenschaft der Hochschulen möglichst schnell in die Praxis, in das Arbeitsleben zu schicken, ganz gewiß aber die dem Marxismus zugeneigten Studenten. Ein sehr wichtiger Grund scheint hierbei die Überzeugung zu sein, daß die Praxis des unerbittlich harten Berufslebens unserer Tage keine andere Wahl läßt als den Weg zum Marxismus, zur Hingabe an die Idee der revolutionären Umwälzung. Und in der Tat, es gibt keinen anderen Weg nach vorn in der eigenen Zwangsrolle des Arbeitsplatzes. Je härter der Druck ist, unter dem der Arbeiter steht, desto radikaler wird die sozialistische Reaktion sein, die ihm folgt. Entweder man schafft dem Individuum Möglichkeiten, in seiner Arbeit aufzusteigen, sich über ihre Härte und menschlichen Grenzen zu erheben, oder das Kollektiv der Arbeitenden reagiert geschlossen: das ist die Revolution. Eisern bringt sie ins Gedächtnis der herrschenden Klasse zurück, daß sich niemand seiner Schuldpflicht gegenüber der Gesellschaft entziehen darf. Alles Argumente für den Marxismus, soweit er eine Bewegung für Emanzipation ist. Leipzig, den 24. Juli 1949 Eine frohe Autofahrt, Exkursion des Geographischen Instituts, liegt hinter mir. Sie führte nach Jena und Umgebung, zum Dornburger Schlößchen und Naumburg. - Ein angenehm verbrachter Sonntag bei schönstem Wetter, in guter Stimmung, mit eingeschobenen Belehrungen. Vor allem eine ausgezeichnete Möglichkeit, einander ein wenig näher kennenzulernen; gingen die Bekanntschaften bisher doch meist nicht über den Grußfuß bei den Kollegs hinaus. Und ich fand, daß neben den wenigen bekannten Seiten der einzelnen doch verschiedentlich neue zum Vorschein kamen. Von Anfang an herrschte ein doch häufig zu vermissender Ton offener Vertraulichkeit. Sicher hat ein solches Gemeinschaftsunternehmen einen sehr schätzbaren pädagogischen Wert. Ich konnte mich besonders über das Wiedersehen mit Naumburg und seinem Dom freuen. Diesmal konnte ich die - nun freigegebenen - Stifterfiguren sehen: Ekkehard und Uta von Naumburg. 22 Mahlis, den 3. August 1949 Immer wieder einmal überwältigen mich die Erkenntnisse der schier unerschöpflichen Potenzen des gewaltigen Rußland. Und ich werde erinnert an jenen Morgen im Feldlazarett in Fiuggi vor weit mehr als fünf Jahren, an dem

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Ekkehard II., Markgraf von Meißen (um 985-1046), und Uta von Ballenstedt (um 1000-1046).

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mich die Gemächlichkeit erster Überlegungen im Zustande beginnender Genesung zur Unabänderlichkeit der Sieger von Weite und Kraft des östlichen Raumes brachte. Damals entstand in mir das Wunschbild einer Vereinigung deutscher intellektueller Leistung mit den Potenzen des Ostens. Mahlis, den 4. August 1949 Auf fünf Semester eines intensiven akademischen Studiums vornehmlich der Geschichte, in dem es mir viel mehr als um eine berufliche Vorbereitung um Grundfragen ging, die ich in meinem eigenen Erleben aufgeworfen sah, zurückblickend, möchte ich nunmehr zu der Ansicht neigen, daß sich folgende Antwort auf die Frage nach der Aufgabe des Historikers geben läßt: sie liegt auf drei Stufen. - Die wissenschaftlich gründliche und exakte Betrachtung des Vergangenen hat stets bildenden Wert insofern, als die Phänomene unseres alltäglichen Erlebens vor einen weiten und umfassenden Hintergrund gestellt werden und unserer Betrachtung gleichsam in einer neuen Dimension erscheinen, so daß wir mit größerer Sicherheit und Reife in der Lage sind, sie zu beurteilen und ihnen gegenüber Stellung zu beziehen. Hierzu gehört die Erkenntnis des Gesetzes in der Geschichte, d. h. der Bedingungen und Abhängigkeiten der Erscheinungen, ebenso wie die der historischen Einmaligkeit, der Individualität. - Dann ist es eine in der Geschichte immer wieder auftretende Erscheinung, daß in der Reflexion über Probleme und Bedürfnisse realer Gegebenheiten in einer Zeit, gefördert manchmal durch fast zufällig anmutende Ereignisse, Verbindungen hergestellt werden zu Ereignissen und Erscheinungen der Vergangenheit, die eben für diese reale Problematik und die in der Wirklichkeit erlebten Bedürfnisse anregenden und zukunftsweisenden Wert haben. Das elementarste Beispiel hierfür dürfte die Aufnahme des antiken Bildungsgutes in der Renaissance sein. Ich sehe eine vornehme Aufgabe für den Historiker in einer Nutzbarmachung der Vergangenheit für das Leben der Gegenwart in diesem Sinne. - Die bedeutendste Leistung, die ein Historiker vollbringen kann, liegt jedoch in der kritischen Geschichtsschreibung, in der Enthüllung der Realität der Gegenwart von jeder spekulativen Verschleierung im Verfolg der historischen Entwicklungslinien. Es ist ein völliger Irrtum anzunehmen, aus dem historisch unreflektierten Erleben des Jetzt heraus Gegenwart in ihrer Realität erkennen zu können; es bedarf des Wissens um ihr Gewordensein. Es geht nicht um einmalige Äußerungen in unserem gesellschaftlichen Leben, sondern um Tendenzen, die sich nur historisch erfassen lassen. Darum kann der nicht der Historie entbehren, der verändernd und verbessernd in die Gegenwart eingreifen will. Andererseits aber ist es höchste Verpflichtung des Historikers, in kritischer Arbeit den Lebensstrom in der Geschichte aufzufinden und sich selbst im Jetzt zum Künder zu machen, zum Propagandisten des Lebens, d. i. letztlich das aktive Eintreten für den Fortschritt, das viel freilich nicht in fleißiger Bücherarbeit allein, sondern letztlich in der Praxis des Lebens selbst entscheidet.

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Alles in allem: Wenn ich von den Aufgaben des Historikers auf drei Stufen spreche, so entspricht das dem Versuch, der Erklärung dadurch zur Hilfe zu kommen, das analytisch getrennt wird, was in der Vollendung zusammengehört. Der Historiker steckt in allen drei Aufgaben in gleicher Weise und vereinigt sie in seiner Persönlichkeit, die stets eine pädagogische sein muß, eine volkserzieherische. Mahlis, den 7. August 1949 Immer wieder öffnet sich der Abgrund, in dem alle Zweifel und Enttäuschungen zusammenfließen, die eigenen Kräfte gehemmt und zur dumpfen Tatenlosigkeit verdammen. - Ermüdungsgifte, die sich ewig nicht aus dem Körper ausscheiden lassen! Mahlis, den 9. August 1949 Jede Auseinandersetzung über das Gegensatzpaar bürgerliche Demokratie Bolschewismus, so man will: „Volksdemokratie" führt in geradezu verzweiflungsvolle Aspekte. Sie rührt immer wieder an der Wunde, die sich nicht schließen will; und dabei glaube ich fast, daß wir vielleicht einmal - und wenn nicht wir, dann unsere Kinder und Kindeskinder - mit innerlichem Kopfschütteln über die Härte dieser Auseinandersetzungen nachdenken werden. Es ist auf die Dauer einfach nicht mehr zu ertragen: Ein auf deduktivem Wege gewonnenes Bild der Verhältnisse verlangt entgegen jeder Erfahrungstatsache, ohne Achtung wissenschaftlicher Ergebnisse bedingungslose Anerkennung. Unter Anwendung aller Mittel, die denkbar sind, werden politische Absichten verfolgt. Und der Mensch sinkt als Einzelwesen zu völliger Gleichgültigkeit herab. Und über diese entsetzlichen und ins Ausweglose führenden Diskussionen gehen Zeit, Ruhe und Nerven auf immer verloren. Von der physischen Pest ist unsere Zeit und unsere Weltgegend frei. Aber wir haben eine zumindestens ebenso wüste Krankheit, die um so gefährlicher ist, als sie ein unheilbares Siechtum, jedoch nicht den baldigen Tod mit sich bringt, andererseits ihr aber jeder ausgesetzt ist, der im Seuchengebiet lebt. Das ist die Pest des zur Macht gelangten fanatischen Bolschewismus.

Mahlis, den 10. August 1949 Alles was wir tun, was wir erlebend durchlaufen, wirkt sich letztlich darin aus, daß wir reifer gemacht werden, auf einen immer höheren Punkt der Einsicht gelangen und klarer, umfassender und tiefer zu sehen vermögen. Immer aber vollzieht sich dieser Prozeß nur in der Bewältigung, in der [zu] meisternden, triumphalen Gestaltung des eigenen Erlebens, die nicht möglich ist ohne Willen und Kraft zu ständiger Erneuerung.

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1949 Behrensdorf (Scharmützelsee), den 19. August 1949

Man soll niemals glauben, in völliger Klarheit über irgendwelche Dinge zu sein und nichts mehr hinzunehmen und erfahren zu brauchen. Hinter mir liegen einige Tage Erholung unter Studenten, ein Schulungskurs der LDP, der doch weit besser und wertvoller war, als die Bezeichnung eigentlich vermuten läßt. Der eigentliche politische Zweck interessierte mich zu Anfang herzlich wenig. Doch am Ende muß ich nun sagen, daß ich doch allerhand neue Einsichten erworben habe. Und ich gehe hier fort im freudigen Bewußtsein der Klarheit, in der Erkenntnis, daß unsere politische Arbeit vor allem drei Voraussetzungen braucht: einmal unbedingte innere Ruhe und kühle Betrachtungsweise, dann eine eiserne Realistik, die dem Maße der Wirklichkeit, einer häufig unerbittlich harten Wirklichkeit, gerecht wird, und schließlich einen triumphalen Optimismus, der nicht in Untätigkeit auf günstigere Umstände hofft, sondern ein zuversichtliches Vertrauen ist in die eigenen Kräfte, die alle Widerstände zu überwinden vermögen. Perleberg, den 22. August 1949 Via Berlin nach Perleberg, wo Papa seine neue Wohn- und Wirkungsstätte gefunden hat: ein märkisches Landstädtchen von Ausdehnung und Einwohnerzahl Sommerfelds, doch mit vielen alten Winkeln und Fachwerkhäusern, die bereits auf dem Marktplatz hinter der gewaltig aufragenden Backsteinkirche beginnen, idyllisch, friedlich und konservativ, verträumt wie die umbuschten Wiesen und Trauerweiden an der Stepenitz, dem Flüßchen dieser Stadt. Antipode des quirlenden Berliner Lebens, das der nächsten Erinnerung noch am stärksten verhaftet ist. Ein Nachmittagsspaziergang erschloß Stadt und nähere Umgebung. Und nun wünsche ich mich gerne wieder in die Großstadt zurück. Ich fühle mich lange noch nicht reif genug für eine geruhsame Zurückgezogenheit im kleinstädtischen Milieu. Besonders den Tagen der vergangenen Woche verdanke ich neuen Optimismus und Mut. Alle Erinnerung bleibt an dem fest im Bewußtsein aufgenommenen Satz haften: Mit den gegebenen Mitteln unter geringstem Aufwand den optimalen Erfolg erreichen. Perleberg, den 23. August 1949 Eine Erschließung des Marxismus für unsere Zeit muß ansetzen an seinem humanistischen Grundzug, der Indienststellung des Denkens und Tuns für die Emanzipation des Menschen, eine Emanzipation, die nicht in der rein geistigen Erhebung über die bitteren Realitäten des Daseins Genüge findet, sondern die verändernd in die Wirklichkeit eingreift.

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Leipzig, den 26. August 1949 Und nun wieder in Leipzig nach mehrwöchigem Ausflug, geladen mit Lust und Mut zur Arbeit, die bisher nicht mehr recht laufen wollte. Zufrieden vor allem in dem Bewußtsein, daß ein nüchterner, sachlicher leistungsfähig-tüchtiger auf ständige Tätigkeit drängender Geist, dem im Anfang wohl das Amerikanertum Pate gestanden hat, auch bei uns seinen Einzug finden muß, eine erbarmungslose Realistik endlich in ihre Rechte eingesetzt werden muß. Ideen sind nur solange wertvoll, als sie geschaffen werden. Das ist vielleicht schon eine Einsicht, die meiner Arbeit, für die die Zeit nun drängt, zugute kommen kann: „Die venezianische Gesellschaft vom 15. bis 17. Jahrhundert." Unser Kausalverständnis, das nur von Sache zu Sache nach dem Bewegungsverhältnis fragt, sich also analytisch verhält, kann niemals ausreichend sein, um ein ganzes Weltbild zu liefern. Wir können es lediglich in zusammenfassender, syntaktischer Sicht erlangen. Die teleologische Betrachtungsweise ist fragwürdig, da das Telos unserer Einsicht nicht zugänglich ist. Und doch bleibt ein Ausweg, nämlich der, die Einzeltatsachen dieser Welt in ihrem Mitund Füreinandersein zu sehen, die Welt als sich fortgesetzt verändernde Symbiose. Und da ich diesen Gedanken niederschreibe, wird mir klar, daß der Mensch nicht zu leben vermag in Entfaltung und Auferziehung seines Wesens ohne eine deutliche Weltvorstellung, ohne eine unmittelbare Perspektive, in der sich ihm Erlebnisse und Wissensmomente zu einem Ganzen zentrieren. Sie ist das Maß des Sehens, das bestimmende Zuchtmoment für Geist und Sinne. Wir sind allzumal Suchende. Und das macht uns schwach und überwindbar. Doch die Tatsache bleibt, daß nichts geschaffen werden kann, solange die Einsicht nicht gefunden ist. Leipzig, den 27. August 1949 Unsere Zeit erlebt die tiefste Zerrissenheit zwischen der Anhänglichkeit an die reine Idee, die als solche ohnmächtig ist, und den realen Daseinsmächten. Die Idee muß hineinfahren in die Wirklichkeit, d. h. aus ihr geboren werden und [in] ihr Bewährung suchen! Fast nur so nebenher, ganz bescheiden fällt bei Meinecke 23 das entscheidende Wort zum Problem der Staatsräson. „Insgesamt gilt es auch vom Leben der Macht, daß das Maß in den Dingen das Beste ist." 24 Und was ist das Maß? Doch wohl nichts anderes als die Ausgewogenheit der Macht, die alle Dinge ihres Bereiches als Mittel zu gebrauchen trachtet, mit den Gesetzen des Lebens, das sie als gesund und zeugend anzuerkennen bereit sein muß. Nur der

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Friedrich Meinecke (1862-1954), Historiker, 1914-1932 Professor an der Universität Berlin. 1948 Ehren-Rektor der F U Berlin. 24 Zitat aus „Die Idee der Staatsraison in der neueren Geschichte" (1924).

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unbedingte Wille zur Pflicht erzeugt den Staat, wenn er sich der Konzentration des Lebens in sich selbst völlig gewiß ist. So kann denn das politische Denken nichts anderes sein als die fortgesetzte Rechenschaft über die eigene Kraft und das eigene Wollen angesichts des Lebens in aller Rechtschaffenheit. Die persönliche Entscheidung zieht hierunter den Schlußstrich. - Mehr läßt sich für den Bereich menschlichen Wirkens und Erkennens nicht sagen, meine ich. Leipzig, den 28. August 1949 Jeder Staat ist der Staat einiger nur, nicht aller, die in ihm leben! E r ist der Staat derer, die ihn formen und leiten, deren Wollen das Wollen des Staates ist oder zumindest sein kann. Die anderen nehmen ihn hin, ob bejahend, gleichgültig oder kritisch; sie leben in ihm und unterwerfen sich weitgehend dem Wollen des Staates. Und so sind auch Verfassungen nichts anderes als die allgemeinen Formulierungen für die Rechte einer neuen Kaste. Und zwar schleicht sich deshalb eine Differenzierung faktisch in die staatliche Gesellschaft ein, weil das Kleid des Allgemeinen und des allgemeinen Interesses niemals der Realität unmittelbar angepaßt ist und somit die immer schon bestehende Ungleichheit innerhalb des Staates sanktioniert wird. Niemals wird der letzte Bauer oder Arbeiter berufen, eine Verfassung auszuarbeiten und sie in Kraft zu setzen. Daran wird sich nichts ändern lassen. Aber immerhin ist die Frage nach der besten Verfassung berechtigt. Das kann nur die sein, die die Förderung von Fähigkeiten, Einsicht und Urteilsvermögen breitester Schichten und den ungehinderten Aufstieg der Besten und Leistungsfähigsten als unabdingbare Voraussetzungen anerkennt. Jeder Staat lebt nun nach einem inneren Gesetz - man mag es als Staatsräson bezeichnen - , das erwächst aus dem Interesse derer, die auf ihn bestimmenden Einfluß ausüben. Es sollten aber eben Hebung und Förderung weitester Kreise des Staatsvolkes das Interesse dieser Machthaber ausmachen. - Ist das ein frommer, unwirklicher Traum? Ich zweifle nicht, daß solche Menschen überaus gering an Zahl sind. Dennoch möchte ich nicht glauben, daß diese Gedanken unbedingt eine Utopie sein müssen. Freilich, diese Wenigen, auf die es ankommt, müssen sich erst einmal durchsetzen und die große Masse des Volkes muß ihrem Worte zugänglich gemacht werden; kurz: Sie müssen zur Macht gelangen. Leipzig, den 1. September 1949 Hier macht man aus der zehnten Wiederkehr des Tages, an dem dieser unglückselige Krieg ausbrach, einen Friedenstag mit großen offiziellen Feierlichkeiten. Und während der Trubel der Herbstmesse Leipzig erfüllt, wird unter den Reden dieses Tages auch die eines westdeutschen Wissenschaftlers und

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Politikers sein. Prof. Noack 2 5 aus Würzburg, Initiator des Nauheimer Kreises, ist in Leipzig. Wie groß und begeisternd sind seine Gedanken, die auf die deutsche Mittlerrolle zwischen Ost und West ausgehen. Doch kann aus solchen Ideen noch eine Wirklichkeit werden? - Ich möchte es kaum wagen, auf diese Frage eine bejahende Antwort zu geben. Wird in unserer Zeit, da jede politische Äußerung unausweichlich Gefahr läuft, in dem Spiel der großen Auseinandersetzungen entweder zum Mittel herabzusinken oder erstickt zu werden, nicht auch dieser Mann zu einer bloßen Schachfigur in den Händen der großen Partner werden - auch, oder gerade dann, wenn er es selbst nicht ahnen sollte? Fast möchte mich die Prägnanz, mit der nach diesem unseligen Kriege die beiden großen Siegermächte zielbewußt die Aufspaltung Deutschlands vornehmen, bei aller Grausamkeit dieser Konzeption mit Staunen erfüllen, mit Staunen auch die über alles menschliche Meinen und Wollen hinwegschreitenden, nahezu unbemerkt hinwegschreitenden Machtgebote der beiden Großmächte. Wie sehr hat doch im Westen - ob gewollt oder ungewollt, weiß ich nicht, - das böse Clemenceau 2 6 -Wort von den 20 Millionen Deutschen zuviel diesmal Beachtung gefunden. Man schafft ein Deutschland, das dieser 20 Millionen bereits ledig ist, und baut es als verläßlich funktionierendes Instrument in den eigenen Macht- und Wirtschaftsapparat ein. Jene abgetrennten 20 Millionen aber sollen zudem noch zu Widerhaken im Leibe der gegnerischen Macht werden, denen man sie überantwortet hat, gleichsam zum lebendig wirksamen Glacis während der Konsolidierung in der eigenen Festung. Deutschland hat nicht mehr mitzureden. Das ist der Urteilsspruch der Sieger dieses Krieges, der einzige, den sie gemeinsam fällen. Das Lebensgesetz unseres Staates ist aufgehoben. U n d in kurzer Frist werden zwei neue Staatswesen eine Scheinexistenz beginnen. Was aber soll die Parole von der deutschen Einheit auf unserem Boden? Dürfen wir wirklich annehmen, daß einer der beiden Mächte daran gelegen ist, aus ihr Wirklichkeit werden zu sehen? Wenn, dann darf diese Einheit nur die eindeutige Richtung gegen die andere Macht bekommen. Das heißt, daß diese Parole sich nur durchsetzen kann in der kämpfenden Auseinandersetzung mit der gegenüberstehenden Weltmacht. Damit aber wäre bereits die festeste und sicherste Einfügung in den Block der eigenen gebietenden Macht vollzogen. Ja, die Lage ist ausweglos. Was bliebe, wäre der Versuch, die Herzen zu stärken!

25 Ulrich Noack (1899-1974), 1946-1964 Professor für Mittlere und Neuere Geschichte an der Universität Würzburg. 1948 Gründer des „Nauheimer Kreises"', der sich für die Neutralisierung eines wiedervereinigten Deutschlands einsetzte. 26 Georges Clemenceau (1841-1929), französischer Politiker, 1917-1920 Ministerpräsident.

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1949 Leipzig, den 10. September 1949

Die Wahrheit ist gleichsam nur auf einem fußbreiten Pfade erreichbar. Fast ist es unmöglich, ihn zu betreten. Auf längere Zeit hin aber ist niemand seiner sicher. Es ist schon ein Glück, wenn er einige feste Schritte trägt. Punktuell im Chaos liegt die Wahrheit, eine Sicht von tausend, ja von Millionen. Eins ist wahr; rings umher millionenfache Verlorenheit. - Man kann nur ewig streben, tagtäglich aufs neue - ohne Ende. Leipzig, den 14. September 1949 Wo der Historiker im Schauer der Vergessenheit die Vergangenheit bestaunt, ist er seiner letzten Aufgabe nicht gewachsen. Mit vollem Bewußtsein die Gegenwart zu durchdringen, sie in gläserner Durchsichtigkeit zu erblicken, ist seine Aufgabe. Leipzig, den 23. September 1949 Wie ein Hauch aus dem Unendlichen fährt es mich an - mitten in meiner Examensarbeit, die mich seit Wochen in einen immer enger werdenden Kreis von Sorgen verstrickt: Mama, die erst vor einigen Tagen bei mir war, schreibt mir, daß Großmutter am 18. September verstorben ist. Mein letzter Großelternteil ist dahin gegangen. Vor mehr als viereinhalb Jahren sah ich sie zum letzten Male. Und daß ich ihr einen Brief schrieb, ist gewiß auch länger als ein Jahr, vielleicht auch schon länger als zwei Jahre her. Selten nur hat mich die letzte Zeit an sie denken lassen. Und nur schlecht mochte ich mir vorstellen, wie sie jetzt nach den Zerstörungen des Krieges ihr Leben führte. Aber das sind gute Stücke meiner Kindheitserinnerungen, aus denen sie nicht wegzudenken ist als die kleine, dicke, so außerordentlich geschäftige alte Frau, die so energisch sein konnte, dabei aber auch so fürsorglich und mütterlich bemüht war. Und stets hatte sie Freude am Scherz - wie gerne hat sie gelacht. Da war eine große Wohnung mit vielen Zimmern und einem langen Gang, eine helle, blitzende Küche mit einem gekachelten Ausguß und darüber dem Hansi, dem Kanarienvogel. Und da gab es Schollen mit Kartoffelsalat, die ich so gern aß, und Aalsuppe und schließlich die „Kartoffelsuppe", die nur Großmutter so zu bereiten und mit so viel wertvollen und geheimnisvollen Dingen zu versehen wußte, wie man es bei diesem Namen gar nicht vermuten konnte. Ja, und da waren die tausend seltsamen und mysteriösen Dinge und Gegenstände, die ein Kinderherz immer wieder anregen mußten: die vielen Bilder an den Wänden von Schiffen und fremden Städten, Riesenmuscheln, Kästen und Kistchen und die vielen bunten Geldscheine aus aller Herren Länder. Und dann die breiten, lebendurchströmten Straßen bis zum Hafen mit den unzähligen Schiffen und Kränen und Werften, und seinen Flaggen und Farben, dem gegen Bohlen und Kaimauer träge schlappenden Was-

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ser, seinem Hasten und Rufen und Tuten. Und da waren die langen hellen Strandflächen an der Elbe und die lang anrollenden Wellen, die einem unversehens die Füße bespülten, und die Chaussee an der Elbe und die Landhäuser der Patrizier in den Außenbezirken der Stadt, die so still und ruhig, so gediegen und vornehm aussahen, daß ich mir fast jedes zum eigenen Besitz wünschte. Und da waren die herrlichen Anlagen, in die mich der Großvater oder die Großmutter zum Spaziergang mitnahmen, um mir seltsame Bäume zu zeigen oder die vielen Vögel, die so zutraulich waren, die Goldfische in den Teichen und die Eichhörnchen, die aus Großvaters Hand das Futter holten. Und da war das Museum, in das ich so gerne ging mit seinen Soldatenuniformen, mit seinen Schiffen und Bauklötzerhäusern, seinen Tafelgeschirren und alten Kaufläden. Ja, und der Zoo mit seinen vielen fremden Tieren, an denen man sich nicht satt sehen konnte, und den Negern in ihren Hütten, die schließlich zum Vergnügen der Zuschauer ihre wilden Tänze vorführten. Alles eine Welt voller Leben und dennoch behaglicher Ruhe, eine Welt ohne Entbehrung und Nöte und Ängste, durchdrungen von Sauberkeit und Ordnung und Wärme, vor allem aber voller Neuheiten und unerschöpflichen Geheimnissen, an denen sich kein Kinderauge satt sehen konnte. Und in dieser Welt zwei freundliche, stille alte Leute, die ihrem Enkel so manchen Wunsch erfüllten und ihn nie leer aus dem Spielzeugwunderland der großen Warenhäuser heimkehren ließen. Das war etwas Heimat, wo man geborgen war und ständig wuchs und gedieh. Der Name Hamburg hat seit meinen ersten Erinnerungen an diese Stadt etwas Vertrauliches und so Gutes an sich, wie es wohl nur dem Klang der Heimat eigen ist. Und in diesen Tagen, da sich drüben im Westen Deutschlands ein Staat aufzurichten beginnt 27 , der nicht für uns da sein soll, da ereignet es sich, daß Großmutter stirbt, der letzte Mensch, den ich einmal wiederzusehen wünschte im lieben, alten heimatlichen Hamburg. Leipzig, den 28. September 1949 Bis zur Verzweiflung hat mich in den letzten Tagen meine Arbeit bewegt. Und ich stand vor tausend Schwierigkeiten. Gestern habe ich meinen Termin verlängern lassen müssen, denn ein angängiger Abschluß war noch nicht abzusehen. Doch nun habe ich endlich den Stoff völlig durchgegliedert und partienweise bearbeitet. - Es ist ein schönes Bewußtsein, von Schritt zu Schritt Klarheit zu erlangen. Und diese letzte Klarheit ist mir geworden mit der Einsicht in die erarbeitende, Kapital schaffende Kraft der Gesellschaft als der Grundlage ihrer Existenz. 27

A m 12.9. war in Bonn Theodor Heuss zum ersten Bundespräsidenten, am 15.9.1948 Konrad Adenauer zum ersten Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland gewählt worden.

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1949 Leipzig, den 30. September 1949

In der Anlage meiner Arbeit über Venedig bin ich so häufig auf Schwächen, Mangelleistungen und glatte Unfähigkeiten gestoßen, daß mein Selbstvertrauen einen schweren Bruch erlitten hat. Vor allem aber ist es das Wissen um das Unvermögen in Dingen, die mir bisher recht gut von der Hand gingen, das mich so entsetzt. Eine entsetzliche geistige Starrheit, die nur gelegentlich von momentanen Kraftstürmen durchbrochen wird, macht jedes fließende Arbeiten unmöglich. Und woran liegt das? Das Hasten nach einem Ziel unter dem eisernen Zwang des eigenen Willens oder fremder Forderungen, das ständige Konzentriertsein, das jede vertiefte Wechselwirkung mit der Umwelt ausschaltet, führt zum Erlahmen aller Kräfte, derer, die außerhalb der Willensentscheidung liegen, wie derer, die in sie einbezogen und überspannt werden. Mit dem Wollen allein geschieht recht wenig. Stück für Stück aus dem Reiche des Neuen, des Unerlebten muß man seinem Leibe einfügen und in fester Verbindung mit dem Alten, dem Bekannten halten, damit es zusammenwachse unter gleichmäßig hellem Licht des Bewußtseins. Schritt für Schritt geht der Weg; unerläßlich die Stationen! Die Kräfte müssen erwachen und wachsen. Wer ins Endlose greift, schwebt über dem Abgrund seiner eigenen Mängel. Leipzig, den 8. Oktober 1949 Ich bin im Begriff, die letzte Hand an meine Arbeit zu legen, die nun fertig vor mir liegt. Bis zum letzten Tage der endgültigen Niederschrift habe ich sie nicht vollständig ausgearbeitet vor mir gehabt. Nun wäre ich erst in der Lage, zu feilen und zu schleifen, um eine befriedigende Form zu finden. Doch auch der verlängerte Termin ist abgelaufen. So muß ich dann eine nicht voll ausgereifte Arbeit abgeben, die mich keineswegs befriedigt. Die Ferienwochen im August haben sich gerächt. Arbeitsunfähigkeit und eine lastende Müdigkeit, die mich häufig unfähig machte, klare Gedanken zu fassen, andererseits aber der Zwang, mit der Zeit auszukommen, und die damit verbundene Notwendigkeit, den größten Teil der Nacht zu arbeiten, haben mich bis an den Rand der Erschöpfung geführt. Darum werde ich mich notgedrungen einige Tage ausruhen müssen. Eine starke geistige Ermattung, unter der ich eine Zeit lang litt, hat mich sehr erschrecken lassen. Es ist entsetzlich, stets befürchten zu müssen, man könne in einen Zustand geraten, in dem man nicht im Besitz aller seiner normalen Fähigkeiten ist. Meine persönlichen Sorgen um die Arbeit, die ich zu leisten hatte, haben meine Aufmerksamkeit ein wenig von den allgemeinen Ereignissen abgezogen. Und so stehe ich dann ebenso erstaunt wie jeder der vielen, die nur zum Feierabend die Zeitung lesen oder das Radio hören, vor der Tatsache einer

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ostdeutschen Staatsgründung. 2 8 Der Lauf der Dinge dürfte in absehbarer Zeit wesentliche Änderungen erfahren. Im einzelnen sieht es recht unerfreulich aus: Die S E D stellt nicht nur den Ministerpräsidenten 2 9 , sondern auch den Staatspräsidenten 3 0 und natürlich auch die Mehrzahl der Minister. 31 Die auf Grund der Wahlen von 1946 bestehenden Verhältnisse in den Parlamenten werden konserviert. 3 2 Wahlen gibt es vorerst nicht: Z u m ersten Male wird eine Regierung, die sogar ein Staatsoberhaupt inauguriert - und zwar als Volksregierung - , die sich selbst einsetzt, aus der Verabredung einer Handvoll Parteiführer hervorgeholt, nachdem die Besatzungsmacht die dringliche Anregung, ja den Befehl dazu gegeben hat. Dennoch glaube ich, daß nicht alle Aussichten für die Z u k u n f t verloren sind. Es mag immerhin möglich sein, daß ein weitgehendes Zurücktreten der Besatzungsmacht ein freieres Spiel der Kräfte ermöglicht. Doch im wesentlichen wird es dabei auf die führenden bürgerlichen Persönlichkeiten in der neuen Regierung ankommen. Die Bildung eines Einpartei-Staates wird in dem Maße vor sich gehen, als die Führer der bürgerlichen Parteien, die zur Zeit konzessioniert sind, sich als „fortschrittliches Bürgertum" herausheben, mit den Maßgaben der mächtigsten Partei übereinstimmen und ihre Parteigänger - nolens-volens - lediglich propagandistisch bearbeiten. Sehr viel, wenn nicht gar alles wird davon abhängen, inwieweit die neuen Machthaber eigene Ziele anzunehmen und zu verfolgen vermögen. A b e r eins muß ich noch erwähnen; es soll wenigstens hier stehen: Es ist den Besatzungsmächten in erstaunlicher Weise gelungen, fast diskussionslos - denn ernste Gespräche in der Öffentlichkeit hierüber hat es kaum gegeben - das deutsche Volk vom Boden seiner nationalen Geschlossenheit fortzuziehen. Der Gedanke, jeden Versuch einer deutschen Trennung in Geschlossenheit zu sabotieren, ist nie im Ernste aufgenommen worden. Und heute unterhält man sich allenfalls über den ungünstigen Charakter der neuen Regierung. Sie selbst aber, die Tatsache ihrer Existenz, ist zwar eine Neuigkeit, aber von niemandem als glatte Unmöglichkeit von vornherein empfunden worden. „Man wird vom Neinsagen nicht satt", pflegt Dr. v. Stoltzenberg zu sagen. Und seit den hungrigen Kriegs- und ersten Nachkriegsjahren ist das Sattwerden zum Maße geworden, zur conditio sine qua non der Politik. Man bekennt sich als Reali-

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A m 7.10.1948 erklärte sich der (zweite) Volksrat zur „Provisorischen Volkskammer", die noch am selben Tag die Verfassung und Gesetze über die Bildung der provisorischen Länderkammer und die Bildung der provisorischen Regierung der D D R verabschiedete. Zugleich wurde Otto Grotewohl zum Ministerpräsidenten vorgeschlagen und mit der Bildung einer provisorischen Regierung beauftragt. 29 Otto Grotewohl (1894-1964), 1949-1964 Ministerpräsident der D D R . 30 Wilhelm Pieck (1876-1960), 1949-1960 Präsident der D D R . 31 Die S E D stellte sieben , die C D U vier, die L D P drei, die Deutsche Bauernpartei und die Nationaldemokratische Partei Deutschlands je einen Minister. Dazu kam mit Hans Reingruber noch ein parteiloser Minister. 32 Der SED-Parteivorstand beschloss am 4.10.1949 die Wahlen (auf der Grundlage von Einheitslisten) auf den Herbst 1950 zu verschieben.

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tätspolitiker, wohinter die Tatsache verhüllt wird, daß man nichts tut, was nicht im Rahmen der bequemen Möglichkeiten liegt. Über den Begriff der Realität wird nicht reflektiert; jedenfalls aber enthält er keinen Gedanken, der über das Augenblickliche hinausweist; nicht nur als Selbstverständlichkeit, sondern als Schwierigkeit. Mahlis, den 13. Oktober 1949 Das Schicksal Ostdeutschlands und vielleicht auch Deutschlands wird von dem Maße abhängen, in dem seine führenden Politiker - linke oder gemäßigte, wenn man mit den Begriffen der alten parlamentarischen Sprache arbeiten will, - sich über den Rang von Schachfiguren zu erheben und zu eigenem Leben zu gelangen vermögen. Leipzig, den 19. Oktober 1949 Ein Buch mit Bildern deutscher Landschaften: Nur wenig entfällt auf die Ostzone. Das meiste und das schönste liegt heute jenseits der Zonengrenze. Angesichts dieser Bilder wird die Sehnsucht ungehindert hinüberzukönnen in das andere, größere Deutschland, in ihrer ganzen Schmerzhaftigkeit wirksam. Und es scheint, als habe hier schon so viel Einzug gehalten, was zum Deutschen eigentlich keine Zugehörigkeit hat. Es herrscht nurmehr wenig Bewußtsein und Liebe unseres Volkes. Der Mensch bedarf des Bewußtseins eigener Kraft und ebenso des Wissens um das Maß, dem er sich zu unterwerfen hat. Fortgesetzte Unterdrückung muß ihn zerbrechen, wenn er sie nicht zu beseitigen vermag; im grenzenlosen Ausfluß der Kraft verströmt sich sein Leben. Darum sucht der Mensch nach Bahnen, in denen er wirken kann. Sein Wachstum ist organisch, d. h. es trägt in sich selbst das Gesetz, nach dem es in der Umwelt bildend und effizierend gestaltet. Leipzig, den 21. Oktober 1949 Mein Studium ist von tausend Laufereien begleitet. Mühsam muß jeder Fußbreit von der Zukunft erarbeitet und errungen werden. Allerorten lauern die Argusaugen einer anonymen Staatsmaschinerie. Und wo sie sind, da bauen sich Hindernisse in unübersehbarer Folge auf. Man braucht viel Energie und Zähigkeit, um sich in dieser blinden Maschine zu behaupten. Wie häufig stellen sich Enttäuschungen ein, wenn Zusagen und Versprechungen im Nichts zerplatzen. Kein Wort ist sicher, wenn es nicht zumindest aufgeschrieben und beglaubigt ist. Und auch dann hat es nur Wert, wenn ihm die Tat auf den Schritt folgt. Der Großteil der Ministerialbeamten ist eine gewissenlose, rückgratlose Gesellschaft, die in ihrer Dummheit nur hilflose Lügen von sich zu geben vermag. - Aber lehrreich sind dergleichen Begegnungen doch. Man

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wird kühl und gewinnt an Überlegenheit. Und langsam kommt man diesen Menschen auf die Schliche. Und das müssen wir alle noch, wenn es besser werden soll. Vor allem aber, man gewöhnt sich daran, mit der Heimtücke und Lüge zu rechnen und sie in den eigenen Plänen zu berücksichtigen. Diese Ministerialmenschen werden allmählich gläsern durchsichtig, und fast jede ihrer Handlungen läßt sich im voraus kalkulieren. - Man darf keine Illusionen hegen, und man muß stets danach trachten, mehrere Eisen zugleich ins Feuer zu legen, von denen mindestens eins auf seine Zuverlässigkeit hin geprüft ist.

Leipzig, den 22. Oktober 1949 Plötzlich und in seiner Schnelligkeit unerwartet erhielt ich heute Bescheid, daß ich nunmehr Angehöriger der Philosophischen Fakultät bin. Mein Weiterstudium ist also gesichert. Meine freudigste Nachricht habe ich als erstes Dr. B[uchheim] mitgeteilt. Ich habe mich für die nächste Zeit zum Bleiben in der Ostzone entschieden. Ihr politisches Schicksal wird mit über das meine bestimmen. Wie die Büchse der Pandora enthält die Gegenwart alle Möglichkeiten zukünftiger Entwicklung, sagte Dr. B[uchheim], Die Zukunft verlangt planvolleres Arbeiten als bisher. Es geht darum, alle Kräfte, die schöpferisch zu wirken vermögen, zu konzentrieren, extremistische und die sozialen, ökonomischen und kulturellhistorischen Daseinsformen unseres Volkes ignorierende Auswüchse am Wirksamwerden zu hindern. Weiter muß der öffentlichen Meinung und Kontrolle zunehmend Geltung verschafft werden, wenn sich auch lange noch nicht ein befriedigendes Maß erreichen lassen wird. Die Formen einer freien Demokratie müssen errungen werden. Eins der wichtigsten Vorhaben aber muß die ernstliche, intensive Verbindung mit dem übrigen Deutschland sein. Es muß das gemeinsame Bewußtsein auf dem Boden der Gemeinsamkeit des Schicksals gefunden werden.

Leipzig, den 31. Oktober 1949 Soeben bin ich von meinem Wochenendausflug nach Mahlis zurückgekommen. Es wird einstweilen wohl das letzte Mal gewesen sein, daß ich dort war. Von Heimat Nummer zwei habe ich Abschied genommen. Die 48 Stunden, die ich dort war, wurden angefüllt mit Packen und Abtransportieren. Was zurückblieb, sind lediglich die notwendigsten Einrichtungsstücke, die Mama ein Verbleiben von noch drei bis vier Wochen ermöglichen. Dann ist der dortige Hausstand aufgelöst, und wie ein Vorhang sinkt der alle Vergangenheit einhüllende Schleier über das Erlebnis mit Namen Mahlis. - Die wenigen Menschen, von denen ich Abschied zu nehmen hatte, waren freundlich und bis zuletzt hilfsbereit. Und das stelle ich gerne fest. Ich traure dem Leben in diesem Dörfchen nicht nach; doch ich kehre mit ihm auch manchem vertraut und wert gewordenen Menschen endgültig den Rücken. Die Menschen habe ich nir-

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gends bisher so wie hier als unvollkommen und mit recht häßlichen Zügen ausgestattet empfunden. Doch in diesem Dorfe habe ich auch erfahren, wie dicht Wärme, Schönheit, Mitgefühl und Hilfsbereitschaft - wenn auch immer nur in der Minderheit - bei Schwächen und Gemeinheiten liegen. - Und ich entsinne mich, daß ich noch vor zwei Jahren meinen vorübergehenden Aufenthalt auf dem Dorf jeweils nur mit Schmerzen aufgab, um wieder in die Großstadt zurückzukehren. Heute ging ich dahin ohne Wehmut in dem Bewußtsein, wahrscheinlich nicht mehr in diese Gegend zurückzukehren. Doch ein Gefühl von Dankbarkeit war in mir, als ich vor dem Wermsdorfer Bahnhof, wo ich diesmal den Zug bestieg, zurückblickte über die Felder und Wäldchen des gebuckelten Landes, über das sich der letzte Glanz des kalten, doch klaren, nun seinem Ende zuneigenden Oktobertages ausbreitete. Und ich hätte - wenn ich länger stehen geblieben wäre - meine Mütze ziehen mögen - aus Andacht, als Dank und zum Abschied. - Im Bahnhof habe ich noch einmal geschimpft über den nachlässigen Beamten, der am Fahrkartenschalter bediente - dies waren die letzten Worte, die ich mit einem Wermsdorfer wechselte. Leipzig, den 6. November 1949 Der trübste Monat des Jahres ist herangerückt. Draußen ist es empfindlich kalt; nur in den Mittagsstunden wärmt die Sonne noch ein wenig. Nach den fast sommerlich anmutenden Tagen des Oktober ein allzu jäher Wechsel. Heute, am Sonntag ist meine Stube geheizt, und ich sitze allein daheim wie schon so häufig in meiner bisherigen Studienzeit. Seit vielen Wochen habe ich mir an diesem Tage zum ersten Male wieder die Arbeit ein wenig ferngehalten, um wenigstens für Stunden zu Muße und Besinnung zu finden. Diese frühen Novemberabende mit ihrer Kühle, dem Nebel und den stillen Laternen in den Straßen, die mühsam das Dunkel zerteilen, und den müde heimtastenden Menschen, still, abgearbeitet, in sich gekehrt, einer fern von dem andern, sind so recht die äußerste Verdeutlichung des Daseins in dunkler Einsamkeit. Wie ein Komet durchzieht der Mensch die Welt, Schritt für Schritt - Stunde für Stunde vorwärts; was ihm entgegentritt aus dem Endlosen - in Freundschaft oder Feindschaft - gleicht einem Aufleuchten, ist Begegnung, in Kürze vorbei, dahin. - Mir wird Angst, wenn ich dieses Bild vor mir sehe. Verloren ist der Mensch in seiner Vereinzelung, rettungslos dem Leben verloren. Der Mensch sucht Geborgenheit. Vom schützenden Mutterschoße ausgegangen, strebt er danach, in der Unendlichkeit des Daseins Furcht und Zittern zu überwinden. Wer lebt, mit allen Fasern, die ihm seit Geburt gegeben, lebt, der braucht Geborgenheit - Sicherheit und Vertrauen. Von jeher suchten sie die Menschen in dem Glauben an eine letzte, höchste richtende und regierende Macht. Der allein auf sein eigenes zitterndes Leben zurückgeworfene Mensch ist ohnmächtig, verloren. Er will schaffen, schöpferisch tätig sein. Darum sucht er nach Geborgenheit - im ewigen „Stirb und Werde" der Natur und unter den Menschen, die um ihn sind, in der Gesellschaft. Er sucht nach Vereini-

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gung in der Überwindung der sich unaufhaltsam weiternden Distanz in dem Gemeinschaftsverhältnis vom Ich zum Du. Wer sich darin nicht selber aufzugeben braucht, ist im Glück. Mit dem Worte „Liebe" ist nichts erklärt, weder dann, wenn es christlich gedeutet wird, noch im Sinne der ins Unendliche fallenden „Herzensstrahlen" Rilkes 33 , aber auch nicht, wenn das engste Verhältnis zwischen Mann und Weib damit gemeint ist. Das Glück der Gemeinschaft liegt außerhalb dieser Liebe, wohl „Zwischen Macht und Eros", wie es in anderem Zusammenhang Martin Buber 3 4 gesagt hat. Es ist angedeutet in dem großen Erlebnis des Goetheschen Faust 35 , den Kierkegaard - wie konnte er auch anders - als Verrat der Faustidee bezeichnet, der sich schaffend als freier Mensch unter freien Menschen sieht: Gemeinsamkeit des Lebens, Gemeinsamkeit des Schaffens und der Arbeit und Gemeinsamkeit der Freiheit, dies auf Erden, ein Ideal.

Leipzig, den 10. November 1949 Ich glaube, von einer politischen Vorstellung müssen wir uns freimachen, von der der idealen Demokratie, die die völlige Autonomie des Individuums anerkennt und auf einer freien Gemeinschaftung beruht. Sie ist irreal. Als hohes, erstrebenswertes Ideal muß sie gewiß unantastbar sein; doch eben dieses Ideal anzustreben, ist nicht möglich, wenn der Ansatz nicht in der vorgefundenen Wirklichkeit genommen wird. Dieses Ideal gehört der Sphäre gleicher, damit sei gemeint: auf einer gemeinsamen Ebene stehender Individuen an. Die Politik in der Gesellschaft der Differenzierung und Zerspaltenheit unserer Tage kann keine andere sein als die, die nach den Worten Friedrich Meineckes den Menschen als Mittel sieht, bestenfalls - hieran wollen wir uns halten - zu seinem eigenen Zweck. Die Gesellschaft der autonomen Persönlichkeiten ist Ideal, ist Postulat, keineswegs Tatsache oder hic et nunc zu verwirklichen. Der schöpferische einzelne hat gewiß ein Recht zu stärkerer Geltung im Sinne dieses Postulates. Mit ihm emanzipiert sich die Gesellschaft von der als drückend empfundenen Gegenwart.

Leipzig, den 13. November 1949 Kürzlich habe ich offen ausgesprochen, was ich für den größten Mangel unserer Kommunisten halte. Sie besitzen meist nicht das geringste Maß an schöpferischer Phantasie. Ihnen fehlt jene Fähigkeit, die angesichts der heutigen Wirklichkeit - die meist gar nicht mehr gesehen wird - blitzartig [zu] erkennen, was sein soll, und zugleich auch Wege auf[zu]finden, deren Anfänge eben

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Rainer Maria Rilke (1875-1926), österreichischer Autor und Lyriker. Martin Buber (1878-1965), österreichisch-israelischer jüdischer Religionsphilosoph. 35 Faust. Eine Tragödie, 1808 veröffentlicht, gilt als eines der bedeutendsten Werke der deutschen Literaturgeschichte. 34

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in dieser Wirklichkeit liegen. Sie schauen ihre große Konstruktion an, die ideale sozialistische Gesellschaft, und verlieren darüber das gesunde Urteil über die in der Wirklichkeit vorhandenen Kräfte, die man fördern muß, und solche, die keineswegs unterstützt werden dürfen. So bleiben sie in Kritik und Zerstörung doch vornehmlich negative Geister, die nichts Bleibendes zu erzeugen vermögen. Das ist das Dilemma, an dem sie scheitern. Es braucht nicht immer ein Dilemma zu bleiben. Doch, wo zeigt sich schon ein Aufbau? Leipzig, den 15. November 1949 Heute abend war E[gon] 36 bei mir. Schon bald wurden wir von meinen beiden Wirtsdamen aufgefordert, zu ihnen ins Wohnzimmer [zu kommen] - halb galt auch ihnen dieser Besuch. Es gab wieder einige rechte Plattheiten und etwas zu lachen. Nur ich fühle mich dann nie recht wohl, suche den Strom vergeblich aufzuhalten. Einfache Banalitäten und Derbheiten langweilen mich. Ich mache dann noch die beste Figur, wenn ich still abseits sitze. E[gon] schwelgte. Ich gönne es ihm. - Wahrscheinlich wäre unser Gespräch langsam versandet, wenn wir nicht hinübergegangen wären - zum ersten Male, seitdem wir uns kennen. - Schon heute nachmittag habe ich oft an ihn gedacht. Zum ersten Male ist es mir in diesen Tagen deutlich geworden, wie fern wir eigentlich voneinander sind, und das nach mehr als zwei Jahren, in denen wir glaubten, in recht engem Austausch miteinander zu stehen. Unter den unmittelbaren Erlebnissen der Kriegs- und ersten Nachkriegszeit haben wir am nächsten zueinander gestanden. Die letzten Jahre haben uns verschiedene Wege geführt. Nun erscheint es mir, als seien unsere Gespräche nichts anderes als Reflex, Rechenschaft über diese eigenen Entwicklungen gewesen. Es ist keineswegs leicht, aber doch wohl unumgänglich, sich einzugestehen, daß einen tiefergehenden Einfluß keiner auf den anderen ausgeübt hat. Wir blieben uns fremd. Was ich jetzt glaube, ist, daß ich ihn endlich begriffen habe als einen intelligenten, kritischen Menschen, der das Leben des bürgerlichen Auskommens und Erfolges liebt, einen offenen Sinn für die Gemeinschaft mit anderen Menschen besitzt und dabei einfach und handgreiflich sich sein Dasein in Sicherheit zusammenbauen möchte. Er, der Kommunist, der Linke von uns beiden, legt sein Leben auf Erfolg, Familie und sicheres Auskommen an. Und darum sucht er Zugang zu dem, was ihm Stellung, Ansehen und Sicherheit zu verschaffen scheint. Er hat sich tief hineingestürzt in die Probleme, die uns heute und hier bewegen. Aber seine Entscheidung ist gefallen inmitten der unmittelbar bewegten Oberfläche des politischen Erlebnisbereiches, gewiß nicht aus der gleichen Konjunkturritterschaft, wie sie bei so vielen anderen anzutreffen ist. Es ist das einfache Leben der Geltung und Zufriedenheit einer im Grunde in bürgerlichem Sehnen verwurzelten Seele. Wer von uns spürte nicht

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Egon Groschopp.

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etwas davon in sich? Doch eben das scheidet uns, jetzt und in zunehmendem Maße. E s bleibt mir unzerstörbar, daß er meine Frage, ob sich die Hingabe eines Lebens an eine Aufgabe, etwa im Sinne des Wissenschaftlers, der freilich kein lebensfremder Stubengelehrter werden darf, anders als nur als Phrase denken ließe, völlig mißverstand, ihr einfach ablehnend - verständnislos gegenübersteht, obwohl er meint, auf einem konsequent wissenschaftlichen Standpunkte zu stehen innerhalb seines leninistisch gewordenen Weltbildes. Ich mag ihn nicht von seiner Entscheidung zurückrufen. Ich glaube, daß er hindurchgehen muß, um weiter zu gelangen. Vielleicht wird er, wenn ihm die Mittel an die Hand gegeben werden sollten, einmal Phantasie und eigene Schöpferkraft beweisen können. Sollte er wachsen, ist das wohl nicht ausgeschlossen. Ich habe ihm schon einmal gesagt, daß den Weg zu gehen, den er beschreitet, nur der Masse der ewig Geführten oder den Genies bestimmt ist. Und er hat Talente, die nichts undenkbar machen. Doch jetzt stehen wir fern. Und unsere Gespräche sind abgelaufen. Es ist wohl nur sekundär, daß diese Gegenüberstellung von uns beiden, dieses Entgegentreten in die Zeit fiel, in die auch dieses Mädchen eintrat. Und daß die Trennung zwischen ihr und ihm erfolgte, ist zwangsläufig. Nie konnten sie beide zueinander passen. Als ich sie das erste Mal sah - nun vor genau einem Jahr - wußte ich es bereits, vielleicht er auch. - Es sind doch Gesetze, denen wir gehorchen müssen. Leipzig, den 23. November 1949 Die letzte Nacht war Mama bei mir - auf ihrer Fahrt nach Perleberg. Damit sind unsere Zelte in Mahlis endgültig abgebrochen. Professor Kühn sagte mir einmal, daß der Kern aller Weltanschauungen im Grunde eine winzige Naivität sei. Heute begreife ich das erst im ganzen Ausmaß. - Unser Leben und Begreifen ist letztlich auf eine einfache, ja naive Voraussetzung gegründet, hinter die nicht zurückgegangen werden kann. Sie setzt der Reflexion ein Ende. J e fester diese Grundtatsache gelebt ist, desto sicherer und kraftvoller gestaltet sich das Leben. Leipzig, den 24. November 1949 In Unsicherheit und Verzweiflung mag kein Mensch zu leben. Das Dasein ist gewiß keine unzerstörbare Ruhe; doch in allen Begegnungen sucht der Mensch einen festen Punkt der Sicherheit. Wer ihn nicht findet, geht verloren. Leipzig, den 4. Dezember 1949 Mein Examen schreitet rüstig vor. Die Klausuren sind überstanden. In der nächsten Woche folgen die mündlichen Prüfungen. - Und dann könnte ich, von meiner schlimmsten Arbeit befreit, endlich wieder einmal aufatmen.

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Doch es beginnen sich bereits wieder neue Sorgen abzuzeichnen. Man mag nicht in die politische Zukunft schauen. Sie liegt dunkel, als ein vom ohnmächtigen einzelnen nicht zu bewältigendes Chaos vor uns. Wir rettungslos der Gewalt Unterworfenen müssen uns aufschwingen über die Macht, wenn so etwas denkbar ist, oder Religiöse werden. Sonst bleibt uns nichts als der Fall ins Bodenlose, lebenslängliche Verzweiflung. - Wenn man die momentan im Emporkommen begriffenen „Politiker" ansieht und genau betrachtet, dann wird erst das ganze Ausmaß dieser entsetzlichen Tatsache, zu einem unfreien Volke zu gehören, bewußt. Man erlebt sich hinter unsichtbaren Gittern. Man entdeckt, wie dies wohl alle Generationen vor uns entdeckt haben, daß die Alten es doch wesentlich leichter hatten. Einfach unhörbar erscheint die Frage: Flucht oder Ausharren? Leipzig, den 6. Dezember 1949 Ein Jahr ist vergangen, seitdem ich mich mit Kierkegaard zu befassen begann. Die letzte Zeit schob andere Dinge in den Vordergrund. Nun sitze ich wieder über Kierkegaards Schriften und Tagebüchern. Und wie viel lebendiger und deutlicher erscheint mir heute manches. Ich beginne zu begreifen und zu erkennen, was das bedeutet. Und manchmal glaube ich, mein eigenes Bild im Spiegel zu erblicken. Fast möchte ich sagen, daß ich mich bisweilen fühle als Kierkegaard ganz ohne Gott, wenn das denkbar wäre. Leipzig, den 7. Dezember 1949 Die Beschäftigung mit Kierkegaard verstärkt immer wieder den Eindruck gewisser Verwandtschaften und enger Sympathien. Überhaupt scheint mir das Problem geistiger Verwandtschaften und Differenzen - bei historischen Persönlichkeiten wie in den Geistesstrukturen der Perioden - überaus fruchtbar zu sein. Stelle [man] dann die Frage nach Begleitumständen und Bedingungen dieser Erscheinungen, dann wäre man fast schon von geistesgeschichtlicher Reife an Lukacz 37 herangekommen, fehlt nur noch die Scheidung von fortschrittlich und reaktionär, Tod und Leben. Ich habe etwas mir als überaus wichtig Erscheinendes gefunden: Ja, wir müssen [das] Christentum verwirklichen! Das aber nicht in einer auch nur spurhaften Verneinung dieser Welt, sondern allein in Kenntnis dieser Welt. Die Welt in Realität muß erfaßbar werden, und das wird zum großen Teil der Wissenschaft obliegen, so daß der Boden für die Wirksamkeit des Guten bereitet werden kann. Leben in Liebe ist nicht genug. Das Wissen um die Wirklichkeit ist notwendig, das Wissen auch darum, wo Liebe zu wirken hat und was sie zu wirken hat. Der Punkt ihres Entkeimens kann nur dort liegen, wo 37

Georg Lukäcs (1885-1971), ungarischer Philosoph, Literaturwissenschaftler und -kritiker, Erneuerer der marxistischen Philosophie.

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der wirkende und sehende Mensch mit der Wirklichkeit Vereinigung findet. Das hat eine Voraussetzung: Man muß das Leben zuerst und vor allem bejahen und danach trachten, es überall und in jeder Situation aufs neue aufzufinden, um ihm zu folgen. Leipzig, den 11. Dezember 1949 Gestern habe ich die Hälfte meiner mündlichen Prüfungen überstanden; morgen folgt der Rest. Obwohl ich keine Klagen schwerwiegender Art zu erheben habe, ärgere ich mich doch über einige offensichtlich politische Provokationen, die in den geordneten Gang der Prüfung hineinfielen und mir keinen Zweifel daran lassen, daß das politische Moment in Prüfung und Beurteilung von sehr wesentlicher Bedeutung sein dürfte. Eine Prüfungsfrage, die ich selbst kaum zu beantworten brauchte und mancher Ton im öffentlichen Leben lassen oft ein lähmendes Entsetzen in mir aufsteigen: Was wird kommen? Wieder einmal tauchen Zweifel daran auf, daß ich mit meinem Verbleiben in Leipzig richtig gehandelt habe. Neue Sorgen und ein wenig Ärger - doch fast wohltuend, daß meine andere große Unruhe ein wenig übertönt wird. Freundlich sind nur die Briefe aus Perleberg, wo Papas Stellung augenblicklich völlig gesichert zu sein scheint. Was ist der neue, harte Realismus unserer Tage? Nichts anderes als die sieghafte Durchsetzung der größten Kraft, deren freier Geltung ein unübersehbares weltanschauliches Gestrüpp hemmend im Wege liegt. Und darum sind auch die Träume sozialistischer oder kommunistischer Romantik letztlich reaktionär. Sie müssen dieser jeder Illusion baren Realistik weichen. Leipzig, den 14. Dezember 1949 Mit meinem Examen bin ich nun glücklicherweise fertig. Ziemlich verzweifelt rannte ich gestern abend in eine Versammlung. Theologen diskutierten über den Marxismus. Es glich der Rechtfertigung einer Kapitulation, wobei dem Marxismus so ziemlich alle denkbaren Blankovollmachten überwiesen wurden. Ich kam fast unbemerkt. Fast niemand schien mich zu kennen. In der Diskussion fand ich das Wort, nach dem ich lange suchte. Wir müssen zuerst einmal wissen wollen und wissen, ehe wir urteilen und handeln. Ich weiß nicht, ob viele aufgemerkt haben. Wohl kaum! - Wenn das, was ich fürchte, Wirklichkeit werden sollte, dann habe ich sehr viel zu sagen gewagt, zu viel. - Kurz vor Versammlungsende verschwand ich wieder unauffällig. Ich hatte Ruhe und Klarheit wiedergefunden, Gott sei Dank! Leipzig, den 18. Dezember 1949 Nun liegt all das hinter mir, was wochenlange Arbeit veranlaßt hat. In einem blamablen Akt völlig mißlungener Feierlichkeit gab es Abschied und Zeug-

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nisse, allgemein wie im einzelnen dazu angetan, mich der glücklichen Überwindung meiner Zugehörigkeit zur pädagogischen Fakultät zu freuen. Noch die letzten Eindrücke waren für mich schlecht, die erhaltenen Beurteilungen nicht in allen Punkten objektiv. Nach Überarbeitung und dem knappen Schlaf in den letzten Nächten brachten die letzten beiden Tage eine förmliche Erschöpfung, verstärkt durch eine starke Erkältung. Erst im Verlaufe des gestrigen Tages, der mit einem Besuch Gundels 38 begann und erst am frühen Morgen in einem gemütlichen Beisammensein alter Studentenratsbekannter endete, verloren sich Apathie und Schwächegefühle. - Der größte Teil der Weihnachtsbesorgungen liegt hinter mir. Übermorgen werde ich in die so dringend bedurfte Ruhe der Ferien fahren - und alles vergessen, was vorbei ist. Was das neue Jahr bringen mag, war Gegenstand des Gespräches gestern in unserer abendlichen Runde. Für alle Fälle: Wir fassen die Möglichkeit ins Auge, zu Beginn des nächsten Sommersemesters zu viert die Zone zu verlassen, um drüben gemeinsam weiterzuarbeiten. Doch jetzt möchte ich erst einmal nichts anderes als Ruhe und Erholung. Berlin, den 21. Dezember 1949 An diesem Tage, da der Propagandaapparat der Ostzone nach wochenlanger Vorbereitung mit gewaltigem Aufwand den 70. Geburtstag Stalins gewaltsam und mit plumpen Mitteln zu popularisieren trachtet, so daß der längst als fragwürdig erkannte Kult um politisch erfolgreiche Persönlichkeiten geradezu Abscheu erregen muß - und das zumal, wenn selbst die traditionellen Weihnachtsfeiern in den Schulen zu seinen Gunsten weichen müssen, - an diesem Tage bin ich nach mehreren Wochen der Arbeit wieder einmal in Berlin. Im Äußeren hat sich wenig verändert. Der tiefgreifende Unterschied zwischen Ost und West, der sich auf so viele Gebiete des Lebens erstreckt - von den Auslagen der Geschäfte bis zum make up der Mädchen - , ist geblieben. Doch bei genauerem Hinsehen scheint etliches anders geworden zu sein. Das Leben der geschiedenen Welten hat sich eingespielt; es ist in den Bereich des Gewohnten aufgenommen. Damit verbunden sind innere Konsolidierung und scharfe Abwehrhaltung, forciert durch die politischen Kräfte. Hier, an der schärfsten Schnittfläche zwischen Ost und West findet der Konflikt dieses Gegensatzprozesses seine äußerste Zuspitzung, aber auch seine stärkste Generalisierung. Das wurde mir sehr deutlich, als ich - nach Voranmeldung - zweimal vergeblich versuchte, einen früheren Leipziger Kollegen zu besuchen und nur herummurksende Boten fand, die mich genau in Augenschein nahmen. - Ich habe mich stets am meisten vor der verschlossenen Tür im Westen gefürchtet. Nun ist es wohl fast so weit. Dabei hat mir niemand etwas vorzuwerfen, es sei denn, daß die mangelnde Bereitschaft, bereits bei erster Gelegenheit die Ost38

Nicht ermittelt.

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zone zu verlassen, schon zu Vorwürfen berechtigt. Wie wenig objektiv und sorgfältig man hier Urteile zu fällen für gut befindet, habe ich allerdings neulich schon erfahren, als ich von einem Angriff auf die Frankfurt-Fahrt eines CDU-Studentenrates aus Leipzig hörte, die noch dazu auf eine Frankfurter Einladung hin erfolgte, die sich ausdrücklich eine reine SED-Delegation verbat. Allein die Tatsache, daß ein Interzonenpaß ausgestellt wurde, gilt hier als belastendes Moment. Ich vermag hierin nichts anderes zu sehen als eine weitere Form von Tyrannei, die den einzelnen politisch zu entmündigen sucht, aus der Furcht, psychologisch sein und diskutieren zu müssen, wozu nicht immer die erforderlichen Qualitäten vorhanden sind. Man neigt stets aufs neue zum Kurzschluß der reinen Machtpolitik, die es sich in brutaler Rücksichtslosigkeit - hüben wie drüben erlauben kann, die vorbehaltlose Entscheidung für die beiden kulturellen Extremfälle unserer Zeit zu erheischen. Die letzten Reste deutscher Solidarität vor zwei Jahren teilweise noch eine Gemeinschaft der Not - schwinden dahin. Mein Weg in Berlin führte mich die langweilig gewordenen Linden hinab bis zum Brandenburger Tor, dessen hohe Düsterkeit durch zahlreiche Spuren des Kampfes von 1945 womöglich noch stärker wirkt als jemals, und darüber hinaus auf das weite freie Feld - einst der Tiergarten - aus Trümmern und aus trostloser Brache, die nichts mehr von der Großstadt vermuten läßt, einzig unterbrochen von dem gepflegten kleinen Gelände des sowjetischen Ehrenmals, hin zum Reichstagsgebäude. An dieser monumentalen Ruine, die bei aller Zerstörung eine gewisse Großartigkeit hat, die inmitten der verödeten, einst glanzvollen weitflächigen Anlagen vielleicht gar einen gewaltigeren Eindruck des Todes hervorruft als der des Lebens war, wurde mir in aller Anschaulichkeit noch einmal Ausmaß und Entsetzlichkeit unserer Niederlage bewußt. Lange stieg ich vor dem Todesmonument umher, bis mich eine Schar dunkel gekleideter Männer und Frauen - slawische Erscheinungen, die einem deutschen Führer folgten, - in meinen Betrachtungen störte und mich diese Stätte verlassen ließ. Ich malte mir die Phasen des Landkampfes in diesem Gelände aus und wurde mir recht plötzlich darüber klar, daß ich das Furchtbare des verlierenden Kampfes im eigenen Lande, der über alte, geehrte Stätten nichtachtend hinwegschritt, nicht in meinen Erinnerungen vorfinde. Mein Kriegserlebnis beschränkt sich auf die Sphäre des häufig schrecklichen Abenteuers, dessen Wesen ich darin sehe, daß man es als Mensch, der man geworden ist, besteht und durchsteht, ohne zerbrochen zu werden. Zwei entscheidende Erlebnisse fehlen meiner eigenen Soldatenzeit. Ich erlebte für einige Monate an einem verhältnismäßig kleinen Kriegsabschnitt den Kampf mit vorwiegend stagnierenden Fronten. Zu Beginn eines Rückzuges wurde ich verwundet und dienstunfähig, so daß ich den Rest des Krieges buchstäblich im Bett verbrachte. Mir fehlt das Erlebnis des vorstürmenden, hemmungslosen Siegeszuges in Feindesland hinein. Und mir fehlt ebenso das Erlebnis des zermürbenden Ringens in der Heimat, das Stück für Stück der alten Welt zusammenstürzen läßt bis zur ultima

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ratio des alles wegwerfenden „Rette sich, wer kann!" - Die letzten Jahre waren schwer und die Gegenwart ist es immer noch. Hier aber in Berlin vor dem zerstörten Reichstagsgebäude begriff ich erst, daß die Menschen, die dies alles ganz miterlebten, normalerweise zerbrechen mußten. Und damit stehe ich wohl am Anfang eines ernsthaften Verständnisses der Verirrungen unserer Zeit. Ich begreife den hohen Prozentsatz von Spionen, Verbrechern und Verzweifelten in unserem Volke; ich begreife auch die Auflösung der Gemeinschaftsbande des immer noch anhaltenden „Rette sich, wer kann!"

Perleberg, den 23. Dezember 1949 Wieder in diesem kleinen märkischen Städtchen daheim, dort wo ich mich wie der Gast auf ein paar Tage fühle. - Ja, ich bin sehr konservativ in meinen Gefühlen: An Mahlis denke ich jetzt stets gerne zurück. Hier bin ich fremd - und meine Eltern sind es, genau genommen, auch noch. Draußen ist es trübe und regnerisch. Und ich bin müde und erkältet, liege öfters stundenlang und schlafe fest. Meine Post zu erledigen, ist augenblicklich meine einzige Beschäftigung. Auch sie geht überaus langsam vor sich. - In den Nächten plagen mich üble Träume: Tote, Kampf, Angst und Zwang. Irgendwo ist da in mir ein Punkt, von dem ständig gleichsam Strahlen eines ängstlichen Zitterns ausgehen: die Ungewißheit des Kommenden, die mich immer stärker ergreift. Mitunter fühle ich mich wieder stark. Doch die Gefühle sind labil und in ständigem Wechsel begriffen. Die eigene körperliche Schwäche und der Mangel an eindeutigen Zielvorstellungen tragen wohl die Hauptschuld. Nun, ich bin hier, um mich körperlich zu erholen. Vielleicht werden dann die Gedanken auch wieder besser. - Zu Weihnachten winkt erstmalig wieder seit Jahren eine fette Gans. Aus Berlin nehme ich die Anregungen eines langen Gespräches bei F[rau] K[indscher] mit: den Begriff der absoluten Musik. Ich habe freilich zu fragen, ob sich die Absolutheit des Musikalischen im Ausdruck menschlicher Schöpfung denken läßt. Aber diese Frage ist nicht wesentlich, kann den Begriff in seinem Gehalt nicht entscheidend treffen. Mich bewegt stärker die Frage nach dem „Absoluten" auf anderen Gebieten menschlichen Ausdrucks, des Dichterischen, hier doch wohl sehr problematisch, des Malerischen usw. Ich kann noch keine rechte Antwort finden. Aber beachtlich scheint mir die Tatsache, daß gerade unsere Zeit die Frage nach dem Absoluten stellt, unsere Zeit der ausschließenden Absolutheiten. Mir scheint manchmal, daß niemand seine eigene Seele zu zergliedern vermag, wie ich es tue. Aber ich begreife die Gefahr, die darin liegt, sich selbst mehr zu sehen als das Objekt. Man muß doch wohl in einer gewissen Weise blind sein, um sicher und zielhaft handeln zu können. G a r manchmal gleiche ich einem fleischernen Geck, aus dem die Seele herausgeschlüpft ist, um sich interessiert und kritisch ihre gleichsam mechanisch agierende körperliche B e hausung anzuschauen. - Nein, man muß in „sich selber" drin sein und in sich das Leben haben; d.h. Objektivität.

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Perleberg, den 25. Dezember 1949 Von diesem Weihnachtsfest, das Papa, Mama und ich still und für uns wie noch nie bisher verleben, Papa und ich zeitweise arbeitend, muß gesagt werden, daß es ein nahezu normal friedensmäßiges genannt werden kann - vom Gabentisch bis zum Gänsebraten und dem guten Kuchen. Und das ist mehr, als ich erwartet hätte. Perleberg, den 27. Dezember 1949 Lange nicht habe ich so ziel- und zwecklos die Tage verbracht. Ich schlafe lange, esse gut, unterhalte mich, wenn es mir beliebt, gehe bisweilen spazieren oder unterlasse es, wenn ich nicht mag, und suche mir dann und wann eine kleine Beschäftigung, die mich nicht anstrengt. Ich überschreibe das mit „Erholung"; das Angenehmste daran ist, daß man jede Tätigkeit jederzeit abbrechen oder wieder aufnehmen kann, wie die Lust dazu ist. Doch lediglich die Tatsache, daß dieses Treiben keine ferne Begrenzung haben wird, verhindert mein schlechtes Gewissen vor mir selbst. - Gestern war es amüsant, heute ist es schal. Ich konnte lesen, was und wie ich wollte; und ich fand eine Ausgabe von Hebbel. 3 9 Gestern las ich „Gyges und sein Ring" 4 0 und war sehr angeregt, heute die „Julia" 4 1 und legte enttäuscht das Buch weg. Was das äußere Leben hier an Abwechslung bietet, ist sehr wenig. Ich kann mich einer stillen Bedauerung für die notgedrungen in dieses Kleinstadtmilieu hineingezwungenen Existenzen nicht erwehren. Mir würde es schwer fallen, ein solches zu ertragen. Aber überhaupt fühle ich mich wenig reif für das bürgerliche Dasein - auch in der Großstadt nicht. In tausendfacher Mannigfaltigkeit kehrt das Verhältnis von Herrschaft und Dienst in allen Bereichen des Lebens wieder. Es bleibt konstant und konstruktiv überall dort, wo sich Herrschaft auf die Tatsache unangetasteter Stärke und Überlegenheit gründet. Es ist eine alte Weisheit: Man kann nur dem Starken dienen. Doch wo Stärke einfach mit Macht identifiziert wird, liegt ein Fehlschluß vor. Stärke ist mehr, ist der Besitz des Lebens schlechthin. Perleberg, den 31. Dezember 1949 Rückschauend auf das alte Jahr bleibt trotz allem die Feststellung, daß manches günstiger und besser geworden ist. Ernährungssorgen sind fast beseitigt. Meine Eltern haben vorerst eine sichere Bleibe und Existenz gefunden. Und ich selbst habe ein Examen in meiner Tasche. Das ist noch nichts Ausreichen-

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Friedrich H e b b e l ( 1 8 1 3 - 1 8 6 3 ) , deutscher D r a m a t i k e r und Lyriker. Tragödie in fünf A k t e n von H e b b e l , 1856 veröffentlicht. Vollständiger Titel „Julia und König P e t e r " , 1847 von H e b b e l veröffentlicht.

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des, alles nur ein Anfang, Ausgangspunkt oder Notgroschen - wie man es nennen will. Es muß weiter aufwärts gehen. Das ist die Forderung für das neue Jahr. Mit Bangigkeit erfüllt allerdings die größere, politische Entwicklung, die einige Zweifel daran aufkommen läßt, ob es gelingen wird, Wurzeln zu schlagen und weiter zu wachsen. Möglicherweise werde ich mich noch zu einem längeren proletarischen Interim entschließen müssen, was an sich nicht unbedingt ein Verlust wäre, wenn es fruchtbar würde. Und das ist der andere große Gewinn: Aus Interesse und vielleicht ein wenig Begabung habe ich mich bisher wissenschaftlicher Arbeit gewidmet, ohne eine Notwendigkeit nachweisen zu können. Nun aber habe ich begriffen, daß lediglich das Muß von Aufgabe und Leistung zu bestehen vermag. Mehr vermag ich noch nicht zu sagen; allzu schwierig ist es, das Chaos zu ordnen. Ich habe nicht immer das Vollbewußtsein eigener Kräfte und häufig wähne ich mich schwach. Auch hier muß es vorwärtsgehen. Mir ist kaum Zeit zum ernsthaften Ausruhen gegeben. Und vielleicht werde ich die letzte Substanz angreifen müssen. Aber gegenwärtig sehe ich mich in einer Krise, die ich überstehen will. Ich bete nicht. Könnte ich es tun, so würde ich Gott anflehen um seinen Schutz und seine Hilfe für dieses neue Jahr. Schreibend gelange ich ins neue Jahr hinein. Eben läuten die Glocken. Wir drei in unserem stillen Heim haben uns eben Glück gewünscht. - Nun bleibt nur, mutig gefaßt, auf sich selbst gestellt, den Weg in die Zukunft weiterzugehen.

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Leipzig, den 8. Januar 1950 Hier befällt mich wieder die alte Unruhe. Die Situation ist in keiner Hinsicht rosig; kein Wunder, daß sich immer wieder eine stille Angst einstellt und der Wunsch entsteht, endlich zu einem ruhigen Platze zu gelangen. Leipzig den 11. Januar 1950 Es hat während der letzten Jahre recht häufig Augenblicke gegeben, in denen mich ein lähmendes Entsetzen vor der Zukunft packte. Noch niemals aber war es so stark, wie es heute der Fall ist. Die Politik der „Nationalen Front" 1 scheint das Grab der selbständigen Parteien unserer Zone werden zu sollen. Morgen wird Landtagspräsident Buchwitz 2 zur Studentenschaft sprechen über die für den nächsten Monat vorgesehenen Studentenratswahlen. Die Kandidaten werden diesmal von einigen Klassenorganisationen aufgestellt. Damit ist die letzte Selbständigkeit des Studentenrates und die letzte Verbindung mit den Westzonen zu Ende. Zum ersten Male bleibt mir heute nichts als bitterste Reue darüber, daß ich mich im Frühjahr nicht zum Weg aus unserer Zone hinaus entschließen konnte. Leipzig, den 14. Januar 1950 Ich stehe ständig auf Kriegsfuß mit der strengen Wissenschaftlichkeit, die allein das Objekt im Auge hat, das zu behandeln ist. Stets wird mir meine eigene Person in ihrem Tun bewußt. Und dann setzt das Fragen ein nach dem Woher und Wozu; die kühle, sachliche untersuchende Verbindung zum Objekt ist gestört. Es ist so furchtbar schwer für mich, das fertigzubringen, was wissenschaftliche Strenge verlangt: sich selbst zu vergessen. Selbst dann, wenn es mir vorübergehend gelungen ist, läßt mich die nächste Freude über eine Entdeckung aufjubeln, und ich bin wieder ganz bei mir selber und steige in das Leben in seiner Fülle hinein, alles andere zurücklassend. Es sind zwei gegensätzliche Elemente, diese genießende Aktivität und die kühle Sachlichkeit, die da in eins zusammengegossen werden wollen. 1

Die Nationale Front war am 7. Oktober 1949, dem Tag der Staatsgründung, gebildet worden. Der Nationalen Front gehörten alle Parteien und Massenorganisationen an. Sie war zuständig für die ideologischen Vorbereitungen der Wahlen und Erstellung der gemeinsamen Listen der Kandidaten für die Wahlen. 2 Otto Buchwitz (1879-1964), bis 1946 SPD-Mitglied, 1946-1964 Mitglied des Parteivorstandes / des ZK der S E D , 1946-1952 Präsident des sächsischen Landtags, 1949-1964 Mitglied der Volkskammer der D D R .

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Leipzig, den 18. Januar 1950 Ein ganz gutes Wort (wie hin und wieder schon manches) in den „Frankfurter Heften" 3 : „Die Illusion von 1945 ist vorbei. Der Kampf um den demokratischen Geist und Willen des deutschen Volkes geht weiter. Er kann nicht vor Gericht geführt werden, sondern nur im Leben des Volkes selbst, Geist gegen Geist, Willen gegen Willen." Aber ein Zusatz [ist erforderlich]: Manche sind müde geworden, viele realistischer; so wenigstens bei uns. Es sind nicht nur Illusionen beiseite getan worden; auch der „Kampf um den demokratischen Geist" ist ein anderer geworden. Leipzig, den 19. Januar 1950 Die letzten Tage haben gleich eine ganze Anzahl von Enttäuschungen gebracht, zwar nicht derart, daß es nichts mehr weiterzuleben gäbe, aber doch genügend, um den Mut zu verlieren. Es wird immer häufiger, daß ich zu dem Aushilfsmittel schreiten muß, dem Schlafengehen. Leipzig, den 20. Januar 1950 An einer außerordentlichen Leistung des modernen Kommunismus, soweit er staatsgestaltenden Einfluß hat, wird die Geschichte nicht vorbeigehen können: Noch nie in der Vergangenheit sind Großstaaten von einer Gruppe so zielbewußt und unermüdlich in einer bestimmten politischen Richtung geführt worden, und noch nie ist außerhalb kirchlicher Organisationen mit solcher Konsequenz, Umsicht und Sicherheit für Ausgestaltung und Fortpflanzung einer Idee Sorge getragen worden. Das Beispiel Rußland ist grandios. Ob es auch ein Kanon der Möglichkeiten ist? Gewiß nicht. Wir Mitteleuropäer verlangen nach anderen Maßstäben und anderen Wegen. Die Frage, die sich uns stellt, ist gar nicht in erster Linie die, ob Bolschewismus oder Kapitalismus, die in dieser Ausschließlichkeit einfach indiskutabel wäre, sondern vielmehr die, wie wir uns in eigener Schöpferkraft und Phantasie zu Wirksamkeit und Geltung zu bringen vermögen. Daß die Zukunft in den Händen einer regierenden Minderheit zielbewußter Staatsführer liegt, scheint mir nicht mehr zweifelhaft; wohl aber mag es noch der Entscheidung bedürfen, ob permanente Diktaturen oder kluge Staatsleitungen entstehen werden. Und da gibt es kein Gesetz, kein Recht und keine Notwendigkeit, die anzurufen wäre, sondern nur das eine Gesetz, das wir selbst zu Wirklichkeit zu machen haben.

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D i e „Frankfurter Hefte" waren 1946 als Kulturpolitische Zeitschrift von Eugen Kogon und Walter Dirks gegründet worden. Ihr Ziel war die Realisierung eines demokratischen Sozialismus. Die Zeitschrift stellte 1984 ihr Erscheinen ein.

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Der Mensch wird gebildet durch die Notwendigkeit, durch die einzig ihm nur mögliche Tat, vor der es keinen Ausweg gibt als nur die Flucht, das Versagen. So gleicht das Leben einem Feuer, durch das man hindurchgelangt oder in dem man als unnütze Schlacke zurückbleibt. Leipzig, den 23. Januar 1950 Literarische Erzeugnisse einer Zeit, die die Nachwelt lediglich ihrem historischen Werte nach mißt, sind vergangen, im Strome der Geschichte verflossen. Aber ist das das Schicksal aller Literatur? - Das Gültige ist überzeitlich. Ihm kann die Arbeit des Historikers nur Gehör verschaffen. In ihm spricht die Lebenskraft sich aus. Leipzig, den 31. Januar 1950 Zum ersten Male aus dem Bett nach schlimmen Tagen mit Rippenfellentzündung und hohem Fieber. Eine Woche Zeit verloren und stark geschwächt. Leipzig, den 1. Februar 1950 Endlich ist Schnee gekommen, als sich die strenge Kälte milderte, und deckt die starre, ausgefrorene Erde mit weißer Weiche zu. Es ist wie Versöhnung, daß die weiße Stille einzieht, wo nackte Kälte war und die Welt wie im Leben und Springen verfror. Es ist wie Ruhe nach schmerzhaften Krämpfen. Sachte fallen die Flocken, rieseln dünn und zart auf die weiche Decke nieder. Drüben, in der anderen Straße schlittern Kinder; doch kein Geräusch dringt von ihnen zu mir herauf. Irgendwo dumpfe Schläge, leise nur zu hören: Ein Teppich wird auf dem frischen Schnee geklopft. Von nebenan lassen sich abgerissene Klaviermelodien vernehmen. Quirlendes, leidenschaftliches Leben wird jäh erstickt, steht im Zimmer wie Rauch über ausgelöschtem Feuer, dringt dann mit neuer Kraft an mein Ohr, um wieder zu versinken. Und ich spüre nichts als im Kopfe diesen Druck, der nicht nachläßt, bohrend und [...]4 jede Zeit durchdringt, in jedem Augenblick und in jedem Erlebnis sieghaft zuletzt das Bewußtsein beherrscht. Leipzig, den 3. Februar 1950 Ich zweifle nicht daran, daß es möglich ist. das politisch Notwendige und Sittlichkeit widerspruchsfrei miteinander zu verbinden. Wie aber, wenn letztlich nur die Ausführung allerhöchster Befehle bleibt? Freiheit liegt in Einsicht und Verantwortung. Wo sie nicht mehr zu finden sind, ist das geistige Leben

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Ein Wort nicht zu e n t z i f f e r n

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tot. - Dies ist das Maß. Ohne Einheit, in fortschreitender Zerspaltenheit kann keine Macht bestehen. Aber wo die Freiheit vernichtet ist, dort stirbt das Leben ab, hebt sich somit die Macht selber auf. Leipzig, den 5. Februar 1950 „Literatur der Übergangszeit. Essays" von Hans Mayer. 5 Mit seinen erstaunlich mannigfaltigen Kenntnissen zaubert der lebendige, kleine und eitle Mann ein recht umfassendes Bild von der Weltliteratur etwa in den letzten hundert Jahren in ihren wichtigsten Problemen herbei. Schon der Titel ist wertvoll; und wertvoll sind manche Analysen. Doch seinen Weg zu Bert Brecht 6 kann man nicht mitmachen. Doch wohl mit Unrecht steht der Brecht-Essay ziemlich am Ende, was doch kaum ein unverbindlicher Kunstgriff sein dürfte. Was hat Bert Brecht mehr als die anderen Kritiker der bestehenden bürgerlichen Gesellschaft? Seine kommunistische Theorie, auf die er baut und nach der er arbeitet, d. h. völlig aus der Abstraktion heraus, und die Gleichgültigkeit gegenüber dem Positiven im Kunstwerk, das das Erhabene genannt sein mag. Er will aufklären, niederreißen, die „Kehrseite" aufzeigen - und das rücksichtslos, ohne eine Verantwortung für die revolutionierten Menschen zu übernehmen. Andere sind weniger radikal als er - warum? Weil sie um die Notwendigkeit wissen, Auswege, Lösungen zu weisen - oder zu verzweifeln. Brecht zerstört - mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln - , um damit freies Feld für einen Neubau zu schaffen, um den er sich im Grunde gar nicht kümmert. Das ist dieselbe Phantasielosigkeit und Sterilität, wie sie sich so häufig im Kommunismus findet: Es genügt, einen Namen für die Erlösung gefunden zu haben und in ihrem Sinne die Gegenwart niederzubrechen - total und gewaltsam. Die Zukunft bereitet keine Sorge. - Das ist die Verantwortungslosigkeit des vom Kollektiv aufgezogenen Individuums, das alle Entscheidung der gesellschaftlichen Gesetzesmäßigkeit anvertraut, in deren Sinn es zerstörend zu handeln glaubt. Nebenher: Wer klatscht Beifall? Keineswegs der Arbeiter, auch natürlich nicht der Bürger alten Stils. Eine Schicht wurzelloser Intelligenz, diejenigen, die den Reiz des Originellen in der Verderbtheit am höchsten schätzen, und natürlich die, die stets Beifall spenden, wenn es etwas Neues gibt, das gelobt wird, und - das freilich steht außer Zweifel - jene, denen es die Witterung menschlichen Mitgefühls (Mitleid wäre schon zu viel) bereits antut. Kulmination der decadence, nichts anderes!

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Hans Mayer (1907-2001), deutscher Literaturwissenschaftler. 1948-1963 Professor für Literaturwissenschaft an der Universität Leipzig, 1965-1975 Professor für deutsche Literatur an der Universität Hannover. D a s genannte Buch war 1949 im Verlag Volk und Welt, einem der wichtigsten belletristischen Verlage der D D R , in Berlin erschienen. 6 Der genannte Essay-Band war 1949 in Berlin erschienen. Der Beitrag über Brecht stand unter der Überschrift "Bertolt Brecht oder die plebejische Tradition", S. 225-238.

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Ich muß fast ein wenig Neid eingestehen, wenn mir ein so liquider Geist begegnet wie H[ans] Mayer. - Überlegenheiten können mich wohl nicht neidisch machen. Es ist der Schmerz gemeint ob der Einsicht in Lebensfähiges, aber Unerreichbares. Diese Bewältigung zahlreicher literarischer Erzeugnisse in Kürze und mit Prägnanz, ihre Auswertung, Analyse und Vergleichung, ihr Durchschauen auf Kerngehalte hin verlangt einen in jedem Augenblick wachen, scharfen und begriffsfähigen Geist, die Fähigkeit blitzartig zu registrieren und - im Besitze wissenschaftlicher Erfahrung - Wesentliches zuverlässig zu erkennen und in Zusammenhängen zu sehen. Souveräne Sprachbeherrschung leistet dann das ihre, in effektvoller Deskription die eigene Ansicht klar und deutlich zu machen. Das langsam, schrittweise sich zur Klarheit bewegende konstruierende Denken ist ihm völlig fern. Es liegt diesem statistischem Geist alles nur Mögliche parat - und zwar bis in Einzelheiten und genau. Leipzig, den 10. Februar 1950 Heute hörte ich von Luise.7 Wir dürfen wohl hoffen, sie in nächster Zeit frei zu haben. Es war eine große Freude für mich, als ich das erfuhr. Ich weiß es heute, nachdem ich sehr häufig an sie gedacht habe, daß sie das wertvollste Mädchen ist, das ich bisher kennenlernte. Ich gestehe, daß ich ein Gefühl hoher Verehrung ihr gegenüber als Mädchen empfinde. Und darüber hinaus sehe ich in ihr noch mehr als lediglich ein Mädchen, und das ist wohl das Unterscheidende. Aber ich glaube, daß ich kaum noch ein Recht zu solchen Betrachtungen und Urteilen haben kann. Es ist so wenig wahrscheinlich, daß wir noch einmal so zueinander stehen werden, wie es damals der Fall war, ehe sie weggeholt wurde - vor nunmehr zweieinhalb Jahren. Werden wir uns Wiedersehen? Sie soll kein leichtes Schicksal gehabt, aber dennoch eine herrliche, sieghafte Haltung und alle ihre Kräfte bewahrt haben. Die Not hat ihr Festigkeit gegeben, die so mancher verloren oder nicht gefunden hat. - Wie steht es mit mir? Ich begreife, daß ich sehr schwach bin. Doch das muß anders werden! Leipzig, den 14. Februar 1950 Mit gewaltiger Sense wird in diesen Wochen unter den bürgerlichen Parteien geschnitten. Verstecken oder fallen, heißt die Alternative. Seit Ende Januar dieses Jahres gibt es keine selbständige Parteipolitik mehr in unserer Zone. 8

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Luise Langendorf, 1945, A n m . 9 . A m 25.1.1950 bekannte sich der Zentralvorstand der L D P zur Mitarbeit in der Nationalen Front. Einen Tag später gab der Politische Ausschuss der C D U eine Erklärung ab, die ein Bekenntnis zur Blockpolitik enthielt. Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Chronik, Teil III; von 1945 bis 1963, hrsg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der S E D , Berlin 1967, S.235f. 8

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Erleichternd fällt ins Gewicht, daß das schützende Westberlin nicht fern ist. Das erspart es, den Schleier der so sorgsam gewahrten Humanität zu heben. Mit völliger Ratlosigkeit kann man nur dem weiteren Verlauf der Dinge entgegensehen. Unser Volk ist auf dem besten Wege, vom grünen Tisch her zerstört zu werden. Leipzig, den 15. Februar 1950 Heute sagte mir auch Dr. B[uchheim], der vor einigen Tagen alle politischen Ämter bis auf sein Landtagsmandat niedergelegt hatte, daß er in einigen Wochen unsere Zone verlassen werde. 9 Leipzig, den 18. Februar 1950 Gestern abend wieder nach langer Zeit Disput mit E[gon]. 10 Auch außerhalb politisch-weltanschaulicher Gespräche macht sich eine starke Beschränkung seiner Sichtweise bemerkbar. Er vermag nur in bestimmten Kategorien zu denken - und zu hören. Jeder Tatsache, jedem Wort tut er Gewalt an in seinem stark ausgeprägten Selbstbewußtsein, das seine schulmeisterliche und belehrende Art erklären mag. Immer häufiger kehrt das Wort der Entscheidung in seiner Rede wieder. Das bedeutet für ihn, eine Lehre als unumstößlich und allein wahr gewählt zu haben und in uneingeschränkter Konsequenz ihr zu folgen und zu gehorchen. Es gibt keine Skepsis des Wissenschaftlers für ihn, aber auch gar kein wissenschaftliches Eindringen in die Wirklichkeit. Was er gesucht und vorerst gefunden hat, ist die subjektive Glaubensbefriedigung in einer Lehre, in einer mit Sicherheit und Erfolg ausgestatteten Anweisung zum eigenen Handeln. Mit großer Aufmerksamkeit habe ich diesen Prozeß beobachtet. Und nun stoße ich auf die Schwierigkeit, ihm davon Mitteilung machen zu können. Es ist einfach unmöglich, ihm das Eigentliche von „Wissenschaft" erkennbar zu machen. Ihm ist ein solcher Begriff in einem seltsamen Gemisch von Überheblichkeit und naiver Oberflächlichkeit völlig unbekannt. Er wähnt, die Heilswahrheit dieser Welt gefunden zu haben, und kennt kein Fragen mehr. Daß er bei allem in mancher Minute rührend menschlich warm und weich sein kann, macht diese an sich interessante Geschichte eigentlich tragisch. Unsere Zeit enthüllt in der Absolutheit und in mancher Inhumanität weltanschaulicher und politischer Strömungen eine tiefe religiöse Sehnsucht. Das sollten sich die vor Augen halten, die mit politischen Gedanken Konjunktur zu machen gedenken. Erster Programmpunkt sollte Spinozas 11 Wort

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Buchheim verließ am Abend des 4.5.1950 die DDR. Egon Groschopp. 11 Baruch de Spinoza (1632-1677), niederländischer Philosoph. Der Grundsatz VI („Die wahre Idee muss mit ihrem Gegenstand übereinstimmen") ist veröffentlicht in: Die Ethik, deutsch von Carl Vogl, Stuttgart 1948, S.3. 10

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sein: „Idea vera debet cum suo ideato convenire." (Axioma 6) - Als ethisches Maß für politische Führer! D a n n müßte Politik mehr sein als ein Rechnen und Agieren mit Vorhandenem. G o e t h e zum Kanzler von Müller am 17. Mai 1829: „Die Menge, die Majorität ist notwendig immer absurd und verkehrt; denn sie ist bequem, und das Falsche ist stets viel bequemer als die Wahrheit. Letztere will ernst erforscht und rücksichtslos angeschaut und angewendet sein. Das Falsche aber schmiegt sich an jede träge, b e q u e m e oder törichte Individualität an, ist wie ein Firniß, mit dem man leicht alles übertüncht." 12 Daran haben 120 Jahre nichts zu ändern vermocht.

Leipzig, den 21. Februar 1950 Es ist die Tragik meiner Situation, daß ich mich unter Verhältnissen, die kaum einen anderen als den bedenkenlosen, auf sich gestellten Einzelnen sichere Erfolge zu versprechen scheinen, für eine Tätigkeit entschlossen habe, die die Frage der eigenen individuellen Existenz nicht berücksichtigt. Ich begreife in aller Deutlichkeit, daß es für den Historiker heißt, Sachwalter der Erfahrungen der Nation und der Menschheit zu sein, eine Stellung, die alles und nichts sein kann, je nach der Konvention der allgemeinen Bildung.

Leipzig, den 27. Februar 1950 Heute fand ich in der Zeitung eine erschütternde Nachricht: Zwei Jungen, 11 und 13 Jahre alt, gerieten miteinander in Streit. A m Ende schlug der eine den anderen nieder. Damit nicht genug, holte er ein Küchenmesser und trennte damit dem Niedergeschlagenen Kopf und Glieder ab, die er auf die Straße warf. - Gemeldet wird das aus Berlin. Wenige Zeilen nur verwandte die Zeitung auf diese Nachricht. Mit riesengroßen Lettern müßte sie sich in das Gedächtnis eines jeden Lesers einprägen, als wichtigste Meldung von der Gefahr, in der die Menschheit lebt, als drohendes Zeugnis der erstaunlich wachen Bestialität. Die eigentliche Impotenz des Bolschewismus, intellektuellen Meschen einen Weg in die Z u k u n f t zu weisen, sehe ich in der Absolutierung und Formalisierung des Fortschrittbegriffes. Wenn man Kritik übt an einer alten Gesellschaftsordnung, so deshalb, weil sie die Erfahrung eines beschränkten und eingeengten Menschentums gibt. Eine Befreiung kann nur im Zeichen des Natürlichen, des Eigentlichen erfolgen. Wo aber ein abstrakter Fortschrittsbegriff geformt und verabsolutiert wird, dort übt man Verrat an der Befreiung. Fortschritt kann nur immer im Konkreten bestehen und nicht im Negativen, sondern im Neuen. Fortschritt ist Befreiung, Sieg über H e m m u n g und Falsch. - Doch das ist eben eine Aussage und nicht eine phrasenhafte Parole. Jeder 12 Albrecht Knaus (Hrsg.): Goethes Unterhaltungen mit dem Kanzler Friedrich von Müller, München 1950, S. 64 f.

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sollte hellhörig werden, wenn dort, wo für die Freiheit gekämpft werden soll, neue Fesseln entstehen. Nicht immer mag es ganz ohne sie gehen. Aber man sollte sorgfältig prüfen und kontrollieren. Leipzig, den 15. März 1950 Man beliebt häufig über die Voreingenommenheit oder die Objektivität des Geisteswissenschaftlers, vor allem des Historikers zu diskutieren. Und wie es in Diskussionen häufig ist, wenn wohl eine eigene Meinung vertreten und expliziert, nicht aber der Gegenposition im Verständnis nähergerückt wird, so formen sich immer stärker die beiden extremen Stellungnahmen machtvoll aus: Entweder glaubt man, nach dem Ideal Rankes 13 , das eigene Ich völlig auslöschen und bedingungslos in die historische Welt vorstoßen zu können, um zu klaren Erkenntnissen zu gelangen, oder man meint, Wahrheit getrost ein Unerreichbares nennen zu können, das ein Recht gibt, auf ihre Unabdingbarkeit zu verzichten und allein augenblicklichen Zwecken und Tendenzen huldigen zu dürfen. So die Meinungen des diskutierenden Publikums von der Geschichte: Die Folgen sind bedenklich und scheinen zu einer vollständigen Bankrotterklärung der Geisteswissenschaften hinführen zu müssen. Entweder ist der Geisteswissenschaftler ein weltfremder Gelehrter und Idealist, der sich auf ständiger Flucht vor der Wirklichkeit befindet und sein Leben auf persönliche Bildung, eigene Bereicherung in der geistigen Sphäre reduziert, der danach strebt, unter allen Umständen irgendwo ein unangetastetes Plätzchen für seine Betätigung zu retten, oder - und dieser Fall ist nun wohl immer häufiger - er macht sich zum Vasallen des Tages, gerät in Herononomie. Die weniger werdenden Annahmen vermögen kaum den Ruf der Geisteswissenschaften zu retten, zumal ihre Haltung meist auf anderem Boden als auf dem ihres Wissensgebietes allein erwachsen ist. Es ist müßig, diesen Streit fortzusetzen. Es gibt als einzige Antwort nur eine Erneuerung der Geisteswissenschaft, wobei die Bezeichnung keine entscheidende Rolle spielt. Und diese Erneuerung kann leicht unbeachtet lassen, daß eine völlige Unbefangenheit des Wissenschaftlers gegenüber seinem Objekt undenkbar ist. Jeder Mensch ist in jeder Handlung und jeder Erkenntnis in irgendeiner Weise prädisponiert auf Grund von Anlage und Erfahrung. Aber dort, wo er nicht darum weiß, vermag er in Selbsterkenntnis seines Handelns und Erkennens, allmählich zunehmende Gewißheit daran zu erlangen. Unser Fragen und unser Sehen ist nicht lösbar von unserem Wesen, das fragen und sehen läßt. „Und ist nicht das Auge sonnengleich, nie könnte es der Sonne Licht erschauen," sagt Goethe. 14 Unser Forschen und Tun kann nie etwas

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Leopold von Ranke (1795-1886), deutscher Historiker, einer der Gründerväter der modernen Geschichtswissenschaft. 14 Das Zitat lautet richtig: „War nicht das Auge sonnenhaft, Die Sonne könnt es nie erblicken." Johann Wolfgang von Goethe: Gedichte, hrsg. und kommentiert von Erich Trunz, München 2007, S. 367.

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Vollendetes sein, niemals Wahrheit letzter Gültigkeit erreichten. Doch es ist ein ständiges Überprüfen und Weitervordringen nach dem Maße unseres Erfahrens und Reifens, ein bewußtes Auf-sich-Nehmen der letzten Erkenntnis als Fortschritt und Schuld zugleich, das werdend weiterzugelangen versucht. Ohne dieses Prinzip des grenzenlosen Forschens und bewußter Verantwortung ist die Geisteswissenschaft der Korruption überantwortet. Aber auch auf die Wirklichkeit des unmittelbaren Lebens, auf das Erkennen und Kennen der Menschen in den Aufgaben ihres Daseins kann der Geisteswissenschaftler nicht verzichten. Sein Tun und Denken ist gekennzeichnet von der permanenten Wechselbeziehung von Idee und Lebenspraxis. In der Bewältigung der Lebenswirklichkeit und ihrer Umformung in Erkenntnis und Idee liegt seine wesentliche Leistung, die nicht eine Leistung ad se ipsum ist, sondern für alle, mit denen er in Beziehung sein kann. Der Geisteswissenschaftler muß immer der Erzieher sein und Mahner zugleich, der Weise, der Rechenschaft fordert und Wege weist. E r hat über den Geist des Volkes zu wachen, eine Aufgabe, die gewaltig ist; aber wer sie nicht zu tragen vermag, ist kein Geisteswissenschaftler. So kann er nur die Stellung eines Weisen einnehmen, - wenn er im Reiche der Technik nicht zermalmt werden will - , die in vielen Zügen an die eines archaischen Priestertums erinnern muß. Vermutliche Charakterzüge dieser Geisteswissenschaft sind ihre Unteilbarkeit in Unterdisziplinen, ihre bedingende Verbindung mit der Persönlichkeit des Wissenschaftlers im Sinne des Philosophen Spinoza und ihr grenzenloses, ungehemmtes Erkenntnisstreben. Mir wird vor diesen Gedanken selber bange. Aber: Wer nicht Treibholz werden will in diesem Spiel übermäßiger Mächte, der muß gewaltige Gedanken tragen können. Leipzig, den 16. März 1950 Es ist doch ein großer Unterschied, ob ein Althistoriker, mittlerer oder neuerer Geschichtsforscher über Geschichte spricht. Das ergibt sich schon aus der Unterschiedlichkeit verschiedener Einstellungen, wie sie aus der Art und Zahl der Quellen, aus dem zeitlichen Abstand und der größeren oder geringeren Vertrautheit mit den Elementen des historischen wirklichen Lebens folgen. Für das frühe Mittelalter vermag die Lösung der Frage nach dem Verhältnis der Freien zu den Unfreien höchste Wichtigkeit zu behaupten. Doch die Geschichte der Tarifverträge in der Neuzeit kann lediglich den Staatswissenschaftler interessieren, aber kaum den Historiker. Die neuere Geschichte ist in stärkstem Maße eben beherrscht von den Gesichtspunkten der Ästhetik und der Chronistik, wie sie sich für die Gegenwartsnähe im Anfang immer ergeben werden. Erst das jüngste Bestreben, eine historische Gesamtschau zu erreichen, das notgedrungen auch in der Neuzeit Wesentlichkeiten suchen muß, muß hier ändernd wirken. Es ist das Zeugnis zunehmender wissenschaftlicher Reife. Nur sie macht diese ungeheure Abstraktion möglich. Und noch

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größere Reife erfordert es vom Wissenschaftler, mitten im Dasein lebendig zu stehen, aber selbst die nächste Vergangenheit in dem Bereich der unendlichen toten Geschichte zu sehen und zu nüchternen Erkenntnissen zu gelangen, um erneut im wirklichen Leben tätig zu sein. Leipzig, den 17. März 1950 Gestern nach langer Zeit wieder ein Gewandhauskonzert. Macht es der langsam wieder aufkeimende Luxus oder mein längeres Fernbleiben von derlei Veranstaltungen - jedenfalls empfand ich eine angenehme, gepflegte Atmosphäre, die mir die Existenz einer kulturell ungetroffenen Gesellschaft zu bezeugen scheint. Übermäßige Eleganz sah ich nicht, jedoch einen gediegenen Glanz; und der Ton war - in lange nicht verspürter Weise - allgemein überaus gewählt. Mir scheint dies erwähnenswert, was wiederum ein Zeugnis dafür ist, wie sehr weitab ich mich befinde von dieser Bürgerlichkeit. Meine Beziehungen zu dieser Gesellschaft reduzieren sich auf nicht viel mehr als bloße Kenntnis. Ich bewundere und beneide vor allem die ruhige und keine Störungen empfindende, genießende Sicherheit dieser Menschen, die weder durch das Geschehen der Vergangenheit, noch durch das der Gegenwart in Angst zu geraten scheinen. Was aber gab mir die Musik? Im besten Falle einzelne Gefühlserregungen. Häufig aber war sie nichts als Begleitspiel meiner eigenen Gedanken. Ich war verzweifelt über meine Unfähigkeit, ihr zu folgen und sie zu begreifen. Dieses Konzert (Mozart 15 , Sibelius 16 , Beethovens 17 Pastorale) blieb für mich ein Wirrsal von Ton- und Melodienketten inmitten von abgerissenen, ungleichen Gefühlen und Gedanken. Und so ist mein ganzes Dasein in der Gegenwart: verworren, unklar, erfüllt mit dem Bewußtsein meines eigenen Unvermögens, aus dieser Zerrissenheit herauszugelangen. Und so warte ich denn verzweifelt auf eine Hilfe von außen. Doch zu häufig schon habe ich die Erfahrung gemacht, daß äußerer Beistand sich nur bei innerer Stärke findet. - Ich habe mich im Verdacht, daß ich vor einiger Zeit den Versuch unternommen habe, äußerlich Kraft und Stärke zu imitieren, um Hilfe zu gewinnen für mich. Nun, es ist als Fehlschlag gelohnt worden. Das Schaffen, die Produktion ist Ausweg gesunder Kraft. Auch Ideen sind Erzeugnisse der Kraft. Wenn sie in praxi schöpferisch, produktiv werden, sind sie gesund.

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Wolfgang Amadeus Mozart (1756-1791), Komponist der Wiener Klassik. Jean Sibelius (1865-1957), skandinavischer Komponist. 17 Ludwig van Beethoven (1770-1827), Komponist der Wiener Klassik. Die Pastorale war seine 6. Sinfonie. 16

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Leipzig, den 18. März 1950 Während im Westen Deutschlands das gesellschaftliche Leben wieder entwickelt ist, hat es in unserer Zone bedenkliche Schläge erlitten. Und etwas Neues kann das Gewesene nicht ersetzen. Vor einiger Zeit noch empfand ich es als erstaunlich, wenn ich Kollegen und Altersgenossen auf der Jagd nach Vergnügungen und geselligen Veranstaltungen sah. Nun aber, da die kollegiale Kommunikation neben dem Bücherstudium an der Universität auf ein nicht mehr wesentliches Minimum zusammengeschrumpft ist, werde ich auf einmal gewahr, wie zerrüttet das gesellschaftliche Leben unserer Zone ist. Mögen in kleineren Kreisen noch Gemeinsamkeiten bestehen, im Großen sind sie längst verloren gegangen. Und das ist ein bedenkliches Fazit für den, der sich um Eingliederung in die Gesellschaft bemüht. Das was wir meist als „Gesellschaft" bezeichnen, die staatlich organisierte Gesamtheit, gibt uns die Möglichkeiten unseres Daseins. Aber von Freude und Fruchtbarkeit getragene Tätigkeit in der Gemeinschaft mit anderen Menschen ist etwas außerhalb von Staat und Organisation Stehendes.

Leipzig, den 19. März 1950 Der Biologe gebraucht das Wort Symbiose. Auch der Historiker und Soziologe könnte einen derartigen Begriff anwenden, um auszudrücken, daß das Leben in praxi eine unaufhörliche Folge von Kompromissen, von faktisch zustande kommenden modi vivendi ist, die entweder der einzelne oder der soziale Verband mit der Wirklichkeit eingeht. Dabei heißt modus vivendus, daß derartige Zugeständnisse an die Wirklichkeit gemacht werden, daß das eigene Leben sich zu behaupten und fürderhin weiter auszubreiten vermag. Es handelt sich hier um das Problem der Macht. Die Frage nach dem Guten in der Welt ist falsch gestellt; es gibt nur die nach den eigenen Möglichkeiten. Und wer in sein Vermögen Vertrauen besitzt, mag getrost an das Gute glauben. Leipzig, den 21. März 1950 Ein herrliches Wetter, das auch den kalendermäßigen Frühjahrsanfang sanktioniert. Doch es ist nicht so leicht, mit der Strömung Schritt zu halten. Zu dritt sind wir gestern abend wieder einmal zu der Klarheit gelangt, daß die Situation, in der uns zu leben aufgegeben ist, nur verzweifelt genannt werden kann. Wir stehen vor der Tatsache des völligen Zerfalles der Gemeinschaft hier in unserer Zone und teilweise auch der Westzone. Hemmungslosigkeit, Rücksichtslosigkeit, Gemeinheit und geistige Inferiorität triumphieren; das alles im Zeichen der Perfektion, der Technik, der wir machtlos gegenüberstehen.

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Der Techniker, der Wirtschaftler werden gebraucht, da sie sich als zuverlässige Werkzeuge widerstandslos in den großen Apparat des politischen Systems einordnen lassen. Der Geisteswissenschaftler kann lediglich als Diener und Propagandist der Macht sein Dasein führen. Ihm wird kein Fünkchen von Selbstorientierung und Entscheidungsfreiheit zugestanden. Es will schwer halten, mutig zu bleiben, zumal die handfesten materiellen Probleme gebieterisch Antwort heischen. Irgendwelchen Plänen oder Absichten zu folgen, ist gänzlich unmöglich. Vorläufig bleibt nichts, als sich am Leben zu erhalten und keine Angriffsfläche darzubieten. Alles andere steht bei Gott. Gott ist jener feste Punkt im Menschlichen, den sich das menschliche Denken wählt, wenn es ausweglos in einer ohnmächtig erlebten Gegenwart gefangen ist. Dieser Punkt verspricht Halt über dem Diesseits, Allmacht über der Macht. So Kierkegaard: Die Verzweiflung läßt uns aufmerksam werden auf das Ewige. 18 Nach längerer Zeit entschloß ich mich, W. M. Sch. 19 aufzusuchen. Er empfing mich in einer halb ausgeräumten Wohnung - mitten im Packen. In einigen Tagen wird auch er nicht mehr in dieser Zone sein. Leipzig, den 22. März 1950 Bei einer der letzten Unterredungen mit Dr. B[uchheim] zog ich einen Vergleich zwischen den Politikern des 19. und des 20. Jahrhunderts, der für deutsche Verhältnisse sehr zu Ungunsten des 20. Jahrhunderts ausfiel. Dr. B o c h heim] faßte das Urteil dahin zusammen, daß er den Politikern des 19. Jhs. eine höhere Bildung zuschrieb. Gewiß ist das ein entscheidender Punkt. Aber es ist noch mehr, was für das 19. Jh. spricht - vor allem aber für die Zeit der [18]40er Jahre: moralische Echtheit, geistige Stärke und ein starkes Selbstbewußtsein. Einer der Väter des Sozialismus konnte noch die stolzen Worte sprechen: «Mais ce qui gouverne mes pensees et commande ä ma parole, ce n'est pas votre conscience ou la leur: c'est la mienne» (Louis Blanc). 20

18 Zur Beschäftigung von Schulz mit Kierkegaard siehe Tagebucheintrag vom 31.12.1948, Anm.78. In der dort erwähnten Ausarbeitung findet sich im Zusammenhang mit der von Schulz oben wiedergegebenen Sentenz Kierkegaards folgende Ausführungen: „In Endlichkeit und Weltlichkeit aufwachsend, muss ihm [dem Menschen] erst der Widerspruch zu dem Ewigen aufgegangen sein, ehe er den Widerspruch seiner Bestimmung zu dem Augenblicklichen begrüßt. Er muss sich der Unbefriedigtheit der bloss im Zeitlichen erfolgenden Sättigung bewusst geworden sein. Das aber bedeutet das Bewusstsein seiner Schuld in der Weltlichkeit, das Bewusstsein der Sünde. Nur durch die Sünde hindurch kann der Mensch des Ewigen ansichtig werden." 19

Nicht ermittelt. Louis Blanc (1811-1882), französischer Sozialist und Gründer der Sozialdemokratie, Zitat veröffentlicht in: Histoire de la Revolution fran^aise, Paris 1858, S.39.

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Dieses Jh. begann mit den grandiosen Parolen - grandios in ihrer Echtheit: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit; und es endete im Zeichen [...] 21 , Wilhelms II. 22 und Nietzsches. Das 20. Jh. aber begann mit Jugendbewegung, Kolonialkriegen, Großindustrie - und schließlich dem I. Weltkrieg. Wie wird es enden? Daß es ohne eine radikale Wendung nicht abgeht - oder aber ein Chaos entsteht, scheint mir unzweifelhaft. Es bleibt eine ernsthafte Tatsache, daß gerade L[ouis] Blanc, der zu den Ahnen des historischen Materialismus gerechnet werden muß, das Wort sagte, daß „die wahre Geschichte unseres Jahrhunderts" die seiner Ideen sei. 23 Und da hat er wohl sein Jh. erkannt: Es war in hervorragendem Maße befähigt, Ideen zu haben und zu tragen - freilich bis zum geistigen Salto mortale von Nihilismus und schwach potenziertem Übermenschentum. Unserem Jahrhundert scheinen die Ideen zu versterben. Sie verkümmern oder wachsen ins Unmäßige - doch stets illusionär. Gewandt nur eines letztlich doch von anderen Bedingungen regierten Denkens, dem, das sich auf den politisch-ökonomischen Faktor Macht konzentriert hat. - Der auf den Kopf gestellte Übermensch soll herrschen in der Welt - nicht jenes absolute Genie im Sinne Nietzsches, sondern der hemmungslose, rücksichtslose Kenner der politisch-technischen Apparatur, kein Weiser, sondern ein Techniker, der dort, wo sein Wissen aufhört, noch über genügend Gewaltsamkeit verfügt, um sich durchzusetzen. Die Straßenbahn wird überholt von einem Lastwagen mit 14-, 15- bis 16jährigen, auf den Köpfen blaue Polizeimützen, schwere 98er Gewehre und Patronentaschen in den Händen. Die Gesichter sind bleich und zeugen von knapper Ernährung und Großstadtluft. Die Augen des einen blicken stumpf, die der anderen fanatisch und im deutlichen Bewußtsein, Macht ausüben zu können über Leben und Tod eines anderen Menschen. Die Leute in der Straßenbahn blicken verächtlich, machen bissige Witze oder bleiben teilnahmslos. Leipzig, den 23. März 1950 Die altgermanische Rechtsauffassung beruht auf der Anschauung der Rechtsordnung als Friedensordnung, Ausdruck der introvert[iert]en Gemeinschaft, die in ihrem Inneren jeden Störungsversuch umgehend eliminiert. Zu dem Bilde dieser Gemeinschaft gehört weiter die Verlagerung aller Dynamik auf die äußeren Beziehungen, d.h. Expansion. Das Stirb oder Werde des bedingungslosen Kampfes um das Dasein war das beherrschende Moment in den Beziehungen zu fremden Völkern.

21 22 23

Name nicht zu entziffern. Wilhelm II. (1859-1941), 1888-1918 Deutscher Kaiser und König von Preußen. Geschichte der 10 Jahre. Band 3. Zürich 1844, S.55.

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Im Gegensatz zu modernen Sozialerscheinungen läßt diese historische] Tatsache erkennen, daß die unausweichliche gesellschaftliche Veränderung entweder expansiv wirkt - im Falle einer in sich starken und gefestigten Gemeinschaft, oder aber sich innerhalb des sozialen Verbandes selbst abspielt, was auf Kosten der nach außen gerichteten Kräfte zu gehen pflegt. Die Folgerung aus dem ersten Extrem ist unaufhörlicher Kampf um Sieg und Leben - oder Untergang, aus dem zweiten dagegen fortschreitende Auflösung und Zerfall. Das Geheimnis starker politischer Mächte ist die Sicherheit ihrer inneren Ordnung. Die Frage, die sich stellt: Läßt sich bei Einschränkung der Expansion eine Möglichkeit denken, daß die Gesellschaft nicht der Auflösung entgegengeht? Theoretisch ja, nämlich in der Intensivierung, d. h. stärkerer Ausnutzung der wirtschaftlichen Substanz und in der Erhebung dieses Gedankens auch zum sozialen Prinzip. Doch das setzte voraus, daß ein derartiges Denken im umfassendsten Sinne Allgemeingut geworden wäre, oder - ein Zwangssystem in Perfektion. Das Wort „Autarkie" trifft den Kern des wirtschaftlich-politischen Problems der Gegenwart. In Zukunft werden nur die Völker existieren können, die über eine ausreichende wirschaftliche Basis innerhalb der aufgeteilten Welt verfügen - so oder so, als herrschende Völker in Großräumen - oder als abhängige Völker. Ausführen kann man nur, wenn man Abnehmer hat, einführen aber nur, wenn Ausfuhr möglich ist. Die Verfügung über die wirtschaftliche Basis ist das Maß politischer Macht. Unter dem Begriff „wirtschaftliche Basis" wären zu verstehen Rohstoffe, Arbeitskräfte und Erfindungsvermögen. Der Nationalismus alter Prägung muß von uns Deutschen begraben werden. Politisch werden wir hinfort abhängig sein. Und dennoch haben wir uns als Nation zu behaupten. Hierin liegt die eigentliche schwere Aufgabe unserer Zeit. Leipzig, den 24. März 1950 Der Gedanke der Tradition als der auf die Achse allen historischen Geschehens zurückgehenden Überlieferung ist der wichtigste, den ich aus den letzten Gesprächen mit Dr. B[uchheim] davongetragen habe. Revolution und ständig in der Geschichte vor sich gehende Umformung sind zu sehen als die Durchsetzung der Tradition in der jeweils neuen Wirklichkeit - ewige Katharsis im Sinne von Prophetie des Alten Testaments, gleichsam Ausdruck einer den ganzen Bereich des Geschichtlichen ausfüllenden ecclesia militans. Die Geschichtswissenschaft hat es dann im Kern mit Ideen zu tun, in denen sich das Eigentliche, das Wahre jeweils in der Wirklichkeit manifestiert. Und ihre Bedeutung liegt in der Übergabe der Ideen von Generation auf Generation. Sie stellt die Tradition her und macht das Wahre erkennbar. Auch dem Marxismus ist eine tiefe revolutionäre Prophetie zu eigen: dort wo er von der Emanzipation des Menschen spricht. Doch er hat auch eine an-

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dere Seite, die des Bruches mit aller Vergangenheit, um in die Zukunft allein zu leben. Seine Geschichtsgesetze lassen keine Tradition zu. Leipzig, den 26. März 1950 Die Geschichte vermag die Vermittlung von Kultur zu übernehmen. Indem sie Verbindungen von Gegenwart zu Vergangenheit und von Vergangenheit zu Gegenwart herstellt, in dem sie ordnet und vergleicht - ohne den Dingen Gewalt anzutun, was nicht erst gesagt werden mußte - , leistet sie das Unersetzliche, in der Orientierung über Zustand und Werden zu höherer Einsicht zu gelangen. Ihr Nutzen ist schlechthin unmeßbar. Es gibt grundsätzliche Unterschiede im Denken unserer Zeit. Ich möchte bürgerliche und proletarische Denkformen voneinander scheiden. Um rationalistisches Denken zu definieren: Es ist ein unentwegtes Hinführen auf ein Bezugssystem. Seine Grundform ist die Mathematik. Im Gegensatz hierzu steht jenes Denken (Ich habe Schwierigkeiten, dies auszudrücken, bin also auf dem rechten Wege) dem das Objekt im So-Sein Ausgang und Gesetz ist. Abstufungen und Vermischungen sind vielfältig. Wahrscheinlich sind die Extreme losgelöst voneinander gar nicht möglich. Schon der Ausdruck „Gegensatz" ist bedenklich. Die Schwierigkeit rationalen Denkens liegt darin, die Beziehungen zum System zu gewinnen, zugleich aber die gleichzeitig mit der neuen Beziehung sich einstellende Veränderung des Systems zu achten. Geschichtlich ist das Neue vor dem Alten, ist der Beginner eines Neuen. Geschichte ist ständiger Fluß, wer in ihm liegt als Handelnder, der muß ihn tragen können. Das verlangt die Ablösung von Gewesenem und die Schaffung von Neuem, den Beginn. Im Erleben, d.h. im bewußten Innensein in diesem Strom, den wir Geschichte nennen, reifte der Mensch heran, um im glücklichen und sich erfüllenden Dasein als „Unternehmer" Geschichte tragen zu können. Jede Schöpfung, die nicht verlorengeht, ist geschichtlich.

Leipzig, den 28. März 1950 Überall in der Geschichte nehmen wir wahr, daß Anteilnahme am Staat stets aktiv ist oder man zehrt von einer sich mindernden Substanz. Jedenfalls ist jede staatliche Neuschöpfung und jeder staatliche Aufbau dadurch gekennzeichnet, daß nur der politisch in hohem Maße Handlungsfähige, der sich an der Neuschöpfung zu beteiligen weiß, Anteil am Staatswesen - d. h. von einem späteren Standpunkt aus gesehen: Anteil an der Herrschaft gewinnt. Letztlich liegt politisches Schaffen darin, Macht so anzuwenden, daß sie einen bleibenden Status der Gesellschaft zu konstituieren vermag. Ausbildung eines bleibenden Status ist Kultur im politisch-rechtlichen Raum und sie ist Voraussetzung für die Entwicklung von Kultur weiterer

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Potenzen, alles Schöpfung einer in gewisser Weise geordneten, in statisch gewordenen Verhältnissen leistungsfähigen Gesellschaft, die - das liegt bereits im Begriff gesellschaftlicher Ordnung - einem bestimmten Herrschaftsprinzip unterliegt als dem Ordnung setzenden Moment. Revolution ist - von außen betrachtet - Umwälzung dieser Ordnung. Negierung der Statik. An ihre Stelle tritt die Dynamik, die - an sich nicht aufbauend - alle Kräfte in der Zerstörung von alter Gliederung und Ruhe vereinigen will. Sie schafft höchste Spannungen und höchste Bewegungen - als Lösungen dieser Spannungen. Schöpfung und Aufbau sind in weitestem Ausmaße gefährdet. Das ist die eigentliche Krisis, die Revolution erzeugt: Daß sie in Fremdheit zu Gewesenem alles Vergangene zu vernichten bereit ist und daß der Strom von Bewegung und Zerstörung schöpferische Kräfte hemmt oder gar in den Strudel der Verderbnis stürzt. Psychologisch gesehen - und Pestalozzi hatte im Grunde eine psychologische Sichtweise der Französischen Revolution - ist Revolution, wenn wir darunter im engeren Sinne Umwälzung mit Gewaltanwendung verstehen wollen, eine Katastrophe, ein Manko der Menschheit in ihrer Geschichte, ganz gleich, ob dieses Urteil zu Lasten der Revolutionäre oder der Revolutionierten (wohl manchmal: beider) fällt. - Und wehe ihr, wenn sie keinen neuen Schöpferkräften Freiheit zu geben vermag!

Perleberg, den 3. April 1950 Eine feuchtfröhliche und durchlärmte Nacht in Leipzig und zwei Tage in Berlin liegen hinter mir. Und nun sitze ich mit brummendem Schädel und leerem Gehirn, ständig müde wieder in diesem Nestchen - vor der Notwendigkeit, endlich Entscheidungen zu fällen. - Die Sonne scheint und unweigerlich wird es langsam Frühling. Eine kleine Statistik über meine bisherige Tagebuchführung ergibt verblüffende Unterschiede in den geistigen Leistungen der einzelnen Monate. Insgesamt läßt sich feststellen, daß Ruhe, aber auch gewisse, nicht übermäßige Abwechslung, vor allem aber ständige Anregungen in gelegentlichen Gesprächen und in Lektüre und anhaltende, doch unter keinerlei Zwang stehende Arbeit fördernd wirken. Entgegengesetzt äußere und innere Störungen, physisches und psychisches Unbehagen, so Krankheit, Enttäuschungen, Ärger, Mißerfolge und Entscheidungslosigkeit, aber auch strenge Arbeit unter zeitlichem Druck. Geist verlangt also zweierlei: Anreiz und Bewegungsfreiheit. Ich möchte fast meinen, hier eine Grundeinsicht der Kulturgeschichte gefunden zu haben. Bereits in frühester Kindheit war ich fest davon überzeugt, einmal etwas Besonderes zu sein und Ungewöhnliches tun zu müssen. Weniger, daß ich das Bewußtsein hatte, unter meinen Mitmenschen unbedingt eine Sonderstellung einnehmen zu müssen: darüber dachte ich kaum nach. Es war für mich einfach feststehende Tatsache, daß jeder Mensch etwas Besonderes, Einmaliges, etwas Neues zu verrichten habe, um nicht ein vertanes Leben gehabt zu haben.

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Von frühester Zeit meines Denkens an reduzierte sich so für mich das Problem der Unsterblichkeit auf das der historischen Tat, wobei zeitweise, keineswegs stets die Betonung auf ,;Ruhm" in der Geschichte lag. Und ich muß gestehen, daß ich auch heute nichts anderes zu denken vermag. - Freilich habe ich eine andere Auffassung von historischer Unsterblichkeit als die, die nur nach dem von Geschichtsschreibern registrierten Ruhm fragt. - Und wenn ich Angst und Unmut habe, so vor dem steilen Abgrund, in den mich ein verlorenes Leben hineinstürzen könnte, vor der Gefahr, keinen Platz in der Welt einnehmen und keine Aufgabe in Einmaligkeit erfüllen zu können. Das fürchte ich mit zunehmendem Alter als das Unglück. Derjenige hat wohl recht, der da sagt, daß man Glück nicht unmittelbar erwerben kann, sondern daß es bei zielbewußter Tätigkeit von selbst anfällt - wie Koks bei der Gaserzeugung.

Perleberg, den 4. April 1950 Ein Spaziergang nach Quittow, die schnurgerade Landstraße in Richtung Hamburg entlang, vorbei an frühjahrsdünstigen Feldern, sollte mich aus trüben Gedanken aufwecken. Und wirklich vermochte mich die Bewegung und Abwechslung wenigstens ein klein wenig froher zu stimmen. Es ist doch letztlich Wille und Erfahrung, was in der Welt schöpferisch ist. Doch wo der Wille zurückzutreten beginnt, gerät alles in langsame Erstarrung, bis hin zum völligen Zerfall. Erfahrungen vermag der Mensch günstigenfalls zu mehren und zu erhalten; doch der Wille ist Gnade, die ihn ergreift oder nicht. Gewiß er mag bisweilen schlummern und erweckt werden. Doch wer kennt das Gesetz? Perleberg, den 5. April 1950 Ich wage nicht zu bestreiten, daß eine klassenlose Gesellschaft ideales Bild sein mag. Doch wie könnte sie anders entstehen als im unentwegten Streben eines jeden einzelnen vorwärts und nach oben? Wo diesem Streben Abbruch getan wird, dort gibt es ein natürliches Recht auf Revolution auch unter Gewaltanwendung. Was die sogenannte Krise der Wissenschaft ausmacht, ist letztlich lediglich eine Krise der Wissenschaft betreibenden Menschen. Sie ergibt sich aus dem Dilemma, daß sein Denken nicht aus der schmalen ins Unendliche zielenden Bahn seines Faches hinauszugelangen und sich zur Reflexion über das eigene Selbst und seine Umwelt aufzuschwingen vermag. Was den Vertretern der älteren Generation noch recht verständlich ist, wird den Jungen mehr und mehr zur Fremdheit. Der Fachmann ist längst nicht nur drohendes Gespenst, sondern Wirklichkeit geworden - in der Intelligenz ebenso wie in der Industriearbeiterschaft. Und wo das Denken nicht mehr Kontrolle übt, dort erheben sich die dunklen Mächte des Chaos: Neben dem Fachmann stehen der Herrenmensch, das entfesselte Unterbewußtsein und die Herrschaft der Inferiorität.

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Bisweilen erstarrt das Denken oder es tendiert zur groben Typisierung oder gar Mechanisierung. Das ist der Ausweis des Bruches mit Wirklichkeit und Leben. Das Denken ähnelt dem Wachstum einer Pflanze, die der wärmenden Atmosphäre einer hegenden Umgebung bedarf, mit der sich eine Symbiose gewinnen läßt. Das, was dem Menschen unserer Zeit [...] 24 kritisch wird, Anlaß zur Empörung oder Verzweiflung gibt, ist das Bewußtsein, in einer Ordnung zu leben, leben zu müssen, an deren Gestaltung er nicht mehr autonom teilhaben kann. Sie ist gefestigt durch übergewaltige Mächte - und selbst die Revolte erheischt ihre Sanktion. So sieht er sich vor die Notwendigkeit gestellt, sich entweder dem Unvermeidlichen zu fügen und unempfindlich zu werden gegenüber jeglicher Heteronomie, sei es in bewußter oder scheinbarer Selbstaufgabe - oder aber jeweils im Dienste einer Macht im Gegeneinander den Ausweg zu sehen, der in dem fortgesetzten Abbau und Zerbröckeln von Mächten liegen kann.

Perleberg, den 9. April 1950 Ein trüber Ostersonntag! Diese Tage fordern zum letzten Male eine Entscheidung von mir. Die Situation ähnelt sehr stark der vor einem Jahr - ein Beweis dafür, daß wir alle noch nicht viel weiter sind - doch die Erwägungen sind wesentlich realistischer als damals. Glaubte ich mich bisher völlig ungebunden und nur mir selbst verantwortlich, so ist mir nunmehr bewußt geworden, daß ich in jedem Falle auch für meine Eltern Verantwortung trage; ihre Erwartungen und Hoffnungen auf meine Zukunft müssen für mich verpflichtende Bedeutung haben - sonst handle ich ihnen gegenüber ohne Verantwortung. „Verantwortung", welches Wort! Es beginnt fremd zu werden. - Seine Bedeutung: das Antwort-Geben im Verhalten auf eine bekannt gewordene Tatsache, die man weder überschätzen, noch unterschätzen darf, sondern die eingeordnet sein muß im Ganzen der eigenen Anschauung. Es hat eine durchgängige Bedeutung: nicht scheitern, sich einer Antwort nicht zu versagen. Nach germanischer Rechtsauffassung bedeutet „Recht" die allgemeine Richtung in der Ordnung. Verantwortung ist Kenntnis dieser Ordnung und Verpflichtung, für ihre Integrität einzutreten, zu achten, daß die Ordnung nicht verletzt werde. Wollen wir uns nicht einer rein metaphysischen Auffassung zuwenden, so bedeutet all dies, daß wir mit neuer Erfahrung neue Verantwortung übernehmen. Perleberg, den 11. April 1950 Ein Moment des Glaubens ist in allem Leben - ein Vertrauen in das Ganze des Augenblicklichen und der Geschichte. Wo sich Sinnlosigkeit und Lebens-

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Ein Wort nicht zu entziffern.

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Pessimismus bemerkbar machen, dort ist die Erkenntnis von der ewigen Irrung der Menschheit zerstörerisch geworden, dort liegt Verzweiflung um das ewige menschliche Fehlgehen; der Glaube ist vernichtet. - Glaube und Mut sind im engsten Zusammenhang miteinander. O h n e Glauben keinen Mut - wo kein Mut ist, dort ist kein Glaube. Beide Begriffe sagen in einem dasselbe aus, daß ungeachtet des in der Empirie Gegenwärtigen ein Gutes in der Zukunft liegt und erreichbar ist - oder daß im empirisch Erfahrenen Gutes transparent geworden ist. Glauben und Mut vermögen in Gegenwart und Z u k u n f t Gutes zu lesen. Unsere Welt ist vielfach verschlagen. Der Glaube hat sich vielfach auf einen zähen subjektiven Lebenswillen reduziert; ein Vertrauen in alles findet sich kaum. Ein tolles Delirium scheint die Menschheit der fortgeschrittenen Kultur heimzusuchen, da der dringende Mahnruf nach Vereinfachung, Intensivierung und ruhiger Sachlichkeit ausgestoßen wird. Es geht um das Wesentliche; und das ist immer das Ganze! Der Glaube ist Sache des einzelnen. Dort, wo übermächtige Gewalten sich ihm entgegenstellen, dort gibt es nur verzweifelten Kampf um Tod oder Leben. Es ist dies im G r u n d e jene Wahrheit, die sich in dem Satz ausspricht, daß man das Herz niemals mit Gewalt bezwingen kann - man kann es höchstens zerbrechen. Was die großen bleibenden Leistungen in der Geschichte charakterisiert, ist das Werk, daß der Glaube aus der Realität Kräfte gewinnt. Doch niemals sind diese Leistungen denkbar, ohne einen Raum zu freier Bewegung, in dem sich das Wachstum des Individuums vollziehen kann: der Machtgewinn, der Vertrauensakt. Es geht immer darum, diesen R a u m zu gewinnen und zu sichern. Seine Grenzen sind nicht dauernd konstant; sie müssen in ständiger Selbstbehauptung gefestigt werden. Worte sind Chiffren, hinter denen sich ein Erleben verbirgt, das in seiner Art einmalig ist. Sie können gar nicht restlos erfaßt, sondern nur annäherungsweise verstanden werden. Ein extremer Subjektivismus läßt jede Kommunikation zweifelhaft werden - das ist auch das Dilemma des Expressionismus. Dieser Gefahr kann nur entgangen werden, wenn die normalen Verfahren zugängliche Form gewonnen wird, wenn man zu Aussagen und Begriffen gelangt, die in ihrer Bündigkeit und Deutlichkeit in Kommunikation A u f n a h m e finden. Es geht also darum, an den zu denken, der angesprochen wird, ihn zu kennen. Vor jedem Gespräch muß bereits eine Verbindung vom Ich zum Du - auch wenn dieses Du ein Kollektiv ist - vorhanden sein. Die Extreme der mystischen Gegenstandsversenkung und - dem entgegengesetzt - der bloß phraseologischen, rein publikumsorientierten Objektbehandlung können kein Gespräch auf die D a u e r gedeihlich werden lassen. Was ist ein Genie? Wer sich ein gutes Herz bewahrt in allen Zeiten und ihnen in Realität dennoch gerecht zu werden vermag. Je stärker die Abhängigkeit des Menschen von der Natur, desto größer seine persönliche Ungebundenheit im geistig-rechtlichen Bereiche. - Um sich

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von den Bedingungen der Natur weitgehend unabhängig zu machen, bedarf es fester geistiger Bindungen. Perleberg, den 12. April 1950 Alle großen historischen Leistungen entstehen - nach Nikolai Hartmann 2 5 auf Grund eines sich-selbst-treu-Bleibens. - Für sich allein genommen könnte dieser Satz für eine rückhaltlose Huldigung eines einseitigen Konservatismus genommen werden. Aber das darf man nicht tun. Dieser Satz ist wahr, wenn man mit ihm noch etwas anderes Selbstverständliches meint: Daß dieses sichselbst-treu-Bleiben Vollzug in einer jeweiligen Wirklichkeit ist, das Auffinden eines neuen Gewandes ja in der Zeit. - Dann läßt sich noch weiter sagen: Geschichte verlangt jeweils Bewältigung der Wirklichkeit und in ihr das Offenbar-Werden des eigenen Selbst - des schöpferischen Kernes im Geschehen.

Leipzig, den 16. April 1950 Wieder zurück via Berlin. - Diese letzten Tage waren voller Aufregungen und wie immer, wenn man sich lange Zeit von Entscheidungen zurückhält, überstürzen sich fast die Dinge nach ihrem Vollzug. Es steht nun fest: Noch in dieser Woche werde ich endgültig Leipzig verlassen. Was kommen wird, ist längst nicht in allen Punkten gesichert; aber ich ziehe es vor, diesen Weg zu gehen, der zuletzt einen sichereren Erfolg bringen soll als jeder andere. Also: frisch gewagt zum neuen Frühling! Leipzig, den 23. April 1950 Heute geht es wieder nach Berlin. Ich durchlaufe einen langen Instanzenweg - wieder geht es nur um politische Begründungen, um aufgenommen zu werden. Alles ist noch ungewiß. Die letzten Wochen haben viel Aufregungen gebracht - statt der ersehnten Ruhe und Erholung. Ich bin recht kaputt. Berlin Mein vorläufiger Umzug ist vollzogen: Was zu entscheiden war, ist entschieden - alles andere liegt in der Zukunft Hände. In Leipzig war es meine letzte Pflicht, vor einer Regierungskommission zu erscheinen, die die politisch nicht eindeutig erkennbare Studentenschaft zu überprüfen hat. Daß mir vorwiegend politische Fragen vorgelegt werden würden, war mir von vornherein klar. Ich war bereit, mich offen an der linken

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Nicolai Hartmann (1882-1950), deutscher Philosoph. Professor an den Universitäten Marburg, Köln, Berlin und Göttingen.

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Grenze meiner Einsichten zu halten. Nichts lag mir ferner, als einen Bruch zu inszenieren. Mir gegenüber saßen zwei unscheinbare Herren mittleren Alters, einer in dunklem Anzug, klein, voll, mit verbindlichen Gesten, eine helle Hornbrille auf der Nase, der andere hager, in heller Jacke und Sporthemd, mit großem Parteiabzeichen der SED. Noch ehe ich saß, stellte der Dunkle fest, daß ich Lehrer werden wolle; er knüpfte die Frage an, was Fortschritt sei. U n d von hier aus wurde jener gesamte Fragenkomplex angeschnitten, der die Grenze von Politik und Geschichte kennzeichnet. Man zielte auf Antworten ab, die zweierlei rechtfertigen: 1. die innerhalb der Ostzone wirksamen politischen radikalen Tendenzen, 2. die Politik der Sowjetunion. Ich bemühte mich um gerechte Urteile in dem Sinne, daß ich sagte, was man immer und mit Gewißheit von unserer Zeit wird sagen können. Es lag keinerlei politische Entscheidung darin; darum suchte ich herumzukommen - aber ich glaube, das unabdingbare Recht zu haben, mich politisch zu entscheiden oder mich einer Entscheidung zu enthalten nach eigenem freien Willen und nach eigener Einsicht. Vor allem aber kann mir keine Behörde eine politische Entscheidung abverlangen. Wenn innerhalb der Universität auf Grundlage meines Studiums eine Prüfung mit mir veranstaltet wird, dann darf ich mich um fachlich-sachliche Antworten bemühen, darf das Für und Wider erwägen, soweit ich zu objektiven Urteilen in der Lage bin. Aber eben das wollte man nicht. Es ging ja um die Feststellung der politischen Einstellung des Prüflings, um das Erkennen seiner Zuverlässigkeit. Sobald der erste Fragende am Ende war, wartete der Nächste mit schwerem Geschütz: alles mit dem Ziel, auf klare, bündige Entscheidungsantworten hinzuzwingen, so daß am Ende ein klares Plus oder Minus stehen mußte. Im ganzen eine geforderte Feststellung der politischen Einstellung des einzelnen Studenten - von dem man so viel Vertrauen erwartet, daß er sich rückhaltlos offenbart. Das Endergebnis - wenn man meinen Antworten eines entgegenzuhalten beliebte, daß sie nicht in Einklang ständen mit der sowjetischen Praxis - , war eindeutig: Ich habe vor diesen Männern nicht bestanden. Man wollte Phraseologie ohne Verantwortung oder bornierten Fanatismus; da konnte ich nur nein sagen. - Damit werde ich weiter nach Berlin gedrängt. In der Ostzone wird jetzt kein Weizen für mich mehr blühen. U n d noch ein letztes Werk in Leipzig: Mit S. B. habe ich noch einen Artikel für die D U Z verfaßt - um Natoneks Schicksal. 26 Denn nun sind es bald zwei Jahre her, seitdem wir in Eisenach und auf der Wartburg beisammen waren. 2 7 Es wird Zeit, sich dieser Tage wieder zu entsinnen. Und ebenso soll deutlich werden, daß N[atonek] als Opfer der radikalen Linken gefallen ist, er, einer der Erfahrungen und Einsichten hatte und für den Ausgleich eintrat.

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In der Deutschen Universitätszeitung, 5. Jg. (Nr. 12) vom 23. Juni 1950, erschien ein Artikel unter der Überschrift „Wolfgang Natonek. Ein ehemaliger Leipziger Student berichtet." Als Verfasser wurde Ekkehard Mahner, stud, jur., Leipzig, genannt. 27 Eintrag vom 20.5.1948.

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Berlin, den 28. April 1950 Wenn ich jemals gemeint habe, Bürokratie zu kennen, so bin ich in der letzten Woche eines Besseren belehrt worden. Was ich in diesen Tagen - auch physisch - durchstehen mußte, kann lediglich mit Erlebnissen meiner Soldatenzeit Vergleiche aushalten. Nun bin ich Berliner Einwohner - genieße Asylrecht, und Student der Freien Universität - unter Vorbehalt, denn man entdeckt zuguterletzt noch ein kleines Manko meines Reifezeugnisses. (Die Genauigkeit kritischer Prüfung auch jeder zur Debatte stehenden Sache ist erstaunlich.) Wenn ich so glücklich sein sollte, bald ein Zimmer zu finden, kann ich wieder ein wenig an mich und meine Arbeit denken. Jetzt gibt es das kaum. Ich stehe auf in Hast; für den Rest des Tages bin ich erschöpft. - Zunächst tendiere ich stark nach der Opposition; denn im Gegensatz zu meinem bisherigen Milieu muß man sich hier um jede kleine Angelegenheit tausendfach selbst kümmern, stets auf der Hut davor, den Kürzeren zu ziehen. Gewiß, das hat seine guten Seiten und erzieht; doch man wird erst einmal wehrlos und anspruchslos und muß manches Tun ökonomischer gestalten. Womöglich gilt das auch für mein Tagebuchschreiben. Perleberg, den 29. April 1950 Ein jüngeres Wort Stalins soll lauten: „Der Kommunismus paßt auf das deutsche Volk wie der Sattel auf die Kuh". 28 - Das deutsche Volk ist in seiner Mehrheit für den kompromißlos klassenkämpferisch-revolutionären Kommunismus ungeeignet. Daran darf man nicht vorbeigehen. Es ist überhaupt die Frage, ob westliche Völker mit reicher sozialer Gliederung für die hemmungslose revolutionäre Aktivität zu gewinnen sind. Wo eine Diktatur droht, wehrt sich das politisch bewußte Volk. Wenn man erziehen will, dann muß man aber bedenken, daß jedes Individuum seine eigenen Wachstumsgesetze hat. Nie ist es unbedingt voraussagbar, was der einzelne aus einem objektiv Erfahrenen in der gedanklichen Bewältigung und in seinem Verhalten macht. - Und je stärker die Gestaltungsfähigkeit des einzelnen ist, desto mehr muß man ihn anerkennen. Perleberg, den l.Mai 1950 Der politische Gegensatz zwischen der nationalen Rechten und der sozialistischen Linken, der einen Höhepunkt bereits im Zerbrechen der deutschen Einheitsfront während des 1. Weltkrieges hatte, ist nichts anderes als der an der Nahtstelle von Innen- und Außenpolitik merkbare Ausdruck einer das

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Eine entsprechende Äußerung soll Stalin ebenso in Bezug auf Polen gemacht haben. Ein Nachweis für das Zitat wurde nicht ermittelt.

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ganze Volk aufspaltenden Bewußtseinstrennung. Die mehr zum leidenden Teil der die moderne von Industrialisierung, Technik, Expansion und Wirtschaftskriegen bestimmte Entwicklung ertragenden Volkes gerät in zunehmende Zweifel an der Berechtigung bestehender Ordnung. Man weiß nicht mehr recht um die Normen und das Wozu des Bestehenden. Die Revolte gegen das Alte ist die letzte konsequente Folge. D r o h e n d e Zerstörungen - die Last der Revolutionen - sind die Gefahr. Bis so im Übergang kontinuierlich ein Neues wächst und ein neues gemeinsames Bewußtsein entsteht, kann dieser Gefahr entgangen werden. Wir müssen die Wirklichkeit neu erfassen, unmittelbar, d.h. nicht gedanklich abstrakt, sondern als ganze Menschen, ich möchte sagen: existenziell.

Berlin, den 6. Mai 1950 Ich habe nun eine dauernde Unterkunft in Steglitz gefunden. Es ist ein nettes Zimmer, in dem ich wohne - so nett, daß ich es mit einem Kommilitonen teilen muß; sonst sind die Mieten hier unerschwinglich. Doch meine Wohngenossen scheinen ein gutes Auskommen zu gewährleisten. Doch jetzt bin ich furchtbar müde. Die Anstrengungen, die der bürokratische Instanzenweg bis zu diesem Tage von mir forderte, fordern ihr Recht. E h e ich mit intensiver Arbeit beginnen kann, bedarf es noch eines gehörigen Ausruhens. Um ganz Fuß zu fassen, muß ich allerdings noch warm werden. Vorerst ist in der neuen Umgebung mit neuen Menschen und mit vielfach neuen Gewohnheiten des Alltags noch ein starkes Gefühl der Fremdheit da.

Berlin, den 10. Mai 1950 Vor den Problemen der Wirklichkeit kann man nur verzweifeln oder unter Aufwendung aller Willenskräfte handeln, wenn man sich nicht treiben lassen will, was für den Mittellosen auf die Dauer auch nur in die Verzweiflung führen kann. Das Leben hier ist hart; und die Menschen hier sind auch hart. - Das härteste aber ist die Bürokratie. Seit Mitte April habe ich eine immer wieder neue Stationen aufweisende Kette von Ämtern durchlaufen müssen, in denen man zwar einigermaßen höflich, stets aber mit gleichbleibender Unpersönlichkeit und Engherzigkeit behandelt wird. Ein riesenhafter Apparat, der doch so unproduktiv ist, bewältigt eine Unmenge Arbeit, in der jeder einzelne Angestellte der Administration lediglich einen Handgriff leistet - ohne größeren Blickwinkel, nur nach Vorschriften handelnd, die vorhandenen Lücken aber mit eigenem, vielfach höchst subalternem Gutdünken ausfüllend. Kleinlich und genau wird an jeder Stelle gearbeitet - das scheint mir auch für den Studienbetrieb zu gelten. Weitgehende Dezentralisation und knappe Sprechzeiten in den Büros machen den Ämterbesuch zur Anstrengung und auf längere Zeit

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zur Qual, wenn der einzelne entdeckt, daß er ohnmächtig diesem Apparat gegenübersteht, denn Empörung würde völlige Schutzlosigkeit bedeuten und ließe keine legale Möglichkeit zum Leben. Die Eindrücke dieser ersten Wochen in Berlin werden mir wohl unvergeßlich bleiben. Wäre ich noch weicher gestimmt, so würde ich traurig werden. So aber bewirken sie von Anfang an eine starke Hinneigung zur Opposition. Sieht man dann die Oberflächlichkeit und einfältig-grobe Rückständigkeit einer in großen Teilen bornierten akademischen Jugend, so möchte man fast an den Nagel zum Sarg glauben; aber ich kenne ja auch die andere Seite, zu gut, als daß ich sie überschätzen möchte. Was ich nun genau weiß, ist, daß die Grenzen zwischen Ost und West längst nicht etwa die zwischen Gut und Böse sind. Das Unzureichende und Schlechte dürfte sich wohl die Waage halten. - Aber ich resigniere nicht; denn ich bin hergekommen ohne irgendwelche Illusionen. In der Ostzone ging es für mich nicht weiter. So mußte ich gehen. Die ersten Professoren, die ich an der Freien Universität kennenlernte: Prof. Behrmann 29 , der Geograph, ein kleiner älterer [Mann] mit autoritativen Gesten, doch stets verbindlich mit jenem Verlangen nach geistvoller Pointierung, die gerade bei Naturwissenschaftlern oft deplaziert wirkt. Prof. Leisegang 30 , der Philosoph von Ruf, gilt als bedeutendste Größe unserer Universität; und seine Haltung bezeugt das Wissen darum. Geschäftsmäßig, kurz und kühl, streng rationalistisch ist alles an ihm, - ein Generalstabschef des philosophischen Hauptquartiers dieser Universität. Seine Sprache allerdings ist die eines Ästheten, freilich eines nüchternen Ästheten. Sie findet klare, prägnante, vollendete Formen, denen er im Reden selbst ein wenig zu lauschen scheint, ohne dabei geschäftsmäßige Glätte und Eile aufzugeben. Daß er den Begriff der Denkform prägte, macht mir diesen Mann verehrungswürdig. Ein interessanter Vortragender ist Prof. Berges 31 , der Vertreter der mittelalterlichen Geschichte. Seine Gedanken sind anregend; sein Vortrag fesselnd, ja glänzend - wenngleich ein wenig zu virtuos. Nur die nervöse Haltung vermag fürs erste ein wenig zu stören. - Er ist ein verhältnismäßig junger Mann auf diesem Lehrstuhl, so etwa um die 40 herum. Und fast ein wenig jugendlich unbedacht, oder besser: aus dem Aktuellen heraus leichten Gewissens vorgefaßt erscheinen die Maßstäbe seiner Urteile. Ein starkes Wort findet sich zu gerne in seinen Sätzen. Doch ich bin gewiß, daß dieser Mann Anregungen von großer Wirksamkeit wird geben können.

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Walter Behrmann (1882-1955), 1948-1955 Professor für Geographie an der FU Berlin Hans Leisegang (1890-1951), Philosoph und Physiker. 1945-1948 Professor für Philosophie an der Universität Jena, danach bis 1951 an der FU Berlin. 31 Wilhelm Berges (1909-1978), 1949-1973 Professor für mittelalterliche Geschichte an der FU Berlin. 30

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Prof. Epstein 32 , Gast aus Amerika, ist ein eleganter und höflicher Mensch mit unzerstörbarem Lächeln, lebendig, freilich ein wenig schulmeisterlich in seiner Frageweise wie auch in der Art der Seminarleitung wirkend. Nun: Wir wollen weitersehen. Berlin, den 16. Mai 1950 Ich habe schwer zu kämpfen. Das neue Berliner Milieu verlangt viel Neues von mir und läßt sich nicht von allem Anfang an ertragen. Bisher bin ich kaum zum Arbeiten gekommen. Viele Fehler, die eben zum Anfang gehören, gesteigerte Anforderungen in den Kleinigkeiten des täglichen Rüstzeuges, vor allem aber die Folgen der starken physischen Anstrengungen in den letzten Wochen haben bisher jedes gründliche Tun unmöglich gemacht. Abends gehe ich todmüde und ohne Tageserfolge, die nennenswert wären, zu Bett, um morgens in aller Frühe mich aufwecken zu lassen. In aller Eile gehen Anziehen, Waschen und Essen vor sich, um dann rechtzeitig zur ersten Vorlesung zu sein. Manchmal gehe ich über eine halbe Stunde zu Fuß, um das Fahrgeld zu sparen. Geld vom Magistrat habe ich immer noch nicht. 33 Aber ich lebe überaus sparsam mit dem, was ich mir geliehen habe. Und im übrigen habe ich viel zu viel andere Dinge im Kopf, um auch noch hier Sorgen zu entwickeln. Abends bin ich zu müde, um Gedanken zu spinnen. Vorgestern war Papa wieder einmal in Berlin. Ein Blick genügte ihm, um mir mit bedenklich-trüber Miene eine große Handvoll Ermahnungen und Wünsche hierzulassen. - Doch damit ist ja nichts getan. Berlin, den 17. Mai 1950 Ich bin rücksichtsloser Asket geworden in diesen Wochen, rücksichtslos gegen andere und gegen mich. Da ist ein Mädchen, vor dessen Augen ich einfach eine steinerne Maske aufsetze. Sie bittet immer mehr - und mit so guten Augen; doch ich bleibe standhaft, stupide, erbärmlich stupide. - Nun, da es vorbei ist, reut es mich sehr, zumal morgen Himmelfahrt ist, ein Tag, an dem ich durchgehend zu arbeiten gedenke. Das Mädchen tut mir leid, und ich tue mir auch leid. Nun bin ich traurig. In der Universität hängen Zettel der studentischen Selbstverwaltung. Danach soll sich jeder Student, der sich für Pfingsten zu einem Sicherheitsdienst - gegen den Aufmarsch der FDJ - innerhalb Westberlins zur Verfügung stellt, listenmäßig erfassen lassen. - Ein Beschluß der studentischen Selbstverwaltung liegt dieser Anordnung nicht zugrunde. - Ich habe schon viel Befremden darob gesehen. 32

Fritz T. Epstein (1898-1979), amerikanischer Historiker. Näheres nicht ermittelt. Eine Anfrage beim Landesarchiv Berlin wurde nicht beantwortet. 33

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Berlin, den 21. Mai 1950 All die bis ins Krankhafte gesteigerten Erscheinungen vergangener Jahre begegnen mir wieder. - Man diskutiert und man diskutiert; man diskutiert sich tot, bis jeder Gedanke als abgestanden und schal erscheint. Leipzig, den 24. Mai 1950 Pfingstferien unter neuen Voraussetzungen: Gestern abend unbehindert Ankunft in L[eipzig] - Alles fand ich gut, Aufnahme, Ruhe, Vorbereitung. Ich bin hier in Ferienstimmung und fühle mich außerordentlich wohl. Die meisten Fachkollegen haben andere Gedanken als ich zur neuen und neuesten Geschichte. Woran liegt das? - Ich werde gewahr, daß die wenigsten von ihnen bereit [sind], unter Ausschaltung erst einmal der jüngeren Schichten in der Vergangenheit, das Älteste und bereits in der Erinnerung der Menschheit am stärksten Reduzierte und auf Wesentliches Zusammengedrängte zu erkennen. Man muß meines Erachtens erst einmal die neuere Geschichte an die Wand stellen und tief in die Vergangenheit hineinspringen, um sich ihr von hinten erneut zu nähern. Nur wenn man so verfährt, sichert man sich die nötige Kälte und Zurückhaltung im Ansehen des Geschehenen, die Unbestechlichkeit im Denken und Urteilen über Vergangenheit. Die Ergebnisse werden sicherlich notgedrungen andere sein als jene, die aus einem naiven Gegenwartserleben, das erst sekundär zum geschichtlichen Denken gelangt, heraus entstehen. Leipzig, den 26. Mai 1950 K. 34 ist Landtagsabgeordneter geworden. Er hat Aussicht, in Zukunft Vorsitzender des Volksbildungsausschusses zu sein. Offenbar erfreut er sich erheblicher Protektion. Es gibt also doch Möglichkeiten! - Aber das Ergebnis bleibt abzuwarten: 1. Wird er sich durchsetzen? - 2. Wird er sich halten? - Ich folge mit Interesse. Heute seit langer Zeit wieder einmal im Kino „Der Rat der Götter" 35 , einer der üblichen Propagandafilme unserer augenblicklichen Produktion. Was mir wieder einmal das Bemerkenswerteste erscheint: Unter Verzicht auf Genauigkeiten, Feinheiten und auch häufig die nötige Logik sucht man den anspruchslosen Teil des Publikums anzusprechen u. mehr gefühls- als verstandesmäßig zu fassen. Dabei ist alles Cliche ohne den letzten Willen zur Wahrhaftigkeit. Wie alles hier: Man beabsichtigt einzig u. allein, die Massen zu aktivieren, wo sie nie angetroffen werden, unter Ausnutzung der in ihrer unveränderten

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Gemeint ist Hermann Kastner, der Landesvorsitzende der LDP in Sachsen. „Der Rat der Götter" war eine DEFA-Produktion von 1950, Regie führte Kurt Maetzig. 35

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Situation vorhandenen Dynamik. Es geht letztlich gar nicht um Aufklärung, sondern allein um den Aufruf zu bestimmter Handlung. Perleberg, den 30. Mai 1950 Pfingsten in der ruhigen und engen Kleinstadt. Ein Film hebt gerade in dieser Umgebung die neuen „Errungenschaften" westlichen großstädtischen Lebens voller Genuß, Erregung, Reize, Frivolität, Leichtsinn und Oberflächlichkeit um so schmerzlicher ins Bewußtsein. Es ekelt mich an, dieser ewige, schmutzige Appell an Instinkte und morbide niedrige Sinnlichkeit, die längst am ernsthaften Leben verzweifelt ist. Voller Empörung denke ich an diese Widersinnigkeiten - voller Empörung um so mehr, als man in schwachen Minuten seiner selbst nie so völlig sicher ist, daß man nicht auch unter dem Hohnlachen der Üblen einen Augenblick abstürzt in den Sumpf. Ich wollte den Versuch machen, meine langen Aufzeichnungen vom vorigen Monat (12. IV) in eine geschlossene und bündige Form zu bringen. Doch ich habe erkannt, daß diese Arbeit viel zu umfangreich und zu zeitraubend wäre, als daß ich sie jetzt leisten könnte. Ich muß derartiges weit hinausschieben. Vorläufig muß ich mich noch mit vieler Kleinarbeit abgeben, ehe ich mir einen umfassenden Blick gestatten darf. Damit habe ich unter dem Eindruck meiner ersten Berliner Wochen bereits eine Entscheidung für solides Einzelwissen vollzogen. Etwas droht dabei freilich vorerst zu kurz zu kommen: das Bedürfnis, festen Boden und das Band einer umfassenden Einheit zu finden. Aber ich kann ja nach all dem, was ich nun sah, noch gar nicht daran denken, mit anderen Menschen zu sprechen, sondern muß mich selbst erst einmal zurechtfinden und behaupten. Es ist noch gar nicht der Zeitpunkt zum Reden gekommen. Dies muß später sein. Es scheint mir, daß ich selbst dem Fehler verfallen bin, der bei anderen so leicht meine Kritik hervorruft, die eigene Person viel zu wichtig zu nehmen. Wir müssen ja viel mehr dienen können, der Wirklichkeit und der Wahrheit. Das erfordert große Beschränkung und vor allem viel Zucht. Doch ich habe eine Entschuldigung für mich ins Feld zu führen: die ständige Bedrückung durch die Frage, warum ich gerade Geschichtswissenschaft betreibe und welche Zwecke ich mit ihr erfüllen kann. Es ist vornehmlich die Frage, ob in all den Nöten und Erschütterungen unserer Zeit auch nur blitzhaft einmal die Frage nach dem Vergangenen aufgetaucht und hierauf eine Antwort erteilt worden ist, die Hilfe und Rat sein konnte. Ich möchte hierauf ein pessimistisches Nein setzen. Wir können wohl nur aus Not und Elend herausfinden, indem wir in blinder Weise unsere Kräfte sammeln. Erst die weitere Reaktion - so die erste Behauptung Erfolge brachte - kann vernunftbedingt und planvoll sein. Was die Geschichtswissenschaft vermag, ist zweierlei. Sie kann den Blick für die Wirklichkeit der Zusammenhänge schärfen; und sie kann an großen Erscheinungen Ideale bilden.

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Fragt man mich nach meinem Ideal, so muß ich gestehen, daß es einen Zug von Lenin hat: die klare, rationalistische Erfassung gesellschaftlicher Kräfte und ihre fast mathematisch berechnete Ausnutzung zu politischen Zwecken. Hier schließt sich das bedenkenvolle Betrachten einer Gesellschaft an, in der wilde Kräfte gegeneinanderwirken, wo starke politische Gestaltung nicht mehr denkbar erscheint. Was als unbedingtes Postulat unserer Zeit gelten muß, ist, neue Gemeinschaft zu finden in einem allgemein anerkannten Konsensus. Diesen Konsensus sehe ich in einem unvoreingenommenen wissenschaftlichen Leben, das die Wärme der Menschlichkeit nicht aufsaugt, aber unerbittlich nach Einsichten und Genauigkeit strebt. Mit einem Wort: Im eigenen Leben müssen wir den leistungsfähigsten und zugleich doch menschlichsten Typ des Wissenschaftlers entwickeln, in ihm das Bildungsideal der neuen Zeit sehend, zu dem möglichst breite Pfade hinführen sollen. Dieser Gedanke darf und muß anknüpfen an das von Marx ausgesprochene Wort von der Emanzipation des Menschen durch die Wissenschaft. Berlin, den 2. Juni 1950 Gerade [diejenigen], die sich nicht einer starken Konstitution erfreuen, finden zuerst und am beharrlichsten Gedanken der Kritik und des inneren Vorbehaltes, gar bis hin zu müder Resignation oder empörter Opposition gegen all das, was ihnen als Brauch und Selbstverständlichkeit begegnet. Es mag sein, daß ihnen ihr Leben, eingeengt und zusammengedrängt, auch in seinen geringsten Erscheinungen wertvoller ist als jene das ihre einschätzen, die aus dem Vollen geben und nehmen können - ohne Bedenken und ohne Furcht. Und weil ihnen das Leben kostbar ist in jeder Minute, so können sie keinen Augenblick verstreichen lassen, ohne ihn auf seine Tiefe zu prüfen. Und sie entdecken allerorten Ohnmacht und Nichtigkeit. Die Stärksten unter ihnen sind jene, die zu Rittern der Aktivität werden, der Aktivität gegen das Seiende im Alltag Angetroffene - die Heroen der Opposition auf Tod und Leben. Schauen wir Karl Marx an. Was war er: Ein glänzender und gründlicher Intellekt, der sich keine Grenzen setzen mochte, den es nach Herrschaft drängte über seine Welt. Um religiös zu werden, sich einem Jenseits zu opfern, war sein Herrschaftsstreben viel zu sehr am Konkret-materiellen orientiert. Als Ästhet hätte er sich gewiß einen gebietenden und ruhigen Platz in der Gesellschaft sichern können - doch eben das Ästhetische lag ihm wenig; er hatte dafür kein Organ. Und darum schon ging er in die Opposition. Er hätte natürlich auch als Erfinder, Techniker, Kaufmann oder Unternehmer vowärtskommen können; doch er war eben Literat und philosophisch geschult, ohnmächtig in den anderen Bereichen. Als denkender Mensch in einer für ihn in Bitterkeit erlebten Wirklichkeit wollte er Macht gewinnen, in einer Wirklichkeit, die für ihn ökonomisch unbezwingbar war - alles in allem ihm Opposition in gründlichster Weise schlechthin als einzige Möglichkeit ließ.

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Mein ganzes bisheriges Studium habe ich nahezu ausschließlich nach dem Gesichtspunkt betrieben, für mich etwas zu erfahren, was mir hilft, mit diesem Leben fertig zu werden. Und nun sehe ich die Gefahr vor Augen, in der Berufswelt mit ihren von meinem Willen unabhängigen Bedingungen Schwierigkeiten zu haben. Wenn ich mich ihr zu fügen versuche, heißt es für mich, das wenige bisher von mir Erworbene nicht aufzugeben. Wahrhaftig, es ist ein harter Widerstreit zwischen dem Bemühen, ein eigenes Leben zu bauen und dem, in der Welt - so wie sie ist - vorwärts zu kommen und Geltung zu erlangen. Entweder - oder - sonst scheint es kein Leben zu geben. Die Welt, in der ich seit meines Weggangs aus Leipzig stehe, ist für mich voraussichtlich problematischer als es meine alte Umgebung war. Dort gab es nur immer zwei Möglichkeiten, entweder davor zu kapitulieren, was man von vornherein nicht anerkennen mochte, oder sich ohne Kapitulation zu behaupten. Nun aber segle ich ohne den Halt einer Leitstange in unbegrenzte Gefilde hinaus, ja in ein Chaos.

Abkürzungen Anm. a. ο. BA Bd. Bü. ca. CDU (D) d.h. DDR DEFA Dr. DUZ f. ff. FAZ Frl. FU GPU

Anmerkung außerordentlicher Bundesarchiv Band Büschel circa Christlich-Demokratische Union (Deutschlands) das heißt Deutsche Demokratische Republik Deutsche Film AG Doktor Deutsche Universitätszeitung folgende Seite zwei folgende Seiten Frankfurter Allgemeine Zeitung Fräulein Freie Universität Glawnoje Politischeskoje Uprawlenije (sowjetische Geheimpolizei) GUZ Göttinger Universitätszeitung hrsg./Hrsg. herausgegeben / Herausgeber i. Br. im Breisgau Jahrgang Jg· Kommunistische Partei Deutschlands KPD Kreis Krs. Konzentrationslager KZ LDP (D)/L.D.P. (D.) Liberaldemokratische Partei Deutschlands Nachlass N. Nationalsozialisten Nazis Nummer Nr. Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei NSDAP ordentlicher o. Parteigenosse (der NSDAP) Pg Professor Prof. Reichsmark RM Seite S. Sowjetisch Besetzte Zone SBZ Sozialistische Einheitspartei Deutschlands SED Sowjetische Militäradministration in (Deutschland) SMA(D) Sozialdemokratische Partei Deutschlands SPD Sommersemester SS

266 Τ. Η. TU UdSSR USA ν. Chr. VfZ WS

Abkürzungsverzeichnis

Technische Hochschule Technische Universität Union der sozialistischen Sowjetrepubliken United States of America vor Christus Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte Wintersemester

Personenregister

Ackermann, Anton 182 Adenauer, Konrad 219 Ardrey, Robert 115 Ballenstedt, Uta von 211 Barlach, Ernst 41 Baumgarten, Arthur 175 Becher, Johannes 29 Beethoven, Ludwig van 110,131,244 Behrmann, Walter 258 Berges, Wilhelm 258 Bevin, Ernest 165 Bismarck-Schönhausen, Otto von 32 Blanc, Louis 246f. Bracher, Karl Dietrich 8,10 Brecht, Bert 17,177,198, 238 Buber, Martin 225 Buchheim, Karl 142, 206, 223, 240, 246, 248 Buchwitz, Otto 235 Carolsfeld, Julius Schnorr von Cornu, Auguste 209 Clemenceau, Georges 217

73

Dacque, Edgar 17,107f„ 114,119 Darwin, Charles 107 Dietze, Johann 26, 31, 35, 42, 49, 58 Dirks, Walter 236 Draht, Martin 178 Dschugaschwili, Joseph siehe Stalin Dvorsak, Elise, geb. Schulz (Großmutter von G.Schulz) 109,113,218f. Dvorsak, Johann (Großvater von G. Schulz) 77,162,219 Eggerath, Werner 157, 176f. Eichler, Ernst 184 Ekkehard II., Markgraf von Meißen 211 Engels, Friedrich 32 f., 183,209 Epstein, Fritz T. 259 Erhard, Ludwig 141 Fichte, Johann Gottlieb 127 Fläming (Schulrat) 25,32 f., 38f., 45,53 Freud, Sigmund 115 Friedrich, Caspar David 73

Friedrich II., König in bzw. von Preußen 32 Friedrich, Johannes 188 Friedrich Wilhelm I., König in Preußen 32 Fritzsche, Hans 61 Gadamer, Hans-Georg 129 Gasset, Jose Orzega y 199 Gehrig, Hans 73 Goerdeler, Carl Friedrich 63 Goethe, Johann Wolfgang von 118, 159, 209,225, 241 f. Gottwald, Klement 146 Grimmer, Horst 155 Groschopp, Egon 16, 131, 133, 138, 143, 197,199,203f., 207,210, 226,240 Grotewohl, Otto 221 Hamann, Richard 176 Hartmann, Nikolai 254 Haydn, Joseph 112 Häntzsche, Hellmuth 90,95,103,133,147 Hebbel, Friedrich 233 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 48 Henselmann, Herrmann 176 Herzfeld, Hans 8 Hesse, Hermann 152 Heuss, Theodor 219 Hitler, Adolf 16,56,63,76 Hund, Friedrich 156 Hübener, Erhard 163 Jacobi, Erwin 166 f. Janentzki, Christian 74f„ 98 Jaspers, Karl 17,129,139,150 Johnson, Hewlett 179 Kafka, Gustav 75, 96 Karl V., Kaiser des Heiligen Römischen Reiches 104 Kastner, Herrmann 260 Kierkegaard, Sören 17,193, 225,228,246 Kindscher-Tränckner, Frieda 112f., 129f.. 144,178f.. 232 Kläuer (LDP-Mitglied) 43, 56f., 60, 65, 89 Klemperer, Viktor 29 Knaus, Albrecht 241 Koch, Johann Anton 73

268

Personenregister

Kogon, Eugen 236 Kohlmey, Günther 175 Kokoschka, Oskar 41 Kollwitz, Käthe 41,176 Kucynski, Jürgen 127 Kühn, Herbert 72,76f„ 82,95,99,104,185 Kühn, Johannes l l l f . , 203f., 206,227 Lambertz, Maximilian 76,82,94 Langendorf, Luise 40, 72, 76, 82, 99, 112, 115,129f„ 179,239 Langhoff, Wolfgang 175 Le Bon, Gustav 17,52 Leisegang, Hans 258 Lenin 33,262 Liebermann, Max 41 Liebknecht, Karl 33 Lincoln, Abraham 139 Litt, Theodor 99,121 Löwenthal, Richard 17,170,182 Lukäcs, Georg 228 Luxemburg, Rosa 33 Maetzig, Kurt 260 Mann, Heinrich 36,141 Mann, Thomas 36,141 Marc, Franz 41 Markow, Walter 210 Marx, Karl 17, 32,113, 149,169,183, 200, 209,262 Mayer, Georg 185 Mayer, Hans 238 f. Mehring, Franz 17,183 Meinecke, Friedrich 215, 225 Mitscherlich, Alexander 80 Mozart, Wolfgang Amadeus 244 Müller, Friedrich von 241 Naroditkij, Abram 95 Natonek, Wolfgang 156 f., 179,182,186ff., 209, 255 Nietzsche, Friedrich 32,121,247 Noack, Ulrich 217 Obst, Erich

83

Papen, Franz von 61 Pareto, Vilfredo 113 Pechel, Rudolf 89 Pechstein, Max 41 Pestalozzi, Johann Heinrich Pieck, Wilhelm 221 Planck, Max 141

94,250

Piaton 71,88 Popitz, Cornelia 8 Puschkin, Alexander Sergejewitsch

95

Ranke, Leopold von 242 Reingruber, Hans 221 Rice, Robert P. 69 Richter, Johann Caspar 118 Rilke, Rainer Maria 225 Ritter, Gerhard 159 Richter, Ludwig 73 Riemann, Robert 100 Rousseau, Jean-Jaques 142 Sartre, Jean-Paul 152,181 Sauer, Wolfgang 10 Schacht, Hjalmar 61 Scheler, Max 123 Schiller, Friedrich 74f., 109f. Schleiermacher, Friedrich 191 Schneider, Reinhold 104 Schopenhauer, Arthur 32 Schulz, Ernst Albert Curt (Vater von G. Schulz) 13f., 22f., 31, 33, 35, 60, 63, 77, 93, 106f., 113, 117f„ 122f., 125, 127, 138, 188,192,201 f., 214,229,233,259 Schulz, Johanna Elise (Mutter von G. Schulz) 23, 60, 63, 66, 93, 106-109, 113, 117f., 122f., 125,138,192,202f., 218,223, 227,233 Scribe, Eugene 122 Schumacher, Kurt 50 Sering, Paul, siehe Löwenthal, Richard Shaw, George Bernard 78 Sibelius, Jean 244 Slominskij, Aleksandr 95 Sokolowskj, Wassilij 164 Sokrates 88 Sophokles 71 Speer, Albert 16,50 Spengler, Oswald 87,113 Spinoza, Baruch de 240,243 Spranger, Eduard 83,120 Stadelmann, Rudolf 156 Stalin 22,33,182,230,256 Staudte, Wolfgang 68 Stein, Heinrich Friedrich Karl von und zum 97 Stein, Lorenz von 17,166,168 Stoltzenberg, Wilhelm von 196,221 Suhr, Otto 178 Tacitus

11

269

Personenregister Talleyrand-Perigord, Charles-Maurice 64

de

Uschner (SED-Dozent)

46f., 100

Thukydides 11 Tito 182 Tränckner, Christian 144 Trinks, Karl 66,68,70f., 73f., 99 Truman, Harry S. 186

Wagner, Richard 156 Weber, Alfred 80 Weigel, Helene 198 Wiechert, Ernst 48 Wilhelm II., Deutscher Kaiser Wolf, Christa 29

Ulrich (Oberstudienrat)

Zweig, Arnold

55 f.

29

247