Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg [75]


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Table of contents :
Walter Haas, Die Lochgefängnisse unter dem alten Rathaus als Rest
des Heilsbronner Brothauses in Nürnberg ................................... 1
Gerhard S e i b o 1 d, Die Seldner ........................................................... 31
Hermann Harrassowitz, Das historische Konzert vom 31. Mai
1643 61
Das Nürnberger Friedensmahl am 25. September 1649 ......................... 77
I. Christian Klemm, Joachim Sandrarts Gemälde.................... 77
II. Hermann Harrassowitz, Die Festmusik .........................83
Gottfried Frenzei, Zwei monumentale Nürnberger Fensterschöpfungen
des Amalisten und Glasmalers Jacob Sprüngli aus Zürich . 91
Franz Willax, Bürgerausschuß und Feuergehorsam im Nürnberg des
17. und 18. Jahrhunderts.....................................................................109
Rudolf End res, Nürnberg im 18. Jahrhundert....................................... 133
Gerhard Hirschmann, Der Nürnberger Unternehmer Julius Tafel
und sein Eisenwalzwerk.....................................................................155
Knud Willenberg, Bausteine zu einer Geschichte der Jugendstil-
Architektur in Nürnberg .....................................................................173
Rudolf Bing, Mein Leben in Deutschland nach dem 30. Januar 1933 . 189
Udo Winkel, Die Akten der amerikanischen Militärregierung in
Nürnberg zwischen 1945 und 1949 Miszellen
Fredo Bachmann, Zur Deutung des Kupferstiches „Die Hexe“ (B. 67)
von Albrecht Dürer ..........................................................................223
Martin Nadler, Die Ausgrabung 1986 im Burgamtmannsgebäude der
Nürnberger Burg ...............................................................................227
Buchbesprechungen (siehe nächste Seite) ................................................. 241
Neue Arbeiten zur Nürnberger Geschichte ............................................287
Jahresbericht über das 110. Vereinsjahr 1987 291
V
BUCHBESPRECHUNGEN
Werner Schultheiß, Kleine Geschichte Nürnbergs, 2. Aufl., Nürnberg 1987. (KunoUlshöfer).................................................................................................................
.........241
Wilhelm Schwemmer, Nürnberg, ein Führer durch die Altstadt, 9. u. 10. Aufl., Nürnberg
1986 u. 1988. - Erich Mulzer, Stadtführer Nürnberg, 3. Aufl., Freiburg 1986.
— Baedekers Nürnberg, Freiburg 1986. — Wolfgang Kootz / Willi Sauer / Ulrich
Strauch, Nürnberg Stadtführer, 2. Aufl., Heidelberg 1987. (Kuno Ulshöfer) . . 241
Dieter Wuttke, Nuremberg. Focal point of German culture and history, Bamberg 1987.
(Kuno Ulshöfer) ............................................................................................................. 242
Elisabeth Sch raut, Stifterinnen und Künstlerinnen im mittelalterlichen Nürnberg, Nürnberg
1987. (Irmtraud Frfr. v. Andrian-Werburg)............................................................ 243
Die Handschriften der Stadtbibliothek Nürnberg, Bd. 2, T. 2. Bibelhandschriften und
Liturgica einschließlich der griechischen Texte. Bearb. von Ingeborg Neske, Wiesbaden
1987. (Hans-Otto Keunecke)................................................................................244
Gerhard Hirschmann / Eberhard Krauß / Helmut Wiedl, Der Drei-Königs-Altar
(Muffel-Altar) in der St. Peterskapelle in Nürnberg, Nürnberg 1988. (Ursula
Schmidt-Fölkersamb) ....................................................................................................245
Dieter Wuttke, Humanismus als integrative Kraft, Nürnberg 1985. (Klaus Arnold) . . 246
Walter Herppich, Das unterirdische Nürnberg, Nürnberg 1987. (Helmut Häußler) . 246
Klaus Gerteis, Die deutschen Städte in der Frühen Neuzeit, Darmstadt 1986. (Peter
Fleischmann) .................................................................................................................. 248
Reichsstädte in Franken. Hrsg. Rainer A. Müller, München 1987. (Leopold Auer). . . 249
Heinrich Richard Schmidt, Reichsstädte, Reich und Reformation, Stuttgart 1986. (Irmgard
Höß) ....................................................................................................................... 250
Jan Bialostocki, Dürer and his critics 1500—1971, Baden-Baden 1986. (Matthias
Mende) ............................................................................................................................ 255
Steven Ozment, Magdalena and Balthasar, New York 1986. (Anthony Jenkins) . . . 257
Penelope Gouk, The ivory sundials of Nuremberg 1500—1700, Cambridge 1988. (Gerhard
Hirschmann)............................................................................................................. 258
Hermann Harrassowitz, Geschichte der Kirchenmusik an St. Lorenz in Nürnberg,
2. Aufl., Nürnberg 1987. (Franz Krautwurst)................................................................. 259
Johann Siebmachers Wappenbuch von 1605. Hrsg. Horst App uh n, Dortmund 1988.
(Eugen Schöler) ............................................................................................................. 263
Edith Luther, Johann Friedrich Frauenholz (1758 — 1822), Nürnberg 1988. (Matthias
Mende) ............................................................................................................................ 264
Bier in Nürnberg-Fürth. Hrsg. Christian Koch / Hans-Christian Täubrich. (Günther
Friedrich) ....................................................................................................................... 265
Jan Hus und die Hussiten in europäischen Aspekten, Trier 1987. — Inge Kiesshauer: Emil
Ottokar Weller, Leipzig 1987. (Gerhard Hirschmann).................................................. 266
100 Jahre Bau-Innung Nürnberg 1887—1987, Nürnberg 1987. (Gerhart Honig) . . . 268
Otto Kraus - ein „IG Metaller“ der ersten Stunde. Bearb. von Peter Alheit und Jörg
Wollenberg, Fischerhude 1987. (Udo Winkel)............................................................269
VI
Eric G. Reiche, The development of the SA in Nürnberg, 1922—1934, Cambridge 1986.
(Manfred Vasold).................................................................................................................. 270
Nürnberg-Bibliographie 1981-1985. Bearb. von Günther Thomann und Julia Güttes,
Nürnberg 1988. (Dieter Schug) ................................................................................................272
Glaubensflüchtlinge und Glaubensfremde in Franken. Hrsg. Hartmut Heller / Gerhard
Schröttel, Würzburg 1987. (Werner Wilhelm Schnabel)....................................................273
Archäologische Funde und Ausgrabungen in Mittelfranken = Jahrbuch des Historischen
Vereins für Mittelfranken 93 (1986/87), Ansbach 1988. (Klaus Dornisch) .... 274
Denkmäler in Bayern, Band V/Mittelfranken, München 1986. (Ernst Eichhorn) . . . 276
Jahreslauf. Brauchtum in Mittelfranken. Alfred Kriegeistein (Hrsg.), Bad Windsheim
1986. (Walter Lehnert) .................................................................................................................277
Gerhard Rechter, Die Seckendorff, Bd. 1: Stammfamilie mit den Linien Jochsberg und
Rinhofen, Neustadt a. d. Aisch 1987. (Uwe Müller)..........................................................278
P. Alfons Sprinkart, Kanzlei, Rat und Urkundenwesen der Pfalzgrafen bei Rhein und
Herzoge von Bayern von 1294—1314 (1317), Köln 1986. (Christoph Frhr. v. Brandenstein)
.................................................................................................................................279
Josef A. Weiss, Die Integration der Gemeinden in den modernen bayerischen Staat,
München 1986. (Peter Fleischmann)...........................................................................................280
Max Liedtke, Wie alt ist der Bayerische Lehrer- und Lehrerinnenverein?, München
1987. (Dieter Rossmeissl) ...........................................................................................................281
Herbert Li edel / Helmut Dollhopf, Endstation - Auf den Spuren stillgelegter Eisenbahnstrecken,
Nürnberg 1987. (Robert Fritzsch) ...............................................................283
Geschichte Bayerns im Industriezeitalter in Texten und Bildern. Hrsg, von Bernward
Den ecke, Stuttgart 1987. (Franz Sonnenberger) .............................................................. 284
Jahrbuch für fränkische Landesforschung, Bd. 47, Neustadt/Aisch 1987. (Michael Diefenbacher)
.................................................................................................................................285
Manfred Baibach, Nürnberg — Unvergängliche Altstadt, Starnberg 1988. (Michael
Diefenbacher).......................................................................................................................286
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Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg

75. Band 1988

Nürnberg 1988 Selbstverlag des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg

Schriftleitung: Dr. Gerhard Hirschmann und Dr. Kuno Ulshöfer in Verbindung mit Dr. Michael Diefenbacher und Dr. Peter Fleischmann Für Form und Inhalt der Aufsätze und Rezensionen sind die Verfasser verantwortlich

Für Druckkostenzuschüsse dankt der Verein der Stadt Nürnberg, dem Bezirk Mittelfranken, und der Stadtsparkasse Nürnberg

Gesamtherstellung: Verlagsdruckerei Schmidt GmbH, Neustadt/Aisch Alle Rechte, auch des Abdrucks im Auszug, Vorbehalten. Copyright by Verein für Geschichte der Stadt Nürnberg (Geschäftsstelle: Egidienplatz 23, 85 Nürnberg 1) ISSN 0083-5579

INHALT Walter Haas, Die Lochgefängnisse unter dem alten Rathaus als Rest des Heilsbronner Brothauses in Nürnberg ................................... Gerhard S e i b o 1 d, Die Seldner

1

........................................................... 31

Hermann Harrassowitz, Das historische Konzert vom 31. Mai 1643

61

Das Nürnberger Friedensmahl am 25. September 1649 ......................... 77 I. Christian Klemm, Joachim Sandrarts Gemälde.................... 77 II. Hermann Harrassowitz, Die Festmusik .........................83 Gottfried Frenzei, Zwei monumentale Nürnberger Fensterschöp­ fungen des Amalisten und Glasmalers Jacob Sprüngli aus Zürich .

91

Franz Willax, Bürgerausschuß und Feuergehorsam im Nürnberg des 17. und 18. Jahrhunderts.....................................................................109 Rudolf End res, Nürnberg im 18. Jahrhundert....................................... 133 Gerhard Hirschmann, Der Nürnberger Unternehmer Julius Tafel und sein Eisenwalzwerk.....................................................................155 Knud Willenberg, Bausteine zu einer Geschichte der JugendstilArchitektur in Nürnberg .....................................................................173 Rudolf Bing, Mein Leben in Deutschland nach dem 30. Januar 1933

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189

Udo Winkel, Die Akten der amerikanischen Militärregierung in Nürnberg zwischen 1945 und 1949 Miszellen

Fredo Bachmann, Zur Deutung des Kupferstiches „Die Hexe“ (B. 67) von Albrecht Dürer ..........................................................................223 Martin Nadler, Die Ausgrabung 1986 im Burgamtmannsgebäude der Nürnberger Burg ...............................................................................227 Buchbesprechungen (siehe nächste Seite) Neue Arbeiten zur Nürnberger Geschichte

................................................. 241 ............................................287

Jahresbericht über das 110. Vereinsjahr 1987

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BUCHBESPRECHUNGEN Werner Schultheiß, Kleine Geschichte Nürnbergs, 2. Aufl., Nürnberg 1987. (KunoUlshöfer)...........................................................................................................................241 Wilhelm Schwemmer, Nürnberg, ein Führer durch die Altstadt, 9. u. 10. Aufl., Nürn­ berg 1986 u. 1988. - Erich Mulzer, Stadtführer Nürnberg, 3. Aufl., Freiburg 1986. — Baedekers Nürnberg, Freiburg 1986. — Wolfgang Kootz / Willi Sauer / Ulrich Strauch, Nürnberg Stadtführer, 2. Aufl., Heidelberg 1987. (Kuno Ulshöfer) . .

241

Dieter Wuttke, Nuremberg. Focal point of German culture and history, Bamberg 1987. (Kuno Ulshöfer) ............................................................................................................. 242 Elisabeth Sch raut, Stifterinnen und Künstlerinnen im mittelalterlichen Nürnberg, Nürn­ berg 1987. (Irmtraud Frfr. v. Andrian-Werburg)............................................................ 243 Die Handschriften der Stadtbibliothek Nürnberg, Bd. 2, T. 2. Bibelhandschriften und Liturgica einschließlich der griechischen Texte. Bearb. von Ingeborg Neske, Wies­ baden 1987. (Hans-Otto Keunecke)................................................................................ 244 Gerhard Hirschmann / Eberhard Krauß / Helmut Wiedl, Der Drei-Königs-Altar (Muffel-Altar) in der St. Peterskapelle in Nürnberg, Nürnberg 1988. (Ursula Schmidt-Fölkersamb) ....................................................................................................245 Dieter Wuttke, Humanismus als integrative Kraft, Nürnberg 1985. (Klaus Arnold)

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Walter Herppich, Das unterirdische Nürnberg, Nürnberg 1987. (Helmut Häußler)

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Klaus Gerteis, Die deutschen Städte in der Frühen Neuzeit, Darmstadt 1986. (Peter Fleischmann) .................................................................................................................. 248 Reichsstädte in Franken. Hrsg. Rainer A. Müller, München 1987. (Leopold Auer). . . 249 Heinrich Richard Schmidt, Reichsstädte, Reich und Reformation, Stuttgart 1986. (Irm­ gard Höß) ....................................................................................................................... 250 Jan Bialostocki, Dürer and his critics 1500—1971, Baden-Baden 1986. (Matthias Mende) ............................................................................................................................ 255 Steven Ozment, Magdalena and Balthasar, New York 1986. (Anthony Jenkins)

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257

Penelope Gouk, The ivory sundials of Nuremberg 1500—1700, Cambridge 1988. (Ger­ hard Hirschmann)............................................................................................................. 258 Hermann Harrassowitz, Geschichte der Kirchenmusik an St. Lorenz in Nürnberg, 2. Aufl., Nürnberg 1987. (Franz Krautwurst)................................................................. 259 Johann Siebmachers Wappenbuch von 1605. Hrsg. Horst App uh n, Dortmund 1988. (Eugen Schöler) ............................................................................................................. 263 Edith Luther, Johann Friedrich Frauenholz (1758 — 1822), Nürnberg 1988. (Matthias Mende) ............................................................................................................................ 264 Bier in Nürnberg-Fürth. Hrsg. Christian Koch / Hans-Christian Täubrich. (Günther Friedrich) ....................................................................................................................... 265 Jan Hus und die Hussiten in europäischen Aspekten, Trier 1987. — Inge Kiesshauer: Emil Ottokar Weller, Leipzig 1987. (Gerhard Hirschmann).................................................. 266 100 Jahre Bau-Innung Nürnberg 1887—1987, Nürnberg 1987. (Gerhart Honig) . . . 268 Otto Kraus - ein „IG Metaller“ der ersten Stunde. Bearb. von Peter Alheit und Jörg Wollenberg, Fischerhude 1987. (Udo Winkel)............................................................ 269

VI

Eric G. Reiche, The development of the SA in Nürnberg, 1922—1934, Cambridge 1986.

(Manfred Vasold).................................................................................................................. 270 Nürnberg-Bibliographie 1981-1985. Bearb. von Günther Thomann und Julia Güttes, Nürnberg 1988. (Dieter Schug) ................................................................................................272 Glaubensflüchtlinge und Glaubensfremde in Franken. Hrsg. Hartmut Heller / Gerhard Schröttel, Würzburg 1987. (Werner Wilhelm Schnabel)....................................................273

Archäologische Funde und Ausgrabungen in Mittelfranken = Jahrbuch des Historischen Vereins für Mittelfranken 93 (1986/87), Ansbach 1988. (Klaus Dornisch) ....

274

Denkmäler in Bayern, Band V/Mittelfranken, München 1986. (Ernst Eichhorn)

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Jahreslauf. Brauchtum in Mittelfranken. Alfred Kriegeistein (Hrsg.), Bad Windsheim 1986. (Walter Lehnert)

.................................................................................................................277

Gerhard Rechter, Die Seckendorff, Bd. 1: Stammfamilie mit den Linien Jochsberg und Rinhofen, Neustadt a. d. Aisch 1987. (Uwe Müller)..........................................................278

P. Alfons Sprinkart, Kanzlei, Rat und Urkundenwesen der Pfalzgrafen bei Rhein und Herzoge von Bayern von 1294—1314 (1317), Köln 1986. (Christoph Frhr. v. Bran­ denstein) ..................................................................................................................................279 Josef A. Weiss, Die Integration der Gemeinden in den modernen bayerischen Staat, München 1986. (Peter Fleischmann)...........................................................................................280

Max Liedtke, Wie alt ist der Bayerische Lehrer- und Lehrerinnenverein?, München 1987. (Dieter Rossmeissl)

........................................................................................................... 281

Herbert Li edel / Helmut Dollhopf, Endstation - Auf den Spuren stillgelegter Eisen­ bahnstrecken, Nürnberg 1987. (Robert Fritzsch) ............................................................... 283 Geschichte Bayerns im Industriezeitalter in Texten und Bildern. Hrsg, von Bernward Den ecke, Stuttgart 1987. (Franz Sonnenberger)

.............................................................. 284

Jahrbuch für fränkische Landesforschung, Bd. 47, Neustadt/Aisch 1987. (Michael Diefen-

bacher)

..................................................................................................................................285

Manfred Baibach, Nürnberg — Unvergängliche Altstadt, Starnberg 1988. (Michael Diefenbacher)........................................................................................................................286

VII

VERZEICHNIS DER MITARBEITER Andrian-Werburg, Irmtraud, Frfr. v., Dr., Archivdirektorin, Thomas-MannStraße 43, 85000 Nürnberg 50 Arnold, Klaus, Dr., Univ.-Prof., Bahnhofstraße 16, 2077 Trittau Auer, Leopold, Dr., Archivoberrat, Haus-, Hof- und Staatsarchiv, Minoritenplatz 1, A-1010 Wien Bachmann, Fredo, Dr., Am Stadtpark 95, 8500 Nürnberg 10 Bing, Rudolf, ehemals Rechtsanwalt in Nürnberg (gest. Jerusalem 1963) Brandenstein, Christoph, Frhr. v., Dr., Oberarchivrat, Effnerstr. 19, 8500 Nürnberg30 Diefenbacher, Michael, Dr., Archivoberrat, Ringstraße 17, 8807 Heilsbronn Dornisch, Klaus-Dieter, Dr., Archäologe, Danziger Straße 25, 8500 Nürnberg 20 Endres, Rudolf, Dr., Univ.-Prof., An den Hornwiesen 10, 8520 Erlangen-Buckenhof Fleischmann, Peter, Dr., Archivrat z. A., Arminiusstraße 7, 8500 Nürnberg 1 Frenzei, Gottfried, Dr., Kunsthistoriker, Holzstatt 4, 8500 Nürnberg 50 Friedrich, Günther, Archivinspektor, Grolandstraße 24, 8500 Nürnberg 10 Fritzsch, Robert, Dr., Ltd. Bibliotheksdirektor, Parkstraße 62, 8501 Schwaig Gebhardt, Walter, Bibliotheksoberinspektor, Drausnickstraße 8, 8520 Erlangen Haas, Walter, Prof., Dr.-Ing., Techn. Hochschule, Petersenstraße 15, 6100 Darmstadt Häußler, Helmut, Dr., wissenschaftl. Angestellter, Franz-Reichel-Ring 19, 8500 Nürnberg 50 Harrassowitz, Hermann, Kirchenmusikdir., Hohenlohestraße 24, 8500 Nürnberg 20 Hirschmann, Gerhard, Dr., Ltd. Archivdirektor a. D., Gerngrosstraße 26, 8500 Nürnberg 10 Höß, Irmgard, Dr., Univ.-Prof., Balthasar-Neumann-Straße 76, 8500 Nürnberg 30 Honig, Gerhart, Dr., stellv. Hauptgeschäftsf., Lohhofer Str. 21, 8500 Nürnberg 60 Jenkins, Anthony, Schulleiter, Äußere Sulzbacher Str. 145, 8500 Nürnberg 20 Keunecke, Hans-Otto, Dr., Bibliotheksoberrat, Dr.-Rühl-Straße 7, 8521 Effeltrich Klemm, Christian, Dr., Kunsthaus Zürich, Heimplatz 1, CH-8024 Zürich Krautwurst, Franz, Dr., Univ.-Prof., Im Herrengarten 18, 8520 Erlangen-Buckenhof Men de, Matthias, Kunsthistoriker, Westtorgraben 9, 8500 Nürnberg 80 Müller, Uwe, Dr., Stadtarchivar, Nikolaus-Hofmann-Str. 1, 8720 Schweinfurt Nadler, Martin, wissenschaftl. Angestellter, Bayer. Landesamt für Denkmalpflege, Außenstelle Bamberg, Schloß Seehof, 8608 Memmelsdorf Rossmeissl, Dieter, Dr., Oberstudienrat, Harrlacher Straße 2, 8500 Nürnberg 60 Schmidt-Fölkersamb, Ursula, Archivoberrätin, Nerzstraße 2, 8500 Nürnberg 40 Schnabel, Werner Wilhelm, cand. phil., Lahmannstraße 3, 8500 Nürnberg 90 Schöler, Eugen, Studiendirektor, Schmauserstraße 5, 8540 Schwabach Schug, Dieter, Dr., Bibliotheksdirektor, Meisenweg 52, 8520 Erlangen Seibold, Gerhard, Dr., An den Hecken 39, 7180 Crailsheim Sonnenberger, Franz, Dr., Historiker, Roritzerstraße 9, 8500 Nürnberg 90 Ulshöfer, Kuno, Dr., Ltd. Archivdirektor, Untere Wörthstraße 10, 8500 Nürnberg 1 Vasold, Manfred, Dr., Historiker, Jarezöd-Straße 15a, 8201 Großkarolinenfeld Willax, Franz, Oberbaurat, Rollnerstraße 46, 8500 Nürnberg 10 Willenberg, Knud, Dr., Oberstudienrat, Heimstättenstraße 30, 8500 Nürnberg 10 Winkel, Udo, Dr., Sozialwissenschaftler, Kleinreuther Weg 16, 8500 Nürnberg 10

VIII

DIE LOCHGEFÄNGNISSE UNTER DEM ALTEN RATHAUS ALS REST DES HEILSBRONNER BROTHAUSES IN NÜRNBERG Von Walter Haas in Zusammenarbeit mit Angehörigen des Instytut Historii Architektury i Sztuki der Politechnika Warszawska und des Fachgebiets Baugeschichte der Technischen Hochschule Darmstadt1 1332 hat die Stadt Nürnberg vom Zisterzienserkloster Heilsbronn das Bau­ recht auf einem Grundstück am Salzmarkt erworben, das auf drei Seiten von öffentlichem Straßenraum begrenzt war und auf der vierten an das Anwesen des Hermann Eysvogel anschloß2. Sie errichtete dort das Rathaus, das nach chronikaler Überlieferung 1340 fertig war3. Es ist zum Kern des Rathauskom­ plexes geworden, der sich bald auf die nördlich anschließenden Anwesen aus­ dehnte und schon am Ende des Mittelalters fast den ganzen Baublock bis zur heutigen Theresienstraße einnahm. Das Vorhaben von 1616, das Ganze in einem einheitlichen Neubau zusammenzufassen, wurde nur teilweise durchge­ führt. Die Fassade des Neubaus ist damals so weit nach Süden gezogen worden, daß sie auch den gotischen Saalbau einbezieht. Nach 1900 griff das Rathaus mit Erweiterungsbauten nach Osten über die Rathausgasse und nach Norden über die Theresienstraße hinüber. Erst nach 1945 wurde auch der süd­ lich anschließende Baublock bis zum Hauptmarkt durch einen Erweiterungs­ bau einbezogen. Den gotischen Kernbau hat nur ein Teil der vielen Veränderungen des Rat­ hauses betroffen. Außer der Westfront, die der Fassade von 1616/22 weichen mußte, ist seine ursprüngliche Bausubstanz bis zur Zerstörung 1945 erhalten geblieben. Diesem Bau lag ein für das 14. Jahrhundert typisches Raumprogramm zugrunde. Das ganze Erdgeschoß diente dem Handel und war dazu in einzelne Läden unterteilt, die sämtlich direkt von außen zugänglich waren. Das Ober­ geschoß wurde von einem einzigen Raum eingenommen, dem Großen Saal, der nur über eine Außentreppe in der Mitte der Nordseite zugänglich war. Zwei Nebenräume waren in Anbauten, ebenfalls auf der Nordseite, unter­ gebracht und vom Saal aus zu betreten: am Westende die „Losungsstube“, also 1 Beteiligt waren aus Warschau: Doc. Dr. Przemyslaw Gartkiewicz, Dr.-Ing. Robert Kunkel, Doc. Dr. Jaroslaw Widawski, aus Darmstadt: Dipl.-Ing. Lutz Beckmann, cand. arch. Thomas Dreesen, Prof. Dr.-Ing. Walter Haas, Dipl.-Ing. Hans-Georg Lippert, cand. arch. Klaus Tragbar, cand. arch. Anna-Barbara Tschira. 2 Text der Urkunden bei E. Mummenhoff, Das Rathaus in Nürnberg, Nürnberg 1891, S. 245 ff. 3 M. Mende, Das alte Nürnberger Rathaus, Bd. 1, Nürnberg 1979, nennt in Anm. 40, S. 103, zwei inhaltlich übereinstimmende Quellen. S. auch Mummenhoff a. a. O. (Anm. 2) S. 304, Anm. 15

1

Walter Haas

das Stadtsteueramt, und am Ostende die Ratsstube. Der Durchgang auf der Nordseite, von dem aus die eine Ladenreihe zugänglich war, lief unter den beiden Nebenräumen und unter der Außentreppe durch. Ein Saal, ein Büro und ein Besprechungszimmer, das waren offenbar die Räume, die in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts für die Verwaltung einer Stadt benötigt wurden, die sich damals eben anschickte, zur „Großstadt“ auf­ zusteigen. Das Untergeschoß, das die ganze Fläche unter dem ebenerdigen Laden­ geschoß einnimmt, diente als Gefängnis. Da die Rathäuser im Mittelalter in aller Regel auch Gerichtsort waren, ist die Anordnung von Haftzellen in diesen Gebäuden nichts Ungewöhnliches. Ungewöhnlich aber ist die Größe der Anlage in Nürnberg, die heute noch 21 Räume umfaßt, von denen 15 als Gefängniszellen eingerichtet sind oder waren4. Diesem Gefängniskeller unter dem gotischen Rathaus galt die Bauunter­ suchung, die 1984 mit einer gemeinsamen Kampagne der beiden Institute begann und in den folgenden Jahren zur Klärung ergänzender Fragen mit kür­ zeren Nachuntersuchungen fortgesetzt wurde5. Vorausgegangen waren For­ schungen im Großen Rathaussaal, die 1981 beim Beginn des Innenausbaues6 in städtischem Auftrag von der TH Darmstadt unternommen wurden7. Dabei waren die Merkwürdigkeiten der „Lochgefängnisse“ wieder ins Blickfeld geraten, die eigentlich längst bekannt waren8, bisher aber kaum Beachtung und gar keine befriedigende Erklärung gefunden hatten: Aus dem schon 1891 publizierten Querschnitt9 ist deutlich zu ersehen — und auch bei jedem Besuch der Lochgefängnisse fällt auf —, daß der Erschließungsgang, von dem aus die nördliche Zellenreihe zugänglich ist, nicht innerhalb des Gebäudes liegt, son­ dern außerhalb unter dem Hof (Plan 1). Durch die fast 1,5 m starke Außenmauer führt zu jeder einzelnen Zelle eine schmale Türe (Abb. 1). Schon 1935 war bei Umbauarbeiten10 festgestellt worden, daß sie durch teilweises Vermauern von breiteren Rundbogentüren 4 Beim Wiederaufbau 1956 mußte die Holzauskleidung von 3 Zellen herausgerissen werden, weil sie vom Hausschwamm befallen war. 5 Über den Gang der Untersuchung informiert: W. Haas, Forschungen am gotischen Teil des Nürnberger Rathauses. In: J. Cramer (Hrsg.), Bauforschung und Denkmalpflege, Stuttgart 1987, S. 90-95. 6 1956 war der Baukörper wiederhergestellt worden. Der Saal blieb dann aber noch bis 1981 im Rohbauzustand. 7 Die Ergebnisse sind publiziert: W. Haas, Neue Forschungen am Alten Rathaus in Nürnberg. In: Jahrbuch der Bayer. Denkmalpflege 35 für 1981, München 1983, S. 49—82. 8 M. Mende 1979 a. a. O. (Anm. 3) weist S. 28 auf die Wiederverwendung von Fundamenten und Kellerräumen des Heilsbronner Hofes hin. 9 Mummenhoff a. a. O. (Anm. 2), nach S. 218. 10 Um einen Führungsrundgang zu ermöglichen, wurden durch einen Mauerdurchbruch im Osten und einen zusätzlichen Gang im Westen neue Wege geschaffen.

2

MVGN 75 (1988)

Plan 1:

Die Lochgefängnisse als Heilsbronner Brothaus

Nürnberg, Altes Rathaus: Querschnitt durch den gotischen Bau mit dem außerhalb des Baues unter dem Hof liegenden Erschließungsgang des Untergeschosses. Ausschnitt aus der 1891 bei Mummenhoff publizierten Zeichnung von Steinlein.

3

Walter Haas

entstanden waren. Zwei von ihnen, deren Quadergewände gut erhalten sind, wurden damals im äußeren Teil durch Herausbrechen der Vermauerung wieder auf die volle Breite geöffnet und die bis dahin überputzten Gewände freigelegt (Abb. 2). Zwischen dem Erschließungsgang und der Außenmauer liegt eine 1,7 m tiefe Zwischenzone, in der sich eine Folge segmentbogiger Tonnengewölbe vor die Außenmauer legt. Sie ruhen auf Mauerzungen auf, von denen einige aber sicht­ lich erst nachträglich unter Steinbalken gesetzt worden sind, die einerseits in der Außenmauer stecken, andererseits aber auf achtkantigen Steinpfosten auf­ ruhen (Abb. 3). Offensichtlich ist das keine Architektur, die für den Gefängniskeller gebaut wurde, sondern ein für diesen Zweck adaptierter Baubestand. Insbesondere die Steinpfosten und -balken und die Gewölbe, die sie tragen, geben als Teil eines Untergeschosses keinerlei Sinn. Sie werden aber sofort verständlich, wenn man sie als Erdgeschoß-Architektur sieht. Wir haben uns dann eine Reihe von ebenerdigen Räumen vorzustellen, von denen jeder direkt von außen betreten werden konnte, und denen eine Art durch­ gehendes Vordach vorgelegt war. Fragt man, welchem Zweck diese Räume gedient haben können, so fällt zwangsläufig die Ähnlichkeit mit dem Grundriß des Rat­ haus-Erdgeschosses auf, wie er im 14. Jahrhundert angelegt war und noch über die Zerstörung von 1943 hinaus bestand. Da waren es, wie schon erwähnt, Läden. Ist es denkbar, daß auch im Stockwerk darunter Läden gewesen sein könnten? Das Grundstück, auf dem das Rathaus errichtet wurde, war auch vorher schon bebaut, und zwar hatte das Kloster Heilsbronn dort ein „Brothaus“11. Vor dem Beginn der Bauuntersuchung war aus dem ablesbaren Baubestand folgende Arbeitshypothese entwickelt worden12: Das Gelände habe bis ins 14. Jahrhundert um mehr als 3 m tiefer gelegen und sei erst beim Bau des goti­ schen Rathauses auf das heutige Niveau aufgefüllt worden. Das Heilsbronner Brothaus sei ein Kaufhaus gewesen, das in der Art eines Bazars in einzelne Ladenzellen aufgeteilt war. Als ab 1332 das Rathaus an der Stelle des Brot­ hauses errichtet wurde, sei ein Teil seines Erdgeschosses, das durch die Auf­ höhung des Geländes zum Untergeschoß abgesunken war, erhalten geblieben und als Gefängnis genutzt worden. Offen war, ob über die nach Norden geöffnete Ladenzeile hinaus weitere Teile des Brothauses stehengeblieben sind, wo die Grenzen zwischen dem Baubestand des Brothauses und dem des Rathauses liegen, und aus welcher Zeit das Brothaus stammte. Diese Fragen bildeten 1984 das erste Arbeitsprogramm für die Bauunter­ suchung in den Lochgefängnissen. 11 Die Kaufurkunden von 1332 machen darüber keine Angaben, doch ist diese Bestimmung des Vorgängerbaues auf anderem Wege überliefert (Haas 1983 a. a. O. (Anm. 7) S. 75 u. Anm. 48a). 12 Haas 1983 a. a. O. (Anm. 7), S. 76 ff.

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Die Lochgefängnisse als Heilsbronner Brothaus

Befunde zum Vorgänger der Lochgefängnisse

Die genannten Befunde auf der Nordseite sind dort am deutlichsten an den fünf westlichen Zellen ausgeprägt. Von diesen unterscheiden sich die zehn Zellen der Südreihe und die zwei im Osten wesentlich. Sie sind kleiner, haben keine gestreckte, sondern mehr eine dem Quadrat angenäherte Grundrißpro­ portion und sind durch rechteckige Türöffnungen direkt von einem Gang aus zugänglich, der im Südost-Winkel zu einem mehr als zellengroßen Raum aus­ geweitet ist (Plan 2). Dieser, nur 0,95 bis 1,1 m breite Gang, der auf der Innenseite der südlichen und östlichen Umfassungsmauer entlang führt, wird von sehr unterschied­ lichen Mauern begrenzt (Abb. 4 und 5). Die Innenmauer mit den Zellentüren besteht aus regelmäßigen und gut erhaltenen Sandsteinquadern mit Zangen­ löchern; die Außenmauer ist auf der Gangseite viel unregelmäßiger und zeigt rauhe Steinoberflächen. Die entsprechend derbe Verfügung macht es schwer, das Fugennetz und damit die Steinschichtung abzulesen. Offensichtlich durch­ gehende Quaderschichten gibt es nur an der Südseite des Eckraumes. Zangen­ löcher sind nirgends zu erkennen, auch nicht an der Stelle, an der die Quader­ oberflächen am besten erhalten sind, nämlich bei der Einmündung des Süd­ ganges in den Eckraum. Hier ist zuverlässig kontrollierbar, daß wirklich keine vorhanden waren und sie nicht etwa nur in den schlecht erhaltenen Flächen unkenntlich geworden sind (Abb. 6). Seit 1956 besteht an diesen Mauern eine für ein Untergeschoß recht unge­ wöhnliche Situation: Nicht nur die dem Keller zugewandte Innenseite, son­ dern auch die Außenseite liegt bis zum Kellerniveau frei. Wegen der Feuchtig­ keitsschäden an der Ruine ist nämlich beim Wiederaufbau an den Mauern ent­ lang unter dem Gehsteig ein Lüftungsgraben angelegt worden, der durch einige vergitterte Öffnungen von oben belüftet und belichtet wird und vom Keller aus durch einen Mauerdurchbruch zugänglich ist. Der schmale Gang erlaubt zwar keinen Überblick, doch liegt der größte Teil der Mauerflächen frei. Der ruppigen Innenseite steht eine saubere und glatte Außenseite gegen­ über, die gut gearbeitetes und regelmäßig versetztes Sandsteinquaderwerk zeigt. Darin fällt ein ziemlich gleichmäßiger Wechsel zwischen Mauerstreifen auf, die durch senkrecht durchgehende Fugen voneinander getrennt sind und sich in der Schichtung und durch verschiedene Oberflächen unterscheiden (Abb. 7). Dieser Wechsel ist an der Ostseite und am größeren Teil der Südseite zu beobachten, nicht aber an deren östlichem Abschnitt, an dem innen die un­ unterbrochen durchlaufenden Quaderschichten zu erkennen sind. Der Befund läßt nur eine Deutung zu: Süd- und Ostmauer waren von einer ganzen Reihe von Zugängen durchbrochen, die später mit Quaderwerk zuge­ setzt worden sind. Beide Mauern sind somit nicht für ein Untergeschoß, son­ dern für ein Erdgeschoß gebaut worden. Die These, das Terrain sei um eine 5

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Die Lochgefängnisse als Heilsbronner Brothaus

Stockwerkshöhe aufgeschüttet worden, und das auf das alte, tiefere Niveau bezogene Erdgeschoß sei stehengeblieben und zum Untergeschoß abgesunken, konnte also bestätigt werden. Sie gilt nicht nur für die Nordseite, sondern für alle Teile der Lochgefängnisse, die unter dem Großen Rathaussaal liegen. Zur Klärung dieses Befundes waren zunächst zwei der ehemaligen Zugänge durch Offnen der Fugen zwischen Mauerpfeiler und Vermauerung untersucht worden. Dabei konnten an je einer Stelle die Laibungstiefe und die Höhe des Bogenansatzes festgestellt werden. Bei der Nachuntersuchung 1985 wurde eine der Türen durch Herausnehmen der Vermauerung so weit geöffnet, wie es die Überwölbung des Ganges auf der Innenseite erlaubte. Da dieses Gewölbe erst nach dem Vermauern der Zugänge eingefügt ist, liegt es auch auf der Füllung auf, die deshalb an der Untersuchungsstelle nicht ganz herausgenommen werden konnte (Abb. 8 und 9). Die rundbogige Öffnung setzt in der ersten, 38 cm hohen Quaderschicht mit 78 cm Breite an, verbreitert sich von der zweiten Schicht an auf 1,09 m, hat eine Kämpferhöhe von 1,70 m über der Schwelle und eine Scheitelhöhe von 2,25 m. Die Kanten sind unprofiliert. Die Öffnung hat eine Laibungstiefe von 53 cm und mündet in eine 1,30 m breite Nische, für die eine segmentbogige Überdeckung zu vermuten ist. Die Zusetzung ist anscheinend in zwei Phasen erfolgt. Zuerst wurde die Schwelle bis zu dem Absatz im Gewände erhöht und später erst die verbliebene, knapp 1,9 m hohe Öffnung vermauert. Die Lage der Öffnungen, wie sie sich im Grundriß abzeichnet und wie sie bei Kenntnis der Situation auch an der Innenseite abzulesen ist, zeigt, daß die Zugänge den bestehenden Zellen zugeordnet waren. Die Trennwände, die aus Backstein gemauert sind, wurden gekappt, um den heutigen Erschließungs­ gang anlegen zu können. Sie sind also älteres die innere Quadermauer mit den Zellentüren, und so erklärt es sich auch, daß sie nicht stumpf gegen diese Mauer stoßen, sondern in sie eindringen. Die Quadermauer umschließt jeweils die Abbruchkanten der Trennwände, und sie ist auch unter die schon beste­ henden Tonnengewölbe gesetzt. Versucht man, sich den Zustand vor dem Vermauern der Außentüren und vor dem Anlegen des inneren Erschließungsganges vorzustellen, so ergibt sich ein ganz klares Grundrißbild (Pläne 4—6): Das Geviert, das die Außenmauern bilden, ist durch zwei etwa meterstarke Quermauern unterteilt, die an den Schmalseiten Streifen von etwa 4 m Tiefe (im Lichten) abtrennen. Das verblei­ bende, 29 m breite Mittelstück wird durch eine Längsmauer halbiert, die die beiden Quermauern verbindet. Diese Sandstein-Quadermauern, die im Grundriß die Form eines breitgestreckten H bilden, stoßen ohne Verzahnung stumpf an die Umfassungsmauern an. Sie schaffen eine Primärteilung in vier Raumzonen, die je einer Außenseite zugeordnet sind. Die Anordnung der Ein­ gangsöffnungen in den Außenmauern läßt keinen Zweifel, daß sowohl diese 6

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Plan 2:

Nürnberg, Altes Rathaus: Grundriß der Lochgefängnisse, Zustand 1985 mit Andeutung der Holzauskleidung und Scheidung der Bauperioden. Plangrundlage: Stadtvermes­ sungsamt Nürnberg (Meyer); Planbearbeitung und Zeichnung: THD, Baugeschichte (Th. Dreesen, K. Tragbar). Maßstab 1:250.

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Pläne 3 u. 4:

Nürnberg, Brothaus des Klosters Heilsbronn: Grundriß des Urzustandes. Rekon­ struktionsversuch des Obergeschosses und Rekonstruktion des Erdgeschosses mit den ursprünglichen hölzernen Zwischenwänden. Erhaltene Mauern sind schraffiert. Maßstab 1:400. Zeichnung: K. Tragbar.

vier Zonen wie auch deren Sekundärteilung in einzelne Ladenzellen zum ursprünglichen Konzept des Bauwerks gehören. Die östliche Zone war in drei Zellen geteilt, von denen sich die südliche in der Ausweitung des Erschließungsganges in voller Größe erhalten hat. Sie hatten außer den Zugängen auf der Ostseite keine anderen Öffnungen. Des­ halb weist die Südseite des Eckraumes die ungestört durchgehende Quader­ schichtung auf (vgl. Abb. 6). Die breite Südzone war in zehn Ladenzellen unterteilt, die ihr ent­ sprechende Nordzone in neun. Auch hier war jede Zelle nur von außen zugänglich. Innere Verbindungen gab es nicht. Die bestehende Öffnung in der 8

Abb. 1:

Nürnberg, Lochgefängnisse: Zelleneingang auf der Nordseite mit Brandschäden am Bogen und einge­ setzter Mauer rechts. Bildstelle des Hochbauamtes (HBA) 11. 10. 85.

Abb. 2:

Nürnberg, Lochgefängnisse: Zelleneingang auf der Nordseite mit unbeschädigtem Gewände. Einge­ setzte Mauer im äußeren Teil wieder ausgebrochen. HBA 5. 11. 84.

Abb. 3: Nürnberg, Lochgefängnisse: Vorbau auf der Nordseite mit Steinpfosten, nachträglich untermauertem Steinbalken und flachem Segmenttonnengewölbe. HBA 5. 11. 84.

Abb. 4:

Nürnberg, Lochgefängnisse: Gang auf der Südseite. Innenseite der Außenmauer. HBA 5. 11. 84.

Abb. 5:

Nürnberg, Lochgefängnisse: Gang auf der Südseite. Innenmauer mit Zellentüren. HBA 5. 11. 84.

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Abb. 6:

Nürnberg, Lochgefängnisse: Süd­ östlicher Eckraum mit den durch­ gehenden Quaderschichten der südlichen Außenmauer. HBA 5. 11. 84.

Abb. 7:

Nürnberg, Lochgefängnisse: Lüf­ tungsgang vor der Südmauer, an der verschiedene Mauerstreifen zu unterscheiden sind. HBA 5. 11. 84.

Abb. 8:

Nürnberg, Lochgefängnisse: Ladentür in der Südmauer mit teilweise ausgebrochener Ver­ mauerung. Blick von außen gegen das westliche Gewände. HBA 14. 10. 85.

Abb. 9:

Nürnberg, Lochgefängnisse: Ladentür in der Südmauer mit teilweise ausgebrochener Ver­ mauerung. Blick von innen nach außen. HBA 11. 10. 85.

Abb. 10:

Nürnberg, Lochgefängnisse: Durchbruch zwi­ schen Brunnenraum (vorne) und Ostgang. Abge­ treppte Grenze zwischen dem Mauerwerk des Brot­ hauses und der anstoßenden jüngeren Quader­ mauer. HBA 5. 11. 84.

Abb. 11:

Nürnberg, Lochgefängnisse: Die Backsteintrenn­ wand zwischen den Zellen ist gegen die durch Brand uneben gewordene Mittelmauer gesetzt. HBA 5. 11. 84.

Abb. 12: Nürnberg, Lochgefängnisse: Gewände einer Zellentür auf der Nordseite mit eingezwickten Steinbrocken zwischen altem Backsteinmauerwerk und erneuertem Gewände. HBA 9. 10. 87.

Abb. 13: Nürnberg, Lochgefängnisse: Vorbau an der Nord­ seite. Der Steinbalken bindet in die Außenmauer ein, das Gewölbe nicht. HBA 9. 10. 87.

Abb. 14: Nürnberg, Lochgefängnisse: Untersuchungsgrube in der Ostzelle der Südreihe. Unter dem Ziegelpflaster der ältere Mörtelestrich. Rechts die Mittelmauer mit dem abgearbei­ teten Fundamentvorsprung. HBA 11. 10. 85.

Abb. 15:

Nürnberg, Lochgefängnisse: Untersuchungsgrube in der Mittelzelle der Südreihe mit Ziegelboden (vorne) und Kalkestrich. In der Zellentrennwand Entlastungsbogen. HBA 11. 10. 85.

Abb. 16: Nürnberg, Lochgefängnisse: Folterkammer. Konsolen in der Mittelmauer. HBA 5. 11. 84.

Abb. 17:

Nürnberg, Lochgefängnisse: Zelle der Nordreihe. Blick in den Zwischenraum zwi­ schen Gewölbe und Holzdecke der Zelle gegen die Mittelmauer, an der sich die Kon­ solenreihe abzeichnet. HBA 11. 10. 85.

Abb. 18:

Nürnberg, Lochgefängnisse: Ausschnitt der Mittelmauer in einer Südzelle mit Wechsel von abgearbeiteten Konsolen und glatten Quadern. HBA 11. 10. 85.

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Pläne 5 u. 6:

Die Lochgefängnisse als Heilsbronner Brothaus

Nürnberg, Brothaus des Klosters Heilsbronn: Grundrisse des ehern. Erdge­ schosses nach der Reparatur von Brandschäden (oben) und weiteren Reparaturen (unten). Erhaltene Mauern sind schraffiert. Maßstab 1:400. Zeichnung: K. Tragbar.

Mittelmauer ist erst beim Umbau zum Gefängnis durchgebrochen worden, um den Erschließungsgang auf der Süd- und Ostseite mit der vor der Nordseite im Hof liegenden Treppe zu verbinden. Die Westzone ist nicht erhalten. Ihre Außenmauer hatte im 17. Jahrhundert der verlängerten Fassade des Wolff’schen Rathausneubaus weichen müssen. Dahinter ist nach dem Zweiten Weltkrieg ein Installationsgang angelegt worden, der den Erweiterungsbau am Hauptmarkt mit dem Alten Rathaus verbindet. So sind hier alle Befunde verwischt, doch es kann kaum einen 9

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Zweifel geben, daß die Westseite im wesentlichen ihrem Gegenstück im Osten entsprochen hat, daß es also auch hier Ladenzellen gegeben hat, die von der Stirnseite her zugänglich waren. Unklar ist nur, ob die leichte Schrägstellung der Westmauer erst nach 1616 durch Übernahme der Fassadenflucht des Wolff’schen Baues zustande gekommen ist, oder ob sie schon zum ursprünglichen Brothaus gehört, für das eine regelmäßige Rechteckform ebenso plausibel wäre wie eine dem Grund­ stückszuschnitt entsprechende Trapezform. Aber nur in der Ost-West-Rich­ tung hat der Bau das Grundstück ausgefüllt. Auf den drei Seiten, an denen öffentlicher Straßenraum anschloß, wurde auf die Grenze gebaut. Auf der Nordseite aber bleibt ein Durchgang offen. Am gotischen Rathaus führte er unter Losungs- und Ratsstube durch, doch am Brothaus war er noch nicht überbaut. Diese Feststellung ist dem 1935 geschaffenen Durchbruch zu ver­ danken, der den östlichen Erschließungsgang mit dem unter der Ratsstube gelegenen Brunnenraum der Lochgefängnisse verbindet. Hier ist die äußere Begrenzung der durchbrochenen Mauer klar abzulesen. Das nördlich anschlie­ ßende Mauerwerk bindet nicht ein und besteht aus Quadern mit Zangen­ löchern. Es ist eindeutig später angefügt (Abb. 10). Das Gebäude, dessen Grundriß sich so weitgehend erschließen läßt und das bestanden haben muß, als die Stadt 1332 ihren Rathausbau begann, stand also allseitig frei. Zu ihm gehört auch der steinerne Vorbau auf der Nordseite mit den Steinpfosten und -balken und den segmentbogigen Backsteingewölben. Leider ist nicht mehr festzustellen, ob ihm eine ähnliche Anlage auf der Süd­ seite entsprach, oder ob der Vorbau gar ringsum geführt war.

Spuren einer Brandzerstörung

Der ältere Bau, der sich im Untergeschoß des gotischen Rathauses erhalten hat, ist in sich nicht einheitlich. An vielen Stellen sind Spuren eines verheerenden Feuers zu beobachten. Die rauhe Steinoberfläche auf der Innenseite der Außenmauer ist Folge dieses Brandes. Er hat das Gebäude getroffen, als die Quermauern noch bis zur Südmauer durchliefen. Als sie später beim Anlegen des inneren Erschließungsganges ausgebrochen wurden, gaben sie die unver­ letzten Stellen frei, die sie vor dem Feuer geschützt hatten. Auch die Quader­ mauern der Binnenteilung zeigen Brandspuren. An manchen Stellen sind die Mauerflächen mit dem Spitzeisen grob überarbeitet, und zwar über die Grenzen der einzelnen Quader hinweg. Die Mauer war durch Abplatzen und Mürbwerden der Oberflächen unter der Hitzeeinwirkung unregelmäßig geworden und wurde dann stellenweise durch Nacharbeiten wieder leidlich geebnet. Gegen die unebenen Mauern sind die Zwischenwände aus Backstein gesetzt, die die einzelnen Zellen trennen und ihre Gewölbe tragen (Abb. 11). 10

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Die Lochgefängnisse als Heilsbronner Brothaus

Sie sind im Zuge der Brandreparatur eingefügt. Das Wieder-Glätten der Mauerflächen ist zum Teil erst danach vorgenommen worden und endet des­ halb an den Zwischenwänden. Diese Sekundärteilung bestand schon, als das Laden-Erdgeschoß zum Untergeschoß „absank“ und zum Gefängnis umgebaut wurde. Das war am Verhältnis der Innenmauer des Erschließungsganges zu diesen Backstein­ wänden festzustellen. Somit lassen sich für die Lochgefängnisse drei Bauperioden scheiden: die Errichtung des Vorgängerbaues (Plan 4), sein Wiederaufbau nach der Brand­ zerstörung (Plan 5) und der Umbau zum Gefängnis im Zusammenhang mit dem Rathausneubau (Plan 2). Die bisher genannten Befunde, an denen Brandzerstörung und Wieder­ aufbau festzustellen waren, stammen alle von der Süd- und Ostseite, und zwar vom Inneren des Gebäudes, doch von den 13 ursprünglichen Ladenzellen haben acht ihre Holzauskleidung als Gefängniszellen bewahrt. Nur an den restlichen fünf konnten die Mauerflächen überhaupt beobachtet werden. An der Außenseite, die in dem 1956 angelegten Lüftungsgang zugänglich ist, sind keine Brandspuren zu sehen. An der Nordseite sind die Befunde recht uneinheitlich. Von den Türöff­ nungen der fünf westlichen Zellen haben drei wohlerhaltene Quadergewände; die der beiden anderen sind dagegen stark verbrannt. Die drei erhaltenen Pfo­ sten des steinernen Vorbaus zeigen keine Brandspuren, und die Balken, die sie tragen, sind zwar gebrochen, aber nicht als Folge von Hitze. (Vgl. Abb. 1—3.) Es schien zunächst, als sei die Einwirkung des Feuers auf Grund irgend­ welcher Zufälligkeiten sehr unterschiedlich gewesen. Dann aber tauchten Zweifel auf, ob es möglich sei, die Rundbogentüren und die abgefasten Stein­ pfosten unter stilistischen Gesichtspunkten derselben Bauphase zuzuordnen13. Eine eindeutige Klärung war nur vom Zusammenhang zwischen den Stein­ balken des Vorbaus und der Außenmauer zu erhoffen. Der Versuch, das Ein­ binden der Balken zu untersuchen, bestätigte allerdings zunächst nur die Erfahrung, daß der Bauforscher dem Elektroinstallateur etwa so gegenüber­ steht wie der Hase im Märchen dem Igel: Wo der Bauforscher einen Befund zu erheben sucht, trifft er auf das „Ich war schon da!“ des Elektrikers. In den Lochgefängnissen waren die unter Putz liegenden Leitungen der ersten dort eingebauten und inzwischen längst wieder stillgelegten Elektroinstallation gerade da knapp unter den Steinbalken durchgeführt, wo es um die Frage „ursprünglicher Mauerverband?“ oder „nachträglich eingestemmt?“ ging. Bei etwas größerer Ausdehnung des Untersuchungsfeldes zeigten sich dann aber doch neben den Balken unregelmäßig ausgezwickte Streifen, an denen sich 13 Brief Gartkiewicz an Haas vom 9. 8. 87.

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ablesen ließ, daß die Balken nicht beim Hochführen der Mauer eingefügt, son­ dern nachträglich in ausgestemmte Löcher eingesetzt worden sind (Abb. 12). Dazu paßt dann ganz gut der weitere Befund, daß die auf diesen Steinbalken aufliegenden Gewölbe stumpf vor die Außenmauer gesetzt sind und keinerlei Verband mit ihr haben (Abb. 13). Man hat also beim Anfügen des Steinvorbaus nur so weit in die Außenmauer eingegriffen, wie es unvermeidbar war. Es zeigte sich aber auch, daß außer den Steinbalken die gut erhaltenen Tür­ gewände ebenfalls nachträglich eingesetzt sind, nicht aber die mit den starken Brandschäden. Die beschädigten, vom ursprünglichen Bau erhaltenen Tür­ bögen bestehen aus wenigen breiten Bogensteinen; die erneuerten sind aus einer größeren Zahl schmaler Keilsteine zusammengesetzt, und zwar sicher deshalb, weil sie sich beim Einfügen leichter handhaben ließen. Dieser zunächst überraschende Befund läßt sich nun so deuten: Der Brand hat auf der Nordseite außen schwere Zerstörungen angerichtet. Die am stärk­ sten beschädigten Türgewände mußten erneuert werden und fallen jetzt als die gut erhaltenen auf. Die nicht ganz so stark zerstörten sind belassen worden und erscheinen jetzt als die schlechter erhaltenen. Wahrscheinlich gleichzeitig mit dieser Reparatur wurde der steinerne Vorbau angelegt, der nur mit seinen Steinbalken in die Außenmauer eingreift. Auch hier gibt es Bestätigungen für die Feststellung, daß die Instandsetzung nach dem Brand und der Umbau zum Gefängniskeller nichts miteinander zu tun haben. Der steinerne Vorbau ist als Erdgeschoß-Architektur gebaut worden — das war einer der Ausgangspunkte der ganzen Untersuchung — und alle Ladentüren, auch die erneuerten, sind erst nachträglich durch Beimaue­ rungen schmäler gemacht worden, als aus den Ladenzellen Gefängniszellen wurden. Von allem, was hier über den Westteil der Nordseite (Zelle 1—5) gesagt wurde, trifft nur das Wenigste auch für den anschließenden Ostteil (Zelle 6—9) zu. Die rd. 1,5 m starke Außenmauer bricht ab und findet ihre Fortsetzung erst wieder als Nordmauer der Ostzellen-Reihe. Die 13 m lange Lücke ist aus­ gefüllt mit einer schwächeren, aber immerhin noch 1,1 m starken Backstein­ mauer, die der Außenkontur des Baues folgt, so daß die geringere Mauerstärke also der Raumtiefe im Innern zugute kommt. Auch die Mittelmauer hält ihre Nordflucht nicht auf die ganze Länge durch, sondern ist auf die Breite der 7. Zelle nur etwa 80 cm statt sonst rd. 1 m stark. Hier ist vermutlich eine stärker beschädigte Oberflächenpartie abgearbeitet worden. An allen Teilen, an den Zungenmauern in der nördlichen Vorzone, an den Türöffnungen, an der einen Querverbindung zwischen der 7. und 8. Zelle, beim Backsteinformat, das nicht mit dem der andern Zwischenwände überein­ stimmt, und schließlich mit der inneren Treppe, die aus der 7. Zelle hinauf ins 12

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Die Lochgefängnisse als Heilsbronner Brothaus

Erdgeschoß führt, gibt es Eigenheiten und Abweichungen von den Befunden an den anderen Mauern und Räumen. Im Bereich dieser vier Nordzellen muß eine große Bresche gelegen haben, die dann durch einen Wiederaufbau geschlossen wurde. Die Abweichungen gehen soweit, daß dieser Teil nicht selbstverständlich zur übrigen Brandrepa­ ratur gezählt werden kann. Andererseits besteht aber auch keine Übereinstim­ mung mit den eindeutig zum Gefängnisumbau gehörenden Innenmauern des Süd- und Ostganges, und die Backsteinmaße weichen auch von denen des goti­ schen Rathausbaues deutlich ab. In diesem Bereich scheint sich also eine eigene Reparatur- und Umbauphase abzuzeichnen, die vielleicht schon in zeitlicher Nähe des Rathausneubaues zu sehen ist (Plan 6). Auch das Untermauern der gebrochenen Steinbalken bzw. das Ersetzen von Pfosten und Balken des Vorbaus durch Zungenmauern ist ja eine Reparatur des erst nach dem Brand Angefügten und gehört vielleicht mit der Erneuerung des Ostteils der Nordzellen zusammen. Bei den Fragen nach dem „Brothaus“ werden diese Teile des heutigen Untergeschosses wohl außer Betracht bleiben müssen. Niveauverhältnisse und Untergrund

Die Untersuchung des Bauwerks, das zum Untergeschoß des gotischen Rat­ hauses geworden ist, durfte sich natürlich nicht auf die Klärung des Grund­ risses beschänken; z. B. war es immerhin denkbar, daß auch das ursprüngliche Brothaus unter seinem Erdgeschoß noch einen Keller hatte. Um darüber und auch über die Fundierung des Baues sichere Auskunft zu erhalten, wurde in der östlichsten Zelle der Südreihe, die ihre Holzauskleidung verloren hat, das Ziegelpflaster (—74)H entlang der Mittelmauer geöffnet. 24 cm unter seiner Oberfläche liegt die Fundamentkrone der Quermauer (—98), und bis zu dieser Tiefe ist auch das Fundament der Mittelmauer abgearbeitet, das ursprünglich bis fast auf die heutige Bodenhöhe reichte (—77). Vor das aufgehende Mauer­ werk springen diese Fundamente zwischen 20 und 50 cm vor. Sie bestehen aus grob bearbeiteten Sandsteinblöcken, die zwar schichtweise, aber wenig regel­ mäßig versetzt sind und an der Mittelmauer 2,26 m (= —300), an der Quer­ mauer 1,63 m (= —237) unter der Pflasteroberfläche ansetzen. Der Unter­ grund besteht aus feinem Sand, der dem Sondiereisen auch metertief unter der Fundamentsohle keinen nennenswerten Widerstand bot. Die Frage nach einem eventuellen Keller war also leicht und eindeutig negativ zu beantworten. Überraschend war ein anderer Befund: 38 cm unter dem Ziegelpflaster liegt (bei —112) ein glatt abgezogener Estrich aus Kalk14 Alle Höhenkoten beziehen sich auf einen Höhenriß, der unter praktisch-meßtechnischen Gesichtspunkten in der Art eines ,Meterrisses' im ganzen Untergeschoß gezogen wurde.

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mörtel mit reichlicher Ziegelsplitt-Beimengung. Er schließt nicht an das auf­ gehende Mauerwerk, sondern an das Fundament an, das auch da, wo es abge­ arbeitet ist, noch handbreit über diese Estrichfläche herausragt (Abb. 14). So ist kaum glaubhaft, daß der Estrich den ursprünglichen Boden dieses Stockwerks gebildet hat. Vielmehr muß angenommen werden, er habe einen älteren, höher gelegenen Boden abgelöst. Ein ursprünglich noch höher, nämlich ca. 30 cm über das heutige Ziegel­ pflaster hinaufreichendes Fundament ist in der nördlichen Zelle der Ostreihe zu beobachten, wo an der Mittelmauer eine und an der Umfassungsmauer zwei ehemals vorspringende Fundamentstufen nachträglich auf die Flucht der auf­ gehenden Mauer zurückgearbeitet sind. Die Spitzeisenspuren an der unteren Mauerzone bezeugen das eindeutig. Übrigens sind die Fundamentkronen in ihrer Höhenlage besonders unregel­ mäßig. In der westlichsten Zelle der Nordreihe, der Folterkammer, liegt der Fußboden um 6 Stufen vertieft bei —244. Dadurch liegt der Fundamentvor­ sprung frei. Er reicht an der westlichen Quermauer nur bis —170 und liegt somit rd. 1,3 m tiefer als der höchste festgestellte Fundamentpunkt im Nord­ ostwinkel. Der Ziegelboden wurde 1985 auch noch an einer zweiten Stelle geöffnet, und zwar in der sechsten Zelle der Südreihe, die bis zur Einrichtung des Führungs-Rundganges allein den Durchgang von Norden her vermittelt hatte und deshalb ohne Holzauskleidung geblieben war. Hier fiel in der Backsteintrenn­ wand zur östlichen Nachbarzelle ein unregelmäßig gekrümmter Bogen auf, der mit seinem Nordende im Fußboden verschwindet und südlich gegen die Zel­ lenmauer stößt. Es ließ sich feststellen, daß der Bogen im Süden mit der ganzen Mauer beim Anlegen des Erschließungsganges gekappt worden ist, und daß er ursprünglich dazu angelegt war, um die vollständige Fundierung der Trenn­ mauer zu ersparen. Er ist mit Backstein untermauert, der auf einigen Sand­ steinblöcken aufliegt. Zuunterst, in den Sand gebettet, fand sich ein Stein mit 5-eckigem Querschnitt. Es ist offensichtlich ein Steinbalken der Art, wie sie auf der Nordseite von den Steinpfosten zur Außenmauer gespannt sind und die Gewölbe des Steinvorbaus tragen15. Ob er dort verbaut war und später nach Beschädigung herausgenommen und hier verwendet worden ist, oder ob es sich um ein schon vor dem Einbau verworfenes Stück handelt, war nicht zu entscheiden. Auch in dieser Zelle fand sich der sauber abgezogene ZiegelsplittEstrich 37—44 cm unter der heutigen Ziegelfläche (—112 bis —119) (Abb. 15). Dieser Boden, der an beiden Untersuchungsstellen gefunden wurde und mit dem wir also überall rechnen müssen, läßt sich mit einiger Sicherheit zuordnen. Er schließt an die Fundamente der Mittelmauer und der Quermauer an und auch an die Wandfläche der Backsteintrennmauern, jedoch nicht an die 15 Diese Feststellung ist Th. Dreesen zu verdanken.

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Mauer zwischen Erschließungsgang und Zellen. Damit dürfte klar sein, daß der Estrich beim Wiederaufbau nach dem Brand eingebracht worden ist. Anscheinend wollte man den damals überwölbten Ladenzellen eine größere Höhe geben und senkte dafür den Fußboden ab. Solange die Zellen als Läden benützt wurden, störten die heraustretenden Fundamente nicht. Im Weg waren sie erst, als die Gefängnisse eingerichtet wurden und die Zellen ihre Holzauskleidung bekamen. Mit dem Umbau zum Gefängnis waren also Veränderungen des Fußboden­ niveaus verbunden. Wir können nicht sicher sein, daß der heutige Boden mit seinem zwischen —74 und —101 schwankenden Niveau in der Höhenlage dem der Bauzeit des Brothauses entspricht. Wo gibt es Anhaltspunkte für die ursprüngliche Bodenhöhe im Gebäude und für die des umgebenden Terrains? Auf der Nordseite stehen die drei erhaltenen Pfeiler des Steinvorbaus auf ungeformten Sockelsteinen, die bis zu 40 cm aus dem heutigen Fußboden her­ ausragen. Man muß aber annehmen, daß sie weitgehend im Boden stecken sollten. Die Standfläche der Pfeiler liegt bei —455, —45 und —43, ist also nahezu einheitlich und steigt von Westen nach Osten geringfügig an. An den Türen der fünf westlichen Zellen der Nordreihe sind die Schwellen nachträg­ lich abgesenkt. Die ursprüngliche Höhe ist an der Zelle 3 am deutlichsten abzulesen: — 425. Diese gut übereinstimmenden Maße weisen auf ein Außen­ niveau etwa im Bereich von —50 bis —60. Die Schwellhöhen der Türen liegen auch auf der Ost- und der Südseite frei und erlauben es zu kontrollieren, wie das Außenniveau etwa umlief. Auf der Ostseite messen wir von Nord nach Süd —40, —41 und —42. Die Fundament­ krone fällt hier in deutlichen Stufen von —59 über —66 bis -74. Auf der Südseite liegen die Türen ein ganzes Stück tiefer, nämlich mit geringen Schwankungen bei —84 bis —87. Das deutet auf ein Außenniveau im Bereich zwischen —90 und —100. Das heutige Gefälle zwischen Nord- und Südseite hat es also auch schon gegeben, als das Gelände noch nicht aufgefüllt war. Wir können an den Fundamentkronen ein Fallen von Ost nach West und von Nord nach Süd feststellen. Die Türschwellen haben das aber ausgeglichen und liegen auf der Nord- und Ostseite in einer ziemlich einheitlichen Höhe (—40 bis —43), auf der Südseite aber um 45 cm tiefer. Hinweise auf die ursprüngliche Erdgeschoß decke und auf das folgende Geschoß

Die Trennmauern zwischen den Zellen samt den Gewölben gehören, wie schon dargelegt wurde, erst zur Reparaturphase nach dem Brand. Das ist an den Anschlußstellen abzulesen. Es muß vorher eine andere Überdeckung und andere Trennwände gegeben haben, die dem Feuer zum Opfer gefallen sind. Was können wir darüber noch erfahren? 15

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In der westlichsten Zelle der Nordseite, der Folterkammer, ragen aus der Mittelmauer in Gewölbehöhe zwei schmucklose Konsolen heraus, von denen die eine heute ganz nutzlos ist. Auf der anderen liegt ein zum eingebauten Fol­ tergerät gehörender Balken auf, doch war dazu erst noch eine Aufmauerung nötig. Der ursprüngliche Zweck der Konsolen ist also nicht mehr deutlich (Abb. 16). Im Zwischenraum zwischen den beiden Konsolen ist die Mittelmauer aus Backstein gemauert. Auf die zweite Konsole folgen nach links wieder Back­ steine und dann ein Quader mit grob abgearbeiteter Oberfläche, der vom Gewölbe überschnitten wird. Das ist sichtlich der Rest einer dritten Konsole, die bis auf die Mauerfläche zurückgearbeitet worden ist, als das Gewölbe ein­ gefügt wurde. Die beiden erhaltenen Konsolen sind der Anfang einer ganzen Reihe gleichartiger und in gleicher Flöhe (Oberkante +180 ± 2 cm) liegender Bauglieder. Ihre Fortsetzung nach Osten ist auf der Nordseite der Mittelmauer überall zu finden, wo die Mauer erhalten und zugänglich ist, also in den öst­ lichen Zellen der Nordreihe, die ja alle ohne Holzauskleidung geblieben sind, und in den anschließenden westlichen Zellen, soweit dort die Mittelmauer sichtbar ist16 (Abb. 17). Die Konsolen fehlen in der Zelle 7, wo die Mittelmauer gestört ist. Von den Südzellen sind nur drei ohne Holzauskleidung. Hier gibt es keine Backsteinzone, wohl aber in der gleichen Höhe wie auf der Nordseite der Mit­ telmauer eine Schicht, in der Quader mit relativ sauber bearbeiteter Ober­ fläche17 mit solchen wechseln, die mit dem Spitzeisen grob abgearbeitet sind (Abb. 18). Es gab also auf beiden Seiten der Mittelmauer in gleicher Höhe eine recht dichte Folge von Konsolen, die zum ursprünglichen Baubestand gehört hatten, später aber nutzlos geworden sind und fast alle abgearbeitet wurden, weil sie bei der Einwölbung oder beim Einbau der Holzauskleidung im Wege waren. Sinn dieser Konsolenreihe kann es nur gewesen sein, Streichbalken zu tragen, auf denen dann wieder Deckenbalken auflagen. Das Erdgeschoß des Brothauses hatte also ursprünglich Holzbalkendecken. So wird man sich auch die Trennwände zwischen den Ladenzellen ursprünglich als Holzkonstruktion vorstellen dürfen. (Vgl. Plan 3, 8 — 10.) Die Konsolen verraten aber noch mehr. Wenn Balkendecken auf einer Mauerkrone oder auf einem Mauerrücksprung aufliegen, hat man meist auch eine „Mauerlatte“ als Unterlage für das Gebälk verwendet. Wenn man sich die 16 In der 2. Zelle fehlt ein Teil der Decke der Holzauskleidung. In den Zellen 3 und 4 sind neuer­ dings Lüftungslöcher in die Decke geschnitten worden, die einen beschränkten Einblick in den Zwischenraum unter dem Gewölbe ermöglichen. 17 Die Quaderspiegel sind mit der „Fläche“, dem Beil der mittelalterlichen Steinmetzen, bear­ beitet.

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Mühe machte, dafür mit Hilfe einer Konsolenreihe ein Auflager zu schaffen, dann ist das ein sicherer Hinweis, daß es weder Mauerkrone noch -rücksprung gab, und das heißt, daß die Mauer in voller Stärke in das folgende Geschoß weiterlief. Das ehemalige Obergeschoß des „Brothauses“ muß also wie das Erdgeschoß eine massive Mittelmauer von beträchtlicher Stärke gehabt haben, und es ist kaum denkbar, daß die zugehörigen Umfassungsmauern nicht ebenfalls aus massivem Mauerwerk errichtet waren. Während in Nürnberg bei Wohnhäu­ sern und selbst bei öffentlichen Gebäuden der Stadt, wie dem „Sondersiechenhaus“ (dem heutigen „Weinstadel“ beim Henkersteg), noch weit ins 15. Jahr­ hundert hinein Fachwerkbauten mit massivem Erdgeschoß üblich waren, hatte das Heilsbronner Brothaus schon vor 1332 zwei massive Geschosse. Dies ist aber nicht das einzige, was sich von diesem Obergeschoß erschließen läßt. Der im Zuge der Brandreparatur angefügte Steinvorbau ist dem damaligen Erdgeschoß vorgelegt worden, er zielt aber zweifellos darüber hinaus. Wäre es nur darum gegangen, ein Vordach zu bekommen, wäre die aufwendige Ausführung mit Gewölben nicht verständlich. Andererseits sind die Steinpfosten zu schwach, als daß sie die aufgehende Außenmauer über einem erdgeschossigen Laubengang hätten tragen können. Der Vorbau schafft mit seinen Gewölben den Unterbau für eine Fläche, die in Höhe des Obergeschoßniveaus an der Nordseite des Baues entlang lief18. Es muß sich hier um die äußere Erschließung für das Obergeschoß gehandelt haben. Wenn die aber die Form eines Ganges hatte, der am Gebäude entlang lief, dann doch wohl nicht, um nur eine einzelne Tür erreichbar zu machen, sondern eine Reihe von Zugängen. So läßt sich also vom Obergeschoß sagen, daß es durch eine Mittelmauer halbiert war, und daß auf der Nordseite meh­ rere Zugänge gelegen haben dürften. Damit besteht aber schon eine so große Übereinstimmung mit der Anlage des Erdgeschosses, daß man vermuten darf, der Erdgeschoßgrundriß habe sich im Obergeschoß in den Grundzügen wie­ derholt. Für die Längsseiten bedeutet das, daß dem verbaut erhaltenen nörd­ lichen Steinvorbau ein gleichartiger auf der Südseite entsprochen haben dürfte. Aufgänge kann man sich gut an den Enden der Längsseiten vorstellen, wo die Flanken der Ost- und der Westzone geschlossene Mauerscheiben bilden, vor denen die Treppen leicht anzuordnen waren, ohne daß sie mit Erdgeschoß­ öffnungen kollidiert wären. Zu einer vollständigen Wiederholung der Erdgeschoßdisposition hätte der äußere Erschließungsgang freilich auch auf den Schmalseiten umgeführt werden müssen, um die Räume der Ost- und Westzone zugänglich zu machen. 18 Der Versuch, diese Fläche unter dem Pflaster des kleinen Rathaushofes zu finden, blieb ohne Ergebnis. Eine schmale Untersuchungsstelle unter der Außentreppe zum Saal ging bis zum Rücken der Gewölbe. Der obere Abschluß der Auffüllung war hier aber nicht erhalten.

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Das ist zwar durchaus denkbar, doch hätte dann die Vereinfachung des Zugangs mit einer Komplikation bei der Ecklösung des Umgangs und bei den Treppen erkauft werden müssen. So erscheint eine innere Erschließung der Ost- und Westräume fast wahrscheinlicher (Plan 3). Eine Entscheidung dieser Frage aus dem archäologischen Befund ist auf der Westseite schon durch den Fassadenbau im 17. Jahrhundert unmöglich gemacht, auf der Ostseite durch den Lüftungsgraben von 1956. So ist eine Klä­ rung nicht mehr möglich. Für diese Überlegungen zur Disposition des Obergeschosses hat der vorge­ baute Außengang, der erst aus der Instandsetzungsphase stammt, entschei­ dende Hinweise gegeben. Gibt es auch Anhaltspunkte für den Urzustand des Baues, wie er bis zur Brandzerstörung bestanden hat? Die Mittelmauer mit den Konsolen gehört zum Urbau. Der Schluß auf das massive Obergeschoß gilt also auch für den ersten Bauzustand. Das Auflager der Balkendecke an der Mittelmauer ist aus der Konsolenreihe recht genau zu erschließen. An den Außenmauern ist die entsprechende Zone an der Süd­ mauer durch das tiefer liegende Gewölbe über dem inneren Erschließungsgang verdeckt. An den östlichen Zellen der Nordseite ist die ursprüngliche Außen­ mauer nicht erhalten. Ein Befund ist also nur noch an den fünf Westzellen der Nordseite zu erhoffen, von denen aber vier ihre Holzauskleidung behalten haben, die die Wandflächen verdeckt. Immerhin kann festgestellt werden, daß die Konsolen an der Mittelmauer keine Entsprechung an der Umfassungs­ mauer haben. Bei der großen Mauerstärke wäre es leicht denkbar, daß hier ein Mauerrücksprung das Auflager gehoben hat. Ein solcher Rücksprung zeichnet sich aber auch nicht ab. Knapp über der Höhe, in der er zu erwarten wäre, liegen dann bereits die Scheitel der Gewölbe, die die Befunde vollends verdecken. So kann eine Ver­ mutung nicht verifiziert werden, die für den Vorgänger des Steinvorbaus eine plausible Lösung anböte: die Deckenbalken, die innen über den Konsolen auf einem Streichbalken auflagen, könnten außen durch die Mauer durchgeführt gewesen sein und Kragarme gebildet haben, so daß der gleiche Laufgang an der Außenseite des Obergeschosses schon als Holzkonstruktion bestanden hätte, der später mit Hilfe der Backsteingewölbe von neuem geschaffen wurde (Pläne 8—10). Wir hätten uns also, wenn die Vermutung zutrifft, durchlaufende höl­ zerne „Baikone" an beiden Längsseiten vorzustellen, etwa so, wie sie an einem anderen städtischen Zisterzienserbau noch bis in den Zweiten Weltkrieg hinein erhalten war, nämlich an der Traveseite des Reinfelder Hofes in Lübeck19. 19 Vgl. W. Haas u. J. Cramer, Klosterhöfe in norddeutschen Städten. In: Stadt im Wandel, Katalog zur Landesausstellung Niedersachsen 1985, Braunschweig 1985, S. 399—440; bes. S. 416. Die Kenntnis des Bauwerks wird Jens Chr. Holst, Lübeck, verdankt. Es mußte 1940 einem Luft­ schutzbunker weichen, der versucht, die äußere Form des Reinfelder Hofs zu wiederholen. Der Bau scheint also noch an der Obertrave zu stehen, vermag dem Forscher aber keinerlei Aus­ künfte mehr zu geben, die nicht die letzten Jahrzehnte betreffen.

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Beim Nürnberger Brothaus ist es auch in seiner ersten Form nicht undenkbar, daß die „Baikone“ ringsum geführt waren. Das steinerne Bauwerk gibt dafür freilich keine Anhaltspunkte. Erschließungs„balkone“ nur an den Längsseiten mit Treppenaufgängen an den Enden im Osten und Westen sind die einfachste Rekonstruktionsmöglichkeit.

Das Verhältnis des Rathauses zu seinem Vorgänger, dem Brothaus

Das nur in den Umfassungsmauern erhaltene Rathaus-Erdgeschoß hatte mit seiner im Plan überlieferten Binnenteilung in einzelne Ladenzellen den ersten Hinweis gegeben, wie das Untergeschoß zu verstehen ist. Das heutige Unter­ geschoß hatte, als es noch Erdgeschoß war, die gleiche Grundeinteilung, und darüber lag ein Obergeschoß, für das sich wieder die gleiche Disposition erschließen läßt. Was läge da näher als anzunehmen, daß nicht nur das ehema­ lige Erdgeschoß als Untergeschoß in den Rathausneubau übernommen wurde, sondern auch das ehemalige Obergeschoß als Erdgeschoß? Doch es gibt einige Gründe, die gegen diese einfache Möglichkeit sprechen. Die Außenkontur des Erdgeschosses stimmt nicht ganz mit der des Unter­ geschosses überein. Das umlaufende Vorspringen des oberen Stockwerks über das untere würde zwar nicht genügen, weitreichende Schlüsse zu ziehen, weil es dabei nur um wenig mehr geht, als die Putzstärke ausmacht. Doch die abge­ schrägte Südostecke hat nur das heutige Erdgeschoß, nicht das frühere. Zwischen den beiden Stockwerken liegt ein Materialwechsel. Süd- und Ost­ mauer der Lochgefängnisse bestehen aus Quaderwerk. Das heutige Erdge­ schoß hat Backsteinmauern mit Werksteinkanten. Ein solcher Wechsel wäre innerhalb eines einheitlichen Gebäudes durchaus denkbar, zumal, da die Mischtechnik ja auch an der Nordmauer des Untergeschosses angewandt worden ist, aber die Materialgrenze liegt nicht in der Höhe der Geschoß­ grenze. Dem Gefälle vom Burgberg zur Pegnitz entsprechend reicht die Auf­ schüttung der Südseite weniger hoch als im heutigen kleinen Rathaushof auf der Nordseite. Die Erdgeschoßläden der Südseite, die über den Gewölben des Untergeschosses liegen, w’aren über Treppen zugänglich, die über dem Erschließungsgang der Gefängniszellen lagen20. (Vgl. Plan 1.) Die Ladentüren des Rathauserdgeschosses kollidieren hier mit den vermauerten Türen des Stockwerks darunter. Das bedeutet, das Backsteinmauerwerk des Erdge­ schosses setzt schon in einer Höhe an, in die das Untergeschoß noch hinein­ reicht.

20 Dargestellt in den Plänen bei Mummenhoff a. a. O. (s. Anm. 2), S. 211 und nach 218 sowie bei Mende a. a. O. (s. Anm. 3), S. 35 u. 37.

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Diese Befunde legen die Annahme nahe, daß die Mauern des Brothauses nach dem Aufschütten des Terrains bis zur neuen Erdgleiche abgebrochen wurden. Auch daß die Mittelmauer im Erdgeschoß nach den Plänen schwächer war als im Untergeschoß, spricht dagegen, daß sie sich vom Urbau erhalten hat. Denn da lief sie ja, wie aus den Konsolenreihen zu erschließen war, in ein­ heitlicher Stärke durch beide Geschosse. Beim Rathausneubau ist also wahrscheinlich nicht mehr vom Heilsbronner Brothaus übernommen worden als das ehemalige Erdgeschoß, aber auch nicht weniger. Von dem Vorgängerbau ist zwar weder am Außenbau noch in den üblicherweise zugänglichen Räumen irgendetwas sichtbar geblieben, aber mit der Übernahme der Fundamente und des ehemaligen Erdgeschosses als Keller ist der Grundriß des gotischen Rathauses vollständig von dem vorausgegan­ genen Brothaus geprägt. Das neue Erdgeschoß mit seinen Ladenzellen war eine getreue Wiederholung des früheren, und der Große Rathaussaal verdankt seine Abmessungen und seine gestreckte Proportion nicht Entwurfs- und Konstruktionsüberlegungen von 1332, sondern den Maß-gebenden Dimen­ sionen des Heilsbronner Brothauses.

Das Heilsbronner Brothaus und seine Stellung in der Stadtgeschichte Nürnbergs

Durch verschiedene direkte oder indirekte Quellenaussagen ist gesichert, daß ein „Brothaus“ auf dem Grundstück stand, auf dem die Stadt 1332 das Bau­ recht erwarb, um ihr Rathaus zu errichten21. Brothäuser, Brotlauben oder Brotbänke kennen wir in vielen Städten, und entsprechende Einrichtungen gab es vielerorts auch für andere Handelsgüter. Allen diesen Institutionen liegt eine Vorstellung von städtischer Ordnung zugrunde, die im ganzen Mittelalter verbreitet war: Handel jeder Art ist eine Sache des Marktes, und Markt ist ein örtlich genau definierter Bereich, für den besondere Rechtsverhältnisse festgelegt waren. Die Gründe dafür sind auf ver­ schiedenen Ebenen zu suchen, und nur zum Teil sind sie praktischer Art; z. B. war eine genaue Fixierung des Marktes nötig, um dort die Abgaben erheben zu können, die eine der Grundlagen der Stadtfinanzen waren. Außerdem bot die Konzentration der konkurrierenden Anbieter den Kunden wie der Obrigkeit die beste Möglichkeit der Preis- und Qualitätskontrolle. So verkauften also auch die Nürnberger Bäcker ihre Produkte nicht bei ihren Backstuben, son­ dern an bestimmten Orten im Marktbereich. Einen solchen Ort haben wir in dem am „Salzmarkt“ (dem heutigen Rathausplatz zwischen Sebalduskirche und Rathaus) gelegenen Brothaus zu sehen. Die bauliche Form solcher Handelseinrichtungen war nicht festgelegt. Es konnten transportable Marktstände sein, die nach dem Ende der Verkaufszeit 21 Vgl. Haas 1983 (s. Anm. 7), S. 75 u. Anm. 48a.

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wieder weggeräumt wurden. Für nässe- oder sonnenempfindliche Waren mußte ein Wetterschutz geschaffen werden, und es war sinnvoll, nicht jeden Stand einzeln zu schützen, sondern eine größere Fläche zu überdecken, auf der dann auch wieder mobile Stände Platz finden konnten. Solche Marktdächer haben sich vor allem in England und Frankreich, aber auch in Italien erhalten. Der Raum, den sie bilden, geht meistens ringsum in den Freiraum des Markt­ platzes über. Es gibt aber auch Markthallen mit festen Mauern und verschließ­ baren Toren. Im Innern bieten auch sie zunächst eine undifferenzierte Fläche, auf der sich die Markt-Beschicker einrichten konnten. Dauerhafte Einbauten, und damit eine feste Aufteilung in „Parzellen“, wurden freilich dadurch begünstigt, daß die Abschließbarkeit solcher Hallen eine Sicherung bot, die es ermöglichte, unverkaufte Ware über Nacht am Platz zu belassen. Solche Markthallen sind z. B. in den Erdgeschossen der Rathäuser in Bremen (1407) oder Eßlingen (1430) erhalten. Ein selbständiges zweigeschos­ siges Gebäude dieser Funktion ist das „Konzilsgebäude“ in Konstanz (1388). Uber das „Kaufhaus“ in Mainz, einen repräsentativ gestalteten Bau von 1316/17, der im 19. Jahrhundert abgebrochen wurde, sind wir durch Abbil­ dungen und Bauaufnahmen gut informiert. „Kaufhaus“ war die gängige Bezeichnung solcher Marktgebäude22, ehe dieses Wort seit dem 19. Jahrhundert auf eine andere Organisationsform groß­ städtischen Handels übertragen wurde. Die Errichtung von Gebäuden mit einzelnen, in der Bauanlage schon getrennten „Läden“ (die Bezeichnung kommt von den Klappläden, mit denen sie verschlossen werden konnten), ist eine weitergehende Fixierung eines Marktbereichs. Es ist aber nicht etwa die jüngste Entwicklungsstufe, sondern für Handelseinrichtungen eine sehr alte Bauform. Wir finden schon hellenisti­ sche Agora-Anlagen und römische Foren mit Ladenzellen gesäumt, und die Bazare des islamischen Bereichs23 haben seit ihrer Entstehung die gereihten Ladenzellen als kennzeichnendes Element. Auch in den mittelalterlichen Marktgebäuden Europas ist die Reihung der Ladenzellen gar nicht so selten. Ein Bau freilich, der wie unser Heilsbronner Brothaus von solchen Zellen völlig ausgefüllt wird und keine Verkehrsflächen einbezieht, ist ungewöhnlich. Ein direktes Parallelbeispiel vermögen wir bisher nicht zu nennen. Es sind vor allem zwei Fragen, die sich im Zusammenhang mit dem Nürn­ berger Bau stellen:

22 Dazu generell: G. Nagel, Das mittelalterliche Kaufhaus und seine Stellung in der Stadt, Berlin 1971. — Zum Marktwesen s. jetzt: E. Ehmann, Markt und Sondermarkt, Nürnberg 1987. 23 M. Scharabi, Der Bazar, das traditionelle Stadtzentrum im Nahen Osten und seine Handels­ einrichtungen, Tübingen 1985.

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Warum ist der Bautyp mit den gegeneinander fest abgegrenzten und mit Türen verschließbaren Zellen gerade für ein Brothaus gewählt — oder gar entwickelt worden? Wie kommt das Kloster Heilsbronn dazu, in Nürnberg ein Brothaus zu errichten und zu betreiben? Brot wird vom Bäcker täglich — werktäglich jedenfalls — gebacken und ver­ kauft, während andere Lebensmittel oft nur an wenigen, bestimmten Wochen­ tagen auf den Markt kommen. Auch ist der Brotverkauf saisonunabhängig. Es gibt keine Jahreszeit, in der er unterbrochen wäre. Ein festes Gebäude für den Brotverkauf ist also sinnvoll, und bei täglichem Warenangebot liegt es auch nahe, dauerhafte Läden einzurichten. Wir finden den Brotverkauf in solchen Ladenreihen tatsächlich auch andern­ orts, so z. B. in Nördlingen, wo im Erdgeschoß des Tanzhauses 12 Läden diesem Zweck dienten. 12 Läden in Nördlingen, in Nürnberg aber allein 25 im Erdgeschoß des Heilsbronner Brothauses und wohl etwa noch einmal so viele im Obergeschoß: Das Zahlenverhältnis ist auffällig. Denn Nürnberg war zwar im 13./14. Jahrhundert sicher auch schon größer als Nördlingen, aber doch nicht in diesem Maß. Zudem gab es in Nürnberg, wie wir aus der Kaufurkunde von 1332 wissen24, auch noch ein städtisches Brothaus, über dessen Größe wir aber nichts erfahren. Die einfachste Erklärung für die große Zahl von Läden im Heilsbronner Brothaus wäre die, daß der Bau nicht nur diesem einen Zweck diente, sondern Läden verschiedener Branchen beherbergte und seinen Namen von einer mar­ kanten Teilfunktion als pars pro toto erhalten hat. Von den Läden im Rathaus-Erdgeschoß wird berichtet: „Anfangs aus­ schließlich den Tuchmachern Vorbehalten, änderte sich ihre Nutzungsfunktion seit dem 15. Jahrhundert mehrfach. In der Dürerzeit etwa wurden ,unter dem Rathaus4 vor allem Kunstwerke, Bücher und Graphik verkauft.“25 Das müßte im 14. Jahrhundert zwischen Vorgänger- und Nachfolgebau gar keinen abrupten Nutzungswechsel bedeutet haben, wenn man annimmt, daß die Läden des Rathausneubaus einer Branche überlassen wurden, die im Altbau ebenfalls schon Platz gefunden hatte. Unserer zweiten Frage kommen wir mit diesen Überlegungen aber noch nicht näher: Wie kommt das Kloster Heilsbronn dazu, in Nürnberg ein sol­ ches Handelsgebäude zu errichten? Die Schriftquellen lassen uns dabei völlig im Stich. So werden wir auf die Frage keine bündige und beweisbare Antwort erwarten dürfen; doch der historische Überblick über das Verhältnis von 24 Der Rat räumt dem Kloster ein Pfandrecht ein „domum nostram, que vulgariter Brothaus dicitur, sitam prope vicum Judeorum iuxta domum Ulrici dicti Haller . . Mummenhoff a. a. O. (s. Anm. 2), S. 245. 25 Mende a. a. O. (s. Anm. 3), S. 33.

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Städten zu Klöstern im allgemeinen und über die spezielle Nürnberger Situa­ tion läßt Aussagen zu, die immerhin ein gewisses Maß an historischer Wahr­ scheinlichkeit für sich beanspruchen können. Der Zisterzienserorden breitete sich seit dem 2. Viertel des 12. Jahrhunderts in Deutschland rasch aus. Die Klöster konnten auf der jahrhundertelangen Tradition der Benediktiner aufbauen, waren aber straffer organisiert. Der Grundbesitz, der die wirtschaftliche Basis des einzelnen Klosters bildete, kam meistens durch viele Einzelstiftungen zusammen und lag deshalb weit ver­ streut. Um das Acker- und Weideland bewirtschaften zu können, legten die Klöster eigene Höfe an, die sog. Grangien, die mit Laienbrüdern besetzt wurden. Dabei wurde oft mehr erwirtschaftet, als das Kloster für den eigenen Bedarf benötigte. Andererseits konnte der benediktinische Grundsatz der klö­ sterlichen Eigenversorgung26 kaum je lückenlos durchgehalten werden. Das bedeutete, daß die Klöster trotz ihrer bewußt abgelegenen Situierung auf einen Markt angewiesen waren, und den fanden sie in den Städten, die seit dem 12. Jahrhundert — also gleichzeitig mit den Zisterziensergründungen — ent­ standen. Die Zisterzienser hatten von Anfang an eine feste und bewährte Organisationsform, während sich die städtischen Ordnungen erst allmählich entwickeln mußten. Die Stadtgründer verfolgten bestimmte politische und wirtschaftliche Ziele. Sie behielten die Stadtherrschaft zunächst in der Hand und übten sie durch ihre Beauftragten aus. Die Formen, in denen die Bürger­ schaft selbst handeln und Selbstverwaltungsaufgaben übernehmen konnte, mußten erst gefunden werden. Dann erst bestanden die Voraussetzungen, um nach und nach Funktionen des Stadtherrn zu übernehmen und diesen womög­ lich ganz zu verdrängen. Gemeinschaftsaufgaben wie Bau und Unterhalt der Befestigung oder von Brücken hatten die Kräfte der jungen Städte sicher weitgehend absorbiert, wenn der Stadtherr nicht mehr für Organisation und Finanzierung dieser Angelegenheiten sorgte. In dieser Phase mußte es den Städten lieb sein, wenn sich potente Personen oder Institutionen innerhalb der Mauern niederließen und engagierten. Nahezu alle Zisterzienserklöster haben in den umliegenden — und manchmal auch in weiter entfernten — Städten Höfe angelegt, die ihnen als Stützpunkte dienten, hauptsächlich, um die Verbindung zum städtischen Markt herzustellen. Aber in einzelnen Fällen gingen klösterliche Aktivitäten weiter: In Lüneburg z. B. betrieben mehrere norddeutsche Zisterzen Sud­ pfannen bei der Sülze, d. h. sie traten als Salzproduzenten auf. Das Kloster 26 Regula Scti. Benedicti, cap. 66: . . womöglich lege man das Kloster so an, daß sich alles Nötige, Wasser, Mühlen, Garten und die verschiedenen Werkstätten innerhalb der Kloster­ mauern befinden, damit die Mönche nicht gezwungen sind, draußen herumzugehen, weil das ihren Seelen durchaus nicht zuträglich ist. . .“ Zitiert nach: Die Klosterregel des Hl. Benedikt, Übersetzung von P. Pius Bihlmeyer OSB, Beuron 1939, S. 128.

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Raitenhaslach an der Salzach organisierte den Salzhandel Inn- und Donau-abwärts, und das seeschwäbische Salem übernahm die gleiche Aufgabe in Ober­ schwaben und im Bodenseegebiet. In Konstanz scheint der Salzverkauf im Salemer Hof monopolisiert gewesen zu sein. Das erste „Kaufhaus“ in Graz wurde vom Kloster Rein gebaut. Die Reihe solcher Beispiele ließe sich verlän­ gern. In all diesen Fällen setzten die Klöster etwas ein, was in den Städten zunächst fehlte: Organisationsfähigkeit und Kapitalkraft. Man könnte diese klösterlichen Aktivitäten in den Städten als „Entwicklungshilfe“ bezeichnen, womit ja keineswegs behauptet wird, daß sie uneigennützig geschahen. Seit dem 13. Jahrhundert wandeln sich die Verhältnisse. Mit dem Auf­ kommen der Bettelorden, die sich ja prinzipiell in den Städten niederließen, ließ der Zulauf zu den Zisterziensern stark nach. Die Klöster konnten ihre Besitzungen nicht mehr mit eigenem Personal bewirtschaften und gingen zum Verpachten, vor allem des Streubesitzes, über. Andererseits sank der Eigen­ bedarf, weil die Zahl der Klosterangehörigen, die ernährt werden mußten, ja geringer wurde. Umso mehr waren Überschüsse auf den Markt zu bringen, und zur Verwal­ tung der Pachtgüter eigneten sich Niederlassungen in den verkehrsgünstig gelegenen Städten besser als die abgelegenen Klöster selbst. Die Bedeutung der Klosterhöfe in den Städten nahm zu. Viele wurden erst im 13./14. Jahrhundert neu angelegt. Gleichzeitig wuchsen Bedeutung und Wirtschaftskraft der Städte und damit die Fähigkeit, ihre Angelegenheiten selbst in die Hand zu nehmen. Wo man es in der Frühzeit — bis ins 13. Jahrhundert hinein — sicher gern gesehen hatte, wenn Klöster Teile des Marktes organisierten, war dies dann nicht mehr nötig und bald auch unerwünscht. Früher oder später übernahmen die Städte die klösterlich organisierten Marktbereiche in eigene Regie. Wie waren nun auf diesem Gebiet die Verhältnisse in Nürnberg? Der 1050 erstmals genannte Ort gewann zwar rasch an Bedeutung, nicht zuletzt durch die 1070 einsetzende Sebalduswallfahrt27, aber städtischen Charakter wird er in salischer Zeit noch nicht gehabt haben. Es dauerte bis ins 14. Jahrhundert, bis die letzten Hoheitsrechte des kaiserlichen Stadtherrn an die Stadt selbst über­ tragen wurden, und erst im 15. Jahrhundert gelang es, auch den Burggrafen aus der Stadt zu drängen, der Vertreter des Kaisers als Burgherr gewesen war, aber anscheinend lange versucht hatte, auch die politische Stadtherrschaft an sich zu bringen. 27 Lampert von Hersfeld schreibt in seinen Annalen zum Jahr 1072: „Clara et celebris valde his temporibus per Gallias erat memoria sancti Seboldi in Nuorinberg et sancti Heimeradi in Hasengun et magno populorum consursu quottidie frequentabantur propter opitulationes, quae divinitus languentibus sepenumero conferebantur.“ Die Annalen von Augsburg und Weißen­ burg i. Elsaß melden den Beginn der Wunderheilungen schon 1070.

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Zwei Zisterzienserabteien haben in Nürnberg Klosterhöfe angelegt, und zwar beide auf der Lorenzer Stadtseite. Der Ebracher Hof lag an der Stelle des Telegraphenamtes zwischen Karolinenstraße und Adlerstraße28. Der Heils­ bronner Hof lag nördlich des Chores von St. Lorenz auf dem späteren Gelände der Bayerischen Staatsbank29. Er blieb bestehen, als 1332 das Brothaus aufge­ geben wurde. Die beiden Raten des jährlichen Erbbauzinses von 100 lb. h. waren laut Urkunde von 1332 an Walpurgis (1. Mai) und an Martini (11. November) dort zu entrichten. Mit diesen Stadthöfen waren die unmittelbaren Bedürfnisse befriedigt, die die Abteien in Nürnberg hatten: ein ständiges Absteigequartier, eine Verwal­ tungs-Außenstelle und eine Sammel- und Lagerungsmöglichkeit für Produkte der Klostergüter, die auf den städtischen Markt kommen sollten. In Funktion und Bauprogramm stimmten die Nürnberger Höfe — soweit wir solche Fest­ stellungen auf Grund der lückenhaften Überlieferungen überhaupt noch treffen können — überein mit den vielen Dutzenden von Klosterhöfen, die wir in mittelalterlichen Städten finden30. Wenn Heilsbronn in Nürnberg einen zweiten, anders gearteten Stützpunkt unterhielt, muß dies einen besonderen Grund gehabt haben, und der läßt sich wenigstens vermutungsweise erschließen: Das unmittelbare Umland Nürn­ bergs hat keine für den Getreideanbau geeigneten Böden. So spielen in der Stadt auch die Ackerbürger keine Rolle, deren Häuser und Scheunen z. B. in Rothenburg ob der Tauber ein prägendes Element im Stadtbild sind. Das für die Ernährung der Nürnberger Bevölkerung erforderliche Getreide mußte aus größerer Entfernung beigebracht werden. Das Kloster Heilsbronn, das in der Luftlinie 25 km von Nürnberg entfernt liegt, hatte Besitzungen, auf denen Getreide angebaut wurde31, und fand in der Stadt Nürnberg einen Abnehmer für seine Überschüsse. In der Frühzeit übernahm das Kloster anscheinend nicht nur die Lieferung, sondern auch die Organisation des Absatzes. Das Brot, das die Nürnberger Bäcker im Heilsbronner Brothaus feilboten, werden sie. so dürfen wir annehmen, wohl aus Mehl gebacken haben, das aus klöster­ lichem Getreide gemahlen war. Freilich haben wir keine Anhaltspunkte, wie der Transport, das Mahlen und die Verteilung im einzelnen organisiert waren. Für die zeitliche Einordnung des hier als Vermutung Skizzierten gibt es wenig sichere Hinweise. Zwar sind verschiedene Grunderwerbungen des Klo28 Beim Abbruch 1901 wurden besonders interessierende Teile geborgen. Empore und Gewölbe der 1482/83 gebauten Kapelle sind 1916 in den von German Bestelmeyer errichteten Neubau des Germanischen Museums eingefügt worden. Vgl. E. Franz, Der Ebracher Hof zu Nürnberg, Bamberg 1928. 29 Die Nikolauskapelle ist erst 1848/49 abgetragen worden. 30 Vgl. dazu Haas-Cramer a. a. O. (s. Anm. 19). 31 Zum Heilsbronner Klosterbesitz: Alfred Heidacher, Die Entstehungs- und Wirtschafts­ geschichte des Klosters Heilsbronn, Bonn 1955.

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sters in Nürnberg überliefert, doch ist meist nicht ganz eindeutig, auf welche Grundstücke sich die einzelnen Nachrichten beziehen, und es ist auch keines­ wegs sicher, daß wir von jedem Grunderwerb Heilsbronns in Nürnberg Kenntnis haben. Eine Urkunde vom 2. Januar 125432, die festhält, daß eine Witwe Diemund und ihr Sohn Arnold dem Kloster Heilsbronn ein Grundstück überlassen, das an der Platzecke gegenüber dem Haus des Heinrich vom Stein liegt („aream sitam in cornu platee, que est ex opposito domus domini Heinrici de Lapide“), wird auf das spätere Rathausareal bezogen33. Wenn diese Zuordnung richtig ist, bietet sie einen terminus post quem für die Errichtung des Brothauses. Die Verhältnisse, in denen wir den Grund für diese Institution vermuten, könnten auch schon einige Jahrzehnte früher bestanden haben, doch wäre auch das 6. Jahrzehnt des 13. Jahrhunderts als Bauzeit des in Resten erhaltenen Hauses noch glaubhaft. Doch auch ein späterer Grunderwerb der Heilsbronner in Nürnberg wird mit dem Rathausgrundstück in Verbindung gebracht34. 1296 wurden sie Eigen­ tümer des Hauses der Mechtild, Gemahlin des Bäckers Gottfried35. Für unseren Bau und seine vermutete Begründung wäre das freilich ein erstaunlich später Zeitpunkt. Die ganze Geschichte des Brothauses von der Errichtung über Brandzerstörung und Wiederaufbau bis zur Veräußerung hätte sich dann innerhalb von nur 36 Jahren abgespielt. Das aber wäre ein — wörtlich — unglaublich kurzer Zeitraum. Auch für die Hintergründe der Vorgänge von 1332 sind wir auf Vermu­ tungen angewiesen. Das Kloster überließ in diesem Jahr sein Grundstück der Stadt, die darauf ihr Rathaus errichtete. Wir erfahren nichts davon, daß das Kloster an anderer Stelle Ersatz geschaffen hätte, wohl aber von der Existenz eines städtischen Brothauses. Könnte es nicht sein, daß es von der Stadt ange­ legt wurde, um mit dem klösterlichen Brothaus zu konkurrieren oder gar, um es zu verdrängen? Das Kloster räumte 1332 das Feld — aber nur, was seine Mitwirkung bei der Marktorganisation und damit bei der Ausübung quasi-ho­ heitlicher Funktionen anging. Das Grundstück wurde nicht verkauft, sondern 32 Nürnberger Urkundenbuch, Nürnberg 1959, Nr. 352, S. 214. — Urkundenregesten des Zister­ zienserklosters Heilsbronn, T. 1, Würzburg 1957, Nr. 87, S. 48. 33 Als Vermutung im Nürnberger Urkundenbuch S. 536 bei Nr. 903. Danach Mende a. a. O. (s. Anm. 3), S. 103, Anm. 40. Hier ist zu berichtigen, daß Schultheiß und Bürgerschaft nicht als Verkäufer auftreten, sondern als Notare den Besitzwechsel beurkunden. — Urkundenregesten des Zisterzienserklosters Heilsbronn, T. 1, Würzburg 1957, Nr. 223, S. 115. 34 A. Kohn, Die Umgebung von St. Sebald im Mittelalter. In: Helmut Baier (Hrsg.), 600 Jahre Ostchor St. Sebald - Nürnberg 1379—1979. Nürnberg 1979, S. 72 f. Anm. 38. 35 Nürnberger Urkundenbuch a. a. O. (s. Anm. 32) Nr. 903, S. 536. Dort wird diese Schenkung auf das Grundstück des Heilsbronner Hofes bei St. Lorenz bezogen (Bankgasse 9; Ältere Bezeichnung L 10).

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Die Lochgefängnisse als Heilsbronner Brothaus

„iure emphiteotico“, d. h. im Erbbaurecht (emphytetisch), der Stadt über­ lassen. Der beträchtliche Erbbauzins von 100 lb. h. im Jahr gibt einen Anhalts­ punkt dafür, welchen Nutzen das Kloster aus dem Betrieb des Brothauses hatte ziehen können. Das vereinbarte Pfandrecht des Klosters an dem städti­ schen Brothaus setzt voraus, daß man dort mit mindestens dem gleichen Ertrag rechnen konnte. Für das Wirtschaften der Zisterzienserklöster im 14. Jahrhundert dürfte der Nürnberger Vorgang von 1332 charakteristisch sein. Die Abtei Heilsbronn zog sich aus einem Stück aktiver Tätigkeit zurück und verwendete einen Teil ihres Grundbesitzes, um daraus eine regelmäßige Rente in Geld zu ziehen.

Plan 7:

Nürnberg, Lochgefängnisse: Die vom ursprünglichen Bau des Heilsbronner Brothauses erhaltenen Teile. Isometrie. Maßstab 1:400. Zeichnung: K. Tragbar.

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Walter Haas

Zur Rekonstruktion des Brothauses

Der Baubefund hat ergeben, daß das ehemalige Erdgeschoß des Brothauses noch zu einem erheblichen Teil erhalten ist (Plan 7), und er hat Hinweise auf das ehemalige Obergeschoß gegeben. Weiterreichende Folgerungen läßt der Befund nicht zu, doch mit den allgemeineren Überlegungen, die hier angestellt wurden, erhält die Phantasie neue Nahrung.

EU. Pläne 8—11:

\ f

HF

Nürnberg, Brothaus des Klosters Heilsbronn, Rekonstruktionsversuche des Quer­ schnitts: dreigeschossig, oberstes Geschoß in Fach werk; dreigeschossig, oberstes Geschoß massiv; zweigeschossig mit Holzdecken (vor dem Brand); zweigeschossig mit Gewölben im Erdgeschoß (nach Brandreparatur). Maßstab 1:400. Zeichnung: K. Tragbar.

Wenn das Brothaus, wie wir vermuten, eine Einrichtung war, die nicht nur der Versorgung der Bevölkerung mit Brot, sondern auch dem Getreideabsatz des Klosters dienen sollte, dann müßte es nicht nur Verkaufsräume, sondern auch Lagerräume enthalten haben. 28

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Die Lochgefängnisse als Heilsbronner Brothaus

Uber dem festgestellten unteren und dem erschlossenen oberen Laden­ geschoß könnte es noch ein Vorratsgeschoß gegeben haben, das ebensogut als Massivbau denkbar ist wie als Fachwerkaufsatz auf den beiden Massiv­ geschossen. Auch den Dachraum kann man sich mit mehreren Lagerböden übereinander aufgefüllt vorstellen, wobei es keinen wesentlichen Unterschied ausmacht, ob dort Getreide geschüttet oder Mehlsäcke gelagert wurden. Diese Überlegung zum Dach ist unabhängig davon, ob es unmittelbar auf die Laden­ geschosse folgte, oder ob noch ein zweites Obergeschoß eingefügt war (Pläne

8-11)36.

Pläne 12—15: Nürnberg, Brothaus des Klosters Heilsbronn, Rekonstruktionsversuche des Bau­ körpers: Zweigeschossig mit Satteldach; zweigeschossig mit Walmdach; dreige­ schossig mit Obergeschoßerschließung an den Längsseiten; dreigeschossig mit umlaufender Obergeschoßerschließung. Isometrische Skizzen: K. Tragbar. 36 Mit Hilfe der Deutschen Forschungsgemeinschaft wurden in den Jahren 1986 und 1987 in einer großen Serie von Schnitt-, Grundriß- und Massenskizzen alle denkbaren Rekonstruktionsmög­ lichkeiten durchgespielt. Diese Untersuchung ermöglicht es, hier verschiedene Rekonstruk­ tionen als unmöglich oder unwahrscheinlich auszuschließen und andere als wahrscheinlicher darzustellen. Die Arbeit wurde hauptsächlich von A. B. Tschira und Th. Dreesen durchgeführt.

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Walter Haas

Der Dachkörper ist als Walmdach denkbar, das sich aus der Grundrißdispo­ sition konsequent ableiten ließe. Ein Satteldach hätte in seinen Giebeln einfa­ chere Möglichkeiten, Ladeluken und äußere Lastenaufzüge anzubringen. Auch scheint der Baukörper mit Satteldach und Giebeln bei großen städtischen und klösterlichen Gebäuden im ganzen Mittelalter die geläufigere Bauform gewesen zu sein. Dennoch ist eine sichere Entscheidung hier nicht zu treffen (Pläne 12-15). Da das gotische Rathaus im Obergeschoß über den ebenerdigen Läden einen Saal enthält, ist zu erwägen, ob es vielleicht auch damit eine Disposition des Vorgängers wiederholt. Säle im Obergeschoß, meist über eine Außentreppe zugänglich, sind ja eine häufige Erscheinung im mittelalterlichen Profanbau. Im zweiten Obergeschoß kommen Säle aber außer an den Palasbauten man­ cher Pfalzen kaum vor. Für das Heilsbronner Brothaus dürfte die Ladennut­ zung des ersten Obergeschosses, die wir hier wahrscheinlich gemacht haben, es ausschließen, daß darüber noch ein Saal angeordnet war. Nicht nur was die Lage angeht, sondern auch mit seinen Läden war das Brothaus ein Vorgänger des Rathauses. Oberhalb dieser Zone möchten wir in ihm eher einen Vorgänger der Mauthalle oder der Kaiserstallung sehen, die beide zwei Jahrhunderte später als Vorratshäuser errichtet worden sind, und zwar, wie es für die Zeit um 1500 selbstverständlich war, von der Stadt.

* Der Rathausbau von 1332/40 markiert einen wesentlichen Schritt der Stadt­ entwicklung Nürnbergs. Die Stadt schuf sich mit diesem Gebäude ein Zen­ trum bürgerlichen Lebens und städtischer Selbstverwaltung, und sie beseitigte zugleich eines der letzten Stücke von nicht-städtischer Marktorganisation. Sie begann gleichzeitig mit der kräftigen Aufhöhung des Geländes die weit­ reichende Neugestaltung des flußnahen Bereichs, die Voraussetzung für das Zusammenwachsen der beiden Stadthälften war. Die Größe des Bauwerks, die ihm unter den süddeutschen Rathäusern des 14. Jahrhunderts eine heraus­ ragende Stellung verschafft hat37, geht auf die Dimensionen zurück, mit denen schon der klösterliche Bau des 13. Jahrhunderts einen Maßstab in die Stadt gebracht hatte, der seitdem den öffentlichen Profanbau Nürnbergs bestimmt.

37 J. Paul, Das Rathaus. In: W. Busch und P. Schmoock (Hrsg.), Kunst, Die Geschichte ihrer Funktionen, Weinheim u. Berlin 1987, S. 334—365. Bes. 351 ff.

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DIE SELDNER Ein Beitrag zur Erforschung der nichtpatrizischen Nürnberger Kaufleute Von Gerhard Seibold Nicht nur für Nürnberg, sondern ganz allgemein gilt, daß die Geschichte der Stadtadelsgeschlechter weit besser erforscht ist als die Lebensumstände der nachrangigen mittleren und unteren Bevölkerungsschichten. Dabei hat diese Aussage nicht nur für die eher „privaten“ Lebensumstände einzelner Familien bzw. bestimmter Personen Gültigkeit, sondern auch in Bezug auf ihre ökono­ mischen Verhältnisse. Daß Letzteres bei der Erforschung einer Kaufmanns­ familie wohl von nachhaltiger Bedeutung ist, versteht sich von selbst, vor allem, wenn man sich mit der Blütezeit Nürnbergs in der ersten Hälfte des 16. Jhds., befaßt. Nicht nur auf wirtschaftlichem, sondern auch auf politi­ schem und künstlerischem Gebiet wirkte Nürnberg in dieser Zeit weit über seinen engeren Machtbereich hinaus, war bedeutsam für die ganze damals bekannte Welt. Dabei dürfen diese einzelnen Faktoren nicht isoliert gesehen werden. Sie haben sich wechselseitig bedingt. Nur in ihrem Zusammenspiel konnten derart außerordentliche Leistungen vollbracht werden. Wegbereiter der wirtschaftlichen Entwicklung war sicherlich die großzügige Förderung der Stadt durch die luxemburgischen Kaiser mittels Privilegien und Handelsfrei­ heiten. Die günstige geographische Lage im Herzen Mitteleuropas und die vorteilhafte Anbindung der Stadt an wichtige Verkehrsadern taten ein übriges. Hilfreich war auch die Gewerbe und Handel fördernde Politik des Stadtregi­ mentes und das starke Engagement der am Wirtschaftsprozeß beteiligten Per­ sonen. Die hiesigen Kaufleute verstanden es, dem heimischen Gewerbe die notwendigen Rohstoffe zu verschaffen, ein nicht zu unterschätzendes Moment, wenn man hier Nürnbergs schlechte Ausgangslage betrachtet, und die Fertigprodukte zu vermarkten. Daraus mußten sich, wie in dieser Zeit all­ gemein üblich, mehr oder weniger zwangsläufig Geldgeschäfte ergeben1. Getragen wurde diese Entwicklung zunächst von einem kleinen Kreis von Kaufmannsfamilien, die sich durch Heiraten miteinander verbanden und die schließlich auf Grund ihrer wirtschaftlichen Macht zum Stadtadel aufsteigen konnten. Vornehmstes Ziel des Patriziats war es, anderen Familien, die den­ selben Weg nur Jahrhunderte später beschritten, den Zugang zu ihrem Kreis 1 Einen Überblick über die wirtschaftliche Situation Nürnbergs gibt Stromer von Reichenbach, Wolfgang von: Wirtschaftsleben unter den Luxemburgern. In: Nürnberg - Geschichte einer europäischen Stadt, München 1971, S. 92—99, und Kellenbenz, Hermann: Wirtschaftsleben im Zeitalter der Reformation. In: Nürnberg - Geschichte einer europäischen Stadt, München 1971, S. 186-193.

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zu versagen. Es kommt daher nicht von ungefähr, daß die Geschichte der Stadtadelsfamilien weit besser bekannt ist als die der nichtpatrizischen Kauf­ leute2. Schon frühzeitig begann man damit, Nachrichten über die eigene Familie systematisch zu sammeln. Zwar standen hier eindeutig biographische Fakten, welche die Ehrbarkeit der eigenen Familie manifestierten, im Vorder­ grund, doch haben sich speziell in Nürnberg auch genügend Zeugnisse erhalten, die die wirtschaftlichen Aktivitäten belegen. Dies gilt leider nicht in gleichem Maße für die Kaufleute aus der Mittelschicht. Ihre Lebensumstände sind zumeist von einer enormen Mobilität gekennzeichnet, d. h. der Bereit­ schaft, den Wohnort zu wechseln, wenn es die wirtschaftliche und/oder gesell­ schaftliche Interessenlage erforderlich machte. Insoweit geschah es nicht eben selten, daß einzelne Personen oder Familien quasi aus dem Nichts heraus in Nürnberg in Erscheinung traten, respektable wirtschaftliche Erfolge aufwiesen und damit ihren sozialen Status entscheidend verbessern konnten, dann aber wieder genauso schnell verschwanden. Diesbezügliche Nachrichten finden sich oft nur verstreut im vorhandenen Archivgut; ein Überblick ist meist das Ergebnis einer Reihe von Zufallsfunden. 1) Herkommen und frühe Namensträger

Zu diesem Personenkreis gehörten auch die Seldner. In Nürnberger Quellen lassen sie sich erstmals 1504 feststellen. Nicht weniges spricht dafür, ihre ange­ stammte Heimat im weltlichen Herrschaftsbereich des Bistums Eichstätt zu vermuten. Über Graz und Wien, möglicherweise auch München, haben sie den Weg wieder zurück in die fränkische Heimat, allerdings dann nach Nürnberg, gefunden. Von der zweiten Nürnberger Seldner-Generation läßt sich nachweisen, daß diese in der Person des Sigmund Seldner 1538 in Bechhofen (Pechhof), nordöstlich von Abenberg begütert war und aus dem Besitz den Zehnten an den Bischof von Eichstätt abführte. Dabei wurde festgestellt, daß hier auch schon die weiteren Vorfahren, mindestens die Großeltern des derzei­ tigen Steuerpflichtigen, Landbesitz hatten3. 2 Wegen Veröffentlichungen zum Thema nichtpatrizische Kaufleute im Nürnberg des 16. Jhds., vgl. Kömmerling-Fitzler, Hedwig: Der Nürnberger Kaufmann Georg Plock (gest. 1528/29) in Portugiesisch-Indien und im Edelsteinland Vijanyanagara. In: Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg (MVGN), Band 55, Nürnberg 1967/68, S. 137—184. Petsch, Christoph: Die Nürnberger Familie von Lochaim. Ein Kaufmannsgeschlecht des 14. —16. Jhds. In: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte, 29, München 1966, S. 212—238. Kellenbenz, Hermann: Alberto Cuon (Kühn). Auf den Spuren eines Nürnberger Kaufmanns in Valladolid. In: NORICA, Beiträge zur Nürnberger Geschichte. Nürnberg 1961, S. 21—27. Schaper, Christa: Die Familie Tracht — Kaufleute und Unternehmer. In: MVGN, Band 64, Nürnberg 1977, S. 46—85. Ahlborn, Joachim: Die Familie Landauer. Vom Maler zum Montanherrn. Nürnberg 1969. Wegen weiterer entsprechender Beiträge siehe Fußnoten 8, 23, 56, 59. 3 Staatsarchiv Nürnberg (StaatsAN): Rep. 60 a, Band 888, S. 5, Band 447, S. 14.

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Die Seldner

Ein erneuter Hinweis auf diese fränkische Stadt ergibt sich aus einem Güter­ verkauf zu Meilenhofen südlich von Eichstätt, den ein anderer Sigmund Seldner für seine Schwester Margarethe im Jahre 1475 vornahm. Deutlich wurde zum Ausdruck gebracht, daß der freieigene Hof vorher dem Vater der Geschwister, Fritz Seldner, gehörte. Zum Zeitpunkt des Geschäfts und noch bis zum Jahre 1478 läßt sich Sigmund als kaiserlicher Rat und Forstmeister in der Verwaltung Innerösterreichs nachweisen. Dieses Territorium, bestehend aus der Steiermark, Kärnten, Krain, Friaul und Triest, war Kaiser Fried­ rich III. im Jahre 1450 bei der Erbteilung mit seinen Habsburger Verwandten zugesprochen worden. Graz war Zentrum dieses Herrschaftsbereichs. Unter den deutschsprachigen Grazer Einwanderern, die nicht aus dem näheren Umland stammten, nahmen Nürnberger, vorwiegend Kaufleute, zahlenmäßig die erste Stelle ein. Was aber nun den Grazer Sigmund Seldner mit dem Nürnberger Bürger gleichen Namens über dieses Faktum hinaus verbindet, schließlich auch ihr verwandtschaftliches Verhältnis als Großvater und Enkel erweist, ist die Tat­ sache, daß ein Gabriel Seldner aus Graz im Wintersemester 1498/99 an der Wiener Universität eingeschrieben war4. Dieser kann Jahre später, 1514, als Pfarrer zu Pirchenwart (wohl Pyhrawarth, Niederösterreich) und Bruder des Wolfgang Seldner nachgewiesen werden, während letzterer als Onkel des Sig­ mund Seldner von Nürnberg eindeutig belegt ist. Gabriel und Wolfgang wurden gleichzeitig als Söhne Sigmund Seldners d. Ä. angesprochen5. Die Erkenntnisse werden schließlich auch von einer anderen Quelle bestätigt, der zunächst wenig Wahrheitsgehalt beigemessen wurde. In der Ahnenliste des Philipp Burk, Praeceptor im schwäbischen Neuffen, tauchen auch die Seldner auf, beginnend mit einem Friedrich Seldner verheiratet mit Margaretha Hüter aus Nürnberg. Zwar läßt sich eine Familie Hüter in Nürnberg nachweisen, doch kann keine Verbindung hergestellt werden. Im übrigen gab es Namens­ träger auch in Memmingen; im Hinblick auf spätere verwandtschaftliche Beziehungen der Seldner gerade zu dieser Stadt sicherlich keine völlig abwe­ gige Vermutung. Der Sohn aus dieser Ehe, Sigmund d. Ä., war mit Dorothea Pötschner aus der bekannten Münchner Patrizierfamilie vermählt. Leider wurden vom Verfasser die Quellen, auf welchen seine Veröffentlichung be­ ruhte, wie dies bei genealogischen Forschungen häufig der Fall ist, nicht genannt, so daß die aufgezeigte Verbindung zu München und Nürnberg als mögliche Fiktion betrachtet werden muß6. 4 Die Hinweise auf Graz und Gabriel Seldner verdanke ich Richard Perger, Wien. Im übrigen vgl. Dienes, Gerhard Michael: Die Bürger von Graz. Graz 1979, S. 19, CXCIV. 5 Institut für Österreichische Geschichtsforschung (HG): Allgemeine Universitätsmatrikel, Wien. Band II/2, Wien 1967. Perger, Richard: Nürnberger im mittelalterlichen Wien. In: MVGN, Band 63, Nürnberg 1976, S. 37. 6 Suhrkamp, Ernst: Ahnentafel von Philipp Burk, Praeceptor zu Neuffen. In: Suhrkamps Samm­ lung von Ahnen- und Stammtafeln, Nr. 47, o. O. o. J.

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Der Tod des Ladislaus Posthumus bescherte Kaiser Friedrich einen erneuten Gebietszuwachs (1497). An ihn fiel Wien mit Niederösterreich. Obwohl diese Stadt in der Folgezeit wiederholt von den Ungarn besetzt worden ist,* scheint sich eine Verlagerung des politischen Zentrums nach Osten vollzogen zu haben, zunächst nach Wiener Neustadt, später nach Wien. Damit einher­ gegangen sein mag auch das Auftauchen der Seldner in der nunmehrigen öster­ reichischen Hauptstadt. Wien scheint dann für einige Jahre Wohnsitz für die Seldner gewesen zu sein, für viele Jahrzehnte Schwerpunkt ihrer wirtschaft­ lichen Interessen. Jedenfalls waren sie später in Nürnberg als Wiener Kaufleute bekannt. Barbara, die Witwe des Sigmund Seldner d. A., hatte in Wien 1502 um 65 t ein Haus in der Teinfaltstraße geerbt, welches sie 1514 ihren Söhnen Gabriel und Wolfgang hinterließ. Nach der Ablösung von Gabriels Anteil ver­ kaufte Wolfgang Seldner das Haus 1524. Ein weiterer Bruder, Martin, vermut­ lich ein Halbbruder, da er an der Hinterlassenschaft der Barbara Seldner keinen Anteil hatte, trat 1509 der Gottsleichnamsbruderschaft von St. Stefan gemeinsam mit seiner Frau Elisabeth, geborener Büffler, bei7. 2) Familiäres Umfeld

Diese Verbindung eröffnete den Seldner weitreichende wirtschaftliche Bezie­ hungen, die für die Interessen des Handelshauses noch über Jahrzehnte hinweg Bedeutung haben sollten. In ihren Wirtschaftsbeziehungen zum Osten war für die Büffler Wien ein wichtiger Warenumschlagsplatz. Das Augenmerk dieser in zwei Linien in Isny vorkommenden Patrizierfamilie konzentrierte sich auf den Leinwandhandel und die Ausbeutung von Bergwerken. Die bedeutend­ sten Vertreter der Familie waren wohl der Bruder der Elisabeth Seldner, Peter Büffler (gest. 1552), und ein entfernter Verwandter, Michael Büffler (gest. 1546). Sicherlich war Peter Büfflers wirtschaftlicher Erfolg, mit den Augsburger Fugger stand er ebenfalls in Geschäftsbeziehungen, auch die Basis für seine großzügige Förderung der Reformation. Nicht nur Ambrosius Blarer wurde von ihm nachhaltig unterstützt, 1539 errichtete er in seiner Heimatstadt auch eine Stiftung zwecks Besoldung eines evangelischen Predigers und zur Anschaffung theologischer Bücher. Dem Isnyer Reformationspfarrer Paul Fagius ermöglichte er die Einrichtung einer hebräischen Druckerei. Schließlich hatte er bereits 1534 eine Stiftung zur theologischen Ausbildung des evangeli7 Stadtarchiv Nürnberg (StadtAN): Nürnberger Wappen- und Geschlechterbuch Nr. 36, S. 299. Perger, Richard: a. a. O., S. 37. Stadtbibliothek Nürnberg (Stadtbibi. N): Amb. 173, S. 72 (In einem Testament wurden 1504 die Eheleute Martin und Elisabeth Seldner genannt. Nachdem dieses Testament in Nürnberg registriert wurde, was offensichtlich mit der Person der Erblas­ serin Ursula, Michel Kramers Tochter, zu tun hat, ist dies ein weiteres Indiz für die Beziehung der Seldner zu Nürnberg. Daraus allerdings auf einen Zuzug des Ehepaars in Nürnberg zu schließen, halte ich nicht für richtig, da sie in Nürnberger Quellen kontinuierlich erst ab 1511 in Erscheinung treten).

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sehen Priesternachwuchses ins Leben gerufen. Michael Büffler hatte sich 1504 in Leipzig niedergelassen. Er war am Goslarer Bergbau beteiligt und gehörte zu den Zinnkäufern in Ehrenfriedersdorf, Thum und Graupen. In Leipziger Quellen wird er als bedeutender Spezerei-, Woll-, Leder- und Fischhändler genannt. Mit den Welser unterhielt er Konsortialbeteiligungen. Gleichzeitig war er Gewerke der vereinigten Gruben um den Rappolt bei Schneeberg im Erzgebirge. Zu diesem Kreis zählte auch der Nürnberger Metallhändler Bruno Engel d. A., dessen Schwiegersohn Michael Büffler war. Über seinen Schwager Bruno Engel d. J. ergaben sich wirtschaftliche Kontakte zu den Straub und Fürer8. Dies waren jedoch nicht die einzigen verwandtschaftlichen Beziehungen zu Nürnberg. Eine Schwester von Elisabeth Seldner und Peter Büffler, Verena, hatte den Nürnberger Kaufmann Peter Erlinger geheiratet und lebte an der Pegnitz. Er hatte 1495 das Nürnberger Bürgerrecht erworben und stammte wie seine Frau aus Isny. In einem Vermögensverzeichnis von hundert Nürnbergern, angelegt von Christoph Scheurl ca. 1500, wird er mit 1000 fl. genannt. Bereits 1509 war Erlinger gestorben9. Das scheint seine Witwe bewogen zu haben, beim Nürnberger Rat um die Entlassung aus dem Bürgerrecht für sich selbst und ihre Kinder nachzusuchen, um in ihre Heimat Isny zurückkehren zu können. Dies wurde ihr schließlich am 18. 3. 1510 für ihre Person zuge­ standen. Erst die Intervention ihres Vaters Conrad Büffler beim Nürnberger Stadtregiment zu Gunsten seiner Enkel ermöglichte auch diesen schließlich, die Stadt zu verlassen. Der Rat war lange Zeit der Meinung gewesen, daß die Vormünder nicht berechtigt wären, eine derartige Entscheidung für ihre Mündel zu treffen. Der alte Büffler mag an diesem Wohnsitzwechsel seiner 8 Für Mitteilungen über die Familie Büffler bin ich Kurt Schaal, Erbstetten, zu großem Dank ver­ pflichtet. Wegen Peter Büffler vgl. Kämmerer, Immanuel: Isny im Allgäu. Kempten 1956, S. 71, und Kämmerer, Immanuel: Die Reformation in Isny. Kempten 1954, S. 10. Wegen Michael Büffler vgl. Werner, Theodor Gustav: Die große Fusion der Zechen um den Rappolt. Teil 1. In: MVGN, Band 56, Nürnberg 1969, S. 157, 171 und Teil 2. In: MVGN, Band 60, Nürnberg 1973, S. 188 f. Ebenso Fischer, Gerhard: Aus zwei Jahrhunderten Leipziger Handelsgeschichte 1470—1650. Leipzig 1929, S. 117—122. Wegen Bruno Engel vgl. Haller von Hallerstein, Helmut Frhr.: Größe und Quellen des Vermögens von 100 Nürnberger Bürgern um 1500. In: Beiträge zur Wirtschaftsgeschichte Nürnbergs, Band 1, Nürnberg 1967, S. 140 f. Pölnitz, Götz Frhr. von: Anton Fugger. Band 1, Tübingen 1958, S. 622 und Band 2, 1. Teil, Tübingen 1963, S. 297. 9 Haller von Hallerstein, Helmut Frhr.: a. a. O., S. 164 f. Die bei Schaper, Christa: Lorenz und Georg Beheim, Freunde Willibald Pirckheimers. In: MVGN, Band 50, Nürnberg 1960, S. 189 geäußerte Vermutung, daß die Erlinger aus Augsburg stammen könnten, halte ich für unhaltbar, da der Bezug zu Isny vielfach nachgewiesen ist, z. B. Evang. Kirchenarchiv, Isny: Heft VI, S. 24. Ebenso ist die Personenidentität zwischen dem Bamberger Buchdrucker Georg Erlinger und einem Sohn gleichen Namens des Peter Erlinger nicht gegeben. Dieser läßt sich nämlich nach Auskunft von Kurt Schaal, Erbstetten, seit 1538 als Mitglied der Isnyer Herren­ zunft und als Spitalpfleger nachweisen und ist dort 1553 gestorben. StadtAN: Libri litt., Band 23, S. 71’

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Nachkommen nicht zuletzt deswegen nachhaltig interessiert gewesen sein, weil seine Söhne entweder nicht verheiratet waren oder wie im Falle des Peter in kinderloser Ehe lebten. 1512 konnte die Familie schließlich Nürnberg ver­ lassen, nachdem sie 340 fl. Nachsteuer bezahlt hatte, was auf ein Vermögen von 3400 fl. schließen läßt. Das Haus der Erlinger, „Zum Christoffel“ genannt, gelegen im Kramersgäßlein (St. Sebald), wurde von den beiden Onkel der Kinder, Peter Büffler und Martin Seldner, und ihrer Tante Barbara Reytvogel, Schwester ihres Vaters, in ihrer Funktion als Vormünder der beiden Jungen und der zwei Mädchen 1516 veräußert. Martin Seldner gehörte auch zu den Testamentsexekutoren, als Barbara Reytvogel 1517 starb. Ihrem bereits 1499 verstorbenen Ehemann Hans gehörte zusammen mit Bernhard Straub ein Teil der Hütte Schwarza in Thüringen, welche in diesem Jahr an den Augsburger Anton Herwart verkauft wurde. 1518 veräußerten die Exekutoren, zu denen neben Seldner auch Straub und Bartholomäus und Jerg Flück gehörten, die von Barbara Reytvogel hinterlassene Behausung am Zotenberg für 828 fl. rhei­ nisch. Noch 1529 und 1530 war der Nürnberger Rat mit Eingaben von Ver­ wandten des Hans Reytvogel befaßt, die mit der Arbeit der Testamentsvoll­ strecker unzufrieden waren10. Deutlich wird auch hier der enge Bezug zu einer weiteren in Isny ansässigen Familie, von der zunächst Heinrich Flück noch vor 1469 in Nürnberg zuge­ wandert war. Dabei dürfte es sich um den ersten nachweisbaren Zuzug eines Isnyer Bürgers in Nürnberg handeln, einem Beispiel, dem, wie bereits festge­ stellt, Teile seiner Verwandtschaft Folge leisteten. Barbara Reytvogel bezeichnete Flück in ihrem Testament als Vetter und bedachte ihn und seinen in Isny verbliebenen Bruder. Auch Martin Seldner gehörte zum weiteren familiären Umfeld, war doch seine Schwiegermutter Veronika eine geborene Flück. Inso­ weit ist es nicht verwunderlich, wenn die Flück und die Seldner wiederholt in wirtschaftlichen Kontakt zueinander traten. Auch für die Flück war Wien von entscheidender Bedeutung. Zwei Söhne Heinrichs, Michael und Bartholo­ mäus, starben hier 1534 und 1535. Metallgeschäfte, Ochsenhandel und damit verbunden der Verkauf von Häuten und wohl auch Geldgeschäfte waren ihre vorherrschenden Betätigungsfelder. Es darf wohl angenommen werden, daß dieser Handel bereits einen respektablen Umfang angenommen hat, sonst wäre wohl Bartholomäus nicht die Einheirat in die angesehene Familie Oertel geglückt11. 10 StadtAN: Lochners Chronik, Band 3, S. 395 f., 402 StaatsAN: Rep. 54, Nr. 181, S. 512’. Rep. 61 a, Band 65, S. 57, 99 und Rep. 52 b, Nr. 306, S. 167. Schulz, Fritz Traugott: Nürnberger Bürgerhäuser und ihre Ausstattung. Das Milchmarktviertel. Band 1, Wien/Leipzig 1933, S. 363. StadtAN: Libri litt., Band 31, S. 7\ Anläßlich eines Besuchs in Nürnberg starb Conrad Büffler 1520 in dieser Stadt. Vgl. Burger, Helene: Nürnberger Totengeläutbücher III St. Sebald 1517-1572. Nürnberg 1972, S. 10. 11 Stadtbibl.N: Amb. 173, S. 127. Perger, Richard: a. a. O., S. 36, Haller von Hallerstein, Helmut Frhr.: a. a. O., S. 154 f., 134 f. Wegen Heinrich Flück vgl. Hotzelt, Wilhelm: Das Pfarrhaus

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3) Zuzug in Nürnberg und Etablierung

Weiter intensiviert wurden die Beziehungen zwischen den Städten Wien und Nürnberg durch ein von den Kaufleuten Augsburgs, Memmingens, Ravens­ burgs und Nürnbergs gewährtes Darlehen zur Finanzierung des Römerkrieges Kaiser Maximilians I. (1507). Sie erhielten im Gegenzug vom Kaiser die Erlaubnis, in Wien Niederlagen zu begründen. Das alles macht es nicht weiter verwunderlich, daß sich Martin Seldner mit seiner Familie in Nürnberg nieder­ ließ und kurze Zeit später sein Bruder Wolfgang nachkam. Uber die Beweg­ gründe für diesen Schritt ist nichts bekannt, sie dürften aber in wirtschaftlichen Umständen zu suchen sein, vielleicht auch in einer nach wie vor bewahrten Anhänglichkeit zur alten Heimat. Jedenfalls hatte man sich auch in den Jahren in der Fremde vom Grundbesitz in Bechhofen nicht getrennt. Die Verbindung zum Halbbruder Wolfgang wurde auch auf familiärem Gebiet weiter vertieft, indem dieser, sicherlich einige Jahre jünger als Martin Seldner, Anna Erlinger, die Nichte seiner Schwägerin, heiratete. Die Verehelichung fand nach 1515 statt, denn im Testament der Barbara Reytvogel von 1516 wurde ihre Nichte Anna noch nicht als verheiratete Frau genannt12. Die Etablierung der Familie in Nürnberg ging schnell vonstatten. Auch dies ein Indiz dafür, daß sie hier keine Unbekannten gewesen waren. Zum minde„Zu unserer lieben Frau“ zu Nürnberg, Wincklerstr. 31 (1519—1919). In: MVGN, Band 23, Nürnberg 1919, S. 100 ff. Will, Georg Andreas: Der Nürnbergisch Münz-Belustigungen 4. Teil. Nürnberg 1767, S. 393. StadtAN: Libri litt., Band 32, S. 127, 130 f. und Libri cons., Band 28, S. 176’. StaatsAN: Rep. 61 a, Band 100, S. 62. 12 Roth, Johann Ferdinand: Geschichte des Nürnbergischen Handels. Band 1. Leipzig 1800, 5. 264. Stadtbibi.N: Amb. 173, S. 127. Hans Erlinger

GD Anna (evt. geb. Flück)

Conrad Büffler GD

Verena f vor 1549

f 1517 Jobst Gull Hans Reytvogel

Veronika Flück

Peter 1475-1552 GD Anna von Brandenburg f 1551 kinderlos

t 1549

t 1553 Ursula Keller von Erkheim t um 1565

Anna Magdalena t 1572 t nach 1545 GD nach 1515 I GD um 1517 Hans Behaim Wolfgang Seldner -f- 1535 t 1537 II GD Wolfgang Vitl (Glasmaler aus Augsburg)

Elisabeth f 1536 GD vor 1505 Martin Seldner t 1535

Nachkommen siehe Genealogie Seldner

Nachkommen siehe Genealogie Seldner

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sten waren bereits bisher zu dieser Stadt Handelsbeziehungen unterhalten worden, ganz sicher zu den Flück. 1510 wurde Martin Seldner Genannter des Größeren Rates. Der Bruder gelangte 1519 evtl, auch erst 1520 in dieses Gre­ mium, dessen eigentlicher Sinn und Zweck es wohl war, weitere vor allem ein­ flußreiche und wohlhabende Bevölkerungskreise deutlich mit der Politik des Rates zu identifizieren, ohne daß damit ein Mitspracherecht, welches allein den patrizischen Familien im Inneren Rat Vorbehalten war, einherging. Immerhin war die Stellung eines Gen. d. gr. Rats mit einer Steigerung des Ansehens innerhalb der Bevölkerung verbunden. Als Genannter wirkte man formal an der Wahl der 26 Ratsherren mit und, was sicher von weit größerer Bedeutung war, man war befugt, Rechtstatbestände durch seine Zeugenschaft zu beur­ kunden. Die Brüder werden wiederholt als Zeugen genannt, Wolfgang weniger als Martin, einfach deswegen, weil er in Verfolgung seiner beruflichen Auf­ gaben öfter von Nürnberg abwesend war. Anscheinend haben die Brüder, was die gemeinsame Handelsgesellschaft anbelangt, dergestalt eine Arbeitsteilung getroffen, daß Martin, der Ältere, die Hauptniederlassung in Nürnberg leitete und Wolfgang, als der noch nicht Ver­ heiratete, eher vor Ort tätig war. Dieser Umstand mag auch erklären, daß der Rat 1521 Wolfgang Seldner über seinen Bruder an seine Bürgerpflichten erin­ nern ließ. Er hielt sich zu der Zeit in Wien auf. Neben seiner Tätigkeit als Zeuge trat Martin Seldner auch immer wieder als Vormund in Erscheinung, so auch 1526, als er von seinem Mündel Barbara von Schönman auf Rechnungs­ legung verklagt wurde. 1522 wurde Martin Seldner gemeinsam mit anderen Kaufleuten vom Rat mit der Aufgabe betraut, eine neue Almosenordnung zu formulieren. Schließlich wurde er am 8. August 1528 zum Gassenhauptmann des Viertels, in welchem sein Haus lag, ernannt. Zu den mit dieser Position verbundenen Aufgaben zählte, die Wehrpflichtigen aufzubieten, Waffen für den Ernstfall bereitzuhalten, Pferde und Wagen zu inspizieren, die Korn- und Salzvorräte zu prüfen und die Personalien der Einwohner und der Fremden festzustellen. Gleichzeitig oblag den Gassenhauptleuten eine Vermittlerfunk­ tion zwischen ihren Vorgesetzten, den Viertelmeistern, die Befehlsgewalt gegenüber einzelnen Bürgern hatten, und der Einwohnerschaft. 1532 wurde den Seldner eine weitere Ehre zuteil: Zu dem auf das Gesellenstechen vom 11. Februar folgende Nachtmahl auf der Herrentrinkstube, an welchem 336 Personen teilnahmen, wurden auch Martin und Wolfgang Seldner vom Rat geladen13. 13 Schaper, Christa: Die Hirschvogel von Nürnberg und ihr Handelshaus. Nürnberg 1973, S. 259. Roth, Johann Ferdinand: Die Genannten des Größeren Rats. Nürnberg 1802, S. 55, 62, 64. StadtAN: Lochners Selecta, Band 4, S. 587 ff. und Libri litt., Band 27, S. 209 und Band 45, S. 122. StaatsAN: Rep. 60 a, Band 666, S. 2’, S. 11’ f. Stadtbibl.N: Amb. 173, S. 127. StadtAN: Libri cons., Band 34, S. 124’.

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4) Hausbesitz in Nürnberg

Am 14. Mai 1512 kauften die Eheleute Martin und Elisabeth Seldner von den Kindern des Hans von Lochaim ein Haus am „Alten Roßmarkt“ (L 315 = Adlerstraße 5). Den auf dem Gebäude ruhenden Eigenzins konnte Seldner für 330 fl. rheinisch gegenüber Ludwig und Elsbeth Imhof 1526 ablösen. Am 13. November 1532 erwarben die Seldnerschen Eheleute noch das frei lauter eigene Nachbarhaus (L 316 = Adlerstraße 3) von Anna Gärtner für 1380 fl. und 10 fl. Leihkauf. 1524 kaufte Martin Seldner ein weiteres Gebäude. „Auf der Walch“ erstand er für 620 fl. von Bartholomäus Weckman ein frei, lauter, eigenes Haus. Dieses Gebäude wird wohl mit dem Haus „Bei der Hüll“ iden­ tisch sein, welches gelegentlich im Zusammenhang mit Seldner genannt wurde. Nachdem er 1530 als Nachbar am St. Jakobsbrunnen erwähnt wird, kann davon ausgegangen werden, daß er auch dort begütert war. Den Wohn- und Geschäftszwecken der Familie werden jedoch ausschließlich die Gebäude am „Alten Roßmarkt“ gedient haben, während die anderen Liegenschaften wohl unter dem Gesichtspunkt einer Kapitalanlage zu sehen sind14. Wolfgang Seldner wurde ab 1523 als Hausbesitzer „Unter den Hütern“ genannt. Es darf wohl angenommen werden, daß er zunächst mit seiner Familie im Haus seines Bruders wohnte, soweit er sich in Nürnberg aufhielt. Sowohl der „Alte Roß­ markt“ als auch „Unter den Hütern“, die heutige Kaiserstraße, gehörten zu den bevorzugten Wohngegenden auf der Lorenzer Seite, wo vorwiegend ver­ mögende Bürger, eben auch Kaufleute, ansässig waren15. 5) Wirtschaftliche Aktivitäten

Ob bereits der Vater Sigmund Seldner d. Ä. ein Handelsunternehmen betrieben hat, muß dahingestellt bleiben. Jedenfalls ergibt sich aus den Quellen kein diesbezüglicher Hinweis. Im Hinblick auf seine nachgewiesene Tätigkeit in Graz ist dies wohl auch eher zu verneinen. Es darf weit mehr vermutet werden, daß Martin als erster der Familie eine entsprechende Laufbahn einge­ schlagen hat, welche dann noch durch die Heirat mit einer Kaufmannstochter weiter vorangetrieben wurde. Vorübergehend (1511) betrieb er gemeinsam mit Sebald Schweicker ein Handelsunternehmen (Martin Seldner, Sebald Schweicker und Mitverwandte). Vielleicht hat Wolfgang Seldners Eintritt in das Unternehmen dieses Gesellschaftsverhältnis beendet. Schweicker ist vor allem als Messinghändler bekannt geworden. Die Nachkommen des 1521 Ver14 StadtAN: Libri litt., Band 28, S. 109’ff., Band 45, S. 19’, Band 37, S. 193, Band 44, S. 188, Band 39, S. 143. 15 Puchner, Otto: Das Register des Gemeinen Pfennigs (1497) der Reichsstadt Nürnberg als bevölkerungsgeschichtliche Quelle. In: Jahrbuch für fränkische Landesforschung, Band 34/35, Nürnberg 1974/75, S. 932. StadtAN: Libri litt., Band 35, S. 229.

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storbenen brachten es als Kaufleute in Eisenach, Leipzig und Antwerpen zu hohem Ansehen. Ob und — wenn ja — inwieweit Wilhelm Schmidmair ge­ meinsam mit den beiden Seldner eine Handelsgesellschaft betrieb oder nur einer der Geschäftsfreunde war, kann nicht entschieden werden. Jedenfalls sind Vermutungen, welche auf ein Gesellschaftsverhältnis hindeuten, auf Grund verschiedener Hinweise durchaus naheliegend. Schmidmair war als Wollhändler aber auch im Bergwerks- und Geldgeschäft aktiv. Wiederholt ist im Zusammenhang mit seiner Person von Antwerpen die Rede, ein Handels­ platz, der auch für die Seldner von einiger Bedeutung war. Zum Kreis der Mit­ gesellschafter ist möglicherweise auch Stefan Geiger zu rechnen. 1536 wurden Wolfgang Seldner, Geiger und Schmidmair wegen einer „Rechtfertigung zwi­ schen Regensburg und Passau“ von den kaiserlichen Kommissaren Hülltner und Tramer nach Regensburg geladen. Dieser Aufforderung kamen sie jedoch nicht nach. In dieser Meinung wurden sie auch vom Nürnberger Rat unter­ stützt, der den Kommissaren empfahl, zwecks Vernehmung der Kaufleute nach Nürnberg zu kommen. Im Jahr zuvor kam es zwischen Wolfgang Seldner, Geiger, Paulus Lengenfelder und Herzog Ludwig von Niederbayern zu Meinungsverschiedenheiten im Hinblick auf die Höhe des Wasserzolls, welcher in Vilshofen auf Klobenstahl zu entrichten war. Seldner war auch ein bedeutender Händler mit Steyrischem Stahl. Diesen bezog er von Eisenhänd­ lern der oberösterreichischen Stahlhandelsmetropole, die die Rad- und Ham­ merwerke mit ihrem Verlagsmonopol beherrschten16. Gemeinsam mit einem Steyrer, Hans Prantstetter und Sebastian Ligsalz von München verklagten die Brüder Seldner 1534 Hieronymus Zumerumb vor dem Passauer Stadtgericht. Sie verlangten die Herausgabe von Vermögens­ werten aus dem Nachlaß des Ambrosi Tuscher, welche von Zumerumb ge­ pfändet worden waren. Tuscher schuldete den Klägern namhafte Beträge, so den Seldner 592 fl. rheinisch 6 sh. Nachdem der Beklagte in Passau zunächst Recht bekam, zog die Gegenpartei vor das Reichskammergericht. Erst 1540 wurde ihr Begehren schließlich anerkannt17. Antwerpen hatte vor allem auch als Verladestation für Warentransporte nach Lissabon Bedeutung. 1507 läßt sich Wolfgang Seldner in der portugisischen Hauptstadt nachweisen, als er gemeinsam mit Hieronymus Holzschuher das Testament des erkrankten Ulrich Imhof bezeugte. Im selben Jahr wurde ein von Lissabon kommendes Schiff, welches mit Waren der Imhoff, Hirsch16 StaatsAN: Rep. 60 a, Band 528, S. 15, Band 823, S. 8’, Band 863, S. 18, Band 857, S. 29 und Rep. 15 a, S. I L 47, Nr. 21. Schaper, Christa: Die Behaim. In: MVGN, Band 51, Nürnberg 1962, S. 173 f. Werner, Theodor Gustav: Regesten und Urkunden über Beteiligungen von Nürnbergern an der Zeche Rappolt und an anderen Schneeberger Bergwerks- und Metallhan­ delsunternehmen. In: MVGN, Band 59, Nürnberg 1972, S. 68. 17 Bayer. Hauptstaatsarchiv, München: Reichskammergericht Nr. 12509.

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Porträtmedaille des Hans Gutteter (o. J.) Georg Habich: Die deutschen Schaumünzen des 16. Jhds. Mün­ chen o. J., I, 2, Nr. 1270, Tafel CXLIV (von Matthes Gebel).

Porträtmedaille des Sigmund Seldner d. J. (1540) — Georg Habich Nr. 1188, Tafel CXXXVII (von Matthes Gebel).

Adlerstraße 3 (Bildstelle Hochbauamt Nürnberg).

Adlerstraße 5 (Bildstelle Hochbauamt Nürnberg).

Grab Seldner/Furter/Gutteter — Rochusfriedhof Nr. N 128 (Stadtarchiv Nürnberg).

Grab Seldner/Roch - Rochusfriedhof Nr. 91 (Stadtarchiv Nürnberg).

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vogel, Martin Seldners und Peter Erlingers beladen war, vor La Rochelle ge­ kapert. In der gleichen Zeit wurde ein von Arnemuiden auf Walcheren aus­ gehendes Schiff, die „Sant Anna", in der Charentemündung geplündert und schließlich angezündet. Neben den Augsburger Fugger gehörten auch wieder Martin Seldner und Peter Erlinger zu den Geschädigten. Das Schiff war mit Seide und silbernem Tischgerät beladen. Diese Tatbestände können leicht den Eindruck erwecken, als ob Schiffstransporte grundsätzlich gefährdet gewesen wären. Dies ist sicherlich nicht richtig, doch haben eben vor allem die Unglücksfälle einen schriftlichen Niederschlag gefunden. Antwerpen stieg im Verlauf des späten 15. und des 16. Jhds. zur größten Stadt der Niederlande auf. Dies machte es nur naheliegend, vor allem nachdem durch die Entdeckung des Seewegs nach Indien die Bedeutung Venedigs im Schwinden begriffen war, daß die Stadt auch von den Oberdeutschen stärker beachtet wurde. Dabei war Nürnberg die einzige Stadt,welcher Zollfreiheiten für Brabant zugestanden worden waren. Vielleicht haben diese Unglücksfälle die Seldner bewogen, sich aus diesem Geschäft zurückzuziehen. Jedenfalls können sie in späteren Jahren hier nicht mehr festgestellt werden18. 6) Ungarnhandel

Mit Ungarn scheinen die Seldner dauerhaft in Wirtschaftsbeziehungen gestanden zu haben. Nachdem hier Wien lange Zeit eine Vermittlerrolle ein­ nahm und mit seinem Stapelrecht diesen Handel auch kontrollieren konnte, war es nur naheliegend, daß sich die Seldner gerade diesem Markt zuwandten, den sie sicherlich aus ihrer Wiener Zeit gut kannten. 1515 hatte Kaiser Maximi­ lian I. dieses Privileg Wiens aufgehoben, so daß die oberdeutschen Kaufleute nunmehr unter Umgehung Wiens mit Ungarn direkt in Kontakt treten konnten. Zeitweise wurde auch ein neuer Weg über Böhmen und Mähren nach Ungarn eingeschlagen, da die Situation an der Donau vielfach unsicher war. Ofen war das Zentrum der ungarischen Wirtschaft. Allerdings unterlagen die ausländischen Kaufleute in Ungarn vielfältigen Beschränkungen, so daß sie häufig dazu übergingen, sich mit Einheimischen eng zusammenzuschließen, die dann als Repräsentanten ihre Interessen vor Ort vertraten. Eine andere Möglichkeit war die Einbürgerung eines Familienmitglieds durch Verheira­ tung mit einem Ungarn. Im Warenverkehr mit Nürnberg spielte vor allem die Einfuhr von Textilien eine Rolle. Im Gegenzug wurden aus Ungarn Ochsen bzw. Metalle exportiert. 1457/8 umfaßte die Viehausfuhr rund 55 %, 1542 bereits 93 % des ungarischen Exports und 60 % des gesamten Warenverkehrs 18 Schaper, Christa: Die Hirschvogel von Nürnberg und ihr Handelshaus. Nürnberg 1973, S. 221, 210 f. Ammon, Hector: Die wirtschaftliche Stellung der Reichsstadt Nürnberg im Spätmittel­ alter. Nürnberg 1970, S. 121, 134 f.

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überhaupt, wobei jedoch die Kupferausfuhr nicht inbegriffen ist19. Offensicht­ lich gehörten Martin Seldner und Bartholomäus Flück auch zum Kreis der Ochsenhändler, denn 1522 wurde vom Nürnberger Rat nach Konsultationen mit den beiden und dem Handwerk der Fleischhaker festgelegt, daß von Ostern bis Pfingsten das Ochsenfleisch für 5 Pfg. abzugeben sei20. 1512 wurden als ungarische Geschäftspartner des Martin Seldner die Ofener Bürger Jerg Gebel und Peter Puchler genannt21. 1526 stand Wolfgang Seldner in geschäftlichen Verbindungen mit Andreas Kaltenhauser22. Kaltenhauser wie auch Puchler waren Mitglieder wohlhabender Kaufmannsfamilien, die sich bereits seit Generationen auf diesem Gebiet betätigten. Neben den Seldner war es vor allem auch Wolfgang Eysen, welcher als Ungarnhändler Bedeutung erlangte. Eine Schwester seiner Ehefrau, Barbara Behaim, war mit Friedrich Schweicker verheiratet, der seinerseits der Bruder des Sebald war, welcher mit den Seldner zeitweise gemeinsam Handelsge­ schäfte betrieben hatte. In diesem Umstand und/oder in der Tatsache, daß Eysen aus Ungarn stammte und deshalb vielleicht bereits in früheren Jahren von dort engen Kontakt nach Wien unterhielt, wurzelt möglicherweise die freundschaftliche Beziehung, welche zwischen ihm und Martin Seldner bestand. Diese ging sicherlich weit über den geschäftlichen Kontakt hinaus, hinterließ Eysen doch Martin Seldner bei seinem Tod (1524) ein silbernes Kleinod im Wert von 14 bis 16 fl. rheinisch. Daß Eysen ein wohlhabender Mann gewesen sein muß, beweist die Fülle derartiger Geschenke, die er einem weiten Verwandtenkreis in Nürnberg und Ungarn zukommen ließ23. Von einem gemeinsam getätigten Geschäft ist 1522 die Rede, an welchem neben Eysen und Martin Seldner auch wieder Bartholomäus Flück beteiligt war. In diesem Zusammenhang forderte der Nürnberger Rat die drei Kaufleute auf, die Büchsen zu bezahlen, welche er auf ihre Veranlassung hin nach Ungarn gesandt hatte. Gleichzeitig wurde es abgelehnt, Flück das gewünschte Pulver auszuliefern. Noch im gleichen Jahr wurden Eysen und Seldner vom Rat im Zusammenhang mit unterwertig ausgeprägten Münzen, welche in Ungarn im Umlauf waren, angesprochen24.

19 Wegen der Situation in Ungarn vgl.: Haller von Hallerstein, Helmut Frhr.: Deutsche Kaufleute in Ofen zur Zeit der Jagellonen. In: MVGN, Band 51, Nürnberg 1962, S. 467—480. 20 StaatsAN: Rep. 60 a, Band 673, S. 12. StadtAN: Lochners Selecta, Band 10, S. 228, 235. 21 StadtAN: Libri cons. Band 1, S. 188’. 22 Haller von Hallerstein, Helmut, Frhr.: Deutsche Kaufleute in Ofen zur Zeit der Jagellonen. In: MVGN, Band 51, Nürnberg 1962, S. 475. 23 Wegen Eysen vgl. Schaper, Christa: Wolfgang Eysen und sein Bildnis. In: MVGN, Band 45, Nürnberg 1954, S. 387—396. StadtAN: Libri litt., Band 37, S. 85 ff. Schaper, Christa: Die Behaim. In: MVGN, Band 51. Nürnberg 1962, S. 173 ff. 24 StaatsAN: Rep. 60 a, Band 673, S. 18 und Band 683, S. 5.

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7) Als Verleger in Neusohl

Auch in Ungarn war Ende des 15. und zu Beginn des 16. Jhds. der Geldbedarf der staatlichen Verwaltung enorm im Wachsen begriffen. So war es nicht weiter verwunderlich, wenn dieser durch die normalen und außerordentlichen Steuern nicht mehr abgedeckt werden konnte. Die Folge waren ein Verkauf oder eine Verpfändung von Ämtern und Krongütern bzw. die Finanzierung der Ausgaben für Heer und Hofhaltung durch die Aufnahme von Anleihen. Hier lag das Betätigungsfeld der oberdeutschen Kaufleute, die diese Gegeben­ heiten für ihre Belange auszunutzen wußten, allen voran die Augsburger Fugger. Insoweit ist es auch erklärbar, wenn dieses Handelshaus über seine Geschäftspartner, die Krakauer Thurzo, ab 1491 auf die Ausbeutung der Neusohler Kupferbergwerke Einfluß nehmen konnte. Nachdem ein Mitglied der Familie Thurzo als Kammergraf und damit als Beauftragter der ungarischen Könige dieses Geschehen überwachte, konnte dies für das Handelshaus nur vorteilhaft sein. Seit 1508 bzw. 1509 war Ludwig II. aus dem Geschlecht der Jagiellonen König von Ungarn und Böhmen. Durch seine Heirat mit der Habsburgerin Maria wurde das deutsche Element in der ungarischen Politik noch verstärkt, was Teilen der Magnaten ein Dorn im Auge war. Vor allem der Wojwode Johann Zapolya, Fürst von Siebenbürgen, hatte es sich zur Aufgabe gemacht, diesen Einfluß zurückzudrängen. Erklärtes Ziel war es deshalb, zunächst die Stellung der Fugger zu erschüttern. Dies versuchte man vor allem dadurch zu erreichen, daß man andere Kaufleute als mögliche Pächter der Kupfergruben benannte, mit dem Ziel, die Parteien gegeneinander auszu­ spielen. Dabei wurde von verschiedener Seite an der Übernahme der ertragrei­ chen Anlagen Interesse bekundet, so vom Piastenherzog von Jägerndorf-Münsterberg-Ratibor in Gestalt seines Beauftragten Konrad Sauermann oder auch von der Stadt Nürnberg, deren metallverarbeitendes Gewerbe auf ausrei­ chende Kupferlieferungen angewiesen war25. Gerade in den ersten Jahrzehnten des 16. Jhds. war die Versorgung Nürnbergs mit diesem Metall immer wieder gefährdet, so daß entsprechende Anstrengungen durchaus verständlich sind. Versuchten doch die Welser in dieser Zeit wieder verstärkt, das böhmische Kupfer von Kuttenberg an sich zu bringen (1525). Sofern diese Bemühungen erfolgreich gewesen wären, hätte dies Nürnberg auf Lieferungen aus dem Mansfeldischen beschränkt, da die Tiroler und ungarischen Vorkommen fest in Augsburger Hand waren. Wegen der Gruben in Thüringen stand man immer wieder in Konkurrenz mit anderen Kaufleuten, was einen enormen Unsicherheitsfaktor bedeutete. Wiederholt waren auch Monopolbestrebungen im Gange, die Nürnberg an seinem Lebensnerv treffen konnten26. 25 Pölnitz, Götz, Frhr. von: Jakob Fugger. Band 1, Tübingen 1950, S. 602 ff. 26 Lütge, Friedrich: Der Handel Nürnbergs nach dem Osten im 15./16. Jhd. In: Beiträge zur Wirt­ schaftsgeschichte Nürnbergs, Band 1, Nürnberg 1967 S. 354 ff.

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Diese Interessenlage deckte sich mit derjenigen des neuen Kammergrafen Bernhard Beheim von Friedesheim. 1524 hatten die Gegner der Fugger schließlich Erfolg; Alexi Thurzo war von diesem Amt entbunden worden27. Beheim verfügte über gute Kontakte zu Nürnberg, war doch sein Bruder Hans Schwager des Wolfgang Seldner und gleichzeitig durch diese Ehe zum angehei­ rateten Neffen Martin Seldners geworden. Beheims Aversionen gegenüber den Fugger mögen noch aus einer Zeit herrühren, als er als Haller Münzmeister wiederholt mit dem Handelshaus Kontakt hatte. Er war seinem gleichnamigen Vater, der seit 1482 der Haller Münze Vorstand, 1507 in diesem Amt nachge­ folgt. Bei seinem Tod hinterließ Bernhard d. Ä. fünf Söhne, von denen drei dieselbe berufliche Laufbahn wie der Vater eingeschlagen hatten. 1510 wurde Bernhard d. J. auch noch zum obersten Münzmeister der niederösterreichi­ schen Länder ernannt. Als er 1523, letztlich auch auf Empfehlung Erzherzog Ferdinands, in den Dienst von dessen Schwager König Ludwigs II. von Ungarn trat, wurde sein Bruder Hans Nachfolger in Hall. Dieser war kränk­ lich, von langsamer Auffassungsgabe und fachlich wohl der schwächste der drei Brüder. Vor seiner Amtsübernahme war er Münzmeister in Kempten (1515). Der dritte der Brüder, Thomas, war seit 1517 Münzmeister in Wien. Dieses Amt übte er mit Unterbrechungen bis 1551 aus28. Von dieser Ausgangslage aus, glaubte Bernhard den Kampf mit den Fugger aufnehmen zu können. Mittels Intrigen gelang es, das junge Königspaar, wel­ ches in seinen Ansichten relativ schwankend und in der Beurteilung politischer Tatbestände völlig unerfahren war, zu veranlassen, den Fugger die Neusohler Pacht am 24. Juni 1525 zu entziehen. Man glaubte, sie für die im Land grassie­ rende Münzverschlechterung verantwortlich machen zu können. Das Königs­ paar brachte zum Ausdruck, die Fugger würden ihnen 1 004 000 fl. schulden, da das Handelshaus Zahlungen an die Krone mit unterwertigen Münzen be­ werkstelligt habe. Was die Fugger nicht über die polnische Grenze in Sicher­ heit bringen konnten, wurde konfisziert. Ihre Diener wurden gefangengesetzt. Dieser Entwicklung konnte das Augsburger Handelshaus natürlich nicht tatenlos Zusehen. Sein Prestige und wesentliche wirtschaftliche Interessen standen auf dem Spiel. In Augsburg verstimmte vor allem, daß man ihnen keine Gelegenheit gegeben hatte, sich zu rechtfertigen, sondern sie vor voll-

27 Heiß, Gernot: Politik und Ratgeber der Königin Maria von Ungarn in den Jahren 1521-1531. In: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, 82. Band, Wien/Köln/ Graz 1976, S. 130. 28 Hartmann-Franzenshuld, E. von: Die Medaillen der österreichischen Behem. In: Numismati­ sche Zeitschrift, 6. Band (1874), Wien 1876, S. 146 ff. Moser, Heinz und Heinz Tursky: Die Münzstätte Hall in Tirol 1477—1665. Innsbruck 1977, S. 56, Bernhart, Max: Die Münzen der Reichsstadt Kempten. In: Mitteilungen der Bayerischen Numismatischen Gesellschaft, Mün­ chen 1926, S. 44.

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endete Tatsachen stellte. Jakob Fugger wußte natürlich, wo die Hebel anzu­ setzen waren. Sowohl Karl V. als auch sein Bruder Ferdinand waren den Fugger verpflichtet, vor allem nachdem die geplanten Aktionen des Schwäbi­ schen Bundes gegen die aufrührerischen Bauern nur mit fuggerischem Geld zu finanzieren waren. Ferdinand versuchte durch die Entsendung einer Abord­ nung auf seinen Schwager Einfluß zu nehmen. Karl V. ließ den ungarischen König sogar wissen, daß es unweigerlich zum Aufgebot des Reiches käme, wenn die Fugger nicht wieder in ihre Rechte eingesetzt werden würden29. In Ofen schwankte man zwischen Feindschaft und Versöhnung. Beheim, dem in Nachfolge der Fugger die Ausbeutung der Gruben übertragen worden war, war offensichtlich wenig erfolgreich. Auseinandersetzungen mit den Berg­ arbeitern hatten zur Folge, daß in der Zeit bis zum 15. April 1526, als die Fugger erneut Neusohl übernahmen, zeitweise kein Erz abgebaut wurde. Trotzdem war man noch nicht bereit, sich mit den Fugger zu arrangieren. Die von der königlichen Verwaltung unterbreiteten Vorschläge waren für Jakob Fugger unannehmbar. Vor allem wollte er auf gar keinen Fall mehr mit Beheim Zusammenarbeiten. Dies alles spielte sich unter dem Vorzeichen von Jakobs herannahendem Tod ab, bis zu welchem keine Einigung erzielt war (30. Dezember 1525)30. Daß Nürnberg dieser Entwicklung nicht tatenlos Zusehen konnte, liegt auf der Hand. Mitte des Jahres hatte man mit Ludwig II. bereits wegen des böhmi­ schen Kupfers Kontakt aufgenommen, jetzt bot man sich auch als dauerhafter Abnehmer des ungarischen Kupfers an. Im November 1525 wurden größere Mengen Kupfers, sicherlich unter Vermittlung Beheims, an Nürnberger Kauf­ leute veräußert, allen voran an Wolfgang Seldner, der in der Kupfer- und Sil­ berproduktions- und Verkaufsabrechnung als Hauptabnehmer genannt wird. Von September 1525 bis April 1526 nahm Seldner Kupfer für 26 388 ungari­ sche fl. ab. In dieser Zeit müssen den Seldner wohl auch die Abbauprivilegien, die die Fugger besaßen und die interimistisch von Bernhard Beheim wahrge­ nommen wurden, verliehen worden sein. Jedenfalls wurde dies zum Ausdruck gebracht, als Wolfgang Seldner in einem Schreiben vom 26. Januar 1526 der Gnade des polnischen Königs Sigismund empfohlen wurde31. Diese Entwicklung hinderte die ungarische Krone jedoch nicht daran, weiter Verhandlungen mit Augsburg zu führen. Anton Fugger reiste im Februar 1526 sogar extra nach Wien, um dem Geschehen nahe zu sein. Welche Umstände 29 Pölnitz, Götz, Frhr. von: Jakob Fugger. Band 1, Tübingen 1950, S. 610, 616, 630. 30 Pölnitz, Götz Frhr. von: Jakob Fugger. Band 2, Tübingen 1952, S. 577. Heiß, Gernot: a. a. O., S. 138. 31 Ratkos, Peter: Dokumenty k banickemu povstaniu na Slovensku 1525 — 1526 (Dokumente über den Aufstand der Bergleute in der Slowakei). Preßburg 1954, S. 302 ff. Pölnitz, Götz Frhr. von: Jakob Fugger. Band 1, Tübingen 1950, S. 631, Band 2, S. 576 und Anton Fugger. Band 1, Tübingen 1958, S. 413.

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schließlich am 15. April 1526 zum erneuten Abschluß mit den Fugger führten, muß dahingestellt bleiben. Sicherlich hatte Jakobs Tod manches erleichtert32. Vermutlich verfügten die Seldner in Verbindung mit Beheim weder über ge­ nügend Kapital noch über die logistischen Erfahrungen, die zur Ausbeutung der Gruben und zur Vermarktung der Erze erforderlich waren. Nach allem, was über den Handel der Nürnberger Kaufleute bekannt ist, muß wohl ange­ nommen werden, daß dieses Vorhaben ihre Möglichkeiten bei weitem über­ stieg. Vielleicht waren sie nach einigen Monaten Erfahrung mit dem Kupfer­ schieferabbau sogar froh, diese Bürde wieder los zu sein. Jedenfalls wird nir­ gends davon berichtet, daß es auf Grund des erneuten Vertragsabschlusses mit den Augsburgern zu rechtlichen Auseinandersetzungen gekommen wäre. An­ scheinend sah dies der Nürnberger Rat ähnlich, denn die Interventionen zu Gunsten seiner Bürger, die eigentlich seinen fundamentalen Bedürfnissen hätten Rechnung tragen können, waren mehr als lahm und reichlich verspätet. Erst am 20. Februar 1526 erwiderte der Rat der Stadt Nürnberg Beheim auf dessen Brief an Wolfgang Seldner, daß sich die Stadt an keinem Kupferkauf, den man ihr angeboten hatte, beteiligen könne. Gleichzeitig bat der Rat jedoch darum, alle Nürnberger Kaufleute in ihren derartigen Bemühungen zu unter­ stützen. Für Seldner setzte man sich ausdrücklich nur in einem Schreiben vom 19. Juli 1526 an die Königin Maria ein, mit welchem darauf gedrungen wurde, diesem zu gestatten, das von ihm erworbene Kupfer auch wegführen zu dürfen33. Dafür engagierte man sich wegen Kuttenberg nach wie vor nach­ haltig. Vielleicht hoffte man hier auf das Wohlwollen des Königs, wenn man andererseits, was die ungarischen Bergwerke anbelangte, Zurückhaltung übte34. Kaum saßen die Fugger wieder im Sattel, begannen sie nun ihrerseits Beheim zu belasten. Für die Dauer seiner Verwaltung der Bergwerke wurden ihm Unregelmäßigkeiten in erheblichem Umfang zum Vorwurf gemacht. Königin Maria, der die Einkünfte aus den sieben Bergstädten im damaligen Oberungarn (heute Slowakei) in Erfüllung der Bestimmungen ihres Heiratsvertrages bereits 1522 übergeben worden waren, blieb auch im Besitz dieser Herrschaften, nachdem ihr Gatte am 29. August 1526 in der Schlacht von Mohäcs gegen die Türken gefallen war. Mangelndes Kapital, infolge der Auseinandersetzungen mit den Fugger, hatte zu verspäteten Rüstungen geführt. Trotz dieser Vor­ würfe kannte Maria die Abrechnung ihres Kammergrafen am 15. September 1526 an. Er blieb trotz aller Anfeindungen in ihren Diensten. Die Anschuldi32 Pölnitz, Götz Frhr. von: Jakob Fugger. Band 2, Tübingen 1952, S. 579. 33 StaatsAN: Rep. 61 a, Band 92, S. 47\ Band 93, S. 85 f., Band 97, S. 26’ f. 1528 wurde Kupfer von Martin und Wolfgang Seldner und Mitverwandte in Krakau beschlagnahmt. 34 StaatsAN: Rep. 61 a, Band 91, S. 190 ff., Band 94, S. 24 ff., Band 95, S. 95’, Band 96, S. 48 f., 202, Band 97, S. 160’, Band 89, S. 188’ ff., Band 90, S. 116’ ff., Band 98, S. 27.

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gungen wurden jedoch nach 1535 immer massiver. Fehler in späteren Rech­ nungslegungen führten schließlich dazu, daß auch die Jahre 1525/26 neu auf­ gerollt wurden. 1537 wurde Beheim seines Amtes als Kammergraf enthoben. Anfang 1539 wurde in Brüssel der Prozeß gegen ihn eröffnet. Beheim bekannte sich schuldig. Im Sommer desselben Jahres konnte er nach Österreich fliehen, wo er von seinem alten Protege König Ferdinand relativ gnädig aufgenommen wurde. 1547 starb er auf seiner 1535 erworbenen Herrschaft Lengenfeld bei Langenlois (Niederösterreich)35. 8) Ausbau der Handelsbeziehungen

Auch in Prag scheinen die Seldner Geschäftspartner gehabt zu haben. Jeden­ falls verfügten sie über Forderungen, die in der böhmischen Hauptstadt 1537 zu begleichen waren36. Wenn Wolfgang Seldner, sein Bruder Martin und „der junge Seldner“ im Abrechnungsregister der Gesellschaft zum Goldenen Löwen, der Geschlechtertrinkstube, in Memmingen in den 30er Jahren des 16. Jhds. als Gäste genannt wurden, so kann dies seine Erklärung nur darin finden, daß auch zu dieser Stadt wirtschaftliche Kontakte gepflegt wurden. 1535 heiratete die Tochter Martin Seldners, Ursula, in die Memminger Patri­ zierfamilie Keller von Erkheim ein, die auf wirtschaftlichem Gebiet von maß­ geblicher Bedeutung für die Stadt war37. Wie für die Mehrheit der Nürnberger Kaufleute, so war auch für die Seldner die Messestadt Frankfurt von einiger Bedeutung. Aus den bruchstückweise erhaltenen Freßgeldrechnungen ergibt sich, daß das Handelshaus Seldner in der Zeit von 1527 bis 1538 die Messen ziemlich regelmäßig mit Waren beschickte, d. h. daß auf Fasten- und Herbstmesse in gleicher Weise Angehö­ rige des Unternehmens präsent waren. Es darf wohl angenommen werden, daß auch in den Vorjahren Frankfurt mindestens zeitweise Ziel der Seldner war. Die von ihnen gezahlten Freßgelder, die Gebühr für ein sicheres Geleit waren und die sich in ihrer Höhe nach dem jeweiligen Warenaufkommen des ein­ zelnen Kaufmanns richteten, waren jedoch erheblichen Schwankungen ausge­ setzt. Einmal wurden von den Seldner sogar 17 Pfd. 10 Pfg. bezahlt, wobei von ihnen im Schnitt wohl ca. 10 Pfd. an Freßgeldern entrichtet wurden. Bis zu 200 Nürnberger haben sich jeweils nach Frankfurt begeben, wobei ein durch35 Heiß, Gernot: a. a. O., S. 128. Heiß, Gernot: Die ungarischen, böhmischen und österreichi­ schen Besitzungen der Königin Maria (1505—1558) und ihre Verwaltung. In: Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs, Band 27, Wien 1974, S. 84—89. Pölnitz, Götz Frhr. von: Anton Fugger. Band 2, 1. Teil, Tübingen 1963, S. 103. 36 StaatsAN: Rep. 60 a, Band 857, S. 14, 29. 37 Eirich, Raimund: Memmingens Wirtschaft und Patriziat 1347—1551. Weißenhorn 1971, S. 287. Stadtarchiv Memmingen: Patrizierschrank. Ungebundene Abrechnungen der Gesellschaft zum Goldenen Löwen.

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schnittliches Gebührenaufkommen von ca. 3 Pfd. pro Beteiligten verzeichnet werden kann. Die Seldner können damit ganz eindeutig zu den bedeutenderen Unternehmen gezählt werden. Offensichtlich haben sich die beiden Brüder immer wieder abgewechselt, was die Fahrt nach Frankfurt anbelangt, denn in den Freßgeldlisten werden beide genannt38. Alle diese weitgespannten wirtschaftlichen Interessen bedingten natürlich ein permanentes Reisen der Inhaber einer Handelsgesellschaft bzw. von deren Mitarbeitern. Leider erlauben hier die Quellen wenig Rückschlüsse. Regel­ rechte Niederlassungen an anderen Orten, Faktoreien, wie sie für die größeren Handelshäuser üblich waren, lassen sich in Verbindung mit den Seldner nur in Wien und Passau nachweisen. Auch über den Umfang der Dienerschaft können keine Angaben gemacht werden. 1530 bestätigte ein Kilian Schellerling von Isny, daß er etliche Jahre in den Diensten von Martin und Wolfgang Seldner gestanden sei, zwischenzeitlich seinen Abschied erhalten und gegen­ über seinen Dienstherren keine Forderungen mehr habe39. Daß diese Reisen in der damaligen Zeit auch ein ständiges Risiko für Mensch und Ware darstellten, liegt auf der Hand. Eindringlich vor Augen geführt wurde den Seldner diese Gefahr, als der bereits genannte Heinrich Flück von dem auf Abwege gekommenen Kaufmann Heinz Baum, der sich nun als Placker seinen Lebensunterhalt verdiente, überfallen und festgesetzt wurde. Schließlich starb er 1507 in der Gefangenschaft. 1512 hatte Götz von Berlichingen mit Nürnberg aus fadenscheinigen Gründen einen Streit vom Zaun gebrochen. Dieser hatte seine Ursache wohl in erster Linie in der sich allmäh­ lich verschlechternden politischen und wirtschaftlichen Situation des reichsritterschaftlichen Adels, der sich sowohl erstarkter Territorialfürsten zu erwehren hatte als auch immer mehr von der städtischen Bürgerschaft in seinen Möglichkeiten beschnitten wurde. Dem offiziellen Fehdebrief, den Götz an die Reichsstadt übersandte, war bereits der Überfall auf eine Gruppe Nürn­ berger Kaufleute bei Forchheim am 18. Mai 1512 vorausgegangen, die sich auf dem Rückweg von der Leipziger Messe befanden. Die Kaufleute wurden von Götz und seinen Gesellen ausgeraubt und schließlich zwecks Erpressung eines Lösegelds gefangengenommen. Zwar konnte die Verhängung der Reichsacht über Götz erreicht werden, doch blieb dies schließlich ohne spürbare Folgen, da der mit der Bestrafung des Götz beauftragte Schwäbische Bund sich zu keinen durchgreifenden Maßnahmen entschließen konnte. So war es nur natürlich, daß sich Berlichingen zu weiteren Aktionen dieser Art ermutigt sah. Im Verlauf des Jahres 1513 überfiel er allein viermal Nürnberger Kaufleute. Bei einer dieser Maßnahmen gehörten auch die Seldner zu den Leidtragenden,

38 Staats AN: Rep. 54 a II, Nr. 54. In dieser Zeit entspricht 1 fl. = 8 Pfd. 10 Pfg.; 1 Pfd = 60 Pfg. 39 StadtAN: Libri cons., Band 30, S. 118’. StaatsAN: Rep. 54, Nr. 183, S. 164.

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indem Waren von ihnen geraubt und ihr Diener eingesperrt wurde. Der Rat empfahl ihnen daraufhin, sich an den Mainzer Bischof zu wenden, auf dessen Territorium sich die Geiselnahme ereignete und der nach den Richtlinien des Geleitwesens verantwortlich war. Da der Schwäbische Bund nach wie vor nicht aktiv wurde, blieb 1514 schließlich nichts anderes übrig, als die Händel gütlich beizulegen, sehr zum Vorteil Berlichingens, der den Großteil der Beute behalten konnte40. 1521 sind die Seldner erneut in gleicher Form betroffen. Dabei ist nicht ganz klar, ob Wolfgang Seldner selbst oder einer seiner Knechte von dem Placker Paulus bei Neumarkt ausgeraubt und vorübergehend in Haft genommen wurde41. 1523 war‘es zur Abwechslung einmal Martin Seldner, der gemeinsam mit einem Diener bei Gunzenhausen überfallen wurde. Immerhin konnte in diesem Fall eine Freilassung schon nach wenigen Tagen erreicht werden42. 1518 wurden Martin Seldner und Bartholomäus Flück als Abnehmer bzw. vielleicht auch nur als Vermittler einer Weinsendung vom Rat angesprochen, die Hans Steinmäusel von Österreich nach Nürnberg gebracht hatte43. Die enge Beziehung zum Osten wird weiter auch durch den Umstand erhärtet, daß 1534 die Wienerin Anna Dulfer vor dem Nürnberger Stadtgericht auftrat und von Wolfgang Seldner die Herausgabe eines von ihrem verstorbenen Ehemann Niklas bei diesem hinterlegten „Trühleins“ forderte44. Daß immer wieder Streitigkeiten wirtschaftliches Handeln begleiten, ist naheliegend. 1511 ging es um die Bezahlung einer Schuld durch Martin Seldner und Sebald Schweicker gegenüber Michael Büffler, die sicherlich ihre Grundlage in einer Warenliefe­ rung hatte. Der Rat nahm deswegen mit der Stadt Leipzig Kontakt auf. In einer Auseinandersetzung mit Jakob Meyer fand Wolfgang Seldner allerdings beim Nürnberger Rat keine Unterstützung. Hier wurde ihm empfohlen, sich direkt an den Ansbacher Markgrafen Georg zu wenden45. 9) Geldgeschäfte

Offensichtlich haben sich die Seldner auch immer wieder in Geldgeschäften betätigt. Ebenfalls 1511 war von Forderungen gegenüber Stephan Tücher die Rede. 1534 wurde Martin Seldner durch das Stadtgericht ermächtigt, den von Margaretha Kopp geschuldeten Zins mit einem in seinem Besitz befindlichen 40 Roth, Johann Ferdinand: Geschichte des Nürnbergischen Handels. Band 1, Leipzig 1800, S. 396 ff. Hotzelt, Wilhelm: a. a. O., S. 104 f. Ulmschneider, Helgard: Götz von Berlichingen. Mein Fehd und Handlungen. Sigmaringen 1981, S. 20—23. StaatsAN: Rep. 60 a, Band 563, S. 7. 41 StaatsAN: Rep. 60 a, Band 666, S. 17 und Band 667, S. 3\ 42 StaatsAN: Rep. 60 a, Band 697, S. 3 f., 8\ 12, 16’. Rep. 60 b, Band 12, S. 203 f., 205’. Eirich, Raimund: a. a. O., S. 286 f. 43 StaatsAN: Rep. 60 a, Band 619, S. 7. 44 StadtAN: Libri litt., Band 45, S. 167 und Libri cons., Band 52, S. 81. 45 StaatsAN: Rep. 60 a, Band 528, S. 15, Band 530, S. 9’, Band 788, S. 1, 5 f., 9, 10\

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Pfand zu verrechnen46. Anscheinend sind aber auch in größerem Umfang Dar­ lehensgeschäfte getätigt worden. Mit der Besoldung des „Blindischen Heeres“ oder auch des „Bundesvolks“ vor Salzburg waren die Seldner 1523 und 1525 befaßt. Dabei kann es sich eigentlich nur um den Schwäbischen Bund handeln. Diese Vereinigung, 1488 gegründet, sollte zunächst der Sicherung des Land­ friedens in Schwaben dienen. Rasch dehnte sich der Zusammenschluß bis nach Franken aus. Ihm gehörten geistliche und weltliche Territorialherren an, unter anderen auch die Reichsstadt Nürnberg. Die Bundesstreitmacht sollte die Mit­ glieder gegen Angriffe von außen schützen. Später verlor der Bund seine Eigenständigkeit und wurde zunehmend ein Werkzeug der Habsburgischen Politik. Schließlich wurde das Bundesheer unter Georg von Waldburg 1525 gegen die aufrührerischen Bauern eingesetzt. Um welche Summen es bei diesen Geldgeschäften ging, wird leider nicht gesagt47. 152 7 wurde Martin Seldner als Mitglied einer Gruppe von Kaufleuten vom Nürnberger Rat wegen eines an Ungarn gewährten Darlehens angesprochen48. 1532 stellten Caspar Letscher und Wolfgang Seldner dem Nürnberger Rat einen Betrag von 3000 fl. zur Ver­ fügung. Es kann nicht entschieden werden, ob es sich dabei um eine gemein­ same Maßnahme der beiden Kaufleute handelte oder ob jeder von ihnen diesen Betrag gab. Letscher war ein wohlhabender Mann und verfügte über weit­ reichende Interessen im Mansfelder Kupferschieferbergbau49. Auch in die Übertragung von Geldbeträgen waren die Seldner immer wieder eingeschaltet. 1525 erschien Wolfgang Seldner vor dem Stadtgericht und tat kund, daß er einen Schuldbrief des Niklas Ziegler, Herr zu Paar und Landvogt in Schwaben, in Händen habe, aus welchem der Wiener Bürger Hans Öder ursprünglich 250 fl. zu fordern hatte. Unter Vermittlung des Gastei Fugger vom Reh waren zwischenzeitlich vom Schuldner 200 fl. bezahlt worden. Der Erbe des inzwischen verstorbenen Öder, der niederösterreichische Land­ kanzler Marx Trautsauerwein, forderte nun von Seldner den noch ausste­ henden Betrag von 50 fl. 1529 vermittelte Martin Seldner einen Wechsel über 1000 fl. von Nürnberg nach Freistadt in Oberösterreich, wo er an den Bres­ lauer Ratsherren Hans Kolmann zur Auszahlung kam, der gerade den Pauli­ markt besuchte. 1534 besorgten Martin und Wolfgang Seldner eine Wechsel­ zahlung von Nürnberg nach Passau50. 46 47 48 49

StadtAN: Libri cons., Band 1, S. 39, 176, Band 36, S. 200. StaatsAN: Rep. 60 a, Band 720, S. 21’ und Band 691, S. 6. StaatsAN: Rep. 60 a, Band 746, S. 9. StaatsAN: Rep. 60 a, Band 812, S. 3. Wegen Caspar Letscher vgl. Haller von Hallerstein, Helmut Frhr.: Größe und Quellen des Vermögens von 100 Nürnberger Bürgern um 1500. In: Beiträge zur Wirtschaftsgeschichte Nürnbergs, Band 1, Nürnberg 1967, S. 142. 50 StadtAN: Libri litt., Band 36, S. 227 und Libri cons., Band 36, S. 190’ ff. Klier, Richard: Das Fragment des Handelsbuches des Sebastian Wolff. In: MVGN, Band 59, Nürnberg 1972, S. 125, 129 f., 142.

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10) Tod der Seldner-Brüder und Hinterlassenschaft

Die Geburtsjahre von Martin und Wolfgang Seldner haben sich nicht fest­ stellen lassen. Verschiedene Indizien deuten jedoch darauf hin, daß Martin um 1475/80, Wolfgang vielleicht 10 Jahre später das Licht der Welt erblickte. In rascher Folge starben die Brüder, Martin 1535, Wolfgang 1537, nachdem ihm noch im Vorjahr vom Nürnberger Rat Holz für ein Bauvorhaben zugeteilt worden war, Martins Ehefrau 1536. Wolfgangs Gemahlin Anna, die wohl deutlich jünger als ihr Ehemann gewesen ist, starb erst 1572, nachdem sie noch im selben Jahr ein Testament errichtet hatte. Die Gräber beider Ehepaare haben sich auf dem Rochusfriedhof erhalten. Sie sind, wie es der Brauch war, mit den Wappen der Ehegatten geziert. Eine Scheibe mit dem SeldnerWappen, ein Schild mit schwarzem, nach links gerichtetem, aufrechten Stein­ bock auf rotem Grund, Stechhelm mit rotem Wulst und schwarzem Steinbock ebenfalls nach links gerichtet, die sich in der Jakobskirche befand, läßt sich heute nicht mehr feststellen51. Zum Zeitpunkt der Todesfälle waren die hinterlassenen Kinder noch jung. Nur zwei von ihnen, Walburga und Barbara Seldner, waren bereits verheiratet. Nachdem auch Elisabeth Seldner verstorben war, erschienen ihre fünf Kinder im Juni 1536 vor dem Nürnberger Stadtgericht, um die Hinterlassenschaft ihrer Mutter zu deklarieren. Dabei traten auch Wolfgang Seldner und sein Schwiegersohn Jobst Furter in Erscheinung, und zwar „wegen ihres abwe­ senden Mitverwandten Peter Büffler von Isny“. Zweifelhaft ist, ob dieser Hin­ weis als Indiz für das Bestehen einer gesellschaftlichen Verbindung zwischen den Seldner und dem Isnyer Handelshaus gewertet werden kann. Nachdem die Ehefrauen von Martin und von Wolfgang Seldner mit den Büffler eng ver­ wandt gewesen sind, kann dies natürlich nicht ausgeschlossen werden52. Ver­ mutlich hatte nach dem Tod des Vaters unter den Kindern keine Erbausein­ andersetzung stattgefunden, sondern erst nachdem die Mutter auch gestorben war. Von der Tochter Ursula, die sich zwischenzeitlich nach Memmingen ver­ heiratet hatte, wissen wir , daß sie 470 fl. Nachsteuer auf ihr Erbe von 5104 fl. zu entrichten hatte. Geht man einmal davon aus, daß alle fünf Kinder gleich hohe Erbteile erhielten, so läßt sich auf ein stattliches Vermögen von ca. 25 000 fl. schließen. Der Memminger Schwiegersohn Hans Keller hat später 51 Stadtbibi.N: Amb. 173, S. 220. StadtAN: Nürnberger Wappen- und Geschlechterbuch Nr. 36, S. 299. StaatsAN: Rep. 52 a, Nr. 224, S. 79 und Rep. 60 a, Band 871, S. 14’. Eine Urenkelin des Martin Seldner, Regina Roch, heiratete 1607 in die Landsberger Familie Selder ein. Diese führte ein ähnliches Wappen wie die Seldner. Ob sich beide Familien auf einen gemeinsamen Stamm zurückführen lassen, konnte nicht ermittelt werden (Stadtbibliothek Augsburg: 2° Cod. S. 79 Patriziat I und J. Siebmacher’s grosses und allgemeines Wappenbuch. Der Niederösterreichi­ sche und Landständische Adel, 4. Band, 4. Abteilung. Nürnberg 1918, S. 133 f. und Tafel 55). 52 StadtAN: Libri cons., Band 40, S. 180.

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erreicht, daß sich der Nürnberger Rat zu einer Reduzierung der Nachsteuer um 40 fl. bereitfand. Weitere Ermäßigungen wurden jedoch abgelehnt. Auch ein Zahlungsaufschub wurde abschlägig beschieden. Für den Versuch, Martin Seldners Vermögen zu bewerten, mag die Aufstellung von Christoph Scheurls Vermögensschätzung erneut herangezogen werden. Nur neun Bürger ver­ fügten um 1500 über ein Vermögen von mehr als 25 000 fl., wobei zwei davon, mit 100 000 fl. an der Spitze lagen. Sicherlich ist diese Liste nicht vollständig, da patrizische Familien weitestgehend unberücksichtigt blieben. Es darf aber als sicher gelten, daß Seldner mit einer Hinterlassenschaft von ca. 25 000 fl. nicht nur im Nürnberger, sondern auch im überregionalen Vergleich als sehr vermögend angesehen werden kann53. 11) Die Nachkommen Nur Martin Seldner hatte männliche Nachkommen, die Söhne Sigmund d. J. und Wolfgang d. J. Es darf angenommen werden, daß Sigmund beim Tod des Vaters gerade 21 Jahre alt, der ältere der Brüder war, denn in der Auseinander­ setzung um die Zehntzahlungen aus dem Familienbesitz in Bechhofen, trat er üblicherweise als Vertreter seiner Verwandten auf. Vielleicht hatte dies jedoch auch seine Ursache darin, daß sein Bruder Wolfgang in der Verfolgung von Handelsgeschäften von Nürnberg abwesend gewesen war. Sigmund Seldner hatte den Rat in dieser Angelegenheit bemüht, wobei es sowohl um die Höhe der Abgabe als auch den Zahlungsort zu Meinungsverschiedenheiten mit dem Berechtigten, dem Bischof von Eichstätt, kam. Nachdem von 1536 bis 1538 in dieser Sache etliche Briefe gewechselt worden waren, empfahl der Rat Seldner schließlich, sich in die Sache zu schicken und den Wünschen Eichstätts zu ent­ sprechen54. Sigmund ist bereits zwischen dem 14. Dezember 1541 und dem 1. März 1542 verstorben. Die Tatsache, daß er in seinem Testament verschie­ denen Handelsdienern 1000 fl. hinterließ und daß er auswärts starb, lassen für ihn eine Beteiligung an der Familienhandelsgesellschaft vermuten. Weitere 50 fl. vermachte er armen Leuten. 4987 fl. erbten Verwandte in Isny und Mem­ mingen, wohl in erster Linie die Schwester Ursula Keller. Es kann sicherlich davon ausgegangen werden, daß er seine beiden anderen Schwestern in ähn­ licher Höhe bedachte, so daß sich der Nachlaß auf ca. 16 000 fl. belief. Mit seinem Bruder Wolfgang starb die Familie 1543 im Mannesstamm aus55.

53 Haller von Hallerstein, Helmut Frhr.: Größe und Quellen des Vermögens von 100 Nürnberger Bürgern um 1500. In: Beiträge zur Wirtschaftsgeschichte Nürnbergs, Band 1, Nürnberg 1967, S. 116 ff., 170 f. StaatsAN: Rep. 54, Nr. 183, S. 6’, Rep. 60 a, Band 869, S. 5’, Band 863, S. 14. 54 StaatsAN: Rep. 60 a, Band 857, S. 2, Band 884, S. 11, Band 885, S. 17, Band 886, S. 5, Band 887, S. 14’, Band 888, S. 5, Band 889, S. 25’. 55 StaatsAN: Ren 54, Nr. 183, 164.

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12) Ende der wirtschaftlichen Betätigung in Nürnberg

Soweit die Ehegatten der in Nürnberg verbliebenen Seldnersehen Töchter nicht bereits bisher an der Familienhandelsgesellschaft beteiligt waren, sind sie wohl zum Zeitpunkt dieses Todesfalles in das Unternehmen aufgenommen worden. Das war durchaus sinnvoll und naheliegend, denn sowohl die Töchter des Martin als auch Wolfgangs einziges Kind Barbara hatten Kaufleute gehei­ ratet. Noch zu Lebzeiten des Martin, 1533, stieß Hans Stäuber durch seine Verehelichung mit Walburga Seldner zur Familie. Der Ehevertrag war bereits 1532 dem Stadtgericht vorgelegt und von Hans Schnöd, als Onkel des Ehe­ manns, und Bartholomäus Flück bezeugt worden. Martin Seldner gab seiner Tochter 1000 fl. rheinisch in Gold in die Ehe, erklärte sich bereit die Hochzeit auszurichten und das Paar ein Jahr zu verköstigen. Sebald Stäuber überließ seinem Sohn ebenfalls 1000 fl. als Gegenschatz. Neben anderen wirtschaft­ lichen Aktivitäten betrieb Hans Stäuber einen Ziegelhammer, den sogenannten „Staubershammer“ bei Auerbach in der Oberpfalz. Um 1534 schloß er mit den Grafen Schlick und den Gewerken von Oberschönbach einen Vertrag über die jährliche Belieferung mit 300 Nürnberger Zentnern Quecksilber und Zin­ nober. Dies erforderte ein Kapital von 20 000 bis 25 000 fl. Das Vorkommen von Oberschönbach, in unmittelbarer Nähe von Eger gelegen, war erst um das Jahr 1520 entdeckt worden. Nachdem Almaden und Idria bisher die einzigen Fundstätten waren, war die Erschließung von entscheidender Bedeutung. Ein Onkel Stäubers, der vielseitige Lorenz Stäuber, gleichermaßen bekannt als Kaufmann, Diplomat und wegen der Erhebung in den englischen Ritterstand durch König Heinrich VIII., hatte sich im Ilmenauer Bergbau versucht. Mit der sehr vermögenden Bergbauunternehmerfamilie Schütz waren die Stäuber gleich doppelt verwandt. Hans’ Stiefmutter, die zweite Frau seines Vaters Sebald, war Ursula Schütz. Deren Bruder Gregor war seinerseits mit der Schwester Ursula seines Schwagers Sebald Stäuber verheiratet56. Hans Keller von Erkheim, seit dem 12. Juli 1535 mit Ursula Seldner verhei­ ratet, war wie sein gleichnamiger Vater und sein Sohn, Bürgermeister seiner Heimatstadt Memmingen. Diese Verbindung war vermutlich über die gemein56 Klier, Richard: Der Konkurrenzkampf zwischen dem böhmischen und dem idrianischen Quecksilber in der ersten Hälfte des 16. Jhds. In: Bohemia, Band 8, München 1967, S. 82 ff. Haller von Hallerstein, Helmut Frhr.: Größe und Quellen des Vermögens von 100 Nürnberger Bürgern um 1500. In: Beiträge zur Wirtschaftsgeschichte Nürnbergs, Band 1, Nürnberg 1967, S. 138 f., 120 f. Glöckner, Marie: Lorenz Stäuber (1486-1539). In: MVGN, Band 52, Nürn­ berg 1963/64, S. 163—231. Wegen der Familie Schütz vgl. Klier, Richard: Zur Genealogie der Bergunternehmerfamilie Schütz in Nürnberg und Mitteldeutschland im 15. und 16. Jhd. In: MVGN, Band 55, Nürnberg 1967/68, S. 185-213. StadtAN: Libri litt., Band 46, S. 104. Die gelegentlich geäußerte Annahme, Hans Stäuber wäre Assessor am Nürnberger Stadtgericht gewesen, ist falsch, d. h. es handelt sich dabei um seinen gleichnamigen Sohn (StaatsAN: Rep. 52 a, Nr. 439 — Genealogische Aufzeichnungen Seldner).

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same Bufflersche Verwandtschaft in Isny zustande gekommen. Bereits seit Generationen waren die Keller als Kaufleute in Erscheinung getreten. Der ältere Hans hatte nachhaltigen Einfluß auf die Einführung der Reformation in seiner Vaterstadt. Verheiratet war er mit der Biberacher Patrizierin Ursula von Brandenburg, deren Schwester wieder mit Peter Büffler vermählt war. Dies hatte zur Folge, daß der reiche Bufflersche Besitz bei deren Aussterben an die Keller bzw. über die Erlinger an die Witwe des Wolfgang Seldner, Anna, fiel57. Die dritte der Seldner-Schwestern, Anna, hatte den Kaufmann Thomas Roch geheiratet, der, aus der Steiermark kommend, in Nürnberg zugewandert war. Im Gegensatz zu seinem Schwager Hans Stäuber, der von 1535 bis 1564 Genannter des Größeren Rates war, gelang es Roch nie, in dieses Gremium berufen zu werden58. Dies gilt im übrigen auch für Jobst Furter, den ersten Ehegatten der Tochter des Wolfgang Seldner, Barbara. 1535, als die Eheschließung bereits absehbar war, hatte sich der Rat bereit gefunden, Furter das Bürgerrecht zu gewähren, wenn er im Gegenzug aus der Krakauer Bürgerschaft, in dieser polnischen 57 Eirich, Raimund: a. a. O., S. 286 f. Die Aufschlüsse über die genealogischen Zusammenhänge zwischen den Familien von Brandenburg/Buffler/Keller verdanke ich Kurt Schaal, Erbstetten. Jodokus von Brandenburg GD t 1509

Veronika Egger

Ursula • t nach 1511 QD Hans Keller von Erkheim 1473-1553

Ursula f um 1565 GD Jerg Erlinger t 1553

Anna t 1551 GD Peter Büffler 1475-1552

Hans t 1560 GD 1535 Ursula Seldner t nach 1559

Jerg Erlinger und Ursula Seldner waren über ihre Mütter Verena und Elisabeth Neffe und Nichte Peter Büfflers. Kämmerer, Immanuel und Max Miller: Inventare der nichtstaatlichen Archive in Baden-Würt­ temberg. Heft 7: Regesten der Urkunden des Spitalarchivs Isny, Karlsruhe 1960, S. 204 (Nr. 1015). Kämmerer, Immanuel: Alte Allgäuer Geschlechter. Band 27 (Isnyer Regesten, 1. Teil, Nikolauspflegearchiv), Kempten 1953, S. 236 f. 58 StaatsAN: Rep. 52 a, Nr. 439 (Genealogische Aufzeichnungen Seldner). Roth, Johann Ferdi­ nand: Verzeichnis aller Genannten des Größeren Rats. Nürnberg 1802, S. 72.

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Stadt lebte er offensichtlich bisher, ausschied. Die Heimat seiner Familie dürfte allerdings Herzogenaurach gewesen sein, da dort seine nächsten Verwandten wohnten. Beim Empfang Kaiser Karls V. in Nürnberg im Jahre 1541 gehörten Furter, Stäuber, Roch und Hans Gutteter, Barbaras zweiter Gatte, zur Gruppe der Kaufleute, die dem Monarchen hoch zu Roß entgegenritten. Gutteter sicherte seiner Frau im Heiratsvertrag vom 19. Dezember 1554 1000 fl. rhei­ nisch zu. Barbara brachte 800 fl. ein. Er stammte aus Krakau, hielt sich aber bereits seit 1536 in Nürnberg auf. In dieser polnischen Stadt hatte seine Familie den Warenaustausch zwischen Rußland und Deutschland weitestgehend in der Hand. 1549 war er dann Nürnberger Bürger geworden. Schließlich wurde er 1555 in den Großen Rat berufen. In erster Ehe war er mit Barbara Koberger, der Enkelin des berühmten Buchdruckers Anton Koberger, verheiratet. 1557 hatte er den Herrensitz Neunhof bei Kraftshof um 1050 fl. erworben59. Mindestens Hans Stäuber war sicherlich in der Nachfolge seines Schwieger­ vaters an der Seldnerschen Handelsgesellschaft beteiligt. Dies läßt sich daraus schließen, daß er im Hause Martin Seldners am „Alten Roßmarkt“ wohnte und seinem Schwiegervater im Amt des Gassenhauptmanns 1534 nachfolgte. Daß Stäuber dieses Amt allerdings bereits 1536 wieder abgab, ist verwunderlich. 1539 hatte er ein festes Haus in Erlenstegen erworben. Auch Thomas Roch hatte mit seiner Familie am „Alten Roßmarkt“ gelebt, vermutlich ebenfalls im Seldnerschen Familienhaus. Dies und der Umstand, daß er schließlich das von Wolfgang Seldner einst in Verwahrung genommene „Trühlein“ des Niklas Dulfer an dessen Sohn 1542 auslieferte, lassen ihn ebenfalls als Gesellschafter des Unternehmens erscheinen. Indiz hierfür mag auch sein, daß Roch und seine Frau im Grab der Schwiegereltern beerdigt wurden. Dieselben Schlußfol­ gerungen lassen sich im Falle des Wolfgang Seldnerschen Familiengrabes ziehen, wo auch dessen Tochter und deren zweiter Ehegatte, Hans Gutteter, und der Sohn aus erster Ehe, Wolf Furter, mit Ehefrau begraben sind. Um so verwunderlicher ist es deshalb, daß das Gebäude Adlerstraße 3 bereits 1549 von den Seldnerschen Erben an Wolf Kallinger verkauft worden war. Das Nachbarhaus Adlerstraße 5 wurde 1558 den Eheleuten Stäuber von den anderen Berechtigten veräußert. Jede der beiden Verkäuferinnen, Ursula Keller und Anna Roch, erhielten 933 fl., so daß das Gebäude einen Wert von 2800 fl. repräsentierte. Da Thomas Roch zum Zeitpunkt seines Todes (1569) noch am „Alten Roßmarkt“ ansässig war, kann wohl angenommen werden, daß er nach wie vor bei seinem Schwager wohnte. Helena Voit, eine Tochter des Hans Stäuber, verkaufte das Gebäude schließlich gemeinsam mit einem 59 Kircher, Albrecht: Deutsche Kaiser in Nürnberg. Nürnberg 1955, S. 178. Klier, Richard: Der schlesische und polnische Transithandel nach Nürnberg in den Jahren 1540—1576. In: MVGN, Band 53, S. 206, 212. StadtAN: Libri litt., Band 69, S. 220’. Popp, Ludwig: Die Geschichte der Gutteter aus Kulmbach. Kulmbach 1984, S. 133. StaatsAN: Rep. 60 a, Band 856, S. 4’.

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Hinterhaus, welches an das Kifhabergäßlein anstieß, 1570 an Paulus Fürleger für 4800 fl.60. Die Witwe Wolfgang Seldners lebte mit ihrer Tochter Barbara und deren Familie „Unter den Hütern“. Erst 1594 wurde dieses Gebäude von ihrem Enkel Hans Gutteter für 5500 fl. 60 Kr. und 100 fl. Leihkauf veräußert. 1553 hatte Anna Seldner noch die Gatterschaft an einem Gebäude „Hinter dem Kürschnerhaus“ für 100 fl. erworben. Ein weiteres Anwesen besaß sie in der Kartäusergasse (1570). Mindestens zeitweise hat Barbara Seldner, verheiratete Furter, im Haus Adlerstraße 26 (Köpfleinsberg) gewohnt. Dieses stattliche Gebäude war von Jobst Furter 1550 errichtet worden. Die Wappen der Ehe­ leute zierten den Mittelerker. 1908 mußte das Haus dem Neubau der Thurn & Taxis-Bank weichen61. Wie eng die Schwäger Stäuber und Roch und die angeheirateten Vettern Furter und Gutteter schließlich zusammengearbeitet haben, muß dahingestellt bleiben. Es spricht einiges dafür, daß sie zum mindesten verschiedene Geschäfte gemeinsam abwickelten, sich aber auch für Eigengeschäfte die not­ wendige Freiheit ließen. Unter dem Namen „Seldner“ oder auch „Seldnersche Erben“ sind sie jedenfalls nicht in Erscheinung getreten. Nur vorübergehend wurden noch unter der Bezeichnung „Martin Seldner“ Geschäfte betrieben. Im Journal des Georg Peurl wurde dieses Unternehmen 1542 als Käufer von 5 Stück Tuchen zu je 12 fl. genannt. 1546 wurden von dem Handelshaus „Martin Seldner und Jobst Furter“ minderwertige Kupferkugeln mit dem Ziel angeboten, die Fugger zu unterbieten62. Während für Martin und Wolfgang Seldner kein Handelsprodukt schwer­ punktmäßig genannt werden kann, war für die Schwiegersöhne ganz eindeutig der Ochsenhandel dominierend. Dieser Handelszweig war im Hinblick auf die Versorgung der reichsstädtischen Bevölkerung von wesentlicher Bedeutung. Das Vieh kam aus Ungarn zum Teil auch aus Regionen an der Schwarzmeer­ küste und wurde über Österreich oder auch über Krakau, Mähren und Böhmen nach Oberdeutschland getrieben. Dabei kam es immer wieder zu Auseinandersetzungen im Hinblick auf die Höhe der Zollabgaben, welche beim Übertritt über die Grenze zu entrichten waren. Die Folge war, daß oft versucht wurde Zollstationen, welche hohe Abgaben forderten, zu umgehen. 60 StaatsAN: Rep. 60 a, Band 846, S. 28, Band 865, S. 2’. StadtAN: Libri cons., Band 52, S. 81, Lochners Selecta, Band 8, S. 299, Band 4, S. 590 f., Lochners Norica, Band 4, S. 594 f. Haller von Hallerstein, Helmut Frhr.: Größe und Quellen des Vermögens von 100 Nürnberger Bür­ gern um 1500. In: Beiträge zur Wirtschaftsgeschichte Nürnbergs, Band 1, Nürnberg 1967, S. 139. 61 Schulz, Fritz Traugott: a. a. O., S. 101 f. StadtAN: Libri litt., Band 111, S. 72’, Band 69, S. 42, Band 86, S. 56. 62 Kellenbenz, Hermann: Nürnberger Handel um 1540. In: MVGN, Band 50, Nürnberg 1960, S. 321. Pölnitz, Götz Frhr. von: Anton Fugger. Band 2, 2. Teil Tübingen 1967, S. 252.

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Hier gab es Unterschiede, da das Zollwesen Sache des jeweiligen Grundherren gewesen ist. 1546 hielt sich Jobst Furter in Prag auf, um eine Ausfuhrerlaubnis für weitere Ochsen zu erhalten. Im Hinblick auf kriegerische Ereignisse in Ungarn befürchtete man, daß es in Zukunft zu Lieferverzögerungen kommen könnte, welchen man Vorbeugen wollte. Furter muß in diesen Jahren eng mit Niklas Gößwein, Sebastian Hofmann und Paulus Lengenfelder zusammen­ gearbeitet, ja vielleicht auch gemeinsam eine Gesellschaft betrieben haben. Auch mit Felix Stanno und dem Krakauer Bürger Johannes Schwab war er zeitweise gesellschaftlich verbunden. 1549 lieh Furter der Stadt Isny 1600 fl. Vermutlich benötigte die Stadt die Summe, um die ihr auferlegten Kontribu­ tionen infolge des für die Evangelischen verlorenen Schmalkaldischen Krieges, abzutragen. 1552 hatte sich Furter zeitweise in Wien aufgehalten. 1547 rich­ teten verschiedene Nürnberger Kaufleute eine Eingabe an den Rat, darunter auch Jobst Furter, Hans Stäuber, Hans Gutteter und Thomas Roch. Dabei ging es erneut um die Höhe des Zolls für ungarisches Vieh. An einer am 10. März 1570 abgehenden Supplikation der Nürnberger Ochsenhändler war aus dem Kreis der hier interessierenden Kaufleute nur noch „Thomas Roch selig Erben“ beteiligt. Kaiser Maximilian II. wurde dabei wegen der Einengung der Straßen zwischen Pilsen und Pfraumberg und wegen dem Weiderecht im nördlichen Böhmen angegangen63. Dies sind wohl die letzten Spuren kaufmännischen Handelns in der Nach­ folge der Seldner. 1569 waren mit Thomas Roch und Hans Gutteter die letzten Schwiegersöhne der beiden Seldner verstorben. Die nachfolgende Generation, durchaus wohlhabend, war, soweit sie aus Männern bestand, entweder weg­ gezogen oder auf andere Berufszweige ausgewichen. Peter, ein Sohn von Thomas Roch, von Beruf Kaufmann, hatte am 12. Juni 1570 sein Bürgerrecht aufgegeben und war nach Augsburg übersiedelt, unter Bezahlung einer statt­ lichen Nachsteuer von 2115 fl. Dort hatte er in die Kaufmannsfamilie Mayr eingeheiratet, was ihn auch in engen Kontakt zu den Walter und Bimmel brachte. Die Aufnahme in der Mehrer-Gesellschaft, einem Zusammenschluß der mit den Patriziern verschwägerten Bürgerfamilien, war damit eine Selbst­ verständlichkeit. Von 1576 bis 1598 gehörte er dem Kleinen Rat an. Seine Enkelin Anna Euphrosina Drezler, letzte Seldner-Nachkommin in Augsburg, vermachte den Karmelitern 1653 100 000 fl.64. Die Eheleute Wolfgang und 63 StaatsAN: Rep. 15 a, S I L 89, Nr. 41, Rep. 61 a, Band 136, S. 36’, Band 146, S. 189’. Sachs, Carl L.: Metzgergewerbe und Fleischversorgung der Reichsstadt Nürnberg bis zum Ende des 30jährigen Kriegs. In: MVGN, Band 24, Nürnberg 1922, S. 1-260. Klier, Richard: Der schlesische und polnische Transithandel durch Böhmen nach Nürnberg in den Jahren 1540—1576. In: MVGN, Band 53, Nürnberg 1965, S. 213. Stadtarchiv Isny: Nr. B 1426 = Usgebbuch 1548, S. 13, 83. 64 StaatsAN: Rep. 52 b, Nr. 308, S. 206. Stadtarchiv Augsburg: Rep. 39 (Augsburger Ämterbeset­ zung 1548 — 1806). Stadtbibliothek Augsburg: 2° Cod. S. 79 Patriziat I.

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Susanna Furter hinterließen bei ihrem Tod 1594 nach Abzug diverser Legate und Gegenschulden noch den stattlichen Betrag von 29 192 fl. Hans Stäuber d. J. war Schöpf am Land- und Bauerngericht65. Offensichtlich ist es der Mehrheit der Seldnerschen Nachkommen gelungen, ihre Ehepartner in den Kreisen der wohlhabenden Kaufmannschaft, des Patri­ ziats und des kleinen Landadels zu finden. Dies gilt sowohl für den in Nürn­ berg verbliebenen größeren Teil der Familie als auch für die sich auswärts ver­ heiratenden Enkel und Enkelinnen von Martin und Wolfgang Seldner. Inso­ weit schlug die Familie den für Aufsteiger typischen Weg ein — allmähliche Entsagung aller kaufmännischen Aktivitäten unter gleichzeitiger Betonung des eigenen Ansehens durch entsprechende Heiraten. Bezeichnendes Beispiel mag hier die Verehelichung mit Mitgliedern der Familien Derrer und Voit sein oder auch der enge Kontakt, welcher sich durch die Verehelichung der Veronika Keller mit David von Dettikofen zu den Augsburger Manlich ergab66.

ö StaatsAN: Rep. 78, Nr. 1290, S. 2. 66 Siehe Stammbaum Seldner. Die Mutter von David von Dettikofen, Afra, war eine Schwester der Augsburger Kupferhändler Matthias und Melchior Manlich.

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Fritz Seldner f vor 4. 7. 1475 OD möglicherweise Margaretha Hüter Margarethe t nach 4. 7. 1475

Sigmund t nach 1. 1. 1478 vor 1503

Wolfgang t 1543

Hans 1544-1577 OD Sabina Kegel

I OD möglicherweise Dorothea Pötschner

II GD Barbara N. t nach 1513

Martin t 1535 OD vor 1505 Elisabeth Büffler t 1536

Wolfgang f 1537 GD nach 1515 Anna Erlinger t 1572

Sigmund * 1515 t 1541/42

Helena * 1534 OD 1554 Peter Voit von Wendelstein f vor 1573

Ursula t 1580 OD 1535 Hans Keller t 1560

Barbara * 1548 OD Lassla Derrer t 1581

Walpurga f 1561 OD 1533 Hans Stäuber f 1564

Peter t 1599 OD 1565 Euphrosina Mayr

Gabriel * ca. 1480 f nach 1513

Anna t 1571 OD 1535 Thomas Roch t 1569

Paulus t vor 1586 OD Euphrosina Gienger f 1609

Ursula OD 1556 Georg Bechler

Maria OD Endres Sorg

Catharina I GD 1561 Joseph Schreiber II GD 1570 Moritz Bucht

Anna f vor 1576 GD 1560 Hans Voit von Wendel­ stein

Georg GD 1576 Sophie Bolnfaiss

Landeskirchl. Archiv, Nürnberg: St. Lorenz und St. Sebald (Taufbücher ab 1533, Ehebücher ab 1524, Bestattungen ab 1547). Kirchenarchiv Isny: I HU 977.10. Stadtarchiv Memmingen: Nachlaß Askan Westermann. Stadtbibliothek Augsburg: 2° Cod. S. 79 Patriziat I. Staatsarchiv Nürnberg: Rep. 52a, Nr. 439 (Genealogie Seldner). Stadtarchiv Augsburg: Rep. 39 (Augsburger Ämterbesetzung 1548—1806). Bernhart, Max: Die Münzen der Reichsstadt Kempten. In: Mitt. der Bayerischen Numismatischen Gesellschaft, München 1926, S. 45. Burger, Helene: Nürnberger Totengeläutbücher III, St. Sebald 1517—1572, Neustadt/Aisch, 1972.

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DAS HISTORISCHE KONZERT VOM 31. MAI 1643 Von Hermann Harrassowitz „Konzert“ bedeutet eine musikalische Zusammenkunft, bei der darbietungs­ mäßig musiziert wird (Riemann, Musiklexikon). Die Kunstmusik des Mittelalters hatte im Gottesdienst der christlichen Kir­ chen ihren Platz. Erst allmählich kam sie auch außerhalb der Kirchen im welt­ lichen Bereich zu Gehör. Den ersten entscheidenden Einbruch verursachte die Venezianische Oper, die ab 1637 öffentlich bekanntgemacht wurde und für jedermann gegen Entgelt zugänglich war. In Deutschland begannen die großen Städte mit einem wohlhabenden Bür­ gertum als erste mit der Durchführung von Konzerten außerhalb der Kirche. Fanden die „Abendspiele“ Franz Tunders (1614—1667) in St. Marien/Lübeck, die er bald nach 1641 donnerstagabends als außergottesdienstliche Orgelvor­ träge begann, noch im kirchlichen Raum statt, so gründete Matthias Weck­ mann (1619—1674) 1660 in Hamburg ein Collegium Musicum und führte mit diesem Ensemble im Refektorium des Domes (also außerhalb des Gottes­ dienst-Raumes) wöchentliche Konzerte für die Handelsherren durch. In Nürnberg begann die Entwicklung außerkirchlicher Musikdarbietungen erstaunlich früh mit der Aufführung von Oratorien und Opern. Hier ist vor allem Sigmund Theophil Staden (1607—1655), Organist an St. Lorenz, zu nennen, der mit „Seelewig“ 1644 die erste erhaltene deutsche Oper kompo­ nierte und der 1645 zum geistlichen Drama „Der leidende Christus“ von Johann Klaj die Musik lieferte. Hierzu ist zu bemerken, daß die Dramen Klaj’s im Auditorium bei St. Egidien bzw. im großen Saal des Augustinerklosters zu Gehör kamen, nicht in einer Kirche. Die Erbauung des Nürnberger „Opernund Nachtkomödienhauses“ im Jahre 1686 führte zu einem ersten Höhepunkt im Nürnberger Opernleben mit der Komposition und Aufführung von zwei Opern des Lorenz-Organisten Johann Löhner (1645-1705) in den Jahren 1687 und 1688. Er verläßt hierbei erstmalig die geistliche Richtung und wendet sich antiken Stoffen zu. Völlig aus dem erwähnten Rahmen fällt dagegen unser „Historisches Kon­ zert“ von 1643, da es zeitlich vor allen erwähnten außerkirchlichen Musikver­ anstaltungen liegt und sich von Drama und Oper durch das Fehlen einer dra­ matischen Handlung und der szenischen Darstellung klar unterscheidet. Ebenso klar lag dagegen das geistig-geistliche Programm der Veranstaltung auf der Hand, die im Ratserlaß als „Music carminice“ (Gesangsdarbietung) bezeichnet wird, wovon weiter unten die Rede ist. Der Begriff „Historisches Konzert“ ist erst durch die wissenschaftliche Sekundärliteratur geprägt worden. Dem musikalischen Bewußtsein zu Beginn 61

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des 17. Jahrhunderts wären beide Teilbegriffe fremd und unbekannt gewesen. „Historisch“ meint hierbei: die Darstellung der Musik von ihren urzeitlichen Anfängen (Gesang der Engel vor Erschaffung der Menschen, hochzeitliche Musik für Adam und Eva, Sündenfall) über die Gegenwart (geistliche Musik von S. Th. Staden und J. M. Dilherr und zeitgenössische weltliche Musik) in die Zukunft (Jüngstes Gericht und Musik des himmlischen Gottesdienstes). „Konzert“ bedeutet Darbietung von Musik außerhalb des Gottesdienstes vor geladenen Gästen (und viel ungeladenem Volk, das von außen zuhörte). Dil­ herr selber nennt die Veranstaltung eine „stattliche Music“. Er hält eine einfüh­ rende lateinische Rede und gibt während des Konzertes Erklärungen zu jedem der 21 Programmpunkte. Durch die Erklärungsbedürftigkeit wird die Novität der Veranstaltung für uns unterstrichen. Nirgends ist aus den Quellen eine Motivation zu diesem Konzert ersichtlich. Über Vermutungen wird weiter unten gesprochen. Wir können nur das Ingenium und die schöpferische Leistung des Initiators dieser „stattlichen Music“ Johann Michael Dilherr konstatieren, der fast aus dem Nichts eine solche neue musikalische Darbietungsform schuf, die auch keine eigentlichen Nachahmer fand. Wohl zu Beginn des Jahres 1643 richtete Johann Michael Dilherr1 (Abb. 1) ein Gesuch an den Rat der Stadt zusammen mit Sigmund Theophil Staden eine „Entwerffung deß Anfangs, Fortgangs, Enderungen, Brauch und Mißbrauch der Edlen Music“ vorstellen zu dürfen. Der Magistrat genehmigte die Veran­ staltung und stellte dafür „die städtischen Musikanten, Stadtpfeiffer, Sänger, Kantoren, Organisten und Mittel für die übrigen Mitwirkenden“ zur Ver­ fügung2. Die Vorbereitungen wurden getroffen und am Tage der Aufführung lesen wir im Ratsprotokoll: „Demnach Herr Joh. Mich. Dilherr zu heut angestelten Oration [er leitete das Konzert mit einer lateinischen Rede ein] und Music carminice invitirt [er

1 Dilherr (1604—1669), eine bedeutende Nürnberger Persönlichkeit, war Rektor des Egidiengymnasiums, Leiter des Schulwesens der Reichsstadt, Stadtbibliothekar und ab 1646 Inhaber des angesehensten geistlichen Amtes der Stadt, nämlich Hauptprediger an St. Sebald. 2 Zitiert nach: Willi Kahl, Das Nürnberger historische Konzert von 1643 und sein Geschichtsbild. (Archiv für Musikwissenschaft XIV, 1957, S. 281—303). Dieser beruft sich auf E. Hysel, Das Theater in Nürnberg (1612—1863), Nürnberg 1863, S. 29 f. Beide teilen für Gesuch und Geneh­ migung durch den Rat keine Quellen mit. Trotz intensiver Suche gelang es auch für die vorlie­ gende Arbeit nicht, diese Quellen, die die Vorverhandlungen beim Rat betreffen, aufzufinden. Durchgesehen wurden die Ratsprotokolle, die Verlässe zum Losungsamt, die Verlässe der Herren Älteren, Rep. 52a Handschriften, Nr. 170, sowie C- und E-Laden, alles im Staatsarchiv Nürnberg.

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lädt zu einer Gesangsdarbietung ein], als ist auff die Herren deß Rathes gestellt worden, ob sie denenselben beywohnen wollen. Herrn Bürgermeistern“3 Schon die Bereitstellung der städtischen Musiker und der finanziellen Mittel durch den Rat beweist das große Interesse, das man der Veranstaltung ent­ gegenbrachte. So verwundert es auch nicht, wenn wir im Bericht über den Ablauf des Kon­ zerts lesen, daß sich der gesamte Rath, die österreichischen Exulanten, andere hohe Adelspersonen und auch „das Hochadeliche Frauenzimmer“ die Musik anhörten. Das historische Konzert war von epochaler Bedeutung für Nürnberg und sein Musikleben. „Dieses Konzert, nach Plan und Ausführung zwischen geschichtlichen Tatbeständen und nachschaffender Phantasie der Veranstalter sich bewegend, blieb vorläufig wohl das einzige seiner Art. Es war ein erster und einmaliger Versuch, einer im wesentlichen aus der Gegenwart lebenden Musikübung vom Erbe der Vergangenheit aus eine neue Aufgabe zu stellen.“4 Die Notzeiten des 30jährigen Krieges beschnitten die Entfaltung der Künste. Das galt besonders für die Musik, die zu allen Zeiten einen erheblichen organisatorischen und finanziellen Aufwand erforderte. Wichtig erschien die Rechtfertigung in theologischer Sicht, angesichts der Kriegsnot Kräfte und Mittel für die Kirchenmusik einsetzen zu dürfen. Auf diesem zeitgeschicht­ lichen und geistigen Hintergrund ist das Historische Konzert zu sehen. Die Veranstalter Dilherr und Staden bemühten sich in zweifacher Hinsicht, die Aufführung gottesdienstlicher Musik zu rechtfertigen: Überall in Deutsch­ land war zu dieser Zeit die Musik des Krieges und der „Heiden“ zu hören, der abusus, der Mißbrauch lag offen zu Tage. Das Historische Konzert stellte diesem abusus — man lese die Programmpunkte Nr. 10, 16 und 20 nach — den gottgefälligen usus geistlicher Musik gegenüber. Diese Konfrontation konnte nur zugunsten der geistlichen Musik ausfallen. In zweiter Hinsicht sollte die Verwandtschaft des gegenwärtigen Gebrauchs der Musik mit der früherer Zeiten gezeigt werden, um dadurch die gegenwär­ tige Musikübung zu rechtfertigen. „Alte“ Musik wurde also nicht als Selbst­ zweck aufgeführt, sondern wie sie in Beziehung zur eigenen Zeit stand und den usus der eigenen Musik zu stützen vermochte. Wo keine geschichtlichen Musikbeispiele zur Verfügung standen, hat Staden wohl stets selber kompo­ niert. 3 Staatsarchiv Nürnberg, Ratsverlässe, Bd. 2278, fol. 91v vom 31. Mai 1643. 4 Willi Kahl, Das Nürnberger historische Konzert von 1643 und sein Geschichtsbild. Nachwort. Archiv für Musikwissenschaft XIV, 1957, S. 281 — 303.

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Verschiedene Quellen berichten uns über das Historische Konzert. So besitzen das Stadtarchiv5 und das Staatsarchiv6 Nürnberg je einen handschrift­ lichen Bericht, die fast gleichlautend sind; dazu noch einen gedruckten Hand­ zettel6, der wiederum fast mit jenen identisch ist. Hinzukommt die Verpfle­ gungsabrechnung für die Musiker7. Nun hat aber der Initiator des Konzerts Joh. Mich. Dilherr 1659 noch einmal selber von diesem Konzert berichtet8. Hier sind einige Abweichungen bei Einzelheiten der Programmfolge fest­ stellbar im Vergleich mit den drei oben genannten Quellen. Dies ist erklärbar aus etwa plötzlich notwendig gewordenen Änderungen gegenüber dem bereits gedruckten Programmzettel. Möglich ist auch, daß die Abweichungen die Wiederholung des Konzerts im Rahmen der Friedensfeierlichkeiten im Juli 1650 betreffen. Dieser von Dilherr selbst erzählte Bericht soll hier folgen, ergänzt von Einleitung, abschließender Dokumentation und Abrechnung (aus den Nürnberger Archiven). „Den 31. dito [Mai 1643] ist von M. Johann Michael Dilherrn und Theophilo Staden Organisten zu St. Lorenzen, mit Vergünstigung eines E. [ehr­ baren] Raths eine Entwerfung deß Anfangs, Fortgangs, Enderungen, Brauch und Mißbrauchs der Edlen Music angestellt worden. Anfangs vor einer Latei­ nischen Oration, so gedachter Herr Dilherr auf einem darzu zugerichtetem Cathedra recitirt, und dieses in gemein, und eines jeden actus in Sonderheit Erklärungen gewesen, haben die Trompeter dreymal ein Intrada geblasen, und darein die Heerbauken geschlagen worden, darauf gefolget aus dem alten Testament 1. Wie vor Erschaffung der Welt die heiligen Engel Gott gelobt. . .“5 [Fort­ setzung nach Dilherrs Bericht (Anm. 8) in Zeile 3 des folgenden Abschnitts.] „Anstellung einer stattlichen Music zu Nürnberg8

Erstlich/wurde/so viel/in dieser Unvollkommenheit/müglich/angezeiget; Wie die heiligen Engel GOtt/ehe die Menschen erschaffen worden/gelobt: Job. 38. V. 79 Wozu 3. Discantisten/derer einer Ebreisch/der andere Lateinisch/der 5 Stadtarchiv Nürnberg, Rep. F 1, Nürnberger Chroniken Nr. 47, fol. 985. (Alte Signatur: Cod. man. 32.2°.) 6 Staatsarchiv Nürnberg, Rep. 52a Handschriften Nr. 170, fol. 117V und 118. 7 Staatsarchiv Nürnberg, Reichsstadt Nürnberg, Stadtrechnungsbelege Rep. 54a II, 793. Für das Auffinden der in Anm. 5, 6 und 7 genannten Quellen bin ich Herrn Johann Rolf Mauersberger, Nürnberg, zu außerordentlichem Dank verpflichtet. Insbesondere hat er die Abrechnungsbelege entdeckt und damit der Forschung zugänglich gemacht. 8 Johann Michael Dilherr, Tugendschatz und Lasterplatz aus Biblischen Geschichten, Nürnberg 1659, S. 353 ff. (LKAN und Stadtbibliothek Nürnberg). 9 Hiob 38,7: «... da mich die Morgensterne miteinander lobten und jauchzten alle Kinder Gottes.“

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dritte Teutsch/aus dem Propheten Esaia 6. Vers. 3. gesungen/gebraucht worden. Zum Andern/ wurde angezeiget; Wie GOtt/nach Erschaffung der Men­ schen/ den Adam und die Even selbst eingesegnet/ und ihr Hochzeitliches Ehrenfest angestellet: Wobei die Heiligen Engel ihre Frölichkeit/ mit einer annehmlichen Music/herausbrechen lassen. Und wurde aus dem 1. Buch Mos. im 2/18. Non est bonum hominem10, &c. mit lauter hohen Stimen/als 2 Dis­ cant/ 1 Alt/ 2 Violen di Gamba, 1 Alt-Viol/samt einer Mantora,11 musiciret. Zum Dritten/wurde/nach des Menschen Fall/eine rauhe Music/ ohne Stim­ men/mit Pfeiffen und Geigen/fürgestellt: welche Jubal möchte erfunden habe: 1. B. Mos. 4/21. Zum Vierdte/ wurde angezeiget; Wie Gott selbst/bei der Reise der Kinder Israel aus Egipten/zwo silberne Trompeten zu machen/und zu gebrauchen/bevohlen.12 Da denn 10 „Es ist nicht gut, daß der Mensch [allein sei]“. 11 Mantora, Mandola oder Mandora: Verkleinerte Form der Laute mit zurückgebogenem Wirbel­ kasten. 12 Aus 4. Mose (Numeri) 10, 1 — 7 und der Interpretation durch Joh. Ernst Altenburg „Versuch einer Anleitung zur heroisch-musikalischen Trompeter- und Paukerkunst“ Halle 1795 (Reprint Kassel o. J.) geht hervor, daß beim Auszug der Kinder Israel aus Ägypten drei verschiedene Trompetensignale der beiden silbernen Priestertrompeten gebraucht wurden: 1. Zur Versammlung der Gemeinde: Zwei Trompeten blasen „schlicht“ [= „schlecht“]. 2. Zur Versammlung der Fürsten und Obersten: Eine Trompete bläst „schlicht“. 3. Beim Aufbruch der Lager: Zwei Trompeten „drommeten“. „Schlicht-blasen“ bedeutet nach Altenburg: „ein gleicher und ungebrochener Schall in einem gewissen Tone ziemlich ausgehalten“; „das Trommeten“: „ein gebrochener und modu­ lierter Klang, wenn mit verschiedenen Tönen abgewechselt und geschmettert wurde“. (Alten­ burg S. 14.) S. Th. Staden führt die Signale mit den Mitteln seiner Zeit aus: 1. Zwei Trompeten in hoher Lage („in Clarin“) zweistimmig oder alternierend in ausgehaltenen Tönen („wie ein doppelter Ruf“) 2. Dasselbe von einer Trompete 3. Zwei Trompeten blasen in Alt- („Principal“) bzw. Tenor- („Fulgan“) Lage. Allerdings halte ich es für zu weit hergeholt, wenn Druener (Hans Druener, S. Th. Staden, Ein Beitrag zur Erforschung von Leben und Werk, masch.-geschr. Diss. Bonn 1946, S. 64 f.) den Ausdruck „Ruff“ in Zusammenhang bringt mit dem Gemeinde-Responsum „Kyrie eleison“ bei der Litanei, das auch mit „Ruf“ bezeichnet wurde und die Wurzel für den ältesten deutschen Gemeindegesang im Mittelalter darstellt. Ein mittelalterlicher Kyrie-Ruf der Gemeinde hat doch wohl nichts zu tun mit einem alttestamentlichen Trompetensignal zum Zusammenrufen des Volkes Israel. Von dem „doppelten Ruf“, der von der mittelalterlichen Gemeinde auch zweizeilig mit „Christe eleison und die Heiligen alle helfen uns“ gesungen wurde (Jos. Müller-Blattau, Zu Form und Überlieferung der ältesten deutschen geistlichen Lieder, in: Zeitschrift für Musikwissenschaft, Jg. 17, Heft 4, 1935, S. 130 f.), auf eine Ausfüh-

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I. Wenn die Fürsten und Obersten/samt dem Volck/haben zusammen kommen sollen/ zwo Trompeten in Clarin/wie ein doppelter Ruff/geblasen wurde: II. Wenn die Fürsten und Obersten allein erscheinen sollen/ schlecht hin eine Trompete/auff Art des Ruffs/geblasen wurde: 4. B. Mos. 10/1/2/3. [III. Wann das gantze Israelitische Volck aufgebrochen/ blasen 2 Trompeten/ eine in Principal,12 die ander in Fulgan,12 Vid. Num. X, 1.2 &c.13] Zum Fünften/wurde fürgestellt die Music/so bei Verrichtung der Opfer und des Jüdischen Gottesdienstes/gebraucht worden; durch 6 Tenoristen/und 2 Bassisten: welche den 111. Psalm/Confitebor tibi, Domine!14 ä 4. voc. auf Falsa bordon-Art/15 mit vorhergehendem intoniren, sungen. Die Instrumenta wahren/ ein Psalter16/Theorba17/ein Instrument18/neben 2 Arbachordien19/mit Harpfen/ Posaunen und Cymbaln.20 Zum Sechste/wurde angedeutet; Wie David des Melancholischen Königs Sauls unruhigen Geist gestillet: 1. B. Sam. 16/14/23. und singe ein einiger Knab in eine Harpfen/den Text/aus dem 2. B. Mos. 15/2/3/7/11/16. Der Herr ist meine Stärcke/&c. Zum Siebenden/wurde erwiesen; Wie/bei den Ebreern [Hebräern]/nach den accenten21/wie nach unsern Noten/gesungen worden. Das Lied war der Ebreische 117. Psalm: HALLELU-JA, &c. Darauf wurde noch eine andere damals gewöhnliche Sing-Art/durch fünff so genannte Meistersinger/eingeführet: da einer vor/die andern zugleich/auf

13 14 15 16 17 18 19 20 21

rung als Trompeten-Duett zu schließen, wie sie Prätorius zur Begleitung evangelischen Gemeindechorals als Brauch seiner Zeit schildert, ist für mich nicht nachvollziehbar (Michael Prätorius, Syntagma musicum, Bd. III, S. 169 ff.). — Herrn Arnold Mehl, München, bin ich für die entscheidenden Hinweise zu diesem Fragenkomplex außerordentlich dankbar. Dieser Absatz ist nur in den Quellen der Anmerkung 5 und 6 enthalten. „Vid. Num. X, 1. 2 &c.“ = siehe 4. Mose 10,1.2 ff. „Ich danke dir, Herr [von ganzem Herzen]“. Ein Psalmodieren in bewußt schlichtem Satz, Note gegen Note mit klangfüllenden arpeggierenden Instrumenten. Psalter oder Psalterium: ein Instrument ähnlich dem Hackbrett, das aber mit den Fingern gezupft oder mit einem Plektrum gespielt wurde. Eine große Baß-Laute, die neben den Griffsaiten zusätzliche Baß-Saiten besitzt, die ebenfalls gezupft werden und auch als Resonanz-Saiten dienen. Sammelbezeichnung für Tasteninstrumente wie Spinett, Virginal usw., die zur Ausführung der Generalbaß-Stimme Verwendung fanden. Cembali. Kleine Metallbecken, die gegeneinander geschlagen werden. Die Akzente in hebräischen Texten des alten Testaments stammen erst von den Masoreten, Schriftgelehrte des 7. —10. Jahrh. nach Christus. Sie stellen eine Art Sinnbild oder Erinnerungs­ zeichen für eine Melodiephrase dar (Willi Kahl, Anm. 2).

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ihre Weise/und auch wie die Bergknappen/nachsungen: Dancket dem HErrn/&c. Psalm 136.22 Zum Achten/wurde das sonderbahre Zunehmen der Music angezeiget/ durch ein Lied aus dem Hohenlied Salomonis 2/11. Stehe auff meine Freundin/&c. ab 8. voc 2 Cant., 1 Alt, 2 Tenor, 1 Baß/ 2 Instrument/mit Harpfen und Posaune. Zum Neunten/wurde der Juden Traur Music/ aus Matth. 9/23. mit allerlei alten/ungewöhnlichen/düsterlichen Instrumenten/eingeführet. Zum Zehenden/kahm der Griechen/oder die Heidnische Music; dadurch der König Alexander M. zu Vollziehung seiner dapfern Kriegsthaten/angefrischet worden. Der Text war: KaxaßaAe auTOÖc; popij/aia: Das ist/Wirff sie nider mit dem Schwert: Worzu gebraucht wurden allerlei Martialische Instrumenta/ als Trompeten/Heerpaucken/Trommeln/Feldzwergpfeiffen/&c. Die Musicalische aber waren 3 Fagot/ein Quartfagot23 und 2 Pombarden24/neben 2 Tenoren/und einem Baß/so zulezt sungen: Victoria Vic­ toria! &c. Zum Eilften/folgte die repraesentatio der Music in dem neuen Testament; und fing/wie in dem Alten Testament/abermahl an mit Discantisten: die an 22 Innerhalb des siebten Programmpunktes vereinigt Dilherr den Gesang der Hebräer und der Meistersinger. Beiden ist gemeinsam, daß einstimmig und a cappella gesungen wurde. Außerdem reichten die Wurzeln ihrer beider Tradition weit in die Zeit des Alten Testamentes. Denn auch die Meistersinger führten ihre Singkunst bis in die Zeit des Königs David zurück. Die Herren Dilherr und Grundherr haben sich dieser Meinung angeschlossen, wie aus einem Meistersingerprotokoll des Jahres 1662 hervorgeht. Dies geschah wahrscheinlich unter Be­ rufung auf 1. Chronik 25, 7, wo die 288 Sänger des Tempels von Jerusalem als „allesamt Mei­ ster“ bezeichnet werden. Hier sah also Dilherr die gemeiname Wurzel des Gesanges der Heb­ räer und der Meistersinger, was ihn veranlaßte, beide in einem Programmpunkt zu vereinen. (Hans Druener, S. Th. Staden, Ein Beitrag zur Erforschung von Leben und Werk, maschinengeschr. Diss., UB Bonn, 1946, S. 74.) Daß der Gesang der Meistersinger nicht zur eigentlichen Kunstmusik gerechnet wurde, hin­ derte Dilherr nachweisbar nicht daran, sich sehr für die Meistersinger zu interessieren. Er hatte des öfteren mit ihnen Kontakt. Der Vergleich ihres Gesanges mit dem der Bergknappen wird verständlich, wenn man bedenkt, daß letztere natürlich erst recht nicht der Kunstmusik für fähig erachtet wurden. Nun läßt aber Dilherr die Meistersinger „auf ihre Weise und auch wie die Bergknappen“ den 136. Psalm in der Art responsorialen Singens ausführen: d. h. Ein Vorsänger singt die wech­ selnden Texte, die Gruppe antwortet stets mit dem gleichen Refrain (wie z. B. in der Litanei). Das entspricht genau dem Aufbau des 136. Psalms. Er ist nämlich ein Refrain-Psalm, der in jedem der 26 Verse in der 2. Vershälfte den Refrain „. . . denn seine Güte währet ewiglich“ bringt. Aber responsoriales Singen ist bei den Liedern der Nürnberger Meistersinger überhaupt nicht nachweisbar. Deshalb fehlt uns das Verständnis, weshalb Dilherr die Meistersinger seinen Hörern aus­ gerechnet mit der so speziellen Singart des 136. Psalms präsentiert, die von ihnen nachweisbar garnicht gepflegt wurde. 23 Eine Quarte tiefer als ein normales Fagott stehend. 24 Ein Schalmeien-Instrument in tiefer Lage mit einem Doppelrohrblatt-Mundstück.

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statt der H. Engel/bei der Geburth unsers Seeligmachers/sungen das GLORIA IN EXCELSIS, Autore Johanne Staden25 S. weiland Organisten alhier zu Nürnberg/Herrn Sigmund Theophili Staden S. Vatter. Zum Zwölften/wurde der alte Choral eingeführet/unter dem Lateinischen Text: LAUDATE PUERI, &c. Psalm 113/samt dem Responsorio: SANCTA TRINITAS, &c. wie solcher/noch heut zu Tage/in unsern Kirchen/üblich ist.26 Zum Dreizehenden/wurde angezeiget; Wie/nach dem es/eine lange Zeit/ allein bei dem Choral27 verblieben/ohngefähr vor 200 Jahren/die FiguralMusic28 wider herfür gebracht/ und hernach von Orlando di Lasso29, zimblich verbässert worden: auß welchem eine Moteten/ohne Orgel/mit blasenden Instrumenten/Tristis est anima mea, usq; ad mortem, &c. Matth. 26, 38 gesungen wurde.30 Zum Vierzehenden/wurde angezeiget; Wie/als der Choral27 anfänglich nur auf Lateinische Text gerichtet gewesen/man hernach denselbigen/ auch in Teutschen Liedern zubrauchen/angefangen: und wurde gesungen: Komm/hei­ liger Geist! Herre Gott!31 Zum Fünfzehenden/Kam es auf die Music iziger Zeit: Welche Johann Leo Haßler31a in Teutschland/nach den zween Welschen/Orlando32 und Johann

25 Möglicherweise war es das „Gloria in excelsis“ von Joh. Staden für 2 Soprane, Zink, 3 Posaunen und Generalbaß, das in DTB VIII/1, Seite 7 ff. abgedruckt ist. 26 Der 113. Psalm wurde also wohl auf einen der 9 Psalmtöne des gregorianischen Chorals gesungen. Mit dem Responsorium „Sancta trinitas“ könnte die Introitus-Antiphon zu Trinitatis gemeint sein, die nach der Intonation „Benedicta sit“ mit „Sancta Trinitas“ beginnt. Sigm. Theophil Staden bringt sie im Officium organicum von 1651 auf Seite 27V für den lutherischen Gottesdienst in St. Lorenz an Trinitatis. Durch Stadens Zusatz „wird gesungen biß zum Advent“ erweist sich die Antiphon als eine der am häufigsten gesungenen. 27 Gemeint ist: der einstimmige gregorianische Choral. 28 Mehrstimmige Chormusik, mit oder ohne Instrumenten. 29 Der große niederländische Meister (1532 — 1594) war ab 1564 Hofkapellmeister in München und hatte zu Nürnberg mancherlei Verbindungen. 30 Motette für fünfstimmigen Chor über den Text „Meine Seele ist betrübt bis in den Tod“. Ab­ gedruckt in Orlando di Lasso, Alte Gesamtausgabe Bd. V Nr. 219, S. 48 ff. 31 Das Lutherlied EKG 98 ist in seiner 1. Strophe eine Übertragung der gregorianischen Antiphon „Veni sancte spiritus“. Auch die Melodie soll auf einen mittelalterlichen Hymnus zurückgehen, so daß gerade bei diesem Lied der Zusammenhang mit gregorianischen Vorlagen für Text und Melodie besonders eng ist. 31a Hans Leo Hassler (1564—1612). Bedeutender Musiker und Komponist, baute auch mechani­ sche Orgelwerke und Musikautomaten, betrieb Geldgeschäfte zusammen mit seinen Brüdern Caspar und Jacob für den deutschen Hochadel und war finanziell am erzgebirgischen Kupferund Silberbergbau beteiligt. Von 1601 — 1605 war er in Nürnberg tätig als Leiter der Stadtmusik mit dem Titel „Archimusicus“. 32 Anm. 29.

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Gabriele33, ferner aber Gregorius Aichinger34/Christianus Erbach35 und Johann Staden/treulich haben fortgesezet: und wurde/aus Johann Gabriele, Jubilate ab 8. voc.36 und aus Haslero, Incipite37, auch ab 8. Voc. musiciret. Nach solchen ist sie noch höher gestiegen: Also/daß sie /von der alten Music weit unterschie­ den/und gleichsam auff eine Oratorische Weise/die affecten/so viel müglich/zu moviren/angegeben worden: Welches zuerst von den Welschen geschehen. Solche darzustellen/wurden folgende Stücke gesunge: Ecce quam bonum, &c. ab 8. voc. cum Ripiena, aus dem 138. Psalm38; und mein teutsches Lied/Gehab dich wol/du schnöde Welt; ä 5. voc. Autore Sigism. Theoph. Staden.39. Denen beeden Gesängen folgete eine Instrumental-Music, erstlich/mit Mantoren11/ Lauten/Violen; eine Französische Lauten-Musik: und dann lauter Violen di Gamba; darnach das neu-erfundene Nürnbergische Geigenwerck Herrn Johan Heiden S.40 Zum Sechszehende/ wurde dieser/zum Gebrauch deß Gottesdienstes/ und Erweckung des Lobs Gottes/angesehenen Music/entgegen gesezt die Weltliche irregular-Music: und wurden gehöret die Leiern/Sackpfeiffen/Citharen/Castaneten/41 Flaschaleten42/Triangel/Schalmeien/Hackbreten/Strofideln43/Krumhörner/MaultrummePVOctav-Geiger45/ Schellen/drei Schalmeien/und eine

33 Giovanni Gabrieli 1557-1613. Seit 1586 1. Organist am Markusdom in Venedig. Mit H. L. Häßler aus Nürnberg befreundet. 34 Gregor Aichinger 1564—1628 Domchorvikar und Kanonikus in Augsburg. Schüler von G. Ga­ brieli. 35 Christian Erbach 1570—1635. Ab 1602 Stadtorganist in Augsburg als Nachfolger von H. L. Häßler. 36 „Jubilate Deo omnis terra“. Achtstimm. Motette (SAAT/ATBB) von G. Gabrieli GA Bd. I, 105. Text: Psalm 100. Aus den Symphoniae Sacrae 1597. 1598 gab Caspar Hassler diese Motette in der Sammlung „Sacrae Symphoniae Diversorum Excellentissimorum Authorum“, Nürnberg bei Paul Kaufmann, heraus (Hans Druener, a. a. O. in Anm. 22 S. 92). 37 Es ist kein Werk dieses Titels von Hassler erhalten (Hans Druener, a. a. O. S. 94). 38 Hier irrt Dilherr: „Siehe, wie fein und lieblich ist’s“ ist der Beginn des 133. (!) Psalms. „Ab 8 voc. cum Ripiena“: Zu 8 Stimmen mit verstärkenden Tutti-Stimmen. Da kein Komponisten­ name angegeben ist, können wir annehmen, daß diese Komposition von S. Th. Staden stammte. Die Musik ist verloren. 39 Es findet sich bei Joh. Tiahn, Die Melodien der Evang. Kirchenlieder, Gütersloh 1889—1893, Bd. I, 257. Text: J. M. Dilherr, Melodie S. Th. Staden. 40 Leider besitzen wir von diesem Instrument nur eine Abbildung in: Michael Prätorius, Syntagma Musicum Bd. II, S. 67—72, Tafel III. 41 Kastagnetten. 42 Flageolet = kleine Schnabelflöte. 43 Volkstümlicher Name für Xylophon, wie auch Hültzern Gelächter, das in Quelle Anm. 5 hier statt Strofidel genannt wird. 44 Eine gezupfte Stahlzunge wird durch die Mundhöhle des Spielers im Klang verstärkt und moduliert. 45 Eine kleine Geige in höherer Stimmung.

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Sackpfeiffen46 zusammen: welche Instrumenta zum Gottesdienst nicht gebraucht worden. Zum Siebenzehenden/folgete die izunder übliche Traur-Music/mit einem besondern Text: Erbarm dich mein/O Herre Gott! angedeutet: ä 4. voc.47 Zum Achtzehenden/wurde angedeutet; Wie bei der letzten Zukunfft zu dem Jüngsten Gericht/der Herr Christus/durch die Posaunen/die Todten werde aufferwecken lassen: 1. Thess. 4/16. Der Text war: Steht auff ihr Todten/ec. ab 8. voc. mit 2 Bässen/und 2 Tenoren/vocaliter; und 2 quart- und 2 gemeinen Posaunen/instrumentaliter48. Zum Neunzehenden/folgte eine repraesentirung der Engelischen Music/mit dem Text: Heilig/heilig/Heilig/. . . aus der Offenb. Joh. 4/8.49 und mit dem Gesang der vier und zwanzig Eltesten/aus der Offenb. Joh. 4/11. Herr! du bist würdig/ec. Zum Zwanzigste/wurde den Ruchlosen/zum Abscheu und Schrecken/wie auch der recht gesezten Harmoni zum dissonantz, für gestehet das erbärmliche Cetergeschrei der Verdammten/in der ewigen Höllenpein/mit kläglichen Ach und Wehe. Zum Ein und zwanzigsten/wurde dieser Actus, mit dem Text des 150. Psalms/nach allen seinen ein verleibten/wie auch mehrern andern Instrumenten/so viel man derer/mit sonderem angewendetem Fleiß/zusammen bringen können/geendet/cum Ripiena ä 40. Voc.50 Worauf/nach einer kurzen Erinnerung von den sonderbahren Geheimnussen/so/in der Sympathia Musica, verborgen ligen/und nach gethaner Abdanckung/so wol mit Gesang/als allen bei der Hand gewesten Musicalischen Instrumenten/folgender Vers musiciret worden: Musica nostra vale: Coelestis Musica salve!“51 46 Dasselbe wie Dudelsack oder Musette. 47 Zahn (Anm. 39) Bd. III, 5851; Text: Hegenwalt, Melodie: Johann Walter 1524. In der Quelle Anm. 5 ist hier angegeben: „Erbarm dich mein Herr Jesu Christ“ mit Text von J. M. Dilherr. 48 In heutiger Lagenbezeichnung: 2 Baß- und 2 Tenorposaunen, was auch genau der Vokalbeset­ zung entspricht. Der Komponist war vermutlich wieder S. Th. Staden. 49 Vermutlich handelt es sich um die gleiche Komposition, die beim Kirchweihgottesdienst am 10. August 1649 in St. Lorenz erklang. Obwohl beide Quellen den Komponisten nicht nennen, dürfte es sich um ein Werk von S. Th. Staden gehandelt haben. Die Musik ist verschollen. 50 Es wird sich um die gleiche Komposition von S. Th. Staden gehandelt haben, die beim Friedens­ mahl am 25. 9. 1649 (S. 99 und Kapitel V, 4, Seite 218) erklang und deren Aufführung auch für den Laurentiustag 10. 8. 1651 belegt ist (S. 101 und 153). Nur bei der letztgenannten Auffüh­ rung ist die Besetzung mitgeteilt (S. 153). Dabei muß die Angabe „auf 28 Stimmen“ beim genauen Durchzählen auf „etwa 40 Musiker“ erhöht werden. Das entspricht dann ungefähr der Angabe Dilherrs „ä 40 Voc.“. Der Komponist ist nur bei der Aufführung zum Friedensmahl genannt. Die in Klammern befindlichen Seitenzahlen beziehen sich auf: Hermann Harrasso­ witz, Die Geschichte der Kirchenmusik an St. Lorenz in Nürnberg. 2. erw. Aufl., Neustadt/A. 1987. 51 „Unsere Musik soll blühen, die himmlische Musik sei gegrüßt“.

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Das historische Konzert vom 31. Mai 1643

„Dieses alles wurde also obgedachten Tag, in deß Burkhards, dieser Zeit dem Georg Ayermann52 gehörigen, neugebauten Garten53, bei dem Laufferthor 52 Georg Ayermann war eine der bedeutendsten Unternehmerprersönlichkeiten seiner Zeit. Zwischen 1570 und 1580 geboren, zog er vor 1600 von Bamberg nach Nürnberg. 1608 wurde er in den Größeren Rath gewählt, 1623 von Kaiser Ferdinand II. geadelt. Er gab u. a. an den Kurfürsten von Sachsen Georg I. hohe Kredite. 1631 verzog er nach Leipzig, was aber sein Ansehen in Nürnberg nicht schmälerte. Etwa 1632 begann sein wirtschaftlicher Niedergang, da seine Schuldner, allen voran der Kur­ fürst von Sachsen, zahlungsunfähig waren, besonders wohl infolge des anhaltenden Krieges. Ayermanns Ausstände betrugen ca. 300 000 Gulden. Trotzdem hören wir aus dem Bericht über das Historische Konzert von 1643, daß er beim Läufer Tor ein Haus mit Garten besaß, was damals als Statussymbol des Nürnberger Groß­ bürgertums galt (Anm. 53). Daß dieses Konzert gerade im Saal des Ayermannschen Anwesens stattfand, spricht nicht gegen das Ansehen und das Kunstverständnis seines Besitzers. Freilich könnten ihn auch andere Gründe bestimmt haben, seinen Saal für die Musik zur Verfügung zu stellen. Aus einem „Verlaß der Herren Älteren“ vom 26. Jan. 1643 (also gerade vier Monate vor dem Konzert) geht hervor, daß er sich in größten finanziellen Schwierigkeiten befand. Vielleicht wollte er sich beim Rat der Stadt dankbar erzeigen, für die gewährte Unterstützung seiner Familie. Er schreibt aus Dresden, wo er sich ganz offensichtlich aufhielt, um den Kurfürsten zur Begleichung seiner Schulden zu bewegen. „Georg Ayrmans schreiben aus Dresden, darinn er deß Kriegszustandt in Meißen avisiert, soll man auf sich ruhen laßen, demnach er aber dabey gäntz kläglich gebetten seinem Weib und Kindern etwas zu ihrem Underhalt abfolgen zu laßen mit dem erbieten solches von seinen Bambergischen Schulden wieder zu ersetzen als ist auff der Herren Losunger Her. [lichkeit] gesteh worden, weil Er hiesiger Statt zu unterschiedenen Mahlen gute dienst geleist, ob sie der Ayrmännin alsobalden etwan mit 25 fl. und nach Verfließung etwas Zeit wider mit etwas hülfflich an die Handt gehen wollten.“ (Staatsarchiv Nürnberg, Reichsstadt Nürnberg, Verlässe der Herren Älteren Rep. 62, Nr. 44, fol. 253v vom 26. Januar 1643.) Leider war der Ruin seiner Firma unaufhaltsam. Georg Ayermann starb als armer, verbit­ terter Mann am 9. März 1651 in seinem Nürnberger Haus in der Bindergasse 16. (Aus: Erich Eyermann, Die Handelsherren Ayermann, Großbürger der Freien- und Reichs­ stadt Nürnberg, Mitteilungen der Industrie- und Handelskammer, München 1983.) Das Anwesen Bindergasse 16 war ein stattliches Gebäude mit Innenhof, das sich von der Bin­ dergasse bis zur Platnersgasse erstreckte. (Freundliche Mitteilung von Herrn Karl Kohn.) Im Zweiten Weltkrieg wurde es zwar völlig zerstört, doch geben die zwei, heute getrennten Neu­ bauten Bindergasse 16 und Platnersgasse 3 noch einen Begriff von der enormen Größe des Ayermann’schen Hauses. 53 Die Geschichte des Ayermann’schen Anwesens am Äußeren Läufer Platz 17 läßt sich bis zum Jahr 1396 zurückverfolgen. Damals war Carl Holzschuher der „Aigenherr“. In der Folgezeit wechselten mehrfach die Besitzer: 1585 kauften Kaspar Burkhard und seine Ehewirtin Ursula, geb. Henzin, das Haus mit dem großen Garten. Sogar eine Wasserleitung war bereits vor­ handen. Der Nürnberger Stadtplan von Hans Bien aus dem Jahre 1625 zeigt einen großen, baumbestandenen Garten (Abb. 2), Kaspar Burkhard war 1643 als langjähriger Vorbesitzer offensichtlich noch wohlbekannt, da er in der Ortsangabe zum Historischen Konzert ausdrück­ lich genannt wird. 1622 ging das Anwesen in den Besitz von Hans Konrad Petz über, einem Genannten des Größeren Rats.

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innerhalb der Stadt, auff einem großen Saal angeordnet, für die Musicanten auf anordnung H. Lucae Friderich Behaims, Kirchenpflegers, Teppichen aufgehangt da Sie musicirt, vor dem Teppichen aber ein Cathedra aufgericht wie gedacht, worauf gedachter Herr Dilherr perorirt, auf der rechten deß Cathedrae saßen der gantze hiesige Rath, vornen die 7 alten Herren, in Seßeln, hinder ihnen die anderen Herren, alle fein in der Ordnung auf Stühlen und Bänken, auf der Lincken saßen die Herren Standts Personen von exulirenden Freyherrn54, wie auch andere hohe Adelspersonen, gegen dem Cathedra über auf niederen langen Bänken, mit Decken belegt, das Hochadeliche Frauen­ zimmer, und wurden für alle Thüren Provisoner55 [mit ihrer Gewehr]56 gestellt zu abwendung deß unbändigen Pöbels. Es ist eine ungläubige menge Volks, ja wohl etliche Taußend Menschen von Manns- und Weibspersonen, Frembden und Inwohnern auf dem Saal in der großen Stuben über in anderen Gemä­ chern, auf den Böden und Stiegen, im Hof, ja auch auf der gaßen vor dem Ein Jahr später kaufte es Georg Ayermann, „Bürger und Genannter des Größeren Rats“ für 6500 Reichstaler. Er gibt an: „Meine große und zunechst daran gelegene kleine Behaussungen [auf dem Boener-Stich rechts das große und links das kleine Haus] sampt dem daran stoßenden Garten und allen darinn vorhandenen Mobilien“ (Abb. 3). Da der Garten — gemäß oben zitiertem Text — „neugebaut“ war, scheint Ayermann größere Investitionen vorgenommen zu haben. Es ist denkbar, daß die Bäume und die drei Springbrunnen (gespeist von der erwähnten Wasserleitung), die auf dem Plan der Stadt Nürnberg von 1653 (im Staatsarchiv Nürnberg, möglicherweise erst nach 1677) zu den Umbauten Ayermanns gehört haben. Denn bei dem Verkauf des Grundstücks im Jahr 1651 werden eigens die Wurzscherben (Blumentöpfe), Blumen und Bäume genannt, „wie solche von . . . G. Ayermann seeligen 1645 an J. Schmied­ mayer gekommen sind“. Bereits im Jahr 1645, also zwei Jahre nach dem Historischen Konzert, verkaufte Ayermann seinen Besitz für 17 206 Gulden an den Junker Schmiedmayer von Schwarzenbruck. Dies geschah sicherlich auf Grund der finanziellen Notlage Ayermanns. 1643 besaß das Haus einen Innenhof, in dessen Rückgebäude sich im 1. Stock der erwähnte Saal befand (Abb. 4). Im Laufe der Jahrhunderte wurde das Anwesen auf Kosten des Gartens immer weiter vergrößert und hatte schließlich drei hintereinanderliegende Höfe. Das Vorderhaus wurde Anfang des 18. Jahr­ hunderts im sogenannten Regence-Stil völlig neu gebaut. Das gesamte Anwesen fiel den Bomben des Zweiten Weltkriegs zum Opfer. Seine Lage entsprach etwa den heutigen Häusern Äußerer Läufer Platz 19 und 23. (Zu den Kaufurkunden siehe: Georg Wolfg. Karl Lochner, Norica, Stadtarchiv Nürnberg. Bestand F 5, Nr. 3, Bd. V, S. 383 — 388. — August Friedrich Nagel, Gärten in der Altstadt, Bild­ stelle des Hochbauamts der Stadt Nürnberg, 1853/4 S. 105-121, Haus S 1333.) Für große Hilfe und alle entscheidenden Hinweise bedanke ich mich herzlich bei Herrn Karl Kohn, Nürnberg. 54 Österreichische Adelige, die wegen ihres lutherischen Glaubens ihre Heimat verlassen mußten und denen die Stadt Nürnberg Schutz und Zuflucht gewährte. 55 Provisoner: Pensionierter Civil- oder Militärbeamter . . . wie solche hie und da den Tor- oder Nachtwächter- u. dergl. Dienste versehen. (Andreas Schmeller, Bayerisches Wörterbuch, 1. Bb., München 1872, Spalte 474.) 56 Dieser Zusatz nur in Quelle Anm. 6. Gemeint ist wohl Wachpersonal mit entsprechender Aus­ rüstung.

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Abb. 1: Johann Michael Dilherr (1604-1669), ab 1646 Hauptprediger an St. Sebald, Initiator des Historischen Konzerts vom 31. Mai 1643. Umschrift des Bildes: J. M. Dilherr, geboren im fränkischen Themar [bei Hildburg­ hausen] im Jahr 1604 am 14. Oktober. Unterschrift [Übersetzung des Distichons durch Thomas Hofmann, Fürth]: „Der schon durch seine Schriften in allen Landen erglänzte: Warum strahlt sein Gesicht nun in noch hellerem Licht? Hohe Bildung und Großes, das er im Leben vollbracht hat, haben hier ihm verlieh’n einen noch schöneren Glanz.“ Dem hochberühmten Freund der Sprache [ge­ Matthias van Someren [oder Somer, Sommer: widmet von] F. Johann Matthäus [!] Mayfart, Holländischer Zeichner und Kupferstecher, Thieme-Becker, Allgemeines Lexikon der bil­ Theologicus Doctor et Professor Publicus Er­ furt 1640. denden Künstler Bd. 31, S. 263 f.]. [1590—1642, Rektor in Coburg, Professor Nach dem Leben gestochen im Jahr Christi u. Pfarrer in Erfurt, Verfasser von „Jerusalem, 1659. du hochgebaute Stadt“ EKG 320. Allgemeine deutsche Biographie. Leipzig 1885, Bd. 21 S. 646 f.].

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Abb. 2: Das Ayermann’sche Haus mit Garten am Äußeren Läufer Platz. Aus­ schnitt aus dem Nürnberger Stadtplan von Hans Bien 1625. Im 1. Stock des Rückgebäudes befand sich der Saal, in dem am 31. Mai 1643 das Historische Konzert stattfand.

Abb. 3: Das Ayermann’sche Anwesen um 1700 vom Äußeren Läufer Platz aus gesehen. Es bestand aus dem großen Haus mit den drei Erkern in der linken Häuserfront samt dem links danebenliegenden schmalen Gebäude. Auf dem Bien’schen Plan von 1625 (Abb. 2) war die Vorderfront noch schlichter gestaltet. Die Kettenstöcke vor dem Haus dienten dazu, fremdem Kriegsvolk das Reiten und Fahren möglichst zu verhindern. Sie wurden erst 1807 beseitigt. Kupferstich von Johann Alexander Boener (1647—1720) um 1700. (Aus: Wilhelm Schwemmer, Johann Alexander Boener, Die Reichsstadt Nürnberg und ihr Umland um 1700, Nürnberg 1981.)

Abb. 4: Der Innenhof des Ayermann’schen Hauses Äußerer Läufer Platz 17 vom 29. November 1917 mit Blick auf das Rückgebäude. Im 1. Stock befinden sich die großen Fenster des Saales. Links einer der beiden gotischen Treppentürme vom Ende des 16. Jahrhunderts. (Bildstelle des Hochbauamtes der Stadt Nürnberg.)

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Abb. 3: Sigmund Theophil Staden, von 1634—1655 Organist an St. Lorenz. Kupferstich von Jakob von Sandrart nach Michael Herr 1669.

ZWEI MONUMENTALE NÜRNBERGER FENSTERSCHÖPFUNGEN DES AMALISTEN UND GLASMALERS JACOB SPRÜNGLI AUS ZÜRICH Von Gottfried Frenzei Nach der letzten großen Restaurierungswelle der Dürerzeit, in der die Glasge­ mälde Nürnberger Kirchen nicht nur „gebessert“, sondern auch durch umfangreiche Neuschöpfungen bereichert wurden, setzt infolge der Reforma­ tion eine lange Ruhepause ein, in der die einheimische Glasmalereitradition fast ganz zum Erliegen kommt. Erst in den Jahren um 1600 mehren sich die Anzeichen einer Wiederbelebung dieses Kunstzweiges. Nicht nur die Schweizer Kabinettscheibe erfreut sich — dem Zeitgeschmack entsprechend — einer steigenden Beliebtheit und findet Eingang im Nürnberger Bereich, son­ dern auch zahlreiche Kirchenfenster werden erstmals wieder „verneut“1. Aller­ dings beschränkte man sich weitgehend darauf, die alten, durch die Zeit schad-

1 St. Lorenz, St. Sebald, Frauenkirche, Leonhardskirche, Augustinerkirche, Kreß’sche Doppel­ kapelle im Augustinerkloster u. a. m. Stiftungen von Patrizierfamilien oder Einzelpersonen wurden — teilweise sogar nach vertraglichen Verpflichtungen, die der Rat der Stadt Nürnberg auferlegte — von den Stiftern mäzenatisch betreut und im Bedarfsfälle „verneut“, a) wie dies am Kaiserfenster in St. Sebald, b) am Imhoff-Fenster in St. Sebald, c) am Haller-Fenster in St. Lo­ renz oder d) an den beiden Tucher-Fenstern im Chor der Lorenzkirche festzustellen ist. a) Frenzei G., Kaiserliche Fensterstiftungen des Vierzehnten Jahrhunderts in Nürnberg, in: MVGN 51/1962, S. 12. Am 8. 1. 1515 richtet der Rat der Stadt Nürnberg an den in Wien ansässigen Nürnberger Patrizier Cosmas Vorchtel ein Schreiben mit der Aufforderung, das Fenster seiner Ahnen (von 1379/80) im Chor von St. Sebald verneuen zu lassen, andernfalls sich der Rat genötigt sehe, das erteilte Fensterrecht aufzuheben und an ein anderes ehrbares Patriziergeschlecht weiterzugeben. Der Brief ist abgedruckt im Jahrbuch der Kunstsamm­ lungen des Allerheiligsten Kaiserhauses, 1889, Bd. X, Nr. 5804. b) Frenzei G., Kaiserliche Fensterstiftungen des Vierzehnten Jahrhunderts in Nürnberg, in: MVGN 51/1962, S. 12. „Dhwell aber dieselben venster (des Chores von St. Sebald) durch verjarung der zeit pusswirdig und geprechlich wurden, derhalben sie verneuung und besserung notdürftig sein, hat die Römisch kais. maj., unser allergnedigster herr, das venster, so seiner kais. maj. vorfarn hochloblicher gedechtnis etwo machen, itzo widerumb verneun lassen . . .“. — Kaiser Maxi­ milian schreibt bezüglich der hier angesprochenen Wenzelschen Fensterstiftung (in St. Se­ bald) an den Rat der Stadt: „Nachdem unser vorfarn am reich, Römischer kaiser und khonig, got zu lob ein venster in sant Sebolt khirchen zu Nuremberg vor verschiner zeit machen haben lassen, das aber durch alter etwas zerprochen und schadhaft worden sein soll, dieweil um genaigt sein, die gedechtnis unser und derselben vorfarn zu meren und aufzuhalten, haben wir uns furgenommen, bemelt venster wiederumb machen zu lassen . . . Geben in unser stat Rottenburg am Yn am fünften tag des monatz februarii anno ect. in 1514, unsers reichs des Römischen im achtundzwanzigsten und des Hungerischen im vierundzwanzig­ sten jaren.“ (Abgedruckt im Jahrbuch der Kunstsammlung des Allerh. Kaiserhauses 1889, Bd. X Nr. 60).

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haft gewordenen Gemälde zu entfernen und lediglich die Wappen erneuern zu lassen, um damit das Gedächtnis der Ahnen und das der Fensterstiftung als solcher zu wahren2. Nur in einigen wenigen Fällen ging man über die bloße Instandsetzung und Reduzierung des mittelalterlichen Bestandes hinaus und entschloß sich zu einer kompletten Fensterverneuung: dazu gehören die beiden Tucher-Fenster in St. Lorenz und das Imhoff-Fenster in St. Sebald. Kennzeichnend für die künstlerische Situation der Nürnberger Glasmalerei wurden meistens nur die Besserungsarbeiten von einheimischen Kräften vor­ genommen. Die wirklichen Fensterneuschöpfungen gehen in Entwurf und Ausführung auf Schweizer Künstler zurück. Wo einheimische Glasmaler an der Ausführung mitbeteiligt waren, wie im Tucher-Fenster nord von St. Lo­ renz3, ist ein deutlicher Qualitätsunterschied zu bemerken. Dieses Absinken der handwerklichen Fähigkeiten kommt auch in einem Ratsverlaß vom 10. Oktober 1605 zum Ausdruck: „Hansen Jacob Reutter, glaßmaler von Zürich, welcher sich wider die glaser beschwert, daß sie ihne allhie nitt wollen arbeiten lassen, da er doch ihnen handwercks halben keinen eintrag c) Frenzei G., Das Hallerfenster (Restaurierungsbericht) in: Mitteilungsblatt Verein zur Wie­ derherstellung der St. Lorenzkirche (VzW St.Lo). NF Nr. 14 (März 1972). - Fehring, G. P. und Ress, A., Die Stadt Nürnberg, Bayerische Kunstdenkmale, Bd. X, München 1961, S. 89, 92 u. 93. — Frenzei, G., Die Farbverglasung aus St. Lorenz/Nürnberg, Augsburg 1968, S. 52, 84 u. 101. Das aus der Erbauungszeit des Chores stammende Hallerfenster wurde wiederholt restau­ riert. Schon um die Mitte des 16. Jhs. erneuerte man (kopistisch) die drei großen mittleren Maßwerkteile mit den zwei adorierenden Engeln und der Monstranz, sowie sämtliche Wap­ penscheiben heraldisch getreu nach dem Vorbild. Im Jahre 1655 wurden laut Fensterinschrift die beiden mittleren Hallerwappen nochmals „verneut“. — Vgl.: Frenzei, G., Das Hallerfen­ ster (Restaurierbericht), a. a. 0. d) Die entsprechenden Urkunden zum Lorenzer Tucher-Fenster Süd sind in diesem Beitrag erstmals zitiert. 2 Als Beispiel für viele mag ein Zitat über das Hirsvogel-Fenster in St. Lorenz dienen: „auch ein fenster in St. Laurenzer kirch zieren laßen, mit vielen gemählen, da selbe hat nemlich Julius Geuder, deßen mutter die letzte Hirsvogelin geweßt ist, ausheben, und das unnütze gemähl, welches nur das licht aufgehalten, hinweg thun, die wappen aber wieder hinein sezen laßen . . .“ (StAN, Wappen- u. Geschlechtsregister 1642, folg. 140). 3 Pilz, K., Das graphische Werk des Jost Amman, Zürich—Nürnberg 1539 — 1591, München 1930. — Ferner „Tuchersche Monumenta“ Auszug aus den Stiftungsrechnungen, Hs. v. 1652 (StadtAN E 29/11 Bibliothek Nr. 68). Vgl. dazu auch den nicht zur Ausführung gelangten Vor­ entwurf für die Neuverglasung des nördlichen Tucher-Fensters von dem Zürcher Glasmaler Christoph Maurer (Murer) bei Stolz, G., Die Lorenzkirche - Eine Zukunft für ihre Vergangen­ heit. In: MVzE NF Nr. 17, St. Lorenz im europäischen Denkmalschutzjahr 1975. Abb. S. 5. — Siehe auch Anm. 6.

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Zwei monumentale Nürnberger Fensterschöpfungen

thue, soll man anweisen, umb das Bürgerrecht an­ zusuchen, weil dieser zeit wenig glasmaller alhie sein, und ime nichts destoweniger alhie zu arbeiten zulassen, weil die glaser keine glasmaler sein4.“ Das Tuch er-Fenster in St. Lorenz

Zu den von einem Schweizer Glasmaler entworfenen und ausgeführten Fen­ stern gehört das Tucher-Fenster süd im Hallenchor von St. Lorenz. Dieses Monumentalfenster ist in Scheibe 2a signiert und datiert mit: „Sprüngli fecit 1601 Zürich“ und bietet damit einen sicheren Anhaltspunkt für unsere Betrachtung. In den Rechnungen der Lorenz-Tucher-Stiftung aus den Jahren 1574 — 1602 fand sich darüber hinaus noch folgender interessanter Eintrag5: „Mer so ist in dissen jar, auf gut achtung und Bewilligung der eitern Tücher hie das Tucherfenster in sant Lorenzenkierchen, neben der sacristei gegen dem pfarrhoff über gar verneuert worden, und hat kost, wie underschitlich volgt; Erstlich zalt dem Jacob Springli amalist und glasmaler von Zürich von 22 stück oder thürlein durch aus geschmeltz. nemlich in der understen fünff Tucherschild und heim, wie solche zuvor in den alten gewest, und auf beden seiten darob possiert von collonen, mit laubwergk und anderm, und zu oberst auff beden seiten engel, und ein grossen Tucherschilt, in der miten. Mer herunder im mitel in neun thürlein, alzeit drei neben ein­ ander, in ieder ein grosse runde scheuben, der zeit lebendigen verhei­ raten Nürnberger Tücher, auch derer weiber schilt, neben ein ander in ieder runden scheuben. Solches alles hat er uns von Zürich bis her, auf sein kosten und gefahr geliffert und wir ime darüber zallen müssen, von den 22 stück für ieder 10 guldin und für 3 klaine in der hoch V2 guldin, nach für die 9 grosse runde scheuben der Tücher und irer weiber schilt, für alle zu samen 10 guldin, und denen, so solche von Zürich hergetragen zu trinckgelt, ein guldin, thut alles zusamen fl. 231 1b. 4 d. 6 Mer zalt den 25 aprillis einem Galler poten von einem brieff an Jacob Springli nach Zürich 3V2 patzen thut lb. 1 d. 29. 4 Hampe Th., Ratsverlässe, Bd. 2 Nr. 2031. 5 Auszug aus den Tucherschen Stiftungsrechnungen der Dr.-Lorenz-Tucher-Stiftung 1574-1602, StadtAN E 29/11 Nr. R 343, S. 269 f. Für die freundliche Einsichtnahme in die Handschrift sei an dieser Stelle Herrn Freiherr v. Tücher herzlich gedankt.

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Mer dem m(eister) Mertha Kestner glasser hie, für ein puch gros regal papier, 6 patzen für papen und plei weis drei kreuzer für sein mühe, das alte glaswrgk gemalte abzumessen 10 patzen thut alles fl. 1 lb. 1 . . . Mer zalt dem m(eister) Mertha Kestner, glasser hie, erstlich vor 20 stück fenster mit scheuben verglast, die hatten zusammen 2090 scheuben, vom hundert in plei ein zu fassen 6 lb. 20 d. thut nemlich fl. 16 lb. 4 d. 20 Mer auf solche und die geschmelzten fenster in alles ... fl. 3 lb. 7 d. 10 Mer von den alten fenstern 43 stück heraus zu thun und von den neuen 43 stück einzusezen zu xh kreuzer vom stück thut fl. 5 lb. 6 d. 5 Suma des glasser arbait thut fl. 26 lb. 1 d. 27 Suma in alles von wegen dieses fenster ausgeben worden f. 275 d. 6 Trotz dieser eindeutigen Indizien waren die Glasmalereien lange in der kunsthistorischen Forschung umstritten, da sich im gleichen Fenster noch fol­ gende Datierungen befinden: in Scheibe 2e „Jacob Sprüngli 1481 zu Zürich“ und in den Wappenscheiben 2b, c, d und 3b, c, d, die Jahreszahl 1639. Diese stark schwankenden Datierungsinschriften gaben zu den verschiedensten Ver­ mutungen Anlaß6. * * * * * 12 Bei richtiger Aufschlüsselung der einzelnen Fakten ergibt sich für das Fen­ ster folgender historischer Sachverhalt: Die Datierung in Scheibe 2e „1481“ nimmt zusammen mit der historisierenden Stifterscheibe la Bezug auf das 6 Verwirrung stifteten einmal die unterschiedlichen Fensterinschriften im Fenster „Sprüngli fecit 1601 Zürich“ und „Jacob Sprüngli 1481 zu Zürich“, zum anderen aber auch die Verwechslung mit dem nördlichen Tucherfenster im Chor von St. Lorenz. Auf Veranlassung von Meyer, Fi., Die Schweizerische Sitte der Fenster- und Wappenschenkung vom 15. bis 17. Jahrhundert, Frauenfeld 1884, S. 230 ff., schaffte A. Essenwein, Direktor des Germanischen National­ museums, Rat und besorgte einen Auszug aus dem Tucherschen Familienarchiv folgenden Inhalts: „1590. Mehr ist das Tuchersche fenster in der kirche zu St. Lorentz erneuert worden, das hat cost, wie unterschiedlich folgt: Erstlich den 19. Okt. 1590 dem Jobst Ammann mahler, zahlt für 14 stuck visierung zu reyssen und andres, so er dazu gemacht, thut alles fl. 10. — 1592 Hans Stein, glasmahler allhie auf dem Lorentzenplatz, erstlich unten in der mitten des fensters zwey gross Tucherwappen in zwey thürlein etc. 15. fl. Mehr zu oberst die Dreyfaltigkeit, für drei thürlein, darunter zu beiden seiten zwei engel, für zwey thürlein, und ein gehäng mit laubwerk inmitten und anderes darbey, alles zusammen für 3V3 thürlein und zu beiden seiten herab 12 thürlein, thut alles 22xh thürlein zu 6 fl. eins, fl. 134“. - Diese Nachricht bezieht sich, wie gesagt, auf das nördliche Tucher-Fenster, nicht aber auf das hier behandelte Tucher-Fenster Süd: Die Wappenscheiben Tücher in Zeile 2 und 3 stammen von 1639. Die drei Tücher-Allianz­ wappen mit wappenhaltendem Engel in einem Dreipaß der obersten Zeile gehören ebenfalls nicht zu dem ursprünglichen Bestand. Sie sind Nürnberger Herkunft und stammen aus der Heilig-Geist-Kirche zu Nürnberg. Sie wurden erst nach dem letzten Kriege 1951 hier eingesetzt.

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Vorgängerfenster: eine Stiftung des Propstes Lorenz Tücher von 1481 im Rahmen der kompletten Farbfensterverglasung des Hallenchores. Ferner weisen die „historisierend verneuten“ — oder wie es in den Stiftungsrech­ nungen heißt: . . in die vndersten fünff Tücher Schild und heim, wie solchs zuvor in den alten gewest“7 — Wappenscheiben der Brüder des Propstes in lb, c, d, e deuten darauf hin, daß es sich auch hier — ähnlich wie bei den meisten Nürnberger Fenstern — um eine Familienstiftung gehandelt hat8. Bei der Neuanfertigung des schadhaft gewordenen Fensters im Rahmen der Tucherschen Familienstiftung 1601 durch Jakob Sprüngli waren die alten Stif­ terscheiben la bis le noch vorhanden und haben als direktes Vorbild gedient9. Hier ist auch der Ansatzpunkt zu suchen, warum die ältere, heraldisch gut fun­ dierte Lokalforschung das Entstehungsdatum 1481 mit dem Sprüngli-Fenster in Verbindung brachte, zumal sich gerade für diese Zeit ein Glasmaler Sprünglin in Nürnberg nachweisen läßt10. 1639 wurden in die ursprünglich nur mit Butzenscheiben versehenen Felder 2b —d und 3b—d ergänzende Wappenscheiben einzelner Familienmitglieder der Tücher eingesetzt11. Bei der Instandsetzung der Glasgemälde von St. Lo­ renz nach dem letzten Krieg 1951/52 wurden zusätzlich in Zeile 7 TucherWappenscheiben in Dreipaßform eingesetzt, die aber nicht in diese Fenster gehören, sondern aus der Heilig-Geist-Kirche, Nürnberg, stammen12. 7 Vgl. Anm. 5. 8 In dem Vorgängerfenster war die Hostienmühle dargestellt. Bedeutende Reste davon heute in Chor s IV, vgl. Frenzei, G., Das Hostienmühlenfenster in St. Lorenz, MVzW St. Lo. Nürnberg, 1967. — Ders., Die Farbverglasung aus St. Lorenz/Nürnberg, Augsburg 1968, S. 68, Abb. 14, 15. 9 Vgl. den Auszug aus den Stiftungsrechnungen, wo der Glaser Kestner für die Abmessungen des alten Glaswerkes, ferner für das Auswechseln der alten Glasgemälde gegen die neuen entlohnt wird. 10 Vgl. Brun K., Schweizerisches Künstler-Lexikon Bd. 4 (1917), S. 410. 11 Sie wurden von dem Nürnberger Glasmaler Franz Stengel ausgeführt. (Vgl. Tuchersche Monumenta, Auszug aus den Stiftungsrechnungen. Hs. v, 1652, StadtAN E 29/11 Bibliothek Nr. 68, S. 157 f.) Die Wappen beziehen sich auf folgende Personen: Scheibe 2 b: Allianz Tucher-Tucher; Wappen des Carl Tücher, gest. 1646. Scheibe 2 c: Allianz Tucher-Vogt-Schwab; Wappen des Johann Christoph Tücher, gest. 1632. Scheibe 2 d: Allianz Tucher-Vogt; Wappen des Tobias Tücher, gest. 1644. 12 Vgl. Tuchersche Monumenta, Auszug aus den Stiftungsrechnungen. Hs. v, 1652, Stadt AN E 29/11 Bibliothek Nr. 68, S. 330: „1591 mehr ausgeben den 16. octob. 1591 zahlt dem Hannß Stain, glaßmahler nach inhalt seines zetels, für 3 große stück ganze thürlein Tucherschildt und heim für eines 6 fl. mehr 3 formbstück in die hoch, für eines 3 fl in die kirchen zum neuen spital fl. 27.“

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Das über sieben Zeilen sich erstreckende, fünfbahnige Fenster besteht aus einer klar gegliederten, monumentalen Rahmenarchitektur vor dunkelrotem Grund in Form eines langgestreckten Postamentes mit halbrunder Wand­ nische, vor dem sich je eine mächtige kannelierte, von Weinlaub und Reben umwundene weiße Säule mit prächtigem, aus grünen Arkanthusblättern und blauvioletten Voluten gebildetes korinthisches Kapitell erhebt und zu einem, mit weißen Kugeln besetzten, grünen Sockel und blauen Voluten überleitet, auf dem je ein großer, schwebender Engel mit einer gelben Posaune in den Pfänden steht. Im Maßwerk befinden sich ebenfalls fliegende Engel mit Blas­ instrumenten. Dazwischen liegen hellblaue Wolkenbänke, aus denen kleine Engelsköpfe mit silbergelben Plaaren hervorschauen. Die einzelnen architektonischen Glieder setzen sich in den Motiven aus dem Formengut des Übergangsstiles zusammen: naturalistisches, mit Schaum- und Emaillefarben hinterlegtes Frucht- und Laubwerk, mit schweren Braunlot­ überzügen versehene Masken und Putten, reichprofilierte Konsolen und Gesimse mit gedrückten Voluten und Roll- und Beschlagwerk. Die Komposi­ tion ist auf reine Untersicht angelegt und wirkt im perspektivischen Aufbau sowie in der Behandlung der figürlichen Teile barock. Dieses Gestaltungs­ prinzip wird besonders an den bekrönenden Engeln deutlich. Die mächtigen Gestalten mit den breiten Plüften und den kleinen, spitzovalen Köpfen ver­ jüngen sich jäh nach oben. Das herkömmliche Schema der Standfigur ist ver­ lassen. Die Figuren erheben sich nicht mehr auf einer sicheren Standfläche, sondern berühren nur noch wie im Fluge mit der Spitze eines Fußes die Kugel des Postamentes. Der Eindruck des Momentanen und Plastisch-bewegten wird durch die Gewänder unterstützt. Ein grüner weiter, flatternder Mantel bauscht sich um das nackte, mit einer hohen, silbergelb gemalten Sandale umschnürte „Standbein“. Das rote Gewand und das blauviolette Untergewand pressen sich wie im Winde fest an den Körper und lassen Oberschenkel, Leib und Brüste besonders hervortreten. Unruhige Lichtreflexe betonen die plastische Model­ lierung. Das Gesicht des Engels in Scheibe 7a wirkt durch die zu starke, etwas übertriebene Perspektive verzerrt. Der Engel in Scheibe 7e dagegen neigt den schmalen Kopf in fast rokokohafter Anmut und läßt die zierliche Gesichtsbil­ dung deutlich erkennen: eine breite, hohe Stirn, große niedergeschlagene Augen mit schmalen, hoch gewölbten Brauen, die zu einer langen, zarten Nase überleiten, ein großer, ausdrucksvoller Mund, betonte Backenknochen und ein spitz zulaufendes Kinn. Eingeschlossen in diese Kolossalordnung ist eine lichte, butzenverglaste Leerfläche, in die runde Wappenscheiben der „der zeit lebendigen verheiraten Nürnberger Tücher, auch derer weiber schilt, neben ein ander, in ieder runden scheuben“ eingestreut sind13. Ursprünglich setzten die Wappen erst in Zeile 13 Siehe dazu auch Anm. 6.

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4—6 ein, so daß über der ersten kompletten Wappenzeile eine glatte Butzen­ scheibenfläche von insgesamt sechs Feldern war, die erst 1639 durch Wappen­ stiftungen besetzt wurde. Losgelöst von dieser, sich vor einem imaginären Freiraum erhebenden Architektur und ohne Verbindung zur Gesamtkomposition, bildet die erste Zeile einen Sockel aus in sich abgeschlossenen Einzelscheiben, die zwar stili­ stisch zum Bildganzen gehören, aber durch die bewußte Anwendung einer historisierenden Manier völlig isoliert wirken und nur auf direkte Veranlas­ sung des Auftraggebers entstanden sind. In Scheibe la befindet sich die Gedächtnisscheibe des Stifters des ersten Fensters: Propst Lorenz Tücher14. Der mit einer Hermelinalmucia und einer dunkelvioletten Soutane bekleidete Geistliche kniet vor einer mit Silbergelb hinterlegten steinernen Mensa, auf der ein Kruzifix und ein Lesepult mit aufgeschlagenem Buch steht. Im Hintergrund wird neben einem zurückgeschlagenen roten Wandvorhang ein Stück von einer rotvioletten Renaissancearchitektur sichtbar. Anstelle der erläuternden Inschrift ist im Vordergrund ein großes Tucher-Schild ange­ bracht, das den Dargestellten als ein prominentes Mitglied der einflußreichen Patrizierfamilie ausweist. Die Scheibe wird von einem auf blauvioletten Konsolen ruhenden moos­ grünen Rundbogen abgeschlossen. Der Scheitel des Bogens wird durch eine Muschel betont; die Eckzwickel sind durch je einen gefiederten Puttenkopf ausgefüllt. Abgesehen von den zeitgebundenen Stilelementen in der Archi­ tektur und in der figürlichen Behandlung bewegt sich die Darstellung im Rahmen des für Nürnberg kennzeichnenden Historismus, indem das ikonographische Schema der Vorgängerscheibe zugrunde gelegt wurde, die wie­ derum in Komposition und ikonographischem Programm Parallelen zu den gleichzeitigen knienden Stifterbildnissen des Knorr- und Konhofer-Fensters (1476/1479) im Chor von St. Lorenz aufweist15. Unter Beibehaltung der gleichen Rahmenarchitektur folgen die Gedächtnis­ wappenscheiben der nächsten Angehörigen des Propstes: sein Vater Heinrich und seine Brüder Berthold, Hans und Sebald16. Diese vier Scheiben wirken besonders altertümlich. Die vor einem tiefroten damaszierten Grund ste­ henden, von kleinen Frauenschilden flankierten Schilde mit Stechhelm, Helm­ decke und Helmzier entsprechen dem Formengut des späten 15. Jahrhunderts. 14 Vgl. dazu Strieder, P., Eine Scheibe mit dem Bildnis Lorenz Tücher, Ztschr. f. Kunstgeschichte, Bd. 21, Heft 2, 1958, S. 175. 15 Abgebildet b. Strieder a. a. O. — Frenzei, G., Die Farbverglasung aus St. Lorenz/Nürnberg, Augsburg 1968, Abb. 10, S. 43. 16 Scheibe 1 b: Allianz Tucher-Hegner-Haller; Wappen des Heinrich Tücher, gest. 1464. Scheibe 1 c: Allianz Tucher-Mendel; Wappen des Berthold Tücher, gest. 1494. Scheibe 1 d: Allianz Tücher Ebner-Harßdörffer; Wappen des Hans Tücher, gest. 1491. Scheibe 1 e: Allianz Tucher-Hirßvogel; Wappen des Sebald Tücher, gest. 1462.

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In der Stiftungsscheibe des Hans Tücher in ld sind außerdem folgende Pil­ ger-Abzeichen sichtbar:163 das Jerusalem-Kreuz, ein rotes griechisches Kreuz, umgeben von vier kleineren auf weißem Grund, mit darunter befindlicher Pil­ germuschel als Zeichen der Ritter des Heiligen Grabes von Jerusalem. Man trug es zu Ehren der fünf Wunden Christi auf dem Mantel und auf dem Gewand. Daneben ist ein mit einem Schriftband umwundenes stehendes Schwert dargestellt zum Zeichen des Ordens der Equitum Ensiferorum Cypri. Auf dem Schriftband ist der Text: „pour loyaute maintenir“ oder „pro fide ser­ vanda“ angebracht. Auf der rechten Scheibenseite befindet sich ein in Dreivier­ tel-Ansicht gegebenes Rad mit Achse als Zeichen für den St.-Katharina-Orden und eine Glocke mit Krückstab als Zeichen für den St.-Antonius-Orden. Die Zeichen erinnern daran, daß Hans Tücher 1479 zusammen mit Sebald Rieter und einigen anderen Nürnberger Patriziern eine Reise ins gelobte Land17 unternommen hat; 1480 kehrt er wohlbehalten nach Nürnberg zurück und wird im gleichen Jahr zum Bürgermeister der Stadt ernannt. Die Ein­ drücke seiner Reise beschrieb er in einem vielgelesenen Reisetagebuch18. Wir wissen nun, daß das Rieter-Fenster im Chor von St. Lorenz n IV im Anschluß an die glücklich vollbrachte Pilgerfahrt entstanden ist. Dieses Fen­ ster ist zwar 1479 datiert, wohl aber sicher erst 1480/81 geschaffen worden. Mit seinen alttestamentarischen Darstellungen — Szenen aus der Moses- oder Exodus-Geschichte — nimmt es direkten Bezug auf diese Ereignisse. Wie das alte, 1481 entstandene Tucher-Fenster süd genau ausgesehen hat, wissen wir nicht (erhalten hat sich nur das Kernstück der Hostienmühle mit Trog und Evangelisten), obwohl es zum Zeitpunkt der 1601 vorgenommenen Verneuung zwar beschädigt, in seiner Scheibenzahl aber noch komplett vor­ handen war19.

16a Die Zeichen und ihre Bedeutung sind ausführlich beschrieben, in: Aign, Th., Die Ketzel, ein Nürnberger Handelsherrn- und Jerusalempilger-Geschlecht. Neustadt/Aisch 1961, S. 82-94. 17 Nach Will G. A., Münzbelustigungen Bd. 4. 18 1479 reisten mit Herzog Christoph von Bayern in das hlg. Land: Martin Löffelholz, Sebald Rieter, Sohn des Sebald Rieter und der von Lichtenstein, Endres Rieter, Valentin Scheurl und Hans Tücher. In einer Chronik heißt es ferner: „Item 1479 jar am 6. tag des monats meji zoh auß Hanns Tücher und Sebold Rieter, ped des clainern rats, gen Jherusalem zu dem heiligen grab, da warden sie ped zu ritter geschlagen von hertzog Walthasar von Meckelburg . . .“ (Chronik der fränkischen Städte, Bd. V, S. 472 f.). In der Reisebeschreibung des Hans Tücher im Heiligen Land 1479 (StadtAN E 29/11) heißt es 256 f: „. . . und sie ped zugen von Jherusalem ferrer gen sant Katherina zu dem perg Synay und von dannen an das rot mer gen Alakeyro, Babilony und gen Allexandria und von dannen gen Venedig und her gen Nürnberg und sie warn aussen auf solcher rais 49 wochen . . 19 Vgl. Anm. 5: „Mer von den alten fenstern 43 stück heraus zu thun und von den neuen 43 stück einzusetzen zu x/i Kreuzer von stück . . .“

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Im Fensteraufbau fügt sich Sprünglis Schöpfung in die seit der Renaissance herrschende Nürnberger Tradition der rahmenden Architektur mit untertei­ lenden Zwischengeschossen ein, die durch die für die gesamte Weiterentwick­ lung der Glasmalerei so bedeutungsvollen Fensterentwürfe des Hans v. Kulm­ bach für das Kaiser-, Markgrafen- und Welser-Fenster eingeleitet wurde20. Hans v. Kulmbach prägt den Typ des „schwebenden Fensters“, indem er bereits große, butzenverglaste Leerflächen in seine Kompositionen mit einbe­ zieht und seine Figuren vor einen imaginären, d. h. einen völlig klarsichtigen, unbemalten Hintergrund stellt. Seine Architektur ist aber noch als szenische Rahmung gebunden. Bei Sprüngli wird dieses Gestaltungsprinzip weiterentwickelt, indem die Rahmenarchitektur zum alleinigen Bildträger erhoben wird. Die Mittelbahnen des Fensters sind fast völlig klarsichtig und nur durch kleine Rundwappen­ scheiben farblich aufgelockert. In der Wahl der Ornamentik und der Behand­ lung der Figurenkomposition — fast barocke Engelsgestalten mit „schwe­ bendem“ Standmotiv, lebhaft bewegte Gewänder, aus unruhigen Licht- und Schattenreflexen plastisch modulierte Körperlichkeit, Feinheit im malerischen Detail — sowie in der perspektivischen Auffassung des Fensters mit starker Untersicht, der sich sowohl die Architektur, als auch die bekrönenden Figuren unterordnen, erweist sich Jacob Sprüngli als ein phantasievoller, zeitnaher Glasmaler von beachtlicher künstlerischer Qualität. Das Imhoff-Fenster in St. Sebald

Die dem Tucher-Fenster zugrunde gelegte Gesamtkomposition sowie einzelne stilistische Merkmale und Motive finden sich an einer zweiten Nürnberger Monumentalverglasung: am Imhoff-Fenster im Hallenchor von St. Sebald. Das ebenfalls 1601 in Scheibe 2a datierte Fenster weist die gleiche rahmende Kolossalarchitektur auf, die die in den Mittelbahnen befindlichen, größtenteils in Butzenscheiben eingebetteten Familienwappen umschließt. Auf Grund der bauseitig bedingten Fenstermaße — es handelt sich um sehr hohe, schmale gotische Fensterbahnen — war der entwerfende Glasmaler gezwungen, sich den überlängten Proportionen anzupassen und zwei architektonische Geschosse übereinander zu stellen: eine auf einem Sockelgeschoß sich erhe­ bende, weinlaubumwundene Rundsäule mit korinthischem Kapitell und dar­ über ein pfeilartiges Postament mit bekrönenden Statuen: eine heilige Barbara und Maria mit dem Kind. In dem heute nicht mehr erhaltenen Maßwerk befanden sich zwei fliegende Engel mit Blasinstrumenten in Wolken und dar20 Vgl. Winkler, F., Die Zeichnungen des Hans Suess von Kulmbach und Hans Leonhard Schäufeleins, Berlin 1942. — Ders. Hans von Kulmbach, Kulmbach 1959, S. 23—28, 75—80. Tafel 53-56.

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über das Imhoffsche Wappen21. Trotz dieser auffallenden Übereinstimmung und der in Scheibe 5b befindlichen Signierung: „1601 (J in S)“ wurden diese Glasmalereien von der Forschung kaum beachtet22. Anhand der in Scheibe 2a bis d befindlichen Wappen erweist sich das heute nicht mehr an seinem ursprünglichen Standort befindliche23, über zehn Geschosse sich erstreckende, vierzeilige Fenster ebenfalls als Verneuung eines älteren Imhoff-Fensters, das im Rahmen der 1379 beginnenden Farbverglasung des Ffallenchores von St. Sebald gestiftet wurde24. Die Wappen sind in der glei­ chen, schon beim Tucher-Fenster beobachteten Anordnung von Schild, Stech­ helm mit Fielmdecke und Helmzier gestaltet. Sie wirken zwar auf Grund des bis an das Ende des 15. Jahrhunderts in Nürnberg üblichen heraldischen Schemas altertümlich; sie sind aber keinesfalls historisierend im Sinne einer Kopie der ursprünglichen Stifterscheiben. Diese hat man sich — analog der übrigen Sebalder Chorfenster des 14. Jahrhunderts — als kniende Stifter zu denken. Der gesamte alte Farbfensterbestand des Chores wurde am Ende des 15. Jahrhunderts durch die Fürsvogel-Werkstatt einer gründlichen Restaurie­ rung unterzogen, wobei die Fenster bereits so stark beschädigt waren, daß die Scheibenzahl schon mindestens um die Hälfte reduziert war25. Um 1600, also nach weiteren hundert Jahren, werden sich die Schäden noch vergrößert haben, so daß man mit Sicherheit annehmen kann, daß zum Zeitpunkt der Ver­ neuung die alten Stifterscheiben nicht mehr vorhanden und als direktes Vor­ bild nicht mehr zu nutzen waren.

21 Vgl. Hoffmann, F., Die Sebalduskirche in Nürnberg, Wien 1912, S. 180. 22 Ursprünglich befand sich das Imhoff-Fenster im Chor n VIII und wurde im 19. Jahrhundert anläßlich der Aufstockung der Sakristei, die eine teilweise Vermauerung des Fensters mit sich brachte, mit dem in s VIII befindlichen und schon zur Hälfte reduzierten Grundherren-Fenster getauscht, wobei das zum Imhoff-Fenster gehörige Maßwerk nicht mit versetzt wurde. Eine kolorierte Gesamtabbildung des Fensters von „G.G. Bemmel pinxit a(nno) 1756 mens(is) november 27“, aber ohne das alte Maßwerk, das nur mit kleinen Wappenscheiben in Butzenver­ glasung abgebildet ist, befindet sich im Imhoff-Archiv, Familienbuch (Germanisches National­ museum). — Auch ein Aquarell von „G. C. v. Wilder 1831“ zeigt die gleiche Situation (Kupfer­ stichkabinett Germanisches Nationalmuseum, Kirchen und Kapellen, Klöster Nr. 1066). — Hoffmann, Fr., a. a. O. sah 1912 noch „zwei Engel mit Blasinstrumenten in Wolken, darüber das Imhoffsche Wappen, 17. Jhd.“ (im heutigen Grundherren-Fenster). — Im Imhoff-Archiv, Ausgabenbuch des Endres Imhoff 1552 —1637 Fase. 36/4 befindet sich lediglich folgender Hin­ weis: „addi 7 dezembris tag empfang ich aus der Höfischen Schreibstube fl. 716 h 5 ch 18; das vorig wie auch die gantze ausnutzung des jahrs 1601 ist auf das fenster bei St. Sebald gewant worden. Darüber Bruder Philip ein rechnung bei handen“. Diese Abrechnung war aber nicht mehr auffindbar. Auf einem gesondertem Blatt über Restaurierungsausgaben heißt es ergän­ zend: „weilen der älteren meinung nach die 6 grosse schild nicht sauber genug gemahlt, als sind solche zum dritten mahl und zugleich 2 taffein übermahlt worden, haben gekost 20 fl. 42“. 23 Frenzei, G., Nürnberger Glasmalerei der Parierzeit, München 1954, S. 11 ff. 24 Frenzei, G., a. a. O. S. 12. 25 Frenzei, G., a. a. O. S. 15 f.

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Was in dem alten Imhoff-Fenster dargestellt war, wissen wir nicht genau. Es ist jedoch möglich, daß die bekrönende Maria mit dem Kind in den Scheiben 9—11 d Bezug auf ein ehemaliges Marienfenster nimmt, von dem sich vielleicht Reste in dem als „Fensterdepot“ verwendeten Geuder-Fenster erhalten haben26. Als Sprüngli 1601 den Auftrag für die Verneuung des alten Fensters von der Familie Imhoff erhielt — genaue Rechnungsbelege haben sich leider nicht erhalten27 — löste er die ihm gestellte Aufgabe folgendermaßen: In den beiden äußeren Fensterbahnen ist ein symmetrischer Architekturaufbau angewandt, der von einem, über zwei Zeilen sich erstreckenden, profilierten Sockelgesims ausgeht. Auf den Hängekonsolen dieser Zone, die an den äußeren Scheiben durch Bärenköpfe betont, sonst mit Beschlagwerk verziert sind, stehen die Gedächtniswappenschilde der ersten Stifter28. Uber den äußeren schildtra­ genden, geflügelten Putten steht ein sich nach unten verjüngendes Postament, auf dem sich eine, von Weinlaub und Trauben (mit grüner Schaumfarbe und dunkelblauer Emaillefarbe hinterlegt) umwundene weiße Rundsäule vor hellem blauvioletten Grund erhebt. Die weiße, mit Braunlotüberzügen ver­ sehene Sockelarchitektur ist durch schwere Profile gegliedert und durch seit­ liche, gedrückte Voluten räumlich bereichert. Die architektonische Funktion wird aber durch die additive Anwendung von malerischen Schmuckmotiven — ein von Roll- und Blattwerk umkränzter, gefiederter Puttenkopf mit rotem Krebs — verunklärt. Am Säulenfuß sind zwei eng umschlungene, auf Rollwerk stehende Putten angeordnet, die nach einem, mit Schaum- und Emaillefarben hinterlegten Fruchtgehänge greifen. Die rundlichen Glieder und die barocken, pausbäkkigen Gesichter, die eine große Ähnlichkeit mit den bekrönenden Engeln des Tucher-Fensters haben, sind in einem weichen Licht plastisch modelliert und Eine Sichtung des diesbezüglichen Archivmaterials steht allerdings noch aus. Scheibe 2 a: Allianz Imhoff-Stromer; Wappen des Nicolaus Imhoff, gest. 1414. 2 b: Allianz Imhoff-Groß; Wappen des Hans Imhoff, gest. 1389. Vater von Nicolaus, Conrad und Balthasar. 2 c: Allianz Imhoff-Pfinzig-Schürstab, Wappen des Conrad Imhoff, gest. 1396. 2 d: Allianz Imhoff-Schröder; Wappen des Balthasar Imhoff. Scheibe 3 b: Allianz Imhoff-Tetzel; Wappen des Willibald Imhoff, gest. 1595. 3 c: Allianz Imhoff-Behaim; Wappen des Jakob Imhoff, gest. 1609. 4 b: Allianz Imhoff-Tucher; Wappen des Hans Jakob Imhoff, gest. 1615. 4 c: Allianz Imhoff-Rieter; Wappen des Phillipp Imhoff, gest. 1627. 5 b: Allianz Imhoff-Schnitter-Albetshell-Rieter; Wappen des Carl Imhoff, gest. 1619. 5 c: Allianz Imhoff-Paumgärtner-Schmidtmair; Wappen des Hans Imhoff, gest. 1629. 6 b: Allianz Imhoff-Muffel; Wappen des Jeremias Imhoff, gest. 1632. 6 c: Allianz Imhoff-Gienger; Wappen des Hans Imhoff, gest. 1615. 7 b: Allianz Imhoff-Imhof; Wappen des Wilhelm Imhoff, gest. 1630. 7 c: Allianz Imhoff-Relinger; Wappen des Endres Imhoff, gest. 1637.

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von stofflicher, malerischer Feinheit. Das ganz in hellblau gehaltene korinthi­ sche Kapitell ist aus einer sonderbaren Mischung von Beschlagwerk und stili­ sierten vegetabilen Elementen zusammengesetzt. Darüber liegt eine rotviolette Gebälkzone mit beschlagwerkartigen Ornamenten und schließt dieses erste architektonische Geschoß ab. Die pfeilerartige Gliederung des zweiten Geschosses, das vor rotviolettem Grunde steht, geht wieder von einem moos­ grünen, schwer profilierten Postament mit seitlich gedrückten Voluten aus, dem eine, mit rotem Roll- und weißem, silbergelb hinterlegten Beschlagwerk umgebene, behelmte Kriegermaske vorgeblendet ist. Die dem Pfeiler vorge­ legten weißen Architekturformen wirken unorganisch und zusammengesetzt. Besonders die sich überkreuzenden Leisten und die mit Hohlkehlen ver­ sehenen Baluster erscheinen wie eine auf den Stein übertragende Schreiner­ und Drechslerarbeit. Eine, im Sinne eines Atlanten aufgefaßte, zwischen zwei Voluten eingespannte Halbfigur mit rahmenden, naturalistischen Frucht- und Laubwerk im Hintergrund leitet zu dem abschließenden, mit zwei sich nach innen rollenden Voluten versehenen Sockelgeschoß über. Auf diesem, in seinen Formen etwas verworren wirkenden Architekturge­ schoß erhebt sich links eine fast männlich anmutende, kraftvolle Barbara-Ge­ stalt mit Kreuzstab und Kelch vor blankem Hintergrund, die mit beiden Füßen fest auf der Standfläche des Postamentes steht. Dünne, bewegte Gewänder — ein weißes Untergewand und rotes Ubergewand mit grünem Gürtel und blauem Kragen — umhüllen die mächtigen Glieder, bauschen sich um die, bis zu den Oberschenkeln entblößten Beine und schmiegen sich dann wieder eng um Leib und Brüste, so daß der Körper fast durchzuschimmern scheint. Die Gesichtszüge der Heiligen wirken durch die starke Untersicht etwas derb. Die Mimik mit dem aufwärts gerichteten Blick und dem geöffneten Mund ist barock-theatralisch aufgefaßt. Die rechte äußere Architekturzeile wird mit einer stehenden Maria mit dem Kind auf dem Arm abgeschlossen. Die Darstellung bildet in vielen Teilen den Gegensatz zu der amazonenhaften Barbara-Figur. Nicht nur der Körper ist organischer durchgebildet, sondern auch die Kopfform ist zierlicher. Die Gesichtszüge sind ebenmäßig und der Ausdruck ist von einer anmutigen Innigkeit. Das Haar ist aus der sehr breiten, hohen Stirn gestrichen und auf dem Kopf zu einem Schopf zusammen­ gebunden. Die niedergeschlagenen Augen und der lächelnde Blick sind dem auf dem Arm der Mutter ruhenden Kind zugewandt. Ein hüpfender, nackter kleiner Johannesknabe (?) umklammert das „Standbein“ der Maria. Obwohl auch die Marienfigur mit einem Fuß noch fest an die Standfläche gebunden ist, wirkt diese Gruppe durch die aufgelockerte Umrißlinie und die räumlichen Überschneidungen plastisch bewegter und freier als die als „Standfigur“ aufge­ faßte und in ihrer Umrißlinie noch ganz geschlossene Barbaragestalt. In den beiden Mittelbahnen des Fensters sind in den Zeilen 3 bis 7 runde, von Butzenscheiben umgebene Wappenschilde angebracht, die in ihrem 102

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Durchmesser die ganze Feldbreite füllen und dadurch — im Gegensatz zum Tucher-Fenster — sehr kompakt wirken28. Ein, auf blauen Konsolen ruhendes violettes Gebälk mit silbergelben Knospen sollte vermutlich die Einzelwappen kompositionell zusammenfassen. Die architektonische Funktion dieses Geschosses wird allerdings nicht deutlich, da es in keiner Beziehung zu der äußeren Rahmung steht. Ebenso isoliert wirken die in eine blaue Rundbogen­ architektur gestellten Wappenscheiben der achten und neunten Zeile29. Der aus zwei großen, violetten Voluten bestehende, gesprengte Abschlußgiebel mit bekrönenden roten Giebelvasen — die mit ihrem naturalistischen Blumen­ schmuck bis in die Maßwerkscheiben reichen — läßt den Eindruck aufkommen, daß die beiden mittleren Fensterbahnen eine selbständige Archi­ tektur verkörpern. Dieser Versuch ist allerdings nicht geglückt, und das Fen­ ster leidet dadurch an einer Überfülle von Motiven und additiv zusammenge­ setzten architektonischen Details. Abgesehen von dem etwas ungünstigen steilen Fensterformat spürt man doch deutlich die Anlehnung an die Gliede­ rung und Farbgebung des Kaiser- und des Markgrafen-Fensters im Chor von St. Sebald. Auch die unbedingt neuartigen Formen täuschen nicht darüber hinweg, daß der Gesamtaufbau des Fensters — im Gegensatz zum Tucher-Fenster — etwas gewaltsam wirkt und nicht restlos gelungen ist. Vergleich der beiden Fenster

Vergleicht man nun die beiden, im gleichen Jahr entstandenen Sprüngli-Fenster miteinander, so erhebt sich die Frage, wie diese Glasgemälde chronolo­ gisch zu ordnen sind. Geht man von dem Kompositionsschema aus, das beiden Fenstern zugrunde liegt, so ist festzustellen, daß das Tucher-Fenster in St. Lo­ renz eine Weiterentwicklung des im Imhoff-Fenster angewandten Architek­ turaufbaues bedeutet: und zwar im Sinne einer Vereinfachung und Reduzie­ rung der einzelnen architektonischen Motive zugunsten einer klaren Gesamt­ gliederung. Was im Imhoff-Fenster zunächst als eine Fläufung neuartiger Formen in additiver Zusammensetzung erscheint, ist im Tucher-Fenster zu organischer, funktioneller Einheit verbunden. Die fortschrittlichen Gestal­ tungsabsichten klingen bereits in St. Sebald in allen entscheidenden Teilen an: in der Behandlung der Architektur als rahmender selbständiger Bildträger, in der perspektivischen Sicht des Fensteraufbaues und in der räumlichen, pla­ stisch-bewegten Gestaltung der Figurenkomposition. Auch butzenverglaste 29 Scheibe 8 b: Allianz Imhoff-Harsdorf; Wappen des Willibald Imhoff, gest. 1580. 8 c: Allianz Imhoff-Geuder; Wappen des Hans Imhoff, gest. 1576. 9 b: Allianz Imhoff-Schmidtmair-Nömer-Manlich; Wappen des Andreas Imhoff, gest. 1597. 9 c: Allianz Imhoff-Schmidtmair; Wappen des Jakob Imhoff, gest. 1599.

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Blankglasteile sind bereits in die Gesamtdarstellung einbezogen. Im TucherFenster verbinden sich alle diese Merkmale zu künstlerischer Einheit: Eine klare Architekturgliederung umschließ die als lichten Freiraum belassenen Mittelbahnen des Fensters, in dem die kleinen Rundwappenscheiben locker eingestreut sind. Die bekrönenden Engel haben sich aus den Bindungen einer Standfigur gelöst und scheinen vollplastisch aus dem Raum hervorzutreten, um das ihnen zugedachte Postament nur noch wie im Fluge zu berühren. Die Figurenkom­ position, die im Imhoff-Fenster für die bauseitig bedingten hohen, schmalen Scheibenmaße noch zu monumental gestaltet und daher etwas beengt und gewaltsam wirkt, ist im Tucher-Fenster völlig harmonisch gelöst und läßt in ihrer Bewegungsfreiheit und in der Eroberung des Raumes die neuen Gestal­ tungsabsichten erst richtig deutlich werden. Ähnliches läßt sich auch über die von Sprüngli zur Anwendung gebrachten technischen Mittel sagen. Das Imhoff-Fenster lehnt sich noch stärker an die herkömmlichen Formen der Glasmalereitradition an, obgleich bereits die neu­ artigen Techniken der Emaille- und Schaumfarbenmalerei verwendet worden sind. Im Tucher-Fenster werden diese verschiedenen technischen Möglich­ keiten zu einer virtuosen und geglückten Vortragsweise verbunden, die in der gesamten deutschen Glasmalerei der Zeit beispiellos ist. In dem neuartigen Versuch, die Schweizer Kabinettscheibenmalerei-Technik auf das Gebiet der Monumentalglasmalerei wirkungsvoll zu übertragen, liegt zweifellos eines der großen Verdienste Jacob Sprünglis. Getragen von der Erkenntnis, daß die großen Weißflächen der Butzenschei­ benverglasung die stark farbig gehaltene Malerei völlig überstrahlen, sofern es nicht gelingt, diese ebenfalls aufzulichten, hat es Sprüngli verstanden, seine als Auralist erworbenen technischen Erfahrungen in den Dienst der Monumental­ glasmalerei zu stellen. Ähnlich wie Peter Hemmel v. Andlau, der vorwiegend mit Ausschliffen arbeitete, baut Sprüngli seine Fenster unter Zuhilfenahme von klar abgesetzten weißen und goldgelben Lichtpartien auf, die dem Bildgefüge einen „edelsteinhaften Glanz“ verleihen. Da die verwendeten Farbgläser nur zu einem ganz kleinen Teil aus massiven oder überfangenen Hüttengläsern bestehen, kann der Künstler die technisch notwendige Farbteilung auf ein Mindestmaß reduzieren und sich auf die Fest­ legung von reinen Hauptkonturen beschränken. Fünf verschiedene ViolettTöne, ein vom Dunkelrot bis zum reinen Weiß schwankendes Uberfangglas, ein zartes Hellblau und ein verhaltenes Grün bilden den Hauptfarbakkord der Fenster. Aktiver in der Farbigkeit und akzentuierter in Helligkeitswert und Farbnuancierung sind alle betont hervorgehobenen Teile der Bildkomposition gehalten, indem sie nicht mit Hilfe von Hüttengläsern, sondern durch rück­ seitige Hinterlegung mit Schaum- und Emaillefarben erzeugt sind (blau und grün). Unter der zusätzlichen und reichhaltigen Anwendung von Silbergelb, 104

Abb. 1:

St. Lorenz, Tucher-Fenster süd, 1601. Sprüngli, J., Zürich.

Abb. 2:

Tucherfenster süd, musizierender Engel 6e, 7e.

Abb. 3: Tucberfenster süd, Puttenköpfe aus dem Maßwerk.

Abb. 4:

Kopf oben links von Glasmaler Hannss Stain 1651 Nürnberg: Die übrigen Ausschnitte stammen aus dem Tucherfenster des Jakob Sprüngli, 1601 Zürich.

Abb. 5:

Tucher-Fenster, 2a, Masken der Säulenbasis.

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Abb. 6:

Imhoff-Fenster, 3a, 4a, Säulenbasis mit zwei Putti.

Abb. 7:

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St. Sebald, Imhoff-Fenster, 1601 Jakob Sprüngli, Zürich (Fotomon­ tage Frenzei).

Abb. 8:

Imhoff-Fenster 5a, 6a, weinlaubumrankte Säule mit korintischem Kapitell.

Abb. 9:

Wendel Dietterlin „Architectura von Austheilung, Symmetrie und Proportion der Säulen“, 2. Aufl. Nürnberg 1600. Vergleichsbeispiele zu den Fenstern.

Abb. 10:

Wendel Dietterlin „Architectura von Austheilung, Symmetrie und Proportion der Säulen“, 2. Aufl. Nürnberg 1600. Vergleichsbeispiele zu den Fenstern.

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Abb. 11:

Wendel Dietterlin „Architectura von Austheilung, Symmetrie und Proportion der Säulen“, 2. Aufl. Nürnberg 1600. Vergleichsbeispiele zu den Fenstern.

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Zwei monumentale Nürnberger Fensterschöpfungen

dem reine weiß ausgesparte Lichtkanten und -flächen gegenübergestellt sind, gelingt es dem Künstler, die Farbigkeit des Fensters in ein gleitendes, malerisch abgestuftes Farbenspiel zu tauchen, das mit den überlieferten Formen der Monumentalglasmalerei-Technik nur noch sehr wenig gemein hat. Rück­ seitige, partiell scharf begrenzte Abdecklagen in rostbraun, sepia und graugrün bis schwarz verleihen der Malerei Plastizität, Kraft und Tiefe. Die vorder­ seitige Feldbemalung besteht vorwiegend aus einer halbdeckenden Braunlot­ überzugslage, aus der plastisch modellierende Lichter weich herausgewischt. Die in den noch feuchten Überzug kräftig hineingezeichnete Braunlotkontu­ rierung ist von einem samtartigen Glanz, der den Figren eine Schwerelosigkeit verleiht, wie sie vor diesem Zeitpunkt wedex in der Monumental- noch in der Kabinettscheibenmalerei bekannt war. Im Farbcharakter passen sich die beiden Nürnberger Sprüngli-Fenster der vorgegebenen Raumsituation hervorragend an und lassen erkennen, daß sich Sprüngli mit den örtlichen Gegebenheiten gründlich vertraut gemacht hatte. Während der Chor von St. Sebald auf Grund der um 1500 vorgenommenen Restaurierungseingriffe und der sich anschließenden Neuverglasungen in wesentlichen Teilen von hellem Tageslicht durchflutet wird, dem die Fenster­ neuschöpfungen der Dürerzeit in ihrer kühlen, verhaltenen Farbnuancierung und den großen Blankglasteilen in jeder Hinsicht Rechnung tragen, lebt in dem Chor von St. Lorenz — trotz seiner späteren Entstehung — noch mittelalter­ licher Geist mit starker Farbigkeit. Analog dazu ist das Imhoff-Fenster in seiner Farbwirkung lichter und schwereloser gehalten als das Tucher-Fenster, indem helle blauviolette und rotviolette Gründe hinter die Architekturteile gelegt sind und die Standfigur — sicher in Anlehnung an das Markgrafen-Fenster (St. Sebald s II) — vor blankverglastem Hintergrund stehen. Das Tucher-Fenster in St. Lorenz ist dagegen auf dunkelrotem Hintergrund aufgebaut, der sich bis in die Maßwerkteile hinaufzieht und sogar die bekrö­ nenden Engelsgestalten umgibt. Der Künstler hat hier bewußt zu schweren Farbakkorden gegriffen, um sich mit seinem Fenster in der unmittelbaren Nachbarschaft des dunklen Hirsvogel-Fensters (Chor s V) und des in seiner sprühenden, satten Farbigkeit besonders hervorstechenden Volckamer-Fensters des Peter Flemmel v. Andlau (Chor s III) behaupten zu können. Die unterschiedliche Farbwirkung der beiden Fenster ist also nicht im Sinne einer zeitlichen Fixierung, sondern als Anpassung an den Gesamteindruck zu werten. Aus allen diesen Symptomen läßt sich erschließen, daß das Imhoff-Fenster wahrscheinlich früher entstanden ist. Diese Auffassung kann auch bei der Stil­ ableitung noch erhärtet werden. Ende April 1601 wurde dann wahrscheinlich das Tucher-Fenster in St. Lorenz in Auftrag gegeben, wie aus den Rechnungen zu ersehen ist, während am Imhoff-Fenster noch gearbeitet wurde. 105

Gottfried Frenzei

Woher hatte nun der Züricher Glasmaler und Auralist die guten Bezie­ hungen zu Nürnberger Patriziern? Wir wissen von ihm, daß er in den 90er Jahren wiederholt In Nürnberg war und anscheinend in einem besonders engen Kontakt zu dem Nürnberger Patrizier und Kunstliebhaber Paul v. Praun stand. Christoph Gottlieb Murr berichtet über das berühmte Paul v. Praunsche Kunstkabinett: „Er kaufte vieles von Jacob Sprinli in Zürich, Jobst Ammann, . . . vor­ nämlich aber von Wenzel, Albrecht und Christoph dem Jamnitzern . . .“ In dem Katalog zu der Sammlung zählt er sechs Glasmalereien des Jacob Sprüngli auf; u. a. als Nr. 113 Venus et Cupidon endormis. „Ce maitre offrit ces tableaux ä Nuremberg, en 1591, a Mr. Paul de Praun qui lui faisoit un present de quarante ducats.“ Über Paul v. Praun ist Sprüngli auch mit der Goldschmiedefamilie Jamnitzer bekannt geworden, von der sich ebenfalls zahlreiche Stücke in der v. Praunschen Sammlung befunden haben. Für die Jamnitzer hat Sprüngli nachweislich Hinterglasmalereien für kunstgewerbliche Gegenstände geliefert. Wie sich aus einer im Gange befindlichen Sonderuntersuchung von F. A. Dreier über die Eglomises ergibt, sind diese Arbeiten nach den verschiedensten künstlerischen Vorlagen gefertigt worden. Sprüngli pflegte darüber hinaus sicher auch die Bekanntschaft anderer Nürnberger Goldschmiede. Darüber lassen sich aber keine genaueren Aussagen treffen. Nur aus einem Ratsverlaß von 1609 können wir folgenden Vorgang entnehmen. „Jacob Springli von Zürch, soll man auf seine supplication, betreffent ein glaßtafel, so er, Springle, auff Hansen Petzolts [ein Nürnberger Gold­ schmied] begern gamalirt und dafür 200 fl. oder 100 ducaten erfor­ dert, . . .“ Leider hat sich das erwähnte Streitobjekt nicht erhalten; aus dem Preis kann jedoch geschlossen werden, daß es sich um eine recht umfangreiche Arbeit gehandelt haben muß. In einem 1599 in Zürich erschienenen Buch über das Geschlecht der Brunen in Zürich wird Sprüngli noch einmal in Zusammenhang mit v. Praun genannt: „. . . Es hat mich die verschiene feiertag mr. Jak. Sp. unser mitburger allhier zu Zürich, als er von Prag durch Nürnberg seinen geschäften und kunstarbeit halb reisende . . .“ Daraus geht hervor, daß sich Sprüngli auf seinen Reisen um auswärtige Auf­ träge bemühte. Von möglichen Arbeiten für Prag läßt sich zunächst nichts nachweisen; doch wissen wir aus den Handwerks- und Bürgerbüchern der Stadt Frankfurt a. M., daß Sprüngli im Jahre 1612 im Aufträge eines Frank106

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Zwei monumentale Nürnberger Fensterschöpfungen

furter Glasmalers namens Peter Behm mehrere Wappen für den Dom zu Mainz geliefert hat: u. a. das Dalbergsche und das Waldbotsche Wappen und sie mit dessen Namen versehen hat. Bei seinem Nürnberger Aufenthalt 1598 hat sich Sprüngli offenbar nicht nur eingehend mit den örtlichen Traditionen der Glasmalerei vertraut gemacht — wie sich am Imhoff- und Tucher-Fenster zeigt —, sondern er empfing auch wesentliche künstlerische Anregungen, die er bei seinen späteren Aufträgen verwertete. Es handelt sich dabei um das gerade zu diesem Zeitpunkt in Nürn­ berg in zweiter Auflage erschienene, ergänzte und verbesserte Kupferstich­ werk des Wendel Dietterlin: „Architectura von Austheilung, Symmetrie und Proportion der Säulen". Diese Sammlung neuartiger architektonischer Formen und Motive wurde für Sprüngli eine Quelle allerersten Ranges. Bei seinen beiden Monumentalver­ glasungen für St. Sebald und St. Lorenz hat Sprüngli den Vorlagenschatz in rei­ chem Maße ausgeschöpft und zur Anwendung gebracht. Dabei ist festzu­ stellen, daß sich die Übernahmen aus dem Kupferstichwerk bis in letzte Ein­ zelheiten an den Fenstern nachweisen lassen. Eine besondere Fläufung iden­ tischer Motive findet sich am Imhoff-Fenster in St. Sebald. Hier sind nicht nur die großen architektonischen Akzente - weinlaubumwundene Rundsäule und pfeilerartiges Postament — übernommen, sondern die Anlehnung an Dietterlin läßt sich bis in die kleinsten Details verfolgen. Manche Architekturteile und Schmuckmotive sind sogar wörtlich kopiert: z. B. das Kapitell und der mit einem Puttenkopf geschmückte Architektursockel im Imhoff-Fenster und der zwischen Rollwerk eingespannte, stehende Putto am Säulenfuß des TucherFensters. Auch die bewegten, barock aufgefaßten Figuren scheinen in ihrer Grundkonzeption auf Dietterlin zurückzugehen. Die Nürnberger Glasmalerei war seit eh und je auf Monumentalität hin aus­ gerichtet als sichtbares Zeichen eines äußeren Machtanspruches, in dem nicht nur Kaiser, Könige und Klerus miteinander wetteiferten, sondern auch das eigene heimische auf Repräsentation bedachte Patriziat. Und so ist es nicht verwunderlich, daß die Tücher den ersten Entwurf zum nördlichen Stiftungs­ fenster im Chor von St. Lorenz des Christof Maurer (Murer), der letztlich eine ins monumentale gesteigerte Vergrößerung einer „Schweizerkabinettscheibe" darstellt, vom Auftraggeber abgelehnt wurde (vgl. Anm. 6) und man stattdessen dem Musterbuch des Wendel Dietterlin beim südlichen Tucher-Fenster den Vorzug gab. Nach anfänglichen Schwierigkeiten im Imhoff-Fenster, St. Sebald, formte Jakob Sprüngli mit dem Tucher-Fenster in St. Lorenz ein Monument, das in der Glasmalerei seiner Zeit nicht seinesgleichen hat.

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BÜRGERAUSSCHUSS UND FEUERGEHORSAM im Nürnberg des 17. und 18. Jahrhunderts Von Franz Willax

Die Einteilung der Bürger nach Stadtviertel- und Gassenhauptmannschaften Um Kriegs- und Feuersnöte, die in den Jahrhunderten der reichsstädtischen Herrschaft zum Alltag gehörten und die Bürger nicht selten auf recht schmerz­ hafte Weise unmittelbar beeinträchtigten, effektiver abzuwehren, schufen Rat und Bürgerschaft Nürnbergs im 13. und 14. Jahrhundert straffere Organisa­ tionsformen, ein Vorgang, der sich über einen längeren Zeitraum hinzog und in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts mit der Ordnung der Obersten Hauptleute von 1370 und der Ordnung der Viertelmeister und der Gassen­ hauptleute von 1388 abgeschlossen war1. Grundlage dieser Neuorganisation war die Unterteilung in Stadtviertel (und Gassenhauptmannschaften), die schon in den ersten Jahrzehnten des 14. Jahr-

1 Die Ordnung der Obersten Hauptleute vom 28. September 1370, in: Quellen zur Geschichte und Kultur der Stadt Nürnberg, 3. Band, Satzungsbücher und Satzungen der Reichsstadt Nürn­ berg aus dem 14. Jahrhundert, 1. Lieferung, bearbeitet von Werner Schultheiß, Nürnberg 1965, S. 27-28 und 325 — 326 (Satzungsbuch (Sb) V/D von 1380 (1382)—1424/Anfang des 15.Jhs) (zit.: Quellen, Band-Nr. und Nummer der Lieferung). Ordnung für die Viertelmeister und Gassenhauptleute der Stadt, in: Die Chroniken der deut­ schen Städte vom 14. bis ins 16. Jahrhundert, 1. Band, Die Chroniken der fränkischen Städte, Nürnberg, 1. Band, S. 173-174 (zit.: Chron.). Paul Sander, Die reichsstädtische Haushaltung Nürnbergs. Dargestellt auf Grund ihres Zustandes von 1431 bis 1440, zwei Bände, Leipzig 1902, S. 165-172, (zit.: Sander). Kurt Schall, Die Genannten in Nürnberg, Nürnberger Werkstücke zur Stadt- und Landesge­ schichte, Band 6 (1971), S. 61—65, (zit.: Schall). Nach Sander, Seite 172 und Schall, Seite 61, ist die Ordnung der Viertelmeister und Gassen­ hauptleute (Chron., S. 173—174) mit 1388 zu datieren. StAN, Rst.Nbg., E-Laden, Akten, Nr. 376 (zit.: E-Laden, Akten 376): Einverstant und Ornong, so die obersten drei Hauptleut, so es die Not wird erfordern, sich mit einander ver­ glichen haben, fürzunehmen (zit.: Einverstant und Ornong) von 1536. Siehe im gleichen Bestand Fassungen von 1544 und 1566 und Verneuerte Ordnung und Instruction der dreyen Obersten Hauptleute . . . wie sie sich in Feindesnöten, in Aufruhr und Empörungsfällen und bei Feuers­ brunst verhalten sollen, von 1622 (zit.: Verneuerte Ordnung und Instruction der Obersten Hauptleute, 1622). Bei den Archivalien ohne Herkunftsangabe und mit den Signaturen Will, Amb., Nor. H und Nor. handelt es sich um Bestände der Stadtbibliothek Nürnberg. Die Archivalien des Staatsarchivs Nürnberg sind mit StAN, die des Stadtarchivs Nürnberg mit StadtA gekennzeichnet.

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Franz Willax

hunderts in den Satzungsbüchern der Stadt2 erwähnt ist. Die Anzahl der Viertel betrug zuerst sechs (vier in der Sebalder und zwei in der Lorenzer Stadtseite) und wuchs bis kurz vor 1450 auf acht (je vier in beiden Stadtseiten)3. Die Bürger eines Stadtviertels unterstanden zur Bekämpfung von Feuer und Feind je zwei Viertelmeistern4, die ihrerseits den drei ranghöchsten Ratsherren, den Obristhauptleuten5 der Stadt, verpflichtet waren. Die Ablegung des Viertelmeister-Eides ist in den Ämterbüchlein mit „hören (ihre Pflicht) im Rat und geloben den drei Obristhauptleuten“ festgehalten. Dagegen heißt es bei den anderen Amtsinhabern (je nach Bedeutung des Amtes) „hören und geloben im Rat“, „hören in der Canzley und geloben im Rat“ bzw. „. . . gemeine . . . Amtsleut schwören vor dem Amtbuch“. Das bedeutet, daß nur die Viertelmeister den Eid auf die Obristhauptleute ablegten, alle anderen Amtsinhaber hingegen auf den Rat. Den Viertelmeistern nachgeordnet waren die Gassenhauptleute. Deren Auf­ gabe war es, bei den Einwohnern ihres lokalen Bereiches für die Absichten und Befehle des Rates und der Viertelmeister Verständnis zu wecken, sie zu moti­ vieren und im Einsatzfalle die Befehle der Viertelmeister auszuführen bzw. deren Befolgung zu überwachen. Sie hatten die ihnen Unterstellten unter genauer Aufsicht zu halten und zu veranlassen, daß sie in die Viertelbücher eingeschrieben wurden6. Nach „Instruction der Gassenhauptmannschaften“ (Mitte 17. Jhdt.), Punkt 4, sollte halbjährig jeder Gassenhauptmann seinem Viertelmeister eine Beschrei­ bung aller Mannspersonen incl. der fremden Handwerksgesellen, die nicht beim Ausschuß, Feuergehorsam u. a. gemeinen Verrichtungen sind, aushän-

2 Quellen, Band 3, 1. Lieferung, S. 140 (Satzungsbuch (Sb) III/C von 1315/30 (1320/3) - ca. 1360), S. 212 (Sb IV/E von ca. 1330/4-1390), S. 257, 306 (Sb V/D von 1380 (1382)— 1424/Anf. des 15.Jhs). 3 Franz Willax, Das Verteidigungswesen Nürnbergs im 17. und 18. Jahrhundert, MVGN, Bd. 66 (1979), S. 192—247 (zit. Willax, Verteidigungswesen). Caspar Ott, Bevölkerungsstatistik in der Stadt und Landschaft Nürnberg in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts, Historisch-statistische Untersuchungen, Berlin 1907, S. 35 (zit. Ott). 4 StAN, Rst.Nbg., Ämterbüchlein, (zit. Ämterbüchlein), ab Band-Nr. 1 (1396—1400) und StadtA, Ratskanzlei, Rep. Bll, Band 125 (zit.: RK 125), S. 533-549. Zur Ablegung des Viertelmeister-Eides siehe Ämterbüchlein, z. B. Bände 119-143, jeweils Seite 5. 5 Wie 1) und Die Ordnung der obersten Hauptleute vom Jahre 1370 und die Viertelmeisterord­ nung der Lorenzer Stadthälfte um 1470, Beilage I zu: Ernst Mummenhof, Die Kettenstöcke und andere Sicherheitsmaßnahmen im alten Nürnberg, MVGN 13 (1899), S. 1 -53, siehe Seite 42-43 (zit.: Mummenhof, Kettenstöcke). 6 Will 1—497 (Hs), S. 389, „Instruction der Gassenhauptmannschaften“, Punkt 4; Ott, S. 3 und 24-30.

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digen. Es sollten entsprechend einem Ratsverlaß von 1491 alle Männer zwi­ schen 18 und 60, ebenso alle Witwen, Söhne und Knechte, auch auf dem Lande, beschrieben werden. - Vom Rat erlassene Gesetze wurden von den Gassenhauptleuten den ihrem Verantwortungsbereich unterstehenden Bür­ gern „publiciert“, indem sie diese „circulieren“ ließen. Jeder Hausvater mußte die Zirkulare unterschreiben, die dann wieder zur Kanzlei zurückgingen. Die Anzahl der Gassenhauptmannschaften stieg von wenig über hundert (1430: 109) auf ca. 130 im 18. Jahrhundert. 1622 unterstanden die 63 Haupt­ mannschaften der Sebalder Seite dem ersten und zweiten Obristhauptmann, die 68 der Lorenzer Seite dem Drittobristhauptmann7. Da nach dem ersten Viertel des 17. Jahrhunderts es kaum mehr zu einer Verdich­ tung bzw. Vergrößerung des Siedlungsraumes innerhalb der Stadtmauer kam, dürfte die Zahl der Hauptmannschaften aus Gründen der Stadttopographie nicht wesentlich über 130 angestiegen sein. Da der Rat jedoch bewußt ein System betrieb, möglichst jedem Bürger ein seinem sozialen Status und seinen individu­ ellen Fähigkeiten angemessenes Amt — besser Amtlein — anzuvertrauen und damit dessen Ehrgeiz und Prestigestreben zu befriedigen, könnte die Zahl der Hauptmannschaften trotzdem über die genannten 130 angestiegen sein. Brandbekämpfung durch Feuergehorsam Auf der Grundlage dieser Vierteleinteilung war das Verteidigungswesen und die Brandbekämpfung organisiert. Spätestens in der ersten Hälfte des 15. Jahr­ hunderts schieden jedoch jene Bürger, die „dem Feuergehorsam unter-

7 Georg Wolfgang Karl Lochner, Die Einwohnerzahl der ehemaligen Reichsstadt Nürnberg, Nbg 1857 (zit. Lochner) gibt auf Seite 7 für das 18. Jahrhundert die Zahl der Gassen innerhalb der Stadtmauer mit 190, vielleicht 200, an. Die Zahl der Gassenhauptmannschaften dürfte aber nicht gleich der Zahl der Gassen gewesen sein, da sich diese durch Teilung und Zusammenlegung öfters geändert haben könnte. Nach StAN, Rst.Nbg., E-Laden, Akten, Nr. 376, Verzeichnis der Viertelmeister 1622, betrug in diesem Jahr die Zahl der Gassenhauptleute 131. Davon waren ca. 10% Patrizier. In einem Bericht der Kriegsverordneten an die Obristhauptleute vom 14. 1. 1621 (E-Laden, Akten 376) wird für 1430 die Zahl der Hauptmannschaften mit 109 und für den Berichtszeitpunkt mit 131 angegeben. Joseph Baader, Nürnbergs Stadtviertel im Mittelalter hinsichtlich ihrer Festungswerke und deren Verteidigung und Bewaffnung, 32. Jahresbericht Hist.V.Mfr (1864), Beilage V, S. 52—84 (zit. Baader), siehe S. 52, Anm. und S. 54—56, gibt für 1408 die Zahl der Hauptmannschaften in den sechs Vierteln mit 74 an und für 1449 in sechs von inzwischen acht Vierteln mit 94, so daß sich die Gesamtzahl für die Mitte des 15. Jahrhunderts auf 110 bis 125 hochrechnen läßt.

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standen"8 oder, wie eine andere Bezeichnung lautete, „bei dem Feuer arbeiten"9 aus der Verfügungsgewalt der Viertelmeister aus. Es waren jene Bürger, die auf der Grundlage der Feuerordnung beim Ausbruch eines Brandes auf das Geläut der Feuerglocke hin, zu Hilfe am Brandplatz ver­ pflichtet waren. Aus der ersten überlieferten Feuerordnung, die aus der Mitte des 15. Jahr­ hunderts stammt, aber einen wesentlich älteren Sachstand wiedergeben dürfte10, geht hervor, daß ursprünglich die Viertelmeister und die Gassen­ hauptleute für die Organisation der Brandbekämpfung zuständig waren. „Feuermeister" und „Hauptleute, die über das Feuer gesetzt sind" leiteten die Löscharbeiten vor Ort. Erst später gingen die eigentlichen, die Brandbekämp­ fung im Sinne der heutigen Feuerwehr vorbereitenden Aufgaben an die vom Rat bestellten „Feuerherren" über, während dem Baumeister auch weiterhin die Bereitstellung und Wartung der zur Brandbekämpfung notwendigen Geräte und Fahrzeuge oblag. Der Übergang der Verantwortlichkeit für die

8 Leonhard Christoph Lahner, Realindex derer des Heil. Römischen Reichs freien Stadt Nürnberg bürgerlichen und Policeigeseze, (Nürnberg) 1795, S. 101 — 111 (zit. Lahner). Aus dem vom glei­ chen Verfasser herausgegebenen „Grundris eines Nürnbergischen Policeyrechts“, Nürnberg 1771, kann man ersehen, daß selbst dieser „kaiserl. geschwohrene öffentliche Notar und am . . . Bürgermeisteramt verpflichtete Sollicitator“, der als interessiert und wohlinformiert gelten konnte, u. a. die auf die Brandbekämpfung bezüglichen Verordnungen der Stadt nur bis in das 2. Viertel des 16. Jahrhunderts zurückverfolgen konnte, da ihm der Einblick in die Registraturen des Rates verwehrt blieb (siehe Tab. VIII, Anm. + ++). 9 Nor. H 500 - 4°, S. 214. 10 Fewerpüchel (von 1449), in: Endres Tuchers Baumeisterbuch der Stadt Nürnberg (1464—1475), hgg. v. Matthias Lexer, Stuttgart 1862, S. 327—333 (zit. Fewerbüchel). — Das Original des Fewerpüchels befindet sich im StadtA, Rep. B 1/1, Sig. Rst. Bauamt, Amtsbücher 22. Das eigentliche Baumeisterbuch wird in der Folge zitiert: E. Tuchers Baumeisterbuch. Im Fewerpüchel werden nebeneinander die Begriffe „Hauptleute, die über das Fewer gesetzt sind“ (S. 327—333) und „Fewrmeister“ (S. 333) benutzt. In E. Tuchers Baumeisterbuch, S. 140, Kapitel „Von denen fewermeisteren“, und S. 147—149, Kapitel „Von der ordenung des feurs“, wird nur letzterer Begriff verwendet. Zur Organisation der Brandbekämpfung im 15. und 16. Jahrhundert: — Ernst Mummenhof, Lutz Steinlingers Baumeisterbuch vom Jahre 1452, MVGN, Band 2 (1880), S. 15 —77, siehe vor allem S. 25, — Wolfgang von Stromer, Ein Lehrwerk der Urbanistik aus der Spätrenaissance. Die Baumeisterbücher des Wolf Jacob Stromer, 1561-1614, Ratsbaumeister zu Nbg., Nbg. 1984, siehe S. 88, Anm. 28: Der große Feueralarm-Plan von 1595, u. a. mit Angabe der ca. 200 Straßenbrunnen (Abb. 7) und S. 111 (Feueralarm-Plan in: Baumei­ sterbuch Ha, Buch der Wasserfestungen 1604). Modernere Darstellungen des Nürnberger Feuerlöschwesens sind: Franz Wolfermann, Die Entwicklung des Feuerlöschwesens der Stadt Nürnberg von frühester Zeit an bis auf heute, Nürnberg 1878. — Ders., Die Feuerlöschanstalten der Stadt Nürnberg von den frühesten Zeiten an bis heute, Nürnberg 1909.

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Brandbekämpfung und damit die Befehlsgewalt über die zum Feuergehorsam Verpflichteten an die Feuerherren dürfte sich in den Jahrzehnten um die Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert vollzogen haben, ist doch in der (ersten gedruckten) Feuerordnung von 1544 nur noch von den Feuerherren (und dem Baumeister) die Rede. Aus dem Passus, die Scharwächter sollten, wenn sie eines Feuers gewahr würden, nicht nur die Obersten Hauptleute, den „Reutherhauptmann“, den „amtierenden“ Bürgermeister11 und den Baumeister, sondern auch die Feuerherren verständigen, kann geschlossen werden, daß die Brandbekämpfung in ihrem ganzen Umfang damals erst seit relativ kurzer Zeit von ihnen alleinverantwortlich geleitet wurde12. Möglicherweise geschah dies im gleichen Zeitraum, in dem die Aufgaben des „vorbeugenden Brand­ schutzes“ einer eigenen Ratsdeputation unterstellt wurden. In den reichsstädti­ schen Ämterbüchern sind ab 1513 die Namen der zweiköpfigen „Deputation zu denen Feuerstätten und Schloten“ genannt. Außerdem gehörten der „Feuerschau“ ein Schreiber, ein Zimmermann und ein Steinmetz, die beide Sachverständige des Baugerichtes waren, und ein Schlotfeger an13. Die Namen der acht bis neun, manchmal zwölf Feuerherren oder Feuermei­ ster lassen sich von 1480 bis 1624 in den „Ämterbüchlein“ verfolgen. Gegen Ende der reichsstädtischen Zeit betrug die Zahl der Feuerherren acht14. Nach der „Feuerordnung“ von 1727 eilten vier der zum Feuer verordneten Herren bei Feueralarm sofort zur Brandstätte und leiteten die Brandbekämpfung,

11 Die je 13 Consules (= des Rats) und Scabini (= Schöpfen) stellten für jede Amtsperiode von vier Wochen je einen „amtierenden“ oder „regierenden“ Alten und Jungen Bürgermeister. Während der Alte Bürgermeister die Leitung der Ratssitzungen in diesem „Frage“ genannten Zeitraum inne hatte, war der amtierende Junge Bürgermeister mit dem Bürgermeisteramt, der Marktge­ richtsbarkeit, der Aufsicht über die in die Türme gelegten Gefangenen, Überwachung des nächtlichen Öffnens der Tore u. a. ähnlichen „Policey“aufgaben betraut. 12 Die erste besonders gedruckte Nürnbergische Feuerordnung, in: Georg Ernst Waldau, Ver­ mischte Beyträge zur Geschichte der Stadt Nürnberg, 2. Band, Nürnberg 1787, S. 85-110 (zit. 1. gedruckte FO). 13 RK 125, S. 198; Ämterbüchlein 32 (1512): keine Angaben; Bd. 33 (1513), S. 15: Franz Schür­ stab, Sebald Pfinzing. Peter Fleischmann, Das Bauhandwerk in Nürnberg vom 14. bis zum 18. Jahrhundert, Nürnberger Werkstücke zur Stadt- und Landesgeschichte, Bd. 38 (1985), S. 109-110 und Will 1 -497 (Hs), S. 326-327. 14 Ämterbüchlein 1 (1396-1400) bis 6 (1476): keine Angaben. Ämterbüchlein 7 (1480), S. 8’: 6 Feuermeister. Bd. 143 (1624), S. 30’: hier sind (zum letzten Mal, da Bd. 144 keine entspre­ chenden Eintragungen mehr enthält) die Namen von fünf Feuerherren genannt, doch wurden diese ohne Begründung quer durchgestrichen, während sonst, wie zeitüblich, Streichungen (etwa bei Todesfällen) durch Unterstreichen vorgenommen wurden. Während in der Rk 125 die Feuerherren nicht erwähnt sind, werden in RK 124 (Reichsstadt nürnbergisches Ämterbuch), S. 321 — 339, die Namen der Verordneten Feuer-Herren von 1489 bis 1668 genannt. Ebenso die Namen der „Schlotherren“ (S. 345—347) von 1513 bis 1654, wei­ tergeführt von 1671 bis 1764. — Nach der „Feuerordnung“ von 1727 (StAN, Rst.Nbg., Amts-

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während vier andere die Kompanien (auf den Alarmplätzen sammelten) und zur Brandstätte führten. In dem ältesten erhaltenen Ämterbüchlein von 1396—1400 sind nur die Namen der „Zimmerleut zu dem Feuer" genannt15. Von einer direkten Unter­ stellung der Feuerherren unter die Obristhauptleute ist in den ersten Feuerord­ nungen nicht die Rede, doch war diese sicherlich durch das Fierkommen gegeben, denn die „Zimmermeister, die zu dem fewer genommen werden", sollten „nach eines burgermeisters, vierteilmeisters und nach der obersten haubleut rat und haissen" helfen16. — Die zur Brandbekämpfung Verpflich­ teten, die Rottgesellen, bildeten acht bis zehn Mann stark unter einem Rott­ meister eine Einheit, die Rotte17. Sie wurden alljährlich an den Sonntagen nach Ostern an Hand eines vom Rugschreiber geführten Registers18 auf das Rathaus gefordert, wo ihnen ihre Pflicht vorgelesen wurde, deren Einhaltung sie geloben mußten19. Die Kompanie des Feuergehorsams bestand am Ende des 18. Jahrhunderts aus Hauptmann, Leutnant, den Rottmeistern und ihren Untergebenen. Was die Zahl der Rotten pro Kompanie anbelangte (und deren Stärke), gab es häufig Abweichungen. Aus dem Feuergehorsam-Register (siehe Anm. 18) ist nicht klar ersichtlich, ob und wie die Bauhandwerker, Bader und Schlotfeger den vier Kompanien zugeordnet waren. Außerdem bestanden vier Kompanien Metallarbeiter. Die Rotschmiede stellten zwei Hauptleute, Schlosser und Nagelschmiede je einen. Von den Leutnanten kam je einer aus den Reihen der Rotschmiede, der Zirkelschmiede, der Windenmacher oder Schlosser und der Nagelschmiede, deren Leutnant-Charge allerdings von den Feilenhauern bestritten wurde. Die Anzahl der Rottmeister war je Kompanie unterschiedlich, da bei schwachbesetzten Handwerken die Zahl der Gesellen pro Rotte niedrig gewesen sein dürfte. So war Kompanie A in 10, B in 13, C in 12 und D in 8 Rotten gegliedert. Jeder Kompanie war ein Patrizier zugeordnet, dem ein Musterschreiber beigegeben war20.

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und Standbücher (AStB), Nr. 333a, Bl. 8’) war die Zahl der zum Feuer verordneten Herren acht. Ämterbüchlein 1 (1396-1400); Bl. 11’, 42’, 63’, 88’ und 108. E. Tuchers Baumeisterbuch, S. 274. Will 1 - 497 (Hs), S. 329. Nor. H 31 — 8°, S. 19—20’. Zwei dieser Feuergehorsam-Register haben sich in den Beständen der Stadtbibliothek erhalten: Nor. H 31 — 8° und Amb. 11 — 8° (Hs). Wie aus den den Namen beigegebenen Jahresangaben zu entnehmen ist, stammen beide aus dem dritten Viertel des 18. Jahrhunderts. Ebenda S. 19-20’; Amb. 11-8° (Hs), S. 1-2. Eines hochlöblichen Raths der freyen Reichsstadt Nürnberg erneuerte Feuer-Ordnung, Nürn­ berg 1804 (zit.: FO von 1804), S. 9—11, § 6 und 8; Amb. 11 — 8°, S. 31 und 113; AStB 333a, Bl. 8’.

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Bürgerausschuß und Feuergehorsam

Die Alarmplätze waren 1804, je nach Lage des Brandortes auf der21 Sebalder Seite Lorenzer Seite Kompanie A eilt direkt zum Brandort und wird nach 2h von B (dann C usw.) abgelöst. Kompanie B Heumarkt Lorenzerkirche bei der Tuchmacherkapelle Kompanie C Weinmarkt Säumarkt Kompanie D Schwabenberg St. Jakobskirchhof. Die Steinmetzen, Zimmerleute, Tüncher und Dachdecker bildeten eigene Kompanien. Nach der Feuerordnung von 1804 waren sie hingegen in die vier Kompanien integriert; ebenso die Röhren- und Brunnenmeister und ihre Gesellen, Bader und Schlotfeger u. a. Andere Rotten hatten Spezialaufgaben auszuführen, z. B. die Hornpresser und Nachtwächter, die schwergepanzert mit Pickelhaube, Vorder- und Hinterstück am Brandort die von den beim Löscheinsatz auf Leitern Stehenden geleerten und aus der Höhe herabgeworfenen Ledereimer zu sammeln hatten. In der Feuer­ ordnung von 1544 waren hierzu acht Taglöhner des Bauamtes bestellt22. Rottmeister und Rottgesellen wurden, wie schon aus der ersten erhaltenen, aber auch aus allen folgenden Feuerordnungen hervorgeht, für jeden Einsatz bezahlt, und zwar unter Einbezug einer Leistungsprämie für das erste Eintreffen mit Löschwasser und den schnellsten Einsatz am Brandort. Der finanzielle Auf­ wand hierfür war z. T. sehr hoch, so daß das Schauamt, das die Mittel aufzu­ bringen hatte, dem Bauamt, das die Vergütungen und Prämien ausbezahlte, über das ordinarium hinaus noch beträchtliche Beträge überweisen mußte23. Rottmeister und Rottgesellen waren von der Wahrnehmung der Wehrpflicht oder der ersatzweisen Zahlung eines Wachgeldes dispensiert, konnten aber auch keine Hauptmannsstellen bei den Bürgerfähnlein übernehmen24. Ein Wechsel vom Feuergehorsam zum Bürgeraufgebot mußte von den Feuer­ herren genehmigt werden25. Wurde ein dem Feuergehorsam Unterstehender unter die Konstabler der Bürgerartillerie aufgenommen, so wurde er im Feuergehorsams-Buch nicht gestrichen, sondern sein Name wurde mit einem „a“ (= absent) gekennzeichnet, und zwar unter Umständen über viele Jahre hinweg. So sind die Namen zweier Konstabler neun bzw. 13 mal mit „a“ ver­ sehen. Der gleiche Vorgang läßt sich auch bei der Ernennung zum Gassen21 FO von 1804, S. 12-13. 22 Amb. 11 — 8°, S. 5—30, 91—98 (Tüncher); Nor. H 31, S. 1—3’; FO von 1804, 9—13, siehe vor allem § 8, siehe jedoch § 10, wo nur Metallhandwerker genannt werden. — Zu Rotten mit Spe­ zialaufgaben siehe dsgl., S. 17, § 22; 1. gedruckte FO, S. 87—88; Amb. 11 — 8° (Fis), S. 167. 23 Fewerpüchel, S. 328/9; 1. gedruckte FO, S. 106—110; StAN, Rst.Nbg., Verlässe der Herrn Älteren, (zit.: VdHÄ), Bd. 49, Bl. 151’ vom 29. 11. 1653. 24 Nor. H 500 - 4°, S. 211’; Nor. H 835 - 8°, S. 544’. 25 Amb. 11-8° (Hs), S. 79, 99, 101, 115, 119, 123 und 127.

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hauptmann, Zöllner, Mittelwächter, „Dominic. Vorsinger“ und bei der Verän­ derung in einen dem Feuergehorsam nicht unterstehenden Beruf (Feilenhauer in Bierbrauer) feststellen. Abwehr äußerer Feinde: Bürgerausschuß und Geworbene

Im 16. Jahrhundert hatten sich mit Zustimmung oder besser mit Duldung des Rates auch zur Abwehr des äußeren Feindes Rotten gebildet. Diese wurden vom Rat ernannten Hauptleuten unterstellt und mußten einen Artikelbrief beschwören, doch gab es „mit solchen Rotten allerlei Anstoß und (da) die­ selben nicht in Ordnung zu bringen gewest, . . . (hat) man sich ihrer wenig zu behelfen gehabt“. „. . . weil sich (jedoch) die Handwerker zusammenge­ schlagen und ein halbes Zunftwesen daraus werden wollte, hat man solches abgeschafft und die Bürgerfähnlein . . . aufgerichtet“26. Im Zweiten Markgrafenkrieg waren 1552 zwar aus 2350 Freiwilligen vier Fähnlein gebildet worden, doch hatte man auch auf die Rotten zurückgreifen müssen, die sich aus beutelustigen Bürgern und jungen Gesellen bildeten. 1593 gab es noch 52 Rotten mit je einem Rottmeister und 15 Mann. An der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert verschwindet dann in den Stadtrechnungen der Begriff Rotten bzw. Rottmeister27. Die Bezeichnung Rotte und Rottmeister lebte nur noch im Feuergehorsam weiter. Nachdem auch später aus Freiwilligen einige Fähnlein Bewaffneter aufgestellt worden waren, wurden 1632 unter dem Eindruck der unmittelbaren Kriegsge­ fährdung (30jähriger Krieg) alle Dienstfähigen, die unter vierzig Jahre alt waren28, aus den von den Vierteln aufgebrachten Bewaffneten ausgesondert und aus ihnen 24 Fähnlein Bürgerausschuß29 und eine Kompanie zu Pferd gebildet. Die Kompanie zu Pferd, die sog. Bürgerreuther, rekrutierten sich nicht aus dem Patriziat oder den „ehrbaren“ Familien, was nahegelegen hätte, da diese als Besitzer von Landgütern Pferde hielten, sondern aus Bürgern der Mittel­ schichten, die berufsbedingt Gäule besaßen30, z. B. Fuhrunternehmer, Wirte, Händler, Metzger, Pfragner u. a. Sie sollten im Kriegsfälle zur Rekognoszie26 E-Laden, Akten 376, KV an OH vom 14. 1. 1621, S. 7—8. 27 wie 26, S. 21 und 25; StAN, Rst.Nbg., Stadtrechnungen, (zit.: Stadtrechnungen), Band 30-34 (1570-1610); Lochner, S. 28. 28 StadtA, Y-Akten, Nr. 280, Bürger-Roll. . ., derer Bürgerregiments, Anno 1632, den 5ten July, Seite (21), zit.: Bürger-Roll: Daraus ist ersichtlich, daß 1632 über 40jährige nicht mehr in die Bürgerfähnlein aufgenommen wurden. 1704 wurden aus den 15- bis 20jährigen zwölf Compa­ nien Junger Mannschaft gebildet. — In die Bürger- und Viertelbücher sollten alle Bürger und Bürgersöhne über 14 Jahre eingetragen werden (E-Laden, Akten 376, Vortrag vom 21. 2. 1656 und VdHÄ vom 22. 2. 1656). 29 Stephan Donaubauer, Gustav Adolf und Wallenstein vor Nürnberg im Sommer des Jahres 1632, MVGN, Band 13 (1899), S. 53-78, siehe S. 56—57; Willax, Verteidigungswesen, S. 211—213. 30 Haller v. Hallerstein-Archiv, Großgründlach, Personalia, 4.38, 007, 1-10.

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Bürgerausschuß und Feuergehorsam

rung dienen und stellten bei Fürstenbesuchen die Ehrenwache. Bei Feuers­ brünsten war ihre Aufgabe der Streifendienst zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung. Für den Bürgerausschuß wurde in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts der Sammelbegriff „Brigada“, „Regiment“ oder „Corpo“ verwendet, für die drei Unterabteilungen „Squadron“, dann „Bataillon“, die jeweils aus acht „Fähn­ lein“ oder „Compagnien“ bestanden31. Zu den Bürgerreuthern und den 24 Bürgerfähnlein zu Fuß kamen in der Mitte des 17. Jahrhunderts drei, Anfang des 18. Jahrhunderts sechs Kompa­ nien der Vorstädte Wöhrd, Tafelhof-Galgenhof, Gostenhof und der Gärtner hinzu. 1704 wurden 12 Kompanien Junger Mannschaft aus den 15- bis 20jährigen Bürgersöhnen und den Lehrlingen und Gesellen des Handwerks aufge­ stellt. Die Zahl der Bürgerartilleristen betrug im 18. Jahrhundert ca. 300. Die zum Dienst in diesen Einheiten Befohlenen unterstanden nun, wenn sie in Kriegs- und Friedenszeiten aufgerufen wurden, nicht mehr den Viertelmei­ stern und Gassenhauptleuten, sondern den Offizieren ihrer Kompanien. An der Spitze standen jeweils als Hauptmann ein „Bürgercapitain“ sowie ein Leut­ nant und ein Fähnrich, die im Gegensatz zu den Unteroffizieren keine Berufs­ soldaten waren, sondern Bürger mit zivilem Broterwerb. Bei der Auswahl der Offiziere durch den Rat wurde darauf geachtet, daß keine Offiziersstelle durch einen Gassenhauptmann (oder Viertelmeister) besetzt wurde32. Die drei Bataillone standen jeweils unter einem der drei ranghöchsten Mit­ gliedern des Inneren Rates, den Obristhauptleuten33. Das bedeutete, daß die Bürgerkompanien der gleichen Befehlsgewalt zu Gehorsam verpflichtet waren wie die Viertelmeister und ihre „Untertanen“.

31 E-Laden, Akten 376, Notwendiges Memorial der drei Obristhauptleute (ca. Mitte des 17. Jahr­ hunderts). 32 Willax, Verteidigungswesen, S. 214—215; Nor. H 500 — 4°; S. 211, Ämterrechnungen, z. B. Band W/77 (1733), S. 20* (siehe Anm. 34). Uber das reichsstädtische Wehrwesen Nürnbergs sind folgende Arbeiten zu nennen, die jedoch nicht frei von Fehlern sind: Friedlich] Lehmann, Nürnbergs Wehrverhältnisse im 18 ten Jahrhundert, Nbg., 1863 (Handschrift von 96 Seiten) (Stadtbibi. Amb. 636 — 4°). — Karl Fischer, Vom Heer der Reichsstadt Nürnberg, in: Nürnberger Schau 1940, 5, S. 71 —72. Oskar Franz Schardt, Die Geschichte der Nürnberger Bürgerwehr, in: Fränkische Heimat, 1941, S. 26-30. E-Laden, Akten 376, Notwendiges Memorial der drei Obristhauptleute (ca. Mitte 17. Jahr­ hundert); Nor. H 835 - 8°, S. 544’. 33 E-Laden, Akten 376, Instruction, wessen sich ein jeder in den Kriegsgeschäften Deputierte Herr ... zu verhalten hat (ca. 1655/6) (Punkt 1); Instruction der Capitain bey dem bürgerlichen Aus­ schuß (ca. 1655/6): Hat der Capitain zu gehorchen, was ihm von E. E. und hochweisen Rat oder den drei Obristhauptleuten befohlen wird.

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Bürgerausschuß, Feuergehorsam und die „andere“ Bürgerschaft

Die Nürnberger Bürger, die mit 14 Jahren am Schwur des Bürgergehorsams teilnahmen34, gliederten sich somit im ersten Drittel des 17. Jahrhunderts in — den Bürgerausschuß, bestehend aus den unter 40jährigen, — in die zum Feuergehorsam Verpflichteten und — die „andere Bürgerschaft unter den Viertelmeistern“, wie sie etwa 1632 in den Protokollen der Kriegsstube genannt wurde, bestehend aus den unter 60jährigen, die weder dem Bürgerausschuß noch dem Feuergehorsam angehörten35. Für 1656 sind für Bürgerausschuß und Feuergehorsam folgende Zahlen überliefert36: — Bürgerausschuß, der zum Alarmplatz aufzieht: 2808 Mann — Feuergehorsam, der zur Feuerglocke aufzieht: 1047 Mann. Geht man für diese Zeit nach dem Großen Krieg von ca. 6000 zum Wehr­ dienst und zum Feuergehorsam verpflichteten Bürgern aus, so bestand die „andere Bürgerschaft unter den Viertelmeistern“ aus ca. 2000 Mann. In den folgenden unruhigen, ja kriegerischen Zeiten, als das osmanische Expansionsstreben und die Hegemonialgelüste der französischen Könige die anderen europäischen Nationen zur Abwehr zwangen, sahen die für die äußere Sicherheit Nürnbergs Verantwortlichen die Zahl der in den Bürgerkompanien Dienenden als zu gering an. Schon in der „Addition zum Articulbrief“ vom November 163237 beanstandete das Kriegsamt: Etliche Hundert entschuldigen sich durch den Feuergehorsam, deren man sich aber in zwei, drei und mehr Jahren (nur) einen Tag bedient. Ebenso sei kein Amtlein zu klein, so (nicht) von der Wacht befreiet. Eine Reihe von Bürgern seien durch andere Aufgaben vom Dienst in den Bürgerkompanien suspendiert, z. B. die Gassenhauptleute und ihre Leutnante, ebenso Turm- und Torwächter, während sich andere Ein­ wohner, wie vermögende Witwen, die einen Ersatzmann dingen könnten, und die Exulanten, die (als Schutzverwandte) niemand zur Wache stellen wollen, sich dieser Verpflichtung entzögen. Tatsächlich waren folgende, sehr hetero­ gene Gruppen dem unmittelbaren Dienst im Bürgerausschuß und Feuer­ gehorsam, in der Praxis auch dem Aufgebot der Viertelmeister entzogen, wenn sie ihnen formal auch unterstellt waren38:

34 dsgl., VdHÄ v. 22. 2. 1656; VdHÄ 49, S. 308 v. 22. 2. 1656. Die Bürgerschreiber werden ange­ wiesen an Hand der Losungsbeschreibung festzustellen, welche Bürger Söhne über 14 Jahre haben. 35 Bürger-Roll, S. (21). 36 E-Laden, Akten 376, Verzeichnis der Companien (ca. 1655/56). 37 Desgl., Addition zum Articulbrief, 12. 11. 1632, Punkt 11—4). 38 Ebenda, Notwendiges Memorial der drei Obristhauptleute (ca. Mitte 17. Jahrhundert).

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Bürgerausschuß und Feuergehorsam

- alle Bürger, die aus Gründen der Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit „an einen sonderbaren Ort beschieden sind“39: 1. Die Mitglieder des Inneren Rates. Wie schon aus dem „Fewerpüchel“ von 1449 hervorgeht, sollten, wenn die Türmer und Scharwächter mehr als ein Feuer feststellten, wenn sich also der Verdacht auf Brandstiftung verdichtete, die je 13 Consules und Scabini, die acht Alten Genannten und die acht Ver­ treter der Handwerker im Inneren oder Kleineren Rat auf dem Rathaus zusammengerufen werden40, wo sie als Krisenstab fungieren sollten. Den zwei amtierenden Bürgermeistern oblag offiziell, nach Absprache der Maßnahmen mit jenen Ratsherren, denen es möglich war, sich auf dem Rathaus einzu­ finden, die gesamte Befehlsgewalt, auch über das bewaffnete Bürgeraufgebot und die unter dem Söldnermeister, dem späteren Obristkriegshauptmann, und dem Stadtmajor stehenden geworbenen Söldner41. Diese konzentrierte sich in der Folge immer stärker auf die Obristhauptleute. 2. Die Scharwächter, Stadtknechte, Schützen, Tor- und TurmWächter42. 3. Jene Genannte des Größeren Rates43, die an die Tore44, auf die Glocken­ türme45 und zur Bewachung der Kornhäuser und Mühlen (in der Stadt) be­ ordert waren. In den Feuerbüchlein von 144946 und 148247 werden insgesamt 9 bzw. 14 Kornhäuser und Mühlen genannt, die von Genannten zu bewachen waren48. 4. Alle Amtsinhaber der Stadt. Sie hatten sich an ihren Arbeitsplatz zu begeben und der Befehle ihrer Vorgesetzten zu harren. Das galt vor allem für das gesamte Kanzleipersonal49. Zur persönlichen Unterstützung der Septemvirn, des Exekutivausschusses des Rates, an dessen Spitze die Obristhauptleute (= OH) standen, sollten sich die Ratskonsulenten und einige Genannte des 39 Ebenda, Viertelmeister-Eid und -Instruction (ca. 1655/56). 40 Fewerpüchel, S. 331; E-Laden, Akten 376, Pflicht der Obersten Hauptleute, ca. 1622; Instruc­ tion der drei Obristhauptleute, ca. 1. Hälfte 17. Jahrhundert. 41 Fewerpüchel, S. 327, 332—333, vor allem 332, Zeile 33; E-Laden, Akten 376, Der kriegsdepu­ tierten Herren Aydt, ca. Mitte 17. Jahrhundert; Instruction, wessen sich ein jeder zu den Kriegsgeschäften deputierte Herr ... zu verhalten, ca. 1655/56. 42 Franz Willax, Die Nürnberger Tor- und Turmzeichen, in: Jb. f. Numismatik und Geld­ geschichte, Bd. 33 (1983), S. 71-82, siehe 75-77 (zit. Willax, Tor- und Turmzeichen). 43 Kurt Schall, Die Genannten in Nürnberg (Nürnberger Werkstücke zur Stadt- und Landes­ geschichte, Band 6, 1971). 44 Willax, Verteidigungswesen, S. 223. 45 Amb. 11-8° (Hs), S. 99: AStB 333a, Bl. 7-8 (9 Türme, mit je drei Genannten). 46 Fewerpüchel, S. 332. 47 AStB, Nr. 333: fewerbüchlein 1482 Marquard Mendel, S. 13’—14’. 48 Die FO von 1491 enthält bezüglich der Überwachung von Mühlen und Kornhäusern nichts (StAN, Rst.Nbg., Mandate, Fase. 37 (zit.: Mandate 37), Ordnung des Fewers, welcher die ver­ ordnten Herren zum Fewer und der Baumeister, so fewer auskumpt, nachkummen sollen, fol. de A°1491). 49 Will 1 - 497 - 2° (Hs), S. 334; Amb. 40 - 4° (Hs), o. Nr.; Nor. 257 - 8°, S. 4’-5\

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Größeren Rates auf dem Rathaus einfinden, ebenso Ordnungskräfte50. Nach der „Verneuerten Ordnung und Instruction der dreyen Obersten Hauptleute, . . . wie sie sich in Feindesnöten, in Aufruhr und Empörungsfällen und bei Feuersbrunst verhalten sollen“, 25. 4. 1620, sollten sich bei Sturmschlag fol­ gende namentlich Angegebene beim 1. OH einfinden: ein Alter Genannter, sechs Syndici, sechs Genannte des Größeren Rates (4 Patrizier und zwei Ange­ hörige „ehrbarer“ Familien), drei Pensionierte und drei Reisige. Siehe hierzu Punkt 4 bis 6, wo jedem OH Musketiere, Provisoren, vornehme Bürger, Rats­ diener und etliche Reisige zugeordnet werden. Ähnliche Angaben finden sich für 1727. Befände sich ein OH in Gefahr, so sollen sich die ihm zugeordneten Viertelmeister mit ihren Gassenhauptleuten und Bürgern vor seinem Haus sammeln und gegebenenfalls jeder OH mit seinen Fähnlein dem anderen OH zu Hilfe kommen. — Alle Angehörige der geworbenen Stadtkompanien und der Kreis­ truppen51, soweit sie Bürger oder Schutzverwandte waren, vor allem die Offiziere und deren Witwen und Waisen52, — alle Geistlichen und Schullehrer, — alle auf Grund von Alter und Gebrechlichkeit Dienstunfähigen und — all diejenigen, die „das Allmoßen haben“53. Von dem Dienst gegen Feind und Feuer ausdrücklich nicht befreit waren die Schutzverwandten, fremde Gesellen54 etc. Als Ersatz für Verstorbene wurden für den Feuergehorsam von den Meistern auch fremde Gesellen und Lehr­ jungen vorgeschlagen. Schutzverwandte sollen zum Ausschuß, und zwar auch als Chargen, herangezogen werden.

50 E-Laden, Akten 376, Verneuerte Ordnung und Instruction der dreyen Obersten Hauptleute (zit.: OH), . . . wie sie sich in Feindesnöten, in Aufruhr und Empörungsfällen und bei Feuers­ brunst verhalten sollen, 25. 4. 1620 (zit.: Verneuerte Ordnung und Instruction der drei OH, 1622); AStB 333a. — Zu Provisoren — Proviser bzw. Pensioner - Pensionierer siehe Nor. H 500 - 4° (Hs), S. 211 und Stadtrechnungen, z. B. Band 38 (1620/21), S. 234 und Band 50 (1633/34), S. 182 und 242: Im Gegensatz zu den Reisigen, die aus aktuellem Anlaß zum Strei­ fendienst zu Pferde angeworben wurden und überwiegend Nichtbürger gewesen waren, standen die Provisor als Torwachen längerfristig im Dienste der Stadt und dürften überwiegend Bürger gewesen sein. Besonders bewährte Provisoren wurden nach ihrem Ausscheiden aus dem aktiven Dienst weiterhin als Pensioner, wenn auch vermindert, weiterbesoldet. 51 Willax, Verteidigungswesen, S. 213. 52 Nor. H 500 - 4°, S. 211*. 53 Nor. 500 — 4°, S. 212; Amb. 11 — 8° (Hs), S. 73 (Aufnahme ins Spital), 79 (Aufnahme in eine der 12-Bruder-Stiftungen). 54 Amb. 11 — 8° (Hs), S. „1“. E-Laden, Akten 376, Notwendiges Memorial der 3 OH.

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Bürgerausschuß und Feuergehorsam

Die militärischen Befehlshaber

Platzkommandant, d. h. höchster kommandierender Offizier vor Ort, war der Stadtmajor, meist ein erfahrener Offizier aus einem der ratsfähigen Geschlechter. Ihm unterstanden alle Geworbenen (= Söldner): die zwei, je von einem Hauptmann geführten Stadtkompanien und die Unteroffiziere des Bürgerausschusses. Die Feldwebel des Bürgerausschusses hatten die Aufgabe, die „Bürgerrollen“ genannten Standlisten zu führen. Diese wurden regelmäßig dem Stadtmajor vorgelegt, der wiederum dem Kriegsamt und dessen Leiter, dem Obristkriegshauptmann, berichtspflichtig war. Die Befehlsgewalt von Obristhauptleuten, amtierenden Bürgermeistern, Obristkriegshauptmann bzw. Kriegsamt und Stadtmajor war konkurrierend und ist schwer abzugrenzen. Wahrscheinlich verschob sich diese Abgrenzung, je nachdem Friede war oder Krieg und weltanschauliche Gegensätze drohten. Im 18. Jahrhundert waren die Obristhauptleute die Oberbefehlshaber, zumin­ dest nominell, über die drei Bataillone des Bürgerausschusses. Ihre Stellver­ treter waren der Obristkriegshauptmann und zwei Kriegsverordnete. Der Obristkriegshauptmann war der Leiter des Kriegsamtes und führte nicht nur den Titel „Söldnermeister“, sondern erhielt auch, wie aus den Stadtrechnungen ersichtlich, dessen Sold. Die Funktionen des Söldnermeisters scheinen aber im wesentlichen auf den Stadtmajor übergegangen zu sein. Daß die amtierenden Bürgermeister in Katastrophenfällen den Oberbefehl führten, soweit dies die Umstände überhaupt zuließen, ergibt sich aus der Tatsache, daß sie das Zen­ trum der zivilen Befehlsgewalt, auch des Feuergehorsams, waren und sich meist auf dem Rathaus aufhielten. Der Jüngere Bürgermeister mußte auch nachts jederzeit verfügbar sein. Da der Stadtmajor Besoldeter war, die amtie­ renden Bürgermeister hingegen jedoch Mitglieder des Rates, der der Dienst­ herr aller Söldner war, unterstand der Stadtmajor, zumindest formell den amtierenden Bürgermeistern55. Die Organisation im Einsatzfall

Beim zweifachen Anschlägen der Sturmglocke bei Feuersgefahr oder beim (über eine Viertelstunde währenden) Sturmläuten, das sich auf den Fall der Empörung oder des feindlichen Überfalles beschränkte, schickte das Kriegsamt56 Trommler nach einem genau festgelegten Plan durch die Gassen, worauf sich alle Dienstpflichtigen mit Gewehr auf den ihnen zugewiesenen

55 E-Laden, Akten 376, Vertrautes gehaimes Gemerkh (ca. erste Hälfte des 16. Jahrhunderts); KV an OH vom 14. 1. 1621; Will 1 - 497 - 2° (Hs), S. 388; Amb. 40 - 4° (Hs). Ämterrechnung, V/43 (1698), S. 93’. 56 Willax, Verteidigungswesen, S. 238—243.

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„Rumorplätzen“ einzufinden hatten57. Alle nicht zum Bürgerausschuß und zum Feuergehorsam gehörenden Männer eines Viertels hatten sich bewaffnet vor dem Haus ihres Gassenhauptmannes einzufinden, von wo aus zum zen­ tralen Sammelplatz des Viertels marschiert wurde58. Die dem Feuergehorsam Unterstehenden hatten sich bei ihrem Rottmeister zu sammeln, von wo sie zum Brandort eilten59. In der reichsstädtischen Endzeit wurde jeweils nur eine der vier Kompanien Rottgesellen zur Brandbekämpfung eingesetzt, während sich die drei anderen auf bestimmten Plätzen in Bereitschaft halten mußten, und zwar in der Stadthälfte, in der das Feuer ausgebrochen war60. Die im Bauamt Tätigen hatten sich auf der Peunt einzufinden. Zum Anschlägen der Feuerglocke kamen als weitere Alarmzeichen das Hornblasen und das Aushängen von Feuerpfannen (tags) und Feuerlaternen (nachts) durch die Türmer hinzu, wobei die Rauch- bzw. Lichtsignale in die Richtung wiesen, wo der Brand ausgebrochen war. Die Erfahrung hatte gelehrt, daß Unruhen in der Stadt, vor allem aber feind­ liche Überfälle, häufig durch Brandstiftung eingeleitet wurden, verübt von ein­ geschleusten Helfershelfern61. Die Furcht vor Brandstiftung zieht sich wie ein roter Faden durch die Erörterungen von Rat und Kriegsamt der Jahre 1621/22 und 1655/56, fand aber auch in allen Feuerordnungen seinen Niederschlag, wenn auch nur verdeckt (Ausbruch eines zweiten, gleichzeitigen Feuers). Man hielt deshalb nicht nur die Personengruppen, die zur Verteidigung gegen äußere und innere Feinde aufgeboten wurden, personell völlig von den zur Feuerbekämpfung Verpflichteten und den Bürgern, die den Viertelmeistern unterstanden, getrennt, sondern veranlaßte dies auch organisatorisch, in dem man ihnen unterschiedliche Rumor-, Lärm- und Sammelplätze zuwies. Sammelplätze und Einsatzbereiche Nach dem Feuerpüchel von 144962 sollten sich die geschworenen Armbrustund Büchsenschützen, in drei Haufen geteilt, auf folgenden Plätzen sammeln: am Rathaus, am St. Gilgenhof und bei den Barfüssern. Wie aus einem Bericht der Kriegsverordneten an die Obristhauptleute vom 14. 1. 1621 hervorgeht, seien die Bürger der Stadt, die 1430 aus sechs Vierteln und 109 Hauptmann­ schaften bestand, bei äußerer Gefährdung auf das Sturmläuten hin zu dem

57 58 59 60 61 62

Will 1 - 497 - 2° (Hs), S. 355; Nor. 257 - 8° (Hs), S. 21-28 (= 1. Beilage). dsgl., S. 388-390. Amb. 40 - 4° (Hs): FO von 1596. FO von 1804, S. 9-10, § 6, S. 36, § 67; Lahner, S. 104; AStB 333a, S. 8’. E-Laden, Akten 376, KV an OH vom 14. 1. 1621, S.30. Fewerpüchel, S. 332.

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Sammelplatz ihres Viertels geeilt. Während der kleinere Teil dort als Reserve stehen blieb, besetzten die anderen Hauptmannschaften nach einem genau festgelegten Plan die Stadtmauer, wobei jedem einzelnen eine bestimmte „Zinne, Pforte, Mauer, Turm und Zwinger“63 zugewiesen war. Das Aufgebot sei wie folgt eingesetzt worden: Hauptmannscbaften Viertel

im Einsatz — Einsatzbereich

Weinmarkt: Milchmarkt: St. Egidien: Salzmarkt: Barfüßer: Kornmarkt:

6 — vom Pegnitzausfluß bis zum Neutor 3 — Neutor bis Veste 8 — Veste bis Laufertor 8 — Laufertor bis Pegnitzeinfluß 19 — Pegnitzeinfluß bis Carthause 17 — Carthause bis Pegnitzausfluß

in Reserve

4 10 6 9 9 10

Damit waren 61 Gassenhauptmannschaften im Einsatz und 48 in Reserve. Später wurden die Lorenzerviertel geteilt, so daß St. Elisabeth und die Car­ thause hinzukamen. Als zu Beginn des 16. Jahrhunderts infolge der religiösen und sozialen Wirren Probleme der inneren Sicherheit in den Vordergrund traten, wurde die Organisation des Wehrwesens unter dem Einfluß des Ideengutes der Renais­ sance, dann des Absolutismus immer stärker auf die Obristhauptleute (und das Septemvirat) zugeschnitten64: Beim Sturmläuten, „bei alleräußersten Notfall als Empörung und Auflauf“, sollten sich die Bürger vom Salz- und Weinmarkt unter dem ersten Obristhauptmann vor der Frauenkirche, die vom Milchmarkt und Egidienhof unter dem zweiten vor dem Egidienkloster und die Viertel der Lorenzer Seite unter dem dritten Obristhauptmann auf der Schütt sammeln65. Den acht (zahlenmäßig schwachen) schwedischen Regimentern, die Spät­ sommer 1632 nach dem Abzug der schwedischen bzw. wallensteinisch-ligistischen Heere in der Stadt als Garnison lagen, wies man sechs Alarmplätze zu66. Die drei Squadrone zu je acht Fähnlein des Bürgerausschusses erhielten den Kornmarkt, St. Egidien und den Plattenmarkt67. Der „anderen Bürgerschaft unter den Viertelmeistern“ wurden folgende Plätze Vorbehalten:

63 64 65 66 67

E-Laden, Akten 376, KV an OH v. 14. 11.1621, S. 2-6 und 29; Baader (s. Anm. 7), S. 53-58. Ebenda, Vertrautes gehaimes Gemarkh und KV an OH vom 14. 1. 1621, S. 9, 12 und 15—16. Ebenda, KV an OH vom 14. 1. 1621, S. 11. StadtA, Sammlung Amberger, Nr. 278 (zit.: Amb. 278), S. 113’—114’ (Datum: 9. 9. 1632). Conrad Christian Nopitsch, Wegweiser für Fremde in Nürnberg oder topographische Beschreibung der Reichsstadt Nürnberg . .., Nbg. 1801, S. 128 und 130: Platten- oder Plattnersmarkt nördlich von St. Sebald im Bereich Moritzkapelle, Rathaus und Predigerkloster.

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Viertel Salzmarkt Weinmarkt Egidienhof Milchmarkt Carthausen Barfüßer Kornmarkt St. Elisabeth

Sammelplatz Spitalkirchhof Alter Weinmarkt Heumarkt Milchmarkt Carthausen St. Lorenzplatz Roßmarkt beim Teutschhaus

Dem von der Reichsstadt unter Sold gehaltenen Regiment Leubelfing war der Tiergärtnertorplatz zugewiesen worden. Aus dieser Aufstellung ist zu ersehen, daß man den Schweden den Bereich Laufertor — Frauentor — Spittlertor und die gefährdeten Pegnitzein- und -ausflüsse überließ, jedoch vor allem Rathaus — Reichsveste mit eigenen Kräften besetzte. Als die Schweden zum Schutze des Umlandes abzogen, übernahm das Regi­ ment Leubelfing ihren Bezirk (mit Ausnahme des Frauentores). Als Lärm­ plätze wurden ihm Läufer-, Spittler-, Neu- und Tiergärtnertor zugewiesen. Je drei Kompanien des Bürgerausschusses sammelten sich auf folgenden Plätzen68: Frauentor, St. Egidien, Spitalkirchhof, Plattenmarkt, Alter Wein­ markt, Schütt, Lorenzerplatz, Kornmarkt. Seit der Mitte des 17. Jahrhunderts (bis 1806) waren für je zwei, nach dem Alphabet69 bezeichnete Kompanien die Alarmplätze z. B. wie folgt festgelegt70: 1. Bataillon:

— — — —

St. Egidien oder Dillinghof Milchmarkt Lauferplatz Schütt

— — -

M und F und P und D und

G W R Q

2. Bataillon:

— — — —

bei St. Lorenzen beim Teutschenhof Kornmarkt Kohlenmarkt

— — — -

X T Z L

und und und und

C Y A H

3. Bataillon:

— — —

beim Weizenbierhaus — Roter Ochse — B und - E und beim Neuenbau — I und Spitalkirchhof - K und bei der Schau

S V O N

88 wie 66, S. 181’ (Datum: 5. 3. 1633). 85 Nor. H 41 (Datum: 1736). 70 dgl. und Nor. H 500 - 4°, S. 209’.

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Die bataillonsweise Zuordnung der Kompanien wurde jedoch öfters geän­ dert, wobei Wert darauf gelegt wurde, daß des jeweils befehlenden Obrist­ hauptmanns Wohnhaus im Einzugsbereich seiner Squadron lag71. Die Bürger-Roll von 1632 enthält z. B. folgende Bemerkung: „C: Nach dem Loß die 22te Compagnie, Allarmplatz am Kornmarkt, anjetzo die 10te Com­ pagnie, Alarmplatz im Lorenzer Kyrchhof.“ Ähnlich ist die Zuordnung bei allen anderen 23 Kompanien des Bürgerausschusses. Gemustert wurde der Bürgerausschuß einmal im Jahr, je nach Witterungs­ bedingungen am oder im Zeughaus, und zwar jeweils zwei Kompanien zusammen, maximal sechs pro Tag. In manchen Fällen ging dieser „General­ musterung“ eine kompanieweise Assentierung voraus, die in einem Zwinger der Stadtmauer stattfand. Bei den Musterungen wurde mit Gewehr „exerciret“, wobei dieser Begriff des 17. Jahrhunderts Schießübungen mit einbezog. Anläßlich einer Musterung 1655 wurden die Musketen, die im Besitz der Bürger waren überprüft und alle abgeschafft, die nicht ein bestimmtes Lot (= Kaliber) besaßen, ebenso die Piken, die als generell untauglich bezeichnet wurden72. Dies ist ein Zeichen, daß die Ausrüstung des Bürgerausschusses auf der Höhe der Zeit stand, war doch das fränkische Kreisregiment zu Fuß Pleitner, das im Türkenkrieg von 1664 vernichtet wurde, noch zu einem Drittel mit Piken bewaffnet73. Der Sammelplatz der im 18. Jahrhundert zweigeteilten Kompanie „Bürgerreuther“ war der Herrenmarkt (= Hauptmarkt, Bereich des Schönen Brun­ nens). Während die Reiter im Kriegsfälle Recognozierungsaufgaben wahr­ nehmen sollten, dienten sie im Frieden bei Fürstenbesuchen als Ehrenwache und, üblicherweise von den Fürstentümern Ansbach und Bayreuth heftig bestritten, innerhalb des reichsstädtischen Territoriums als Geleit74. Bei Feuersbrünsten gehörte es zu ihren Pflichten durch die Stadt Patrouille zu reiten und für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung zu sorgen. Kommandeur war der älteste Kriegsherr, d. h. der Obristkriegshauptmann. Da

71 Bürger-Roll (siehe Anm. 28): Die Liste der Namen der drei OH, der Capitaine, Lieutenants, Fendrich und Feldwaibel reicht von 1631 bis 1720/21. E-Laden, Akten 376, Austeilung der Rendez-vous- und Alarmplätze . . . (ca. 1656); StAN, Rst.Nbg., Verlässe des inneren Rates (= Ratsverlässe zit.: RV), Band 2446, Blatt 72, RV vom 19. 11. 1655. 72 E-Laden, Akten 376, Nachdem sich die drei Obristhauptleute entschlossen craft ergangenen Ratsverlasses die Bürgerschaft zu mustern . . . (ca. 1656); KV an 3 OH vom 24. 3. 1656; VdHÄ 49, Seite 307-308, vom 22. 2. 1656. 73 Franz Willax, Johann von Stauffenberg und seine „Relation“ über das Fränkische ReichskreisRegiment im Türkenkrieg von 1664, in: Der Donauraum, 25. Jg., Wien 1980, S. 105 — 117. 74 Nor. H 500 - 4°, S. 210—210’; E-Laden, Akten 376, Articul-Brief der Bürgerreiterei (ca. 1650); Notwendiges Memorial der 3 OH (ca. Mitte 17. Jh.); RV vom 7. 1. 1656; Instruction, wessen sich ein jeder zu den Kriegsgeschäften Deputierte Herr ... zu verhalten hat (ca. 1655/56).

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dieser aber häufig dritter Obristhauptmann war75 und damit Bataillonskom­ mandeur, wurde als Hauptmann ein erfahrener Berufsoffizier Nürnberger Herkunft bestellt76. Die Nürnberger Artillerie genoß in den Erb- und Thronfolgekriegen des 17. und 18. Jahrhunderts großes Ansehen und nahm im Rahmen der Reichsarmee an mehreren Belagerungen teil. Die Konstabler und Feuerwerker hatten sich, auch bei Feuersgefahr, im Zeughaus zu sammeln77. Die Offiziere und Unter­ offiziere der Bürgerartilleristen, Konstabler und Feuerwerker waren ein Stück­ hauptmann, ein Stückleutnant, Adjutanten, Conducteure, Wagenmeister und -Leutnante und Commandier-Corporale. — Der eigentliche Chef der Nürn­ berger Artillerie war häufig gleichzeitig reichsstädtischer Zeugmeister und höherer Offizier des Fränkischen Kreises, wobei ein Aufstieg bis zum Oberst möglich war. Die Gliederung der den Viertelmeistern unterstehenden „anderen Bürgerschaft und deren Aufgaben



Daß die Aufteilung der im Bürgerausschuß Dienenden auf die Kompanien die altüberkommene Ordnung in Viertel und Gassenhauptmannschaften sprengte, zeigt das wahrscheinlich 1656 entstandene „Notwendige Memorial der drei Obristhauptleute“, in dem gefordert wurde, daß, wenn ein Bürger seine Woh­ nung ändere, er doch bei seiner Kompanie bleiben solle78. Gleichzeitig sollte aber die Organisation der Viertel und Hauptmannschaften erhalten bleiben, da es weiterhin dienstliche Obliegenheiten gab, die von den Viertelmeistern und ihren „Untertanen“ ausgeübt wurden. Jeder Viertelmeister benötigte zu deren Ausübung 10 bis 12 Bürger und jeder Gassenhauptmann und deren Leutnante fünf bis sechs Mann79, d. h. es mußten ca. 1000 Mann aufgeboten werden. Diese Aufgaben waren:

75 Hiermit ist die Angabe in Willax, Verteidigungswesen, S. 239, Zeile 19-21 zu korrigieren. 76 Archiv Frhr. Haller v. Hallerstein, Schloß Großgründlach, Personalia 4.38, 007, 1 — 10 (Foto­ kopie), mit Namen und Berufsangaben; Nor. H 835 — 8°, S. 547; AStB 333a, S. 5’. 77 Willax, Verteidigungswesen, S. 220—221; Nor. H. 500 - 4°, S. 211. 78 E-Laden, Akten 376, Notwendiges Memorial der drei Obristhauptleute (ca. Mitte 17. Jh.); Instruction, wessen sich ein jeder zu den Kriegsgeschäften deputierte Herr ... zu verhalten hat (ca. 1655/56). 79 dsgl., Instruction, wessen sich ein jeder Hauptmann auf. . . Läuten der Sturmglocke ... zu ver­ halten hat (1622), Punkt 3; Instruction, wessen sich ein Viertelmeister . . . beim Läuten der Sturmglocke ... zu verhalten hat (1622), Punkt 3 (zit. als Hauptmann- bzw. Viertelmeister-Instruction); KV an OH von 24. 3. 1656 und 80). 80 Mummenhof, Kettenstöcke, S. 1—38; E. Tuchers Baumeisterbuch, S. 150—162: Danach gab es 1470 418 Kettenstöcke; E-Laden, Akten 376, Viertelmeister-Instruction, Punkt 12; Haupt­ mann-Instruction, Punkt 8.

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— Einsatz der Kettenstöcke80 und die Verantwortung für deren Zustand, — die Beaufsichtigung der Türmer, die ausschließlich den Viertelmei­ stern Vorbehalten war, — die Kontrolle, ob alle Hausbesitzer der Verpflichtung nachkamen, im Brandfall die Gassen vor ihren Häusern zu beleuchten, — das pro Jahr zweimalige Begehen der Stadtmauer und aller Befesti­ gungen zur Feststellung des baulichen Zustandes, — die Aufsicht über alles in Türmen und Zwingern lagernde Kriegs­ material und Geschütz, — das Aufbieten der Bürger zu Schanzarbeiten im Kriegsfall und — die Überwachung aller Einwohner, die wider den Rat böse Reden oder ein unziemliches Leben führten bzw. all derer, die nach Ansicht des Rates, der evangelischen Geistlichkeit und bestimmter Bürger­ schichten potentiell eine Gefahr darstellten, etwa die Bewohner der Deutschordenskommende, die Bediensteten der kaiserlichen Post, fremde Gäste, religiöse Sektierer, dem Calvinismus bzw. dem Pie­ tismus nahestehende „Hugenotten“ und Exulanten u. a. mehr81. Die Zuordnung zum Feuergehorsam: Wandel und Bestand

Waren zum Dienst im Bürgerausschuß alle Bürger und Schutzverwandten, wenn sie innerhalb der Altersgrenze lagen und tauglich waren, verpflichtet, den Viertelmeistern sogar alle nicht anderweitig gebundenen Einwohner gleich welcher Berufsgruppe unterstellt82, so mußten den Feuergehorsam nur gewisse Gewerbe leisten. Zum Löscheinsatz wurden aufgeboten: nach Endres Tuchers Baumeisterbuch und dem „Fewerpüchel“ von 144983, — 16 Zimmerleute und acht Maurer, — alle Ableger, Schröter und Knechte in der Waag, — alle Bader mit ihrem Gesinde und — die „gemeynen Frawen“. Daß Zimmerleute und Maurer genannt wurden, ist verständlich, war doch bei dem technischen Entwicklungsstand der Brandbekämpfung das Nieder­ reißen brennender Gebäude oft die einzige Möglichkeit, um eine Ausbreitung des Brandes und damit eine verheerende Feuersbrunst zu verhindern. Die Bader wurden aufgeboten, weil sie die notwendigen „Kübelen und Schefflachen“ besaßen. 81 E-Laden, Akten 376, Hauptmann-Instruction, Punkt 6-7; Viertelmeister-Instruction, Punkt 9-10; Viertelmeister-Aidt (ca. 1622), Punkt (4); Viertelmeister bzw. Gassenhauptleut-Instruction und Ayd (beide ca. 1655/56); Willax, Verteidigungswesen, S. 222-224. 82 RV 2446, S. 73 —74, vom 19. 11. 1655; E-Laden, Akten 376, Notwendiges Memorial der drei Obristhauptleute (ca. Mitte des 17. Jahrhunderts). 83 E. Tuchers Baumeisterbuch bzw. Fewerpüchel von 1449 (siehe Anm. 10), S. 147—149, 274, 328-329.

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Die „gemeynen Frawen“ des Frauenhauses, die disziplinarisch dem Frauen­ wirt unterstanden, sind im „Fewerpüchel“ von 1449 sogar als erste unter den Aufgebotenen genannt, ein Passus, der im Feuerbüchlein von 1482 bezeich­ nenderweise schon wieder gestrichen ist und in den folgenden nicht mehr erscheint84. In der 1. gedruckten Feuerordnung von 1544 sind die Gemeynen Weyber noch als Empfänger einer Vergütung genannt, wenn sie an der Brand­ bekämpfung teilnehmen. Da im gleichen Zusammenhang auch die Barfüßer­ mönche erwähnt werden, ist anzunehmen, daß dieser Passus aus einer älteren Feuerordnung übernommen wurde, obwohl er nicht mehr zutraf. Hingegen sahen sich die Verfasser des Feuerbüchels und der anderen Feuer­ ordnungen genötigt, die Anweisung zu geben, die Büttel sollten „die Leut güt­ lich anschreyen und in raum machen“. Die Feuerordnung von 149185 sah sich dann sogar gezwungen, Geldstrafen über all die auszusprechen, „die beim Feuer müßig befunden werden“. Die Ratsdiener erhielten Befehl, alle Müßiggänger, die „beim Feuer feiern“ aufzuzeichnen und vor das Gericht der Fünferherren zu bringen, da die zur Brandstätte Eilenden meist nicht bei den Löscharbeiten halfen, sondern als Zuschauer die Brandbekämpfung behinderten. Auch in der ersten gedruckten Feuerordnung von 1544 wird auf die Notwendig­ keit hingewiesen, daß in einem Ratsmandat geboten werde, daß „niemandts, es weren Frawen oder Mann, zum Feuer lauf, denn sie dazu geordnet sein. Es sei dann, das sie auch zugreyfen und arbeyten wollen, bey pön von 2 Pfund novi“86. Aufgeboten wurden wiederum: — an Bauarbeitern: Steinmetze, Zimmerleute, Dachdecker, Tüncher und Kleiber, — die Ballenbinder und — die Bader. Spätestens um 1750 hatte sich jedoch die Zusammensetzung der aufgebo­ tenen Handwerker verschoben. An erster Stelle standen die Metallhandwerker, die in vier Kompanien aufgeteilt waren. An der Spitze standen je ein Haupt­ mann und ein Leutnant und die Rottmeister. Jeder Kompanie war ein Patrizier zugeordnet. Auch die Bauhandwerker bildeten, mit Ausnahme des inzwischen abgegangenen Kleiberhandwerks87, je eine Kompanie88. Zu den genannten Berufen kamen noch die Bader. Die Feuerordnung vom 31. März 180489 bestätigte die dominierende Rolle der metallverarbeitenden Berufe. An erster Stelle standen 84 85 86 87 88

AStB 333 (Fewerbüchlein von 1482), S. 3; 1. gedruckten FO von 1544, S. 108. Mandate, Fase. 37, 3/1 (FO von 1491, Absatz 2 bis 4). Erste gedruckte FO (von 1544), S. 96—97. Fleischmann, S. 76, 80, 85—86. Nor. H 31, Seite 1 — 17*; In Amb. 11 — 8° (HS) werden Tambour (S. 105) und Pfeifer (S. 115 und 121) erwähnt. 89 FO von 1804, Seite 9-10.

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— die Metallhandwerker mit insgesamt 18 Berufsgruppen, dann folgten — die Bauhandwerker, vier Berufsgruppen, — der Röhren- und Brunnenmeister mit seinen Gesellen, — die Bader und — die Schlotfeger, deren Erwähnung man schon eher erwartet hätte. Der Löschwassertransport oblag nach dem Fewerpüchel von 1449: — den Lohnkutschern, u. a. Fuhrleuten und — den Müllern. Wozu nach der Feuerordnung von 1544 noch folgende Gruppen kamen: — die Bierführer, — Nachtmeister, — Messingschlager und — die Mangmeister (= Färber)90. Die Gesellen des Lederer-Handwerks, zu denen dann noch die Weißgerber, Metzger und auch die Färber kamen, hatten am Fischbach und an der Pegnitz die Transportbehälter mit Wasser zu füllen91. Schon im Fewerpüchel von 1449 ist vermerkt, daß das Neue Spital zum Löschwassertransport zwei Karren mit je einem Faß zu stellen habe. In der Ordnung von 1544 werden der Komtur zum Deutschen Hof, die Spitalmeister des Alten und Neuen Spitals zum Hl. Geist und die Frauenklöster zu St. Clara und St. Katharina „ersucht und gebeten“ ihre Knechte und Pferde zum Was­ serfahren zur Verfügung zu stellen. Dazu sollten ebenfalls nicht nur die Wirte, sondern auch deren Gäste, besonders die fremden Fuhrleute, angehalten werden92. Die Feuerordnung von 1804 erfaßte alle Wagen und Pferde der Stadt, und zwar nicht nur die der Handwerker, die auf Grund ihres Berufes Gäule besaßen, sondern auch die der Kaufmannschaft und die herrschaftlichen Rosse93. Zusammenwirken und gemeinsamer Einsatz von Bürgerausschuß und Geworbenen, Feuergehorsam und „anderer“ Bürgerschaft

Die Aufteilung der Einwohner in den Bürgerausschuß, den Feuergehorsam und die Bürgerschaft unter den Viertelmeistern bedeutete nicht, daß es keine gemeinsamen Einsätze gegeben hätte. Diese waren, wie schon geschildert, sogar die Regel: Bei einem Brand wurde nicht nur der Feuergehorsam aufgerufen, sondern auch der Bürgerausschuß sammelte sich auf den ihm zugewie-

90 91 92 93

Erste gedruckte FO (von 1544), Seite 88-89. dsgl., S. 96; FO von 1804, S. 28, § 45. Fewerpüchel, S. 329; 1. gedruckte FO (von 1544), S. 89. FO von 1804, S. 22-23, § 36.

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senen Plätzen94. Ebenso vereinigten sich die „anderen Bürger“ unter ihren Viertelmeistern und Gassenhauptleuten, jedoch nur die, in deren Viertel der Brand ausgebrochen war. Die der anderen Viertel hatten sich in ihren Häusern in Bereitschaft zu halten95. Bei äußerer Gefährdung wurden sowohl die in den Fähnlein, als auch alle unter den Viertelmeistern Dienenden zum Einsatz gerufen. Bei extremen Fällen der Gefährdung, z. B. einer die ganze Stadt bedrohenden Feuersbrunst oder, im Kriegsfälle bei der Beschießung der Stadt mit Granaten und Feuerkugeln, wie dies z. B. 1703 Augsburg erleben mußte, wären nicht nur der Bürgerausschuß und die unter dem Feuergehorsam und den Viertelmeistern Stehenden, sondern, wie beim Bombardement Villingens 1704, auch die Frauen aufgeboten worden96. Hier zeigte sich besonders deut­ lich, daß es nur durch die personell organisatorische Trennung von Verteidi­ gung und Brandbekämpfung, wie sie in Nürnberg seit Jahrhunderten galt, ver­ hindert werden konnte, daß bei einem jähen Ausbruch eines Brandes während einer Beschießung die auf den Wällen Postierten den ihnen anvertrauten Platz verließen, um zu löschen und ihr Hab und Gut zu retten, und so dem Feind ermöglichten, die Wälle zu stürmen. Als im Verlaufe des Spanischen Erbfolgekrieges Mai—Juni 1703 die Gefahr eines Vorstoßes kurbayerischer und französischer Armeen gegen Nürnberg und damit einer Bombardierung der Stadt akut wurde, beschäftigte sich auch der Rat mit dieser Möglichkeit und vorbeugenden Maßnahmen. Man beschloß eine entsprechende Ergänzung der Feuerordnung. Schon vorher hatte man über das Rugamt ermitteln lassen, ob bei den Rotgerbern rohe Häute vor­ handen seien, die, wassergetränkt, zur Brandbekämpfung verwendet werden sollten. Die Recherchen ergaben, daß die Gerber etwa 150 Häute im Vorrat hatten, die Zahl aber auf das Doppelte steigern konnten97. Vor allem bei äußerer Gefährdung kam es zu einem engen Zusammenwirken zwischen den Bürgern und den Söldnern im Dienste der Stadt, den Soldaten der zwei Stadtkompanien. Als 1656, acht Jahre nach Beendigung des 30jährigen Krieges, bekannt wurde, daß Kurbayern Soldaten warb und kaiserliche Regimenter von Böhmen nach Westen ziehen würden, wurden die Stadttore, um dies an einem Beispiel aufzuzeigen, wie folgt besetzt: Die sechs Haupttore (Vestner-, Tiergärtner-, Neu-, Spittler-, Frauen- und Laufertor) erhielten eine 94 Ebenda, S. 15, § 17; Instruktion für die löbl. Bürger-Infanterie-Compagnien, wonach sie sich bey Feuersbrünsten auf den Allarmplätzen zu richten haben, Nürnberg 1803. 95 E-Laden, Akten 376, Viertelmeister-Instruction, Punkt 13; Hauptmann-Instruction, Punkt 9. 96 Johann Nepomuk Häßler, Villingen im Spanischen Erbfolgekrieg, Villingen 1954, S. 99—100, 125-131. 97 Franz Willax, Das Fürstentum Brandenburg-Ansbach und die Reichsstadt Nürnberg im Spani­ schen Erbfolgekrieg, Mittelfränkische Studien, Band 5 (1984); StadtA, Archivalienabgabe des StAN, Rep. A 26 II (zit. Rep. A 26 II), Nr. 123, KV an HÄ (1703); RV vom 20. 5. 1703; Rugamt vom 24. 5. 1703; Actum vom 6. 6. 1703; RV vom 8. 6. 1703.

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Wache, die jeweils aus einem Wachtmeister, einem Feldwebel und vier Sol­ daten bestand. An dem Haller- und dem Wöhrder Türlein wachten ein Feld­ webel und drei Soldaten. Zu diesen Geworbenen kamen an den Toren je neun, an den Türlein je vier Mann des bewaffneten Bürgerausschusses. Da die Unter­ offiziere meist Familienväter und Bürger waren, überwog die Zahl der bürger­ lichen Wachhabenden die der Geworbenen, so daß in Krisensituationen die Bürger die Soldaten und umgekehrt diese die Bürger überwachen und notfalls in Schach halten konnten97. Bei Gefahr von Überfällen durch den äußeren Feind wurden großkalibrige Haubitzen unter den Toren aufgestellt, die mit Hagelschrot geladen, die Tordurchfahrt unter Beschuß nehmen konnten. Aber auch hier wurden die bürgerlichen Konstabler, die mit brennender Lunte in Bereitschaft standen, durch „Conducteure“ visitiert, die Berufssoldaten waren98. Wachfunktionen an den Toren nahmen aber auch Bedienstete anderer reichsstädtischer Behörden wahr; ebenso Bürger, die nicht oder nicht allein dem Kriegsamt, sondern direkt den Viertelmeistern unterstanden: Zöllner, Torwächter, Schützen, in Spannungszeiten Torschreiber und Genannte des Größeren Rates, die diese zu überwachen hatten. Die unter dem Tor auf Kundschaft wartenden Lastenträger und die unmittelbar am Tor Wohnenden, die vom Kriegsamt bewaffnet wurden, waren verpflichtet, im Notfall die Tor­ wachen zu unterstützen99. Die zur Bewachung der Tore und anderer wichtiger strategischer Objekte Verordneten gehörten somit von den Schützen (und Bütteln), die den Unehr­ lichen nahestanden, bis zu den Genannten, denen Patrizier und „Ehrbare“ angehörten, soziologisch heterogene Gruppen an, zwischen denen keine Inter­ essengemeinschaft, kaum zwischenmenschliche Beziehungen und auch sonst wenig Gemeinsamkeiten bestanden, so daß kaum zu erwarten war, daß diese gegen den Rat zu Aktionen zusammenfanden. Die von der Stadt fest Besol­ deten unter den Wachen standen in einem die Effizienz steigernden rivalisie­ renden Verhältnis zueinander, da sie für den Einsatz im konkreten Einzelfall besoldet wurden und, bei erfolgreicher Dienstausübung, vergleichbar den Prä­ mien bei der Brandbekämpfung, eine Anerkennung in klingender Münze erhielten, auf die jeder einzelne angewiesen war, da das Grundgehalt unter dem Existenzminimum lag100. 98 E-Laden, Akten 376 (täglicher Aufzug von Bürgern und Soldaten als Wache, ca. 1656); KV an OH vom 14. 1. 1621, S. 18—21; KV an OH vom 24. 3. 1656, Punkt 7. Willax, Verteidigungswesen, S. 228—229. 99 StadtA, Rep. A 26 II, Nr. 123, vom 20. 12. 1703; Ämterrechnungen, V/1034, Bl. 52 und 118. 100 Willax, Verteidigungswesen, S. 222. Nach Nor. H 835, Fase. I, S. 53' erhielten 1477 die Rott­ schützen oder gemeinen Büttel das Recht Wehren zu tragen . . ., doch ist ihnen gesagt worden, wann sie einen mutwilligen Frevel üben, wolle man sie härter als andere strafen. Zur Stellung der Büttel im 17./18. Jh. siehe Geh. VdHÄ, Band 2, S. 30 vom 10. 4. 1690: Unlängst erging Reichsschluß, daß Stadtknechte ehrlich, Büttel unehrlich sind. Man solle deshalb auf letztere

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Allgemein galt für alle zur Bekämpfung von Feuer und Feind Aufgebotenen, daß sie zwar unmittelbar verschiedenen Befehlshabern unterstanden, jedoch auf Grund ihrer eidlichen Verpflichtung, so verschiedenartig sie sein mochten, letztlich der Befehlsgewalt des Rates und der Obristhauptleute unterworfen waren, in denen alle staatliche Macht kulminierte. Diese Verpflichtungen waren bei — den geworbenen Soldaten der Fahneneid, — den zivilen Wachen das Dienstgelöbnis, — dem bewaffneten Bürgerausschuß die Bürgerpflicht oder der Bürger­ gehorsam101 und bei den im Brandfalle Aufgebotenen, — den Rottmeistern und ihren Gesellen, der Feuergehorsam.

Bezeichnung verzichten, um ihre Kinder tüchtig zu machen, ein Handwerk zu erlernen. - Zu den Unterschichten siehe: Ernst Schubert, Arme Leute, Bettler und Gauner im Franken des 18. Jahrhunderts, Neustadt/Aisch 1983. Die Problematik der im Dienste der Herrschaft ste­ henden Angehörigen der Unterschichten wird nur gestreift, obwohl gerade im absolutischen Fürstenstaat des 17. und 18. Jh. die Herrschaftsmechanismen besonders deutlich hervortreten: Eine schmale, aus Adel und arrivierten Juristen bestehende Oberschicht beherrschte die zahlen­ mäßig weit überwiegende, das Steueraufkommen erbringende Mittelschicht der Bürger und Bauern mit Hilfe der in ihren Diensten stehenden Angehörigen der Unterschichten, die ein wahres, wenn nicht zur Unterdrückung, so doch zur Einschüchterung der Untertanen ange­ legtes Schreckensszenarium darstellen: der sehr gut besoldete Henker, Scharf- bzw. Nach­ richter oder Züchtiger und seine Knechte, die Büttel und Schergen, Profossen-, Stecken- oder Stockknechte, Schützen und Bettelrichter, Lochhüter und Eisenmeister. Und die Soldateska! Hier gehört auch der nürnbergische „Lebe“ (auch: Löwe), der häufig im Zusammenhang mit dem Züchtiger genannt wird. Er hatte nach „Des leben aide und Ordnung“ (AStB 101, S. 233), die in einer Sammlung von Ordnungen und Pflichten, „vernewt 1552“, mit Nachträgen, ent­ halten ist, die Aufgabe u. a. die Einhaltung der Marktordnung zu überwachen, Verstöße zu melden und nachts die Güter auf dem Markt zu bewachen. 101 E-Laden, Akten 376, Vortrag an die gesamte Bürgerschaft, 21. 2. 1656; VdHÄ v. 22. 2. 1656; RV v. 23. 2. 1656; VdHÄ 49, S. 307-308 v. 22. 2. 1656; RV 2449, Blatt 10-11 v. 23. 2. 1656.

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NÜRNBERG IM 18. J AHRHUNDERT* Von Rudolf Endres Nürnberg war im 15./16. Jahrhundert anerkanntermaßen eine Großstadt von europäischem Rang1. Als eine der volkreichsten und bedeutendsten Städte im Reich2 verdankte es seine herausragende Stellung seiner Wirtschaftskraft, seinem reichen Exportgewerbe und weltweiten Handel, seiner hohen Kultur­ blüte und seiner einzigartigen Verbindung von wissenschaftlichem Geist und bürgerlichem Gewerbe, die Nürnberg — so Franz Schnabel — zur „Wiege der abendländischen Technik“, neben Florenz, werden ließ3. Dazu kamen die Funktionen als Nachrichtenzentrum4, als Vorort der luthe­ rischen Reformation5, als Hüterin der Reichsinsignien6, als bevorzugter Tagungsort von Reichs- und Kreisversammlungen und Sitz des Reichsregi­ ments, was Nürnberg den Ruf als „heimliche Hauptstadt des Reiches“ ein­ brachte7. Nürnberg selbst bezeichnete sich voll Stolz als „Republik“8, und der Rat ließ die wichtigsten Gebäude nach antikem Vorbild mit der Inschrift SPQN = Senatus Populusque Norimbergensis schmücken9. * Vortrag vor dem Verein für Geschichte der Stadt Nürnberg am 2. Februar 1988. Erscheint gleichzeitig in erweiterter Fassung unter dem Titel „Nürnberg in der Frühzeit“ in dem Sammel­ band „Europäische Städte im Zeitalter des Barock“, Köln 1988, S. 141-167. 1 Vgl. Nürnberg. Geschichte einer europäischen Stadt. Hrsg, von Gerhard Pfeiffer, München 1971, S. 155-264. 2 Die Einwohnerzahl Nürnbergs zur Zeit der Reformation wird auf 40 000 bis 50 000 geschätzt. Siehe Rudolf Endres, Zur Einwohnerzahl und Bevölkerungsstruktur Nürnbergs im 15. und 16. Jahrhundert, in: Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg (= MVGN) 57 (1970), S. 242-271. 3 Karl Bosl, Die große bayerische Stadt: Regensburg-Nürnberg-München, in: Ders., Frühformen der Gesellschaft im mittelalterlichen Europa, München-Wien 1964, S. 450. 4 Inge Sporhan-Krempel, Nürnberg als Nachrichtenzentrum zwischen 1400 und 1700 (Nürn­ berger Forschungen Bd. 10), Nürnberg 1968. 5 Quellen zur Nürnberger Reformationsgeschichte, hrsg. von Gerhard Pfeiffer, Nürnberg 1968; Bernd Moeller, Reichsstadt und Reformation, Gütersloh 1962; Gottfried Seebaß, Die Reforma­ tion in Nürnberg, in: MVGN 55 (1967/68), S. 252-269; Günter Vogler, Nürnberg 1524/25, Berlin-Ost 1982. 6 Julia Schnelbögl, Die Reichskleinodien in Nürnberg, in: MVGN 51 (1962), S. 78-159; Nürn­ berg, Kaiser und Reich. Ausstellungskatalog der Staatlichen Archive Bayerns, Bd. 20, Nürnberg 1986, S. 32-111. 7 Fritz Schnelbögl, Die fränkische Reichsstädte, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 31 (1968), S. 455. 8 Als der Reichshofrat 1717 anordnete, daß die Reichsstädte auf die Bezeichnung „Republik“ ver­ zichten sollten, da berief sich der Nürnberger Rat darauf, daß schon Willibald Pirckheimer in einem Brief an Kaiser Maximilian im Jahre 1515 von der „Republica Nurembergensi“ gespro­ chen habe. Staatsarchiv Nürnberg S I L 151 Nr. 7. 9 Fritz Schnelbögl, Die fränkischen Reichsstädte, S. 456.

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Doch nach der Hochblüte zur Dürerzeit erlebte Nürnberg unverkennbar einen Niedergang bis zum Ende des Alten Reiches, wofür in der Literatur mehrere Gründe genannt werden: 1. Das starre patrizische Ratsregiment oder Herrschaftsmonopol. Allein die Patrizier besetzten den Inneren Rat, während sie sich gleichzeitig aus der Stadt zurückzogen und auf ihren feudalen Herrensitzen „adeliges Land­ leben“ pflegten, teilweise sogar unter Aufgabe des Bürgerrechts und dafür Immatrikulation bei der Fränkischen Reichsritterschaft. Die Patrizier als „regierende Herren“ — so der Vorwurf — erwiesen sich schließlich als unfähig und seien für die „verrotteten Zustände“ in Nürnberg im 18. Jahr­ hundert verantwortlich10. 2. Der bis Ende des Alten Reichs auf 22 „genießende Familien“ geschrumpften Adelsoligarchie11 stand als Vertretung der Bürgerschaft das ständisch zusammengesetzte „Collegium der Genannten“ gegenüber, die alle namentlich vom Rat berufen wurden. Der „Große Rat“ blieb jedoch ohne politischen Einfluß und wurde nur in Ausnahmesituationen oder bei Steuererhöhungen zur Rückendeckung für die Ratsentscheide gegenüber der Bevölkerung beigezogen12. Da die aristokratische Oligarchie nicht wil­ lens war, sich den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Veränderungen anzupassen, führte dies zu wachsenden Spannungen in der Stadt, die sich im 18. Jahrhundert in mehreren „Bürgerkämpfen“ entluden13. 3. Die erstarrte Verfassungs- und Gesellschaftsstruktur Nürnbergs basierte bis zum Ende der reichsstädtischen Freiheit auf einem Sozialaufbau, der in den Kleiderordnungen mit zuletzt sechs Ständen festgeschrieben worden war14. In diesem starren gesellschaftlichen Rahmen, der den sozialen Wandel in der Stadt einfach negierte, erwuchs eine typische engstirnige Mentalität. 4. Der wirtschaftliche Niedergang nach dem 30jährigen Krieg wurde verur­ sacht einmal durch die Verlagerung der großen Handelswege und -ströme sowie durch die vielen merkantilistischen Zollschranken und Importsperren der großen Territorien, zum andern aber auch durch die „unmerkantilisti-

10 Emil Reicke, Geschichte der Reichsstadt Nürnberg, Nürnberg 1896, Reprint Neustadt a. d. Aisch 1983, S. 994. 11 Hanns Hubert Hofmann, Nobiles Norimbergenses, in: Untersuchungen zur gesellschaftlichen Struktur der mittelalterlichen Städte in Europa (= Vorträge und Forschungen 11), Sigmaringen 1966, S. 53—92; Gerhard Hirschmann, Das Nürnberger Patriziat, in: Deutsches Patriziat 1430—1740 (= Büdinger Vorträge 1965), hrsg. von Helmut Rößler, Limburg 1968, S. 257—276. 12 Kurt Schall, Die Genannten in Nürnberg (= Nürnberger Werkstücke 6), Nürnberg 1971. 13 Rudolf Endres, Die Rolle der Kaufmannschaft im Nürnberger Verfassungsstreit am Ende des Alten Reiches, in: Jahrbuch für fränkische Landesforschung 45 (1985), S. 125—167. 14 Julia Lehner, Die Mode im alten Nürnberg (= Nürnberger Werkstücke Bd. 36), Nürnberg 1984, bes. S. 24 f.

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sehe Zunftpolitik auf staatlicher Ebene“, die moderne Produktions­ methoden und Wirtschaftsweisen verhinderte15. 5. Der wirtschaftliche Rückgang führte zu einem katastrophalen Niedergang der Staatsfinanzen im 18. Jahrhundert und praktisch zum Staatsbankrott am Ende des Alten Reiches. Schuld am finanziellen Ruin war angeblich die Mißwirtschaft des patrizischen Rates16 — eine Behauptung, die so nicht haltbar ist. 6. Die Finanznot war die Folge und zugleich der Grund für die politische Ohnmacht der Reichsstadt. Nürnberg sei — so Helmut Rößler — seit dem 30jährigen Krieg „für das Reich und das deutsche Ganze bedeutungslos“ geworden. Vor allem wären die nur noch „mumienhaft fortlebenden Klein­ krämer“ nicht mehr zu Opfern für das Reich bereit gewesen17, was absolut nicht stimmt, wie ich zeigen werde. 7. Die sozialen Folgen des Niedergangs waren einmal ein deutlicher Bevölke­ rungsrückgang auf nur noch 23 000 Einwohner hauptsächlich infolge Abwanderung von Handwerkern und Kaufleuten, und zum andern eine all­ gemeine Verarmung, die alle Bevölkerungsschichten erfaßt habe, was auch so nicht zutrifft. 8. Auch zu kulturellen Leistungen sei Nürnberg nicht mehr fähig gewesen, was schon Otto Borst18 und Fritz Schnelbögl bestritten haben19. Insgesamt soll Nürnberg im 18. Jahrhundert, wie Schubart feststellte, „eine graue ... in Schulden, Mutlosigkeit und verächtlicher Stille versunkene Stadt“ gewesen sein20. Daß der Dichter und Aufklärer Christian Schubart irrte, will ich im fol­ genden beweisen. In der Regel wird Nürnberg am Ende der reichsstädtischen Zeit als ein schwer verschuldetes, ja sogar bankrottes Gemeinwesen geschildert, das gerade noch rechtzeitig das Glück hatte, von dem jungen Königreich Bayern okkupiert zu werden. Nur noch 700 fl. waren beim Übergang an Bayern in der Stadtkasse, dafür aber beliefen sich die Schulden und rückständigen Zinsen auf 15 Ekkehard Wiest, Die Entwicklung des Nürnberger Gewerbes zwischen 1648 und 1806 (= For­ schungen zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Bd. 12), Stuttgart 1968, S. 155 f. 16 So etwa Emil Reicke, Geschichte der Reichsstadt Nürnberg, Nürnberg 1896, Reprint Neustadt 1983, S. 994 f. 17 Helmut Rößler, Die Reichsstädte, in: Ders., Fränkischer Geist — Deutsches Schicksal. IdeenKräfte-Gestalten in Franken 1500—1800 (Die Plassenburg 4), Kulmbach 1953, S. 105. 18 Otto Borst, Die Kulturbedeutung der oberdeutschen Reichsstädte am Ende des alten Reiches, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 100 (1964), bes. S. 161. 19 Fritz Schnelbögl, Die fränkischen Reichsstädte, in: Zeitschrift für Bayerische Landesgeschichte 31 (1968), S. 455. 20 Zitat bei Guido Hable, Die Aufklärung in Nürnberg, in: Die Zeit der Aufklärung in Nürnberg 1780—1810 (= Quellen zur Geschichte und Kultur der Stadt Nürnberg Bd. 6), Nürnberg 1966, S. 9.

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rund 12 Mill. fl.21. Die Verantwortung für diese desolate Entwicklung gibt man dem völlig überalteten und verknöcherten System der reichsstädtischen Ver­ waltung. Letztendlich habe also der patrizische Rat selbst die Schuld an dem finanziellen Ruin und dem wirtschaftlichen Niedergang der Reichsstadt. Geht man jedoch der Frage nach, wodurch die hohen Schulden entstanden sind, dann ergibt sich doch ein entschieden differenzierteres Bild. Im späten Mittelalter und auch noch im 16. Jahrhundert erlebte die reichs­ städtische Wirtschaft eine hohe, stets aufsteigende Konjunktur. Dann aber brachte der 30jährige Krieg einen schweren Einbruch; 7 365 000 fl. betrugen am Ende des Großen Krieges die Verbindlichkeiten, doch die Bürgerschaft war noch immer wohlhabend und opferbereit genug, um durch eine freiwillige Kapitalreduktion die Stadtschulden auf nicht ganz 3,2 Mill. fl. bis zum Jahre 1660 zu reduzieren22. Bald aber folgten die Reichskriege gegen Frankreich und gegen die Türken sowie insbesondere der Spanische Erbfolgekrieg, so daß die öffentliche Schuld Nürnbergs 1715 wieder auf fast 7,4 Mill. fl. angewachsen war23. Diese außerordentlich hohen Opfer der Reichsstadt für Kaiser und Reich, die hohen Leistungen aus „Reichspatriotismus“, müssen deutlich hervor­ gehoben werden. Die Reichsstadt Nürnberg — und sie war keineswegs die ein­ zige — hat sich in der Frühneuzeit für den Erhalt der Reichsverfassung, für Kaiser und Reich, finanziell geopfert und ruiniert. Aber die Anlehnung an den Kaiser war notwendig in dem steten Kampf um die Selbsterhaltung. Denn er allein versprach Schutz vor der Bedrohung durch die benachbarten Territorialstaaten, mit denen man in ständigem Streit lag — so führte Nürnberg allein mit den Markgrafen von Brandenburg-Ansbach mehr als 300 kostspielige Prozesse beim Reichshofrat. Dabei war die Furcht vor dem Verlust der Unabhängigkeit keineswegs unbegründet, wie der Fall von Münster, Erfurt oder Magdeburg zeigte. Zu einer eigenständigen Politik des Selbstschutzes aber war Nürnberg nicht mehr fähig, es konnte nur noch lavieren24. Der Kaiser aber antwortete auf die Treue und Opferbereitschaft Nürnbergs mit weiteren finanziellen Forderungen. So mußte beispielsweise Nürnberg 1765 bare 100 000 fl. nach Wien überweisen als Ersatz für die Ausgaben, die der Kaiserbesuch erfordert hätte, wie dies die Goldene Bulle vorschrieb. 1712 21 Wilhelm Schwemmer, Die Schulden der Reichsstadt Nürnberg und ihre Übernahme durch den Bayerischen Staat, Nürnberg 1967, S. 12 f. 22 Rudolf Endres, Endzeit des 30jährigen Krieges, in: Nürnberg (wie Anm. 1), S. 273—279. 23 Vgl. Rudolf Endres, Nürnberg in der Frühneuzeit, in: Europäische Städte im Zeitalter des Barock. Gestalt-Kultur-Sozialgefüge. Hrsg, vom Institut für vergleichende Städtegeschichte in Münster, Köln-Wien 1988. 24 Eugen Franz, Nürnberg, Kaiser und Reich. Studien zur reichsstädtischen Außenpolitik. Mün­ chen 1930, S. 333-395.

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war Karl VI. als letzter Kaiser mit Pomp in Nürnberg eingezogen und hatte von der Stadt Besitz ergriffen25. Neben den schweren Kriegslasten mußten auch für den Fränkischen Reichs­ kreis weit überhöhte Beiträge aufgebracht werden. Da bekanntlich der Matrikularfuß auf der Reichsmatrikel von 1521 basierte, als die Reichsstadt ihren wirtschaftlichen Höhepunkt erreicht hatte, und dieser Fuß nur unwesentlich modifiziert wurde, zahlte Nürnberg auch im 18. Jahrhundert noch einen „kur­ fürstlichen Beitrag“, wie der Rat klagte. Für rund ein Fünftel der Gesamtlasten des Fränkischen Reichskreises mußte Nürnberg allein aufkommen, was für die Stadt einfach nicht mehr tragbar war26. Als Nürnberg 1739 nur noch ein Siebtel der Kreiskosten bezahlte, da verlangten 1751 die Mitstände die Nachzahlung der Rückstände und schickten ansbachische und bayreuthische Truppen zur Exekution in das Nürnberger Gebiet, so daß der Rat keine andere Möglichkeit sah, als die ausstehenden 75 000 fl. nachzuzahlen. Eine Ermäßigung der Matrikularbeiträge, die durch die wirtschaftliche Entwicklung in Franken in den letzten Jahrhunderten längst überholt waren, konnte trotz Klagen beim Kaiser nicht erreicht werden, da die Kreismitstände, voran Bamberg und AnsbachBayreuth, sich in diesem Punkte ausnahmsweise völlig einig waren27. Ein Blick in den Nürnberger Haushalt im 18. Jahrhundert zeigt, daß für die inneren Belange eigentlich nie mehr als 5% aller Ausgaben aufgewendet wurden, also für Kirchen- und Schulwesen, für Sozialfürsorge und Gesund­ heitswesen, für Polizei und städtisches Bauwesen. Dagegen betrugen die Anteile für das Militär und für die Matrikularbeiträge an den Kreis mehr als 30% der Jahresausgaben, und die Beiträge für Schuldenverzinsung und -tilgung erreichten zeitweise mehr als 50% des Etats28. Von einer leichtsinnigen Mißwirtschaft des Rates kann jedoch nur bedingt die Rede sein. Denn durch die laufenden Reichskriege und die ständigen Händel mit den Nachbarn wurden unverschuldet stets neue Verschlechte­ rungen herbeigeführt. So erreichten die Kriegsausgaben im Laufe des 7jährigen Krieges, der in Nürnberg gegen die protestantische Vormacht Preußen ohne Begeisterung geführt wurde, Ausgaben in Höhe von 2 370 377 fl., so daß am Ende des Krieges eine Gesamtschuldenhöhe von 9,2 Mill. fl. erreicht wurde29. Eine Sanierung des zerrütteten Staatshaushalts konnte bis zum Ende des Alten Reiches nicht mehr vor genommen werden, ja die Schuldenlast wurde durch die Okkupationen Kur-Bayerns und Preußens unter Hardenberg sowie durch den 25 Rudolf Endres, Kaisertreue und Reichsbewußtsein in Nürnberg, in: Nürnberg - Kaiser und Reich. Ausstellungskatalog. Nürnberg 1986, S. 144 f. 26 Rudolf Endres, Nürnberg in der Frühneuzeit. 27 Wilhelm Schwemmer, Die Schulden der Reichsstadt Nürnberg, S. 9. 28 Heinrich Bingold, Die reichsstädtische Haushaltung Nürnbergs während und nach dem sieben­ jährigen Krieg (1756—1776), Diss. Erlangen 1911, S. 51 ff. und S. 96. 29 Ebda, S. 37-41.

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Vorstoß der französischen Revolutionsarmee 1796 sogar noch deutlich erhöht. Rund 12 Mill. fl. mußten mit der Reichsstadt 1806 vom Königreich Bayern mitübernommen werden30. Vergegenwärtigt man sich noch einmal die Zahlen, dann wird die immer wieder aufgegriffene These von dem „Geiz der kleinkrämerischen Reichs­ stadt“, die sich angeblich in ihrer „Unbedeutendheit nicht mehr zu großen Opfern für Kaiser und Reich“ aufschwingen konnte, von selbst widerlegt. Über ein Fünftel ihres Etats stellte die Reichsstadt dem Kaiser im Frieden zur Verfügung und im Krieg mehr als die Hälfte aller Ausgaben. Woher aber kamen die Gelder, die Nürnberg als Kredite für den Stadthaus­ halt aufnehmen mußte? Für einen Großteil der Passiva wurden Schuldver­ schreibungen ausgegeben. Pfandbriefe und Obligationen, mit einer Verzinsung von 3—5%. Die meisten dieser Schuldverschreibungen befanden sich in den Händen Nürnberger Bürger. Der Gesamtbetrag der vom Losungsamt an Nürnberger Kreditoren ausgegebenen Oligationen belief sich am Ende der reichsstädtischen Zeit auf 5,6 Mill. fl., von denen ein Teil in den beiden „Leibrenten-Gesellschaften“, die sich als eine Art Lebensversicherung 1777 und 1783 gebildet hatten, zusammengeschlossen war. Die fremden Schulden machten nur 1,2 Mill. fl. aus, der Rest wurde von Ewiggeldern und frommen Stiftungen hauptsächlich getragen31. Also nicht nur nach dem 30jährigen Krieg war die Nürnberger Bürgerschaft willens und in der Lage, einen Teil der reichsstädtischen Schulden abzutragen, auch noch im 18. Jahrhundert gab es ausreichend Geld und Vermögen in der Stadt, das der Stadtkasse zur Verfügung gestellt werden konnte und auch noch bis zum Ende zur Verfügung gestellt wurde. Allerdings waren diese vermögenden Schichten vom politischen Entschei­ dungsprozeß ausgeschlossen, was wachsende soziale und politische Span­ nungen zur Folge hatte, die schließlich gegen Ende der reichsstädtischen Zeit zum Ausbruch offener „Bürgerkämpfe“ führte. Die soziale Struktur und das politische Leben waren also keineswegs so unbeweglich und starr, wie man meist für Nürnberg lesen kann32. Denn selbstverständlich blieben die finanziellen Schwierigkeiten in der Reichsstadt der Bevölkerung nicht unbekannt, wenn auch eine Einsichtnahme in den Stadthaushalt und eine Offenlegung der städtischen Finanzen vom patrizischen Rat strikt abgelehnt wurde. Erstmals richtete sich nach dem Spa­ nischen Erbfolgekrieg Widerstand gegen die Finanzwirtschaft des Rates. Träger der Opposition waren die Großkaufleute, die zugleich die Gläubiger

30 Wilhelm Schwemmer, Die Schulden der Reichsstadt Nürnberg, S. 12 f. 31 Rudolf Endres, Die Rolle der Kaufmannschaft, S. 153. 32 Ebda, S. 125—167.

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der Stadt und ohne Zweifel die dynamischste Gruppe in der Bevölkerung waren. Als Mitglieder des Genannten-Kollegiums verlangten sie Einsicht in das Rechnungswesen und Anteil am Stadtregiment. Im Jahr 1730 kam es dann zur spektakulären Aufgabe des Bürgerrechts durch den hoch angesehenen Kaufmann Zacharias Buck und 82 andere Kauf­ leute und schließlich zum offenen Streit wegen einer Steuererhöhung um 25%, die der Rat eigenmächtig durchsetzte, wogegen die Kaufmannschaft prote­ stierte, was wiederum der Rat — nicht zu Unrecht — als Angriff auf das Rats­ regiment interpretierte. Die Kaufmannschaft klagte daraufhin beim Kaiser gegen den Rat, doch der Kaiser deckte die Patrizier. Der Reichshofrat aber hatte sich die städtischen Bücher übersenden lassen und nach dreijährigem Stu­ dium abschließend den Rat nachdrücklich ermahnt, „das gesamte nürnbergische Ökonomikum auf einen besseren Fuß zu setzen“33, was der Rat jedoch gegenüber der Bürgerschaft verschwieg. Doch bei allem guten Willen war der patrizische Rat nicht zu durchgrei­ fenden Reformen fähig. Denn keiner der Ratsherren war noch im Handel tätig oder auch nur dafür ausgebildet, da dies gegen die stadt-adelige Ehre und Würde verstieß, und doch trafen die Patrizier allein die wirtschaftspolitischen Entscheidungen in der Reichsstadt. Denn das Gesamtregiment in Legislative, Exekutive und Jurisdiktion in der Reichsstadt und im Landgebiet oder die gesamte Innen- und Außenpolitik Nürnbergs kam ausschließlich dem Inneren Rat zu, der auch patrizischer Rat oder Magistrat genannt wurde. Die Gerichtsbarkeit, die politische Führung, das Kirchen- und Schulwesen, die Sozialfürsorge, die Wehrhoheit, die Verwaltung des Landgebietes, die Poli­ zei- und Steuerhoheit sowie die so wichtige Wirtschaftsführung der Stadt waren auf insgesamt 24 Zentralstellen und 95 Ratsdeputationen verteilt, wobei die Aufgaben und Kompetenzen oft schwer durchschaubar waren und auch die Ratsherren die Übersicht verloren hatten. Da sämtliche Führungsposi­ tionen von den 26 bzw. 34 Mitgliedern des patrizischen Inneren Rates besetzt wurden, mußte dies zwangsläufig zu einer beträchtlichen Ämterhäufung führen. So war beispielsweise der 1712 geborene Christoph Freiherr Stromer von Reichenbach im Geschäftsjahr von Ostern 1792 bis Ostern 1793 dienstältester Ratsherr und Septemvir und damit Pfleger der Reichsveste und Reichs­ schultheiß, vorderster Losunger, vorderster Obristhauptmann und Kronhüter, Herr des Gerichtssiegels, erster Konsul, älterer Besetzer des Gerichts zu Wöhrd, Oberpfleger des Heilig-Geist-Spitals und des Klosters St. Katharina, Pfleger des Jungfernalmosens und — trotz seines Alters — älterer Obristhaupt­ mann. Bei dieser Ämterhäufung kann eine sachgerechte und effektive Wahr-

33 Stadtarchiv Nürnberg, Genanntenkollegium Nr. 243 (Rep. B 3).

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nehmung der Pflichten und Aufgaben schlichtweg nicht mehr gewährleistet sein34. 1785 kam es erneut zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen patrizischem Rat und der Kaufmannschaft, die sich wiederum an der willkürlichen Ausschreibung einer „Extra-Steuer“ entfachten35. Im Juni 1785 mußte das Schauamt, die Zahlungsstelle der Stadt, eingestehen, daß sie unfähig sei, die fäl­ ligen Zinsen für das Fremdkapital zu bezahlen. Die Stadt war illiquid und eine „Extra-Steuer“ sollte neue Liquiditäten schaffen. Man sondierte deshalb bei den Großkaufleuten unter den Genannten, die jedoch abwinkten, wie sie auch ein neuerliches „Vorlehen“ verweigerten. Nachdem der Finanzkollaps den wenigen Eingeweihten offenkundig geworden war, wandten sich die Marktvorsteher, die Marktadjunkten und mehrere Großkaufleute, also die Großfinanz der Reichsstadt, in einer kriti­ schen Remonstration an den Rat, in der die bisherige Steuerpolitik kritisch unter die Lupe genommen und Vorschläge zur Besserung der finanziellen Lage unterbreitet wurden. So schlugen sie u. a. vor, Kanonen, Meßgewänder und Brunnen zu verkaufen36, was zeigt, daß sie über das wahre Ausmaß der Schulden nicht informiert waren. Bald aber eskalierte der Steuer streit zwischen Rat und Kaufmannschaft um die grundsätzliche Verfassungsfrage des Steuerausschreibe- und Budgetrechts, das der Rat für sich allein in Anspruch nahm, während die Kaufleute auf die verfassungsgemäße Mitwirkung der Genannten hinwiesen. Am 4. März 1786 forderten 86 Genannte durch Unterschrift die völlige Restitution des korporativen Stimm- und Mitwirkungsrechts der Genannten37. Zu den Rechten des Großen Rates kann festgehalten werden, daß bis in die Mitte des 17. Jahrhunderts noch gewisse Mitbestimmungspositionen ausge­ macht werden können, die der patrizische Kleine Rat aber mehr und mehr zu bloßen Beratungsfunktionen abbaute. Sinn und Prestige des Großen Rates waren so im 18. Jahrhundert ausgehöhlt, und umgekehrt gaben die Genannten durch mangelnde Sitzungsbeteiligung ihr Desinteresse zu erkennen und ent­ machteten sich damit selbst38. Die energischsten Widersacher gegen das patrizische Ratsregiment waren die reichen Kaufleute, die zugleich Genannte waren, an ihrer Spitze der vermö­ gende Marktvorgeher Paul Wolfgang Merkel und die reichen Gebrüder Kieß­ ling. Die Genannten und Kaufleute, die alle zugleich auch Gassenhauptleute 34 Rudolf Endres, Die Freien Reichsstädte als Anfang der Bürgerfreiheit in Deutschland, in: Poli­ tische Studien Jg. 38, 1987, S. 577. 35 Vgl. hierzu Rudolf Endres, Die Rolle der Kaufmannschaft, S. 133 ff. 36 Stadtarchiv Nürnberg, Genanntenkollegium Nr. 243. 37 Staatsarchiv Nürnberg Rep. 26 Fasz. 96. 38 Kurt Schall, Die Genannten in Nürnberg (= Nürnberger Werkstücke Bd. 6), Nürnberg 1971, S. 132-137.

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waren, weigerten sich, die „Extra-Steuer“ einzuziehen, wodurch der Steuer­ streit an die Öffentlichkeit drang und die aufgebrachte Bevölkerung sich zusammenrottete. In einer neuerlichen Eingabe an den Rat vom 13. März 1786 forderten nun die Kaufleute-Genannten, unterstützt von der Bevölkerung, daß der Rat das votum decisivum des Größeren Rates und das Recht auf regelmäßige Sit­ zungen anerkennen und damit den Größeren Rat zu einem gleichberechtigten Verfassungsorgan machen müsse39. Der Altdorfer Professor der Rechte Malblanc, der die Sache der Genannten juristisch vertrat, wollte sogar in einer historischen Ableitung eine Analogie zwischen den Befugnissen der Nürnberger Genannten und den Rechten der deutschen Landstände herstellen und damit die Nürnberger Ratsverfassung im Kern angreifen40. Doch selbstsicher ließ der patrizische Rat als Antwort wissen, daß er die Möglichkeit habe, die Zusammensetzung des Großen Rates zu verändern und dies auch zu tun gedenke. Von der Unnachgiebigkeit des Rates betroffen, kündigte eine Deputation der bürgerlichen Genannten an, daß sie die Streitfrage dem Kaiser zur Ent­ scheidung vortragen wollten, allerdings nicht in der Art eines Prozesses, son­ dern einer Anzeige. Der Kaufmann Kießling und der Bäckergeschworene Hessel überreichten Kaiser Josef II. die Supplik, in der sie den drohenden Staatsbankrott und des Rates Anmaßung „von Souveränität gegen freye Bürger“ anzeigten. 101 Genannte stellten sich durch ihre Unterschrift hinter diese Anzeige, nämlich 72 der 118 Handwerker und 28 der 39 Kaufleute im Großen Rat. Unter den Kaufleuten waren es vor allem die Vertreter der Nürnberger Groß­ finanz und des Fernhandels, erfolgreiche Unternehmer, Bankiers und Fabrikanten, die es aufgrund individueller Leistung zu Vermögen und Ansehen gebracht hatten. Die Aufklärung trug weiter mit dazu bei, daß die wirtschaftliche Bourgeoisie sich ihres Wertes bewußt wurde, aber auch ihrer politischen Ohnmacht. Diese finanzstarken Familien wie die Kießling, Merkel, Panzer, Bäumler, Bachmeyer und von Scheidlin, Plattensteiner und Pröschel waren untereinander verschwägert, durch gemeinsame Geschäfte verbunden, zumeist Mitglieder der Freimaurer-Loge und des Handelsvorstandes41. Sie standen an der Spitze der Kaufmannschaft, denn seit der Mitte des 17. Jahrhunderts hatte sich der Handelsvorstand durch das Kooptationsrecht als elitärer Zirkel innerhalb der Kaufmannschaft abgehoben, der sich 1771 mit der „Gesellschaft der vordersten Kaufleute“ sogar eine exklusive Begegnungs39 Rudolf Endres, Die Rolle der Kaufmannschaft, S. 140. 40 Julius Friedrich Malblanc, Vollständige Darstellung der Rechte des größeren Bürgerlichen Raths, Altdorf 1787. 41 Vgl. Rudolf Endres, Die Rolle der Kaufmannschaft, S. 125—140.

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Stätte schuf. Diese aufgeklärte, gebildete, selbstbewußte wirtschaftliche Füh­ rungsgruppe orientierte sich jedoch gesellschaftlich am Patriziat. Deshalb kauften sie sich die Residentschaft fremder Territorialherrn oder des Kaisers und ließen sich vom Reichsvikar gegen Geld adeln, erwarben Herrensitze mit ausgedehnten Barockgärten und ahmten adeligen Lebensstil nach42. (Es erhoben sich sogar Klagen, daß die Marktvorsteher dem Wirtschaftsleben entfremdet seien und eigentlich gar nicht mehr die Belange der Kaufmannschaft vertreten könnten.) Dieser vermögende Kaufmannstand, der sich als „wichtigster Nah­ rungsstand in der Stadt“ verstand, konnte selbstverständlich die „Extra-Steuer“ leicht bezahlen, aber die Kaufmannschaft war empört über das Oktroi-Ver­ fahren, das ihrem Selbstverständnis als Genannte und ihrer aufgeklärten politi­ schen Grundeinstellung als freie Bürger der Reichsstadt widersprach43. Am 14. Dezember 1786 traf das kaiserliche Conclusum ein, das für die Opposition enttäuschend die Steuerverweigerung bei Strafe untersagte. Wenig später entschied der Reichshofrat endgültig zugunsten des patrizischen Rats­ systems und erklärte das geforderte Mitspracherecht der Genannten in Steuer­ angelegenheiten für ungültig44. Daraufhin erlangte die innere Auseinandersetzung in Nürnberg eine neue Dimension, indem sie an die Öffentlichkeit getragen und von mehreren deut­ schen Zeitungen aufgegriffen wurde. So schrieb Schlözers „Göttingischer Staatsanzeiger“: „Eine schöne Aufklärung des patrizischen Regierungsunfugs in Nürnberg! Zwanzig ratsfähige Geschlechter des Patriziats wollen sich eine unumschränkte erbliche Regierungsgewalt. . . zueignen“45. Ein weiterer Effekt des Ganges an die Öffentlichkeit war, daß auswärtige Einleger ihre Kredite überstürzt abzogen — rund eine halbe Million Einlagen wurden sofort gekün­ digt — und neue Kredite nicht mehr zu finden waren. Außerdem machten sich zunehmend die außenpolitischen Pressionen bemerkbar. Bayern und Preußen okkupierten 1790 weite Teile des Nürnberger Territoriums46, und französische Revolutionsagenten verwirrten mit ihren

42 Ingomar Bog, Reichsverfassung und reichsstädtische Gesellschaft. Sozialgeschichtliche For­ schungen über reichsstädtische Residenten in den Freien Städten, insbesondere in Nürnberg. In: Jahrbuch für fränkische Landesforschung 18 (1958), S. 332 f. 43 Rudolf Endres, Die Rolle der Kaufmannschaft, S. 141-144. 44 Staatsarchiv Nürnberg, Rep. 26 Fasz. 97. 45 Jahrgang 1788, Nr. 31. 46 Nürnberg, das durch die aggressive Politik Hardenbergs auf die Stadtmauern zurückgedrängt wurde, war sogar bereit, freiwillig die reichsstädtische Freiheit aufzugeben und sich Preußen zu unterwerfen, doch lehnte der König in Berlin ab. Siehe hierzu Rudolf Endres, Die preußische Ära in Franken, in: Expansion und Integration. Zur Eingliederung neugewonnener Gebiete in den preußischen Staat. Hrsg, von Peter Baumgart, Köln 1984, S. 169-194; Ders., Franken und Bayern im 19. und 20. Jahrhundert, Erlangen 1985, S. 9 ff.

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Parolen die Köpfe in Nürnberg, wobei das Zentrum der „Jakobiner“ im Hause des reichen Kaufmanns und Unternehmers Kießling war47. Durch die hohen Kapitalabflüsse und den wachsenden politischen Druck wurde der patrizische Rat schließlich gezwungen, den Großkaufleuten ent­ gegenzukommen und ihnen Zugeständnisse zu machen, woraufhin diese wie­ derum neue Kredite zur Verfügung stellten, damit der Rat seinen vordringlich­ sten Aufgaben nachkommen konnte. Am 24. September 1792 trat erstmals die „Ökonomieverbesserungs- und Rechnungsrevisions-Kommission“ zusammen, in der die Kaufleute des Großen Rates bedeutend an Einfluß gewonnen hatten. Die von der reichen Kaufmann­ schaft seit Beginn des 18. Jahrhunderts geforderte Mitsprache zumindest in Wirtschafts- und Finanzfragen der Stadt war nun endlich erreicht. Aber damit gab man sich nicht zufrieden, denn man wollte eine grundsätz­ liche Verfassungsänderung und eine Neuverteilung der Macht in der Stadt, wobei der Größere Rat zur vollwertigen und gleichberechtigten Bürgervertre­ tung ausgebaut werden sollte. Dieser entscheidende Schritt, der die in Nürnberg seit 1348 bestehende patrizische Ratsverfassung abschaffte, erfolgte im sog. „Grundvertrag“ vom 13. Februar 1794, der zwischen patrizischem Rat und den Genannten unter­ zeichnet wurde. Darin wurde dem Genannten-Kollegium das volle Entschei­ dungsrecht über die Staatsfinanzen übertragen. Zugleich wurde die ständische Zusammensetzung des großen Rates neu festgelegt: 70 Genannte kamen vom Patriziat, 70 vom Handelsvorstand, 70 aus der Handwerkerschaft, 20 aus der Beamtenschaft und 20 waren Gelehrte48. Mit dem Grundvertrag aber war die bisherige Opposition aufgespalten. Denn die führenden Kaufmannsfamilien, die sich bisher schon gesellschaftlich an das Patriziat angelehnt hatten, wurden nun als „Geld- und Titelpatriziat“ von den stadtadeligen Familien kooptiert, nachdem sie ihre politischen Ziele erreicht hatten. Patrizier und Kaufmanns-Genannte schlossen sich sogleich gegen das übrige Bürgertum und vor allem gegen die Unterschichten, den „Pöbel“, in der Stadt ab. Denn als es zu Gesellenaufständen und Hungerunruhen in Nürnberg kam, zur sog. „Eyerkuchenrevolte“, da tat sich das Besitzbürgertum mit dem Patri­ ziat zur „Rettung des Vatterlandes“ zusammen und gründete bewaffnete Bür­ gerwehren zum Schutze des Eigentums. Eine geschlossene Front gegen das Patriziat war nach dem „Grundvertrag“ nicht mehr möglich, denn die vermö­ gende Kaufmannschaft hatte nun die Fronten gewechselt und wandte sich mit aller Kraft gegen eine Demokratisierung des Staatswesens. 47 Anton Ernstberger, Nürnberg im Widerschein der französischen Revolution 1789—1976, in: Ders., Franken — Böhmen — Europa. Gesammelte Aufsätze. Neustadt 1959, S. 457—526. 48 Stadtarchiv Nürnberg, Genanntenkollegium Nr. 7; Staatsarchiv Nürnberg Rep. 26 Fasz. 68.

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Allerdings war die neue Verfassung nicht lange gültig, da bereits nach drei Jahren eine kaiserliche Subdelegationskommission eingesetzt werden mußte, die einen Rat aus 24 aristokratischen und acht bürgerlichen Senatoren ein­ setzte, der bis zum Übergang an Bayern amtierte49. Der Verfassungskampf in Nürnberg hat — wenn auch verspätet — seinen Abschluß gefunden: die reichen Kaufleute haben die lange angestrebte Teil­ habe am Stadtregiment erlangt. Dies zeigt, daß auch in Nürnberg im 18. Jahr­ hundert — entgegen dem üblichen Bild in der Literatur - wirtschaftliche und soziale Veränderungen stattfanden, die auch auf politische Veränderungen drängten, und zwar mit Erfolg. Auch Nürnbergs patrizische Ratsverfassung war nicht unangreifbar starr und auch Nürnbergs Gesellschaft befand sich in Bewegung, obwohl offiziell noch immer die ständisch-hierarchische Gliede­ rung der alten Kleiderordnungen in Geltung war. Die dynamischste Gruppe waren die erfolgreichen, vermögenden, aufgeklärten Großkaufleute, Bankiers und Unternehmer, die sich letztlich ihre Kredite für die bankrotte Stadtkasse mit politischen und gesellschaftlichen Privilegien bezahlen ließen. Weitere Belege dafür, daß es falsch ist, vom Niedergang der Stadtfinanzen gleichermaßen und analog auch auf den Rückgang privater Vermögen in der Stadt zu schließen, sind — neben den hohen bürgerlichen Einlagen in der Stadtkasse — die zahlreichen karitativen Stiftungen im 18. Jahrhundert sowie das reiche Mäzenatentum: Die Kleiderordnungen und Luxusverbote zeigen sogar wachsenden Reichtum in allen Bevölkerungsschichten50. Daß Nürnberg im Spätmittelalter ein vorbildliches Armenfürsorgewesen hatte, das hauptsächlich auf reichen frommen Stiftungen beruhte, braucht wohl nicht weiter ausgeführt zu werden51. Es gehört aber mit zu den üblichen pauschalen Urteilen, daß mit der Einführung der Reformation und der Abschaffung der Werkheiligkeit das Stiftungswesen insgesamt abgebrochen sei. In der Tat muß mit der Einführung des „Gemeinen Kastens“ zunächst ein deutlicher Einbruch im privaten Stiftungswesen verzeichnet werden, doch änderte sich dies schon im ausgehenden 16. Jahrhundert. Bereits das 17. Jahr­ hundert verzeichnet 41 neue karitative Stiftungen in Nürnberg52, und das auf49 Franz Buhl, Der Niedergang der reichsstädtischen Finanzwirtschaft und die kaiserliche Sub­ delegationskommission von 1797 bis 1806, in: Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg 26 (1926), S. 180 ff. 50 Vgl. Julia Lehner, Die Mode im alten Nürnberg (= Nürnberger Werkstücke 36), Nürnberg 1984, S. 183. 51 Vgl. Ingomar Bog, Über Arme und Armenfürsorge in Oberdeutschland, in: Jahrbuch für frän­ kische Landesforschung 34/35 (1976), S. 983-1001; Rudolf Endres, Zur Einwohnerzahl und Bevölkerungsstruktur Nürnbergs im 15. und 16. Jahrhundert, in: Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg 57 (1970), S. 242-271. 52 Errechnet aufgrund verschiedenster archivalischer Quellen, besonders Stadtarchiv Nürnberg Rep. D 15/1 und Nor.H. 358-372.

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geklärte 18. Jahrhundert, in dem das „Gemeinwohl“ und das „allgemeine Beste“ in den Vordergrund rückten, brachte nochmals einen deutlichen Anstieg der Stiftungen: Insgesamt können 69 neue umfangreiche karitative Stiftungen nachgewiesen werden, wobei auffallend häufig Witwen bedacht werden — offensichtlich ein drängendes soziales Problem —, und auch das neue Zucht- und Arbeitshaus53. So stellte der Advokat Dr. Seeger 25 000 fl. zur Verfügung, deren Zinsen jährlich an 50 Witwen verteilt werden sollten, und durch die Fetzer’sche Stiftung sollten jährlich zweimal je 100 Männer jeweils 5 fl. erhalten, was bedeutet, daß das Stiftungskapital auch mindestens 25 000 fl. betragen haben muß54. Neuer Wert wird jetzt — im Zeitalter der Pädagogik — auf die Erziehung und Ausbildung von Findel- und Armenkindern gelegt, denen zahlreiche Stif­ tungen zugute kommen. Aufgrund bürgerlicher Stiftungen, und nicht aus der Stadtkasse, wurde 1699 die Lorenzer Armenschule eingerichtet, wo durch die Welser’sche Stiftung allein 100 Kinder kostenlos Unterricht erhielten und dann nach drei Jahren Schule für die Konfirmation eingekleidet wurden. 1713 konnte aufgrund der Rößlerschen Stiftung bei St. Sebald die Armenschule für 60-70 Kinder aufgebaut werden, und für die Armenschule beim Spital stiftete der Arzt Dr. Palma 1719 ganze 80 000 fl. 1753 eröffnete die Patrizierfamilie Haller von Hallerstein für 36 Armenkinder eine Schule, und 1776 wurde die Lödelsche Armenschule eingerichtet, für die die Witwe Lödel 70 000 fl. gestiftet hatte, die nur den Grundstock bildeten, der durch eine Vielzahl wei­ terer Stiftungen ergänzt und abgerundet wurde. Jedenfalls konnte durch die 4 großen Armenschulen, die auf bürgerlichen Stiftungen basierten, vielen Nürn­ berger Kindern aus den Unterschichten eine Ausbildung und Erziehung ermöglicht werden. Weitere Stiftungen kamen dann sogar auch noch für das Lehrgeld auf55. Wie die großen Armen- und Schulstiftungen gehörten auch das Mäzena­ tentum und die Kunstpflege zu den Prestigetätigkeiten des Patriziats und vor allem der Genannten, die auf diese Weise ihren neuen Rang und Reichtum öffentlich dokumentieren wollten. An den wertvollen Sammlungen der Kauf­ mannsfamilien Praun und Peiler, deren wirtschaftlicher Aufstieg sehr rasch erfolgte und die unverkennbar die soziale Gleichstellung mit dem Patriziat anstrebten, läßt sich dieses Motiv eindrucksvoll belegen. Die alten adeligen Geschlechter dagegen betrieben im 18. Jahrhundert hauptsächlich Traditions- und Familienpflege, sammelten Familienbildnisse 53 Marianne Sothmann, Das Armen-, Arbeits-, Zucht- und Werkhaus in Nürnberg bis 1806 (= Nürnberger Werkstücke 2), Nürnberg 1970. 54 Johann Christian Siebenkees, Nachrichten von Armenstiftungen in Nürnberg, Nürnberg 1792, S. 36 f. und S. 53. 55 Johann Christian Siebenkees, Von den Nürnbergischen Armenschulen, Nürnberg 1793.

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und stifteten Epitaphien und Totenschilde in ihren Geschlechterkirchen, wie etwa die Kreß in Kraftshof56. Auch wandte sich nun der Adel verstärkt der Unterstützung der Wissen­ schaften und der Dichtung zu, wie etwa Harsdörffer im Pegnesischen Blumen­ orden oder Volckamer in der Naturwissenschaftlichen Gesellschaft „Leopol­ dina“ oder Jobst Christoph von Kreß an der Universität Altdorf57. Die Kreß ergänzten zwar ihre umfangreiche Gemäldesammlung mit zeitgenössischer Arbeit von Sandrart, Preißler oder Kupezky, doch ihr Hauptinteresse galt den Naturwissenschaften, was zeigt, daß der patrizische Adel durchaus in der Lage war, sich gegenüber den Neuerungen zu öffnen und sich den Forderungen der Zeit anzupassen. Aus gesamtstädtischem Fürsorge- und Verantwortungsbewußtsein und zur Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung erließ der Nürnberger Rat zum letzten Mal 1693 eine Kleiderordnung, in der die reichsstädtische Gesellschaft in sechs Ständen hierarchisch gegliedert wurde58: der 1. Stand umfaßte die Angehörigen der alten Geschlechter; der 2. Stand alle Kaufleute, die ihr Geschäft mit eigenem Vermögen betrieben und die Mitglieder des Großen Rates waren; dazu die Ratskonsulenten und die Losungsamtmänner, der 3. Stand alle Kaufleute mit nicht so großen Geschäften, die aber ebenfalls Genannte waren, und die 8 Handwerker im Kleinen Rat; der 4. Stand umfaßte alle Kaufleute, die nicht Genannte waren, und die rei­ cheren Vorgeher im Handwerk; der 5. Stand faßte alle einfachen Krämer und Handwerker zusammen und der 6. Stand die Handwerksgesellen, Dienstknechte und Mägde. Durch diese Kleiderordnungen, die durch Tauf-, Hochzeits- und Luxusord­ nungen ergänzt wurden, war die soziale Hierarchie in der Stadt fest­ geschrieben, ja zementiert, so daß ein sozialer Aufstieg nur in Ausnahmefällen möglich war. Allerdings gefährdete ein steter Kampf um und mit Statussym­ bolen den sozialen Frieden in der Reichsstadt des 18. Jahrhunderts. Denn in diesen Kleiderordnungen schrieb der Rat bis ins Detail den ein­ zelnen Ständen ihre Kleidung vor. So durften z. B. die Männer aus dem Patri­ ziat ein Wams aus glattem Samt, Atlas, Damast und anderem Seidenzeug tragen und die Männer des 2. Standes aus den gleichen Materialien außer Samt. Die Kaufleute und Handwerker des 3. Standes mußten sich mit geringem Sei56 Siehe Rainer und Trude Wohlfeil, Nürnberger Bildepitaphien, in: Zeitschrift für Historische Forschung 12 (1985), S. 129-180. 57 Richard van Dülmen, Sozietätsbildungen in Nürnberg im 17. Jahrhundert, in: Gesellschaft und Herrschaft. Festgabe für Karl Bosl zum 60. Geburtstag. München 1969, S. 170-180. 58 Siehe Julia Lehner, Die Mode im alten Nürnberg, bes. S. 24 f.

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denzeug begnügen und den Männern des 5. Standes war nur noch ein Wams aus Taft, Macheyer und Zendort erlaubt; auch waren ihnen Silber- und Gold­ knöpfe verboten. Die Handwerksgesellen und Dienstknechte des 6. Standes hatten ihren Koller aus wollenem Tuch, Barchent oder Leder zu tragen. Noch diffiziler waren die Vorschriften für die Frauen59. Allerdings zeigen die verschiedenen Kleiderordnungen aber auch, daß der sittenstrenge Rat laufend gezwungen war, Zugeständnisse an das gesteigerte Modebedürfnis und vor allem an den wachsenden Reichtum in der Stadt zu machen. So wurden im 18. Jahrhundert sogar allen „Weibs-Personen“ aus dem 5. Stand und auch den Dienstmägden des 6. Standes schwarze Schauben aus Schamlott, Wurschatt oder Arras erlaubt, die zudem noch mit einer halben Elle Samt verbrämt werden durften und sogar unterfüttert werden konnten, ein Luxus, der in früheren Jahrhunderten nur den Damen von Stand gestattet war. Auffallend ist auch die Zunahme an modischen Accessoires und vor allem an kostbarem Schmuck. Dabei war das Tragen von Gold- und Silberschmuck im 18. Jahrhundert keineswegs mehr ein Privileg der oberen Gesellschafts­ schichten, vielmehr die unteren Stände leisteten sich jetzt kostbaren Schmuck. So mußte die Ordnung von 1693 den Frauen von Krämern und Handwerkern das Tragen von Halsketten und Ringen mit Diamanten, Saphiren, Rubinen und Smaragden untersagen, während ihnen goldene und silberne Halsketten gestattet wurden, wie selbst Dienstmägde sich nun mit kostbaren Korallen­ ketten und silberbeschlagenen Gürteln schmücken durften. Sogar Schuhe aus Samt und Seide, die früher nur den Patriziern gestattet waren, durften jetzt praktisch von allen erworben werden60. Die Kleider- und Luxusordnungen für Männer und Frauen belegen aber nicht nur den zunehmenden Reichtum in allen Bevölkerungsschichten, sie ver­ mitteln andererseits auch ein Bild von der Starrheit und Engstirnigkeit, die das soziale Klima in der Stadt und die Mentalität seiner Bürger nachhaltig geprägt haben müssen. Denn es konnte nicht ohne Folgen bleiben, wenn der Rat seinen Bürgern vorschrieb und die Einhaltung seiner Vorschriften gegen hohe Strafen peinlichst überwachte, welche Hutschnüre oder Schnallen auf den Schuhen sie verwenden durften und bei den Damen nachmaß, ob sie Spitzen­ verbrämungen bis zu drei Querfinger oder mehr verwendeten61. Streitigkeiten um den Vortritt bei Leichenbegängnissen oder um die Reihen­ folge bei Kutschen- und Schlittenfahrten gehörten so zum Alltag in der

59 Ebda, S. 187 ff. 60 Ebda, S. 158 ff. 61 Ebda, S. 57-66.

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Reichsstadt des 18. Jahrhunderts, wie auch das reiche Brauchtum im Hand­ werk längst zu leeren Formalismen erstarrt war62. Erstaunlich waren dagegen Nürnbergs Aktivitäten und Leistungen auf kul­ turellem Gebiet im 18. Jahrhundert, wenn auch die künstlerische Hochblüte der Dürerzeit nicht mehr erreicht wurde. Dafür wandte sich der bürgerliche Geist nun den neuen Wissenschaften zu, insbesondere den Naturwissen­ schaften und der Technik. Nürnberg wurde sogar zu einem Zentrum der Kul­ turentfaltung im Barock- und Aufklärungszeitalter, da offensichtlich die modernen Naturwissenschaften und die Technik dem praktischen Geist und der handwerklichen Tradition der Reichsstädter entgegenkamen63. Auch war Wissenschaft jetzt nicht mehr Sache einiger weniger herausragender Indivi­ duen, sondern breite Kreise befaßten sich damit und wandten sich ihr interes­ siert zu. So erwuchs ein Gelehrtentyp ganz neuer Art, der sich in wissenschaft­ lichen Akademien, Gesellschaften oder Sozietäten zusammentat. Als „Curiöse Herren“ wurden diese Wissenschaftler bezeichnet. So erlebte die 1652 in Schweinfurt gegründete „Deutsche Akademie der Naturforscher“ erst unter dem namhaften Nürnberger Botaniker Johann Georg Volkamer als Präsidenten ihren großen Aufschwung, die sie als „Leo­ poldina“ in Nürnberg im 18. Jahrhundert zu einer wissenschaftlichen „Kör­ perschaft von Reichsbedeutung“ werden ließ64. Auch die Pflege und Blüte des „Pegnesischen Blumenordens“ und der ersten deutschen Malerakademie sind Zeugnisse für die kulturelle Regsamkeit in der Reichsstadt65. Von geistiger Rückständigkeit kann also für das 18. Jahrhundert nicht die Rede sein. Dies gilt vor allem für Nürnbergs Universität in Altdorf, neben Straßburg und Basel die einzige evangelische reichsstädtische Universität, die Ausdruck echten Bürgertums und weitsichtigen Kaufmannsgeistes war. 1575 als Aka­ demie errichtet und 1622 zur vollen Universität erhoben, zeichnete sich Alt­ dorf durch eine besondere Pflege der Naturwissenschaften und der Medizin aus. So wurden ein Laboratorium Chemicum, eine Sternwarte, ein Anatomi­ sches Theater und ein weitberühmter Botanischer Garten eingerichtet. Die Altdorfer Mediziner schlossen sich an die naturwissenschaftliche Richtung an, die wissenschaftliche Fortschritte in der Beobachtung der Natur sah, bei 62 Vgl. Peter Fleischmann, Das Bauhandwerk in Nürnberg vom 14. bis zum 18. Jahrhundert (= Nürnberger Werkstücke 38), Nürnberg 1985, S. 228. 63 Vgl. hierzu Andreas Kraus, Bürgerlicher Geist und Wissenschaft. Wissenschaftliches Leben im Zeitalter des Barock und der Aufklärung in Augsburg, Regensburg und Nürnberg. In: Archiv für Kulturgeschichte 49 (1967), S. 340-390. 64 Artur Kreiner, Nürnbergs und Altdorfs Anteil an der Kaiserl. Leopold-Carolinischen Deut­ schen Akademie der Naturforscher, in: Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg 37 (1940), S. 309-322. 65 Georg Schrötter, Die Nürnberger Malerakademie und Zeichenschule im Zusammenhang mit dem Kunstleben der Reichsstadt von der Mitte des 17. Jahrhunderts bis 1821, Würzburg 1908.

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Heilpflanzen oder in der Zoologie, bei physikalischen Experimenten oder bei Operationen an Leichen im Anatomischen Theater. So wirkten in Altdorf im 18. Jahrhundert unter anderen Lorenz Heister, der Begründer der wissen­ schaftlichen Chirurgie in Deutschland, und Moritz Hofmann, der Begründer des chemischen Laboratoriums66. Berühmt waren im 18. Jahrhundert auch Altdorfs Mathematiker, voran Johann Praetorius und Johann Christoph Sturm, der das Experiment als Bestandteil des akademischen Unterrichts einführte und der sogar zum Mit­ glied der Royal Society in London berufen wurde67. Auch die Juristen besaßen internationalen Ruf und hatten im 18. Jahrhun­ dert mit Johann Christian Siebenkees, Julius Friedrich Malblanc und Johann Heumann von Teutschenbrunn mit die hervorragendsten deutschen Gelehrten der Zeit. Die humanistische Tradition wurde von den Historikern gepflegt, unter denen Johann David Köhler und Johann Christoph Gatterer hervorragen, die später in Göttingen zu hohem Ruhm gelangten. Der letzte bedeutende Histo­ riker war Georg Andreas Will, der eine Geschichte Altdorfs schrieb und ein „Nürnbergisches Gelehrten-Lexicon“ verfaßte68. Die Theologie in Altdorf wurde anfangs von Vertretern der Orthodoxie bestimmt und später von den Neologen, unter denen Johann Christoph Döderlein und Johann August Dietelmeier herausragten, der das erste Theolo­ gische Semimar in Deutschland begründete69. Daß Nürnberg bis 1809 seine Universität aufrecht erhalten konnte, wenn auch in den letzten Jahrzehnten nur mit großer Mühe, zeugt von hohem reichsstädtischem Selbstgefühl und von unbeugsamem Willen zu eigener kul­ tureller Repräsentation. „Kein Beispiel zeigt besser die Bedeutung, die der Bürger des wissenschaftlichen Zeitalters der Wissenschaft zumaß, als diese allein von der Stadt getragene Universität“70. Denn die Universität in Altdorf lebte nicht im gelehrten Elfenbeinturm, sondern sie war aufs engste mit der Reichsstadt verbunden. Sie war nicht nur die Erziehungsstätte für die vielen Prediger, Schulmänner, Mediziner und Juristen, die Nürnberg und sein um­ fangreiches Territorium benötigten, alle Professoren waren zugleich auch als 66 Vgl. Andreas Kraus, Bürgerlicher Geist und Wissenschaft (wie Anm. 63); Ders., Der Beitrag Frankens zur Entwicklung der Wissenschaften (1550—1800). Die Reichsstadt Nürnberg mit Altdorf. In: Handbuch der bayerischen Geschichte, hrsg. von Max Spindler, Bd. III, 1, Mün­ chen 1971, S. 603-615. 67 Christoph von Imhoff (Hrsg.), Berühmte Nürnberger, Nürnberg 1984, S. 197 f. 68 Friedrich Bock, Georg Andreas Will. Ein Lebensbild aus der Spätzeit der Universität Altdorf, in: Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg 41 (1950), S. 401—427. 69 Klaus Leder, Universität Altdorf. Zur Theologie der Aufklärung in Franken. Die Theologische Fakultät in Altdorf 1750—1809. Nürnberg 1965. 70 Andreas Kraus, Bürgerlicher Geist und Wissenschaft (wie Anm. 63) S. 353.

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Pfarrer, Ratskonsulenten oder Stadtärzte tätig. Theorie und Praxis waren also stets verbunden, wie auch die Gelehrtengesellschaften voll in die reichsstädti­ sche Gesellschaft integriert waren. Rund 20 000 Studenten haben die Universität Altdorf in der Zeit zwischen 1622 und 1809 besucht, darunter mehr als 5000 Söhne von Nürnberger Bür­ gern71. Dadurch gab es eine breitgestreute Bildung von hohem Niveau, die eine patrizisch-bürgerliche Kultur in der Reichsstadt entstehen ließ, die sich deut­ lich von dem geistigen Leben an den Fürstenhöfen des 18. Jahrhunderts abhob. Ein Ausweis für das hohe geistige und kulturelle Niveau in Nürnberg sind auch die reichen Bücherschätze. Im Jahre 1620 zählte die Stadtbibliothek bereits rund 10 000 Bände, die durch Schenkungen und Ankäufe laufend ergänzt wurden, wie z. B. 1711 durch eine reiche Manuskriptensammlung, die für 900 fl. aus einem Nachlaß erworben wurde, oder 1766 durch die Bibliothek des Predigers Solger von St. Sebald, die der Rat um 15 000 fl. kaufte72. Neben der Stadtbibliothek, der ältesten Deutschlands, gab es in Nürnberg aber noch 25 Privatbibliotheken oder Sammlungen, die Besuchern von Rang gerne gezeigt wurden. So berichtet der junge Theologe und Gymnasiallehrer Heinrich Sander in der „Beschreibung seiner Reisen" von der Trew’schen Bibliothek in Altdorf: „Bis zu seinem Tode sammelte er alle Schriften, die in die Arzneiwissenschaft, Naturgeschichte, Physik, Mathematik einschlagen und alle Journale und akademische Schriften. Nach seinem Tode ward alles aus Nürnberg auf das Kollegiengebäude hierher (nach Altdorf) gebracht, aber in der gröbsten Unordnung und so ists noch"73. Der Herausgeber der „Beschrei­ bung", nämlich Sanders Vater Nikolaus Christian, fügte aber korrigierend hinzu: „Dieser Unordnung ist ohne Zweifel nach der Zeit, da der Verfasser hier war, abgeholfen worden, denn Herr Nicolai fand 1781 diese beinahe 24 000 Bände starke Bibliothek in 4 geräumigen Zimmern aufgestellt, und in deren Mitte einen Saal für die Naturalien, Präparate etc."74 Am ausführlichsten aber berichtet Heinrich Sander von seinem Besuch bei Georg Wolfgang Panzer, dem „Schaffer an der Kirche zu St. Sebald. Er ist ein gelehrter Mann, wie er durch verschiedene Übersetzungen, auch eigene Schriften bewiesen hat, besitzt auch eine herrliche Sammlung von älteren, sel­ tenen, zur Litterärgeschichte gehörigen Büchern, und von alten Bibelaus­ gaben"75. Christoph Gottlieb von Murr verweist in seiner „Beschreibung der vornehmsten Merkwürdigkeiten in Nürnberg und auf der hohen Schule zu 71 Hans Liermann, Geistiges und gelehrtes Leben im Zeitalter des Barock und der Aufklärung, in: Nürnberg. Geschichte einer europäischen Stadt. Hrsg, von Gerhard Pfeiffer, München 1971, S. 335. 72 Karlheinz Goldmann, Geschichte der Stadtbibliothek Nürnberg, Nürnberg 1957, S. 1-131. 73 Heinrich Sander, Beschreibung seiner Reisen, Th. 2, S. 77. 74 Ebda, S. 81. 75 Ebda, S. 72.

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Altdorf“, erschienen in Nürnberg 1778, vor allem auf die Sammlung von Hofrat Johann Georg Friedrich von Hagen: „Die Bibliothek beläuft sich auf 15 000 Bände. Die historischen, genealogischen, antiquarischen Fächer sind die vollständigsten. Am meisten ist aber das physikalische, in welchem die neuen kostbaren Werke, so viel man sie hier bekommen kann, beisammen sind“76. Die Besitzer dieser Privatbibliotheken waren von Beruf Universitätsprofes­ soren, Ärzte, Theologen und Juristen. Die umfangreichste Sammlung in Nürn­ berg war die Bibliothek des Arztes und Naturforschers Dr. Christoph Jakob Trew, die 24 000 Bände umfaßte, die er testamentarisch der Universität Alt­ dorf vermacht hatte. Die Sammlungen von Hagen und Haller zählten je rund 15 000 Titel und die Bibliothek des Theologen Feuerlein umfaßte 12 500 Bände77. Bekannt waren auch die Bibliothek des Altdorfer Professors Schwarz, die 500 Inkunabeln und 12 000 Drucke zählte, sowie die Imhoff-Ebnersche Bibliothek, die einen Bestand von 349 Handschriften und 20 000 Bände um­ faßte78. Seit der Zeit Albrecht Dürers gab es im Rathaus auch eine städtische Ge­ mäldegalerie, die im 18. Jahrhundert über 300 Werke umfaßte. Noch bekannter aber waren die 15 Privatsammlungen in der Stadt, von denen die Imhoff’sche Kunstkammer und das Praun’sche Kunst-Kabinett die wertvoll­ sten Kunstwerke enthielten79. Nürnbergs vorbildhaftes Schulwesen mit den vier traditionsreichen Latein­ schulen, den Armenschulen und den vielen deutschen Schreib- und Rechen­ meistern sowie der enge Kontakt mit der reichsstädtischen Universität Altdorf ließen auch den neuen Typus des wissenschaftlich gebildeten Handwerkers und Kunsthandwerkers entstehen, der auf theoretischer Grundlage seine prak­ tische Tätigkeit zu hohen Ergebnissen steigerte80. Vor allem aber brachte die enge Verbindung mit der Universität in der Reichsstadt den Typ des gelehrten Künstlers hervor, etwa mit den vielen her­ vorragenden Kupferstechern, wie Georg Christoph Eimmart und Johann

76 S. 451 und 512. 77 Fridolin Dressier, Fränkische Privatbibliotheken im Spiegel von Reiseberichten des 18. Jahr­ hunderts, in: Festschrift Otto Schäfer zum 75. Geburtstag, Stuttgart 1987, S. 495—514. 78 Christoph Gottlieb von Murr, Beschreibung der vornehmsten Merkwürdigkeiten in des Fl. R. Reichs freyen Stadt Nürnberg und auf der hohen Schule zu Altdorf, Nürnberg 1778. 79 Gerhard Weber, Das Praun’sche Kunst-Kabinett, in: Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg 70 (1983), S. 125 — 195. 80 Rudolf Endres, Ausbildung und gesellschaftliche Stellung der Schreib- und Rechenmeister in den fränkischen Reichsstädten, in: Schreiber, Magister, Lehrer, hrsg. von Max Liedtke, Bad Heilbrunn 1988; Ders., Die Bedeutung des lateinischen und deutschen Schulwesens für die Ent­ wicklung der fränkischen Reichsstädte des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit, in: Schul­ geschichte im Zusammenhang der Kulturentwicklung, hrsg. von Lenz Kriss-Rettenbeck und Max Liedtke, Bad Heilbrunn 1983, S. 144-166.

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Adam Delsenbach81, sowie insbesondere mit den Kartographen. Die tradi­ tionsreiche Nürnberger Kartographie erreichte mit der Homann’schen Offizin im 18. Jahrhundert unbestritten europäische Geltung. Für sie arbeitete u. a. Georg Moritz Lowitz, der später als Professor für Mathematik nach Göttingen berufen wurde82. Auch die Buchgraphik und der illustrierte wissenschaftliche Buchdruck besaßen in Nürnberg im 18. Jahrhundert hohen Rang. Die vielen Pflanzen- und Gartenbücher, die Werke über Raupen, Schmetterlinge, Käfer, Vögel, Mineralien usw., die wissenschaftliche Akribie und graphischen Geschmack zu verbinden wußten, gelten als die schönsten ihrer Gattung83. Mit Nürnberger Musikinstrumenten wurde ganz Europa versorgt, vor allem mit Trompeten, Posaunen und Klarinetten. Wichtig war aber auch weiterhin die Herstellung wissenschaftlicher Instrumente. So fertigten die Nürnberger als Massenware etwa Sonnenuhren mit Kompaß im Taschenformat oder andere astronomische Instrumente sowie vor allem medizinsche Instrumente84. Im Jahre 1697 schrieb der Altdorfer Professor Johann Christoph Wagenseil: „Nürnberg ist die Werkstatt und Schule für alle mechanischen Künste“85 — und dieser Ruf blieb der Reichsstadt bis zum Ende des Alten Reiches erhalten. Selbst Goethe noch bewunderte auf seinen Gängen durch die Stadt 1797 das hohe Niveau von Nürnbergs wissenschaftlich-künstlerischen Gewerben86. Der gelehrte Arzt und Briefesammler Dr. Christoph Jakob Trew schließlich bezeichnete seine Vaterstadt voll Stolz als „Vera Musis amica et nutrix“, als wahre Freundin und Nährmutter der Wissenschaften87. Nürnberg befand sich also — um abschließend noch einmal die wichtigsten Punkte zusammenzufassen — keineswegs seit dem 30jährigen Krieg in einem „Zustand des andauernden Verfalls“ und des „unaufhaltsamen Niedergangs“, versank nicht „in Lethargie und Vergessenheit“, auch wenn man im „Wind­ schatten der hohen Politik“ lebte88. Zwar waren die Finanzen der Stadt schwer zerrüttet, und das vor allem infolge der hohen Opfer für Kaiser und Reich, 81 Wilhelm Schwemmer, Johann Adam Delsenbach und sein Werk, in: Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg 52 (1963/64), S. 399-427. 82 Fritz Schnelbögl, Dokumente zur Nürnberger Kartographie (Beiträge zur Geschichte und Kultur der Stadt Nürnberg 10), Nürnberg 1966. 83 Siehe Elisabeth Rücker, Maria Sibylle Merian, in: Fränkische Lebensbilder, hrsg. von Gerhard Pfeiffer, Bd. 1, Würzburg 1967, S. 221-254. 84 Barock in Nürnberg 1600—1750. Anzeiger des Germanischen Nationalmuseums. Nürnberg 1962. 85 Zitat bei Hans Liermann, Geistiges und gelehrtes Leben im Zeitalter des Barock und der Auf­ klärung, in: Nürnberg. Geschichte einer europäischen Stadt, S. 336. 86 Fritz Schnelbögl, Goethe und Nürnberg, in: Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg 65 (1978), S. 311-343. 87 Zitat bei Hans Liermann, Geistiges und gelehrtes Leben, S. 338. 88 So z. B. Guido Hable, Die Aufklärung in Nürnberg, in: Die Zeit der Aufklärung in Nürnberg 1780—1810 (Quellen zur Geschichte und Kultur der Stadt Nürnberg 6), Nürnberg 1966, S. 9.

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aber es gab im 18. Jahrhundert noch immer beträchtliche Vermögen in der Stadt, wie das reiche Stiftungswesen, das Mäzenatentum und die Kleider- und Luxusordnungen belegen, die sogar auf wachsenden Reichtum in allen Bevöl­ kerungsschichten hindeuten, zumindest bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts. Andererseits haben diese starren hierarchischen Sozialordnungen die Menta­ lität der reichsstädtischen Bürger tatsächlich etwas engstirnig und kleinkariert werden lassen. Auch von „verächtlicher Stille“ kann nicht die Rede sein, denn die politi­ schen und sozialen Veränderungen und Auseinandersetzungen in der Stadt gipfelten am Ende des 18. Jahrhunderts in einem offenen Verfassungskampf, in dem die Patrizier ihr bisheriges Herrschaftsmonopol verloren. Als die aktivste Gruppe erwiesen sich in dem langjährigen Verfassungsstreit die reichen Groß­ kaufleute des Handelsvorstandes, die zugleich Mitglieder des Großen Rates waren. Als erstaunlich müssen Nürnbergs kulturelle Leistungen im 18. Jahrhundert gewürdigt werden — der Vorwurf des „kulturellen Niedergangs“ kann nicht aufrecht erhalten werden. Allerdings haben sich die Schwerpunkte im kultu­ rellen Leben von der Kunst hin zu den Naturwissenschaften und zur Technik verschoben, was aufs engste mit der Universität Altdorf verbunden ist. Dieser nüchterne, praktische Geist der Reichsstädter aber war die beste Vorausset­ zung für Nürnbergs steilen Aufstieg zur Industriestadt im 19. Jahrhundert.

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DER NÜRNBERGER UNTERNEHMER JULIUS TAFEL UND SEIN EISENWALZWERK* Von Gerhard Hirschmann In den folgenden Ausführungen soll der Unternehmer Julius Tafel (1827—1893) im Mittelpunkt stehen. Vor einem näheren Eingehen auf sein Leben und Werk ist ein Rückblick auf seine Abstammung notwendig. Die Familie Tafel war seit langer Zeit in Schwaben ansässig: Die väterlichen Vor­ fahren sind bis ins 16. Jahrhundert zurück in Rosenfeld und in Tübingen nach­ zuweisen. Der Vater Julius Tafels — Carl Christian Tafel — wurde 1785 als Sohn des Pfarrers Johann Christian Tafel in Wüstenrot (Kr. Heilbronn) geboren. Er besuchte die Schule in Murrhardt und schlug dann eine Beamten­ laufbahn im neuen Königreich Württemberg (seit 1806) ein. Nach Anstel­ lungen in Eßlingen und Ulm stieg er zum Hofdomänenrat und Hofkassier auf. Mit der Verleihung des Kronenordens war für ihn der persönliche Adel ver­ bunden. Der kgl. Rat zählte damit zur Oberschicht und hatte mit seiner großen Familie eine Wohnung im zweiten Stock des Alten Schlosses in Stutt­ gart inne. Aus der Ehe, die der königliche Beamte 1811 in Ulm mit der Tochter des ebenfalls persönlich geadelten Prälaten Christoph von Schmid geschlossen hatte, gingen zwischen 1812 und 1831 zehn Kinder, sechs Söhne und vier Töchter, hervor. 1854 starb Vater Tafel, 69 Jahre alt. Nicht unerwähnt soll bleiben daß seine Schwester Johanna in die bekannte württembergische, seit 1916 geadelte Familie Weizsäcker eingeheiratet hat. Die Familie des Hofkassiers wurde von schweren Schicksalsschlägen betroffen. Im Alter von 22 Jahren starb der älteste Sohn Wilhelm, der Theo­ logie studiert hatte, 1834 eines gewaltsamen Todes. Ein Jahr später wurde der dritte Sohn Eugen, eben zum Offizier ernannt, in Ludwigsburg ein Opfer des Typhus. Diese schweren Verluste verschmerzte die Mutter nicht. Noch im gleichen Jahr starb sie im Alter von nur 46 Jahren an den Folgen eines Schlag­ anfalls. Julius, das neunte der zehn Kinder, geboren am 26. November 1827 in Stutt­ gart, war damals erst acht Jahre alt. Seine älteste Schwester, noch nicht 18 Jahre, stand dem Vater in der Führung des Haushaltes und der Erziehung der Geschwister bei. Letzterer von Natur ernst, hat sich von diesen Schicksals­ schlägen auch nie mehr ganz erholt. Er wird geschildert als „begabt, rastlos * Dem folgenden Text liegt das überarbeitete und ergänzte Manuskript eines Vortrages zugrunde, den ich am 4. Februar 1986 vor dem Verein für Geschichte der Stadt Nürnberg gehalten habe. Schon vorher, am 21. Juli 1984, sprach ich erstmals über dieses Thema, sehr stark familienge­ schichtlich bezogen, bei einer Tagung des Familienverbandes Tafel in Fürth-Dambach. Der damalige Vortrag ist abgedruckt in: „Tafelsche Familiennachrichten“ 12. Jg. Nr. 20, August 1986.

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fleißig, sehr pflichtgetreu, willens und fähig etwas zu leisten im Leben; jedoch empfindlich, heftig bis zum Jähzorn, dabei viel zu stolz, um einzugestehen — wenigstens sich selbst! —, daß er Liebe vermißte.“ Alles Eigenschaften, die sich — der Familientradition zufolge — beim Sohn Julius sehr deutlich wiederer­ kennen ließen. Seit 1837 besuchte dieser das Stuttgarter Gymnasium. Er war ein vorzüglicher Schüler. Vom Herbst 1841 bis Ostern 1846 setzte er seine Stu­ dien an der Königlichen Polytechnischen Schule in Stuttgart fort, „um sich für die Naturwissenschaften, namentlich für die Chemie, auszubilden“. Wie es in dem Zeugnis vom 16. April 1846 heißt, hat er das „im Durchschnitt mit gutem Erfolge bewerkstelligt“. Im Sommersemester 1846 und im Wintersemester 1846/47 studierte er dann an der Universität Tübingen, wo er zum Kreise der­ jenigen Studenten zählte, die die Entwicklung der Landsmannschaft Ghibellinia in ihrer ersten Phase seit der Gründung 1845 entscheidend geprägt haben. Während des Studienjahres in Tübingen war Tafel als stud. phil. einge­ schrieben und hat Vorlesungen in folgenden Fächern belegt: Geschichte der Philosophie, Botanik, Geographie, Mineralogie, Petrefactenkunde, Höhere Mathematik, Physik und Astronomie. Außerdem nahm er an chemischen Übungen teil. Nach dem Abschluß seiner Studien trat Julius Tafel 1847 in den Staatsdienst, und zwar als Praktikant beim königlichen Hüttenamt Königsbronn (Kr. Hei­ denheim/Brenz). Dort befanden sich schon seit dem Mittelalter Eisenwerke, die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu großer Blüte kamen. Über 1000 Arbeiter waren damals in Königsbronn beschäftigt. Im 19. Jahrhundert wurde das „Hüttenwerk“ zu einem reinen Gießereibetrieb. Der junge Praktikant lebte in Königsbronn unter sehr bescheidenen Verhält­ nissen. So berichtete er seiner Schwester Amalie in einem Brief, daß sein eigenes „gemütliches“ Zimmer außer Tisch, Stuhl und Bett nur seine Tabaks­ pfeife und eine Kaffeetasse enthalte. Ein weiterer Brief verrät etwas von seiner rigiden Lebensauffassung, wenn er schreibt: „Wenn jemand hochmütig oder unartig gegen Dich ist, so sei es zweimal!“. In Königsbronn lernte Tafel bei einer Tanzveranstaltung das Mädchen kennen, das seine Frau werden sollte: Bertha Kinzelbach, die Tochter des Hüttenwerks-Kassiers (heute würde man sagen: Finanzdirektors) August Kinzelbach, die damals erst 17 Jahre alt war (geb. 4. September 1831). Ihre Mutter Maria Speidel trug einen in Württem­ berg bekannten Familiennamen. Aus den schon erwähnten Briefen an die Schwester Amalie, die später bei ihrem Bruder Apotheker Carl Tafel in den USA lebte, gehen viele Einzelheiten über die rasch entflammte Liebe des jungen Paares hervor. Bald schon ver­ lobten sich die beiden. Doch erst am 4. September 1853, nach einem drei Jahre währenden Brautstand, heirateten sie. Julius Tafel war nun mit einem Jahresge­ halt von 600 Gulden fest angestellt worden. Wenig später wurde er an das kgl. Eisenwerk Wasseralfingen versetzt. Er erkannte jedoch damals schon, daß ihn 156

Abb. 1: Julius Tafel (1827-1893). Foto: Privatbesitz. Übrige Fotos: Centrum Industriekultur, Nürnberg.

Abb. 2: Verwaltungsgebäude, Äußere Sulzbacher Straße 60, erbaut 1922.

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Abb. 3a u. b: Zwei der Schlußsteine über den Fensterbogen im Erdgeschoß des Verwaltungs­ gebäudes (siehe Seite 166 f.). Auf dem rechten Schlußstein links das Signet des Architekten Hans Müller, rechts das Monogramm des Direktors Lambert Jessen.

Abb. 4: Blick auf die Fabrikationshallen.

Abb. 5: Neue Schraubenfabrik, im Hintergrund, das Verwaltungsgebäude von Süden, 1925.

Abb. 6: Arbeiter im Walzwerk.

Abb. 7: Das Tafelwerk, Gesamtansicht „von oben“, um 1927.

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eine berufliche Laufbahn als württembergischer Beamter auf die Dauer nicht befriedigen würde. Er wünschte sich eine freiere, verantwortungsvollere Tätig­ keit. So kam dem 29jährigen das Angebot der Stelle eines Direktors in einem der v. Roll’schen Eisenwerke in der Schweiz nicht unwillkommen. Diese 1823 gegründete Aktiengesellschaft besaß mehrere Werke; das abgelegenste von ihnen war das in Choindez im Kanton Bern (seit 1978 im neugebildeten Kanton Jura) in der Nähe der Stadt Delsberg (Delemont). Am gleichen Tage, an dem Tafel die neue Stelle in der französischen Schweiz antrat, am 1. Mai 1856, kam in Königsbronn schon das zweite Kind zur Welt. Sobald die Frau reisefähig war, zog sie mit dem zweijährigen und dem zweimonatigen Kind ihrem Manne nach und hielt ihren Einzug in das in großer Einsamkeit gelegene Direktorshaus, das nun sieben Jahre lang die Heimat der Familie bleiben sollte. Das Eingewöhnen in der Fremde fiel der jungen Frau nicht leicht. Im JuraGebirge gab es lange und harte Winter, das „welsche“ Wesen der Einwohner sagte ihr nicht zu. Dazu kamen Krankheiten des Ehemannes und der Kinder. So war es eine große Freude, als 1859 der Bruder Ernst Kinzelbach (1840—1892), als eine Art von Assistent des Direktors in das Werk eintrat. Eine besondere Erwähnung und Anerkennung verdient die Tatsache, daß Bertha Tafel in Choindez - und auch später — während 16 Jahren sechs ihrer neun Kinder so lange selbst unterrichtete, bis sie im Alter von 9—10 Jahren jeweils in die entsprechende Klasse einer öffentlichen Schule eintreten konnten. Dank der 1973 aus Anlaß des 150jährigen Firmenjubiläums erschienenen Geschichte der Ludwig von RolPschen Eisenwerke sind wir über das beruf­ liche Wirken Tafels verhältnismäßig gut unterrichtet. Wir erfahren daraus, daß von 1823 bis 1862 Direktor Josef Lack die v. Roll’schen Eisenwerke leitete. Während dieser Zeit nahm die Firma einen beträchtlichen Aufschwung. 1860 verlegte man den Schmiedebetrieb von Choindez nach Gerlafingen, um für die Ausdehnung der Gießerei Platz zu schaffen. Eine einschneidende Umstellung der v. Roll’schen Aktiengesellschaft brachten die Jahre 1862/63. In der Festschrift heißt es darüber, daß nach dem Ausscheiden Josef Lacks die Organisation stark verändert wurde. „Die Durch­ führung der notwendigen eingreifenden Umstellungen wurde in die Hände bewährter jüngerer Kräfte gelegt“. „Die neuen Direktoren — der aus Solo­ thurn stammende Xaver Fiala für die kaufmännischen und administrativen und der von der Leitung des Werkes Choindez und des ganzen Bergbaues entbun­ dene Julius Tafel für die technischen Aufgaben — lösten das Problem, bei dem es um Sein oder Nichtsein des Unternehmens ging, mit Hilfe des einsichtigen und großzügigen Verwaltungsrates in erfolgreicher Weise. Die oberste Verant­ wortung lag bei dem erst 35jährigen Tafel. Mit Entschlossenheit und Weitblick unternahm er zunächst die dringlichsten personellen Neubesetzungen. Für die technische Leitung der verschiedenen Werke holte er erfahrene Fachleute aus der deutschen Eisenindustrie und dem Bergbau.“ Tafel hatte damit in verhält157

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nismäßig jungen Jahren eine selbständige Position erreicht, in der er viel leisten und seine außerordentliche Arbeitskraft voll einsetzen konnte. Für die Familie brachte diese betriebliche Neuorganisation den Umzug nach Gerlafingen und damit ein Ende der Einsamkeit in der Fremde mit sich. Tafels Jahresgehalt betrug damals 8000 Franken, hinzu kam ein, allerdings nicht besonders hoher Gewinnanteil. Außerdem standen ihm eine Villa mit Garten als Direktoren­ wohnung, sowie Wagen und Pferde zur Verfügung. Es erwies sich als notwendig, daß in Gerlafingen ein umfangreiches Erneu­ erungs- und Bauprogramm durchgeführt wurde. Davon sei hier nur erwähnt, daß Tafel, als er sich in Belgien umsah, mit dem Plan für ein neues Blechwalz­ werk nach Hause kam, das dann 1864 installiert wurde. Im gleichen Jahr wurden größere Umbauten im Hammerwerk durchgeführt, ein zweiter Dampfhammer aufgestellt und ein Eisenmagazin errichtet. 1869 konnte Tafel erneut an Erweiterungen herangehen, die der Aufbereitung und Verarbeitung des Alteisens dienten. Dabei handelte es sich um Arbeiten, die wenig später im Mittelpunkt von Tafels Nürnberger Unternehmen stehen sollten. In Gerlafingen fehlte es dem jungen Direktor und seiner Frau auch nicht an einem Bekanntenkreis und häufigen Gästen aus der Verwandtschaft. Über­ schattet wurde das Leben der Familie — mittlerweile waren vier Kinder geboren worden — durch längere Erkrankungen der Mutter. Im Jahre 1868 konnte das Ehepaar im Anschluß an eine Geschäftsreise des Vaters nach Eng­ land einen sechstägigen Aufenthalt in Paris einplanen, für beide Ehepartner ein nachhaltiges Erlebnis! Der deutsch-französische Krieg von 1870/71 wurde in der Familie Tafel mit großer Anteilnahme verfolgt. Die patriotische, deutsch­ nationale Gesinnung des Ehepaares war der Anlaß zu einem Friedensfest, das zusammen mit mehreren bekannten Familien in der Direktorenvilla gefeiert wurde. Zu Beginn des Jahres 1875 beantragte Tafel bei der Generalversammlung der AG die Bewilligung eines Kredites von 150 000 Franken für den Bau eines neuen Hochofens, der doppelt so groß sein sollte wie der bisherige. In der Firmen-Festschrift heißt es an dieser Stelle: „Der Beschluß [dazu] war gefaßt. Um so größer war die Überraschung, als der erfolgreiche Direktor am Tage darauf seinen Rücktritt einreichte. Tafel gab an, die Arbeitslast sei ihm zu groß geworden. Er ließ aber auch durchblicken, daß seine Beziehungen zum Ver­ waltungsrat nicht die besten waren.“ Kurz nach dem „brüsken Rücktritt“ erfuhr man, Tafel habe in Nürnberg ein eigenes Unternehmen gegründet. Trotz dieser kritischen Bemerkung fährt der Text — sicher mit Recht — fort: „Der initiative Deutsche hat unbestreitbar den Schritt zum modernen Industrieunternehmen vollzogen. In einem Jahrzehnt war die Produktion von Gußeisen fast vervierfacht, die von Handelseisen und Blech mehr als verdrei­ facht worden. Von 1,4 Millionen Franken im Jahre 1863 war das Aktienkapital 1872 auf 2 Millionen erhöht worden.“ 158

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Tafels Tochter bemerkt in ihren Aufzeichnungen zu den Vorgängen des Jahres 1875, ihr Vater habe bereits seit 1871 immer mehr Unannehmlichkeiten mit den Verwaltungsräten der AG gehabt. Nach dem deutsch-französischen Krieg sei die Stimmung in der Schweiz nicht sehr deutschfreundlich gewesen. Deshalb habe sich Tafel entschlossen, seinen im Herbst 1875 auslaufenden Vertrag nicht mehr zu erneuern. Für einen 48jährigen Mann mit nunmehr acht Kindern war es fürwahr kein leichter Entschluß, eine sichere berufliche Posi­ tion aufzugeben, um ein eigenes industrielles Unternehmen zu begründen. An dieser Stelle muß ich in meinem Bericht über die Geschichte der Familie innehalten und einen Blick auf die technisch-industrielle Entwicklung in Nürnberg werfen, da diese von nun an Tafels Lebensweg maßgeblich beein­ flußt hat. Mit der Eröffnung der ersten deutschen Eisenbahn von Nürnberg nach Fürth hat 1835 das Eisenbahnzeitalter auch in Deutschland seinen Anfang genommen. In rascher Folge entstanden seitdem allerorten Eisenbahnlinien, die der Industrialisierung einen mächtigen Auftrieb verschafften. Die Nach­ frage nach dem Rohstoff Eisen für den Bau von Lokomotiven, Waggons, für Schienen und Brücken stieg steil nach oben. Die bestehenden Eisenwerke erlebten einen kräftigen Aufschwung. Maschinenfabriken entstanden in rascher Folge. Bald wurde Nürnberg zu einem Schwerpunkt dieser Entwick­ lung. Schon 1825 hatte hier Johann Wilhelm Späth mit einer Maschinenpro­ duktion begonnen. Sie wurde wenig später von dem Unternehmen überflügelt, das der 1778 in Zella St. Blasii (seit 1919 Zella-Mehlis) in Thüringen geborene Johann Friedrich Klett in der Nürnberger Vorstadt Wöhrd gründete. Klett war 20jährig in die damalige Reichsstadt zugewandert. Frühzeitig hat er die Chancen der neuen Entwicklung erkannt und schloß 1841 mit zwei englischen Technikern James Earnshaw und John Duncan einen Vertrag, durch den er an die beiden sein in den Gärten bei Wöhrd gelegenes Anwesen zur Errichtung einer Maschinenfabrik mit Eisengießerei verpachtete. Am 4. Januar 1842 erhielt Klett die Konzession zur Errichtung der geplanten Fabrik unter der Auflage, zur Heizung kein Holz, sondern nur Kohlen zu verwenden. Nun trat der rührige Kaufmann selbst als Unternehmer auf und brachte sein Garten­ grundstück in eine Firma Klett & Co. ein. Das junge Unternehmen entwic­ kelte sich rasch und gut. Bereits im dritten Jahr erzielte man einen Reingewinn von 2000 Gulden. Zum Antrieb der Arbeitsmaschinen wurde eine Dampf­ maschine aufgestellt und 1843 beschäftigte die Fabrik schon 70 Arbeiter. Wenig später trat der junge und tatkräftige Theodor Cramer (geb. 1817 in Nürnberg) in die Firma ein. Nach dem plötzlichen Tod Kletts am 21. April 1847 heiratete Cramer Kletts einzige Tochter Emilie und wurde damit zum Erben des Klett’schen Besitzes. Das junge Paar nahm den Doppelnamen Cra­ mer-Klett an. Unter dem neuen Inhaber der Firma vollzog sich ein grundsätz­ licher Wandel. Die Fabrik erlebte einen beträchtlichen Aufschwung. Die beiden Engländer schieden aus der Firma aus und errichteten zusammen mit 159

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Leo Haas, dessen Sohn Robert wir später noch begegnen werden, in Wöhrd eine eigene Maschinenfabrik. Theodor Cramer-Klett führte das Unternehmen seit 1849 so weiter, wie es seiner Tatkraft, seinem Unternehmungsgeist und seinem kaufmännischen Geschick entsprach. Der Bau von Dampfmaschinen und Eisenbahnwagen, der Guß von Eisenteilen verschiedenster Art und von Eisenkonstruktionen, von denen der Glaspalast in München am berühmtesten wurde, waren die Schwerpunkte der Produktion. Im Jahre 1865 wurden die Eisengießerei und die Maschinenfabrik, zu der seit 1850 noch eine Drahtstiftenfabrik hinzugekommen war, in die „Maschi­ nenbau-Gesellschaft Nürnberg Klett & Comp.“ umgewandelt. Mit Jean Kempf und Ludwig Werder als Teilhaber hatte Cramer-Klett ausgezeichnete Berater zur Seite. Von entscheidender Bedeutung wurde nun, daß das Jahr 1875 den Nürn­ berger Großunternehmer und den zehn Jahre jüngeren, nach einer neuen Auf­ gabe suchenden Julius Tafel zusammenführte. Am liebsten wäre es Tafel gewesen, sein geplantes Werk in der schwäbischen Heimat zu errichten. Heil­ bronn und Cannstatt wurden als Standorte in Erwägung gezogen. Für Nürn­ berg sprachen dann aber gewichtige Gründe. Eine Zusammenarbeit mit der Firma Cramer-Klett versprach zwei große Vorteile: Tafel konnte aus dieser Fabrik Abfall-Eisen beziehen, das durch sein Schmelz- und Walzverfahren wieder zu brauchbarem Eisen verarbeitet wurde. Gleichzeitig konnte er in der Maschinenbaugesellschaft Nürnberg mit ihrer bedeutenden Waggonbauanstalt einen guten Abnehmer des in seinem geplanten Walzwerk gefertigten Stab­ eisens erwarten. Aus ähnlichen Gründen war dem Nürnberger Fabrikherrn Tafels Niederlassung willkommen, wußte er doch, daß er mit Julius Tafel einen kenntnisreichen und erfahrenen Fachmann der Eisenproduktion zum Nachbarn gewann, der im Werk Gerlafingen neben manchen Neuerungen am Hochofen und in der Gießerei auch das Schrottpaketierverfahren anstelle des Frischfeuers eingeführt hatte. Bei diesem Verfahren wurden die Teile des Schrotts in Pakete zusammen­ gefügt und diese dann nur soweit erhitzt, daß das Eisen teigig wurde und man die Masse formen und walzen konnte. Dagegen handelt es sich bei der Herstel­ lung von Flußeisen um ein Verfahren, bei dem das Eisen durch eine weit höhere Erhitzung flüssig gemacht wird, so daß man es gießen kann. Im Hinblick auf die gleichlaufende Interessenlage nahm Cramer-Klett Julius Tafels Anerbieten, in das von ihm geplante Unternehmen als stiller Teilhaber einzutreten, an. Zur Rentabilität sollte beitragen, daß bei den Rohstoffen in gleicher Weise wie auch bei den Fertigprodukten, die an die MaschinenbauGesellschaft gingen, die sonst sehr hohen Transportkosten wegfielen. Am 24. August 1875 wurde der Gesellschaftsvertrag zwischen Tafel und CramerKlett zur Gründung einer Kommanditgesellschaft abgeschlossen und am Jah­ resende nach Einzahlung des Gesellschaftskapitals durch die beiden Gesell160

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schafter notariell beglaubigt (30. Dezember, Biensfeld S. 172). Der Vertrag besagte, daß Julius Tafel „unter der Firma J. Tafel & Co. mit dem Sitze in Nürnberg auf einem von der Gesellschaft erworbenen Areal zu St. Jobst bei Nürnberg ein Etablissement zur Umwandlung von altem Eisen in Handels­ eisen errichtet. Herr von Cramer-Klett beteiligt sich an dieser Unternehmung als Commanditist nach Maßgabe des gegenwärtigen Vertrages“. Beide Partner hielten ein Baukapital von 220 000 Mark und ein Betriebskapital von 110 000 Mark für nötig. Die Einlage jedes Gesellschafters sollte 110 000 Mark betragen und war bis Ende 1875 einzuzahlen. Danach sollte Cramer-Klett der Firma noch einen Kredit bis zur Höhe von 140 000 Mark gegen 5 %ige Verzinsung zur Verfügung halten. Als persönlich haftender Gesellschafter hatte Tafel die Gesellschaft nach außen zu vertreten. Für die Geschäftsführung hatten die beiden Vertragspartner einen Betriebsplan festgesetzt. Wesentliche Ände­ rungen dieses Planes waren nur mit Zustimmung beider Kontrahenten zu­ lässig. Mit dem Bau des neuen Werkes wurde schon im Laufe des Jahres 1875 begonnen, und zwar auf einem Grundstück, das zum Haus Nr. 7 im damaligen Weiler Unterveilhof gehörte. Bei dem Anwesen handelte es sich um ein Wohn­ haus mit Stall und Stadel (6 Ar) und einen Acker am Mögeldorfer Weg (1 ha und 61,2 Ar). Diesen in der Steuergemeinde Schoppershof, damals noch nicht im Stadtgebiet, gelegenen Besitz hatte Cramer-Klett und seine Frau Emilie am 9. Juni 1875 durch ihren Bevollmächtigten, den Fabrikdirektor Friedrich Hensolt, um 18 000 Gulden erworben. Im Kaufvertrag war dem Verkäufer, dem Ökonomen- und Fabrikarbeiter-Ehepaar Johann Michael und Sibylla Philippina Strobel noch ein bis zum 1. Juli 1876 dauerndes kostenloses Wohnrecht eingeräumt worden. Erst nach diesem Zeitpunkt mußte das Wohnhaus den Neubauten weichen. Am 10. Februar 1876 ging dieser Gesamtbesitz um einen Kaufpreis von 29 140 Mark von Cramer-Klett an die Firma Tafel über. Auf dem Gelände entstanden nun bis 1877 die Neubauten: eine Pakethütte mit einer Blech- und zwei Schrottscheren, eine Reparaturwerkstätte, eine Walzen­ dreherei und eine Feinstraße mit 240 mm Walzendurchmesser, angetrieben durch eine Dampfmaschine von 120 PS mit Zahnradübersetzung, samt Schweißofen mit Abhitze- und einem Stochkessel. Dazu gehörten noch eine Kohlenschupfe, Remise und Portierhäuschen. 1882 wurde ein Anbau an das Fabrikgebäude errichtet. Sieben Jahre später, am 28. März 1883, erwarb die Kommanditgesellschaft von dem Kaufmann Samuel Ansbacher in Fürth als weiteren Bauplatz einen Acker „am Mögeldorfer Weg“ (PI. Nr. 355/a/b: 2,239 ha). Wenden wir uns nach dem Blick auf die Anfänge des Walzwerkes wieder der Familiengeschichte zu! Über den Umzug der Familie von Gerlafingen nach Nürnberg schreibt die Familienchronistin Maria Reihlen, geb. Tafel, sehr lapidar und gleichzeitig aussagekräftig: „Im Jahre 1856 war die Mutter, Bertha 161

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Tafel, mit einem zweijährigen und einem zwei Monate alten Kinde, einem arbeitsreichen und sorgenvollen Leben entgegen, in die Schweiz gezogen; jetzt (1875) nach fast zwanzig Jahren kehrte sie wieder mit einem zwei Jahre und einem zwei Monate alten Kind nach Deutschland zurück, zu einem Leben, einer Tätigkeit, die nicht weniger arbeitsreich und sorgenvoll werden sollte als die hinter ihr liegende“ (S. 22). Am 26. November 1875, dem 48. Geburtstag Julius Tafels, erwachte die Familie im Hotel „Zum Roten Roß“ am Weinmarkt in Nürnberg. Drei Tage später konnte sie ihre Wohnung in einem Haus mit Garten in der Sulzbacher Straße (Nr. 21) beziehen. Das Haus war schlecht gebaut und deshalb im Winter trotz allen Heizens nicht warm zu bekommen. Doch schon 1880 trat Tafel selbst als Bauherr auf. In der Sulzbacher Straße ließ er sich eine herrschaftliche Villa errichten, die ein Jahr später fertiggestellt wurde. Das Haus (Nr. 47) lag an der Nordseite der Straße, von der Innenstadt aus betrachtet, kurz vor dem heutigen Stresemannplatz. Der an der Rückseite des Anwesens gelegene Garten reichte bis zur Feldgasse. Die Einfahrt lag an der Westseite des Grundstücks, sie war mit einer Veranda überdeckt. 1889 wurde darauf noch ein Stockwerk aufgesetzt. Der Komplex fiel nach dem Aus­ scheiden Julius Tafels aus der Firma dem Schwiegersohn, Fabrikbesitzer Robert Haas, zu. 1928 befand er sich im Besitz seines Sohnes Eduard Haas. Im Zweiten Weltkrieg wurde die Villa völlig zerstört. Ihr Aussehen zeigen uns noch die Pläne des im Stadtarchiv erhaltenen Bauaktes. Schon drei Jahre nach dem Umzug in die fränkische Industriestadt heiratete die älteste Tochter Sophie 1878 den Ingenieur Robert Haas. Sein Vater Leo Haas war auch Ingenieur und hatte, wie erwähnt, zusammen mit den bei Cramer-Klett ausgeschiedenen Engländern in Wöhrd die Maschinenfabrik Earnshaw gegründet. Als kleinerer Spezialbetrieb bestand sie bis zum Zweiten Weltkrieg in Wöhrd. Durch diese Heirat kam eine familiäre Verbindung zu Nürnberger Unternehmerkreisen zustande. Der aus der Ehe hervorgegangene Sohn Eduard Haas (1889—1969) war später als kaufmännischer Direktor in der Nürnberger Eisenwerk AG tätig. Problematisch entwickelte sich das Verhältnis zwischen Julius Tafel und seinem in die Firma eingetretenen Sohn Hermann (1857—1933). Vater und Sohn verstanden sich schlecht. Offenbar waren beide sehr eigenwillige Cha­ raktere. Negativ beeinflußt wurde das Verhältnis noch durch den Umstand, daß das Walzwerk sich in den ersten Jahren nach seiner Gründung nicht so gut entwickelte, wie man gehofft hatte. Das Unternehmen hatte damals unter der allgemein schlechten Lage der Eisenindustrie zu leiden. Der schwindelerwekkenden Hochkonjunktur der deutschen Wirtschaft nach dem Frankfurter Frieden von 1871 war fünf Jahre später ein heftiger Rückschlag gefolgt. Die Eisenpreise fielen fast um die Hälfte, die Umsätze waren gering, Gewinne wurden nicht erzielt. Gerade für neu gegründete Unternehmen waren es Jahre 162

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schwerer Sorge. Hinzu kam, daß die Schrottverarbeitung anfangs einige Schwierigkeiten bereitete, weil dafür besonders ausgebildete Schweißer und Walzer fehlten. 1878 warb man deshalb französische Facharbeiter an, die aber 1887 nach einem schweren Zusammenstoß mit der deutschen Belegschaft ent­ lassen werden mußten. Gleichzeitiger Hauptlieferant und -abnehmer des jungen Werkes war die Maschinenbau AG von Cramer-Klett. Für Julius Tafel bedeutete es in der damaligen Zeit eine große Hilfe, daß sein stiller Teilhaber Theodor von Cra­ mer-Klett - bis zu seinem Tode 1884 — nie ein Wort der Ungeduld oder des Vorwurfs gegen den verantwortlichen Gesellschafter äußerte, vielmehr ver­ trauensvoll zu ihm stand, ihn aufmunterte und ihm nahelegte, sich doch mehr zu entlasten. Nach diesen kritischen Jahren besserten sich seit 1879 die Betriebsergebnisse. Das Unternehmen begann mit Gewinn zu arbeiten. Dieser Aufschwung setzte sich bis zum Ersten Weltkrieg fort. Ein weiterer Sohn Wilhelm begann nach dem Abitur am Realgymnasium in Nürnberg sein Studium an der Technischen Hochschule in München. Schweren Herzens hatte er auf seinen Lieblingswunsch, Arzt zu werden, ver­ zichtet und sich der Maschinentechnik zugewandt, um möglichst bald für den Vater eine Stütze in der Firma zu werden, nachdem dessen Zusammenarbeit mit dem Sohn Hermann so schlecht funktionierte. Ein mehrmonatiges Volontariat absolvierte er zur Fortbildung 1892 im größten böhmischen Eisenwerk Witkowitz. Im Jahre 1890 kam es erneut zu schwerwiegenden Streitigkeiten Julius Tafels mit dem seit 1885 verheirateten Sohn Hermann. Diese familiären Schwierigkeiten ließen beim Seniorchef den Entschluß reifen, die Leitung der Firma abzugeben und sich nach Stuttgart als Altersruhesitz zurückzuziehen. Ein Jahr später wurde dieser Plan verwirklicht. Als Julius Tafel zum 1. Juli 1891 das Werk, das er aufgebaut hatte, seinen beiden Söhnen Hermann und Wilhelm übergab, lag hinter ihm eine Periode rastloser, erfolgreicher Arbeit für die finanzielle Kräftigung des Unterneh­ mens, für den gesicherten Absatz seiner Fabrikate, für die Heranbildung einer fachkundigen und leistungsfähigen Belegschaft und für die Verbesserung der technischen Anlagen. Tafel war hart und kompromißlos gegen sich selbst und forderte das Äußerste von der eigenen Person. So trat er aber auch anderen gegenüber auf. Wer sich nicht fügen wollte oder seinen Forderungen nicht ent­ sprach, mußte das Feld räumen. Das mußten speziell auch seine Söhne er­ fahren. Zusammen mit seiner von schwerer Krankheit heimgesuchten Frau übersie­ delte der ruhiger gewordene und milder gestimmte Unternehmer in die württembergische Landeshauptstadt. Dort kam es am 26. November 1891, dem Geburtstag Julius Tafels, zu einer Aussöhnung zwischen ihm und seinem Sohn Hermann. Allerdings war Tafel nur noch eine kurze Zeit des Ruhestandes ver­ gönnt. Nach einem Schlaganfall im August starb er am 24. Oktober 1893. Tafel 163

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zeichneten großer Fleiß, Pünktlichkeit und Schaffenskraft aus. Ähnliche For­ derungen stellte er an seine Söhne und die Belegschaft. Er verlangte hohe Lei­ stungen, hatte dafür aber auch Verständnis für die Belange der Arbeiter. In der christlichen Glaubenslehre fühlte er sich nicht heimisch, dazu war er ein zu freier Geist, den Lehren der Naturwissenschaften, vor allem Darwin, zu sehr verbunden. Von dieser Einstellung geprägt, hatte er bestimmt, daß er nach seinem Tod im Heidelberger Krematorium verbrannt werden sollte. Er verbat sich auch die Teilnahme eines Geistlichen an der Trauerfeier. Nur ein Ver­ wandter, Professor Müller, konnte am Sarge einen kurzen Rückblick geben auf das tätige Leben des Unternehmers. Unter der Leitung der beiden Söhne entwickelte sich das Werk weiterhin erfolgreich, wenn auch tiefgreifende technische Neuerungen in der Branche einen harten Konkurrenzkampf gerade in diesem Industriezweig herauf­ beschworen. Um ihn zu bestehen, kam es auf die Leistung jedes einzelnen Mitarbeiters nach Menge und Güte des Produktes an. Einer Quelle aus dem Jahre 1899 ist zu entnehmen, daß das Werk damals mit einer Dampfkraft von 600 PS arbei­ tete und jährlich ca. 15 000 Tonnen Stabeisen, Bandeisen, Fagoneisen und Kleineisenzeug lieferte. Die Zahl der Beschäftigten betrug 10 Beamte und 350 Arbeiter. Um mindestens einen Teil dieser Belegschaft stärker an die Firma zu binden, wurden 1900 auf einem Grundstück des „Marterackers“, das J. Tafel & Co. am 10. November 1899 von Th. v. Cramer-Klett junior in der Steuerge­ meinde Erlenstegen um 2300 Mark erwerben konnte, zwölf Wohnhäuser erbaut und an Arbeiter vermietet (ursprünglich Unterveilhof Nr. lla/b bis 15a/b und 17a/b, später: Weißer Weg und Walzwerkstraße). Mit der großen Eingemeindung von 1899 kam das gesamte Fabrikgelände zum Stadtgebiet Nürnberg. Schon 1886 hatte sich Hermann Tafel auf einem von den Vormün­ dern des jungen Th. v. Cramer-Klett am 16. Mai 1885 um 2500 Mark gekauften Grundstück in der Gemeinde Erlenstegen nach Plänen von Archi­ tekt Wilhelm Mayer eine Villa gebaut und einen Garten angelegt (ursprünglich Hs. Nr. 31 in Jobst, später: Äußere Sulzbacher Straße 88). Das Haus wurde im Zweiten Weltkrieg zerstört. Eine Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage gegenüber der Zeit der Gründung ergab sich aus der mehr und mehr um sich greifenden Verdrängung des von der Firma Tafel gefertigten Schweißeisens durch das billiger herzustel­ lende Flußeisen. Dadurch verlagerte sich die Anfertigung des Stabeisens in zunehmendem Maße in den Westen des damaligen Deutschen Reiches. Eine weitere Verschiebung für die wirtschaftlichen Grundlagen des Werkes bedeu­ tete die immer stärker werdende Ausbreitung der Martinsöfen. Sie brachte eine Verteuerung des Rohmaterials, des Schrotts, mit sich und verschlechterte die Sortierung. Ein dritter die Wirtschaftlichkeit der kleinen süddeutschen Eisen­ werke gefährdender Umstand war die Konkurrenz der wachsenden Eisen164

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Industrie in Italien und Österreich. So war der Zeitabschnitt ab 1891 gekenn­ zeichnet durch den Kampf gegen die Folgen dieser drei Vorgänge: 1. Einführung des Thomas-Flußeisens, 2. Herstellung von Eisen aus Schrott nach dem Martin-Verfahren, 3. Entzug des Produktionsmaterials durch die Nachbarländer. Durch eine verfeinerte Selbstkostenrechnung, durch die Herstellung von Qualitätsmarken und die Anfertigung von hochbezahlten Formprofilen gelang es dem Eisenwerk Tafel jedoch, sich in diesem Konkurrenzkampf zu be­ haupten. So erhielt die Firma auf der Zweiten Bayerischen Landesausstellung 1896 in Nürnberg „für vorzügliche Leistung in der Fabrikation von Fa$onEisen" eine Goldmedaille und auf der Dritten Landesausstellung in Nürnberg 1906 wurde das Werk erneut mit einer Goldmedaille ausgezeichnet. Zur Verbesserung des Betriebsergebnisses, zur Verbreiterung der Kapital­ basis und einer größeren Beweglichkeit der Teilhaber entschlossen sich die Brüder Tafel im Einvernehmen mit der Firma „Maschinenbau-Gesellschaft Nürnberg" im Jahre 1900 die Kommanditgesellschaft in eine Aktiengesell­ schaft umzuwandeln. Zum Abschluß des Gesellschaftsvertrages erschienen am 4. September 1900 vor dem Nürnberger Notar Merz als künftige Aktionäre: Die beiden Brüder Hermann und Wilhelm Tafel als persönlich haftende Teilhaber der Firma Tafel, der Fabrikbesitzer Theodor Frhr. von Cramer-Klett junior, der Fabrikdirektor Anton Rieppel, seit 1892 alleiniger Vorstand der Maschi­ nenbau AG Nürnberg und endlich der Fabrikbesitzer Robert Haas, Nürnberg. Die fünf Männer errichteten unter dem Firmennamen „Eisenwerk Nürn­ berg AG, vormals J. Tafel & Co." eine Aktiengesellschaft auf der Grundlage eines eigenen Statuts. Die Firma Tafel brachte in die Aktiengesellschaft sämt­ liche Realitäten im Werte von 298 000 Mark ein. Davon entfielen 215 000 Mark auf Grund und Boden und 83 000 Mark auf die Gebäude. Die sämtlichen Vorräte an Rohmaterialien, an fertigen und halbfertigen Waren, die Maschinen, Werkzeuge, der Fuhrpark, die Wechsel, Außenstände und Wert­ papiere wurden mit einem Wert von 1 027 126 Mark 25 Pfg. festgesetzt. Die Passiva der Firma Tafel betrugen dagegen 330 126 Mark 25 Pfg. Danach bezif­ ferten sich die Sacheinlagen auf einen reinen Wert von 995 000 Mark. Dazu zahlten die fünf Aktionäre noch je 1000 Mark, so daß das Gesellschaftskapital von 1 Million Mark voll eingebracht war. Nach dem Vertragsabschluß wurden in einer anschließenden Generalversammlung Theodor Frhr. v. Cramer-Klett, Hermann Tafel und Anton Rieppel zu Mitgliedern des Aufsichtsrates gewählt. Als Vorsitzender wurde Hermann Tafel, zu seinem Stellvertreter CramerKlett gewählt. Auf Wilhelm Tafel fiel die Wahl zum Vorstand der Aktien165

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gesellschaft. Zum Prokuristen wurde der in der Firma Tafel tätige Ingenieur Groß bestellt, der schon seit 1896 Prokura besaß. Seit der Gründung der Aktiengesellschaft im Jahre 1900 hat sich die Verbindung der Familie Tafel zum Werk immer mehr gelockert. Doch haben sich gerade aus dieser Zeit recht anschauliche Kindheitserinnerungen von Maria Haag, der Tochter Wilhelm Tafels, erhalten, die als Beilage am Schluß dieses Aufsatzes abgedruckt sind (S. 169 f.). In den folgenden Jahren wurden die Fabrikanlagen der fortschreitenden Entwicklung angepaßt. 1903 wurde die Feinstraße des Walzwerkes völlig umgebaut, 1909/10 neben der Kleineisenzeug-Werkstätte eine Schrauben­ fabrik errichtet. Drei Jahre später (1913) schied Direktor Wilhelm Tafel aus der Leitung des Unternehmens aus, da er ein akademisches Lehramt an der Tech­ nischen Hochschule Breslau übernahm. An seine Stelle trat Direktor Lambert Jessen, der in besonders schwieriger Zeit die Firma leitete, bis zu seinem plötz­ lichen Tod 1922. In den letzten Jahren vor dem Ersten Weltkrieg wurde der Versuch unter­ nommen, ein Filialwerk an Bayerns Nordostgrenze zu errichten. Es sollte in der Hauptsache Qualitätsmaterial für das mitteldeutsche und sächsische Indu­ striegebiet herstellen. In Stockheim in Oberfranken konnten dafür geeignete Grundflächen erworben werden. Die erste Baustufe war eben fertiggestellt und sollte dem Betrieb übergeben werden, als der Erste Weltkrieg ausbrach und das Vorhaben nicht weiterverfolgt werden konnte. Die Kriegsjahre brachten der Fabrik insgesamt große Rückschläge, zumal sie an Lieferungen für die Kriegs­ produktion nur in ganz geringem Maße beteiligt war. In der Folgezeit ver­ schaffte der Ankauf der Aktienmehrheit von 80 % durch die Gute-HoffnungsHütte in Oberhausen im Rheinland im Jahre 1919 dem Betrieb eine gesicherte Rohstoffbasis. Die finanzielle Grundlage wurde 1921 durch eine Kapitalerhö­ hung von 3 auf 4 Millionen Mark verbreitert. Nach dem Ende der Inflation erfolgte dann eine Umstellung auf 2 Millionen Rentenmark. An dieser Stelle sei daran erinnert, daß 1920 auch die MAN als Tochtergesellschaft an die GuteHoffnungs-Hütte angeschlossen wurde. Nach der Übernahme durch den genannten Konzern wurde die Anlage des Walzwerks völlig erneuert und die Schraubenfabrik entsprechend vergrößert. Die Firma wuchs dadurch zum größten Schweißeisenwerk Deutschlands und zu einer bedeutenden Produktionsstätte für die Herstellung von Oberbau- und Handelsschrauben heran. Im Jahre 1922 wurde in der Äußeren Sulzbacher Straße 60 ein neues, ansehnliches zweistöckiges Verwaltungsgebäude nach den Plänen von Architekt Hans Müller (1864—1951) erbaut. Das Portal des rustizierten Erdgeschosses flankieren zwei mächtige Säulen. Über dem Eingang prangt in Goldbuchstaben der Firmenname. Die Schlußsteine über den halb­ runden Fenstern des Parterres schmücken sechs Skulpturen mit männlichen Brustfiguren, die auf die Tätigkeit im Walzwerk Bezug nehmen: Bergmann, 166

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Der Nürnberger Unternehmer Julius Tafel

Gießer, Paketierer (?), Heizer (?), Kaufmann und Ingenieur. Müller war damals in Nürnberg vielseitig tätig. So stammen von ihm u. a. das Haus der Hypobank in der Königstraße 3 (1915), die Fabrikanlage Neumeyer in Schafhof (1918) und das Gebäude der Allgemeinen Ortskrankenkasse in der Karl-Grillenberger-Straße 1 (1925). Gleich nach der Fertigstellung des neuen Gebäudes im Januar 1923 verlegte die Gute-Hoffnungs-Hütte die Spitze ihrer Verwaltung in dieses Haus. Sie wich dadurch gerade noch rechtzeitig, vor der Besetzung des Ruhrgebietes durch französisches Militär, nach Nürnberg aus. Im gleichen Jahre errichtete die Gute-Hoffnungs-Hütte in der Deinstraße und in der Löhnerstraße weitere Werkswohnungen. Äußere Höhepunkte der Firmenentwicklung bildeten die 50-Jahrfeier 1925, zu der eine Festschrift erschien, und die 75-Jahrfeier, aus deren Anlaß die „Julius-Tafel-Unterstützungskasse“ zu Gunsten verdienter Belegschaftsmitglieder errichtet wurde. Damals, 1950, waren die Schäden des Zweiten Weltkrieges innerhalb des Werkes beseitigt. Zehn Jahre später betrug die Produktions-Kapazität des Walzwerkes etwa 100 000 Tonnen Jahreserzeu­ gung. An der Spitze des Aufsichtsrates stand damals Bergassessor a. D. Dr. Hermann Reusch von der Gute-Hoffnungs-Hütte Oberhausen. Sein Stell­ vertreter war Dr. Otto Meyer von der MAN in Augsburg. Zu den vier Mit­ gliedern des Aufsichtsrates zählte Wilhelm Tafel, Nürnberg. Vorstand des Werkes war Dipl.-Ing. Paul Jessen. Das Aktienkapital betrug 2 000 000 DM, die Dividende (1959/60) 10 %. Aus dem damaligen Produktionsprogramm sei u. a. genannt: Stabstahl, Betonstahl, Flach- und Winkeleisen, T- und U-Eisen, Bandeisen in Stäben und Schraubenfertigung. Es mag im ersten Augenblick überraschen, daß 15 Jahre später, 1975, die Stillegung des Werkes beschlossen wurde. Doch wäre eine erneute Moderni­ sierung erforderlich gewesen, die aber wegen der ungünstigen Rohstoffbasis als nicht sinnvoll beurteilt wurde. Versuche einer Kooperation mit anderen Firmen hatten sich als vergeblich erwiesen. So wurde am Freitag, dem 16. Mai 1975, in dem Eisenwerk, dessen Jahresumsatz am Ende bei 70 Millionen gelegen hatte, die letzte Schicht gefahren. Für die noch 550 Beschäftigten wurde ein Sozialplan ausgearbeitet; ein Teil von ihnen fand bei der MAN Arbeit. In der Sitzung vom 16. Juli 1980 beschloß der Stadtrat, das 92 000 qm große Grundstück durch die Nürnberger Messe- und Ausstellungs-AG ankaufen zu lassen, um die Fabrikhallen und das Freigelände 1985 zur Aus­ richtung der Eisenbahn-Jubiläumsausstellung zu nutzen, die dann auch hier stattgefunden hat. Im Anschluß daran ist geplant, auf einem Teil des Werksge­ ländes ein Museum „Industrie-Kultur“ zu errichten. Ein erster Teilabschnitt wird im Herbst 1988 eröffnet werden. Zum Ende sollen noch einige kurze Angaben über die Kinder Julius Tafels folgen. Aus ihrer Zahl seien hervorgehoben: Der älteste Sohn Eugen ist 1882 in die USA ausgewandert. Die Tochter Sophie (1856—1919) heiratete, wie schon 167

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erwähnt, Robert Haas. Ihr Sohn Eduard Haas (1889—1969) wurde kaufmänni­ scher Direktor im Eisenwerk Tafel. Von weiteren Kindern dieser Ehe stammen zahlreiche Nachkommen ab, um nur einige Namen zu nennen die Familien Manchot, Arnold, Meyerhöfer, Zwanziger, Koch, Haas und Mangelsdorf. Vom Sohn Hermann Tafel (1857—1933) war schon die Rede. Hier muß noch seiner beiden Söhne gedacht werden: Dr. Ing. Julius Tafel (1886—1934) brachte es bis zum Generaldirektor der Vereinigten Oberschlesischen Hütten­ werke AG in Gleiwitz/OS. Der jüngere Sohn Willy (Wilhelm) Tafel (1902—1965) absolvierte eine kaufmännische Lehre. Nach Studienjahren in der Schweiz und in den USA bekleidete er seit 1930 leitende Stellungen bei der Gute-Hoffnungs-Hütte, Abt. Düsseldorf. Anfang 1942 trat er in den Vorstand der Kabel- und Metallwerke Neumeyer AG Nürnberg ein, wo er zuletzt als Vorsitzender des Vorstandes wirkte. Der profilierte Unternehmer wurde 1952 zum Präsidenten der Industrie- und Handelskammer Nürnberg gewählt. Durch Willy Tafel kam wieder eine Verbindung der Familie mit der Stadt zustande, in der der Großvater seinen erfolgreichen Aufstieg erlebte. Wilhelm Tafel (1868 — 1931) endlich darf wohl als der erfolgreichste Sohn des Firmengründers betrachtet werden. Wie schon berichtet, übernahm er 1891 zusammen mit seinem Bruder Hermann das väterliche Werk. 1913 folgte er jedoch einem Ruf auf den Lehrstuhl für Hüttenmaschinen- und Walzwerks­ kunde an der Technischen Hochschule in Breslau. Während des Ersten Welt­ krieges war er im Kriegsamt in Berlin tätig, das letzte Kriegshalbjahr erlebte er als Handelsattache an der Bayerischen Gesandtschaft in Wien. Nach dem Ende des Krieges kehrte Tafel nach Breslau zurück und entfaltete an der Techni­ schen Hochschule eine vielseitige Tätigkeit. So schuf er dort die erste Walz­ werks-Versuchsanstalt Deutschlands. Seine Forschungen über die Walz­ technik und die daraus entspringende umfangreiche literarische Produktion zu diesem Thema fanden in der Fachwelt eine beachtliche Anerkennung. Seine Bücher wurden in fremde Sprachen übersetzt und die Technische Hochschule in München verlieh ihm die Ehrendoktorwürde. Sehr verschiedene Faktoren bestimmen im Laufe der Zeit die Schicksale einer Familie oder gar einer Firma. Diese Grundtatsache historischer Entwick­ lung läßt sich auch bei der Familie und Firma Tafel nachweisen. Ein beson­ deres Gewicht kommt dabei den Anlagen zu, die von Generation zu Genera­ tion vererbt werden. Bei dem im Mittelpunkt dieser Betrachtung stehenden Julius Tafel sind sehr gegensätzliche Eigenschaften vorhanden gewesen. Neben einem scharfen Intellekt, starker Willenskraft und großer geistiger Beweglich­ keit zeigten sich eine ausgeprägte Eigenwilligkeit und ein gewisser Starrsinn. Dadurch war der Umgang mit ihm, zumal für die Söhne, oft recht schwierig. Nächst dem Persönlichkeitsbild des Unternehmers sind die Mitarbeiter der Firma ins Auge zu fassen. Wie war es um die leitenden Angestellten bestellt, 168

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Der Nürnberger Unternehmer Julius Tafel

welches Verhältnis hatten sie zum Chef? Wurden sie mit glücklicher Hand ausgewählt und wurde ihnen genügend Freiheit für eigene Initiativen gelassen? Fanden sich genügend fähige Facharbeiter? Bestanden günstige soziale Bedin­ gungen? Neben den Menschen hat das politische Geschehen — in unserem Fall spe­ ziell das der beiden Weltkriege — und die großräumige Wirtschaftsentwick­ lung einen maßgeblichen Einfluß auf die Entscheidungen, von denen das Schicksal des Unternehmens bestimmt wurde. Endlich dürfen die geographi­ schen Voraussetzungen und die davon bestimmte Lage der Rohstoffbasen nicht übersehen werden. Gerade die geographische Lage hat in der Geschichte der Firma Tafel eine wichtige Rolle gespielt. Erst aus dem Zusammentreffen der verschiedenen genannten Faktoren und deren Gewichtung läßt sich der Ablauf eines Lebens sowie Aufstieg oder Nie­ dergang eines Wirtschaftsunternehmens erklären und verstehen. Wie unter­ schiedlich eine solche Entwicklung verlaufen kann, möge zum Schluß der Hin­ weis auf die Firma Thyssen zeigen. Um etwa die gleiche Zeit wie Tafel — im Jahre 1867 - gründete August Thyssen (1842—1926) in Mülheim an der Ruhr ein Eisenwalzwerk. Aus seiner Gründung wuchs ein bedeutender Konzern hervor, der bis heute einen wichtigen Wirtschaftsfaktor darstellt, während bei Tafel das Jahr 1975 den Schlußpunkt setzte.

Beilage Aufzeichnungen von Frau Maria Haag (geboren 1897), Tochter von Wilhelm Tafel, Niederschrift vom 1. Oktober 1986. Handschriftlich, erstmals abge­ druckt in „TafeTsche Familiennachrichten“, 13. Jg. Nr. 21, 1987, S. 338—341.

Wir alten Tafelstanten haben noch Erinnerung an die Zeit, wo es uns Kin­ dern erlaubt war, wann wir wollten, im Werk herumzulaufen. Am liebsten schauten wir dem Walzen auf der Feinstrecke zu, wenn aus dem weißglü­ henden Paket in Schnelle die rotglühende Eisenschlange wurde, die die lederbeschurzten Walzer so geschickt mit der Zange zu fassen und in den neuen Walzengang zu stecken wußten. Mit Vorliebe gingen wir auch zu den freund­ lichen Arbeiterinnen in der Paketiererei; wir bedachten nicht, daß sie wohl mit Sorge darauf achteten, daß uns nichts passierte, wenn sie uns erlaubten, an den schweren Maschinen, den Eisenscheren, Schrott für die Pakete zu schneiden. Schön war es auch, mit den vollbeladenen Eisenbahnwagen, die aus dem Werksgelände von Pferden zum Ostbahnhof gezogen wurden, zu fahren und von einem Arbeiter auf den breiten Rücken des Pferdes gehoben zu werden, wenn sie die leeren Waggons zurückzogen. Nürnberg war eine sozialdemokratische Stadt, der Großteil der Arbeiter­ schaft aus den verschiedenen Fabriken gehörte der Partei an. Damit nun die 169

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Belegschaft seines Werkes eine andere Möglichkeit hätte, sich zu organisieren, gründete unser Vater den „Arbeiterverein“. Die Leute sollten sich in ihm zusammengehörig und heimisch fühlen, und das taten sie auch, mit Stolz. Schönste Erinnerungen haben wir an die Weihnachtsfeste des Arbeiterver­ eins, die im großen Saal einer Nürnberger Gaststätte gefeiert wurden. An langen Tischen waren die Geschenke ausgelegt; Holzleisten, auf denen unend­ lich viele Kerzen brannten, trennten die jeweiligen Familienbescherungen, und es war eine denkbar festliche Stimmung unter dem Christbaum und den vielen Lichtern, wenn alle Geschenke gesucht und gefunden wurden. Später wurden die Tische weggeräumt und wir Kinder machten Kreis- und andere Spiele in dem großen Saal, bis schließlich der Abend mit einer fröhlichen Tanzerei aus­ klang. Während unseres Vaters Tätigkeit in Nürnberg hat das Walzwerk nie einen Streik gehabt. Das war in der oft politisch erregten Stadt etwas Besonderes und war natürlich dem Geist des Arbeitervereins mit zu verdanken. In Nürnberg wurde viel gestreikt. Bedenkt immer, daß wichtiger als die Maschine der Mensch ist, der hinter der Maschine steht, hat mein Vater seinen Studenten in Breslau immer wieder eingeprägt. Und wenn von seinem Leben im Eisenwerk Nürnberg die Rede ist und von seiner rastlosen Arbeit für die Firma, dann muß als erstes gesagt werden, wie seine Arbeiter unserem Vater am Herzen lagen.

Benutzte Quellen und Literatur: Aufzeichnungen von Maria Reihlein, geb. Tafel (1865—1911), Tochter Julius Tafels, maschinenschriftliche Abschrift vom Original, im Familienbesitz. Stammtafel und Ahnentafel, handschriftlich und maschinenschriftlich, Privatbesitz Dr. Karl Koch, Lauf an der Pegnitz. Notariatsurkunden sowie Grundsteuerkataster der Gemeinden Schoppershof und Erlenstegen im Staatsarchiv Nürnberg. Bauakten der Häuser Sulzbacher Straße 47 und Äußere Sulzbacher Straße 88 im Stadt­ archiv Nürnberg. Stadtchronik, Personenkartei und Z-Sammlung im Stadtarchiv Nürnberg. Auskünfte des Staatsarchivs Solothurn und des Universitätsarchivs Tübingen. Johannes Biensfeldt, Freiherr Theodor von Cramer-Klett. Sein Leben und sein Werk, Leipzig-Erlangen 1922. Fritz Büchner, Hundert Jahre Geschichte der Maschinenfabrik Augsburg-Nürnberg 1840—1940, Augsburg 1940. 1875—1925. Eisenwerk Nürnberg AG., vorm J. Tafel & Co. Nürnberg 1925.

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Das Buch der alten Firmen der Stadt Nürnberg, 1930. August Jegel, Die wirtschaftliche Entwicklung von Nürnberg-Fürth . . . seit 1806, Nürnberg 1952. Geschichte der Ludwig von Roll’schen Eisenwerke II: Das Unternehmen von Roll AG, hrsg. vom Direktorium, Gerlafingen 1973. Handbuch der deutschen Aktiengesellschaften, 40. Jg. Bd. 1, Berlin 1935. Handbuch der europäischen Eisen- und Stahlwerke, Ausgabe 1960/61, Frankfurt am Main. „Nürnberger Nachrichten" Nr. 112 vom 17./19. Mai 1975, Nr. 165 vom 18. Juli 1980 und Nr. 250 vom 11./12. Oktober 1980. Industriekulturpfad 1. Eine stadtgeschichtliche Wanderung im Pegnitztal. Hrsg, vom Centrum Industriekultur Nürnberg, 1985.

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BAUSTEINE ZU EINER GESCHICHTE DER JUGENDSTIL­ ARCHITEKTUR IN NÜRNBERG Von Knud Willenberg Eine umfassende Geschichte oder gar Theorie der Nürnberger Jugendstilarchi­ tektur zu schreiben, ist heute noch nicht möglich. Zum einen gibt es bislang nur ganz wenige Spezialuntersuchungen zu diesem Thema1, zum anderen ist das Material, die Häuser, erst unzulänglich erfaßt. Das Kurzinventar von Fehring/Ress/Schwemmer2 führt die Architektennamen nicht auf, und die Jahres­ zahlen sind geschätzt, außerdem ist es unvollständig. Gleiches gilt für die Listen der denkmalgeschützten Häuser der Unteren Denkmalschutzbehörde, die im wesentlichen auf dem Inventar beruhen. Die jüngste Arbeit zu dem Thema von Renda/Gradert ist ausgesprochen unzuverlässig und trägt eher zur Verwirrung als zur Klärung bei3. Das größte Hindernis liegt aber darin, daß die Quellen für die theoretische Arbeit nahezu unzugänglich sind. Zwar ist mit der schriftlichen Erlaubnis der Hausbesitzer durchaus der Einblick in die gezeichneten Baupläne bei der Registratur des Bauverwaltungsamtes gestattet, nicht hingegen die Einsichtnahme in den Schriftverkehr, so daß die Forschung noch lange auf vergleichene Stiluntersuchungen angewiesen bleiben wird. Die vorliegende Arbeit will eines der genannten Hindernisse beseitigen. Es wurde versucht, den Bestand der Jugendstilhäuser möglichst vollständig zu erfassen und durch den Einblick in die Akten, der von den Besitzern gestattet wurde, Baujahr und Name des Planfertigers anzugeben. Da Häuser gelegentlich über mehrere Jahre hin errichtet wurden, ist das Jahr der Planfertigung angegeben, da nur dieses für stilgeschichtliche Untersu­ chungen die Basis bilden kann. Das Jahr der Fertigstellung eines Gebäudes ist dabei vergleichsweise unwichtig. Anders steht es mit den Bezeichnungen an den Häusern selbst. Hier sind Jahreszahlen gewissermaßen Ausdruck des Architektenwillens, daher wurden sie in die Listen aufgenommen. Meistens war der Plan im Jahre vor dem Signaturdatum gezeichnet worden, seltener im

1 Norbert Götz, Historismus, Jugendstil und Nürnberger Stadtbild, in: Katalog Ausstellung Peter Behrens und Nürnberg, Nürnberg 1980, S. 218—234. Jutta Tschoeke, Jugendstil — auch in Nürnberg, in: Centrum Industriekultur Nürnberg, Architektur in Nürnberg 1900—1980, Nürnberg 1981, S. 10—12. Gerhard Renda, Werner Gradert, Jugendstil-Häuser in Nürnberg, Nürnberg 1986. 2 Günther P. Fehring und Anton Ress, Die Stadt Nürnberg, 2. Aufl. bearb. v. Wilhelm Schwemmer, München 1977. 3 Vgl. dazu die Rez. des Verfassers, in: MVGN 74 (1987), S. 262—265. Ein Beispiel für Rendas Schätzung von Jahreszahlen: Das 1886 entstandene Haus Deichslerstraße 16 weist er für 1906 dem Jugendstil zu (S. 131)!

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gleichen. Eine Differenz zwischen Planfertigung und Bausignatur von mehr als einem Jahr ist in der Liste angegeben worden. Unter „Jugendstil“ soll dabei die florale und die geometrische Richtung ver­ standen werden, wie es in der Forschung mittlerweile üblich ist. In Nürnberg finden sich hierfür Beispiele bis 1913. Nicht dazu gerechnet wurde die barockisierende, dem Heimatstil verwandte und mit biedermeierlichen Motiven durchsetzte Stilrichtung, da diese doch gegenüber dem Jugendstil einen Ein­ schnitt markiert und keineswegs mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges endet, sondern im Gegenteil noch in der ersten Hälfte der 20er Jahre ihre Fort­ setzung findet. In der Zeit von 1901 bis 1913 wurden in Nürnberg insgesamt 4365 Neu­ bauten errichtet4. Die nachfolgende Liste nennt für diesen Zeitraum 430 Jugendstilbauten. Dabei sind natürlich die Verluste durch den Krieg oder spä­ teren Abriß nicht berücksichtigt. Hierin liegt ein weiteres Problem: Welche und wieviele Jugendstilhäuser sind untergegangen? Diese Frage ist nicht ein­ deutig zu beantworten, da es fast keine alten Fotos dieser Häuser gibt. Einen Ansatzpunkt bieten die abgelegten Akten der Bauregistratur im Stadtarchiv für die zerstörten Häuser. Allerdings ist, wenn es sich dabei nicht gerade um Pläne von Architekten handelt, die häufig im Jugendstil gearbeitet haben, mitunter schwer zu entscheiden, ob der Entwurf Ornamente im Jugendstil aufweist, da die Planfertiger sich im Detail oft nur mit vagen Andeutungen, Schnörkeln u. ä. begnügten, die von der späteren Ausführung nichts verraten. Es kann sich beim ausgeführten Ornament dann also ebensogut um Rollwerk wie um Ran­ kenwerk handeln, und für die stilistische Zuweisung ist nichts gewonnen. Etwas weiter führt die persönliche Begehung der Straßen. Findet sich näm­ lich neben erhaltenen Jugendstilhäusern ein Neubau, so liegt der Verdacht nahe, daß hier ein Haus im Jugendstil gestanden haben könnte. Bestätigt der Blick in die Akten den Entwurf durch einen einschlägig tätigen Architekten, so wird aus dem Verdacht Gewißheit. Ein gutes Beispiel stellen die Häuser Bismarckstr. 3 und 5 als Neubauten in einem Jugendstilensemble dar. Es stellte sich heraus, daß in Nürnberg weitreichende Verluste nur in der Gibitzenhofstraße, der Gugelstraße, der Leibnizstraße, der Steinheilstraße und der Wilhelm-Spaeth-Straße entstanden sind, daß ansonsten jedoch eher Einzel­ gebäude dem Krieg oder der Abrißbirne zum Opfer fielen. Einige besonders schöne Häuser, die verloren gingen, sind unten aufgeführt. Insgesamt kommt man dabei auf eine Zahl von etwa 60 Gebäuden — eine angesichts der übrigen Verluste bemerkenswert niedrige Zahl. Rechnet man sie den oben genannten Bauten hinzu, so ergibt sich ein Prozentsatz von 11% Jugendstilbauten. Auch hieraus wird deutlich, daß der Jugendstil in der Nürnberger Architektur zwar keine zu vernachlässigende, aber doch eher eine untergeordnete Rolle spielte. 4 Vgl. dazu die Verwaltungsberichte der Stadt Nürnberg von 1901 — 1913.

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Jugendstil-Architektur in Nürnberg

Da Biografien der einzelnen Jugendstilarchitekten wegen der unzugäng­ lichen Daten nicht erstellt werden können, seien im folgenden drei namhafte Architekten herausgegriffen, bei denen durch günstige Umstände Leben und Werk ein wenig genauer zu rekonstruieren sind. Georg Richter

Als der Architekt Georg Richter 1931 starb, berichteten die Zeitungen davon, nachdem sie zwei Jahre zuvor anläßlich seines 70. Geburtstages auf sein Schaffen schon ausführlich eingegangen waren. Er ist damit einer der ganz wenigen im vorliegenden Zusammenhang interessierenden Architekten, dem eine öffentliche Würdigung zuteil wurde5. Denn entweder widmeten sich die bekannteren Lokalgrößen nicht dem Jugendstil, z. B. Hans Müller, oder die­ jenigen, welche dies taten, waren nicht im Bewußtsein der Öffentlichkeit geblieben, weil dem Stil nur eine kurze Dauer in der Nürnberger Baukunst beschieden war. Richter bildet daher eine gewisse Ausnahme. Ohne Zweifel war er eine der vielseitigsten Persönlichkeiten unter den Nürnberger Architekten, was mit der Grund ist, daß ihm die Aufmerksamkeit der Zeitgenossen zuteil wurde. Am 22. Juli 1859 geboren, eröffnete er 1885 in der Katharinengasse ein eigenes Baubüro, seit 1893 lebte und arbeitete er in dem von ihm selbst errichteten Haus Nunnenbeckstraße 23. In den Jahren 1914—19 vertrat er als Ersatzmann im Gemeindekollegium die nationalliberale Partei. Richter starb am 28. Dezember 1931. Die damals gängigen Stilelemente — Nürnberger Stil, Neobarock bzw. Neo­ renaissance, Jugendstil — beherrschte Richter souverän. Bekannt wurde er in den 1890er Jahren durch Bauten wie Hotel „Maximilian“, Hotel „Fürstenhof“, Hotel „Roter Hahn“ und das Wieselerhaus. Nach dem Ersten Weltkrieg errichtete er das Börsengebäude des Nürnberger Bundes, Glas-, Porzellan-, Luxuswarenhändler in der Schoppershofstraße 86 (1922/23). Weitgehend unbekannt dagegen ist Richters Leistung für die Fabrikarchitektur. So hervor­ ragende Gebäude wie die Fabrik Aurnhammer und Benedicter in der Äußeren Bayreuther Straße 40, die Bing-Werke (heute Diehlwerke) in der Stephan­ straße oder die Fabrik Otto Scharlach in der Fichtestraße (heute Triumph) ver­ dankt Nürnberg ihm. Gerade bei der zuletzt genannten Fabrik zeigen die Fen­ sterumrahmungen deutlich den Einfluß des Jugendstils. Bei den zwei anderen Komplexen wird die strenge Formgebung der rhythmisch zusammengefaßten 5 Vorwiegend wegen ihrer politischen Tätigkeit wurden noch erwähnt: J. Ochsenmayer (1902—11 Gemeindebevollmächtigter) und L. Popp (1907—19 Gemeindebev.). Über Hans Müller vgl. Knud Willenberg, Der Nürnberger Architekt und Stadtrat Hans Müller, Nürnberg 1985.

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hohen Fenster und der senkrechten Putzstreifen, die jedes zusätzliche Orna­ ment vermeiden, nur in der Portalzone zugunsten barockisierender Elemente als Betonung des Eingangs aufgegeben. Ganz anders wirkt der Industriekom­ plex der Vereinigten Margarinewerke in Herrnhütte, der durchgehend im neo­ barocken Stil gehalten ist6. Was die Bürgerhäuser betrifft, so gilt die oben gemachte Feststellung hin­ sichtlich der unterschiedlichen Stilrichtungen analog. Wie viele seiner Alters­ genossen, kam Richter vom Nürnberger Stil her, was auch die Häuser in der Nunnenbeckstraße 23 (1901) und 25 (1890) belegen. Doch schuf er einige wenige Jugendstilgebäude, die die Masse der übrigen an Qualität weit über­ ragen. Das bereits 1901 gebaute Haus Friedrichstraße 50 fällt durch den üppigen plastischen Schmuck auf. Es gehört zu den frühesten Jugendstilbauten überhaupt in Nürnberg7. Im gleichen Jahr entwarf Richter das Nachbarhaus Friedrichstraße 52, das ganz neogotischem Formengut verpflichtet ist. Ein grö­ ßerer Stilgegensatz läßt sich kaum denken. Das gleiche Phänomen begegnet bei Krelingstraße 44, das Jugendstil, und Krelingstraße 42 (zerstört), das gotisie­ renden Dekor aufweist. Alle vier Häuser sind übrigens 1901/02 entworfen worden, vielleicht ein Beweis dafür, wie schwer der neue Stil bei den Bau­ herren durchzusetzen war. Denn es ist unwahrscheinlich, daß Richter lediglich dem Prinzip der Variatio folgte, um eintönige Reihungen im gleichen Stil zu vermeiden. Dafür, daß Richter selber den neuen Stil favorisierte und keines­ wegs einer Reihung aus dem Wege ging, sprechen die unmittelbar darauf ent­ standenen drei Häuser in der Rollnerstraße und — noch eindrucksvoller — die Häuserzeile Am Messehaus/Bismarckstraße, wo gleich acht Häuser nebenein­ ander stehen, ohne daß der Dekor eintönig wirkt. Genau symmetrisch sind die drei Häuser Rollnerstraße 37, 39 und 39 a ange­ ordnet: Das Mittelhaus, das allein noch den ursprünglichen Jugendstilschmuck aufweist8, wird von zwei spiegelbildlich identischen Seitenhäusern eingerahmt. Auch im Dekor waren keinerlei Unterschiede vorhanden, denn die beiden Erker entsprachen einander, und die zwei Ecktürmchen wiesen den gleichen Schmuck auf, wie er an dem Türmchen im Mittelhaus noch heute erhalten ist. 6 Vgl. Knud Willenberg, Die Resi — Industrieschloß aus der Kaiserzeit, in: der Ziegelstein, 8, 1986, S. 4 f. 7 Freilich wirkt der Schmuck aufgesetzt, nicht organisch aus der Fassade entwickelt. Die Pflanzen und Tiere, die klassizistischen Anklänge erwecken den Eindruck eines erst im Entstehen befind­ lichen Stils. Zu weiteren frühen Werken des Jugendstils in Nürnberg s. in der Liste die Arbeiten des Architekten Gottlieb Wilferts. 8 Renda irrt, wenn er meint, daß der Stuckdekor im Erdgeschoß abgeschlagen wurde (s. Anm. 1, S. 21). Die Baupläne zeigen, daß hier nie einer vorhanden war. Lediglich am Giebeltürmchen sind am Bau nicht vorhandene Schmuckfelder eingezeichnet, doch läßt die Beschaffenheit des Putzes darauf schließen, daß Stuckdekor nicht vorgesehen war. Die Zusammengehörigkeit der drei Häuser entgeht Renda ebenfalls.

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Doch ist im Vergleich zum Haus Friedrichstraße 50 das Lineament des Ju­ gendstils abgeklärter und, wenn man so will, klassischer. Der typischen Form des Nürnberger Bürgerhauses verpflichtet, gelingt es Richter, mit den dezenten Fensterumrahmungen, die in ähnlicher Form auch an der Villa in der Virchowstraße 34 und an der Fabrik in der Fichtestraße 45 auftauchen, sowie mit dem floralen Schmuck an den Erkerbauten den Eindruck von Geschlos­ senheit zu vermitteln. Karl Peringer und Hans Rogier

Das wohl eindrucksvollste Ensemble erhalten gebliebener Jugendstilhäuser in der Emilienstraße, der Theodorstraße und dem Prinzregentenufer stammt von der Nürnberg-Fürther Architektengemeinschaft Peringer & Rogier. Bis heute können 20 Bauten von ihnen in Nürnberg noch nachgewiesen werden: 18 Wohnhäuser, mit Einschränkungen das Haus der Handelskammer am Haupt­ markt und das Brandversicherungshaus an der Marienstraße; ein weiteres Wohnhaus ist zerstört worden10. Hans Rogier wurde am 15. 7. 1869 in Thierstein (Bez. Wunsiedel) geboren. Nach seiner Ausbildung an der Bauschule Nürnberg arbeitete er im Büro des bekannten Fürther Architekten Fritz Walter. Dort lernte er Karl Peringer kennen, der am 3. 12. 1876 in Wasserburg am Inn geboren war. Die zwei jungen Architekten machten sich 1904 selbständig und gründeten eine Archi­ tektengemeinschaft, auch wenn seit 1907 Rogier in Fürth, Peringer in Nürn­ berg getrennt Wohnung und Büro besaßen. Diese Gemeinschaft hatte bis 1914 Bestand, als Peringer eingezogen wurde. Im Krieg verwundet und schwer lei­ dend, war Peringer zwar noch als Architekt tätig, doch blieben ihm größere Erfolge versagt. Am 1. September 1929 starb er in Nürnberg. Rogier dagegen hatte mehr Glück. Aufgrund der jahrelangen Zusammenarbeit mit der GrünerBrauerei in Fürth (Sudhaus in der Simonstraße, 1906) entwarf er nach dem Krieg etliche Gaststätten für diese Brauerei, in Nürnberg z. B. die in der Harrichstraße. Bekannt sind auch noch die Spiegelfabriken Schönhofer bei Regensburg und Röhrenhof bei Bad Berneck (1922/23), sowie die Fürther Wohnhäuser in der Badstraße (1925) und Forsthausstraße (1926). Im Zweiten Weltkrieg war er in Fürth auch bei der Errichtung von Luftschutzräumen tätig. Rogier starb am 11. Juni 1953 in Fürth11. Obwohl alle Entwürfe der Architektengemeinschaft mit dem Stempel Peringer & Rogier sowie den zwei eigenhändigen Unterschriften versehen 9 Das schmiedeeiserne Balkongitter von Rollnerstraße 39 a ist hinter dem Haus im Garten auf­ gestellt (frdl. Hinweis von Herrn Franz Willax). 10 Vgl. Stadtarchiv Nürnberg, C20/V, Nr. 17 613 (Abb. 1). 11 Die Daten der Biografien verdankt der Verfasser den frdl. Hinweisen von Herrn Rogier, Fürth, und Frau Peringer, Nürnberg.

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sind, gab es eine Arbeitsteilung: Rogier entwarf die Häuser für Fürther, Peringer dagegen die für Nürnberger Kundschaft. Inwieweit es gegenseitige Einflußnahme gab, ist nicht bekannt, sie dürfte allerdings bei dieser Art von Kooperation als gering einzustufen sein. Trotzdem soll im folgenden der Begriff Peringer & Rogier verwendet werden. Der früheste bekannte Entwurf für ein Wohnhaus stammt vom November 1904 (Paulstraße 10). Das siebenachsige Haus mit drei Vollgeschossen und einem Dachgeschoß weist im Ornament eine starke Betonung der Mittelachse auf. Stilisierte Bänder rahmen im 1. Obergeschoß das Fenster über der Tür ein, stilisierte, geometrischen Formen angenäherte Blumen bilden einen Fries zwi­ schen 1. und 2. Obergeschoß. Ein nach rechts verschobener, dreiachsiger Dachgiebel, von zwei Pylonen flankiert, verleiht der Fassade etwas Monumen­ tales. Überhaupt läßt sich bei diesem noch vergleichsweise kleinen Wohnhaus schon ein Zug ins Repräsentativ-Monumentale feststellen, der hier besonders durch die große Ordnung der lisenenartig verlaufenden Putzstreifen hervorge­ rufen wird — eine Fassadengestaltung, die dann im Haus Prinzregentenufer 9 ihre plastische Vollendung finden wird (1908). Enge stilistische Beziehungen weisen drei in den Jahren 1908/09 entstandene Wohnhäuser auf: Herzogenauracher Straße 1, Äußere Bayreuther Straße 70 und Luitpoldstraßel4. Alle drei Fassaden sind grau verputzt und mit Verzie­ rungen aus Muschelkalk versehen. Für sie gilt — wenngleich in unterschied­ lichem Maße —, daß ihre starke Plastizität „auf dem Gegensatz von ornamen­ talen Höhlungen und aus dem Grund herausgewölbten Hochreliefs“ besteht, „die teilweise als Tierköpfe gebildet sind“12. Fledermäuse, Adler- und v. a. Widderköpfe begegnen da, die auch an anderen Gebäuden anzutreffen sind (Prinzregentenufer 9 und 11, Melanchthonplatz 11, Parsifalstraße 2 und 8). Sind Fledermäuse auch in der Jugendstilarchitektur beliebte Tiere, weil ihre Flügel sich gut dazu eignen, Fassaden oder Giebel zu umklammern und zu einer Einheit zusammenzufassen, so fehlt doch bislang für ihre häufige Ver­ wendung ebenso wie für die zahlreichen Adler- und Widderköpfe im Werk Peringer & Rogiers eine einleuchtende Erklärung. Irgendwelche biografisch bedingten Erklärungsversuche haben wohl auszuscheiden13. Bei den Tier­ köpfen zeigt sich eine deutliche Stilisierung zum Ornament hin, die sich einem sofortigen Entziffern als Tierköpfe sperrt. Eingebunden in Voluten lassen sie sich erst bei genauerem Anschauen als Köpfe mit Augen, Schnäbeln oder Mäu­ lern identifizieren (Parsifalstr. 2 und 8) oder treten als kleine Reliefs aus den Wandflächen, am häufigsten unter Erkerfenstern, hervor (Prinzregentenufer 11, Theodorstr. 9 und 11). 12 Norbert Götz (s. Anm. 1), S. 233. 13 Sowohl von Herrn Rogier als auch von Frau Peringer wurden diesbezüglich keine Erklärungen vorgebracht.

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Schon Renda hat bemerkt, daß für das Haus Prinzregentenufer 9 eine, wie er es nennt, „formreduzierte Kopie“ in der Rankestraße 20 existiert14, doch gibt er keine Erklärung dafür. Die Ähnlichkeiten sind freilich auffallend: Hier wie dort gliedern mit Vasen bekrönte Halbsäulen über drei Stockwerke die Fas­ sade, eine Balustrade vor dem Attikageschoß zieht sich über die gesamte Breite des Hauses. Doch ist das Haus Rankestraße 20 um eine Achse kleiner, nur je ein Fenster befindet sich zwischen den Halbsäulen. Der Entwurf für Prinz­ regentenufer 9 stammt aus dem Jahre 1908, das Haus selber wurde 1909 fertig­ gestellt. Rankestraße 20 stammt nicht von Peringer & Rogier, sondern von der Architektengemeinschaft Kern und Fiedler. Ihr Entwurf trägt das Datum 1912, somit ist die Priorität zugunsten von Peringer & Rogier erwiesen. Warum sich Kern und Fiedler allerdings bei ihrem Bau einem bereits fertig­ gestellten und somit für jedermann sichtbaren Gebäude so eng anlehnen, ist bei dem derzeitigen Kenntnisstand nicht zu erklären. Ein spezieller Wunsch des Bauherrn war vielleicht die Ursache, möglicherweise gefiel Wilhelm Endres das Haus von Christian Böckler so gut, daß er eine „formreduzierte Kopie“ besitzen wollte. Eine weitere Erklärung ist, daß die „Tendenz zur Monumen­ talität, welche die deutsche Architektur um 1910 durchzieht“15 in beiden Häu­ sern ihren Niederschlag findet. Ein besonderes Problem stellt Prinzregentenufer 13 dar. Das Haus ist Peringer & Rogier zuzuweisen, obwohl der ausgeführte Entwurf (Okt. 1913) von Christian Tauber als Planfertiger unterzeichnet ist. Tauber (1860—1943) stammte aus einer alteingesessenen Bauunternehmerfamilie, trat aber bei keinem weiteren Jugendstilbau als eigenständiger Planfertiger auf. Blättert man in den Plänen der Bauakte des Hauses16, so stößt man auf einen durchgestri­ chenen, d. h. zwar eingereichten, aber nicht ausgeführten Entwurf von Peringer & Rogier (Juni 1913), der keine eigenhändige Unterschrift, sondern nur die Architektennamen in Druckbuchstaben sowie den Stempel und die Unterschrift Christian Taubers trägt. Die Zeichnung der Fassade stimmt mit der auf dem ausgeführten Entwurf Taubers bis auf wenige Details überein, z. B. befanden sich im Erdgeschoß und Keller links vom Eingang drei statt zwei Fenster, die Fenster rechts vom Eingang besaßen Rundbögen, und Blu­ mentöpfe zierten die Erker zwischen zweitem und drittem Obergeschoß statt Löwenköpfe. Die geistige Urheberschaft dieses „herrschaftlichen“ Hauses ist also eindeutig Peringer & Rogier zuzuweisen. Wie sehr das Prinzregentenufer übrigens damals Nürnbergs erste Adresse war, zeigt eine Kleinigkeit: Die Flußbäder an der Wöhrder Wiese mußten ver­ legt werden, damit sich die Bewohner der hohen Häuser nicht belästigt 14 Renda (s. Anm. 1), S. 24. 35 Renda (s. Anm. 1), S. 24. 16 Bauregistratur Hochbauamt, Akte: Prinzregentenufer 13.

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fühlten. Der Verwaltungsbericht von 1911 berichtet von der Verlegung der Bäder flußabwärts und auf die andere Uferseite, denn die außerhalb des Was­ sers sich befindenden „entkleideten Badegäste dürfen weder vom Prinzregenten-Ufer noch von den höchsten der dort gelegenen Häuser gesehen werden.“ Außerdem verpflichtete ein Gerichtsurteil die Stadt, Vorkehrungen zu treffen, „daß die Anwohner am Prinzregentenufer künftig nicht mehr durch den im Freibad auf der Wöhrder Wiese von den Knaben verursachten Lärm über Gebühr belästigt werden“17. Das Bad wurde daraufhin in die Tullnau am linken Pegnitzarm in die Nähe des städtischen Elektrizitätswerkes verlegt.

Abgänge bedeutender Jugendstilhäuser Bismarckstraße 3 Georg Richter (1903) 5 Georg Richter (1903) Bulmannstraße 40 Michael Gruber (1908) Emilienstraße 6 Peringer & Rogier (1911) Gibitzenhofstraße 62 Heinrich Walz (1907) 64 Johann Rickmeyer (1911) Johannisstraße 36 Hans Ebert (1909) Keßlerplatz 7 Paul Bittorf (1910) 19 Paul Bittorf (1904)

Leibnizstraße 25 Thomas Weiß (1910) Lichtenhofstraße 9 Thomas Weiß (1904) Pfälzer Straße 58 Friedrich Fischer (1904) Virchowstraße 9 Häberle u. Henrich (1910) 14 Häberle u. Henrich (1907) 15 Bruno Möhring, Berlin, (1908) 17 Leonhard Bürger (1910) Wirthstraße 23 Johann Hertlein (1907) 63 Johann Rickmeyer (1903)

17 Verwaltungsbericht der Stadt Nürnberg 1911, S. 144.

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Liste der Jugendstilhäuser18 Aufgenommen wurden nur Privathäuser, da öffentliche Bauten aus anderen Quellen gut nachweisbar sind. Die Villenkolonie am Ebensee von Popp und Weisheit (1910—14) wurde nicht gesondert vermerkt. 25 Leonhard Rögner (1909) Adamstraße 26 Franz Gerhager (1909) 6 Popp und Weisheit (1903) 36 Paul Bittorf (1904) Äußere Bayreuther Straße 40 Johann Hertlein (1903) 31 Albert Mayer u. Leonhard 42 Mathias Fahrnholz (1905) Stolz (bez. 1912) 45 Michael Wießner (1901, bez. 41/43 Johann Hertlein (1908) 1903) 53 Conrad Bohrer (1910) 46 Mathias Fahrnholz (bez. 1907) 70 Peringer & Rogier (1909) 46a Mathias Fahrnholz (1907) 71 Johann Hertlein (1909) 103 Wolfgang Wiesnet (1908) Adam-Klein-Straße 67 Hans Beitter (bez. 1908) Baaderstraße 15 Mathias Fahrnholz (bez. 1907) Adam-Kraft-Straße 18 Johann Rickmeyer (1909) 3 Hans Waigel (bez. 1907) 19 Andreas Munkert (1907) Alfonsstraße 20 Johann Rickmeyer (1909) 2 (= Schweinauer Hauptstraße Bismarckstraße 112) Karl Ködel (1907) 6 Konrad Merkl (1905) Allersberger Straße 7 Georg Richter (1903) 94 Johann Rickmeyer (bez. 1907) 9 Georg Richter (1904) Amalienstraße 11 Georg Richter (1904) 7 Karl Preißler (bez. 1908) 13 Georg Richter (1904) Am Messehaus 15/17 Leonhard Flory (1903) 2/4 Georg Richter (1906) Blumenthalstraße 25 Stefan Raschbacher (1911) 8 Kaspar Geitz (bez. 1904) 26 Wolfgang Wiesnet (1911) Bönerstraße Am Stadtpark 1 Julius Franz (1907) 43 Gebr. Tauber (1906) 3 Wolfgang Wiesnet (1907) 5 Michael Heim (1907) Anne-Frank-Straße 7 (Akten nicht vorhanden) 14 Heinrich Emilius (1912) 9 Michael Heim (1907) 16 Heinrich Emilius (1911) 11 Michael Heim (1907) 19 Johann Hertlein (bez. 1911) 13 Michael Heim (1907) 20 Johann Hertlein (1909) 15 Mathias Fahrnholz (1906) 22 Franz Gerhager (bez. 1909) 18 Der Verfasser dankt Herrn Beyerlein und Herrn Förster von der Bauregistratur für ihre freundliche Hilfsbereitschaft.

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Breite Gasse 58/60 Konrad Schultheiß (1902) Bücher Straße 20a Paul Bittorf (1904) 72 Hans Ebert (1905) 74 Hans Ebert (1906) 76 Georg Tischbein (1906) 79 Ochsenmeyer u. Wißmüller (bez. 1904) 94 Heinrich Walz (1907) 96 Heinrich Walz (1906) 97 Michael Wießner (1904) 99 Michael Wießner (1905) 125 Georg Schröder (1911) Bulmannstraße 32 Wilhelm Reinhold (bez. 1907) Burgschmietstraße 12 Hans Ebert (bez. 1913) Campestraße 17 Hans Ißmayer (1906) Deutschherrenstraße 49 Johann Rickmeyer (1908) 51 Johann Rickmeyer (1909) Dovestraße 3 Johann Hertlein (1909) 18 Johann Hertlein (bez. 1911) Eichendorffstraße 20 Bräutigam u. Waelde (1902) Emilienstraße 3 Peringer & Rogier (1911) 4 Johann Hertlein (bez. 1907) 10 (keine Pläne vorhanden, bez. 1905) Ewaldstraße 84 Michael Gruber (1906) 92 Ludwig Ruff (1911) Fenitzerstraße 29 Georg Richter (1905) 33 Konrad Merkl (1907) 182

Fichtestraße 50 Wolfgang Wiesnet (1908) Freytagstraße 1 Hermann Butcher (bez. 1912) 9 Hans Beitter (bez. 1911) 11 Hans Beitter (1910) Friedrichstraße 50 Georg Richter (bez. 1901) 55 Christof Laurer (1902) 57 Ochsenmayer u. Wißmüller (1908) 62 Ochsenmayer u. Wißmüller (1906) 64 Ochsenmayer u. Wißmüller (bez. 1905) Fröbelstraße 4 Wolfgang Wiesnet (1908) 6 Wolfgang Wiesnet (1907) Frommannstraße 3 Hans Kieser (bez. 1904/05) 5 Häberle und Henrich (1908) Fürther Straße 91a Peter Knorz (1905) 308 Heinrich Walz (1902) 310/312 Adam Egerer (1906) 322 Fritz Haas (1907) Gabelsbergerstraße 2 Mathias Fahrnholz (bez. 1907) 3 Michael Heim (1908) 10 Michael Heim (1907) 12 Michael Heim (1907) 15 Wilhelm Schmidt (1906) 19 Leonhard Zagei (1908) 27 Heinrich Emilius (1909) Gebhard-Ott-Straße 8 Johann W. Ammon (1907) Geibelstraße 3 Ernst Mann (1908)

Knud Willenberg

Georgstraße 12 Hans Enser (1908) Geuderstraße 1 Johann Rickmeyer (1908) 9 Andreas Rabmüller (1907) 11 Andreas Rabmüller (bez. 1906) Gibitzenhofstraße 51 Bräutigam u. Wiessner (1907) 69 Fritz Mayr (bez. 1908) 71 Fritz Mayr (1908) Gostenhofer Hauptstraße 29 Häberle u. Henrich (1911) Grünstraße 5 Michael Wießner (1903) Gugelstraße 125 Ernst Mann (1909) 132 Ernst Mann (bez. 1911) 134 Thomas Weiß (1910) Hainstraße 18 Kaspar Geitz (1907) 20 Johann Rickmeyer (bez. 1907) 22 Johann Rickmeyer (1907) 24 Johann Rickmeyer (1908) Hallerstraße 34 Kaspar Geitz (1906) 36 Kaspar Geitz (bez. 1907) 38 Kaspar Geitz (1907) Hallerhüttenstraße 5 Johann Rickmeyer (1905, bez. 1907) 6 Johann Rickmeyer (bez. 1906) 9 Mathias Fahrnholz (bez. 1906) 11 Johann Rickmeyer (bez. 1907) 13 Johann Rickmeyer (1907) Haslerstraße 27 Heinrich Lang (1909) 33 Gustav Siegel (1912) Hastverstraße 34 Georg Ros (1904)

Heerwagenstraße 1 Hans Ebert (1903) 3 Josef Dorner (bez. 1907) 5 Michael Gruber (1907) 7 Andreas Rabmüller (bez. 1906) Heinrichstraße 6 Simon Hahn (1908) 8 Simon Hahn (bez. 1909) Herzogenauracher Straße 1 Peringer & Rogier (1908) Herzogstraße 6 Michael Heim (bez. 1911) Hessestraße 9 Heinrich Ulrich (1908) 13 Hans Schneider (1905) 15 Hans Schneider (1903) 17 Hans Schneider (1905) Hirtengasse 3 Gottlieb Wilfert (1901) Hochstraße 33 Martin Sauer (1904) 38 Kaspar Geitz (1904) 40/42 Kaspar Geitz (1906) Holzschuherstr. 9 Bernhard Meck u. Otto Häberle (1903) Humboldtplatz 1 Georg Wagner (bez. 1909) 3 Karl Brendel (bez. 1909) 5 Karl Brendel (1908) 9 Adolf Weisenberger (bez. 1909) Humboldtstraße 82 Andreas Herbst (1909) 86 Thomas Weiß (1909) 87 Thomas Weiß (1905) 105 Ernst Mann (bez. 1913) 107 Ernst Mann (1913) 111 Peter Scherpf (bez. 1912) 114/116 Mathias Breig (1910, bez. 1912) 183

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124 Hans Ebert (1906) 126 Gottlieb Lampert (bez. 1907) 130 Johann Reif (bez. 1907) 132 Gottlieb Lampert (bez. 1906) 136 Johann Hertlein (1910) Hummelsteiner Weg 58 Christof Fuchs (1908) 65a Johann Hertlein (bez. 1913) 65 Johann Hertlein (bez. 1912) 68 Gottlieb Lampert (1908) 69 Johann Hertlein (bez. 1910) Idastraße 1 Johann W. Ammon (1906) Jagdstraße 12 Popp u. Weisheit (bez. 1902) Jahnstraße 18 Johann Hertlein (bez. 1913) Johannisstraße 34 Hans Ebert (1909) 38 Hans Ebert (1910) Juvenellstraße 18 Michael Wießner (1907) 22 Michael Wießner (bez. 1908) Karolinenstraße 51 Hans Beitter (1911) Kartäusergasse 12 Ochsenmayer u. Wißmüller (1907) Kaulbachstraße 18 Michael Renker (1903) 20 Josef Heinrich (1908) 22 Josef Heinrich (1908) 24 Josef Heinrich (1907) 26 Josef Heinrich (bez. 1906) 27 Ernst Kern (1908) 28 Josef Heinrich (1906) 32 Johann Rickmeyer (bez. 1906) 34 Michael Gruber (1905) 36 Johann Rickmeyer (1906) 38 Gregor Betz (1906) 184

Keßlerplatz 1 Rudolf Behringer (1908, bez. 1910) 5 Rudolf Behringer (bez. 1911) 9 Hans Pylipp (bez. 1914) 11 Kern u. Fiedler (1911) 15 Paul Bittorf (1904) Kirchenstraße 23 Karl Wolkersdorfer (bez. 1912) 27 Karl Wolkersdorfer (bez. 1912) Kirchenweg 6a Michael Wießner (1906) 6 Michael Renker (1905) 8 Michael Wießner (1906) 8a Michael Wießner (1906) 61 Franz Gerhager (1907) 63 Franz Gerhager (bez. 1907) Knauerstraße 17 Johann Dorner (bez. 1906) Kobergerplatz 4 Gregor Betz (1907) 6 Josef Heinrich (1907) Kobergerstraße 58 Johann Hertlein (1907) 81 Johann Friedlein (1906) Kopernikusplatz 6 Georg Gebert (1910) 8 Ludwig Greiner (1909) 10 Ludwig Greiner (1909) 13 Carl Bayerlein (1908) 16 Thomas Weiß (1910) 17 (nicht zu ermitteln) Krelingstraße 33/35 Julius Hofer (1906) 37 Julius Hofer (1907) 37a Michael Renker (1910) 43 Popp u. Weisheit (bez. 1905) 44 Georg Richter (1902) 49 Martin Macher (1906)

Knud Willenberg

Kressenstraße 6 Hans Ebert (1906) 35 Ochsenmayer u. Wißmüller (1910) Kreutzerstraße 58 Max Klauß (1905) 71 Michael Renker (1907) 72 Michael Renker (bez. 1909) 78 Michael Renker (1907) Kurtstraße 7 Karl Wolkersdorfer (bez. 1912) Landgrabenstraße 130 Johann Rickmeyer (bez. 1907) Lange Zeile 16 Gottlieb Wilfert (bez. 1900) 40 Michael Renker (1903) Laufertorgraben 2 Jakob Schmeißner (1904) Leibnizstraße 29 Johann Ammon (1909) 31 Thomas Weiß (1909) Leopoldstraße 21 Martin Macher (1905) 23 Martin Macher (1907) Linnestraße 3 Heinrich Walz (1908) Lödelstraße 11 Heinrich Emilius (1910) Löhnerstraße 9 Wolfgang Wiesnet (1910) 11 Wolfgang Wiesnet (1910) Ludwig-Feuerbach-Straße 94 Wolfgang Wiesnet (1909) Luitpoldstraße 14 Peringer & Rogier (1909) Lutzstraße 1 Leonhard Bürger (1901) 3 Johann Hertlein (1910)

Markgrafenstraße 11 Friedrich Fischer (1904) 13 Ernst Mann (bez. 1906) 15 Ernst Mann (1907) 17 Friedrich Fischer (1905) Mathildenstraße 22 Wolfgang Wiesnet (bez. 1908) 24 Wolfgang Wiesnet (1907) 28 Josef Heinrich (1906) 31 Julius Franz (1908) 33 Andreas Rabmüller (bez. 1910) 35 Heinrich Walz (bez. 1906) 37 Hans Ebert (1905) 38 Konrad Merkl (1906) Maximilianstraße 28 Ochsenmayer u. Wißmüller (1909) 36 Gottlieb Wilfert (bez. 1908) 42 Peter Knorz (1905) Melanchthonplatz 9 Hans Ebert (bez. 1907) 11 Peringer & Rogier (1907) Meuschelstraße 3 Emil Kannitzky (1909) 7 Kern u. Fiedler (bez. 1911) 9 Christian Döllner (1905) 14 Michael Gruber (1907) 16 Johann Rickmeyer (1906) 18 Josef Heinrich (1906) 21 Michael Renker (1902) 23 Popp u. Weisheit (bez. 1904) 25 Popp u. Weisheit (1904) 30 Georg Richter (1904) 34 Heinrich Egelsehr (1906) 38 Georg Ros (1905) Möhrendorfer Straße 33 Peringer & Rogier (1909) Moltkestraße 5 Michael Wießner (bez. 1900) 16 Martin Sauer (1904) 185

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Jugendstil-Architektur in Nürnberg

Muggenhofer Straße 34 Michael Wießner (1907) Murrstraße 6 Georg Birkmann (1906) Neubleiche 10 Johann Hertlein (1911) Nibelungenstraße 25/27 Jakober u. Mathys (1910, bez. 1912) 26 Johann Hertlein (1906) 28 Karl Schultheiß (1905) Okenstraße 24 Gottlieb Lampert (bez. 1907) 26 Gottlieb Lampert (1907) 28 Gottlieb Lampert (bez. 1908) Orffstraße 3 Julius Hofer (1910) 4 Michael Renker (1905) 5 Johann Friedlein (1910) 6 Michael Renker (bez. 1905) 8 Michael Renker (1906) 10 Gottlieb Wilfert (1904) 24 Simon Hahn (1908) Osianderstraße 8 Gottlieb Wilfert (1899) Otmarstraße 34 Simon Hahn (1909) Paniersplatz 35 Karl Schultheiß (1901) Parsifalstraße 2 Peringer & Rogier (bez. 1912) 8 Peringer & Rogier (1911) Paulstraße 10 Peringer & Rogier (1904) 12 Peringer & Rogier (1905) Paumgartnerstraße 18 Andreas Rabmüller (bez. 1909) 186

Pestalozzistraße 16 Thomas Weiß (1906) Peter-Henlein-Straße 35 Häberle u. Henrich (1907) Peyerstraße 31 Michael Wießner (ev. auch Wil­ helm Schmidt) (1910) Pfälzer Straße 56 Friedrich Fischer (1906) Prinzregentenufer 5 Johann Dorner (1905) 7 Peringer & Rogier (1907) 9 Peringer & Rogier (1908) 11 Peringer & Rogier (1908) 13 Peringer & Rogier (Christian Tauber) (bez. 1914) Rankestraße 20 Kern u. Fiedler (bez. 1912) Regensburger Straße 28 Karl Schultheiß (1905) 33 Josef Heinrich (bez. 1904) 37 Peter Knorz (bez. 1904) Rennweg 64 Wolfgang Wiesnet (1908) 72 Wolfgang Wiesnet (1901) Riehlstraße 4 Hans Beitter (1910) Rieterstraße 8 Ochsenmayer u. Wißmüller (1905) 15 Ochsenmayer u. Wißmüller (1905) Rilkestraße 13 Ochsenmayer u. Wißmüller (bez. 1910) 14 Ochsenmayer u. Wißmüller (1907) 15 Ochsenmayer u. Wißmüller (1909)

Knud Willenberg

Rohledererstraße 19 Johann Rickmeyer (bez. 1908) Rollnerstraße 37 Georg Richter (bez. 1903) 39 Georg Richter (1903) 39a Georg Richter (1903) Roonstraße 1 Hans Beitter (bez. 1909) 3 Hans Beitter (1908) 5 Hans Beitter (bez. 1908) 7 Kaspar Geitz (bez. 1907) Rothenburger Straße 50 Michael Wießner (1903) 177 Hans Enser (bez. 1908) 179 Simon Hahn (1908) Rückertstraße 5 Michael Wießner (1908) 9 Michael Wießner (1908) 10 Ochsenmayer u. Wißmüller (1908) 11 Michael Wießner (1906) 15 Michael Wießner (1906) Sandrartstraße 42 Georg Philipp Höfler (bez. 1904) 46 Johann Rickmeyer (bez. 1908) 48/50 Michael Renker (1905) Schanzenstraße 18 Johann Hertlein (bez. 1909) Schnieglinger Straße 32 Hans Ebert (1906) Schoppershofstraße 16 Wolfgang Wiesnet (bez. 1906) 34 Andreas Rabmüller (1908) 51 Johann Gottfr. Merkl (1907) Schreyerstraße 18 Heinrich Ulrich (1908) 19/21 Albert Mayer u. Leonhard Stolz (1912) 23 Hans Schneider (1905)

Schumannstraße 4/6 Josef Heinrich (1905) 8 Gustav Hübler (1909) 13 Josef Dorner (1907) 15 Hans Fourne (bez. 1908) Schwabacher Straße 66/68 Michael Wießner (1903) Schwabenstraße 45 Jakob Schmeißner (1904) 47 Ernst Mann (bez. 1906) 49 Ernst Mann (1905) 54 Friedrich Fischer (1904) 56 Ernst Mann (1905) 58 Ernst Mann (1907) 62 Friedrich Fischer (1905) Schweiggerstraße 23 Georg Heim (bez. 1906) Schweinauer Hauptstraße 110 Michael Heim (1905) 112 (s. Alfonsstr. 2) 114 Josef Heinrich (bez. 1909) Schweinauer Straße 30 Josef Dorner (1907) 54 Michael Renker (1909) 56 Michael Renker (1907) 58 Michael Renker (1908) 60 Georg Grossmann (bez. 1909) 61 Gottlieb Lampert (bez. 1906) 65 Martin Macher (1908) Schweppermannstraße 38/40 Kern u. Fiedler (1911) 44 Josef Heinrich (1906) 46 Josef Heinrich (1906) 61/63 Heinrich Walz (1902) Senefelderstraße 2/4 Johann Hertlein (1909) Siemensstraße 40 Ernst Mann (bez. 1914) Spenglerstraße 3 Michael Wießner (1903) 187

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Jugendstil-Architektur in Nürnberg

Sperberstraße 15 Christof Fuchs (1912) 72 Johann Hertlein (1910) Stephanstraße 14 Hermann Zürn (1908) 16 Johann Hertlein (bez. 1911) 18 Johann Hertlein (bez. 1910) 21 Johann Hertlein (1905) 23 Johann Hertlein (bez. 1908) Stromerstraße 1 Friedrich Schmidt (bez. 1911) Tafelfeldstraße 69 Hermann Zürn (1907) 71 Josef Dorner (1908) Theodorstraße 5 Peringer Sc Rogier (1906) 7 Peringer Sc Rogier (bez. 1907) 9 Peringer Sc Rogier (1910) 11 Peringer Sc Rogier (1910) Virchowstraße 34 Georg Richter (1904) Voltastraße 1 Johann Dorner (bez. 1908) Weiserstraße 33 Peter Huber (1909) 41 Wolfgang Wiesnet (1905) Wiesentalstraße 5 Hans Ebert (1907) Wilhelm-Spaeth-Straße 10 Heinrich Schmidt (1904)

188

74 78 80 82 86

Jakob Schmeißner (1903) Jakob Schmeißner (1904) Jakob Schmeißner (1904) Paul Bittorf (1904) Jakob Schmeißner (1903)

Wirthstraße 27 Georg(?) Dörfler (1905) Wodanstraße 2 Karl Schultheiß (1906) 4a Karl Schultheiß (1905) 7 Karl Schultheiß (1907) 8 Gottlieb Lampert (1905) 9 Gottlieb Lampert (1907) 11 Karl Schultheiß (1908) 26 Karl Schultheiß (1908) 28 Karl Schultheiß (1911) 37 Karl Schultheiß (1905) 39 Karl Schultheiß (1905) 41 Thomas Weiß (1905) 49 Karl Schultheiß (1905) 65 Karl Schultheiß (1905) 68 Karl Schultheiß (1904) 72 Johann Hertlein (1911) 77 Hans Ebert (1905) Wolgemutstraße 5 Fritz Löttenmeier (1911) 7 Fritz Löttenmeier (1910) Zollerstraße 3 Hans Enser (1908)

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Abb. 1: Emilienstraße 6. Entwurf: Peringer & Rogier 1911. Abgerissen: 1975. (Stadtarchiv C 20/V Nr. 17 613.)

MEIN LEBEN IN DEUTSCHLAND NACH DEM 30. JANUAR 1933 Von Rudolf Bing Redaktionelle Vorbemerkung

Frau Dora Friedmann, die Tochter des einstigen Nürnberger Rechtsanwalts Rudolf Bing, überließ dem Verein für Geschichte der Stadt Nürnberg ein Typoskript ihres Vaters mit dem Titel „Mein Leben in Deutschland vor und nach dem 30. Januar 1933“, aus dem wir die folgenden Passagen mit freund­ licher Genehmigung von Frau Friedmann veröffentlichen. Rudolf Bing ist am 8. Februar 1876 in Nürnberg geboren. Er stammte aus alter fränkisch-jüdischer Familie, Nachkomme des Würzburger Rabbiners Abraham Bing. Der Vater, Kommerzienrat Berthold Bing, betrieb in Nürn­ berg das ererbte Hopfengeschäft. Er hatte weltweite Beziehungen und enga­ gierte sich als Mitglied der Handelskammer, des Bayerischen Landeseisen­ bahnrats und des Nürnberger Magistrats sehr im öffentlichen Leben. Rudolfs Mutter Hermine, geb. Bachmann, kam aus einer Augsburger Fabrikanten­ familie. Rudolf Bing besuchte in seiner Heimatstadt das humanistische Gymnasium (Altes und Neues Gymnasium), leistete Militärdienst als Einjähriger, studierte in München und Berlin die Rechte. Im Vaterhaus führte er ein behütetes Leben: „Meine Mutter war eine äußerst verständige Frau, heiteren, stets ausge­ glichenen Temperamentes, deren ganze Natur Güte und verständnisvoller Takt war . . . Von jüdischen Bräuchen sahen wir nur Einiges durch die betagte Mutter meines Vaters, die in unserem Hause in der Ludwigstraße das Stock­ werk unter uns bewohnte.“ Nach seiner Ausbildung als Rechtspraktikant in Nürnberg und Garmisch ließ sich Rudolf Bing 1903 als Rechtsanwalt in Nürnberg nieder. Hier ging er seinem Beruf 35 Jahre lang „mit großer Liebe und Hingebung“ nach, beklei­ dete auch sieben Jahre lang das Amt eines Vorstandsmitglieds der Anwalts­ kammer (bis 1933). 1908 heiratete er seine Frau Trude, geb. Tuchmann. Bing machte den Ersten Weltkrieg als Frontsoldat mit, wurde Offizier und erhielt das Eiserne Kreuz 2. Klasse. Politisch stand er Friedrich Naumann nahe. Gesellschaftlich spielte sich sein Leben vor allem „im Kreis der Glaubensgenossen“ ab. Die bösen Umtriebe Julius Streichers erlebte er aus nächster Nähe. Zur Atmosphäre der zwanziger Jahre in Nürnberg führte er aus: „Es war schon damals die Sicherheit jüdischer Bürger stark gefährdet und schon damals war überall bei den Behörden ein Zurückweichen vor den planmäßigen Einschüchterungsversuchen der Nazis zu bemerken. In allen Amtsstuben hatten sie namentlich unter den unteren Beamten ihre Spione und Zuträger, wenn auch für die sogenannten ,besseren 189

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Stände4 es noch nicht als standesgemäß galt, sich zu ihrer Radaupolitik zu bekennen.“ Die Ereignisse von 1933 an sind im folgenden geschildert. Im Sommer 1939 gelang dem Ehepaar die Auswanderung nach Palästina zu den beiden Töch­ tern, wo Rudolf Bing bis zu seinem Tod am 1. September 1963 in einer von deutschen Juden 1937 gegründeten Siedlung lebte und einige Jahre lang gewähltes Mitglied der Dorfverwaltung war. Seinen Lebensbericht hat Rudolf Bing 1940 aus frischer Erinnerung auf einen Wettbewerb der Bostoner Universität hin geschrieben. Der zweite Teil wird hier, unwesentlich gekürzt und mit einigen wenigen Anmerkungen ver­ sehen, als Beitrag zu den Veranstaltungen, die an die sog. Reichskristallnacht erinnern sollen, bekanntgegeben. Das gesamte Typoskript wird im Stadtarchiv Nürnberg unter der Signatur F 5 (Quellen und Forschungen zur Nürnberger Geschichte) Nr. 494 aufbewahrt. Dr. Kuno Ulshöfer * Wir haben vom 30. Januar 1933 bis zum 25. Mai 1939, an welchem meine Frau und ich den deutschen Boden verließen, den ganzen Leidensweg der deutschen Juden zurückgelegt. Viele unserer Erlebnisse und die unserer Umgebung decken sich mit den sattsam bekannten Erfahrungen unserer Glau­ bensgenossen. Ich kann nur bestätigen, daß alles, was das englische Weißbuch1 und zahlreiche in- und ausländische Augenzeugen in der ausländischen Presse berichtet haben, sich überall und in ungezählten Einzelvorgängen wiederholt hat. Dem Ausland ist entgangen, daß es im Dritten Reich doch eigentlich ein ganz anderes Deutschland vor sich hat als 1914. Immer wieder spricht man im Ausland von „Preußentum“ im Gegensatz zum wahren Deutschland. Das ist, schon nach ganz äußeren Gesichtspunkten beurteilt, falsch. Die Führer des neuen Deutschland entstammen zum überwiegenden Teil nicht den Landes­ teilen und nicht den Bevölkerungsschichten, die früher führend waren. Merk­ würdigerweise kommen sie fast alle aus Bayern. Tatsächlich ist im Laufe dieser sieben Jahre systematisch gerade das Element zurückgedrängt worden, das in der Welt preußische Tradition verkörpert hat, die Aristokratie, das Beamtentum und vor allem das auf seine Unabhängigkeit so stolze preußische Richtertum. Es ist wohl kein Zufall, daß der Name „Bis­ marck“ im Dritten Reich fast niemals in der offiziellen Rhetorik und Propa­ ganda genannt wird. Der deutsche Schriftsteller Fontane hat einmal vom deut­ schen Volk gesagt, oben und unten sei es ausgezeichnet, die Mitte sei scheuß­ lich. Gerade diese Mitte, noch dazu deklassiert und entwurzelt durch Inflation und verheerende Deflationskrisis, ist ans Ruder gekommen, und zwar in ihrer 1 Weißbuch = White Paper (Palestine: A Statement of Policy, May 1939). Siehe dazu: A. J. Sherman, Island Refuge. Britain and Refugees from the Third Reich. 1933 — 1939. London 1973.

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kleinbürgerlichsten Schicht, geführt von katilinarischen Existenzen. Man hat schon vor der Machtergreifung häufig die Partei der Nazis die Partei der Fri­ seurgehilfen und Postsekretäre genannt. Halbbildung, Überheblichkeit und Neid zeichnet diese Schicht aus und wenn sie zur Macht gelangt, eine hem­ mungslose Brutalität. Der Führer selbst ist ihr reinster Exponent. Man muß in den Zeiten um die Machtergreifung erlebt haben, wie untere und mittlere Beamte ihre Vorgesetzten aus der höheren Beamtenschicht bespitzelt und denunziert haben. Man hat damals oft gesagt, das Führerprinzip zeige sich im Staatsdienst in der Hauptsache in der Furcht vor dem Unter­ gebenen. Mancher höhere Beamte hat dem Anwalt, wenn er sich in der Amts­ stube unbelauscht fühlte, sein Herz ausgeschüttet. Zunächst wütete nach dem 30. Januar 1933 die Institution der Schutzhaft, die dann zur Einrichtung der Konzentrationslager führte. Zahlreiche junge jüdische Menschen, aber auch ältere, die irgend einmal in Bünden oder auf der Universität sich sozialdemokratisch betätigt oder in dieser Richtung nahe­ stehenden Kreisen verkehrt hatten, waren die ersten Opfer. Immer wieder die gleichen Erfahrungen der unglücklichen Angehörigen: eine Mitteilung der Polizei, der Sohn oder Ehemann sei gestorben, Übersendung eines amtlich ver­ siegelten Sarges, der nicht geöffnet werden durfte, späterhin der Urne. Die Frau des Nürnberger Arztes Dr. Katz2 hatte nach unendlichen Bemühungen die Freilassung ihres Mannes aus Dachau erlangt. Sie ging zum Bahnhof, um ihn abzuholen. Er kam nicht. Stattdessen erhielt sie kurz darauf die polizeiliche Mitteilung seines plötzlichen Todes. Das Schicksal des jungen Nürnberger Rechtsanwaltes Dr. Rosenfelder3 ist auch in der ausländischen Presse bespro­ chen worden. Er war ein äußerst befähigter Strafverteidiger und hatte als Anhänger der Sozialdemokratie viele politische Prozesse, namentlich auch gegen Streicher, geführt. Niemand weiß, auf welche Art er ums Leben gekommen ist. Max Hans Cohn4, ein junger Student aus Nürnberg, war im Lager angeblich auf der Flucht verletzt , aber wieder geheilt worden. Nach mehreren Jahren bedeutete die Tatsache, daß sein Fall in der englischen Presse besprochen wurde, sein Todesurteil. Warum und in welcher Weise er schließ­ lich gemordet wurde, haben seine Angehörigen nie erfahren. Ich könnte diese Beispiele noch beliebig vermehren. In meinem Berufe trat auf einmal eine „Vereinigung der deutschen Anwälte“ in Erscheinung, die in der Presse be­ schimpfende Aufrufe zum Boykott der jüdischen Anwälte veröffentlichten. Ihr erster Vorstand trat aber bald in den Hintergrund, weil einige Widersacher in seinen Kreisen entdeckten, daß seine Schwiegermutter eine Jüdin sei.

2 S. dazu Arnd Müller: Geschichte der Juden in Nürnberg 1146—1945. Nürnberg 1968, S. 218. 2 Müller S. 218. 4 Müller S. 218.

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Es kam der berühmte 1. April, an dem unsere Kanzleien mit dem gelben Fleck gleich allen Geschäften versehen wurden und SA-Leute vor den Ein­ gängen standen. Wir hatten zudem das „Glück“, in Bayern Herrn Frank5 als Justizminister zu bekommen, der das Seinige für die „Reinigung der Justiz“ und für die Schaffung der nötigen Gesetze tat. Sein eigener Vater war wegen schwerer Verfehlungen aus dem Anwalts­ stande gestoßen worden und hatte eine längere Gefängnisstrafe verbüßt. Bei seinem Amtsantritt versprach Frank, sich insbesondere für die Reinhaltung des Anwaltsstandes und strengste Handhabung der Standesdisziplin einzusetzen. Aber eine seiner ersten Amtshandlungen war, daß sein vorbestrafter Vater in gänzlich ungesetzlicher Weise wieder zur Anwaltschaft zugelassen wurde und so die Praxis seines Minister gewordenen Sohnes übernehmen konnte. Natürlich hatte das Dritte Reich die bisherigen Standesvertretungen der Anwaltskammer aufgehoben, womit meine Tätigkeit als Vorstandsmitglied ihr Ende gefunden hatte. Meine christlichen Kollegen im Vorstand hatten sich mit einer Ausnahme bis zur Auflösung unseres Kollegiums tapfer und charakter­ voll benommen. Der neue Vorstand wurde vom Gauleiter und dem Justiz­ ministerium, also Herrn Frank, bestimmt, der erste Vorsitzende hieß nun Prä­ sident und übte kraft des Führerprinzips alle Befugnisse uneingeschränkt selbst aus, während die anderen Mitglieder nur Berater und evtl. Richter in ehrengerichtlichen Verfahren blieben. Das Amt erhielt ein Kollege6, für den ich fast zwanzig Jahre früher, als er für den Reichstag kandidierte, agitiert hatte. Er war daneben dritter Bürgermeister Nürnbergs im Ehrenamt geworden, das heißt, dieses Ehrenamt war mit einem monatlichen Gehalt von 1000 Mark verbunden. Er hatte einigemale Nazi­ führer verteidigt und verfügte bei geringen Fähigkeiten über eine gewisse populäre Rednergabe und Fähigkeit zur dramatischen Wiedergabe der jeweils geläufigen Schlagworte. Im ganzen war er aber ein gutmütiger Mensch und froher Geselligkeit mehr zugeneigt als ernster Beschäftigung. Einige Jahre zuvor hatte sich seine rhetorische Begabung in der Leitung der Nürnberger Friedensgesellschaft und einer aus linksradikalen Elementen bestehenden Frei­ maurerloge bewährt. Oberbürgermeister Luppe, den man natürlich abgesetzt hatte — er war auch einige Wochen in Schutzhaft — mußte um seinen Ruhege­ halt prozessieren, den man ihm grundlos vorenthielt. Er gewann in erster Instanz. Der erwähnte Präsident der Anwaltskammer vertrat die Stadt. Wegen der Höhe des Ruhegehaltes bestanden einige, nicht ganz einfache Rechts­ fragen. Der Referent der Stadt lieferte ihrem Anwalt ein den Standpunkt seiner 5 Hans Frank, 1946 in Nürnberg hingerichtet, war 1933/34 bayerischer Justizminister, 1934 Reichsminister ohne Geschäftsbereich, 1939 Generalgouverneur im besetzten Polen. 6 Zu diesem, Dr. Christian Kühn, S. Hermann Hanschel: Oberbürgermeister Hermann Luppe. Nürnberger Kommunalpolitik in der Weimarer Republik (= Nürnberger Forschungen 21). Nürnberg 1977, S. 384-387.

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Partei begründendes Expose, das dieser ungesehen als seine Berufungsschrift abschreiben ließ und dem Gericht übergab. Dabei hatte er übersehen, die Schlußbemerkung des Referenten zu streichen, die lautete: „Ernstliches können wir gegen die Klage wohl nicht Vorbringen. Wir werden wohl am besten einen Vergleich anstreben.“ So wurde sie zur großen Heiterkeit des Gerichts und des Gegners eingereicht. Aber nicht dieser Vorfall brachte den Mann um seine Bürgermeisterwürde, sondern die von eingefleischten Parteige­ nossen beobachtete Tatsache, daß er in einem Weinrestaurant einem am Nebentisch sitzenden Juden zutrank. Führer der Anwaltsgruppe im nationalsozialistischen Rechtswalterbund, einem nicht unwichtigen Amt, wurde ein junger Anwalt, der wenige Wochen später diszipliniert werden mußte, weil er einen armen Mandanten überfor­ derte. In ähnlicher Weise haben hohe Funktionäre der Partei häufig wechseln müssen. Präsident der Handelskammer Nürnberg, des wichtigen Zentrums deutschen Exports, wurde ein Spediteur, der bereits den Offenbarungseid geleistet hatte und der dann auch in der Folgezeit wegen im Einzelnen nicht bekannt gewordener Vorkommnisse abgesägt wurde. (Auch diese Personalien sind nur Beispiele und durchaus keine erschöpfende Aufstellung.) Das Präsi­ dium der Handwerkskammer wechselte, weil der dort fungierende Partei­ genosse, wie man in Nürnberg allgemein erzählte, hinsichtlich der Verwen­ dung der amtlichen Gelder eine zu großzügige Auffassung hatte. Das, was im Bilde des Auslandes am Nazitum fehlt, ist die immer mehr um sich greifende Korruption des öffentlichen Lebens, eine Erscheinung, die bisher in Deutschland völlig unbekannt und dem so starken deutschen Gefühl für Pflicht und Korrektheit wesensfremd war, die sich nur daraus erklärt, daß die ans Ruder gelangte Organisation von Anfang an eine Art von Maffia gewesen ist. Eine „verschworene Gesellschaft“ pflegt sie der Führer ja selbst zu nennen. Sie ist trotz aller Erfolge dem deutschen Volk wesensfremd. Es ist bezeichnend, wie oft ich auf Reisen im Eisenbahnwagen das Gespräch hören konnte: „Ja, die Bewegung wäre schon recht, und der Früher ist sicher ein großer Mann, aber bei uns da in X-hausen oder in Y-heim, da treibt es der und der Funktionär arg; da hat z. B. in Straubing ein Innungsführer die Arbeiten der großen Brücke unter sich gehabt, monatelang haben die Hand­ werker auf Bezahlung ihrer Lieferung warten müssen, und als sie bei der aus­ führenden Behörde vorstellig wurden, erfuhren sie, daß dem Innungsführer längst das Geld zur Verteilung angewiesen worden war“ - und plötzlich hat dann der Gesprächspartner ganz ähnliche Vorkommnisse aus seiner Gegend zu berichten. In Nürnberg wurde vor etwa drei Jahren ein Prozeß gegen acht Angeklagte, lauter alte Parteigenossen und Funktionäre, hinter verschlossenen Türen geführt, die beträchtliche Gelder des Winterhilfswerkes unterschlagen hatten. Ihren Verteidigern war wegen Gefährdung des Staatsinteresses strenge 193

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Geheimhaltung zur Pflicht gemacht worden. Merkwürdigerweise waren die Angeklagten alle auf freiem Fuß, und einer von ihnen, ein früherer Offizier aus Streichers intimem Kreis, bestieg während des Prozesses vom Gerichtsgebäude weg ein Auto und floh über die tschechische Grenze. Die anderen wurden zu hohen Zuchthausstrafen verurteilt. Hatte doch kurz vorher der Führer schwerste Strafe jedem in Aussicht gestellt, der sich auch nur im Geringsten an Geldern des Winterhilfswerkes vergreifen würde. Einige Tage nach der Urteilsfällung erschien der Gauleiter Streicher im Gerichtsgebäude und ließ alle Richter und Staatsanwälte im großen Schwurgerichtssaal Zusammen­ kommen. Er hielt eine Ansprache an sie, Strenge sei im Dritten Reich geboten, aber man müsse für bewährte Männer der Partei, die menschlich einmal ent­ gleist seien, menschliches Empfinden haben; die Strafen des Winterhilfs-Pro­ zesses seien zu hoch gewesen. Die Richter sollen sich doch einen gerade lau­ fenden Film mit Pola Negri ansehen — es war meiner Erinnerung nach ein schrecklich kitschiger Kriminalfilm —, von der durch sie dargestellten Heldin und den dort fungierenden Richtern könnten sie menschliche Größe und vor­ bildliches Richtertum kennenlernen. Das weitere Schicksal der Angeklagten dieses Prozesses habe ich leider nicht erfahren können, ich glaube aber kaum, daß sie ihre ganze Strafzeit abgebüßt haben. Die Justiz ist [damals] zweifellos integer geblieben. Aber wenn auch äußerlich integer, wie kann ein Richter unparteiisch walten, über dessen Beförderung und Anstellung Parteistellen entscheiden, die sich ganz offiziell über seine „politische Zuverlässigkeit“ äußern, dessen ehemals verfassungsmäßig verankerte Unabhängigkeit nach dem Beamtengesetz des Dritten Reiches nur noch darin besteht, daß er wegen der Begründung, die er seinen Urteilssprüchen gibt, nicht zur Verantwortung gezogen werden kann. Wohl gab es noch aus früheren Zeiten Richter von altem Schrot und Korn. Sie werden von Tag zu Tag weniger und es ist dafür gesorgt, daß nur „politisch Zuverlässige“ nachrücken. Weit schlimmer aber ist die Ausschaltung der Gerichte überhaupt infolge des Terrors der SA und sonstigen Parteistellen, wie sie namentlich den Juden gegen­ über von Beginn des Dritten Reiches an in Erscheinung trat. Gerade dem Anwalt bot sich ein reiches Feld, dies zu beobachten. Die Schuldner jüdischer Geschäftsleute schrieben alsbald ihren Gläubigern, wenn sie gemahnt wurden, sie seien von den Juden betrogen worden oder sie hätten Gegenforderungen wegen einer, weiß Gott wie viele Jahre zurückliegenden Benachteiligung, oder späterhin, sie hätten nicht gewußt, daß sie bei einem Juden gekauft hätten, drohten mit Einschreiten der SA oder Veröffentlichung im „Stürmer“. Man schickte dem unbequemen Gläubiger wohl auch SA ins Haus. Manchmal schal­ teten sich auch ein Parteiamt, eine Rechtsbetreuungsstelle, der Standarten­ führer, der Ortsgruppenführer oder Gott weiß welche Stellen ein mit beschimp­ fenden antisemitischen, in autoritativem Ton gehaltenen Ausführungen. 194

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Längst entschiedene und beglichene Angelegenheiten wurden wieder aufge­ griffen. Zuletzt wagten Juden überhaupt nur noch in seltenen Fällen, ihre Rechte geltend zu machen. Es gab anfangs namhafte christliche Anwälte, die sich nicht scheuten, sich für das gute Recht ihrer jüdischen Mitbürger einzu­ setzen. Der „Stürmer“ prangerte sie in seinem „Briefkasten“ als Judenknechte an und forderte zu ihrem Boykott auf. In Fürth kam es vor der Wohnung eines christlichen Anwaltes, der oft Juden vertrat, zu lärmenden Kundgebungen durch in Zivil gekleidete SA-Leute. Die Sache war natürlich von der Organisa­ tion inszeniert. Presse und Polizeibehörde sprachen dann von einem Akt ver­ ständlicher oder wohl auch berechtigter Volksempörung. Von ähnlichen Vor­ fällen Betroffene riskierten, wenn sie sich an die Behörden wendeten, daß sie zunächst, wie es hieß, zu ihrer eigenen Sicherheit in Schutzhaft genommen wurden, und dann bestand immer die Gefahr, daß man in ihrer Vergangenheit nach Vorwänden suchte, um sie nach Dachau zu bringen. Ein Jude aus einem kleinen Platz wurde in Hersbruck von einem SA-Führer seines Heimatortes in Gegenwart eines Polizeiorgans ins Gesicht geschlagen und verbrachte dann einige Tage in Schutzhaft. Sein sehr tapferer jüdischer Anwalt — es war der gleiche, der einmal Herrn Streicher mit der Reitpeitsche gezüchtigt hatte — führte mit vorbildlicher Energie die Schadensersatzansprüche des Verletzten vor Gericht durch. Der Täter leugnete. Der erwähnte Polizeibeamte, als Zeuge vernommen, erklärte, nichts gesehen zu haben, bis es zur Beeidigung kam und er die Wahrheit bekundete. Der Kreisleiter der Partei, der mehrfach an das Gericht Schreiben gerichtet hatte und der als Bürgermeister von Hersbruck auch der Vorgesetzte des Zeugen war, hatte ihn offenbar beeinflußt. Nach dem 1. April 1933 hat mich ein junger christlicher Kollege aufgesucht, mit jugendlichem Enthusiasmus seine Entrüstung bekundet und erklärt, er wolle eine Kundgebung des anständig denkenden Teils der christlichen Kol­ legen gegen die Beschimpfung der jüdischen Anwälte veranlassen. Ich riet ihm von dem beabsichtigten Schritt ab, der ihn sicher nach Dachau gebracht und uns sicher nicht genützt hätte. Dieser aufrechte Mensch vertrat einen ehema­ ligen Gewerkschaftsführer, den eine Baugenossenschaft aus einem ihrer Sied­ lungshäuser vertreiben wollte, wobei sie als wichtigen Grund für die Kündi­ gung des Mietverhältnisses unter anderem angab, der Beklagte habe bei der vorhergehenden Volksabstimmung gegen den Führer gestimmt und hierfür den Vorstand des fraglichen Wahlbüros als Zeugen benannt. Sein Anwalt wies auf das Wahlgeheimnis hin und drohte, den Wahlvorsteher, wenn er aussage, wegen Verletzung desselben anzuzeigen, worauf man seinen Mandanten unbe­ helligt ließ. Die Rache folgte. Gegen den Anwalt selbst wurde vor dem Ehren­ gericht der Anwaltskammer Anklage erhoben, weil er selbst seine Stimme bei dieser Wahl überhaupt nicht abgegeben und „dadurch die Pflichten eines Anwaltes gröblich verletzt habe“. Er wurde mit dieser Begründung in zweiter 195

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Instanz aus dem Anwaltstande ausgeschlossen. So sieht die Freiheit bei den „Wahlen“ in Deutschland aus. Die einzelnen Etappen der Judengesetzgebung, Nürnberger Gesetze, all­ mählicher Ausschluß von nach und nach allen Berufen, Beraubung ihres beweglichen und unbeweglichen Vermögens sind bekannt. Schon bevor die „legislatorischen“ Grundlagen geschaffen waren, setzte die Enteignung, „Ari­ sierung“ genannt, mit allen Mitteln des Terrors ein. Der von Lion Feuchtwanger in seinem Roman7 geschilderte Vorgang, wie die Familie Oppenheim um ihre Möbelfabrik gebracht wird, ist typisch und hat sich mit Variationen ungezählte Male abgespielt. Nur ein Beispiel: In Fürth wurde der Chef einer Fabrik, des größten Werkes der Branche, ein ganz alter Herr, verhaftet, weil er einer Arbeiterin seines Werkes zu nahe getreten sei. Die „Sitten-Polizei“, welche den Fall behandelte, forderte gleichzeitig bei seinem Buchprüfer Bilanzen und Rentabilitätsberechnungen seines Geschäftes ein. Jetzt wußte man, was es geschlagen hatte. Die Fabrik wurde an den bereitstehenden betref­ fenden Arier verkauft, und der alte Herr erhielt seine Freiheit wieder. Nürn­ berg als die Residenz Streichers und die Stadt der Reichsparteitage war natür­ lich auf allen diesen Gebieten bahnbrechend. Schon in der ersten Zeit des Dritten Reiches kam es auf dem Lande in der weiteren Umgebung zu Ausschreitungen, ja zu Erschlagungen von Juden. Die Tochter des damaligen amerikanischen Botschafters Dodd8 war ja, wie bekannt, Zeugin von wüsten Ausschreitungen gelegentlich ihres Nürnberger Aufenthaltes. Im August 1933 bereits wurden in zahlreichen Orten des Rei­ ches die Häuser und das Kapitalvermögen des unabhängigen Ordens Bnai Brith beschlagnahmt, wie auch die meisten Verbindungshäuser jüdischer Stu­ dentenverbindungen. In Nürnberg, wo man um einige Grade radikaler sein mußte, gab dies das Signal zu einer viel weitergehenden Aktion. Man hatte das Mitgliederverzeichnis einer der beiden dort bestehenden Logen in Händen. Ich hatte das Glück, daß gerade die Mitglieder der Loge, der ich angehörte, von der Aktion verschont blieben. Dem erwähnten Verzeichnisse entsprechend wurden die Angehörigen dieser Organisation in frühester Morgenstunde von SA-Leuten aus ihren Wohnungen geholt und auf zwei verschiedene Sport­ plätze geschleppt. Es wurden auch zahlreiche andere Juden, die mit den Mit­ gliedern in gleichen Häusern oder in der Nachbarschaft wohnten, mitge­ nommen. Auf den Sportplätzen zwang man sie zu unsinnigen Arbeiten. Sie mußten zum Beispiel Ziegelsteine auf- und abladen, und auf einem Sportplatz zwang man die Leute sogar dazu, Gras vom Erdboden mit den Zähnen auszu­ reißen. Mehrere wurden von SA-Leuten mit Gummiknüppeln über die Renn7 Es handelt sich um den 1933 erschienenen Roman Die Geschwister Oppenheim. 8 William Edward Dodd (1869—1940), amerikanischer Historiker und Diplomat, 1933—1937 Bot­ schafter in Berlin.

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platze gejagt und blutig geschlagen. In einer Anzeige der jüdischen Gemeinde an das Polizeipräsidium wurden alle diese Vorkommnisse niedergelegt. Aber die bayerische Regierung erließ einige Tage nach diesem Vorfälle eine Amne­ stie für alle Delikte politischen Beweggrundes! Einige Monate darnach ist ein Jude von einem rheinischen Gericht, weil er von diesen Nürnberger Vor­ kommnissen erzählte, wegen Greuelpropaganda zu einer Gefängnisstrafe ver­ urteilt worden. Ein anderer Angeklagter entging vor dem gleichen Gericht der Strafe dadurch, daß er sich an einen Nürnberger Anwalt wandte, der noch vor der Verhandlung das Material der Nürnberger jüdischen Gemeinde dem Gericht vorlegte. Der Vorsitzende war peinlich berührt, denn er hatte, wie die frühere Verurteilung bewies, die Erzählungen von den Nürnberger Ereig­ nissen für reine Phantasieprodukte gehalten, die unmöglich wahr sein könnten. Wegen des Logen-Vermögens habe ich dann noch einen längeren Kampf geführt. Die Besetzung unseres Hauses war eine völlig illegale Aktion gewesen. Wohl traf ich bei meinen Besuchen bei Kreisregierung und Ministe­ rium Beamte aus früheren Zeiten, die über die begangene Vergewaltigung sichtbar betroffen und beschämt waren und denen doch die Hände gebunden waren. Erreicht habe ich zunächst nur, daß das Anwesen ebenso wie unser Fonds aus der Hand einer Organisation, genannt „Kampfbund für deutsche Kultur“, in die geordnete Verwaltung des Polizeipräsidiums übergingen und wir noch drei Jahre die Sterbegelder aus einer Leichenkasse den Angehörigen verstorbener Mitglieder auszahlen konnten. Schließlich wurden die Maß­ nahmen gegen die jüdischen Logen immer schärfer. Im Sommer 1937 zog das Reich das gesamte Vermögen des Ordens in ganz Deutschland im Werte meh­ rerer Millionen ein. Allein das Logen-Gebäude in Berlin war ein MillionenObjekt. Dabei kam es zu einer abermaligen Aktion, wobei ich in meiner Wohnung und meiner Kanzlei eine mehrstündige Haussuchung erlebte und etwa zwölf Stunden im Polizeiarrest zubrachte. Gelegentlich der Haussuchung wurde meine Bibliothek von allen Büchern gereinigt, die gänzlich ungebildete Gesta­ po-Leute als politisch gefährlich erachteten. Einen Führer durch die Stadt Moskau aus dem Jahre 1898 und Fürst Bülows „Deutsche Politik“ haben mir aber ihre Vorgesetzten nach einigen Tagen zurückgegeben. Ich muß noch einiges von Herrn Streicher und den Leuten seiner nächsten Umgebung erzählen. Längst ist die Popularität seiner ersten Kampfzeit ent­ schwunden. Sein üppiges Satrapenleben in voller Öffentlichkeit, seine Bruta­ lität und offenkundige Bereicherung haben ihn zum bestgehaßten Manne gemacht. Die Stadt kaufte das Palais9 des Großindustriellen Freiherrn von Cramer-Klett mit herrlichem Park, das für ihn völlig umgebaut und modernisiert und auf das üppigste möbliert wurde. In der Nacht, in der er einzog, wurde an 9 Äußere Cramer-Klett-Straße 4.

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die Mauern mit Schablonen die Inschrift geschrieben: „Wo hast Du denn die Villa her, es gibt doch keine Bonzen mehr.“ Nach Entfernung wurde die gleiche Inschrift noch einmal angebracht. Seitdem wird das Palais Tag und Nacht von Polizeibeamten in Zivil bewacht. Jedenfalls ist der mittellose Schul­ lehrer von einst ein sehr vermögender Mann geworden, der vor einiger Zeit in der Lage war, einem seiner Söhne ein großes Gut10 um dreihunderttausend Mark zu kaufen. Es haben einige seiner Intimen bei den Arisierungen ganz große Gewinne erzielt, und es heißt in Nürnberg, daß er selbst an manchen dieser Unternehmungen beteiligt sei, so an den großen, sehr rentablen „Camelia-Werken“, einer Fabrik von Toilettenpapier und dergleichen. Übrigens würde schon der Vertrieb des „Stürmers“ genügt haben, um ihn im Verlauf der Jahre zum Millionär zu machen. Bezeichnend ist, daß sich bei vielen Arisierungen immer Angehörige zweier bestimmter Cliquen der Nürnberger Partei um die Beute stritten. Weihnachten 1937 ordnete Streicher einen Boykott aller jüdischen Läden, beginnend zehn Tage vor den Feiertagen, an. Die christlichen Ladenbesitzer wurden nach dem Fest durch ein Rundschreiben ihres Verbandes überrascht. Hier hieß es, sie verdankten dieser Anordnung Streichers ein glänzendes Weihnachtsgeschäft. Es werde daher verlangt, daß sie drei Prozent des Umsatzes dieser Tage (in vielen Fällen war dies ihr gesamter Nutzen) ablieferten, damit man Streicher an seinem Geburtstag würdig im Namen des Detailhandels beschenke. Kurz darauf erhielten viele von ihnen ein vervielfältigtes anonymes Schreiben mit lebhaften Angriffen, ja Beschimpfungen, des Gauleiters. Er wurde darin beschuldigt, daß er keine Steuern bezahle und auch die städtischen Abgaben, die er für Gas, Wasser und Elektrizität seines Palais schulde, nicht entrichte. Die Polizei suchte fieberhaft nach den Urhebern dieses Schreibens, soviel ich weiß, ohne Erfolg. Am Geburtstag selbst sagte Streicher, niemand, der ihn kenne, hätte daran gezweifelt, daß die so gesammelte Summe von ihm für einen gemeinnützigen Zweck verwendet würde, und bestimmte sie für ein Museum der Bewegung. Aber an demselben Geburtstage wurde ihm von befreundeten Parteigenossen ein Grundstück für ein zu errichtendes Einfamilienhaus gestiftet, weil er sich angeblich in seinem prunkvollen Palais nicht wohlfühle. Man hat jedoch nicht gehört, daß er diese Wohnstätte aufgegeben hätte. Im Sommer 1938 erschoß sich plötzlich Streichers Adjutant König11. Herr Streicher bereitete ihm ein Ehrenbegräbnis ganz großen Stils mit Massenauf­ gebot aller Organisationen der Partei und der Belegschaften der Fabriken. Alle 10 Pleikershof bei Cadolzburg, am 5. 2. 1937 erworben; s. dazu Gerhard Pfeiffer: Nürnberg — Geschichte einer europäischen Stadt. München 1971, Kap. 74: Im Dritten Reich. Von H. H. Hofmann, S. 458. 11 SA-Oberführer Hans König (Selbstmord am 5. 2. 1939); s. dazu Utho Grieser: Himmlers Mann in Nürnberg (= Nürnberger Werkstücke zur Stadt- und Landesgeschichte 13). Nürnberg 1974, S. 308.

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öffentlichen Gebäude mußten Halbmast flaggen, Streicher selbst hielt die Trauerrede. Am nächsten Tage war der Führer selbst in Nürnberg, und man hörte, die Leiche Königs sei aus dem Ehrengrab ausgegraben und auf einen anderen Friedhof verbracht worden, alle Kränze seien entfernt und das ursprüngliche Grab dem Erdboden gleichgemacht worden. Was war geschehen? Es stellte sich heraus, Königs Geliebte, eine Schauspielerin — er war verheiratet — war infolge einer vorgenommenen Abtreibung gestorben, zwei bekannte Nürnberger Arzte seien verhaftet worden, die sich damit vertei­ digt hätten, sie hätten den Eingriff auf Befehl von Parteistellen vorgenommen. Zweifellos war dem Verstorbenen der Revolver auf Befehl von hoher Stelle hingelegt worden. Die Ärzte wurden natürlich in aller Heimlichkeit abgeur­ teilt. Nach einigen Tagen erschien eine Bekanntmachung des Polizeipräsi­ diums, in der vor der Verbreitung von Gerüchten anläßlich des Todes Königs gewarnt wurde, sein Grab sei nur deswegen eingeebnet worden, um die Fun­ damente zum Grabmal zu legen, die Kränze seien in das Gauhaus verbracht worden, um sie vor der Witterung zu schützen. Zwei mit Namen genannte Männer seien bereits wegen Verbreitung von Gerüchten bestraft worden. Die erwähnten Männer waren Einwohner von kleinen Orten bei Nürnberg. Wo und wann die Verhandlungen gegen sie stattgefunden hatten, hat man nicht erfahren. Man sprach dann einige Zeit davon, daß Streicher in Ungnade gefallen sei. Jedenfalls verschwand der große Julius unmittelbar vor dem nächsten Führer­ besuch in Nürnberg und die Presse gab bekannt, er habe sich für längere Zeit zwecks operativer Beseitigung der Folgen eines früheren Skiunfalls in das Sanatorium Hohenlichow zurückziehen müssen. Ob nun dieses Sanatorium eine Art Ehren-Konzentrationslager war oder nicht, jedenfalls hat Herr Strei­ cher nach einigen Monaten seinfc Tätigkeit in Nürnberg wieder aufgenommen. Nürnberg hat im Dritten Reich die besondere Vorzugsstellung, die Stadt der Reichsparteitage zu sein. Ich habe nur den ersten Parteitag 1933 miterlebt. Wir Juden, übrigens auch viele unserer christlichen Landsleute, zogen es natürlich vor, diese Tage auswärts zuzubringen. Nürnberg verwandelt sich in dieser Zeit in eine brausende Weltstadt. Besondere Brücken werden zur Vorbereitung über Hauptverkehrsstraßen durch Pioniertruppen geschlagen, um die Aufzüge nicht zu stören; ein voller Mobilmachungsplan ändert den gesamten Eisen­ bahnverkehr. Die Kosten müssen denen eines Feldzuges gleich sein. Sie sind aber sicher gering im Verhältnis zu den vielen Millionen, die die Errichtung der Bauten auf dem Parteitagsgelände verschlungen hat. Ursprüng­ lich befand sich auf diesem Terrain das Stadium, errichtet von der Stadt unter Hermann Luppes Bürgermeisterzeit, ausgezeichnet durch eine goldene Medaille der Olympia-Spiele in Amsterdam 1928, ermöglicht durch die Beschäftigung von Arbeitslosen. Luppe wurde gerade wegen dieses Werkes, das viel zur Linderung der Arbeitslosennot beitrug, der Verschwendung 199

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geziehen. Außer diesem Stadion, worin man auch den Parteitag hätte abhalten können, stehen aber jetzt schon das ausgebaute Zeppelinfeld und die LuitpoldArena zur Verfügung, das „Märzfeld“ wird für die Vorführungen der Reichs­ wehr ausgebaut, vierzig Meter breite, mit besonders großen Platten belegte Straßen werden gebaut, der „Dutzendteich“, beliebtester Erholungsort der Bevölkerung, wurde trockengelegt, der schöne Tiergarten mit seinen hübschen Wasserflächen mußte weichen. Das größte Wunder dieser Bauten ist aber die in Errichtung befindliche „größte Kongreßhalle der Welt“. Ausgerechnet das trockengelegte Becken des Dutzendteiches bestimmte der Führer hierzu als Bauplatz. Immer wieder sanken die Fundamente in den Erdboden, immer wieder bekamen die Mauern Risse, Millionen verschlang der Sumpf, bis schließlich nach jahrelangen Versuchen verkündet wurde, es sei ein besonderes Verfahren gefunden worden, das einen festen Grund ermögliche. Einige hun­ dert Meter weiter, innerhalb des gleichen Terrains hätte fester Baugrund zur Verfügung gestanden. Daß der unter der ungeheuren Steuerlast erliegende Nürnberger Bürger mit gemischten Gefühlen das Parteitagsgelände, die soge­ nannte „Tempelstadt“ durchwandert, und Vergleiche mit seinem früheren gei­ steskranken Könige Ludwig II. und seinen Schloßbauten zieht, wird man mir wohl glauben. Dies ist alles nur eine Blütenlese aus Nürnberger Eindrücken. Zurückkeh­ rend zu meinem eigenen Schicksal will ich berichten, daß meine beiden Töchter 1933 und 1934, ihrer zionistischen Überzeugung getreu, nach Palä­ stina auswanderten und dort ihren Haushalt begründeten. Die eine heiratete ihren Nürnberger Verlobten und wohnt in Jerusalem, während die andere auf dem Land mit ihrem Lebensgefährten, einem jungen Wiener, siedelte. Wir konnten ihr so wenigstens noch die zur Begründung der bescheidenen Exi­ stenz erforderlichen Mittel mitgeben. Meine Frau und ich haben sie vor unserer endgültigen Umsiedlung drei Mal als Touristen besuchen können. Unter dem mächtigen Eindruck jüdischen Lebens im Heiligen Lande bin ich selbst der zionistischen Bewegung beigetreten. In den stürmischen Zeiten nach dem Grünspan-Attentat habe ich den Vorsitz der zionistischen Ortsgruppe geführt und das Nürnberger Palästina-Amt geleitet, unterstützt von einigen Freunden, die opferwillig aushielten und leider jetzt noch zum Teil den Gefahren des Hitlerregimes ausgesetzt sind. Selbstverständlich war nunmehr auch mein Bestreben darauf gerichtet, mit meiner Frau zu meinen Kindern zu gelangen. Der auf den Juden lastende Druck, ihre Herabwürdigung und Schikanierung nahm täglich zu. Um so enger schloß man sich zusammen. Ich kann von der Mehrzahl meiner Glau­ bensgenossen bezeugen, daß sie innerlich an Gemeinschaftsgefühl und Opfer­ bereitschaft wuchsen. Ich habe insbesondere bei Beratungen von Auswande­ rern und schließlich am eigenen Leib den Leidensweg gründlich kennenge­ lernt, den dieses Ziel erforderte. Auf der einen Seite herrschte stärkster Terror 200

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der Parteistellen, um zur Verfassung des Reichsgebiets zu zwingen, auf der anderen Seite wurden jedem einzelnen alle Prügel in den Weg geworfen, die sich aus Steuer- und Devisengesetzgebung und ihrer oft ganz willkürlichen Handhabung ergaben. Die Devisenstelle Nürnberg war besonders gefürchtet. Ohne jede gesetz­ liche Handhabe forderte man hier von den Auswanderern ungeheure Abfin­ dungen für die Genehmigung zur Mitnahme des Auswandererguts, manchmal im zehnfachen Betrag des Wertes, wobei es oft nicht einmal möglich war, die für die Festsetzung maßgebenden Gesichtspunkte zu erfahren. Bei den gering­ sten formellen Verstößen veranlaßte sie Strafverfolgung. Es ist sogar einmal der Versuch gemacht worden, einen besonders energischen christlichen Devi­ senberater wegen Verleitung zur Abgabe einer falschen eidesstattlichen Ver­ sicherung, um die Worte des betreffenden Beamten zu gebrauchen, „über die Klinge springen zu lassen“, indem man die Intrige versuchte, ein ihn völlig ent­ lastendes Schriftstück aus den dem Gerichte vorgelegten Akten „irrtümlich“ zu entfernen. Dies wurde in der Verhandlung entdeckt und der betreffende Beamte wurde aus Nürnberg unter irgendeinem Vorwände versetzt. Ungeheuerlich ist die Steuerbelastung der jüdischen Bevölkerung. Die deut­ sche Steuergesetzgebung begünstigt Verheiratete und namentlich Kinder­ reiche, sie trifft aber aufs schwerste ledige Personen. Nun ist seit dem Frühjahr 1939 als Schlußstein der Entwicklung, die die Juden benachteiligt, bestimmt worden, daß bei Juden Verheiratung und Kinder als nicht vorhanden betrachtet werden, so daß sie den Ledigen gleichgestellt werden. Wenn zum Beispiel eine unter fünfzig Jahre alte jüdische Witwe mit drei minderjährigen Kindern ein jährliches Einkommen von 4300.— Mark hat, so muß sie 749.— Mark Steuern zahlen. Wäre sie Christin, so würde von vornherein schon wegen der in diesem Falle zulässigen höheren Abzüge der Besteuerung ein niedrigeres Einkommen zugrunde gelegt werden, so daß kaum eine Steuer von mehr als 63.— Mark übrigbliebe. Dazu kommt, daß für Juden jede Ermäßigung aus Gründen besonderer Härte ausgeschlossen ist. Hinzu kommen jetzt noch die besonderen Kriegszu­ schläge und außerdem Gemeindesteuern. Von den Vermögenskonfiskationen nach dem Grünspan-Attentat und der vexativen Reichsfluchtsteuer spreche ich später. Herr Streicher hat dafür gesorgt, daß an die Spitze seines Finanzbe­ zirkes ein besonders fanatischer Antisemit berufen wurde. In der ersten Besprechung, die dieser Beamte mit seinen Referenten abhielt, stellte er die Anzahl der Juden des Bezirkes fest, bezeichnete deren seiner Anschauung nach hohe Zahl für eine Schmach und erklärte es als Aufgabe seines Ressorts, für Herabminderung zu sorgen, also eine unverblümte Aufforderung seiner Untergebenen zu Terror und Parteilichkeit. Dieser Herr läßt sich alle Buch­ prüfungen jüdischer Steuerpflichtiger vorlegen. An den Rand eines Prüfungs­ berichtes, der nichts zu beanstanden gefunden hatte, schrieb er die Bemer201

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kung: „höchst bedauerliches Ergebnis“ und ordnete eine Wiederholung der Prüfung an. Die letzte Phase der Verdrängung der Juden aus dem gesamten Erwerbs­ leben erhielt von Nürnberg aus mehrmals besonderen Anstoß. So waren es die städtischen Behörden, die zuerst den jüdischen Kaufleuten und Reisenden die Ausstellung der erforderlichen Legitimationskarten verweigerten und ihren Erwerb damit stillegten. Es hätte gegen diese Willkür die Möglichkeit gegeben, das Verwaltungsgericht anzurufen. Aber die Kreisregierung in Ansbach als Zwischeninstanz, deren Präsident eine Kreatur Streichers12 ist, verschleppte systematisch die Behandlung der Sache. In der Zwischenzeit setzte, wie immer in diesen Fällen, eine Hetze der Presse ein, die Organisationen der Fachver­ bände inszenierten die erforderliche „Volksempörung“, bis schließlich die Reichsregierung angesichts der von ihr vorgetäuschten Stimmung die Gesetze schuf, die für das ganze Reich die Willkür der Stadt Nürnberg sanktionierte. Ein ähnliches Treiben war auch stets bei anderen Maßnahmen zu konsta­ tieren. So wurde insbesondere vor Erlaß der Nürnberger Gesetze verfahren. Das Unglück und Leid, das die Schaffung der Rassengesetze und die Blut­ urteile wegen Rassenschande erzeugt haben, ist unbeschreibbar. Anfangs sträubte sich bei vielen Richtern das natürliche Empfinden und sie sprachen nicht allzu hohe Gefängnisstrafen aus, mit der Folge, daß nach Verbüßung die Unglücklichen ins Konzentrationslager kamen. In Nürnberg amtiert ein hoher Richter, der sich bei einer Urteilsverkündung den Satz leistete: „Rassen­ schande ist schlimmer als Mord.“ Das Sondergericht, dessen Vorsitzender er ist, verhängt in diesen Fällen niemals eine Strafe unter fünf Jahren Zuchthaus. Unglaublich, zu welchen Bespitzelungen und Denunziationen die Rassenge­ setzgebung Veranlassung gibt. Ein Bekannter von mir war mit seiner jüdischen Frau, einer Blondine, spät abends in seine Wohnung zurückgekehrt. Einige Minuten hiernach begehrte ein Polizeibeamter Einlaß und erklärte, es sei ihm soeben mitgeteilt worden, daß der betreffende Herr ein deutsches Mädchen in seine Wohnung mitgenommen habe. Wenn bei einer der zahlreichen Haus­ suchungen durch Steuer- oder Zollbeamte irgendwelche Briefe oder Photogra­ phien gefunden werden, die irgendwie Beziehungen jetzt verbotener Art ver­ muten lassen, so erfolgen Verhaftung und lange Untersuchungen. In einem mir bekannten Falle war ein älterer Junggeselle sieben Monate in Untersuchungs­ haft, während in ganz Deutschland nach dem Aufenthalt der Schreiberin eines an ihn gerichteten Briefes gesucht wurde. Als er endlich vernommen wurde, konnte er ohne weiteres aufklären, daß der Brief von einer jüdischen Dame stammte. Allerdings waren auch gerade Versuche zur Arisierung seines bedeu­ tenden Geschäftes im Gange. 12 Grieser (S. 184) schreibt, daß der Regierungspräsident Dippold Streicher „nicht gewachsen“ gewesen sei.

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An die letzten Jahre meiner Berufsausübung kann ich nur mit Ingrimm zurückdenken. Selbstverständlich wagten meine christlichen Mandanten — es gab welche, deren Väter sich schon meines Rates bedient hatten — sich nicht mehr auf meine Kanzlei. Ein Herr, der eine Funktion in einer Partei-Organisa­ tion ausübte, wollte einen anhängigen Prozeß durch meine Kanzlei beendigen lassen. Er erhielt einen Verweis des Partei-Ehrengerichts. Dann kam die Zeit, als den christlichen Anwälten die Vertretung von Juden auch formell untersagt wurde, wodurch Juden an Gerichten, an denen es keine jüdischen Anwälte gab, so gut wie rechtlos wurden. Je länger das Dritte Reich dauerte, desto sonderbarere Urteile und Entschei­ dungen erzeugte der Rassenwahn. Ein alter jüdischer Herr in Nürnberg führte häufig das dreijährige Kind eines christlichen Ehepaares, das bei ihm in Unter­ miete wohnte, spazieren, weil die Eltern tagsüber im Geschäfte waren. Ein Nachbar nahm daran Anstoß. Der alte Herr sowohl wie die Eltern erhielten Strafbefehle, lautend auf Haftstrafe bei dem alten Herrn, auf Geldstrafen bei den Eltern, und zwar wegen groben Unfugs, weil sie durch ihr Verhalten öffentliches Ärgernis erregt hätten. Gegen Ende meiner Praxis waren allmäh­ lich die Richter aus früheren Zeiten aus den Strafgerichten, namentlich des Amtsgerichtes, verschwunden und durch jüngere Leute ersetzt, die durch die Schulung der SA als Studenten und Referendare gegangen waren. Ich denke mit Schaudern an meine letzte Verteidigung an einem Nürnberger Gericht. Ein Jude, der seinen Beruf als Vertreter verloren hatte, verbrachte seine Zeit als Zuschauer in den Gerichtssälen. Er wurde von zwei Nazis, die ihn kannten, in ein Gespräch über die Vorgänge verwickelt. Sie behaupteten, er habe schwere Vorwürfe über Staatsanwälte und Richter geäußert. Einer von ihnen wies ihn aus dem Gerichtsgebäude, was er sich begreiflicherweise nicht ohne weiteres gefallen ließ. Er wurde schließlich auf die Polizeiwache gebracht. Die Behauptungen der beiden Nazis gegen ihn, die er lebhaft bestritt, trugen für jeden objektiv Denkenden den Stempel der Erfindung. Ich konnte ermitteln, daß der eine Belastungszeuge, der offenbar eine große Rolle in der Partei spielte, und, wie ich erfuhr, sich schon als Denunziant betätigt hatte, schwer wegen homosexueller Vergehen früher an seinen Lehrlingen (er war Friseur) vorbestraft war. Ich konnte erwirken, daß die Akten hierüber zur Verhandlung herbeigezogen wurden, allerdings mit dem Vermerk, „nur für den Gebrauch des Gerichts“. Während der Vorsitzende, ein junger Richter, sich bei persönlicher vorhergehender Besprechung loyal gezeigt hatte, so daß ich mit einer objektiven Behandlung glaubte rechnen zu können, zeigte er sich in der Verhandlung selbst von ganz anderer Seite. Ich war erstaunt, daß eine große Zuschauermenge, offenbar lauter Nazis, aber auch eine Anzahl von Beamten, dem Staatsanwalt zuhörten und daß der homosexuelle Friseur von allen Seiten wie ein besonders angesehener Mann begrüßt wurde. Die Bekannt­ gabe des Inhalts über die Vorstrafen verweigerte der Richter durch Beschluß 203

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mit der Begründung, sie seien für die Frage der Glaubwürdigkeit ohne Belang. Bei jeder Frage an die beiden Zeugen wurde ich vom Richter unterbrochen: „Was bezwecken Sie mit Ihrer Frage?“ Die meisten Fragen ließ er dann nicht zu. Dagegen durfte der ehrenwerte Herr Friseur auch nach seiner Vernehmung noch ungestört vor den Richtertisch treten und Fragen oder Feststellungen veranlassen, als ob er Organ der Rechtspflege sei. Während der Beratung des Gerichts ging er auf dem Gerichtsgang mit dem Staatsanwalt, der doch seine Vergangenheit kannte, im freundlichen Verkehr auf und ab. Schließlich bekam mein Mandant wegen Beleidigung der Richter und der beiden SA-Leute ein­ einhalb Jahre Gefängnis. In der Presse schrieb ein Journalist, ich hätte ver­ sucht, meinem Glaubensgenossen mit talmudistischen Tricks zu helfen. Aber was hätte meinem Mandanten selbst eine Freisprechung genützt? Man hätte ihn dann eben in ein Konzentrationslager gesteckt. Derartige Erfahrungen hielten mich davon ab, mich um die Stelle eines zur Vertretung von Juden zugelassenen Rechtskonsulenten auch nur zu bewerben, als diese Stellen als einzige Form der Betätigung bisheriger Rechtsanwälte jüdi­ scher Abstammung geschaffen wurden. Ich war von vornherein der Überzeu­ gung, daß an dieser Justiz noch irgendwie mitzuwirken, gegen jede Menschen­ würde verstoße. Obwohl infolge der Schwierigkeiten der Sonderstellung der Juden gerade diese dringender und häufiger Rechtsberatung und Vertretung vor allen möglichen Stellen benötigten, hat man für einen ein Drittel Bayerns umfassenden Bezirk in Nürnberg nur vier Anwälte zugelassen, ohne Rück­ sicht, ob sie für die Auswanderungsberatung erforderliche Spezialkenntnisse besaßen. Sie mußten notwendigerweise der Geschäftsbelastung erliegen. Sie müssen zudem alles, was sie über eine bestimmte Höchstsumme verdienen, zum überwiegenden Teil an eine Ausgleichskasse abliefern, so daß sie, wenn man die hohe Steuerlast berücksichtigt, eigentlich niemals über ein Existenz­ minimum hinauskommen können. Alle Ehrenrechte des Anwaltes sind ihnen vorenthalten. In Nürnberg sitzen sie und plädieren sie bei den Gerichtsver­ handlungen an dem kleinen Tisch, wo sonst der Gerichtsdiener saß. Sie dürfen ihre Kanzleien nicht in Nürnberg selbst, sondern nur im Vorort Fürth haben. Das ganze System ist mit sadistischer Bosheit ausgeklügelt. Nun komme ich zu dem Höhepunkt Hitlerscher Judenpolitik, nämlich zu den Ereignissen des 9. November [1938] und der folgenden Tage, als der Lega­ tionssekretär der deutschen Botschaft in Paris, von Rath, seinen Verletzungen durch den polnischen jüdischen Staatsangehörigen Grünspan erlegen war. Nicht als ob dieser Vorfall die Bevölkerung in Wirklichkeit irgendwie erregt hätte. Das Straßenbild zeigte beim Bekanntwerden der Nachricht auch nicht die geringste Veränderung. Aber in Nürnberg erhielt die gesamte SA den Befehl, um Mitternacht auf dem großen Marktplatz in voller Uniform anzu­ treten. Es wurden dann ihre einzelnen Abteilungen auf die ganze Stadt verteilt. Alles, die Zuteilung jedes einzelnen Straßenzugs, war vorgesehen, jede Schar 204

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hatte von vornherein ihren ganz bestimmten Bezirk unter ihrem bestimmten Führer zugewiesen erhalten. Keine nichtuniformierte Zivilperson war betei­ ligt, als die Abteilungen in ihre Bezirke abmarschierten. Wir wohnten im ersten Stock eines großen Gebäudes, im Eigentum meiner Familie stehend, das einen sehr großen unbebauten Hof mit Hintergebäuden und Lagerhäusern hat. Gegen drei Uhr morgens fuhren wir, meine Frau und ich, aus dem Schlafe auf. Vor der Haustüre hörten wir entsetzliches Gebrüll, im Dunkeln sah ich einen Haufen Menschen vor dem Hause stehen, an allen Klingeln wurde geläutet und Stimmen schrien: „Aufmachen, sofort aufmachen!“ Ich rief sofort das Polizeipräsidium an und sagte nach Nennung meines Namens: „Ein Pöbel­ haufen versucht, in mein Haus einzudringen.“ „Sind Sie arisch?“, fragte eine weibliche Stimme. „Nein“, antwortete ich. Die Verbindung wurde hierauf von ihr ohne weitere Bemerkung abgebrochen. Inzwischen hatten die Leute vor dem Hause die Türfüllungen durchbro­ chen. Sie hatten die notwendigen Instrumente wie Äxte und dergleichen bei sich. Sie stürmten die Treppen hinauf zunächst in die oberen Stockwerke. Wir waren allein in der Wohnung, da wir uns wegen der bekannten Dienstboten­ schwierigkeiten für Juden schon lange ohne Hilfe zurechtfinden mußten. Worte vermögen es nicht auszudrücken, was ich in diesen kritischen Minuten der Geistesgegenwart und Klarheit meiner lieben Lebensgefährtin zu ver­ danken habe, die, obwohl leidend, auch nicht eine Minute den Kopf verlor. Wir hörten jammervolle Schreie auf der Treppe, offenbar wurde ein jüdischer Nachbar — wir erkannten seine Stimme — mißhandelt. „Wir wollen um keinen Preis in ihre Hände fallen.“ Meine Frau war es, die diesen Entschluß zuerst faßte. Mehr spielerisch hatten wir uns vorher manchmal überlegt, wie man bei etwaiger drohender Verhaftung wohl aus unserer Wohnung entkommen könne. Darnach handelten wir jetzt. Wir verriegelten die Wohnungstür, dann die Türe zu unserem Schlafzimmer mit anschließender Garderobe, banden die Leinentücher zusammen und befestigten sie am Fensterkreuz. Ich äußerte Bedenken, ob diese unsere Last aushalten würden. Schon hörten wir, wie auch die Wohnungstür eingeschlagen wurde. Das Fenster der Garderobe geht auf eine schmale Gasse, gegenüber einem Hopfenlager. Vor ihm, gegenüber dem Fenster, war ein Vordach, etwas niedriger, so daß zwischen ihm und dem Fen­ ster die Gasse noch etwa zweieinhalb Meter frei bleibt. Rasch entschlossen warf ich eine Matratze auf das Vordach, wagte den Weitsprung hinüber, warf die Matratze auf die Erde hinab und sprang hinunter. Oben drangen die Leute in die Wohnung. Meine Frau glaubte sich nicht auf das Halten des Fenster­ kreuzes und der Leintücher verlassen zu können. Plötzlich hing sie mit den Fingern angeklammert am Fenstergesims, ließ los und stürzte glücklicherweise in meine Arme, der ich unmittelbar unter ihr auf der hinabgeworfenen Ma­ tratze stand. 205

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Ich fiel natürlich mit meiner Last hin, aber die Matratze schwächte den Fall ab. Wir waren gerettet. Die Höhe, aus der sich meine Frau fallen ließ, ist die normale eines ersten Stockes. Ich schätze sie auf etwa zehn Meter. Alles spielte sich in wenigen Sekunden ab. Wir waren natürlich nur notdürftig bekleidet. Die Nacht war glücklicherweise mild. Während oben in unserer Wohnung und in allen anderen jüdischen Wohnungen des Anwesens ein fürchterliches Kra­ chen von fallenden Möbelstücken und beständiges Klirren von Glas und der­ gleichen gehört wurde, liefen wir über den großen Hof im Schatten der Lager­ gebäude hinter das Hinterhaus, in dem einige ärmere Leute wohnten, brachen Latten aus einem Zaun, schlüpften hindurch, bis wir in einem offenen Schuppen landeten, wo Weihnachtsbäume lagerten, unter denen wir uns frie­ rend bargen. Das Toben und Krachen im Vorderhaus hielt noch Stunden an. Als der Morgen dämmerte, klopfte ich im Hintergebäude bei einer dort wohn­ enden christlichen Familie, auf deren Treue wir uns verlassen konnten, an. Wir erfuhren, daß die Meute unsere Wohnung verlassen hatte, und wir kehrten in unser Heim zurück. Es bot sich ein unbeschreiblicher Anblick. Wir wateten in den Zimmern förmlich durch Trümmer und Scherben. Spiegel und sämtliches Geschirr waren zerschlagen. Die sämtlichen Schränke waren umgestürzt und mit Stuhlbeinen und Äxten zertrümmert worden. Meine Bilder, auf die ich stolz war, darunter wertvolle Ölgemälde, waren zerschnitten. Die Füllung der aufgerissenen Polstermöbel flog in der ganzen Wohnung umher. Kein Stuhl, kein Tisch mehr ganz. Auf dem Radioapparat war man offenbar mit Stiefeln herumgetreten. Meine Frau hatte sich bereits für unsere Auswanderung ausge­ stattet. Ihr hatte man sechzehn Kleider, fast durchweg neu, zerschnitten. Einige Schmuckstücke, die sie im Schlafzimmer zurückgelassen hatte, fanden sich aber unter den Trümmern. Gestohlen hatte man nicht. Ich konnte im Verlauf des folgenden Tages feststellen, daß in gleicher Weise in meiner Kanzlei gehaust worden war, alle Schreibmaschinen wie auch das sonstige Mobiliar waren gänzlich zerschlagen. Die Akten waren in allen Räumen zerstreut oder gänzlich zerrissen. In der ganzen Stadt boten die meisten jüdischen Wohnungen den gleichen Anblick. Namentlich waren aber alle Läden vollständig demoliert. Bald hörte man aber noch viel traurigere Botschafen. Am Nachmittag des Vortages hatte meine Frau drei Jugendfreundinnen bei sich gesehen, mit denen sie sich regel­ mäßig einmal im Monat traf. Der Ehemann der einen war in dieser Nacht vor den Augen seiner Frau erschlagen worden, sie selbst lag mit schweren Verlet­ zungen im Gesichte im Krankenhaus. Der Ehemann der zweiten war im Gesicht und am Kopf verletzt worden, schwebte Monate lang zwischen Leben und Tod und behielt als dauernde Folge eine Lähmung des einen Armes und erhebliche Sprachstörungen. Der Ehemann der dritten aber war aus seiner Wohnung geholt worden und befand sich auf dem Transport nach Dachau ins Konzentrationslager. 206

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Wenn ich nur die Schicksale dieser Nacht in meinem näheren Bekannten­ kreis schildern wollte, müßte ich ein eigenes Werk schreiben. Eine Freundin von uns war mit ihrem dreijährigen Töchterlein allein. Die Barbaren drangen auch in das Kinderzimmer und zerbrachen vor dem weinenden Kinde mit höh­ nischen Worten seine Puppen und Spielsachen. Dann sagten sie zu der Mutter: „Deinen Balg kannst Du im Jordan ersäufen.“ Eine andere Dame unseres Freundeskreises war allein in ihrer Wohnung. Nachdem die Bande dort ihr Werk vollendet hatte, trat der Anführer auf sie zu, schlug ihr ins Gesicht mit den Worten: „Da hast Du die Rache für Paris.“ Ein anderer Bekannter lag nach tags zuvor erfolgter, an sich ungefährlicher Bruchoperation noch unter den Folgen der Narkose und verbunden im jüdischen Krankenhaus in Fürth. Poli­ zeibeamte kamen, ihn zwecks Abtransportes nach Dachau zu holen. Sie befahlen ihm aufzustehen. Er mußte gehorchen und brach nach einigen Minuten vom Herzschlag gerührt tot zusammen. Allein in der Straße, in der der oben erwähnte Todesfall des Mannes einer Freundin meiner Frau sich er­ eignet hatte, waren drei Männer erschlagen worden. Überall hörte man von Selbstmorden, begangen in der Verzweifelung. Zwei Witwen, die diesen Ausweg wählten, sind mir dem Namen nach bekannt; den Selbstmord der beiden Geheimräte Frankenburger habe ich schon früher erwähnt13. In der gleichen Nacht waren mehr als dreihundert jüdische Männer verhaftet worden, ferner fast die gleiche Zahl in Fürth. Alle von ihnen, die unter 58 Jahren waren, kamen nach Dachau, die anderen, darunter der 78jährige Vor­ stand der Kultusgemeinde, blieben etwa eine Woche im Nürnberger Vollstrekkungsgefängnis. Das Schicksal der in Dachau befindlichen, wo sie mit Leidens­ genossen aus ganz Süddeutschland zusammentrafen, war das zu erwartende. Große Baracken und Sträflingskleider, mit dem Davidstern versehen, waren für sie vorbereitet, ein Beweis, daß man mit dieser Aktion lange vorher gerechnet hatte und daß auch ohne die Ermordung des Herrn von Rath es soweit gekommen wäre. Nach Monaten erst kamen die in Dachau Internierten zurück. Als am Morgen dieser Unheilsnacht die nicht als Polizei oder SA-Mannschaft beteiligte Bevölkerung erwachte und das Zerstörungswerk erblickte, trat eine Folge ein, die die Urheber nicht erwartet hatten. Unverkennbar bemäch­ tigte sich ein tiefes Gefühl der Depression und der Beschämung des Publi­ kums. Zum ersten Male wagten sich Kreise der übrigen Bevölkerung heraus, 13 Im ersten Teil seiner Erinnerungen schildert Rudolf Bing den Selbstmord der beiden bekannten Nürnberger, betagter Brüder, der eine Rechtsanwalt, der andere Arzt, und ihrer Schwester, die in der Nacht mißhandelt wurden: „Empört über die ihnen angetane Schmach beschlossen sie, in den gemeinsamen Tod zu gehen. Der Arzt öffnete sich und seinen Geschwistern die Pulsadern. Leider wurde die Schwester am Leben erhalten. Diese Brüder waren in der Stille wirkende Wohltäter. Niemandem hatten sie ein Leid zugefügt. Sie hatten sicher keine Feinde. Ihre Namen waren Geheimer Justizrat Bernhard Frankenburger und Geheimer Sanitätsrat Alex­ ander Frankenburger.“ Vgl. a. Müller S. 243, 300, 342.

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um uns ihr Mitgefühl zu zeigen. „Ich schäme mich ein Deutscher zu sein“, bekam man zu hören. Ich weiß von einem Lehrer einer höheren staatlichen Lehranstalt, der unter dem Eindruck von zerstörten Wohnungen in seinem Hause sich bei seinen Vorgesetzten krank meldete und unverzüglich sein Pen­ sionsgesuch einreichte, da er einem solchen Staate nicht mehr dienen wolle. Namentlich war aber die Arbeiterbevölkerung entrüstet. Was tat die Partei und SA? In den Arbeitervorstädten schickte sie überall ihre Spitzel in die Wirt­ schaften, die mit den Gästen Gespräche über die Ereignisse anknüpften, um unvorsichtige Äußerungen zu provozieren und anzuzeigen. Ein alter Arbeiter hat mir dies in absolut zuverlässiger Weise erzählt. Herr Streicher hielt am Tage nach der Schreckensnacht eine Art Siegesfeier auf dem Hauptmarkt. In der der „Kristallnacht“ folgenden Nacht wohnten wir bei meinem Schwager, der gegenüber dem Streicher’schen Palais wohnte und dessen Woh­ nung verschont blieb. Wir wollten auch in der folgenden Nacht dort bleiben, jedoch erschien am Nachmittag eine große Anzahl von Gestapo-Leuten, die meinem Schwager erklärten, er habe sofort seine Wohnung zu räumen und Nürnberg zu verlassen, da in unmittelbarer Nachbarschaft Streichers Juden nicht geduldet würden. Diese Gestapo-Leute blieben in der Wohnung: Ein Möbelwagen und Packer wurden geholt und unter beständigem Drängen der Gestapo wurde die Wohnung innerhalb einiger Stunden geräumt. Mein Schwager war ein schwer herzkranker Mann, dessen sich jedoch — als Einziger — der Möbeltransporteur annahm. Mit seinem Personenauto brachte er ihn nach Erlangen, wo er die Nacht in einem Hotel verbrachte. Jedoch starb mein Schwager nach einigen Wochen an einem erneuten Herzschlag. Angesichts dieser Vorkommnisse verließen wir Nürnberg und eilten aufs Geradewohl zum Bahnhof, fuhren nach Stuttgart und verbrachten die Nacht im Reichsbahnhotel. Gerade während dieser Stunden der Nacht wurden in Stuttgarter Hotels viele Juden verhaftet. Uns blieb dieses Schicksal — wohl durch Zufall — erspart, und wir fuhren weiter nach Baden-Baden, bis die Ver­ hältnisse in Nürnberg sich einigermaßen beruhigten. Man benützte die Situation, um mit jüdischem Eigentum, besonders mit Grundbesitz, aufzuräumen. Es gab vier sogenannte Gauwirtschaftsberater, die mit dieser Aufgabe betraut waren und die ihre Stellung vor allem zum eigenen Vorteil ausnutzten. Die Gültigkeit all dieser Transaktionen sollte von beson­ deren Regierungsgenehmigungen abhängig gemacht werden. Die Gauleitung bekam Wind, daß diese Bestimmung an einem gewissen Tag in Kraft treten und alle Grundstücksgeschäfte erfassen sollte, die an diesem Tage noch nicht im Grundbuch eingetragen wären. Der betreffende Tag war ein Montag. Am vorhergehenden Sonntag wurden die Beamten des Grundbuchamtes Nürn­ berg, Richter und Sekretäre, aus den Betten geholt, Funktionäre der Partei, die Gauberater mit den erzwungenen Vollmachten der jüdischen Eigentümer, arbeiteten fieberhaft bei den Notariaten, um die Eintragungen im Grundbuch 208

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noch am Sonntag als dem letzten Termin ins Reine zu bringen. Unabhängige Richter und Notare mußten sich zu diesem Treiben hergeben. Nach einigen Tagen erschien eine Kommission der Gestapo aus Berlin14. Nicht nur die Gaufachberater, ungezählte andere, die an den Zwangsarisierungen beteiligt gewesen waren, wurden verhaftet. Zahlreiche Juden wurden vernom­ men, und einige Optimisten sahen schon eine Morgenröte des Rechtes. Aber dann trat plötzlich wieder Ruhe ein, die Verhafteten wurden wieder entlassen, und die entrechteten Juden bekamen nicht einmal den zehnten Teil des Wertes ihrer Grundstücke und Hypotheken, den man ihnen bewilligt hatte, ausbezahlt. So war wenigstens die Lage, als ich Mitte Mai 1939 Nürnberg verließ. Die Nachlese zur Nacht des 9. Novembers, die Herr Goebbels und seine Propaganda dem Auslande als eine spontane Volksbewegung darzustellen wagte, hielten die Regierungsorgane. Herr Göring legte zur Füllung seiner Kassen der jüdischen Gesamtheit die bekannte Kontribution von einer Mil­ liarde auf. Die Juden mußten innerhalb eines halben Jahres in vier Raten zunächst den fünften Teil ihres Vermögens abliefern. Zu Grunde gelegt wurde dabei die Aufstellung ihrer Vermögen, die sie ein Jahr zuvor hatten abgeben müssen. Die durch die erzwungenen Grundstücksabtretungen nach dem 9. November erfolgten Verminderungen wurden nicht berücksichtigt. Ich selbst zum Beispiel war an einem derartigen Grundstück meiner Familie, seit fünfzig Jahren in deren Besitz, mit einem Anteil im Werte von cirka 40 000 Mark beteiligt. Ich hatte also 8000 Mark hierfür zu zahlen, obwohl mir als Gegenwert nur eine Forderung an die Nationalsozialistische Partei von 4000 Mark verblieb, die ich niemals erhielt noch wohl jemals erhalten werde. Dazu kam, daß ich als Reichsfluchtsteuer den vierten Teil nicht etwa nur meines damaligen Vermögens zu entrichten hatte, sondern auch noch den vierten Teil dessen, was ich meinen Töchtern im Jahre 1933 und 1934 zur Ermöglichung ihrer Auswanderung nach Palästina gegeben hatte. Dann mußte der gesamte Schmuck und alles Silbergerät dem städtischen Leihhaus abgeliefert werden, immer je zwei silberne Löffel, Messer und Gabeln wurden meiner Frau und mir zur Mitnahme belassen. Die Auszahlung des Schätzungswertes von einigen tausend Mark, den ich dafür zu beanspru­ chen gehabt hätte, habe ich auch nicht mehr abwarten können. Meine gesamte bewegliche Habe war zerschlagen. Ich hatte Beträchtliches für Neuanschaf­ fung und Wiederinstandsetzung für die Auswanderung auszugeben. Wäre ich gegen Tumult und Aufruhr-Schäden versichert gewesen, so hätte es mich auch nichts genützt, da die Reichsregierung auch die angefallenen Versicherungs­ summen für das Reich ohne irgendwelche Anrechnung einzog. Damit nicht genug, hatte ich aber für unser Auswanderergut im Schätzungswert von etwa 4000 Mark, aus dem Notwendigen bestehend, eine Abfindung von fast 10 000 14 Vgl. Grieser, S. 162 f.

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Mark zu bezahlen. Dazu kamen Steuernachholungen nach einer eingehenden Buchprüfung durch das Finanzamt, dadurch hervorgerufen, daß die Auflösung meiner Anwaltspraxis natürlich Eingänge erzeugt hatte, die sich sonst auf einige Jahre verteilt hätten. Ich führe dies alles nur deswegen an, weil es eben typische Erscheinungen sind, die wohl bei allen jüdischen Auswanderern sich gezeigt haben und die die deutschen Behörden auch anstrebten, denn der Jude sollte ja seiner Habe beraubt werden. Wir hatten endlich nach vielen eigenen Bemühungen und denen unserer Kinder in Palästina das so schwer zu erlangende Eltern-Zertifikat erhalten. Die Zeit drängte, das Visum des englischen Konsuls war befristet, die Schiffskarten waren zu einem bestimmten Termin gekauft, die Wohnung war gekündigt. Kriegsgefahr lag in der Luft. Ein wohlwollender Steuerbeamter riet mir abzuwarten, bis das Unrecht des Häuserraubes wieder gutgemacht sei. „Recht müsse doch Recht bleiben“, meinte der Gute, dem sieben Jahre Hitlerregime den altmodischen Idealismus nicht geraubt hatten. Ich verzichtete aber auf Zuwarten. Mit fieberhafter, unermüdlicher Umsicht erledigte namentlich meine Frau die Reisevorbereitungen. Drei Tage lang weilte vor unserer Abreise ein jugendlicher Zollbeamter mit höchst arroganten Manieren in unserer Wohnung und durchstöberte unser Hab und Gut nach ver­ steckten Devisen und nicht abgelieferten Schmuckstücken. Wehe uns, wenn er auch das Geringste hätte finden können. Ich weiß aber von anderen Fällen haupt­ sächlich anderer Städte, wo Zollbeamte recht erhebliche Bestechungen nahmen. Nach diesen Ausführungen wird man mir glauben, daß zum Schluß mein Ver­ mögen, das nahezu 125 000 Mark betragen hatte, nicht nur völlig aufgezehrt wurde, sondern ich mir noch einen Rest von nahen Verwandten geben lassen mußte, um alle noch erforderlichen Ausgaben zu bestreiten. Am Tage vor meiner Abreise aus Nürnberg wollte ich dortselbst bei der Deutschen Bank, mit der ich über dreißig Jahre arbeitete, einen größeren Betrag zur Bezahlung meines Spediteurs und der Fahrkarten erheben. Ich wurde hingehalten. Plötzlich sauste ein junger Angestellter der Bank, mit dem ich noch nie zu tun gehabt hatte, geschmückt nicht nur mit dem Parteiabzei­ chen, sondern auch der grün-weiß-roten Plakette des italienischen Fascios auf mich zu und schnauzte mich an, wie ich dazukomme, als Jude einen derartig hohen Betrag abzuheben. Ich versuchte, ihn aufzuklären. Er aber hielt es für notwendig, die Devisenstelle des für mich zuständigen Steueramtes und die Zollfahndungsstelle anzurufen, in der Hoffnung, womöglich einen ohne Erlaubnis Reichsflüchtigen ans Messer zu liefern. Die mir bekannten älteren Beamten standen betroffen daneben und wagten keine Bemerkung. Wenige Tage hiernach überschritten wir am Brenner die Reichsgrenze, jeder mit zehn Reichsmark in der Tasche, dem ganzen Überrest unseres Vermögens. Und dennoch befreiten Herzens! 210

DIE AKTEN DER AMERIKANISCHEN MILITÄRREGIERUNG IN NÜRNBERG ZWISCHEN 1945 UND 1949 Von Udo Winkel

I Seit den siebziger Jahren hat sich das zeitgeschichtliche Interesse der unmittel­ baren Nachkriegszeit zugewandt. Wegen der Lückenhaftigkeit der schrift­ lichen Überlieferung steht die Forschung jedoch vor großen Problemen. Um so interessanter erscheinen die Quellen, die aus der Tätigkeit der Besat­ zungsmächte entstanden sind. So konstatiert Jürgen Wetzel: „Nach dem Zusammenbruch hatte die deutsche Verwaltung nur noch in wenigen Berei­ chen funktioniert. Desorganisation und Desorientierung waren das Ergebnis des von Hitler geführten totalen Krieges. Auf fast allen Verwaltungsebenen hatten die Besatzungsmächte die Regierungsfunktionen übernommen. In ihren Amtsstuben erwuchsen die Akten zur politischen, wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung Deutschlands, die für die historischen Erkenntnisse über jene Jahre unentbehrlich sind. Für 1945 und 1946 ersetzen sie weitgehend die fehlende deutsche Überlieferung. Für die späteren Besatzungsjahre 1947 bis 1949 bilden sie die wichtigste Ergänzung für das Material, das in der allmählich wieder in Gang gekommenen deutschen Verwaltung erwuchs. Ohne Heran­ ziehung dieser Bestände kann eine deutsche Nachkriegsgeschichte schwerlich geschrieben werden.“1 Auch Klaus Oldenhage vermerkt: „Die OMGUSAkten stellen insgesamt eine hervorragende Ergänzungsüberlieferung zu den deutschen Archivalien dar und sind vornehmlich für die Jahre 1945 und 1946 sogar unbestreitbar zu einer Ersatzüberlieferung geworden.“2 Diese Aussagen sind allerdings für Nürnberg cum grano salis zu nehmen, da die überlieferten Akten etwa der frühen lokalen amerikanischen Militärregie­ rung vielfach auf von deutschen Stellen gelieferten Berichten beruhen. Hier sind z. B. die, auf Einzelberichten der verschiedenen Dezernate und späteren Referate3 basierenden und im Stadtarchiv Nürnberg überlieferten, Monats­ berichte des Oberbürgermeisters an die lokale Militärregierung und den Regie­ rungspräsidenten von Ober- und Mittelfranken ab Juni 1945 zu nennen. 1 Wetzel, Jürgen: Das OMGUS-Projekt. Die Verfilmung von Akten der US-Militärregierung, in: Berlin in Geschichte und Gegenwart, Jahrbuch des Landesarchivs Berlin 1982, S. 121. 2 Oldenhage, Klaus: Die Akten des Office of Military Government, US (OMGUS) — Ersatz-, Ergänzungs- oder Doppelüberlieferung?, in: Der Archivar,'Jg. 32, 1979, H. 1, S. 39. 3 Erst nach der Wahl des ersten Nürnberger Nachkriegsstadtrats wurden im Oktober 1946 die Dezernate in Referate umbenannt. Siehe die Direktorial-Verfügung Nr. 133 vom 30. 10. 1946: Dienstbezeichnungen.

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Nach Ablösung des Büros der Militärregierung für Deutschland, Vereinigte Staaten (Office of Military Government for Germany, United States = OMGUS) durch den Hochkommissar für Deutschland (High Commissioner for Germany = HICOG) im Herbst 1949 wurden die OMGUS-Akten auf 16 (so H. Weiß), 17 (so S. Wenisch) oder 18 (so W. Benz und J. Hastings) Schiffen in die USA transportiert. Die Archivalien kamen im Laufe ihrer Odyssee zuerst an das Armee-Archiv in Kansas City und wanderten über Alexandria in Virginia in den fünfziger Jahren bis nach Suitland in der Nähe von Washington Ende der sechziger Jahre, wo der Bestand unter der Obhut der National Archives lagert. Er umfaßt in ca. 8000 boxes 3200 laufende Meter Akten, das sind 30 bis 32 Millionen Blatt4. Wie James J. Hastings in einem sehr informa­ tiven Bericht gezeigt hat, bestehen die OMGUS-Akten in erster Linie aus Hand- und Arbeitsakten („operational files“) der Hauptabteilungen und Bereichsbüros („field offices“) die alle Aspekte der amerikanischen Besat­ zungspolitik berühren.5 Seit 1973 sind diese Akten den Historikern zugänglich und das Institut für Zeitgeschichte in München, das Bundesarchiv in Koblenz und die Landes­ archive meldeten ihr Interesse an einer Inventarisierung und Verfilmung der historisch relevanten Teile des OMGUS-Bestandes an. Im Frühjahr 1977 kam es zur Unterzeichnung eines „Übereinkommens über ein deutsch-amerikani­ sches Programm zur Verzeichnung und Verfilmung der OMGUS-AktenM durch den damaligen Archivist of the United States, Dr. James Rhoads, den Präsidenten des Bundesarchivs, Prof. Dr. Hans Booms, und den Direktor des Instituts für Zeitgeschichte, Prof. Dr. Martin Broszat. Schon ab Oktober 1976 begannen Historiker des Instituts für Zeitgeschichte und Archivare mit der Durchsicht und Verzeichnung der einschlägigen Provenienzen. Während die Mitarbeiter des Bundesarchivs und die Historiker aus den Forschungsinsti­ tuten die zentralen OMGUS-Provenienzen bearbeiteten, widmeten sich die Vertreter der Staatlichen Archive den Akten der jeweiligen Ländermilitärregie­ rungen. Ende Juni 1980 kam diese Tätigkeit zum Abschluß und bis Ende 1981 war auch die Verfilmung abgeschlossen. Ab 1983 ist der verfilmte Bestand benutzbar. H. Weiß vom Institut für Zeitgeschichte vermerkt in seinem 4 Weiß, H.: Abschlußbericht über das OMGUS-Projekt (1976—1983), in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, 32. Jg., 1984, H. 2, S. 319—320. Wenisch, Siegfried: Die Akten der amerikanischen Militärregierung in Bayern (1945 — 1949), in: Mitteilungen für die Archivpflege in Bayern, 27./28. Jg., München 1981/82, S. 55. Benz, Wolfgang: Das OMGUS-Projekt, in: German Studies Review, 2, 1979, S. 90—91. 5 Hastings, James J.: Die Akten des Office of Military Government for Germany (US), in: Viertel­ jahreshefte für Zeitgeschichte, 24. Jg., 1976, H. 1, S. 80 und 85. Hastings resümiert: „Zur amerikanischen Besatzungspolitik in Deutschland stellen die Akten des ,Office of Military Government for Germany, United States4 jedenfalls eine überaus wichtige Primärquelle dar“ (S. 101).

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Abschlußbericht: „Der Bestand repräsentiert die gesamte schriftliche Über­ lieferung der amerikanischen Besatzungsverwaltung in Deutschland, ausge­ nommen die ganz oder teilweise von den alliierten bzw. amerikanischen Trup­ penstäben in Europa (SHAEF, US-FET, EUCOM) wahrgenommenen Funk­ tionen wie Sicherheit, Abwehr, Nachrichtenverbindungen u. ä., aber ein­ schließlich der US-Militärregierungen in den Ländern der amerikanischen Besatzungszone Bayern, Bremen, Hessen, Württemberg-Baden sowie des USSektors in Berlin. Ferner sind im OMGUS-Bestand Vorakten aus der Regi­ stratur der US Group Control Commission (USGCC) und einige wenige Nachakten aus dem Bereich des US High Commissioner enthalten. Wesentlich umfangreicher jedoch sind Akten, die aus den Registraturen der amerikani­ schen Vertreter in alliierten Dienststellen ... in den OMGUS-Bestand gelangt sind. Eine wertvolle Ergänzung erfuhren die OMGUS-Akten durch die von den National Archives vermittelte Einbeziehung der Akten des Political Adviser (POLAD) beim US Military Governor in das Verzeichnungs- und Verfilmungsprojekt. . . . Ziemlich genau die Hälfte des OMGUS-Bestandes entfällt auf die Akten der Militärregierungen der amerikanisch besetzten deut­ schen Länder. Diese Akten wurden im Rahmen des Gesamtprojekts von den Archivaren der beteiligten Landesarchivverwaltungen bearbeitet. Zeitlich behandeln die Akten mit den Vor- und Nachakten Vorgänge aus den Jahren 1944—1950, in der Hauptsache jedoch die eigentlichen OMGUS-Jahre 1945 —1949. “6 Die bayerischen Archivare arbeiteten im Zeitraum Juli 1977 bis August 1980 an der Provenienz „Office of Military Government for Bavaria“ (OMGB). Siegfried Wenisch informiert über diese Tätigkeit: „Die deutsche Arbeitsge­ meinschaft hatte die Akten zunächst zu bewerten, d. h. folgende Kategorien festzustellen: nicht archivwürdig, nur für die Amerikaner archivwürdig, für beide Seiten archivwürdig. . . . Für die Verfilmung kam nur die dritte Gruppe — für Deutsche und Amerikaner archivwürdig — in Betracht. . . . Die Verfil­ mungsquote bei den einzelnen Divisions der Militärregierung war natürlich sehr unterschiedlich. Sie schwankte zwischen 0% bei manchen Teilen — z. B. Material, das nur aus Übersetzungen aus der bayerischen Presse bestand — und etwa 80% beim Land Director; eine insgesamt wichtige Division wie die Education and Cultural Relations Division wurde zu etwa 40% verfilmt.“7 Im Bundesarchiv und im Institut für Zeitgeschichte steht der Gesamtbestand als Microfiches zur Verfügung, daneben in den Staatsarchiven der Länder der ehemaligen US-Zone auch die Akten der Länder-, sowie der Stadt- und Kreis­ militärregierungen.

6 Weiß, ebenda, S. 320. 7 Wenisch, ebenda, S. 56.

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Der im Institut für Zeitgeschichte lagernde Gesamtbestand umfaßt etwa 100 000 Microfiches mit ca. 6 Millionen Blatt, während die im Hauptstaats­ archiv München vorhandenen Akten der bayerischen Militärregierung (Stand März 1982) 14 000 Fiches mit ca. 700 000 Blatt beinhalten. Schon frühzeitig, seit dem Sommer 1982, hat sich der damalige Ltd. Archiv­ direktor des Stadtarchivs Nürnberg Dr. Gerhard Hirschmann, für die OMGUS-Akten und ihre Benutzbarkeit interessiert — wie ein reger Brief­ wechsel dokumentiert — und im Dezember desselben Jahres konnte Archivrat Albert Bartelmeß das Nürnberg betreffende verfilmte Material z. T. im Haupt­ staatsarchiv München einsehen. Durch Probleme von NachVerfilmungen, der ungeklärten Frage einer Weitergabe der Microfiches an nichtstaatliche Archive u. a. verzögerte sich die Möglichkeit einer Erwerbung. Der neue Ltd. Archiv­ direktor Dr. Kuno Ulshöfer griff im Sommer 1984 die Frage der Beschaffung der OMGUS-Akten wieder auf und im Juli 1985 konnte schließlich der für Nürnberg relevante Bestand von 585 Fiches mit ca. 35 000 Blatt erworben werden. Er liegt nun auch als Reader-Printer-Ausdruck in 227 Bänden gebunden (Findbuch OMGBY F6) zur Benutzung vor. II Der OMGUS-Bestand im Stadtarchiv Nürnberg und seine unterschiedlichen Provenienzen dokumentieren die Arbeit der Militärregierung in ihrer histori­ schen Entwicklung und ihren wandelnden Aufgaben im Zusammenhang und in der Auseinandersetzung mit der sozialen, ökonomischen, politischen und kulturellen Situation Nürnbergs und ihrer Genese. So scheint es sinnvoll diesen Bestand historisch strukturiert vorzustellen, und es bietet sich an, die Periode der Militärregierung in Nürnberg 1945—1949 in drei Phasen zu glie­ dern: a) die frühe lokale Militärregierung, b) die Zeit der bayerischen Militär­ regierung und c) ihre Umorganisierung im Jahre 1948.8 a. Die frühe lokale Militärregierung

Seit der Besetzung Nürnbergs im April 1945 bis in den Winter 1945/46 arbei­ tete die lokale Militärregierung auf der Grundlage unmittelbarer Weisungs­ befugnis. Sie wurde geprägt durch häufigen Wechsel des Personals entspre­ chend der Ablösung der jeweiligen Detachments der Besatzungstruppen und die immensen zu leistenden Aufgaben, insbesondere die Probleme der Versor­ gung im weitesten Sinne, der Wohnungsnot und Trümmerbeseitigung, der 8 Siehe hierzu detailliert: Winkel, Udo: Die amerikanische Militärregierung in Nürnberg, in: Rossmeissl, D. (Hg.): Nürnberg unter amerikanischer Militärregierung 1945-1949. Beiträge zur politischen Bildung Nr. 6/1987, S. 17—29.

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Aufnahme der Produktion, der Sicherung des Transports und Verkehrs, der Entnazifizierung. Entsprechend den Aufgaben und der Gliederung der Dezernate der deut­ schen Verwaltung wurden Sections (Abteilungen) unter Leitung von Offi­ zieren gebildet, um die grundlegenden Bedürfnisse von Armee und deutscher Bevölkerung zu befriedigen und die deutschen Ämter wieder in Gang zu bringen, um danach sukzessive die eigene Tätigkeit einzuschränken und schließlich einzustellen bzw. auf Überwachung zu reduzieren. Unter diesen Bedingungen fiel eine Unmenge von Dokumenten auf den ver­ schiedenen Ebenen der Militärregierung an, die allerdings - das gilt vor allem für die Sections — z. T. nur unvollständig oder marginal überliefert wurden. Ihre ursprüngliche Quantität machte wohl ein Mehrfaches des überlieferten Bestandes aus. Der Quellenbestand umfaßt vor allem Berichte unterschiedlicher Prove­ nienzen, die von Tages-, über halb wöchentliche und wöchentliche sowie monatliche Berichte bis hin zum Jahresbericht reichen. Der umfangreiche Jahresbericht (Annual Historical Report) der Militär­ regierung für den Zeitraum 21. 4. 1945—20. 6. 1946 erweist sich als besonders informativ. Er enthält Angaben über die Besetzung Nürnbergs durch die amerikani­ schen Truppen und die Organisation und Entwicklung der lokalen Militär­ regierung, die Zulassung demokratischer Parteien (SPD, KPD, CSU, DDP) und ihre Entwicklung (Mitgliederzahlen, Wahlergebnisse, Einschätzung des Einflusses), die Einsetzung einer Zivilverwaltung, Ein- und Absetzung von Oberbürgermeister (Rühm, Treu, Ziegler), Zulassung eines beratenden Beirats und schließlich die Konstituierung des Stadtrats, die frühe Entnazifizierung. Die Tätigkeit der verschiedenen Sections werden dokumentiert. Ihre Aufgaben spiegeln die Probleme Nürnbergs nach dem Zusammenbruch: Reorganisation der Polizei zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit (Public Safety Section); Wiederaufbau des Gesundheitswesens (Public Health Section); Überwachung des Städtischen Unterstützungs- und Wohlfahrtsamts und Ver­ sorgung der Evakuierten und Flüchtlinge (Public Welfare Section); Wieder­ eröffnung der Schulen, die durch die starke Zerstörung der Schulgebäude und Entnazifizierung der Lehrer erschwert wurde (Education Section); Versuch den Lebensmittelbedarf zu sichern (Food and Agriculture Section) und den Brennstoffmangel durch einen organisierten Einsatz zur Schlagung von Brenn­ holz (Wood Cutting Program) zu mildern und Treibstoff zu eruieren (Civilian Supply Section); die Behebung der Energie- (Gas, Wasser, Elektrizität) und Verkehrsprobleme (Straßenbahnen und Busse) (Public Utilities Section); die Wiederingangsetzung von Industrie, Handwerk und Handel durch Produk­ tionsgenehmigungen und Steuerung der Produktion und der Rohstoffe und Arbeitskräfte (Economics, Trade and Industry Section); die Ermittlung von 215

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Transportkapazitäten als Grundlage überhaupt für eine Sicherung der Versor­ gung (Transportation Section); Arbeitseinsätze zur Trümmerräumung, Klä­ rung der Arbeitsbeziehungen in den Betrieben und Zulassung von Betriebs­ räten und Gewerkschaften (Labor Section). Auch die anderen Berichte ähneln im Aufbau dem Jahresbericht und behan­ deln die gleichen Probleme. Die frühesten Veröffentlichungen der Militärregierung sind Tagesberichte: Die „Überblicke: Amtliche Tätigkeiten in Nürnberg“ (Summaries: Functional Work in Nürnberg) erscheinen ab 21. 4. 1945, werden am 5. 5. von den „Täg­ lichen Überblicken“ (Daily Summaries) und diese schließlich am 16. 7. von den „Tagesberichten“ (Daily Reports) abgelöst, die bis zum 1. 9. 1945 über­ liefert sind. Halbwöchentliche Berichte (Semi-Weekly Reports) liegen ab 12. 6. 1945 vor, werden Mitte Juli auf Wochenberichte (Weekly Reports) umgestellt und bis zum 15. 12. 1945 fortgeführt. Neben den oben benannten Thematiken wird hier auch der Bereich „Denkmäler, Schöne Künste und Archive“ (Monuments, Fine Arts und Archives) berücksichtigt, so wird u. a. über die Auffindung der Reichskleinodien, die Rückführung des Marienaltars von Veit Stoß nach Krakau und der ausgelagerten Kunstwerke und Archivalien nach Nürnberg berichtet. Monatsberichte (Monthly Reports) werden ab September 1945 erstellt und bis November 1946 fortgeführt; für Mai und Juni 1945 liegen „Monatliche Überblicke“ (Monthly Summaries) vor. Spezielle „Monatliche Berichte über politische Tätigkeiten“ (Monthly Political Activity Reports), die die Entfal­ tung des politischen Lebens und insbesondere der Parteien verfolgen, sind für den Zeitraum November 1945 bis August 1946 vorhanden. Berichte der ein­ zelnen Sections sind, der Dauer ihrer Tätigkeit entsprechend, bis zum Frühjahr 1946 unvollständig überliefert. Der OMGUS-Bestand umfaßt weiter eine Anzahl Berichte verschiedenster Art, darunter auch für 1945 unvollständig Detachment9 Bulletins des Verwal­ tungsoffiziers (Administration Officer), Noten und Befehle der Militärregie­ rung, Korrespondenzen der lokalen Militärregierung mit amerikanischen und deutschen Dienststellen und Privatpersonen und Einzeldokumente aus allen Bereichen der Militärregierung. Als besonders interessant erscheinen die nachfolgend benannten Doku­ mente: Eine „Übersicht über Tätigkeiten (der Militärregierung) seit der Beset­ zung“ (Survey of Activities since Occupation) vom 1. 9. 1945 und ein un­ datierter Bericht über die historische, kultur- und kunsthistorische Entwick­ lung Nürnbergs (Nuremberg, prepared by the Office of MG Nuremberg); aus 9 Ein Detachment bildete als Unterabteilung eines Regiments die Grundlage der lokalen Militärre­ gierung.

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dem ökonomischen und Produktionsbereich einige Berichte zur Produktion, Rationierung und Preiskontrolle, „Aufzeichnungen über Treffen mit der Han­ delskammer“ (Memorandums on meeting with Chamber of Commerce) vom 25. und 26. 6. 1945; zur Kontrolle und Überwachung der Produktion Berichte der speziell gebildeten „Nürnberger Gruppe zur Überwachung der Industrie“ (Industry Investigating Team Nürnberg) und aus dem „Büro des stellvertre­ tenden Kontroll-Offiziers für die IG Farbenindustrie in Nordbayern“ (Office of Sub-Control Officer, IG Farbenindustrie North Bavaria); sechs von der Reichsbankhauptstelle Nürnberg an die Fiscal Section gerichtete „Monats­ berichte der Nürnberger Finanzinstitute“ (Monthly Reports of the financial institutions in Nürnberg); einige Berichte zum Bereich „Denkmäler, Schöne Künste und Archive“; ein Bericht zur Situation des Gefängniswesens und der Zuchthäuser vom 28. 8. 1945 (Report on Prisons, Jails and Lock-ups). Der Nürnberger OMGUS-Bestand enthält auch Quellen, die sich auf den Regierungsbezirk Ober- und Mittelfranken und Orte im Landkreis Nürnberg beziehen. Es seien hier nur genannt: Der „Bericht über die Besetzung von Feucht am 17. 4. 1945 durch die amerikanische Armee“ (Report of the occupying of Feucht on the 17th of April 1945 by the American Army) vom 23. 4. 1945, Berichte und andere Dokumente zur Auseinandersetzung um den „Wie­ dergutmachungsausschuß“ in Schwarzenbruck/Ochenbruck vom Juli 1945 und „Jahresüberblick und Analysen der Tätigkeit der Militärregierung im Regierungsbezirk Ober- und Mittelfranken“ (Annual Summary and Analysis MG Operations in Regierungsbezirk Ober- and Mittelfranken, Bavaria, Germany) vom 20. 6. 1946; die Gliederung entspricht dem Nürnberger Jahres­ bericht. b. Die Zeit der bayerischen Militärregierung

Die Konsolidierung der örtlichen deutschen Verwaltung leitete zur Phase der Herrschaft der Bayerischen Militärregierung, dem Office of Military Govern­ ment for Bavaria (OMGB) über. Das lokale Nürnberger Verbindungs- und Sicherheitsbüro (Liaison and Security Office) unterstand nun weisungsge­ bunden dem Land Director in München. Es nahm weiterhin Überwachungs­ und Kontrollfunktionen gegenüber den deutschen Stellen wahr. Insbesondere ist hier die Kontrolle der an die deutschen Spruchkammern übergegangenen Entnazifizierung durch den Special Branch zu nennen. Als Hauptproblem dieser Phase kann die, sich in den Jahren 1946 und 1947 verschärfende, allge­ meine Versorgungslage benannt werden. Die anfallenden Dokumente enthalten vor allem Berichte unterschiedlich­ ster Provenienz an die Bayerische Militärregierung und ihre Abteilungen. Die beiden Jahresberichte für die Zeit vom 1. 7. 1946—30. 6. 1947 und 1. 7. 1947—30. 6. 1948 sind vom Umfang her reduziert und, im Sinne eines Frage217

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Antwort-Schemas, stärker formalisiert. Die Spruchkammerentnazifizierung und ihre Kontrolle durch den Special Branch wird detailliert und auch kritisch dar­ gestellt. So wird konstatiert: „Der Durchschnittsdeutsche ist angeekelt von der Entnazifizierung. Die Entnazifizierung betrifft meistens Arbeitnehmer, wäh­ rend Geschäftsleute und Eigentümerklasse kaum berührt werden.“10 Zur Repa­ rationsproblematik wird vermerkt, daß von Demontagen letztlich nur vier Betriebe betroffen wurden: Dynamit AG, vormals Alfred Nobel (Kriegsmate­ rial), Noris Zündlicht AG (Elektrische Anlagen für Kraftfahrzeuge), Frühwald und Jäger (Stahlkonstruktionen) und Rudolf Chillingworth AG (Preß-, Ziehund Stanzwerkzeuge) und damit die Auswirkung auf die Stadt und die bayeri­ sche Wirtschaft nicht schwerwiegend war. An die Stelle der bisherigen Tages-, Wochen- und Monatsberichte — diese wurden bis zum November 1946 fortgeführt — traten Vierteljahresberichte (Quarterly Historical Reports), die aber nur in vier Exemplaren (1. 10.-31. 12. 1946; 1. 7.-30. 9. und 1. 10.-31. 12. 1947; 1. 1.-31. 3. 1948) überliefert sind. Von besonderem Interesse für die Nürnberger politische, Sozial- und Kulturgeschichte sind die „Wöchentlichen Nachrichtendienst­ lichen Berichte“ (Weekly Intelligence Reports), die für den Zeitraum 28. 3. 1947—28. 4. 1948 fast vollständig vorliegen. Sie berichten über besondere Ereignisse, Stimmungen und Verhalten der deutschen Bevölkerung und ver­ folgen die politische und sozialökonomische Entwicklung (siehe Anhang). „Berichte über Tätigkeiten des Detachments“ (Reports on Detachment Activities), die nur lückenhaft vorliegen, zeigen die Einschränkung der inten­ siven Berichterstattung an: im Zeitraum Frühjahr 1947 bis Frühjahr 1948 wurden die Wochenberichte auf Halbmonatsberichte umgestellt und schließ­ lich auf Monatsberichte reduziert. Aus dem weiteren OMGUS-Bestand sind zu nennen: Berichte und andere Dokumente zur Entnazifizierung, darunter ein Spezialbericht mit dem Ver­ zeichnis aller Nürnberger Spruchkammern (Special Report: Inventory of all Spruchkammern in Nürnberg) vom 10. 2. 1948 und ein Bericht über den Stand der Entnazifizierung (Report on Status of Denazification) bei der Dynamit AG u. a. Betrieben vom 20. 1. 1947; Berichte zur Brennstoffversorgung v. a. zum Brennholzprogramm („Fuel Wood Program“) 1946/1947; Dokumente zur Trümmerräumung in Nürnberg; Berichte zur öffentlichen Sicherheit (Public Safety Reports) wöchentlich vom Februar 1946 bis Juli 1947 und danach vierzehntägig vom August bis November 1947; einige Wochenberichte des Städtischen Gesundheitsamts und der „Bericht über die Ergebnisse des Streifendienstes der amerikanischen Militärpolizei und der deutschen Polizei gegen Frauen und Mädchen, die sich durch ihr Auftreten der geheimen Prosti10 OMGBY 10/81-3/7 StadtAN 2 (1) (2) Annual Historical Report. 1.7. 1946-30.6. 1947, Chapter IV: Denazification and Special Branch, S. 1—2 (eigene Übersetzung).

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tution verdächtig machen“ vom 3. 3. 1947; ein „Bericht über die gegenwärtige Lage der Nürnberger Schulen“ (Report on the actual condition of Nürnberg schools) vom 3. 11. 1947; Dokumente zur Beschlagnahme von Häusern und Wohnungen durch die Besatzungsmacht und die Auseinandersetzung um ihre Freigabe. Auch in dieser Phase fallen als Quellen wieder Korrespondenzen mit ameri­ kanischen und deutschen Dienststellen und Privatpersonen, Anordnungen und Befehle der Bayerischen Militärregierung und Einzeldokumente aus allen Bereichen der Militärregierung an. Aus dem Anteil des Quellenbestandes, der den Regierungsbezirk und den Landkreis Nürnberg betrifft, seien eine „Liste der politischen Parteien in Bayern“ (List of Bavarian Political Parties), geglie­ dert nach Regierungsbezirken und Städten vom 13. 1. 1947, und ein Bericht über die örtlichen Bürgermeisterwahlen im Landkreis Nürnberg genannt. c. Die Militärregierung seit ihrer Umorganisierung 1948 1948 kam es im Zuge der Umorganisierung der Militärregierung zur Bildung von „Branches“ in den Regierungsbezirken, die sich wieder in „Aeras“ glie­ derten, so auch der Branch Ober- und Mittelfranken in sechs Aeras, darunter die „Aera Nürnberg“. Hier wirkte nun die „Branch ,B‘, Field Operations Divi­ sion, OM GUS Group, Bavaria, Section Nürnberg“ (Zweig „B“, Abteilung für Feld-Tätigkeiten, OMGUS-Gruppe, Bayern, Abteilung Nürnberg). Im letzten „Annual Report“ heißt es: „Die Reorganisation der Militärregierung in diesem ,Field‘, soweit das Liaison and Security Office betroffen ist, hat geholfen, die Arbeit der MGO zu erleichtern bei ihren verschiedenen Haushaltspflichten, wie Überwachung der offiziellen und einheimischen Kantinen, die Überwa­ chung des Kraftwagenparks, Verantwortung für das Bürogebäude, die Legal Section und Probleme des einheimischen Personals bei den verschiedenen im Gebäude der Militärregierung beschäftigten Zivilisten.“11 Die Tätigkeit der Militärregierung war wesentlich auf Beobachtung und Beratung („Adviser“) reduziert; sie drängte nun auf eine rasche Beendigung der Entnazifizierung und setzte gleichzeitig eine Umerziehungskampagne („Reorientation“) in Gang. Die eingeschränkte Tätigkeit drückte sich auch in der Berichterstattung aus: die üblichen Annual-, Monthly- etc. Reports wurden nicht mehr erstellt. Der überlieferte Quellenbestand enthält: Sechs Berichte zu den „Treffen des Zweiges ,B‘“ (Branch „B“ Meetings) des Stellvertretenden Leiters des Zweiges (Acting Branch Chief), des Kontrolloffiziers (Control Officer), des Vollzugs­ offiziers (Executive Officer) und allen Offizieren des Branch „B“ im Zeitraum 11 OMGBY 10/81—3/7 StadtAN 2 (1) Annual Historical Report. 1. 7. 1947—30. 6. 1948, Chapter I: Administrative Organization and Development, S. 1 (eigene Übersetzung).

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Mai bis September 1949, wo alle anstehenden Probleme des Zweiges bespro­ chen wurden. Drei „Monatliche Tätigkeitsberichte“ (Monthly Activity Reports) vom 30. 8. und 30. 10. 1948 sowie vom 3. 1. 1949 und zwei „Überblicke über die Lage der Aera Nürnberg“ (Summaries of the Situation Aera Nürnberg) vom 31. 8. und 30. 9. 1948 beinhalteten die Gesundheitslage, den Stand des Demokratisierungs- und Filmprogramms, den Stand der Entnazifizierung und eine Auflistung der verhandelten Fälle und Personen vor Gericht. Bis zum 25. 8. 1948 wurden 58 595 Personen entnazifiziert: 3166 mündliche Verfahren, 7470 schriftliche Urteile, 6095 Schnellverfahren, 4147 Verfahren wurden aufge­ hoben und 18 916 fielen unter die Weihnachts- und 18 801 unter die Jugend­ amnestie. Der Berufungsgerichtshof behandelte 2277 Fälle. „Annähernd 1000 Fälle verbleiben zur Behandlung bei den Nürnberger Spruchkammern. In den meisten dieser Fälle geht es um schwer inkriminierte Personen und es ist für die Spruchkammer schwierig, diese Verfahren zu beschleunigen, da sorgfältige Untersuchungen durch den öffentlichen Ankläger durchgeführt werden müssen, um seine Anklagen zu untermauern. Trotzdem erhielt das lokale Spruchkammerpersonal die Ankündigung, daß seine Entlassung zum 30. 9. 1948 wirksam wird“.12 Darin drückt sich das gesamte Dilemma der Entnazifi­ zierung aus. „Das Spruchkammerpersonal fühlt, daß das Gesetz nicht gründ­ lich intendiert und durchgeführt wird. Druck wird ausgeübt, um die Entnazifi­ zierung zu beschleunigen gerade in dem Augenblick, wo die schwer belasteten Nazis verhandelt werden.“13 Für März, Juni bis September 1948 und August 1949 liegen als Berichte an den Direktor des Branch „B“ „Wichtige Bestandteile der Nachrichten“ (Essen­ tial Elements of Information) vor über wichtige Ereignisse, wie Kritik von Par­ teipolitikern an den Besatzungsmächten, die Nahrungsmittelsituation, Jugend­ kriminalität, Schwarzer Markt, die Währungsreform und ihre Auswirkungen, aber auch den Wandel des Alltagslebens und die „öffentlichen Einstellungen“. Einige Dokumente zur Umerziehung, wie Monatsberichte des Reorientation Officer und das „Nürnberger Filmprogramm zur Umerziehung“ (Nürn­ berg Film Reorientation Program) vom 17. 6. 1949. Im Monatsbericht vom 1. 10. 1948 werden als Ziele „im einfachen Wortsinn“ formuliert: „1. den deut­ schen Beamten klar zu machen, daß sie die Diener des Volkes sind; 2. dem deutschen Volk klar zu machen, daß die ordnungsmäßig gewählten Beamten dem Volk verantwortlich und seine Diener sind; 3. daß die Regierung von Deutschland in den Händen des Volkes liegt und daß sie auszuwechseln ist, 12 OMGBY 9/124-1/2 StadtAN 79 (1) Monthly Activity Report vom 30. 8. 1948, S. 3 (eigene Übersetzung). 13 OMGBY 10/81-3/7 StadtAN 2 (1) Annual Historical Report. 1. 7. 1947—30. 8. 1948, Chapter IV: Denazification and Special Branch, S. 3 (eigene Übersetzung).

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Die amerikanische Militärregierung in Nürnberg

wenn sie nicht länger den Mehrheitswillen repräsentiert; 4. daß unter den Bedingungen der modernen Welt internationale Zusammenarbeit absolut not­ wendig ist; 5. und daß zur Lösung all der komplexen Probleme, die die Men­ schen bewegten, der Gebrauch und das Verständnis demokratischer Proze­ duren zu lernen ist.“14 Neben Anordnungen, Befehlen und Korrespondenzen der „Aera Nürn­ berg“ liegen auch wieder Quellen vor, die sich auf den Regierungsbezirk Ober- und Mittelfranken, den Branch „B“ und Orte im Landkreis Nürnberg beziehen. Darunter: Vier „Zweiwochenberichte der Feld-Gruppe Nr. 3 für Zivilverwaltung des Regierungsbezirks Ober- und Mittelfranken“ (Bi-Weekly Report of Civil Administration Field Team No 3 for RB Ober- and Mittel­ franken) vom 15. 10. 1948 sowie vom 18. 4., 29. 4. und 13. 5. 1949, die sich mit den Angelegenheiten des Regierungsbezirks, Lokalverwaltung, politischen Beziehungen, Öffentlicher Sicherheit und den Problemen der Flüchtlinge und der Öffentlichen Wohlfahrt auseinandersetzen; einige Wochenberichte der Regierung von Ober- und Mittelfranken (Berichterstatter: Oberregierungsrat Dr. Ziegler) für den Zeitraum Dezember 1948 bis März 1949 über die Bereiche Personalwesen, Öffentliche Fürsorge, Gesundheits- und Flüchtlingswesen; die Niederschrift über eine Tagung der Oberbürgermeister und Landräte des Regierungsbezirks Mittelfranken in Eichstätt am 13. 12. 1948. Zusammenfassend kann auch15 für Nürnberg festgestellt werden, daß die OMGUS-Akten für die Beschäftigung mit der Arbeit und Besatzungspolitik der amerikanischen Militärregierung einen unentbehrlichen Primärquellen­ bestand bilden und darüber hinaus eine wichtige Ergänzungsüberlieferung zu den deutschen Archivalien für den Zeitraum 1945—49.

Anhang Gliederung der „Wöchentlichen Nachrichtendienstlichen Berichte



1. Zusammenfassung: „Eine kurze Zusammenfassung der Hauptereignisse oder Aktivitäten für die Woche im Rückblick in Ihrer Aera.“ 2. Politisches: „Eine Zusammenfassung politischer Treffen und Aktivitäten in Ihrem Kreis. Einschließlich jeden Befundes (Beweises) von politischem Einfluß oder Diskriminierung in der Zivilverwaltung, Entnazifizierung, 14 OMGBY 9/117-2/6 StadtAN 121 (1) Monthly Report vom 1. 11. 1948, S. 1-2 (eigene Über­ setzung). 15 Die Bedeutung der OMGUS-Akten für die Städte Ansbach und Fürth und ihre Landkreise wird hervorgehoben von Hans Wollen Gesellschaft und Politik in der amerikanischen Besatzungs­ zone. Die Region Ansbach und Fürth, München 1986. Siehe hierzu auch meine Besprechung in den MVGN 74 (1987).

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Udo Winkel

Verteilung von Wohnungen oder bei rationierten Artikeln, vom Fortschritt oder Wachstum der Parteien und von öffentlicher Meinung und Reaktion auf Politik und Parteien.“ 3. Wirtschaftliches: „Eine Zusammenfassung der ökonomischen Entwicklung in Ihrem Kreis.“ 4. Soziologisches: „Ein Überblick über die Einflüsse oder Kräfte die die sozialen Bedingungen in Ihrem Kreis betreffen. Einschließlich der Bedin­ gungen und Entwicklungen in der Erziehung, den Jugendaktivitäten, reli­ giösen Angelegenheiten, kulturellen Aktivitäten, der öffentlichen Wohl­ fahrt, den Wohnungen, der Gesundheit, Sozialversicherung, Nahrungsmit­ telrationierung und Konsum, die Trends in der Kriminalität und der Status von Flüchtlingen, Vertriebenen und Verschleppten (DPs) in der Gesell­ schaft. Einschließlich einer kurzen Erwähnung über die Moral der Bevölke­ rung und der Faktoren, die diese Moral beeinflussen.“ 5. Sicherheit: „Eine Zusammenfassung der grundlegenden Vorfälle oder Ereignisse die die Sicherheit in Ihrem Kreis beeinflussen. Eingeschlossen alle Ereignisse oder Vorkommnisse die offenbar einen widersätzlichen (oppositionellen) Beweggrund haben . . . Eingeschlossen Aktivitäten die den Anschein erwecken, als ob sie von früheren Naziparteimitgliedern geleitet oder durch sie gefördert werden . . .“ 6. Gesetzliches, Juristisches: „Eine Zusammenfassung der Entwicklung und Verwaltung des deutschen Justizsystems (Rechtssystems) in Ihrem Kreis und die deutsche Reaktion darauf.“ 7. Entnazifizierung: „Eine kurze darstellende Zusammenfassung (nicht stati­ stisch) der Arbeit der Spruchkammern und der Special Branch unter Ihrer Gerichtsbarkeit, mit Erwähnung spezifischer Probleme, wie Zusammen­ arbeit, Verzögerungen, Schwierigkeiten, Diskriminierungen und Versu­ chen, Zeugen, Personal und Verfahren zu beeinflussen. Deutsche Reak­ tionen, Meinungen und Haltungen gegenüber allen Aspekten der Entnazi­ fizierung.“ 8. Vermischtes: „Eine Zusammenfassung von anderen Punkten (Fakten) mit nachrichtendienstlichem Wert und eine Beurteilung ihrer Bedeutung.“ OMGBY 9/124—1/2 StadtAN 79 (1) Joe Doe, MG Office to the Director, Intelligence Division, OMG for Bavaria, o.D. (eigene Übersetzung).

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MISZELLEN ZUR DEUTUNG DES KUPFERSTICHES „DIE HEXE“ (B. 67) VON ALBRECHT DÜRER Von Fredo Bachmann Dieses Werk Dürers wird in der kunstwissenschaftlichen Literatur als „Die Hexe“ bezeichnet. Die untere Hälfte der Darstellung mit den vier Genien hat zu dieser Bezeichnung keine Beziehung, sie bleibt unerklärbar. Wir halten den Kupferstich für eine Darstellung der Elemente LUFT und ERDE, die hier als Parallele zur Doppelnatur des Saturn kontrastreich gegenübergestellt werden1.

1 Joseph Meder, Dürer-Katalog, Wien 1932. Nr. 68. — Der Kupferstich ist 117 mm hoch und 71 mm breit. Er wird meistens so wiedergegeben, daß das Monogramm Dürers seitenverkehrt erscheint; aber die Bildkomposition ist nach rechts gerichtet.

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Fredo Bachmann

Der Mensch um 1500 hatte eine andere Vorsstellung von der Bildrealität, was den Bildraum und die Bildzeit anbetrifft, besonders wenn das Über­ irdische ins Bild gebracht wurde; außerdem überwog das Lehrhafte; es galten andere Kompositionsgesetze; und schließlich wirkte noch die alte Symbolik mit. Die Darstellung, um die es sich hier handelt, umfaßt zwei verschiedene Themen in einer Komposition, eben die beiden Elemente ERDE und LUFT. Wir sehen am Himmel ein Unwetter aufziehen, dessen drohendes Unge­ mach von einer breiten symbolischen Darstellung begleitet wird, das ist eine Hexe. Als Patenkind des Saturn reitet sie rittlings auf einem Bock durch die Luft. Ihr Haar und ihr Gewand wehen in verschiedene Richtungen, das deutet auf die Allegorie der „Verkehrten Welt“ hin2 und auf die Doppelnatur des Saturn. Die Hexe hat einen Spinnrocken in der Hand, nicht Ofengabel oder Besen wie sonst meistens, was wohl auf eine alte heidnische Überlieferung zurückgeht3. Aus dem umfangreichen Hexengenre wird sie durch ihre Tätig­ keitsmerkmale als Wetterhexe (tempestarii) ausgewiesen, als Wettermacherin; und darum wehen ihr aus der oberen Bildecke Wind, Regen und Hagelkörner entgegen. Vom Menschen dieser Zeit wurde die Luft, das hier darzustellende Element, vornehmlich in Wind und Wetter wahrgenommen, sie wurden als eines gefühlt (nach Grimms Wörterbuch). Die mit schattigem Abbruch plastisch hervortretende Erde ist in Stufen gegliedert. Vier geflügelte Genien bemühen sich, die Unterschiede zu über­ winden. Die Erdtreppen bedeuten mehr als eine allgemeine Bodengliederung — es geht um das Aufwärts auf dem von Menschen belebten Element. Der Erdbe­ reich wird in Vordergrund und in Mittelgrund geteilt, auf denen sich die noch aufsteigenden und die schon aufgestiegenen Genien befinden. Sie alle gehören der Erde an und stellen den entgegengesetzten Aspekt des saturnischen Wesen dar, den positiven. Man sieht ihnen den Erfolg ihrer Bemühungen an. Drei der Genien haben lange dünne Stöcke — sonst konventionelle Zeichen der Erdenwanderung — mit denen sie nach oben streben, zuerst aus dem Inneren, aus einem Erdspalt. Der erste, noch ohne Stock, kommt nicht ohne Mühe heraus und greift nach dem Stocke des zweiten; aber der will sich zuerst selber aufrichten. Diese zwei Genien erklären sich mit ihrer Bewegung sogleich; aber die beiden, die sich schon aufgerichtet haben, sprechen die

2 Sigrid Schade, Schadenzauber und die Magie des Körpers. Hexenbilder der frühen Neuzeit, Worms 1983. S. 73-76. 3 Man brachte die Nornen ideologisch in die Nähe der Hexen; man hielt sie beide für unheilbrin­ gend. Vgl. Hans Baidung Grien: Die drei Parzen. Holzschnitt 1513. — Matthias Mende, Hans Baidung Grien. Das graphische Werk, Unterschneidheim 1978. Nr. 32. — Hans Mielke, Albrecht Altdorfer, Berlin 1988, Nr. 7.

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MVGN 75 (1988)

Dürers Kupferstich „Die Hexe“

schwer verständliche Zeichensprache der Symbolik. Jedenfalls sind sie alle Kinder der Erde; es geht hier darum, Höhe zu gewinnen; und ihr Erfolg bestimmt ihre Reihenfolge. Der dritte der Genien trägt einen kugelförmigen Gegenstand, der schwer erkennbar bleibt. Es liegt nahe, an eine stilisierte Frucht zu denken, die von der Erde hervorgebracht worden ist, an einen Kürbis, einen Apfel oder Granat­ apfel (wie auf der Zeichnung Winkler 63 54); dann befände sich der Genius im Zustand der nützlichen bäuerlichen Kultur, die dem Saturn am allernächsten zugehört. Halten wir den Gegenstand für eine Kugel aus Holz oder Stein als Produkt oder Substanz der Erde, dann wäre sie ein Zeichen handwerklicher Tätigkeit wie auch die Kugel auf Dürers „Melancholie“ neben Säge und Hobel, voraus­ gesetzt, daß ihr nicht ein unbekannter Symbolgehalt zugemessen werden muß. Außerdem sagt man der Kugel die größte Schönheit nach, den größten Reichtum, den sie in die kleinste Form einschließt (nach Grimms Wörter­ buch). Am sichersten erkennen wir die Kugel als ein Gefäß, eine uralte Form, die sich aus der Kürbisflasche abgeleitet hat. Diese „Wasserkugel“ hat keinen ebenen Boden, weil sie nicht aufgestellt, sondern aufgehängt wurde5. Was die Qualität des Genius anbetrifft, so bleibt er noch auf der Ebene der materiellen Kultur. Der vierte Genius schließlich ist im Begriff, die letzte Stufe zu ersteigen und sich über das allgemeine Niveau zu erheben. Er allein blickt aufwärts. Er hält eine Pflanze in einem Blumentopf, wohl einen Buchsbaum, aus der Gartenerde gezogen und von Menschenhand künstlich verändert als ein Zeichen der Über­ legenheit über das vegetabile Leben. Das soll das höchste Ziel bedeuten. Wir erinnern uns, daß sich damals die Gartenkultur ganz in der Nähe der bildenden Kunst befand. Das gezierte und stilisierte Bäumchen finden wir genau in dieser Form auf der Darstellung des „Badehauses“ im „Mittelalterlichen Hausbuch“ wieder6. Es läßt an die künstlichen Gärten in Italien denken, in denen das Laub der Bäume zu geometrischen Figuren geschnitten wurde, etwa zu zwei Kugeln, zwischen denen ein Stück des Stammes sichtbar bleibt7. 4 Friedrich Winkler, Die Zeichnungen Albrecht Dürers, Bd. 3, Berlin 1938. Nr. 635. 5 Die Kugelflaschen wurden oben am Ausguß festgebunden und über die Schulter getragen oder am Gürtel befestigt als Feldflaschen; paarweise mit einem Strick verbunden hingen sie über dem Rücken der Pferde; mit Alkohol gefüllt wurden sie in einem Körbchen vorgetragen, wie uns alte Bilder verraten. 6 Das mittelalterliche Hausbuch, hrsg. von Helmuth Th. Bossert u. Willy F. Storck, Leipzig 1912. Taf. 19/20. 7 Auf Gemälden der Frührenaissance, z. B. auf Lionardos „Verkündigung“, auf B. Gozzolis „Zug der Könige“, auf Verrocchios „Taufe Christi“ in den Uffizien sind diese Baumformen darge­ stellt.

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Fredo Bachmann

Auf dem Kupferstich verbindet Dürer das Unten und Oben kompositionell in kühnem Bogen und vereinigt in einem Bilde die Kraft der Erde mit der Dämonie des Symbols. Aber die gegensätzlichen Elemente werden im Einzelnen scharf charakteri­ siert. Sowohl die Richtung als auch die Geschwindigkeit ihrer Bewegung sind verschieden, denn der Bock rast waagrecht ins Ungewisse, während die Kinder der Erde sich langsam und sicher aufwärts bemühen; und in der Hexenszene wirken noch mittelalterliche Vorstellungen ein, aber die entzückende Genien­ gruppe zeigt den Optimismus der Renaissance. Das sind Unterschiede gei­ stiger Herkunft, die auf dem ideellen Gegensatz beruhen, der auch in Goethes Gedicht „Der Schatzgräber“ zum Ausdruck kommt. Die Vierzahl der Genien erlaubt, den Vorgang des Sicherhebens, ein zeit­ liches Nacheinander anzudeuten; und das Aufsteigen selber wird von Dürer als eine dem Erdbewohner gemäße Aufgabe vorgestellt. In dieser Darstellung verbirgt sich neuplatonisches Gedankengut8. Da bedeutet die Erde mit den steinernen Treppen das Stufenreich der neuplatoni­ schen Philosophie, Stufen, auf denen sich der Mensch in die Welt der Ideen erheben kann. Er kommt hier nicht allein durch Gottes Hilfe, sondern durch Aufstieg aus eigener Kraft empor. Die Stäbe werden dann zu Hilfsmitteln der neuplatonischen Philosophie, zu Zeichen aller Erziehung und Bildung im Sinne des Platonismus. Die für die Deutung so wichtige Komposition ist von eigenartiger Schönheit. Sie geht auf die Planetendarstellungen des Hausbuch­ meisters zurück. Kunstvoll ist die Anordnung der lebenden Körper, die sich zu einem Kreise zusammenschließen. Das kommt auf Dürers Zeichnungen und Druckgraphik öfters vor, besonders bei allegorischen Darstellungen, recht ähnlich bei den „Genien mit Helm und Schild“ (Stich B. 66), auch auf dem Affentanz; und das allmähliche Sicherheben auf der Zeichnung „Männerakte“9. Der untere Teil der Darstellung auf Dürers Kupferstich erklärt sich so ohne Zwang; es handelt sich hier um eine Allegorie der Elemente ERDE und LUFT, deren Gegenstück Feuer und Wasser heißen müßte.

8 Vgl. die ausführlichen Untersuchungen zu diesem Kupferstich in Fedja Anzelewskys „DürerStudien“ Berlin 1983. 9 Winkler (Anm. 4), Bd. 4, Berlin 1939. Nr. 927 und Nr. 890.

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DIE AUSGRABUNG 1986 IM BURGAMTMANNSGEBÄUDE DER NÜRNBERGER BURG (Vorbericht) Von Martin Nadler Die bisherigen Grabungen auf der Nürnberger Burg und deren Ergebnisse wurden von Günter P. Fehring zusammenfassend dargestellt1. Dennoch sind noch viele Fragen zu Entstehung und Geschichte dieser bedeutenden Anlage offen und auch große Teile des bisher gewonnenen Fundmaterials, das gilt im Besonderen für die Grabung Behm-Blanckes im Bereich der Burggrafenburg 1942/43, harren noch der Bearbeitung. Der Forderung nach weiteren, nach modernen Methoden durchgeführten Ausgrabungen zur Erforschung der Nürnberger Burg, wie sie Fehring 19722 zusammenfassend formulierte, konnte 1986 durch eine kleine Ausgrabung im Erdgeschoß des Burgamtmannsgebäudes entsprochen werden. Diese Grabung wird hier im Überblick vorgestellt. Der Artikel soll auch für Interessenten als Anregung gedacht sein, das reiche Fundmaterial, wenn möglich im Zusam­ menhang mit den unpublizierten älteren Grabungen, im Rahmen einer grö­ ßeren Arbeit auszuwerten und vorzustellen. Das Burgamtmannshaus (Gebäude Nr. 21 auf dem Plan Abb. 1) wird zur Zeit als neue Dienststelle der Außenstelle Nürnberg des Bayerischen Landes­ amtes für Denkmalpflege, Abt. für Vor- und Frühgeschichte, ausgebaut. Die in diesem Rahmen notwendigen Sanierungsarbeiten berühren auch die Eingangs­ halle im Erdgeschoß des Gebäudes. Der ca. 4,6 X 3,8 m große, auf Abb. 2 gerasterte Bereich rechts neben der Eingangstür wurde deshalb durch eine prä­ ventive Grabung untersucht. Dieses Areal war das einzige, in dem noch archäologische Substanz zu erwarten war, da die gesamten übrigen Flächen unter dem Gebäude durch Keller, Treppenabgänge und Tiefgeschoße bereits bis auf den anstehenden Felsen von auflagerndem Erdreich befreit waren. Ins­ besondere erhoffte man sich Spuren von eventuellen Vorgängerbauten oder Flinweise auf Teile der ehemaligen Burggrafenburg in diesem Bereich. Die

1 G. P. Fehring und G. Stachel, Grabungsbefunde des hohen und späten Mittelalters auf der Burg zu Nürnberg (mit Beiträgen von Chr. Pescheck, J. Lepiksaar, J. Boessneck und A. von den Driesch-Kapf). Jahrbuch für fränkische Landesforschung 28/1968, 53—92. — G. P. Fehring, Zur älteren Geschichte von Burg und Pfalz zu Nürnberg. Burgen und Schlösser 1972/11, 10—17. 2 Fehring a.a.O. (1972), 17.

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Martin Nadler

Abb. 1:

Nürnberg, Burg. Gesamtgrundriß mit ergrabenen Mauern (nach G. P. Fehring). Nr. 21: Burgamtmannsgebäude.

Grabung fand vom 4. August 1986 bis 16. September 1986 unter Leitung des Verfassers statt3. Um einen Überblick über die Sedimentmächtigkeit und die zu erwartenden Befunde zu gewinnen, wurde ein erster Grabungsschnitt durch die Mitte der Fläche angelegt (Profilgraben). Nachdem so die Stratigraphie geklärt war, wurde die Grabungsfläche bis an die Außenmauern bzw. bis zur Kellertreppe und zum Gewölbeansatz über dem Keller erweitert, um weitere Funde und Befunde zu erhalten. Hierbei wurde versucht, beim Abtragen des Sedimentes die Schichtgrenzen noch besser zu erfassen, als es im Profilgraben anfangs gelingen konnte. Verfüllungen von Gruben, Pfostenlöchern und Fundament­ gräben wurden getrennt ausgehoben. Die freigelegten Schichtoberflächen und die angelegten Profile wurden zeichnerisch und fotographisch dokumentiert. Der gesamte Aushub wurde trocken auf Sieben von 2 mm Maschenweite gesiebt, was eine große Zahl auch kleinster Funde ergab. Die Siebrückstände wurden dann noch aufgeschwemmt, wodurch in vielen Grabungseinheiten 3 Dank der großzügigen Finanzierung durch das Landbauamt Nürnberg konnten noch die Archäologiestudentin R. Feger und ein Grabungsarbeiter beschäftigt werden, ohne deren enga­ gierte Mitarbeit die Grabung in der gegebenen Zeit nicht im erreichten Umfang und mit der nötigen Gründlichkeit hätte durchgeführt werden können. An dieser Stelle sei Herrn von Stock­ hausen vom Landbauamt Nürnberg herzlich für seine Unterstützung der Grabungsarbeiten gedankt ebenso wie Herrn Dr. Koch von der Außenstelle Nürnberg des LfD für seine Hilfe bei der Fertigstellung dieses Vorberichtes. Ihm verdanke ich auch wichtige Literaturhinweise.

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MVGN 75 (1988)

Abb. 2:

Ausgrabung 1986 im Burgamtmannsgebäude

Nürnberg, Burg. Burgamtmannsgebäude. Vereinfachter Erdgeschoß-Plan. Gerastert: Grabungsfläche 1986 mit Lage des auf Abb. 3 wiedergegebenen Profils. Zeichnung U. Wittki.

noch größere Mengen an verkohltem Getreide und anderen Vegetabilien gewonnen werden konnten. Insgesamt wurden über 1200 verschiedene, nach Schichtzugehörigkeit und Fundkategorien getrennte Einheiten festgehalten und beschrieben, von einzelnen Kleinfunden bis zu größeren Komplexen an Keramik oder Knochen. Es liegt also insgesamt ein im Verhältnis zur kleinen Grabungsfläche überaus reiches und vielfältiges Fundmaterial vor. Stratigraphische Beobachtungen

Bedingt durch die begrenzte Ausdehnung des untersuchten Areals konnten keine größeren Siedlungshorizonte oder Baubefunde freigelegt werden. Den­ noch ließen sich in den einzelnen Straten eine Reihe interessanter Detailbe­ funde festhalten, die in ihrer groben Abfolge kurz beschrieben seien. Auf dem sehr stark aufgewitterten und zermürbten anstehenden Sandstein­ fels (Abb. 3, Nr. 1) lag eine sehr dünne, tiefschwarze, humose Lage auf, die als die Bodenkrume vor Beginn der Bau- und Siedlungstätigkeit auf dem Burgberg 229

230 NÜRNBERG, Burg (Burgamtmannsgebäude) PI. 13 Profilgraben, Ostprofil

344,50

344,00

344,00

2,00 m

Abb. 3:

Grabung Burgamtmannsgebäude 1986. Vereinfachtes Längsprofil (Lage s. Abb. 2), Ansicht von Westen. Zeichnung U. Wittki. Die Signaturen bedeuten: a) Kalkmörtel, b) Sand, c) Sandsteinstücke, d) Ziegel/Keramik, e) Holzkohlelagen, f) überwiegend staubig­ sandiges Füllmaterial unterschiedlicher Festigkeit mit verschiedenen Farbtönen von grau bis graubraun.

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344,50

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Ausgrabung 1986 im Burgamtmannsgebäude

anzusprechen ist. Im Fels konnten mehrere Eintiefungen für Pfosten, Gerüst­ stangen o. ä. festgestellt werden. In der Schicht darüber (Abb. 3, Nr. 2) und nur hier fanden sich neben den üblichen Siedlungsabfällen sehr zahlreiche Fischknochen und auch Vogelknochen. Der Anschluß zu dem südlichen Teil des Sedimentpaketes ist durch die Fundamentgrube für einen wesentlich jün­ geren Mauersockel gestört. Dieser Sockel könnte an der Stelle einer älteren Mauer stehen, da ein ausgeprägter „Trampelhorizont“ an der Obergrenze der untersten Schicht (Abb. 3, Nr. 2a) und die sehr horizontale Lagerung der Sedi­ mente im südlichen Bereich auf einen Innenraum schließen läßt. Die untere Schicht selbst enthielt hier u. a. sehr viele Knochen. Im nördlichen Bereich der Grabungsfläche kam parallellaufend zur Mittel­ wand des heutigen Gebäudes und von deren Baugrube von Norden her gekappt ein aus mehreren Lagen unterschiedlichen Materials aufgebauter Sedimentsockel zutage (Abb. 3, Nr. 3 und 4), der möglicherweise mit einer ehema­ ligen Randbefestigung des an dieser Stelle ursprünglich steil nach Norden abfallenden Felsens in Zusammenhang steht, die errichtet wurde, nachdem hier bereits einiges Material aufsedimentiert war. Der gesamte Sockel war sehr fundarm und in einzelnen Lagen völlig steril, im Gegensatz zur ansonsten sehr großen Funddichte in den übrigen Grabungsbereichen. An der Untergrenze des Sockels folgte über einer lockeren Rollierung aus Sandsteinen (Steinmetz­ schutt?) eine ca. 5 cm dicke Lage, die fast nur aus Knochen bestand. Die Ober­ grenze dieser Knochenschicht bildeten sorgfältig nebeneinander verlegte Schweineunterkieferhälften und andere größere flache Knochen, die eine Art Isolierlage bildeten. Darüber waren im Wechsel Lagen aus Sandsteinbrocken mit Sand und stark verfestigtem Lehm aufgebracht. Über einem lockeren Sedimentpaket mit wenig Steinen folgen mehrere von dem erwähnten Sedimentsockel gegen Süden abfallende Bänder mit sehr viel Holzkohle und verkohltem Getreide (Abb. 3, Nr. 5), die auch sehr stark mit Knochensplittern durchsetzt waren. In Teilbereichen dieser Schicht konnte an der Keramik, den Knochen und hier enthaltenen Kalksteinen z. T. erhebliche Brandspuren und Verglühungen beobachtet werden. Dieser Brandhorizont überlagerte auch die Reste dreier kreisrunder Gruben von ca. 1 m Durch­ messer, die mit einer Art Flechtwerk o. ä. ausgekleidet waren, dessen verkohlte Spuren gefunden wurden. Die Gruben enthielten noch eine Unmenge ver­ brannten Getreides, das z. T. in großen Klumpen zusammengebacken war. Diese Lage könnte ein Beleg für ein, möglicherweise räumlich begrenztes, Schadfeuer sein. Im unteren Bereich des darüber folgenden Sedimentpaketes lagen wieder viele horizontal eingeregelte Knochen. An dessen Obergrenze haben sich Reste einer weiteren stark holzkohlehaltigen Schicht erhalten. Falls nicht damals größere Abtragungen vorgenommen wurden und hier ein älterer Brand vorliegt, könnte dieser Horizont mit der Zerstörung der Burggrafenburg 1420 231

Martin Nadler

in Zusammenhang stehen. Die darüber folgende Auffüllschicht (Abb. 3, Nr. 7) besteht nämlich aus Bauschutt, der neben großen Mengen an Baukeramik, Knochen und Gefäßfragmenten auch eine große Anzahl z. T. verbrannter und zerschmolzener Kleinfunde und Metallteile aller Art enthielt. Von der Unterkante dieser Schuttmassen aus reicht auch der Fundament­ sockel in der Mitte der Grabungsfläche in die Tiefe, der von seiner Ausrich­ tung her nicht mit dem heutigen Burgamtmannsgebäude in Zusammenhang stehen kann. Er gehörte wahrscheinlich zu einem Gebäude der Burggrafen­ burg und wurde bei deren Schleifung bis auf die heute erhaltene Höhe abge­ tragen. Die Fundamentgruben für die heute stehenden Grundmauern des Burgamtmannshauses wurden von dieser Schicht aus eingetieft und reichen, soweit feststellbar, überall bis auf den Felsen. Die mit reinem Sand und Mör­ telstücken verfüllten Fundamentgruben dieser Mauern waren überall deutlich zu fassen. Sie haben alle Schichten durchschlagen und enthielten eine Anzahl von Gefäßscherben des entwickelten 15. Jahrhunderts, so daß die Erbauung des Gebäudes nach 14274 gesichert ist. Der durch die Grabung beseitigte Sedi­ mentkörper war als isolierter Block innerhalb der Eingangshalle stehen ge­ blieben. Den Abschluß nach oben bildet eine wiederum aus mit zahlreichen Funden durchsetztem Bauschutt bestehende Ausgleichsschicht (Abb. 3, Nr. 8), auf der der in weiten Teilen noch erhaltene originale Ziegelfußboden (Abb. 3, Nr. 9) ruht. Einzelne vom Bodenniveau aus in die jüngsten Auffüllschichten einge­ tiefte Kuhlen enthielten grünglasierte Keramik, die in den übrigen Schichten nicht angetroffen wurde. Die oberen Schichten sind ein Hinweis auf großräu­ mige Planierungen und Aufschüttungen im Zugangsbereich zur Kaiserburg vor Errichtung des heutigen Gebäudes. Kleinfunde

Aus dem wie erwähnt sehr umfangreichen Fundgut sollen hier einige wenige Stücke verschiedener Fundgruppen exemplarisch vorgestellt werden. Zahlreiche Kleinfunde, Fragmente und Abfälle belegen in den obersten Auf­ füllschichten (Abb. 3, Nr. 7 und 8) verschiedene handwerkliche Tätigkeiten und Produktionen, die wohl im Bereich der Burggrafenburg oder ihrer unmit­ telbaren Umgebung ausgeübt wurden. Die Herstellung von Knochenperlen für Rosenkränze u. ä. ist durch eine Reihe von Abfallstücken und fertige Perlen belegt. Sie wurden mittels eines Hohlbohrers aus unterschiedlich starken Knochenscheiben herausgefräst, die durch Spaltung und Zersägen von langen Röhrenknochen in ihrer Längsrichtung (Abb. 4, 8) oder durch hori-

4 1427 wurde die zerstörte Burggrafenburg von der Stadt Nürnberg erworben und abgetragen.

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Ausgrabung 1986 im Burgamtmannsgebäude

zontales Zersägen der massiven Gelenkkapseln (Abb. 4, 9) gewonnen wurden5. Auch verschiedenfarbige Glasperlen und -ringlein (Abb. 4, 10—18), im ein­ fachen Schleuderverfahren hergestellt, scheinen in diesem Bereich produziert worden zu sein, wie entsprechende Schmelztropfen und Bruchstücke von Ringen verschiedensten Durchmessers vermuten lassen. Sie dürften zu unter­ schiedlichen Zwecken benutzt worden sein. Über eine Verwendung als Stimm­ zettel bei ländlichen Schönheitskonkurrenzen berichtet Reitinger zu Funden aus Oberösterreich6. Von einer möglicherweise kunsthandwerklichen Bronzeverarbeitung zeugen eine Anzahl Bronzeblechabfallstücke und Bronzedrähtchen. Dem täglichen Leben entstammen u. a. einzelne Gewandhafteln und -verschlußteile (Abb. 4, 4.5), ein tönerner Spinnwirtel (Abb. 4, 6), ein Spielwürfel aus Bein (Abb. 4, 7), der nicht die ansonsten verbindliche Anordnung der „Augen“ zeigt, Nähnadeln und neben den üblichen Hausabfällen in Form von Keramik und Knochen auch Fragmente einzelner Glasgefäße, z. B. Nuppenbecher. Butzenscheibenfrag­ mente, Eisennägel und -fragmente, Kachelteile, Fragmente von Dachziegeln und Tonröhren mögen neben Resten behauener Steine und ortsfremder Kalk­ steinplatten von der abgebrochenen Burggrafenburg stammen. In den jüngsten Auffüllschichten und Baugruben kamen natürlich auch zahlreiche umgelagerte ältere Funde zutage, wie etwa die profilierte Gürtel­ schnalle mit Perlstab (Abb. 4, 2), die eine geläufige Form des entwickelten 13. Jahrhunderts darstellt7. In den älteren Horizonten traten die Kleinfunde zahlenmäßig deutlich zurück, insbesondere fehlen die Hinweise auf die handwerklichen Produk­ tionen. Aus einer der unteren Schichten stammt ein stark verbogener Bronze­ anhänger mit fein gezähntem Rand und Resten von Vergoldung (Abb. 4, 1), wahrscheinlich ein Zieranhänger vom Pferdegeschirr8. Zu einer Sporengarnitur dürfte der kleine bronzene Haken (Abb. 4, 3) gehört haben, der in der obersten Auffüllschicht gefunden wurde. Haken

5 Belege für solche Produktionen finden sich in großer Zahl vielerorts im städtischen Bereich, etwa bei den Grabungen am Konstanzer Fischmarkt (J. Oexle, Archäologische Untersuchungen am Konstanzer Fischmarkt. Archäologische Ausgrabungen in Baden-Württemberg 1984 (Stuttgart 1985), 244 ff., hier Abb. 227, 8-14 u. S. 248 f. Dies.: Würfel- und Paternosterhersteller im Mit­ telalter. In: Der Keltenfürst von Hochdorf, Methoden und Ergebnisse der Landesarchäologie. Stuttgart 1985, 455-462) oder einem jüngst zutage gekommenen mittelalterlich/neuzeitlichen Fundkomplex aus der Bamberger Altstadt (Theatergasse, unpubliziert). 6 J. Reitinger, Oberösterreich in Ur- und frühgeschichtlicher Zeit. Bd. 1, Linz 1969, S. 410. 7 I. Fingerlin, Gürtel des hohen und späten Mittelalters. Kunstwissenschaftliche Studien Bd. 46, Berlin/München 1971, 65 ff. 8 Ein ähnliches Stück aus einem Fundbestand des 12. Jh. s. bei M. Untermann, Grabungen auf der Burg Berge (Mons)-Altenberg (Rheinisch-Bergischer Kreis), Archäologisches Korrespondenz­ blatt 13/1983, 115-119, hier: Taf. 7,2.

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Martin Nadler

Abb. 4:

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Grabung Burgamtmannsgebäude 1986. Kleinfunde aus verschiedenen Schichten. 1 — 5 Bronze, 6 Keramik, 7 Elfenbein, 8-9 Knochen, 10-18 verschiedenfarbiges Glas. M 1:2. Zeichnungen M. Catrici.

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Ausgrabung 1986 im Burgamtmannsgebäude

dieser Form finden sich an Sporen des 14./15. Jh.9, sie dienten der Befestigung des nach vorn um den Fuß geführten Lederriemens. Keramikfunde

Aus dem reichen Keramikinventar sollen zur Illustration noch einige willkür­ lich aus verschiedenen Grabungsbereichen ausgewählte Formen vorgeführt werden. Ohne stratigraphische Aufarbeitung der Grabung kann beim derzeit immer noch ungenügenden Forschungsstand zur hoch- und spätmittelalter­ lichen Keramik keine genauere zeitliche Ansprache dieser Stücke erfolgen. Eine Datierung anhand der Gefäßprofile ist ohne die Einbeziehung technologischer Kriterien ohnehin problematisch10. Es zeichnen sich, ausgehend von den Keramikfunden, gegenüber den Ergebnissen der Grabung Fehrings überdies keine nennenswerten Änderungen für die Geschichte der Nürnberger Burg ab. Fehring hatte die Keramikfunde seiner Grabung in Anlehnung an Lobbedey11 in 5 nach technologischen Kriterien gegliederte Gruppen unterteilt12. Diese Einteilung kann cum grano salis auch für die 1986 gewonnenen Funde übernommen werden. Die auf Abb. 5, 1—6 wiedergegebenen Scherben lassen sich demnach seinen Gruppen I und II, der gewülsteten, nachgedrehten, feinsandig-dichten bzw. feinsandig-porösen Ware zuordnen, die Scherben Abb. 5, 7—9 gehören dementsprechend seiner Gruppe III, der älteren Drehscheiben­ keramik, an. Für diese Gruppen ergibt sich nach Fehring eine Datierung in Lobbedeys Horizonte C—Dl, was in absoluten Zahlen dem 11. — frühen 12. Jahrhundert entspricht13. Zu den ältesten Formen gehört dabei ein Rand­ scherben mit weit ausladendem, trichterförmigen Rand (Abb. 5, l)14. Er wurde, wie auch der Scherben Abb. 5, 2 in der untersten, unmittelbar auf dem Fels auflagernden Schicht gefunden. Die übrigen abgebildeten Stücke stammen aus etwas jüngeren Schichten bzw. streuen umgelagert bis in die Planierungs­ schichten des 15. Jahrhunderts. Besonders hervorgehoben seien hier eine größere Zahl von Henkeln, im vor­ liegenden Fall (Abb. 5, 6) mit eingeglättetem Zickzackband, die zu großen 9 R. Zschille u. R. Forrer, Der Sporn in seiner Formen-Entwicklung. Berlin 1891, S. 23 u. Taf. VIII, 5-7. 10 Dazu auch jüngst: H. Losert, Die früh- bis hochmittelalterliche Keramik von drei ausgewählten Fundplätzen im Bamberger Land (Bamberg-Dom, Hallstatt-Ortskern, Wüstung Schlammers­ dorf). Magisterarbeit Univ. Bamberg 1984, S. 115. 11 U. Lobbedey, Untersuchungen mittelalterlicher Keramik vornehmlich aus Südwestdeutsch­ land. Arbeiten zur Frühmittelalterforschung Bd. 3, Berlin 1968, 17 ff., 26 ff., 31 ff. 12 Fehring u. Stachel a.a.O. (1968), 64. 13 Fehring u. Stachel a.a.O. (1968), 65; dazu Lobbedey a.a.O. 21 ff., 30 ff. 14 Dannheimer zählt solche Formen innerhalb der von ihm vorgelegten Abfolge mit zu den älte­ sten (H. Dannheimer, Keramik des Mittelalters aus Bayern. Kataloge der Prähistorischen Staatssammlung Nr. 15, Kallmünz 1973, Beilage 2, dazu S. 13 u. 31).

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Martin Nadler

Abb. 5:

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Grabung Burgamtmannsgebäude 1986. Romanische Keramik. M 1:3. Zeichnungen M. Catrici.

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Ausgrabung 1986 im Burgamtmannsgebäude

Ausgußgefäßen mit Tülle (wie Abb. 5, 10) gehören. Den Nürnberger Funden sehr ähnliche Stücke fanden sich jüngst in Material des 10.—12. Jahrhunderts von der Schranne in Bamberg15, das auch für andere Nürnberger Funde gute Vergleichsmöglichkeiten bietet. Dieser Gefäß typ scheint nach neueren Erkenntnissen nach der Mitte des 12. Jahrhunderts nicht mehr in Benützung gewesen zu sein16. Eine frühe Form von Kacheln ist durch das Bodenstück einer schmalen, hohen Becherkachel (Abb. 5, 11) vertreten, die ebenfalls ins 12. Jahrhundert datiert werden kann17. Vom anderen Ende des chronologischen Spektrums liegen einige Fragmente von sog. Vierpaßbechern vor (Abb. 6, 4—7), die in den oberen Füllschichten (Abb. 3, Nr. 7 und 8) im Burgamtmannsgebäude in einiger Zahl zutage kamen und für den somit anzunehmenden Zeitraum im frühen 15. Jahrhundert in Nürnberg eine geläufige Form darstellen18, wie auch die zahlreichen Becher verschiedener Form im Wilden Mann zeigen19. Aus den jüngsten, mit der Bau­ zeit des Gebäudes in Verbindung zu bringenden Straten und Baugruben stammen endlich als typologisch jüngste Form eine Reihe von im Laufe des 15. Jahrhunderts neu auftretenden Kompositrändern (Abb. 6, 1—3)20. Vorgeschichtliche Scherben, die trotz intensivster, gezielter Suche nur in sehr geringer Zahl festgestellt wurden, können nicht als Beleg für eine ältere Besiedlung des Platzes gewertet werden. Sie dürften mit zu Auffüll- oder Pla­ nierungszwecken hochgeschafftem Erdreich und Sand auf die Burg gelangt sein und zwar zu verschiedenen Zeiten, wie ihre Streuung innerhalb der Schichtenfolge anzudeuten scheint. Zumindest belegen sie für den wohl näheren Bereich des Burgberges vorgeschichtliche Niederlassungen, und man kann nur hoffen, daß die derzeit dankenswerterweise intensiviert durchge­ führten Grabungen im Bereich der Altstadt hier den einen oder anderen Befund erbringen, vielleicht in der Niederung gegen die Pegnitz zu. 15 H. Losert, W. Sage, Ausgrabung an der Schranne in Bamberg. Archäologisches Korrespon­ denzblatt 17/1987, 375 — 386. Abb. 6 u. 7, zur Henkelform Abb. 7, 4. 16 R. Koch, Tischgeschirr aus Keramik im süddeutschen Raum 1150—1250. Zeitschrift für Archäologie des Mittelalters, Beiheft 4/1986, 159-177, hier 170 f. 17 J. Tauber, Herd und Ofen im Mittelalter. Schweizer Beiträge zur Kulturgeschichte und Archäo­ logie des Mittelalters, Bd. 7, Olten-Freiburg 1980, S. 300 (Abb. 224) und S. 303 (Abb. 226), Becherkacheln Grundtyp C bzw. E. 18 Sie gehören überwiegend dem Bechertyp 7 nach Koch an, der schon für das 14. Jahrhundert belegt ist: R. Koch, Mittelalterliche Trinkbecher aus Keramik von der Burg Weibertreu bei Weinsberg, Kr. Heilbronn. Forschungen und Berichte zur Archäologie des Mittelalters in Baden-Württemberg, Bd. 6/1979, 47—75 (hier 58). 19 R. Kahsnitz u. R. Brandl, Aus dem Wirtshaus zum Wilden Mann. Ausstellungskatalog Nürn­ berg 1984, 85 ff., insb. S. 90 Nr. I B 65. 20 Dazu: W. Endres u. V. Loers, Spätmittelalterliche Keramik aus Regensburg. Regensburg 1981, 71.

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Abb. 6:

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Grabung Burgamtmannsgebäude 1986. Keramik des 15. Jahrhunderts. M 1:3. Zeichnungen M. Catrici.

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Ausgrabung 1986 im Burgamtmannsgebäude

Faunistische und botanische Funde

Das in allen Schichten reiche faunistische Material ist noch nicht bestimmt, doch stammen nach oberflächlicher Sichtung die meisten Knochen von Schweinen und Rindern als wichtigsten Fleischlieferanten. Die anderen Haus­ tiere und Wildtiere, wie z. B. Hirsch, sind deutlich geringer vertreten. Eine Bestimmung der Getreidereste aus den verschiedenen Schichten durch Hans-Joachim Gregor und eine Bestimmung der Holzkohlen durch Peter Poschlod liegen bereits vor und seien kurz ohne zeitliche Differenzierung refe­ riert21. Gerste und Weizen bilden die Masse des Probenmaterials, wobei auffäl­ ligerweise offensichtlich eine nur geringe Verunreinigung durch Unkräuter (Kornrade) festzustellen ist. In nur geringen oder nur einzelnen Belegen sind Hafer, Haselnuß, Schlehen, Zwetschgen und Pflaumen, Erbsen und Linsen vorhanden. Gregor stellt zusammenfassend fest: „Eine Auswertung zusammen mit den Grabungsbefunden muß erst noch gemacht werden, wobei aber höchstwahrscheinlich keine nennenswerten Aussagen, z. B. das Alter oder andere Unterschiede betreffend, gemacht werden können. . . . Auf jeden Fall ist dieses Vorkommen schon durch die seltsame Ärmlichkeit der Pflanzentaxa gekennzeichnet. Es lassen sich ganz grob folgende Aussagen wagen: Gerste und Weizen waren wohl aufgrund des dominanten Vorkommens die wichtig­ sten Nahrungsmittel, untergeordnet dann Erbsen und Linsen. Als Obst wurden wohl hie und da Zwetschgen und Pflaumen verzehrt (Kirschen?), ebenso Haselnuß und Schlehe . . .“ An Pflanzenresten aus der näheren Umgebung, die nicht der Ernährung dienten, bestimmte er noch Kiefer, Weißdorn, Wilder Wein (Zierpflanze?), Acker-Labkraut und Vogel-Wicke. Die vegetabilischen Proben wurden auch oberflächlich auf ihren Gehalt an bestimmbaren Holzkohlen untersucht. Poschlod konnte Fichte oder Rot­ tanne, Weißtanne, Eiche, Haselnuß, Buche, Weide/Pappel, Buchsbaum?, Kiefer-Fichte-Lärche (nicht trennbar) und Kiefer bestimmen. „Die genannten Formen stützen die Befunde der Früchte und Samen kaum, nur die Hasel war bereits vertreten. Alle Hölzer wurden wohl im Umkreis von Nürnberg gesam­ melt (Feuerholz) und lassen einen Eichenmischwald und evtl, eine Aue in der Nähe vermuten“ (Poschlod).

21 Dem im folgenden kursorisch zitierten Untersuchungsbericht liegen nach Fundeinheiten auf­ geschlüsselte Artenlisten bei.

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Ausblick

Mit diesem ersten Überblick über die Grabung 1986 im Burgamtmannsge­ bäude zeigt sich erneut, daß auch aus flächig sehr begrenzten Untersuchungen interessante Beobachtungen zu Detailfragen der Geschichte der Nürnberger Burg und auch genügend Funde der unterschiedlichsten Art gewonnen werden können, die das tägliche Leben im Mittelalter beleuchten. Gerade letztere Frage gewinnt in der jüngeren Forschung ja zunehmend an Bedeutung. Eine baldige, fachkundige Auswertung des gesamten Materials von der Nürnberger Burg bleibt deshalb wünschenswert, sie verspricht brauchbare Ergebnisse. Möglichkeiten zu weiteren Untersuchungen sollten darüberhinaus, wo sie sich anbieten, wahrgenommen werden. Denn obgleich einzelne Fragen, wie die Anfänge der Burg durch die Grabung Fehrings22 oder die Baugeschichte des Burgamtmannsgebäudes durch die Grabung 1986 einer Klärung näher gebracht werden konnten, bleibt natürlich noch Vieles im archäologischen Dunkel.

22 Fehring a.a.O. (1972), insb. S. 16.

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BUCHBESPRECHUNGEN Werner Schultheiß: Kleine Geschichte Nürnbergs. 2. Aufl., hrsg. von Gerhard Hirschmann. Nürnberg: Spindler 1987. 217 S., 28 Abb. DM 39,80. So umfangreich die Nürnberg-Literatur auch ist, so sehr fehlt es an wissenschaftlich ausgerichteten stadtgeschichtlichen Gesamtdarstellungen. Ein so großes Kompendium, wie es Gerhard Pfeiffers „Geschiche einer europäischen Stadt“ mit vielen Beiträgern geschaffen hat, wird wohl nicht mehr so schnell auf den Markt kommen. Um so dank­ barer ist man, daß Werner Schultheiß’ längst vergriffene „Kleine Geschichte Nürn­ bergs“, die 1966 erstmals erschien, von unserem Vorsitzenden, Dr. Gerhard Hirsch­ mann, aufs neue herausgegeben wurde. Schon Schultheiß wollte einen breiteren Leser­ kreis erreichen, aber auch den Historiker und Geschichtsfreund, den Lehrer und Stu­ denten verläßlich informieren. Inzwischen sind über zwanzig Jahre ins Land gegangen, die viele neue Forschungsergebnisse gebracht haben, die aber auch selbst Geschichte geworden sind und damit einen Platz in dem Buch beanspruchen. Gerhard Hirschmann hat sich der Mühe unterzogen, die erste Auflage zu ergänzen, vor allem die Zeit des Nationalsozialismus und des Wiederaufbaus anhand der neueren Literatur aufzubereiten und den Abschnitt über „Die letzten zwanzig Jahre“ beizu­ fügen. In drei Kapiteln — Kommunalpolitik, Bildung und Kultur, Wirtschaft — faßt er die Ereignisse und Entwicklungslinien der jüngsten Nürnberger Geschichte zusammen. Es ist die Zeit nach dem Wiederaufbau der Stadt und der Aufhebung der Wohnungs­ zwangswirtschaft (1965), der verstärkten Anbindung an die Landes- und Bundes­ politik, in der alle deutschen Großstädte von ähnlichen „gesellschaftlichen Strömungen und sozialen Faktoren“ bestimmt wurden, doch — wie Hirschmann anfügt — „viel­ leicht mit dem Unterschied, daß manche Erscheinungen hier in einer gemäßigteren Form und mit zeitlicher Verzögerung sichtbar werden“. In übersichtlicher Form und mit 28 Abbildungen und einigen informativen Tabellen versehen, bietet sich der neue Band, der kompetent Auskunft über die vielhundertjäh­ rige Nürnberger Stadtgeschichte gibt, dar. Literaturverzeichnisse und Register erschließen ihn und regen zu weiterführenden Studien an. Kuno Ulshöfer Wilhelm Schwemmer (f): Nürnberg, ein Führer durch die Altstadt. 9. und 10. Aufl. bearb. von Gerhard Hirschmann. Hrsg, vom Verkehrsverein Nürnberg. W. Tümmels, Nürnberg 1986 und 1988. 119 S. DM6.-. — Erich Mulzer: Stadt­ führer Nürnberg. Rombach, Freiburg. 3. Aufl. 1986. 104 S. DM 8,-. - Baedekers Nürnberg. Stadtführer, bearb. von Erich Mulzer, Freiburg 1986. 123 S. DM 12,80. — Wolfgang Kootz, Willi Sauer, Ulrich Strauch: Nürnberg Stadtführer. Edm. von König, Heidelberg. 2. Aufl. 1987. 76 S. DM 5,50. Stadtführer sind unerläßliche Helfer für denjenigen, der sich näher mit einer Stadt und ihren Sehenswürdigkeiten auseinandersetzen, praktische Hinweise erhalten und sich einen ersten Überblick über ihre Geschichte verschaffen will. Hier sind vier neuer­ dings erschienene Führer dieser Art anzuzeigen, die sich alle mit Nürnberg beschäf­ tigen. Bis auf den Baedeker sind alle farbig bebildert, dafür zeigt dieser hübsche Zeich­ nungen von Bauwerken und Kunstobjekten. Ebenso sind selbstverständlich alle Führer mit einem Stadtplan versehen. Und alle bieten sie auch Nürnbergtips und Informa-

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tionen, am ausführlichsten der Baedeker (der bei den Museen und Instituten auch Stadt­ archiv und Stadtbibliothek hätte erwähnen dürfen, die auch sonst nicht immer berück­ sichtigt sind). In neunter und neuerdings zehnter Auflage präsentiert sich der „Führer durch die Altstadt“ des Verkehrs Vereins Nürnberg, dessen ursprüngliche Konzeption von Wil­ helm Schwemmer stammt. Gerhard Hirschmann hat die vorliegende Fassung bear­ beitet. Er bringt die ausführlichste historische Einleitung und beschreibt dann jeweils blockweise Burg, Kirchen, öffentliche Gebäude, Bürgerhäuser, Brücken, Brunnen, Denkmäler und die berühmten Friedhöfe sowie — sehr lobenswert! — die Gedenktafeln an den Altstadthäusern. Drei Besichtigungsrouten führen den Benutzer durch die Alt­ stadt. In den drei anderen Führern stehen die Rundgänge im Mittelpunkt. Zwei davon tragen die Handschrift Erich Mulzers, des Vorsitzenden der Nürnberger Altstadt­ freunde: er verfaßte den in dritter Auflage vorliegenden Stadtführer Nürnberg des Rombachverlags und bearbeitete den Baedeker (der erste selbständige Nürnberg-Bae­ deker erschien 1966). Jener enthält einen einzigen großen Rundgang in 22 Abschnitten (im Plan markiert) vom und bis zum Hauptmarkt mit „Ausbrüchen“ zum Johannis­ friedhof und zum Verkehrsmuseum, dieser gliedert sich in sieben umfangreichere Besichtigungsabschnitte, zu denen man sich Kartenbeigaben wünschen möchte (da Mulzer sein Nürnberg natürlich aus dem ff kennt, sind ein paar Fehler im Baedeker sicher nicht ihm zuzuschreiben: das kleine Wappen Nürnbergs besteht nicht aus sechs Schrägrechtsbalken, sondern ist fünfmal schrägrechts geteilt; der ehemalige Oberbür­ germeister heißt nicht Heinrich, sondern Hermann Luppe; das Männleinlaufen findet nicht nur jeden Mittwoch, sondern jeden Mittag statt — dies ein paar der im Vorwort erbetenen Berichtigungen). Der Stadtführer „Nürnberg“ des Edm. von König-Verlags (Text: Wolfgang Kootz), der seine 2. Auflage erlebt, schließlich gliedert seinen Rund­ gang durch die Altstadt in 24 Quartiere („Die Burg“, „Rund um die Egidienkirche“, „Auf dem Johannisfriedhof etc.), deren Ziffern in dem aus dem „Merian“ von 1981 abgekupferten Stadtplan erscheinen. So weist jeder der vier Stadtführer seinen eigenen Aufbau vor, jeder Geschmack läßt sich damit bedienen. Wer’s ganz genau wissen will, muß zu weiterführender Literatur greifen. Die aber bietet ihm nur der Baedeker (der aber den Nürnbergband der Bayeri­ schen Kunstdenkmale auch nicht erwähnt). Kuno Ulshöfer Dieter Wuttke: Nuremberg. Focal Point of German Culture and History = Nürn­ berg als Symbol deutscher Kultur und Geschichte. Bamberg: H. Kaiser 1987. 52 S., 54 Abb. DM 12,-. Bei einem Symposion aus Anlaß der Ausstellung „Gothic and Renaissance Art in Nuremberg 1300—1550“ im Metropolitan Museum of Art in New York (1986) hielt Professor Wuttke/Bamberg einen Vortrag über das Thema „Shaping a Symbol and a Vision: Foundations of Nuremberg’s Intellectual Life 1350-1530“, den er dann an mehreren Universitäten und Institutionen im In- und Ausland wiederholte und den er nun zweisprachig im Druck vorlegt. Ausgehend vom heutigen Nürnbergbild, das zwi­ schen Lebkuchenromantik und Schatzkästleinvorstellungen einerseits und den Assozia­ tionen Rassismus, Nationalismus und Naziverbrechen schwankt, entwickelt er ein ganz

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anderes Nürnbergbild des Spätmittelalters, das er auf dem Symbol der Mitte aufbaut. Die Stadt selbst erhielt ihre Mitte nach dem Judenpogrom von 1349 in dem damals auf dem Ghettogelände errichteten Marktplatz mit der imperialen Frauenkirche und dem symbolbeladenen Schönen Brunnen. Dieter Wuttke untermauert dann mit Beispielen, wie in Nürnberg dieses „Mittelpunktbewußtsein“ mit symbolstiftenden Handlungen“ geographisch, politisch, theologisch, künstlerisch-kulturell weitergepflegt wurde (wei­ tere Stichwörter: Goldene Bulle, Reichskleinodien, Heiligsprechung des Sebaldus, Conrad Celtis’ Dichterkrönung, die Humanisten, Dürer, das Sebaldusgrab, der Rat­ haussaal) und sich in einer „materiell faßbaren Idee“ bzw. im Weisheitsstreben als „ideeller Idee“ manifestierte. Der Aufsatz macht sein wahrlich zentrales Anliegen und seine neue zentrierte Sicht durch die Beigabe von 54 Abbildungen auch sinnhaft deutlich. Kuno Ulshöfer Elisabeth Sch raut: Stifterinnen und Künstlerinnen im mittelalterlichen Nürnberg (= Ausstellungskataloge des Stadtarchivs Nürnberg, Nr. 1). Nürnberg 1987, 78 S. mit zahlr. Abb. DM 20,-. Im Zeitalter des Feminismus wird mancher Leser mit Skepsis den Band zur Hand nehmen. Doch diese Skepsis schwindet bei näherer Betrachtung mehr und mehr, ist hier doch ein interessanter Teilaspekt der reichen Nürnberger Geschichte beleuchtet. Mit großer Akribie hat die Verf. vielfältiges Material zusammengetragen und zu einem gut lesbaren, fundierten Text formiert, der durch die Abschnitte der Ausstellung führt: Stif­ terinnen und Auftraggeberinnen, Mystische Autorinnen im Dominikanerinnenkloster Engelthal, Das Klarissenkloster: Übersetzerinnen und Schreiberinnen, Das Dominika­ nerinnenkloster St. Katharina: Bibliothek und Skriptorium, Buchmalerinnen des Ka­ tharinenklosters, Textilkünstlerinnen in St. Katharina, St. Klara und außerhalb des Klo­ sters, Rezeption und Verbreitung mystischer Literatur in Kloster Pillenreuth. Dabei werden die einzelnen Ausstellungsstücke ausführlich historisch eingeordnet und, soweit es sich um bildliche Zeugnisse handelt, ikonographisch erläutert. Auch Informationen zu bisher mehr oder weniger bekannten Persönlichkeiten unter den Stiflerinnen und Künstlerinnen (u. a. Christine Ebner, Caritas Pirckheimer und Anna Ebin) fehlen nicht. Interessant ist, wie die speziellen Formen der Frauenfrömmigkeit und der künstlerischen Betätigungsmöglichkeiten von Frauen im Mittelalter herausge­ arbeitet werden. So wird deutlich, wie sich Frauenklöster z. B. für die Verbreitung von deutschsprachigen Predigten einsetzten, oder welch große Bedeutung sie für die Ent­ wicklung der Webkunst hatten. Die ansprechende Gestaltung des Bandes, dessen geschicktes Layout eine gute Über­ sichtlichkeit des klar gegliederten Textes bewirkt, wird besonders durch die zahlreichen Abbildungen betont, die als zusätzliche Information im Text verteilt sind. Der eigent­ liche Katalogteil beschränkt sich dezent auf knappe technische Angaben und den Lager­ ort der Objekte. So ist ein Handbuch zur Ausstellung mit bleibendem, nicht nur ephe­ merem Wert entstanden. Es wendet sich an einen Leserkreis, der sich in Ruhe über das Thema der Ausstellung informieren will. Man kann dieser Veröffentlichung nur wün­ schen, daß sie unabhängig vom aktuellen Anlaß der Ausstellung weiterhin Verbreitung findet. Irmtraud Frfr. v. Andrian-Werbürg

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Die Handschriften der Stadtbibliothek Nürnberg. Bd. 2. Die lateinischen mittel­ alterlichen Handschriften. Teil 2. Bibelhandschriften und Liturgica einschließlich der griechischen Texte. Bearbeitet von Ingeborg Neske. Wiesbaden: Harrassowitz 1987. XXI, 192 S., 32 Taf. sw. 2 Taf. färb. DM 112,—. Das Förderungsprogramm „Katalogisierung abendländischer Handschriften“ der Deutschen Forschungsgemeinschaft begann vor über 25 Jahren. Schon die ersten beiden Bände der gedruckten Handschriftenkataloge der Nürnberger Stadtbibliothek, die vor mehr als 20 Jahren herauskamen (1965 der Band 1, 1967 der erste Teil von Band 2), verdankten ihre Entstehung wesentlich diesem großangelegten Unternehmen, das seit 1960 über 90 Bände hervorgebracht hat. In diese anspruchsvolle Reihe ordnet sich der neueste Band des Handschriftenkataloges der Nürnberger Stadtbibliothek würdig ein. Ingeborg Neske beschreibt darin genau und sorgfältig 137 Codices, fast sämtlich Pergamenthandschriften. Im Aufbau folgt das Buch seinen beiden Vorläuferbänden. Anders als die Überschrift es nahelegt, ist auch eine neuzeitliche Handschrift aufgenommen worden. Es handelt sich um das bekannte Glockendonsche Missale von 1530—1542 dessen Beschreibung auf diese Weise, anders als im Zettelkatalog, der nur am Ort benutzbar ist, auch aus­ wärts konsultiert werden kann. Bei der Katalogisierung hat die Bearbeiterin die Richtlinien der Deutschen For­ schungsgemeinschaft befolgt, wie sie seit 1983 gedruckt vorliegen. Dabei ist die Buch­ illustration ausführlicher gewürdigt worden, weil im Katalogisierungsprogramm der Stadtbibliothek eigene Bände für illuminierte Handschriften — wie dieses eigentlich wünschenswert wäre — nicht vorgesehen sind. Die Handschriften stammen fast sämtlich aus den Bibliotheken der im 16. Jahrhun­ dert aufgehobenen Klöster, acht kommen aus dem ehemaligen Besitz von Pfarrkirchen, eine aus der vorreformatorischen Ratsbücherei, elf Stücke sind dem Bibliothekar und Prediger an St. Sebald, Adam Rudolph Solger (1693—1770), zu verdanken und zehn Bände stammen aus der Verlassenschaft des Kaufmannes Johann Jacob Hertel (1781-1851). Von den 51 aus dem Katharinenkloster herrührenden Handschriften ist der größte Teil auch dort hergestellt worden und erweist so einmal mehr die überrragende Bedeu­ tung dieses Konvents für die mittelalterliche Nürnberger Buchproduktion. Von den 15 Codices aus dem Dominikanerkloster ist bezeichnenderweise nicht einer dort ent­ standen. Allerdings kommt diesem Kloster herausgehobene Bedeutung für die Buchge­ schichte zu, weil hier der berühmte Buchbinder Konrad Förster wirkte, der in Einzel­ heiten der Beschriftungstechnik seiner Bände als Vorläufer von Johann Gutenberg in Anspruch genommen wird. Siebzehn von ihm gefertigte Bucheinbände sind unter den 137 Handschriften des Katalogs zu finden. Die stadtgeschichtliche Forschung — und das hat schon die Beschreibung der Prove­ nienzen der Manuskripte gezeigt — sieht in dem neuen Katalogband Material für ihre Fragestellungen ausgebreitet. Vor allem sozial- und personengeschichtliche Unter­ suchungen werden sich dieses Quellenbandes bedienen, zu dem ein Personen-, Orts­ und Sachregister den Zugang erleichtert. Das Register gibt Anlaß zu kleinen Beanstandungen. Der Eintrag „Buchbinder s.(iehe) Konrad Förster“ führt weder unter „Konrad“ noch unter „Förster“, wohl aber

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unter „Conradus“ zum Erfolg. Laut Katalogteil S. 141 schrieb Magdalena Imhoff das Ms. Hert 13, während in der Einleitung von Margareta Imhoff (S. XII) die Rede ist. Im Register (S. 174) heißt sie korrekt wieder Magdalena. Dieser wird auch Ms. Cent III, 86 zugeschrieben, während es laut Katalogteil S. 24/25 Margareta Imhoff zur Schreiberin hatte. Ebenfalls der Magdalena Imhoff ordnet das Register die Handschrift Cent III, 87 zu, die doch laut Katalogteil S. 26 von der bekannten Margareta Karteuserin verfertigt worden ist, unter deren Namen der Codex beruhigenderweise ebenfalls im Register erscheint. Doch soll diese Beckmesserei keinesfalls den Blick verstellen auf die Gesamtleistung, die ein solcher Handschriftenkatalog darstellt. Ihr ist Respekt zu zollen und das nun endlich vorliegende Ergebnis darf auch von den an der Ortsgeschichte Interessierten dankbar zur Kenntnis genommen und benutzt werden. Hans-Otto Keunecke

Gerhard Hirschmann, Eberhard Krauß, Helmut Wiedl: Der Drei-Königs-Altar (Muffel-Altar) in der St. Peterskapelle in Nürnberg, hg. v. Evang.-Luth. Pfarramt St. Peter, Nürnberg 1988, 19 S., 3 Abb. Das für die Gemeinde St. Peter denkwürdige Ereignis, die nach 20jähriger Abwesen­ heit erfolgte Rückkehr des Drei-König-Altars, die mit einer Feierstunde festlich begangen wurde, ist in der vorliegenden kleinen Festschrift mit drei Beiträgen erfreu­ licherweise festgehalten. Gerhard Hirschmann, der bereits in seiner Dissertation über die Familie Muffel im Spätmittelalter geforscht hat, stellt zunächst den Stifter und seine Familie kurz vor. Es ist der 1469 hingerichtete Vorderste Losunger der Reichsstadt Nürnberg, Nikolaus III. Muffel, mit seiner Gemahlin Margaretha von Laufenholz. Hirschmann vermutet, daß Muffel nicht nur den Altar gestiftet, sondern auch schon bei der Errichtung des Gottes­ hauses mitgewirkt hat. Die enge Verwandtschaft zur Familie Tetzel und die zahlreichen bis ins 18. Jahrhundert hinein zu verfolgenden Muffel-Stiftungen für die Kapelle machen dies wahrscheinlich. Bei der Frage nach dem Künstler des um 1467/68 geschaf­ fenen Altars könnte seiner Meinung nach der mit Valentin Wohlgemut (?) identifizierte „Meister des Wolfgang Altars“ in Betracht gezogen werden. Hinsichtlich der ursprüng­ lichen Bemalung des Altars gäbe der in der linken oberen Ecke vom gotischen Tafelbild freigelegte (auf dem Titelbild der Festschrift abgebildete) Männerkopf einen Hinweis. Würde er nämlich als der des Propheten Jesaia gedeutet, ließe sich an eine Darstellung aus dem Marienleben denken, was mit dem ersten Patrozinium der Kapelle, Mariae Verkündigung, übereinstimmen würde. Über die 1969 begonnenen Restaurierungsarbeiten am Altar berichtet Helmut Wiedl. Bei den vier bis fünf Malschichten aus dem 15. bis zum 20. Jahrhundert war eine konse­ quent denkmalpflegerische Entscheidung für den einen oder anderen Malbestand nicht möglich gewesen. Die Fachleute einigten sich schließlich auf die Erhaltung der Darstel­ lung aus der Dürerzeit bei der Mitteltafel und der gotischen Farbschichtreste auf den Altarflügeln, sowie eine Neubemalung der bei den Heiligen Barbara und Jacobus not­ wendigen Hintergründe, jedoch in Anlehnung an das Vorhandene und die Farbgebung der Mitteltafel. Die zwei der drei farbigen Abbildungen in der Festschrift zeigen ein-

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drucksvoll den Zustand der Altarflügel vor und nach den Restaurierungsarbeiten. Letz­ tere sind im Mai 1988 abgeschlossen worden. Im dritten Beitrag schließlich, der sich mit der „Botschaft des Altars“ befaßt, gibt Pfarrer Eberhard Krauß die theologische Deutung des Bildinhalts der Altarmitteltafel, auf der die Anbetung der Hl. Drei Könige dargestellt ist. Ursula Schmidt-Fölkersamb

Dieter Wuttke: Humanismus als integrative Kraft. Die Philosophia des deutschen ,Erzhumanisten4 Conrad Celtis. Eine ikonologische Studie zu programmatischer Gra­ phik Dürers und Burgkmairs (= Renaissance-Vorträge. Eine Schriftenreihe der Stadt­ geschichtlichen Museen Nürnberg, Heft 8). Nürnberg 1985. 64 S. mit 14 Abb. DM 12.-. Dieter Wuttke hat sich seit seiner Dissertation über die ,Histori Herculis4 des Pangratz Bernhaupt gen. Schwenter (1964) stets erneut Nürnberger Themen aus dem Umkreis von Konrad Celtis, Albrecht Dürer und der Gebrüder Vischer zugewandt (zuletzt: Nürnberg als Symbol deutscher Kultur und Geschichte. Ein Vortrag, Bam­ berg 1987). Auch die hier anzuzeigende Schrift ist aus einem Ende 1984 im Fembohaus gehaltenen Vortrag hervorgegangen, die der Autor nunmehr erweitert und mit Anmer­ kungen versehen im Druck vorlegt. Gegenstand von Wuttkes Untersuchung ist das humanistische Programm des Konrad Celtis am Beispiel zweier 1502 und 1506/7 ent­ standener Holzschnittdarstellungen, der ,Philosophia4 Dürers aus der Nürnberger Amores-Ausgabe und des allegorischen Reichsadlers, den Hans Burgkmair als Pro­ grammbild für das Wiener „Collegium poetarum et mathematicorum44 geschaffen hat. Ergebnis von Wuttkes subtiler Interpretation dieser Bildwerke und ihres unmittelbar auf Celtis zurückgehenden Gehalts ist ein weiterer Baustein bei der Neubewertung des deutschen Renaissance-Humanismus um 1500: Dieser beschränkte sich — wie Wuttke überzeugend darlegen kann — nicht auf die ,studia humanitatis4, das Studium von Grammatik, Rhetorik und Dichtkunst, von Philosophie und Geschichte, sondern schloß — was bisher auch von ausgewiesenen Renaissanceforschern teils übersehen, teils geleugnet wurde — stets auch die mathematischen und die Naturwissenschaften ein. Das wissenschaftliche Ethos des Celtis zielte auf eine umfassende, „enzyklopä­ dische44 Bildung: in den Worten des Celtis (hier in freier Wiedergabe): „Was das Wesen des Himmels ausmacht, was Erde, was Luft und Wasser/ Und was immer das Men­ schenleben umfaßt/ Was schließlich Gott auch immer auf Erden erschaffen:/ Alles trage ich, die Philosophie, in meiner Brust44. Dies führt zwangsläufig zu der Erkenntnis, daß nicht so sehr die Dichtkunst, sondern vielmehr die „Philosophia44 in einem weitge­ spannten Sinn den zentralen Begriff des deutschen Renaissancehumanismus darstellt. Klaus Arnold

Walter Herppich: „Das unterirdische Nürnberg“, 132 S., mit zahlreichen Abbil­ dungen, Werkzeichungen, Plänen, Grund- und Aufrißdarstellungen. Verlag Albert Hofmann, Nürnberg, 1987. DM 34,—. Eine Wasserleitung in unserem Sinn hatte das reichsstädtische Nürnberg freilich nicht, da seine Wasserversorgung auf die Verwertung des Grundwassers in seinem Boden über zahlreiche Zisternen mit Rollenzügen gründete. Das heißt nicht, daß die

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damalige Wasserversorgung ohne jedes System war, daß man sie nicht über weite Bereiche hinweg systematisch ausbaute mit umfänglicher Installateurs- und Maurer­ arbeit, daß man nicht brachiale Kraft zur Schaffung dieses Gang- und Kellersystems aufwandte und durch ein Netz wohlgreifender Kontrollen für Intaktheit und Sicherheit dieser Anlagen gesorgt hätte. Ein Höchstmaß von Verantwortlichkeit verwandte man auf Ausschaltung des Zugriffes von Seiten unbefugter Elemente auf diese Objekte, deren Erscheinungsbild und Funktion zu jedem Zeitalter einer Reihe von Leuten par­ tiell bekannt gewesen sein mag, über dessen wahre Bedeutung aber immer nur ein aus­ gewählter Personenkreis Bescheid wußte, der jeweils zum höchsten Kreis der kommu­ nalen Verantwortungsträger gehörte. Es lag in der Natur der Umstände, daß sich um das Phänomen des „unterirdischen Nürnberg“ ein Wust von Fabeln und Gerüchten rankte: Meist wurden diese Anlagen mit zusätzlichen Verteidigungsanlagen in Kofunktion mit der Stadtmauer und später den Retrachenments in Zusammenhang gebracht, die sie zu keiner Zeit und nirgends waren, wenn man nicht die Kasematten des Fazuni-Zwingers unter der Burg ihnen zuzählen will. Nach der Version Mancher haben sie Fluchtwege im Belagerungsfall dar­ stellen sollen, wozu ihre Baugestalt aber gar nicht geeignet war! Wieder andere fabelten von sagenhaften Schätzen oder Geheimarchiven der Reichsstadt, die dort unten lagern sollten. Phantastische Vorstellungen hatte man auch von der Länge dieser unterirdi­ schen Wegführungen, die, was vom geologischen Untergrund her gar nicht möglich war, bald bis zum Dutzendteich, zum Rechenberg, bald gar zur Alten Veste hinaus­ führen haben sollen. Mit mancherlei wirklich stattgehabten historischen Ereignissen der Stadtgeschichte und des Umlandes, mit den Markgrafen-Kriegen wie mit dem Dreißig­ jährigen Krieg etwa, wurden sie ebenfalls in Verbindung gebracht. Eine bevölkerungspolitische Versorgungsrelation im Kriegsfall kommt ihnen freilich tatsächlich zu: Jenseits des Burghügels gab es ergiebige Wasseranzapfstellen unter dem Boden, und die Stadt trug in Krisenzeiten besondere Sorge, daß die Intaktheit der Was­ sergänge unter der Sohle des Grabens hinweg, die das kostbare Naß „von außerhalb“ in das Graben- und Leitungssystem des südlichen Burghügels einführten, unbeschadet blieb. Der Bereich des Milchmarkts und des Tiergärtnertors, der Burgstraße, der Krä­ mersgasse, der Schildgasse und der Burggrafenveste waren offenbar besondere Zentrali­ sationspunkte der Altnürnberger Wasserversorgung, die abschnittsweise auch mit Rat­ haus und Umraum der Lochgefängnisse in Verbindung gebracht wurde. Nach der Mediatisierung Nürnbergs 1806 kümmerte sich auch die neue bayerische Administration intensiv um das alte Nürnberger Wasserversorgungssystem, soweit es noch intakt war. Die theoretisch-versorgungsgeschichtlichen Studien, die die Erstellung des Ranna-Wasserleitungssystems von 1912 begleiteten, bezogen auch das Röhrenleitungs-System des reichsstädtischen Nürnberg mit ein und schufen damit die Grundlage des heutigen relativ gesicherten Wissens hierüber. Von jenseits des Vestner Torgrabens bis hinunter zum Platz beim Tiergärtnertor, zum Albrecht-Dürer-Platz, bis hinauf zur Stauferveste, hinunter zur Gabelung von Bergstraße und Obere Krämersgasse (Stollen am Kuhberg, gewendelte Treppe und hart östlich der Nebenstollen aus dem früheren Haus Bergstraße 22) bis nördlich an der Sebalduskirche vorbei und in die Höhe des Wolffschen Rathausbaues, wo weite Teile des Gangsystems im Zweiten Weltkrieg zerstört worden sind, läßt sich der Hauptstrang dieser alten Großwasserleitung jetzt lückenlos rekonstruieren. Stellenweise ist er auch

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noch begehbar und in seiner bemerksenswerten Statik zu bewundern: Ein Pfeilersystem trägt stockwerkartig größere und kleinere Kelleranlagen; die schmalen Gänge mit den hochgezogenen Felsengewölben, die an vielen Stellen noch die alten Steinhalterungen für die einst das Wasser fassenden Bleiröhren zeigen, sind jetzt noch, stellenweise einen halben Meter hoch, mit Grundwasser gefüllt. Der eigentliche Burgfelsen, in dessen „Tiefen Brunnen“ nach einer früher weit ver­ breiteten Meinung ein Gang vom Rathauskomplex her einmünden sollte, hat sicher nicht allzuviel zur Wasserversorgung des nördlichen Nürnberg beigetragen, war ja doch auch die Reichsburg selbst bei Reichstagen und sonstigen volkreichen Veranstal­ tungen auf Wasserzufuhr angewiesen, die man von der Stadt herbeischaffte. Von einigem Interesse muß gewesen sein, was die aus dem Bereich südöstlich vor Nürnberg kommende Leitung des Schönen Brunnens zur städtischen Wasserversorgung einst bei­ gesteuert hat: Wasser, das einen Großbrunnen speiste, konnte man ja damals nicht involvieren, es floß daher weiter und versorgte die rund um den Hauptmarkt liegenden Haushaltungen mit und einst auch das Augustinerkloster. In einer Weise, die „Glück im Unglück“ genannt werden muß, wurde dann das nörd­ liche Nürnberger Kellersystem während des Zweiten Weltkrieges „zweckentfremdet“ als Luftschutzkeller und Kunstbunker (vor allem Webersplatz, Obere Schmiedgasse). Die moderne Denkmalpflege, die aus dem Aspekt der „Industriekultur“ heraus ihr Augenmerk auch immer mehr auf die technisch-soziologischen Bemühungen jener noch früheren Zeit richtet, die auf rein mechanischer Basis mit der Meisterung des All­ tags zurecht kommen mußte, wird auch auf neue Weise das Thema des „unterirdischen Nürnberg“ im Umraum der Kaiserburg aufrollen. Helmut Häußler

Klaus Gert eis: Die deutschen Städte in der Frühen Neuzeit. Zur Vorgeschichte der »bürgerlichen Weltc. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1986, 216 S. DM 29,-. Dieses Buch versteht sich als Überblicksdarstellung zur Geschichte der deutschen Städte in der Frühen Neuzeit und bietet eine sehr gute Kompilation des gegenwärtigen Forschungsstandes mit einer differenzierten Zusammenfassung und Sichtung einer Vielzahl von Einzelstudien. Ausgehend von der Beobachtung des Zurückbleibens der meisten Städte im Vergleich zum modernen Flächenstaat sieht Gerteis jedoch besonders in den Städten die Voraussetzungen für die seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts einset­ zende Industrialisierung und die Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft gegeben, worauf der Untertitel abzielt. Um der Vielfalt städtischer Erscheinungsformen (dar­ unter als Sondertypen auch Berg-, Exulanten-, Residenz-, Haupt-, Festungs- oder Planstädte) gerecht zu werden, wird eine typologische Beschreibung mit Hilfe von Variablen aus traditionellen und zukunftsorientierten Merkmalen zugrunde gelegt. Diese Typologie muß sehr funktional verstanden werden, da immer nur eine Bünde­ lung von Kriterien bei der „Definition der frühneuzeitlichen Stadt“ angelegt werden soll. Unter den folgenden acht Aspekten wird schließlich das Phänomen Stadt analysie­ rend und referierend durchleuchtet: Erscheinungsbild und äußere Gestalt der Stadt, Demographie, Stadtverfassung, Verwaltungsgeschichte, Rechtsgeschichte, Militär­ wesen, Stadt und Kirchen, Wirtschaft und Gesellschaft.

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Entsprechend seiner Bedeutung findet Nürnberg neben den gleichrangigen Reichs­ städten Augsburg, Frankfurt und Köln gebührende Berücksichtigung. Hinsichtlich der Forschungslage konstatiert Gerteis für Nürnberg „in neuester Zeit einige Fortschritte“ (S. 12) und in der Auswahlbibliographie werden mehrere jüngere Titel genannt, obwohl auch weiterhin Reicke’s Werk von 1896 lesens- und zitierenswert ist; darüberhinaus ist es sehr erfreulich, daß bei den „speziellen Zeitschriften“ neben den Esslinger Studien (1956—1971) nur noch die Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg (1879 ff.) erwähnt werden. Die Lektüre des Buches macht deutlich, daß insbesondere die Reichsstädte gegenüber den Territorialstaaten in der Frühen Neuzeit zurückfielen, sie spielten politisch nur noch eine sehr zurückhaltende Rolle. Andererseits ließ trotz Bevölkerungsstagnation, wirtschaftlicher Abschnürung und zunehmender Verschuldung die urbane Infra­ struktur in monetär-wirtschaftlicher, technischer und vor allem kulturell-geistiger Hin­ sicht die Städte keinesfalls in die Bedeutungslosigkeit zurückfallen, zumal sie im Ver­ hältnis zum agrarisch geprägten Umland immer eine zentrale Funktion innehatten. Gerade für Nürnberg ist das negative Bild durch neuere Forschungen erheblich diffe­ renziert worden. Eben hier zeigte sich die Polarität von „Stagnation und Wandel“ (S. 176 ff.), wobei letzterer im Laufe des 19. Jahrhunderts massiv zum Durchbruch gelangte. Peter Fleischmann Reichsstädte in Franken. Katalog zur Ausstellung, Aufsätze 1 und 2 (Veröffent­ lichungen zur bayerischen Geschichte und Kultur 14 und 15, 1/2). Hg. von Rainer A. Müller, Haus der Bayerischen Geschichte, München 1987. 295, 387 und 444 S. mit zahlr. Abb. DM 70,-. Die Ausstellung ,Reichsstädte in Franken4, die 1987 vom Haus der Bayerischen Geschichte, München, veranstaltet wurde, setzte sich zum Ziel, die ,im heutigen Franken liegenden ehemaligen Reichsstädte Rothenburg, Schweinfurt, Windsheim, Weißenburg und Dinkelsbühl — unter bewußter Ausklammerung Nürnbergs4 (Katalog S. 13) — in vergleichender Darstellung vorzuführen. Dazu sollten die wichtigsten kom­ munalen Institutionen und Organisationsformen in Verwaltung, Wirtschaft, Kunst und Kultur mit dem zeitlichen Schwerpunkt 1450—1650 und den thematischen Schwer­ punkten von Reichsfreiheit und republikanischem Charakter dokumentiert werden. Indem man das Interesse auf die kleineren Reichsstädte konzentrierte, wollte man zugleich den Nachweis erbringen, daß bei ihnen ,das „Reichsstädtische“ in ebensolcher Intensität auftritt und gleichermaßan anschaulich nachzuweisen ist4 (Aufsätze 1, S. 7) wie bei den großen Reichsstädten Hamburg, Köln oder Nürnberg. Als Ergänzung zur Ausstellung erschienen gleichzeitig zwei Aufsatzbände mit insge­ samt 61 eigens zu diesem Anlaß verfaßten Beiträgen, von denen der erste Band dem Themenkreis ,Verfassung und Verwaltung4, der zweite jenem von ,Wirtschaft, Gesell­ schaft und Kultur4 gewidmet ist. Alle drei Bände zusammen repräsentieren den letzten Stand reichsstädtischer Forschung und stellen ein ebenso anregendes wie nützliches Kompendium zur fränkischen Stadtgeschichte dar. Auch wenn es im Rahmen einer Besprechung ganz unmöglich ist, auf einzelne der Beiträge näher einzugehen, deren thematisches Spektrum von der Quaternionenlehre und den Reichsallegorien (Renate Haftlmeier, Reichsallegorien auf illustrierten Flugblättern der Renaissance und des Barock, Aufsätze 1, S. 66—77 bzw. Rainer A. Müller, Quaternionenlehre und Reichs-

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Städte, ebd. S. 78—97) bis zur Reichspost (Martin Dallmeier, Reichsstadt und Reichs­ post, Aufsätze 2, S. 56—69) und zur Windsheimer Fäkaliengrube (Walter Janssen, Der Windsheimer Spitalfund — ein bedeutendes Dokument reichsstädtischer Kulturge­ schichte des Reformationszeitalters, ebd. S. 141 — 153) reicht, seien hier doch zumindest die zusammenfassenden Überblicksartikel von Volker Press (Die Reichsstädte im Reich der Frühen Neuzeit, Aufsätze 1, S. 9—27), Peter Fleischmann (Der fränkische Reichs­ kreis und die Reichsstädte, ebd. S. 115—124), Walter Fürnrohr (Reichsstädte und Immerwährender Reichstag, ebd. S. 143 — 158) und Manfred Döbereiner (Die Wirt­ schaftsstruktur der fünf kleinen Reichsstädte Frankens in Mittelalter und früher Neu­ zeit, Aufsätze 2, S. 7—21) hervorgehoben. Wegen der schwierigen Quellenlage und der häufig geringen Berücksichtigung in der Literatur verdienen auch die Aufsätze über die Reichsdörfer Gochsheim und Sennfeld von Manfred Hörner (Hoheitsrechtliche Aus­ einandersetzungen um Gochsheim und Sennfeld vor den Reichsgerichten, Aufsätze 1, S. 368—378) und Fritz Zeilein (Das freie Reichsdorf Gochsheim, ebd. S. 379—387) besonderes Interesse. Alle drei Bände zeichnen sich im allgemeinen durch einen sorgfältigen wissenschaft­ lichen Apparat aus, der kaum Wünsche offen läßt und eine Fülle von Anregungen ver­ mittelt. Zu den wenigen Ausnahmen, die vielleicht nicht unerwähnt bleiben sollten, zählen im Katalogband der Kommentar zu Luthers Thesen (S. 155 Nr. 176), der noch immer vom Thesenanschlag an der Wittenberger Schloßkirche spricht und auch fälsch­ lich die Basler Buchausgabe statt des Einblattdrucks Melchior Lotters als Erstdruck bezeichnet, oder etwa die Nichterwähnung der grundlegenden Arbeit Fritz Dickmanns über den Westfälischen Frieden (S. 243 Nr. 297). Bei dem Aufsatz Helmut Zedelmaiers über die Stadtbeschreibungen (Stadtbeschreibung als literarische Tradition: Die fränki­ schen Reichsstädte in der kosmographisch-geographischen Literatur der frühen Neu­ zeit, Aufsätze 2, S. 298—311) hätte man sich vielleicht ein stärkeres Eingehen auf die ,Kurze Beschreibung4 des auch sonst bedeutsamen Windsheimer Bürgermeisters Mel­ chior Adam Pastorius (vgl. Mitt. d. Inst. f. österr. Geschichtsforschung 79, 1971, S. 284 f.) gewünscht, für die hier auch ein Hinweis auf die Ausgabe durch Alfred Ester­ mann fehlt (vgl. hingegen S. 214 Anm. 2). Generell sei für künftige Forschungen in Erinnerung gerufen, daß zu den meisten der angeschnittenen Themen in den Reichs­ archiven (Reichshofrat, Reichskanzlei, Mainzer Erzkanzlerarchiv) des Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchivs ein umfangreiches Material vorhanden ist, das für das hier gezeichnete Bild der fränkischen Reichsstädte wertvolle Ergänzungen erwarten läßt (vgl. dazu Otto F. Winter, Die Wiener Reichsbehörden und die fränkischen Reichs­ städte, Jahrb. f. fränk. Landesforschung 24, 1964, S. 455—471). Anschließend noch ein Detail am Rande: Im deutschen Sprachraum ist immer wieder die Neigung zu beob­ achten, die Namensform ,Macchiavelli‘ zu verwenden (so auch Aufsätze 1, S. 7), richtig muß es aber natürlich ,Machiavelli‘ heißen. Diese vereinzelten Einwände können aber den hervorragenden Gesamteindruck der hier angezeigten Bände nicht beeinträchtigen. Leopold Auer Heinrich Richard Schmidt: Reichsstädte, Reich und Reformation. Korporative Religionspolitik 1521—1529/30 (= Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz Bd. 122, Abt. Religionsgeschichte). Franz Steiner, Stuttgart 1986, XIV, 36 S. Ln. DM86,-.

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In dieser Arbeit des Blickle-Schülers S. (zugl. Diss. phil. Saarbrücken) wird das viel diskutierte Thema „Stadt und Reformation“ erweitert, indem die korporative Reli­ gionspolitik ins Visier genommen wird und die Außenbeziehungen der Städte — d. h. ihr Verhältnis zu Kaiser und Reich sowie die Beziehungen zu den Fürsten und der Städte untereinander — durchleuchtet werden, ein Feld, das er trotz kritischer Ein­ wände gegen eine „anachronistische Begrifflichkeit“ (Weyrauch) „der Einfachheit halber“ als „Außenpolitik“ (S. 2, A. 2) bezeichnet. Da die Räte bei ihrer nach außen gewandten Politik Rücksicht nehmen mußten auf die inneren Verhältnisse ihrer Städte, bemüht er sich jeweils um die Aufhellung der inneren Situation, geht also der Frage nach, wie sich die evangelische Verkündigung auswirkte. Im ganzen ergibt sich bei der Durchführung des Vorhabens ein gewisses Ungleichge­ wicht zu Lasten der eigentlichen Fragestellung: Von 339 Seiten Text entfallen auf die Darstellung der inneren Verhältnisse rund 150 Seiten. - Da andererseits die Reichs­ städte Kaiser und Reich verpflichtet waren, waren sie in ihren Entschlüssen nicht frei, mußten versuchen, neue Entwicklungen mit ihren Pflichten im Reich in Einklang zu bringen oder wenigstens leidlich in der Balance zu halten. Der Vf. behandelt mehrere Städte vergleichend, um zugleich zu klären, ob sich unterschiedliche Verfassungsstruk­ turen auswirkten. Er wählt fünf Städte für seine komparative Analyse aus, von denen zwei (Nürnberg und Frankfurt) den Typ der patrizischen Verfassung, drei (Straßburg, Augsburg und Ulm) den der zünftischen repräsentieren. Dabei greift er nur für Nürn­ berg und Straßburg auf die Primärquellen zurück — womit jeder Stadttypus vertreten ist —, während er sich für die anderen Städte auf gedrucktes Material stützt. Nach einem einleitenden Überblick über die Forschungslage erörtert er im Hauptteil zunächst die Ausgangslage, indem er die Verfasssungen der behandelten Städte (dazu eine verdeutlichende Tabelle S. 21) und ingesamt die politische Stellung der Städte im Reich vorstellt. Die Ladungspflicht zum Reichstag war zwar seit 1495 gesichert, weiter­ gehende Wünsche der Reichsstädte auf volle Mitwirkungsrechte im Reichsrat durch Anerkennung ihrer Standschaft und Zubilligung des votum decisivum waren noch unerfüllt. Der zeitliche Rahmen reicht vom Wormser Reichstag (RT) bis zum zweiten Speyerer RT 1529, d. h. es wird die „gesamte städtisch geprägte Zeit der frühen Refor­ mation“ (S. 17) erfaßt. In der berechtigten Annahme, daß das Reich durch seine Stel­ lungnahmen zur Reformation den Gang der Ereignisse in den Städten wesentlich beein­ flußt habe, wird die Untersuchung in drei zeitlichen Phasen durchgeführt: 1. RTT Worms 1521 und Nürnberg 1522/23, 2. RT Nürnberg 1524 und RT Augsburg 1525, 3. RT Speyer I (1526) und Speyer II (1529), womit zwei engzusammengehörige RTT — Augsburg und Speyer I — voneinander getrennt werden. In wechselnder, für die erste Phase nicht ganz schlüssiger Reihenfolge werden die Abläufe der RTT und die Entwicklung der Reformation in den Städten und die Städtetage behandelt. Bei der Untersuchung der Entwicklung in den einzelnen Reichsstädten geht es dem Vf. sehr stark darum zu klären, in welchem Umfang der gemeine Mann von der Verkündigung ergriffen wurde und die Entscheidungen des Rates beeinflußte. Nach den Nürnberger und Straßburger Quellen definiert er den Terminus folgendermaßen: „Der gemeine Mann sind alle Männer in der Stadt, die ein — auch minderes — Bürgerrecht besitzen und nicht durch Reichtum, adlig/patrizische Lebensführung oder Ratstätigkeit aus der Allgemeinheit herausgehoben sind. Ihr Ausschluß vom Rat kann durch die Verfassung oder durch Unabkömmlichkeit entstanden sein. Der gemeine Mann ist die Gemeinde in

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einem doppelten Sinn des Wortes. Er ist die Passivgemeinde, die Einwohnerschaft als Objekt oder Adressat der Ratspolitik. In Zunftstädten umfaßt der Begriff auch die Aktivgemeinde unter Einschluß der,Schultheißenbürger4, also auch die Gesellenschaft“ (S. 32 A. 13). Bezüglich der ersten Verlautbarungen des Reiches zur Luther-Sache — Sequestra­ tionsmandat noch vor Luthers Ankunft in Worms und Wormser Edikt — kann S. zeigen, daß die gängige Annahme, die Städte seien ihnen nicht nachgekommen, unrichtig ist. Beide wurden publiziert, wenn auch das Wormser Edikt teilweise zögernd oder rein formal wie in Nürnberg; um die Durchführung waren die Städte zunächst durchaus bemüht, wenn auch mit wechselnder Intensität, je nachdem, ob gerade ein Druck von außen auf sie ausgeübt wurde oder nicht. Rücksichtnahme auf das Reich war in erhöhtem Maße für Nürnberg geboten, da es bis 1524 Sitz der Reichsinstitutionen — Regiment und Kammergericht — war und für die Sicherheit der Teilnehmer dreier Reichstage die Verantwortung trug. Auf der Städteebene kam im Vorfeld des Nürn­ berger RTs 1522/23 die Religionsfrage noch nicht zur Sprache. Auf dem RT selbst aber wurde sie angesichts der Forderung des Nuntius auf Verhaftung der erfolgreichen Nürnberger Prediger akut, ein Ansinnen, das der Rat mit Enschlossenheit zurückwies unter Hinweis auf einen dann drohenden Aufstand der Gemeinde, hatten doch die vom Rat zu Beginn der zwanziger Jahre berufenen Prediger eine breite evangelische Bewe­ gung entfacht. Die anderen Städte teilten die Sorgen Nürnbergs. Obwohl die Städte­ kurie kaum Einfluß auf den Reichstagsverlauf hatte, hat die Korporation das Anliegen des gemeinen Mannes zu Geltung zu bringen verstanden; die in den Abschied aufgenommene Antwort an den Nuntius und das auf ihm basierende Religionsmandat des Regiments zeigen, daß die Stände sich die Argumentation der Städte zu eigen machten, gegen die Gemeinden sei die Durchsetzung des Wormser Edikts nicht möglich. Für die Predigten wurde gefordert, sie sollten allein das Evangelium verkünden, Schmähungen seien zu unterlassen und zum Aufruhr dürfe nicht aufgehetzt werden. Obwohl dies den Intentionen der Städte entsprach, um den Frieden in den Kommunen zu wahren, haben die Städte den Abschied wegen ihrer Zurücksetzung und anderer ihren Interessen zuwi­ derlaufenden Beschlüsse nicht angenommen. Mit dieser Formel — „Konsensfiktion »Evangelium444 (122) —, die bis 1524 die kommunale und korporative Religionspolitik kennzeichnet, gelang es, die Städte zusammenzuhalten und das Aufbrechen lehrbe­ dingter Gegensätze zu verhüten (von konfessionellen Gegensätzen, sollte man für die ersten Differenzierungen nicht sprechen — S. 128 und passim). Die Städte mußten ein vordringliches Interesse daran haben, ihre Beziehungen zum Kaiser nicht zu belasten: Ohne seine Unterstützung konnten sie ihr verfassungsrechtliches Begehren nach Ses­ sion und Stimmrecht keinesfalls durchsetzen. Sie meldeten diesen Wunsch bei der Spa­ niengesandtschaft im Sommer 1523 wieder an, ohne daß die kaiserliche Regierung darauf einging. In der Zollfrage hingegen — dem wichtigsten akuten Anlaß der Sonder­ gesandtschaft — konnten sie den Kaiser in ihrem Sinne beeinflussen. Für die zweite Phase wird zunächst ein Abriß des Nürnberger RTs von 1524 geboten, dessen Abschied in Sachen des Wormser Edikts eine Verschärfung gegenüber dem letzten Abschied brachte, wenn die Stände zusagten, sich, soviel es ihnen möglich sei, an dessen Bestimmungen halten zu wollen. Zur einvernehmlichen Lösung der Glaubensfrage, was auch die Präzisierung des neutralen Begriffs „Evangelium44 erfor­ derlich machte, wurde an der Forderung nach Berufung eines freien Universalkonzils in

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deutschen Landen durch den Papst festgehalten. Um bis zu dem Generalkonzil eine interimistische Lösung zu schaffen, wurde für Martini 1524 die Abhaltung eines „Nationalkonzils“ in Speyer vorgesehen, das der Kaiser dann mit dem Edikt von Burgos verbot. Die Städte, wieder einmal nicht rechtzeitig in den Meinungsbildungs­ prozeß einbezogen, protestierten gegen den Abschied und beharrten in der folgenden Zeit immer wieder auf Abschied und Religionsmandat von 1523. Doch war zu diesem Zeitpunkt eine ganze Reihe von Städtevertretern schon abgereist, darunter der Dele­ gierte Augsburgs. Das zeigt, daß die Meinung der Städte nicht mehr voll auf einen Nenner zu bringen war. „Es war nur noch ein Minimalkonsens möglich — oder ein Mehrheitsentscheid“ (145). Die Situation in den Städten wurde durch den 1524er Abschied schwieriger. Es war nicht damit zu rechnen, daß der gemeine Mann eine Reaktivierung des Wormser Edikts hinnehmen würde. In Nürnberg zeigte sich das schon wenige Wochen nach dem Ende des Reichstags. Die Gemeinde drängte voran. Der Rat, der durch die Verlegung von Regiment und Kammergericht nach Esslingen etwas mehr Bewegungsspielraum gewonnen hatte, gab nach, als die Pröpste eine neue Gottesdienstordnung einführten; er nahm das reichspo­ litische Risiko auf sich, um die Unruhen im Landgebiet und den drohenden Aufruhr in der Stadt zu beschwichtigen, was im Zusammenwirken mit den Predigern, abgesichert durch das Einvernehmen mit den Genannten (Gr. Rat), mit dem Einsatz militärischer Mittel und mit der Erfüllung berechtigter sozialer Wünsche gelang. Hier treffen sich die Ergebnisse des Vf.s mit denen von G. Vogler, dessen wichtige Arbeit S. im Manuskript zugänglich war. Hatte der Rat bisher nur reagiert, so ergriff er mit der Durchführung des Religionsgesprächs im März 1525 eindeutig die Initiative und nahm fortan das Kirchenregiment entschlossen wahr, wobei zugleich die lehrmäßige Festlegung auf die lutherische Version erfolgte, deren Obrigkeitsverständnis dem Herrschaftsdenken des Rates entgegenkam. In Straßburg, dessen Rat sich einerseits mit den Forderungen der Gemeinde, anderer­ seits denen von Bischof und Domkapitel konfrontiert sah, gab der Rat ebenfalls dem Druck der Gemeinde nach. Im Verlauf der Reformation wurde die zünftische Stadtverlassung wieder mit Leben erfüllt, besonders durch das Recht der Gemeinde, sich ihre Pfarrer und Prediger zu wählen. Vf. betont, daß hier die Prediger dem Evangeliumsver­ ständnis der Gemeinde näher standen als in Nürnberg; dem genossenschaftlichen Ele­ ment der Stadtverfassung habe das zwinglische Verständnis des Evangeliums entspro­ chen. „War in Nürnberg die evangelische Kirche eine Sache der Obrigkeit, so in Straß­ burg die von Gemeinde und Gemeinderat“ (206). — Was das Evangeliumsverständnis der Gemeinde in Nürnberg angeht, so scheint mir der Vf. zu sehr auf das Gegenüber von Luther und Zwingli festgelegt zu sein. Wie vielschichtig diese evangelische Bewe­ gung war, hat G. Seebaß in seiner Miszelle zur Arbeit von Vogler deutlich gemacht (MVGN 71/1984) und betont, daß das Gebot der Liebe und Brüderlichkeit auch luthe­ risch sei. Lutherische Prediger aber haben hier wesentlich die Meinung der Gemeinde geformt; daneben gab es vielfältige andere Einflüsse, zwinglische aber wohl kaum. Die unterschiedliche Stellung der Reichsstädte zur Reformation schlug sich in ihrem politischen Verhalten auf den Ebenen der Städtekorporation und des Reiches nieder. S. unterscheidet unter den von der neuen Lehre erfaßten Städten zwei Gruppen: Die, in denen die Lehre sich ausgebreitet hatte ohne praktische Konsequenzen, bezeichnet er als „evangelische“, diejenigen, die eine kirchliche Neuordnung auf den Weg gebracht

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hatten, als „reformierte“ Städte. Obwohl er sich dafür ausdrücklich rechtfertigt (248, A. 1), finde ich die Verwendung des Terminus „reformiert“ wenig glücklich, wie auch in anderen Fällen die Terminologie nicht immer voll zu überzeugen vermag (vgl. oben S. 251 „Außenpolitik“ und S. 251 f. „Konfessionalisierung“; ferner „Reichskurfürsten“ S. 27 und völlig unzutreffend mehrfach „Hochmeister von Preußen“ (90, 132, 149). Am Ende der zweiten Phase standen beide Gruppen der neugläubigen Städte einer knappen Mehrheit von altgläubigen gegenüber. Weil sich innerhalb des evangelisch-reformierten Lagers schon 1525 die Lehrdifferenzen abzuzeichnen begannen, geht der Vf. im folgenden Abschnitt den Lehren von Luther, Zwingli und Bucer nach, wobei es ihm vor allem darauf ankommt, die jeweilige politische Ethik herauszuarbeiten. Seit dem Übergang der ersten Städte zur Reformation begann die Spaltung der Korporation der Reichsstädte. Im habsburgischen Einflußbereich formierte sich um Überlingen eine entschieden altgläubige Gruppe, die sich gemeinschaftlichen Aktionen dadurch entzog, daß sie den Tagungen fortan fernblieb. Für den letzten Zeitraum 1526—1529 gibt der Vf. eine längsschnittartige Darstel­ lung. Die zur Reformation übergegangenen Städte bauten in dieser Phase ihre Kirchen aus. Wie in Nürnberg schon, setzte sich auch in Straßburg die Monopolstellung einer Richtung, die Bucers, durch, wodurch Sondergruppen wie die Täufer einen lang­ jährigen Zufluchtsort verloren. Der Ausbau der Reformationskirchen wurde begünstigt durch den Verlauf des Speyerer Reichtstags 1526. Der Beschluß, die Handhabung der Religionssache — das Wormser Edikt wurde dabei durchaus genannt — vorerst den ein­ zelnen Obrigkeiten zu überlassen, war zwar keineswegs als Freibrief für die Reforma­ tion gedacht, wurde aber von den „reformierten“ Städten ebenso wie von den neugläu­ bigen Fürsten so ausgelegt. Für Straßburg registriert S. auch nach dem Bauernkrieg eine fast ungebrochene evangelische Volksbewegung. Die Gemeinde war intellektuell befä­ higt, in einer Flut von offenbar nicht von professionellen Theologen formulierten Ein­ gaben, den Rat zur Abschaffung der Kapitelmessen aufzufordern. — Dazu paßt, daß auch der Nürnberger Rat dem gemeinen Mann ein hohes Maß an Bibelkenntnissen bescheinigte (S. 280). Auf dem Speyerer RT 1529 wurde der Zerfall des Städtekorpus in der Religionssache offenkundig. Als die Städte ihren Vertreter im Großen Ausschuß dahingehend instruieren wollten, daß sie forderten, beim vorigen Speyerer Abschied bleiben zu wollen, trennte sich der harte Kern der altgläubigen Kommunen um Überlingen (Ravensburg, Rottweil, Kaufbeuren) von ihnen. Die vom Statthalter geschickt geschürten Differenzen konnten nicht mehr überwunden werden. Der Protestation der neugläubigen Fürsten schlossen sich nur 14 Städte an. Der Schock über die Spaltung muß groß gewesen sein; deshalb wohl verwendeten sich die Städte gemeinsam für Daniel Mieg, dem das Regiment wegen der Abschaffung der Messe in Straßburg die Aufnahme seiner Tätigkeit im Regiment als Vertreter der Städte verwehrt hatte. Eine Liste schlüsselt die Standorte der Städte genau auf und ergibt bei Berücksichtigung aller Kriterien (Protestierende-Gehorsame, Reformierte, Evangelische und Altgläubige) wegen der Untergliederung der Neugläubigen in lutherische und zwinglische — sonst spricht man ja meist von Schweizerisch-Oberdeutschen — genau genommen eine Auf­ splitterung in acht Gruppierungen (S. 314). Der Zerfall der korporativen Einheit in der Religionsfrage war nicht mehr zu kitten. Auf Jahre reißt nun die vorher so dichte Kette

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von Städtetagen ab. „Zertrennt und als Stand geschwächt gehen die Städte aus der frühen Reformationszeit hervor“ (316). Abschließend wird noch die Frage eines Bündnisses angesprochen, das für die zur Reformation übergegangenen oder den Übergang vorbereitenden Städte (Ulm) ange­ sichts der zu erwartenden Repressalien des Reiches immer dringender wurde. In dieser Frage nahmen in der Folge das lutherische Nürnberg und die „zwinglisch“ orientierten oder vorgeprägten Städte eine unterschiedliche Haltung ein. Nürnberg wollte in allen weltlichen Dingen dem Kaiser gehorsam sein, der Glaube wurde ausgenommen, aber zu seinem aktiven Schutz wollte es sich nicht verstehen (329); so blieb es in der Folge auch dem Schmalkaldischen Bund fern. — Ob man das so einseitig mit dem Luthertum in Verbindung bringen darf (auch die kursächsischen Juristen haben schließlich einen Ausweg gefunden) erscheint mir fraglich: Die traditionell besonders enge Bindung Nürnbergs an das Reich müßte bedacht werden. — Der Vf. aber resümiert: „Die beson­ dere Aktivität Straßburgs und Konstanz*, aber auch Ulms im Vergleich zur Passivität Nürnbergs und Halls hat ihre Wurzel im andersgearteten Evangeliumsverständnis. Auf allen Ebenen, von der Gestalt der jeweils installierten neuen Stadtkirche, über die Hal­ tung zu den Fürsten und zum Kaiser bis zur politischen Entscheidung über Kampf und Leiden schlägt die Differenzierung in Zwinglische und Lutherische durch. Wie die Gestalt der Stadt bestimmt, welche Form der Lehre in ihr siegte, so präjudiziert das Bekenntnis in dialektischer Umkehrung (zumindest vorläufig) die Gestalt der Politik der Stadt“ (329). Für das Hauptthema der Untersuchung ist das Ergebnis zu bestätigen, nämlich die Erkenntnis, daß die verfassungsrechtliche Stellung der Reichsstädte als Folge des religi­ ösen Zerwürfnisses schwer geschädigt worden ist und sie weiter denn je von der Erfül­ lung ihres Wunsches auf Zuerkennung von Session und votum decisivum auf dem Reichstag entfernt waren, sechs Jahre nach ihrem größten Erfolg in der Zollfrage. Der Vf. war bemüht, ein höchst kompliziertes Beziehungsgeflecht zu entwirren, hat aber einen Sektor fast völlig übergangen, den Schwäbischen Bund. Der im Zusammen­ hang der Bündnisfrage erwähnte Versuch Nürnbergs, ein Städtebündnis zu schaffen, bezog sich allein auf die Kommunen im Schwäbischen Bund (vgl. dazu Paul Hansel, Die Auseinandersetzungen des Schwäbischen Bundes mit Nürnberg, in: MVGN 66/1979, S. 177). Die im Anhang beigefügte Auflistung der auf Reichs- und Städtetagen anwesenden Städte (338 f.) ist hilfreich. Ein Quellen- und Literaturverzeichnis und ein Register, das sich die Aufklärung der Namen bisweilen spart, schließt das Buch ab. Einige für das Thema wichtige Arbeiten wurden übersehen: W. Schlenck, Die Reichsstadt Mem­ mingen und die Reformation, Diss. phil. Erlangen-Nürnberg 1969 = Memminger Geschichtsblätter 1968; Harold J. Grimm, Lazarus Spengler, Columbus, Ohio 1978; H. Lutz, Conrad Peutinger, Augsburg [1959]. Irmgard Höß Jan Bialostocki: Dürer and his Critics: 1500—1971. Chapters in the History of Ideas. Including a Collection of Texts. (Saecula Spiritualia. Vol. 7). Baden-Baden: Koerner 1986. 471 S. m. 158 Abb., 22 Taf. DM 80,—. Es ist nicht nur Gelehrten-Koketterie, wenn maßgebende Dürer-Forscher augen­ zwinkernd behaupten, bei der Arbeit mit einem Dutzend Bücher auszukommen. Der

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unglaublichen Flut von Dürer-Literatur steht die Erfahrung gegenüber, daß nur wenige Standardwerke „gültig“ bleiben. Für die von Prof. Dr. Bialostocki vorgelegte Geistes­ geschichte der Dürer-Rezeption trifft das zu. Die Entstehung des Werkes beschreibt er im Vorwort unterkühlt als „etwas kompliziert“. Niedergeschrieben unter dem Ein­ druck des Dürer-Jahres 1971 für einen englischen Verlag 1973/74 in Princeton, New Jersey; nicht gedruckt; auf Initiative von Prof. Dr. Dieter Wuttke von der Universität Bamberg 1981/82 durchgesehen und erneut druckfertig gemacht; im Januar 1983 mit dem Vorwort textlich abgeschlossen; endlich 1986 ausgeliefert. Die Untersuchung eines polnischen Wissenschaftlers in englischer Sprache, betreut von einem deutschen Her­ ausgeber — Dürer erweist sich wieder einmal als grenzüberschreitender Sonderfall. Die Aufarbeitung und Interpretation der Wirkungs- und Verehrungsgeschichte Albrecht Dürers bindet seit zwei Jahrzehnten viel Forschungskapazität. Bialostocki hielt die bisher gewonnene Grundlage für tragfähig genug, um auf eigene Quellenstudien zu ver­ zichten. Die Sachangaben im einzelnen sind der Sekundärliteratur entnommen. Alle Abbildungen des Bandes wurden schon anderswo veröffentlicht. Seine große Leistung besteht in der zusammenfasssenden Durchdringung der internationalen Dürer-For­ schung und dem Durchdenken, Abwägen und Gewichten ihrer Ergebnisse. Ein brilliant geschriebenes Buch, doch nicht ohne Tücken. Einem fortlaufenden Text, der seine Entstehung in den frühen siebziger Jahren nicht verleugnen kann, steht ein bis 1985 aktualisierter Anmerkungs- und Literaturapparat gegenüber - beiden Teilen fehlt mit­ unter die Bindung. Der Eurozentrismus der Dürer-Rezeption, bei Bialostocki die Basis, verliert momentan an Bedeutung. Das Nachleben Dürers in Rußland oder Japan, in der Moghul-Malerei Indiens, kann beispielsweise nicht ausgespart bleiben. Die Rolle Dürers im 20. Jahrhundert wird nur gestreift. Den Autor beschäftigen in diesem Zusammenhang vorrangig die Ideologien des späten Wilhelminismus und des National­ sozialismus, die Dürer bekanntlich mißbrauchten. Die wichtige Gegensposition, Dürers Einfluß auf die künstlerische Avantgarde, von Lovis Corinth über die Maler der „Brücke“ (vor allem Ernst Ludwig Kirchner), von Paul Klee zu Alberto Giacometti und zu Picasso, bleibt ausgespart. In der zeitgenössischen Kunst, in der es viele Rück­ verweise auf Dürer gibt, vermag der Autor diskussionswürdige Qualität kaum zu erkennen. Hier wird man anderer Meinung sein und sich nicht mit einem Hinweis auf Günter Grass begnügen. Der deutsche Leser sollte den Fehler vermeiden, den Titel mit „Dürer und seine Kri­ tiker“ zu übersezten. „Critics“ markiert im Englischen eine Gegenposition, die den zeitgenössischen humanistischen Freund, den italienischen Theoretiker des Cinque­ cento, den Dürer-Sammler um 1600, alle Bewunderer Dürers und seine (wenigen) Feinde einschließt. Bialostocki versteht den Begriff ähnlich wie Donald Burton Kuspit, dessen 1971 an der University of Michigan abgeschlossene Dissertation „Dürer and Northern Critics, 1502 — 1572“ eine der wichtigsten Vorarbeiten bleibt. Jan Bialostocki zählt zu den angesehensten Gelehrten unserer Zeit. Um so unver­ ständlicher, daß Herausgeber und Verlag bei diesem Kompendium auf erschließende Register verzichteten. Die anhaltende Wirkung, die man diesem Werk wünscht, wird durch diesen Mangel erheblich behindert. Matthias Mende

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Steven Ozment: Magdalena and Balthasar; An Intimate Portrait of Life in 16thCentury Europa Revealed in the Letters of a Nuremberg Husband and Wife and Illuminated by Steven Ozment. Simon and Schuster, New York, 1986. 190 S. $ 16,95. Was können wir unseren Freunden und Gästen von den Britischen Inseln oder aus Nordamerika schenken, die des Deutschen nicht mächtig sind, sich aber für unsere Stadt interessieren und zum wiederholten Male hier bei uns sind und daher schon mit den üblichen Bildbänden und sonstigen Andenken reichlich ausgestattet sind? Das vorl. Werk wurde zwar nicht zu diesem Zweck verfaßt, aber es kann sein, daß es die Antwort auf eine häufige Frage liefert und deshalb für manches Mitglied unseres Vereins von Interesse ist. Die Magdalena und der Balthasar des Titels hießen mit Familiennamen Paumgartner, sie war eine geborene Behaim; und in dem Band finden wir mehrere andere Namen vor, wie etwa Welser, die eine bedeutende Rolle in der Geschichte unserer Stadt spielten, oder wie beispielsweise Imhoff und Kreß, die noch immer bei uns als besonders bekannt und angesehen gelten. Der amerikanische Professor für Geschichte, der eher als Fierausgeber und Übersetzer denn als Autor im strengen Sinne des Wortes dieses Buch verfaßt hat, stellt seinem Leser eine Welt vor Augen, die dem Nürnberger des 20. Jahrhunderts höchst vertraut vorkommt. Den Mittelpunkt dieser Welt bildet ein Ehepaar unserer Stadt in den Jahren 1582 bis 1598. Um dem englischsprechenden Leser Einblick in diese Welt zu gewähren, nimmt Professor Ozment die Dienste eines Engländers in Anspruch, der ebenfalls im 16. Jahr­ hundert hier wohnte und für den berühmten Lord Burghley ausführliche Berichte über die Stadt und ihre Einwohner erstattete. Anhand der Beschreibungen dieses Mannes, der mit William Smith den typischen englischen Namen führte, und mittels einer sehr reichen Auswahl an zeitgenössischen Bildern, Karten und Tabellen, vermittelt der Ver­ fasser sehr viel Hintergrundinformation, damit sich der Leser in dieser Welt orientieren und um so leichter Einblick in das Leben der Nürnberger Braut- und Eheleute gewinnen kann. Die Briefe, die hier vorgestellt und „illuminiert“ werden, sind eigentlich keine Neu­ entdeckung. Sie wurden bereits 1895 von Georg Steinhausen veröffentlicht, dann aber merkwürdigerweise von Historikern kaum mehr benutzt: Lediglich ein Philologe hatte sich mit dieser Sammlung beschäftigt, bis der amerikanische Gelehrte sie fast zufällig in die Hand bekam, während er nach Augenzeugenberichten über Wandel und Entwick­ lung in der europäischen Kultur des 16. Jahrhunderts forschte. Die so wiederent­ deckten Briefe hätten bestimmt nicht so lange brachliegen sollen, denn aus ihnen spricht das Nürnberger Leben dieses Zeitalters unverfälscht und auf eine besonders lebhafte und intime Weise. Professor Ozment behauptet, er wisse von keiner anderen Frau aus ihrer Zeit, welche so frank, frei und vollständig ihre Meinungen zu einer derartigen Vielfalt an Themen geäußert hätte wie Magdalena Paumgartner. Was mich aber in dieser Auswahl aus den Briefen der Familie vor allem bewegt, sind die Zeilen, die der junge Sohn des Ehepaars an seinen Vater richtete: Mit sechs Jahren bat er um einen italieni­ schen Hut; er hatte schon früher um ein Pferd gebeten, aber ohne Erfolg, und um „ein Pferd“ bat er fast ein Jahr lang: Zunächst wollte er eines in der Form eines Spielzeugs haben, später aber ein lebendiges Tier. Sein Pferd wollte der kleine Junge noch immer haben, als er todkrank war; er starb im Alter von sieben Jahren unter sehr großen

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Qualen. Ein zweites Kind hatten seine Eltern nie, was die Muter lange noch traurig und manchmal etwas bitter stimmte. Streng waren diese Eltern, der Vater noch mehr als die Mutter, die mit dem Jungen über die Unnachgiebigkeit des Vaters enttäuscht und sogar aufgebracht war; daß aber die beiden trotzdem ihren Sohn und einander sehr lieb hatten, läßt sich aus den Briefen sehr leicht erkennen. Sie schrieben sich so häufig, weil der Bräutigam und Ehemann als Kaufherr so oft auf Geschäftsreisen unterwegs war, während die Verlobte und Gattin in der Zeit dieses Briefwechsels kaum aus der näheren Umgebung Nürnbergs herauskam — und ständig Angst um ihn hatte: Angst um seine Sicherheit auf den Straßen Deutsch­ lands und Italiens, Angst wegen seiner Gesundheit bei den häufigen Pestepidemien und seinen chronischen Leiden, Angst einmal auch wegen seiner Treue in der verrufenen Stadt Lucca, was ihn sehr überraschte und betroffen machte. Von den Zuständen auf den Straßen, von einem äußerst ausgeprägten Interesse für Gesundheit und Krankheit in einem Zeitalter, in dem niemand vor plötzlicher Erkrankung und unvorhergese­ henem Tod sicher sein konnte, und von einem schweren Leben zu Hause und in der Ferne kann der Leser dieses Bandes aus erster Hand lernen. Gleichzeitig lernt er Men­ schen kennen, die miteinander offen und kritisch über Verwandte und Bekannte, Erfolg und Enttäuschung, buchstäblich über Gott und die Welt sprachen und schrieben. Mit seiner Übersetzung in ein lebhaftes heutiges Umgangsenglisch läßt Professor Ozment die beiden dem derzeitigen britischen oder amerikanischen Leser so verständlich werden, wie sie es vor vierhundert Jahren einander gegenüber waren. Es ist sehr zu begrüßen, daß diese Briefe jetzt in einer solchen Form vorliegen. Der Leser ist für die Einführungen und Erklärungen dankbar, obwohl der Verfasser, der an der Universität Harvard einen Lehrstuhl innehat, sich manchmal wiederholt: Wir erfahren zweimal von einer gewisssen Einladung bei aristokratischen Leuten, wo, wie sich Magdalena ausrückt: „haben wir gehabt vil rieht und wenig zu esen, so gozjemerlich gekocht gewesen auf ir polnische weis", während wir von der großen Begeisterung dieser Hausfrau für Aderlaß und die interne und externe Anwendung von Mineral­ wasser mehrere Male lesen. Das Buch ist nach Themen aufgebaut, was leicht zu solchen Wiederholungen führen kann. Ein Personen-, Orts- und Sachregister habe ich in diesem sonst sehr sorgfältig gemachten Werk vermißt. „Franz Sternbalds Wanderungen“ beginnen, als Tiecks Held um vier Uhr vormittags die Stadt Nürnberg verläßt, und „Das Marmorbild“ fängt damit an, daß Eichendorffs Florio an einem schönen Sommerabend auf die Tore von Lucca zuritt. Deutsche Dichter der Romantik fanden die beiden Städte geeignet, das Chrakteristische des Mit­ telalters und der Renaissance darzustellen. Durch die Augen eines Nürnberger Kauf­ manns, der sehr oft und sehr lange in der italienischen Stadt beschäftigt war, und seiner treuen Frau zu Hause, hilft uns Professor Ozment diese Städte so zu sehen, wie sie wirklich waren, und doch auch so, daß unsere Freude an der Wahrheit keineswegs unsere Ergötzung an der Dichtung verdirbt oder vermindert. Anthony Jenkins Penelope Gouk: The Ivory Sundials of Nuremberg 1500—1700. Cambridge 1988, brosch., 144 S. mit zahlr. Abb. Das Buch über „Die elfenbeinernen Klapp-Sonnenuhren aus Nürnberg“ verdient hier an dieser Stelle naturgemäß eine beondere Würdigung, da in ihm aus Anlaß einer

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Ausstellung des Whipple Museums of the History of Science in Cambridge die Arbeiten eines Nürnberger Handwerks in hervorragender Weise vorgestellt und gewürdigt werden. Die Reichsstadt war zwei Jahrhunderte lang die bedeutendste Pro­ duktionsstätte für tragbare Klapp-Sonnenuhren. Dazu waren hier zwei Vorausset­ zungen eine Verbindung eingegangen: die Pflege der astronomischen Forschung und die außerordentliche Geschicklichkeit der Handwerker. Da die kleinen Uhren zur Orientierung mit einem Kompaß versehen waren, wurden sie von dem Handwerk der Kompaßmacher hergestellt. Neben den Zeitangaben, die mit Hilfe eines kleinen Stabes, dem sog. Gnomon, abzulesen waren, und den astronomischen Daten trugen die zusam­ menklappbaren Uhren häufig auch künstlerischen Schmuck. Das Elfenbein eignete sich zum Eingravieren ornamentaler Verzierungen oder der Abbildung historischer Szenen. Das hatte zur Folge, daß die Uhren als kleine Kunstwerke bald in die Kunstkammern kamen und im 19./20. Jahrhundert zu Sammelobjekten wurden. In England entstanden zwei wertvolle Privatsammlungen, die in den Besitz der beiden Museen für „Geschichte der Wissenschaften“ der Universitäten Oxford und Cambridge gelangten. Sie bilden den Grundstock der Ausstellung, die in Cambridge bis zum Dezember 1988 gezeigt wird. Im ersten Teil ihres Buches (S. 9—112) beantwortet die Verfasserin in acht kurzen Abschnitten die Fragen nach der Funktion und nach dem Zweck der Sonnenuhren. Sie erklärt, warum Nürnberg zum bevorzugten Herstellungsort wurde und stellt dann die wichtigsten Kompaßmacherfamilien vor. Dabei hat sie sich sogar der Mühe unterzogen, die wichtigsten von ihnen mit Hilfe der Nürnberger Kirchenbücher genealogisch zu erforschen und Stammtafeln aufzustellen, so für die Kerner, Lesel, Tücher, Troschel, Reinmann und Miller (Müller). Abgedruckt ist weiterhin — in englischer Übersetzung — die Kompaßmacher-Ordnung von 1608. Auf eine deutsche Zusammenfassung des englischen Textes (S. 113 f.) von Hubert M. Stadler folgte auf den Seiten 115—135 der Katalog der 61 Exponate. Den vorzüglich ausgestatteten Band bereichern 18 ganzseitige Farbtafeln, darunter 13 Uhren sowie einen Kompaßmacher und einen Zirkelschmied aus dem Mendelschen 12-Brüderbuch, und 132 Schwarz-weiß-Abbildungen. Auch die Meistermarken der Handwerker sind reproduziert. Ein Quellen- und Literaturverzeichnis und ein Index runden den vorbild­ lichen Band in willkommener Weise ab. Gerhard Hirschmann Hermann Harrassowitz: Geschichte der Kirchenmusik an St. Lorenz in Nürn­ berg. 2., erweiterte Auflage. Nürnberg 1987. 235 S. Der Verf., Kirchenmusikdirektor an St. Lorenz und in gewissem Sinne ein „Archimusicus“ des heutigen Nürnberg, legt hier in begrüßenswerter Weise eine wesentlich erweiterte Fassung der 1973 in Band 60 der MVGN erschienenen Musikgeschichte seiner Hauptwirkungsstätte nunmehr als selbständige Publikation vor. Der Umfang der Neubearbeitung wurde um mehr als die Hälfte vergrößert, die Abbildungen um 17 auf insgeamt 66 vermehrt. Neben zahlreichen Einschüben ist zur Fassung von 1973 noch ein 34 Seiten starker Anhang mit wertvollen „Ergänzungen zu wichtigen Kapiteln der Nürnberger Musikgeschichte“ hinzugekommen, aus dem die Abschnitte über „Das Historische Konzert vom 31. Mai 1643“ und „Das Nürnberger Friedensmahl am 25. September 1649“ in den vorliegenden Band der Mitteilungen (S. 77—83) aufge-

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nommen sind. Damit wird auch in der ortsgeschichtlichen Literatur der vollständige Text der Beschreibung des Konzertablaufs von 1643 wieder greifbar, den u. a. schon J. C. S. Kiefhaber, Anzeigen V, Nürnberg 1801, S. 132 — 139, Hans Drüner, Sigmund Theophil Staden, Phil. Diss 1938, und Willi Kahl, Das Nürnberger historische Konzert von 1643 und sein Geschichtsbild, in: Arch. f. Musikwiss. 14,1957, S. 208—303, jeweils nach J. M. Dilherr, Tugendschatz und Lasterplatz (1659), in extenso publizierten. Ebenso ist hier die in allen Einzelheiten und unter Nennung aller Mitwirkenden festge­ haltene Aufstellung der vier beim Friedensmahl beteiligten Chöre wieder zugänglich gemacht, die erstmals von Tobias Norlind in Sammelbde. der Internat. Musikgesell­ schaft 7, 1905/06, veröffentlicht wurde. Außerdem findet sich zum Abschluß des Bandes ein sauber gearbeitetes Personenregister. Im übrigen ist die Disposition in die vier Kapitel Orgelgeschichte, Organisten, Kantoren und Leonhard Lechners Nürn­ berger Jahre beibehalten, wo u. a. eine übersichtliche Chronik des Baus, der Repara­ turen und Erweiterungen, der Standorte und liturgischen Funktionen aller Lorenzer Orgelwerke sowie eine (wenigstens seit der Reformation) annährernd lückenlose Zusammenstellung der langen, weit über 50 Namen enthaltenden doppelten Reihe der Kirchenmusiker geboten wird. Zu Leonhard Lechner, dem bedeutendsten der an St. Lorenz (wenn auch nicht in einem musikalischen Dienstverhältnis) wirkenden Komponisten (S. 173 — 190) wäre manches anzumerken, wovon hier in Parenthese nur folgendes kurz erwähnt sei: Wenn Lechner sich nicht ohne Stolz im Titel aller Handschriften und Drucke seiner Werke stets „Athesinus“ nennt, so ist sein bis jetzt unbekannter Geburtsort nicht nur im Etschtal (S. 173) zu suchen. Einer allgemeinen Auffassung der Zeit entsprechend schließt der Name des Flußlaufes gewissermaßen auch den aller Nebenflüsse ein: die Bezeichnung Athesinus erstreckt sich somit auch etwa auf das Sarn-, das Eisack- oder Pustertal. (Der im Sommersemester 1539 in Wittenberg immatrikulierte „Foelix Seil ex Brauneck Athesinus“ stammte z. B. aus Bruneck im Pustertal.) Da Lechner sich mehr­ fach als Schüler Lassos bezeichnet hat, muß er schon der Hofkapelle in München (S. 173) angehört haben, bevor diejenige in Landshut 1568 errichtet wurde. Wenn er „wirklich kein guter Lehrer“ (S. 174) gewesen wäre, hätte der Nürnberger Rat, der in solchen Dingen nicht lange fackelte, ihn zweifellos trotz seines Ansehens als Musiker nicht neun Jahre lang im Amt behalten; dem Urteil des Hohenzollerngrafen Eitel Fried­ rich kommt keinerlei Beweiskraft zu. Daß sich zur Persönlichkeit Lechners (S. 175) weit mehr aus den Vorreden seiner Werke und aus letzteren selbst ermitteln läßt, hat Konrad Ameln, der hochverdiente Nestor der Lechner-Forschung, verschiedentlich dargelegt, zuletzt in Tiroler Volkskultur 38, 1986, S. 197 f., wo außer Bescheidenheit etwa Dankbarkeit gegenüber Förderern, Anhänglichkeit an Freunde und Gönner, Anstand und Zucht, Stolz auf eigene künstlerische Leistung, Beharrlichkeit in der Ver­ folgung hochgesteckter Ziele, Frömmigkeit und Bereitschaft zum Sterben als Charaktereigenschaften hervorgehoben werden. Bis Frühjahr 1584 (Dienstantritt in Hechingen) sind nur acht Sammlungen mit seinen Kompositionen in Nürnberg erschienen (S. 177); die Canzonen von 1586 kamen erst heraus, als Lechner schon in Stuttgart wirkte. Die Mutmaßung, die „Deutschen Sprüche von Leben und Tod“ seien sein letztes Werk gewesen (S. 187), hat Walther Lipphardt als Bearbeiter des Bandes 13 (1973, S. XI) der von Konrad Ameln begründeten und herausgegebenen Gesamtaus­ gabe des Meisters entkräftet.

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Es gehört zu den Verdiensten von Harrassowitz’ Neufassung, daß nicht nur Daten und Fakten ergänzt werden, wie bei den Biographien u. a. von Georg Nöttelein (um 1520—1567; S. 86), Johann Staden (S. 90 ff., 193 f.), Sigmund Theophil Staden (S. 98 f.) und Leonhard Scholz (1720-1798), dem Schreiber zahlreicher Werke Johann Sebastian Bachs (S. 113 ff.), sondern daß über die Materialsammlung hinaus das musikhistorische Bild auch eine Schärfung der Konturen nach der geistesgeschichtlichen Seite hin erfährt, indem z. B. die zurückhaltende bis ablehnende Einstellung des Theologen Andreas Osiander gegenüber der Musica sacra beschrieben (S. 84, 191 f.) oder auf den Einfluß des Rationalismus bezüglich des liturgischen Lebens (S. 164) hingewiesen wird. Beson­ dere Aufmerksamkeit widmet der Verf. dem gleichzeitigen Spiel auf zwei Orgeln (S. 22—25, 88 f., 99-101), das vor allem bei Hochzeiten „der alten Erbarn und Adelichen Geschlechten“ oder bei besonders festlichen Lob- und Dankgottesdiensten zum Tragen kam. Es scheint H. entgangen zu sein, daß vereinzelt in St. Lorenz sogar auf vier Orgeln simultan musiziert wurde, nämlich außer den beiden fest installierten auf zwei tragbaren (Portativ, Regal etc.), wie bei der Hochzeit des Patriziers und späteren „Music-Herrn“ Lukas Friedrich Behaim am 4. Oktober 1613, wofür „den 4 Organi­ sten, so per Choros zusammen geschlagen“, jedem 1 fl. vergütet wurde (GNM, Behaim-Archiv, Nr. 162; vgl. H. Zirnbauer in MVGN 50, 1960, S. 340). Daß das Salve Regina „nur drei bis vier Jahre gesungen“ (und danach als Komposition erneuert) werden sollte (S. 139), wurde in derselben Stiftung des Peter Imhoff und Ulrich Kiffhaber vom 1. August 1505 (Stadtarch., Copialbuch St. Lorenz, Cod. man. 120 2°, fol. 161 ff.) festgelegt, wie die Vorschrift der Orgel-Alternatimpraxis (S. 138). Die vorliegende Schrift stellt ohne Zweifel einen wichtigen Baustein zur Geschichte der Kirchenmusik in Nürnberg dar. Daß sich auch für St. Lorenz im einen oder anderen Bereich noch immer Lücken zeigen, liegt hauptsächlich in mangelnder Erschließung der archivalischen Quellen, für das Mittelalter etwa des Salbuchs von St. Lorenz (1460 ff.; Staatsarchiv), wo sich eine Fülle musikalischer Aussagen finden. Es wäre in hohem Grade wünschenswert, wenn nun auch für die anderen Kirchen Nürnbergs ähnliche Studien unternommen würden, wie sie jetzt für St. Lorenz vorliegen. (Zu Hl. Geist bei­ spielsweise haben Rudolf Wagner und Friedhelm Brusniak jeweils mehrere grund­ legende Vorarbeiten geleistet.) Dies gilt in erster Linie für St. Sebald, dessen Kirchen­ musikern bis ins 19. Jahrhundert hinein jeweils der höchste Rang unter ihren zeitgenös­ sischen Kollegen zugesprochen wurde. Um den Studien von H. einen Hilfsdienst zu erweisen, seien im folgenden (in alpha­ betischer Namenreihe) noch einige Ergänzungen zu verschiedenen Musikerpersönlich­ keiten beigesteuert, wobei ich mich hier auf Fakten von allgemeinerem Interesse beschränke: Christoph Bauereiß (S. 164) komponierte u. a. Kantaten zum 100jährigen Jubiläum der Lorenzer Armenschule am 10. 8. 1803, die bei Michael Schmid gedruckt wurden (vgl. J. C. S. Kiefhaber, Nachrichten I, 1803, S. 194). — Valentin Dietzel (meist: Diezelfius]; S. 148 f.) ist der Herausgeber des bei Simon Halbmayer in Nürnberg 1624 erschienenen wichtigen Sammelwerkes „Erster Theil lieblicher, welscher Madrigalien“ zu 3 —8 Stimmen (RISM 162416), dessen Gesänge er zusätzlich mit deutschem Text ver­ sehen hat. Daß 1614 nicht Diezel als Kantor, sondern der Rektor Veit Burger den Chor leitete (S. 44), ist keineswegs „merkwürdig“, sondern im frühen 17. Jahrhundert noch angestammte Selbstverständlichkeit (vgl. K. W. Niemöller, Untersuchungen zur

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Musikpflege ... an den deutschen Lateinschulen, Regensburg 1969, S. 342 f.; Fr. Brusniak, Conrad Rein, Wiesbaden 1980, S. 91 f., dazu MVGN 68, 1981, S. 356). - Wil­ helm Endel (S. 88) war der Sohn des Organisten Christoph Endel (Enteil) in Kassel und wurde dort am 14. Juni 1564 selbst Organist (s. Ernst Zulauf, Beitr. zur Gesch. der Hofkapelle zu Cassel, Leipzig 1902, S. 9, 19, 23), bis er am 7. 12. 1568 in Nürnberg ein solches Amt an der Frauenkirche (RV 1568 IX 5V) übernahm und am 4. 4. 1569 gratis Bürger (AStB 308, 91v) wurde. Er kommt als einer der (bis heute unbekannten) Lehrer Hans Leo Häßlers in Frage (vgl. F. Krautwurst in Fränk. Lbb. 11, 1984, S. 142 f.). — Sebastian Hasenknopf (S. 143) stammte aus Stadt oder Erzstift Salzburg, wo er um 1540 geboren sein dürfte, und starb erst nach 1597. (Die Angaben bei Carbach und Waldau sind völlig unzutreffend.) In Nürnberg taucht er, soweit ich sehe, schon 1569 auf und verschwindet dann sang- und klanglos in den siebziger Jahren. Im Cassabuch des Egidienklosters 1573 — 77 (Stadtarchiv) wird er verschiedentlich als „Vorsinger" bei St. Lorenz erwähnt. Er war ein beachtenswerter Komponist der Lasso-Nachfolge und brachte 1588 bei Adam Berg in München „Sacrae cantiones“ zu 5 und mehr Stimmen (RISM A, H 2228) heraus. 20 Kompositionen von ihm finden sich in der Orgeltabulatur Ms. 115 der Staatl. Bibliothek Passau, 9 Intavolierungen für Orgel in der Handschrift C 119 der Proske-Bibliothek Regensburg (s. A. Scharnagl, Die Orgeltabulatur C 119 der Proske-Musikbibliothek Regensburg, in: Festschrift Bruno Stäblein, Kassel 1967, S. 206—216). Wie schon Othmar Wessely (MGG 5, 1956, Sp. 1764) feststellte, war Hasenknopf einer jener damals keineswegs seltenen Grenzgänger, die „beiden christ­ lichen Konfessionen abwechselnd“ nahestanden (weshalb biographische Nachfor­ schungen in hohem Grade erschwert sind). 1596 wirkte er als bischöflicher Kapellmei­ ster in Meersburg und erhielt als solcher in Uberlingen für eine Messe und Hymnenver­ tonungen ein Geldgeschenk (s. K. Obser, Quellen zur Bau- u. Kunstgesch. des Überlinger Münsters, in: Festgabe der Badischen Hist. Kommission zum 9. Juli 1917, Über­ lingen 1917, S. 71 — 119, bes. S. 213). 1597 läßt er sich als Schulmeister und Organist in Goldegg (Salzburg) nachweisen (s. K. Adrian, Das Leiden-Christi-Singen in Großarl, in: Mitt. der Ges. f. Salzburger Landeskunde 53, 1913, S. 363—370). — Carl Benedict Wilhelm Köhler (S. 167—169) war schon 1821 in Nürnberg als Musiklehrer tätig (vgl. O. Barthel, Wolfgang Konrad Schultheiß, Nürnberg 1970, S. 135). Ein bezeichnendes Schlaglicht auf die veränderten Musikverhältnisse wirft der Umstand, daß Köhler zur Eröffnung der ersten deutschen Bahnlinie Nürnberg—Fürth das „Bayerische Volks-Ei­ senbahnlied“ komponierte (s. F. J. Gruber, Nürnberg u. Fürth in industriöser Verbin­ dung, Nürnberg 1835, Musikbeilage). — Neben Lechner hat auch ein anderer Kollabo­ rator bei St. Lorenz, nämlich dessen (in anderem Zusammenhang) S. 176 nur kurz erwähnter Kollege und Nachfolger Georg Körb er, als Herausgeber der „Schönen geistlichen Gesenglein“ (RISM 15977) des Balthasar Musculus (vgl. F. Krautwurst in MGG 9, 1961, Sp. 944 f.) und als Komponist (GNM, Stammbuch Georg Werner, fol. 50) einen durchaus ehrenvollen Platz in der Musikgeschichte. Wie er mit dem Kantor Sebastian Körber (S. 147 f.) zusammenhängt, wäre noch zu klären. — Conrad Küfner (Küffner; S. 159 f.) lebte von 1719-1722 als Organist in Altdorf (s. Siona 32, 1907, S. 91). — Paulus Lautensack (S. 86 f.) war der Vater des in Öhringen, Heidelberg und Heilbronn wirkenden Organisten Johann (I) Lautensack (1566—1627) und der Groß­ vater der beiden Organisten Johann Tobias (1620—1649; tätig in Kulmbach) und Georg Christoph (1622—1692; tätig in Straßburg) Lautensack (vgl. Fr. Krautwurst in: Musik

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in Bayern 25, 1982, S. 57—70). — Tobias Gabriel Mayer (S. 156) hielt während seiner Altdorfer Studienzeit unter dem als Musiktheoretiker nicht unbedeutenden Professor der Mathematik und Physik Abdias Trew eine Disputatio musica de divisione monochordi, Altdorf 1662 (R. Eitner, Quellenlexikon Bd. 6, S. 405); das dem Druck beige­ fügte Widmungsgedicht von Johann David Vogel enthält zum ersten Mal in der deut­ schen Musikgeschichte den Terminus „Musikwissenschaft“ (s. F. Krautwurst, Artikel Treu (Trew), in: MGG 13, 1966, Sp. 641-643). - Christian August Schulze (S. 164 f.) verfaßte zusammen mit seinem Rektor Leonhard Seybold beim Übergang der Stadt an Bayern 1806 — weil damals viel gestohlen wurde, auf höheren Befehl! - ein Verzeichnis der Instrumente in Kirche und Schule St. Lorenz (Stadtbibi., Nor. 236 2°), das zeigt, daß man damals u. a. noch 2 Geigen von Jakob Stainer (1660, 1662) besaß. Die Instrumenteninventare aller Nürnberger Kirchen und Schulen sind veröffentlicht bei Ekkehart Nickel, Der Holzblasinstrumentenbau in der Freien Reichsstadt Nürn­ berg, München 1971, S. 347-350. - Andreas Schwarz (Schwanz; S. 144) ist als Ton­ setzer hervorgetreten (s. R. Eitner, Quellenlexikon Bd. 9, S. 106); u. a. komponierte er Epitaphien für Caspar Othmayr (s. MGG 10, Sp. 470 u. 1559) und Veit Dietrich (s. MGG 3, Sp. 449). - Hans Seber (S. 83) stammte aus Hersbruck, studierte 1496 in Ingolstadt und war 1510 der Orgellehrer des Patriziers Hieronymus Paumgartner. 1517—22 lebte er in Ingolstdt, wurde dann Organist an St. Sebald in Nürnberg, verließ jedoch schon 1524 dieses Amt, wohl weil er sich der Reformation nicht öffnen wollte (vgl. Rudolf Wagner in MVGN 38, 1941, S. 344 und 346 sowie in Musikforschung 2, 1949, S. 165). Franz Krautwurst Horst Appuhn (Hrsg.): Johann Siebmachers Wappenbuch von 1605. Kassette in 2 Bänden (= Die bibliophilen Taschenbücher, Bd. 538). Dortmund: Harenberg 1988. 544 S. DM 48,-. Der Herausgeber, dem wir u. a. die Einführung und Erläuterung der prachtvollen Bilderhandschrift „Der Psalter“ verdanken (in der gleichen Taschenbuchreihe erschienen), hat nun mit der bibliophilen Wiedergabe der „alten“ Siebmacher-Bände allen Heraldikern und den unzähligen Freunden von Wappenkunde und Wappenkunst den Erwerb der bekanntesten aller deutschen Wappensammlungen ermöglicht. Noch dazu in Farbe, nachdem glückliche Umstände zum Auffinden zweier sich ergänzender, ausgemalter Exemplare geführt haben. Horst Appuhn hat darüberhinaus die Namen von rund 3800 Staats-, Städte-, Familien- und Bistumswappen, aus den ursprünglich bei Siebmacher acht ständisch unterschiedenen Registern in ein einziges übertragen und dabei die heutige Schreibweise zugrunde gelegt. Damit korrespondiert dieses Register mit Jäger-Sunstenaus verdienstvollem Generalindex zu allen (auch späteren) „Siebmacher-Wappenbüchern“. Insbesondere dem interessierten Laien bleibt damit mühse­ liges Suchen und fehlerhaftes Lesen erspart. Natürlich ist jedem Forscher, wie bisher schon, die sorgfältige Überprüfung im Einzelfall auferlegt, denn trotz aller dankens­ werten Überarbeitungen beinhalten die Originalvorlagen mancherlei „errata“: So sind beispielsweise die Wappen der Landgrafen von Leuchtenberg und der Grafen von Oettingen nicht korrekt wiedergegeben, bei den Herzogen von Sachsen-Weimar fehlt die rote Farbe des Regalienfeldes, und im Aufseß-Wappen ist die Helmzier nicht voll­ ständig ausgemalt. Daß sich unter den „Schleßingischen“, den „Frenkischen“ Familien-

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wappen etc. auch solche aus anderen deutschen Landen befinden, wissen eingeweihte Siebmacher-Benützer ohnedies (so wären z. B. die Sauermann heute viel eher unter den Nürnberger Geschlechtern anzusiedeln). Trotzdem, die vorgelegte Edition ist für For­ scher und Wappenliebhaber von unschätzbarem Wert, da über die Freude an heraldi­ scher Ästhetik hinaus jeder Benützer außerordentlich interessante geschichtliche Infor­ mationen aus der Zeit vor dem 30jährigen Krieg erhält (etwa durch die Wappeninhalte der dynastischen Familien oder die Einreihung von Straßburg und Colmar unter die deutschen Reichsstädte). In einem ausführlichen Nachwort erläutert der Herausgeber die Vorgeschichte dieser wertvollen Ausgabe und den praktischen Umgang mit ihr. Es bedarf keiner großen Prophetie, daß dieses Nachschlagewerk über die Fachwelt hinaus ein breites Publikum finden wird. Eugen Schäler Edith Luther: Johann Friedrich Frauenholz (1758—1822). Kunsthändler und Ver­ leger in Nürnberg. (Nürnberger Werkstücke zur Stadt- und Landesgeschichte, Bd. 41.) Nürnberg 1988. 327 S. m. 16 Taf. DM 30,-. Nürnbergs Zustand im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts ist oft beschrieben worden: Das Regiment politisch mumifiziert, als Gemeinwesen faktisch bankrott, die Stadt kulturell ausgeblutet und verprovinzialisiert, besonnt allein vom Glanz einer großen Vergangenheit, die man — Stichwort Wackenroder — gerade wiederzuent­ decken begann. Interdisziplinär hat die Forschung in neuerer Zeit solche Bestandsauf­ nahme als einseitig erkannt, wobei Rudolf Endres viel für die Korrektur des alten, bis in die Goethezeit zurückverfolgbaren, Zerrbildes getan hat. Es gehört zur Vorgeschichte dieser im Fach Kunstgeschichte 1986 in Erlangen eingereichten Magisterarbeit, daß Eli­ sabeth Reynst, die beste Kennerin des Nürnberger Verlagswesens um 1800, eine geplante Studie über Frauenholz „wegen der unergiebigen Quellenlage“ 1972 abbrach. Sich als Studentin davon nicht entmutigen zu lassen, setzt Reife, Urteilsvermögen und Einsicht in Wissenschaftsgeschichte voraus. Wie Edith Luthers 40 Seiten umfassendes Quellen- und Literaturverzeichnis ausweist, ging sie akribisch selbst der kleinsten Spur nach. So ergeben viele kleine Steinchen letztlich ein Mosaik, ein Bild der Person und der Zeit. Da das Leben von Frauenholz äußerlich ereignislos verlief, konzentrierte sich die Autorin auf die 1787 gegründete Kunsthandlung und den Verlag. Beide hatten ihre große Zeit in den neunziger Jahren. Nach den Befreiungskriegen konnte Frauenholz, letztlich ein Mann des 18. Jahrhunderts, eine herausragende Position nicht mehr gewinnen. Daß er weiterhin in der Lage blieb, Entwicklungen vorauszusehen, beweisen Verträge mit Johann Adam Klein und Johann Christoph Erhard — Nürnbergs Haupt­ vertreter einer „realistischen“ Kunstrichtung mit Zukunft. Regelmäßige Auktionen, bis heute Eckpfeiler des Handels mit alter Graphik in Europa und Ubersee, hat Johann Friedrich Frauenholz eingeführt. Die Verfasserin weist zwischen 1790 und 1804 zehn Auktionskataloge nach, so selten und kunstgeschichtlich wertvoll, daß ihr fotomecha­ nischer Nachdruck sich lohnen würde. Gleiches gilt für die ersten Verlagskataloge von 1798 und 1799. Der umfangreichste, 1809 herausgebracht, konnte, einschließlich der Ergänzungen von 1816 und 1821, der Arbeit als Reprint beigebunden werden. Der kleine Tafelteil zeigt einige charakteristische druckgraphische Blätter aus dem Verlag Frauenholz, der in seiner Glanzzeit vor allem Radierungen aus dem Kreis der DeutschRömer vertrieb (Albrecht Christoph Dies, Joseph Anton Koch, Jakob Wilhelm

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Mechau, Johann Christian Reinhart). Mehrere Nürnberger Privatsammlungen lösten sich gegen Ende der reichsstädtischen Zeit auf. Mit Frauenholz’ Namen verbunden bleibt der Ausverkauf Nürnberger Kunst, vor allem die Zerstreuung des Praun’schen Kunstkabinetts. Die ungdruckte Dissertation von Katrin Achilles über die Kunstsamm­ lungen des Paul Praun (1548-1616) ergänzt den Abschnitt bei E. Luther. Die ersten vierzig Bände der „Nürnberger Werkstücke“ waren dem Druck abge­ schlossener Dissertationen Vorbehalten. Die Frauenholz-Monographie ist die erste Magisterarbeit, die von den Herausgebern in die Reihe aufgenommen wurde. Diese Auszeichnung scheint mir verdient. Matthias Mende Christian Koch / Hans-Christian Täubrich (Hg.): Bier in Nürnberg-Fürth. Braue­ reigeschichte in Franken. Mit Beiträgen von Ulrich Kuhnle, Gerd Walther, Helmut Schwarz, Jutta Tschoeke. München: Hugendubel 1987. 175 S., zahlr. Abb. DM 48,—. Der vorliegende, für die breite Öffentlichkeit konzipierte Band gibt einen guten Überblick über das Nürnberger Brauwesen, v. a. des 19. und 20. Jh., der in dieser Form bisher fehlte. Wertvolle, z. T. bislang unveröffentlichte Fotografien werden ergänzt durch sachkundige und klar verständliche Textbeiträge, die auch die neueste Entwick­ lung im Brauereiwesen berücksichtigen. Neben der einschlägigen Literatur wurden auch Quellen des Stadtarchivs benutzt. Das Bildmaterial (hauptsächlich Innen- und Außenaufnahmen von Brauereien, Fotos von Arbeitsgeräten und Maschinen, techni­ sche Zeichnungen, Werbeplakate) stammt v. a. aus dem Privatbesitz der Familie Zeltner, dem Stadtarchiv, dem Centrum Industriekultur, der Bibliothek der Landesge­ werbeanstalt Bayern und der Tucher-Bräu. Im Anhang finden sich ein Glossar der wichtigsten benützten Fachausdrücke und ein Literaturverzeichnis, das Interessierte zu einer Vertiefung der angeschnittenen Themenbereiche anregen kann. Sieben Kapitel beleuchten die verschiedensten Aspekte des Phänomens Bier in Nürn­ berg; eines beschäftigt sich mit dem Brauwesen in der Nachbarstadt Fürth. Dem ersten Kapitel mit einem kurzen Abriß der Nürnberger Braugeschichte in der reichsstädtischen Zeit seit der ersten Nennung des Bieres in einem Satzungsbuch des Rates um das Jahr 1300 folgt die Bestandsaufnahme der Braustätten des 19. Jh., über­ sichtlich dargestellt anhand eines Stadtplanes aus dem Jahr 1811. Eine Auswahl der 34 Brauereien wird durch historische Fotografien und die jeweilige Besitzgeschichte eingehender vorgestellt. Seit der Mitte des 19. Jh. vollzog sich ein grundlegender Wandel von der handwerkli­ chen Arbeit zur technisch-industriellen Mechanisierung vieler Produktionsgänge im Brauwesen: Einsatz der Dampfmaschine (Dampfbrauerei) und der Linde’schen Kälte­ maschine; damit verbunden erfolgte die wissenschaftliche Aufarbeitung des bisher empirisch betriebenen Brauvorgangs (1887 Versuchsanstalt für Bierbrauerei in Nürn­ berg). Der Abschnitt „Mohrenkopf und Krokodil“ behandelt die Entwicklung vom hand­ werklichen Kleinbetrieb in der Altstadt im Zuge der Industrialisierung gegen Ende des 19. Jh. zur Massenproduktion vor den Toren der Stadt mit großem Versand- und Exportanteil. Der bedauernswerte Höhepunkt der Konzentration ist heute erreicht: In Nürnberg und Fürth existieren nur noch zwei Großbrauereien. Die Patrizier-Bräu, bis 1972 Lederer-Bräu (Markenzeichen Krokodil), sieht sich in der Tradition des 1471

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erbauten städtischen Herrenbrauhauses. Sie ist heute dem Fürther Schickedanz-Konzern eingegliedert und besitzt Braustätten in der Bärenschanzstraße, in Fürth und Würzburg. Die Tucher-Bräu (Markenzeichen Mohrenkopf) ist aus dem 1673 erbauten städtischen Weizenbräuhaus entstanden, das die Familie Tücher 1855 vom bayerischen Staat erworben und 1890 in die Lange Gasse verlegt hat. Seit 1966 ist die Brauerei im Brauhaus-Gebäude am Schillerplatz untergebracht und steht seit 1985 unter der Lei­ tung der Kulmbacher EKU-Gruppe. Den eigentlichen Anstoß zum vorliegenden Band gab die Bereitstellung bisher unver­ öffentlichten Bildmaterials aus dem Privatbesitz der Familie Zehner. Anhand dieser Fotografien wird in einem eigenen Kapitel die Geschichte der Privatbrauerei Johann Georg Zehner erzählt. Bemerkenswert ist die Fotoserie über die Arbeitsweise in der alten Braustätte in der Schlotfegergasse um 1910. Von der einstmals bedeutenden Fürther Brauereiszene existiert heute nur noch die Brauerei Humbser in der Schwabacher Straße als Braustätte der Patrizier-Bräu. Bekannt waren außerdem die Brauerei Geismann (v. a. durch ihr Frühlingsstarkbier „Pokulator“), Bergbräu Mailaender, Grüner-Bräu und die Brauerei Evora und Meyer. In der Zeit zwischen 1880 und 1895 stieg Nürnberg zum Wehzentrum des Hopfen­ handels auf. Auf den Straßen und Plätzen der Stadt lagerten die Hopfensäcke zum Ver­ kauf. Ein großer Nachteil erwuchs der Bevölkerung durch die zur Haltbarmachung nötige Schwefelung des Hopfens. Im Jahre 1895 bliesen die Kamine von 162 Hopfen­ schwefeldarren tonnenweise Schwefeldioxid in die Nürnberger Luft, was zu Gesund­ heitsschäden und auch zu Protesten der Bewohner führte. Der letzte, sehr interessante Abschnitt behandelt die Rolle des Bieres im Alltag der Bevölkerung: in der Gastwirtschaft, in Vereinslokalen, bei der Arbeit. Gern getrunken wurde Bier als „flüssiges Brot“ und sichere Kalorienzufuhr für die schwere körperliche Arbeit in der Metallindustrie; der Alkohol diente als Flucht vor dem Arbeitsalltag. Bier stand auf den täglichen Speiseplänen der Armen- und Waisenhäuser, Krankenanstalten und Altenpflegeheime. Ein beliebtes Freizeitvergüngen stellte der Biergenuß in Aus­ flugslokalen (Dutzendteich, Schmausenbuck), auf den Bierkellern (Bayreuther und Bücher Straße) und beim Volksfest (seit 1826) dar. Beim sog. Nürnberger Bierkrawall kam es vom 1. bis 4. Mai 1866 wegen der Erhö­ hung des Preises für die Maß Bier von fünf auf sechs Kreuzer zu Protesten aufge­ brachter Bürger. Bilanz: Sachbeschädigungen bei Gasthäusern und Brauereien, 22 Fest­ nahmen, ein Toter. Günther Friedrich Jan Hus und die Hussiten in europäischen Aspekten (= Schriften aus dem KarlMarx-Haus Trier, Nr. 36), Trier 1987, darin: Hans Pelger: Der Streit um die Veröf­ fentlichung der Johannes-Huß-Biographie des Georg Lommel 1839/40. — S. 117—177. Studien zum Buch- und Bibliothekswesen, Bd. 5, Leipzig 1987, darin: Inge Kiesshauer: Emil Ottokar Weller (24. Juli 1823 bis 4. Januar 1886). — S. 65 — 80. Die Titel der beiden Publikationen lassen nicht erkennen, daß in jeder von ihnen ein Mann gewürdigt wird, der im vorigen Jahrhundert zeitweilig in Nürnberg gelebt und gewirkt hat und hier eine politische, über die Stadt hinaus wirkende Rolle spielte. Der erstgenannte Band, die Sammlung von Vorträgen eines Kolloquiums in Trier, enthält als Anhang (S. 117—175) eine kommentierte Dokumentation von Hans

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Pelger: Der Streit um die Veröffentlichung der Johannes-Huß-Biographie des Georg Lommel 1839/40. Der 1805 in Würzburg geborene Lommel studierte an der Universität seiner Heimatstadt Geschichte und fand 1829 Aufnahme in den bayerischen Archiv­ dienst. Zuerst war er im Würzburger Archiv tätig; von 1832—1836 wirkte er dann in dem damaligen Kreisarchiv Nürnberg, dem heutigen Staatsarchiv. In Anbetracht seiner Verdienste um die Reorganisation dieses Archivs wurde er zum Reichs-Archiv­ sekretär ernannt und mit Aufträgen in den Archiven in Neuburg a. d. Donau und Amberg betraut. In einigen Aufsätzen befaßte sich Lommel mit der Nürnberger Stadt­ geschichte. Sein Hauptwerk, an dem er bis zu seinem Lebensende arbeitete, war eine Geschichte „Der alten Franken“. Am religions- und kirchenkritischen Gehalt eines Abschnittes dieser in Lieferungen erscheinenden Arbeit, der Johannes Hus gewidmet war, nahm die Zensur Anstoß und ließ sieben Druckbogen beschlagnahmen. Rasch fer­ tigte der Verfasser einen Auszug aus dem beschlagnahmten Text an, der als Borschüre vertrieben wurde. Auf diese Weise kam es zu einem handfesten Preßskandal, der Regie­ rung und Landtag beschäftigte. Er endete mit der Quieszierung des Archivars am 5. März 1840. Für Lommel folgte nun ein unruhiges Leben. Er hielt sich in der Schweiz auf und setzte sich aktiv für die republikanische Bewegung von 1848 ein. Von einem Spezialgericht in Zweibrücken wurde er zum Tode verurteilt. Erst nach einer von König Maximilian II. 1861 erlassenen Amnestie konnte er sich wieder in Bayern auf­ halten. Nach Nürnberg zurückgekehrt, wurde er als Redakteur des „Nürnberger Anzeigers“ tätig, in dem er für die Sozialdemokratie eintrat. Erneut wandte er sich aber auch wieder der fränkischen Geschichtsforschung zu. Am 11. Dezember 1872 starb der politisch engagierte Mann. Aus Anlaß des 100. Todestages enthält Bd. 5 der „Studien zum Buch- und Biblio­ thekswesen“ (S. 65-80) eine Würdigung des Verlegers und Politikers Emil Ottokar Weller aus der Feder von Inge Kiesshauer. Wellers Beziehung zu Nürnberg und Franken ist nicht ganz so eng wie diejenige von Lommel. Weller war ein bekannter Bibliograph und Verfasser bedeutender, im Bibliothekswesen gebräuchlicher Nach­ schlagewerke. Gleichzeitig war er jedoch auch ein engagierter Politiker, der in der Arbeiterbewegung eine wichtige Rolle spielte. Der 1823 in Dresden Geborene gab sein Medizinstudium in Leipzig frühzeitig auf und lernte 1845 als Buchhändler. Schon bald wurde er dann selbständiger Verleger. Seine Verlagsproduktion der Jahre 1847 bis 1851 war ausschließlich der Arbeiterklasse gewidmet. 1849 verurteilte ihn das Appellations­ gericht Leipzig wegen Vorbereitung des Verbrechens des Hochverrates durch die Ver­ breitung von Flugschriften zu IV2 Jahren Gefängnis. Weller trat die Haftstrafe nicht an, indem er in die Schweiz auswich, wo er bis zu seiner Begnadigung 1862 lebte. Erst dann durfte er nach Deutschland zurückkehren. Er ließ sich Ende 1864/Anfang 1865 als Pri­ vatgelehrter in Nürnberg nieder und betätigte sich hier wieder bibliographisch, und zwar über die Hans-Sachs-Literatur. Politisch wirkte er im Arbeiterbildungsverein und wurde endlich (1869) zum Vorsitzenden der Nürnberger Sektion der Internationalen Arbeiter-Assoziation gewählt. 1872 begründete Weller ein „Sonntagsblatt zur Unter­ haltung und Belehrung“, das er bis zu seinem Tode verwaltete und redigierte. „Am 4. Januar 1886“ — heißt es in der Nürnberger Stadtchronik - „ist der durch mehrere geschätzte Werke bekannte Bibiliophile, Herr Emil Weller, welcher in den Bewegungsjahren flüchtete und längere Zeit in der Schweiz, dann hier lebte, gestor­ ben“.

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Es ist wohl kein Zufall, daß Lommel und Weller sich gerade nach Nürnberg hinge­ zogen fühlten, in eine Stadt, die auf eine bedeutende Geschichte zurückblicken konnte, sich aber seit der Mitte des 19. Jahrhunderts zu einem Mittelpunkt der Arbeiterbewe­ Gerhard Hirschmann gung entwickelt hatte.

Bau-Innung Nürnberg: 100 Jahre Bau-Innung Nürnberg 1887—1987. Nürnberg: Tümmels 1987. 176 S. mit zahlr. Abb. So manche Festschrift sieht ihren Sinn erfüllt, wenn möglichst viele Leser darin ihren Namen und womöglich ihr Konterfei finden können. Der aufwendig ausgestattete Jubi­ läumsband der Nürnberger Bauinnung bietet weit mehr! „Wenn eine Organisation . . ., welche ausschließlich vom freiwilligen Zusammen­ schluß ihrer Mitglieder getragen wird, sich in vier verschiedenen Staatsformen behaupten konnte und dabei die 100. Wiederkehr ihres Gründungsjahres erlebt, dann ist dies Anlaß, . . . zurückzuschauen. Dies gebietet schon der Respekt vor den Genera­ tionen, welche die Bauinnung gegründet und in den nachfolgenden Jahrzehnten getragen haben.“ So beginnt Obermeister Siegfried Werner sein Geleitwort, und seine Mitarbeiter haben sich dieser Aufgabe mit bewundernswürdigem Fleiß und Erfolg angenommen. Die Bauinnung Nürnberg, das ist nicht nur eine Organisation wie viele, sondern das ist die Verkörperung des Bauhandwerks unserer Stadt schlechthin. Weit über die Innungsgeschichte hinausgreifend bietet die Dokumentation daher zunächst einen historischen Rückblick bis zu den Anfängen in reichsstädtischer Zeit: Wir lernen den Steinmetz Reipold kennen, der 1285 als erster Bauhandwerker Nürnbergs in einer Urkunde auftaucht. Wir können einen Blick tun ins berühmte Hausbuch der Mendelschen Zwölfbrüderstiftung. Wir erfahren die für viele wohl überraschende Tatsache, daß Träger des Baugeschehens einst Steinmetz und Zimmerer waren, während der Maurer in Nürnberg so gut wie keine Rolle spielte. Wir hören von der früheren Sonder­ rolle des Bauhandwerks in unserer Stadt. Wir müssen feststellen, daß die Schwarzarbeit kein Übel nur unserer Tage ist. . . . Dem Kenner kommt dies alles irgendwie vertraut vor, und das mit Recht. Verfasser dieses Abschnitts ist der junge Historiker Dr. Peter Fleischmann, der auf seine 1985 erschienene Arbeit „Das Bauhandwerk in Nürnberg vom 14. zum 18. Jahrhun­ dert“ zurückgreifen konnte (vgl. dazu Mulzer, MVGN 74/1987, S. 253). Wie es sich für eine rechte Jubiläumsschrift gehört, ist dann natürlich die Geschichte der Bauinnung Nürnberg seit ihrer Gründung im Jahr 1887 akribisch dargestellt. Ver­ fasser dieses Abschnitts: Innungsgeschäftsführer Hartmut Strauß. Reich illustriert, großenteils farbig, findet man nicht nur eine verbale Darstellung des Geschehens. Die verschiedenen Statuten im vollen Wortlaut; tabellarische Übersichten z. B. der Lohnund Preisentwicklung; die Programme bedeutender früherer InnungsVeranstaltungen; all dies und vieles mehr bietet dem Interessierten eine schier unerschöpfliche Fund­ grube. Dabei stößt man auch auf so liebenswürdige Details wie die Darstellung der Gestaltung der von der Innung im Lauf der Zeit verwendeten unterschiedlichen Brief­ köpfe.

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Nürnberg und sein Bauhandwerk, sie gehören zu allen Zeiten untrennbar zusammen, und so finden wir in der Dokumentation auch eine, wenn auch knappe, Darstellung der Entwicklung und des Wiederaufbaus unserer Stadt. „100 Jahre Berufsausbildung mit der Bauinnung“, auch dieses Thema nimmt einen breiten Raum ein. Das Handwerk und mit ihm wir alle sind auf einen tüchtigen Berufs­ nachwuchs angewiesen. Was die Innung zu diesem Zweck tat und tut ist in Form und Inhalt getreulich festgehalten, bis zum Faksimile-Abdruck einer angekohlten Seite der im übrigen beim Brand der Innungsgeschäftsstelle im Zweiten Weltkrieg vernichteten Lehrlingsrolle der Innung, die seit dem Gründungsjahr 1887 handschriftlich geführt worden war. In mühevoller Arbeit hat schließlich Innungsmitarbeiter Manfred Baibach Berichte und allgemeine Veröffentlichungen unseres Raumes auf das Bauhandwerk berührende Punkte durchgesehen. Das Ergebnis seiner Untersuchung ist in der Über­ schrift auf einen Nenner gebracht: „100 Jahre Geschichte und immer die gleichen Pro­ bleme!“ Gerhart Honig Otto Kraus — Ein „IG Metaller“ der ersten Stunde. Erzählte Geschichte bearbeitet von Peter Alheit und Jörg Wollenberg. (Geschichte erzählt: Politische Arbeiter­ biographien, Bd. 2.) Verlag Atelier im Bauernhaus, Fischerhude 1987. 229 S. DM 19,80. Ziel der von P. Alheit, G. Lobboda und J. Wollenberg herausgegebenen Reihe politi­ scher Arbeiterbiographien ist das „Selbst-zu-Wort-kommen-lassen“; denn „viele Fragen der Geschichte der Arbeiterbewegung lassen sich klären durch die Analyse der historischen Bedingungen. Andere jedoch sind nur zu verstehen, wenn wir die Biogra­ phien der Betroffenen lesen. Hier entdecken wir die Ungleichzeitigkeiten und Wider­ sprüche der Arbeiterbewegung. Aber hier finden wir auch die konkreten Utopien, die uns heute manchmal fehlen — die praktischen, nicht die theoretischen Träume der Arbeiterbewegung“ (S. 15). So wird in der Form der Darstellung eine Verbindung von traditionellen schriftlichen und mündlichen Quellen (Oral History), von autobiogra­ phisch erzählender Geschichte, verbindenden Texten, Dokumenten und Bildern gefunden. Als Bd. 2 wurde die „Lebensgeschichte eines engagierten Gewerkschafters“, des Nürnberger Arbeiterveteranen und wichtigen Zeitzeugen Otto Kraus, zum 40. Jah­ restag seiner Wahl zum 1. Bevollmächtigten der IG Metall, Verwaltungsstelle Nürn­ berg, vorgelegt. Grundlage des Bandes bilden Interviews, in denen Otto Kraus sein Leben erzählt und seine Erfahrungen vermittelt: Am 16. 12. 1908 in Nürnberg geboren, wächst er in einer Arbeiterfamilie auf, beginnt 1923 eine Lehre als Dreher und tritt im gleichen Jahr der Sozialistischen Arbeiterjugend (SAJ) und 1924 dem Deutschen Metallarbeiterver­ band (DMV) bei. 1926 wird Otto Kraus Geselle (mit Kurzarbeit) und macht wichtige Streik- und Solidaritätserfahrungen. 1929 verläßt er den Betrieb und nimmt an einem fünfmonatigen Lehrgang an der Heimvolkshochschule Leipzig teil. Er gehört zu den Kritikern der Tolerierungspolitik der SPD und findet 1931 wieder als Mechaniker Arbeit in Nürnberg. Otto Kraus tritt, zusammen mit anderen SAJlern, der im Oktober 1931 auch in Nürnberg gegründeten Sozialistischen Arbeiter-Partei (SAP) bei. Es folgen Widerstand gegen den Faschismus, Verhaftung im Dezember 1935 und „Schutz­ haft“ im KZ Dachau vom Februar 1936 bis Oktober 1937. Otto Kraus kommt nach seiner Entlassung wieder im alten Betrieb unter und heiratet 1942. Er baut 1945 die

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Gewerkschaften mit auf, wird 1946 Betriebsrat und zum 1. Bevollmächtigten der Gruppe Metall im Bayerischen Gewerkschaftsbund (BGB) in Nürnberg und späteren Verwaltungsstelle der Industriegewerkschaft Metall (IGM) gewählt, bekleidet diese Funktion vom 1. 9. 1947 bis zu seiner Pensionierung am 31. 12. 1973 und prägt so wesentlich die Nachkriegsgeschichte der Nürnberger Gewerkschaften mit. Dieser, hier in nackten Fakten umrissene, Lebensweg wird von Otto Kraus in anschaulicher Weise dargestellt und vermittelt. Ergänzt werden seine Lebenserinnerungen durch informative Kurzaufsätze und Notizen der Herausgeber über Volkshochschule und Arbeiterbewegung in Nürnberg und Leipzig; den Aufbau der Gewerkschaften und der Betriebsräte in Nürnberg nach 1945; Betriebsräte in Opposition zur Organisation (1947); Hungerstreiks und Massen­ demonstrationen in Nürnberg 1947/48; den Kampf um das Betriebsverfassungsgesetz von 1952; Otto Brenner und die westdeutsche Linke; den bayerischen Metallarbeiter­ streik von 1954; durch interessante, z. T. faksimilierte Dokumente wie u. a. einen Poli­ zeibericht über die Nürnberger SAP vom 11.7. 1932; Auszüge aus der Anklageschrift „in Sachen Albert, Martin und Andere (darunter Otto Kraus) wegen Verbrechens der Vorbereitung zum Hochverrat“ vom 19. 2. 1936; einen Erlebnisbericht von Martin Albert über den Widerstand in der Nürnberger Schraubenfabrik 1933-45; Auszüge aus Zeitzeugenberichten von Martin Albert und Josef Simon; einen Bericht von Otto Kraus zur Geschichte des Nürnberger Gewerkschaftshauses und „Dokumente einer politi­ schen Verwaltungsstelle“, das sind Dokumente der Verwaltungsstelle Nürnberg wie Geschäftsberichte und Mitteilungsblätter der IGM aus der Feder von Otto Kraus; durch Bildquellen, die v. a. von dem Arbeitskreis der Nürnberger Arbeiterveteranen zur Verfügung gestellt wurden. Vermittelt über die Person Otto Kraus gibt der Band so einen anregenden Einblick in die Geschichte der Nürnberger Arbeiterbewegung in diesem Jahrhundert. Kritisch vermerkt seien die, wohl dem Zeitdruck geschuldeten — Fertigstellung des Bandes zum 40. Jahrestag der Wahl von Otto Kraus zum 1. Bevollmächtigten -, über­ sehenen Druckfehler auch bei Quellenangaben und das Fehlen der im Inhaltsver­ zeichnis angezeigten „Tabellarische(n) Angaben zur Biographie des Gewerkschafters Otto Kraus“. Udo Winkel Eric G. Reiche: The Development of the SA in Nürnberg, 1922—1934. Cambridge University Press, Cambridge u. a. 1986. 314 S. mit 36 Tabellen, 2 Graphiken und 2 Karten. Die nationalsozialistische „Sturmabteilung“ (SA) wurde im August bzw. November 1921 von Hitler gegründet; in Nürnberg trat sie erst seit Ende 1922 in Erscheinung, zuvor hatten ihr allerdings schon völkische Gruppen den Boden bereitet. Eric G. Reiche, ein amerikanischer Historiker, hat in seinem Buch über die SA in Nürnberg, 1922 — 1934, das sich auf eine Vielzahl von Quellen stützt, die Entwicklung dieser Män­ nerorganisation in Nürnberg untersucht. Was jetzt als Buch vorliegt, wurde 1972 von einer kanadischen Universität als Dissertation angenommen. An den Beginn seiner Arbeit stellt Reiche eine Schilderung der wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse in Nürnberg unmittelbar vor und nach dem Ersten Weltkrieg. Dann geht er auf die Entwicklung der SA ein. Anfangs, 1923, waren ihre Mitglieder

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relativ jung und keineswegs zum größeren Teil Kriegsteilnehmer: nur 37 Prozent waren im Krieg gewesen. Die SA war sozial inhomogen: sie rekrutierte sich zwar in erster Linie aus der unteren Mittelschicht, zählte aber anfangs so gut wie keine Angehörigen der freien Berufe in ihren Reihen, wohl aber sehr viele Arbeiter: 43 Prozent. Ende 1923 war sie in Nürnberg „eine ansehnliche, gewalttätige und zunehmend militärische Orga­ nisation“ (S. 48). In den Jahren nach dem gescheiterten Hitler-Putsch, als die Republik sich zu festigen vermochte, kam es zwischen SA und NSDAP in Nürnberg zu langwierigen Reibereien; der SA mißfiel vor allem Streicher, dessen korrupte Machenschaften und desen autori­ tärer Umgangs ton allenthalben Anstoß erregten. In dieser zweiten Phase (1925/29) war die SA etwas älter geworden: „Mit einem Durchschnittsalter von etwas über 32 Jahren beim Eintritt waren die SA-Leute jetzt wenigstens körperlich reifer“ (S. 65). Ihr sozialer Aufbau hatte sich etwas nach unten verschoben: Mittelschichtsangehörige dominierten noch immer, aber der Anteil der Arbeiter — 46 Prozent — war bemerkens­ wert hoch. „Zum einzigen Mal zwischen 1922 und 1934 bildeten Facharbeiter (skilled workers) die größte einzelne Gruppe, sie machten beinahe ein Viertel des gesamten Sample aus“ (S. 67). Die Weltwirtschaftskrise brachte der SA den großen Zulauf, und zwar häufiger aus den Reihen der unteren Beamten und der Angestellten als aus der Arbeiterschaft oder von den freien Berufen. Die Nürnberger SA nahm nicht im gleichen Maß zu wie die SA im Reich insgesamt: sie wuchs anfangs (1930/31) langsamer, dann deutlich schneller. Im Reich nahm sie in den ersten sieben Monaten des Jahres 1932 nur noch um 53 Prozent zu, in Nürnberg um 81 Prozent. Ende 1932 hatte sie in Nürnberg 2500 Mitglieder. Während die Älteren unter den Nürnberger Arbeitslosen zu den radikalen Parteien der Linken gingen, schlosssen sich die Jungen häufiger der SA an. In den Wahlkämpfen der Jahre 1930 und 1932 stellte die SA die Schlägertrupps, sie organisierte die Saalschlachten und schüchterte Andersdenkende ein. Trotzdem war sie zugleich die Partei der „underdogs“, die verächtlich auf die Spießer in der NSDAP blickten. Viele SA-Mitglieder waren nicht unempfänglich für die sozialistischen Parolen der KPD, einige wechselten zu ihr über. Und gerade zu Beginn des Jahres 1933, wenige Wochen vor Hitlers Ernennung zum Reichskanzler, prügelte sich die Nürnberger SA mit NSDAP-Leuten der Nürnberger Ortsgruppe öffentlich herum. Während des ganzen Jahres 1933 gab es Streit zwischen dem SÄ-Führer Wilhelm Stegmann und der NSDAP in Nürnberg. Die SA stand hinter Stegmann, denn sie hatte Grund zur Unzu­ friedenheit: von den — Mitte 1934 - 6000 SA-Leuten war noch immer ein Drittel arbeitslos. Im Dezember 1933 verließ Stegmann die SA, und mit ihm gingen viele, vor allem Arbeiter. Nach der Machtübernahme wurde die SA in Nürnberg älter, und es kamen mehr und mehr Weltkriegsteilnehmer, darunter viele Offiziere, vor allem aber kamen jetzt mehr und mehr Akademiker und Anghörige der freien Berufe, darunter sehr viele Ärzte — nicht erstaunlich „in einer Stadt, wo nahezu ein Fünftel aller Mediziner und Zahnärzte Juden waren“, befindet Reiche (S. 202). Die SA bestand 1934 fast zu einem Viertel aus Hochschulabsolventen, 13,5 Prozent waren promoviert. Jetzt waren „Arbeiter unter­ repräsentiert, wohingegen Angestellte und Beamte entschieden überrepräsentiert waren“ (S. 210).

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Bei den Ereignissen am und nach dem 30. Juni 1934 — der Niederschlagung des sog. Röhm-Putsches — kam die Nürnberger SA glimpflich davon, der eine oder andere viel­ leicht nur deswegen, weil er gerade nicht aufzufinden war. Danach verlor die SA, auch in Nürnberg, ihre Bedeutung. Reiches Buch ist sehr ausführlich, aber es bringt wenig Neues; die Einsichten über die — letzten Endes geringen — Verschiebungen im Altersaufbau, was besagen sie schon? Reiche stärkt die Zweifel an der Mittelstandstheorie, die ohnehin schon seit Jahren nicht mehr unangefochten ist. Obwohl Reiche die Entwicklung der Nürnberger SA in diesen zwölf Jahren so überaus detailliert darstellt, gibt es doch auch Aspekte, die er gänzlich vernachlässigt und die gleichwohl von Interesse wären, etwa: Wie sah die Binnenorganisation der Nürnberger SA aus? Wo waren die Vereinslokale und wie sahen die Zusammenkünfte aus? In welcher Form kümmerte man sich um notleidende Mitglieder, und welche Form der Geselligkeit wurde gepflegt? Dazu sagt er nichts, seine Arbeit bewegt sich auf einem hohen Niveau der soziologischen Abstraktion. Manfred Vasold

Nürnberg-Bibliographie 1981—1985 (mit Nachträgen aus den Jahren 1975-1980). Herausgegeben von der Stadtbibliothek Nürnberg. Bearbeitet von Günther Thomann und Julia Güttes. Nürnberg 1988. VIII, 228 S., 9 ungez. S. (Beiträge zur Geschichte und Kultur der Stadt Nürnberg/Abt. Nürnberg-Bibliographie). DM 9,70. Mit dem Berichtszeitraum 1975-1980 hat die Nürnberg-Bibliographie 1983 ihren Anfang genommen. Nun wird sie für das anschließende Jahrfünft bis 1985 fortgesetzt. Man wünscht der herausgebenden Stadtbibliothek Nürnberg und den Bearbeitern, daß sie diesen Fünfjahresrhythmus beibehalten können. Denn er ist mnemotechnisch ebenso akzeptabel wie der Umfang und damit die Handlichkeit der in diesem Turnus entstehenden Bände. Zugleich aber darf der Rezensent nicht versäumen, die noch aus­ stehende Bearbeitung der Berichtszeit von 1945 bis 1974 anzumahnen — und zwar besonders energisch im Falle der Nachkriegs- und Wiederaufbaujahre. Zwar führt das 1911 einsetzende „Verzeichnis“ von Heerwagen, Bock und Fischer bis zum Jahr 1950 (während die retrospektiv erfaßte Fränkische Bibliographie generell nur bis 1945 her­ aufreicht und insgesamt auch deutlich weniger Material enthält); doch sollte die Bear­ beitung des für die Jahre 1951 — 1973 vorhandenen Zettelmanuskripts tunlichst mit einer Revision und Ergänzung der Nachweise zurück bis wenigstens 1945 erfolgen. Den kulturell Verantwortlichen sollte es ein dringendes Bedürfnis sein, gerade die in dieser Epoche in und über Nürnberg erschienene Literatur aufbereiten und nachweisen zu lassen. Sondermittel wären da wahrlich gut angelegt, nicht zuletzt im Hinblick auf Themenstellung in den Schulen, die sich mit diesem Abschnitt der lokalen Zeitge­ schichte befassen. Und Schüler gelten ja erklärtermaßen als bevorzugte Zielgruppe unter den Benutzern der Nürnberg-Bibliographie. Die Bearbeiter haben für die Jahre 1981-85 ca. 1500 Titel zusammengetragen (samt Nachträgen für 1975/80) und in eine systematische Ordnung gebracht. Ein Verfasser­ und Herausgeberregister, vor allem aber auch ein Register von Sachbegriffen bieten weitere Einstiege beim Recherchieren. D. Schng

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Hartmut Heller / Gerhard Schröttel (Hrsg.): Glaubensflüchtlinge und Glaubens­ fremde in Franken. 26. Fränkisches Seminar des Frankenbundes 10.-12. Oktober 1986 in der Heimvolkshochschule Schloß Schney bei Lichtenfels/Ofr., Würzburg 1987 (= Separatdruck aus: Frankenland 39, 1987, S. 113—284). DM 15,—. Das ,Hugenottenjahr< 1986 hat — wie bei dergleichen Jubiläen üblich — eine große Anzahl von Publikationen hervorgebracht, die sich mit der Flucht der französischen Reformierten und ihrer Neuansiedlung in verschiedenen deutschen Territorien, nicht zuletzt in Franken, befaßt haben. Meist wurde die Immigration der Glaubensflücht­ linge dabei nur quasi querschnittsmäßig in einen Zusammenhang mit den auslösenden und begleitenden politischen und sozialen Verhältnissen des Ursprungs- und Auf­ nahmegebietes gebracht. Dieses Phänomen nun auch,längsschnittmäßig4 eingeordnet zu haben in die verschiedenen Wellen der Zuwanderung von Glaubensvertriebenen und Glaubensfremden für den Bereich Frankens, ist das Verdienst des hier anzuzeigenden, von Hartmut Heller und Gerhard Schröttel herausgegebenen Bandes. Er umfaßt ein gutes Dutzend von Referaten, die im Oktoberl986 auf dem „26. Fränkischen Seminar des Frankenbundes“ gehalten wurden. Eingeleitet werden die Beiträge durch drei Aufsätze über die Rolle der hugenotti­ schen Flüchtlinge in Franken. In äußerst quellennaher Weise faßt Johannes E. Bischoff die Bedeutung der Refugies für den Zuzugsraum zusammen. Er spart dabei auch nicht an fundierten kritischen Bemerkungen zu den offiziellen Ausstellungskatalogen des Gedenkjahres und betont insbesondere die Mobilität und den weiten Heiratskreis der Zuwanderer. Zwei interessante Fallstudien über die Integration und Assimilation der Fremden in Schwabach aus der Feder von Wolfgang Dippert und Helga Roßmeißl schließen sich an. Dem bereits wesentlich früher nachweisbaren Phänomen der protestantischen Emi­ gration aus den österreichischen Ländern nach Franken sind zwei Beiträge gewidmet, die beide aus der Optik der Familiengeschichte argumentieren. Georg Ruhr, einer der Nestoren der Exulantenforschung, gibt Einblicke in verschiedene Projekte und Ergeb­ nisse, gleichzeitig aber auch in die enorme Such- und Vergleichsarbeit, die bei der Her­ kunftsforschung geleistet werden muß. Es spiegelt die derzeitige Forschungslage dabei freilich symptomatisch wider, daß auch Ruhr nahezu ausschließlich die bäuerliche Immigration, v. a. aus Oberösterreich, thematisiert; die geistigen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Führungsschichten, die schon seit der Wende zum 17. Jahrhundert in bemerkenswertem Maße in die oberdeutschen Reichsstädte (u. a. nach Nürnberg) wan­ dern mußten, haben bis heute noch keine adäquate Würdigung erfahren. Daß die große Salzburgische Emigration trotz ihrer quantitativ und qualitativ gerin­ geren Bedeutung in der öffentlichen Renntnisnahme eine größere Rolle spielte und spielt, zeigen auch die drei folgenden Beiträge. Ernst Alker verfolgt die Spur der Flücht­ linge von 1732 bis nach Ostpreußen und in den US-amerikanischen Bundesstaat Georgia. Gerhard Schröttel und Helmut Süß liefern quellenfundierte Fallstudien zum Durchzug der Flüchtlinge durch Marktbreit sowie durch Velden und Hersbruck. Hartmut Heller endlich befaßt sich mit den Integrationsumständen der vertriebenen Holzschnitzer aus der Fürstpropstei Berchtesgaden, einer Sondergruppe, die sich in Altdorf zu einer regelrechten Exulantenkolonie formierte.

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In einem wichtigen Aufsatz beschäftigt sich Gerhard Schröttel mit Aspekten konfes­ sioneller Durchmischung in Franken seit 1750. Die äußerst informationsreiche und dif­ ferenzierende Studie thematisiert zunächst chronologisch und dann anhand verschie­ dener, repräsentativer Fallbeispiele die Umstände und Bedingungen religiöser Homo­ genität und „Durchsetzung“ in Franken (und Bayern) bis in die unmittelbare Gegen­ wart. Daß sich die Gewichte der beiden großen Konfessionen in Bayern trotz ver­ stärkter Mobilität und einiger kleinerer Schwankungen seit Anfang des 19. Jahrhun­ derts insgesamt kaum gegeneinander verschoben haben, ist eine, daß der säkularen Tendenz zu konfessioneller Durchmischung dabei auf der anderen Seite durchaus auch entgegengesetzte Enwicklungen (zumindest auf dem flachen Land) entsprechen, eine weitere der Erkenntnisse dieses Beitrags. Abgerundet wird der Band durch zwei Untersuchungen, die sich mit „Glaubens­ fremden“ in Franken befassen. Hartmut Heller geht in der Darstellung von zwölf Ein­ zelschicksalen und daraus gezogener Abstraktion dem bisher kaum beachteten Phä­ nomen der ,Türkentaufen4 im 16. bis 18. Jahrhundert nach. Die osmanischen Kriegsge­ fangenen jugendlichen Alters, die durch Beuterecht, Kauf oder Schenkung in den Besitz vor allem adliger Herren gelangten, lebten hier meist in einer Art Leibeigenschaftsver­ hältnis, das sich erst mit der Taufe löste und mitunter zu bemerkenswerten Karrieren (etwa als Pfarrer oder gar bis zum Status einer Gräfin von Castell) führen konnte. Im abschließenden Beitrag umreißt Achmed-Demal Ibrahimovic noch einmal die lange Geschichte der durchaus nicht nur kriegerischen Beziehungen zwischen Muslimen und Christen, die zur Einrichtung einer großen Anzahl von Gebetsstätten für die dritt­ größte Religionsgemeinschaft in Deutschland vornehmlich seit dem letzten Weltkrieg (mit Anfängen schon seit der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts) geführt haben. Vielleicht scheint es beim eher geringen quantitativen Umfang zumindest der außer­ deutschen Immigration schon etwas gewagt, von Franken als einem regelrechten „Viel­ völkerstaat“ zu sprechen, wie dies Heller in seiner Einleitung pointiert (und ohne Anführungszeichen) tut. Verdienstvoll aber ist es allemal, auch einmal einige der früh­ neuzeitlichen Migrationsbewegungen in ihrer Bedeutung für einen begrenzten Raum kontrastiv gegeneinanderzustellen. Daß dies zudem in einem guten ,Rahmen4, mit zahl­ reichen, z. T. farbigen, Abbildungen, Karten und Diagrammen, in gediegener typogra­ phischer Aufmachung geschehen ist, kann nur mit Anerkennung bedacht werden. Werner Wilhelm Schnabel

Archäologische Funde und Ausgrabungen in Mittelfranken — Fundchronik 1970—1985 (Hg. S. Herramhof, F.-R. Hermann, H. K oschik, D. Rosenstock und L. Wämser) = Jahrbuch des Historischen Vereins für Mittelfranken 93, 1986/87. Ansbach 1988. 493 S., 48 Farbtafeln, 239 Abb., DM 75,-. Schon lange fehlte für den Raum Mittelfranken eine Übersicht der archäologischen Grabungsplätze von der Vorgeschichte bis ins Mittelalter. Gerade bei relativ neuen Dis­ ziplinen, wie der Archäologie des Mittelalters (oft auf den nur teilweise zutreffenden Begriff „Stadtarchäologie“ verkürzt) handelt es sich häufig um Tätigkeiten, die zwar in der lokalen Tagespresse spektakulär aufbereitet erscheinen, über deren Ergebnisse danach allerdings für den zeitungslesenden Laien nichts mehr zu lesen ist. Er wird daher seine Hoffnung darein setzen, vielleicht irgendwann (in absehbarer Zeit) einen ,Heimatführer4 oder eine systematische Zusammenfassung zu Gesicht zu bekommen.

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Genau dies letztere ist mit Erscheinen des zu besprechenden Buches geschehen. Mehr noch kann man sagen, daß der interessierte Laie, für den in der Regel wissenschaftliche Einzelpublikationen schwer zu beschaffen sind, mit der Vorlage der Fundchronik der Jahre 1970-1985 endlich wieder eine Zusammenschau der archäologischen Tätigkeiten und eine Liste der archäologischen Plätze in Mittelfranken in die Hand bekommt. Da die Publikation verdienstvollerweise als Jahresband des ,Historischen Vereins für Mit­ telfranken' erscheint, darf man natürlich erwarten, daß die von engagierten Fachleuten zusammengestellte Fundchronik sowohl dem Fachmann wie auch dem Nicht-Archäo­ logen Auskunft über alle das Thema betreffenden Fragen geben kann. In der Tat bietet das Buch in seiner ansprechenden Aufmachung mit Farbtafeln und Hochglanz-S/WAbbildungen, einer Zeittafel, einem Glossar, einem Literaturverzeichnis und verschie­ denen Fundstellenkarten allerlei. Besonders die Luftbildaufnahmen verdienen eine lobende Herausstellung, da sie doch oftmals als besserer Ersatz für die in archäologi­ schen Werken unverzichtbaren Pläne eingesetzt wurden. Trotzdem hätte man nach Meinung des Rez. auf die Beigabe von Grabunsplänen nicht so weitgehend verzichten sollen. Auch die Mühe, die Fundorte in Karten topograpisch zu markieren, muß zwar anerkennend herausgestellt werden, nur hätte die Angabe von orientierenden Hilfen, wie Flüssen, Städten oder Bergen die Karten für den Laien besser lesbar gemacht. Viel­ leicht kann einer 2. Auflage, falls eine solche geplant wäre, eine Land- oder Straßen­ karte mit den entsprechenden Eintragungen beigegeben werden. Da der Verlag dankenswerterweise mit Farbtafeln sehr großzügig war, muß hier wieder einmal die alte Frage gestellt werden, was in einer archäologischen Publikation abgebildet werden sollte und was besser nicht. Die meisten Fachleute sind sich inzwi­ schen darüber einig, daß man v. a. Fundkomplexe — besonders wenn es sich um heraus­ ragende Dinge handelt, wie Metallgefäße, Schmuck oder besondere Keramik — mög­ lichst geschlossen abbildet, mit Zeichnung und Fotografie. Von Abbildungen wie hier Tafel 45 f. sollte ein archäologisches Werk, das sich Fundchronik nennt, auch wenn es sich z. T. an ein Laienpublikum wendet, Abstand nehmen. Weder zeichnen sich Regen­ schirme durch besondere fachliche Information aus, noch kann der Betrachter in diesen beiden Farbtafeln eine Erkenntnis über den Grabungsplatz gewinnen; bei einigen anderen Bildern liegt der Fall ähnlich. Eher wird hier dem Laien der falsche (sonst nur in Zeitschriften zu beobachtende) Identifikationszusammenhang zwischen Archäologie und gehobener Freizeitbeschäftigung vorgegaukelt. Da die Systematik der Fund- und Grabungsbeschreibung im Textteil sehr nüchtern und knapp ausgefallen ist (damit natürlich auch zwangsläufig wenig plastisch) hätten gewiß weitere Pläne, Zeichnungen und S/W-Abbildungen die Vorstellung sowohl beim Laien wie auch beim Fachmann erheblich verbessern können. Auch der Archäologe braucht über den Text hinausgehende Informationen und muß sich eine Vorstellung von Grabung und Befund machen können, um zu weitergehenden Schlüssen zu gelangen. Im Gegansatz zu manchen modernen, theoretischen Disziplinen ist Archäo­ logie vielmehr mit ,Dinglichkeit' beschäftigt und sollte solcher auch in den Publika­ tionen Rechnung tragen. Abschließend ist zu sagen, daß die Publikation unbestreitbar ihren großen Wert darin hat, die archäologischen Fundplätze übersichtlich und analytisch vorgestellt zu haben. Die vorgetragenen kritischen Einwendungen sollen nur als Anregung verstanden werden, manche gute Dinge noch besser zu machen. Ein eventueller Nachtragsband,

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der u. a. auch den hier noch zu kurz gekommenen oder gar nicht erfaßten Grabungs­ plätzen Rechnung tragen soll, könnte sicher bereits den einen oder anderen Gesichts­ punkt nutzbringend für die Leserschaft umsetzen. Es ist jedenfalls schön, daß unsere mittelfränkische Heimat einem größeren Leserkreis auch einmal als archäologische Landschaft bekannt gemacht worden ist. Es ist zu wünschen, daß intensive archäologi­ sche Forschung noch viel mehr ans Tageslicht bringen möge, um die Vorgeschichte unserer Umgebung besser zu erfahren. Klaus Dornisch Denkmäler in Bayern: Band V/Mittelfranken. Bearbeitung von Hans Wolfram Lübbeke, Luftaufnahmen von Otto Braasch. München: Oldenbourg, 1986. — XIII u. 588 S. mit zahlr. Abb. u. Kt. DM 198,—. Der in der Reihe „Denkmäler in Bayern“ erschienene umfangreiche Band der Denk­ malliste Mittelfranken stellt die bisher umfassendste Kulturbilanz unserer Region vor. Einschließlich der Hauptstadt München ist das Gesamtwerk auf acht Bände fixiert. Bayern legt damit als erstes Land der Bundesrepublik Deutschland ein Gesamtver­ zeichnis seiner Kulturdenkmäler vor. Es erfüllt damit einen Auftrag der Bayerischen Verfassung, der das Land gleichgewichtig als Rechts-, Sozial- und Kulturstaat definiert. Es setzt freilich ein Denkmalbewußtsein in der Bevölkerung voraus, für das die ver­ hängnisvollen Auswirkungen des überzogenen Baubooms der 60er Jahre auf unsere Kultursubstanz den entscheidenden Anstoß gegeben haben dürften. Die daraus resul­ tierenden Konsequenzen waren u. a. das Bayerische Denkmalschutzgesetz 1973 und das Europäische Denkmalschutzjahr 1975. Die Last für dieses wissenschaftlich imponierende, 1986 nach einem Jahrzehnt inten­ sivster Bemühung vollendete Opus lag auf den Schultern der zuständigen Fachbehörde des Bayerischen Landesamtes für Denkmalpflege. Für die Redaktion zeichnete Hans Wolfram Lübbeke verantwortlich. Konzentrierten frühere inventarmäßige Reihen wie die Großinventarreihe „Kunstdenkmäler in Bayern“ und die Kleininventarreihe „Baye­ rische Kunstdenkmale“ das Hauptgewicht mehr auf Einzeldenkmäler wie Kirchen, Klöster, Kommunalbauten, Burgen und Schlösser, so dominiert jetzt, unterstützt durch viele Pläne und hervorragende Luftbilder von Otto Braasch, vor allem der neue En­ semblebegriff. Damit werden bedeutende Einblicke in das Stadt-, Orts-, Straßen- und Platzgefüge erreicht. Die Bestandsaufnahme beschränkt sich nicht mehr auf die Alt­ stadtkerne, sondern läßt durch Einbeziehung der Wohnkultur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts sowie der Industriekultur auch die Vorstädte zu Wort kommen. Dafür bietet Nürnberg ein Musterbeispiel. Nicht nur der Fachmann, sondern auch Laien gewinnen eine neue Vorstellung von interessanten Siedlungsgemeinschaften wie Gartenstadt, Werderau, Eisenbahnsiedlung, Rangierbahnhof, Straßenbahnsiedlung, Buchenbühl, Loher Moos, die Arbeitersiedlung Siemens-Schuckert, aber auch schon von gründerzeitlichen Stadtteilen wie Gostenhof und St. Leonhard, nicht zu vergessen im Vorfeld der Stadt einstmals selbständige Ortsbilder wie Kraftshof, Katzwang oder Kornburg. Nicht weniger interessant, auch in sozialgeschichtlicher Hinsicht, erscheinen Jugendstilbereiche wie Prinzregentenufer und Ebensee. Grundsätzlich erfreulich ist in diesem Zusammenhang das steigende Interesse an technikhistorischen Dokumentationen, wie allein schon die Gruppe der Fabriken ausweist. Gelegentlich mag man bedauern, daß die festgelegte Zeitgrenze nicht auch bahnbrechende Lei-

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stungen der jüngsten Moderne mit einbeziehen kann, wie zum Beispiel das ALCANWerk in der Industriestraße. Über Jugendstil und die „Neue Sachlichkeit“ der 20er Jahre hinaus wurden jedoch die Bauten des Dritten Reiches mit einbezogen. Sehr hilf­ reich bei der Auswahl der Denkmalliste erweisen sich die jeweiligen Konkordanzan­ gaben im Ortsregister sowie bei größeren Städten die „Topographischen Register“, nach denen die Einzeldenkmäler unter den betreffenden Platz- bzw. Straßennamen auf­ geführt sind (z. B. Kirche St. Ludwig unter Straßburger Straße). In dem gestrafften systematischen Aufbau werden - und zwar nach dem modernen Denkmalbegriff mit Hervorhebung der historischen Bedeutung — Ensembles, Bau­ denkmäler und neuerdings auch archäologische Geländedenkmäler aufgeschlüsselt erfaßt. Sehr begrüßenswert bleibt der Verzicht auf „Klassifizierung“. Im Unterschied zu anderen Denkmalschutzgesetzen gibt es also keine „Sekundärdenkmäler“, was sich schnell zu einem lebensbedrohenden Harakiri für nicht erstrangige kulturhistorische Dokumentationen auswirken würde. Als ein wesentlicher Zugewinn erscheint die breite Zustimmung zum Denkmalschutz in Stadt und Land, wie sie sich in den erfreulich sachbezogenen Geleitworten der Repräsentanten des Staatsministeriums für Unterricht und Kultus, des Bayerischen Städtetages, des Bayerischen Gemeindetages, des Landkreisverbandes Bayern und des Verbandes der Bayerischen Bezirke, wenn auch nicht ohne kritische Distanz, äußert. Deutlich wird auch, daß die vorliegende Denkmalliste ein komplexes Werk darstellt, bei dem auch alle Wegbereiter des Denkmalschutzes, etwa verdienstvolle Bürgerinitia­ tiven wie die Nürnberger Altstadtfreunde, mancher Heimatverein und vor allem die Heimatpfleger in den Regierungsbezirken, Städten und Landkreisen mitgewirkt haben. Hinzu kommen die im Bereich der Bezirke entwickelten Sonderprogramme, wobei unverständlicherweise die nur in Mittelfranken als einzigem bayerischen Regierungsbe­ zirk durchgeführten alljährlichen Denkmalprämierungen im Vorwort des Vorsitzenden des Verbandes Bayerischer Bezirke unerwähnt blieben. Bei einem derart umfangreichen Gesamtwerk sind einzelne Fehlstellen sicher unvermeidlich und sollen auch hier nicht beckmesserisch aufgezählt werden. Auf zwei Punkte sei jedoch hingewiesen: Das für Nürnberg angedeutete Eindringen der höfischen Parierkunst erfolgt nicht um 1400, sondern bereits um 1350. Die um 1560 entstandenen mehr stadtrepräsentativ gedachten Geschützrondelle werden fälschlicherweise als „Tortürme“ bezeichnet. Dies nur als Anmerkung für eine künftige Auflage. Es sollte nicht das Verdienst dieser bedeutenden Veröffentlichung schmälern. Emst Eichhorn Alfred Kriegeistein (Hrsg.): Jahreslauf. Brauchtum in Mittelfranken. Beiträge von Rolf Kimberger und Franz Schmolke = Mittelfränkische Heimatkunde, Band 4. München und Bad Windsheim: Delp (1986). 256 S., zahlr. Abb. Die Autoren befassen sich mit dem Brauchtum des Jahreslaufs in ganz Mittelfranken. In der hergebrachten Weise beschreiben sie eine Reihe brauchtümlicher Vorgänge, die während der Jahreszeiten von Weihnachten und Lichtmeß bis zur Kirchweih und zum Jahresausgang ausgeübt werden. Dabei berühren sie über zweihundert verschiedene Orte, Nürnberg erscheint in 60 Beiträgen. Die einzelnen Abschnitte sind mit zahlreichen Abbildungen — teils moderne Foto­ grafien, teils auch alte Stiche — versehen. Außerdem bringen sie jeweils die wichtigsten

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Literaturangaben. Ausführliche Orts- und Sachregister erleichtern die Benutzung. Das Buch ist zum Gebrauch für den Heimatkundeunterricht gedacht. Ein weiterer Band, der dem Brauchtum im Lebenslauf gewidmet ist, wird vorbereitet. Franz Schmolke vertritt in seiner Einleitung die Auffassung, daß die alten Volks­ bräuche, deren Pflege in der Vergangenheit durch die Technisierung und die veränderte Lebenshaltung der Bevölkerung zurückgegangen sei, nun eine gewisse Renaissance erleben würden. „Doch seit der Mensch begreift, daß er mit übertriebenem Fort­ schrittsdenken die Natur und damit sich selbst zerstört, gewinnt auch das volkstüm­ liche Brauchtum wieder etwas von seiner Sinnhaftigkeit zurück.“ Diese Grundhaltung durchdringt das ganze Werk. Walter Lehnert Gerhard Rechter: Die Seckendorff. Quellen und Studien zur Genealogie und Besitzgeschichte. Band 1: Stammfamilie mit den Linien Jochsberg und Rinhofen (= Veröffentlichungen der Gesellschaft für fränkische Geschichte, Reihe IX, Bd. 36). Degener, Neustadt a. d. Aisch 1987. 55 und 568 S., 11 Beilagen (Stammtafeln und Kar­ tenskizzen). DM 68,—. Die Geschichte der Seckendorff, des köpf- und besitzstärksten Niederadelsge­ schlechtes Frankens, ist bislang nur höchst ungenügend erforscht. Gerhard Rechter, nicht nur durch seine voluminöse Dissertation — „Das Land zwischen Aisch und Rezat. Die Kommende Virnsberg Deutschen Ordens und die Rittergüter im oberen Zenngrund“ (1981) — als vorzüglicher Kenner der Materie ausgewiesen, hat jetzt den ersten Band seiner „Quellen und Studien zur Genealogie und Besitzgeschichte“ dieses aus der burggräflichen Ministerialität in die Reichsritterschaft aufgestiegenen und noch heute in drei Linien blühenden Geschlechts vorgelegt. Rechters Ansatz, Genealogie und Besitzgeschichte gleichermaßen aufzuarbeiten und damit der Forschung reiches sozial- und wirtschaftsgeschichtliches Material zur Verfü­ gung zu stellen, führt zwangsläufig dazu, daß dieser erste Band auf rund 600 Seiten neben der sogenannten Stammfamilie nur noch die Linien Jochsberg und Rinhofen I bis III bietet. Der zweite Band wird dann die Linien Nold, Egersdorf, Hoheneck und Pfaff bringen. Diese acht Linien rechnet Rechter nach der geographischen Lage ihrer Haupt­ sitze bzw. Besitzschwerpunkte zum Hohenecker Ast des Geschlechts. Die fünf Linien des Zenngründer Asts (Aberdar, Hörauf, Gutend, Abenberg, Obersteinbach) sollen folgen. Der Untersuchungszeitraum ist auf das Alte Reich beschränkt. Kernstück des Bandes sind die rund 450 Seiten umfassenden „Materialien“: die Stammliste der genannten Linien, die Zusammenstellung der Besitzungen nach Orten und die Detailuntersuchung des Rittergutes und nachmaligen Vogteiamtes Jochsberg, die u. a. die Grundholden, Hausgenossen und Schutzverwandten nach Orten auf­ schlüsselt und die Sozialstruktur des Untertanenverbandes erkennen läßt. Mit aller archivarischen Akribie hat Rechter diese Materialien aus den Familienar­ chiven der Seckendorff in Obernzenn, Unternzenn und Sugenheim erarbeitet und natürlich aus den Archiven der fränkischen Territorialherren (vorzüglich der Zollern), die in den Staatsarchiven zu Bamberg, Nürnberg und Würzburg verwahrt werden. Ergänzt — und für den Nichtfachmann eigentlich erst vernünftig benutzbar gemacht — werden diese imposanten Materialmassen durch die 55seitige Einleitung, in der Rechter neben den obligaten Anmerkungen zur Literatur- und Quellenlage Spezialprobleme

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aufgreift (Herkunft und Genealogie, Beinamen), wertvolle Notizen zur Besitzge­ schichte überhaupt und zu der des Rittergutes Jochsberg bringt, in dessen Besitz Burk­ hard von Seckendorff wohl kurz vor 1334 gekommen war und das ihm als Ausgangs­ punkt für weitere Erwerbungen diente: Schließlich erstreckten sich seine Besitzungen vom Hochstift Bamberg bis an die Grenzen Altbayerns. Zur Burg Jochsberg (1807 abgerissen) und deren Zugehörungen druckt Rechter auch Grundrisse und Ansichten ab, desgleichen ein Inventarium von 1657. Wenn Rechter sich in der Einleitung trotz seiner intimen Kenntnis der Geschichte der Seckendorff äußerst knapp faßt, so einerseits wegen der noch nicht abgeschlossenen Materialaufarbeitung (erst vier von dreizehn Linien liegen jetzt vor), andererseits wegen des Forschungsstandes überhaupt: Rechter will mit seinen „Quellen und Studien“ erst die „Grundlagen für eine künftig noch zu schreibende Familiengeschichte“ vorlegen. Hervorragend erschlossen ist der Band durch eine Reihe von Registern (Personen, Orte, topographische Namen), durch beigelegte Stammtafeln und Kartenskizzen über den Besitz der einzelnen Linien. Uwe Müller P. Alfons Sprinkart: Kanzlei, Rat und Urkundenwesen der Pfalzgrafen bei Rhein und Herzoge von Bayern von 1294—1314 (1317). Forschungen zum Regierungs­ system Rudolfs I. und Ludwigs IV., Böhlau Verlag Köln-Wien 1986, VII und 693 S. (Forschungen zur Kaiser- und Papstgeschichte des Mittelalters, Beihefte zu J. F. Böhmer, Regesta Imperii, Bd. 4). Ln. DM 198,—. Der im Rahmen des von Professor Hans Rail in München geleiteten Forschungspro­ jekts über Urkundenwesen, Kanzlei und Rat der Wittelsbacher Pfalzgrafen bei Rhein und Herzoge in Bayern entstandenen Dissertationen liegen 1856 teils in originaler teils in kopialer Überlieferung erhaltene Urkunden sowie eine Reihe von „Akten, Chro­ niken, Annalen, Viten (Biographien) und Geschichtsdarstellungen“ (S. 597) zugrunde, die vom Verfasser ermittelt und ausgewertet wurden. Die Arbeit schließt unmittelbar an die Untersuchung von Siegfried Hofmann über „Urkundenwesen, Kanzlei, Rat und Regierungssystem der Herzoge von Bayern und Pfalzgrafen bei Rhein von 1180 bzw. 1214 bis 1255 bzw. 1294“, Kallmünz 1967, an und mündet konsequent ein in Helmut Bansas „Studien zur Kanzlei Ludwigs des Bayern vom Tag der Wahl bis zur Rückkehr nach Italien (1314-1329), Kallmünz 1968. Auf die 45 Seiten umfassende Einführung, bestehend aus der Beschreibung der Regierungszeit der beiden Herzoge Rudolfs I. und Ludwigs IV. und deren ausführlicher Genealogie und Lebensgeschichte, folgt die Untersuchung über die personelle Zusammensetzung der Kanzlei im Land zu Bayern mit Sitz in München, die auch für die Pfalz am Rhein zuständig war (S. 108). Danach unterstanden im untersuchten Zeitraum fünf Protonotaren 15 durch Schriftvergleich ermittelte Notare bzw. Mundatoren. Außerdem lassen sich sieben namentlich bekannte Notare nachweisen (S. 104). In dieser für die Zeit gut ausgebauten orstfesten Kanzlei in München wurden 30 Prozent der erhaltenen Urkunden geschrieben, während die übrigen 70 Prozent von einer fahrenden Kanzlei, die die Herzoge begleitete, ausgefertigt wurden (S. 108). Kapitel 3 der Arbeit befaßt sich ausführlich mit der Zusammensetzung des herzog­ lichen Rates (S. 120—146) und dessen Tätigkeit (S. 149—155). Der Personenkreis, der zusammen mit dem Protonotar das Ratsgremium bildete, entstammte in der Haupt-

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sache den Adels- und Ministerialenfamilien aus dem gesamten wittelsbachischen Herr­ schaftsbereich. Bezüglich der Ratsverfassung stellt Sprinkart fest, daß der Rat im Herzogtum Bayern im Gegensatz zur Rheinpfalz eine feste Einrichtung war, dessen Mitglieder bei recht­ lichen Entscheidungen und zu Aufgaben der Landesverwaltung regelmäßig herange­ zogen wurden (S. 156). Während die Inhaber der Hofämter (S. 158—192) keinen erkennbaren Einfluß auf die politischen Entscheidungen der Herzoge ausübten, nahmen die Viztume als Inhaber der Äußeren Ämter eine wichtige Stellung innerhalb der herzoglichen Regierung ein, und gehörten auch häufig gleichzeitig dem Rat an (S. 240). Unter ihnen ist an dieser Stelle Herdegen von Gründlach als Vertreter eines in der unmittelbaren Nähe Nürn­ bergs (Großgründlach) ansässigen Reichsministerialengeschlechts zu nennen, der das Amt des Viztums am Rhein bekleidete (S. 223—226). Möglicherweise war er mit dem gleichnamigen, 1302—1303 nachgewiesenen Landrichter zu Nürnberg identisch. Auch das Amt des „Viztums im Land zu Bayern“ mit Sitz in Burglengenfeld wurde mit einem Reichsministerialen aus dem Nürnberger Einzugsbereich, nämlich Ulrich Schenk von Reicheneck (Reicheneck, Gemeinde 8561 Happurg) versehen (S. 219 f.). Die Teile des Buches, in denen das Urkundenwesen, also die Urkundenüberlieferung einschließlich der Fälschungen (S. 279—285), die inneren und äußeren Merkmale der Urkunden einschließlich der Siegel (S. 286—399) und der Beurkundungsgang (S. 400—417) behandelt werden, schließen sich als sog. „Exkurse“ an die eigentliche Darstellung an und sind somit leider von den Kapiteln über die Kanzlei getrennt. In sechs weiteren „Beilagen“ sind die urkundlichen und erzählenden Quellen, die für die Untersuchung herangezogen wurden, zusammengefaßt (421—616). Unter den Empfängern und Ausstellern der Urkunden, deren Regesten auf S. 422—586 zusam­ mengestellt sind, befinden sich u. a. Rat und Bürgerschaft der Stadt Nürnberg (UU 283, 1611), der Landrichter zu Nürnberg Herdegen von Gründlach (UU 556, 558, 592), die Nürnberger Bürger Chr. und Her. Eichstetter (U 169), das Egidienkloster (Ul) und das Deutschordenshaus (UU 190, 340) in Nürnberg. Als Ausstellungsort erscheint Nürnberg sogar in 57 Fällen. Christoph Frhr. v. Brandenstein Josef A. Weiss: Die Integration der Gemeinden in den modernen bayerischen Staat. Zur Entstehung der kommunalen Selbstverwaltung in Bayern (1799—1818) (= Studien zur bayerischen Verfassungs- und Sozialgeschichte, Bd. XI). München 1986. XXX und 268 S. DM 60,-. Integration der bayerischen Gemeinden (d. h. Städte, Märkte und Dörfer) seit dem Regierungsantritt Max Josephs bedeutete für Montgelas Reformpolitik in Altbayern wirksame staatliche Aufsicht über die Vermögensverwaltung und Trennung von Justiz und Verwaltung, nachdem der unzureichende Zustand der kommunalen Selbstverwal­ tung allgemein bekannt war und nachdem die inkonsequente Innenpolitik Karl Theo­ dors unter anderem wegen Kompetenzfragen gescheitert war. In den ehemaligen Bi­ schofs- und Reichsstädten Frankens und Schwabens lag dagegen eine vollkommen andere politische und ökonomische Problematik zugrunde. In aller Deutlichkeit war 1803 davon die Rede, die Reichsstädte „als friedensschlußmässiges Surrogat zu nuzbaren Besizzungen für das Höchste Kurhaus Baiern und zu integrierenden gleichartigen

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Teilen der Kurbaierischen Staaten“ zu machen; die allgemeine Rationalisierung der Verwaltung und die Einsetzung von Stadtkommissären in den größeren Städten sollte letztlich dem Hauptzweck der Mediatisierung dienen, „aus den Städten den höchst möglichen Gewinn für den Landesherrn zu erzielen“ (Originalzitate S. 48 f.). Der Verfasser dieser Münchner Dissertation aus der Schule von Prof. Eberhard Weis verfolgt minutiös die einzelnen Stadien der bayerischen Gemeindepolitik, die, zunächst von einem überzogenen bürokratisch zentralistischen Anspruch geleitet, nur auf relativ geringen Widerstand stieß und mit der Gemeindeverfassung von 1808 die gewünschte staatliche Kontrolle voll durchsetzen konnte. Nach der Konstitution vom 1. Mai 1808 erlassen, wurde mit den beiden Gemeindeedikten die Eingliederung der untersten staat­ lichen Ebene in den staatlichen Verwaltungsorganismus vollzogen, wobei Justiz, Polizei und Vermögensverwaltung wie auch später die drei Kernpunkte dieser Neuord­ nung darstellten. Allerdings bahnte sich unmittelbar danach ein Wandel mit dem Ziel der Revision der Gemeindeverfassung von 1808 an, da die zentralen Stellen überfordert waren, die Kompetenzen der Mittelbehörden nicht eindeutig geregelt waren und sich besonders in Nürnberg heftiger und radikaler Widerstand geregt hatte, während Mün­ chen und Augsburg in stiller Opposition verharrten. Besonders wegen der mangelnden Identifikation des Bürgertums und dessen Benachteiligung gegenüber dem Adel seit Erlaß des Edikts über die grundherrliche Gerichtsbarkeit von 1812 schien eine Revision notwendig. Sehr ausführlich spürte der Autor den kollegialischen Beratungen über ein­ zelne Sachfragen im Innenministerium, im Ausschuß und im Plenum des Staatsrats nach, wobei schließlich auch Montgelas aus pragmatischen und nicht staatstheoreti­ schen Erwägungen heraus für die Rückgabe beschränkter Gerichtsbarkeit und der Ver­ mögensverwaltung an Städte und Märkte plädierte. Trotz mancher frühliberaler Argu­ mentationsansätze, bei denen die französische Einwohnergemeinde wie auch das preu­ ßische Modell nicht als Vorbild dienten, blieb das monarchische Prinzip unangetastet, eine Teilhabe an der Regierungsgewalt nicht einmal der durch einen hohen Zensus defi­ nierten Staatsbürger blieb außer Betracht. Abschließend urteilt der Verfasser dieser fundierten und facettenreichen Unter­ suchung, die „gesellschaftspolitische Wirkung“ der Gemeindegesetzregelung von 1818 sei angesichts der tatsächlichen Ergebnisse, letztlich nur Wiederherstellung der magi­ stratischen Verfassungen für Städte und Märkte, höher einzuschätzen. Peter Fleischmann

Max Liedtke: Wie alt ist der Bayerische Lehrer- und Lehrerinnen verein? Die Vor­ geschichte des BLLV im Anschluß an die Protokollbücher des Nürnberger Lehrer­ vereins 1821 — 1830, in: Bayerische Schule. Zeitschrift des BLLV, München 1987, Heft 16 (S. 9-14) und 17 (S. 8-10). Die Titelfrage führt auf ein Nebengleis. Wäre nicht mehr aus den Protokollbüchern des Nürnberger Lehrervereins zu eruieren gewesen, als daß der erste landesweite Leh­ rerverein schon 1823 von Nürnberg aus ins Leben gerufen wurde, wäre die Neuigkeit — offiziell gilt bisher 1861 als Gründungsjahr — allenfalls von vereinsinternem Interesse. Liedtkes akribische Textanalyse fördert jedoch Details zu Tage, die über das engere Thema hinaus ein durchaus politisches Licht auf die Lehrerrolle in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts werfen.

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Auffällig ist zunächst der dreifache Anlauf zur Schaffung eines Landesverbandes: 1823, 1848 und 1861. Der erste Versuch, den zwei Jahre vorher gegründeten Nürn­ berger Lokalverein auf eine breitere regionale Basis zu stellen, stieß, wie der Autor anschaulich darlegt, auf sehr zeittypische Probleme: Nicht nur an Zeit und Geld fehlte es den Landlehrern, um ihrem Verein durch Mitgliederversammlungen feste Kontakte, sicheren Informationsfluß und damit Stärke zu verleihen; auch der Mangel an heute selbstverständlicher Infrastruktur beschränkte die Binnnenkontakte des Vereins auf die Vereins-Zeitschrift, die freilich nicht einmal regelmäßig jedes Jahr erscheinen konnte. Die nur „literarische Organisationsform“ an Stelle persönlicher Kontakte und Vertre­ tung durch Versammlung verdeutlicht die Schwierigkeit, vor dem Bau der Eisenbahn überlokale Vereine überhaupt funktionsfähig zu machen. Der Zweck dieses ersten bayerischen Lehrervereins war weitab jeder politischen Ziel­ setzung formuliert: Es sollte lediglich um „Fortbildung, Vervollkommnung der Mit­ glieder für ihren Beruf gehen.“ Dennoch erschienen die schwer zu kontrollierenden Kontakte der beamteten Unter­ tanen der Obrigkeit suspekt. So endete denn dieser erste Verein 1832 mit einem Verbot des Königs, das dieses Mißtrauen gegen die Lehrer offen bekundet: „Neben diesen (staatlichen) Fortbildungsanstalten noch besondere Schullehrervereine einzuführen oder zu gestatten, kann man weder angemessen noch zulässig erachten, da den kgl. Bezirksschul- oder den bezeichneten Lokal-Inspektoren nicht zugemutet werden kann, ihre stete Aufsicht und Anwesenheit, ohne welche sie ohnehin nicht bestehen dürften, solchen Verbindungen und Versammlungen zu widmen.“ Kürzer gesagt: Ohne Kon­ trolle darf nichts bestehen, und ein Verbot ist noch allemal die beste Kontrolle! Das politische Verbot forderte die politisch motivierte Wiedergründung heraus. Wieder war es der 1842 neu formierte Nürnberger Verein, von dem im Revolutionsjahr 1848 der Aufruf zum Zusammenschluß zumindest der nordbayerischen Volksschul­ lehrer ausging. Jetzt wollte man nicht mehr nur Fortbildung; gezielte berufsständische Interessenvertretung stand auf dem Programm. Schon zwei Jahre später, im Sommer 1850, war der Verein wieder verboten. Dem Verbot jedoch gingen recht plumpe Dro­ hungen voraus: Schon im Februar 1849, kaum daß die revolutionsbedrohte Monarchie wieder die Oberhand gewonnen hatte, wurden alle Lehrer unter Entlassungsdrohung davor gewarnt, „extreme politische Ansichten“ zu vertreten. Beispiele zeigen, daß die Drohung keine leere war. Willfährigkeit, wie sie aller Orten gezeigt wurde, nutzte den Lehrern freilich wenig: Auf Zeichen der Nachgiebigkeit folgte das Verbot. Die präven­ tive Disziplinierung machte seine Durchsetzung eher leichter. Erst im dritten Anlauf wurde 1861 in Regensburg ein Bayerischer Lehrerverein gegründet, der dauerhaften Bestand hatte und direkt auf den heutigen BLLV hinführt, dessen Geschichte jedoch - so Liedtkes Kernsatz — schon 1823 beginnt. Der prozessuale Forschungsbericht, den der Nürnberger Pädagogikprofessor und engagierte Initiator des Schulmuseums hier vorlegt, zeigt die Erkenntnismöglichkeiten einer Aktenarbeit, die aus verstreuten Protokollnotizen größere Zusammenhänge zu rekonstruieren versucht. Ob eine darüber hinausgehende Edition der gesamten Proto­ kollbücher jedoch allzu ergiebig wäre, bleibt nach den vorliegenden Resultaten fraglich. Liedtkes Bericht aus den Kellern des Lehrerheims enthält freilich, am Rande der Wis­ senschaft, auch zwei praktische Konsequenzen: Der BLLV kann guten Gewissens schon 1998 sein 175. Gründungsjubiläum feiern; und die Stadt Nürnberg erhält die

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Bestätigung als vorbildliche Schulstadt mit einer aktiven, über den eigenen Lokalhori­ zont hinausdenkenden Lehrerschaft. Dieter Rossmeissl Herbert Li edel, Helmut Dollhopf: Endstation — Auf den Spuren stillgelegter Eisenbahnstrecken. Nürnberg: Carl 1987. 144 S. DM 59,—. Daß dieser von zwei namhaften Nürnberger Fotografen herausgegebene großforma­ tige Band mehr sein will als ein opulentes Bilder-Buch zum Schauvergnügen, macht schon die gedanklich anspruchsvolle Eingangsbetrachtung über die „angehaltene Zeit“ deutlich. Die Bildautoren, die bereits durch andere Buchveröffentlichungen hervorge­ treten sind (über den Ludwigskanal, alte Mühlen, die Pegnitz und den Nürnberger Johannisfriedhof), wollen die von ihnen festgehaltenen Motive als „Sinnbilder für die wechselhaften Beziehungen von Mensch und Technik, Metaphern der Zeit, melancholi­ sche Reflexion der Vergänglichkeit aller Dinge“ verstanden wissen (S. 7). Ihre in matten Farben gedruckten Fotos von überwachsenen und verrosteten Schienensträngen, von Innen- und Außenansichten verlassener, funktionslos in der Landschaft herum­ stehender Bahngebäude, von abgestellten Dampfloks vor und bei ihrer Verschrottung sind hervorragend fotografiert und äußerst stimmungsreich. Typische Bildunter­ schriften lauten: „Treffpunkt der Melancholie und Einsamkeit“ oder „Den Anschluß verloren“. Was Fotos von vergammelten Bahnanlagen im Stadtgebiet von West-Berlin in dem offenkundig dem Thema Nebenbahn gewidmeten Buch zu tun haben, ist (mir) nicht verständlich. Den Fotos von Liedel-Dollhopf vorangestellt sind zahlreiche histo­ rische Bilder von Entstehung und Betrieb der Nebenbahnen in der „guten alten Zeit“, darunter viele von mittelfränkischen Strecken (u. a. vom „Hopfenexpreß“ Georgensgmünd-Spalt und von der „Seku“ Erlangen-Eschenau). Kennern der Materie werden einige Ungereimtheiten bei der Auswahl der historischen Fotos und textliche Unschärfen bzw. Fehler auffallen. Von Nürnberger Autoren stammen auch die Text­ kapitel. Jürgen Franzke steuert eigene Gedanken und anekdotische Erzählungen von Zeitgenossen zur Lokalbahn bei. Hermann Glaser unternimmt in seinem Essay eine „literarische Reise mit der Bimmelbahn“ und versammelt, von ihm aphoristisch kom­ mentiert, 5 Textauszüge als Beispiele literarischer Verarbeitung des Themas Nebenbahn (u. a. von Robert Walser, Kurt Tucholsky, Ödön von Horvath). Kurt Endres gibt Informationen und Denkanstöße zur volkswirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Problematik von Streckenstillegungen. „Mit dem Abbau der technischen Anlagen ver­ schwindet auch ein Stück Heimat, ein Stück Vertrautsein, ein Stück Lebensqualität“ (S. 122). Schließlich enthält der Band noch zwei journalistische Feuilletons von Walter Gallasch und Klaus Schamberger (das letztere in seinem verkrampften Humor wäre gut entbehrlich). Wer zur volkswirtschaftlich fragwürdigen Entwicklung, daß vorhandene Verkehrswege veröden und für ein hochgradig umweltschädigendes Verkehrsmittel laufend neue Wege gebaut werden, Sachinformation und Dokumentation erwartet, kommt kaum auf seine Kosten (Ausnahme: der Beitrag von Endres). Stattdessen bietet der Band in Bild und Text einen bunten Reigen von Stimmungen, Emotionen, Assozia­ tionen. Auch sie können zum Nachdenken anregen - da viele Nebenbahnen bereits unwiderruflich „gestorben“ sind: zum Nach-Denken und Spuren-Suchen. Robert Fritzsch

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Geschichte Bayerns im Industriezeitalter in Texten und Bildern, in Zusammenarbeit mit Thomas Engelhardt, Cornelia Foerster, Norbert Götz, Beate Kohnert, Ursula Kubach- Reutter, Gabriele Lottes, Jürgen Sandweg, Gerd Walther hrsg. von Bernward Deneke. Konrad Theiss Verlag, Stuttgart 1987, 276 S. mit 52 Abb. DM 24,80. Zwei Jahre nach dem Ende der im Germanischen Nationaismuseum veranstalteten Ausstellung „Leben und Arbeiten im Industriezeitalter“ ist eine Art historisches Lese­ buch zum selben Thema erschienen, das sich primär an den „interessierten Laien“ wendet. Als Ergänzung zum Ausstellungskatalog von 1985, der eine große Zahl von historischen Gegenständen und Bildquellen erschloß, steht in der vorliegenden Publi­ kation die schriftliche Quelle im Mittelpunkt, „die so oft die einstige Wirklichkeit diffe­ renzierter, facettenreicher, jedenfalls immer im gesicherten zeitlichen Bezugsrahmen vorstellt, der bei Dingen und Bildern oft genug nur im Ungefähren überliefert und bestimmbar ist“ (B. Deneke). Um es gleich vorwegzunehmen: Diese Ergänzungsfunk­ tion erfüllt das Buch vollauf. Dazu trägt vor allem bei, daß die Bearbeiter keinesfalls nur die bei der Ausstellungsvorbereitung gefüllten Zettelkästen geleert und Fußnoten ledig­ lich ausführlicher wiedergegeben haben. Das Buch geht vielmehr auch auf Bereiche ein, die in der Ausstellung nicht berücksichtigt worden waren, etwa auf die Entwicklung in der Landwirtschaft und im Handwerk. Die Publikation ist thematisch in neun Kapitel gegliedert. Das erste handelt von der Rolle des Staates im Industrialisierungsprozeß. Die beiden folgenden gehen auf Bevöl­ kerungsmobilität und Verstädterung ein. Die Arbeit in der Fabrik sowie die Entwick­ lung in der Landwirtschaft und im Handwerk bilden weitere thematische Schwer­ punkte. Die abschließenden Kapitel beschäftigen sich mit der Arbeiterbewegung, der Rolle der Frau in der Industriegesellschaft und dem Alltagsleben. Bei den Texten zu diesen Themen handelt es sich zumeist um Auszüge aus Gesetzen und Verordnungen, um Verwaltungsvorschriften, Statistiken, wissenschaftliche Erhe­ bungen oder Zeitschriftenartikel. Die Auswahl der ausführlichen Zitate ist überzeu­ gend. Der Fleiß der Rechercheure hat zudem viele wenig oder gar nicht bekannte Dokumente zutage gefördert. Die Lektüre der zahlreichen amtlichen Verlautbarungen, vor allem der Gesetzestexte, Fabrik- und Hausordnungen wirkt freilich des öfteren ermüdend. Bedenklicher als dies ist jedoch, daß das Buch damit allzu bereitwillig eine Sicht der sozialen Realität einnimmt, wie sie Politikern, Funktionären, Beamten oder distanzierten wissenschaftlichen Betrachtern entsprach. Der arbeitende, leidende, feiernde Mensch selbst, über den so viel geredet wird, kommt kaum zu Wort. Dabei war der „kleine Mann“ durchaus nicht völlig stumm: In Eingaben, Anträgen und Beschwerden an die Behörden hat er beispielsweise auf die durch die Industrialisierung veränderten Lebensumstände reagiert. Da jedoch entsprechende Archivalien kaum erschlossen wurden, bleibt die vorherrschende Perspektive die “von oben“. Dies gilt auch für die zeitgenössischen wissenschaftlichen Analysen, die, so zutreffend sie im ein­ zelnen auch sein mögen, eine blutleere, akademische Note in das „Lesebuch“ bringen. Dieser Eindruck wird durch die nachlässige graphische Gestaltung noch verstärkt. Bei der großen Zahl und der inhaltlichen Verschiedenartigkeit der Texte hätte das Lay-Out dem Leser manche Orientierungshilfe bieten können und müssen. So aber ist ein „Lesebuch“ entstanden, dessen Materialien äußerst nützlich sind, das aber kaum zum lustvollen Schmökern einlädt. Franz Sonnenberger

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Jahrbuch für fränkische Landesforschung, Bd. 47, hrsg. v. Zentralinstitut für fränki­ sche Landeskunde und allgemeine Regionalforschung an der Universität ErlangenNürnberg, Schiftleitung: Alfred Wendehorst. Kommissionsverlag Degener, Neu­ stadt/Aisch 1987, 224 S. und 64 Abb. DM 56,-. Von den neun Beiträgen im letztjährigen Jahrbuch für fränkische Landesforschung sind im Rahmen dieser Zeitschrift insbesondere drei hervorzuheben. Aufgrund eines wegfallenden oder kaum vorhandenen Bezugs zu Nürnberg sollen die übrigen nur voll­ ständigkeitshalber erwähnt werden: Erwin Riedenauer untersucht im Zusammenhang der Bearbeitung des Altlandkreises Gerolzhofen für den Historischen Atlas von Bayern Wüstungen zwischen Main und Steigerwald (S. 1—34), die Altararchitektur im Hoch­ stift Würzburg des 18. Jahrhunderts wird von Erich Hubala vor allem anhand dreier signifikanter Fälle (Hochaltäre der Pfarrkirche von Stadt-Schwarzach, der ehemaligen Kartause von Astheim und der Stadtkirche St. Bartholomäus in Volkach) kunsthisto­ risch analysiert (S. 83 — 104), und Rainer Braun schildert Motive und Hintergründe von Garnisonsbewerbungen in Franken in der Zeit des Königreichs Bayern (S. 105—150). Gerade in diesem Beitrag wird natürlich auch Nürnberg berücksichtigt, war doch die alte Reichsstadt an der Pegnitz seit ihrer Okkupation im Jahre 1806 bayerische Garni­ sonsstadt. Neben diesen umfangreichen Untersuchungen beschäftigen sich Hans Jakob mit den Orts- und Personennamen Vogast und Wogastisburc (S. 191 — 197), Heinz F. Friedrichs mit der lokalen und personellen Identifizierung von Walthers Minnelied „Under der linden“ (S. 199—201) und Alfred Wendehorst mit dem Architekturensemble und Patro­ zinium Ara Coeli in Würzburg und Rom (S. 203—211). Einen lockeren Bezug zu Nürnberg bietet die Arbeit von Edgar Baumgartl „Im Hause des Kommerzienrates“, Schloß Ratibor in Roth um die Jahrhundertwende (S. 151 — 189). Er beschreibt detailreich die vom Repräsentationswillen des „Industrie­ barons“ Wilhelm (von) Stieber umgestalteten Räumlichkeiten des ehemaligen ansbachischen Jagdschlosses. Im Auftrag Stiebers haben ausnahmslos Nürnberger und Mün­ chener Firmen und Künstler gearbeitet (so die Lehrer an der Nürnberger Kunst­ gewerbeschule Friedrich Wanderer, Georg Leistner und Conradin Walther). Einen großen Beitrag zur Wand Vertäfelung, die Conradin Walther als Mischung aus gotischen und Renaissanceformen im Nürnberger Stil gestaltete, lieferte die Nürnberger Möbel­ fabrik Johann Adam Eysser, 1845 in Bayreuth gegründet und nach der Bayerischen Landesausstellung 1882 mit einer Filiale im Pellerhaus beheimatet. Ebenfalls stark auf Nürnberg ausgerichtet ist der Beitrag von Fritz Zink, Die benenn­ bare Fernblick-Landschaft (S. 213—224). Er geht „dem Fernblick mit benennbarem Motiv“ (S. 214) in der Landschaftsmalerei des Barock und des 19. Jahrhunderts nach. Ausgangspunkt hierfür ist Dürers Wiedergabe der Berghänge des Hetzles nördlich von Kalchreuth. Niederländische Flachlandschaften, Fernblick-Landschaften der Schweiz und der Donauebene bei Wien führen ihn hin zu Städteansichten des 19. Jahrhunderts. Hier steht die fränkische Metropole Nürnberg im Mittelpunkt (Werke von Philipp Heinrich Dunker, Caspar Burckhardt, Theodor Rothbarth, Friedrich Mayer und Friedrich Eibner). Auch der zentrale Beitrag dieses Jahrbuches von Reinhard Seyboth über Markgraf Georg von Ansbach-Kulmbach und die Reichspolitik (S. 35 — 81) tangiert ein wichtiges

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Kapitel der Nürnberger Reichsstadtgeschichte. Seyboth verfolgt kenntnisreich die Politik „seines“ Markgrafen von dessen Zeit am ungarischen Königshof und dessen Einsatz in der Territorialpolitik Schlesiens bis zum Tode als regierender Markgraf in Ansbach. In diese Ara fällt die Übernahme des lutherischen Glaubensbekenntnisses in den fränkischen Markgraftümern, angespornt vom Konfessionswechsel Albrechts von Brandenburg, der ein Bruder Georgs und der letzte Deutschordenshochmeister in Preußen war. Hierzu eine Anmerkung des Deutschordenshistorikers: Das Deutsch­ ordensland Preußen war zu keiner Zeit — wie Seyboth S. 49 bemerkt — Teil des Hei­ ligen Römischen Reichs, die preußische Königskrone der Brandenburger Kurfürsten lag außerhalb des Reichs, erst im Zweiten Kaiserreich nach 1871 zählte Preußen zum Reichsverband. Die Ara des Markgrafen Georg war eine der wenigen Zeiten, in denen die Hohenzollern mit ihrer hartnäckigen Feindin Nürnberg gemeinsame Politik machten, und gerade diese wird von Seyboth schön herausgearbeitet. Nicht in territo­ rialen Fragen, sondern in Fragen der Religions- und Reichspolitik fanden Markgraf Georg und die benachbarte Reichsstadt zusammen. Fulminantes religionspolitisches Ergebnis war die Nürnberg- Brandenburgische Kirchenordnung des Jahres 1533, Aus­ druck der gemeinsamen Reichspolitik das Fernbleiben vom antikatholischen Kampf­ bündnis von Schmalkalden und ein geschicktes Lavieren zwischen lutherischen Glau­ bensgenossen und dem habsburgischen Reichsoberhaupt. Michael Diefenhacher Manfred B alb ach, Nürnberg — Unvergängliche Altstadt. Ein Spaziergang in Wort und Bild, Bilddokumentation der Fotoausstellung „Nürnberg sollte sterben“ erweitert um „Worte und Bekenntnisse von 1219 bis 1987“. Josef Keller Verlags-KG Starnberg 1988. 240 S. DM 48,-. Als dem für den Wiederaufbau der zerstörten Nürnberger Altstadt zuständigen Bau­ referenten Dr. Heinz Schmeißner der Wolfram-von-Eschenbach-Kulturpreis des Bezirks Mittelfranken verliehen wurde, entstand eine Fotodokumentation der alten, der zerstörten und der wiederaufgebauten Stadt. Sie bildete den Kern einer 1982 erstmals gezeigten Fotoausstellung mit dem Titel „Nürnberg sollte sterben“. Zusammen mit dem Plan, die Fotoausstellung zu einer pädagogischen Wanderschau für Nürnbergs Schulen umzugestalten, entstand der vorliegende Band. Er zeigt in vier Teilen ein­ drucksvolle Bilder des alten Nürnberg (Fotografien der Jahre 1909 bis 1942), ergänzt durch Aufnahmen verbarrikadierter kunsthistorisch wertvoller Bauteile während des 2. Weltkriegs und Einblicke in das Kunstsammelsurium des Bunkers Obere Schmied­ gasse 52, ferner Fotos des zerstörten Nürnberg und Aufnahmen der wiederaufgebauten Stadt. In einem vierten Teil werden Pläne des Altstadtwettbewerbs von 1948 sowie der Grundplan der Altstadt vom 1. Dezember 1957 geboten. Die zahllosen Fotgrafien sind kurz erläutert und werden von Stimmen über die Stadt Nürnberg — von Kaiser Friedrich II. 1219 bis zu Altoberbürgermeister Dr. Andreas Urschlechter 1987 — kommentiert. Besonders hervorstechend, voll Wehmut, Bitterkeit und Sarkasmus sind die Worte Alfred Kerrs aus dem Jahre 1945 über das zerstörte Nürnberg: „Nürnberg . . . Das war eine Stadt; und ist eine Schutthalde. Das war gemütlich-bürgerlich; und ist ein Grauen. Ein Grauen ohne Tragik; nur noch was Unangenehmes. Eine Ruppigkeit. Eine Häßlichkeit. Eine Trostlosigkeit. . . Eine Schutthalde . . . (S. 108). Würde Alfred Kerr heute anders urteilen? Michael Diefenhacher

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NEUE ARBEITEN ZUR NÜRNBERGER GESCHICHTE zusammengestellt von Walter Gebhardt Akademie der Bildenden Künste {Nürnberg): 325jähriges Jubiläum der Akademie der Bildenden Künste in Nürnberg. Ansprachen zum Festakt am 17. Juli 1987. — Nürnberg, 1987. - 47 S. Bachy Ruth: Das ehemalige Peilerhaus in Nürnberg. — Magisterarbeit Univ. ErlangenNürnberg, 1984. — 76, 45 Bl. BacigalupOy Italo: Der Gutenstettener Altar. Ein Werk der Nürnberger Meister Hanns Peheim und Veit Wirsberger. — München: Kunstbuchverl. Weber, 1987. — 181 S. — (Ars Bavarica; 45/46). Bauchy Ingrid: Der Barockbau von St. Egidien in Nürnberg. — Magisterarbeit Univ. Erlangen-Nürnberg, 1983. — 82 Bl. Bauernfeindy Walter: Witterungsereignisse und Brotgetreidepreisentwicklung in Nürn­ berg von 1423 bis 1523. — Magisterarbeit Univ. Erlangen-Nürnberg, 1987. — 97 Bl. Baury Christian: Die Kath. Pfarrkirche Unserer Lieben Frau in Nürnberg. Kurzbericht über die Restaurierung 1980—1986, in: Jahrbuch der bayerischen Denkmalpflege, Bd. 39. 1985 (1988), S. 112-118. Bernetty Hajo: Zur Grundsteinlegung vor 50 Jahren. Das „Deutsche Stadion“ in Nürn­ berg — ein Phantom nationalsozialistischen Größenwahns, in: Sozial- und Zeitge­ schichte des Sports, Jg. 1 (1987), H. 3, S. 14—40. Bornflethy Elisabeth: Kostbarkeiten aus dem Gewerbemuseum. Handwerkskunst in Glas und Email, in: LGA-Rundschau, Jg. 31 (= 95) (1987), S. 37-47. Bouhony Dieter: Die Entwicklung der Pharmazie in Nürnberg im Wandel der Jahrhun­ derte, in: Die Stadt, der Mensch, die Arbeit. — Nürnberg: Lions Club, 1987, S. 93-96. Eichner, Angela: Paul Juvenels Deckenmalereien im Kleinen Rathaussaal zu Nürnberg. - Magisterarbeit Univ. Erlangen-Nürnberg, 1984. - 97, 80 Bl. EndreSy Rudolf: Nürnberger Einflüsse auf das oberpfälzische Montangebiet, in: Die Oberpfalz, ein europäisches Eisenzentrum, Aufsatzbd., 1987, S. 285—293. EndreSy Rudolf: Das Schulwesen in Franken zur Zeit der Reformation und in der Früh­ neuzeit. Vortrag im Colloquium Historicum Wirsbergense, Bezirksgruppe Kronach, in: Geschichte am Obermain, Bd. 15 (1985/86), S. 119-129. Fabery Marion: So spielt das Leben. Die Sammlung Lydia Bayer in Nürnberg, in: Sammler-Journal, Jg. 16 (1987), S. 1340-1345. Fachakademie für Hauswirtschaft {Nürnberg): 50 Jahre Fachakademie für Hauswirt­ schaft — 99 Jahre Fachakademie für Sozialpädagogik der Stadt Nürnberg. Berichte und Dokumente zur Schulgeschichte anläßlich des Doppeljubiläums im Jahre 1988. - Nürnberg, 1988. — 154 S. Freiwillige Feuerwehr {Nürnberg-Komburg): Fahnenweihe 1987 mit Gerätehausvor­ stellung 19.—21. Juni 1987. — Nürnberg, 1987. — [ca. 160] S. Friedrichy Theo: Der Rahmenplan Landschaft der Stadt Nürnberg, in: Das Gartenamt, Jg. 37 (1988), S. 119-128. Führungskräfte der Druckindustrie und Informationsverarbeitung / Bezirk {Nürn­ berg): Chronik zum neunzigjährigen Bestehen des FDI Bezirkes Nürnberg 1897-1987. - Nürnberg, 1987, - 128 S.

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Neue Arbeiten zur Nürnberger Geschichte

Greif, Helmut: Die Nürnberger Fingerhüter. Zur Entwicklung einer mittelalterlichen Zunft und der Genealogie ihrer Familien. — Trier: WVT, 1987. — 101 S. Greven, Dorothea /.: Ein gar köstlich Backwerk. Die Geschichte der Nürnberger Leb­ kuchen, in: Charivari, Jg. 13 (1987), Nr. 9, S. 33-38. Habermann, Mechthildf?eter O. Müller: Zur Wortbildung bei Albrecht Dürer. Ein Beitrag zum Nürnberger Frühneuhochdeutschen um 1500, in: Zeitschrift für deut­ sche Philologie 106 (1987), S. H. Frühneuhochdeutsch, S. 117—137. Häußler, Helmut: Der Hans-Sachs-Brunnen in Nürnberg, in: Frankenland, Jg. 40 (1988), S. 66-68. Hamm, Berndt: Reichsstädtischer Humanismus und Reformation in Franken, in: Frankenland, Jg. 40 (1988), S. 248-259. Hingier, Rainer: Nürnberger Handwerker im Spiegel ihrer Inventare. - Zulassungsar­ beit Univ. Erlangen-Nürnberg, 1987. - 76 Bl. Hirschmann, Gerhard: Loeffelholz v. Colberg. Nürnberger Patrizier, in: Neue deut­ sche Biographie, Bd. 15, 1987, S. 29—30. Kistner, Heiko: Zur Geschichte des Buchdrucks, Buchhandels und Verlagswesens in Nürnberg im 15. und 16. Jahrhundert, in: Die Stadt, der Mensch, die Arbeit. — Nürnberg: Lions Club, 1987, S. 49—55. Kliemann, Thomas: Plastische Andachtsepitaphien in Nürnberg 1450-1520. - Ma­ gisterarbeit Univ. Erlangen-Nürnberg, 1987. — 129 Bl. Klugmann, Norbert: Gigantische Zeugen des Wahns. Ein Bericht, in: Zeitmagazin, Nr. 12, 18. März 1988, S. 14—26 [behandelt das Reichsparteitagsgelände]. Krönner, Doris: Die Ahnen der Dorothea Hettinger. Im Spiegel mannigfaltiger süd­ deutscher Quellen aus vier Jahrhunderten. — Köln: im Eigenverl., 1988 [S. 249— 252 behandeln die Nürnberger Familie Monatsberger]. Kühnlein, Hanna: Die Gundel, Endres und Förster. Metzgersippen im Nürnberger Landgebiet, in: Blätter für fränkische Familienkunde, Bd. 12 (1987), S. 461-471. Kunstmann, Hartmut H.: Die Grundlagen für die strafrechtliche Verfolgung von Zau­ berern und Hexen in der Reichsstadt Nürnberg, in: Die Stadt, der Mensch, die Arbeit. — Nürnberg: Lions Club, 1987, S. 33—40. Langer, Herbert: Friedensvorstellungen der Städtegesandten auf dem Westfälischen Friedenskongreß (1644—1648), in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, Jg. 35 (1987), S. 1060-1072 [berücksichtigt auch die Nürnberger Vertreter Jobst Chri­ stoph Kreß und Tobias Oelhafen]. Loebermann, Harald: Tradition und Evolution. Betrachtungen zur bildenden Kunst am Beispiel des Nürnberger Rathaussaales, in: Die Stadt, der Mensch, die Arbeit. — Nürnberg: Lions Club, 1987, S. 19—31. Mahner, Hanns-Helmut: Musiktheater in Nürnberg, in: Die Stadt, der Mensch, die Arbeit. — Nürnberg: Lions Club, 1987, S. 63—69. Mattick, Renate: Eine Nürnberger Übertragung der Urbanregel für den Orden der hl. Klara für die Armen Schwestern, in: Franziskanische Studien, Jg. 69 (1987), S. 173-232. Meister, Ingrid Elisabeth: Der romanische Bau von St. Sebald in Nürnberg. — Magi­ sterarbeit Univ. Erlangen-Nürnberg, 1984. — 112 Bl. Mertens, Rainer: Nürnbergs Aufbruch ins Industriezeitalter. Wirtschaftsentwicklung 1806 bis 1840. — Magisterarbeit Univ. Erlangen-Nürnberg, 1988. — III, 109 Bl.

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Neue Arbeiten zur Nürnberger Geschichte

Neumann, Hubert: Nürnberg. Ein Gang durch 900 Jahre Geschichte. - Nürnberg: DATEV, 1987. - 18 S. Nürnberg im Lied: Lieder aus 5 Jahrhunderten. Ein Beitrag zur Sozialgeschichte der Stadt. - Nürnberg: Amt für Kulturelle Freizeitgestaltung, [1987]. — [ca. 50] S. Peter Henlein und die Feinmechanik in Nürnberg, in: Alte Uhren und moderne Zeit­ messung, 2/1986, S. 80—81. Forsch, Ilona: Leben in der Südstadt. Projekt zur Stadtteilgeschichte in einem Nürn­ berger Kulturladen, in: Die andere Geschichte, 1986, S. 203—219. Rochow, Jörg von: Der Deutsche Orden und die Reichsstadt Nürnberg, in: Die Stadt, der Mensch, die Arbeit. - Nürnberg: Lions Club, 1987, S. 57—62. Rusam, Hermann: Das Jagdschlößchen Neunhof im Knoblauchsland, in: Frankenland, Jg. 40 (1988), S. 7-10. Rusam, Hermann: Schweinau. Ein ehemals bambergisches Dorf im Sog der großstädti­ schen Entwicklung Nürnbergs, in: Altnürnberger Landschaft, Jg. 36 (1987), S. 289-302. S[ank]t Sebald und seine Heiligen: 30 Jahre nach der Wiedereinweihung / Hrsg.: Bau­ hütte St. Sebald Nürnberg. — Nürnberg, 1987. — 36 S. — (Dokumentation / Bau­ hütte Sankt Sebald Nürnberg; 3). Schleif Corine: The proper attitude toward death. Windowpanes designed for the house of Canon Sixtus Tücher, in: The art bulletin, vol. 59 (1987), nr. 4, S. 587—603. Schödely Helmut: Die Unüberwindlichen. Zehn Jahre danach: Ein Besuch bei der Nürnberger Stadtzeitung „plärrer“, in: Die Zeit, Nr. 11, 11. März 1988, S. 67. Schumachery Else: Auf der Suche der Kleidung der armen Frauenauracher Bürger in Verbindung zur Münzerschen und Pfinzingschen Kleiderstiftung, in: Erlanger Bau­ steine zur fränkischen Heimatforschung, 35 (1987), S. 53—58. Sporhan-Krempely Lore /Theodor Wohnhaas: Elias Hutter in Nürnberg und seine Biblia in etlichen Sprachen, in: Archiv für Geschichte des Buchwesens, 27 (1986), S. 157-162. StanislauSy Horst: Sozialhilfe statt Almosen. Bemerkungen zur Sozialstruktur in Nürn­ berg aus kirchlicher Sicht, in: Die Stadt, der Mensch, die Arbeit. - Nürnberg: Lions Club, 1987, S. 77-83. Thiely Helmut und Richard Frank: 100 Jahre Telefon in Nürnberg-Fürth, in: Fränki­ sche Postgeschichtsblätter, Nr. 37 (1985), S. 5 — 84. Tittelbachy Alfred Georg: Aufsätze aus und über Wöhrd. — Nürnberg, 1988. — 38 Bl. Tittelbachy Alfred Georg: Wöhrd und die Wöhrder. Versuch einer Auseinandersetzung mit einem Stadtteil. — Nürnberg, 1987. — 17 Bl. Tüchery Hermann von: Die Reichsstadt Nürnberg und ihr Patriziat. Bedeutung und Einfluß im Lauf der Geschichte / Hermann Frhr. von Tücher, in: Die Stadt, der Mensch, die Arbeit. — Nürnberg: Lions Club, 1987, S. 41—48. VangeroWy Hans-Heinrich: Die Fleischversorgung Süddeutschlands im Licht der Linzer Mautrechnung von 1627 sowie anderer Archivquellen aus dem 16. und 17. Jahrhundert, in: Historisches Jahrbuch der Stadt Linz, 1986 (1987), S. 71-111 [enthält auch Nürnberger Ochsenhändler]. Wadley Elmar: Freizeichen in historischer Sicht. Zu den wirtschaftlichen Hinter­ gründen eines Rechtsbegriffs im 19. Jahrhundert, in: Zeitschrift für neuere Rechts­ geschichte, 1987, S. 1—35 [behandelt u. a. das Nürnberger Warenzeichenrecht].

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Neue Arbeiten zur Nürnberger Geschichte

Winkler, Christian: Die Geschichte der Geldwirtschaft in Nürnberg, in: Die Stadt, der Mensch, die Arbeit. — Nürnberg: Lions Club, 1987, S. 85—92. Wuttkey Dieter: Ist Gregorius Arvinianus identisch mit Publius Vigilantius ? Ein Identi­ fizierungsproblem aus dem Umkreis des Hans Baidung gen. Grien, des Pangratz Bernhaupt gen. Schwenter, der Erzgießerfamilie Vischer und des Sixtus Tücher, in: Festschrift Otto Schäfer, 1987, S. 43—77.

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JAHRESBERICHT ÜBER DAS 110. VEREINSJAHR 1987 I. Bericht des Vorsitzenden Wie gewohnt fanden im Berichtsjahr wieder acht Vorträge statt. Im einzelnen siehe dazu unter III. Zwei Studienfahrten wurden unternommen. Die erste führte am 19. Juli nach Rothenburg zur Besichtigung der Ausstellung „Reichsstädte in Franken“. Das Interesse daran war so groß, daß zwei Omnibusse benötigt wurden. Die zweite Stu­ dienfahrt ging am 4. Oktober ins Hohenloher Land. Außerdem wurden drei Ausstel­ lungen besichtigt. Besonders hervorzuheben ist die Führung durch die innen renovierte Frauenkirche durch Herrn Dr. Günther Bräutigam am 13. Juni. Wir betrauern den Tod von zehn Mitgliedern Dr. Ingomar Bog, Univ.-Professor, Marburg Dr. med. Roland Brunel-Geuder, Arzt, Heroldsberg Else Dorn, kfm. Angestellte i. R., Fürth Walter Hahn, Reg.-Amtmann i. R., Gunzenhausen Werner Holz, Architekt, Nürnberg Hans Lösel, Bauingenieur, Fürth Willy Roth, Studiendirektor i. R., Nürnberg Dr. Hans Sauter, Ltd. Oberstaatsanwalt i. R., Nürnberg Dr. Rudolf Schielein, Stadtdirektor i. R., Nürnberg Wilhelm Zeitler, Weinimporteur, Fürth Der Verein wird allen Verstorbenen ein ehrendes Gedenken bewahren. Im Berichtsjahr sind folgende Damen und Herren dem Verein neu beigetreten: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18.

Antiquariat R. Barth, Fürther Str. 89, 8500 Nürnberg 80 Günter Bergelt, Studiendirektor, Thäterstr. 4, 8500 Nürnberg 30 Friedrich Böhm, Richter, Vestner Str. 22, 8502 Zirndorf Dr. med. Erika Brunel-Geuder, Zahnärztin, Rotes Schloß, 8501 «Heroldsberg Bernhard Ebnet, Student, Obere Weiherstr. 16, 8507 Oberasbach Karl-Heinz Enderle, Gymnasiallehrer, Schnieglinger Str. 57, 8500 Nürnberg 90 Annemarie Flintsch, Galgenbühlstr. 12, 8560 Lauf Amalie Fößel MA, Studentin, St. Sebastianstr. 5, 8461 Marktrodach Ernst Fritze, Pfarrer i. R., CH-4938 Rohrbach Hermann Göppner, Vermess.-Techniker, Merseburger Str. 19, 8500 Nürnberg 20 Karl-Friedrich Haas, Ingenieur, Yorckstr. 20, 8500 Nürnberg 20 Dr. Maria-Luise Hegel, Studiendirektorin i. R., Waechterstr. 17, 8500 Nürnberg 20 Ute Heise, Realschullehrerin a. D., Philipp-Reis-Str. 84, 8510 Fürth Jörg Herold, Student, Ohlauer Str. 7, 8500 Nürnberg 50 Hans Herbert Hofmann, städt. Baudirektor, Pirckheimerstr. 18, 8500 Nürnberg 10 Annemarie Freifrau v. Imhoff, Frommannstr. 8, 8500 Nürnberg 90 Michael Kathmann, Marktleiter, Saarbrückener Str. 7, 8500 Nürnberg 50 Ilselore Kotschenreuther, Studiendirektorin, Hiltpoltsteiner Str. 48, 8500 Nürn­ berg 10

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19. 20. 21. 22. 23. 24. 25. 26. 27. 28. 29. 30. 31. 32. 33. 34. 35. 36. 37. 38. 39. 40. 41. 42. 43.

Jahresbericht 1987

Claudia Leuser, Studienrätin, Tetzeigasse 19, 8500 Nürnberg 1 Edith Luther, Kunsthistorikerin, Germersheimer Str. 50, 8500 Nürnberg 50 Franz Maierhöfer, Studiendirektor, Muggenhofer Str. 92, 8500 Nürnberg 80 Paul Meighan, Englisch-Sprachlehrer, Berliner Ring 34, 6980 Wertheim Dr. Wolfgang Mück, Studiendirektor, Oberstrahlbach 22a, 8530 Neustadt a. d. Aisch Dr. Hubertus Nerlich, Verwaltungsdirektor, Stirnerstr. 20, 8500 Nürnberg 90 Ingeborg Neuhold, Hausfrau, Josef-Simon-Str. 23, 8500 Nürnberg 50 Stefan Niedermeier, Student, Siglindenstr. 19, 8500 Nürnberg 40 Dr. Hermann Reichold, Akad. Rat, Treitschkestr. 53, 8500 Nürnberg 20 Joachim Ritter, Oberstudienrat, Sorger Weg 20, 8508 Wendelstein Reinhard Scheuerlein, Student, Würzburger Str. 66, 8510 Fürth Dr. Jeffrey Chipps Smith, Dep. of Art, The College of fine Arts. USA-Austin, Texas 78712 Christine Schneider, Fremdenführerin, Bertoldt-Brecht-Str. 52, 8500 Nürnberg 50 Oskar Schwarzer, wiss. Mitarbeiter, Schillerstr. 9, 8500 Nürnberg 10 Carolin Schultheiß, Schülerin, Moosstr. 14, 8500 Nürnberg 10 Lothar Sentek, Lehrer, Tetzeigasse 8, 8500 Nürnberg 1 Stadt Erlangen, Hauptamt, Postfach 31 60, 8520 Erlangen Anneliese Streiter, Textilrestauratorin, Memelstr. 10, 8500 Nürnberg 60 Dr. Erich Tauer, Chemiker, Stadtstieg 27 A, 3400 Göttingen Michael Taschner, Hochbautechniker, Eßlinger Str. 11, 8500 Nürnberg 70 Dr. Kurt Töpner, Bezirksheimatpfleger, Nordheimer Weg 3, 8500 Nürnberg 90 Utz W. Ulrich, Rechtsanwalt, Lorenzer Str. 22, 8500 Nürnberg 1 Dr. Knud Willenberg, Oberstudienrat, Heimstättenstr. 30, 8500 Nürnberg 10 Prof. Dr. Jörg Wollenberg, Leiter des Bildungszentrums, Kaulbachplatz 9, 8500 Nürnberg 10 Katharina Zahn, Kalchreuther Str. 110, 8500 Nürnberg 10

Alle diese neuen Mitglieder begrüßen wir sehr herzlich! Den Neuzugängen stehen 24, meist aus Altersgründen oder durch Wegzug aus Nürnberg bedingte Austritte gegenüber. Die fortgeschriebene Mitgliederzahl betrug danach zum Jahresende 1987 994. Drei Mitglieder der Vorstandschaft konnten runde Geburtstage begehen: Prof. Dr. Wolfgang Frhr. von Stromer den 65., Prof. Dr. Alfred Wendehorst und General­ direktor Prof. Dr. Gerhard Bott den 60. Geburtstag. Den drei Herren übermittelte ich Glückwünsche des Vereins, ebenso unserem langjährigen Mitglied Herrn Pfarrer im Landeskirchlichen Archiv i. R. Georg Kuhr zum 80. Geburtstag. Unser Vorstandsmitglied Dr. Erich Mulzer, Vorsitzender der Altstadtfreunde, erhielt den bayerischen Verdienstorden verliehen. An weiteren Auszeichnungen wurden mir bekannt: Das Bundesverdienstkreuz 1. Kl. erhielten Prof. Dr. Friedrich Schoberth und Prof. Dr. Gerhard Bott. Mit dem Bundesverdienstkreuz am Bande wurden ausgezeichnet Studiendirektor i. R. Hans Doleschal und Notar Dr. Gerhard

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Knöchlein; die bayerische Denkmalschutzmedaille bekamen verliehen Dr. Ernst Eich­ horn, Bezirksheimatpfleger i. R., und Baudirektor i. R. Julius Lincke. Allen Ausge­ zeichneten gilt mein herzlicher Glückwunsch! Besonders erwähnt sei, daß unser Mitglied Dr. Peter Schönlein am 8. November 1987 zum Nürnberger Oberbürgermeister gewählt wurde. Namens des Vereins übersandte ich ihm beste Wünsche. Anläßlich des 100. Todestages von Prof. Dr. Georg Karl Frommann fand am 6. Januar 1987 an seinem Grab am St. Johannisfriedhof in Nürnberg eine kleine Gedenkfeier statt. Nachdem Frommann von der Gründung unseres Vereins im Jahre 1878 bis zu seinem Tode die Bände der „Mitteilungen“ redigierte, nahm ich an dieser Feier teil und würdigte kurz seine Tätigkeit im Geschichtsverein unter Bezugnahme auf den seinerzeitigen Nachruf in den MVGN Bd. 7, 1888. Die Mitgliederversammlung fand in der gewohnten Form im Anschluß an den Vor­ trag am 5. Februar 1987 statt. Der heurige Jahresband der Mitteilungen enthält nach fünf Jahren wieder ein auf den neuesten Stand gebrachtes Mitgliederverzeichnis. Um seine Erstellung machte sich Frau Andrea Müller vom Stadtarchiv Nürnberg sehr verdient. Dankbar hervorzuheben ist, daß unser ehemaliges Mitglied, Fachlehrerin i. R. Else Scholl, das hochbetagt verstorben ist, in ihrem Testament den Verein mit einem Ver­ mächtnis bedacht hat, das uns in der Höhe von DM 5733,— ausbezahlt wurde und das der Drucklegung von Band 25 der „Nürnberger Forschungen“ zugute kommen soll. Im abgelaufenen Berichtsjahr war es möglich, zwei Publikationen herauszubringen. Im August erschien Band 24 der “Nürnberger Forschungen“ unter dem Titel „Nürn­ berg vor 125 Jahren — Die Medizinal-Topographie von 1862“. Mitglieder konnten diesen Band (103 Seiten und 10 Tafeln mit Abb.) zum Vorzugspreis erwerben. Soweit ich sehen kann, fand das Buch eine gute Resonanz. Pünktlich, wie auch in den vorhergehenden Jahren, wurde kurz vor Weihnachten Band 74 der „Mitteilungen“ (339 S.) fertiggestellt, so daß ihn die Mitglieder in der Geschäftsstelle in Empfang nehmen konnten. Der 14. Tag der deutschen Landesgeschichte fand — auch heuer wieder in Verbin­ dung mit dem Deutschen Archivtag — am 24. Oktober in Frankfurt am Main statt. Die Tagung stand unter dem Thema „Geld und Politik. Zur Finanzgeschichte der deutschen Länder“. Bei den fälligen Neuwahlen wurde meine Mitgliedschaft im Beirat des Gesamtvereins der deutschen Geschichts- und Altertumsvereine bestätigt. — Auf drin­ genden Wunsch von Herrn Prof. Dr. Bosl, dem Vorsitzenden des Verbandes der Baye­ rischen Geschichtsvereine e. V., erklärte ich mich bereit, den stellvertretenden Vorsitz zu übernehmen. Die entsprechende Wahl wurde von den Mitgliedsvereinen am 27. Juni während des Bayerischen Heimattages in Ingolstadt vollzogen. Am 26. Oktober nahm ich daraufhin an einer Vorstandssitzung in München teil. Bei zwei Vorstandssitzungen am 30. Juni im Stadtarchiv Nürnberg und am 8. Dezember im Saal des Nassauer Hauses wurde die Tätigkeit des Vereins geplant und besprochen. In beiden Sitzungen nahm die Diskussion über die im Februar 1988 fällige Neuwahl des Vorstandes ziemlichen Raum ein. Den beiden Hausherren, Ltd. Archivdirektor Dr. Ulshöfer und General a. D. Fried­ rich Jobst von Volckamer, danke ich für die gewährte gastliche Aufnahme bei diesen Sitzungen im Stadtarchiv und im Nassauer Haus.

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Zum Schluß meines Berichtes möchte ich allen Mitgliedern danken, die durch pünkt­ liche Beitragszahlung sowie noch durch Spenden unsere Vereinsarbeit finanziell unter­ stützt haben. Gedankt sei der Stadt Nürnberg, der Stadtsparkasse Nürnberg und dem Bezirk Mittelfranken für wertvolle Finanzhilfen zum Druck unserer Publikationen, die der wissenschaftlichen Erforschung der Nürnberger Stadtgeschichte dienen. Ebenso gilt mein Dank dem Bayerischen Rundfunk, Studio Nürnberg, und der Nürnberger Presse für Hinweise auf unsere Vortrags Veranstaltungen und für die Berichte über unsere Veröffentlichungen. Dr. Gerhard Hirschmann II. Bericht des Schatzmeisters Rechnungsabschluß zum 31. Dezember 1987 DM Kassenbestand am 31. Dezember 1986

DM 31.544,71

Die Einnahmen betrugen im Berichtsjahre: la)

Mitglieder- und Förderbeiträge

35.625,27

lb)

Druckkosten-Zuschüsse für Vereinsschriften (siehe unten)

15.800,—

Verkauf von Vereinsschriften an Interessenten zum Selbstkostenpreis

8.102,46

ld)

Zinsen aus Sparguthaben

1.208,07

1 e)

Vermächtnis

5.733,36

1 c)

Sonstige Einnahmen

21,10 + 66.490,26 98.034,97

Die Ausgaben betrugen im Berichtsjahre: 5.422,94

2 a)

Verwaltungsausgaben

2 b)

Drucklegung von Vereinsschriften (s. u.)

2 c)

Veranstaltungen (Führungen, Studienfahrten, Vorträge)

2 d)

Beitragszahlungen an andere Vereine

2 e)

Erwerbungen für die Vereinsbibliothek

80,50

2 f)

Sonstige Ausgaben

57,—

57.870,70 4.185,— 434,—

68.050,14 Kassenbestand am 31. Dezember 1987

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29.984,83

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angelegt auf: Girokonto 1 085 464 bei der Stadtsparkasse Nbg. Sparkonto 50-357 909 bei der Stadtsparkasse Nbg. Postgirokonto 77 71 — 851 beim Postgiroamt Nbg.

219,85 29.498,07 266,91 29.984,83

Zu 1 b)

Die Druckkostenzuschüsse setzen sich zusammen aus: Bezirk Mittelfranken Stadt Nürnberg Stadtsparkasse Nürnberg

DM 1.800,— 9.000,— 5.000,— 15.800,—

Zu 2 b)

Die Kosten für Drucklegung von Vereinspublikationen setzen sich zusammen: Mitteilungen Band 73 1.494,— Mitteilungen Band 74 38.536,51 Nürnberger Forschungen Band 24 17.840,19 57.870,70 Die Herren Volkmar Eichholz und Alfred Goppert haben den Rechnungsabschluß für das Jahr 1987 am 25. 1. 1988 anhand der Kassenbücher und der Rechnungsbelege geprüft und in Ordnung befunden. Die Mitgliederversammlung entlastete gemäß Antrag der Rechnungsprüfer am 2. Februar 1988 den bis zu diesem Datum tätigen Schatzmeister Herrn Manfred Strobl. Jürgen Winter

III. Bericht über die Veranstaltungen

13. Januar 1987 Dr. Günther Schuhmann Residenzen der fränkischen Hohenzollern

Die Territorien der fränkischen Hohenzollern bildeten die Fürstentümer BrandenburgAnsbach und Kulmbach, später Bayreuth. Seit 1415, dem Jahr der Belehnung des Burg­ grafen Friedrich VI. von Nürnberg mit der Mark Brandenburg, nannten sich ihre Regenten Markgrafen. Ohne Nürnberg hätte es die Hohenzollern in Franken nicht gegeben. Ihr Ursprung wurzelte im schwäbischen Geschlecht der Zollern, die, 1061 erstmals bezeugt, 1191 oder 1192 die Nachfolge der niederösterreichischen Grafen von Raabs als Burggrafen

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von Nürnberg antraten. Zwar erlangten die Zollern damit keine Territorialgrafschaft, wohl aber ein Reichsamt, dessen Aufgabe in der Bewachung und Verteidigung der Nürnberger Kaiserburg bestand. Indem die Burggrafen die Schwächung des Königtums während der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts für den Ausbau ihrer Hausmacht aus­ nutzten, konnten sie durch kluge Erwerbspolitik im Verlauf des 14. Jahrhunderts eigene, wenngleich sehr zersplitterte Territorien aufbauen. Schließlich wurden mit dem Kauf von Ansbach im Jahre 1331, das die Zollern von den Grafen von Oettingen erwarben, die letzten Grundpfeiler der fränkischen Zollernlande gesetzt: Als Zentren dieser Herrschaft erwuchsen die Residenzen zweier zollerischer Staaten. Ein Hausgesetz, von Burggraf Friedrich V. im Jahre 1385 erlassen, beinhaltet, daß die burggräfliche Herrschaft in Franken höchstens in zwei Teile geteilt werden dürfe. Die endgültige Abtrennung von der Mark Brandenburg verfügte schließlich 1473 Albrecht Achilles. Lange vor Verkauf der Nürnberger Burggrafenburg (1427) hatten es die Zollern vor­ gezogen, auf der Cadolzburg zu leben, wo sie weitaus weniger als in der Reichsstadt Nürnberg von den Bürgern bedrängt wurden. Ebenso wie die Cadolzburg war die 1340 erworbene Plassenburg oberhalb Kulmbachs eine Residenz von wechselnder Bedeu­ tung. Als Alterssitz, fürstliches Staatsgefängnis, Landesfestung, Sitz des Hauptmanns — des obersten Militär- und Verwaltungsbeamten —, Sitz des Hofrichters und des Vorsit­ zenden des Lehengerichts spielte die Plassenburg jedoch auch in der Folgezeit eine beachtliche Rolle. Die Errichtung einer Dauerresidenz in Ansbach unter Markgraf Albrecht Achilles, seit 1470 auch Kurfürst, dürfte bald nach der Mitte des 15. Jahrhunderts mit der Verle­ gung des Hofes und der Verwaltung von der Cadolzburg nach Ansbach erfolgt sein. Dort schuf er sich eine prächtige Hofhaltung, die bald zum Zentrum der spätmittel­ alterlichen Adelsgesellschaft in Franken wurde. Unter Markgraf Georg Friedrich, der ab 1578 auch über das Herzogtum Preußen gebot, erlebte die Residenz zu Ansbach eine zweite Blüte. Das späte 17. und die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts brachten für Ansbach eine dritte Blütezeit. Zwar gelang es Markgraf Johann Friedrich wegen des geharnischten Protests der lutherischen Geistlichkeit nicht, Hugenotten in der Residenzstadt anzusie­ deln, doch gestalteten seine Nachfolger, besonders sein Enkel Markgraf Carl Wilhelm Friedrich die Residenz zu einem Versailles en miniature, während sich Schwabach dank der vielen aufgenommenen Hugenotten zum wirtschaftlichen Zentrum des Landes ent­ wickeln konnte. In Ansbach wuchs hingegen der Schuldenberg — Hofstaat und Behörden hatten sich in der Zeit von 1660 bis gegen 1735 verdreifacht - an. Erst dem sparsamen Markgrafen Alexander, dem 1769 Bayreuth zugefallen war, gelang es durch die Vermietung von Soldaten an England, die Staatsschulden beider Fürstentümer zu tilgen. Ein Jahr nach der Regierungsübernahme des Markgrafen Christian (1603) verlegte dieser seine auf der Plassenburg bei Kulmbach gelegene Residenz nach Bayreuth. Doch erst mit Beendigung des Dreißigjährigen Krieges konnte der Hof in die neue Landes­ hauptstadt Bayreuth auf Dauer einziehen. Rasch gewann Erlangen durch die Hugenottenansiedlung an wirtschaftlicher Bedeu­ tung. Durch die 1743 gegründete Universität entwickelte sich Erlangen zum geistigen Zentrum beider Markgrafentümer. Markgraf Friedrich und seine Gemahlin Wilhel-

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mine, die preußische Königstochter und Schwester Friedrichs des Großen, verschafften der Bayreuther Residenz hohes kulturelles Niveau. Davon zeugen noch heute u. a. Neues Schloß, Opernhaus und Eremitage. Der Betrachtung von Entstehung und Entwicklung der Zollernresidenzen in Franken in sechs Jahrhunderten folgten Bemerkungen über die Gemeinsamkeiten (Verbunden­ heit durch das gemeinsame Zollernhaus, die ev. luth. Konfession, Treue zu Kaiser und Reich, Kampf gegen die katholischen Kreismitstände, gemeinsame Oberbehörden: Kai­ serliches Landgericht des Burggraftums Nürnberg als oberste richterliche Instanz und Burggräfliches Ratskollegium zur Verteidigung der zollerischen Gerechtsame haupt­ sächlich gegenüber Nürnberg) und Unterschiede (stets getrennte LandesVerwaltung auch unter einem gemeinsamen ansbachischen Regenten, Rivalitäten um den Vorrang beim Fränkischen Kreis) der Residenzen beider Fürstentümer, ihre sozialen Strukturen (führende Schicht: Adel, dahinter bürgerliche Räte mit ihrem Fachwissen) sowie über das Verhältnis von Residenz zur Residenzstadt (enge Grenzen des Stadtregiments, keine wesentlichen wirtschaftlichen Vorteile der Residenzstadt). Der Vortrag, erstmals gehalten am 13. Oktober 1986 in München zum 13. Tag der Landesgeschichte des Gesamtvereins der deutschen Geschichts- und Altertumsvereine mit dem Rahmenthema „Landesherrliche Residenzen“, wird veröffentlicht im 123. Band der „Blätter für deutsche Landesgeschichte“ 1987. Claus Pese 3. Februar 1987 Prof. Dr. Rudolf Endres Fränkische und bayerische Bischofsresidenzen Wenn man von Rom und dem Kirchenstaat einmal absieht, dann konnten sich nur auf dem Territorium des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation bis zur Säkularisa­ tion der Jahre 1802 und 1803 geistliche Staatsgebilde mit geistlichen Residenzstädten behaupten. In jener Zeit zählte man noch vier Erzstifte und 22 Hochstifte — vier davon im Fürstentum Bayern (Augsburg, Regensburg, Freising und Passau) und drei im Frän­ kischen Reichskreis (Würzburg, Bamberg und Eichstätt). Sie alle sind Ausdruck völlig unterschiedlicher historischer Gebilde mit einer jeweils spezifischen Geschichte und selbst verschiedener Größe und Bevölkerungszahl. Bereits im 8. oder spätestens im 9. Jahrhundert waren die Bischofsstädte nicht nur geistliche, sondern auch weltliche und kulturelle Zentren. Nur Bamberg, das als Bistum erst im Jahre 1007 gegründet wurde, ist hiervon eine Ausnahme. Im hohen Mittelalter verstärkten sich die Bindungen der fränkischen Bistümer und Bischofssitze zum Königtum dank des vorherrschenden Reichskirchensystems, und ihr Einfluß auf die Reichspolitik wuchs. Im gleichen Maße nahmen aber die Interessengegensätze zwi­ schen den Bischöfen und der Stadtgemeinde zu. Erklärtes Ziel der Bürgerschaft war in allen Bischofsstädten die Erringung der Reichsfreiheit und die Unabhängigkeit vom bischöflichen Stadtherrn. Erreicht wurde dieses Ziel nur in Regensburg und in Augs­ burg, während in den anderen Bischofsstädten, trotz mehrfachen Aufbegehrens der Bürger, der bischöfliche Stadtherr sich mit Waffengewalt durchsetzen und behaupten konnte. Sichtbares und stets präsentes Zeichen der Herrschaft über die Untertanen waren daher die Burgen und Festungen über der Stadt, wie die Willibaldsburg in Eich­ stätt, die Altenburg in Bamberg, Oberhaus und Niederhaus in Passau und die Festung Marienberg in Würzburg.

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Das Scheitern der Bürgerschaft im Kampf mit den bischöflichen Stadtherrn hatte zur Folge, daß die wohlhabenden Kaufleute, die mit dem Fernhandel zu Reichtum gelangt waren, in die Reichsstädte Nürnberg oder Frankfurt abwanderten. Dies brachte schwere wirtschaftliche und finanzielle Einbußen für die Bistümer mit sich. Auch die Juden hatten unter der bischöflichen Politik allerorten schwer zu leiden. Daneben stand die Rechtsstruktur der wirtschaftlichen Erstarkung ebenfalls im Wege. Sie wurde zu­ sehends komplizierter und undurchschaubarer und konnte erst im Zeitalter des Abso­ lutismus etwas vereinheitlicht werden. Schließlich waren die bischöflichen Territorien stark zersplittert, denn dort herrschte eine Vielzahl von selbständigen Staatlichkeiten des Adels oder der Kirche, die einen modernen, zentralistisch-absolutistischen Staats­ aufbau verhinderten. In den letzten Jahrzehnten vor der Reformation entwickelte sich nicht nur in den Reichsstädten, sondern auch in Bischofsstädten wie Eichstätt (mit Johann von Eych), Bamberg (mit Albrecht von Eyb) oder Würzburg (mit Johann Trithemius) der Huma­ nismus. Doch bald wurden die Bischofsstädte zu Zentren der Gegenreformation, allen voran Würzburg unter Bischof Julius Echter von Mespelbrunn. Eine ihrer segens­ reichen Folgen war die allmähliche Ausbildung des Schulsystems. Im Fränkischen Reichskreis war es Bischof Erthal von Würzburg, der als erster die Schulpflicht ein­ führte und 1771 ein Lehrerbildungsseminar zur besseren Ausbildung von Volksschul­ lehrern ins Leben rief. Schließlich soll nicht unerwähnt bleiben, daß gerade die Bi­ schofsstädte in der Gesundheits- und Sozialfürsorge sich große Verdienste erwarben. Es sei an dieser Stelle nur das Juliusspital in Würzburg erwähnt, das Bischof Julius Echter 1576 gründete. Das Zeitalter des Barock brachte für die geistlichen Residenzstädte eine letzte, prachtvolle Blüte. An im Zweiten Weltkrieg unzerstörten Städten wie Bamberg und Eichstätt ist dies noch heute abzulesen. Allen voran ist hier Balthasar Neumann zu nennen, der Würzburg sein barockes Gepräge verlieh und nicht zuletzt deshalb zu den bedeutendsten Baumeistern des Barock überhaupt zählt. Diese Blütezeit ist auch Aus­ druck des relativen Wohlstands der Bürger- und Handwerkerschaft in den Bischofs­ städten Frankens am Vorabend des Endes der alten Reichsordnung. Claus Pese

10. März 1987 Dr. Karl Heinz Schreyl Der Nürnberger Hauptmarkt in alten Ansichten Einleitend wies der Referent darauf hin, daß die Stadtgeschichtlichen Museen gegen­ wärtig eine Ausstellung zu diesem Thema vorbereiteten, die im Herbst 1987 zu sehen sei und auf der auch drei bislang unbekannte Darstellungen des Nürnberger Haupt­ markts gezeigt würden. Diese drei Novitäten stellte der Referent in seinem Vortrag vor. 1. Öl auf Eisenblech, 14 cm X 19 cm, nach der Signatur von Wolfgang Magnus Geb­ hardt (Lebensdaten unbekannt), entstanden in der ersten Hälfte des 18. Jahrhun­ derts. Dargestellt ist die Südwest-Ecke des Hauptmarkts. Im Bild links ist das Anwesen Hauptmarkt 6 zu sehen, wo die Reichslehen verliehen wurden. Das Gebäude weist eine mittelalterliche Fassadenmalerei auf, die in einem Gemälde des Hauptmarkts

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aus dem Jahre 1798 nicht mehr erscheint. Die Barockfassade des Anwesens Haupt­ markt 15 und die Uniformen der Soldaten lassen das neu entdeckte Ölbild in die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts datieren. Die Szene beschreibt keine Wachablö­ sung, sondern die bis in das frühe 19. Jahrhundert für Nürnberg typische musikali­ sche Neujahrsgratulation. Zahlreiche Chronisten berichten über den leidigen Krach der sogenannten „Neujahrsmusiken“ zu jener Zeit. 2. Öl auf Leinwand, nach der Signatur von Domenico Quaglio (1.1. 1786 München — 9. 4. 1837 Hohenschwangau), entstanden 1818. Eine häufig publizierte Lithografie von Ignaz Bergmann, die auch als zweifarbiger Tonplattendruck existiert und 1819 entstanden ist, geht auf dieses Vorbild zurück, das bislang als verschollen galt. Quaglio, der in den Jahren von 1815 bis 1817 mehr­ mals in Franken weilte, kannte Nürnberg gut. Entsprechend der Mittelalterbegeiste­ rung des frühen 19. Jahrhunderts ist auf dem Gemälde weder die Architektur noch die Darstellung der Figuren stimmig. Nicht zuletzt wegen der im Jahre 1816 erfolgten Rekatholisierung der Nürnberger Frauenkirche, galt dieser kaiserliche Bau auf dem Hauptmarkt als ein zentrales Motiv der Romantik in Süddeutschland. Wie der Hauptmarkt zu Beginn des 19. Jahrhunderts aber wirklich aussah, vermitteln die acht Hauptmarktkacheln. Sie zeigen vor allem den Originalzustand des Schönen Brunnens und der Frauenkirche vor ihrer Restaurierung durch Christoph Albert Reindel bzw. August von Essenwein. Auch die Malerein auf den Außenwänden des Anwesens Hauptmarkt 28, von Paulus Juvenell zu Beginn des 17. Jahrhunderts aus­ geführt, hat Quaglio in sein Gemälde aufgenommen. Auf diese Weise regte Quaglio zur Renovierung und Restaurierung der Hauptmarktszenerie an. Nicht ein Traktat, sondern vielmehr ein Gemälde brachte somit den Stein ins Rollen. 3. Öl auf Leinwand, 100 cm X 82 cm, nach der Signatur von Paul Ritter (4. 3. 1829 Nürnberg — 27. 11. 1907 ebenda), entstanden 1895. Das Gemälde wurde unter dem Titel „Der Marktplatz zu Nürnberg zur Zeit der Turniere 1496“ erstmals auf der 2. Bayerischen Landesausstellung, die im Jahre 1896 stattfand, ausgestellt. Danach galt es als verschollen. Eine Arbeit von besonderer technischer Brillanz, weist es den nicht ausgeführten Turmentwurf August von Essenweins für die Frauenkirche und die vor 1895 bereits renovierte Fassadenma­ lerei am Haus Hauptmarkt 28 auf. Die drei vorgestellten Gemälde machen deutlich, wie beliebt Darstellungen des Nürnberger Hauptmarkts über die Jahrhunderte waren. Die Ausstellung der Stadtge­ schichtlichen Museen wird davon ein beredtes Zeugnis geben. Claus Pese 7. April 1987 Dr. Dr. Ulrich Knefelkamp Städtische Sozial- und Krankenfürsorge im 16./17. Jahrhundert, aufgezeigt am Heilig-Geist-Spital zu Nürnberg

Das Heilig-Geist-Spital wurde laut Stiftungsurkunde von 1332 bis 1339 erbaut. Stifter war der Nürnberger Großkaufmann und Reichsschultheiß Konrad Groß (1280—1356). Vor dieser bedeutenden Stiftung sorgten Kirchen und Klöster für die Kranken, Alten, Krüppel und Wöchnerinnen. Die an Lepra erkrankten Menschen kamen sofort in die

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eigens hierfür eingerichteten Siechkobel. Auch Waisen wurden in die Spitäler nicht auf­ genommen, da es in Nürnberg für jene ein Findelhaus gab. Das Spital war sowohl Asyl als auch Krankenhaus. Die Ärzte stellten ihre Diagnose nach der Urinbeschau und verordneten Klistier und Aderlaß. Der genaue Zeitpunkt für letzteren wurde oftmals von der Konstellation der Planeten abhängig gemacht. Für die äußere Medizin waren die Wundärzte zuständig. Sie stellten die Salben her. Der Barbier „verarztete“ die Patienten, indem er sie wusch und ihnen die Wunden verband. Als Pate der „bürgerlichen“ Gründung des Heilig-Geist-Spitals erscheint die Hl. Eli­ sabeth von Thüringen — Symbolgestalt für christliche Wohltätigkeit und Nächstenliebe — in Miniaturen des Leitbuchs. Das Spital erlangte nicht nur als Verwahrungsort für die Reliquien der Reichskleinodien Berühmtheit, die in einem Schrein verwahrt wurden, der von der Decke der Spitalkirche herabhing, sondern auch als eines der größten Spi­ täler im Reichsgebiet. Somit war das Heilig-Geist-Spital zu Nürnberg Krankenhaus und Reichsschatzkammer in einem. Was konnte das Heilig-Geist-Spital leisten? Wer waren und woher kamen die Patienten? Die moderne Datenverarbeitung ermöglicht heute eine vorsichtige Beant­ wortung dieser Fragen. Mit einer teilweisen Auswertung der Krankenlisten wurden mehr als 19000 Personen erfaßt. Aus den Daten geht hervor, daß mindestens 80% der Insassen Kranke waren. Das durchschnittliche Alter der Patienten betrug zwanzig bis dreißig Jahre, der durchschnittliche Aufenthalt im Spital drei bis vier Wochen. Aber auch viele junge Menschen, vor allem Soldaten, lagen — manchmal zu zweit oder gar zu dritt — in den Krankenbetten. An Krankheiten erscheinen in den Listen Amputationen (auffällig häufig bei Patienten aus den Bereichen des Dienstleistungssektors), Hieb- und Stichverletzungen (zumeist bei Soldaten), „hitzig Fieber“ (mit dem wohl Typhus gemeint ist), Geschwülste (Krebs?), Schwindsucht, Ruhr, seelische Erkrankungen und Kindbettfieber. Die große Streuung bei der Herkunft der Patienten weist bis nach Mün­ chen, Breslau, Leipzig, Frankfurt a. M. und Erfurt. Gründe hierfür sind in den Gesel­ lenwanderungen zu finden, was besagt, daß die Patienten des Heilig-Geist-Spitals Men­ schen aus der arbeitenden Bevölkerung waren. Auswärtige Arbeitende gab es in Nürn­ berg viele. Es sei nur an die Bewohner der „Sieben Zeilen“ am sogenannten „Schwaben­ berg“ erinnert, der diesen Namen wegen der dort angesiedelten schwäbischen Weber erhielt. Das Heilig-Geist-Spital war ursprünglich für 128 Sieche gebaut worden. Daneben nahm es stets Kranke und Asylsuchende auf. Oftmals war es mit 300 bis 400 Personen überfüllt. Für den Unterhalt stand das Stiftungskapital zur Verfügung, das durch Spenden ergänzt wurde. Das Heilig-Geist-Spital war für die Sozial- und Krankenfür­ sorge der Reichsstadt Nürnberg von großer Bedeutung. Claus Pese 5. Mai 1987 Prof. Dr. Walter Fürnrohr Die Reichsstädte auf dem Immerwährenden Reichstag in Regensburg 1663-1806

Gemäß seiner historisch gewachsenen Verfassung bestand das Reich nach dem Dreißig­ jährigen Krieg aus ca. 200 Territorien (ohne die ca. 1400 Reichsunmittelbarkeit ge­ nießenden reichsritterschaftlichen Güter). Den Reichsfürsten war im Westfälischen

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Frieden freies Bündnisrecht zugestanden worden, nicht aber ein Bündnis gegen Kaiser und Reich. Die Reichsstände (Kurfürsten, Fürsten und Städte) waren in zehn Reichs­ kreisen zusammengefaßt. Auf dem Reichstag hatten die Reichsstädte trotz ihres wirt­ schaftlichen und politischen Niederganges 1648 eine reichsrechtliche Aufwertung erfahren, indem ihnen ein verstärktes Mitwirkungsrecht eingeräumt wurde. Dieser „Immerwährende“ Reichstag — so genannt, weil er sich bis zum Ende des Reiches 1806 nicht mehr auflöste - genießt in der Geschichtsschreibung vor allem wegen seiner grotesken Rangeleien um das Protokoll nur vergleichsweise wenig Auf­ merksamkeit. Er erfüllte aber durchaus auch wichtige Funktionen: Er hielt das Bewußt­ sein von der Einheit des Reiches aufrecht, bewahrte den religiösen Ausgleich unter den Territorien und bemühte sich, die Verteidigung des Reiches und seiner Territorien zu organisieren. Ihm unterstand die Ausstattung und Gestaltung des Reichsheeres, des Reichskammergerichts, des Münzwesens und der Zölle. Nach der Reichsmatrikel des Reichstags von 1521 wurden die Kosten hierfür auf alle Reichsstände anteilig umgelegt. Da diese Reichsmatrikel festgeschrieben war, gab sie Anlaß für ständigen Streit. Der Arbeit des Immerwährenden Reichstags ist es schließlich auch zu verdanken, daß sich die Handwerksordnungen, das Zunftwesen und die Verwaltung — damals „Polizey“ genannt - weiterentwickeln konnten. Wegen eines drohenden Türkenkrieges hatte Kaiser Leopold I. bereits 1662 den Reichstag nach Regensburg einberufen, dieser konnte aber erst im folgenden Jahr zusammentreten. Viele der Reichsstädte waren finanziell nicht in der Lage, ständig einen Abgesandten in Regensburg zu unterhalten. So ist es erklärlich, daß ein Abge­ sandter meist mehrere Städte zugleich vertrat. Als die Zahl der reichsstädtischen Abge­ sandten weiter sank, gewann die Reichsstadt Regensburg, deren Ratsherren und Kon­ sulenten andere Reichsstädte im reichsstädtischen Kollegium des Reichstags vertraten, ein beträchtliches Übergewicht, was den Protest der höheren Reichsstände nach sich zog. Den Kaiser vertrat sein Prinzipalkommissar. In den ersten Jahrzehnten war dies ein Bischof. Der Gesandte des Kurfürsten von Mainz, des „Reichserzkanzlers“, führte als Direktorialgesandter die eigentlichen Geschäfte. Die Reichsstädte hatten in den Ver­ handlungen auf dem Reichstag meist nur geringes Gewicht. Dennoch waren gerade sie es, die bis zum Reichsdeputationshauptschluß des Jahres 1803 besonders zum Reich hielten, da vor allem sie von den Territorialfürsten in ihrer Existenz bedroht wurden. Claus Pese

19. Juli 1987

Studienfahrt nach Rothenburg Anlaß zu dieser Studienfahrt war die vom Haus der Bayerischen Geschichte in Mün­ chen veranstaltete Ausstellung „Reichsstädte in Franken“. Das Interesse daran war außerordentlich groß. Es waren deshalb zwei Omnibusse nötig, um alle Mitglieder, die teilnehmen wollten, mitnehmen zu können. In der Ausstellung, die in der Reichsstadt­ halle/Spitalhof aufgebaut war, wurden nur die „kleinen“ Reichsstädte Frankens Din­ kelsbühl, Schweinfurt, Rothenburg, Weißenburg und Windsheim berücksichtigt. Die „große“ Reichsstadt Nürnberg dagegen blieb unberücksichtigt. Diese Tatsache war bedauerlich, aber auch verständlich, da eine Einbeziehung Nürnbergs den Rahmen der

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Ausstellung gesprengt hätte. Die Ausstellung war nach einzelnen Lebensbereichen in der Reichsstadt gegliedert und sollte eine Anschauung vermitteln, u. a. vom Markt, von der Kirche, vom Spital, von der Schule, vom Patriziat, den Zünften, von der Juden­ gemeinde und der städtischen Unterschicht. Einen besonderen Schwerpunkt bildete das Thema „Der Kaiser als Stadtherr". Berücksichtigt war in der Ausstellung vornehmlich der Zeitraum zwischen 1450 und 1650. Frau Ankermüller, Historikerin und Beauf­ tragte des Hauses der Bayerischen Geschichte, führte die Teilnehmer an der Exkursion in zwei Gruppen am Vormittag bzw. am Nachmittag durch diese mit vielen interes­ santen Exponaten aus den verschiedenen Städten bestückte Schau. Die jeweils andere Gruppe ging am Vormittag mit Studiendirektor Dr. Schnurrer, zugleich Stadtarchivar von Rothenburg, und am Nachmittag mit Oberstudienrat Keith durch das Klingen­ viertel, einen weniger bekannten Teil der Stadt. Im Mittelpunkt der Besichtigung stand hier das ehemalige, 1258 gegründete Dominikanerinnenkloster. In den letzten Jahren wurde dieser Gebäudekomplex grundlegend restauriert. Seit 1982 hat dann das Reichs­ stadtmuseum hier seine gut geeignete Unterkunft gefunden. Besonderem Interesse begegnete auch die 500 Jahre alte Wolfgangskirche (Schäferkirche) beim Klingentor, die in einmaliger Weise in die Stadtbefestigung eingefügt ist. Die Führungen an diesem Tag haben den Teilnehmern reichsstädtisches Leben in vielfältiger Form nahegebracht. Gerhard Hirschmann 4. Oktober 1987

Studienfahrt ins Hohenloher Land Während die Studienfahrt 1986 in die ehemalige Grafschaft Castell geführt hatte, war das Ziel der heurigen Exkursion das Territorium der ehemaligen Grafen (seit 1744/64 Fürsten) von Hohenlohe. Bei leider recht kühlem Wetter ging die Fahrt über die Auto­ bahn in Richtung Heilbronn bis zur Ausfahrt Kirchberg. Dort stieg Dr. Gerhard Taddey zu, seit 1986 Archivdirektor in Stuttgart, vorher 15 Jahre lang Leiter der verei­ nigten Hohenloher Archive in Schloß Neuenstein, damit wohl der derzeit beste Kenner der Hohenloher Geschichte. Er war den ganzen Tag über ein fachkundiger Begleiter. Als erstes Ziel steuerten wir die ehemalige Residenzstadt Kirchberg an. Die mächtige, früher Hohenlohische Burg konnten wir vom Schloßpark aus würdigen. Sie beherbergt heute ein Altersheim. Von hier aus ging es nach dem nur wenigen Teilnehmern bekannten Leofels, einer noch als Ruine eindrucksvollen Burganlage des 12. Jahrhun­ derts. Anschließend wurde Schloß Langenburg, vielen Teilnehmern verhältnismäßig gut bekannt, besichtigt. Nach einem gut verlaufenen gemeinsamen Mittagessen in Eschental ging es nach Waldenburg, wo im Siegelmuseum des Schlosses eine reiche Zahl von Siegelabgüssen zu besichtigen war. Auch einige Dioramen aus der Geschichte des Hauses Hohenlohe fanden Interesse. Ein Rundgang durch die hochgelegene ehemalige Hohenlohische Residenzstadt rief die Erinnerung an deren weitgehende Zerstörung im März 1945 wach und machte uns gleichzeitig mit dem geglückten Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg bekannt. Letzter Zielpunkt der Exkursion war die Residenz Neuenstein. In zwei Gruppen konnten wir den bedeutenden Schloßkomplex aus der Renaissancezeit besichtigen. Besondere Aufmerksamkeit fanden dabei der riesige Festsaal, die alte Küche und das reichhaltige Hohenlohe-Museum mit vielseitigen Exponaten des Kunst-

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handwerks und aus der Geschichte der Familie. — Vor dem Antritt der Rückfahrt war es noch möglich, in einem neu eröffneten Cafe, dessen Einrichtung und Ausstattung der Landeshauptstadt Stuttgart Ehre machen würde, uns zu stärken. Gerhard Hirschmann

6. Oktober 1987 Dr. Michael Diefenbacher Fränkische Reichsstädte und Deutscher Orden

In den Jahren 1805 und 1806 hatten die neu entstandenen Königreiche Württemberg und Bayern den größten Teil der süddeutschen Besitzungen des Deutschen Ordens an sich gerissen. Auf Befehl Napoleons wurde schließlich 1809 der Deutsche Orden im Machtbereich der Rheinbundstaaten vollends aufgehoben. Damit kam eine mehr als 600 Jahre währende Staatsorganisation zu ihrem Ende, von der im Jahr darauf der letzte Deutschordenskanzler, Hofrat Jakob Joseph Freiherr von Kleudgen, sagte, daß dieser reichsunmittelbare Orden „die gelindeste Verfassung“ gehabt habe. Der Deutsche Orden war 1190 auf dem dritten Kreuzzug von Lübecker und Bremer Kaufleuten als Feldlazarett bei Akkon im Heiligen Land gegründet worden. Dement­ sprechend bestand eine seiner Hauptaufgaben in der Krankenpflege. Dieser Verpflich­ tung erwuchsen in der Folgezeit u. a. Deutschordensspitäler in Speyer, Ellingen, Öttingen, Frankfurt (Sachsenhausen), Neubrunn, Donauwörth, Nürnberg und Mer­ gentheim. Bereits im Jahre 1198 wandelte der Papst die Hospitalbruderschaft in einen Ritterorden um, der nun im Kampf gegen die Heiden besondere Bedeutung gewann. Eine expansive Territorialpolitik war die Folge davon. Vor allem wurde dies ab den dreißiger Jahren des 13. Jahrhunderts in Preußen sichtbar. Nach dorthin, auf die Marienburg, verlegte der Orden 1309, nach dem Verlust des Heiligen Landes (1291), auch sein Haupthaus, wo der Hochmeister residierte. 1410 aber mußte der Deutsche Orden bei Tannenberg eine schwere militärische Niederlage hinnehmen, in deren mit­ telbaren Folge er 1457 sein Haupthaus verlor. An die Stelle der Marienburg trat Königs­ berg. Nach der Säkularisation Preußens erkor der Deutsche Orden im Jahre 1525 seine zur fränkischen Ordensprovinz zählende Kommende Mergentheim als neue Residenz, mußte sie jedoch 1809 nach Wien verlegen, wo das Ordensoberhaupt noch heute resi­ diert. Nach dem Hochmeister entwickelte sich im Verlauf des 13. Jahrhunderts der Deutschmeister zum mächtigsten und einflußreichsten Ordensmitglied. Ihm unterstand mit wenigen Ausnahmen der Ordensbesitz im Reich, der in Balleien (Provinzen) zusammengefaßt war. Die Balleien bestanden aus Kommenden (Ordenshäuser) unter­ schiedlicher Anzahl und Größe. Der Kern des Deutschordensbesitzes im Reichsgebiet war die 1268 entstandene Ballei Franken. Vor allem in den fränkischen Reichsstädten faßte der Deutsche Orden Fuß. Seinen ersten nachgewiesenen Vorsteher, Landkomtur genannt, hatte der Orden in dem bayerischen Adeligen Gerhard von Hirschberg. Bis ins 14. Jahrhundert hinein waren in diesem Gebiet 31 Kommenden entstanden. Der eigentliche Beginn des Deutschen Ordens an einem Ort bestand häufig in der Übergabe eines älteren Hospitals. In der Regel wurde eine Kommende nicht gleich mit der ersten Besitzdotation an einem Ort eingerichtet, sondern erst dann, wenn eine gewisse Güter­ konzentration einen solchen Verwaltungsmittelpunkt erforderlich machte. Für Nürn-

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berg war es Otto IV., der bereits 1209 dem Deutschen Orden das Gebiet um die Jakobskirche schenkte. 1216 kam durch Friedrich II. die Margarethenkapelle in der Kaiserburg hinzu. Schon 1212 lebten in Nürnberg ein Ordenspriester und fünf Ordens­ brüder. Frühe Güterkäufe zeugen von der Finanzkraft dieser Kommende. 1236 wird erstmals ein Spitalmeister namens Konrad erwähnt. Der Name „Elisabethspital“ ist erstmals für das Jahr 1277 belegt. Noch heute erinnert der Name „Spittlertor“ (Spital­ tor) an das Territorium des Deutschen Ordens in der Reichsstadt Nürnberg. Kommende und Spital waren strikt getrennte Verwaltungskörper mit einem eigenen Wirtschaftsbereich. Dank einer zielstrebigen Erwerbspolitik und der hohen Kaufkraft war das Ordenshaus Nürnberg mit deutlichem Abstand zur steuerkräftigsten Nieder­ lassung der Ballei Franken geworden. Dem zunehmenden politischen Druck der Reichsstadt folgend und wegen des hohen Finanzbedarfs in den preußischen Besit­ zungen, veräußerte der Deutsche Orden aber am 7. Februar 1419 für 9231 Gulden den wesentlichen Teil der Kommende Nürnberg an die Reichsstadt. Es verblieben den Ordensrittern nur das Elisabethspital, die Komturei, die Kirche St. Jakob mit dem dazugehörigen Friedhof und die Besitzungen außerhalb der Stadt. In den letzten Jahren des 18. Jahrhunderts, als sich die Auflösung des Deutschen Ordens abzeichnete, wurden nochmals kräftig Schulden gemacht, und die Elisabethkirche entstand. Mit diesem monumentalen Kirchenbau, gleichsam ein letztes Zeugnis einstiger Macht, ging die Geschichte des Deutschen Ordens in Nürnberg zu Ende. Städtebaulich weniger ein­ drucksvoll, wenngleich historisch nicht minder bedeutend, war es um die Kommenden Ellingen (mindestens seit 1253), Virnsberg (1294), Rothenburg (seit mindestens 1290) oder Schweinfurt (seit 1263) bestellt. Claus Pese

3. November 1987 Prof. Dr. Wolfgang Frhr. v. Stromer Sechshundert Jahre Hammereinung 1387 — ein Kartell und Innovationen als Antwort auf eine Krise

1987 ging mit der Schließung des Bergwerks im oberpfälzischen Auerbach ein Kapitel europäischer Wirtschaftsgeschichte zu Ende. Zugleich bescherte dieses Jahr der Ober­ pfalz ein Jubiläum, das einem Markstein in der nun erloschenen Tradition gleich­ kommt: Vor 600 Jahren gründeten die Städte Amberg, Sulzbach und Nürnberg ein Konditionenkartell, dem 67 Unternehmer mit 80 Wasserkraftanlagen beitraten. Eine solche Hammereinung war bereits 1341 geschlossen worden, doch erst ihre Erneuerung im Jahre 1387 brachte einen dauerhaften Erfolg. Eigentlich nur für die kurze Zeit von vier Jahren gedacht, hielt das Kartell über 230 Jahre und wurde erst zu Beginn des Dreißigjährigen Kriegs aufgelöst. Wenn auch die Urkunde die Ziele der Einung nicht ausdrücklich nennt, so schloß Stromer im Unterschied zur bisherigen Annahme einer Überproduktions-Krise, aus den regionalen wirtschaftlichen Gegeben­ heiten im späten 14. Jahrhundert, daß das Kartell eine Beschränkung der Eisenproduk­ tion wegen der folgenden sechs Faktoren vornahm: 1. die geringe Qualität der lokalen Erze, außer denen der Erzberge von Amberg und Sulzbach

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2. der chronische Mangel an Arbeitskräften, da diese im Hammerwesen sehr speziali­ siert sein mußten, aber seit 1348 durch wiederkehrende Pestzüge dezimiert wurden 3. die allmähliche Erschöpfung der Gruben von Sulzbach 4. die allgemeine Verknappung von Edelmetallen, was zunächst zur Geldverschlechte­ rung und als deren Folge zu inflationären Tendenzen führte 5. die technischen Probleme, die bei der Grubenentwässerung auftraten 6. ein katastrophaler Mangel an Holz und Holzkohle. Aufforstung und Grubenentwässerung waren die entscheidenden Innovationen, die in jener Zeit zwar entwickelt, aber noch kaum angewandt wurden. Es war das Verdienst Hans Hegneins, des wohl weitblickendsten Mitglieds der Einung, daß die Wälder im Gebiet des Kartells geschont und auch teilweise mittels der 1368 in Nürnberg entwikkelten Waldsaat wieder aufgeforstet wurden. Damit konnte die Energiekrise wenigstens gebremst werden. Die leicht zugänglichen Erzvorkommen, die im Tagebau gewonnen wurden, waren um die Mitte des 14. Jahrhunderts erschöpft. Einer Förderung unter Tage standen jedoch erhebliche Probleme im Wege, die erst überwunden werden mußten. Dies gelang den „Künstiger“ genannten Experten, deren Aufgabe vor allem in der Zimmerung des Grubenausbaus und der Entwässerung der Gruben bestand. Mit Hebewerken, als mechanische Pumpen mit Tretmühlen betrieben, wurde das Gruben­ wasser zutage gefördert. Wenn es die Beschaffenheit des Geländes erlaubte, konnte man sich den sehr teueren Dauerbetrieb der Hebewerke ersparen und führte stattdessen das Grubenwasser mittels eines tiefer gelegenen „Erbstollens“ ab. Zwar konnten die Produktionsbeschränkungen ein verhältnismäßig konstantes Pro­ duktionsniveau gewährleisten, doch blieben dabei notwendige Innovationsschübe aus oder kamen nur schwach zur Geltung. Wer sich den Bestimmungen des Kartells dar­ aufhin widersetzte, wurde vom Erzbezug ausgeschlossen. Mitglied der Hammereinung konnten nur Hammerherren werden. Die Hammerherren hatten adelige Privilegien. Sie genossen das Recht, steinerne Herrenhäuser zu errichten, Siegel und Wappen zu führen und die niedere Gerichtsbarkeit auszuüben. Die Hammermeister aus dem Fachhand­ werkerstand wurden von den Hammerherren als Konkurrenten betrachtet und durften daher nicht Mitglied des Kartells werden. Von den 69 im Kartell zusammengefaßten Hammerherren stammten mit 35 nur knapp mehr als die Hälfte aus den Städten Amberg, Sulzbach und Nürnberg. 34 waren nicht eingesessene Ausleute. Von den 35 Eingesessenen kamen 24 aus Amberg, nur drei aus Sulzbach und 8 aus Nürnberg. Davon gehörten mit den Namen Tetzel, Haid, Lang­ mann und Behaim vier dem Nürnberger Rat an. Es waren jedoch die Amberger, die sich mit ihren Interessen in den Vordergrund drängten und schon zahlenmäßig die tonange­ bende Stimme im Kartell hatten. Wenn später die Oberpfalz als das „Ruhrgebiet des Mittelalters“ angesehen wurde, dann war dies zu einem wesentlichen Anteil das Verdienst der Hammereinung von 1387. Mit dem Kartell nahm die Tendenz zur Monopolisierung der Erzförderung im süddeutschen Raum zu. Eine solche Entwicklung kam den Interessen der Fürsten ent­ gegen, denn sie erhofften sich aus der Hammereinung möglichst hohe Steuerein­ nahmen. Claus Pese

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1. Dezember 1987 Dr. Erich Mulzer Die Stadtansichten Johann Adam Delsenbachs als kulturgeschichtliche Quelle. Zum 300. Geburtstag des Künstlers Johann Adam Delsenbach (9. 12. 1687 Nürnberg — 16. 5. 1765 ebenda) stammte aus ärmlichen Verhältnissen. Während einer dreijährigen Lehrzeit bei dem Druckgrafiker August Christian Fleischmann erlernte er nach eigenen Angaben die Technik des Kup­ ferstechens. Im Anschluß daran besuchte Delsenbach die Nürnberger Akademie, ver­ ließ im Jahre 1708 seine Vaterstadt und ging nach Leipzig, wo er im Auftrag eines adeligen Herrn als Illustrator an einem wissenschaftlichen Druckwerk arbeitete. Nun folgten Jahre der Fortbildung an verschiedenen Stätten, vor allem zwischen 1710 und 1713 in Wien bei dem bedeutenden Architekten Johann Bernhard Fischer von Erlach. Bei ihm wurde Delsenbach in der Darstellung von Architekturansichten unterwiesen. Dann kehrte Delsenbach für fünf Jahre nach Nürnberg zurück, ging 1718 erneut nach Wien und ließ sich im Jahre 1721 endgültig in Nürnberg nieder. Was nun folgte, waren Jahrzehnte intensiver Arbeit an der Darstellung seiner Heimatstadt, die ihm viel Ansehen einbrachte, daß er schließlich 1733 zum Ratsherrn von Nürnberg berufen wurde. Delsenbach wohnte in einem heute nicht mehr existenten Haus am Inneren Läufer Platz, dort, wo jetzt der Brunnen steht, den die Statuette Johann Konrad Grübels ziert. Johann Adam Delsenbach hat während seines Künstlerlebens mehr als einhundert druckgrafische Werke geschaffen. In ihnen ist nicht nur die architekturgeschichtliche Situation Nürnbergs um die Mitte des 18. Jahrhunderts festgehalten, sondern sie ergänzen das Stadtbild um vielfältige Alltagsszenen von besonderem Detailreichtum und bemerkenswerter Tiefenschärfe. Daher sind seine Kupferstiche sowohl erstrangige Bildquellen der historischen Topografie und lokalen Baugeschichte als auch Zeugnisse der Urbanität und des Alltagslebens in Nürnberg um 1750. Ganz im Gegensatz zu den etwa ein halbes Jahrhundert älteren Ansichten Grafs, von denen Delsenbach unstreitig viel übernommen hat, die jedoch auf recht spröde Weise den städtebaulichen Ist-Zustand von einst wiedergeben, belebt Delsenbach die Szenerie mit Menschen in ihren vielfältigen Verrichtungen: Da sind Handwerker, Landleute und Mägde damit beschäftigt, ihren Arbeiten nachzukommen. Modisch gekleidete Damen und Herrn höherer Stände flanieren durch die Straßen. Auch der Schabernack und der Diebstahl kommen in Delsenbachs erzählerischen Straßenszenen nicht zu kurz. Selbst Verkehrsunfälle werden anschaulich geschildert. Die Vielfalt des Alltagslebens spiegelt Delsenbach aber nicht nur episodenhaft in den Verrichtungen allein, sondern er zeigt auch, auf welch technischem Stand sich die Gesellschaft um die Mitte des 18. Jahrhun­ derts befand. Vor allem die Darstellung der Verkehrsmittel ist es, die ein geradezu tech­ nikgeschichtliches Abbild jener Zeit bietet. Johann Adam Delsenbach hat über einen Zeitraum von etwa vier Jahrzehnten seine Umgebung beobachtet und dabei auch die Veränderungen im Weichbild Nürnbergs registriert. An den Figuren in seinen Blättern ist der Übergang vom Barock zum Rokoko ebenso abzulesen wie der für seine Zeit typische zeichnerisch freie Duktus in der Gestaltung der Szenen. Dabei mag ihn die Phantasie mitunter mehr beflügelt haben, als es der harten Wirklichkeit entsprach. Claus Pese

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Führungen: 13. Juni Renovierte Frauenkirche (Führung: Dr. Günther Bräutigam). 10. Juli Der Maler Louis Braun (1836—1916). Ausstellung der Stadtgeschichtlichen Museen im Fembohaus (Führung: Matthias Mende). 26. September Fünf Jahrhunderte Buchillustration. Meisterwerke der Buchgraphik aus der Biblio­ thek Otto Schäfer, Schweinfurt. Ausstellung im Germanischen Nationalmuseum (Führung: Dr. Eduard Isphording). 12. November Stifterinnen und Künstlerinnen im mittelalterlichen Nürnberg. Ausstellung des Stadtarchivs im Pellerhaus (Führung: Dr. Kuno Ulshöfer).

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