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German Pages 351 [354] Year 2018
Migration und Geographische Bildung Herausgegeben von Alexandra Budke und Miriam Kuckuck
Geographie Franz Steiner Verlag
Alexandra Budke / Miriam Kuckuck (Hg.) Migration und Geographische Bildung
Alexandra Budke / Miriam Kuckuck (Hg.)
Migration und Geographische Bildung
Franz Steiner Verlag
Umschlagabbildung © Leifstiller / Shutterstock.com
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2018 Druck: Hubert & Co., Göttingen Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-11874-3 (Print) ISBN 978-3-515-11897-2 (E-Book)
INHALTSVERZEICHNIS
Alexandra Budke / Miriam Kuckuck Migration und geographische Bildung ....................................................................9
KAPITEL 1 Das Thema „Migration“ aus fachwissenschaftlicher Perspektive
Andreas Pott Rassismus in der Migrationsgesellschaft ............................................................... 39 Boris Braun / Amelie Bernzen Klimawandel, Meeresspiegelanstieg und Migration im Ganges-Brahmaputra-Delta – eine komplizierte Beziehung ................................. 51 Günther Weiss Bildungsmigration – ein weltweites Geschäft ....................................................... 65 Philipp Aufenvenne / Miriam Kuckuck / Nina Leimbrink / Max Pochadt / Malte Steinbrink Integration durch Peers – eine netzwerkanalytische Studie zur Einbettung migrantischer Kinder und Jugendlicher in Schulklassen .................... 79
KAPITEL 2 Das Thema „Migration“ in geographischen Unterrichtsmedien Matthias Land Migration im Schulatlas – kartographische Repräsentationen und Konzeptionen ..................................................................... 95
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Inhaltsverzeichnis
Christiane Hintermann Migration(en) im Schulbuch: Dominante Erzählungen, selektive (Re)präsentation & blinde Flecken ....................................................... 109 Alexandra Budke / Veit Maier / Frederik von Reumont Rassismus und Rassismuskritik in von Studierenden erstellten didaktischen Comics – Ergebnisse eines interdisziplinären Projekts .................. 123 Ronja Ege Jenseits kultureller Differenzen? Potenziale von HipHop für transkulturelles Lernen im Geographieunterricht .......................................... 141
KAPITEL 3 Migrationsbezogene Lehr- und Lernvoraussetzungen im Geographieunterricht Andreas Hoogen SchülerInnenvorstellungen zu den Gründen von Migration und unterrichtspraktische Konsequenzen ................................................................... 157 Sebastian Seidel / Alexandra Budke „Naja, da war ein Schild an der Autobahn“ – SchülerInnenvorstellungen von räumlichen Grenzen am Beispiel Europas ........ 173 Stephan Langer / Alexandra Budke / Kerstin Ziemen Migrationsbedingte Heterogenität von SchülerInnen als Herausforderung für den inklusiven Geographieunterricht ............................ 189 Franziska Dauberschmidt / Miriam Kuckuck Die Wegbeschreibung anhand von mental maps als Instrument zur Sprachstandseinschätzung in einer Sprachlernklasse .................................... 209 Michael Morawski / Alexandra Budke Durch soziale Kontakte geographisch lernen – empirische Ergebnisse zur Durchführung kartenbasierter Interviews mit neu zugewanderten SchülerInnen ................................................ 223
Inhaltsverzeichnis
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Veit Maier / Christoph Gantefort Sprachliche Bildung im Fachunterricht – wie Kölner Geographielehramtsstudierende im DaZ-Modul sprachliche Anforderungen des Unterrichts ermitteln ...................................................................................... 241
KAPITEL 4 Unterrichtspraktische Konzepte Michael Morawski / Alexandra Budke „Das war mir irgendwie ein bisschen peinlich, danach hat mir das voll Spaß gemacht mit diesem Aussprechen und Fragen“ – Materialien zur Durchführung kartenbasierter Interviews mit neu zugewanderten SchülerInnen ....................... 257 Pola Serwene Orte auf Zeit – illegal refugee camps in Europe. Wandlungsprozesse anhand des griechischen Orts Idomeni im Rahmen eines zweisprachigen Unterrichtskonzepts verstehen ...................... 267 Holger Wilcke Schlepper – kriminelle Banden oder Helfer in der Not? Ein vierstündiger Unterrichtsentwurf für die Sekundarstufe II ........................... 283 Christian Sitte Die Dilemma-Analyse am Beispiel der „Flüchtlingskrise“ ................................. 301 Stefan Padberg / Sabrina Zandl / Samuel Wintereder / Sebastian Lonsing Grenzen setzen – was ist gut für uns? .................................................................. 313 Hannah Krings / Lena Weckauf / Günther Weiss Fluchtmigration als Thema in der Grundschule. Eine problem- und forschungsorientierte Annäherung an Motive, Routen sowie Schwierigkeiten von Flüchtlingen ................................................ 331
Autorinnen und Autoren ...................................................................................... 347
MIGRATION UND GEOGRAPHISCHE BILDUNG Alexandra Budke / Miriam Kuckuck
1. EINLEITUNG Migration ist seit Anbeginn der Menschheitsgeschichte eine Triebfeder gesellschaftlicher Entwicklungen. Durch die Wanderung von Menschen verändern sich u.a. die Bevölkerungszusammensetzungen in Herkunfts- und Zielregionen; Sprachen, Wissen und Kulturtechniken werden verbreitet und weiterentwickelt; Handelsbeziehungen können etabliert und soziale Netzwerke ausgedehnt werden. Diese Veränderungen sind in der Regel verbunden mit gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen bezüglich Raum, Macht, Ressourcen und Kultur. Es können Verteilungskonflikte zwischen „alter“ und „neuer“ Bevölkerung, Angst vor Überfremdung und Rassismus entstehen. Kulturelle Selbst- und Fremdbilder werden teilweise in Frage gestellt. „Migration“ und „Integration“ gehören daher zu den zentralen Themen gesellschaftlicher und politischer Diskussion, wobei die hohen Zuwanderungsraten von Flüchtlingen im Jahre 20151 nach Deutschland deren aktuellen Anlass darstellen. Aus der großen gesellschaftlichen Relevanz des Themas „Migration“ ergibt sich die Notwenigkeit seiner Behandlung im Schulunterricht, der im Sinne einer fächerübergreifenden Politischen Bildung den Auftrag hat, SchülerInnen zu mündigen BürgerInnen in einer demokratischen Gesellschaft zu erziehen. Ziel ist es die gesellschaftlichen Diskussionen um u.a. Migration nicht nur zu verstehen, sondern auch kritisch zu bewerten, um auf dieser Grundlage eine eigene Meinung zu entwickeln, Entscheidungen zu treffen und sich an der Gestaltung der Gesellschaft zu beteiligen (vgl. Budke, 2016). Aufgrund der vielfältigen raumbezogenen Effekte von Migration ist dieses Thema zentral im Geographieunterricht verankert. Im Gegensatz zum Geschichtsunterricht, in dem in der Regel die historischen Migrationsbewegungen thematisiert werden, kann dieser den Schwerpunkt auf aktuelle Phänomene legen. Migration ist für den Geographieunterricht jedoch nicht nur als Unterrichtsthema relevant, das entsprechend des aktuellen Forschungsstands auch in
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2015 stellten nach Angaben des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge 476. 649 Personen einen Asylantrag in Deutschland. Verfügbar unter: http://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/ DE/Publikationen/Broschueren/bundesamt-in-zahlen-2015.html?nn=9121126 [04.04.2018]. Nach Angaben der United Nations gab es 2015 ca. 243.700.000 MigrantInnen weltweit. Verfügbar unter: http://www.un.org/en/development/desa/population/migration/publications/ wallchart/docs/MigrationWallChart2015.pdf [04.04.2018].
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den Unterrichtsmedien repräsentiert werden sollte, sondern stellt auch einen wesentlichen Einflussfaktor dar, welcher die Zusammensetzung, die Fähigkeiten und die Wertorientierungen der SchülerInnen und LehrerInnen beeinflusst (siehe Abb. 1). Hohe gesellschaftliche Relevanz
Globalisierung
Migration im Geographieunterricht… als Lehr-/Lernvoraussetzung (s. Kap. 3)
als Thema (s. Kap. 1)
Vorstellungen von SchülerInnen und LehrerInnen zum Thema „Migration“ Migrationserfahrungen Stereotypen in Unterrichtsmedien (s. Kap. 2) Selbst- und Fremdbilder Kulturen Multilinguale Kompetenzen von SchülerInnen und LehrerInnen
Migrationsarten Erklärungsansätze für Migration Netzwerke Bedeutung der Migration in unterschiedlichen Regionen Ursachen und Folgen Integration …
…
…führt zu Unterrichtsentwicklung: Transkulturelles und interkulturelles Lernen, multilingualer Geographieunterricht, Inklusion, neue Medien und Methoden, sprachbewusster Geographieunterricht, politische Bildung …und neuen unterrichtspraktischen Konzepten (s. Kap. 4)
politische Rahmenbedingungen
Abb. 1: Migration im Geographieunterricht als Unterrichtsthema, in Unterrichtsmedien und als Lehr-/Lernvoraussetzung (eigene Darstellung)
Heute haben in Deutschland bereits über einem Drittel aller SchülerInnen einen „Migrationshintergrund“23, wobei der Anteil in den westlichen Ballungsgebieten wesentlich höher ist. Dies bedeutet, dass zunehmend SchülerInnen den Geographieunterricht besuchen, die Deutsch als Zweitsprache lernen und darüber hinaus weitere Sprachen beherrschen, welche sie im familiären Kontext erwerben konnten. 2
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Die Definition von Personen mit „Migrationshintergrund“ ist nicht einheitlich, so dass auch die Zahlen der SchülerInnen mit Migrationshintergrund variieren. Eine verbreitete Definition liegt dem Zensus von 2011 zugrunde: „Zur Bevölkerung mit Migrationshintergrund zählen alle Personen, die die deutsche Staatsangehörigkeit nicht durch Geburt besitzen oder die mindestens ein Elternteil haben, auf das dies zutrifft. Im Einzelnen haben folgende Gruppen nach dieser Definition einen Migrationshintergrund: Ausländer, Eingebürgerte, (Spät-) Aussiedler und die Kinder dieser drei Gruppen“ (www.destatis.de). Nach dem statistischen Bundesamt hatten 2017 33% aller SchülerInnen in Deutschland einen Migrationshintergrund. Verfügbar unter: https://www.destatis.de/DE/PresseService/Presse/ Pressemitteilungen/zdw/2017/PD17_006_p002.html [19.02.2018].
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Unterschiedliche religiöse Orientierungen und Wertvorstellungen, eigene Migrationserfahrungen, Lebenserfahrungen in anderen Regionen und unterschiedliche kulturelle Selbst- und Fremdbilder können demzufolge in den Unterricht miteingebracht werden. Es stellt sich die Frage, wie der Geographieunterricht einer zunehmend heterogenen SchülerInnenschaft gerecht werden kann. Tatsächlich scheint eine grundlegende Neuausrichtung und Weiterentwicklung notwendig zu sein, um gerechte Bildungschancen zu ermöglichen und dazu beizutragen, dass alle SchülerInnen am Unterricht teilhaben und ihn mitgestalten können. Dabei sollten alle SchülerInnen die Möglichkeit haben, ihre Persönlichkeit zu entwickeln und sich die für sie und die Gesellschaft zentralen geographischen Kompetenzen anzueignen. Im Folgenden möchten wir daher zunächst auf „Migration“ als relevantes Unterrichtsthema und dessen Darstellung in den Unterrichtsmedien eingehen und daran anschließend die Bedeutung der Migrationsbewegungen für die Veränderung von Lehr- und Lernvoraussetzungen erläutern. Abschließend werden wir aus diesen Überlegungen Konsequenzen für die Unterrichtsentwicklung ableiten und darstellen.
2. BEHANDLUNG DES THEMAS „MIGRATION“ IN DEN GEOGRAPHISCHEN CURRICULA UND UNTERRICHTSMEDIEN 2.1 Das Thema „Migration“ in Curricula für den Geographieunterricht Eine Vielzahl an Studien konnte aufzeigen, dass sowohl nach den länderspezifischen deutschen Curricula im Geographieunterricht der weiterführenden Schulen, als auch im Sachunterricht der Primarstufe, das Thema „Migration“ behandelt werden sollte. Beispielhaft soll dies an den Lehrplänen für Nordrhein-Westfalen (NRW) kurz vorgestellt werden. Im Sachunterricht sollen Kinder die durch Medien, Urlaubsreisen oder Migration gemachten Erfahrungen im Nah- und Fernraum einsetzen, um ein räumliches Verständnis zu erlangen und zu vertiefen (vgl. MSB NRW, 2012, S. 41). In den weiterführenden Schulen sollen Kinder und Jugendliche – unabhängig von der Schulform – die Ursachen und räumlichen Auswirkungen politisch und wirtschaftlich bedingter Migrationen auf die Herkunfts- und Zielgebiete beschreiben können (z.B. in Kl. 7–10 in der Gesamtschule oder in Kl. 7/8 in der Hauptschule) (MSB NRW, 2011a und b). Daneben sollen auch die Vor- bzw. Nachteile für jeden Einzelnen betrachtet werden. Ebenso wird erwartet, dass die Folgen von Migration in städtischen und ländlichen Räumen dargestellt (z.B. Kl. 7–9 am Gymnasium) und die weltweit zunehmenden Wanderungsbewegungen sowie deren Folgen und Auswirkungen beschrieben werden (vgl. MSB NRW, 2007; MSB NRW, 2011a). In der Oberstufe sollen die SchülerInnen dann die sozioökonomischen und räumlichen Auswirkungen internationaler Migration auf die Herkunfts- und Zielgebiete erläutern lernen sowie die Wechselwirkungen zwischen Tragfähigkeit, Ernährungssicherung und Migration erfassen (vgl. MSB NRW, 2013, S. 31). Budke & Hoogen (2018, S. 133f.) haben Curricula aus NRW, Niedersachsen und Berlin/Brandenburg
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hinsichtlich der Vorgaben zum Thema „Migration“ untersucht. In NRW soll Migration im thematischen Zusammenhang mit Bevölkerungswachstum und -verteilung in der Welt sowie räumliche Auswirkungen von politisch und wirtschaftlich bedingter Migration in den Herkunfts- und Zielgebieten vermittelt werden. Im Gegensatz zu NRW ist in Niedersachsen das Thema „Migration“ viel seltener Unterrichtsgegenstand. Die untersuchten Curricula gehen über allgemeine Hinweise zur Thematik nicht hinaus. Bei der Analyse der Curricula von Berlin/Brandenburg durch Niehaus (2017) wurde deutlich, dass das erst zum Ende der zehnten Klasse behandelt und dann in der Oberstufe fortgesetzt wird. In Bayern sollen im Geographieunterricht der Realschule die Themen „Bevölkerungsentwicklung“ und „Migration“ vor allem im Hinblick auf Ursachen und Folgen sowie im Zusammenhang mit „Globalisierung“ behandelt werden. Das Thema „Migration“ findet in den Lehrplänen der Sekundarstufe I in Bayern am Gymnasium hingegen keine Erwähnung (vgl. ebd., S. 19). In den Lehrplänen von Sachsen finden sich für die zehnte Klasse im Rahmen der Behandlung des „heimatlichen Kulturraums“ Verweise auf die Themen „Bevölkerungsbewegung, „Globalisierung“, „Migration“ und „Pendelwanderungen“ (vgl. Niehaus, 2017). Die verschiedenen Analysen zu curricularen Vorgaben zeigen, dass „Migration“ als Unterrichtsthema flächendeckend im deutschen Geographieunterricht verankert ist, wobei die genauen inhaltlichen Schwerpunkte variieren. Zur Frage, wie diese Vorgaben durch die Lehrkräfte umgesetzt werden, liegen bisher keine empirischen Studien vor. Es ist allerdings davon auszugehen, dass die Darstellung des Themas „Migration“ in den gängigen Unterrichtsmedien, wie den Schulbüchern, einen Einfluss auf die Unterrichtspraxis hat. Daher wird auf diese Darstellungen im Folgenden eingegangen.
2.2 Das Thema „Migration“ in geographischen Unterrichtsmedien Die vergleichende Analyse von Schulbüchern der Fächer Sozialkunde/Politik, Geschichte und Geographie ergibt, dass, im Gegensatz zu den Geschichtsschulbüchern, in Geographieschulbüchern die Themen „Migration“ und „Integration“ häufig ausgehend von sozialwissenschaftlichen Ansätzen systematischer und differenzierter betrachtet werden sowie ein stärkerer Raumbezug betont wird – dies wird an Themen wie „Binnen- und Außenwanderung“ sowie „Emigration und Immigration“ im Geographieunterricht deutlich (vgl. Beauftrage der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration, 2015; Niehaus, 2017). Ferner wird in den Geographieschulbüchern zwischen freiwilliger und unfreiwilliger sowie zwischen legaler und illegaler Migration unterschieden, so z.B. beim Thema „Flucht“. Die Analyse der Geographieschulbuchaufgaben zeigt eine hohe Präsenz an Aufgaben zur Reproduktion von Fachwissen und zur Erarbeitung von strukturellen Zusammenhängen, die häufig über Rollenspiele erlernt werden sollen. Viele der analysierten Aufgaben führen nicht zu einer gelungenen Anerkennung von Diversität, sondern fördern eher die Verbreitung und Reproduktion von Stereotypen durch die Zu-
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schreibung unterschiedlicher kultureller Identitäten (Beispielaufgabe: „Wir untersuchen fremde Kulturen am Schulort“, Diercke 2/3, 2009, zitiert nach Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration, 2015, S. 46). Einhergehend mit den Schulbuchaufgaben bemühen sich insbesondere Geographieschulbücher Empathie mit MigrantInnen zu vermitteln. Dabei werden häufig einzelne Personen und deren individuelle Schicksale vorgestellt. Die SchülerInnen sollen sich in ihre Lage versetzen und sowohl die Migrationsgründe, als auch die Probleme und Gefahren, zum Beispiel auf dem Weg der Wanderung, kennenlernen. Dabei erscheinen die Einzelschicksale letztlich als stereotyp inszenierte Beispiele, die vor allem aus dem globalen Süden kommen. Insbesondere anhand des Modells der Push-Pull-Faktoren werden in geographischen Schulbüchern Gründe für freiwillige und unfreiwillige Migrationen aufgearbeitet. Es werden überwiegend negative Folgen sowohl für die Herkunfts- als auch für die Zielländer dargestellt. Migration erscheint dabei häufig als Krisenszenario (vgl. ebd., S. 57), wobei die Auswirkungen auf verschiedenen Maßstabsebenen vorgestellt werden. Dabei werden auf der lokalen und regionalen Ebene häufig Themen wie „Segregation“, „Bevölkerungsentwicklungen und -verteilungen“ sowie „Verdichtungen“ am Beispiel von „ethnic neighborhoods“ präsentiert. Ferner werden auf regionaler und vor allem auf nationalstaatlicher Ebene Themen wie „Landflucht, „grenzüberschreitende Migration“ sowie die „Schließung der Grenzen Europas“ thematisiert. Auf kontinentaler Maßstabsebene kommt das Thema der „Kolonisierung Nordamerikas“ häufig hinzu. Auffällig ist, dass in aktuellen Schulbüchern das Modell der „Kulturräume“ oder sogar das rassistisch konnotierte Modell der „Kulturerdteile“ reproduziert und völlig unreflektiert vermittelt wird (vgl. ebd., S. 61). Grabbert (2010) hat 210 niedersächsische Schulbücher der Fächer Erdkunde, Gemeinschaftskunde, Geschichte, Politik und Gesellschaftslehre sowie Sachunterricht und Philosophie/Werte und Normen untersucht und fand heraus, dass Migration häufig einseitig als Arbeitsmigration oder Flucht beschrieben wird. MigrantInnen werden dabei häufig als Opfer dargestellt und selten als aktiv Handelnde. Beispiele für erfolgreiche Integration finden sich in den untersuchten Schulbüchern hingegen nicht. Auch die Begrifflichkeiten zu Migration, Flucht und Integration werden kaum eindeutig bzw. richtig verwendet. Nicht nur Stereotype, sondern auch rassistische Klischees werden in Schulbüchern reproduziert, was sich u.a. bei den vermittelten „Afrikabildern“ zeigt (vgl. Guggeis, 2004; Marmer, 2013; Matthes, 2004; Osterloh, 2008). Budke (2013) konnte durch die Analyse von Schulbüchern aus Brandenburg und Berlin nachweisen, dass den Schulbüchern größtenteils ein essentialistisches und statisches Kultur- (raum)verständnis zugrunde liegt. Dies erklärt, warum MigrantInnen aufgrund ihrer angeblich anderen Kultur häufig als „Fremde“ dargestellt werden, die bei der Integration in „die“ neue Kultur des Gastlandes Probleme haben und denen mit Toleranz begegnet werden müsste. Aufgrund der großen Bedeutung der Darstellung des Themas „Migration“ in den Unterrichtsmedien, werden im zweiten Kapitel dieses Buches diesbezügliche Analysen vorgestellt. Christiane Hintermann legt die Ergebnisse einer österreichischen Schulbuchanalyse dar, in der sie typische Darstellungen von Migration und MigrantInnen aufzeigt und kritisch hinterfragt (siehe Kap. 2.2). Dazu passend stellt
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Matthias Land Ergebnisse einer Analyse des seit fast 130 Jahren immer wieder neuaufgelegten Diercke-Weltatlas vor und fragt danach, wie Migrationsprozesse und MigrantInnen kartographisch thematisiert werden und wie Migration als Gegenstand geographischer Medien hervorgebracht wurde und wird (siehe Kap. 2.1). Neben Schulbuchtexten, Bildern und Karten können auch Comics im Geographieunterricht eingesetzt werden, um in die Thematik „Migration“ einzuführen. Alexandra Budke, Veit Maier und Frederik von Reumont stellen von Lehramtsstudierenden erstellte Comics zum Thema „Rassismus“ dar und analysieren das zugrundeliegende theoretische Verständnis der Studierenden (siehe Kap. 2.3). Dieser thematische Fokus wurde gewählt, da Rassismus dazu führen kann, dass MigrantInnen diskriminiert und am sozialen sowie wirtschaftlichen Aufstieg gehindert werden. Ein weiteres Unterrichtsmedium sind schülerInnenorientierte Texte, Lieder oder Geschichten. Ronja Ege zeigt auf der Basis einer Untersuchung von SchülerInnenvorstellungen zum Thema „Hip Hop“ wie sich dieser zur Entwicklung eines transkulturellen Verständnisses im Geographieunterricht einsetzen lässt (siehe Kap. 2.4).
3. „MIGRATION“ ALS UNTERRICHTSTHEMA Die bisherigen Analysen der Curricula und Geographieschulbücher haben Defizite und „blinde Flecken“ offengelegt. Daher soll im Folgenden auf wichtige Zusammenhänge, Prozesse und Erklärungsansätze eingegangen werden, welche Gegenstand der gesellschaftlichen Auseinandersetzung und wissenschaftlichen Diskussion sind, bislang aber nicht ausreichend im Geographieunterricht thematisiert werden. Der Forschungsstand kann allerdings im Rahmen dieser Einführung nur angerissen werden und wird zu unterrichtsrelevanten Themen im ersten Kapitel dieses Buches vertieft.
3.1 Migrationsarten, Begriffe und Klassifikationen Migrationsarten und begriffliche Definitionen werden in Schulbüchern bislang kaum präzise dargestellt, ebenso wenig werden die SchülerInnen angeleitet, die Begriffe kritisch zu hinterfragen. „Mobilität“ und „Migration“ sind zwei dieser Begriffe, die bislang kaum im Unterricht unterschieden werden. Mobilität versteht auf Basis systemtheoretischer Überlegungen jegliche Positionsveränderung von Menschen in einem System. Dabei wird zwischen sozialer und räumlicher Mobilität unterschieden. Erstere beschreibt z. B. den Auf- oder Abstieg aufgrund von Einkommenssituationen. Von horizontaler Mobilität wird gesprochen, wenn sich eine Person zwischen zwei Elementen, deren Position sich in einer hierarchischen Gliederung befindet, bewegt (vgl. Gans, 2011, S. 117). Räumliche Mobilität hingegen beschreibt das Phänomen „Bewegung“, wenn die Bezugskategorien bspw. eine Gemeinde, Regionen oder Staaten sind. Migration ist Teil der räumlichen Mobilität. Unter Migration wird im Rahmen dieses Ansatzes verstanden, dass eine Person ihre räumliche Position (z.B. durch einen Wohnungswechsel) dauerhaft verändert. Im
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Gegensatz zum Wohnortswechsel innerhalb eines Nationalstaats fassen die Vereinten Nationen Migration als einen grenzüberschreitenden Wohnortswechsel auf und differenzieren nach der Aufenthaltsdauer (long-term-migrant vs. short-term-migrant) (vgl. United Nations (UN), 1998, S. 18). Zu räumlicher Mobilität zählen neben Migration auch zirkuläre Bewegungen (z.B. PendlerInnen oder Dauerwanderungen durch Nomaden und Transnationalismus). TransmigrantInnen zeichnen sich durch einen regelmäßigen Wohnortswechsel meist zwischen unterschiedlichen Staaten aus. Viele Menschen leben heute ein multilokales Leben, da die räumliche Präsenz für menschliche Interaktion durch die Globalisierung und Technisierung an Bedeutung verloren hat (vgl. Hillmann, 2016, S. 78). Die Kernthese dieses Ansatzes besagt, dass „eine Entkopplung von geographischen und sozialem Raum stattfindet, die zur Entstehung von transnationalen sozialen Räumen führt bzw. beiträgt [...]“ (Haug, 2000, S. 36). Neben einer räumlichen und zeitlichen Differenzierung von Migration wird häufig auch der rechtliche Status zur Typisierung herangezogen (legal versus illegal). Visa und Aufenthaltsgenehmigungen regeln den Status von MigrantInnen. Diese legen unter rechtlicher Perspektive fest, wie lange und mit welchen Rechten MigrantInnen in einem Land sein dürfen. Fruchtbar kann im Unterricht die kritische Reflexion des Begriffes „illegal“ sein, der neben der Angabe des ausländerrechtlichen Status häufig zur Kriminalisierung der MigrantInnen eingesetzt wird (vgl. Hoogen, 2016). Neben der Einführung der wissenschaftlichen Begriffe sollten im Geographieunterricht auch die in der gesellschaftlichen Diskussion verwendeten Begriffe mit ihren teilweise sehr abwertenden Konnotationen im Unterricht explizit thematisiert werden. Dies sind z.B. „Ausländer(in)“, „Migrant“, „Flüchtling“, „Asylant(in)“, „Migrationshintergrund“ etc. Zur Verwendung dieser Begriffe kann z.B. eine kritische Medienanalyse durchgeführt werden. Dabei sollte auch der jeweilige Verwendungszusammenhang (z.B. im Kontext von Diskriminierung und Rassismus) und die eigene Kommunikationspraxis mit den SchülerInnen kritisch reflektiert werden. Migrationen können auch nach ihrem Umfang unterschieden werden (Massenwanderungen versus Einzelwanderungen) sowie nach Grad der Freiwilligkeit (unfreiwillig = z.B. Menschenhandel vs. freiwillig = z.B. Alterswanderung). Zudem können Migrationen nach dem Grund für die Migrationsentscheidung klassifiziert werden. Im Unterricht werden bislang vor allem die ökonomischen Aspekte als Gründe für Migration angesprochen. Es sollte allerdings nicht nur die Arbeitsmigration thematisiert werden, sondern z.B. auch die Bildungsmigration und der mögliche Einfluss von Klimaveränderungen auf Migration. Grundlage hierfür können der Aufsatz von Günther Weiss zur Bildungsmigration in diesem Buch (siehe Kap. 1.3) und der Artikel von Boris Braun und Amelie Bernzen sein. Letzterer untersucht, inwiefern Klimawandel und Meeresspiegelanstieg einen Einfluss auf die Migration in Bangladesh haben (siehe Kap. 1.2). Weitere interessante thematische Schwerpunkte könnten Muster der Remigration, Bedeutung von sozialen Netzwerken, Governance des internationalen Migrationsmanagements, geschlechtsspezifische Dimensionen von Migration, Repräsentation von Migranten sowie Identitätszuschreibungen über Diskurse sein (vgl. Hillmann, 2016, S. 65f.).
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3.2 Erklärungsansätze für Migration Bis heute wird zur Erklärung von Migration vor allem das Push-Pull-Modell im Geographieunterricht behandelt, was in fast jedem analysierten Schulbuch zu finden ist (vgl. Hoogen, 2016, S. 46). Bereits in den 1960er Jahren wurde versucht, die ab- und anziehenden Faktoren in mathematische Beziehungen zu einander zu setzen, um Gründe besser bestimmen und Migrationen vorhersehen zu können. Innerhalb des Modells werden allerdings in der Regel nur wenige Variablen berücksichtigt, welche auf Staatenebene verfügbar sind. Beispielsweise werden für Pull-Faktoren (anziehende Faktoren) häufig das hohe Bruttonationaleinkommen im Einwanderungsland, geringe Arbeitslosigkeit, der technische Fortschritt oder das Einhalten der Menschenrechte herangezogen. Als Push-Faktoren (abstoßende Faktoren) gelten dahingegen häufig eine hohe Arbeitslosenquote, eingeschränkte Bildungs- und Aufstiegsmöglichkeiten, hohe Kriminalitätsraten und starke Umweltbelastungen als Gründe für Wanderungsbewegungen (vgl. Hillmann, 2016, S. 54f.). Da PushPull-Modelle makroanalytisch vorgehen, können sie nicht erklären, warum sich BewohnerInnen des gleichen Staats, auf die theoretisch die gleichen Push- und Pullfaktoren wirken, unterschiedlich verhalten, d.h. warum sich nur ein kleiner Teil der Bevölkerung für die Migration entscheidet und ein Großteil nicht. Zudem kann die Wahl der Zielgebiete nicht zufriedenstellend erklärt werden, da viele Staaten mit ähnlich hohem Entwicklungsstand existieren, die allerdings ganz unterschiedlich stark von MigrantInnen(gruppen) aufgesucht werden. Das vereinfachte Push-PullModell kann die Komplexität der von Individuen in sozialen Kontexten gemachten Migrationsentscheidungen nur unzureichend darstellen und häufig werden Machtverhältnisse oder Barrieren nicht berücksichtigt. Lee (1972) hat diese Kritik bereits in den 1970er Jahren geäußert und begründete damit den Übergang zu interaktionistischen Ansätzen (vgl. Hillmann, 2016, S. 54). Die Lehrkräfte sollten das PushPull-Modell daher nur begrenzt und sehr reflektiert im Geographieunterricht einsetzen. Im Sinne einer wissenschaftsorientierten Unterrichtsgestaltung sollten sie auf die Grenzen dieses Ansatzes hinweisen. Dabei kann thematisiert werden, dass individuelle Wahrnehmungen und Bewertungen von der Situation in Herkunftsund Zielregion durch die Migranten, Images der Länder, persönliche Motive und individuell wahrgenommene Handlungsoptionen und -barrieren, der Einfluss des familiären Umfelds etc. in diesem Ansatz nicht bedacht werden. Neben dem Push-Pull-Modell sollten auch system- und handlungstheoretische Ansätze im Unterricht besprochen werden. Zu den systemtheoretischen Ansätzen gehört die von Hoffmann-Nowotny (1970) entwickelte Migrationstheorie. Hier werden nicht die Individuen oder Gruppen von Migranten betrachtet, sondern das System oder die Systeme, in denen Migration stattfindet. Migration wird demnach aufgrund unterschiedlicher Machtverhältnisse ausgelöst (vgl. Hoffmann-Nowotny, 1970, S. 24; zitiert nach Hillmann, 2016, S. 68). Allen Arbeiten, die einen systemtheoretischen Ansatz verfolgen, ist gemein, „dass sie nicht auf der Ebene des Individuums argumentieren, sondern dieses nur als funktionalen Teil einer übergeordneten Struktur betrachten“ (Hillmann, 2016, S. 70). Für den Geographieunterricht
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könnte dieser Ansatz bedeuten, dass vor allem die unterschiedlichen Machtverhältnisse zwischen MigrantInnen und Personen der Zielländer betrachtet werden. Es könnten aber auch die unterschiedlichen Machtverhältnisse betrachtet werden, die MigrantInnen aufgrund ihres unterschiedlichen Rechtsstatus besitzen. Zum Beispiel könnten die unterschiedlichen Rechte und Pflichten von MigrantInnen aus EU-Staaten mit denen von MigrantInnen aus Drittstaaten verglichen werden.Handlungstheoretische Ansätze dienen der Erklärung von Migrationsentscheidungen handelnder Subjekte. Diese sind für die geographische Migrationsforschung von großer Bedeutung, bieten sie doch die Basis für Untersuchungen von sozialen Netzwerken und Transnationalismus (vgl. Glasze & Pott, 2014). Insbesondere bei internationaler Migration sind die sozialen Netzwerke sowohl im Herkunftsland, als auch im Zielland von großer Bedeutung für die Migrierenden, da über diese Informationen verbreitet werden und die Migrierenden vielfältige Hilfe erhalten. Diese Erkenntnis wurde bereits in den 1960er Jahren mit dem Begriff der „Kettenmigration“ anerkannt. Dabei wurden diese Netzwerke häufig als Folge von verwandtschaftlichen, freundschaftlichen oder beruflichen Beziehungen gesehen. Die Ursachen für Migration sind demnach nicht nur politisch oder ökonomisch bedingt, sondern werden auch durch soziale Aspekte beeinflusst. In Anlehnung an Bourdieu (1983) werden in der geographischen Migrationsforschung die sozialen Netzwerke als „soziales Kapital“ verstanden. Es wird argumentiert, dass dieses eine wesentliche Triebfeder von Migration ist. Das Ausmaß der Ressource „Sozialkapital“ im Herkunftsland sowie im Zielland beeinflusst u.a. Migrationsentscheidungen, die Wahl der Zielgebiete und den „Erfolg“ im Aufnahmeland (vgl. Haug & Pointner, 2007). Erst das Vorhandensein von „sozialem Kapital“ ermöglicht das Funktionieren von Migrationsnetzwerken. Verfügt eine Person über „soziales Kapital“, nimmt sie/er am Netz von sozialen Beziehungen teil. Dieses soziale Netz hilft beispielsweise im Zielland anzukommen, eine Wohnung zu finden oder bei Behördengängen. In diesem Band werden von Philipp Aufenvenne, Miriam Kuckuck, Nina Leimbrink, Max Pochadt und Malte die sozialen Netzwerke von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund in ihren Klassenverbänden untersucht und als Integrationsfaktor angesehen (siehe Kap. 1.4).
3.3 Auswirkungen von Migration Die Auswirkungen von Migrationen sollten im Unterricht multidimensional und multiperspektivisch betrachtet werden. Es sollten ökonomische, soziale und kulturelle Auswirkungen auf verschiedenen Maßstabsebenen für die Herkunfts- und für die Zielländer sowie für die beteiligten Personengruppen (u.a. MigrantInnen, Familien im Herkunftsland und/oder Personen der Aufnahmegesellschaft) diskutiert werden. Für die Herkunftsgebiete kann die (massenhafte) Emigration sowohl nachteilige als auch positive Auswirkungen haben. Wandern in einem Land die Wissen-
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schaftlerInnen und AkademikerInnen aus, wird von „brain drain“ gesprochen. Beispielsweise hat die zahlenmäßig hohe Abwanderung des medizinischen Personals in Burkina Faso zu einer medizinischen Unterversorgung im Land geführt. Auch andere, meist männliche, Hochschulabsolventen verlassen das Land, sodass z.B. in vielen Teilen Burkina Fasos der Männeranteil bei nur 70 Männern auf 100 Frauen liegt (vgl. Oltmer, 2015, S. 13). Massive Abwanderung von junger Bevölkerung kann zudem dazu führen, dass insbesondere ältere Menschen und Kinder nicht gut versorgt sind und in Armut leben müssen. Allerdings könnten RückwanderInnen auch das im Ausland erworbene Wissen, Erfahrungen und soziale Kontakte mitbringen, was eine Basis für wirtschaftliche und soziale Impulse im Herkunftsland darstellen kann. Dieses Phänomen heißt dann „brain-gain“. Als positiv für Herkunftsgebiete kann zudem die Entlastung des Arbeitsmarktes angesehen werden. Insbesondere werden die Rückflüsse von Geld, Wissen, Ideen und Wertvorstellungen als positiv betrachtet. Diese Rimessen waren vor der Weltwirtschaftskrise sogar höher als die gesamte weltweite Entwicklungshilfe (im Jahr 2009 lag der Wert der Rimessen bei über 316 Mrd. US-Dollar) (vgl. Wehrhahn & Sandner Le Gall, 2011, S. 103). Für die MigrantInnen selbst kann Migration positive wie negative Folgen haben. Die Möglichkeit auf Bildung, den Zugang zum Arbeitsmarkt oder die Einhaltung der Menschenrechte sind bspw. positiv zu vermerken. Aber auch negative Folgen wie z.B. eine mögliche Benachteiligung bei der Wohnungswahl oder im Berufsleben können auftreten. Ebenso können rassistische Anfeindungen und gewalttätige Begegnungen Folgen von Migration sein. Betrachtet man die ökonomischen Auswirkungen von Migrationen auf die Zielgebiete, könnte im Geographieunterricht das migrantische bzw. ethnische Unternehmertum von Interesse sein, da dies den SchülerInnen aus ihrer Alltagswelt bekannt ist (z.B. asiatisches Lebensmittelgeschäft). Bei diesem theoretischen Ansatz wird von fünf Grundannahmen ausgegangen: Es bestehen eine starke Vernetzungen zwischen den UnternehmerInnen einer Minderheit (z.B. unter den VietnamesInnen innerhalb Berlins) sowie räumliche Konzentrationen (z.B. Straßenzüge mit verschiedenen arabischen Geschäften), die Waren mit häufigem Bezug zum Herkunftsland der UnternehmerInnen anbieten (z.B. Lebensmittel aus China) und Arbeitskräfte aus demselben Land und der Familie anstellen (vgl. Hillmann, 2016, S. 90). Im Zielland gelten die Zugewanderten zudem als mögliche Arbeitskräfte für Berufe, die nur wenig nachgefragt werden (in Deutschland z.B. in der Altenpflege oder im IT-Sektor). Viele postindustrielle Staaten „leiden“ unter dem demographischen Wandel. Wenn junge Personen zuwandern, können sie die Überalterung der Gesellschaft mindern und wenn sie einer sozialversicherungspflichtigen Tätigkeit nachgehen, die Funktionsfähigkeit der Sozialsysteme mit tragen (vgl. Wehrhahn & Sandner Le Gall, 2011, S. 53). Positive Effekte kann Migration im Aufnahmeland zudem in sozialer und kultureller Hinsicht haben. Neue Ideen, Problemlösungen und Werte können verbreitet werden (mehr zum Konzept von Multikulturalität bei Neubert, Roth & Yildiz, 2008). Da viele MigrantInnen zunächst unterbezahlte Jobs haben oder arbeitslos und von Armut besonders betroffen sind, kann Migration aber
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auch zur Unterschichtung der Gesellschaft führen. Steigende soziale Disparitäten können folglich soziale Konflikte im Aufnahmeland auslösen. Im Kontext der Thematisierung der sozialen Auswirkungen von Migration sollte auch das Thema „Integration“ im Unterricht behandelt werden. Als Integration wird hier ein „offener, komplexer und multidirektionaler Prozess (verstanden), an dessen Ausgestaltung alle Mitglieder der Migrationsgesellschaft gleichermaßen beteiligt sind“ (Beauftrage der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration, 2015, S.11). Wie das obige Zitat ausdrückt, folgt die Integrationspolitik dem Grundsatz des Förderns und Forderns. Auf der einen Seite haben ZuwanderInnen die Pflicht, die Grundwerte unserer demokratischen Rechtsordnung zu respektieren und Deutsch zu lernen, auf der anderen Seite soll die Gesellschaft eine Chancengleichheit und Gleichbehandlung aller in den Bereichen Gesellschaft, Wirtschaft, Politik und Bildung gewährleisten. Insbesondere den Sprachkenntnissen werden dabei immer wieder große Bedeutung für den Integrationserfolg zugeschrieben. Andere Faktoren werden in Diskussionen häufig außer Acht gelassen. Esser (2006, S.I) schreibt: „Sprache hat im Prozess der individuellen wie der gesellschaftlichen Integration eine herausgehobene Bedeutung, da sie mehrere Funktionen erfüllt. Sie ist sowohl Medium der alltäglichen Kommunikation als auch eine Ressource, insbesondere bei der Bildung und auf dem Arbeitsmarkt“. Der Sprache kommen demnach bei der Integration verschiedene Funktionen zu. Erstens dient die Sprache des Ziellandes als Ressource, mit dessen Hilfe andere Ressourcen erlangt werden können. Zweitens dient die Sprache als Symbol, mit dessen Hilfe Dinge bezeichnet, Emotionen ausgedrückt und transportiert, aber auch Situationen beschrieben werden. Drittens dient die Sprache als Medium der Kommunikation und der Verständigung (vgl. ebd., S. 11). Bei der sozialen Integration ergeben sich in Bezug auf die Sprache vier Typen (Esser, 2006): 1. Bei der Marginalität gibt es weder eine Inklusion in die ethnische Gruppe, noch in die Aufnahmegesellschaft. Die SprecherInnen beherrschen eine begrenzte Bilingualität. 2. Bei der ethnischen Segmentation besteht eine Inklusion in die ethnische Gruppe, aber eine Exklusion in die Aufnahmegesellschaft. Hier sprechen die Personen monolingual ihre Muttersprache (L1). 3. Bei der Assimilation besteht eine Inklusion in die Aufnahmegesellschaft, aber eine Exklusion in die ethnische Gruppe. Die Personen sprechen monolingual die Sprache des Aufnahmelandes. 4. Bei der multiplen Inklusion sind die Personen in beide sozialen Systeme inkludiert und beherrschen beide Sprachen (L1 und L2). Alle vier Bereiche dienen als Erklärungsansätze für Integration, aber auch für Theorien des Spracherwerbs (vgl. Esser, 2006, S. 7f.). Allerdings hängt die Integration der MigrantInnen in die Gesellschaften der Zielländer nicht nur von ihren kognitiven, sozialen oder sprachlichen Fähigkeiten und/oder ihren unterschiedlichen Motivationen ab, sondern auch von den vorhandenen Möglichkeiten der systemischen Integration (z.B. Arbeitsmarkt und/oder Bil-
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dungswesen) und von der Offenheit der Personen in der Aufnahmegesellschaft. Daneben sind auch Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, welche der Integration entgegenwirken, zu beachten. Auch der Geographieunterricht möchte durch interkulturelles Lernen dazu beitragen, ein friedliches und gleichberechtigtes Leben zu ermöglichen. Es sollen diskriminierende, fremdenfeindliche oder rassistisch bedingte Anfeindungen minimiert und die SchülerInnen für den problematischen Gebrauch von Stereotypen im Kontext von Rassismus sensibilisiert werden (vgl. Budke, 2008; 2013). Zudem bestehen Möglichkeiten, den Geographieunterricht sprachbewusst zu gestalten und damit auch die sprachlichen Fähigkeiten der SchülerInnen zu erweitern (s. Abschnitt 5.3).
4. BEDEUTUNG VON MIGRATION FÜR DIE VERÄNDERUNG VON LEHR- UND LERNVORAUSSETZUNGEN „Migration“ ist allerdings nicht nur ein wichtiges Thema des Geographieunterrichts, Einwanderung als gesellschaftlich durchdringendes Phänomen beeinflusst entscheidend die Zusammensetzung, die Fähigkeiten und Interessen der SchülerInnen und der Lehrkräfte. Daher soll im Folgenden auf die veränderten Lehr- und Lernvoraussetzungen, welche im Geographieunterricht berücksichtigt werden sollten, eingegangen werden.
4.1 Multilinguale Kompetenzen der SchülerInnen Aufgrund verschiedener „Einwanderungswellen“ besuchen zunehmend SchülerInnen allgemeinbildende Schulen, die neben Deutsch noch weitere Sprachen beherrschen und damit über multilinguale Kompetenzen verfügen. „Mehrsprachigkeit“ ist ein Phänomen, das für fast jedes fünfte Kind Realität ist (vgl. vbw, 2016, S. 147). Aktuelle Schulleistungsstudien zeigen, dass die wichtigsten in der Sekundarstufe I in Deutschland beherrschten Erstsprachen neben dem Deutschen das Türkische/Kurdische, das Russische und das Polnische sind (vgl. Göbel & Buchwand, 2017, S. 88). Die sprachliche Diversität ist allerdings sehr groß und die Bedeutung der einzelnen Sprachen regional sehr unterschiedlich. So weist die Erhebung der Herkunftssprachen von Hamburger GrundschülerInnen insgesamt 90 verschiedene Sprachen auf, wobei Türkisch, Polnisch und Russisch die wichtigsten waren (vgl. Fürstenau et al., 2003 zit. nach Göbel & Buchwand, 2017, S. 89). In Essener Grundschulen wurden ca. 100 verschiedene Sprachen ermittelt, wobei die häufigsten Türkisch, Arabisch, Polnisch und Russisch waren (vgl. Chlosta et al., 2003 zit. nach Göbel & Buchwand, 2017, S. 89f.). Die multilingualen Kompetenzen von SchülerInnen werden im Unterricht, der in der Regel monolingual auf Deutsch stattfindet, bisher allerdings nur unzureichend berücksichtigt (vgl. Allemann-Ghionda, 2008). Eine Studie von Duarte et al. (2013) bei der 59 Stunden im sozialwissenschaftlichen Unterricht videographiert
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wurden, ergab, dass 96 % der 1.716 erfassten sprachlichen Interaktionen der SchülerInnen untereinander und zwischen Lehrkräften und SchülerInnen auf Deutsch stattfanden. Nur 4 % der Interaktionen waren nicht deutschsprachig oder gemischtsprachig. Gogolin (2003) kritisiert in diesem Zusammenhang den „monolingualen Habitus“ der deutschen Schule, der einen Großteil der Herkunftssprachen der SchülerInnen zu illegitimen Sprachen werden lässt. Die Mehrsprachigkeit der SchülerInnen wird als Potential für fachliches Lernen, z.B. bei der Berücksichtigung von Multiperspektivität oder durch Auswertung unterschiedlicher sprachlicher Quellen, wie z.B. fremdsprachige Zeitungsartikel, offenbar bisher kaum genutzt. Hintergrund ist, dass europäische Staaten im Prozess der Nationenbildungen die gesellschaftliche Einsprachigkeit und Standardisierung vorantrieben, um staatliche Identitätsbildung zu ermöglichen. „Das tief verankerte Konzept der gesellschaftlichen Einsprachigkeit in sich homogener Nationen mit ihren jeweils staatlichen Organisationsformen zementiert geradezu die Ansprüche darauf, Mehrsprachigkeit nicht zuzulassen“ (Ehrlich, 2013, S. 36). Damit bleiben in Deutschland wichtige Ressourcen ungenutzt. Außerdem wird auf die Lebenswelt in postmodernen und globalisierten Gesellschaften nicht genügend vorbereitet. In der Geographiedidaktik gibt es ebenso wie in anderen Fachdidaktiken nur wenige Forschungsprojekte, welche auf die Multilingualität von SchülerInnen und Lehrkräften und die Nutzbarmachung der nicht in der Schule gelehrten Herkunftssprachen für geographisches Lernen fokussieren. Eine Ausnahme ist ein Projekt von Weißenburg (2015), in dem mehrsprachliche Unterrichtssequenzen für Grundschulkinder entwickelt und ausgewertet wurden.
4.2 Deutsch als Zweitsprache Es werden zunehmen SchülerInnen an deutschen Schulen unterrichtet, die Deutsch als Zweitsprache lernen. Zu dieser Gruppe gehören einerseits neu Zugewanderte und andererseits Kinder und Jugendliche der zweiten oder dritten MigrantInnengeneration, die in Deutschland aufgewachsen sind und im familiären Umfeld zunächst die Herkunftssprache(n) ihrer Eltern gelernt haben. Neu zugewanderte Kinder und Jugendliche werden in vielen Bundesländern in sogenannten Sprachlern-, Integrations- oder Willkommensklassen4 unterrichtet, in denen die Vermittlung der deutschen Sprache im Vordergrund steht. Nach einiger Zeit (meist einem Jahr) werden diese Kinder und Jugendlichen in die Regelklassen integriert, wobei die weitere sprachliche Förderung im Deutschen dann in allen Stunden, einschließlich des Fachunterrichts in Geographie, erfolgen muss, da die
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Einen Überblick über Begrifflichkeiten und schulorganisatorische Modelle bietet die Mercatorinstitut-Studie „Neu zugewanderte Kinder und Jugendliche im deutschen Schulsystem“. Verfügbar unter: https://www.mercator-institut-sprachfoerderung.de/fileadmin/Redaktion/PDF/ Publikationen/MI_ZfL_Studie_Zugewanderte_im_deutschen_Schulsystem_final_screen.pdf [15.02.2018].
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SchülerInnen noch nicht über ausgereifte Kenntnisse der Bildungs- und Fachsprache verfügen. Gute Deutschkenntnisse, auch im bildungs- und fachsprachlichen Bereich sind essentiell für die Partizipation am Unterricht, den Schulerfolg und die weitere berufliche Laufbahn dieser SchülerInnen. Zu den Fragen wie sich der Sprachstand dieser SchülerInnen im Geographieunterricht einschätzen lässt und welche Medien und Förderansätze geeignet sind, um die alltags-, bildungs- und fachsprachlichen Fähigkeiten von neu zugewanderten SchülerInnen im Geographieunterricht zu fördern, gibt es bisher nur sehr wenige Forschungsergebnisse. In diesem Band stellen Michael Morawski und Alexandra Budke Resultate einer Studie mit neu zugewanderten Kindern vor, bei der diese, trotz sehr geringer Deutschkenntnisse, kartenbasierte Interviews mit Einheimischen erfolgreich durchführten (siehe Kap. 3.5). Zudem wird von Franziska Dauberschmidt und Miriam Kuckuck eine Untersuchung des fachbezogenen Sprachstandes neu zugewanderter SchülerInnen anhand von „mental maps“ dargelegt (siehe Kap. 3.4). Eine weitere Gruppe von SchülerInnen, die Deutsch als Zweitsprache lernen, besteht aus Personen, die in Deutschland als Kinder von MigrantInnen aufgewachsen sind (vgl. Michalak et al., 2015). Sie sprechen im familiären Umfeld die Sprachen der jeweiligen Herkunftsländer und nutzen Deutsch im Alltag und in der Schule. In der Regel beherrschen sie das Deutsche als Alltagssprache sehr gut, haben allerdings häufig Defizite in der Bildungs- und Fachsprache. Schulleistungsstudien zeigen, dass die Gruppe der SchülerInnen mit Migrationshintergrund in verschiedenen Fächern geringere fachliche Kompetenzen hat, als die Gruppe der SchülerInnen ohne Migrationshintergrund5. Nach der PISA-Studie 2006 zeigt sich, dass 15-jährige Jugendliche mit Migrationshintergrund über geringere naturwissenschaftliche Kompetenzen verfügen als Jugendliche ohne Migrationshintergrund (vgl. PISA-Konsortium Deutschland, 2007). Der PISA-Test 2012 hat auch ergeben, dass die Mathematikkompetenzen von Jugendlichen mit Migrationshintergrund zwei Lernjahre hinter denjenigen von Jugendlichen ohne Migrationshintergrund liegen (vgl. Autorengruppe Bildungsberichterstattung, 2016). Die DESI-Studie hat ergeben, dass Jugendliche der neunten Jahrgangsstufe mit nicht-deutscher Erstsprache im Fach Deutsch einen Leistungsrückstand gegenüber Jugendlichen haben, in deren Elternhaus Deutsch gesprochen wird (vgl. Klieme, 2006, S. 4). Ein Resultat der SOKKE-Studie ist, dass es bereits am Ende des ersten Schuljahrs signifikante Unterschiede zwischen Kindern mit und ohne Migrationshintergrund gab, die in den folgenden beiden Schuljahren nicht ausgeglichen werden konnten. Hierfür war vor allem der unterschiedliche Sprachstand der Kinder ausschlaggebend (vgl.
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Es zeigt sich allerdings ein Einfluss der Nationalität der SchülerInnen auf ihre Schulleistungen, der bisher nicht zufriedenstellend erklärt werden konnte. Während SchülerInnen mit russischem oder polnischem Hintergrund über ein vergleichsweise hohes Bildungsniveau verfügen, zeigt sich ein vergleichsweise niedriges bei SchülerInnen mit türkischem Hintergrund (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, 2008). Verfügbar unter: www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Publikationen/WorkingPapers/wp13-schulische-bild ung.pdf?__blob=publicationFile [04.04.2018].
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Heinze et al., 2011, S. 25ff.). Diese Leistungsdifferenzen führen dazu, dass SchülerInnen mit Migrationshintergrund häufiger die Hauptschule und seltener das Gymnasium besuchen, als SchülerInnen ohne Migrationshintergrund. Während 16 % der SchülerInnen mit Migrationshintergrund die Hauptschule besuchen und 26% das Gymnasium, sind es bei SchülerInnen ohne Migrationshintergrund 9%, welche die Hauptschule und 41%, die das Gymnasium besuchen (vgl. DIPF, 2016, S. 174). Ausländische Jugendliche verlassen die Schule mehr als doppelt so häufig ohne Hauptschulabschluss wie deutsche Jugendliche (vgl. Autorengruppe Bildungsberichterstattung, 2016, S. 175). In der Wissenschaft werden für die beschriebenen Unterschiede drei Erklärungsansätze diskutiert: VertreterInnen der ersten Position sehen den Hauptgrund für den geringeren Bildungserfolg von SchülerInnen mit Migrationshintergrund in deren geringeren Deutschkenntnissen und der nicht ausreichenden schulischen Förderung, um diese Defizite auszugleichen (vgl. Göbel & Buchwald, 2017, S. 170f.). Dabei wird die Relevanz von bildungs- und fachsprachlichen Kompetenzen betont (vgl. Kniffka & Roelcke, 2016, S. 51). Ein weiterer Erklärungsansatz besagt, dass Kinder mit Migrationshintergrund geringere häusliche Unterstützung erhalten, da ihren Eltern die sprachlichen und finanziellen Ressourcen oftmals fehlen (Zusammenfassung der Diskussion bei Hummrich, 2009). Tatsächlich lässt sich ein Teil der Unterschiede bei den Leistungstests durch sozioökonomische Faktoren erklären. Der Zusammenhang zwischen Bildungserfolg und sozialer Herkunft der SchülerInnen (z.B. Bildungsstand der Eltern, Beruf, Einkommen, Risikolagen) ist im deutschen Bildungssystem hoch (vgl. Autorengruppe Bildungsberichterstattung, 2016, S. 163). Dies zeigt, dass gesellschaftliche Ungleichheiten reproduziert werden. Letztlich wird auch von systemischer Diskriminierung durch das Schulsystem gesprochen, da der Unterricht in der Regel monolingual auf Deutsch stattfindet und auf die unterschiedlichen Deutschkenntnisse und multilingualen Fähigkeiten der SchülerInnen im Unterricht in der Regel nicht eingegangen wird (siehe Abschnitte 4.1 und 4.2). „Denn die Schule ist eine Institution, die die unterschiedlichen sprachlichen Voraussetzungen der Kinder und Jugendlichen auf differenzielle Weise anspricht, aufnimmt oder auch ignoriert“ (Dirim & Mecheril, 2010, S. 105). Kinder, welche in Deutschland die „legitimen Sprachen“ Deutsch, Englisch, Spanisch oder Französisch sprechen, haben Vorteile und Kinder, die Sprachen sprechen, die nicht als „Weltsprachen“ gelten, werden benachteiligt. Eine Fallstudie von Große (2015, S. 241ff.) zeigt, dass auf das geringe bildungssprachliche Verständnis im Deutschen von AussiedlerschülerInnnen, die dem Unterricht in Regelklassen folgen sollten, keinerlei Rücksicht durch die Lehrkräfte genommen wurde und wenige Förderangebote im Fachunterricht bestanden. Die befragten LehrerInnen sahen die Sprachförderung nicht als ihre ureigene Aufgabe an. Zudem beklagten sie fehlende Unterrichtsmaterialien und Fortbildungsangebote. Weiterhin schätzten Sie ihre eigenen didaktischen Fähigkeiten zur sprachlichen Förderung im Sachfachunterricht als gering ein (vgl. Große, 2015, S. 241ff.). Eine Befragung von dänischen LehrerInnen ergab, dass diese vor allem die Sprachkenntnisse der SchülerInnen, deren familiärer Hintergrund und das Wohlbefinden in der Schule als ausschlaggebende Faktoren
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für den Schulerfolg ansahen, ihren eigenen Unterricht und ihre didaktischen Fähigkeiten dagegen nicht (vgl. Horst & Holmen, 2007, S. 25). Da die Schulzuweisungen zu den weiterführenden Schulen in Deutschland sehr früh (häufig schon nach der vierten Klasse) erfolgen, werden SchülerInnen, die mit geringen Deutschkenntnissen eingeschult und dann nicht speziell gefördert werden, benachteiligt. Die unterrichtliche Gleichbehandlung von SchülerInnen, die über sehr unterschiedliche Sprachkenntnisse verfügen, führt dazu, dass sich die Unterschiede zementieren und SchülerInnen mit geringeren bildungssprachlichen Kenntnissen geringere Chancen auf Bildungserfolg haben. Auf diese Weise wird die „milieuspezifische Ordnungsstruktur“ (vgl. Hummrich, 2017, S. 475) reproduziert, da es sich vorrangig um SchülerInnen aus sozialschwachen Milieus und/oder um Kinder mit Migrationshintergrund handelt, die geringe bildungssprachliche Fähigkeiten haben. Gerade vor diesem Hintergrund hat die Institution Schule die Aufgabe alle SchülerInnen, die sprachliche Defizite haben, so zu fördern, dass gerechte Bildungschancen entstehen. Bisher hat sich auch die Geographiedidaktik nur selten mit der differenzierten Vermittlung von Fachsprache beschäftigt und der Forschungsstand zur Integration von sprachlichem und fachlichem Lernen im Geographieunterricht ist als marginal zu bezeichnen. Schwerpunkte lagen bisher auf dem bilingualen Geographieunterricht und der Argumentationskompetenz (siehe dazu Übersichten bei Müller & Falk, 2014 sowie bei Budke & Kuckuck, 2017). In diesem Band wenden sich Veit Maier und Christoph Gantefort der Lehramtsausbildung zu, welche die Studierenden dazu qualifizieren sollte in ihrem späteren Berufsleben anspruchsvollen Fachunterricht in sprachlich heterogenen Klassen zu geben. Anhand einer explorativen Studie wird herausgearbeitet, wie Kölner Lehramtsstudierende des Fachs Geographie die sprachlichen Anforderungen ihrer Unterrichtsvorhaben im Praxissemester analysieren (siehe Kap. 3.6).
4.3 Migrationsbedingte Lebenserfahrungen Neu zugewanderte Kinder und Jugendliche verfügen über Lebenserfahrungen in anderen Ländern. Diese Tatsache könnte besonders im Geographieunterricht, der zentrale gesellschaftliche Themen auf unterschiedlichen Maßstabsebenen behandelt, relevant sein (vgl. DGfG, 2007; Uhlenwinkel, 2013). Neben dem lokalen und regionalen Maßstab sind in der Regel auch der nationale und globale Maßstab relevant, um z.B. die Auswirkungen von Klimawandel, globale Produktionsketten oder die Verschmutzung der Meere im Unterricht zu thematisieren. In diesem Kontext sind die in anderen Kontexten gemachten Erfahrungen und das angeeignete Wissen der zugewanderten SchülerInnen wichtige Ressourcen, die im Unterricht genutzt werden könnten. Die Einbeziehung der in anderen Ländern gemachten Lebenserfahrungen der SchülerInnen kann u.a. zum Perspektivenwechsel führen (vgl. Rhode-Jüchtern, 1995). Die Ergänzung der „neutralen“ Schulbuchinhalte durch Alltagsbeobachtungen kann den Unterricht bereichern und es können u.a. Ähnlichkeiten in den Interessen und Lebenspraxen von Jugendlichen in unterschiedlichen
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Ländern erkannt werden. Beispiele könnten Ähnlichkeiten in Musikgeschmack, Konsum oder in der Mediennutzung sein (siehe Artikel von Ronja Ege in diesem Band, Kap. 2.4). Die Thematisierung dieser Ähnlichkeiten bietet sich u.a. bei der Behandlung des Themas „Globalisierung“ an. Die Einbeziehung von Lebenserfahrungen der zugewanderten SchülerInnen, die in anderen Ländern gemacht wurden, muss allerdings sehr wertschätzend erfolgen, damit keine Stigmatisierung sattfindet. Ungünstig wäre z.B., wenn SchülerInnen als RepräsentantInnen „der Entwicklungsländer“ von ihren Erfahrungen erzählen sollten. Die negativen Bewertungen von „Entwicklungsländern“, die häufig mit Armut, Krieg und Unterentwicklung assoziiert werden, könnten sich dann auf diese SchülerInnen übertragen. Ebenso unpassend ist es SchülerInnen, die in Deutschland als Kinder von MigrantInnen aufgewachsen sind, als „ExpertInnen“ „ihrer“ Herkunftsländer anzusprechen, da diese SchülerInnen somit zu „Fremden“ gemacht werden und wohlmöglich kaum Kenntnisse bezüglich des „Herkunftslandes“ besitzen. Bisher wurde in der Geographiedidaktik nur sehr selten untersucht, wie die in anderen Kontexten gemachten Lebenserfahrungen von neu zugewanderten SchülerInnen tatsächlich im Unterricht genutzt werden und welche Ansätze dabei besonders sinnvoll sind. In diesem Band werden von Stephan Langer, Alexandra Budke und Kerstin Ziemen Ergebnisse einer Befragung von GeographielehrerInnen dargelegt, die u.a. zeigen, dass Lehrkräfte die sprachlichen Kompetenzen der SchülerInnen in der deutschen Sprache, ihren kulturellen Hintergrund und Migrationserfahrungen nur in sehr geringem Umfang in ihre Planung und Durchführung von Geographieunterricht einbeziehen (siehe Kap. 3.3.). Im Artikel von Sebastian Seidel und Alexandra Budke werden Ergebnisse einer Befragung von SchülerInnen zu den Grenzen Europas vorgestellt (siehe Kap. 3.2). Es zeigt sich, dass neu zugewanderte Jugendliche andere Grenzerfahrungen gemacht haben, als Jugendliche ohne Migrationserfahrungen. Dieses Ergebnis kann als Grundlage für Unterrichtsplanungen zum Thema „Migration“ dienen.
4.4 Kulturelle Selbst- und Fremdbilder Die kulturellen Selbst- und Fremdbilder der SchülerInnen sind eine weitere wichtige Lehr-/Lernvoraussetzung für den Geographieunterricht. Der Geographieunterricht ist auch daran beteiligt, Bilder unterschiedlicher Räume (u.a. von Deutschland, Europa oder Afrika) und der dort lebenden Menschen zu verbreiten. Angeknüpft wird dabei automatisch an die den SchülerInnen bekannten Stereotypen von anderen Ländern und Kulturen, die größtenteils traditionell überliefert wurden. Diese sozial geteilten Meinungen über Persönlichkeitsmerkmale und Verhaltensweisen von Menschen anderer Nationalität dienen nach Erkenntnissen der Sozialpsychologie der/dem Einzelnen als kognitive Kategorien, in die neue Umwelteindrücke eingeordnet werden können (vgl. Stroebe, 2002). Sie gewähren Handlungsfähigkeit durch die Reduktion von Komplexität. Es kann sicherlich keine Aufgabe des Geographieunterrichts sein, über den Wahrheitsgehalt dieser Stereotypen zu urteilen
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und ein „objektives“ Bild zu vermitteln. Sinnvoller erscheint es, SchülerInnen die eigenen Bilder bewusst zu machen und für die verschiedenen Verwendungskontexte von kulturellen Bildern, die unterschiedlichen Motive der Akteure und die möglichen Risiken ihrer Verwendung zu sensibilisieren. Im Geographieunterricht kann zudem der Umgang mit kulturalisierenden Argumentationen geübt werden (vgl. Budke, 2013). Dies ist besonders relevant, wenn das Thema „Migration“ im Geographieunterricht behandelt und über dessen Auswirkungen gesprochen wird. Werden „fremde Kulturen“ als Hindernisse bei der Integration in „die deutsche Kultur“ thematisiert, kann dies automatisch zur Ausgrenzung von SchülerInnen mit Migrationshintergrund führen. Stöber (2001) hat in diesem Zusammenhang durch eine Schulbuchanalyse herausgefunden, dass MigrantInnen aufgrund ihrer angeblich „anderen“ Kultur häufig als „Fremde“ dargestellt werden, die Probleme haben und denen mit Toleranz begegnet werden müsste. Auch Mönter und Schiffer Nasserie (2007), die Geographieschulbücher aus Sachsen, NRW und Bayern untersuchten, kamen zu ähnlichen Aussagen. Sie fanden häufig ein „binäres“ Schema, in dem „wir“ Deutschen den Migranten als „Sie“-Gruppe, welche überwiegend als defizitär, desintegriert oder entwurzelt dargestellt wird, gegenüberstehen. Eine weitere Schulbuchanalyse von Budke (2013) zeigt, dass oftmals eurozentrische Kulturraumvorstellungen verbreitet werden. Diese Analysen machen deutlich, dass kulturelle Stereotypen u.a. bei der Darstellung von „MigrantInnen“ und „den Deutschen“ in Geographieschulbüchern eine große Bedeutung haben, was dem gesellschaftlichen Diskurs zum Thema entspricht. Damit besteht die Gefahr der Kulturalisierung, d.h., dass „Kultur“ als natürliches, von der Herkunft abhängiges und kollektives Unterscheidungskriterium von sozialen Gruppen, ähnlich des Rassebegriffs, angewandt wird (vgl. Hall, 1989, S. 917f.). Auf der Grundlage vermeintlicher „kultureller Unterschiede“ werden dann z.B. „Integrationsprobleme“ von Personen, die aus sog. anderen „Kulturerdteilen“ kommen, erklärt. Damit wird die angebliche kulturelle Unterschiedlichkeit der SchülerInnen betont, Personen „anderer Kulturen“ als Probleme dargestellt und somit Grundlagen für Diskriminierungen geschaffen. Im Gegensatz dazu wäre es möglich, im Unterricht gezielt das Thema „Rassismus“ anzusprechen. Rassismus kann dabei als Praxis verstanden werden, die bestimmte Gruppen vom Zugang zu materiellen, kulturellen oder symbolischen Gütern ausschließt (vgl. Hall, 1989, S. 913ff.). In diesem Zusammenhang sollten nationale Stereotypen, welche die SchülerInnen kennen, sichtbar gemacht und auf die Bedeutung von negativen Stereotypen im Kontext von Rassismus aufmerksam gemacht werden. Einige didaktische Möglichkeiten werden von Padberg et al. (2016) beschrieben. In diesem Band widmen sich zwei Artikel dem Thema „Rassismus“. Zunächst stellt Andreas Pott (siehe Kap. 1.1) die fachwissenschaftliche Diskussion zum Thema des „Rassismus der Migrationsgesellschaft“ aus geographischer Perspektive dar, welche als Grundlage für thematische Schwerpunktsetzungen im Unterricht dienen kann. Zudem legen Alexandra Budke, Veit Maier und Frederik von Reumont (siehe Kap. 2.3) Ergebnisse zu einem Lehr- und Forschungsprojekt vor, in dem Studierende didaktische Comics erstellt haben, um das Thema „Rassismus“ im Unterricht zu behandeln.
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Um kulturalistischen Erklärungsansätzen und Diskriminierungen mit Hilfe nationaler Stereotypen im Unterricht entgegenzuwirken, ist es besonders wichtig, die üblichen Vorstellungen und Einstellungen der SchülerInnen aufzugreifen, bewusst zu machen und kritisch zu reflektieren. In diesem Zusammenhang stellt Andreas Hoogen (siehe Kap. 3.1) die Ergebnisse einer Erhebung von SchülerInnenvorstellungen zum Thema der „illegalen“ Migration vor.
5. KONSEQUENZEN FÜR DIE UNTERRICHTSENTWICKLUNG Um das Thema „Migration“ aktuell, schülerorientiert und auf der Basis aktueller wissenschaftlicher Erkenntnis und Diskussion zu unterrichten und um die durch Migration veränderten Lehr- und Lernvorraussetzungen von SchülerInnen und Lehrkräften auch bei anderen Themen zu berücksichtigen, sollten die im Folgenden dargestellten didaktischen Ansätze werden.
5.1 Politische Bildung bei der Behandlung des Themas „Migration“ im Unterricht Wichtige Grundlagen für die inhaltliche Schwerpunktsetzung und die didaktische Umsetzung im Unterricht können Ansätze der Politischen Bildung sein. Diese gilt als ein fächerübergreifendes Unterrichtsprinzip, welches auch in den geographischen Curricula fest verankert ist. Die SchülerInnen sollen zu mündigen BürgerInnen heranwachsen, die sich aktiv in einer demokratischen Gesellschaft einbringen können. Die Aufgabe der Politischen Bildung im Kontext des Geographieunterrichts liegt in der „Offenlegung der Beziehungen zwischen Gesellschaft und Raum und in der Entwicklung von Mündigkeit zu ihrer Analyse und Bewertung sowie zur verantwortungsbewussten Gestaltung von Räumen“ (Budke, 2016, S. 16). Beruhend auf diesem Grundsatz sollte die Politische Bildung sowohl bei der inhaltlichen Auswahl und thematischen Schwerpunktsetzung, als auch bei der Unterrichtsgestaltung und damit einhergehend bei der Entwicklung von Argumentations-, Bewertungs- und Handlungskompetenzen, berücksichtigt werden. Um die Verknüpfung von Raum, Gesellschaft und Politik im Unterricht offenzulegen, sollten die Unterrichtsinhalte so gewählt werden, dass politische Strukturen als Rahmenbedingungen für raumbezogenes Handeln offensichtlich werden (vgl. ebd., S. 16). Insbesondere Themen zu „Migrationspolitik“ bieten sich hier an, um die verschiedenen Akteure, Institutionen und politischen Verfahren kennenzulernen. Ebenso müssen wirtschaftliche, soziale und ökologische Aspekte berücksichtigt werden. Aber nicht nur die politischen Strukturen sollten Beachtung im Geographieunterricht finden, sondern auch politische Prozesse, wie die gesellschaftlichen Aushandlungen zum Thema der Integration von MigrantInnen in Deutschland. Zum Beispiel entstehen manchmal Nutzungskonflikte bei der Einrichtung von Unterbringungen für Asylsuchende. Basierend auf der Entwicklung der Politischen Bildung nach dem Zweiten Weltkrieg in der BRD (vgl. u.a. Detjen, 2007; Schäfer, 2007) gelten bis heute
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die in Beutelsbach beschlossenen Grundprinzipien des Unterrichts: Das Überwältigungsverbot, das Kontroversitätsgebot und das Gebot der Förderung von Analyseund Interessendurchsetzungskompetenz (vgl. Wehling, 1977, S. 179f.). Diese Grundprinzipien bedeuten für die Thematisierung von „Migration“, dass die Lehrkraft die SchülerInnen nicht im Sinne ihrer Meinung beeinflussen darf. Sie muss die SchülerInnen dazu anhalten, sich eine eigene Meinung zu bilden und diese argumentativ begründen zu können. Dies kann z.B. die Fragen betreffen, ob Migrationen nach Deutschland eher gefördert oder verhindert werden sollten, welche Auswirkungen Migrationen für Deutschland, die EU, die Herkunftsländer, die Migrierenden und die SchülerInnen selbst haben oder wie Rassismus verhindert werden könnte. Bei der Behandlung dieser oder ähnlicher Fragestellungen sollte die Lehrkraft darauf achten, dass die SchülerInnen kontroverse Materialien und Medien bearbeiten, damit die verschiedenen Perspektiven in der gesellschaftlichen Diskussion im Unterricht abgebildet werden. Nicht nur die Wortwahl, wie z.B. „Flüchtlingsflut“, beeinflusst die Berichterstattung und dessen Rezeption, was im Unterricht thematisiert werden sollte, sondern auch die Vielzahl an „fake-news“ und Tweets in sozialen Netzwerken, welche mit den SchülerInnen ebenfalls kritisch hinterfragt und beurteilt werden sollten. Besonders wichtig ist bei dem Thema „Migration“ auch die Berücksichtigung des Aktualitätsprinzips. Die Materialien in Schulbüchern müssen in der Regel ergänzt werden, damit aktuelle Entwicklungen und Diskussionen zum Thema im Unterricht berücksichtigt werden können.
5.2 Wissenschaftspropädeutischer Unterricht Mit dem Kontroversitätsgebot der Politischen Bildung geht der Anspruch eines wissenschaftsorientierten bzw. wissenschaftspropädeutischen Unterrichts einher. Wissenschaftsorientierung bedeutet als didaktisches Prinzip, dass Lerninhalte entsprechend der aktuellen wissenschaftlichen Diskussion und dem Forschungsstand dargestellt werden sollten. Dies bedeutet für die Lehrkräfte, dass die Lerninhalte den aktuellen wissenschaftlichen Diskussionen entsprechen müssen. Es dürfen keine veralteten Erklärungen oder Verfremdungen durch ideologische oder interessengeleitete Auswahl stattfinden. Huber (1997, S. 348) begründet, dass es bei Wissenschaftspropädeutik um mehrere Ebenen geht: (1) um das Lernen und Einüben in Wissenschaft (z.B. Grundbegriffe), (2) an Wissenschaft (z.B. neugierige Haltung) und (3) über Wissenschaft (z.B. kritische Reflexion). Insbesondere über die Grenzen von wissenschaftlichen Aussagen hinweg zu reflektieren sowie zu erkennen, dass Wissenschaft auch an soziale und politische Praxen gebunden ist, sollte im Unterricht verfolgt werden. Das bedeutet zum Beispiel für das Thema „Migration“, dass einfache Erklärungsmodelle wie das Push-Pull-Modell kaum ausreichen, um die vielfältigen Migrationsentscheidungen und Handlungen von Migrierenden erklären zu können. Gerade die aktuellen Ansätze und Theorien der geographischen Migrationsforschung sollten daher verstärkt Einzug in den Geographieunterricht erhalten und zur Überarbeitung der Unterrichtsmedien beitragen.
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Die SchülerInnen sollten nicht nur verschiedene Theorien und Erklärungsansätze zu Migration kennenlernen, sondern insbesondere auch die Grenzen dieser Theorien diskutieren. Gerade individuelle Entscheidungen werden hier häufig außen vorgelassen und könnten mit den SchülerInnen verstärkt diskutiert werden. Ebenso bedingt ein wissenschaftspropädeutischer Unterricht auch, dass durch die Lehrperson die verschiedenen Erklärungsmodelle in der Vorbereitung zum Unterricht beachtet werden. Die SchülerInnen sollten zudem in die Lage versetzt werden, die politischen Akteure, die Meinungen, aber auch die Möglichkeiten der Partizipation kennenzulernen und für sich selbst in Wert zu setzen. Hier könnten z.B. caritative Organisationen, NGOs, städtische oder kommunale Angebote, die sich z.B. an Flüchtlinge richten, betrachtet werden. Auch im Rahmen eines Schulpraktikums könnten außerhalb oder durch Kooperationen innerhalb der Schule SchülerInneninteressen verfolgt werden.
5.3 Sprachbewusster und multilingualer Geographieunterricht Wie in den Abschnitten 4.1 und 4.2. dargelegt, werden die multilingualen Fähigkeiten der SchülerInnen im Unterricht bisher kaum genutzt und auf ihre unterschiedlichen sprachlichen Fähigkeiten im Deutschen wird kaum differenziert eingegangen. Dies führt nicht nur dazu, dass keine gerechten Chancen auf Bildungserfolg geschaffen werden, sondern auch, dass die Schule ihrem Bildungsauftrag nicht gerecht wird. Diese durch vielfältige Studien belegte Tatsache trifft auch auf den Geographieunterricht zu. Sollen alle SchülerInnen die Möglichkeit haben, ihre Kompetenzen zu erweitern und ihre Persönlichkeit zu entwickeln, müssen geographiedidaktische Konzepte entwickelt werden, welche sprachliches und fachliches Lernen im Kontext des Geographieunterrichts vereinen. Ein Ansatz hierzu ist der sprachbewusste Geographieunterricht. Nach Budke und Weiss (2014, S. 127) kann unter einem sprachbewussten Geographieunterricht ein Unterricht verstanden werden, der „die fachspezifischen sprachlichen Anforderungen für das Verständnis und zur Beantwortung geographischer Fragestellungen im Unterricht, ausgehend von den Voraussetzungen der SchülerInnen berücksichtigt“. Tatsächlich werden in den deutschen Curricula für den Geographieunterricht eine ganze Reihe sprach- und kommunikationsbezogener Ziele genannt, wie u.a. die „Informationsaufnahmen aus (Geo-)Medien“, „Befragungen durchführen“, „Fachwortschatz erwerben und anwenden“, „Gesellschaftliche Diskurse entschlüsseln“, „Diskussionen durchführen/Argumentationen entwickeln“, „Ergebnisse präsentieren“ und die „Kritische Reflexion“ (vgl. Budke & Weiss 2014, S. 114). Diese Ziele werden allerdings unstrukturiert genannt und ein prozessualer Aufbau fachsprachlicher Kompetenzen im Laufe der Schulzeit ist nicht zu erkennen. Eine mögliche Systematisierung zeigt das Modell der sprachlichen Anforderungen im Geographieunterricht (vgl. Morawski & Budke, 2017), wobei hier nur auf die geographische Fachsprache eingegangen werden soll, welche allerdings vielfältige Bezüge zur Bildungs- und Alltagssprache aufweist (siehe
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Abb. 2). Auf der Grundlage des Europäischen Referenzrahmen (CEFR, 2011) können die sprachlichen Dimensionen Rezeption, Interaktion, Produktion und Mediation im Mündlichen und im Schriftlichen unterschieden werden.
Abb. 2: Sprachliche Anforderungen im Geographieunterricht (übersetzt und vereinfacht aus: Morawski & Budke, 2017, S. 64)
Die fachsprachlichen Anforderungen lassen sich in Fachwortschatz, basale Sprachhandlungen auf Satzebene und geographische Diskurse auf Textebene einteilen. Die Geographie verfügt über einen Fachwortschatz, der es erlaubt, fachliche Zusammenhänge präzise zu beschreiben (E1). In der Fachsprache werden zudem Fähigkeiten benötigt, basale kommunikative Handlungen auszuführen und bestimmte Arten von Sätzen zu bilden (E2). Diese sind häufig komplexer als die alltagssprachlichen Satzbildungen. Es werden z.B. Konditionalsätze, Relativsätze und Finalsätze verwendet. Auf Diskursebene (E3) finden sich fachtypische Textmuster, welche die SchülerInnen lernen müssen zu verstehen und selbst zu produzieren. Sie dienen in besonderer Weise der Verständnisförderung für geographische Themen und Medien und ermöglichen den produktiven Umgang mit diesen. Auf der rezeptiven Ebene müssen die SchülerInnen die Fähigkeit erwerben, alle typischen im Geographieunterricht eingesetzten Medien wie Texte, Grafiken, Karten, Statistiken etc. zu entschlüsseln. Zudem sollten sie lernen, typische Sprachhandlungen selbst auszuführen. Diese werden u.a. durch die Operatoren in Aufgabenstellungen definiert. Fachübergreifende wichtige Sprachhandlungen im Unterricht sind u.a. beschreiben, erklären, vergleichen, analysieren und interpretieren (vgl. Michalak et al., 2015, S.
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52). Diese haben jedoch fachspezifische Ausprägungen und ihre Güte wird je nach Fach unterschiedlich beurteilt. So soll z.B. in allen Fächern argumentiert werden, wobei fachspezifische Kriterien die Güte der Argumentation definieren. Geographische Argumentationen zeichnen sich z.B. durch ihren Raumbezug, ihre Multiperspektivität und Komplexität aus (vgl. Budke et al., 2015). Das Modell gibt einen Überblick über die vielfältigen im Geographieunterricht zu fördernden fachsprachlichen Kompetenzen. Besondere Herausforderungen liegen zukünftig in der Entwicklung fachspezifischer Diagnoseinstrumente für die sprachlichen Kompetenzen im Deutschen und in den Herkunftssprachen der SchülerInnen, um darauf aufbauend differenzierte Förderangebote zu entwickeln. Zudem müssen verstärkt Methoden und Materialien entwickelt werden, welche geeignet sind, die multilingualen Fähigkeiten der SchülerInnen im Unterricht zu nutzen. Einige didaktische Möglichkeiten zur Verbindung von fachlichem und sprachlichem Lernen finden sich in den Büchern „Sprache im Geographieunterricht“ (Budke & Kuckuck, 2017) und „Diercke-Argumentation und Kommunikation“ (Budke, 2012). Da die genannten didaktischen Ansätze hohe Anforderungen an die Unterrichtsentwicklung stellen, werden im vierten Kapitel dieses Buches einige innovative unterrichtspraktische Vorschläge präsentiert. Michael Morawski und Alexandra Budke stellen in Kap. 4.1 Materialien zur Durchführung kartenbasierter Interviews vor, die sie mit neuzugewanderten Kindern und Jugendlichen erprobt haben. Pola Serwene veröffentlicht ein bilinguales Unterrichtskonzept zum Thema der durch Migration ausgelösten Wandlungsprozesse in einem griechischen Ort (siehe Kap. 4.2). Holger Wilcke beschreibt ein Unterrichtskonzept, in dem die SchülerInnen die Bedeutung der „Schlepper“ erfassen und bewerten sollen (siehe Kap. 4.3). Christian Sitte zeigt, wie die Dilemma-Methode dazu eingesetzt werden kann, um im Unterricht die Frage zu thematisieren, ob die Mittelmeerroute für MigrantInnen geschlossen werden sollte (siehe Kap. 4.4). Stefan Padberg, Sabrina Zandl, Samuel Wintereder und Sebastian Lonsing thematisieren anhand eines fiktiven Landes Grenzen und Grenzziehungen im Kontext von Migration (siehe Kap. 4.5). Hannah Krings, Lena Weckauf und Günther Weiss entwickeln Unterrichtsmaterialien für die Primarstufe zur Behandlung von Gründen für Fluchtmigration (siehe Kap. 4.6).
6. ZUSAMMENFASSUNG Migration ist seit jeher ein Motor für Innovation und Entwicklung. Die Folgen von Migration werden von Menschen in den Zielregionen und jenen in den Herkunftsregionen, aber auch von den MigrantInnen selbst, unterschiedlich bewertet. Sowohl die Motive, als auch die Auswirkungen von Migration, sind komplex. Der Geographieunterricht widmet sich in den verschiedenen Bundesländern der Thematik „Migration“, wobei die Intensität und die thematischen Schwerpunkte variieren. Die bestehenden Analysen der Unterrichtsmedien zeigen, dass das Thema bislang
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kaum in seiner Komplexität und auf dem aktuellen Forschungsstand basierend dargestellt wird. Gerade im Sinne einer Politischen Bildung sollte der Geographieunterricht zu einem kritischen Umgang mit Begriffen (z.B. „Flüchtlinge“), mit verbreiteten Medien und Meinungsmachern, aber auch mit theoretischen Modellen führen. Die SchülerInnen können so erfahren, dass „Migration“ nicht einfach ist, sondern von vielen Akteuren mit unterschiedlichen Interessen dargestellt wird und so Meinungen verbreitet und alltäglich reproduziert werden. Diese Erfahrungen können die SchülerInnen auch im Unterricht gewinnbringend einsetzen, indem sie von ihren eigenen Migrationserfahrungen oder denen ihrer Eltern berichten, ohne jedoch dabei Stereotype weiter zu verfestigen. Denn viele SchülerInnen verfügen über Migrationserfahrungen und multilinguale Kompetenzen. Diese werden bislang häufig als Defizit aufgefasst, sollten jedoch als Chance angesehen werden. Migration beeinflusst unsere Klassenzimmer ebenso wie das alltägliche Miteinander. Der Geographieunterricht kann wie kaum ein anderer Unterricht dazu beitragen, die SchülerInnen zu einem friedlichen und respektvollen Umgang miteinander zu befähigen.
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KAPITEL1 Das Thema „Migration“ aus fachwissenschaftlicher Perspektive
RASSISMUS IN DER MIGRATIONSGESELLSCHAFT Andreas Pott
1. VORBEMERKUNG: MIGRATION, MIGRATIONSGESELLSCHAFT UND GEOGRAPHIEUNTERRICHT Die Migrationsforschung beschäftigt sich, grob gesprochen, mit drei Gegenstandsbereichen. Neben der Erforschung der räumlichen Bewegung einzelner Personen oder Gruppen untersucht die Migrationsforschung die vielfältigen Aspekte der Eingliederungs- und Teilhabeprozesse im Zielkontext – die sogenannte Integration der (internationalen) Migrantinnen und Migranten und ihrer Kinder. Der letzte Gegenstandsbereich gewinnt erst seit wenigen Jahren größere Aufmerksamkeit, genauer: seit sich die Einsicht verbreitet, dass Assimilation nur eine mögliche Folge von internationaler Migration ist. Es wird zunehmend erkannt, dass Migration und ihre Folgen nicht einfach existieren oder geschehen, sondern als soziale Ereignisse unter je spezifischen Bedingungen und mit je spezifischen Formen und Folgen gesellschaftlich hervorgebracht werden. Diversität und nicht Assimiliation lautet die Diagnose. Damit verknüpft ist die Einsicht, dass sich auch die verschiedenen gesellschaftlichen Bereiche, an denen Migrantinnen und Migranten teilnehmen oder von denen sie als ebensolche beobachtet werden, stetig verändern. Dies gilt für Nachbarschaften genauso wie für sprachlich, kulturell oder religiös heterogener werdende Klassenräume, für das Gesundheitssystem sowie für Arbeitsmärkte, Politik, Medien oder die Kulturproduktion. Migration, so wird in dieser dritten Perspektive sichtbar, bezeichnet nicht nur eine besondere Form räumlicher Bewegung, sondern vielmehr einen auf räumlicher Bewegung beruhenden Prozess gesellschaftlichen Wandels. Zu diesem Wandel gehört in der Bundesrepublik Deutschland, dass seit den 2000er Jahren verstärkt über Ein- und Zuwanderung diskutiert und gestritten wird (vgl. Oltmer, 2011). Während bis in die 1980er Jahre hinein vornehmlich Expertinnen und Experten über Migration gesprochen haben, lässt sich für die vergangenen Jahre ein gesellschaftlicher Bewusstseinswandel feststellen: Deutschland ist eine Gesellschaft geworden, in der Migration in ihren verschiedenen Ausprägungen (Ein-, Zu-, Durch-, Aus- oder Rückwanderung; längerfristige, transnationale, zirkuläre oder temporäre Migration u.a.) nicht nur der Normalfall ist (vgl. Oltmer, 2014), sondern in der über die durch Migration induzierten Veränderungen kontinuierlich debattiert und reflektiert sowie, mit Bezug auf migrationsbezogene Beobachtungen und Debatten, auch gehandelt wird. In diesem reflexiven Sinne könnte man Deutschland eine Migrationsgesellschaft nennen.
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(Selbst-)Reflexive Effekte lösen Wanderungen sowohl bei den Nicht-Gewanderten als auch bei den Migrantinnen und Migranten selbst aus. Die mit Migrationen einhergehenden demographischen Veränderungen, aber auch die vielfältigen migrationsbezogenen Deutungen, Handlungen und Entscheidungen, können individuelle ebenso wie tradierte gesellschaftliche Selbstverständnisse in Frage stellen. Sie können Grundfragen des gesellschaftlichen Zusammenlebens sowie von Zugehörigkeit und Identität aufrufen, die in Prozesse und Kontroversen der normativen Selbstverständigung einer Gesellschaft münden (können). Auf internationale Wanderungen wird dabei nicht nur mit Integrationsangeboten oder neuen Diversitätspolitiken vor Ort, sondern auch mit neuen Fremdzuschreibungen, Vorurteilen und Ausgrenzungen reagiert. Zum Beispiel werden nicht mehr nur „Ausländer“ oder sogenannte „ethnische Minderheiten“ (vgl. Heckmann, 1992) von „Deutschen“ unterschieden, sondern seit einigen Jahren immer deutlicher „Muslime“ von „NichtMuslimen“ oder die „Migration“ von „Drittstaatsangehörigen“ (=Nicht-Unionsbürgern) und von der binneneuropäischen „Mobilität“ der EU-Bürger und -Bürgerinnen innerhalb der EU. Aus diesen Gründen kommt der Migrationsthematik längst auch im Geographieunterricht ein zentraler Stellenwert zu. An Migrationen, ihren räumlich differenzierten Ausprägungen und ihren gesellschaftlichen Reaktionen und Deutungsweisen, lassen sich folgenreiche gesellschaftliche Wandlungs-, Partizipations- und Aushandlungsprozesse erkennen, die in Zukunft weiter an Bedeutung gewinnen dürften. Außerdem bieten sich die Thematisierung und Untersuchung von Geographien der Migration zum Einüben eines (selbst-)kritischen Umgangs mit Fremdbildern und Eigendefinitionen an. Für einen am Ideal mündiger Bürgerinnen und Bürger orientierten Geographieunterricht steht, wie dieser Band dokumentiert, ein ganzes Spektrum möglicher Themen und Fragestellungen bereit. Nicht alle haben bisher gleichermaßen Eingang in curriculare, fachdidaktische oder unterrichtspraktische Perspektiven gefunden. Bisher vergleichsweise selten beachtet, aber gleichwohl von großer und letztlich auch nahe liegender Bedeutung, ist die Verknüpfung von Migration und Rassismus. Auf sie werden sich die nachfolgenden Ausführungen beschränken.
2. RASSISTISCHE UNTERSCHEIDUNGEN UND GEOGRAPHIEN DES RASSISMUS1 Auch die Migrationsgesellschaft wird Rassismus nicht los. Die tägliche und nie abgeschlossene Neuaushandlung des Eigenen und des Fremden, der gesellschaftlichen Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit oder der Bedeutung von Mobilität und Immobilität schafft oder wiederholt machtvolle Unterscheidungen, Ausschlüsse, Überlegenheiten und Verletzungen. Mehr oder weniger deutlich werden dabei auch
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Für erste Überlegungen zum Thema vgl. hier und im Folgenden Pott, 2016.
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rassistische Ideologien artikuliert und verändert, z.B. beim Umgang mit den Erfahrungen von zunehmender Diversifizierung der Bevölkerung oder von neuer Konkurrenz auf dem Wohnungsmarkt, im Bildungssystem oder auf dem Arbeitsmarkt. Selbst in einem Land wie der Bundesrepublik Deutschland, das nach der jahrzehntelangen Auseinandersetzung mit dem Holocaust und den Mechanismen der „gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“ (vgl. Heitmeyer, 2002) die lange verleugnete oder übersehene Migrationsrealität derweil offiziell als gesellschaftliche Normalität anerkennt und immer häufiger auch die Potentiale internationaler Wanderungen thematisiert, verlieren rassistische Beobachtungsformen und Handlungsweisen keineswegs an Bedeutung. Bisweilen stellt sich eher der gegenteilige Eindruck ein. Rassistische Positionen scheinen wieder stärker – seit 2001 zunehmend im Gewand des Anti-Islamismus (vgl. Amir-Moazami, 2016) – in den öffentlichen Raum einzutreten. Vom Rand der Gesellschaft, wo sie ein lange überhörtes und übersehenes Schattendasein fristeten, sind sie längst auch in ihr Zentrum gewandert, wo sie z.B. in Fernsehtalkshows, in Wahlkämpfen (s. das Beispiel des AfDBundestagswahlkampfes 2017), auf rechtspopulistischen oder rechtsextremen Demonstrationen in Großstädten (Beispiel PEGIDA oder PRO KÖLN), in städtischen U-Bahnen oder von Studierenden an Universitäten artikuliert werden (vgl. Kassis et al., 2014; Castro Varela & Mecheril, 2016, S. 11ff.). Wie Rechtsextremismusund Rassismusforscherinnen und -forscher wiederholt feststellten, handelt es sich bei dieser ‚Normalisierung‘ des Rassismus um keine deutsche Eigenentwicklung, sie ist tatsächlich aus vielen Ländern bekannt (vgl. Zick et al., 2011). An diesen Entwicklungen kann der Geographieunterricht in vielfacher Weise ansetzen, gestützt etwa auf diverse Materialien aus den Medien (siehe Beitrag von Sitte in diesem Band), auf Analysen der digitalen Kommentarfunktionen von Tageszeitungen oder Internetblogs, auf Alltagsbeobachtungen sowie lebensweltliche Erfahrungen von SchülerInnen oder auf die mehr oder weniger kritische Thematisierung in Schulbüchern (vgl. Mönter & Schiffer-Nasserie, 2007; Schröder, 2017). Beobachtet man rassistische Unterscheidungen genauer, zum Beispiel in Redeweisen oder anhand diverser Kontrollpraktiken, fällt ihre räumliche Dimension auf. Die abgewerteten „Anderen“ werden oft mit Bezug auf Herkunftsräume (siehe z.B. das Einreiseverbot für Menschen aus sechs überwiegend „muslimischen Staaten“, das US-Präsident Trump 2017 zu Beginn seiner Amtszeit verhängt hat), Aufenthaltsorte (z.B. im öffentlichen Raum von Städten) oder Wohngebiete (üblicherweise stark segregierte Räume wie etwa die Pariser Vorstädte) markiert. Umgekehrt wird der angestrebte Schutz der Zielländer und ihrer Städte vor den imaginierten „Anderen“ nicht selten durch eine dezidiert raumbezogene Kontrolle zu erreichen versucht, so z.B. bei der Abschottung Europas durch „sichere Drittstaaten“, durch die Wiedereinführung von nationalen Grenzkontrollen innerhalb von Schengen-Europa, durch „Racial Profiling“ innerhalb nationalstaatlicher Grenzen (z.B. an Häfen, Flughäfen, Bahnhöfen oder anderen ‚verdächtigen‘ Orten) (vgl. Belina, 2014), durch die Einführung einer Wohnsitzauflage für neuankommende Geflüchtete in Deutschland oder durch polizeiliche Patrouillen in bestimmten Stadtgebieten. Auch rassistische Gewalttaten tragen unverkennbar einen räumlichen Index. Sie finden häufig an bestimmten, nicht zufällig ausgewählten Orten statt, so z.B. im Falle von
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Brandanschlägen auf Asylbewerberunterkünfte in Deutschland oder im Falle der Polizeigewalt und der systematischen polizeilichen Diskriminierung von „People of Color“ in „schwarzen Stadtteilen“ US-amerikanischer Großstädte (vgl. von Petersdorff, 2016). Während die internationale Forschung diese Geographien des Rassismus schon seit geraumer Zeit beleuchtet (vgl. Jackson, 1987; Dwyer & Bressey, 2008), ist die diesbezügliche Beschäftigung in der deutschsprachigen Wissenschaftslandschaft noch nicht sehr ausgeprägt. Vor diesem Hintergrund machen die folgenden Abschnitte auf drei vielversprechende Blickrichtungen aufmerksam, die allesamt nicht nur für die fachwissenschaftliche Analyse, sondern auch für die unterrichtliche Praxis fruchtbar gemacht werden können.
3. DIE VERRÄUMLICHENDE REPRÄSENTATION DER „ANDEREN“ Rassismus strukturiert die Wahrnehmung, die Kommunikation und damit das soziale Geschehen. Als Ideologie und Beobachtungsschema hierarchisiert Rassismus Personen und die ihnen zugeschriebenen Identitäten. Er schafft Dichotomien (z.B. „wir“/„die Anderen“) und Zugehörigkeitsordnungen. Ganz ähnlich verhält es sich mit dem Konstrukt „Raum“. Immer wenn Räume beschrieben oder sozial in Anspruch genommen werden, wird unterschieden, geordnet, und, wenn auch nur implizit, verglichen. Es wird ein „hier“ von einem „dort“, ein „innen“ von einem „außen“, oder ein „oben“ von einem „unten“ differenziert. Nicht selten wird das so Unterschiedene und Beschriebene unterschiedlich bewertet und derart in eine asymmetrische Ordnung gebracht. Aufgrund ihrer dichotomisierenden Beobachtungsweise sind sich die Konstruktionen „Raum“ und „Rasse“ nicht unähnlich. Auch Räume „sind“ nicht einfach da und sie sind auch nicht automatisch sozial relevant. Dies hat die mehrjährige und fachübergreifende Spatial Turn-Debatte eindrucksvoll gezeigt (vgl. Döring & Thielmann, 2007). Ihre Formen und sozialen Bedeutungen resultieren vielmehr aus spezifischen Konstruktionsprozessen. In ihnen und durch sie werden Grenzen gezogen bzw. Unterscheidungen wie hier/dort, innen/außen oder nah/fern gültig gemacht und mit anderen Unterscheidungen wie Nationalität, Kultur, Identität, Einkommen etc. verknüpft. Räume sind, mit anderen Worten, kontext- und beobachtungsabhängige Unterscheidungen und soziale Herstellungsleistungen. Mit ihrem Bezug auf Materialität, Territorialität oder ausgewählte Stellen auf der Erdoberfläche suggerieren Räume gleichwohl Beobachterunabhängigkeit. Sie kommunizieren einen Wahrheitsanspruch. Wer etwa daran zweifelt, dass es Bielefeld gibt, kann sich ‚vor Ort‘ vergewissern. Wie die Körpersemantik nehmen auch Raum- und Ortssemantiken Wahrnehmung in Anspruch. Dies verleiht „Orten“ und „Räumen“ ein großes Gewicht, ganz ähnlich wie den Konstruktionen „Geschlecht“, „Körper“, „Rasse“ oder „Hautfarbe“. Denn „Orte“ kann man – wie „Frauen“ oder „Schwarze“ – sehen, und indem oder während sie gesehen werden, erscheinen sie als real (vgl. Nassehi, 2003, S. 231ff.). Im Beobachtungsakt wird üblicherweise nicht gleichzeitig ihre Konstruktion reflektiert, es wird ‚übersehen‘, dass man das,
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was man sieht, nur so sieht, weil man es so – aufgrund eines bestimmten Beobachtungsschemas – und nicht anders, sieht. In diesem Sinne wirkt Raum als Kontingenzvernichter. Mit seinem Verweis auf extra-soziale Gegenstände behauptet er Eindeutigkeit und Realität. Räumliche Bezugnahmen dienen daher neben der Herstellung von Ordnung nicht zuletzt der Ontologisierung und Naturalisierung des mit ihrer Hilfe Unterschiedenen und Bezeichneten. Dies macht sie für jegliche Identitätskonstruktion besonders attraktiv und zum Bestandteil der alltäglichen politics of identity (vgl. Bondi, 1993). Für viele Formen der Identitätskonstruktion – auch der rassistischen – sind Körper und deren Beziehungen zu Orten oder Räumen bedeutsam. Körper, Orte und Räume lassen sich als wichtige Medien der Herstellung, Verfestigung und Kontrolle, aber auch der Veränderung von Identitäten interpretieren. Sie machen Identitäten sichtbar. Und da sie alltagsweltlich als natürlich vorgestellt werden, fungieren sie zugleich als Garanten von Authentizität und Objektivität (vgl. Pott, 2007, S. 29f.). Aufgrund ihrer verwandten Eigenschaften überrascht es nicht, dass sich rassistische und räumliche Konstruktionen wechselseitig stützen. Die charakteristische und oft umkämpfte Ko-Konstitution von Raum und kollektiven Identitätsformaten fasst Don Mitchell wie folgt zusammen: „Race, like gender und sexuality, is a geographical project. Race is constructed in and through space, just as space is often constructed through race. As a geographical project the co-production of race and space is never uncontested, and thus the spatiality of race often needs ordering and policing“ (vgl. Mitchell, 2000, S. 230).
In die wechselseitige Stabilisierung von „race“ und „space“ gehen oft auch Kategorien wie „Kultur“, „Religion“ und „Nation“ mit ein. Die traditionsschwere Deckungsgleichheit von „Volk“, „Territorium“, „Identität“, „Kultur“ und „Nation“ ist auch unter den Bedingungen der Welt- und Migrationsgesellschaft noch sehr wirkmächtig, da sie Machtfragen mit dem wohlfahrtsstaatlichen Ein- und Ausschluss bestimmter Bevölkerungsgruppen verknüpft (vgl. Bommes, 1999). Dies zeigen die jüngsten Unabhängigkeitsbestrebungen der katalanischen Regionalregierung und die darauf erfolgten Reaktionen der spanischen Regierung ebenso wie das europäische Asylrecht (vgl. Groß, 2017a) oder die Einwanderungspolitik und das Einwanderungsrecht europäischer Nationalstaaten (vgl. Groß, 2017b). Dem und der migrierten oder geflohenen „Anderen“ werden Kulturen und Räume oder nationalstaatliche Territorien zugewiesen und als definitorische Merkmale zugeschrieben. Seine/Ihre Identität wird dann nicht nur mit Bezug auf Biologie oder Abstammung, sondern auch oder vorrangig mit Bezug auf kulturell-territorial-nationale Zugehörigkeit oder eben Nicht-Zugehörigkeit (re-)produziert. Dabei wirken flächenräumliche Bezüge – seien es Nationalstaaten oder andere Regionen – komplexitätsreduzierend, essentialisierend und homogenisierend: Nicht nur im Kontext interkultureller Erziehung finden sich derartige raumbezogene und teilweise auch rassisierende Repräsentationen der „Anderen“ (vgl. hierzu exemplarisch: Pott, 2008). Man denke an den „Orient“ und seine BewohnerInnen, an „muslimische Staaten“, Kriegsregionen, Transiträume, Aufnahmelager,
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segregierte Stadtviertel, inner- oder randstädtische „Parallelgesellschaften“ oder sozialräumliche „Brennpunkte“. Ebenso wie „die Syrer“, „die Araber“, „die Muslime“, die Kinder der „Gastarbeiter“2, „die Ghettobewohner“ oder „die Flüchtlinge“ werden auch „die Deutschen“, „die Europäer“ usw. durch dichotome Kultur-RaumVerweise hervorgebracht. Erst vor diesem diskursiven Hintergrund erscheinen sie und ihre Körper in anderen als den ihnen als ‚eigenen‘ zugeschriebenen Räumen wie ‚deplatziert‘ oder eben nur vorübergehend ‚gelagert‘. Erst so kann den „Anderen“, „Andersartigen“ und „Fremden“ unterstellt werden, sich „nicht am richtigen Ort“ zu befinden (vgl. Mecheril & Melter, 2010, S. 153). Geographische Schulbücher bieten naturgemäß‘ allerlei verräumlichende Repräsentationen. Teilweise vermitteln sie fragwürdige Bilder von fremden „Kulturräumen“ (vgl. Budke, 2013). Da diese unter rassismuskritischen und diversitätsbewussten Gesichtspunkten nicht immer unproblematisch sind, hatte sich das Netzwerk „Rassismus an Schulen“ (NeRaS) im Jahr 2013 in einem offenen Brief an die Verlagsgruppe Westermann gewendet, um problematische oder schlichtweg rassistische Inhalte in Schulbüchern zu kritisieren. Aufgaben, wie sie im – inzwischen überarbeiteten – Lehrbuch „Diercke Geographie 8“ zu finden waren, die SchülerInnen dazu aufforderten, Gesichter anhand von rassistischen Merkmalen verschiedenen Kontinenten zuzuordnen, widersprechen sowohl UN- und EU-Konventionen, als auch der globalen Migrationsrealität.3
4. KONTEXT- UND REGIONSSPEZIFISCHE RASSISMEN Ob „klassischer“ „biologistischer Rassismus“ oder „kultureller Rassismus“, der statt auf genetische Vererbung auf die angebliche Unaufhebbarkeit kultureller Differenzen abhebt (vgl. Balibar, 1990, S. 28) – der Befund vieler Untersuchungen bleibt der gleiche: Rassismus ist im Plural zu denken, er variiert historisch sowie nach sozialen und geographischen Kontexten. Natürlich haben rassistische Vorstellungen oft lange Traditionslinien, viele Bilder vom „typischen Afrikaner“, zum Beispiel, reichen bis in die Kolonialzeit oder noch weiter zurück. Doch auch langlebige rassistische Bilder wirken nicht überall und in jeder Situation gleich und werden nicht permanent und in immer gleicher Weise mobilisiert. Je nach Land, Region, Stadt oder Wohnviertel können ‚gleiche‘ rassistische Unterscheidungen Unterschiedliches bedeuten oder es können eben je andere Unterscheidungen relevant sein. Vergleichende Forschungen weisen in diesem Sinne immer wieder die Vielfältigkeit und Varianz rassistischer Formen und Praktiken nach (vgl. Back, 1996; Jackson, 1987; Jackson & Penrose, 1993; Dwyer & Bressey, 2008). Je nach Alter
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Zum Beispiel als vermeintliche Repräsentanten ihrer familiären Herkunftskultur im Schulunterricht (vgl. Lossau, 2005, S. 242). Vgl. Süddeutsche Zeitung vom 4.12.2013: http://www.sueddeutsche.de/bildung/verlags gruppe-westermann-rassismus-vorwuerfe-gegen-schulbuch-1.1834976.
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könnte der Geographieunterricht auch hier unmittelbar an die Erfahrungen, Stereotypen und Wohnumgebungen der SchülerInnen anknüpfen. Diese könnten etwa mit Blick auf regionsspezifische und alltagsrassistische Ordnungen gesammelt, diskutiert und dann mit anderen sozialen, räumlichen oder auch künstlerisch-literarischen Kontexten verglichen werden. Abwertende Konstruktionen des „Anderen“ sind ebenso wie die gesellschaftlichen Strukturen und Kräfteverhältnisse, in denen sie entstehen, keine statischen Phänomene. Sie unterliegen einem permanenten Wandlungs- und Aushandlungsprozess. Daher sind das Forschungsfeld und die Möglichkeiten ihrer schulischen Thematisierung sehr groß. Auch welche Bedeutung bestimmten Orten oder räumlichen Konfigurationen bei der Reproduktion von Rassismus zukommt, ist eine empirisch offene Frage. Als Ziel der Analyse kontextspezifischer Rassismen halten Jan Penrose und Peter Jackson fest: „to understand how specific places are incorporated into specific constructions of ‚race‘ and nation and their associated assumptions about the nature and function of space” (vgl. Penrose & Jackson, 1993, S. 206). In diesem Sinne untersuchte z.B. Susan Smith als eine der Ersten das, was seitdem „racialisation of space“ genannt wird. Am Beispiel der Migrations- und Wohnungspolitik zeigt sie, wie die im Rahmen dieser Politik hervorgebrachten Identitäten auf verschiedenen Ebenen ausgehandelt und durchgesetzt werden, von der städtischen Nachbarschaft bis zur Nation und darüber hinaus (vgl. Smith, 1989). Diese Mehrebenen-Verschränkung wird analytisch oftmals durch eine relationale Identitäts- und Raumkonzeption ergänzt. So betont etwa Jane Jacobs in ihrer postkolonialen Geographie der Londoner Stadtentwicklung (1996): Man dürfe die Entwicklung der City of London (also des Finanzzentrums, des „heart of empire“) in der Analyse nicht von der Erforschung der Ränder, der „racialized inner-city neighbourhoods“, trennen – gemeint ist vor allem der an die City angrenzende Stadtteil Spitalfields, welcher einen hohen Anteil bangladeschstämmiger Bevölkerung aufweist. In vergleichbarer Weise betonen Les Back (1996), Michael Keith (2008) oder Saskia Sassen (2012) in ihren Arbeiten über London bzw. über „Global Cities“ als „transnationale Räume“ das „metropolitan paradox“, i.e. das frappierende und teilweise widersprüchliche großstädtische Nebeneinander von interkultureller Offenheit und rassistischer Ausgrenzung. Ihre relationalen Analysen lassen erkennen, wie diese spezifischen Geographien des Rassismus besondere Formen des Wandels, der Prosperität, der Ausbeutung und des Konflikts generieren. Die didaktische Übertragung dieser Beispiele in den Geographieunterricht dürfte diesen sowohl thematisch bereichern, als auch Möglichkeiten für Exkursionen sowie für Erhebungen und Beobachtungen in städtischen Beispielräumen schaffen. Als Anwendungs- und Reflexionsbeispiele könnten nicht nur die sozialräumlichen Strukturen internationaler Großstädte dienen, deren Bevölkerungsmehrheit inzwischen aus Minderheiten mit familiärer Migrationsgeschichte besteht (so z.B. in Frankfurt am Main, Offenbach, Rotterdam oder Zürich), sondern auch viele Klein- und Mittelstädte, die häufig ganz ähnliche demographische Diversifizierungs- und teilweise auch deutliche Polarisierungsprozesse aufweisen (vgl. Schneider, 2018, S. 5 & 13f.).
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5. ORTE DES RASSISMUS Rassistische Ordnungen werden durch räumliche Bezüge und Verortungen geschaffen, stabilisiert und auch verändert. Rassismus wird in Orten und durch spezifische Orte reproduziert. Versuche, die materielle Ausprägung und Veränderung von Rassismus und rassistisch induzierter Ungleichbehandlung zu erfassen, werden daher auf räumliche Konfigurationen aufmerksam. Wie städtische Segregationsverhältnisse können auch Erstunterbringungen für Geflüchtete oder Gemeinschaftsunterkünfte, häufig am Rande oder außerhalb von Städten gelegen, Marginalisierungs- und Exklusionsstrukturen darstellen. Die Orte der „Anderen“, die durch körperliche Verortung sowie durch visuelle, oft massenmedial verstärkte, Darstellungen hervorgebracht werden, erfüllen strukturierende Funktionen. Sie können disziplinieren, exkludieren, abschrecken oder Auffälligkeiten generieren. Asylbewerberinnen und -bewerber, zum Beispiel, die in den negativ konnotierten Räumen eines typischen Aufnahmelagers untergebracht werden, werden zugleich separiert und stigmatisiert. Die Lagerunterbringung erzeugt Besonderheiten und spezifische Sichtbarkeiten „durch bestimmte physische und innere Strukturen“ (z.B. Konzentration von Menschen auf engstem Raum, Verlust der Privatsphäre, Abhängigkeit von Betreuenden bei der Verrichtung alltäglicher Aktivitäten, erzwungene Erwerbslosigkeit etc.) (vgl. Kreichauf, 2016, S. 36). Die kartographische Erfassung und Visualisierung der Orte des Rassismus und der Konstruktion der „Anderen“ kann aufschlussreich sein und neue Fragen anregen. Der Untersuchungsbericht über Polizeigewalt in der US-amerikanischen Großstadt Baltimore belegt etwa, dass die Opfer polizeilicher Diskriminierung auch deshalb angegriffen wurden, weil sie sich zur falschen Zeit am falschen – i.e. rassistisch konnotierten – Ort aufgehalten hatten (vgl. von Petersdorff, 2016). Und während die Verortung von rechtsextremistisch motivierten Gewalttaten in Deutschland – von Pöbeleien, physischen An- und Übergriffen oder von registrierten Brandanschlägen auf Asylbewerberunterkünfte – lange Jahre darauf hindeutete, dass diese Form rassistischer Gewalt primär ein ostdeutsches Phänomen war, werden spätestens seit 2014 signifikante quantitative Zunahmen insgesamt und Verschiebungen nach Westdeutschland sichtbar.4 Karten bergen jedoch auch Gefahren. Durch ihre Territorialisierung und Visualisierung reduzieren und verdinglichen sie Komplexität. Das Problemfeld von Fremdenfeindlichkeit, Rechtsextremismus und Rassismus kann somit leicht auf einzelne Orte und Regionen beschränkt erscheinen, als wären die Phänomene außerhalb der ausgezeichneten Orte nicht existent oder relevant. Wegen der unzureichenden Reduktion auf Sichtbarkeit und territoriale Konkretion (‚hier und nicht dort‘) lehnte es z.B. der Afrika-Rat im Juli 2006 ab, eine Karte für ausländische
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Siehe die gemeinsame Chronik von PRO ASYL und der Amadeu Antonio Stiftung, die Übergriffe auf und Demonstrationen gegen Geflüchtete und ihre Unterkünfte dokumentiert: vgl. www.amadeu-antonio-stiftung.de/.
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WM-BesucherInnen zu veröffentlichen, in die sogenannte „No-Go-Areas“ in Ostdeutschland eingezeichnet waren und vor deren Besuch gewarnt wurde (vgl. Mohring et al., 2010). Zweischneidig kann die kartographische Visualisierung auch deshalb sein, weil sie starke Parallelen zu den zu untersuchenden rassistischen Praktiken selbst aufweist. Diese sind häufig ebenfalls durch spezifische Verräumlichungen und exkludierende Ortsaneignungen gekennzeichnet. In puncto Raumbezug sowie Verschmelzung von Territorium und Gruppenidentität, die bestimmte Gruppen ausschließt, lassen sich beispielsweise klare Analogien zwischen der Rede von „NoGo-Areas“ und den von Neonazis proklamierten „national befreiten Zonen“ ausmachen (vgl. Döring, 2008, S. 82ff.). In den Händen von gewaltbereiten Rechtsextremen könnten Karten von z.B. Asylbewerberunterkünften geradezu lebensgefährliche Folgen zeitigen, indem sie Orte der schutzsuchenden und damit auch verletzlichen „Anderen“ auszeichnen. Mehrdeutig wirken Orte im Kontext rassistischer Verhältnisse schließlich noch in einer anderen Hinsicht: Orte wie der Kölner Bahnhofsvorplatz nach den sexuellen Übergriffen der Silvesternacht 2015 oder Orte terroristischer Anschläge können infolge massenmedialer Kommunikation und Verstärkung zu neuen Chiffren werden. Sie können als Belege für die Andersartigkeit der imaginierten „Anderen“, ihre Unzivilisiertheit, Grausamkeit oder Gewaltbereitschaft fungieren und dadurch ihrer Abwehr Vorschub leisten (vgl. Messerschmidt, 2016). Weit unscheinbarer, doch dabei oft viel relevanter für die Lebenswirklichkeit von SchülerInnen, sind die Rassismen, denen sie in ihrem privaten wie schulischen Alltag begegnen und die in ihre alltägliche Handlungspraxis eingelagert sind. Auch hier bieten die empirisch beobachtbaren Verortungen von Rassismus sowie die an Orte geknüpften oder über Orte artikulierten Erfahrungen rassistischer Ordnungen (z.B.: „Wo wurde ich diskriminiert?“) nahe liegende Ausgangspunkte für die gemeinsame Erarbeitung (selbst-)kritischer Perspektiven im Geographieunterricht.
6. FAZIT Die Ausführungen und Beispiele zeigen, dass sich Orte und ihre Bilder in vielfacher Weise in Migrationsverhältnisse und rassistische Beziehungen einschreiben können. Repräsentationen von Orten und die Repräsentation der „Anderen“ sind eng miteinander verwoben. Sie ermöglichen, prägen oder modifizieren einander. Diese Geflechte mit konkretem empirischem Bezug aufzuschlüsseln, ist nicht nur Aufgabe einer raumsensiblen Analyse, sondern auch eines migrationsbezogenen und rassismuskritischen Geographieunterrichts. Die drei skizzierten Untersuchungsperspektiven auf Geographien des Rassismus sind, wie ersichtlich, nicht trennscharf. Sie markieren gleichwohl unterschiedliche Schwerpunkte und Blickrichtungen. Folgt man ihnen, bedeutet Rassismuskritik heute stets auch Kritik an den pauschalisierenden Verräumlichungen des Migrationsdiskurses. Die Rekonstruktion der Hervorbringung kollektiver Identitäten
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durch implizite wie explizite Ortsbezüge kann so zur Dekonstruktion alltäglicher Rassismen beitragen.
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KLIMAWANDEL, MEERESSPIEGELANSTIEG UND MIGRATION IM GANGES-BRAHMAPUTRA-DELTA – EINE KOMPLIZIERTE BEZIEHUNG Boris Braun / Amelie Bernzen
1. EINLEITUNG Klima- und Umweltflucht bzw. – vorsichtiger ausgedrückt – umwelt- und klimainduzierte Migration sind in den letzten Jahren auch im Schulunterricht wichtige Themen geworden. Vor allem kleine Inselstaaten und die großen Deltagebiete der Erde stehen oft im Mittelpunkt der Betrachtung, wenn über die Folgen des Klimawandels und des damit verbundenen Meeresspiegelanstiegs diskutiert wird. Oft wird dabei von sehr einfachen Wirkungszusammenhängen ausgegangen, die eine unmittelbare Kausalbeziehung zwischen dem Meeresspiegelanstieg, zunehmenden Überschwemmungen, zerstörerischen tropischen Wirbelstürmen und umfangreichen Migrationsströmen postulieren. Millionenfache Migration erscheint dann als eine unmittelbare, im Grunde unabwendbare Folge des Klimawandels und der von ihm ausgelösten Umweltveränderungen. Abgesehen davon, dass der Begriff „Flüchtling“ eine rechtliche Begriffskategorie nach der Genfer Flüchtlingskonvention darstellt und deshalb mit Bedacht verwendet werden sollte, tendieren viele Verlautbarungen in den Massenmedien, aber auch in der Wissenschaft mit alarmistischem Unterton zu moralisch aufgeladenen Begrifflichkeiten sowie zu übersimplifizierenden Kausalannahmen, wenn es um die Beschreibung des Zusammenhangs zwischen Umwelt- und Klimaveränderungen und Wanderungsgeschehen geht (vgl. hierzu auch Hillmann, 2016, S. 174ff.). Dies gilt umso mehr, wenn dieser Zusammenhang in den Ländern des Globalen Südens thematisiert wird. Mindestens vier grundlegende Probleme sind mit den typischen Argumentationsmustern verbunden: Erstens wird dabei in der Regel die Komplexität von individuellen Entscheidungen in Bezug auf Migration oder Nichtmigration nicht hinreichend berücksichtigt; zweitens wird die Fähigkeit der Menschen unterschätzt, vor Ort mit Veränderungen und Störungen umzugehen und drittens werden dauerhafte Wanderungen über weite Distanzen überbetont, während temporäre Wanderungen über kurze Distanzen deutlich weniger betrachtet werden. Nicht zuletzt wird Migration sehr oft als eine möglichst zu vermeidende Ausnahme angesehen und nicht als situationsabhängig durchaus sinnvolle und flexible Anpassung an sich verändernde Lebensbedingungen. Das Ganges-Brahmaputra-Meghna-Delta, mit 87.000 km2 eines der größten Deltas der Erde, und insbesondere der Staat Bangladesch, der den größten Teil des Deltas einnimmt, sind besonders häufig genannte Beispiele, wenn es darum geht,
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millionenfache „Klimaflucht“ in den Ländern des Globalen Südens zu prognostizieren. So werden in den Massenmedien, aber auch von Nichtregierungsorganisationen gerne unreflektiert Expertenmeinungen zitiert, die vor 20 Millionen, 25 Millionen oder noch mehr Klimaflüchtlingen in Bangladesch bis 2050 warnen (vgl. z.B. DLF, 2016, S. 1; Heidegger, 2008, S. 6ff.; Karim, 2008, S. 1). Diese Prognosen sind mit Vorsicht zu genießen, da sie in aller Regel von vereinfachten Annahmen über den Klimawandel, vor allem aber über das Migrationsgeschehen in Bangladesch ausgehen. Diese dramatisierenden medialen Repräsentationen verstärken in der Regel stereotype Vorstellungsbilder der Schülerinnen und Schüler (SuS) von „fremden“ Menschen, ihren Fähigkeiten und ihren Lebensumständen (vgl. hierzu auch Hoogen, 2016). In den letzten Jahren werden die Prozesse von umweltbedingter Migration in der Wissenschaft deutlich zurückhaltender und vor allem differenzierter beurteilt (vgl. z. B. Foresight, 2011). Der vorliegende Beitrag soll am Beispiel des Küstenraums von Bangladesch einen Überblick über neuere Erkenntnisse zum Zusammenhang zwischen Umweltveränderungen und Migration darstellen sowie Befunde aus aktuellen Forschungsprojekten diskutieren. Abschließend soll erörtert werden, welche Bedeutung diese neueren Erkenntnisse für den Geographieunterricht haben können.
2. BANGLADESCH ALS RISIKOGEBIET Bangladesch ist nicht nur eine der ärmsten und am dichtesten besiedelten Nationen der Erde, sondern aufgrund seiner exponierten naturräumlichen Lage auch eines der am stärksten von klimabedingten Extremereignissen heimgesuchten Länder. Die mächtigen Flüsse Ganges, Brahmaputra und Meghna führen Wasser aus einem riesigen Einzugsbereich in das flache Deltagebiet am Golf von Bengalen. Nicht nur ist das Einzugsgebiet der Flüsse zwölfmal so groß wie das Land selbst, sondern in ihm liegen auch die niederschlagsreichsten Klimastationen der Erde (z.B. Cherrapunji in den indischen Meghalaya Hills). Zudem fallen die Niederschläge zeitlich hoch konzentriert während des Südwestmonsuns zwischen Juni und September. Die enormen Wassermassen verursachen immer wieder schwere Überschwemmungen, die über die Hälfte des gesamten Staatsgebietes unter Wasser setzten können (vgl. Braun & Shoeb, 2008). Während der „Jahrhundertüberschwemmung“ im Jahre 1998 standen sogar bis zu 68 % der Landesfläche für zweieinhalb Monate unter Wasser. Auch wenn Bangladesch in den letzten Jahren etwas weniger von katastrophalen Überschwemmungen betroffen war, haben Häufigkeit und Intensität der Überschwemmungsereignisse seit den 1980er Jahren tendenziell zugenommen (siehe Abb. 1).
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Abb. 1: Maximal überschwemmte Landesfläche in Bangladesch 1954-2014 (Quelle: Bangladesh Water Development Board)
Dies ist für die Menschen im Deltagebiet vor allem deshalb kritisch, weil sowohl zu viel als auch zu wenig Wasser schnell Probleme verursacht. Bleiben die Überschwemmungen während des Monsuns aus, entstehen schnell Dürreprobleme während der anschließenden Trockenzeit, und es fehlt die Ablagerung von Feinsedimenten, welche die Bodenfruchtbarkeit auf den Feldern erhöht. Sind mehr als maximal 20 % der Landesfläche während der Monsunzeit überschwemmt, führt dies rasch zu katastrophalen Bedingungen, weil Tausende von Menschenleben in Gefahr geraten, Millionen von Familien obdachlos werden, Krankheiten sich schnell ausbreiten sowie Ernten, Siedlungen und die Infrastruktur darunter leiden (vgl. Braun & Shoeb, 2008). Eng verbunden mit der stark variierenden Wasserführung der Flüsse ist die Erosion von Flussufern (riverbank erosion). Diese zerstört nicht nur wertvolle Anbauflächen und Feldfrüchte, sondern immer wieder auch knappes Siedlungsland (vgl. Mirza et al., 2015). Schätzungen zufolge sind etwa 5 % der gesamten landwirtschaftlichen Anbaufläche Bangladeschs unmittelbar durch riverbank erosion gefährdet; das betrifft neben dem Brahmaputra vor allem den Mündungsbereich des Meghna (siehe Abb. 2). Seit 1973 verloren rund 1,6 Millionen Menschen durch die riverbank erosion ihr Zuhause (vgl. Nishat & Mukherjee, 2013, S. 28). Diese Menschen haben dann zum Teil keine andere Wahl, als ihre Dörfer zu verlassen und sich anderswo im näheren Umland oder auch in entfernteren Gebieten wieder anzusiedeln. Noch dramatischer in ihren Auswirkungen sind tropische Zyklonen, die an der Küste von Bangladesch auf Land treffen (siehe Abb. 2).
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Abb. 2: Durch Flussufererosion und Zyklonen betroffene Gebiete in Bangladesch sowie Untersuchungsgebiete (verschiedene Quellen und Datengrundlagen)
Hohe Windgeschwindigkeiten von mehr als 200 km/h sowie mehrere Meter hohe Flutwellen verursachen an der flach auslaufenden Küste von Bangladesch immer wieder massive Zerstörungen. Nicht zuletzt aufgrund der verbesserten Frühwarnsysteme, dem Ausbau von Notunterkünften und eines wirkungsvolleren Katastrophenmanagements kosten Zyklone heute nicht mehr so viele Menschenleben wie früher, als 1970 und 1991 bei besonders zerstörerischen Wirbelstürmen noch etwa 500.000 Menschen bzw. 140.000 Menschen starben (vgl. Khalil, 1992, S. 15ff.). Aber auch die jüngeren Wirbelstürme beispielsweise Sidr (November 2007) und Aila (Mai 2009) verursachten erhebliche Schäden. Die Zahl der stark in Mitleidenschaft gezogenen Menschen wurde sowohl bei Sidr als auch bei Aila auf jeweils mehrere Hunderttausend geschätzt (vgl. Shamsuddoha et al., 2013, S. 9). Viele dieser Menschen waren für längere Zeit obdachlos, weil ihre Wohnhäuser, ebenso wie große Teile der landwirtschaftlichen Nutzflächen und der Infrastruktur, teilweise oder komplett zerstört wurden. Extreme Naturereignisse haben in den Küstenregionen Bangladeschs immer wieder dramatische Veränderungen für die Lebenswelt der Menschen zur Folge. Auch wenn die Fähigkeit der Menschen zur Bewältigung katastrophaler Ereignisse bewundernswert ist, machen Armut, Landlosigkeit und geringe Bildung viele von
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ihnen höchst vulnerabel gegenüber ständigen Umweltveränderungen. Der Klimawandel, der in den nächsten Jahrzehnten eine Zunahme von Starkregenereignissen, Überschwemmungen, Stürmen und Hitzewellen erwarten lässt, sowie insbesondere der zu erwartende beschleunigte Anstieg des Meeresspiegels im Golf von Bengalen könnten diese Situation weiter verschärfen. Für die jüngere Vergangenheit lässt sich auf der Basis von Satellitenmessungen ein Anstieg des Meeresspiegels an der Küste von Bangladesch von mehreren Millimetern im Jahr rekonstruieren. Längerfristige Prognosen gehen von einem Anstieg des Meeresspiegels im Golf von Bangalen von 30 bis 50 cm bis 2050 aus (Kusche et al., 2016, S. 49). Angesichts der Tatsache, dass einschließlich der knapp 140 Polder rund 6.170 km2 dicht besiedelte Siedlungsräume auf einem Niveau von maximal 2 m über dem jetzigen mittleren Meeresspiegel liegen, sind diese Prognosen besorgniserregend. Bereits 2001 lebten in den 19 Küstendistrikten (zilas; 47.000 km²) etwa 38 Millionen Menschen, 2011 waren es etwa 50 Millionen (vgl. BBS, 2015, S. 8) und 2050 sollen es laut Prognosen knapp 61 Millionen sein (vgl. PDO-ICZMP, 2005 in Islam, 2006: 238). Diese Menschen werden sich in den kommenden Jahren erheblichen Herausforderungen ausgesetzt sehen. Die Menschen in Bangladesch haben über Jahrhunderte hinweg gelernt, mit ständigen Veränderungen in ihrem Lebensumfeld und wiederkehrenden natürlichen Extremereignissen umzugehen. An Überschwemmungen angepasste Formen der Landnutzung in den Niederungsgebieten (z. B. gemischte Anbauformen in der Landwirtschaft, nur während der Trockenzeit durchgeführte Produktion von Tonziegeln als Baumaterialien) sowie auf Erdwällen erhöht errichtete Gebäude und Siedlungen sind Beispiele für solche Anpassungsstrategien. Aber auch gut funktionierende soziale Netzwerke spielen eine erhebliche Rolle für die gegenseitige Unterstützung während und unmittelbar nach Naturkatastrophen (vgl. Braun & Aßheuer, 2011). Wo die Anpassungsfähigkeit der Menschen an Veränderungen vor Ort jedoch nicht mehr ausreicht, erscheint Abwanderung als letzte Option. Inwiefern Umweltveränderungen wie Meeresspiegelanstieg, Überschwemmungen, Wirbelstürme oder Erosion tatsächlich als Push-Faktoren Wanderungen auslösen, soll im nächsten Kapitel diskutiert werden.
3. AKTUELLE BEFUNDE ZUM EINFLUSS VON NATUREREIGNISSEN AUF MIGRATION In jüngster Zeit hat sich die wissenschaftliche Debatte um die Zusammenhänge zwischen Klimawandel, extremen Naturereignissen und Migration im Küstenraum von Bangladesch deutlich intensiviert. Es existieren sowohl empirische Erhebungen in den (potenziellen) ländlichen Abwanderungsregionen als auch in Zuwanderergemeinschaften in den großen Städten (vgl. hierzu Braun et al., 2017). Auch wenn manche empirische Untersuchungen auf relativ kleinen Samples beruhen und verschiedene Studien aufgrund unterschiedlicher Forschungsdesigns kaum unmittelbar vergleichbar sind, ist heute deutlich mehr über die Ursachen von Migrationsprozessen bekannt als noch vor einigen Jahren.
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Einige Studien konzentrierten sich speziell auf die Opfer von extremen Naturereignissen. Mallick und Vogt (2012) konnten beispielsweise auf der Basis einer Erhebung unter 280 Haushalten im Satkhira-Distrikt feststellen, dass die durchschnittlichen Einkommen unmittelbar nach dem Wirbelsturm Aila um über die Hälfte gefallen waren und deshalb vor allem Männer aus ärmeren Familien zum Geldverdienen in andere Regionen abwanderten. Dagegen haben Istahique und Ullah (2013) Land-Stadt-MigrantInnen in den Slums von Dhaka befragt. Nur 7 % der 263 Befragten nannten Naturereignisse als maßgebliche Gründe für die dauerhafte Abwanderung aus ihren ländlichen Heimatregionen. Andere, insbesondere ökonomische oder familiäre Gründe, waren deutlich wichtiger für die Abwanderung aus ländlichen Gebieten. Ganz ähnlich weisen Arbeiten von Gray und Mueller (2012), die auf Daten aus umfassenden Panel-Befragungen beruhen, darauf hin, dass extreme Naturereignisse zwar kurzfristig Migrationsbewegungen bedingen können, aber nur einen relativ geringen Einfluss auf das längerfristige Wanderungsgeschehen haben. Dies wird auch durch die Studien von Chen et al. (2017) bestätigt, die amtliche Wanderungsstatistiken von 2003 bis 2011 sowie Satellitenbilder zu Überschwemmungsereignissen auswerteten. Sie schätzen auf der Basis von jährlichen Erhebungen der Wanderungsstatistik, dass jeweils rund 5 % der Haushalte im Küstenraum von Bangladesch mindestens eine Person aufweisen, die sechs Monate oder mehr an einem anderen Ort verbracht hat. Anhand multivariater Analysen können sie nachweisen, dass sich Überschwemmungsereignisse in der Regel eher negativ auf Migrationsraten auswirken. Dieser auf den ersten Blick paradoxe Befund könnte darin begründet sein, dass Menschen entweder durch extreme Überschwemmungen an der Wanderung gehindert werden (z. B. durch den Verlust von Ersparnissen) oder – wahrscheinlicher – zumindest die moderateren Überschwemmungsereignisse die Bodenfruchtbarkeit und die Ernteerträge vielerorts erhöhen. Hierdurch entstehen eine steigende Nachfrage nach Arbeitskräften und bessere Einkommensmöglichkeiten, was der Abwanderung der ländlichen Bevölkerung in weiter entfernte Städte entgegenwirkt. Für Zyklone, Küsten- und Flussufererosion wird die zweite Argumentationskette allerdings deutlich weniger zutreffen. Wie aus den oben genannten Studien bereits deutlich wird, existieren unterschiedliche Einschätzungen zu der Frage, wer wandert bzw. welchen Sozial- und Bildungsschichten die Wandernden überwiegend angehören. Während die Befunde von Mallick und Vogt (2012) darauf hinweisen, dass nach zerstörerischen Wirbelstürmen vor allem Männer aus ärmeren Familien migrieren, lassen breiter angelegte Studien vermuten, dass in erster Linie die Wohlhabenderen und höher Qualifizierten ihre ländlichen Heimatregionen entweder permanent oder temporär verlassen. Letztlich stehen sich hier zwei unterschiedliche Hypothesen gegenüber. Während die eine Hypothese davon ausgeht, dass für Migration der Zugang zu finanziellen, bildungsbezogenen und sozialen Ressourcen (z.B. Ersparnissen, Schulbildung, sozialen Netzwerke) notwendig ist („Ressourcenthese“), geht die andere davon aus, dass gerade die ärmeren, besonders vulnerablen Bevölkerungsschichten wandern,
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weil sie Naturgefahren in besonderem Maße ausgesetzt sind und in Notzeiten keine Alternative zur Abwanderung haben („Armutsthese“). Um sowohl MigrantInnen als auch NichtmigrantInnen sowie unterschiedliche Wanderungsursachen in einer umfangreichen Stichprobe systematisch zu erfassen, wurde 2014 im Kontext eines deutsch-amerikanisch-französisch-bangladeschischen Verbundprojektes (Projekt BanD-AID) eine eigene Befragung in neun unterschiedlichen Untersuchungsregionen im Küstenraum von Bangladesch durchgeführt (vgl. zu den Untersuchungsgebieten Abb. 2). Die Untersuchungsregionen decken drei der vier küstennäheren Ökozonen ab und umfassen sowohl küstennahe als auch küstenfernere Gebiete sowie Zonen mit starkem und weniger starkem Landnutzungswandel (vgl. auch Bernzen et al., 2016; Braun et al., 2016; Braun et al., 2017, Kusche et al. 2018). A. Art und Ziel der Migration
Temporäre Migration ins Ausland 11,3 %
Dauerhafte Migration innerhalb von Bangladesch 10,7 %
B. Hauptgründe für die Migration
Dauerhafte Migration ins Ausland 1%
Heirat und Familienzusammenführung 20,3 % Temporäre Migration innerhalb von Bangladesh 77,0 %
(n= 291)
Politische Konflikte Sonstige und Gründe Unruhen 1,2 % 2,4 %
Schule, Studium, Ausbildung 16,8 % Bessere Beschäftigungsmöglichkeiten in der Landwirtschaft 2,4 %
Bessere Beschäftigungsmöglichkeiten in der Stadt 56,9 %
(n= 167)
Abb. 3: Art, Ziele und Gründe der Abwanderung aus ausgewählten ländlichen Gemeinden im Küstenraum von Bangladesch (Quelle: eigene Erhebungen 2014)
Insgesamt wurden Daten von 6.132 Personen in 1.188 Haushalten erfasst. Gut 6 % der erfassten erwachsenen Personen (>= 15 Jahre), überwiegend Männer, migrierten zumeist temporär, seltener dauerhaft (siehe Abb. 4). 16,5 % aller befragten Haushalte wiesen mindestens ein Mitglied mit Migrationserfahrung auf. Die höhere Zahl von Haushalten mit MigrantInnen im Vergleich zur Studie von Chen et al. (2017) erklärt sich durch den deutlich längeren Erfassungszeitraum. Insgesamt sind die beiden Studien bezüglich der Migrantenanteile aber vergleichbar. Beide zeigen, dass Migration im Küstenraum von Bangladesch zwar ein bedeutsames Phänomen ist, dass aus diesen potenziell vom Klimawandel besonders betroffenen Gebieten aber (noch) keine Massenabwanderung beobachtet werden kann.
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Die Befragungsdaten belegen, dass in Gemeinden, die stark durch die Wirbelstürme Sidr (2007) und Aila (2009) betroffen waren, die Abwanderungsrate mit 8 bis 12 % deutlich erhöht ist. Allerdings werden, wenn direkt nach den Gründen für die Wanderung gefragt wird, so gut wie nie extreme Naturereignisse oder Umweltund Klimaveränderungen genannt. Die aus Sicht der Menschen dominanten Wanderungsgründe sind ganz überwiegend ökonomischer Natur. Vor allem sind dies die besseren Erwerbs- und Ausbildungsmöglichkeiten in den größeren Städten im Küstenraum selbst (z. B. Khulna, Barisal) oder in der Hauptstadt Dhaka (siehe Abb. 4). Unabhängig davon spielt vor allem bei Frauen auch Heirat eine große Rolle bei der Migration, da bangladeschische Frauen nach der Eheschließung in aller Regel zur Familie ihres Ehemanns ziehen. Interessante Befunde liefert die Untersuchung auch im Hinblick auf die Ressourcen- und die Armutshypothese. Auf Basis logistischer Regressionsmodelle konnten Braun et al. (2017) mögliche Prädiktoren für die Abwanderung aus den untersuchten küstennahen Gemeinden umfassend beschreiben. Besonders positiv auf die Wahrscheinlichkeit zur Abwanderung aus dem Küstenraum wirken neben einer guten Ausbildung (z. B. höhere Schulabschlüsse, Englischkenntnisse) und außerlandwirtschaftlichen Qualifikationen auch ein höherer Wohlstand (z. B. gemessen am Zugang zu eigenem Land, Wohnen in solide gebauten Häusern usw.) sowie enge soziale Kontakte im lokalen Umfeld (vgl. Braun et al. 2017, S. 13ff.). Diese Ergebnisse stützen im Wesentlichen die Ressourcenthese. Menschen wandern vor allem dann aus den ländlichen Küstengemeinden ab, wenn sie aufgrund ihrer individuellen Fähigkeiten an anderen Orten bessere Verdienst- und Ausbildungsmöglichkeiten erwarten und so zur Verbesserung der Einkommenssituation der gesamten Familie beitragen können. Allerdings liefern die regressionsanalytischen Untersuchungen auch Hinweise darauf, dass zwar die besseren Verdienst- und Bildungsmöglichkeiten in den Städten bei der Abwanderungsentscheidung dominieren, aber auch der Verlust kultivierbaren Landes die Wanderungswahrscheinlichkeit signifikant erhöht. Doch nicht nur aufgrund von Erosion oder Zyklonen kann kultivierbares Land verloren gehen. Vor allem im Südwesten Bangladeschs haben ökonomisch getriebene Landnutzungsänderungen vielen Haushalten ihre (landwirtschaftliche) Lebensgrundlage entzogen und somit zu verstärkter Abwanderung aus der Region beigetragen.
4. GARNELENPRODUKTION, LANDNUTZUNGSWANDEL UND MIGRATION Der Küstenraum Bangladeschs ist nach wie vor stark von der Landwirtschaft geprägt. Rund die Hälfte der gesamten Fläche in den 19 Küstendistrikten wird agrarisch (vgl. BBS, 2016, S. 262ff.). Die Dominanz der Landwirtschaft bedeutet, dass die Lebensgrundlage der ländlichen Bevölkerung vor allem auf den natürlichen
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Ressourcen Wasser und Land basiert, von denen vor allem letztere ein immer knapperes Gut wird. Schätzungen zufolge hatten schon um 2005 über 80 % aller im Küstenraum lebenden Menschen keinen Zugang mehr zu landwirtschaftlich nutzbarem Land. Bis 2050 wird eine Halbierung der pro Kopf zur Verfügung stehenden Fläche von 0.056 ha auf 0.025 ha prognostiziert (vgl. PDO-ICZMP, 2005 in Islam, 2006, S. 238). Getrieben durch die stark wachsende Nachfrage nach tropischen Garnelen aus Europa, Nordamerika und Japan kommt es seit Ende der 1970er Jahre im Küstenraum Bangladeschs zu einer weitflächigen Konversion von Reisfeldern in Garnelenmastteiche (vgl. Falk, 2015). Mit der Garnelenzucht lassen sich deutlich höhere Gewinne erzielen als mit Reisanbau. Für diese großflächige Konversion boten sich vor allem die seit den 1950er Jahren mit Mitteln der Weltbank angelegten Polder an, in denen zunehmende Staunässe den Reisanbau ohnehin immer unwirtschaftlicher machte. Flächen, die durch die Einfriedung mit Deichen und Erdwällen vormals vor eindringendem Salzwasser geschützt werden sollten, wurden vielfach in große Salz- und Brackwasserbassins zur Garnelenaufzucht verwandelt. Doch auch Mangrovenwälder fielen der Ausweitung der Garnelenaufzucht zum Opfer, mit der Folge eines verringerten natürlichen Schutzes vor Zyklonen und Sturmfluten. Heute sind in den Distrikten des Südwestens, vor allem in Khulna, Bagerhat und Satkhira, weite Landstriche fast ausschließlich der Garnelenproduktion gewidmet; in manchen Gemeinden betrifft das bis zu 70 % der Gesamtfläche (vgl. Ministry of Land, 2011). Die absolute Fläche der Garnelenfarmen nimmt weiterhin drastisch zu: Innerhalb von zehn Jahren stieg sie von etwa 165.000 ha im Jahre 2005 auf fast 275.600 ha im Jahre 2015 (vgl. Azad et al., 2009; BBS, 2016, S. 465). Heute sind Garnelen ein Massenprodukt und bilden den zweitwichtigsten Exportsektor des Landes nach Textilien. Die Integration der bangladeschischen Garnelenproduktion in internationale Wertschöpfungsketten bringt trotz aller wirtschaftlichen Vorteile für die Küstenregion auch schwerwiegende soziale und ökologische Probleme mit sich (vgl. Dietsche, 2010; Paul & Vogl, 2011). Die Ausweitung der Garnelenteiche verlief größtenteils wenig koordiniert und kaum staatlich reguliert. In nicht wenigen Fällen erweiterten bis zum Ende der 1990er Jahre Investoren großer Garnelenfarmen aus Dhaka oder Übersee ihre Produktionsflächen durch gewaltsame Aneignung vorher kleinbäuerlich genutzter Fluren (vgl. Islam, 2008; Kabir et al., 2016). Obwohl in den letzten Jahren die kleinflächigere, familienbetriebene Garnelenzucht wieder zunimmt (vgl. Bernier et al., 2016), bleibt die Grundproblematik bestehen. Da die Garnelenteiche weniger arbeitsintensiv sind als etwa der Reisanbau oder andere traditionelle Anbaufrüchte, entfallen lokale Erwerbsmöglichkeiten, was vor allem für den großen Teil der landlosen Bevölkerung – Tagelöhner, Erntehelfer, Fischer – ein großes Problem darstellt. Hinzu kommen ökologische Probleme wie abnehmende Biodiversität, Wasserverschmutzung, Trinkwasserknappheit und vor allem die Bodenversalzung, die die landwirtschaftliche Nutzung des Landes für salzintolerante Pflanzen – also die allermeisten Getreide-, Gemüse- und Obstsorten – längerfristig unmöglich macht. Auch werden an Garnelenteiche grenzende Grundstücke durch einsickerndes Salzwasser für den Anbau von Feldfrüchten unbrauchbar (vgl. Boem
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& Richter, 2010, S. 15ff.) – Anrainer von Garnelenteichen werden so ebenfalls gezwungen, zur Garnelenaufzucht zu wechseln. Diese Situation verschärft auch die Ernährungsunsicherheit im Küstenraum Bangladeschs. Viele Haushalte können sich aufgrund niedriger Einkommen oder zu geringer bzw. wenig geeigneter Landflächen für die Eigenproduktion nicht angemessen ernähren. Dazu kommt, dass Bangladesch schon jetzt von Lebensmittelimporten abhängig ist. Die starken Preisschwankungen des globalen Marktes für Agrargüter schlagen sich somit auch auf den lokalen Märkten nieder. Preiserhöhungen treffen viele Haushalte schmerzlich und können Abwanderungsentscheidungen aus ländlichen Räumen beeinflussen (vgl. Ahmed et al., 2012, S. 25). Insgesamt sind die ökonomisch getriebenen Landnutzungsänderungen eine wichtige Ursache für die Abwanderung aus großen Teilen der küstennahen Gebiete. Bis in die Gegenwart erscheint dieser Faktor bedeutsamer als Umweltveränderungen oder der Einfluss von Klimawandel und Meeresspiegelanstieg (vgl. AmoakoJohnson et al., 2016). Dies legen vor allem empirische Studien nahe, die auf Befragungen in Abwanderungsgebieten bzw. in Kerngebieten der Garnelenproduktion beruhen (vgl. Azam, 2011, Falk, 2015). So zeigen die Garnelengebiete in der Regel eine rückläufige Bevölkerungsentwicklung, während viele Gemeinden direkt an der Küstenlinie – nicht zuletzt aufgrund der natürlichen Bevölkerungsentwicklung, aber durchaus auch aufgrund von Zuwanderung – deutliche Bevölkerungsgewinne aufweisen (vgl. Braun et al., 2016). Land-Stadt-Wanderungen haben in Bangladesch in den letzten Jahren deutlich zugenommen, aber dies gilt ebenfalls für Land-Land-Wanderungen (vgl. Braun et al., 2016; Chen et al., 2017). Die zirkuläre Migration einzelner Familienmitglieder zwischen Land und Stadt bzw. verschiedenen ländlichen oder städtischen Regionen ist eine in vielen banglededischen Familien schon seit langer Zeit übliche Praxis, wobei die Wanderungen über sehr unterschiedliche Distanzen stattfinden können. Ein signifikanter Einfluss von Klima- oder Umweltveränderungen auf das Wanderungsgeschehen lässt sich hieraus kaum ableiten.
5. FAZIT Zusammenfassend zeigen die verfügbaren empirischen Studien zum Migrationsgeschehen im Küstenraum von Bangladesch, dass ökonomische Gründe (z. B. PullFaktoren wie die besseren Verdienst- und Bildungsmöglichkeiten in den Städten oder Push-Faktoren wie lokale Arbeitsplatzverluste durch den Ausbau der Garnelenzucht im ländlichen Raum) das Wanderungsgeschehen im Küstenraum von Bangladesch dominieren. Demgegenüber spielen Klimawandel, Meeresspiegelanstieg und damit verbundene Extremereignisse bislang eine nachrangige Rolle. Selbst wo längerfristig naturbedingte Umweltveränderungen zunehmen, sind diese für die Menschen vor Ort kaum unmittelbar, sondern vor allem als Zunahme von natürlichen Extremereignisse auf der lokalen Ebene erfahrbar. In der Regel „über-
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setzen“ die Menschen dann die Veränderungen in ihrer unmittelbaren Lebensumwelt rational in ökonomische Entscheidungsmotive, die letztlich zu Abwanderung bzw. – häufiger – zu zirkulären Migrationsformen führen. Zudem findet ein großer Teil der Wanderungen, der durch Umweltveränderungen ausgelöst wird, über relativ kurze Entfernungen statt. Umfangreiche Migrationsströme über weite Distanzen aufgrund von Klimawandel und Meeresspiegelanstieg lassen sich aus den bisherigen Befunden nicht ableiten. Somit gibt es klare Hinweise, dass simplifizierende Prognosen zu Millionen und Abermillionen von „Klimaflüchtlingen“ in Bangladesch kaum auf einer seriösen Grundlage beruhen. Die implizite Annahme einer unmittelbaren Kausalbeziehung zwischen sich verändernden Klimabedingungen und umfangreichen Wanderungsströmen über weite Distanzen lässt sich vor dem Hintergrund der jüngeren Erkenntnisse zu Wanderungsursachen und individuellen Wanderungsmotiven nicht halten. Zum einen lassen sich Umwelt- und Klimaveränderungen empirisch kaum zuverlässig von anderen Migrationsursachen trennen. Einfache deterministische Ursache-Wirkungs-Ansätze berücksichtigen weder die Multikausalität und Komplexität von Migration und Nicht-Migration noch die enorme Anpassungsfähigkeit von Menschen an sich verändernde Umweltbedingungen. Zum anderen besteht keineswegs ein eindeutiger Zusammenhang zwischen räumlicher Exponiertheit, sozioökonomischer Vulnerabilität und Migration. Die Wandernden sind überwiegend die besser Ausgebildeten, Wohlhabenderen und sozial gut Vernetzten, die in den größeren Städten und – deutlich seltener – im Ausland für sich selbst und für die Einkommenssituation ihrer Familie bessere Möglichkeiten sehen. Gerade die besonders verwundbaren, weil armen und wenig gebildete Bevölkerungsschichten haben dagegen deutlich weniger Möglichkeiten zur Abwanderung, weil ihnen die materiellen, aber häufig auch die sozialen Voraussetzungen hierzu fehlen. Damit ist diesen Menschen eine möglicherweise vorteilhafte individuelle Option zur Anpassung verbaut. Migration ist nicht notwendigerweise etwas „Schlechtes“, eher ein unter Umständen sehr effizienter und auch aus gesamtgesellschaftlicher Sicht sinnvoller Umgang mit sich verändernden äußeren Bedingungen. Zukünftige Forschung sollte sich deshalb verstärkt mit den Gründen beschäftigen, warum Menschen nicht wandern (können) bzw. wie sogenannte trapped populations entstehen, die in ihrer schwierigen Lage gefangen sind und denen Migration als Anpassungsstrategie nicht offen steht. Das Beispiel Bangladesch bietet sich für die Diskussion von Klimawandel, Meeresspiegelanstieg und Migration im Geographieunterricht in besonderem Maße an: Zum einen durch Bangladeschs Charakter als ausgeprägter Risikoraum und der großen Zahl der von Klimawandel und Meeresspiegelanstieg betroffenen BewohnerInnen, zum anderen aber auch durch die relativ große Zahl bereits existierender empirischen Untersuchungen, die vereinfachenden Vorhersagen gegenübergestellt werden können. Auf diese Weise lassen sich die Komplexität heutiger Migrationsmuster und die Problematik geodeterministischer Vereinfachungen vor allem anhand des Küstenraums des Landes gut diskutieren. Dabei geht es selbstverständlich nicht darum, die Existenz und die Folgen des (anthropogen verursachten) Klima-
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wandels herunterzuspielen oder gar zu negieren, vielmehr sollen monokausale Erklärungsmuster für Migration hinterfragt werden. Zudem kann den SuS deutlich gemacht werden, dass auch Menschen in Ländern des Globalen Südens überwiegend rationale Entscheidungen treffen und versuchen, ihre Lebenssituation kreativ und innovativ zu verbessern. Dies kann dazu dienen, bestehende Vorurteile abzubauen. Nicht zuletzt bietet sich das Thema zum Einüben des differenzierten Argumentierens und des kritischen Prüfens von komplexen Fakten an. Für den Schulunterricht bedarf die nicht einfache Thematik allerdings einer adäquaten Aufbereitung. Erste Schritte in diese Richtung wurden beispielsweise von Braun et al. (2016) oder Falk (2012) realisiert.
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BILDUNGSMIGRATION – EIN WELTWEITES GESCHÄFT Günther Weiss
1.EINLEITUNG Der Zusammenhang zwischen Migration und Bildung ist vielgestaltig. Häufig werden damit Probleme gering qualifizierter MigrantInnen (v.a. FluchtmigrantInnen, AsylbewerberInnen, „Armutsflüchtlinge“) im Aufnahmeland assoziiert (vgl. Fendel & Kosyakowa, 2017). Bildungseinrichtungen können aber auch für hoch qualifizierte Zuwandernde die Attraktivität eines Ziellandes erhöhen, welche für die Zeit ihres Aufenthalts eine anspruchsvolle, international vergleichbare schulische Bildung ihrer Kinder erwarten (vgl. Weiss et al., 2014). Bildung kann auch das eigentliche Ziel der Migration sein, wenn es darum geht, im Ausland sprachliche bzw. berufliche Qualifikationen zu verbessern und Erfahrungen zu sammeln. Solche Wanderungen mit dem Grund der Aus- und Weiterbildung gewinnen weltweit an Dynamik und Volumen. Es gab 2014 rund 4,3 Millionen Auslandsstudierende in den OEDD-Ländern (vgl. DAAD & DZHW, 2017). Die MigrantInnen selbst streben danach, durch transnationale Kompetenz ihre berufliche und soziale Position in einer globalisierten Welt zu verbessern. Bildungseinrichtungen sehen in den ZuwanderInnen einen Gewinn an Einnahmen und Reputation. Für Regierungen von Industrieländern stellen die gut ausgebildeten und in der Regel sprachlich kompetenten Menschen eine ideale Zuwanderergruppe dar, um Fachkräftemangel auszugleichen, eine alternde Gesellschaft zu verjüngen sowie um im internationalen Wettbewerb relevantes Wissen und Beziehungen zu erlangen (vgl. Bathelt et al., 2015; Mayer et al., 2012). Bildungsmigration sollte insbesondere aus folgenden vier Gründen im Geographieunterricht thematisiert werden: 1. Bildungsmigration ist in Bezug auf die Kernlehrpläne der Haupt-, Real-, Gesamtschulen und Gymnasien von Nordrhein-Westfalen ein Aspekt der Inhaltsfelder Globalisierung (Wandel wirtschaftsräumlicher Strukturen), Weltbevölkerung (globale Migration und deren Auswirkungen) sowie Tertiärisierung (wachsende Bedeutung von Dienstleistungen für Ökonomien) (vgl. MSW NRW, 2007, S. 30f.; MSW NRW, 2011, S. 16). Das Thema Bildungsmigration vermag diese drei Aspekte zu verbinden, da die Wanderungsform globale Verflechtungen intensiviert, Wanderungsströme lenkt und gleichzeitig einen wachsenden internationalen Markt für Hochschulen als Dienstleister darstellt. Über Strategien, eigene Lehrangebote im Ausland anzubieten, werden Universitäten zu einer Art transnationaler Dienstleistungsunternehmen (vgl. BMBF, 2017). Gegenüber den bekannten materiellen grenzübergreifenden Wertschöpfungsketten (z.B. globale Jeans, Turnschuhe, Kraftfahrzeuge, etc.) sind globalisierte Dienstleistungen im Erdkundeunterricht noch wenig präsent. Diese verdienen
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aber angesichts ihrer wachsenden Bedeutung Aufmerksamkeit und sind auch in der politischen Diskussion um die Liberalisierung des Handels mit Dienstleistungen z.B. über das General Agreement on Trade in Services (GATS) sehr präsent (vgl. Belke, Burger & Seidel, 2008). 2. Bildungsmigration weicht wie auch die Migration von Personen mit akademischem Abschluss (Hochqualifizierte) deutlich von den vorherrschenden Klischees über internationale Migration ab, in denen gering qualifizierte Menschen aus Entwicklungsländern in Industrieländer ziehen. Dort wollen sie, gemäß dem Vorurteil, ihre Existenz auf einem höheren Niveau als im Herkunftsland sichern, finden aber zumeist keine oder nur schlecht bezahlte Arbeitsplätze. Aber Bildungsmigration findet zwischen Ländern aller Art statt, also auch zwischen wohlhabenden Ländern. BildungsmigrantInnen haben in der Regel bereits eine Hochschulzugangsberechtigung erworben oder stehen kurz davor und können daher als gebildet gelten. Sie tragen ihre Ausbildung zum Teil in ihr Herkunftsland zurück und sorgen dort für „brain gain“. Zudem können sie mit ihrer Qualifikation aber auch die Ökonomie des Gastlandes während ihres Aufenthalts bereichern. Das Bild einer jungen, gut gebildeten polyglotten MigrantInnengruppe kann das Bild vom „Ausländer“ positiv modifizieren und damit negative Stereotype über Zuwanderer als bildungsferne Gruppen abbauen. Der Abbau von Vorurteilen kann wiederum die Chancen aller Personen mit Migrationshintergrund im Bildungssystem und auf dem Arbeitsmarkt durch den verminderten „Stereotype Threat“, die Übernahme negativer Vorurteile in das eigene Selbstbild, verbessern (vgl. Herrmann, 2012). 3. Bildungsmigration wird den Lernenden in der Sekundar- und vor allem in der Tertiärausbildung zunehmend nahegelegt. Gerhards et al. (2014) sprechen hier von transnationalem Humankapital. Dazu gehören Mehrsprachigkeit, die Kenntnis sozialer Regeln der Interaktion in anderen Ländern (interkulturelle Kompetenz) sowie von deren Rechtsnormen und Institutionen. Transnationales Humankapital ermöglicht es nicht nur außerhalb des Herkunftslandes in verschiedenen Feldern erfolgreich zu agieren, sondern auch im eigenen Land an transnational beeinflussten Gesellschaftsbereichen teilzuhaben. Angesichts der Globalisierung des Arbeitsmarktes – vom international mobilen Manager bis hin zu mehrsprachigen Kräften in der Kranken- und Altenpflege –werden diese Kompetenzen immer bedeutsamer. Wenn Bevölkerungsgruppen ohne dieses Kapital vom Zugang zu einer wachsenden Zahl gesellschaftlicher Chancen ausgeschlossen werden, drohen neue soziale Ungleichheiten (vgl. Gerhards et al., 2014, S. 10ff.). Schon ein SchülerInnenaustausch zu Sprachlernzwecken gehört im weiteren Sinne zur Bildungsmigration, da das Ausland aufgesucht wird, um dort gewisse Qualifikationen zu verbessern. Bei Studierenden wird der temporäre Besuch ausländischer Hochschulen inzwischen stark gefördert, damit sie dort ihre Fachkenntnisse erweitern und ihre interkulturelle Verständigung verbessern können. Insofern kann die Beschäftigung mit Bildungsmigration die SchülerInnen anregen, dem Thema positiv gegenüberzustehen und später selbst BildungsmigrantIn zu werden. Des Weiteren werden SchülerInnen für den Nutzen
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von Schüleraustauschprogrammen sensibilisiert und dazu angeregt, während des Auslandsaufenthalts Bildungszwecke (Sprache, Regeln, Umgangsformen) gegenüber Freizeitvergnügen im Kreis deutscher MitschülerInnen zu präferieren. 4. Deutschland stand 2016 weltweit an vierter Stelle beim „Export“ von Studierenden an ausländische Hochschulen (vgl. DAAD / DZHW, 2017). Gegenwärtige SchülerInnen als potenzielle Auslandsstudierende wünschen einen angenehmen Aufenthalt im Ausland und sollten dem entsprechend aus dem Wissen über das Phänomen heraus selbst auch zu einer Willkommenskultur gegenüber (Bildungs-)MigrantInnen in Deutschland bereit sein. Um SchülerInnen einen Zugang zu diesem Thema zu verschaffen, kann an ihren subjektiven Wahrnehmungen von Auslandsaufenthalten zu Bildungszwecken angesetzt werden. Dazu gehört die Frage, welche Relevanz die SchülerInnen einer Ausbildung im Ausland (im Gegensatz zu normalen Urlaubsreisen) und dem Aufbau von transnationalen Kompetenzen allgemein einräumen, z.B. für ihre spätere Berufswahl und Karrierechancen. Dieser Zugang lässt sich mit den imaginativen Geographien der Lernenden verbinden, indem Vorstellungen über Universitäten von hoher Reputation oder Länder mit einem qualitativ hochwertigen Bildungssystem thematisiert werden. Diesen Stereotypen (wahrscheinlich werden Namen wie Oxford, Cambridge, Harvard und allgemein die USA genannt) können dann die faktischen globalen Verflechtungen der Bildungsmigration gegenübergestellt und diskutiert werden. Die Diskussion der Voraussetzungen und Ansprüche für einen eigenen Auslandsaufenthalt zu Studienzwecken können vertiefend dazu dienen, einfache Push-Pull-Modelle zur Erklärung der Bildungswanderung zu problematisieren, denn das Wissen über eine international renommierte Hochschule führt nicht zwangsläufig zu einem Studium dortselbst (siehe Kap. 2.2). Für die wirtschaftliche Bedeutung der Bildungsmigration stellt Australien ein geeignetes Beispiel dar (siehe Kap. 3.2). Die Ökonomie der Bildungsmigration umfasst eine Reihe von Aspekten: Dazu gehören zum einen die Formen mit schulischem, hochschulischem und berufsbildendem Schwerpunkt, differenzierbar nach der Dauer. Von Bildungsmigration profitieren in finanzieller Hinsicht prinzipiell die Bildungseinrichtungen (v.a. Hochschulen), die Vermittler (v.a. bei SchülerInnenaustausch) und die Ökonomie an den Wohnstandorten der MigrantInnen (Wohnungsanbieter, Einzelhandel, Dienstleister). Im Folgenden wird der Fokus auf Studierende an Hochschulen, die einen großen Teil des kommerzialisierten Bildungsmarktes ausmachen, sowie globale Verflechtungen und die Zuwanderung von BildungsmigrantInnen nach Deutschland gelegt. Dabei werden zuerst die Hintergründe der Bildungsmigration (Definition, Motive, Gründe für die Wahl bestimmter Zielländer und Orte) behandelt. Anschließend geht es um die globalen Dimensionen der Bildungsmigration und ausgewählte Maßnahmen der Mobilitätsförderung. Am Beispiel von Deutschland werden innerstaatliche Verteilungsmuster ausländischer Studierender sowie die ökonomischen Effekte der Bildungsmigration beleuchtet.
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2. HINTERGRÜNDE DER BILDUNGSMIGRATION 2.1 Definition und Formen Bildungsmigration ist eine Form der Migration, welche die schulische, universitäre oder berufliche Aus- und Weiterbildung im Ausland zum Ziel hat. Sie ist zunächst nur auf die Dauer der Aus- und Weiterbildung befristet. Bildungsmigration umfasst SchülerInnenaustausch, Studium, Praktika, Freiwilligendienst sowie Aus- und Weiterbildung im Beruf (vgl. Weichbrodt, 2015, S. 217). Sie bezieht sich aber vorwiegend auf ein Studium an Hochschulen. Hier werden Studierende, die nur einzelne Studienleistungen erwerben wollen (credit mobility) unterschieden von solchen, die ein ganzes grundständiges Bachelor-, Master- oder Promotionsstudium absolvieren möchten (degree seeking oder diploma mobility). Nach ihrer Aus- bzw. Weiterbildungsphase haben die MigrantInnen verschiedene Optionen: Remigration in ihr Herkunftsland, Aufsuchen von Drittländern (transnationale Migrationsbiographien) oder Verlängerung des Aufenthalts im Gastland. Der Übergang zur Arbeitsmigration ist somit fließend. Faktisch bietet das Auslandsstudium eine zusätzliche fachliche Qualifikation, transnationale Kompetenz und die Möglichkeit soziale Netzwerke zu knüpfen, welche das spätere Mobilitätsverhalten beeinflussen können (vgl. Bathelt et al., 2015). Historisch betrachtet tritt internationale Bildungsmigration bereits in der Antike auf und war im Europa des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit für die Universitäten prägend, bis mit der Entstehung der Nationalstaaten zwischenstaatliche Wanderungen zu Bildungszwecken außerhalb kolonialer Verflechtungen abnahmen. Seit Ende des Zweiten Weltkriegs gewinnt internationale Bildungswanderung stetig an Volumen, nicht zuletzt im Kontext der wachsenden Zahl von Studierenden in vielen Ländern (vgl. Stichweh, 2000). Die zunehmende Bedeutung der Bildungsmigration ist vor zwei Hintergründen zu sehen: Zum Ersten einer erleichterten Mobilität durch gesunkene Transport- und Kommunikationskosten. Kurze Rückreisen ins Heimatland und das Aufrechterhalten sozialer Kontakte über Telefon und Internet (E-Mail, Skype, SMS) erleichtern den Auslandsaufenthalt emotional. Auch administrativ-organisatorische Hemmnisse sind durch verbesserte Information (Online-Portale), erleichtere Grenzübertritte und Visavergabe, staatliche Fördermittel (Stipendien) sowie erleichterten Geldtransfer (z.B. wegfallender Devisenumtausch innerhalb der Euro-Zone) abgebaut worden. Zum Zweiten sehen sich gerade AkademikerInnen einer wachsenden sozialen Erwünschtheit internationaler Erfahrung ausgesetzt (vgl. OECD, 2016, S. 329).
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2.2 Motive und Wahl der Zielländer Die Motive der BildungsmigrantInnen sind eine Mischung aus Karriere, Selbstverwirklichung, Freizeit und Reisen. Die Studie von Weichbrodt (2015) über AbsolventInnen von SchülerInnen-Austauschprogrammen hat gezeigt, dass ein Auslandsstudium Teil einer transnationalen Biographie sein kann, die bereits an der Schule begann. So hatten 79% der Befragten, deren Schüleraustausch mindestens 10 Jahre zurücklag, erneut das Ausland aufgesucht, vor allem für ein Studium oder für Praktika. In Großbritannien konnten Studien zudem nachweisen, dass das Auslandsstudium eine Strategie zur sozialen Distinktion seitens der Mittelschicht darstellt (vgl. Wells, 2014, S. 23). Die Wahl von Zielland und Studienort ist abhängig von sprachlichen Affinitäten, Qualität der Ausbildung, Kosten des Studiums (Gebühren, Aufenthalt), familiären oder professionellen Netzwerken (z.B. bestehende Kontakte aus früheren Aufenthalten via Schüleraustausch, Au pair), Arbeitsmarkt- und Karrierechancen sowie den aufenthaltsrechtlichen Bedingungen, einschließlich der Möglichkeit, während und nach der Studienzeit eine Arbeit aufzunehmen (vgl. OECD, 2016, S. 333ff.). Für die Wahrnehmung der Qualität des Studiums erfahren internationale Vergleichsrankings für Hochschulen eine wachsende Beachtung (vgl. Marconi, 2013). Bei den je nach Land stark differierenden Studiengebühren lässt sich pauschal nachweisen, dass deren Anstieg Auslandsstudierende abschreckt. So hatten Dänemark 2006 und Schweden 2011 nach deutlicher Erhöhung der Gebühren empfindliche Einbußen bei der ausländischen Studiennachfrage hinnehmen müssen. Wenn Studierende aber eine hohe, sich später beruflich auszahlende, Qualität der Ausbildung perzipieren, sind sie auch bereit, höhere Gebühren in Kauf zu nehmen (vgl. OECD, 2016, S. 334f.). Push-Pull-Modelle, welche die Entscheidung über Migration und deren Zielland als Resultat eines abwägenden Vergleichs der Studienangebote und -bedingungen im Heimatland mit denen anderer Länder betrachten, stoßen bei der Erklärung des Phänomens schnell an ihre Grenzen (vgl. Wells, 2014, S. 21f.). Die Auswahl einer Universität erfolgt faktisch weniger nach rationalen Kalkülen, sondern hängt von imaginativen Geographien als Wahrnehmungsmustern ab, die sich über längere Zeit vor allem durch Informationen aus Medien und sozialen Netzwerken speisen, wie Beech (2014) anhand ausländischer Studierender in Großbritannien nachgewiesen hat. Die hohe Bedeutung der Empfehlungen von Freunden mit eigener Auslandserfahrung weist darauf hin, dass der Zugang zu anderen (bildungs-)mobilen Personen für Entscheidungen zur Wanderung und deren Zielort (siehe Abb. 1) hohe Relevanz besitzt.
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3. GLOBALE VERFLECHTUNGEN DER BILDUNGSMIGRATION 3.1 Bedeutende Quell- und Zielländer Für die Bildungsmigration Studierender ist die Datenlage auf den ersten Blick hervorragend, da Statistiken der OECD und der EU vorliegen. Wells (2014) weist aber darauf hin, dass der Erfassung in den einzelnen Ländern teilweise unterschiedliche Definitionen zugrunde liegen. So zählen manche Länder Doktoranden und Postdocs zu den Studierenden, andere nicht. Auch was als Hochschule gilt, ist nicht eindeutig festgelegt. Über Bildungsmigration von SchülerInnen, PraktikantInnen oder zwecks beruflicher Ausbildung liegen keine international vergleichbaren Daten vor, ebenso wenig für grenzübergreifende virtuelle Fernstudien. In den OECD-Ländern, für die eine verlässliche Vergleichsstatistik existiert, hat sich die Zahl Studierender im Ausland zwischen 2004 und 2014 verdoppelt (2014 4,3 Mio. Auslandsstudierende). Zielländer sind vor allem die USA (19,6% aller internationalen Studierenden) vor Großbritannien (10,0%), Australien (6,2%) Frankreich (5,5%) und Deutschland (5,1%); an der Spitze der Herkunftsländer der Studierenden steht im internationalen Vergleich China mit großem Abstand vor Indien und Deutschland. Bei den Strömen der Bildungswanderer (siehe Abb. 1) lassen sich sprachliche Affinitäten und postkoloniale Beziehungen (z.B. Ähnlichkeiten im Bildungssystem) erkennen.
Abb. 1: Wichtige Ströme internationaler Studierendenmobilität in absoluten Zahlen 2014 (DAAD / DZHW, 2017)
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So finden Studierende aus Indien ihren Weg vorwiegend in ebenfalls englischsprachige Länder (USA, Großbritannien, Australien) (vgl. DAAD & DZHW, 2017). Angesichts einer zunehmenden Zahl von Menschen weltweit, die Englisch als Zweitsprache beherrschen einerseits und englischsprachiger Angebote an vielen Hochschulen anderseits, ist davon auszugehen, dass die vorwiegend sprachaffinen Wanderungen abnehmen werden (vgl. Wells, 2014, S. 243). Auch Frankreich wird bevorzugt von Studierenden aus Ländern gewählt, deren Amts- oder erste Fremdsprache Französisch ist, wie z.B. Marokko und Algerien. Studierende aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion wie Weißrussland oder Kasachstan, die zumeist die russische Sprache beherrschen, präferieren ein Studium in Russland. Sprachund Nachbarschaftseffekte liegen beispielsweise in Luxemburg vor, dessen Universität (mit 48% der höchste Anteil von Studierenden aus dem Ausland weltweit 2014) viele Studierende aus Belgien, Deutschland und Frankreich beherbergt. Ein anders Beispiel ist die große Zahl slowakischer Studierender an tschechischen Hochschulen (vgl. OECD, 2016). Die größeren Ströme von BildungsmigrantInnen aus Asien sind nicht auf Europa gerichtet, sondern vorwiegend auf die USA vor Australien und Japan. Deutschland hingegen wird aufgrund seiner Wirtschaftsleistung, des guten Images seines Bildungssystems und geringer Studiengebühren für ein Studium gewählt (vgl. Sykes & Ni Chaoimh, 2011, S. 6). Unterschiede zu den allgemeinen Zahlen ergeben sich, wenn nach Studienabschluss differenziert wird: 3% der Auslandsstudierenden in OECD-Ländern 2014 nahmen an einem Kurzzeitprogramm teil (z.B. Summer School), 5% an einem Bachelor-, 12% an einem Master- und 27% an einem Doktorandenstudium. Der stärkere Trend zum Auslandsaufenthalt bei Master- und Promotionsstudien ist zu erklären durch weniger Studienplätze und stärkere Spezialisierung in höherwertigen Studiengängen an einer geringeren Zahl von Universitäten, die größere Bedeutung von prestigeträchtigen Einrichtungen für höherwertige Abschlüsse, die höhere Mobilitätsbereitschaft von Studierenden, die eine Karriere in Wissenschaft und Wirtschaft anstreben und stärkeres Interesse der Hochschulen an Studierenden, die in Forschungsprojekte integriert werden können (vgl. OECD, 2016, S. 329ff.).
3.2 Maßnahmen zur Förderung studentischer Mobilität Dass ca. 70% der ausländischen Studierenden in Deutschland aus Mitgliedsländern der Europäischen Union stammen, ist nicht zuletzt ein Effekt von Maßnahmen zur Förderung der Bildungsmobilität in Europa. Gemäß dem Bukarester Bildungskommuniqué der zuständigen europäischen MinisterInnen sollen bis 2020 mindestens 20% aller Graduierten Auslandserfahrung im Umfang von mindestens drei Monaten oder mit Erwerb von 15 Leistungspunkten im europäischen ECTS-System vorweisen können. Eine bedeutende Rolle für die Förderung der internationalen Mobilität von Studierenden spielen auf europäischer Ebene das 1987 gestartete Erasmus-Programm sowie für Deutschland zudem Stipendien des Deutschen Akademischen Austausch-
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dienstes DAAD. Das Erasmus-Programm fördert mit festen monatlichen Geldzuwendungen ein temporäres Auslandsstudium für ein bis zwei Semester innerhalb der Europäischen Union. Für Studierende sind nur Hochschulen wählbar, mit denen die Heimathochschule Partnerschaftsverträge abgeschlossen hat. Die Studierenden werden an den Hochschulen lokal betreut. Die Anerkennung von Studienleistungen wird vereinfacht. Das Programm zielt auf eine wachsende „Europakompetenz“ der Studierenden. Dazu zählen das Beherrschen von Fremdsprachen, Verständnis für andere europäische Kulturen, Bereitschaft zur innereuropäischen Mobilität, Identifikation mit Europa und eine hohe fachliche Qualifikation (vgl. Teichler et al., 1999). Der 1925 gegründete DAAD fördert, vor allem über Stipendien, die Internationalisierung deutscher Hochschulen über Mobilitätshilfen für Studierende und Wissenschaftler in alle Länder der Welt. Ziele sind Verständigung und Frieden durch Austausch, global vernetzte und verantwortungsbewusste Führungskräfte sowie eine verbesserte Wettbewerbsfähigkeit der Hochschulen. 2015 wurden 59.310 Studierende, 13.350 Doktoranden und 29.551 Postdocs gefördert (vgl. DAAD & DZHW, 2017). Neben zwischenstaatlichen Programmen und nationalen Organisationen kümmern sich auch die Hochschulen selbst zunehmend um die Akquise von Studierenden aus dem Ausland. Dies geschieht vor allem über Kooperationen mit ausländischen Hochschulen sowie Unternehmen. Die Pflege der Kontakte zu ehemaligen Studierenden (Alumni) soll dazu beitragen, dass diese Ehemaligen ihren Freunden und Angehörigen wiederum ein Studium an „ihrer“ Hochschule empfehlen. Etabliert im angelsächsischen Raum und inzwischen auch in Deutschland zunehmend praktiziert werden eigene Lehrangebote im Ausland. So hat die New York University komplette Dependencen in Shanghai und Abu Dhabi. In Deutschland betreiben beispielsweise einige Universitäten gemeinsam die German University of Cairo oder die German University of Technology im Oman. „Exportiert“ werden auch einzelne Studiengänge, wie Environmental Engineering and Information Technology in China durch die Fachhochschule Lübeck. Diese Auslandsaktivitäten verbessern die internationale Reputation und helfen Studierende für temporäre Studien- und Forschungsaufenthalte nach Deutschland zu bringen (vgl. BMBF, 2017). Reputation besitzt letztlich ökonomische Relevanz, wenn es den Hochschulen über hohe Studierendenzahlen gelingt, Budget und Personal zu sichern bzw. über die Einwerbung von Drittmittelprojekten (Forschungsaufträge) sogar auszubauen. Insbesondere bei technisch ausgerichteten Hochschulen können aus Forschungsprojekten auch finanziell verwertbare Patente entstehen. Als führend in der kommerzialisierten Bildungsmigration durch Hochschulen kann Australien gelten. Hier stellen Bildungswanderer inzwischen mit 20% aller Studierenden die drittgrößte Einnahmequelle für ausländische Devisen dar. Da der Staat sich aus der Verantwortung für die Hochschulen zurückzieht, finanzieren sich australische Universitäten zu einem großen Anteil über Studiengebühren, wobei ausländische Studierende deutlich höhere Beträge zu entrichten haben. So betrugen deren Studiengebühren je nach Universität 2016 zwischen umgerechnet 9.600 und 37.000 Euro pro Studiensemester. Trotz der hohen Kosten sind australische Universitäten besonders bei Studierenden
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aus Asien (China vor Malaysia und Indien) beliebt, da sie in internationalen Hochschulrankings gut abschneiden und die Ausstellung von Visa für Studierende im Vergleich zu Großbritannien und auch den USA liberaler gehandhabt wird (vgl. DAAD, 2016).
4. BEDEUTUNG DER BILDUNGSMIGRATION IN DEUTSCHLAND 4.1 Umfang und räumliche Muster verschiedener Formen der Bildungsmigration An Bildungsmigration in Form von Austauschprogrammen für SchülerInnen zwischen 15 und 19 Jahren von mindestens einem Schuljahr Dauer nehmen in Deutschland etwa 20.000 SchülerInnen pro Jahr teil. Die freiwilligen Aufenthalte werden weitgehend durch kommerzielle Unternehmen vermittelt und aufgrund der hohen Kosten vorwiegend von Kindern aus wohlhabenden Familien genutzt (vgl. Weichbrodt, 2015). Über ausländische Austauschschüler in Deutschland gibt es keine verlässliche Statistik. Für Bildungsmigration im Rahmen des Studiums entschieden sich 2012 18% der deutschen Studierenden im Erststudium, 13% für ein Praktikum im Ausland. Die Zahl der Absolventen eines Studiums im Ausland hat sich seit 1990 spürbar erhöht, Praktika und Sprachkurse sind leicht zurückgegangen. Über alle Aufenthaltsarten hinweg war 2012 bei deutschen Studierenden Großbritannien am beliebtesten (12%) vor den USA (11%) sowie Spanien und Frankreich (je 10%), bei wachsender Präferenz für englischsprachige Länder und Ziele in Westeuropa. Am häufigsten suchen Studierende der Sprach- und Kulturwissenschaften das Ausland auf, am seltensten die der Ingenieurwissenschaften (vgl. Middendorf et al., 2013). Die gemeinsame Wissenschaftskonferenz von 2013 hat die europäischen Ziele für Bildungsmobilität erhöht. Demnach sollen bis 2020 33% aller Absolventen deutscher Hochschulen Auslandserfahrung aufweisen. Im Jahr 2016 (bezogen auf die Studierenden des Wintersemesters 2015/16) hatten 12,3% der 2,4 Millionen Studierenden an deutschen Hochschulen einen ausländischen Pass. Bei ca. zwei Dritteln davon handelte es sich um so genannte Bildungsausländer, das sind Studierende, die ihre Hochschulzugangsberechtigung im Ausland erworben haben und somit dort in der Regel auch ihre Primar- und Sekundarschulausbildung absolviert haben und erst zum Studium nach Deutschland gekommen sind (vgl. Bathelt et al., 2015). Für Bildungsmigration in beruflichem Kontext gibt es keine übergreifende Statistik, da ein großer Teil innerhalb von Unternehmen abgewickelt wird, wenn beispielsweise MitarbeiterInnen zu Fortbildungszwecken in ausländische Zweigstellen entsandt werden. Vorhandene Zahlen wie die über ausländisches Wissenschaftspersonal an deutschen Hochschulen und außeruniversitären Forschungseinrichtungen (vgl. DAAD & DZHW, 2017) sagen nichts darüber aus, ob es sich um eine temporäre Weiterbildung oder eine unbefristete Anstellung handelt. Im Zusammenhang mit dem Programm Erasmus+ wurde 2015 die berufliche Weiterbildung im Ausland bei 22.511 Personen gefördert (vgl. BIBB, 2016).
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4.2 Muster der räumlichen Verteilung ausländischer Studierender In einem Vergleich nach Bundesländern ließen sich 2016 ausländische Studierende vor allem in Nordrhein-Westfalen (57.379), Baden-Württemberg (35.883) Bayern (35.883) und Berlin (25.786) auffinden. Die unterschiedliche Verteilung auf die Hochschulstandorte wird vor allem durch Hochschulprofile, Studiengänge sowie spezifische Wanderungstraditionen und Kooperationen (Netzwerke) bestimmt. So beträgt der Anteil ausländischer Studierender in Niedersachsen an der TU Clausthal 28,1%, an der Universität Vechta 3,1%. Denn während die TH Clausthal vorwiegend bei Auslandsstudierendem in Deutschland beliebte naturwissenschaftlichtechnische Studiengänge wie Material-, Rohstoffwissenschaften und Maschinenbau anbietet, hat Vechta traditionelle Fächer des Lehramts sowie soziale Dienstleistungen im Angebot (vgl. TU Clausthal, 2017; Universität Vechta, 2017). Bei den Fächergruppen stehen bei ausländischen Studierenden Ingenieurwissenschaften inklusive Informatik an erster Stelle, diese wurden 2016 von 36,2% der Bildungsausländer an deutschen Hochschulen belegt, gefolgt von Rechts-, Sozial- und Wirtschaftswissenschaften (26,4%) sowie Geisteswissenschaften (12,8%) (vgl. DAAD/ DZHW, 2017). Bei letzterer Gruppe ist davon auszugehen, dass Studierende der deutschen Sprache (Germanistik) einen bedeutenden Anteil ausmachen. Dominierende Herkunftsländer ausländischer Studierender in Deutschland waren 2016 China (12,8%) vor Indien (5,4%), Russland (4,5%) und Österreich (4,0%) (vgl. DAAD / DZHW, 2017). Angrenzende Nachbarländer mit einer geringeren Zahl von Hochschulen wie Österreich, Luxemburg oder auch die Niederlande führen zu einem spürbaren Anteil entsprechender Studierender in grenznahen Universitäten (z.B. Niederländer in Aachen, Luxemburger in Trier). Regionalökonomisch gesehen profitieren die ohnehin größeren Universitäten (z.B. München, Heidelberg, Hamburg) auch stärker vom Zustrom Studierender aus dem Ausland. In wenigen Fällen gelingt es eher kleineren, peripher gelegenen Hochschulen, das Aufkommen an StudentInnen durch Auslandsstudierende deutlich zu erhöhen und damit auch die Ökonomie des Hochschulstandortes zu beleben. Die ist zum einen bedingt in der Lage zu Nachbarländern der (z.B. größerer Anteil von Studierenden aus Luxemburg in Trier, aus Polen in Frankfurt/Oder) oder in spezialisierten Studiengängen mit hoher internationaler Reputation (z.B. Chinesen in Clausthal-Zellerfeld) (vgl. Grötzinger, 2009, S. 95ff.). Ausländische Studierende aus EU-Ländern sind den deutschen rechtlich gleichgestellt. Für die anderen beträgt die Gesamtaufenthaltsdauer nach §16 (1) Aufenthaltsgesetz inklusive Master- und Promotionsstudium maximal 10 Jahre. Von ihnen wird zudem verlangt, Krankenversicherung und ausreichende Mittel zur Sicherung des Lebensunterhaltes nachzuweisen. Die Frist zur Arbeitssuche nach Abschluss des Studiums beträgt 18 Monate. Um in Deutschland bleiben zu können, muss die angenommene Arbeit dem Hochschulabschluss angemessen sein (vgl. Bathelt et al., 2015; Mayer et al., 2012, S. 23ff).
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4.3 Effekte studentischer Bildungsmigration Bildungsmigration wird in der Literatur vorwiegend als bereichernd für MigrantInnen und Gastland und als brain drain für das Herkunftsland beurteilt. Dieser Einschätzung kann aber auch widersprochen werden: So ist nicht geklärt, wie lange ein Studierender im Gastland verbleiben muss, um als brain drain zu gelten. Nicht jede Person, die mit einem Studierendenvisum einreist, hat tatsächlich die Absicht zu studieren. Manche nutzen das einfacher erreichbare Visum für Studierende, um in der genehmigten Aufenthaltszeit einer Arbeit nachzugehen. Es kann aber auch bei echten Studierenden nicht pauschal davon ausgegangen werden, dass ein Studium im Ausland einen Mehrwert gegenüber dem Heimatland besitzt (vgl. Wells, 2014, S. 22). So hat Budke (2003) bei Befragungen ausländischer Erasmus-Studierender an sechs deutschen Hochschulen herausgefunden, dass 54% der ProbandInnen ihr Studium in Deutschland weniger intensiv betrieben als im Heimatland und somit qualifikationsbezogene Ziele des Erasmus-Programms nicht erreichten. 64% hatten selten Kontakt zu deutschen Mitstudierenden und so gut wie keinen zur sonstigen deutschen Bevölkerung. Ihre Kontexte beschränkten sich auf Landsleute oder andere ausländische Studierende, die sie meist in Sprachkursen zu Beginn ihres Auslandsaufenthalts kennenlernten. Vorstellungen über das Gastland waren mehrheitlich von geläufigen Stereotypen geprägt, die den verschlossenen, spröden Deutschen die offene, spontane und kontaktfreudige Mentalität der Menschen im eigenen Herkunftsland gegenüber stellten. Somit wurden bei vielen Gaststudierenden auch die Ziele des Kulturkontaktes und des Abbaus nationaler Vorurteile nicht erreicht. Die Untersuchung zeigt, dass Auslandsstudien kein Selbstläufer zum Erwerb von transnationalem Humankapital sind. Um die Chancen zum Aufbau transnationaler Kompetenz zu verbessern, sollte laut Budke (2003) auf freie Auswahl des Ziellandes, Fremdsprachenkurse schon an der Heimathochschule und eine gemischte Betreuung sowie Unterbringung mit einheimischen Studierenden der Gasthochschule von Anfang an geachtet werden. Ausländische Studierende müssen in Deutschland keine besonderen Gebühren entrichten, sie studieren zu denselben Bedingungen wie inländische KandidatInnen. Als erstes Bundesland hat Baden-Württemberg 2017 Studiengebühren für NichtEU-AusländerInnen von 1.500 Euro pro Semester eingeführt, um deren Betreuung verbessern zu können (vgl. Burchard, 2017). Insofern sind sie für die Hochschulen eher aus Gründen der Reputation, der Rekrutierung exzellenter Studierender für Forschungsprojekte und für den Aufbau internationaler Netzwerke von Interesse. Gesellschaftlich begründet wird das kostenfreie Studium mit den Gedanken der Reziprozität, Anwerbung künftiger Fachkräfte und Herstellung von wirtschaftlich nutzbaren Auslandskontakten (vgl. Grötzinger, 2009, S. 91ff.). Eine wirtschaftliche Bedeutung für den Hochschulstandort ist hingegen zwangsläufig durch Ausgaben für Unterkunft, Versorgung und Freizeit gegeben. Über die durchschnittlichen Ausgaben eines Studierenden für verschiedene Zwecke gibt der Sozialbericht des Studierendenwerks Auskunft (vgl. Middendorf et al., 2013). Angesichts des durch den demographischen Wandel langfristig zu erwartenden Rückgangs deutscher Studierender dienen ausländische BildungsmigrantIinnen der Sicherung der Hochschulen
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und der auf die Versorgung Studierender ausgerichtete Ökonomie am Hochschulstandort. Die Bundesregierung ist am Verbleib ausländischer HochschulabsolventInnen interessiert und hat dazu u.a. die Frist zur Arbeitssuche nach dem Studienabschluss noch einmal verlängert. Von den Drittstaatenangehörigen, die zwischen 2005 und 2013 einen Aufenthaltstitel zwecks Studium besessen hatten, waren 2013 56% mit einem anderen Aufenthaltstitel in Deutschland ansässig. Von denjenigen, die ihren Studienabschluss in Deutschland gemacht hatten, zum großen Teil in den Bereichen Technik, Naturwissenschaft/Informatik und Betriebswirtschaftslehre, blieben 79% längerfristig in Deutschland. Von diesen repräsentativ Befragten waren 85% erwerbstätig, wobei die meisten nicht länger als ein Jahr nach Arbeit suchten. Von den Befragten waren 81% mit ihrem Leben in Deutschland zufrieden, aber lediglich ein Drittel hat vor, für immer im Land zu bleiben, 62% planen einen Aufenthalt von 5 bis 10 Jahren. Längere Bleibefristen beabsichtigen dabei Personen aus Europa, den GUS-Staaten und Japan (vgl. Hanganu & Heß, 2014). Somit kann von einem moderaten brain gain für Deutschland ausgegangen werden. Dabei sind die Hochschulen selbst wichtige Moderatoren für den Berufseinstieg im Studienland, da sie soziale und berufliche Kontakte vermitteln können (vgl. Bathelt et al., 2015).
5. FAZIT Bildungsmigration weist ein breites Spektrum von Formen zwischen schulischer, universitärer und beruflicher Bildung auf. Sie kann als Schüleraustausch schon für 15-Jährige und als berufliche Weiterbildung innerhalb eines transnationalen Konzerns noch für ältere Erwachsene relevant sein und ihre Dauer kann sich von der einwöchigen Summer School bis zu einem kompletten mehrjährigen Studium erstrecken. Während die internationale Mobilität von Studierenden statistisch hinreichend dokumentiert ist, gibt es keine verlässlichen Zahlen über SchülerInnen, PraktikantInnen, Auszubildende und bereits Berufstätige. Im Kontext der Globalisierung der Arbeitsmärkte wird eine Auslandserfahrung und das Beherrschen von Fremdsprachen immer bedeutsamer, junge Menschen stehen immer häufiger vor der Aufforderung, transnationales Kapital über temporäre Auslandsaufenthalte zu erwerben. Die im Titel vertretene These von Bildungsmigration als weltweitem Geschäft kann als bestätigt angesehen werden. Für alle Beteiligten stehen tendenziell ökonomische Interessen im Vordergrund. Dies ist für die Bildungseinrichtungen, Vermittlungsorganisationen und die Versorgungsökonomie am Wohnstandort leicht nachvollziehbar, aber auch Studierende selbst betreiben ihr Auslandsstudium weniger aus ideellen Gründen, sondern um ihre Karrierechancen, das heißt ihre künftige Position in der Macht- und Einkommenshierarchie des Arbeitsmarktes zu verbessern. Aufgrund der wachsenden Bedeutung sollte dieser Aspekt der Globalisierung von Dienstleistungen auch im Unterricht stärker thematisiert werden. Neben den Fremdsprachen, die häufig einen Schüleraustausch anregen und organisieren, kann das Thema im Politik- und Geographieunterricht grundsätzlicher behandelt werden,
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da hier nicht nur persönliche Vorteile und Hindernisse, sondern auch gesellschaftliche Effekte wie räumliche Disparitäten und (neue) soziale Ungleichheiten diskutiert werden können. Der Gegenstand bietet zudem den Vorteil, die lehrplankonformen Themen (internationale) Migration, Globalisierung der Wirtschaft (Hochschulen als neue Global Player) und Tertiärisierung der Wirtschaft sinnvoll verbinden und somit zeitsparend behandeln zu können.
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INTEGRATION DURCH PEERS – EINE NETZWERKANALYTISCHE STUDIE ZUR EINBETTUNG MIGRANTISCHER KINDER UND JUGENDLICHER IN SCHULKLASSEN Philipp Aufenvenne / Miriam Kuckuck / Nina Leimbrink / Max Pochadt / Malte Steinbrink
1. EINLEITUNG: DIE INTEGRATIVE DOPPELFUNKTION DER SCHULE Im Schuljahr 2016/17 ist die Zahl der SchülerInnen erstmals seit fast 20 Jahren bundesweit wieder gestiegen. Entgegen aller vorherigen Prognosen wird aktuell davon ausgegangen, dass die SchülerInnenzahlen auch künftig weiter steigen werden (vgl. Klemm & Zorn, 2017). Neben geburtenstarken Jahrgängen ist insbesondere die große Zahl neu zugewanderter Kinder und Jugendlicher der Grund für diesen Anstieg (vgl. DESTATIS, 2017). Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen findet aktuell eine lebhafte Debatte über schulische Integration statt. Kaum ein Thema erfährt derzeit in den bildungspolitischen Diskussionen eine ähnlich große Aufmerksamkeit. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage, wie die Integration der neu zugewanderten SchülerInnen an Schulen gelingen kann. Die Debatten knüpfen dabei häufig an die Ergebnisse internationaler Lernstandserhebungen an. So haben Studien wie PISA und TIMSS gezeigt, dass eine hohe Zahl von Jugendlichen nicht die erwarteten Kompetenzen ihres Jahrganges erreichen (vgl. u.a Ceri, 2008; Deutsches PISA Konsortium, 2001; OECD, 2007). Bereits 2010 beklagten Quenzel und Hurrelmann (S.11), dass fast 8% eines Jahrgangs die Schule ohne Abschluss verlassen und fast jedeR Zehnte beim PISA-Lesetest nicht einmal die unterste Kompetenzstufe erreichte. Junge Männer aus bildungsfernen Elternhäusern stellten dabei die Gruppe dar, die am stärksten von Bildungsarmut betroffen ist. Diese Tendenz tritt noch deutlicher zutage, wenn ein Migrationshintergrund besteht: „Ausländische Jugendliche verlassen die Schule doppelt so häufig ohne Abschluss wie deutsche Jugendliche“ (Quenzel & Hurrelmann, 2010, S. 14). Bildungspolitisch wird dem gesellschaftlichen „Integrationsproblem“ gern mit der Formel „Integration durch Bildung” (vgl. BMBF, 2015) begegnet. Propagiert wird ein Paket bestehend aus Fördermaßnahmen und Operationalisierungsinstrumenten wie Bildungsstandards, Kerncurricula und Co., mit dessen Hilfe angestrebt wird, die Schulleistungen (migrantischer) SchülerInnen zu verbessern (vgl. Trappmann, 2003). Ziel ist es, die gesellschaftliche Integration primär im Sinne einer ökonomischen Teilhabe, d.h. über verbesserte Zugangschancen zum Arbeitsmarkt,
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zu erleichtern. Dabei wird der Schwerpunkt eindeutig auf die formale Bildung gelegt und damit die Tatsache vernachlässigt, dass Bildungsprozesse keineswegs nur im Schulunterricht initiiert werden, sondern auch in Familie und Peergroups (vgl. Harring, 2010, S. 21ff.). Man spricht hier von informeller Bildung bzw. Sozialisation, bei der insbesondere auch die Interaktionen mit den Peers eine herausragende Bedeutung „für nahezu alle Aspekte [der] Persönlichkeitsentwicklung“ von Kindern und Jugendlichen haben (vgl. Trappmann, 2003, S. 16). Unter Peers verstehen wir in diesem Beitrag Kinder und Jugendliche etwa gleichen Alters, die in (freundschaftlichen) Beziehungen zueinander stehen und sich in ihrem Verhalten aneinander orientieren und so als zentrale Sozialisations- und Bildungsinstanzen fungieren (vgl. Harring et al., 2010). Im Rahmen der (informellen und weniger hierarchischen) Peer-to-Peer-Interaktion können Kinder und Jugendliche außerhalb der Familie und der klassischen, hoch formalisierten Unterrichtssituation, Verhaltensweisen und Kommunikationsformen ausprobieren und wichtige soziale Kompetenzen erwerben (vgl. Betz, 2004, S. 19; Krappmann, 2010, S. 189). In diesem Zusammenhang betonen Böhm-Kasper et al. (2010, S. 14), dass migrantische Kinder und Jugendliche durch Kontakte und Interaktionen mit Peers ohne Migrationshintergrund häufig bessere Chancen haben, eine höhere sprachliche Kompetenz zu erwerben als in ihrem familiären Umfeld; Sprachkompetenz wiederum bildet sowohl für den schulischen Erfolg als auch für die gesellschaftliche Integration eine wesentliche Voraussetzung (vgl. Böhm-Kasper et al., 2010, S. 14). Die AutorInnen konstatieren: „Soziale Beziehungen stellen für jeden Menschen zentrale Bezugssysteme dar, die sowohl im Hinblick auf Integration in die (Teil-)Gesellschaft als auch vor dem Hintergrund von Anerkennung, Wohlbefinden und reflexiver Selbstvergewisserung eine wichtige Rolle einnehmen“ (Böhm-Kasper et al., 2010, S. 9).
Zentraler Ort der Anbahnung und Ausübung sozialer Kontakte ist die Schule (vgl. Preuss-Lausitz, 1992, S. 9; Trappmann, 2003, S. 57ff.). Da Kinder und Jugendliche dort regelmäßig aufeinandertreffen und viel Zeit miteinander verbringen, sind optimale Bedingungen geschaffen, damit sich soziale Beziehungen zu ihren MitschülerInnen entwickeln können (vgl. Zeiher & Zeiher, 1994). Klassenkameraden werden dabei oftmals zu Freunden, mit denen nicht nur innerhalb der Schule interagiert wird, sondern mit denen auch Verabredungen für Freizeitaktivitäten außerhalb des Schulzusammenhangs getroffen werden (vgl. Büchner, 1994; Krappmann & Oswald, 1983). Die Schule wird so zum räumlichen Knotenpunkt bzw. „Kern des kindlichen Beziehungsnetzes“ (Büchner, 1994, S. 17) und damit zugleich zu einem Bindeglied zwischen formaler und informeller Bildung (vgl. Harring, 2010, S. 56). Für Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund kann die Schule somit zwei integrative Funktionen erfüllen: Zum einen die Integration durch formale Bildung und zum anderen die Integration durch informelle Bildung im Beziehungsnetzwerk der MitschülerInnen. Hier bildet die Schule die soziale und räumliche Arena tagtäglicher informeller Kontakte und Interaktionen. Diese zweite, informelle Integrationsfunktion der Schule bildet dabei den Ausgangspunkt des Forschungsprojekts, auf dem dieser Beitrag beruht.
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In Anlehnung an Esser (2006, S. 7) verstehen wir unter sozialer Integration „die Inklusion (bzw. Exklusion) von Akteuren in ein bestehendes soziales System“. Das soziale System unserer Untersuchung ist dabei die Schulklasse, da diese sowohl den Kontext darstellt, in dem formale Bildungsprozesse ablaufen, als auch den zentralen Ort und Anlass für die Entstehung, Aufrechterhaltung und Verfestigung wichtiger sozialer Beziehungen der SchülerInnen (vgl. Parsons, 1968, S. 161). Da sich die soziale Integration „auf Unterschiede zwischen den individuellen Akteuren im Ausmaß der Beziehungen, die sie unterhalten, und im Grad der dadurch jeweils unterschiedlich hohen sozialen Einbettung der individuellen Akteure“ (Esser, 2001, S. 5) bezieht, stellt die soziale Einbettung migrantischer SchülerInnen in informelle Kommunikations-, Interaktions- und Kontaktnetzwerke in Schulklassen einen geeigneten Indikator für (alltägliche) gesellschaftliche Integration dar. Entsprechend werden in unserem Projekt sowohl die Strukturen der sozialen Beziehungen in Klassenverbänden als auch die Positionen der migrantischen SchülerInnen innerhalb dieser Netzwerke schul- und jahrgangsübergreifend vergleichend analysiert. Dieser Beitrag stellt damit eine gangbare sowie innovative methodische Herangehensweise an ein schul-, bildungs- und gesellschaftspolitisch hoch relevantes Thema vor. Die zentrale Fragestellung der Untersuchung lautet dabei: In welchem Maße sind migrantische SchülerInnen der Jahrgänge 5–10 in die Strukturen der informellen Klassenverbände integriert? Unterscheidet sich ihre soziale Einbettung von jener der SchülerInnen aus der „Mehrheitsgesellschaft“? Spielt der sogenannte Migrationshintergrund für die Strukturierung der Klassennetzwerke überhaupt eine Rolle? Dieser Beitrag ist die erste Publikation im Rahmen dieses noch jungen Forschungsprojekts. Daher möchten wir hier zunächst das zugrundeliegende Forschungsdesign beschreiben und die Datenerhebung erläutern. Daran anschließend werden allererste Ergebnisse im Hinblick auf die zentrale Forschungsfrage vorgestellt. Weiterführende und vertiefende Analysen folgen im weiteren Projektverlauf.
2. METHODISCHES VORGEHEN UND BESCHREIBUNG DER DATENGRUNDLAGE Um die Frage nach der Integration migrantischer SchülerInnen in die informellen Kommunikations- und Kontaktstrukturen ihrer Schulklassen zu untersuchen, bietet sich eine netzwerkanalytische Herangehensweise an. Die Soziale Netzwerkanalyse (SNA) analysiert gemeinhin sogenannte Gesamtnetzwerke. Auf allgemeiner Ebene werden diese definiert als eine zuvor abgegrenzte Menge von sozialen Akteuren (Knoten) und spezifischen Beziehungen (Kanten/Relationen), die zwischen ihnen bestehen (vgl. Steinbrink et al., 2015, S. 439). Diese Definition lässt sich gut auf Schulklassen anwenden: Schulklassen sind eindeutig abgrenzbar: Wer zum Klassenverband gehört und wer nicht, ist klar definiert. Zudem bestehen zwischen den schulischen Peers zahlreiche soziale Beziehungen, die sich netzwerkanalytisch erfassen lassen (vgl. Bicer et al., 2014). Die SNA bietet daher eine gute methodische
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Option, das Integrationsverständnis nach Esser (2006) zu konkretisieren und empirisch zu operationalisieren. Die Entwicklung des netzwerkanalytischen Forschungsdesigns und die anschließende Datenerhebung fand im Rahmen einer durch die EKBI-Initiative (Expertise und Kooperation für eine Basisqualifikation Inklusion)1 unterstützten Lehrforschungsprojekts am Institut für Geographie der Universität Osnabrück statt. Gemeinsam mit neun Studierenden wurde im Zeitraum von Oktober 2016 bis Januar 2017 ein Fragebogen entwickelt und getestet. Die Datenerhebung erfolgte in Kooperation mit vier Osnabrücker Schulen (zwei Gymnasien, einer Integrierten Gesamtschule, einer Realschule) während der Unterrichtszeit. Insgesamt wurden Daten von 39 Regelklassen der Jahrgänge 5 bis 10 erhoben. Nach einer Bereinigung der Stichprobe standen die Daten von insgesamt 940 SchülerInnen für die Analyse zur Verfügung. Die SchülerInnen wurden nach ihren sozialen Beziehungen innerhalb des jeweiligen Klassenverbands befragt. Über die Fragen wurden sowohl schulische als auch außerschulische Kontakte unterschiedlicher Art erfasst (Pausenkontakte, Partyeinladungen, Besuche zu Hause, gemeinsames Klassenfahrtszimmer, Social-Media-Kontakte, Freizeitkontakte, Problembesprechung und Gruppenarbeiten). Für die ersten Analysen haben wir diese Relationen als gleichwertig behandelt und zunächst rein quantitativ ausgewertet. Die SchülerInnen hatten die Möglichkeit, jeweils beliebig viele MitschülerInnen aus der eigenen Klasse für jede der Beziehungen zu nennen. Die Relationen wurden über geschlossene Fragen erhoben. Gefragt wurde bspw.: „Wen aus deiner Klasse würdest du zu deiner Party einladen?“. Die befragten SchülerInnen konnten dann die jeweiligen MitschülerInnen ankreuzen bzw. aus einer Liste auswählen. Die erhobenen Daten wurden im Anschluss anonymisiert. Neben diesen relationalen Daten wurden außerdem persönliche Attribute der befragten SchülerInnen erhoben (Geburtsland, Geburtsland der Eltern, Alter, Geschlecht, Muttersprachen, Aufenthalt in Deutschland seit u.a.m.). Zusätzlich erhielten die jeweiligen KlassenlehrerInnen einen Fragebogen, der weitere Attribute (z.B. Leistungsstand der SchülerInnen) umfasste. In diesem Beitrag liegt der Fokus ausschließlich auf dem Aspekt „Migrationshintergrund“. Andere (integrationsrelevante)Variablen wie „Aufenthaltsdauer“, „Sprachkenntnisse“ oder „Leistungsstand“ sollen in späteren Analyseschritten Berücksichtigung finden. Die Diskussion um die gesellschaftspolitische Sinnhaftigkeit und diskursive Wirkmacht des Labels „Migrationshintergrund“ klammern wir in diesem Beitrag zugunsten einer einfachen Anschlussfähigkeit an den politischen Integrationsdiskurs aus. Wir definieren Migrationshintergrund daher in Anlehnung an das Statistische Bundesamt. Hiernach hat eine Person „[…] einen Migrationshintergrund, wenn sie selbst oder mindestens ein Elternteil nicht mit deutscher Staatsangehörigkeit geboren ist." (DESTATIS, 2011, S. 26). Darüber hinaus differenzieren wir zwischen Migrationshintergrund zweiter und erster Generation: Kinder und Jugendli-
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Weitere Informationen zum EKBI-Projekt finden sich auf der Projektwebsite unter der URL: https://www.uni-osnosnarueck.de/universitaet/organisation/zentrale_einrichtungen/zentrum_f uer_lehrerbildung_zlb/arbeitsstelle_heterogenitaet _und_inklusion/projekt_ekbi.html.
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che der zweiten Generation sind selbst in Deutschland geboren, mindestens ein Elternteil jedoch außerhalb Deutschlands. Dagegen sind jene der ersten Generation nicht in Deutschland geboren. In der von uns erhobenen Stichprobe hatten 55% der SchülerInnen keinen Migrationshintergrund, 32% sind migrantische Kinder und Jugendliche der zweiten Generation und 13% haben einen Migrationshintergrund der ersten Generation (siehe Tab. 1). Damit entspricht die Zusammensetzung unseres Samples sehr genau jener der Osnabrücker Schülerschaft insgesamt: Dort haben 54% keinen Migrationshintergrund, 33% haben einen Migrationshintergrund der zweiten Generation und 13% einen Migrationshintergrund der ersten Generation (vgl. Stadt Osnabrück, 2017). Die erhobenen Netzwerkdaten wurden mit Hilfe der Netzwerkanalyseprogramme UCINet (vgl. Borgatti et al., 2009) und Gephi (vgl. Bastian, et al., 2009) ausgewertet. Im Folgenden werden die ersten Ergebnisse des Forschungsprojekts vorgestellt.
3. ERSTE ERGEBNISSE Zur Beantwortung der Frage, in welchem Maße migrantische SchülerInnen in den schulischen Peer-to-Peer-Kontext integriert sind, haben wir zunächst untersucht, wie gut diese im Vergleich zu Schülerinnen ohne Migrationshintergrund in den Netzwerkzusammenhang ihrer jeweiligen Klasse eingebunden sind. Eine geeignete netzwerkanalytische Methode stellt hier die Berechnung der Gradzentralität dar. „Die Gradzentralität gibt die Summe der Relationen an, die ein Akteur zu anderen Akteuren im Netz hat“ (Steinbrink et al., 2013, S. 46). Diese Berechnung erlaubt also Aufschlüsse über die (soziale) Aktivität und indiziert so gewissermaßen die Kontaktfreudigkeit und Beliebtheit der SchülerInnen innerhalb ihrer Klasse. Erhoben wurden gerichtete Beziehungen, so hat beispielsweise eine Schülerin für die Relation „Problembesprechung“ eine oder mehrere andere SchülerInnen genannt (ausgehende Beziehungen); andersherum konnte dieselbe Schülerin auch von anderen als Ansprechpartnerin für Probleme genannt werden (eingehende Beziehungen). Die Summe der eingehenden Beziehungen wird als Eingangs-, jene der ausgehenden als Ausgangsgrad eines Akteurs bezeichnet. Betrachtet man den durchschnittlichen Ausgangsgrad der SchülerInnen ohne bzw. mit Migrationshintergrund der ersten und zweiten Generation für alle acht erhobenen Beziehungstypen, so lassen sich Unterschiede in der Netzwerkaktivität erkennen (siehe Tab. 1): Die SchülerInnen ohne Migrationshintergrund haben durchschnittlich 31,6, die SchülerInnen der zweiten Generation 28,18 und die der ersten Generation 23,33 ausgehende Beziehungen. Dennoch ist an dieser Stelle zu konstatieren, dass die Netzwerkaktivität dieser drei Gruppen sich lediglich zwischen den SchülerInnen ohne Migrationshintergrund und den im Ausland geborenen (1. Generation) statistisch signifikant unterscheidet. Erstaunlich erscheint dieses Ergebnis zunächst nicht. Der niedrigere Durchschnittswert der Gruppe der im Ausland geborenen lässt sich sicherlich zum
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Teil auf ihre kürzere Aufenthaltsdauer innerhalb des Klassenverbandes zurückführen. Der Ausgangsgrad ist jedoch nur bedingt geeignet, die soziale Eingebundenheit in den Klassenverband zu erfassen, da er ausschließlich die eigene Netzwerkaktivität der jeweiligen SchülerInnen repräsentiert. So ist denkbar, dass einzelne SchülerInnen zwar zahlreiche MitschülerInnen als soziale Kontakte angeben, aber ihrerseits gar nicht genannt werden. Um die Eingebundenheit besser ermitteln zu können, ist es demnach erforderlich, insbesondere auch die eingehenden Beziehungen mit in die Auswertung einzubeziehen und speziell die wechselseitigen Beziehungen zu erfassen. Gerade für die Frage nach der Integration einzelner SchülerInnen sind Erkenntnisse über deren reziproke Netzwerkverbindungen besonders aussagekräftig, da Reziprozität die Basis für vertrauensvolle und stabile soziale Beziehungen bildet (vgl. Stegbauer, 2002). Für den nächsten Analyseschritt haben wir daher ausschließlich die wechselseitigen Beziehungen herangezogen und von diesen zusätzlich nur jene Kontakte betrachtet, die sich in mindestens vier verschiedenen Beziehungstypen (bspw. Pausenkontakte, Partyeinladungen Hausbesuche und Gruppenarbeiten) finden lassen. Dieser Festlegung liegt die Annahme zugrunde, dass reziproke Beziehungen dieser Stärke für die Peer-to-Peer- Interaktion von besonderer Bedeutung sind, da sie engere soziale Bindungen – also starke Beziehungen – indizieren. Die SchülerInnen ohne Migrationshintergrund haben durchschnittlich 2,67, jene der zweiten Generation 2,32 und jene der ersten Generation 1,56 reziproke Beziehungen (siehe Tab. 1). Die beobachtbaren Unterschiede zwischen den drei Gruppen hinsichtlich ihrer Eingebundenheit fallen hier folglich etwas deutlicher aus als bei der Betrachtung des Ausgangsgrades (s.o.). Es lässt sich festhalten, dass SchülerInnen mit Migrationshintergrund im Durchschnitt weniger stark in die Klassenverbände eingebunden sind, als SchülerInnen ohne Migrationshintergrund. Im Folgenden stellt sich die Frage, zu wem die SchülerInnen ihre Beziehungen haben. Wie stark sind die Verbindungen zwischen SchülerInnen mit und ohne Migrationshintergrund ausgeprägt? Strukturieren sich die Klassennetzwerke also nach dem Merkmal „Migrationshintergrund“? Für diese Fragestellung bietet die SNA die Möglichkeit der Homophilie-Berechnung. Von Homophilie spricht man, wenn Akteure eher dazu neigen, miteinander in Kontakt zu stehen, wenn sie sich in Bezug auf eine bestimmte Eigenschaft ähneln, sprich über das gleiche Attribut verfügen (z.B. gleiches Geschlecht oder gleiche Herkunft). In Abbildung 1 sind alle 39 Klassennetzwerke abgebildet. Bereits der Blick auf die Netzwerkstrukturen zeigt deutlich, dass das Attribut Migrationshintergrund sehr ungleich verteilt ist. Es gibt sowohl Klassen, die sich (fast) vollständig aus SchülerInnen mit Migrationshintergrund zusammensetzen und andere in denen kaum migrantische SchülerInnen unterrichtet werden. Aber auch Klassen mit ausgeglichenen Anteilen finden sich im Sample. In Abbildung 1 ist darüber hinaus erkennbar, dass viele SchülerInnen mit Migrationshintergrund zahlreiche Kontakte zu SchülerInnen ohne Migrationshintergrund haben und umgekehrt. Tendenziell zeigt sich außerdem, dass die zahlenmä-
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ßig recht gering vertretenen im Ausland geboren SchülerInnen eher periphere Positionen in den Netzwerken einzunehmen scheinen – eindeutig ist dieses Ergebnis jedoch nicht. Folglich lassen sich bezüglich des Attributes „Migrationshintergrund“ rein visuell keine eindeutigen Strukturierungen erkennen, die auf eine Homophilie hindeuten.
Abb. 1: Die Klassennetze mit Darstellung des Migrationshintergrundes (eigene Darstellung; die Visualisierung beruht auf dem Fruchtermann-Reingold-Algorithmus, vgl. Fruchtermann & Reingold, 1991)
In Tabelle 1 sind die Anzahl der Verbindungen zwischen und innerhalb der drei Gruppen dargestellt. Die großen Unterschiede der Werte liegen vor allem in den unterschiedlichen Gruppengrößen begründet. Für die Homophilie-Berechnung werden nun die Beziehungen innerhalb der Gruppen zu den gruppenübergreifenden
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in Beziehung gesetzt. Wenn der sogenannte E-I Index2 zwischen -0,5 und -1 liegt, wird gemeinhin von einer starken Homophile des Netzwerks gesprochen. Tab. 1: Anteile und Verteilung der Beziehungen der SchülerInnen nach Migrationshintergrund aller Schulen und Klassen (Gesamtübersicht; eigene Erhebung)
Aus der Kreuztabelle (siehe Tab. 1) ergibt sich der E-I-Index-Wert von -0,177. Somit sind die untersuchten Klassennetzwerke insgesamt nicht bzw. nur sehr leicht homophil im Hinblick auf das Attribut „Migrationshintergrund“. SchülerInnen mit und ohne Migrationshintergrund sind also untereinander kaum stärker vernetzt als mit Mitgliedern der jeweils anderen Merkmalsgruppen. Bei einer genaueren Betrachtung aller Verbindungen fällt jedoch auf, dass die SchülerInnen, die im Ausland geboren sind, stets mehr ausgehende als eingehende Verbindungen mit den anderen Gruppen haben. Zu SchülerInnen ohne Migrationshintergrund bestehen 1.013 Verbindungen, andersherum aber nur 709. Zu SchülerInnen mit Migrationshintergrund der zweiten Generation sind es 1.245 ausgehende zu lediglich 984 eingehenden Beziehungen. Dieses Ergebnis erscheint insofern interessant, als dass die Werte einigermaßen ausgeglichen sein müssten, wenn der Migrationshintergrund tatsächlich keine Rolle spielte. Bei der Interpretation ist allerdings Vorsicht geboten: Unter Umständen wird das Ergebnis auch davon beeinflusst, dass oft nur sehr wenige SchülerInnen mit Migrationshintergrund der ersten Generation in einer Klasse sind und diese sozusagen automatisch vermehrt Beziehungen zu SchülerInnen der anderen Gruppen haben (müssen). Innerhalb der anderen beiden Gruppen besteht gewissermaßen eine höhere Wahlmöglichkeit. Auf Grundlage der bisher erfolgten Analysen lässt sich festhalten, dass der Migrationshintergrund bzw. dessen Ausprägung zwar eine Bedeutung bezüglich der Anzahl und der Wahl der sozialen Kontakte innerhalb der Schulklassen hat, diese aber nicht allzu groß zu sein scheint. Wie oben bereits erwähnt, lässt sich in Abbildung 1 jedoch eindeutig erkennen, dass das Attribut „Migrationshintergrund“ klassenweise sehr ungleich verteilt ist.
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Der E-I-Index (External-Internal-Index) stellt eine simple Berechnung zur Eingebundenheit von Gruppen dar. Der Wert berechnet sich aus der Anzahl der Verbindungen außerhalb der Gruppen abzüglich der Anzahl der Verbindungen, die innerhalb der Gruppe bestehen, geteilt durch die Gesamtzahl der Verbindungen (vgl. Krackhardt & Stern, 1988, S. 127).
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Diese Diskrepanz zeigt sich noch deutlicher, wenn man die Werte auf Schulebene vergleicht (siehe Abb. 2).
Abb. 2: Verteilungen der Schülerinnen nach Migrationshintergrund auf Schulebene (eigene Erhebung)
Während innerhalb des Gymnasiums I und der Gesamtschule die SchülerInnen ohne Migrationshintergrund mit 72% bzw. 65% die deutliche Mehrheit bilden, so ist diese Verteilung beim Gymnasium II weitaus ausgeglichener: 49% der SchülerInnen haben keinen; 51 % haben einen Migrationshintergrund (erste und zweite Generation zusammengefasst). In der Realschule bilden die SchülerInnen mit Migrationshintergrund hingegen mit 89% die große Mehrheit. Diese auffallende Selektion der Schülerschaft nach Schultypen ist auch auf Bundesebene feststellbar. Die größten Unterschiede in der Zusammensetzung der Schülerschaft in Deutschland bestehen nach wie vor zwischen Hauptschule und Gymnasium. Der Anteil der SchülerInnen mit Migrationshintergrund, die eine Hauptschule besuchen (47,8%) ist fast doppelt so hoch, wie jener, der migrantischen GymnasiastInnen (26,4%) (vgl. DESTATIS, 2016, S. 87).
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Tab. 2: Verteilung der Beziehungen der SchülerInnen nach Migrationshintergrund auf Schulebene (eigene Erhebung)
Vor diesem Hintergrund stellt sich nun die Frage, ob die stark variierende migrationsbezogene Heterogenität auf Schulebene einen Einfluss auf die Beziehungsstrukturen der SchülerInnen hat. Sind die SchülerInnen mit Migrationshintergrund in den einzelnen Schulen unterschiedlich stark in ihre jeweiligen Klassenverbände integriert? Ein Blick auf die starken reziproken Beziehungen gibt hier erste Anhaltspunkte (siehe Tab. 2).
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Vergleicht man für die drei Gruppen die durchschnittlichen Gradzentralitäten der starken Beziehungen (reziprok; > 3) auf Schulebene, so fällt auf, dass die Werte deutlich weniger variieren, wenn die Schülerschaft im Hinblick auf das Attribut Migrationshintergrund annähernd gleich verteilt ist. Die geringsten Differenzen zeigt Gymnasium II: Die SchülerInnen weisen hier im Durchschnitt 2,22 bis 2,74 starke Beziehungen auf. Deutlich größere Unterschiede hinsichtlich der durchschnittlichen Anzahl lassen sich bei Gymnasiums I (1,47 – 3,0) und der Realschule (1,47 - 2,27) beobachten. Bei beiden Schulen ist auch das Verhältnis der SchülerInnen mit und ohne Migrationshintergrund eher ungleichgewichtig. Auffällig ist, dass bei allen Schulen die jeweils größte Gruppe im Mittel auch über die meisten Verbindungen verfügt. Dies trifft auch bei der Realschule zu, bei der die deutliche Mehrheit der SchülerInnen einen Migrationshintergrund hat. Hier haben die SchülerInnen mit einem Migrationshintergrund der zweiten Generation die meisten ausgehenden Beziehungen, SchülerInnen ohne Migrationshintergrund verfügen hingegen im Durchschnitt über den geringsten Ausgangsgrad. Ein Blick auf den E-I-Index auf Schulebene verrät, inwieweit die Beziehungen auch zwischen den Gruppen bestehen (siehe Tab. 2): Innerhalb des Gymnasiums II scheint das Attribut Migrationshintergrund bei der Wahl der sozialen Kontakte keine Rolle zu spielen (E-I-Index = 0,001). Das Gymnasium I hat mit 0,271 hingegen den höchsten E-I-Index, wenngleich auch dieser Wert nur als leicht homophil zu bezeichnen ist. Darüber hinaus sind die Werte der Realschule besonders interessant: Die SchülerInnen ohne Migrationshintergrund stellen die kleinste Gruppe, dennoch werden sie viel häufiger von im Ausland geborenen SchülerInnen genannt als andersherum. Die Tendenz, dass im Ausland geborene SchülerInnen mehr ausgehende Beziehungen in andere Gruppen haben als umgekehrt, zeigt sich an allen Schulen (und besonders an den beiden Gymnasien). Lässt sich die größere Kontaktfreudigkeit der Zugewanderten als Indikator für eine Integrationswilligkeit deuten, die von den SchülerInnen aus der Mehrheitsgesellschaft nur zum Teil erwidert wird?
4. DISKUSSION UND AUSBLICK Informelle Kommunikationsnetzwerke von SchülerInnen können als Indikator für Vernetzung und Einbindung in Klassengefüge genutzt werden, um die Integration von SchülerInnen mit Migrationshintergrund zu untersuchen. Die ersten Ergebnisse unserer Studie zeigen, dass die SchülerInnen mit Migrationshintergrund fast ebenso viele Kontakte haben wie jene ohne Migrationshintergrund. Hier bestehen innerhalb unserer Stichprobe nur geringe Unterschiede. Es lässt sich festhalten, dass innerhalb der Peer-to-Peer-Netzwerke in den Klassen soziale Integration stattfindet. Erst die Betrachtung der reziproken Beziehungen zeigt, dass SchülerInnen, die selbst im Ausland geboren sind, weniger wechselseitige Beziehungen haben als ihre Klassenkameraden ohne Migrationshintergrund. Ausgehende Beziehungen werden
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deutlich häufiger nicht erwidert. Die Gründe hierfür könnten die geringere Aufenthaltsdauer in Deutschland und/oder die oft damit einhergehenden begrenzten Deutschkenntnisse sein. Um diese Hypothese zu untersuchen, müssen weitere Analysen folgen. Die Homophilie-Berechnungen haben gezeigt, dass der Migrationshintergrund innerhalb unserer Stichprobe kein eindeutiges Strukturierungsmerkmal der Klassennetzwerke ist. Die SchülerInnen sind unabhängig von ihrem Migrationshintergrund miteinander vernetzt, auch wenn deutlich wurde, dass vor allem bei im Ausland geborenen Kindern und Jugendlichen deutlich häufiger deren ausgehenden Beziehungen nicht erwidert werden als bei den anderen beiden Gruppen. Dieses Ergebnis ist aufschlussreich und bedarf weiterer Analysen. Darüber hinaus ist zu konstatieren, dass die Integration auf Klassenebene besser zu gelingen scheint, je ausgeglichener das Verhältnis der SchülerInnen mit und ohne Migrationshintergrund an den jeweiligen Schulen ist. Insofern erweist sich die Zusammensetzung der Schülerschaft auf Schulebene als besonders integrationsrelevant. Die Art der Schulform (Gymnasium, Realschule oder Gesamtschule) ist dabei offenbar weniger ausschlaggebend, als die Rekrutierung der Schülerschaft (Standort, Einzugsgebiet, Schulprofil etc.), was sich insbesondere beim Vergleich der beiden untersuchten Gymnasien zeigt. Vor diesem Hintergrund erscheint die häufig zu beobachtende soziale Segregation der Schülerschaft besonders diskussionswürdig. Denn die Trennung der SchülerInnen mit und ohne Migrationshintergrund findet auf Schulebene viel stärker statt als innerhalb der Klassenverbände. Die Kontakte und Interaktionen der Kinder und Jugendlichen im schulischen Kontext erfolgen – so legen es unsere ersten Analysen nahe – weitgehend unabhängig von etwaigen Migrationshintergründen. In diesem Beitrag wurden die ersten Ergebnisse unserer Studie präsentiert. In weiteren Untersuchungen ist unter anderem geplant, den Aspekt der Herkunft der SchülerInnen mit Migrationshintergrund detaillierter in den Blick zu nehmen. So wollen wir untersuchen, inwiefern die Sprache und die Herkunft eine Rolle bei der Wahl der sozialen Kontakte innerhalb der Schulklassen spielt. Darüber hinaus soll der formale Bildungserfolg der SchülerInnen mit Grad und Art ihrer Einbettung in die Peer-to-Peer-Netzwerke analytisch in Beziehung gesetzt werden, um so den Zusammenhang zwischen formaler und informeller Bildung stärker in den Fokus der Analysen zu rücken.
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KAPITEL 2 Das Thema „Migration“ in geographischen Unterrichtsmedien
MIGRATION IM SCHULATLAS – KARTOGRAPHISCHE REPRÄSENTATIONEN UND KONZEPTIONEN Matthias Land
1. FRAGESTELLUNG – DER ATLAS ALS MEDIUM UND ARCHIV Die Frage, wann und wie Migration als Thema des Geographieunterrichts auftaucht, lässt sich mit einem seiner zentralen Arbeitsmittel, der Schulatlaskarte, systematisch untersuchen. Anhand des weitverbreiteten und seit fast 130 Jahren immer wieder neuaufgelegten Diercke-Weltatlas fragt der folgende Beitrag danach, wie Migrationsprozesse und MigrantInnen kartographisch thematisiert und visualisiert werden und wie Migration als Gegenstand geographischer Medien hervorgebracht wurde und wird. Die herausgearbeitete karto- bzw. geographische Konzeptionalisierung von Migration wird abschließend auf Grundlage der Reflexiven Kartenarbeit (vgl. Gryl, 2016) kritisch diskutiert. Schulatlanten prägen als administrativ wie wissenschaftlich legitimierte Nachschlagewerke und Unterrichtsmittel Wissensbestände sowie Lern- und Denkprozesse im Geographieunterricht. Ihre Karten schaffen Orientierung, sie veranschaulichen und lokalisieren Eigenschaften oder Phänomene und sie dienen als Grundlage für Erklärungen räumlich-sozialer Zusammenhänge (vgl. Gryl, 2016, S. 5f.). Während zahlreiche Untersuchungen darüber vorliegen, wie bestimmte Themenfelder, z.B. Kolonialimus, in Geschichtsatlanten verhandelt werden (vgl. Renz, 2014) und in welcher Weise die Themen Migration, Integration oder Flucht in (Geographie-)Schulbüchern dargestellt werden (vgl. Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration, 2015; Markom & Weinhäupl, 2014), mangelt es generell an Analysen von geographischen Schulatlanten und insbesondere an der Auseinandersetzung mit der kartographischen Darstellung von Migration und MigrantInnen. Dabei präsentieren Atlanten konzentriertes geographisches Wissen und dienen als Speicher von raum-zeitlichen Informationen, die ex post als historisches, im Sinne eines zum jeweiligen Zeitpunkt als gültig und dominant angesehenes, Wissen gelesen werden können. Die Karte speichert und konstruiert Geschichts- und Raumbilder; ihre schematische Visualität ist Teil von Wissensordnungen, die Welt- und Selbstverhältnisse konstituieren. Imaginäre räumliche Denkmuster und individuelle mental maps werden durch Karten geprägt. Die folgende Untersuchung von Migration als Unterrichtsgegenstand im Diercke-Weltatlas und von der Art und Weise, wie Migration dort im Zeitverlauf repräsentiert wird, erfolgt vor dem Hintergrund der Arbeiten der Kritischen Kartographie, welche die Selektivität und Kontingenz von Karten sowie ihre Einbettung in Diskurse und damit in jeweils virulente Machtverhältnisse betont (vgl. Harley,
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2001; Wood, 1993). Demnach zeichnen sich Karten, in ihrer Verflechtung mit anderen Aussagen und Artefakten, durch eine besondere Autorität aus: Ihre scheinbar neutrale Perspektivität, die Anbindung an naturräumliche Gegebenheiten und ihre wissenschaftliche Rhetorik beansprucht Wahrhaftigkeit und Gültigkeit. Karten sind jedoch das Ergebnis von (teilweise unbewussten) Entscheidungen, die auf gesellschaftlichen Wissensbeständen, Konventionen und Weltbildern beruhen (vgl. Gryl, 2016, S. 15). Die Einschätzung, welche Phänomene als Migration zu fassen und welche davon als besonders relevant zu erachten sind, verändert sich über die Zeit genauso wie die Entscheidung, wer als Migrant, Flüchtling, ausländischer Mitbürger oder Person mit Migrationshintergrund bezeichnet bzw. problematisiert wird. Diese Einschätzungen und Entscheidungen sind das Ergebnis politischer, juristischer und wissenschaftlicher Verschiebungen (vgl. Hess, 2011). In den Karten der Schulatlanten spiegeln sich diese Entwicklungen wieder und zugleich manifestiert sich ihr geographischer Ausdruck: Neben dem Kartierten wird so auch das Kartierbare erschlossen.
2. MATERIALAUSWAHL UND VORGEHEN Da Atlaskarten für unterschiedliche Altersstufen geeignet sein und mehrere Fragestellungen behandeln sollen, müssen sie zugleich komplex und einfach sein. Neben der Popularität und der enormen Reichweite ist es die exzeptionell lange und ungebrochene Erscheinungsdauer, die den Diercke-Weltatlas so einflussreich macht (vgl. Espenhorst & Kümpel, 1999, S. 10; Herb, 1997, S. 97). Im Folgenden werden die relevanten Karten aus dem Diercke-Weltatlas (bis 1950 unter dem Titel „Schulatlas über alle Teile der Erde“) von seinem erstmaligen Erscheinen 1883 bis heute untersucht. Dabei wurden 99 Karten aus den Ausgaben mit grundlegenden Überarbeitungen berücksichtigt (vgl. hierzu Diercke 1883, 1895, 1911, 1932, 1938, 1950, 1957, 1974, 1988, 2002, 2008, 2015). Erst in jüngster Zeit fand der Begriff „Migration“ Einzug in die Atlanten (s.u.); hier interessieren daher alle Karten, die dauerhafte, internationale räumliche Bewegungen von Menschen und deren unmittelbare Folgen explizit behandeln, während implizites Wissen über Migration beispielsweise in Völker-, Kultur- oder Religionskarten nicht berücksichtigt wird. Zur Verdichtung von Darstellung und Argumentation werden die untersuchten Diercke-Karten in die Themenbereiche „Karten zur ‚Abstammung und Verbreitung‘“ (3.1), „Karten zur Zwangsmigration“ (3.2), „Karten des Gastarbeiterregimes“ (3.3), „Karten von ‚Ausländervierteln‘“ (3.4), „Weltkarten der Migration“ (3.5) und „Karten des EU-Grenzregimes“ (3.6) geclustert. Um der Frage, was SchülerInnen im Atlas über Migration lernen, nachzugehen, werden die inhaltlichen Selektionen der Karten in Bezug auf Gegenstand, Zeitraum, Raumausschnitt und Kategorisierungen untersucht. Daneben interessieren die kartographischen Repertoires, mit denen Aussagen getroffen werden (Kartenzeichen, Maßstab, Farben etc.) und – an dieser Stelle allerdings nur schlaglichtartig – kontextuelle Faktoren der Kartenproduktion (Verlagsinteressen, curriculare Vorgaben, Produktionstechniken etc.) (vgl. Harley, 2001; Renz, 2014, S. 61ff.).
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Der diachrone, produktorientierte Vergleich ermöglicht es, Entwicklungen und Beständigkeiten bei der Themensetzung und der Kartengestaltung auszumachen. Er sagt jedoch noch nichts über die tatsächliche Verwendung im Unterricht und die (individuelle) Rezeption der Karten aus. Die Legitimation und Funktionalität von Schulatlanten ergibt sich aber gerade durch ihre notwendige Einbettung in gesellschaftlich dominantes Wissen, sodass das Ziel ihrer kritischen Analyse keine „Atlantenschelte“ bedeuten soll, sondern eine Auseinandersetzung mit der Geschichte des für den Unterricht als relevant erachteten kartographischen Wissens über Migrationsprozesse.
3. MIGRATION UND MIGRANTINNEN ALS GEGENSTAND DER ATLASKARTEN 3.1 Karten zur „Abstammung und Verbreitung“ In der Diercke-Erstausgabe von 1883 wird Migration lediglich in der Nebenkarte „Die Bevölkerung Amerikas nach ihrer Abstammung“ explizit thematisiert (vgl. Diercke, 1883, S. 19). Hierin wird die nord- und mittelamerikanische Bevölkerung in „Indo-Europäer, Amerikaner und Neger“ dreigeteilt. Während die Präsenz letzterer mit Punktsignaturen in der Karte abgetragen wird, werden erstere über farblich differenzierte Flächensignaturen dargestellt. Gebiete werden entsprechend der jeweils dominanten Gruppe eingefärbt, so erscheinen etwa der Osten der USA und Kuba als ausschließlich von einer Bevölkerung mit „indo-germanischer“ Abstammung besiedelt. Die Verbreitung unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen in den USA wird ab der Folgeausgabe 1895 (S. 61) und unverändert bis einschließlich der Ausgabe von 1938 mittels zweier Karten behandelt: Eine Karte zeigt die „Verbreitung der Neger u. Indianer“, während direkt darunter die „Verbreitung der Deutschen“ kartiert wird. Da sich 1911 (S. 64) die Prozentwerte und auch die Größenklassen zum Bevölkerungsanteil der „Deutschen“ verändern, erscheint deren Präsenz in den USA nun wesentlich bedeutender und flächendeckender. Weitere Karten stellen die weltweite Verbreitung von Deutschen und Europäern dar (vgl. Diercke, 1895, S. 18; 1911, S. 19).1 Der Trend, immer mehr Gebiete als deutsche darzustellen, findet sich gleichzeitig in zahlreichen anderen Atlanten und Publikationen (vgl. Herb, 1997, S. 98). In der Diercke-Ausgabe von 1938 wird der Begriff des „Deutschtums“ bei der Darstellung der Verbreitung von Deutschen auf globaler Ebene und in Teilen der USA, Südamerikas und Südafrikas eingeführt (S. 19 & 145).2 In allen Fällen wird die Präsenz von Deutschen in markantem Rot ver-
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Eingezeichnet sind auch „Gebiete deutscher Heidenmissionen“ und „Orte mit deutschem Gottesdienst“ (Diercke, 1895, S. 18). Außerdem erscheint eine Karte zur „Verbreitung der Deutschen in Mittel- und Osteuropa“ (Diercke, 1938, S. 144; vgl. zum kartographischen Revisionismus der Zeit Herb, 1997).
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zeichnet. Das zu der Zeit prominent thematisierte und kartierte Sujet des „Deutschtums im Ausland“ repräsentiert offenkundig die nationalsozialistische Ideologie vom „Volk ohne Raum“. Unter migrationshistorischen Gesichtspunkten ist also die europäische und insbesondere die deutsche imperialistisch-expansionistische Auswanderung das bevorzugte Motiv der frühen Diercke-Atlanten. Die AtlasnutzerInnen erfahren von der globalen Präsenz ausgewanderter Deutscher bzw. Europäer. Vermittelt wird eine Konzeption von Volk und Identität, nach der etwa Deutschsein etwas Eindeutiges, Essentialistisches und Unveränderbares darstellt: Die AuswanderInnen bleiben wesentlich „Deutsche“. Die Einwanderungsgeschichte Nord- und Südamerikas bleibt auch in den Nachkriegsausgaben ein wichtiges Thema.3 Völkerkarten unterscheiden per Flächensignatur zwischen „Urbevölkerung“ und „Einwanderung“ und zeigen zudem die Herkunft der Eingewanderten sowie die „Hauptsiedlungsgebiete von deutschen Einwanderern“ (vgl. Diercke, 1957, S. 123 & 137; 1974, S. 166; s. auch 1988, S. 206; 2002, S. 206; 2015, S. 228). Für die USA werden ab 1988 zwei Karten gezeigt: Eine komplexe Karte verhandelt die „Einwanderung/Besiedlung“ der USA (vgl. Diercke, 1988, S. 188). Mit einem – für die Diercke-Karten untypischen – Piktogramm eines Segelschiffes wird die „Landung der Pilgerväter, September 1620“ symbolisiert und mit Pfeilen die Einwanderungsgeschichte nachgezeichnet. Für unterschiedliche Zeiträume werden mithilfe kleiner Kästchen die Anzahl und die nationale Zusammensetzung der Einwandernden dargestellt. Auch hier wird auf das etablierte Farbschema Blau für Deutsche, Rot für Engländer, Gelb für Asiaten und Braun für Sklaven zurückgegriffen – zu beachten ist auch die mangelnde Binnendifferenzierung der beiden letzten Gruppierungen (vgl. außerdem Diercke, 2008, S. 194; 2015, S. 210). Die jeweils zweite Karte zeigt die Bevölkerungszusammensetzung der USA, in der die europäische Einwanderung nicht mehr erwähnt wird, sondern – so im Diercke 2015 (S. 210) – zwischen „Hispanics“, „Afroamerikaner[n]“ und „Asiaten“ unterschieden wird (vgl. für weitere Formen der Kategorisierung Diercke, 1974, S. 154; 1988, S. 188; 2002, S. 188; 2008, S. 194).4 Über alle Veränderungen hinweg stellt die Herkunft das zentrale Kriterium in den genannten Karten dar. Durch diese werden Gruppen als Abstammungsgemeinschaften definiert und Fragen der Zugehörigkeit verhandelt, d.h. Fragen nach dem Ein- und Ausschluss bestimmter Gruppen, nach ihrer Sichtbarkeit, nach Norm und Abweichung sowie der Persistenz von Migrationsgeschichten.
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Ab 1988 wird auch die europäische Einwanderung nach Australien thematisiert (S. 181; nur leicht verändert in Diercke, 2002, S. 181 oder 2015, S. 200). Dabei trägt die entsprechende Karte von 1974 den Titel „Rassenprobleme“ (S. 154), wobei das nicht weiter erläuterte Problem in der Präsenz „unterschiedlicher Rassen“ und deren „Ausbreitung“ zu liegen scheint.
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3.2 Karten zur Zwangsmigration Im Diercke-Weltatlas von 1957 werden dezidiert Prozesse von Zwangsmigration dargestellt. Unterschiedliche Pfeilfarben und -arten zeigen die „Umsiedlung von Minderheiten“: von „Griechen“ und „Türken“ 1922/23 und die von „Deutschen“, „Polen“, „Völkern der Sowjetunion“ und „Finnen“ 1939/40 (vgl. Diercke, 1957, S. 84).5 Der Begriff Umsiedlung dient hier der Bezeichnung ganz unterschiedlicher historischer Prozesse. In der Legende wird darauf hingewiesen, dass der Zeitraum 1940 – 1944 unberücksichtigt bleibe. In der zweiten Karte wird die „Vertreibung u. zwangsweise Umsiedlung 1945-50“ behandelt. Die „Heimatgebiete der vertriebenen Deutschen“ sind dabei mit weißer Farbe markiert. Den deutschen Vertriebenen wird damit im Vergleich zu anderen Gruppen eine besondere Bedeutung eingeräumt, ihre Herkunftsregionen als „Heimatgebiete“ exakter (und emotional) definiert und durch das Weißlassen als leer und abgesondert vom jeweils umgebenden Nationalstaat dargestellt. Weitere Geschichtskarten etwa zu den Weltkriegen, zum Nationalsozialismus oder zur Schoah finden sich in dieser Ausgabe nicht. Diese Darstellungen von „Flucht und Vertreibung“ (vgl. Lotz & Weger, 2015) finden sich nur für eine kurze Phase in den Diercke-Atlanten, die als Medien der Gegenwart ohnehin nur vereinzelt kartographische Darstellungen historischer Prozesse beinhalten.6 Anstelle einer enzyklopädischen Stofffülle wird dem exemplarischen Lernen ab der Ausgabe von 1957 vermehrte Bedeutung zugemessen (vgl. Zahn & Kleinschmidt, 1995, S. 172). Das Konzept des lernzielorientierten Unterrichts der 1970er Jahre verstärkte diesen Trend (vgl. ebd., S. 174). Die Fokussierung von Leitthemen, das Aufzeigen von räumlichen Strukturen und Prozessen und die verstärkte Behandlung von wirtschafts- und sozialgeographischen Themen prägten diese Phase ebenso wie eine Öffnung für globale Perspektiven und Fallbeispiele (vgl. Kötter, 1989, S. 86). Zusammen mit der steigenden Relevanz von und dem vermehrten Interesse an Migrationsformen jenseits des Gastarbeiterregimes (siehe Kapitel 3.3) führt dies zu einem Bedeutungsgewinn von Migrationsthemen ab der Ausgabe von 1974: Eine Karte mit dem Titel „Palästinaproblem“ greift auf unterschiedlich große Pfeile zurück, um die Migration von „Einwanderer[n], Flüchtlinge[n] und Vertriebene[n]“ nach und aus Israel darzustellen (vgl. Diercke, 1974, S. 118). Mit einzelnen gelben Pfeilen für unterschiedliche Zeiträume wird die „jüdische Einwanderung“ gezeigt, während in Blau- und Grautönen (palästinensische) „Flüchtlingsströme“ symbolisiert werden. Bei der „jüdischen Einwanderung“ steht
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In dieser Ausgabe wird erstmalig für den Diercke menschliche räumliche Bewegung in Pfeilen dargestellt (ebenfalls bei der Karte „Arbeiter-Pendelverkehr im Raum von Köln“, S. 33). Bislang wurden bei verkehrsgeographischen Fragestellungen lediglich Entfernungen oder Verbindungen thematisiert. Außer den Beispielen in 3.1 und politischen Übersichtskarten wird etwa Afrikas Geschichte ab 1988 mit einem Triptychon aus vor-kolonialer Zeit, dem Zeitraum 1914/18 und der heutigen politischen Gliederung dargestellt, in dem u.a. auch die „Wanderungen der Massai im 17. Jahrhundert“ mittels Pfeilen nachgezeichnet werden (bspw. Diercke, 1988, S. 126; 2008, S. 130).
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das Ziel (Israel) im Fokus, die Herkunft der MigrantInnen wird nicht weiter spezifiziert. Mit Punktsignaturen sind außerdem „Flüchtlingslager (UNWRA Refugee Camps)“ eingetragen (vgl. Überarbeitung in Diercke, 1988, S. 159 und 2015, S. 178). In der Ausgabe von 1988 werden weitere Migrationsprozesse erstmalig thematisiert. Die Karte „Vorderindien – Religionen“ stellt Flüchtlingsbewegungen im Zusammenhang mit religiösen Minderheiten dar und differenziert in „Flüchtlingsbewegungen nach der Teilung Britisch-Indiens (1947)“ und denen „aus wirtschaftlichen Gründen in neuerer Zeit“ (S. 163; in der Folge nur leicht verändert). Auch bei der Thematisierung von staatlicher Umsiedlung in Indonesien wird mit Pfeilen gearbeitet (vgl. Diercke, 1988, S. 169) und 2008 werden in der Karte „Afghanistan – Konfliktherd mit internationaler Militärpräsenz“ „Flüchtlingssiedlungen“, „Flüchtlingslager (Zelte)“ und „Wiederansiedlung von > 50.000 Flüchtlingen“ mithilfe von Piktogrammen verortet (vgl. Diercke, 2008, S. 157). Diese werden durch Einzeichnungen von Militäroperationen, der Opiumproduktion sowie Informationen zur Bevölkerung und der ethnischen Gliederung ergänzt. In diesen Karten etabliert sich das Zeichen des Pfeils zur Darstellung von Migrationsprozessen. Mit ihm wird Migration als unidirektionale, gerichtete und einmalige Bewegung von einem als Container gedachten Raum in einen anderen formuliert. Mit der Aufnahme historischer, politischer oder militärischer Kontexte werden Ursachen bzw. Wirkungen von Migrationen thematisiert. Und mit den Einzeichnungen von Lagern, Programmen und Akteuren wird auch die Regierung von bzw. der Umgang mit Fluchtmigration in den Karten sichtbar.
3.3 Karten des Gastarbeiterregimes In Bezug auf die BRD und Europa wird die Thematisierung von Migrationsprozessen im Diercke-Atlas von 1974 von der Migration und Präsenz „Gastarbeiter“ bestimmt. So wird für die BRD der „Anteil ausländischer Arbeitnehmer an der Gesamtzahl der abhängig Erwerbstätigen“ mittels Flächenfärbungen visualisiert (vgl. Diercke, 1974, S. 43). Kreisdiagramme führen für ausgewählte Städte die Nationalitäten der jeweils „vorherrschende[n] ausländische[n] Arbeitnehmer“ auf. Eine nebenstehende Karte thematisiert die Anteile einzelner Herkunftsländer. Mit unterschiedlich breiten, weißen Pfeilen wird die Anzahl vermittelter Arbeitnehmer aus einzelnen Staaten dargestellt („1mm = 25.000 Vermittlungen“). Zusätzlich sind die Regionen der betreffenden Staaten desto dunkler eingefärbt, je mehr Vermittlungen aus ihnen heraus erfolgt sind. In die umgekehrte Richtung deuten die quantifizierten Pfeile der direkt anschließenden Karte, die die „Geldüberweisungen in die Heimatländer“ zeigen. 1988 (S. 70) wird auf die beiden letzteren Detailkarten verzichtet, die Darstellung des Anteils der „ausländische[n] Arbeitnehmer“ aber um zwei Kreisdiagramme ergänzt, die die Veränderungen in der Zusammensetzung der „ausländische[n] Arbeitnehmer nach Nationalitäten“ von 1967 und von 1985 zeigt.
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Auch die 1974er-Karte „Gastarbeiter in Westeuropa“ zeigt Herkunfts- und Zielländer sowie die Höhe der Rücküberweisungen in die einzelnen Herkunftsstaaten (vgl. Diercke, 1974, S. 93). Die Pfeile, die die absolute Zahl von GastarbeiterInnen aus einzelnen Staaten symbolisieren, sind rechtwinklig gestaltet und wirken damit wesentlich systematischer als in den vorangegangenen Karten. In der übersichtlicheren Karte von 1988 (S. 122) werden darüber hinaus mit Flächenfärbungen (zusätzlich über zu Balken zusammengefassten Kästchen) die jeweils präsenten „ausländischen“ Nationalitäten gezeigt. Ab 2002 wird auf die gewohnte Darstellung mit Pfeilen verzichtet; Anteile, Anzahl und Herkunft der „ausländischen Arbeitnehmer“ sowie die Höhe der Rücküberweisungen aber weiterhin eingezeichnet (vgl. Diercke, 2002, S. 122; 2008, S. 88).7 Seit 2002 werden in Bezug auf die BRD nicht länger „ausländische Arbeitnehmer“, sondern die „ausländische Bevölkerung“ (bzw. die „ausländischen Mitbürger“) und ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung verzeichnet (vgl. Diercke, 2002, S. 70; 2008, S. 73). Statt der „Nationalitäten“ interessiert nun die Verteilung der Staatsangehörigkeiten der „ausländische[n] sozialversicherungspflichtige[n] Beschäftigte[n]“. 2015 hält auch bei diesem Kartentypus die Kategorie „Migrationshintergrund“ Einzug (vgl. Diercke, 2015, S. 80). Die Karten zum Gastarbeiterregime zeigen Migrationsprozesse als Teil von Wirtschaftssystemen. Der Kreislauf aus Arbeitsmigration und Rücküberweisungen stellt sich als Wirkungsgefüge dar. In den letzten Jahren findet aber eine Weitung dieser Perspektive statt: Es interessieren nicht länger nur „ausländische Arbeitnehmer“ oder „Gastarbeiter“, sondern die „Bevölkerung mit Migrationshintergrund“ wird vermessen. Zugleich als Teil und als die ‚Anderen‘ der Gesellschaft gefasst, erscheint deren Herkunft und räumliche Verteilung weiterhin als entscheidende Informationen.
3.4 Karten von „Ausländervierteln“ Auch auf lokaler Ebene wird in diversen Karten die Anwesenheit von MigrantInnen thematisiert. 1957 erscheint eine Karte von Manhattan, die mit roten Linien „Wohngebiete, in denen aus Übersee eingewanderte Volksgruppen zahlenmäßig stark vertreten sind“ markiert (S. 128). Einzelne Gebiete werden mithilfe von kleinen Ziffern je einer Gruppe zugewiesen, wobei „Zigeuner“ und „Juden“ als eigene Entitäten neben die anderen, nationalstaatlich definierten Einheiten gestellt werden. Angaben zu absoluten oder relativen Größenverhältnissen und zu den Zeiträumen der jeweiligen Einwanderung fehlen. Diese Karte findet sich nicht mehr in der Ausgabe von 1974. Jedoch werden dort in sehr ähnlicher Weise die „Farbigenwohngebiete“ (vgl. Diercke, 1974, S. 7
2008 erscheint außerdem eine gänzlich neu konzipierte Karte zur „Arbeitsmigration“ (so der Titel) in Südostasien (Diercke, 2008, S. 151; ähnlich in Diercke, 2015, S. 167). Dabei wird ein Zusammenhang zwischen der Wirtschaftskraft einzelner Regionen und der durch Pfeile angezeigten „Wanderungstrends“ abgebildet.
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158) New Yorks zum Thema einer Detailkarte. Diese unterscheidet zwischen „Hauptwohngebiete[n] der Negerbevölkerung“ und denen der „Puertoricaner“. Der weiß gelassene Rest New Yorks ist nicht weiter definiert oder ausdifferenziert; europäische MigrantInnen werden nicht länger hervorgehoben. Im weiteren Zeitverlauf ändern sich Bezeichnungen und Kategorien, Gestaltung und Themensetzung bleiben jedoch gleich: Der neue Titel für das Kartenpedant in der Ausgabe von 2002 lautet etwa „Kulturgeprägte Wohngebiete“ (vgl. Diercke, 2002, S. 197; s. auch 2015, S. 219).8 In inhaltlicher wie darstellerischer Hinsicht vergleichbare Darstellungen für deutsche Städte erscheinen im Diercke von 1988. Auf der Seite „Stadtentwicklung“ findet sich die Karte „Dortmund (Bezirk Nordmarkt) – Ausländerviertel“ (S. 66). Häuserblöcke sind hier entsprechend der jeweils dominierenden „Nationalität der Ausländer“ unterschiedlich eingefärbt. Zusätzlich wird mit leichter Schraffur angegeben, ob der „Anteil der Ausländer“ im einzelnen Block bei unter oder über 30 Prozent liegt.9 Neben Signaturen für Kirchen und Moscheen sind Versorgungs- und Dienstleistungsbetriebe in der Karte lokalisiert, die jeweilige „Nationalität des Inhabers“ ist ebenfalls über die Farbgebung ablesbar.10 Anstelle des Dortmunder Ausländerviertels beinhaltet der Atlas von 2008 eine Karte namens „Düsseldorf (Oberbilk) – multikulturelles Stadtviertel“ (S. 73; Hervorh. M.L.), die aber ganz ähnlich konzipiert ist. Die Karte in der Ausgabe von 2015 fokussiert den gleichen räumlichen Ausschnitt (S. 81). Grundlage ist nun aber die Kategorie „Migrationshintergrund“. Mit Schraffierung wird gekennzeichnet, wenn in den Wohnblöcken mehr als 20% der BewohnerInnen „Kroaten, Serben, Mazedonier“, „Polen, Griechen, Italiener“, „Türken“ oder „Marokkaner, Asiaten“ sind. Ist die erste Gruppe wohl unter der Oberkategorie ‚Balkan‘ subsumiert, lässt sich über entsprechende Gemeinsamkeiten der zweiten und letzten nur spekulieren. Die Einzeichnung der Gewerbe und Betriebe zeigt eigenständiges wirtschaftliches Handeln der BewohnerInnen an und schließt mit der Betonung von „ethnic economies“ zugleich an Diskurse um (urbane) Parallelgesellschaften an. Auch rufen diese Karten Ghetto-Diskurse auf, die ebenso aus den USA stammend auf die Situation deutscher Großstädte übertragen werden. Kartographische Ortsbezeichnungen beeinflussen Bedeutungszuschreibungen, hier qualifizieren bereits die Kartenüberschriften Stadtteile bspw. als „Ausländerviertel“. Dort wohnen demnach, in Abgrenzung zum Rest der Stadt, die (später kulturell) „Fremden“. Die plakative
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Karten zu Kapstadt (Diercke, 1957, S. 110; 1974, S. 110), Johannesburg (Diercke, 2008, S. 136; 2015, S. 152) und zum Witwatersrand (Diercke, 1974, S. 111) nehmen unter der Überschrift „Apartheid“ (ab 1974) eine vergleichbare Entwicklung. 9 Eine weitere Karte zur sozialräumlichen Gliederung Kölns stellt über die Flächenfärbung der Stadtviertel Einwohnerdichte und „Ausländeranteile“ in einen Zusammenhang und verknüpft sie außerdem mit Informationen zu Einkommensstruktur und Wohnsituation (vgl. Diercke, 1988, S. 68; nur leichte Änderungen 2002 und 2008). 10 In der Ausgabe von 2002 sind weitere Nationalitäten aufgeführt, abgesehen von leichten Verschiebungen bei den Eintragungen im Kartenbild verändert sich die Karte bis 2008 nicht (vgl. Diercke, 2002, S. 66).
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Flächenmethode der Einzeichnung suggeriert ethnische und in sich homogene Territorien; über die Karte wird eine Identitätsbeziehung zwischen Stadtteil und dessen BewohnerInnen vermittelt.
3.5 Weltkarten der Migration 2002 wird erstmals eine globale Darstellung von Migrationsprozessen abgedruckt (vgl. hierzu Diercke, 2002, S. 238). Grundlage der Weltkarte „Migration“ ist eine Klassifizierung der Staaten in solche, die „Politische Rechte und bürgerliche Freiheiten“ schützen, teilweise schützen oder nicht schützen. Durch unterschiedlich große Kreise wird die Präsenz von MigrantInnen in Zielregionen veranschaulicht. Dabei wird differenziert zwischen „Arbeitsmigranten mit Aufenthaltsgenehmigung“ (grün), „politische[n] Flüchtlinge[n]“ (rot) und „Binnenflüchtlinge[n]“ (braun). Mit farbigen Pfeilen werden „Binnenwanderungsströme in den 90er Jahren“ (grau), „internationale Wanderung Arbeitssuchender“ (grün) und „internationale Flüchtlingsbewegung“ (rot) eingezeichnet. Eine Insertkarte stellt die Situation innerhalb der EU vergrößert dar. Ab der folgenden Neubearbeitung sind im Süden der USA, im Süden und Osten der EU, im Norden Südafrikas und Australiens mit schwarzen, gezackten Linien „verschärfte Grenzsicherung[en] (Zäune, Militärpatrouillen)“ markiert (vgl. Diercke, 2008, S. 254; 2015, S. 279). Der dargestellte Zusammenhang zwischen dem Kriterium der politischen Rechte und bürgerlichen Freiheiten und der Form und den Zielen globaler Migration schließt an Push-Pull-Theorien an. Erstmals wird die Grenzsicherung thematisiert und mit der Insertkarte die diesbezügliche gemeinsame Verantwortung der EU visualisiert (siehe Kapitel 2.6). Mit der globalen Perspektive wird die Problematisierung von Migration in den Norden relativiert.
3.6 Karten des EU-Grenzregimes Der steigenden Bedeutung der EU-Migrationspolitik seit den 1990er Jahren und dem vermehrten öffentlichen Interesse an „illegaler Migration“ wird in der Ausgabe von 2015 Rechnung getragen. Hier erscheint statt einer Karte zum Anteil von „Ausländern“ oder „ausländischen Arbeitnehmern“ in den europäischen Staaten eine allgemeine Europakarte zu Migration (vgl. Diercke, 2015, S. 103). Darin sind NichtEU-Staaten (der Kartenausschnitt umfasst Osteuropa sowie weite Teile Afrikas und des Nahen Ostens) danach eingefärbt, welche Partnerschaftsverträge sie mit der EU abgeschlossen haben. Die Färbung der Schengen-Staaten richtet sich nach dem Anteil der „im Ausland geborene[n] Bevölkerung in Staaten des Schengen-Raumes“. Mit unterschiedlich gestalteten Linien werden „Migrationsrouten“ verzeichnet und wichtige „Migrationsdrehkreuz[e] (Ort, Flughafen)“ mit roten Kreissignaturen hervorgehoben. Neben den Staatsgrenzen wird mit einer auffälligen blauen, gestrichelten Linie die „einheitlich kontrollierte Außengrenze (Land/See)“ eingezeichnet, entlang dieser werden mit blauen Flächen See- und Luftüberwachungsoperationen
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von Frontex markiert, mit kleinen, nach außen gerichteten, schwarzen Zacken entsprechende Land- und Luftüberwachung. Auf der gleichen Atlasseite findet sich die Karte „Ceuta – Spanische Exklave in Afrika“ (vgl. Diercke, 2015, S. 103). Neben ihr ist das Schaubild eines Migrationsmodells zu sehen, das auf abstrakte Weise Push- und Pull-Faktoren sowie Hindernisse zwischen Herkunfts- und Zielgebiet thematisiert. Außerdem ist ein Diagramm zur zahlenmäßigen Entwicklung der illegalen Grenzübertritte nach Ceuta und Mellila abgedruckt. Die Karte selbst zeigt u.a. Infrastrukturen der Grenzkontrolle, während mit verschiedenen Zelt-Piktogrammen „isolierte Flüchtlingscamps (Wartestellung auf Grenzübertritt)“ und „Flüchtlingsaufnahmelager“ unterschieden werden. Im Kartenbild findet sich zudem der textliche Hinweis „6.2.2014: 15 Flüchtlinge sterben beim Versuch, den Grenzzaun zu umschwimmen.“ Auffallend an diesen Karten ist die starke Hervorhebung von (Schengen-) Grenzen und konkreten Routen. Das (spektakuläre) Neben- oder Gegeneinander von Migrationsprojekten und -kontrolle verfestigt die Vorstellung einer Festung Europa und deutet zugleich ihr permanentes Scheitern an. Migration wird hier geopolitisch und in Bezug auf ein Europa als Einheit verhandelt, dessen Kontrolle weit vor dem eigenen Territorium ansetzt. Die Darstellung von Migrationsrouten und von MigrantInnen in „Wartstellung auf Grenzübertritt“ verweist auf potentielle Migrationen und Risiken, die sich in bestimmten Räumen verdichten.
4. KONZEPTIONEN DER MIGRATIONSKARTEN Das vorgestellte historische Panorama der Migrationskarten im Diercke-Atlas zeigt, wie die dargestellten Migrationsformen, ihre Schauplätze und Kategorien im Zeitverlauf variieren. Entsprechende Karten nehmen nicht nur in ihrer Anzahl beständig zu, sondern erfahren eine zunehmende Ausdifferenzierung in Themenwahl und Darstellungsweise. Im Gegensatz zu mancher Karte in Presse und Medien, wird Migration nicht als Bedrohungsszenario, sondern komplex verhandelt. Die Ansätze, unterschiedliche Migrationsformen nicht länger in unterschiedlichen Karten strikt zu trennen (siehe Kapitel 2.6), sind ebenso zu würdigen wie die Erweiterung von rein ethno- bzw. eurozentrischen Perspektiven. Anmahnen ließe sich eine Erweiterung der schematischen Formulierung von Migrationen als Folge globaler Ungleichheiten und unterschiedlicher Bevölkerungswachstumsraten und -verteilungen. Bei aller Unterschiedlichkeit der Deutung von Migrationsprozessen lassen sich Spezifika des kartographischen Blickens auf Migration ausmachen (vgl. Labor k3000 & Spillmann, 2010, S. 282): Die diskursive wie disziplingeschichtliche Situiertheit der Kartenproduktion lässt Migration als Anomalie und Abweichung von
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der geordneten Welt der nationalstaatlichen Territorialstaaten und der territorialstaatlich gefassten Bevölkerungen erscheinen.11 Die Karte ist ebenso wie „[…] die Blickrichtung der allermeisten Migrations- und Integrationsstudien […] eingenordet: Man blickt aus der Mehrheitsgesellschaft heraus auf die als ‚die Anderen‘, ‚die Fremden‘ konstruierten.“ (Hess, 2011, S. 48; Hervorh. M.L.). Die Karte ist prädestiniert für eine geopolitische Beschreibung von Migration, die den Akt der Grenzüberschreitung fokussiert und die Verbindung von Bevölkerung und Territorium zu stabilisieren sucht. Die Figur des Pfeils zur Symbolisierung von Migrationen reiterarisiert die herkunfts- und zielgebenden Containerräume. Die Darstellung der Karte ist dabei Produkt und Produzent einer modernen Vorstellung von Gesellschaft: „Gesellschaft wird als essenziell und immer schon national und kulturell homogen vorgestellt. Alle internen Fragmentierungs- und Differenzierungsprozesse sowie nach außen reichende Ausfransungsprozesse gelten in diesem Blickregime als Abweichung und als Gefährdung des gesellschaftlichen Zusammenhalts. Die Containergesellschaft wird somit als stabil und statisch imaginiert und dies als Grundvoraussetzung für ein friedliches Zusammenleben mythologisiert.“ (ebd., S. 48)
Die etwa in Bezug auf die „Ausländerviertel“ kenntlich gewordene räumliche Konzeption des Gesellschaftlichen speist sich aus dem kartographischen Potential Eindeutigkeiten und Platzierungen zu schaffen. Die hohe Überzeugungskraft entsprechender Deutungen resultiert aus der „Glaubwürdigkeit der geographischen Referenz, an die sie Informationen und Bedeutungen binden“ und der (potentiellen) sinnlich-körperlichen Erfahrbarkeit (vgl. Gryl, 2016, S. 10).
5. REFLEXION VON KARTEN DER MIGRATION Neben dem Informationsangebot der behandelten Karten bieten diese für den (Geographie-) Unterricht auch die Möglichkeit, kartographische Logiken, Funktionen und Konventionen kritisch zu behandeln. Raum und Migration erscheinen als eindeutige Objekte, die in Karten abgebildet werden (können). Mit einer Reflexiven Kartenarbeit (vgl. Gryl, 2016) können Medium und Gegenstand wechselseitig befragt werden. „Eine reflexive Kartenarbeit beinhaltet […] das Hinterfragen eigener und fremder Karten, das Hinterfragen des eigenen Denkens und Handelns mit Karten und des kartengestützten Denkens und Handelns anderer. Dieses Hinterfragen besteht vor allem in einem Perspektivwechsel, bei dem eine begrenzte Perspektive verlassen und um mindestens eine weitere ergänzt wird.“ (Gryl, 2016, S. 8)
Anhand der Frage, wie bestimmte Räume (bspw. „Ausländerviertel“) konstruiert werden, lassen sich auch alternative Deutungen und Entwürfe diskutieren. Ferner
11 Vgl. auch die Karten, in denen das „natürliche Bevölkerungssaldo“ oder die „natürliche Bevölkerungsveränderung“ (bspw. Diercke, 2015, S. 276; Hervorh. M.L.) dezidiert ohne Migrationen gefasst wird.
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können Countermaps herangezogen werden, die Gegenentwürfe zu hegemonialen kartographischen Darstellungen und Interpretationen vorschlagen und die Kritik an Migrationskarten praktisch machen (vgl. für Beispiele Casas-Cortes & Cobarrubias, 2010; Labor K3000 & Spillmann, 2010). Eine Herausforderung stellt der Entwurf eigener Karten dar, insbesondere solcher, die Formen transnationaler Lebensführung und Räumlichkeit beschreiben und variierende Zugehörigkeiten jenseits eines Containermodells und jenseits von Nationalstaatlichkeit aufgreifen. Mit diesen kann – ebenso wie mit einer kritischen Lesart der Atlaskarten – die (kartographische) Norm von Sesshaftigkeit und damit die Gegenüberstellung von MigrantInnen und Nicht-MigrantInnen überdacht und die Auswahl an Migrationsnarrativen sowie die Definitionen des Eigenen und des Fremden hinterfragt werden.
LITERATUR Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration (Hrsg.) (2015). Schulbuchstudie Migration und Integration. Verfügbar unter: www.bundesregierung.de/ Content/Infomaterial/BPA/IB/Schulbuchstudie_Migration_und_Integration_09_03_2015.pdf? __blob=publicationFile&v=7 [10.04.2017]. Casas-Cortes, M. & Cobarrubias, S. (2010). Drawing Escape Tunnels through Borders. In L. Mogel & A. Bhagat (Hrsg.), An Atlas of Radical Cartography (S. 51–67). Los Angeles: Journal of Aesthetics & Protest Press. Espenhorst, J. & Kümpel, J. (1999). Diercke – ein Atlas für Generationen: Hintergründe, Geschichte und bibliographische Daten bis 1955. Schwerte: Pangaea. Gryl, I. (2016). Reflexive Kartenarbeit – eine Einleitung und Gebrauchsanregung zu diesem Band. In I. Gryl (Hrsg.), Diercke – Reflexive Kartenarbeit: Methoden und Aufgaben (S. 5–24). Braunschweig: Westermann. Harley, J. B. (2001). Deconstructing the Map [1989]. In P. Laxton (Hrsg.), J.B. Harley – The New Nature of Maps: Essays in the History of Cartography (S. 149–168). Baltimore/London: The Johns Hopkins University Press. Herb, G. H. (1997). Under the map of Germany: Nationalism and Propaganda 1918–1945. London/New York: Routledge. Hess, S. (2011). Welcome to the Container – Zur wissenschaftlichen Konstruktion der Einwanderung als Problem. In S. Friedrich (Hrsg.), Rassismus in der Leistungsgesellschaft: Analysen und kritische Perspektiven zu den rassistischen Normalisierungsprozessen der ‚Sarrazindebatte‘ (S. 40–58). Münster: Edition Assemblage. Kötter, H. (1989). Der Schulatlas – ein Produkt seiner Zeit. Kartographische Nachrichten, 39 (3), 81–89. Labor K3000 & Spillmann, P. (2010). Der kartographische Blick versus Strategien des Mapping. In S. Hess & B. Kasparek (Hrsg.), Grenzregime: Diskurse, Praktiken, Institutionen in Europa (S. 281–287). Berlin/Hamburg: Assoziation A. Lotz, C. & Weger, T. (2015). Karten. In S. Scholz, M. Röger & B. Niven (Hrsg.), Die Erinnerung an Flucht und Vertreibung: Ein Handbuch der Medien und Praktiken (S. 234–249). Paderborn: Schöningh. Markom, C. & Weinhäupl, H. (2014). Migration als „Problem“ in Schulbüchern und anderen Medien. GW-Unterricht, 136 (4), 39–46. Renz, M. (2014). Kartierte Kolonialgeschichte. Der Kolonialismus in raumbezogenen Medien historischen Lernens – ein Vergleich aktueller europäischer Geschichtsatlanten. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
Migration im Schulatlas
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Verwendete Atlanten: (1883). Schul-Atlas über alle Theile der Erde – zum Geographischen Unterricht in höheren Lehranstalten. Bearb. und hrsg. von C. Diercke & E. Gaebler. Braunschweig: Westermann. (1895). Diercke-Schulatlas für höhere Lehranstalten. Bearb. und hrsg. von C. Diercke & E. Gaebler, 31., vollst. umgearb. und verm. Aufl. Braunschweig: Westermann. (1911). Diercke-Schulatlas für höhere Lehranstalten. Bearb. und hrsg. von C. Diercke & E. Gaebler, 48., neu bearb. Aufl. Braunschweig: Westermann. (1932). Diercke-Schulatlas für höhere Lehranstalten. Bearb. von C. Diercke, Große Ausg., 73. Aufl. Braunschweig: Westermann. (1938). Diercke-Schulatlas für höhere Lehranstalten. Bearb. von C. Diercke, 78. Aufl. Braunschweig: Westermann. (1950). Diercke-Weltatlas. 83. Aufl. Braunschweig: Westermann. (1957). Diercke-Weltatlas. 89. Aufl. (1. Aufl. d. Neubearb.). Braunschweig: Westermann. (1974). Diercke-Weltatlas. Bearb. von F. Mayer, 185. Aufl. (1. Aufl. d. Neubearb.). Braunschweig: Westermann. (1988). Diercke-Weltatlas. Bearb. von J. Burgermeister & T. Toppel, 1. Aufl. d. Neubearb. Braunschweig: Westermann. (2002). Diercke-Weltatlas. Bearb. von T. Michael & W. Kammler, 5., aktualisierte Aufl. Braunschweig: Westermann. (2008). Diercke-Weltatlas. Bearb. von T. Michael & W. Gehring, 1. Aufl. Braunschweig: Westermann. (2015). Diercke-Weltatlas. Bearb. von T. Michael, 1. Aufl. Braunschweig: Westermann.
MIGRATION(EN) IM SCHULBUCH: DOMINANTE ERZÄHLUNGEN, SELEKTIVE (RE)PRÄSENTATION & BLINDE FLECKEN Christiane Hintermann
1. EINLEITUNG Migrationsbedingte Diversität ist in vielen europäischen Schulklassen während der letzten Jahrzehnte Normalität und Selbstverständlichkeit geworden. Statistische Daten belegen dies z.B. für Österreich, auf das sich die empirischen Daten dieses Beitrages hauptsächlich beziehen. Die Situation ist jedoch mit vielen Regionen in Deutschland vergleichbar (vgl. Autorengruppe Bildungsberichterstattung, 2016). In österreichischen Schulen spricht laut Daten der Statistik Austria für das Schuljahr 2015/16 jedeR fünfte SchülerIn im Alltag (auch) eine andere Sprache als Deutsch. In Wien ist rund die Hälfte aller SchülerInnen mehrsprachig (vgl. Statistik Austria). Im Pflichtschulbereich trifft dies in Wien für zwei Drittel aller Schulpflichtigen zu, in den Allgemeinbildenden Höheren Schulen liegt der Anteil der SchülerInnen mit nicht-deutscher Umgangssprache in Wien bei 38%, der Durchschnitt für Österreich liegt bei fast 20% (vgl. ebd.). Die Frage, ob diese „Normalität“ auch Eingang in Schulbücher gefunden hat, steht im Zentrum des Beitrages. Welche Narrative werden im Hinblick auf Migrationsgeschichte tradiert, welche Migrationsgeschichten stehen bei den Erzählungen im Vordergrund, welche werden marginalisiert bzw. „vergessen“? Wie werden MigrantInnen und Menschen mit familiären Migrationsbiographien in Schulbüchern dargestellt? Letztlich wird mit der Analyse auch der Frage nachgegangen, ob sich SchülerInnen, die selbst oder deren Familien zugewandert sind, in ihren eigenen Schulbüchern wiederfinden, oder ob (auch) in diesen Unterrichtsmedien soziale Exklusion stattfindet und befördert wird.
2. ZUR RELEVANZ VON SCHULBÜCHERN Schulbücher können als eine mögliche Manifestation des kulturellen Gedächtnisses (vgl. Assmann, 1992) einer Gesellschaft interpretiert werden. Es umgibt sie eine Aura wissenschaftlicher Objektivität und die Vorstellung, dass sie jenen Wissenskanon vermitteln, der state of the art ist und all das enthält, was SchülerInnen wissen müssen. In Österreich, aber auch in den meisten deutschen Bundesländern, unterliegen Schulbücher einem Zulassungsverfahren (vgl. Stöber, 2010, S. 5ff.). Vor
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diesem Hintergrund können Schulbuchinhalte auch als staatlich sanktioniertes und sozial akzeptiertes Wissen gelesen werden oder, mit Höhnes Worten, als „hegemoniales Repräsentationswissen“ verstanden werden (vgl. ebd., S. 3). Lehrpläne und Approbationsverfahren legen damit den gesetzlichen Rahmen fest, an dem sich SchulbuchautorInnen und Verlage orientieren müssen. Welche Inhalte tatsächlich aufgenommen und wie diese dargestellt werden, ist das Resultat von Ein- und Ausschlussprozessen, die letztlich stark durch fachlich-inhaltliche Schwerpunkte, persönliche Interessen und Werthaltungen, didaktisch-methodische Kompetenzen und vom aktuellen Wissensstand der SchulbuchautorInnen beeinflusst werden. Zusammenfassend verstehe ich Schulbücher nach Markom/Weinhäupl „als relevante und prägende Dokumente sozialen, politischen und gesellschaftlichen Denkens zu einer bestimmten Zeit“ (2007, S. 4), die gesellschaftliche Normen abbilden und weiter tradieren sowie die Selbst- und Fremdbilder von Individuen und sozialen Gruppen beeinflussen können (vgl. ebd.). Klar ist, dass eine Analyse von Schulbüchern keine Aussage darüber treffen kann, wie diese im Unterricht tatsächlich verwendet werden, also z.B. wie kritisch oder unreflektiert sie eingesetzt werden. Schulbücher sind nur ein Medium, das im Unterricht Verwendung findet. Andere Medien, von klassischen Printmedien über Filme, online verfügbaren Unterrichtsmaterialien bis zu sozialen Medien sind als Informationsquellen, Unterrichtsressourcen sowie als Deutungsschablonen und Grundlagen für Identitätskonstruktionen nicht zu vernachlässigen. Eine besondere Stellung nehmen Schulbücher in den allermeisten Ländern jedoch nach wie vor als Unterrichtsmedium ein (vgl. Lässig, 2009, S. 9). Wie sehr LehrerInnen sich sowohl zur Unterrichtsvorbereitung als auch im Unterricht selbst nach wie vor auf Schulbücher stützten und verlassen, zeigen Ergebnisse einer eigenen Erhebung, die im Rahmen des Projektes Migration(en) im Schulbuch: Eine kritische Analyse von SchülerInnen, LehrerInnen und WissenschaftlerInnen im Schuljahr 2011/2012 unter österreichischen LehrerInnen aller Schulstufen und Schultypen durchgeführt wurde (vgl. Hintermann et al., 2013). Rund 2.300 Lehrkräfte haben an der mittels eines Online-Fragebogens durchgeführten Erhebung teilgenommen. Neben Fragen zur Thematisierung von Migration in Schulbüchern wurde vor allem die Verwendung von Schulbüchern durch die Lehrkräfte abgefragt. Dabei manifestiert sich die große Bedeutung, die Schulbücher für Lehrende besitzen. Rund neun von zehn Befragten geben an, dass sie zur Vorbereitung des Unterrichts immer oder oft auf Schulbücher zurückgreifen, jedeR Achte verwendet Schulbücher immer oder oft auch während des Unterrichts selbst. Generell kann aus den Erhebungsergebnissen geschlossen werden, dass Lehrkräfte Schulbüchern relativ unkritisch gegenüberstehen. Mehr als 90 % der Befragten gehen prinzipiell davon aus, dass Schulbuchinhalte dem aktuellen wissenschaftlichen Stand entsprechen. Nur sieben Prozent stimmen dieser Aussage entweder prinzipiell nicht zu bzw. geben an, dass sie häufig Ungenauigkeiten und Fehler in Schulbüchern entdecken. Das Schulbuch steht als Medium nicht für sich, sondern mit anderen sozialen Medien in einem Zusammenhang, es ist „ein Medium in einer Kette von Medien“ (vgl. Höhne, 2003, S. 14). Schulbuchwissen ist, so Höhne weiter, intermedial, baut auf dem Wissen anderer Medien auf, ist mit diesem auf spezifische Art und Weise
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verknüpft (vgl. ebd.). Schulbuchwissen ist darüber hinaus interdiskursiv insofern, als Diskurse in Schulbüchern nicht losgelöst von Diskursen und Narrativen in anderen gesellschaftlichen Teilbereichen gesehen werden können, sei es im akademisch-wissenschaftlichen oder politischen Bereich (vgl. Klerides, 2010, S. 34). Das Schulbuch ist also kein rein pädagogisches Medium, sondern auch ein zeithistorisches Dokument.
3. METHODISCHES VORGEHEN UND STICHPROBE Die im Folgenden präsentierten ausgewählten Ergebnisse beruhen auf zwei Forschungsprojekten, die im Laufe der letzten zehn Jahre durchgeführt wurden. Zum einen wurden österreichische Schulbücher der Unterrichtsfächer Geographie und Wirtschaftskunde (GW) sowie Geschichte und Sozialkunde/Politische Bildung (GS) für die Sekundarstufe II analysiert, die zwischen 1970 und 2009 publiziert worden sind. Die Auswahl der Bücher erfolgte auf Basis der österreichischen Schulbuchliste.1 In die Untersuchung aufgenommen wurden jene zwei bzw. drei Bücher, die in ausgewählten Schuljahren am häufigsten verwendet wurden.2 Im Rahmen des zweiten Projektes Migration(en) im Schulbuch: Eine kritische Analyse von SchülerInnen, LehrerInnen und WissenschaftlerInnen3 wurden zwischen 2011 und 2013 unter Beteiligung von insgesamt 177 SchülerInnen aus acht Klassen und acht Lehrkräften jene Schulbücher untersucht, die von den am Projekt beteiligten Schulklassen im Schuljahr 2011/12 verwendet wurden. In insgesamt 24 Workshops wurden die SchülerInnen dabei selbst zu Forschenden, die in Kleingruppen Textund Bildanalysen durchgeführt haben. Ein Ziel der Workshops bestand darin, eine kritische Haltung gegenüber den eigenen Unterrichtsmaterialien zu entwickeln. Dabei handelte es sich sowohl um Schulbücher für die Sekundarstufe I als auch für die Sekundarstufe II. In diesem Fall wurden nicht nur Bücher der Fächer Geographie und Wirtschaftskunde sowie Geschichte und Sozialkunde/Politische Bildung untersucht, in deren Lehrplänen Bildungsaufgaben und Lernziele zum Themenfeld Migration explizit genannt werden. Der Analyserahmen wurde für eine Globalauswertung (vgl. Legewie, 1994) auch auf Schulbücher vieler Fächer ausgedehnt, bei denen der inhaltliche Zusammenhang nicht so offensichtlich erscheint bzw. die in bisherigen Studien kaum diesbezüglich untersucht wurden, wie beispielsweise 1
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Diese wird seit Beginn der 1970er Jahre für jedes Schuljahr neu herausgegeben und umfasst all jene Bücher, die ein Approbationsverfahren durchlaufen haben und SchülerInnen in Österreich unentgeltlich zur Verfügung stehen. Die diesbezüglichen Informationen wurden der Autorin dankenswerter Weise von der Abteilung Schulbuch im damaligen Bundesministerium für Unterricht, Kunst und Kultur zur Verfügung gestellt. Das Projekt (www.migrationen-im-schulbuch.at) wurde vom damaligen österreichischen Bundesministerium für Wissenschaft, Forschung und Wirtschaft (BMWFW) im Rahmen der Programmschiene Sparkling Science gefördert (www.sparklingscience.at/). Im Rahmen des Programmes werden Forschungsprojekte gefördert, in denen Schülerinnen und Schüler aller Schulstufen aktiv als Forschende in den Forschungsprozess einbezogen werden.
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Mathematikbücher oder Sprachbücher. Auch in diesen Lehrwerken sind Repräsentationen des „Anderen“ enthalten und es werden Normvorstellungen von Österreich, Europa und „der Welt“ vermittelt und geprägt. Auch hier werden implizit oder explizit bestimmte Geschichten über Migration(en) erzählt oder verschwiegen und damit bestimmte gesellschaftliche Bilder (re)konstruiert. Für die Feinanalyse wurden wiederum GW und GS Bücher in den Fokus genommen. Insgesamt umfasst das Sample fast 100 Schulbücher, von denen 68 Bücher der Unterrichtsfächer Geographie und Wirtschaftskunde sowie Geschichte und Sozialkunde/Politische Bildung mittels qualitativer (und teilweise auch quantitativer) Inhaltsanalyse nach Mayring (2007) untersucht wurden. Zusätzlich wurden exemplarisch besonders dichte Textstellen aus diesen Werken einer weiteren Feinanalyse unterzogen, z.B. im Hinblick auf sprachlich-rhetorische Mittel und die Verwendung von Kollektivsymbolen. Dieser Analyseschritt orientierte sich an der kritischen Diskursanalyse nach Siegfried Jäger (2001) und hatte zum Ziel, Sinngehalt und Intentionen von Texten noch genauer erfassen zu können. Ausgehend von der Interpretation von Schulbuchwissen als intermediales und interdiskursives Wissen wurden die Texte und bildlichen Darstellungen auch als „Diskursfragmente“ (Jäger, 2001, S. 160) analysiert, als Teil des österreichischen Migrationsdiskurses, um herauszufiltern, welche Referenzpunkte SchulbuchautorInnen wählen und welche Argumentationslinien verfolgt werden. Schwerpunktmäßig werden in diesem Beitrag die Ergebnisse für die GW Schulbücher diskutiert.
4. REPRÄSENTATIONEN VON MIGRATION(EN) IM SCHULBUCH – AUSGEWÄHLTE ERGEBNISSE Generell kann festgehalten werden, dass der Themenbereich Migration in österreichischen Schulbüchern angekommen ist. Abhängig von den Lehrplaninhalten der jeweiligen Schulstufen und differenziert nach Schulbuchreihen wird das Thema in unterschiedlichem Ausmaß und unterschiedlicher Qualität in beiden Unterrichtsfächern bearbeitet. Zwischen den Fächern bestehen jedoch nicht nur erwartbare Unterschiede im Hinblick auf die inhaltliche Schwerpunktsetzung, sondern auch in Bezug auf die Entwicklung und den Umfang. Während Geographie- und Wirtschaftskunde-Schulbücher bereits in den 1970er Jahren erste, wenn auch sporadische Hinweise auf nationale, europäische und globale Migrationsereignisse beinhalteten und in den 1980er Jahre erste eigene „Migrationsseiten“ inkludierten, z.B. über sogenannte „Gastarbeiterprobleme in Europa“ (Ebner & Hauser, 1985, S. 157f.), spielen Migrationsprozesse der jüngeren Zeitgeschichte in Büchern des Unterrichtsfaches Geschichte und Sozialkunde/Politische Bildung bis in die 1990er Jahre keine Rolle (vgl. Hintermann, 2010a, S. 64f.). Lehrplanänderungen haben dazu beigetragen, dass die Integration des Themenbereichs seit den 1990er Jahren und vor allem in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren deutlich zugenommen hat. Wurde Migration in älteren Schulbüchern z.B. beim großen Thema Bevölkerungsentwicklung mitbehandelt, gibt es heute durchwegs eigene „Migrationskapitel“. Mit der Lehrplanänderung 2004 wurde Migration explizit und an verschiedenen Stellen
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im Lehrplan für Geographie und Wirtschaftskunde für die Sekundarstufe II der Allgemeinbildenden höheren Schulen (AHS) festgeschrieben. Als Lernziel wird für die 9. und 10. Schulstufe dort z.B. definiert: „Erkennen, dass sich Europa zum Einwanderungskontinent entwickelt hat“ (BGBL. II Nr. 277/2004, S. 41). In der 11. Schulstufe sollen u.a. „die gesellschaftspolitischen Herausforderungen einer alternden und multikulturellen Gesellschaft erfass[t]“ werden können (ebd., S. 42). Seit dem Schuljahr 2017/18 gültigen Lehrplan für die AHS-Oberstufe wird diese Verankerung weiter fortgesetzt (vgl. BGBL. II Nr. 219/2016, S. 59-67) und als Lernziel u.a. formuliert: „Auswirkungen gesellschaftlicher Inklusions- und Exklusionsprozesse auf die Lebenssituationen ausgewählter Bevölkerungsgruppen bewerten“ können (vgl. ebd., S. 66).
4.1 Dominante Diskurse Charakteristisch für den öffentlichen Umgang mit dem Thema Migration und Flucht ist die Dominanz bestimmter Diskurse, die die Alltagsrealitäten in der Einwanderungsgesellschaft nur sehr eingeschränkt aufzeigen (vgl. z.B. Yildiz, 2006). Häufig werden Migrationen an sich und deren Konsequenzen einseitig als gesellschaftliches Problem dargestellt. Eng damit verbunden ist die Erzählung von Migration als Belastung und als Gefahr. Mit dem Bild der Belastung werden in manchen Medien und in der politischen Debatte Grenzen der „Aufnahmefähigkeit“ von Migrierenden und Geflüchteten konstruiert, wie zuletzt im Zusammenhang mit der Aufnahme von Geflüchteten aus Syrien seit dem Sommer 2015. Zum anderen werden Gefahren beschworen, die Migration quasi zwangsläufig mit sich brächte, wie Ghettobildungen, Zunahme terroristischer Aktivitäten, etc. (vgl. Wengeler, 2006, S. 19f.). Eine zweite dominante gesellschaftliche Erzählung ist der Kosten-NutzenDiskurs, dieser betont den volks- und betriebswirtschaftlichen Nutzen von Immigration und MigrantInnen sowie deren Bedeutung für die Sicherung der Sozialsysteme in den geburtenschwachen europäischen Gesellschaften. Diese sehr reduzierten und dominanten Darstellungsweisen des Themenbereiches lassen sich auch in österreichischen und deutschen Geographie- (und Wirtschaftskunde) Schulbüchern der letzten Jahrzehnte (vgl. Höhne et al., 2005; Hintermann, 2010) bis in aktuelle Ausgaben hinein nachweisen. In der 2015 von der Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration herausgegebenen Schulbuchstudie Migration und Integration wird der Forschungsstand für Deutschland dahingehend zusammengefasst, dass der Themenkomplex Migration in deutschen Schulbüchern „nur ungenügend“ abgebildet sei und „keine differenzierte Auseinandersetzung mit dem Thema“ erlaube (vgl. Beauftragte für Migration, Flüchtlinge und Integration, 2015, S. 15). Auch wird darauf hingewiesen, dass die Darstellungen in den Schulbüchern nicht dem aktuellen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse in den jeweiligen Fachdisziplinen entsprächen und Migration „als scheinbar signifikantere Differenz im Vergleich zu anderen Dimensionen von Verschiedenheit“ besprochen
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wird (vgl. ebd.). Damit geht häufig eine Abgrenzung von einer als homogen imaginierten „eigenen“ Kultur von vermeintlich homogenen „fremden“ Kulturen einher (vgl. ebd.; Hoogen, 2016). Die Konnotierung des Themenbereiches Migration/Integration/Diversität als „Problem“ und die Konstruktion von MigrantInnen generell sowie ausländischen Arbeitskräften, AsylbewerberInnen und Flüchtlingen im Speziellen als „Problemgruppen“, die auf der einen Seite mit schwierigen Situationen konfrontiert sind und auf der anderen Seite Zielgesellschaften vor große Herausforderungen stellen, geht zurück bis in die 1970er Jahre. Verändert hat sich im Laufe der letzten 40 bis 45 Jahre, welche Ausprägungen von Migration und welche MigrantInnengruppen als „problematisch“ repräsentiert werden. In den österreichischen GW-Schulbüchern der 1970er und 1980er Jahre bezog sich der Problemdiskurs vor allem auf die Gruppe der so genannten GastarbeiterInnen, also jene Personen, die in Deutschland ab den 1950er und 1960er Jahren und in Österreich ab den 1960er Jahren auf der Basis bilateraler Abkommen als Arbeitskräfte angeworben wurden. Stellvertretend dafür steht die Kapitelüberschrift „Gastarbeiterprobleme in Europa“ (vgl. Ebner & Hauser, 1985, S. 157) oder die Formulierung einer Arbeitsaufgabe „Besprechen Sie Herkunft und Probleme der Gastarbeiter in Österreich“ (vgl. Floßmann et al., 1989, S. 49). Seit den 1990er Jahren bis heute sind es vor allem Flüchtlinge, Asyl(be)werberInnen und undokumentierte Migration, die als Belastung und problembehaftet abgebildet werden, wie anhand der folgenden beispielhaften Zitate geschlossen werden kann: „Zum wirtschaftlich tragenden Problem werden für die Einreiseländer die illegal Zugewanderten aufgrund von illegalen Beschäftigungsverhältnissen, die in Konkurrenz zum geregelten Arbeitsmarkt stehen“ (Hitz et al., 2010, S. 99). „Es steht außer Frage, dass die Aufnahme von Flüchtlingen für Österreich eine finanzielle Belastung darstellt und Probleme im Schul- und Gesundheitssektor sowie am Arbeitsmarkt bringt“ (Malcik & Sitte, 2013, S. 38).
Besonders kritisch an diesen und ähnlichen Darstellungen sowie der expliziten Wortwahl erscheint die Simplifizierung von komplexen gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen, deren eindeutige Beurteilung und die Konstruktion von einfachen, scheinbar logischen Kausalketten, wie in folgenden Beispielen: „Migration und Einwanderung führen zwangsläufig zu einem oftmals sehr schwierigen Prozess – dem der Integration“ (Hofmann, 2007, S. 245). „Die unbekannte Anzahl der illegalen Arbeitskräfte aktiviert Ängste bei der Bevölkerung und stellt in wirtschaftlich schwierigeren Zeiten das Prinzip der Toleranz auf eine harte Probe. Das ist auch der Grund für die laufende Verschärfung des Aufenthaltsgesetzes“ (Wohlschlägl et al., 2015, S. 47).
Weder werden empirische Belege oder wissenschaftliche Erkenntnisse zitiert, noch werden unterschiedliche gesellschaftliche Positionen und Sichtweisen zur Diskussion gestellt. Mehrperspektivität als zentrales didaktisches Prinzip im Geographieunterricht, das Sichtbarmachen unterschiedlicher Perspektiven auf eine Wirklichkeit, aber auch das Kontroversitätsgebot der politischen Bildung, bleiben außen vor.
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Stattdessen werden kontroverse Punkte „außer Frage“ gestellt oder Verschärfungen in entsprechenden Gesetzen als (einzig) logische Reaktion auf undokumentierte Migration nahegelegt. Nicht gefragt wird z.B. danach, welchen Beitrag die bestehende Gesetzeslage zur Konstruktion und Produktion undokumentierter Migration leistet (vgl. dazu auch Hoogen, 2016). In den Workshops mit SchülerInnen der Sekundarstufe I und Sekundarstufe II wurde klar, dass auch unter ihnen eine problembehaftete Wahrnehmung des Themenbereiches Migration und kulturelle Diversität vorherrscht. Dies zeigte sich sowohl bei ersten Assoziationen zum Begriff „Migration“ als auch in Kleingruppendiskussionen im Rahmen eines Stationenbetriebs, die aufgezeichnet, transkribiert und ausgewertet wurden. Besonders problematisiert wurde von den Schülerinnen und Schülern z.B. Multilingualität als Folge von Zuwanderung. Österreich wurde von den meisten SchülerInnen als rein deutschsprachiges Land gesehen und (auch entsprechend dem hegemonialen öffentlichen Diskurs) Deutschkenntnisse wurden als unabdingbare Voraussetzung für den Integrationsprozess eingeschätzt (vgl. Hintermann et al., 2014, S. 88ff.). Migration wird in Schulbüchern stark aus einer ökonomischen Perspektive betrachtet. Dies betrifft sowohl den Aspekt der Motive für eine Migrationsentscheidung als auch die Konsequenzen von Zuwanderung für die Zielgesellschaften, wie die Auswirkungen von Zuwanderung auf den Arbeitsmarkt. Positive Migrationsentscheidungen werden hauptsächlich mit wirtschaftlichen Motiven erklärt: Armut, schlechte Arbeitsmarktsituation und niedrige Verdienstmöglichkeiten stehen im Vordergrund. Auf theoretischer Ebene werden damit vor allem einfache Push-PullModelle zur Erklärung von Migration angesprochen, was u.a. zur Folge hat, dass strukturelle Ursachen für Wanderungen vernachlässigt werden. Kaum beachtet werden Migrationsmotive, die nicht rein ökonomisch erklärt oder in den Kontext von Flucht und Vertreibung eingeordnet werden können, wie z.B. familiäre Motive, Bildung oder einfach Neugierde. Damit verbunden ist eine Repräsentation von MigrantInnen als „passiv Betroffene“ (Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration, 2015, S. 63), die auf schwierige Lebenssituationen reagieren. Migration wird als Ausweg beschriebenen und nicht auch als aktive, selbstbestimmte Entscheidung. Auch dann, wenn Vorteile und positive Aspekte von Migration für Österreich oder Europa genannt werden, steht der ökonomische Aspekt im Vordergrund, insofern als dass Kosten-Nutzen-Argumente gegeneinander abgewogen werden. Dieser „Nützlichkeitsdiskurs“ bezieht sich zum einen auf die demographische Entwicklung, wenn Zuwanderung als mögliche Lösung für eine drohende „Überalterung“ der Bevölkerung thematisiert wird. Zum anderen werden positive Auswirkungen von Migration auf „die Wirtschaft“ betont, vor allem in Hinblick auf die Nachfrage nach migrantischen Arbeitskräften, sowohl im Niedriglohnbereich als auch in Bezug auf die Zuwanderung von Hochqualifizierten. In einzelnen Büchern wird im wirtschaftlichen Kontext auch auf die Bedeutung von Unternehmensgründung durch MigrantInnen hingewiesen. Durch diese positive Konnotation von Zuwanderung wird zwar der einseitige Problemdiskurs zumindest teilweise durchbrochen, dennoch muss auch der „Nützlichkeitsdiskurs“
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kritisch diskutiert werden. Unter anderem wird dadurch die Tendenz verstärkt, Migration überspitzt formuliert, als „ungeliebte Notwendigkeit“ (Gutschner & Rohr, 2010, S. 156) festzuschreiben, die zwar zu Problemen führt, die sich aber (leider) nicht vermeiden lässt. Darüber hinaus kann die einseitige Betonung des wirtschaftlichen Nutzens dazu führen, dass es zur Abgrenzung unterschiedlicher „Typen“ von MigrantInnen kommt: Jenen mobilen, migrantischen Arbeitskräften, die am Arbeitsmarkt nachgefragt werden auf der einen Seite und jenen Menschen, die aus Furcht vor Verfolgung oder einem Leben ohne Perspektiven ihre Herkunftsregion verlassen (müssen) und deren mitgebrachte Qualifikationen nicht unmittelbar in Wert gesetzt werden können auf der anderen Seite (vgl. dazu auch Lozic, 2010). Die ökonomische Perspektive ist in Geographie- und Wirtschaftskundebüchern nochmals stärker vertreten als in den Schulbüchern des Unterrichtsfaches Geschichte und Sozialkunde/Politische Bildung, da je nach Fächern unterschiedliche Migrationsereignisse stärker betont werden. Stark vereinfacht kann gesagt werden, dass Erstere einen größeren Fokus auf Arbeitsmigration legen, während Letztere häufiger Flucht und Vertreibung thematisieren.
4.2 Leerstellen und blinde Flecken Die selektive Konzentration auf wenige Themen und Diskurse sowie die einseitige Darstellung bedeutet gleichzeitig, dass andere relevante Inhalte und Perspektiven im thematischen Kontext gar nicht oder nur am Rande repräsentiert sind. Einige dieser Leerstellen und blinde Flecken werden im Folgenden angesprochen. Tendenziell unterbewertet bleibt in den analysierten Schulbüchern die lange und kontinuierliche Geschichte von Österreich als Auswanderungsland. Nur in wenigen Geschichtsbüchern wird ausführlicher auf die Auswanderung aus der Habsburgermonarchie in die USA eingegangen. Nahezu vollständig ausgeblendet bleibt die Arbeitsmigration von ÖsterreicherInnen ab den 1950er Jahren in die Schweiz, nach Deutschland oder auch nach Großbritannien. Diese Auswanderung war einer der Gründe für den Arbeitskräftemangel in Österreich, der in den 1960er Jahren zur Anwerbung von ausländischen Arbeitskräften in der Türkei und im früheren Jugoslawien geführt hat. Auf die aktuelle Situation wird in einigen wenigen Büchern Bezug genommen, zudem werden Schülerinnen und Schüler in manchen Arbeitsaufgaben angeregt, darüber nachzudenken, ob und unter welchen Bedingungen sie sich selbst eine kurz- oder längerfristige Verlagerung ihres Lebensmittelpunktes ins Ausland vorstellen könnten. Damit wird ein wichtiger Perspektivenwechsel initiiert, indem Migration auch als mögliche Option für das eigene Leben vorstellbar wird. Generell vernachlässigt wird die Interpretation von Migration als Form räumlicher Mobilität, die charakteristisch ist für moderne Gesellschaften und nicht nur als einmaliger Ein- bzw. Auswanderungsprozess zu verstehen ist, sondern sich in vielen möglichen Formen äußert. In den untersuchten Schulbüchern dominiert ein statisches Bild von Migration. Es gibt einen klaren Richtungspfeil von Herkunftsgesellschaft in die Zielgesellschaft. Remigration oder Weiterwanderungen werden
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ebenso selten thematisiert wie unterschiedliche Formen von Pendelmigrationen oder Transmigrationen. Ein besonders markantes Beispiel im österreichischen Kontext ist die Darstellung der Flucht ungarischer StaatsbürgerInnen nach Österreich 1956, wie folgendes Zitat verdeutlicht: „Die erste große Flüchtlingswelle fand in den 1950er Jahren statt, als über 180.000 Ungarn nach Österreich flüchteten. In dieser Zeit des Kalten Krieges wurden die Flüchtlinge ohne große Vorbehalte aufgenommen“ (Gutschner & Rohr, 2010, S. 149).
Hier wird Österreich eindeutig als Aufnahmeland der ungarischen Flüchtlinge beschrieben, ohne darauf hinzuweisen, dass Österreich für den Großteil der Geflüchteten nicht Zielland, sondern Transitland war. Nur rund zehn Prozent der rund 180.000 Flüchtlinge haben sich tatsächlich in Österreich niedergelassen. Unzureichend ausdifferenziert sind – wie bereits kurz angesprochen – die unterschiedlichen Motive, die zu einer positiven Migrationsentscheidung führen können. In den allermeisten Fällen bleiben diese auf ökonomische Faktoren (Armut, Arbeitsplätze, Einkommensniveau) bzw. die politische Situation im Herkunftsland und individuelle Fluchtgründe beschränkt. Andere Gründe, wie z.B. Neugierde, soziale und familiäre Netzwerke, Bildungsmotivation, Liebe und Heirat, Interesse daran, an anderen Orten zu leben und zu arbeiten – also positiv konnotierte Migrationsmotive – werden marginalisiert. Kommen Modelle zur Erklärung von Migrationsursachen zur Sprache, werden hauptsächlich simplifizierende Push-Pull-Modelle herangezogen, denen wiederum ein ökonomistisches Welt- und Menschenbild zu Grunde liegt und die Verantwortung für Migrationen einseitig bei den Migrierenden verortet, ohne globale wirtschaftliche und politische Zusammenhänge zu berücksichtigen. Dem entspricht auch ein Ergebnis der Schulbuchstudie Migration und Integration in Bezug auf deutsche Schulbücher. Die AutorInnen kommen zu dem Schluss, dass Armut als Hauptursache für weltweite Migration dargestellt wird und auf „[h]istorische oder aktuelle globale Zusammenhänge wie Kolonialismus und seine Folgen oder beispielsweise wirtschaftliche Interessen, die zu der Armut und zu Kriegen in diesen Ländern geführt oder beigetragen haben“ (Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration, 2015, S. 63) nicht eingegangen wird. Ein weiterer blinder Fleck in den analysierten Schulbüchern ist der Bereich Alltagsrassismus, struktureller Rassismus sowie Diskriminierungserfahrungen von MigrantInnen und Menschen aus Familien mit Migrationserfahrung. Zwar werden teilweise auf abstrakter Ebene Vorurteile innerhalb der österreichischen Gesellschaft thematisiert, wie stark und auf wie vielen unterschiedlichen gesellschaftlichen Ebenen sich Diskriminierungen auswirken, wird jedoch kaum erwähnt; konkrete Beispiele für strukturelle Diskriminierung am Arbeitsmarkt und Wohnungsmarkt oder strukturellen Rassismus innerhalb der österreichischen Polizei fehlen weitgehend. Dies ist umso erstaunlicher, als dass sich gerade in diesem Bereich die
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lebensweltliche und handlungsorientierte Umsetzung des fächerübergreifenden Unterrichtsprinzips Politische Bildung aufdrängt.4 Wie die Workshops mit SchülerInnen im Rahmen des Projektes Migration(en) im Schulbuch gezeigt haben, besteht auch von Seiten der SchülerInnen selbst großes Interesse an diesem Themenbereich. Darauf lassen sowohl Einträge in den Reflexionstagebüchern zum Projekt schließen, als auch ein von SchülerInnen durchgeführtes Ranking jener Themen, die ihrer Einschätzung nach in Schulbüchern vorkommen sollten. In Kleingruppenund Plenumsdiskussionen wurde klar, dass den Schülerinnen und Schülern besonders wichtig ist, eigene Handlungsoptionen dafür zu entwickeln, wie sie selbst als Individuen und als Teil der Zivilgesellschaft aktiv gegen Diskriminierung und Rassismus vorgehen könnten. Besonders problematisch ist, dass Migrantinnen und Migranten in Schulbüchern nicht selbst zu Wort kommen. Diese fehlende Selbstrepräsentation lässt Migrierende hauptsächlich in passiven Rollen und als homogenes Kollektiv erscheinen und nicht als individuelle AkteurInnen ihrer eigenen Geschichte. Die Stimmen von MigrantInnen bleiben weitgehend ausgeblendet, es wird über MigrantInnen gesprochen, dass diese selbst zu Wort kommen, geschieht kaum. In seltenen Fällen werden z.B. Interviewausschnitte mit MigrantInnen aus Printmedien als Materialien in die Schulbücher eingebaut (vgl. z.B. Fassmann et al., 2009, S. 78). Migration wird als Reaktion auf widrige Lebensumstände präsentiert, Migrierende implizit oder explizit als passiv Betroffene definiert. Auch in diesem Bereich lassen sich Analogien zu Untersuchungen deutscher Schulbücher herstellen. Die AutorInnen der Schulbuchstudie Migration und Integration kommen u. a. zu dem Ergebnis, dass sich zwei in Beziehung stehende Akteursperspektiven durch die analysierten Bücher ziehen: „der positiv agierende deutsche Staat auf der eine Seite und die passiv Hilfe empfangenden oder suchenden Zuwanderinnen und Zuwanderer auf der anderen Seite“ (Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration, 2015, S. 47). Die AutorInnen verweisen jedoch auch auf Beispiele aus einem nordrhein-westfälischen Schulbuch, in dem MigrantInnenorganisationen als Akteure der Integrationspolitik erwähnt werden und MigrantInnen als selbständige UnternehmerInnen dargestellt werden (vgl. ebd., S. 48). Die Inklusion derartiger Beispiele und die Repräsentation und Eröffnung vielfältiger Perspektiven auf das Thema erscheint sowohl aus fachdidaktischer als auch aus fachwissenschaftlicher Sicht und nicht zuletzt als Baustein eines politisch bildenden Geographie- und Wirtschaftskundeunterrichts dringend geboten.
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Politische Bildung ist in Österreich fächerübergreifendes Unterrichtsprinzip, das laut Grundsatzerlass des Bundesministeriums für Bildung in allen Schulstufen und Unterrichtsfächern berücksichtigt werden muss. Der aktuell gültige Grundsatzerlass wurde 2015 herausgegeben (vgl. Bundesministerium für Bildung, BMB). Verfügbar unter: https://www.bmb.gv.at/ministerium/rs/2015_12.html.
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5. CONCLUSIO Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass der Darstellung des Themenbereiches MigrationIntegration – kulturelle Diversität in Schulbüchern in Österreich und in Deutschland im Laufe der letzten vier Jahrzehnte kontinuierlich mehr Raum zugestanden wurde. Nach wie vor kann jedoch nicht davon gesprochen werden, dass sich Migration als Querschnittsthema, das es (auch) ist, etabliert hat und behandelt wird. Es ist eine zusätzliche „Geschichte“, die je nach Schulstufe und Lehrplanvorgaben auch erzählt wird. Selten wird die Gelegenheit genutzt, Migration mit anderen Inhalten und Themen zu verknüpfen, sei es im Zusammenhang mit Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt, Urbanität und Stadtentwicklung, Klimawandel, Tourismus oder Globalisierung, um nur einige zu nennen. Im Idealfall sollte Migration sowohl als Querschnittsthema als auch als Spezialthema in Lehrwerken für den Geographie- und Wirtschaftskundeunterricht Beachtung finden. Besonderes Augenmerk sollte dabei auf eine multiperspektivische Betrachtung gelegt werden sowie darauf, monokausale Erklärungsansätze für Migrationen zu vermeiden. Nach wie vor wird Migration und im Zusammenhang damit Diversität hauptsächlich als problembehaftet und konfliktbeladen dargestellt, in abgeschwächter Form zumindest als Herausforderung für die Zielgesellschaften. Positive Aspekte von Migration, Vorteile und Chancen, die eine multilinguale und kulturell diverse Gesellschaft mit sich bringt und eröffnet, werden kaum thematisiert und mit entsprechenden Beispielen veranschaulicht. Die AutorInnen der Schulbuchstudie Migration und Integration ziehen anhand der von ihnen untersuchten Lehrwerke diesbezüglich den ernüchternden Schluss, „dass sich auch in der neuen Schulbuchgeneration kaum Ansätze eines differenzierten Umgangs mit dem Thema Migration finden“ (Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Integration und Flüchtlinge, 2015, S. 67). Wenig differenziert ist auch der Umgang mit Begrifflichkeiten und sprachlichen Bildern im größeren thematischen Kontext. Nach wie vor ist die Verwendung von Naturkatastrophen-Metaphern, wie die „Flüchtlingswelle“ oder der „Migrationsstrom“ gang und gäbe. Ebenso werden auch in aktuellen Werken unhinterfragt Begriffe und Konzepte benutzt, die in der wissenschaftlichen Diskussion als problematisch gelten oder auf Grund ihres historischen Kontexts abzulehnen sind, wie z.B. „Schwarzafrika“, „Eingeborene“, „Rassenunruhen“ oder „Kulturkreis“. Um nicht missverstanden zu werden: Hier wird nicht der unreflektierten Verwendung einer wie auch immer definierten „politisch korrekten Sprache“ das Wort geredet. Es geht vielmehr um eine kritische Begriffsdiskussion gemeinsam mit Schülerinnen und Schülern, die auch in Schulbüchern angeregt werden kann, und um die Entwicklung eines sensiblen Umgangs mit Sprache (vgl. Hintermann & Pichler, 2017). Abschließend wird darauf aufmerksam gemacht, dass die deutsche Kultusministerkonferenz in ihrem aktualisierten Beschluss der „Empfehlungen zur Interkulturellen Bildung und Erziehung in der Schule“ vom Dezember 2013, die auch in den Rahmenvorgaben der Länder verankert worden sind, interkulturelle Bildung und Erziehung als Schlüsselkompetenz und Querschnittsaufgabe von Schule defi-
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niert hat (vgl. Kultusministerkonferenz, 2013). In diesem Rahmen wurden Maßnahmen festgeschrieben, die den Erwerb interkultureller Kompetenzen in der Schule unterstützen sollen. Eine dieser geforderten Maßnahmen zielt explizit auf Lehr- und Lernmaterialien ab, die im Hinblick darauf geprüft werden sollen, „ob die vielschichtige, auch herkunftsbezogene Heterogenität der Schülerinnen und Schüler berücksichtigt ist“ (vgl. ebd., S. 8). Wenn dies nicht der Fall ist, wird eine Ergänzung der Materialien angeregt. Inwiefern diese Empfehlung eine nachhaltige Veränderung in der Repräsentation des Themenbereiches nach sich ziehen wird, bleibt abzuwarten. Nachdem die Vereinbarung auch von VertreterInnen der so genannten Bildungsmedien mitunterzeichnet wurde, sind zumindest relevante AkteurInnen mit an Bord geholt worden. Eine vergleichbare ministerielle oder institutionenübergreifende Initiative fehlt in Österreich bislang.
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RASSISMUS UND RASSISMUSKRITIK IN VON STUDIERENDEN ERSTELLTEN DIDAKTISCHEN COMICS – ERGEBNISSE EINES INTERDISZIPLINÄREN PROJEKTS Alexandra Budke / Veit Maier / Frederik von Reumont
1. EINLEITUNG Deutschland ist eine Einwanderungsgesellschaft, deren friedlicher sozialer Zusammenhalt, wirtschaftliche Entwicklung und demokratische Regierungsform entscheidend davon abhängt, inwiefern es gelingt, neu Zugewanderte nachhaltig zu integrieren. Rassismus ist in dieser Gesellschaft dabei eines der Haupthindernisse, welche dazu führen können, dass MigrantInnen diskriminiert und am sozialen und wirtschaftlichen Aufstieg gehindert werden (siehe Artikel von Pott in diesem Band). Um Lehramtsstudierende für das Thema Rassismus zu sensibilisieren und um sie zu befähigen, eigenes didaktisches Material zum Thema zu erstellen, welches die SchülerInnen anspricht und mit unterschiedlichen Fassetten von Rassismus bekannt machen kann, wurde ein interdisziplinäres Seminar zum Thema „Sklaven, Sklavenhalter und der Ort der Sklaverei. Comicproduktion als handlungsorientiertes Lernen in geographischen, historischen und künstlerischen Kontexten“ an der Universität zu Köln durchgeführt. Comics eignen sich für die didaktische Umsetzung des Themas Rassismus gerade durch den authentischen Einsatz von umgangssprachlichen rassistischen Redemitteln. Das Seminar wurde gemeinsam von DidaktikerInnen der Fächer Geographie, Geschichte und Kunst geleitet. Die wissenschaftliche Begleitung wurde durch das Programm „Innovation in der Lehre“ der Universität zu Köln gefördert. Im ersten Teil des Seminars haben sich die Studierenden mit dem Thema Kolonialismus als Basis für den heutigen Rassismus sowie dessen aktuelle Ausprägungen und räumliche Dimensionen beschäftigt. Im zweiten Teil des Seminars konnten sie didaktische Comics zum Thema selbst konzipieren und künstlerisch, unter Anleitung renommierter Comic-künstlerInnen, realisieren. Diese sollten sowohl im Geographie-, Geschichts- und Kunstunterricht einsetzbar sein. Es stellt sich nun die Frage, inwiefern die Studierenden das Phänomen Rassismus in ihren Comics so darstellen konnten, dass dieses sinnvoll didaktisch reduziert und gleichzeitig in seiner Komplexität dargestellt wird. Das Ziel ist also das Verständnis der Studierenden zum Thema Rassismus zu untersuchen, das sich in den Comics ausdrückt. Die Comics wurden anhand vier zentraler Dimensionen von Rassismus analysiert, welche implizit im Theorieteil des Seminars behandelt wurden. Diese Dimensionen beschreiben aus wissenschaftlicher Sicht Rassismus und dessen gesellschaftliche Auswirkungen und werden im Kapitel 2 vorgestellt. Nach
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der Erläuterung des methodischen Vorgehens werden die Analyseerbnisse vorgestellt und abschließend diskutiert. Anhand der vier Dimensionen werden folgende Fragestellungen verfolgt: 1. Inwiefern zeigen die Comics der Studierenden Relationen zwischen Kolonialismus, aktuellen weltwirtschaftlichen Strukturen und Rassismus auf? 2. Inwieweit werden in den Comics negative Stereotypen von den Studierenden aufgegriffen und in ihrer sozialen Bedeutung für eine rassistische Gesellschaft entlarvt? 3. Wie werden die gesellschaftlichen Machtasymmetrien, welche in rassistischen Gesellschaften vorzufinden sind, von den Studierenden im Comic dargestellt? 4. Inwiefern stellen die Studierenden die räumlichen Auswirkungen von Rassismus in den Comics dar?
2. DIMENSIONEN VON RASSISMUS Hall (1989, S. 913–921) beschreibt Rassismus als Praxis bestimmte Gruppen vom Zugang zu materiellen, kulturellen oder symbolischen Gütern auszuschließen. Diese Machtausübung wurde in verschiedenen Zeiten und wird aktuell in verschiedenen Gesellschaften durch die Produktion von Bedeutung und Wissen konstituiert. Rassismus ist damit ein komplexes gesellschaftliches Phänomen, bei dessen Beschreibung vier Dimensionen unterschieden werden können, welche sowohl den Theorie- als auch den Ergebnisteil dieses Beitrages gliedern: – Die Bedeutung historischer Kolonialisierung als Basis des aktuellen Rassismus (siehe Kap. 2.1) – Negative Stereotype als Teil rassistischen Denkens (siehe Kap. 2.2) – Ungleiche Machtverteilung zwischen sozialen Gruppen (siehe Kap. 2.3) – Räumliche Trennung und Marginalisierung bestimmter sozialer Gruppen (siehe Kap. 2.4) Im Folgenden werden wir die genannten vier Aspekte als theoretische Grundlage vorstellen, um die Comics der Studierenden vor diesem Hintergrund analysieren und interpretieren zu können.
2.1 Kolonialismus als Basis des heutigen Rassismus Rassismus trat in verschiedenen Zeiten auf (vgl. Hall, 1989, S. 913ff.). Die neuzeitliche Grundlage ist der Kolonialismus der europäischen Nationen (Belgien Deutschland, England, Frankreich, Niederlande, Portugal, Spanien), der sich nach der Entdeckung Amerikas 1492 entwickelte. Dabei wurden Territorien in Lateinamerika, Afrika und Asien besetzt, die einheimische Bevölkerung unterworfen, versklavt, vertrieben und teilweise ermordet. Ideologisch wurde die Ausbeutung der Kolonien durch den Glauben an kulturelle und rassische Überlegenheit gegenüber den Unterworfenen sowie der Vorstellung von der Überlegenheit des Christentums
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und der Notwendigkeit zur Missionierung begründet und gerechtfertigt. In diesem Zusammenhang entstand der „anthropologische Rassebegriff“, der „zur Einteilung der Weltbevölkerung in unterschiedlich entwickelte Gruppierungen benutzt“ wurde (vgl. Hund, 2007, S. 14). Die europäische „Rasse“ wurde als kulturell überlegen gegenüber den fremden „Naturvölkern“ definiert, woraus die Verpflichtung zur Vormundschaft abgeleitet wurde. Die Produktion von Zucker, Rum, Tabak und Baumwolle auf den Plantagen in Nord- und Südamerika wurde durch die Verschleppung (Zwangsmigration) von Millionen Kindern, Frauen und Männern aus Afrika ermöglicht. Gegen Textilien, Waffen, Alkohol und Gebrauchsgegenständen aus Europa wurden Menschen in Afrika eingetauscht und zu rechtlosen Sklaven gemacht. In Europa wiederum war der Absatzmarkt für die Plantagenprodukte (vgl. Hahn, 2009, S. 29f.). Dieser Handel wird oft euphemistisch als „Dreieckshandel“ bezeichnet und begründete den Reichtum der Kolonialisten sowie der Kolonialländer. Auch heute finden sich noch Reste derjenigen wirtschaftlichen Strukturen, welche in der Kolonialzeit angelegt wurden. Dazu gehört, dass viele der ehemaligen Kolonien mit ihren ehemaligen „Mutterländern“ immer noch wirtschaftlich eng verbunden sind, eine Konzentration auf den Export einzelner landwirtschaftlicher Anbauprodukte, ähnlich wie in der Kolonialzeit vorzufinden ist und viele der ehemaligen Kolonien, vor allem in Afrika, zu den wirtschaftlich schwächsten Staaten der Welt gehören. Diese werden in Unterrichtsmedien wie Schulbüchern häufig auch als „Entwicklungsländer“ definiert, wobei der Definition eine eurozentrische und fortschrittsoptimistischen Sichtweise von Entwicklung im Sinne der Modernisierungstheorie zugrunde liegt (vgl. Pollack, 2016, S. 219ff.). Am europäischen „Ideal“ werden hierbei „Entwicklungsrückstände“ oder „-fortschritte“ anderer Länder gemessen und „Entwicklungs(hilfe)maßnahmen“ gerechtfertigt (vgl. Marmer & Sow 2015, S. 18f.; Eckert, 2012, S. 22). Die Ursachen für „Entwicklungsdefizite“ werden dann in endogenen gesellschaftlichen Faktoren wie Kultur und Sprache gesehen (vgl. Coy, 2002a, S. 393), wobei kulturalistische Erklärungsmuster große Parallelen mit rassistischen Ansätzen aus der Kolonialzeit haben. Demgegenüber steht die Dependenztheorie, in der die seit der neuzeitlichen Kolonialzeit bestehenden Abhängigkeiten der „Entwicklungsländer“ von den „Industrieländern“ als Hauptursache für die Unterentwicklung identifiziert werden. Die Probleme werden als exogen verursacht angesehen (vgl. Coy, 2002b, S. 244) und sie können nach dieser Auffassung nur durch die Emanzipation aus dem bestehendem kapitalistischen Wirtschaftsmodell beseitigt werden. In diesem Zusammenhang kann noch die Weltsystemtheorie von Wallerstein (1974) genannt werden, welche eine holistische Theorie zur Erklärung des Nord-Süd-Abhängigkeitsverhältnisses darstellt (vgl. Nölke, 2010, S. 343ff.). Wallerstein unterscheidet, anders als die bimodale Dependenztheorie, zwischen Zentrum, Semiperipherie und Peripherie. Alle kurz angerissenen theoretischen Ansätze haben gemeinsam, dass sie eine globale Perspektive einnehmen, um wirtschaftliche Ungleichheiten zu beschreiben. Diese wurden u.a. in der neuzeitlichen Kolonisation angelegt, für die der Rassismus eine Basis darstellte. Kolonialistische Auffassungen der Welt und Ausprägungen
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dieser Auffassung heute sind ebenso wie aktuelle rassistische Praktiken daher mit Hilfe der vorgestellten Theorien erklärbar und kritisierbar. In diesem Zusammenhang soll durch die Analyse der Comics untersucht werden, inwiefern Studierende Relationen zwischen Kolonialismus, aktuellen weltwirtschaftlichen Strukturen und Rassismus aufzeigen.
2.2 Negative Stereotype als Teil rassistischen Denkens Hall (1989, S. 913ff.) beschreibt als ein weiteres Charakteristikum von Rassismus die Praxis des Ausgrenzens von bestimmten Gruppen. Dieser Ausgrenzung der „Anderen“ liegt das Othering, die Dichotomisierung im Sinne von „wir-sie“ zugrunde (vgl. Lautmann, 2011, S. 493f.). Die Ideologie des Rassismus beruht auf der Vorstellung, dass Eigenschaften und Fähigkeiten bei Gruppen von Menschen unterschiedlich verteilt und diese kollektiv weitervererbt werden. Dadurch ergibt sich nach rassistischer Auffassung die durch Abstammung entstandene biologische Überlegenheit der eigenen Gruppe gegenüber einer anderen (vgl. Rieger, 2001). Der Rassismus ist nach Arndt (2001, S. 11 & 18) als „Rechtfertigungsideologie“ im Zuge der Ausbeutung und Diskriminierung während des Kolonialismus entstanden (siehe Kap. 2.1) und ist bis heute in der bundesdeutschen Gesellschaft allgegenwärtig. Während der neuzeitlichen Kolonialisierung hielten sich die weißen Europäer den dunkelhäutigen Sklaven überlegen, die sie als „unzivilisiert und primitiv“ konstruierten. Während der Nazizeit fühlten sich die „Arier“ den Juden überlegen und der im Sozialdarwinismus begründete Rassenwahn führte zur Vernichtung von Tausenden, die als VertreterInnen „minderwertiger Rassen“ angesehen wurden (vgl. Fredrickson, 2004, S. 101ff.). Bedingt durch das Trauma des Nationalsozialismus wird in der bundesdeutschen Öffentlichkeit heute selten auf „Rassen“ Bezug genommen. Stattdessen wird über „Kulturen“ gesprochen, die häufig genau wie der ehemalige „Rassebegriff“ als natürliches, von der Herkunft abhängiges und kollektives Unterscheidungskriterium von sozialen Gruppen dienen (vgl. Hall, 1989, S. 917f.). In vielen Zusammenhängen ist der Kulturbegriff zum „funktionalen Äquivalent des Rassenbegriffs“ (Fredrickson, 2004, S. 15) geworden. So wird z.B. das Handeln „der Afrikaner“ nicht mehr mit ihrer vermeintlichen „Rasse“, sondern oftmals mit ihrer homogenen „Kultur“ erklärt. Zur Abgrenzung scheinbar unterschiedlicher „Rassen“ oder Kulturen werden häufig negative Stereotype verwendet. Die Unterlegenen werden dann z.B. als kollektiv „faul“, „dumm“, „hinterhältig“, „aggressiv“ etc. tituliert. Diese negativen Stereotypen, verstanden als starre überindividuell geltende Vorstellungsbilder, haben nach Barthes (1980, S. 810) die Funktion, die Machtverteilung in der Gesellschaft zu legitimieren. Stereotype erweisen sich als sehr langlebig und werden teilweise heute noch verbreitet: „Während Afrikanerinnen in der öffentlichen Wahrnehmung bis heute als willfährige Sexualobjekte wahrgenommen werden, reichen die Konstruktionen des Afrikaners von kindlich/asexuell/harmlos (z.B. der „noble Wilde“) bis hin zu männlich/sexuell/bedrohlich“ (Arndt, 2001, S. 20).
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Diese negativen Stereotype werden auch zur Diskriminierung von MigrantInnen durch rechte und rechtspopulistische Parteien und Vereinigungen eingesetzt. Dabei ist besonders die (rassistische) Sprache, welche sich durch unreflektierte Wiedergabe negativer Stereotype, die zur Diskriminierung und zur Festigung sozialer Machverhältnisse eingesetzt werden können, für die Persistenz eben dieser verantwortlich (vgl. Arndt & Ofuatey-Alazard, 2011). In diesem Zusammenhang interessiert uns, inwiefern in den Comics negative Stereotype von den Studierenden aufgegriffen und in ihrer sozialen Bedeutung für eine rassistische Gesellschaft entlarvt werden.
2.3 Ungleiche Machtverteilung als Grundlage von Rassismus Rassismus ist nicht nur eine bestimmte Einstellung, sondern auch Ausdruck gesellschaftlicher Machtverhältnisse. Wesentlicher Bestandteil von Rassismus ist demnach die Machtausübung einer privilegierteren Gruppe gegenüber einer unterprivilegierte Gruppe von Menschen (vgl. Hall, 1989, S. 913ff.). Foucault unterscheidet in seinem Verständnis von Macht zwischen Fremdsteuerung (disziplinierende Macht) und Selbststeuerung (gouvernementale Macht) (vgl. Mattissek & Prassek, 2014, S. 199). Fremdsteuerung realisiert durch Gesetze, Regeln und Gewalt soziale Ungleichheit. Selbststeuerung erfolgt subtiler durch die Verinnerlichung von Normen, Wertvorstellungen und Leitbildern und kann die gesellschaftliche Ordnung dadurch erhalten. Beide dargestellte Machtdimensionen sind im Kontext von Rassismus relevant. Durch rassistische Gesetze, Regeln und Gewalt (disziplinierende Macht) kann eine soziale Gruppe die politische und wirtschaftliche Dominanz über eine andere erlangen. Dabei verläuft die Machtverteilung nicht immer nur einer dichotomen Kategorie folgend, sondern die Kategorien Rasse, Nation, Klasse und Geschlecht überlagern sich (vgl. Hund, 2007, S. 16). Ein extremes Beispiel für staatlichen Zwang und Fremdsteuerung in einem rassistischen Staat ist die Apartheit in Südafrika und die damit zusammenhängende Rassentrennung zwischen dem Beginn des 20. Jh. bis 1994. Die dort durchgeführte und strukturell verankerte Rassentrennung hatte das Ziel, die Vorherrschaft der „Weißen“ gegenüber den „Schwarzen“ zu ermöglichen. Die Rassendiskriminierung wurde auf systematische Art und Weise institutionalisiert und gesetzlich festgeschrieben. Begleitet und gerechtfertigt wurde dies durch ideologische Abwertung der „Schwarzen“ (siehe Kap. 2.2). Ebenso wichtig wie die Fremd- ist die Selbststeuerung (gouvernementale Macht) in rassistischen Gesellschaften. Das südafrikanische Beispiel zeigt, dass durch das Prinzip „Regieren aus Distanz“ viele Zugehörige der unterlegenen Gruppe rassistische Werte und Normen verinnerlichen. Praktiken der Diskriminierung werden somit als „normal“ akzeptiert, wodurch sich die gesellschaftliche Ordnung stabilisiert. Gleiches gilt für Mitglieder der privilegierten Gruppe, welche ihr diskriminierendes Verhalten als „normal“ und gerechtfertigt wahrnehmen, was ebenfalls keine Änderungen bewirkt.
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In diesem Zusammenhang interessiert die Frage, wie die gesellschaftlichen Machtasymmetrien, welche in rassistischen Gesellschaften vorzufinden sind, von den Studierenden im Comic dargestellt wurden.
2.4 Räumliche Dimensionen von Rassismus Bestimmte gesellschaftliche Gruppen vom Zugang zu materiellen, kulturellen oder symbolischen Güter auszugrenzen, bezeichnet Hall als rassistische Praxis (vgl. Hall, 1989, S. 913ff.). Diese Ausgrenzungsprozesse können auch räumliche Dimensionen haben und sich z.B. innerhalb von Städten in ethnischer Segregation und Ghettobildung ausdrücken. Ethnische Segregation kann auf Freiwilligkeit und der Bedeutung von ethnischen Netzwerken für die Wohnstandtortentscheidungen der MigrantInnen beruhen. Grund können aber auch Praktiken der Ausgrenzung und Diskriminierung einer unterlegenen durch eine dominante soziale Gruppe sein. Eine weitere Ursache für ethnische Segregation könnte das Konkurrieren der Mitglieder der dominanten Gruppe mit Personen der unterlegenen Gruppe um knappe Ressourcen wie z.B. Wohnraum sein (vgl. Friedrichs & Thiemer, 2008, S. 74). Die dominante Gruppe versucht in diesem Fall ihre Macht (siehe Kap. 2.3) u.a. dadurch auszuüben, dass sie Mitgliedern der mit rassistischen Argumenten als unterlegen definierten Gruppe den Zugang zu den attraktivsten Räumen verwehrt. Ein Beispiel ist die schon genannte Apartheid, in der „Townships“, nach „Rassen“ getrennte Wohnsiedlungen für „schwarze“, „farbige“ und „indische“ Bevölkerung, errichtet wurden. In diesem Kontext wurde die Hautfarbe als distinguierendes Merkmal für „Rasse“ definiert und für die räumliche Segregation als relevant erachtet. Die Townships lagen zumeist am Stadtrand, waren infrastrukturell schlecht erschlossen und die Bebauungsqualität war schlecht. Der Zugang bestimmter Gruppen zu „attraktiven“ Wohnräumen, die grün, zentral, gut erschlossen etc. sind, kann wie im Falle von Südafrika durch bestimmte rassistische Gesetze geregelt werden. Aber auch in heutigen westlichen Gesellschaften, in denen staatlich legitimierte Diskriminierungen nur sehr selten vorkommen, können bestimmten sozialen Gruppen Zugänge zu attraktiven Wohnräumen durch Diskriminierungen verwehrt werden, wenn z.B. VermieterInnen an Personen, die einen Akzent haben, keine Besichtigungstermine für Wohnungen in attraktiven Lagen vergeben. Die Mitglieder der unterlegenen Gruppe müssen dann „unter sich“ an Orten leben, die möglicherweise peripher, schlecht infrastrukturell versorgt oder ökologisch belastet sind. Die Folgen können negative Auswirkungen auf die politische und soziale Teilhabe wie z.B. Jobsuche sein. Lange Arbeitswege, fehlende Nähe zu Bildungseinrichtungen oder Krankheiten aufgrund ökologischer Belastung des Wohnstandorts können dann dazu führen, dass Mitglieder der unterlegenen Gruppe geringere Chancen auf einen sozialen Aufstieg haben und sich die gesellschaftlichen Strukturen zementieren. Zudem können negative Selbstbilder der BewohnerInnen des ethnischen Viertels entstehen (vgl. Häußermann, 1999, S. 15f.). Rassistische Praktiken können aber nicht nur die tatsächliche Raumnutzung beeinflussen, sondern tragen auch zur sozialen Konstruktion von Räumen bei. Dies
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ist der Fall, wenn Wohnviertel mit bestimmten Labeln versehen werden. Besonders negative Raumimages wie „no go area“, „Armenviertel“ oder „Türkenviertel“ können zur Stigmatisierung der dort lebenden Bevölkerung beitragen und deren sozialen Aufstiegsprozess behindern. Auf globaler Ebene sind es vor allem die eurozentrischen Weltbilder, welche dazu führen, dass ganze Weltregionen als „peripher“, „arm oder „unterentwickelt“ eingestuft werden. Auch diese Raumimages können auf die dortigen BewohnerInnen übertragen werden, was vor allem im Kontext von Migration relevant ist und zur Diskriminierung beitragen kann. In diesem Zusammenhang soll untersucht werden, inwiefern die Studierenden die räumlichen Konsequenzen von rassistischer Praxis in den Comics darstellen.
3. METHODIK Es wurden sieben Comics analysiert, welche von Lehramtsstudierenden im Bachelor der Fächer Geographie, Geschichte und Kunst jeweils in einer Gruppe von vier bis sechs Personen arbeitsteilig erstellt wurden. Fünf der Comics sind unter http://geodidaktik.uni-koeln.de/comics-zu-rassismus.html abrufbar. Die Studierenden hatten die Aufgabe, einen Comic zu erstellen, welcher im Geographie-, Geschichts- und Kunstunterricht ab der 9. Klassenstufe einsetzbar ist. Dieser sollte die Themenfelder Sklaverei, Kolonialisierung und Rassismus für SchülerInnen zugänglich machen. Bei der künstlerischen Gestaltung wurden den Studierenden keine Grenzen gesetzt, was man an den sehr unterschiedlichen Umsetzungsformen in Bezug auf Format, zeichnerische Gestaltung, Farbigkeit, Größe etc. ablesen kann. Die hohe künstlerische Qualität der Arbeiten steht allerdings nicht im Zentrum der hier vorgestellten Analyse. Diese bezieht sich ausschließlich auf die inhaltlichen Gesichtspunkte. Es soll untersucht werden, ob die aus wissenschaftlicher Sicht zentralen Charakteristika von Rassismus von den Studierenden in den Comics dargestellt werden. Die Comics werden daher auch als Spiegel des fachlichen Verständnisses der Studierenden und deren Fähigkeiten dieses so didaktisch zu reduzieren, dass die Komplexität des Phänomens erhalten bleibt, angesehen. Die erstellten Comics wurden im Rahmen dieser Untersuchung nicht im Unterricht eingesetzt. Alle Studierendenprodukte wurden nach denen in Kapitel 2 vorgestellten Dimensionen von Rassismus comicanalytisch untersucht (vgl. Herbers, 2011, S. 77ff.). Die Comicanalyse orientiert sich dabei an der Inhaltsanalyse von Mayring (2010). Dabei wurden die Kategorien deduktiv aus der Theorie (siehe Kap. 2) abgeleitet. Außerdem wurden die folgenden Indikatoren für die Analyse der Berücksichtigung der jeweiligen Dimension induktiv gebildet:
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Kolonialzeit als Basis des heutigen Rassismus Indikatoren: Darstellung von... – Schauplätzen und Jahreszahlen die auf Kolonialzeit und auf die heutige Zeit verweisen – Praxis der Sklaverei in der Kolonialzeit (z.B. Sklavenmarkt, Plantagenarbeit) – Symbolen, die auf Sklaverei hindeuten (z.B. Ketten, Peitschen) – wirtschaftliche Verflechtungen in der neuzeitlichen Kolonialzeit (z.B. transatlantischer Sklavenhandel) und heute Negative Stereotype als Teil rassistischen Denkens Indikatoren: Darstellung von... – beleidigende Ausdrücke, die zur ethnischen Diskriminierung eingesetzt werden – abwertende Kommentare in Sprech- oder Denkblasen der überlegenen gegenüber der unterlegenen Gruppe – Zuschreibungen von Eigenschaften zu bestimmten Gruppen und deren bildliche Darstellung (z.B. „Weiße“= stark und „Schwarze“= schwach) Ungleiche Machtverteilung als Grundlage von Rassismus Indikatoren: Darstellung von... – Dominanz einer Gruppe über die andere (z.B. durch unterschiedliche Größe der Darstellung) – Passivität/Machtlosigkeit der unterlegenen Gruppe und Aktivität der überlegenen Gruppe – unterschiedlichen Ressourcen, die den Gruppen zur Verfügung stehen (z.B. Geld, Kraft) Räumliche Dimensionen von Rassismus Indikatoren: Darstellung von... – unterschiedlichen Orten an denen Mitglieder der überlegenen und der unterlegenen Gruppe wohnen – Orten der Unterlegenen als wenig attraktiv im Gegensatz zu Orten der Überlegenen – eurozentrischen Weltbildern Zur Untersuchung der vier Dimensionen von Rassismus anhand der genannten Indikatoren wurden sowohl die bildlichen als auch die textlichen Elemente der Comics analysiert. Auf diese Weise konnte sowohl das WAS als auch das WIE der Darstellungen einbezogen werden. Im Autorenteam wurden die Ergebnisse diskutiert und kommunikativ validiert. Auf Grund der wenigen Vorgaben bei der Aufgabenstellung (keine Vorgabe von Ort, Zeit, Stil, Methode, Farbe, Panel, Personen etc.) entstanden sehr unterschiedliche Produkte, womit eine hohe Anforderung bei der vergleichenden Analyse einherging. Daher wurden die bereits erwähnten Kategorien (siehe Kap. 2) zur Analyse erarbeitet und angewandt.
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4. ERGEBNISSE 4.1 Kolonialzeit als Basis des heutigen Rassismus in den Comics der Studierenden Zur Thematisierung der wirtschaftlichen Ausbeutung von Kolonien und Sklaven während des neuzeitlichen Kolonialismus wurden in sechs der sieben Comics historische Karten, die Darstellung des transatlantischen Sklavenhandels und vielfältige Symbole der Sklaverei wie Ketten, Sklavenschiffe oder Gitterstäbe von den Studierenden genutzt. Der Einfluss dieser wirtschaftlichen Strukturen auf aktuelle wirtschaftliche Beziehungen wurde dagegen nur in einem Comic realisiert. In diesem (siehe Abb. 1) werden Parallelen zwischen historischem Sklavenhandel und globalisierten Arbeitsmärkten von heute durch Gegenüberstellung im Layout (links historisch – rechts aktuell) aufgezeigt. Die Gleichsetzung von historischen und aktuellen Prozessen wird durch den Titel des Comics „Ierevalks“ angedeutet, bei dem das Wort „Sklaverei“ rückwärts geschrieben wurde und der Comic entsprechend von links und rechts beginnend gelesen werden kann.
Abb. 1: Parallelen zwischen historischen Sklavenhandel und globalisierter Arbeitswelt im Comic „Ierevalks“ (Auszug aus einem Comic, der von den Studierenden J. Hofmann, C. Kleinsorge & M. Marquardt erstellt wurde). Im Original ist nur die rechte Seite farbig.
Auf der linken Seite des Ausschnitts wird die Arbeit der SklavInnen auf einer Plantage in Bild und Text dargestellt, während auf der rechten Seite die Arbeitsbedingungen in einer Textilfabrik im heutigen Bangladesch gezeigt werden. Diese Darstellungen werden in Bezug zum Rassismus gebracht, indem hellhäutige Menschen abgebildet werden, die offensichtlich von der Arbeit der „Anderen“ profitieren, wie auch den Texten zu entnehmen ist. Die Ausbeutung und Entmenschlichung der ArbeiterInnen wird durch deren massen- sowie schemenhafte Darstellung gezeigt. Durch die parallele Anordnung der Ereignisse in Abb. 1 lässt sich leicht ein Verständnis der Studierenden von globalen wirtschaftlichen Verhältnissen im Sinne der Dependenztheorie identifizieren (siehe Kap. 2.1). In dem binären System gibt
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es zwei Akteursgruppen. Im Zentrum der Macht und des Wohlstands befinden sich die weißen Europäer, welche die Arbeitsbedingungen der Unterdrückten bestimmen. In der Peripherie sind die damaligen SklavInnen und heutigen FabrikarbeiterInnen zu finden, die von den jeweiligen Herrschenden ausgebeutet werden. Die Ausgebeuteten sind auf Wohlwollen und Entlohnung angewiesen, welche aber aufgrund ungleicher Machtverteilung nicht fair geregelt ist. Dem Comic liegt eine problematisierende Perspektive zu Grunde, die sich sicherlich dazu eignet, im Unterricht Gründe von „Entwicklung“ bzw. „Unterentwicklung“ zu thematisieren sowie die Rolle der SchülerInnen als Konsumenten zu diskutieren. Wird lediglich der Comic genutzt, besteht allerdings die Gefahr, dass SchülerInnen historische und aktuelle weltwirtschaftliche Verflechtungen komplett gleichsetzen, was sicherlich unangemessen ist. Dabei könnten zudem globale positive Entwicklungen wie die Menschenrechte, steigende Lebenserwartung und zunehmender Wohlstand ebenso wie soziale Disparitäten innerhalb von Staaten unberücksichtigt bleiben. Es zeigt sich, dass alle Gruppen offensichtlich das auf Rassismus basierende wirtschaftliche Modell der neuzeitlichen Kolonialisierung verstanden und angemessen im Comic umsetzen konnten. Die Persistenz der kolonialzeitlichen Wirtschaftsordnung wird dagegen mit Ausnahme des vorgestellten Comics nicht dargestellt, was möglicherweise an deren großer Komplexität und Abstraktheit liegen könnte, die womöglich im Medium Comic schwer umgesetzt werden kann. Dies kann den Einsatz von Comics im Geographieunterricht beschränken. Hier sind aktuelle Bezüge von unterrichtlicher Relevanz.
4.2 Negative Stereotypen als Teil rassistischen Denkens in den Comics der Studierenden Es sollte untersucht werden, inwiefern die Studierenden in ihren Comics negative Stereotype aufgreifen und in ihrer sozialen Bedeutung für eine rassistische Gesellschaft darstellen. Dieser Aspekt wurde von den Studierenden sowohl als wesentlich als auch als besonders anspruchsvoll erkannt. Wie bereits erläutert wurde, gehören negative Stereotype elementar zur Ideologie des Rassismus und gleichzeitig war es der Anspruch vieler Studierenden, keine rassistischen Klischees zu reproduzieren, um nicht zu deren Verbreitung beizutragen. Abbildung 2 zeigt exemplarisch den vorsichtigen Umgang mit Stereotypen in den analysierten Comics. In dem von den AutorInnen bewusst nicht koloriert gestalteten Comic wird ein Schüler während einer Unterrichtsstunde zum Thema Sklaverei mit einem rassistischen Vorurteil des Lehrers konfrontiert. Der Lehrer repräsentiert hier gesellschaftlich anerkanntes Wissen und glaubt durch seine Funktion an seine Deutungsmacht im Klassenzimmer. Dass die Studierenden zentrale Kennzeichen von rassistischen Stereotypen, wie dem Absprechen von individuellen Eigenschaften und die Dominanz biologischer Abstammung, erkannt haben, sieht man u.a. an der Aussage des Lehrers: „aber das ist wieder typisch für deine Leute […]“.
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Abb. 2: Umgang mit Stereotypen im Comic „Kettenreaktion“ (Auszug aus einem Comic, der von den Studierenden F. Tas, L. Ritter & M. Kirch erstellt wurde)
Der erfolgten Diskriminierung wird im unmittelbar folgenden Panel durch eine Figur aus der Comicerzählung widersprochen, vermutlich, da die Studierenden den möglichen Einfluss des negativen Stereotyps auf die LeserInnen minimieren und zugleich ein positives Vorbild für den Umgang mit Stereotypen schaffen wollten. Eine argumentative Auseinandersetzung mit rassistischen Stereotypen findet allerdings nicht statt. Eine andere Gruppe, die ebenfalls keine gängigen Stereotypen reproduzieren wollte, hat ihre Comichandlung auf einen anderen Planeten verlegt, auf dem Menschen von Außerirdischen versklavt und diskriminiert werden. Der zentrale rassistisch beleidigende Ausdruck ist hier „Säuger“. Weitere Ansätze sind die Umkehrung der als typisch wahrgenommenen Rollen von EuropäerInnen und AfrikanerInnen. Die Zuschreibung von Eigenschaften (z.B. wohlhabend) zu EuropäerInnen, die im Allgemeinen für AfrikanerInnen gelten, wirkt im ersten Moment irritierend, da sie der allgemeinen Erwartungshaltung widerspricht (siehe auch Abb. 5). Auf diese Weise wird versucht, Stereotype sichtbar zu machen und aufzubrechen. Der zurückhaltende und sehr vorsichtige Umgang mit rassistischen Stereotypen deutet auf einen hohen Grad der Sensibilisierung unter den Studierenden hin. In allen Gruppen wurde sehr intensiv diskutiert, welche Stereotype als „zu“ rassistisch verworfen werden müssen und welche für das Verständnis der Geschichte und des Phänomens des Rassismus als wertvoll erachtet werden. In diesem Sinne führte die
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kreative Tätigkeit zwangsläufig zu einer Auseinandersetzung mit rassistischen Stereotypen, wobei unterschiedliche Lösungsstrategien gewählt wurden. Unabdingbar ist allerdings die vertiefende Betrachtung dieses Aspekts bei der Behandlung der Comics im Unterricht, da sonst die Gefahr besteht, dass rassistische Denkweisen von den SchülerInnen unkritisch übernommen werden.
4.3 Ungleiche Machtverteilung als Grundlage von Rassismus in den Comics der Studierenden Sehr viel einfacher als die Darstellung des Einflusses kolonialistischer Strukturen oder rassistischer Stereotype fiel es den Studierenden Machtasymmetrien zwischen der Gruppe der Unterlegenen und derjenigen der Überlegenen darzustellen, wie sie in rassistischen Gesellschaften typisch sind.
Abb. 3: Darstellung von Machtasymmetrien in „8um1-14“ (Auszug aus einem Comic, der von den Studierenden S. Weißmann, J. Kellner, H. Beckschulte & T. Wegener erstellt wurde)
In Abbildung 3 ist der Kopf eines Mädchens im unteren linken Bildteil platziert und eine Hand anderer Hautfarbe rasiert von schräg oben die langen Haare ab. „Oben“ und „unten“ stehen hier für Machtasymmetrien in einer rassistischen Gesellschaft. Die Gitterstäbe im Hintergrund, die verunstaltete Darstellung des Mädchens, sowie ihre passive Haltung deuten darauf hin, dass es sich um das Opfer handelt, was hier durch den Akt des Haareschneidens von überlegenen Mächten entmenschlicht wird. Dem Opfer werden zudem Emotionen wie Trauer, Wut und Verzweiflung zugeordnet. Die Sklaven werden von den Herrschenden hässlich gemacht, körperlich versehrt und in diesem Comic wird der individuelle Name durch die Nummer „8um114“ ausgetauscht, die zugleich Titel des Comics ist. Im Großteil der Comics werden Machtverhältnisse durch unterschiedliche Körperhaltungen der abgebildeten Personen ausgedrückt. Die Mächtigen sind meist in gerader Haltung dargestellt, während die Opfer der Versklavung und Diskriminierung gebeugt dargestellt werden. Aber auch durch die Anordnung der Charaktere auf der Projektionsebene wird genutzt, um Machtverhältnisse zu verdeutlichen.
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Hier werden durch die höhere Positionierung im Panel, also der sogenannten Bedeutungsperspektive, Machtasymmetrien verdeutlicht: Die dominierenden Charaktere sind stets weiter oben im Bild angesiedelt als die Unterdrückten. Parallel sind Opfer auch meist in passiver Pose, oft kniend oder liegend, und die Täter in aktiver Haltung wiedergegeben. Die herrschende Gruppe wird zudem häufig mit Machtinstrumenten wie Waffen (Peitschen, Gewehre etc.) ausgestattet dargestellt, während den SklavInnen Symbole der Arretierung in Form von Ketten oder Fesseln zugeordnet werden. In den anderen Comics wird die Entmenschlichung der SklavInnen ebenfalls sehr bildlich dargestellt. Sie werden oft ohne erkennbare Persönlichkeitsmerkmale abgebildet, meist als immer gleiche Schemen in einer großen Gruppe. Auch das Fehlen von Kleidung wird als Ausdruck der Entpersonalisierung verwendet. In zwei der Geschichten werden freundschaftliche Beziehungen dafür verwendet, die Grenzen zwischen den eigentlich als sehr stark voneinander getrennt dargestellten Gruppen durchlässig zu machen. Diese GrenzgängerInnen erzeugen durch ihr risikoreiches Verhalten Konflikte, was von anderen Gruppenmitgliedern, vor allem den Mächtigen, missbilligt wird. In mehreren Comics lehnen sich die Unterdrückten am Ende des Comics gegen die Mächtigen auf und ihnen gelingt die Flucht oder der Sieg. Vermutlich wollten die Studierenden positive Lösungsansätze darstellen, deren realistische Umsetzbarkeit sicherlich im Unterricht besprochen werden müsste. Die Studierenden konnten demnach besonders gut Aspekte der Ausübung disziplinierender Macht (siehe Kap. 2.3) kritisch in Szene setzen. Sehr bildlich wurde die Ausübung von Gewalt dargestellt, indem die Verwendung von Waffen und deren Folgen gezeichnet wurden. Subtiler wurde die Macht als Dominanz im Gestus der Mächtigen festgehalten. Die Selbststeuerung der Herrschenden und der Beherrschten wird dagegen in den Comics fast gar nicht thematisiert. Die Internalisierung von rassistischen Verhaltensnormen lässt sich an den Comics nur in Ansätzen erkennen, was darauf hindeutet, dass viele Studierende die Relevanz dieses Aspekts vermutlich nicht erkannt haben.
4.4 Räumliche Dimensionen von Rassismus in den Comics der Studierenden Ein Hauptaspekt in der Comic-Produktion war die kreative Auseinandersetzung mit der Darstellung der durch Rassismus erzeugten räumlichen Strukturen, die sich auch im eurozentrischen Weltbild ausdrücken. Im Comic „Malaika“ wird Kolonialismus und aktueller Rassismus in Verbindung mit ethnischer Segregation gebracht (siehe Abb. 4).
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Abb. 4: Darstellung von ethnischer Segregation im Comic „Malaika“ (Auszug aus einem Comic, der von den Studierenden J.A., A.B., M.H., J.O., P.P. erstellt wurde)
In diesem Comic wird Europa von Afrika kolonialisiert. Die Unterprivilegierten „Weißen“ leben in dem als Slum inszenierten Wohnviertel. Die residentielle Segregation der „Weißen“ und „Schwarzen“ symbolisiert die herrschenden Machtverhältnisse, indem die unterprivilegierte Gruppe in kleinen, heruntergekommenen, dicht gedrängten Hütten wohnt, die an Slums erinnern und durch eine visuell überdeutliche Mauer von den reichen Stadtteilen im Hintergrund abgegrenzt werden. Über der Mauer türmen sich die Hochhäuser der Mächtigen. Auch hier wird die Machtasymmetrie wieder durch den Bildaufbau (die Mächtigen oben und die Machtlosen unten) symbolisiert (siehe Kap. 4.3). Im gleichen Comic wird auch auf den sozial konstruierten Raum, der als eurozentrisches Weltbild Teil rassistischen Denkens ist, Bezug genommen. Es wird eine Weltkarte gezeigt, die auf Afrika zentriert und deren Süden oben ist (siehe Abb. 5). Eurozentrische Sehgewohnheiten sollen auf diese Weise irritiert und kritisiert werden. Das Territorium der afrikanischen Kolonialisten wird im Kartenbild oberhalb des Territoriums der europäischen Kolonialisierten angesiedelt, was einer allgemeinen Symbolik (übrigens auch im Sprachgebrauch: „die Unterdrückten“) entspricht. Kartenkonventionen werden als symbolischer Ausdruck von Machtverhältnissen interpretiert, die aus Unterdrückung heraus entstanden sind. Europa wird zudem durch die Betitelung als „peripher“ mit negativer Konnotation versehen, was die Kartendarstellung unterstreicht.
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Abb. 5: Afrikazentrierte Weltkarte aus dem Comic „Malaika“ (Auszug aus einem Comic, der von den Studierenden J.A., A.B., M.H., J.O., P.P. erstellt wurde)
Die Vergebung von afrikanisch klingenden Ortsnamen wie „Neu-Mbala“ für eine in Europa liegende Stadt weist die Rezipierenden auf weitere Verknüpfungen von sozial konstruierten Symboliken mit Realräumen hin. Auch Ortsnamen tragen eine symbolische Bedeutung und können ethnozentrische Sichtweisen zum Ausdruck bringen. Die Frage wird hier aufgeworfen, wer welche Orte wie und mit welchem Zweck benennt und mit Namen bestimmte Weltanschauungen als Standard definiert. Bei der Vermittlung ethnozentrischer Weltbilder wird in diesem Comic auch auf die Rolle des Geographieunterrichts verwiesen, was zur kritischen Reflexion einlädt. Die Studierenden haben die räumliche Dimension von Rassismus im Comic unter Verwendung unterschiedlicher Medien dargestellt. Vor allem wurden Bild und Karte genutzt, um die offenbar schwer zu verbalisierenden räumlichen Aspekte auszudrücken. Die räumliche Dimension von Rassismus wird allerdings in sehr unterschiedlich starkem Maße in den Comics thematisiert. Teilweise werden räumliche Bezüge nur durch die Wahl des Hintergrunds der Handlung deutlich, was darauf hindeutet, dass nicht alle Gruppen diesen Aspekt und auch die Bedeutung von sozial konstruierten Räumen in rassistischen Gesellschaften verstanden haben und darstellen konnten.
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5. FAZIT Die Analyse der Comics zeigt, dass die Studierenden die unterschiedlichen Dimensionen von Rassismus unterschiedlich gut in ihren Comics darstellen konnten. Besonders eindrücklich werden Machtasymmetrien und Praktiken der Unterdrückung dargestellt. In allen Comics ist dieser Aspekt in die jeweiligen Comic-Geschichten, in der es Unterdrücker und Unterdrückte gibt, integriert. Werden Helden vorgestellt, sind dies entweder die Unterdrückten, die sich auflehnen oder Personen, die eigentlich zur dominanten Gruppe gehören, aber für die Unterdrückten Partei ergreifen. Gerade durch diese Personen wird in den Comics die Bedeutung der individuellen Entscheidung für oder gegen die Partizipation an Diskriminierungen thematisiert, was auch ein Thema für den Geographieunterricht sein kann. Bei der durchgehend gelungenen Darstellung der Praktiken der Abwertung wird auch sehr vorsichtig mit negativen Stereotypen umgegangen, was eine hohe Sensibilität der Studierenden für deren Macht zeigt. Dagegen fiel es den Studierenden wesentlich schwerer, historische Ursprünge des aktuellen Rassismus im Comic deutlich zu machen. Damit werden auch aktuelle weltwirtschaftliche Strukturen in den meisten Comics nicht thematisiert. Dieser Aspekt ist vermutlich zu abstrakt und schwer in Comicgeschichten zu integrieren. Ebenso selten werden die räumlichen Auswirkungen von Rassismus dargestellt, was womöglich auf fehlendes Verständnis der Studierenden zurückzuführen ist. Insgesamt wird durch die Analyse der Comics offensichtlich, dass sich die Studierenden sehr kreativ mit dem Thema auseinander gesetzt haben, was sich auch in den unterschiedlichen Realisierungen zeigt. Die Comicerstellung eignet sich daher in besonderem Maße, die reflektierte Verarbeitung wissenschaftlicher Themen durch Lehramtsstudierende anzuregen und sie zudem mit dem Comic als didaktisches Medium bekannt zu machen. Durch die vergleichende Betrachtung der Comics im Seminar kann dieser Prozess vertieft werden. Außerdem können künstlerische, didaktische und fachinhaltliche Lösungsansätze, die es alternativ gegeben hätte, diskutiert werden. Die im Artikel zur Analyse eingesetzten Dimensionen von Rassismus eignen sich ebenso, um die Reflexion der Studienergebnisse zu vertiefen und können auch dazu verwendet werden, um die Aussagen der Comics im Kontext des Themenfeldes Migration und Rassismus mit SchülerInnen zu besprechen.
LITERATUR Arndt, S. (2001). Impressionen. Rassismus und der deutsche Afrikadiskurs. In S. Arndt, (Hrsg.), AfrikaBilder. Studien zu Rassismus in Deutschland (S. 11–68). Münster: Unrast. Arndt, S. & Ofuatey-Alazard, N. (Hrsg.) (2011). (K)Erben des Kolonialismus im Wissensarchiv deutsche Sprache. Ein kritisches Nachschlagewerk. Münster: Unrast. Barthes, R. (1980). Leçon: französisch und deutsch; Antrittsvorlesung im Collège de France; gehalten am 7. Januar 1977. Frankfurt: Suhrkamp. Coy, M. (2002a). Modernisierungstheorie. In E. Brunotte, H. Gebhardt, M. Meurer, P. Meusburger & J. Nipper (Hrsg.), Lexikon der Geographie. Band 2 (S. 393). Heidelberg: Spektrum.
Rassismus und Rassismuskritik in von Studierenden erstellten didaktischen Comics
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JENSEITS KULTURELLER DIFFERENZEN? POTENZIALE VON HIPHOP FÜR TRANSKULTURELLES LERNEN IM GEOGRAPHIEUNTERRICHT Ronja Ege
1. EINLEITUNG Die Gesellschaft Deutschlands ist maßgeblich von Migration geprägt. Dies legt die Vermutung nahe, dass sich die Bevölkerung bereits an MigrantInnen gewöhnt hat. Jüngste Fluchtereignisse evozieren jedoch zum Teil ein altbekanntes Bild der „Migrationspanik“ (vgl. Bauman, 2016, S. 7ff.) in Teilen der deutschen Bevölkerung. Mitverantwortlich für „Migrationsprobleme“, wie bspw. Fremdenfeindlichkeit und Rassismus, ist aus theoretischer Perspektive der von einigen Personen gefühlte und angeführte „Angriff“ auf nationalstaatliches Territorium als festgeschriebenem Raum. Migrationen bringen durch ihr „Eindringen“ den stabilen und kontrollierbaren Zustand (national)gesellschaftlicher Raumordnung der Aufnahmegesellschaften durcheinander (vgl. Bauman, 2016, S. 20 & Langenohl, 2015, S. 103). Das Hervorheben vermeintlich „kultureller Differenzen“ dient dabei als Begründung für „die Verbindung von Raum und Gesellschaft“ (vgl. Langenohl, 2015, S. 103) in territorialer Abgeschlossenheit. Fachdidaktische Ansätze wie das transkulturelle Lernen bieten die Möglichkeit gegen fremdenfeindliche Sichtweisen vorzugehen und Kulturalisierungen abzubauen. Dabei wird ein Kultur(raum)verständnis vermittelt, das Kultur nicht als statisches, geopolitisches oder naturdeterministisches Produkt versteht, sondern die Vermischung von Kulturen über Containerraumgrenzen hinweg und deren Weiterentwicklung hervorhebt. HipHop kann als ein Beispiel genutzt werden, anhand dessen die SchülerInnen verstehen, dass diese Musikrichtung nicht Ausdruck von Nationalkulturen ist, sondern ein globales transkulturelles Phänomen darstellt. HipHop bietet damit die Chance, den SchülerInnen ein dynamisches Kulturverständnis zu vermitteln und aufzuzeigen, inwiefern sie selbst Akteure kultureller Entwicklungen sein können. Dieser Beitrag widmet sich der Frage nach dem Potenzial des Themas „HipHop“ im Geographieunterricht, um transkulturelles Lernen zu vermitteln. Grundlegend dafür sind die bisherigen Kenntnisse und Einstellungen von SchülerInnen zum Thema, welche nach der Darlegung der theoretischen Grundlagen des transkulturellen Lernens und der Vorstellung von HipHop als transkulturelles Phänomen, vorgestellt werden.
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2. TRANSKULTURALITÄT UND TRANSKULTURELLES LERNEN Das Konzept der Transkulturalität basiert, wie auch verschiedene soziologische Ansätze (vgl. u.a. Hansen, 2009 & Nassehi, 2011), auf kulturellen Gemeinsamkeiten statt Differenzen (vgl. Welsch, 1995). Dabei besteht die Annahme, dass Kulturen etwas Menschengemachtes darstellten, indem Individuen durch aktives Handeln ihre Kultur selbst reproduzieren. Demzufolge ist Kultur aufgrund alltäglicher Praktiken dynamisch und veränderbar. Zudem werden Kulturen als translokal und raumübergreifend gehandelt, da sie ebenso wenig wie ihre Urheber an einen bestimmten (nationalstaatlichen) Ort gebunden sind. Von dieser grenzüberschreitenden Dynamik ausgehend, sind Kulturen niemals komplett in sich geschlossen. Sie stehen dabei im ständigen Austausch mit sich selbst und der Außenwelt (vgl. Welsch, 1995, S. 39ff. & Struve, 2013, S. 41ff.). Auf Basis dieses Verständnisses werden transnationale und transkontinentale Phänomene, wie bspw. das der HipHop-Kultur, erklärt. Das Potenzial des transkulturellen Lernens liegt im Sichtbarmachen und Vermitteln von Ähnlichkeiten und Gemeinsamkeiten zwischen Kulturen. Das Ziel besteht darin, den SchülerInnen aufzuzeigen, dass sie auf Grund kultureller Gemeinsamkeiten eine eigene hybride Identität besitzen. Der aktuelle Lebensstil junger Menschen beruht in großen Teilen auf einer kulturellen Globalisierung, durch welche eine klare Ein- oder Abgrenzung von nationaler Eigen- und Fremdkultur nicht mehr möglich ist. Ethnisch-kulturelle Grenzen verlagern sich dadurch in den Hintergrund. Ein jeder ist Mitglied unterschiedlicher Kollektive, die sowohl kosmopolitische Entwicklungen als auch traditionelle Ursprünge besitzen können. Die individuelle Zusammenstellung der Kollektivzugehörigkeiten ergibt eine einzigartige kulturelle Identität. Jene Kollektive, die sich durch traditionelle, nationale oder ethnisch-kulturelle Inhalte reproduzieren, erfahren häufig eine sehr hohe Wertschätzung, da durch sie kulturelle Differenzierungsmechanismen aufrechterhalten werden können (vgl. Schröder, 2016). Wie Schröder richtig bemerkt, gilt es der „Wirkmächtigkeit dieser Differenzierungen“ eine Stimme zu geben und diese nicht zu missachten (vgl. Schröder, 2016, S. 19). Für die Orientierung im sozialen Alltag sind Differenzierungsmechanismen relevant, da sie keiner kompletten Auflösung unterzogen werden können. Ihnen liegt ein Einteilungsmechanismus zugrunde, der auf alltägliche Lebensbezüge und Assoziationen aufbaut. Insofern kann das Orientierungssystem nicht einfach gelöscht oder abgeändert werden, da sich auch die lebensweltlichen Bezüge nicht kurzfristig ändern lassen (vgl. Lévi-Strauss, 1981, S. 21ff.). Die Reduzierung der Auswirkungen dieser Differenzierungsmechanismen kann dann erreicht werden, wenn übliche Denkweisen innerhalb des gesellschaftlich gültigen Orientierungssystems durchbrochen werden (vgl. Schütz, 2015, S. 48ff.). Ein transkulturelles Verständnis von Lebensraum und Gesellschaft hält Konzepte alternativer Handlungs- und Denkmuster für die heutige vernetzte Welt bereit. Da ein grundlegender Bildungsbeitrag des Faches Geographie darin besteht […]„die Bewältigung und Gestaltung raumbezogener Lebenssituationen zu ermöglichen […]“ (Kestler, 2015, S. 57), muss auch transkulturelles Lernen mit einem für SchülerInnen deutlichen Raumbezug
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erfolgen. So soll zum einen ein Verständnis aktiviert werden, dass das Fremde als potenziellen Teil des Eigenen erkennt. Damit verbunden ist das Aufzeigen einer Kulturvorstellung, die neben traditionell etablierten, statischen Containerraumzuschreibungen von Kultur auch Alternativen darlegt. Diese unkonventionellen Kulturraumvorstellungen, die anhand transkultureller Phänomene für die SchülerInnen sichtbar gemacht werden können, stellen ein weiteres zentrales Lernziel des transkulturellen Lernens im Geographieunterricht dar. Die SchülerInnen sollen angeleitet werden, kulturräumliche Einteilungen und Verortungen, die oft an geopolitische Grenzen gebunden sind, zu hinterfragen sowie sich darüber bewusst zu werden, dass direkte und eindeutige Zuordnungen nicht immer umsetzbar sind. Durch das Erkennen und Anerkennen der Unabhängigkeit der beiden Parameter „Kultur“ und „Raum“, ist es möglich, den Transformationsprozess von Kulturverstehen zu befeuern und den Horizont der Lernenden zu erweitern. Eine erfolgsversprechende Thematik das Unterfangen umzusetzen, stellt die Sub- und Popkultur HipHop dar. Inwiefern dieses Beispiel den Weg zu einem alternativen Umgang mit „kulturellen Differenzen“ ebnen kann, wird nun dargestellt.
3. HIPHOP ALS GEGENSTAND TRANSKULTURELLEN GEOGRAPHIEUNTERRICHTS Der Erfahrungsraum, in welchem sich Kinder und Jugendliche aktuell bewegen, ist keiner, der anhand nationalstaatlicher Grenzen bestimmt werden kann. Transnationale wie auch transkulturelle Lebensweisen gehören längst zur alltäglichen Lebenspraxis, die durch den Prozess der kulturellen Globalisierung den Weg in jedes Kinderzimmer gefunden hat. HipHop stellt auf Grund seines historischen Werdegangs und auf Grund seiner aktuellen Bedeutung ein solches Phänomen dar (vgl. u.a. Forman, 2004, S. 9ff.), welches es gilt als Potenzial im modernen Geographieunterricht zu nutzen, um transkulturelle Lerninhalte zu vermitteln. Als ursprünglich „politisches und soziales Emanzipationsinstrument“ der unterdrückten Minderheiten in New Yorks Stadtteilen Bronx und Harlem, entwickelte sich die Musikrichtung nach und nach zu einer kommerzialisierten Popkultur, die weltweit verschiedene, lokalspezifische Stile entstehen ließ (vgl. Bock et al., 2007, S. 114). Die Aussage eines Rappers, HipHop sei „[…] music about where I’m from […]“ (Potter zit. in Androutsopoulos, 2003, S. 12f.), verweist auf die Raumbezüge, die HipHop herstellt. „Räume im HipHop“ beziehen sich in erster Linie auf Orte und Raumdarstellungen, die inhaltlich in Songtexten und Musikvideos abgehandelt bzw. (re)produziert werden (vgl. Mager, 2007). Dabei handelt es sich vor allem um lokale Lebenswelten in urbanen Kontexten, in denen sich die HipHop-Kultur entwickelte und lokalspezifische Übersetzungen, angepasst an die Lebensrealität anderer städtischer Räume, erfuhr (vgl. Diehl, 2014, S. 105). Hierdurch werden lokale Identitätszugehörigkeiten (vgl. Bennett, 2003, S. 30) oder auch negative Diskurse über bestimmte Städte und Viertel als „[…] Orte der Gewalt, Verwahrlosung und Unsicherheit
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[…]“ durch sprachlich und visuell geschaffene Raumbilder erzeugt (vgl. Diehl, 2014, S. 114). Neben der inhaltlichen Komponente greift „HipHop im Raum“ Orte der Entstehung, Ausbreitung, Weiterentwicklung und Repräsentation von „HipHop“ als Phänomen auf (vgl. Mager, 2007). Der Sprechgesang als „traditionelle afroamerikanische Musiziertechnik“ stellt neben dem Rhythmus, auch beat genannt, die Schablone des globalen HipHop’s dar, der das Phänomen als einheitliches Konzept sichtbar werden lässt. Um Authentizität zu wahren, wird diese Vorlage in allen Bereichen des HipHop’s beibehalten, jedoch mit lokalspezifischen Inhalten gefüllt, sodass sich HipHop dennoch individuell gestalten lässt (vgl. Bock et al., 2007, S. 315f.). Durch die Verzahnung von Lokalspezifität und Globalisierung kann HipHop als Beispiel für Glokalisierung1 nach Robertson (1998) verstanden werden. Diesen Grundgedanken beinhaltet auch das transkulturelle Lernen. Anhand der „Räume im HipHop“ sowie „HipHop im Raum“ kann deutlich gemacht werden, dass (Trans)Kulturen keine Raumspezifizität im nationalstaatlichen Sinn enthalten, sondern als dynamische Spielarten aus lokalen und globalen Kontexten existieren. Die Verbreitung der Jugendkultur lässt ihren transnationalen und transkontinentalen Charakter für SchülerInnen deutlich erkennbar werden. Von New York hinaus in die ganze Welt – HipHop kennt keine nationalstaatlichen Grenzen, er weicht sie auf und durchbricht das länderkundliche „Kulturraumprinzip“, d.h. die Vorstellung, dass kulturelle Phänomene wie Musik an einen bestimmten (National-)raum gebunden sind. Das einheitliche Grundgerüst der HipHop-Musik, das in lokalspezifischen Produktionen unabhängig von Sprache, Ethnie, Religion, Hautfarbe etc. immer wieder zum Vorschein kommt, zeichnet ein klares Bild von Transkulturalität: Alle Angehörigen des HipHop-Genres teilen die gleiche Kultur miteinander, indem sie den „HipHop-Lifesytle“ leben und dessen Musik konsumieren. Insofern sind auch SchülerInnen reproduzierende Konsumenten von HipHop und selbst Angehörige der Subkultur, sofern sie diesen praktizieren oder konsumieren.
4. ERHEBUNG VON SCHÜLERINNENVORSTELLUNGEN ZUM THEMA „HIPHOP“ Die theoretischen Ausführungen zeigen auf, dass sich HipHop als mögliches Thema im Geographieunterricht eignet, um transkulturelles Lernen zu ermöglichen. Unterricht sollte allerdings immer an die Vorerfahrungen und Kenntnisse der SchülerInnen anknüpfen. Daher wird im Folgenden ein Auszug einer empirischen Studie vorgestellt. 1
Die begriffliche Synthese aus Globalisierung und Lokalisierung verweist auf die Wechselwirkungen zwischen globalen und lokalen Handlungen und Entwicklungen. Die Folgen von Globalisierung werden demnach als Wechselwirkung globaler und lokaler Einflüsse verstanden (vgl. Robertson, 1998, S. 192ff.).
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4.1 Methodisches Vorgehen Im Sommer 2016 wurden vier 9. Klassen mit insgesamt 100 SchülerInnen an zwei Kölner Gymnasien mit Hilfe von standardisierten Fragebögen zum Thema „HipHop“ befragt. Ausschlaggebend für die Wahl der Klassenstufe war der Aspekt der Identitätsfindung in der pubertären Umbruchphase. Weiterhin wurde das Phänomen der Globalisierung bereits thematisiert. Neben der Bewertung von HipHop durch die Befragten, lag das Hauptaugenmerk auf den Vorstellungen der SchülerInnen zu Raumbezügen und HipHop sowie den Vorkenntnissen der SchülerInnen zum Thema. Es wurden folgende Forschungsfragen untersucht: – Frage a: Wie bewerten die SchülerInnen HipHop? Es sollte herausgefunden werden, wie positiv die Einstellungen der Befragten zum Phänomen „HipHop“ sind und was sich möglicherweise auf die Motivation bei der Behandlung im Unterricht auswirkt. – Frage b: Inwiefern werden von den SchülerInnen lokale und globale Raumbezüge im Kulturphänomen „HipHop“ wahrgenommen? Diese Frage fokussiert auf das Wissen der SchülerInnen zu Raumbezügen im HipHop. – Frage c: Inwiefern erkennen die SchülerInnen Verbindungen zwischen den lokalen, nationalen und globalen Raumbezügen im HipHop? Es sollte untersucht werden, ob die vorhandenen HipHop-Raumzuschreibungen der SchülerInnen bereits als glokalspezifisches Verständnis der HipHop-Kultur miteinander in Verbindung gebracht werden. Durch die Studie wurden die vorunterrichtlichen Alltagsvorstellungen der SchülerInnen zu HipHop, in Anlehnung an bestehende Konzepte der Vorstellungsforschung wie der Didaktischen Rekonstruktion (vgl. z.B. Schuler, 2013, S. 82ff.), erhoben.2 Dabei wurde mit einem standardisierten Fragebogen gearbeitet, der aus offenen Fragen bestand, um eine detaillierte Schilderung individueller Vorstellungen zu ermöglichen. Es wurde kein zusätzliches Material, wie z.B. HipHop-Songs, verwendet. Für die Auswertung offener Fragen schlägt Schmidt (2010) ein qualitatives Kodierungsverfahren vor, dass in einer quantifizierenden Materialübersicht mündet (vgl. Mattissek et al., 2013, S. 205f.). Auf diese Weise konnten die vielgestaltigen Antworten der Befragten prototypisch eingeordnet werden (vgl. Aufschnaiter, 2005, S. 1). Aufbauend auf den objektivierten sowie quantifizierten Ergebnissen wurden vertiefende Einzelfallinterpretationen vorgenommen, um zu verborgenen Denkmustern der Befragten vorzudringen. Bei der Erstellung des Kategoriensystems flossen in mehreren Materialdurchläufen sowohl die Anwendung theoretischen Vorwissens, als auch die in den Antworten vorhandenen Hinweise mit ein. Daraufhin wurde ein Kodierleitfaden aufgesetzt und mit Ankerbeispielen versehen (vgl. Mayring, 1997, S. 83). Danach erfolgte die Zuordnung der Einzelaussagen der 2
Vorstellungen oder „Präkonzepte“ werden in der Vorstellungsforschung häufig durch Verfahren der schriftlichen Befragung und mit Hilfe von Interviews erfasst (vgl. Aufschnaiter, 2005, S. 1).
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Befragten, die einer prozentualen Analyse unterzogen und im Folgenden quantifiziert dargestellt werden. Die Gesamtmenge n=100 in den Abbildungen 1, 3 und 4 entspricht der Anzahl der befragten SchülerInnen. Die Fragebögen wurden in allen Fällen fragenübergreifend ausgewertet. Zu beachten galt dabei jedoch der Umgang mit Mehrfachaussagen. Diese sind lediglich in Abbildung 2 dargestellt. Die Anzahl (n) der Gesamtmenge in Abbildung 2 ist insofern nicht gleichzusetzen mit der Anzahl der Befragten der Studie (n =100), sondern ergab sich in Abhängigkeit von der Antwortanzahl der Befragten. Dadurch kamen unterschiedliche Gesamtmengen zustande. Gegensätzliche Aussagen derselben Person wurden in diesem Fall als zwei Aussagen erfasst, während gleichartige Aussagen mit Wiederholungscharakter als eine Aussage gezählt wurden. Da es sich bei der Zuordnung um einen Akt interpretierender Übersetzung der Aussagen handelt, erheben die Ergebnisse keinen Anspruch auf statistische Repräsentativität.
4.2. Ergebnisse Die Ergebnisse der Studie zeigen die SchülerInnenvorstellungen zu HipHop-Musik auf. Hierzu wurden die allgemeine Bewertung der Musikrichtung sowie HipHop Raumzuschreibungen auf unterschiedlichen Maßstabsebenen untersucht. Auf die Frage „Wie findest du HipHop?“ antwortete ein Großteil der Befragten, insgesamt 83%, mit „sehr gut“ oder „eher gut“. Insbesondere stachen extreme Aussagen wie „Ich liebe HipHop, ich finde es richtig gut“ hervor, die auf eine besonders positive Bewertung hindeuten. eher gut 50%
eher schlecht 11%
schlecht 6%
sehr gut 33%
n=100
Abb.1.: Bewertung von HipHop
Das Ergebnis bestätigt die Annahme, dass sich „HipHop“ als Phänomen innerhalb der allgemeinen Jugendkultur nach wie vor großer Beliebtheit erfreut. Insofern kann abgeleitet werden, dass ein Großteil der Befragten auch der Behandlung des
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Phänomens im Geographieunterricht und auch in weiteren Unterrichtsfächern positiv gegenüberstehen. Weiterführend kann die Vermutung aufgestellt werden, dass die Ursache der großen Beliebtheit in Prozessen der Identitätsfindung und Abgrenzung vieler Jugendlichen zum Elternhaus begründet liegt. In diesem Zusammenhang schreibt Max, 15: „Manche Rapper rappen über ihr Leben wo ich mich identifizieren kann was ich selber mal erlebt habe.“3 Insbesondere erregt bspw. der „Gangster-Rap“ mit seinen oftmals aggressiven und sexistischen Texten und Bildern die Gemüter, wodurch eine Art Rebellion gegen übliche, gesellschaftlich anerkannte Verhaltens- und Lebensweisen geführt werden kann. Hierzu äußert Amir, 16: „HipHop steht in einem schlechten Licht bei älteren Generationen da es als assi angesehen wird. Bei jüngeren im Trend.“ Abneigungen gegenüber HipHop entspringen oftmals persönlichen Gründen. Vermutlich kann sich ein kleiner Teil der Befragten weder mit den Figuren, Textinhalten oder dem Musikstil identifizieren und keine direkte Verbindung aufbauen. So begründet Lisa, 14, ihre Abneigung folgendermaßen: „Ich mag HipHop nicht besonders, da er meist sehr ‚wütend‘ ist und auch oft rebellisch und ich soetwas nicht so stark in mir habe bzw. das Bedürfnis habe, es in dieser Form rauszulassen.“ Abbildung 2 zeigt die Gesamtheit der Raumbezüge in den Antworten zu den Fragestellungen „Wo entsteht HipHop deiner Meinung nach aktuell?“, „Was meinst du, wo kommt HipHop her?“ und „An welchen Orten werden Musikvideos zu HipHop aufgenommen?“. Mehrfachnennungen waren wie in Kapitel 4. dargelegt möglich. Hieraus ergaben sich insgesamt 242 Raumbezüge.
national 34%
kontinental 5%
global 11%
lokal 50%
n= 242
Abb.2: HipHop-Raumzuschreibungen nach Maßstabsebenen
3
Die Zitate der SchülerInnen werden unverändert und damit inklusive aller Rechtschreib- und Grammatikfehler wiedergegeben.
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Die Auswertung zeigt, dass die in der Theorie aufgezeigten, stark lokalspezifisch ausgerichteten Raumbezüge im HipHop von vielen SchülerInnen erkannt werden. Die Kategorie der lokalen Maßstabsebene wurde dann angewandt, wenn konkrete Orte im Sinne eines Raumcontainers in den Antworten erkennbar waren. So wurden bspw. „Straße“, „Stadt“, „Tanzstudio“ oder „Brooklyn“ als Bezüge zur lokalen Maßstabsebene gewertet. Die nationale Maßstabsebene bezog sich auf Antworten, die einen deutlich nationalstaatlichen Raumbezug aufweisen, wie „Amerika“, „USA“ oder „Deutschland“. Mit der am wenigsten vertretenen kontinentalen Maßstabsebene wurden Aussagen zusammengefasst, die Räume mit Grenzen physischgeographischen Ursprungs widerspiegeln, wie etwa „Südamerika“, „Afrika“ oder „Australien“. Als Vertreter der globalen Maßstabsebene galten Aussagen, die einen weltweiten Raumbezug aufweisen. Darunter fielen u.a. diese Antworten: „in jedem Land“, „überall auf der Welt“ oder „an allen Orten“. Da in erster Linie lokale Raumzuschreibungen von den SchülerInnen vollzogen wurden (50%), kann davon ausgegangen werden, dass vor allem dazu Wissen besteht. Dreh- und Angelpunkt sind in HipHop-Videos, aber auch in Liedtexten, oftmals bestimmte Städte oder Stadtteile, Straßenzüge, oder auch spezifische Plätze, die als Treffpunkt fungieren. Womöglich verstehen die Befragten, dass diese meist urban geprägten, lokalen Räume prototypisch für die HipHop-Szene stehen. So ist es denkbar, dass hiermit die große Summe lokalspezifischer Nennung zumindest in Teilen begründet werden kann. Damit einher geht die Erweiterung des räumlichen Bewusstseins der SchülerInnen um lokale Orte und Räume, die im HipHop eine wichtige Rolle spielen, sich auf den Lebensalltag der Befragten übertragen und womöglich zur weiteren Identitätsstiftung beitragen. Häufig wurde von den Befragten auch der nationale Raumbezug genannt (34%). Viele verorten den Ursprung des Phänomens als homogene Massenkultur richtig in den USA, sodass offensichtlich Wissen bezüglich der Entstehung des HipHop´s besteht (vgl. Mager, 2007, S. 184). Daneben wird in nur 11% der Nennungen ein globaler Raumbezug erkannt, was zeigt, dass die globale Verbreitung des HipHop´s für die SchülerInnen offensichtlich weniger präsent ist. Nach den Antworten in dieser Kategorie ist HipHop „in jedem Land vorhanden“ oder aber „in allen Ländern gleich“. Inwiefern die SchülerInnen Verbindungen zwischen den lokalen, nationalen und globalen Raumbezügen im HipHop erkennen, zeigt das folgende Ergebnis in Abbildung 3: Insgesamt 73 SchülerInnen nahmen Kombinationen von Raumbezügen vor , während 27 SchülerInnen keine Kombination nannten. Die Zusammensetzung der Raumkategorien ergab sich beispielweise folgendermaßen: Fragebögen, die fragenübergreifend bspw. „Skateplatz“, „Amerika“ und „in allen Ländern“ beinhalteten, wurden als „lokal-national-global“ Kombination gewertet. Zu der „national-kontinentalen“ Kategorie zählten z.B. Antworten wie „Deutschland“ und „Afrika“.
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lokal - national - global 15% lokal - national 43%
lokal - kontinental 1% national - global 8% national kontinental 2%
lokal - global 4%
keine Kombination 27%
n= 100
Abb.3.: SchülerInnen die HipHop-Raumzuschreibungen nach Maßstabsebenen kombinieren
Den größten Anteil stellt die „lokal-nationale“ Raumkategorie dar (z.B. „NYC“ und „USA“), welche die bereits in Abbildung 2 enthaltenen und am häufigsten gennannten Kategorien (lokal und national) beinhaltet. Dadurch ist erkennbar, dass für einen Großteil der SchülerInnen sowohl der lokale als auch der nationale Raum eine wichtige Rolle in ihrer Vorstellung von HipHop spielt. Exemplarisch hierfür steht die Aussage von Leon: „Es wird oft da gestellt als wäre Hiphop von der Straße. Wenn Sie die Herkunft meinen dann Amerika.“ Auch Ella bestätigt in ihrer Aussage „HipHop kommt aus dem Amerikanischen“. Die Produktion von Musikvideos findet für sie jedoch in „Ghettos, heruntergekommenen Gegenden und nicht gerade schönen Orten“ statt. Stets werden sowohl lokalspezifische wie auch nationalspezifische Raumbezüge des HipHop’s in einem engem Zusammenhang genannt. Somit scheint bei einem Großteil der Befragten die Grundlage für ein glokales Raumverständnis von HipHop gesetzt. Jedoch muss davon ausgegangen werden, dass die Befragten weder eine dynamische Verbindung zwischen den HipHop-Raumzuschreibungen erkennen, noch verstehen, warum die lokal-globalräumliche Verbindung existiert und was sie für die SchülerInnen selbst bedeutet. So entstehen für Helena Musikvideos zu HipHop: „Am Ursprungsort. Dort wo sie entstanden sind gehört der Ursprung zum Merkmal dazu. HipHop verbinde ich mit Straßen Amerikas, wo im Hintergrund Graffiti-Wände vorkommen.“ Helenas Aussage weist sowohl eine lokale als auch nationale Maßstabsebene auf. Jedoch unterstreicht sie deutlich die Herkunft des HipHop´s und zeigt somit keinerlei Kenntnis über dessen glokales Vorkommen.
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Insgesamt verbinden 63% der SchülerInnen, die lokale Raumbezüge als wichtige Elemente des HipHop´s nennen, diese mit einer weiteren Maßstabsebene („lokal-national“, „lokal-global“, „lokal-kontinental“ und „lokal-national-global“). Offensichtlich stellt HipHop für sie kein ausschließlich lokalspezifisches Phänomen dar. Wie auch bei Helenas Aussage können „lokal-nationale“ Raumzuschreibungen wie „Amerika“ und „Stadt“, die gemeinsam genannt wurden, nicht direkt als Hinweis auf ein glokales Raumverständnis geltend gemacht werden. Sie sollten daher wie folgt betrachtet werden: Die lokale Raumzuschreibung „Stadt“ kann überall auf der Welt verortet werden. Die nationale Raumzuschreibung „Amerika“ gibt jedoch Aufschluss darüber, wo genau die lokale Raumzuschreibung „Stadt“ verortet wird. Dies bedeutet, dass der Großteil der SchülerInnen HipHop eindeutig räumlich verortet. Sie scheinen verstanden zu haben, dass HipHop verschiedene Raumbezüge mit sich bringt. Angezweifelt werden muss jedoch die Kenntnis über den Zusammenhang zwischen den unterschiedlichen Räumen und deren dynamischen Verbindung als glokales Phänomen. Die Anzahl der SchülerInnen, die globale HipHop-Raumzuschreibungen in Kombination vornehmen, beläuft sich auf 27%. In diesen Fällen wurde HipHop wahrscheinlich als globales Phänomen erkannt, wie auch seine weiteren Raumbezüge wahrgenommen. Unklar bleibt auch hier, inwiefern das Herstellen eines Zusammenhangs zwischen den verschiedenen Raumebenen das Verständnis der Befragten zeigt. Exemplarisch wird nachfolgend Toms Aussage angeführt. Für ihn entsteht HipHop aktuell „In Berlin und eigentlich überall auf der Welt.“ Seinen Ursprung verortet er in „Amerika“ und Musikvideos werden seiner Meinung nach „In Blocks oder Hochhäusern“ aufgenommen. Tom bedient somit sämtliche Maßstabsebenen, die in dieser Studie als wesentlich für Hip Hop beschrieben wurden. Die Zusammenhänge dazwischen scheint er jedoch nicht zu kennen. Es ist zu vermuten, dass das dominante Bild von HipHop als Produkt US-amerikanischer Massenkultur ihn und andere Befragte zu einer globalen Verortung animiert hat (vgl. Mager, 2007). 27% der SchülerInnen nannten keine Kombination von Raumbezügen. Die Benennung von nur einer Maßstabsebene deutet darauf hin, dass HipHop weder als translokales oder gar glokales Phänomen wahrgenommen wird. Aufgeschlüsselt nach Maßstabsebenen, stellt der lokale Raumbezug die am häufigsten genannte Kategorie dar (siehe Abb. 4). Womöglich verkörpern die von den SchülerInnen genannten, lokalspezifische Antworten wie „Ghetto“, „Straße“ oder „Stadt“ als konkrete Orte des HipHop´s, gleichermaßen auch seine Echtheit als konkreter HipHop eines bestimmten Raumes, sodass es für diesen Teil der Befragten keiner weiteren Raumergänzungen bedarf. Nicht zu unterschlagen ist auch die Möglichkeit, dass einige der Befragten ihrer Unlust den Fragebogen ausführlich oder vollständig auszufüllen, nachgaben und lediglich einige Schlagwörter notierten. Insofern weißt die Aussagekraft des Ergebnisses Grenzen auf.
Potenziale von HipHop für transkulturelles Lernen im Geographieunterricht
mit Kombination 73%
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nur lokal 16% nur national 8% nur global 3%
n= 100
Abb. 4: SchülerInnen die Raumbezüge ohne Kombination nennen
SchülerInnen, die keine Kombinationen nannten, verstehen HipHop offenbar weniger als globalen Verbund als Befragte, die Maßstabsebenen in ihren Aussagen kombinierten. Da sich ein Großteil dieser lokalspezifischen Aussagen auf die Produktion von Musikvideos bezieht, scheinen Videos und Clips vermehrt lokale Raumzuschreibungen zu visualisieren. Dies verleitet zu der Annahme, dass diese SchülerInnen ihr Wissen über HipHop aus diesen Videos ziehen. Davon ausgehend eignen sich insbesondere Musikvideos zur Vermittlung des Themas im Unterricht, da die SchülerInnen damit bereits vertraut sind. Eine weiterführende Analyse von Liedtexten könnte Aufschluss darüber geben, ob das ausgeprägte lokalspezifische Raumverständnis von HipHop der SchülerInnen wirklich darauf zurückzuführen ist.
5. FAZIT Im Zuge der durchgeführten Studie konnten neben der Bewertung von HipHop verschiedene, von den SchülerInnen vorgenommene, Raumzuschreibungen des Kulturphänomens HipHop ermittelt werden. Anhand der Ergebnisse werden nun die Forschungsfragen geklärt. Da die meisten der befragten SchülerInnen HipHop positiv bewerten, besteht eine günstige Ausgangslage für transkulturellen Geographieunterricht am Beispiel des Themas HipHop. Damit einhergehende Identitätsfindungsprozesse und Abgrenzungsmechanismen könnten die intrinsische Motivation an einem thematisch so ausgerichteten Unterricht fördern (Frage a). Lokale Raumbezüge sind für den größten Teil der Befragten omnipräsent im HipHop. Diese können im Geographieunterricht leicht durch die Wahl eines Musikbeispiels aus dem näheren Umfeld der SchülerInnen aktiviert werden. Obwohl
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Ronja Ege
der lokale Raum wahrscheinlich nur die Authentizität des HipHop’s für die SchülerInnen wahrt, besteht hierin eine Chance für den Unterricht: Über die vermutete Identifikation der Mehrzahl an SchülerInnen mit dem prototypischen Milieu der Szene, das an bestimmte lokale Orte und Räume gebunden ist, können vor allem die Gemeinsamkeiten innerhalb der Subkultur herausgearbeitet und in den Vordergrund gestellt werden (Frage b). Auch die nationale Maßstabsebene wird von vielen SchülerInnen genannt. Die Dominanz der USA führt dabei zu der Annahme, dass die SchülerInnen HipHop als kulturelles Massenphänomen verstehen, dessen Ursprung in den USA liegt. Auch auf dieses Wissen kann durch die Thematisierung des Ursprungs und der Verbreitungswege des HipHop’s eingegangen werden (Frage b). Dennoch erkennt ein Großteil der Befragten, dass sich HipHop auf unterschiedlichen Maßstabsebenen realisiert und damit keinen reinen Ausdruck US-amerikanischer Kultur darstellt. Damit bestehen gute Grundlagen, um mit den SchülerInnen HipHop als transkulturelles Phänomen zu erarbeiten. In Bezug auf die Verknüpfung von Raumbezügen ist davon auszugehen, dass die SchülerInnen keine Zusammenhänge zwischen den verschiedenen räumlichen Maßstabsebenen im HipHop erkennen. Die vornehmliche Herstellung von lokalen Raumbezügen bestätigt diese Annahme. Somit besitzen sie auch keine Kenntnisse über die dynamischen Spielarten des HipHop’s als Transkultur. Aus diesen Ergebnissen lassen sich folgende Schlussfolgerungen für die Themen Transkulturalität und transkulturelles Lernen mittels des Themas HipHop im Geographieunterricht ableiten: Die Vertrautheit und mehrheitlich positive Bewertung des Themas HipHop kann in der unterrichtlichen Umsetzung ein wichtiger und unterstützender Faktor sein. Angeknüpft werden kann an den für den Großteil der Befragten wichtigen lokalen Raumbezug. Dabei sollte dessen Allgemeingültigkeit in globaler Perspektive zur Erzielung von Authentizität in den Vordergrund gestellt werden. Des Weiteren sollte die angenommene Dominanz des US-amerikanischen Raumes thematisiert werden, um HipHop unter den SchülerInnen nicht nur als Massenkultur einen Namen zu geben, sondern auch als Werkzeug, das als glokales Phänomen Menschen und Kulturen verschiedener Herkunft vereint. Abschließend ist festzuhalten, dass sich das Thema HipHop als transkulturelles Phämomen in Bezug auf transkulturelle Lernprozesse im Geographieunterricht sichtlich gut eignet. Es besteht das Potenzial, die SchülerInnen von einem glokalem Kulturphänomen über die eigene kulturelle Hybridität hin zu einer transkulturellen Sichtweise zu führen. Offen bleibt, ob SchülerInnen transkulturelles Lernen in dem Maße in ihre migrationsgesellschaftlichen Wirklichkeiten tragen, sodass andauernde Schwierigkeiten „kultureller“ Natur letztendlich an Bedeutung verlieren.
Potenziale von HipHop für transkulturelles Lernen im Geographieunterricht
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KAPITEL 3 Migrationsbezogene Lehr- und Lernvoraussetzungen im Geographieunterricht
SCHÜLERINNENVORSTELLUNGEN ZU DEN GRÜNDEN VON MIGRATION UND UNTERRICHTSPRAKTISCHE KONSEQUENZEN Andreas Hoogen
1. EINLEITUNG Der vorliegende Beitrag beschäftigt sich mit SchülerInnenvorstellungen zum Thema Migration, im speziellen zu illegaler Migration. Insbesondere wird auf die Vorstellungen zu Migrationsmotiven eingegangen. Die Ergebnisse sind Teil eines Forschungsprojektes zu SchülerInnenvorstellungen zur illegalen Migration (vgl. Hoogen, 2016). Durch die gestiegene Anzahl an Geflüchteten in den vergangenen Jahren ist das Thema Migration und der gesellschaftliche Umgang damit in die politischen und gesellschaftlichen Debatten verstärkt gelangt. Die SchülerInnen werden in ihrem Alltag durch die Medien in einem hohen Maße mit diesem Thema konfrontiert. Zunächst werden die theoretischen Grundlagen der vorliegenden Forschung dargelegt. Darauf aufbauend wird das methodische Vorgehen vorgestellt. Anschließend werden Ergebnisse der fachlichen Klärung und der Erhebungen der SchülerInnenvorstellungen skizziert und am Ende didaktische Konsequenzen daraus abgeleitet.
2. SCHÜLERINNENVORSTELLUNGEN UND IHRE BEDEUTUNG FÜR DIE UNTERRICHTSPRAXIS Menschen erklären sich Beobachtungen auf Basis ihrer Vorkenntnisse, indem sie passende Anknüpfungsmuster in ihren Erfahrungen dazu finden. Sie greifen auf Vorkenntnisse zurück und ziehen daraus eine Schlussfolgerung, um Beobachtungen zu verstehen. Dabei wird auf solche Vorkenntnisse zurückgegriffen, die einen Erklärungswert für das Individuum haben. Bayer (2007, S. 17) beschreibt dies als Schlussfolgerung aus subjektiv interpretierten Informationen (Fakten) und einer Geltungsbeziehung, d.h. eine Beziehung zwischen Fakten und Schlussfolgerung. Dieses schlussfolgernde Denken ist eng angelehnt an die konstruktivistische Lerntheorie. Nach ihr ist Lernen ein aktiver, konstruktiver Prozess, bei dem der Wissenserwerb keine passiv-rezeptive Abbildung des zu Erlernenden darstellt. Jedes Individuum erzeugt innerhalb dieses Prozesses innere Repräsentationen, welche eine subjektive Interpretation der äußeren Realität darstellen, ähnlich wie der oben beschriebene Prozess des Schlussfolgerns. Die Interpretation findet auf der
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Andreas Hoogen
Folie des Vorwissens statt und lässt sich als Schlussfolgerungen verstehen, mit denen sich das Individuum Beobachtungen erklärt, kategorisiert oder Situationen einschätzt (vgl. Welzer, 2002, S. 21 & 56). Werden solche Schlussfolgerungen im Alltag eingesetzt und bewähren sie sich in ihrem Erklärungswert, werden sie zu verdichteten, mentalen Modelle oder zu theorieähnlichen Konstrukten (vgl. Duit & Treagust, 2003, S. 671; Reinfried, 2010, S. 6ff.). Ein wichtiger Einflussfaktor auf Schlussfolgerungen ist die Kommunikation. Erklärendes Denken findet oftmals nicht unabhängig von anderen statt, sondern wird in Kommunikation mit anderen gelernt und geteilt. Die Erkennung von Mustern wird in Kommunikation mit anderen gelernt und mit entsprechenden sprachlichen Begriffen verbunden. Diese, teilweise sehr basalen sprachlichen Begriffe (vgl. Lakoff, 1987), können allerdings auch zur Aktivierung falscher Muster beitragen. Dies kann – im wissenschaftlichen Sinne– zu falschen Ergebnissen führen. Begriffe wie „Bevölkerungsexplosion“, „Ozonloch“ oder „Energieverbrauch“ evozieren bestimmte Vorstellungen, indem sie bestimmte aus dem Alltag bekannte Denkmuster aktivieren (vgl. Gropengießer, 2007a). Ausgehend vom konstruktivistischen Verständnis besteht Einigkeit darüber, dass Wissen sich nicht als objektiver Gegenstand direkt transportieren lässt und somit auch nicht von Individuum zu Individuum direkt weiter gereicht werden kann (vgl. Reinfried, 2007). Lernen wird vielmehr als aktiver, selbstgesteuerter, konstruktiver, emotionaler und sozialer Prozess in einem bestimmten Handlungskontext betrachtet. Reinfried (2010) hat festgestellt, dass die im Alltag erprobten und bewährten Erklärungen äußerst resistent gegenüber Veränderungen sind. Es besteht zudem die Gefahr, dass sich aus bestehenden Vorstellungen und neu Gelerntem Hybridvorstellungen bilden (vgl. Vosniadou & Brewer, 1992). Aus diesem Grund können die auf Vorstellungen basierenden Schlussfolgerungen der SchülerInnen nicht einfach übergangen oder gelöscht werden, sondern sie müssen bei der Planung von Unterricht Berücksichtigung finden. Darüber hinaus eröffnet die Kenntnis des Vorwissens der LernerInnen im Sinne einer konstruktivistischen Didaktik die Möglichkeit, dieses adäquat und effektiv für die Prozesse des fachlichen Lernens zu nutzen. In Folge dieser Erkenntnisse hat die Forschung zu SchülerInnenvorstellungen in den Fachdidaktiken eine lange Tradition. Dabei versuchen die meisten Forschungsarbeiten die Vorstellungen als Grundlage und Ausgangspunkt unterrichtlicher Planung zu nutzen. Schuler & Felzmann (2013, S.18) bezeichnen die Forschung zu SchülerInnenvorstellungen als eine der zentralen Aufgaben der Fachdidaktiken. Demnach sind auch in der Geographiedidaktik eine Reihe von Forschungsarbeiten entstanden, die sich diesem wichtigen Forschungsfeld widmen (vgl. Bibliographie zu SchülerInnenvorstellungen; Reinfried & Schuler, 2009). Als geeigneter Rahmen zur unterrichtlichen Strukturierung hat sich das Modell der didaktischen Rekonstruktion nach Kattmann et al. (1997) bewährt, welches ursprünglich aus den Naturwissenschaften stammt, aber auch in der Geographiedidaktik Anwendung findet. Das Modell versteht die Fachdidaktik als Metawissen-
SchülerInnenvorstellungen zu den Gründen von Migration
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schaft der Fachwissenschaft, die aus einer Analyse der wissenschaftlichen Perspektive und den Vorstellungen der SchülerInnen unter gegenseitigem Bezug dieser beiden Teile aufeinander unterrichtliche Leitlinien ableitet (siehe Abb. 1).
Abb. 1: Modell der Didaktischen Rekonstruktion nach Kattmann et al., 1997
Der Begriff Rekonstruktion ist dabei zentral für das Verständnis des Modells: Die unterrichtliche Planung geht nicht vom Unterrichtsgegenstand aus und vereinfacht diesen im Rahmen der didaktischen Reduktion, sondern sie rekonstruiert diesen neu unter Einbeziehung der SchülerInnenvorstellungen. Diese sind dabei gleichberechtigt mit den in der fachlichen Klärung erhobenen fachlichen Perspektiven. Aus dem Vergleich der beiden Teile wird die didaktische Strukturierung entwickelt.
3. METHODISCHES VORGEHEN BEI DER UNTERSUCHUNG Die drei Elemente des Modells der „Didaktischen Rekonstruktion“ (siehe Kap. 2) waren leitend für die Struktur des Forschungsdesgins. Die fachliche Klärung ist die „kritische und methodisch kontrollierte Untersuchung fachwissenschaftlicher Theorien unter Vermittlungsabsicht“ (Gropengießer, 2008, S. 173). Bei der Auswahl der Literatur muss in Bezug auf humangeographische Themenfelder bedacht werden, dass es – anders als in den Naturwissenschaften – ein pluralistisches Nebeneinander von Theorien und Zugängen gibt und einen interdisziplinären, nicht generisch nacheinander verlaufenden Erkenntnisfortschritt (vgl. Reinfried, 2010, S. 16ff.). Daher wurden bei der vorliegenden Untersuchung nicht nur geographische Texte einbezogen (vgl. hierzu Bähr, 2010; Wehrhahn & Sandner Le Gall, 2011),
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Andreas Hoogen
sondern darüber hinaus soziologische und wirtschaftswissenschaftliche Texte (vgl. hierzu Alt, 2003; Bommes, 2008; Han, 2010; Straubhaar, 2007). Auch die juristischpolitische Diskussion war Teil der Untersuchung (vgl. z.B. Leutheusser-Schnarrenberger, 2006). Die ausgewählten Arbeiten wurden mit Hilfe der qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring (2003) systematisch analysiert und ausgewertet. Für die Explikation wurde weitere Literatur verwendet. Am Ende wurden aus den Texten Konzepte und Erklärungsansätze zu den relevanten Bereichen herausgearbeitet sowie die wichtigsten Kontroversen innerhalb des wissenschaftlichen Diskurses zur illegalen Migration dargestellt. Die SchülerInnenvorstellungen wurden im Rahmen einer empirischen Untersuchung erhoben, aufbereitet und interpretativ ausgewertet und mit den wissenschaftlichen Konzepten verglichen. In der vorliegenden Untersuchung wurde, wie in zahlreichen Studien zur didaktischen Rekonstruktion, auf ein qualitatives Forschungsdesign mit der Methode des leitfadengestützten, problemzentrierten Interviews zurückgegriffen. Dieses Setting hatte zum Ziel, die individuellen Sichtweisen, Sinnzuschreibungen, Denkmuster, Wirklichkeitskonzepte und -konstruktionen sowie komplexe soziale Wirklichkeiten oder kollektive Weltbilder der SchülerInnen zu explizieren und interpretativ zu erschließen (vgl. Flick, von Kardorff & Steinke, 2000, S. 20ff.) und die Vorstellungen in ihren Begründungszusammenhängen und ihrer Argumentstruktur zu analysieren. Die Untersuchungsmethode ist in der didaktischen Rekonstruktion erfolgreich erprobt und bewährt (vgl. Gropengießer, 2007b). Die Methode ermöglichte es dem Interviewer durch Impulse und der Aufforderung zum Erklären eines ausgewählten Sachverhaltes Konstruktionen und Schlussfolgerungsprozesse bei den Befragten zu initiieren (vgl. Sherin, Krakowski & Lee, 2012).1 Der Leitfaden für das problemzentrierte Interview wurde in Bezug auf die fachliche Klärung entwickelt und nach einer zweiphasigen Pilotierung modifiziert. Gefragt wurde zu Gründen und Motiven von Migration illegaler MigrantInnen sowie Constraints (Hindernissen). Die Sichtprobe wurde mit Hilfe eines theoretischen Samplings gezogen (vgl. Flick, von Kardorff & Steinke, 2000, S. 286ff.). Dieses zielt nicht auf das Erreichen von Repräsentativität, sondern auf die Erstellung eines Abbildes der heterogenen Bandbreite der Vorstellungen. Kriterien der Auswahl waren Geschlecht, Schulform, städtisches oder ländlichen Umfeld und Migrationshintergrund. Befragt wurden 15 SchülerInnen der 8. Klasse. Die Interviews wurden aufgenommen, transkribiert, sprachlich geglättet und mit MAXQDA anhand der Forschungsfragen untersucht sowie durch induktiv gebildete Kategorien sortiert.
1
Allerdings hat der Interviewer natürlich einen Einfluss. Nach Meyer (1987, S. 206) schränken LehrerInnenfragen die geistige Bewegung von SchülerInnenInnen ein. Er rechnet höchstens mit 50% Eigenanteil an der gemeinsamen Konstruktion. Auch wenn Interviews nicht direkt mit einem Unterrichtsgespräch vergleichbar sind, so ist das Problem der Steuerung dennoch evident. Es lässt sich im Setting der Erforschung von SchülerInnenInnenvorstellungen nicht ausschalten, es ist nur immer wieder zu reflektieren und dadurch zu minimieren.
SchülerInnenvorstellungen zu den Gründen von Migration
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In einem zweiten Schritt wurden die Passagen innerhalb der einzelnen Kategorien auf die ihnen inhärenten erklärenden Schlussfolgerungen untersucht und diese expliziert. Zu diesem Zweck wurden die wörtlichen Zitate nach dem Schema von Toulmin (2003) in verschiedene Teile von Argumenten zerlegt (vgl. Hoogen, 2016, S. 37). Der Analysemethode liegt eine hermeneutische Herangehensweise zugrunde, in welcher es das Ziel ist, hinter den einzelnen subjektiven Bedeutungsstrukturen, welche die Aussagen liefern, allgemeine, objektive Strukturen und Regelhaftigkeiten zu erschließen (vgl. Mayring, 2002, S. 121). Im dritten Schritt, der sowohl einen Teil der Explikation als auch bereits den ersten Teil der didaktischen Strukturierung darstellt, wurden die Konzepte der SchülerInnen mit den fachwissenschaftlichen Konzepten verglichen. Dabei wurden Gemeinsamkeiten, Verschiedenheiten und Eigenheiten der verschiedenen Konzepte herausgearbeitet. Aus dem Vergleich der fachlichen Konzepte und der SchülerInnenvorstellungen wurde abschließend eine didaktische Strukturierung des Themas für den Unterricht entwickelt. In den entwickelten Leitlinien wird einerseits versucht, Unterrichtsstrategien für die Veränderung undifferenzierter oder wissenschaftlich nicht haltbarer Vorstellungen zu finden und andererseits Ansatzpunkte herauszuarbeiten, an denen die Vorstellungen der SchülerInnen als Ausgangspunkte der unterrichtlichen Bearbeitung nutzbar werden können. Die vorgeschlagene mehrphasige Strukturierung greift dabei auf folgende Elemente zurück (vgl. dazu Reinfried, 2007, S. 25; Schuler & Felzmann, 2013, S. 153): 1. Orientierung im Thema und Bewusstmachung des subjektiven Vorwissens der SchülerInnen 2. Auseinandersetzung mit fachlichen Konzepten 3. Vergleich der subjektiven Vorstellungen mit der wissenschaftlichen Sicht; Offenlegung der Diskrepanzen 4. Rückblick auf den Lernprozess und Reflexion
4. ERGEBNISSE 4.1 Ergebnisse der fachlichen Klärung Zunächst kann festgestellt werden, dass einige WissenschaftlerInnen eine strukturelle Dichotomie zwischen Herkunfts- und Zielländern sehen. Es wird davon ausgegangen, dass in den Herkunftsländern verdrängende Faktoren (Push) wirken und in den Zielländern Faktoren anziehend auf MigrantInnen wirken (Pull). Der Ursprung des Modells ist eine monokausale Betrachtung von Lohndifferentialen (vgl. Sjaastad, 1962). Später wurde diese auf die durch die MigrantInnen erwarteten Lohndifferentiale ausgeweitet. Heute wird das Modell vor allem verwendet, um auf verschiedenen Ebenen die Multikausalität von Migrationsgründen zu strukturieren:
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Andreas Hoogen „Vor allem bilden die ungleichen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungen zwischen den Ländern und Regionen der Welt die makrostrukturellen Bedingungen für wachsenden Migrationsdruck“ (Han, 2010, S. 116).
Der Ansatz erscheint aufgrund seiner klaren Struktur und Anschaulichkeit besonders einleuchtend. Daneben gibt es auch empirische Belege dafür, dass das Modell in gewissem Maße einige Ursachen von Migration, vor allem auf der Makroebene, strukturiert darstellen kann. Kreiennbrink (2004, S. 48) beispielsweise stellt einen starken Migrationsdruck von Marokko nach Spanien fest, weil das Entwicklungsgefälle besonders hoch ist. In Bezug auf illegale Migration geht der Ökonom Straubhaar (2007) von rational handelnden, Lebensqualität maximierenden, Handlungsvor- und Handlungsnachteile abwägenden, aber in ihrer Entscheidungsfindung durch Budgetrestriktionen beschränkten Individuen aus. Allerdings ist der Ansatz als wissenschaftliche Erklärung für Migrationsprozesse keineswegs unumstritten. Es gibt eine Reihe von Hinweisen darauf, dass die Annahme des rationalen Entscheiders, insbesondere in Bezug auf Migration, nicht zu halten ist (vgl. Cohen, 1996, S. VI; Parnreiter, 2000, S. 44ff.). Dies wird durch empirische Beispiele belegt (vgl. Parnreiter, 2000, S.46). Dafür wird auch der Umstand herangezogen, dass Migration keineswegs immer von wirtschaftlichen Faktoren bestimmt wird. Abel & Sander (2014) konnten darlegen, dass es zwar ein erheblicher Teil der Migration von Less und Least in More Developed Countrys – teilweise über größere Distanzen – stattfindet, allerdings finden die meisten Wanderungsbewegungen zwischen benachbarten Ländern und Regionen und teilweise auch innerhalb der drei Entwicklungsstände statt. Auch haben Untersuchungen ergeben, dass Menschen aus Regionen mit besonders niedrigen Löhnen häufig keine Möglichkeit zum Migrieren haben (vgl. Pries, 2001, S. 17). Ganz besonders einleuchtend ist der Einwand, dass die Push-Pull-Modelle eine Art Determinismus vorgeben und demnach alle Menschen aus einem Land mit gravierenden Push-Faktoren in Länder mit Pull-Faktoren migrieren müssten, was nicht der Fall ist. Demnach müssen zur Erklärung von Migration weitere Theorien herangezogen werden. Ein Ansatz bieten die verhaltens- und entscheidungsorientierten Ansätze. Zwar gehen sie ebenfalls von rational abwägenden Akteure aus, beziehen aber weitere, vielfältigere Entscheidungsvariablen sozialer oder psychologischer Art mit ein. Zudem nehmen sie an, dass die jeweiligen Entscheidungsvariablen subjektiven Interpretationen unterliegen und auf unvollständigen oder fehlerhaften Informationen beruhen können (vgl. Bähr, 2010, S. 254; Wehrhahn & Sandner Le Gall, 2011, S. 90ff.). Die Theorie der „Neuen Migrationsökonomie“, zurückgehend auf Stark (1991), kritisiert ebenfalls den Ansatz der deterministischen Modelle. Für sie stellt Migration aus dem ländlichen Raum der „Entwicklungsländer“ keine individuelle Entscheidung dar, sondern eine gemeinsame Entscheidung der Haushalte zur Migration einzelner Familienmitglieder mit dem Ziel der Absicherung durch Diversifizierung der Haushaltseinkommen (vgl. Parnreiter, 2000, S. 31f.). Ebenfalls als besonders beachtenswert erscheinen die Theorien der „Dualen Arbeitsmärkte“, die „Weltsystemtheorie“ sowie der „Netzwerkansatz“. Die Theorie Dualer Arbeitsmärkte, zurückgehend auf die Überlegungen von Doeringer & Priore
SchülerInnenvorstellungen zu den Gründen von Migration
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(1971) beschreibt zuerst einmal eine Zweiteilung des Arbeitsmarktes in einen primären Sektor mit stabilen, gut entlohnten und qualifizierten Beschäftigungen mit guten Arbeitsbedingungen und einen sekundären Sektor mit ungelernten, schlecht bezahlten, instabilen Tätigkeiten mit schlechten Arbeitsbedingungen, in dem vornehmlich MigrantInnen beschäftigt werden. Der Bedarf an billigen Arbeitskräften wirkt dabei migrationsauslösend. Nachgewiesen sind diese Effekte u.a. für Deutschland in Bezug auf Gastarbeiter (vgl. Parnreiter, 2000, S. 28ff.) und die USA (vgl. Greenwood, 1984). Auch Netzwerke haben eine wichtige Bedeutung für illegale MigrantInnen (vgl. Parnreiter, 2000, S. 36ff.). Sie besitzen beispielsweise durch bereits bestehende ethnische Communities eine kostenreduzierende Funktion (Unterstützung, Informationsbeschaffung usw.). Sie wirken damit nicht direkt migrationsauslösend, sondern verstärken diese und führen zu einem Anhalten der Migrationen. Ein weiterer Erklärungsansatz ist die auf neomarxistische Ansätze zurückgehende „Weltsystemtheorie“ (vgl. Wallerstein, 1984), welche menschliches Handeln als Folge von strukturellen Zwängen auf Menschen sieht. Der umfassenden Theorie immanent ist auch ein Erklärungsansatz für Migration (vgl. u.a. Parnreiter, 2000, S. 32ff.), welcher die Einbindung verschiedener Räume in die internationale Arbeitsteilung und die sich damit verändernden stabilen Bedingungen in vielen Ländern im Rahmen des Globalisierungsprozesses (Entwurzelung, Zerstörung bestehender sozialer und ökonomischer Arrangements wie die Verdrängung von Subsistenzwirtschaft durch Importprodukte, Entstehen von Barrieren und Brücken) als Wanderungsauslöser sieht (vgl. Massey, 2000). Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass Fragen nach MigrantInnen als rationale Entscheider eine der zentralen wissenschaftlichen Kontroversen darstellen. In der Wissenschaft wird allerdings eine Erweiterung durch andere Erklärungsansätze vorgeschlagen, deren Nichtbeachtung im Unterricht eine, aus fachwissenschaftlicher Perspektive, unzulässige didaktische Reduktion darstellt.
4.2 Ergebnisse der Erhebung der SchülerInnenvorstellungen An dieser Stelle sollen zunächst die Ergebnisse der Interviewstudie zu den Vorstellungen von SchülerInnen von Gründen illegaler Migration2 dargelegt und jeweils mit den aus der fachlichen Klärung gewonnen Erkenntnissen verglichen werden.
2
Es besteht in der Literatur weitgehende Einigkeit darüber, dass illegale Migration v.a. durch restriktive Einreiseregelungen entsteht (vgl. Bähr, 2010, S. 284). Diese Einwanderregelungen sind nicht in der Lage Migration zu verhindern, sondern führen zu einer Illegalisierung (vgl. Bommes, 2006). Die Beweggründe der Menschen sind weitgehend deckungsgleich, daher wird in der Literatur und auch an dieser Stelle nicht zwischen Gründen illegaler und legaler Migration unterschieden.
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Andreas Hoogen
11 von 15 interviewten SchülerInnen3 nannten auf die Frage, warum Menschen ihr Herkunftsland in Richtung eines anderen Landes verlassen, als Grund die Möglichkeit, bessere, besser bezahlte oder überhaupt Arbeit zu finden.4 Darüber hinaus nannten viele Befragte weitere Gründe. Beispielhafte Antworten waren: Q: „Vielleicht wegen Wetter. Also z.B. wenn jetzt hier Schnee ist, die wollen Sonne haben nur, fahren sie rüber nach Amerika oder auf die Bahamas. Vielleicht wegen Geld, dass sie meinen, sie müssen mehr Geld verdienen da. Ja.“ L: „Ja, vielleicht weil es woanders schöner ist. Oder weil sie besser verdienen. Arbeit. Mehr Arbeit haben.“
Neben wirtschaftlichen Gründen nannten die SchülerInnen weitere vielfältige Motive: Wetter; Krieg; Verfolgung, auch infolge von begangenen Verbrechen; Armut im Herkunftsland; mehr Rechte für Kinder; Religionsfreiheit; Schulen und Sozialsysteme im Zielland. Im Zitat weicht einE SchülerIn auf das abstrakte „woanders ist es schöner“ aus. Anzumerken ist, dass der überwiegende Teil der Befragten abschwächende Operatoren (vgl. Toulmin, 2003) (z.B. „vielleicht“, „ich denk‘ mal“, „ich glaube“, „es könnte halt irgendwie“) verwendet. Daraus kann geschlossen werden, dass es sich hier um Vermutungen handelt. Um zu verstehen, welches Verständnis hinter diesen Vorstellungen steht, wurde eine Schlussfolgerung beispielhaft dargestellt (siehe Abb. 2). Die SchülerInnen gehen davon aus, dass im Zielland die Bedingungen zur Aspiration ihrer Bedürfnisse besser sind als im Herkunftsland und der einzelne Migrant unter Abwägung dieser Bedingungen eine Migrationsentscheidung getroffen hat. Auch gehen sie von einer Dichotomie von Ziel und Herkunftsland aus. Migration erscheint als eine durch Faktoren determinierte Entscheidung. Allerdings gibt es auch einige Aussagen, in welche subjektive Vorlieben, z. B. Wetter, in die Erklärungen einbezogen werden.
3
4
Wenn im weiteren Verlauf Häufigkeiten genannt werden, dienen diese zur Beschreibung der Aussagen und sollen in keiner Weise eine Repräsentativität ausdrücken, die aufgrund der kleinen Stichprobe nicht gewährleitet ist. Sie stellen ausdrücklich keine Indizien für Häufigkeiten dar. Dieses Ergebnis weist eine hohe Kongruenz mit den Migrationsmotiven der SchülerInnen selbst auf. In einer quantitativen Untersuchung von Hoogen (2016) wurden NeuntklässlerInnen nach eigenen Migrationsmotiven befragt und dabei stellte sich heraus, dass 71,2 % der Befragten das Merkmal „Besserer Beruf“ als wichtigsten Grund für eine mögliche eigene Migration sehen. Kumuliert man die drei wichtigsten Gründe, stieg der Wert weiter auf 87 % (vgl. ebd., S. 212).
SchülerInnenvorstellungen zu den Gründen von Migration
Fakten (Impuls) Menschen migrieren von einem Land in ein anderes
Operator vielleicht
Geltungsregel Menschen versuchen, ihre Lebensbedingungen zu verbessern
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Behauptung Vor allem die Verbesserung der wirtschaftlichen und beruflichen Situation ist ein wichtiger Grund, daneben gibt es aber weitere Gründe
Unterstützung Migration ist ein Mittel, um die Lebensbedingungen zu verbessern
Abb. 2: Schlussfolgerung zu Gründen von Migration, Dargestellt im Schema nach Toulmin (2003)
Über diese deterministische Sichtweise hinausgehend konnten sich drei SchülerInnen vorstellen, dass die persönlichen Kontakte der MigrantInnen bei der Migrationsentscheidung relevant sein könnten. M: „Vielleicht […] kriegen sie hier besser eine Arbeitsstelle. Oder sie haben Verwandte in einem anderen Land und wollen zu denen.“ Die Äußerung zeigt den Ansatz einer stark vereinfachten Netzwerktheorie. Als Schlussfolgerung dargestellt ist sie in Abbildung 3. Dabei sind Familienangehörige hier nicht als allgemeiner Migrationsgrund zu verstehen, sondern der befragte Schüler sieht in ihnen einen Faktor, in ein bestimmtes Zielland zu migrieren.
Fakten (Impuls) Menschen migrieren von einem Land in ein anderes
Operator vielleicht
Behauptung Grund sind Familienangehörige, die bereits im Zielland sind
Geltungsregel Familienangehörige oder Verwandte sind ein Grund zu migrieren, vor allem das Zielland wird dadurch festgelegt Abb. 3: Schlussfolgerung zum Einfluss von Netzwerken auf Migration
Bei der Frage nach Hinderungsgründen äußerten 12 von 15 Befragten, dass die Familie oder die Freunde ein Grund wären, nicht zu migrieren. Fünf merken an, dass
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Andreas Hoogen
die Heimatverbundenheit sich ebenso hemmend auf den Migrationswunsch auswirken würde. Vier nannten fehlende Geldmittel als einschränkend für Wanderungspläne. Im späteren Verlauf des Interviews wurden die Probanden zu Herkunfts- und Zielländern illegaler MigrantInnen befragt. Dabei zeigte sich eine stark polarisierte Vorstellung von unterschiedlichen Lebensbedingungen. Beispielhaft sind folgende Aussagen eines Schülers: I: „Hast du eine Idee, woher solche Leute kommen oder aus welchen Ländern die kommen? Vielleicht nicht unbedingt konkrete Länder, sondern wie es in solchen Ländern aussieht.“ S: „Ja, würde ich sagen, auch Länder, wo Probleme herrschen: Armut, Hunger, Krieg.“ I: „Ja, und in was für Länder gehen die?“ S: „Ich sage mal Länder, von denen sie glauben, dass die sicherer sind. Also z.B. Deutschland, z.B. Amerika. […] In Deutschland, USA, herrscht auf keinen Fall Armut oder so was […]. Die gesamte Situation scheint da einfach besser zu sein.“
Der Schüler bringt seine Sicht auf die Herkunftsländer auf die kompakte Formel: Das ist dort, „wo Probleme herrschen: Armut, Hunger, Krieg.“ Dem stellt er die Zielländer gegenüber, die „sicherer sind“ und wo „auf keinen Fall Armut“ herrscht. Für ihn scheint es in den Zielländern „einfach besser zu sein.“ In der Passage tritt ganz deutlich ein stark polarisierendes Denken auf, auch wenn die Dichotomie des Push-Pull-Modells in der Fragestellung vorgegeben wird. Formulierungen wie „nicht menschenfeindlich“ oder „kein Krieg“ legen den Schluss nahe, dass ein Teil der Befragten die Struktur der Zielländer mit starkem Bezug auf die Herkunftsländer und in Abgrenzung dazu konstruiert. Es lässt sich vermuten, dass Peter über ein kohärentes Modell der Herkunftsländer verfügt, welches Ähnlichkeiten zu in anderen Arbeiten nachgewiesenen Afrikakonzepten aufweisen (vgl. Hoogen, 2016, S. 336). Dieses kann auch durch die visuelle Darstellung von Migration in Geographieschulbüchern beeinflusst sein (vgl. Budke & Hoogen, 2017). Auch findet eine starke Überzeichnung von Disparitäten statt. Diese Polarität tritt bei mehreren Befragten zutage.
4.3 Vergleich der SchülerInnenvorstellungen mit den Konzepten der fachlichen Klärung Die in Kapitel 4 dargelegten Gründe von Migration sind aus fachwissenschaftlicher Sicht ein kompliziertes Geflecht aus Ursachen verschiedener Art und Dimension, aus freiwilligen Motiven und strukturellen Zwängen und aus objektiven Faktoren und subjektiven Entscheidungen. Dabei wird die Migrationsentscheidung in den meisten Fällen als multikausal und multifaktoriell angesehen. In Bezug auf die SchülerInnenvorstellungen lässt sich konstatieren, dass sich diese Vielfältigkeit und Komplexität der Erklärungsansätze dort nicht wiederfindet. Ganz allgemein könnte hier zunächst von verkürzten Vorstellungen gesprochen werden.
SchülerInnenvorstellungen zu den Gründen von Migration
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Bei einem Vergleich der SchülerInnenvorstellungen mit Migrationstheorien ist auffällig, dass die Gründe der SchülerInnen vor allem nach dem Push-Pull-Model strukturiert werden. In fachwissenschaftlichen Konzepten werden vornehmlich makrostrukturelle Ursachen im Rahmen individueller Kosten-Nutzen-Abwägungen in Motivationen transformiert. Die SchülerInnen siedeln die Ursachen dagegen eher auf der Mikroebene, insbesondere auf der motivationalen Ebene, an. Die Push-PullModelle sind „einfach und naheliegend“ (vgl. Wehrhahn & Sandner Le Gall, 2011, S. 89). Es erscheint „plausibel, ja logisch, daß [sich] der Wunsch nach höheren Löhnen zu Migration führe“ (Parnreiter, 2000, S. 45). Demnach erscheint auch die von den SchülerInnen vollzogene und oben beschriebene Schlussfolgerung einleuchtend. Den Schwerpunkt legen viele SchülerInnen auf die wirtschaftliche Situation und die berufliche Perspektive der MigrantInnen. Die Annahme eines rationalen Entscheiders (vgl. Coleman & Fararo, 1992), taucht implizit in den Vorstellungen der SchülerInnen auf. Das Push-Pull-Modell scheint demnach hochgradig anschlussfähig, allerdings darf dabei dessen Kontroversität nicht unbeachtet bleiben. Ein weiterer Anknüpfungspunkt besteht darin, dass SchülerInnen zum Teil in der Lage sind, Transaktionskosten oder Opportunitätskosten wie die Trennung von der Familie und die Abhängigkeit von verfügbaren Geldmitteln zu antizipieren. An diese Vorstellungen lassen sich verhaltens- und entscheidungstheoretische Modelle anknüpfen, welche die Unterschiedlichkeit individueller Entscheidungen hervorheben. Dabei muss allerdings berücksichtig werden, dass SchülerInnen eher deterministische Vorstellungen haben, was im Gegensatz zu verhaltens- und entscheidungstheoretische Modellen steht. Netzwerke sind besonders für illegale MigrantInnen, die nicht auf behördliche Unterstützung zurückgreifen können von besonderer Bedeutung. Auch wenn in Bezug auf Wohnungs- und Arbeitsplatzsuche von einigen Befragten die Bedeutung von Netzwerken geäußert wird, taucht die Vorstellung, dass solche Netzwerke migrationsauslösend oder -verstärkend wirken, in den Aussagen nicht auf. Das Verständnis von Unterstützungsleistungen kann durchaus als eine Art Ausgangspunkt für das Verständnis von Netzwerken genutzt werden. Als förderlich kann auch angesehen werden, dass die meisten Befragten Probleme der illegalen MigrantInnen wie die Exklusion von gesellschaftlichen Systemen (Gesundheit, Arbeits- und Wohnungsmarkt, Rechtsschutz, usw.) antizipieren können, die mit dem Status der Illegalität einhergehen (vgl. Hoogen, 2016, S. 230ff.). Für die weiteren oben genannten Theorien wie die „Dualen Arbeitsmärkte“ oder die „Weltsystemtheorie“ lassen sich in den Vorstellungen keine oder nur sehr rudimentäre Anzeichen bei den SchülerInnen erkennen.
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5. DIDAKTISCHE KONSEQUENZEN Die hier dargestellten didaktischen Leitlinien verstehen sich als eine evidenzbasierte Hilfe bei der Strukturierung des Themas Migration für den Geographieunterricht, ohne dabei eine bis ins Detail ausgearbeitete und vor allem evaluierte Unterrichtsvorlage darzustellen. Es wird dabei versucht einerseits Widersprüche zwischen dem fachlichen und dem SchülerInnenwissen zu entdecken und/oder diese als Ausgangspunkte für Lehr- und Lernprozesse zu nutzen. Die SchülerInnen gehen ganz stark von einem rationalen Entscheider aus, der seine Migrationsentscheidung in einer Abwägung verschiedener Push- und PullFaktoren trifft. Bei der Konstruktion von Motiven fokussieren sie ganz stark auf ökonomische Faktoren. Insgesamt zeigen sie eine geringe Varianz der antizipierten Gründe und argumentieren dementsprechend oftmals monokausal. Im Hinblick auf Unterricht lässt sich also ableiten, dass das Push-Pull-Modell durchaus ein Ansatzpunkt für den Unterricht sein kann. Es knüpft an die LernerInnenvorstellungen an und bietet gleichzeitig die Möglichkeit, eine große Vielfältigkeit von Gründen in einem am Vorwissen orientierten Schema zu vermitteln. Allerdings darf, vor allem aufgrund seiner leichten Zugänglichkeit für die LernerInnen, dabei die Kontroversität des Ansatzes nicht unberücksichtigt bleiben. Auch muss beachtet werden, dass in Bezug auf illegale Migration eine stark polarisierte und stereotype Vorstellung von Herkunfts- und Zielländern vorherrscht. Hierbei muss ein Fokus auf der Aufdeckung der Konstruktionsprinzipien von Vorstellungen und Prämissen des Push-Pull-Modells liegen sowie auf einer Reflexion der Kritik an dem Modell. In Bezug auf die SchülerInnenvorstellungen lassen sich ebenfalls eine Reihe von Möglichkeiten erkennen, alternative Ansätze in den Unterricht einzubringen. Die SchülerInnen antizipieren verschiedene wanderungshemmende Constraints und auch für Netzwerktheorien finden sich fruchtbare Ansätze. Es erscheint aus den genannten Überlegungen heraus durchaus sinnvoll, zu Beginn eines Unterrichts die Vorstellungen zu Gründen von Migration in einer Mind Map festzuhalten. Dabei könnte den SchülerInnen weitgehende Freiheit in der Gestaltung der einzelnen Äste gelassen werden. Es können aber auch Strukturen vorgegeben werden (freiwillig-unfreiwillig / Auswanderungsregionen-Zielregionen / PushPull usw.).Letzteres hätte eine gezielte Erhebung von Stereotypen zur Folge. Wird den SchülerInnen weitgehende Freiheit bei der Gestaltung einer solchen Übersicht über ihre Vorstellungen gegeben, bestehen Chancen darauf, dass der anschließenden Diskussionen im Plenum über die SchülerInnenprodukte die Strukturierungen der Mind Map schon ein Ansatzpunkt sind, die Kontroversen der wissenschaftlichen Diskussionen zu entwickeln. Es bietet sich an, diese Strukturierung in einem Push-Pull-Schema vorzunehmen, um sie später in der Diskussion und Reflexion dekonstruieren und erweitern zu können. Die Interviews haben gezeigt, dass die
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SchülerInnen eine breit gestützte Kenntnis5 von Gründen haben. Diese Fähigkeit lässt sich nutzen, um über entsprechende Impulse vertiefende Anknüpfungs- und Konstruktionsprozesse bei den SchülerInnen in Gang zu setzen. Beispielsweise können Migrationsmotive nach Grad der Freiwilligkeit, Rechtsstatus, zeitlicher Dimension oder nach verschiedenen Räumen und Distanzen diskursiv systematisiert werden. Die Auseinandersetzung mit dem fachlichen Wissen kann zweischrittig erfolgen. Zum einen erscheint die Beschäftigung mit Zahlen zu Ziel- und Herkunftsländern illegaler MigrantInnen sinnvoll, beispielsweise mit den anschaulichen Grafiken zur Quantifizierung weltweiter Migration von Abel & Sander (2014). An einem solchen Zugang könnte die Relativierung Afrikas als Herkunftsregion von Migration und illegaler Migration und die Dekonstruktion der Vorstellung von deterministischen Migrationsbewegungen ansetzen. Deterministische Wanderungsvorstellungen zwischen reichen und armen Ländern, insbesondere mit Blick auf den afrikanischen Kontinent, könnten hiermit dekonstruiert werden. Bei der Diskussion der Daten kann die Frage der Möglichkeiten zur Migration, beispielsweise aus Krisenregionen, aufgegriffen werden und in diesem Zusammenhang an die bei einem Teil der SchülerInnen vorhandene und intuitiv verständliche Vorstellung von Constraints angeknüpft werden. Der zweite Schritt der Auseinandersetzung mit den fachlichen Konstruktionen sollte den Perspektivwechsel beinhalten. Hierbei kann auf eine der Komplexität Rechnung tragenden Entscheidungssituation von MigrantInnen zurückgegriffen werden. Im Schulbuch Praxis Geographie (vgl. Westermann, 2009, S. 42) findet sich ein geeignetes, vielschichtiges Entscheidungsspiel, mit dem sich adäquat an die SchülerInnenvorstellungen anknüpfen lässt. Die SchülerInnen werden in einem solchen Planspiel zum Perspektivwechsel gezwungen und können sich unter Einbeziehung von Constraints über Vor- und Nachteile dieser weitgehend freiwilligen Entscheidung argumentativ austauschen. Dabei lässt sich sowohl ein grundsätzliches Verständnis für die Motivationen der Menschen vermitteln als auch ein perspektivisch anders gelagerter Fokus auf Illegalität. Im Beispiel liegt dieser auf einer utilitaristischen Bewertung der Vor- und Nachteile des Status aus Sicht der Betroffenen. Am Ende einer solchen Unterrichtseinheit muss das Ausgangsmodell aufgegriffen und dessen Unzulänglichkeiten und Stärken diskutiert werden. Dies könnte durch eine Diskussion der auf dem Modell basierenden Lösungsansätze sowie deren Reichweite erfolgen. Abschließend kann die Mind Map durch neue Ansätze ergänzt werden. So kann z.B. dem Push-Pull-
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Dieser aus der Betriebswirtschaft entlehnte Terminus beschreibt das Wiedererkennen von Marken. Es steht im Gegensatz zum ungestützten Erkennen, dem Nennen von Marken zu einem bestimmten Produktbereich. Die SchülerInnenInnen nennen bei der Frage nach Gründen eigenständig nicht viele, sind aber fast ausnahmslos in der Lage gewesen, Krieg oder bessere Schulen als Gründe, Strand oder Wetter als eingeschränkte Gründe und Ärger mit Nachbarn oder Sehenswürdigkeiten als in diesem Sinne unbrauchbar zu identifizieren (vgl. Hoogen, 2016, S. 199ff.).
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Gegensatz ein vielfältiges Zusammenwirken und Nebeneinander verschiedener Ursachenkomplexe zugewiesen werden. Zudem ist es sinnvoll, mit biographischen Beispielen zu arbeiten, um die verschiedenen Motivationen in verschiedenen Abstufungen des Freiwilligkeitsgrades aufzeigen (vgl. Hoogen, 2017). Biographische Beispiele nehmen die in den Interviews gezeigte Fähigkeit vieler SchülerInnen auf, sich auf der Mikroebene in verschiedene Akteure hineinzuversetzen, auch in die MigrantInnen. Weiter knüpfen sie an die Fähigkeit der SchülerInnen zum gestützten Erkennen von Migrationsgründen an. Über den Zugang kann einerseits verhindert werden, dass stereotype Vorstellungen verstärkt werden. Zudem kann über den Perspektivwechsel ein paternalistisches Mitleid aus der europäischen Sichtweise verhindert werden. Besonders wichtig sind die Einbeziehungen der Ausgangsvorstellungen sowie deren Reflexion in Bezug auf die Unterschiede zum Gelernten. Mit letzterer sollte die Unterrichtseinheit abschließen.
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„NAJA, DA WAR EIN SCHILD AN DER AUTOBAHN“ – SCHÜLERINNENVORSTELLUNGEN VON RÄUMLICHEN GRENZEN AM BEISPIEL EUROPAS Sebastian Seidel / Alexandra Budke
1. EINLEITUNG Im Kontext von internationaler Migration ist die Beschäftigung mit räumlichen Grenzen im Geographieunterricht, sowohl in ihrer physisch-materiellen Form, als auch als soziokulturelles Phänomen unumgänglich. Am Beispiel von Grenzziehungen können SchülerInnen viel über Identitätsbildung, die Trennung des „Eigenen“ vom „Fremden“ sowie die Prozesse der gesellschaftlichen Konstruktion von Räumen lernen (vgl. Seidel & Budke, 2017). Eine zunehmend heterogene SchülerInnenschaft – mit und ohne Migrationshintergründe, mit und ohne Fluchterfahrungen – bringt eine Vielzahl unterschiedlicher Perspektiven und Wissensstände bezüglich räumlicher Grenzen in den Unterricht mit. Der folgende Artikel beschäftigt sich am Beispiel der Grenzen Europas mit der Frage, welche Vorstellungen und welches Wissen SchülerInnen von diesen Grenzen haben. Europas Grenzen sind im Gegensatz zu vermeintlich stabilen Grenzen von Nationalstaaten wesentlich umstrittener und keinesfalls eindeutig festgelegt. Je nachdem woher SchülerInnen stammen, stoßen hier eurozentrische auf alternative Blickwinkel, Vorstellungen und Erfahrungen. Zur Beantwortung der Frage, wie sich diese Vorstellungen von Grenzen unterscheiden, wurden qualitative Interviews mit geflüchteten und mit in Deutschland aufgewachsenen SchülerInnen geführt. Zudem wurden stumme Weltkarten ausgewertet, in welche die SchülerInnen ihre Grenzen von Europa eingezeichnet haben. Der Artikel ist in vier aufeinander aufbauende Abschnitte unterteilt. Zunächst werden theoretische Grundlagen zu Grenzen im Geographieunterricht vorgestellt. Im zweiten Teil werden die genauen Forschungsfragen sowie die Vorgehensweise der Befragung und die Auswertung der stummen Weltkarten erläutert. Anschließend werden im dritten Abschnitt ausgewählte Ergebnisse des Forschungsprojektes gezeigt. Diese werden anschließend diskutiert und abschließend, im vierten Abschnitt, in Schlussfolgerungen und einen Ausblick überführt.
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2. GRENZEN IM GEOGRAPHIEUNTERRICHT – DAS BEISPIEL EUROPA Unter dem Begriff „Grenze“ werden hier die gesellschaftlich hergestellten Grenzziehungen verstanden, die verschiedene Gebiete voneinander trennen. Dazu zählen sowohl administrative Grenzen (Staatsgrenzen, Verwaltungsgrenzen, Grundstücksgrenzen, etc.), als auch die nicht amtlich festgelegten Grenzen zwischen nicht administrativen Gebietseinheiten (Grenzen der Heimat, etc.) (vgl. Leser, 2005, S. 315). Erst durch das Ziehen von Grenzen können Territorien und Räume, im Plural gedacht, überhaupt entstehen. Grenzen bzw. Grenzziehungen sind als soziokulturelles und politisches Phänomen insofern bedeutsam, als dass sie Bestandteil kollektiver, räumlicher Identitätskonstruktionen sind. Das „Eigene/Wir hier“ wird dabei einem „Fremden/Die dort“ gegenübergestellt (vgl. Glasze & Mattissek, 2009, S. 170) und anhand der Grenzziehung wird diese Trennung konkret verortet. Das Besondere an diesen räumlichen Identitätskonstruktionen ist außerdem, dass Grenzen als „territoriale Klammer“ (Reuber, 2014, S. 187) die Ausbildung vermeintlich homogener sozialer Kollektive (z.B. die „Europäer“) unterstützen. Das Phänomen der damit einhergehenden vorgeblichen Bereinigung von sozialen Differenzen und Unterschieden wird als purification of space (vgl. Sibley, 1988, S. 409f.) bezeichnet. Als Beispiel für diese Untersuchung wurden die Grenzen des Kontinents Europa ausgewählt. Der Grund für diese Auswahl liegt darin begründet, dass dieses Thema für SchülerInnen besonders relevant und daher immanenter Teil des Geographieunterrichts in Deutschland ist. Statt eindeutiger Zuordnungen existiert in der Fachwissenschaft eine Vielzahl unterschiedlicher Grenzziehungen für den Kontinent Europa (vgl. Schultz, 2003, S. 223f.). Dennoch wird in deutschen Schulbuchkarten und -texten üblicherweise ein eindeutiges und klar definierbares Bild der Grenzen Europas vermittelt (vgl. Schultz, 2013, S. 328). Sie werden dort anhand von physischen Gegebenheiten (Meere im Norden, Westen und Süden; Uralgebirge und -fluss, Kaspisches Meer, Manytsch-Niederung und Asowsches Meer im Osten) lokalisiert (vgl. ebd.). Diese eindeutige Darstellung entspricht nicht den fachlichen Diskussionen. Die soziale Konstruiertheit sowie die damit verbundenen Auswirkungen solcher Grenzziehungen werden im Geographieunterricht nicht thematisiert. Als Erklärung für diese Art der Darstellung in den Schulbüchern und Atlanten lassen sich, bei Betrachtung des historischen Diskurses der Grenzziehungen Europas, zwei mögliche Ziele der AutorInnen identifizieren: 1. Die Reichweite des eigenen Einfluss- oder Machtbereiches klar zu definieren und damit einhergehend 2. Gemeinsame Identität, durch die klare Abgrenzung des Eigenen von einem Anderen oder Fremden, zu schaffen (vgl. Budke & Schindler, 2016, S. 54). Um Grenzen hinsichtlich ihrer Komplexität erfassen und analysieren zu können, wurde anhand der Raumkonzepte (vgl. Wardenga, 2002, S. 8f.) ein Modell entwickelt, dass als Analyserahmen für die vorliegende Untersuchung eingesetzt werden soll (vgl. Seidel & Budke, 2017). Das Modell typisiert Grenzen bzw. ihre Darstellungsformen anhand der vier geographischen Raumkonzepte. Im Falle der Grenzen Europas stellt sich die Analyse anhand dieses Modells wie folgt dar:
SchülerInnenvorstellungen von räumlichen Grenzen am Beispiel Europas
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1. Container-Grenze: Diese Form der Grenze rahmt spezifische Behälter, sie ordnet und trennt nach innen und nach außen. Wird der Kontinent Europa als Behälter oder Container betrachtet, trennt die Grenze diesen Raum ab. Die Lage und der Verlauf der Grenze lassen sich auf einer Karte festlegen. Darüber hinaus kann definiert werden, was innerhalb und außerhalb der Grenze liegt. Tatsächlich ist dies im Falle eines Kontinents Europa kein sinnvolles Raumkonzept, denn die Grenzziehung hat keine administrative Funktion und verfügt über keine physisch-materielle Repräsentation (in Form von Kontrollen, Schildern, Zäunen oder Mauern). Wird „Europa“ dagegen als „Europäische Union“ verstanden, gibt es natürlich administrative Grenzen, die u.a. in Nordafrika (Ceuta, Melilla), Südamerika (Franz. Guayana) und im Indischen Ozean (Réunion) liegen. Dies wird bei Kartierungen in Schulbüchern jedoch häufig nicht berücksichtigt. 2. Grenze in einem System von Lagebeziehungen: Der Raum eines Systems von Lagebeziehungen ist gefüllt mit materiellen Objekten (z.B. Infrastruktur, Gebäude, natürliche Ressourcen und Gegebenheiten), die spezifische Standorte haben und miteinander in Beziehungen stehen. Die Analyse eines solchen Raumes fokussiert sich auf die Verhältnisse zwischen verschieden Objekten hinsichtlich Lage, Verbindungen und Austausch. Die Grenze Europas wäre hier hinsichtlich ihrer Bedeutung für Verknüpfungs- und Austauschmuster im Raum relevant. Dies ist im Falle des Kontinents jedoch, ebenso wie bei der Container-Grenze, keine sinnvoll anwendbare Perspektive, da es sich um kein einheitlich definiertes Territorium handelt. Die Grenze des Kontinents Europa hat keinen unmittelbaren Einfluss auf die Raumstruktur, da sie insbesondere im Osten innerhalb der Territorien von Nationalstaaten verläuft, keine administrative Bedeutung hat und folglich an keinerlei Grenzregime gekoppelt ist. 3. Grenze in der Wahrnehmung: Hinsichtlich der Wahrnehmung von Grenzen sind zwei Aspekte zu unterscheiden: Zum ersten die direkte Erfahrung der Grenze beispielsweise bei Reisen und zum Zweiten die Bedeutung der Grenze auf individueller Ebene. Die Grenze ist in diesem Kontext ein Objekt der Wahrnehmung, ein Element der eigenen Verortung und Identitätsbildung sowie ein Element zur Begründung von Handlungen. Im Falle der Grenzen Europas stellt sich hier die Frage, wie diese aus unterschiedlichen Perspektiven wahrgenommen und beurteilt werden. Dazu ist unter anderem wichtig, wie Europa definiert wird und aus welcher Perspektive (innen oder außen) die Betrachtung stattfindet. 4. Grenze als das Produkt menschlicher Handlungen und Kommunikation: Die Grenze dient der Ein-, Ab- und Ausgrenzung sowie der Ausbildung kollektiver Identitäten. Im Falle Europas stellt sich die Frage, wer, wie, von wo aus, wann und auf welche Art und Weise die Grenze konstruiert und welche Konsequenzen dies hat. Die Grenze ist hier als diskursiver Prozess zu verstehen der stetig reproduziert und rekonfiguriert wird. Die Grenzziehung am Bosporus beispielsweise hat erheblichen Einfluss darauf, ob die Türkei zu Europa oder zu Asien gezählt wird. Dies kann Auswirkungen auf einen möglichen EU-Beitritt haben.
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SchülerInnenvorstellungen von Europa, die auch Vorstellungen von Grenzen implizit beinhalten und thematisieren, wurden bereits an verschiedenen Stellen erforscht. Eine der ersten Arbeiten in diesem Zusammenhang stellt „How I see my country“ dar (vgl. Haubrich, 1987). Der Autor stellt hier persönliche Landesbeschreibungen von SchülerInnen vor, wobei Grenzen jedoch nur in der räumlichen Beschreibung der jeweiligen Nationalstaaten und ihrer angrenzenden Nachbarn auftauchen. Neuere Arbeiten, die sich mit Europavorstellungen beschäftigen, fokussieren primär auf die Raumvorstellungen von Grundschulkindern. Schniotalle (2003) nutzt primär die Methode des mental mapping und analysiert topographische Kenntnisse sowie räumliche Orientierungsfähigkeit von deutschen Grundschulkindern. Grenzen bleiben in diesem Forschungsdesign jedoch lediglich in Form der gezeichneten mental maps relevant, ohne eine spezifische Analyse zu erfahren. Interessant ist jedoch die Erkenntnis, dass bereits Grundschulkinder die üblichen kartographischen Mittel (Einfärben von Flächen, Grenzen als Linien) übernehmen und dass außerschulische Einflüsse und Interessen in erheblich größerem Maße die Raumvorstellungen prägen, als das in der Schule Gelernte (vgl. Schniotalle, 2003, S. 309). Ein ähnliches Design hat auch die Arbeit von Schmeinck (2007), welche die Fähigkeiten der Kinder im Umgang mit kartographischen Medien sowie das Bewusstsein der eigenen Länder- und Kontinentzugehörigkeit von Grundschulkindern aus insgesamt acht Länder in Europa, Nord- und Südamerika untersucht. Insbesondere der zweite Analysefokus, die Zugehörigkeit, thematisiert dabei implizit die Abgrenzung und die eigene räumliche Verortung. Die Grenzen selbst werden dabei als Instrument dieser Abgrenzungen behandelt. Eine explizite Auseinandersetzung oder Analyse von Grenzen erfolgt in diesem Kontext jedoch nicht. Dafür findet sich bei Schmeinck (2007) das bedeutsame Ergebnis, dass sich die Wahrnehmungen des in der Didaktik für Grundschulkinder häufig als zu abstrakt wahrgenommenen Fernraums und die damit verbundene Formung von Weltbildern bereits in diesem Alter entwickeln. Damit ist auch eine politische Gliederung von Kontinenten und Staaten verbunden. Aufgrund des Forschungsdesigns wird jedoch nicht deutlich, ob Strittigkeiten (bspw. die Zugehörigkeit der Türkei) thematisiert oder kartiert wurden. Alle drei Arbeiten zeigen, dass europäische Kinder europazentrierte Karten zeichnen und somit stets Deutschland und Europa im Zentrum der Darstellung stehen. Budke und Hoogen (2017) stellen fest, dass SchülerInnenvorstellungen von illegaler Migration insbesondere durch die bildlichen Darstellungen von konkreten Grenzübertritten z.B. durch Flüchtlingsboote auf dem Mittelmeer, geprägt werden. Hoogen (2016) hat in seiner Dissertation SchülerInnenvorstellungen im Kontext des Themas „Illegale Migration“ erforscht und die Thesen von Reinfrieds (2010, S. 16ff.) bestätigt, dass Konzepte von SchülerInnen meist wenig differenziert und wissenschaftlich verkürzt sind (siehe hierzu auch den Beitrag von Hoogen in diesem Band). Die Forschungslücke, der sich die vorliegende Arbeit widmet, besteht in der Erhebung von konkretem SchülerInnenwissen und -vorstellungen über europäische Grenzen. Die individuellen Grenzziehungen und Raumkonstruktionen der SchülerInnen in der Sekundarstufe I sollen erhoben werden. Damit stehen nicht die Räumvorstellungen und topographisches Wissen von Grund-
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schulkindern, wie in den oben genannten Werken, im Vordergrund der Untersuchung, sondern die Frage nach den SchülerInnenvorstellungen und dem Wissen über die Grenzen dieser Räume und die Auswirkungen solcher Grenzziehungen.
3. FRAGESTELLUNG UND METHODISCHE VORGEHENSWEISE Im Folgenden wird das Forschungsdesign zur Erhebung und Auswertung von SchülerInnenvorstellungen bezüglich europäischer Grenzen und individueller Grenzerfahrungen erläutert.
3.1 Fragestellungen Im Sinne eines qualitativen Vorgehens (vgl. Mattissek et al., 2013, S. 35) wurden für die vorliegende Arbeit keine „a priori-Hypothesen“ formuliert, sondern stattdessen Ziele, Arbeitshypothesen sowie einzelne Leitfragen für die Untersuchung entwickelt. Primäres Ziel der Untersuchung war es, einen Überblick über das Wissen einer heterogenen SchülerInnenschaft über Grenzen im Allgemeinen und die Grenzen Europas im Speziellen zu erlangen. Als Arbeitshypothese wurde davon ausgegangen, dass SchülerInnen, die im Schengenraum geboren und aufgewachsen sind anderes Wissen und andere Erfahrungen mit Grenzen haben, als solche SchülerInnen, die aus Staaten außerhalb der EU stammen und in jüngster Zeit eigene, konkrete Migrationserfahrungen an Grenzen gesammelt haben. Dazu wurden folgende Leitfragen formuliert: 1. Was ist für die Befragten eine räumliche Grenze und wie definieren sie den Begriff? 2. Welche Typen von Raumgrenzen thematisieren die Befragten in ihren Aussagen? Wird der Konstruktionscharakter von Grenzziehungen verstanden? 3. Welche eigenen Erfahrungen haben die Befragten mit Grenzen gemacht? 4. Welche individuellen räumlichen Vorstellungen haben die Befragten von den Grenzen Europas?
3.2 Methodik: Episodische Interviews und Karten Als Erhebungsinstrument dienten episodische Interviews (vgl. Lamnek, 2010, S. 349), die vorrangig leitfadengestützt geführt wurden. Die Interviews wurden dazu in vier Abschnitte/Episoden unterteilt: 1. Grenzbegriffe/-arten In diesem ersten Abschnitt wurden anhand eines kurzen Leitfadens Fragen zu Grenzbegriffen und -arten gestellt. Als Einstieg diente die Frage „Was verstehst du
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unter Grenzen? Was sind Grenzen?“ Außerdem wurden folgende potenzielle Nachfragen formuliert: „Wie sehen Grenzen aus?“, „Warum gibt es Grenzen?“, „Gab es schon immer Grenzen?“, „Wozu gibt es Grenzen?“ sowie „Für wen gibt es Grenzen?“ Ziel war es, die GesprächspartnerInnen zunächst den Begriff „Grenze“ selbst klären und definieren zu lassen. 2. Die Grenzen Europas Der zweite Abschnitt begann mit der Frage „Was ist Europa für dich?“, um erneut eine eigenständige Begriffsklärung, die eigene Positionierung sowie die persönliche Beziehung und Bedeutung für die SchülerInnen zu untersuchen. Im Anschluss folgte die Aufgabe, Europa in einer stummen Weltkarte zu lokalisieren und einzuzeichnen. Diese war auf Europa zentriert dargestellt. Die damit verbundene Aufforderung lautete „Kannst du bitte Europa in der Karte einzeichnen?“ 3. Grenzerfahrungen Im dritten Abschnitt wurden persönliche Erfahrungen der Befragten zu Grenzen und Grenzübertritten abgefragt. Dabei ging es um die Erhebung von tatsächlichen Erlebnissen und Erfahrungswerten zu Grenzen. Dieser Teil war als narrativer Part angelegt und die InterviewpartnerInnen sollten möglichst frei erzählen. Dazu wurde dieser Part mit der Frage: „Bist du schon einmal an einer Grenze gewesen?“ eingeleitet und bei Bedarf um genauere Nachfragen zum dort Erlebten ergänzt. 4. Stellungnahmen Im letzten Abschnitt wurden den Befragten drei Statements vorgelesen, zu denen sie Stellung beziehen sollten. Dies waren: „Die Grenzen waren schon immer da, wo sie heute sind“, „Europa braucht starke Grenzen“ und „Grenzen ordnen die Welt“. Durch die Aufforderung Stellung zu beziehen und die Aussagen zu bewerten, konnten weitere Informationen zur Entstehung und individuellen Bewertung von Grenzen, gewonnen werden. Die vier vorgestellten Interviewabschnitte wurden nicht zwingend in dieser Reihenfolge genutzt. Je nach Interviewverlauf wurden beispielsweise die Grenzerfahrungen vorgezogen, wenn es den Befragten schwerfiel den Begriff „Grenze“ zu definieren. Darüber hinaus dienten die unterschiedlichen Ansätze im Rahmen der Interviews dazu, methodische Mängel untereinander auszugleichen. Beispielsweise war es dadurch möglich, Kartierungen genauer zu bewerten. Auch die Stellungnahmen boten die Möglichkeit, die SchülerInnen zu Aussagen zu motivieren, da hier konkret die eigene Position angesprochen wurde.
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3.3 Auswahl der GesprächspartnerInnen und Übersicht über das Material Für die vorliegende Untersuchung wurden insgesamt 20 Interviews geführt und ausgewertet. Bei einem nicht zu stark eingegrenzten Themengebiet ist es sinnvoll die Zahl der Interviews tendenziell gering zu halten und dafür vertieft zu analysieren (vgl. Mayring, 2002, S. 70). Es wurden zehn Mädchen und zehn Jungen interviewt. Sieben Personen hatten eigene Migrationserfahrungen. Sie kamen aus Syrien (3), Albanien (1) und Afghanistan (3). Die übrigen Befragten waren in Deutschland geborene und aufgewachsene Kinder, deren Eltern zum Teil über Migrationserfahrungen verfügten, jedoch bereits seit Geburt der Kinder in Deutschland lebten. Darüber hinaus konnten 19 Kartierungen Europas analysiert werden. Die Auswahl der InterviewpartnerInnen erfolgte zufällig, auf Basis der Rückmeldungen von angefragten LehrerInnen. Insgesamt wurden SchülerInnen von drei Gymnasien in Köln und Solingen, von vier Realschulen sowie einer Hauptschule in Köln und einem Berufskolleg in Neuss befragt. Die Daten wurden anhand fortlaufender Nummern, chronologisch in Reihenfolge der Interviews, anonymisiert. Die befragten SchülerInnen waren zwischen 14 und 17 Jahre alt. Die Auswahl dieser Altersgruppe erfolgte auf Basis der Erkenntnis, dass ab einem Alter von 13 Jahren (vgl. Gould & White, 1986, S. 98) ein gewisser Sättigungsgrad bezüglich der räumlichen Informationsaufnahme anzunehmen ist. Für die vorliegende Befragung sollten die SchülerInnen bereits über relativ umfassendes räumliches Wissen auf unterschiedlichen Maßstabsebenen verfügen, um sich selbst zu verorten sowie Bezüge und Beziehungen zum Begriff Europa herstellen zu können. Die SchülerInnen besuchten die Klassen 9 und 10 an Hauptschulen, Realschulen oder Gymnasien bzw. dortige Vorbereitungsklassen. Die sieben SchülerInnen mit Migrationserfahrungen waren zudem erst zwischen ein und zwei Jahren in Deutschland. Insbesondere bei der Auswahl dieser SchülerInnen stellte die Sprache ein wichtiges Kriterium dar. Hier hätten weitere Interviewmöglichkeiten bestanden, die aufgrund der Sprachbarriere nicht durchgeführt werden konnten. Insgesamt handelte es sich somit um eine sehr kleine und regional auf den Kölner Raum beschränkte Stichprobe. Hinsichtlich der topographischen Kenntnisse ist davon auszugehen, dass diese bei der Befragung von SchülerInnen in anderen Regionen, welche beispielsweise direkt in Grenzregionen aufwachsen, anders ausgebildet sein können.
3.4 Auswertung Die Analyse der Interviews erfolgte, um die in Kapitel 3.1 formulierten Leitfragen zu beantworten. Dazu wurden die Interviews computergestützt mit MAXQDA in Form einer qualitativen Inhaltsanalyse (vgl. Mayring, 2010, S. 468f.) ausgewertet. Dabei wurden drei grundlegende Auswertungskategorien gebildet. Erstens wurden die Interviews hinsichtlich der von den SchülerInnen verwendeten Typen räumlicher Grenzen analysiert. Die Kategorienbildung erfolgte in diesem Analyseschritt deduktiv auf Basis des in Kapitel 2 vorgestellten Grenztypenmodells. Zweitens
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wurden die Aussagen, die sich explizit mit den Grenzen Europas befassten, gesondert betrachtet und analysiert. Im Fokus standen dabei sowohl die eigene Positionierung der SchülerInnen, also die Frage, ob sie sich selbst als Teil Europas definieren, als auch die zugrundeliegenden Konzeptionen und Definitionen des Begriffs Europa selbst. Drittens wurden die in den Interviews erhobenen individuellen Erfahrungen der SchülerInnen, die sie an Grenzen gemacht hatten, ausgewertet. In diesen beiden Abschnitten erfolgte die Kategorienbildung induktiv anhand der Äußerungen aus den Interviews. Beispielsweise wurde eine Gleichsetzung des Begriffes Europa mit der EU, als Kategorie „EU=Europa“ definiert. Dabei standen die persönlichen Vorstellungen und Erfahrungen im Vordergrund, wobei der Analysefokus auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den einzelnen Gesprächen gelegt wurde. Interessant waren einerseits die Aspekte, bei denen die SchülerInnen stark übereinstimmten, etwa bei bestimmten Europakonzeptionen („EU=Europa“) und andererseits Unterschiede, beispielsweise bei der relativ emotionsarmen Schilderungen von Grenzübertritten auf Reisen („Da war ein Schild“). Die Kartenzeichnungen der SchülerInnen wurden in zweierlei Hinsicht ausgewertet. Zum einen wurden sie in Verbindung mit den Interviewtranskripten hinsichtlich der Lokalisierung und Definition Europas untersucht und zum anderen wurde die Kartierung an sich analysiert. Für diesen zweiten Schritt wurden die unterschiedlichen Kartierungen nach Größe des „Europäischen Kontinents“ geordnet, um ein topographisches Kerneuropa sowie Regionen über deren Zugehörigkeit zu Europa sich die SchülerInnen nicht einig waren, zu identifizieren (siehe Kap. 4.2).
4. ERGEBNISSE DER INTERVIEWS 4.1 Verwendung von Grenztypen und Grenzbegriffe der SchülerInnen Die Vorstellungen der SchülerInnen werden primär vom Konzept der ContainerGrenzen geprägt. Dies wird anhand der Beobachtung deutlich, dass sich ihre Äußerungen in den Interviews primär auf die trennende Funktion von Grenzen zwischen zwei Gebieten beschränken. Dieses Zitat, das in abgewandelter Form bei Jungen und Mädchen, Kindern mit und ohne Migrationserfahrungen auftaucht, ist dafür exemplarisch: „Grenzen, das sind Grenzen die zwei Länder trennen“ (Nr. 14). Wie in diesem Zitat, sind es in der Regel Staatsgrenzen, die SchülerInnen mit dem Wort „Grenzen“ assoziieren. Bei der Beschreibung beschränken sich nahezu alle Aussagen der Befragten auf diese Trennung, während tiefergehende Äußerungen zur Komplexität des Phänomens fehlen und auch bei Fragen nach der Entstehung von Grenzen ausbleiben. Mögliche Erklärungen hierfür liegen einerseits in der Tatsache begründet, dass besonders Staatsgrenzen im Schulunterricht und medialen Diskursen thematisiert werden. Andererseits war den meisten Befragten bewusst, dass die Befragung im Kontext der Geographie stattfand, die von den Befragten möglicherweise ebenfalls mit „Ländern“ verbunden wird: „[…] zwischen zwei Ländern. Das ist eine Grenze mit dem Thema Erdkunde verbunden“ (Nr. 13). Soziale Erwünschtheit könnte demnach ein weiterer Grund dafür sein, warum vorrangig Staatsgrenzen
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genannt wurden. Zudem haben diese Container-Grenzen für die SchülerInnen eine Orientierungsfunktion: „Weil wir wissen ja genau, wo welches Land ist, weil wir wissen, wo die Grenzen sind“ (Nr. 13). Anhand von Grenzen wird somit die Lage von Ländern auf der Landkarte deutlich: „Erst einmal meine ich damit das Optische auf der Landkarte. Manchmal sind die einzelnen Länder auch mit Farben markiert“ (Nr. 3). Karten werden in mehreren Interviews als das zentrale Medium genannt, welches zu Grenzen informiert, wobei Karten in der Regel als Abbilder der „Wirklichkeit“ verstanden werden. Neben Karten dienen den SchülerInnen auch sichtbare Grenzelemente als Anzeichen für die Existenz von Grenzen. Diese sind laut der SchülerInnenvorstellungen z.B. „durch eine Mauer oder einen Zaun gekennzeichnet“ (Nr. 6). Für die interviewten SchülerInnen ist demnach vorrangig dann eine Grenze vorhanden, wenn diese visuell sichtbar und/oder physisch-materiell repräsentiert ist. Nicht-visuelle gesellschaftliche Funktionen von Grenzen wie die Administration und politische Kontrolle, tauchen in den Interviews wesentlich seltener auf. Von den SchülerInnen werden auch deshalb vorrangig Nationalstaatsgrenzen genannt, da diese sichtbarer als z.B. regionale Grenzen sind. Grundsätzliche Unterschiede zwischen administrativen und nicht-administrativen Grenzziehungen bleiben dagegen unerwähnt oder werden nicht eindeutig formuliert: „Kontinente und Länder haben Grenzen“ (Nr. 5). Hinsichtlich der Grenze in einem System von Lagebeziehungen, mit Einfluss auf Austauschmuster, steht dieses Zitat exemplarisch: „Ja, damit man keine illegalen Sachen schmuggeln kann […]. Und damit ich nicht irgendwohin gehen kann, wo ich nicht hingehen darf“ (Nr. 7). Dieser Schüler hat erkannt, dass Grenzen die Bewegung von Menschen und den Austausch von Waren beeinflussen. Verknüpft ist dies, wie in den Zitaten häufig genannt, mit der Frage nach Legalität. Manche der neu zugewanderten Kinder verbinden Grenzen mit Illegalität, dem Verbot von Austausch und Bewegungen. Dies wird besonders an diesem Zitat eines Schülers aus Afghanistan deutlich, das zudem eine Perspektive „von außen“ auf die Grenze deutlich werden lässt: „Eine Grenze ist also gleichzeitig auch ein Verbot in das andere Land zu gehen“ (Nr. 6). Grenzen wurden von den geflüchteten Kindern häufig als Handlungshindernisse, die bei der Migration überwunden werden müssen, erlebt. Interessant ist, dass, die in dieser Stichprobe befragten in Deutschland aufgewachsenen SchülerInnen Grenzen mit der Vorstellung von Sicherheit verknüpfen. Die Grenze soll insbesondere Illegales und Unsicheres fernhalten. Dabei erfolgt die Betrachtung in der Regel „von innen“, aus der Sicht der BewohnerInnen: „Für die Leute, die schon in dem Land wohnen, da die Hereinkommenden erst einmal überprüft werden. Würden keine Grenzen existieren, würden sie ohne kontrolliert zu werden einfach in das Land kommen“ (Nr. 3).
Die Schülerin zählt sich hier vermutlich selbst, unabhängig vom Migrationshintergrund eines Elternteils, selbst zu „Leuten, die schon in dem Land wohnen“ und ihre Äußerung entspricht medialen Repräsentationen. Seit der starken Einwanderung nach Deutschland im Jahr 2016 dominiert hier häufig der Diskurs um das Thema Sicherheit vor „MigrantInnen“, „Illegalen“ etc.
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Grenzen sind nach der Meinung der Befragten vor allem dazu da, um das Eindringen von Unsicherem, Gefährlichem und Illegalem in ein abgeschlossenes Gebiet zu verhindern. Grenzziehungen sind jedoch in Hinblick auf die wirtschaftliche und politische Organisation von Austauschbeziehungen zwischen Staaten, beispielsweise in Form von Freihandelszonen (z.B. NAFTA) oder durch die Schaffung gemeinsamer Außengrenzen (z.B. Schengener Abkommen), von zentraler Bedeutung. Dass dies von den SchülerInnen nicht berücksichtigt wurde, obwohl es sie durchaus betrifft, mag auch damit zusammenhängen, dass diese politisch-ökonomischen Prozesse in der Lebenswelt der SchülerInnen bislang nur eine untergeordnete Rolle gespielt haben bzw. erfahrbar wurden. In den Interviews wurden bezüglich der Grenze als Objekt der Wahrnehmung zwei Aspekte untersucht. Dies waren zum einen die tatsächliche Erfahrung von und an räumlichen Grenzen und ihre Überschreitung und zum anderen die Bedeutung von Grenzen aus der Sicht der Befragten. Für die SchülerInnen war, wie bereits dargestellt, insbesondere das eigene visuelle Erleben von Grenzen zentral. Die Grenze als soziale Konstruktion, als Produkt menschlichen Handelns und Kommunizierens, wurde von den SchülerInnen weitestgehend nicht identifiziert. Aushandlungsprozesse, Ein-, Ab- und Ausgrenzung sowie Akteure, die dieses vornehmen, tauchten in den Interviews in seltensten Fällen auf. In einer der wenigen Äußerungen, die sich der Grenze als Konstruktion annähern, verweist ein Schüler auf den Entstehungsprozess von Grenzen: „Vielleicht zum einen, weil also auf Länder gesehen, weil Leute sich gedacht haben, dass sie etwas haben wollen, aber es auch wieder andere Leute gibt, die das auch haben wollen und das ist dann da irgendwo Punkte entstanden sind, wo sie dann aufeinander treffen […]“ (Nr. 1).
In dieser Aussage wird der Aushandlungsprozess, die Entstehung oder Demarkation, einer nationalstaatlichen Grenzziehung beschrieben, wobei die Formulierungen unsicher wirken. Der Schüler erkennt hier zwar gegensätzliche Territorialansprüche, kann jedoch letztlich das komplexe Phänomen nicht in Worte fassen. Die Akteure bleiben, als „Leute“ bezeichnet, undeutlich und auch die konkreten Entstehungsprozesse und ihre Reproduktion bleiben verborgen. Es wird deutlich, dass dem Schüler an dieser Stelle auch Fachvokabular fehlt, um das komplexe Phänomen zu beschreiben. Begriffe wie Besitzansprüche, Territorialität, Herrschaft, Macht und Kontrolle werden von diesem Schüler nur mit „haben wollen“ umschrieben. Daher wird u.a. die Funktion der Grenzen zur (nationalstaatlichen) Identitätsbildung nicht erkannt.
4.2 Grenzerfahrungen In diesem Teilkapitel werden Erfahrungen der Befragten an Grenzen vorgestellt. In den Interviews ging es dabei um die konkreten Erlebnisse an Grenzübergängen bzw. die Erfahrungen, die beim Überschreiten von Grenzen gemacht wurden. Dazu soll zunächst auf Erfahrungen eingegangen werden, die SchülerInnen, die in Deutschland aufgewachsen sind, an Grenzen gemacht haben. Generell wurden zwei
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grundsätzlich unterschiedliche Erfahrungen zu Grenzübertritten festgestellt: Zum einen jene direkten Grenzübertritte, bei denen die Grenze kein Hindernis darstellte, beispielsweise bei einer Klassenfahrt in die Niederlande: „Naja, da war ein Schild an der Autobahn“ (Nr. 2). Und zum anderen solche, bei denen Kontrollen stattfanden, zum Beispiel bei einer Klassenfahrt nach Großbritannien: „[…] da waren etwas andere Grenzen, da mussten wir auch aus dem Bus aussteigen und einen Pass zeigen, erst dann konnten wir auf die Fähre drauf“ (Nr. 11). Jene SchülerInnen, die bereits Flugreisen erlebt haben, kennen diese Form der Kontrolle: „[…] wenn man fliegt, wird man kontrolliert und das gehört ja dort auch dazu, da man beim Fliegen […] an den ganzen Grenzen nicht kontrolliert werden kann“ (Nr. 3).Da die Kontrolle zum Fliegen „dazugehört“ und kein wirkliches Hindernis darstellt, ist das Erlebnis des Grenzübertritts wenig emotional besetzt. Die Erfahrungen werden entsprechend emotionslos geschildert. Dies ist nicht erstaunlich, da die Reise mit einem deutschen Pass in die meisten Länder dieser Welt problemlos möglich ist. Auch SchülerInnen mit eigenen Migrationserfahrungen haben unterschiedliche Erfahrungen an Grenzen gemacht. Dies hing sowohl mit den Verkehrsmitteln zusammen, die während der Migration genutzt wurden, als auch an den gewählten Wegen. Zwei syrische SchülerInnen berichteten von ihren Reisen nach Deutschland, einmal direkt mit dem Flugzeug, im anderen Fall zunächst nach Italien und von dort per Zug und Auto über Frankreich nach Deutschland. Die Erfahrungen mit Grenzübertritten beschränkten sich dabei auf Flughafenkontrollen und die vermeintlich für einen Grenzposten gehaltene Mautstation in Frankreich: „[…] wir waren von Italien nach Frankreich gereist mit Auto und da war etwas wo man bezahlen musste, damit man weiter fahren konnte“ (Nr. 18). Die SchülerInnen haben gemeinsam, dass sie vor ihren Reisen keine Erfahrungen mit Grenzen gemacht hatten und hier ihre ersten Kenntnisse sammelten. SchülerInnen, die den Weg nach Deutschland teilweise zu Fuß absolvierten, schilderten ihre Erfahrungen hingegen als wesentlich größere Herausforderung. Dabei spielten Grenzkontrollen und -befestigungen und damit verbundene Angst eine wichtige Rolle: „Ja, sehr schwer, ich war 15 Tage unterwegs. Wir schlafen in dem Bus oder in dem Zug. Es gibt keinen Platz zu schlafen“ (Nr. 4) und „Ich hatte viel Angst, als ich in den Iran gegangen bin“ (Nr. 6). „Wenn man dort hinkommt, hat man Angst, da man von Afghanistan nicht in den Iran gehen darf. […] auf den zwei Seiten stehen unterschiedliche Polizisten […]. Dort war ein Stacheldrahtzaun, […]. Dieser Zaun war gefährlich und hat wehgetan, weil wir unter diesen Zaun klettern mussten“ (Nr. 6).
Angst ist hier auch deshalb bedeutsam, weil es sich für den Befragten bewusst um einen illegalen Grenzübertritt handelte und mit Konsequenzen zu rechnen war. Eine Erfahrung, die in Deutschland aufgewachsenen SchülerInnen, die nur über einfache Reiseerfahrungen verfügen, nicht gemacht haben.
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4.3 Die Grenzen Europas In diesem Abschnitt werden sowohl die Interviewaussagen zu den Grenzen Europas, als auch die Kartierungen der Grenzen Europas durch die SchülerInnen präsentiert und vertiefend betrachtet. Zentral dabei ist die grundsätzliche Definition der SchülerInnen von Europa. Häufig wird in diesem Kontext EU und Europa gleichgesetzt. Ein wichtiger Auslöser für diese Gleichsetzung ist der Brexit, der laufende Austrittsprozess Großbritanniens aus der EU. Dieser wurde von fünf SchülerInnen thematisiert. Anhand der exemplarischen Aussage „[…] Großbritannien ist ja gerade jetzt ausgetreten“ (Nr. 1) verbunden mit einer visuellen kartographischen Trennung der Britischen Inseln von den Landmassen Europas lassen sich zwei Interpretationen ableiten: Erstens, die starke Verknüpfung von Europa und EU in den Vorstellungen dieser SchülerInnen. Und zweitens, die in diesem Zusammenhang festgestellte Relativität eines Grenzverlaufes, da hier aus einem politischen Europa „ausgetreten“ werden kann. Die Vorstellung von einem politisch einheitlichen, teilweise mit der EU gleichgesetzten, Europa tauchte auch in einer Formulierung wie „Weil Europa sind ja viele Länder in einem“ (Nr. 13) auf. Damit in Verbindung stand auch die stets als territorial zusammenhängend gedachte Einheit Europas, die auch in den Kartierungen deutlich wurde (siehe Abbildung 1). Speziell bei denen in Deutschland aufgewachsenen SchülerInnen zeigt sich zudem auch eine Identifikation und Verbindung mit Europa. Dies ist insbesondere in Zeiten von vermehrten EU-kritischen und nationalistischen Entwicklungen in vielen Staaten der EU bemerkenswert. Von den auf Reisen gemachten Erfahrungen, dass innereuropäische Grenzen wenig sichtbar sind, wird häufig auf deren geringe oder gänzlich fehlende Bedeutung geschlossen: „Wenn man in Europa rumfährt, man weiß ja, dass man überall etwas hat, was einen mit einem anderen Land verbindet. […]. Man weiß zwar, dass man in ein anderes Land fährt, aber man merkt das gar nicht, weil diese Länder einfach miteinander verbunden sind“ (Nr. 13).
Bezüglich der Grenze Europas, die sich in Atlaskarten häufig am Bosporus befindet und die Türkei in einen europäischen und einen asiatischen Teil trennt, war insbesondere folgende Aussage interessant: „Also, die Grenze in der Türkei ist ja keine normale Grenze. Es wird nicht geteilt da, dass ein Teil der Türken hier zu Europa gehört. Es wird für uns Menschen [hier geteilt], damit wir entscheiden das ist Europa“ (Nr. 17).
Es wird offensichtlich, dass dieser Schüler, ebenso wie die anderen Befragten mit „normalen“ Grenzen, Staatsgrenzen assoziiert, wozu die Europagrenze für die Interviewten nicht zählt. Implizit werden hier unterschiedliche Grenztypen erkannt. Die Grenze wird, laut dieser Aussage, für die Menschen außerhalb der Türkei, innerhalb Europas gezogen, um zu entscheiden „das ist Europa“. Dieser Proband teilt die Türkei in einen europäischen und einen asiatischen Teil. Tatsächlich sind sich die Befragten bei der Frage, ob die Türkei (teilweise) zu Europa zu zählen ist, sehr uneins. Einige SchülerInnen ordnen sie klar Asien zu: „Oder Türkei, […] auch nicht, weil das nicht Länder sind, die dran sind“ (Nr. 9). Hier spielte auch topographisches Wissen eine Rolle, da die Äußerung im Sinne von „daran angrenzend“
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gemeint war. Dies wird auch in der Karte (siehe Abb. 1) deutlich, in der die Grenzvorstellungen Europas durch die SchülerInnen eingezeichnet sind. Abbildung 1 zeigt dabei die Spannweite der insgesamt 19 Kartierungen an, die während der Interviews entstanden sind.
Abb. 1: Europas Grenzen aus Perspektive der SchülerInnen (eigene Darstellung)
Ein Schüler wollte nicht raten und zeichnete deshalb nichts ein. Die Karte ist dabei so aufgebaut, dass der dunkelgraue Bereich den Ausschnitt markiert, den alle 19 Befragten als Europa einzeichneten. Die folgenden Farbstufungen zeigen die nächstgrößeren Darstellungen Europas. Bei allen SchülerInnen ist zu erkennen, dass sie versuchten, Europa räumlich zusammenhängend zu zeichnen. Daher wurden Überseegebiete, wie z.B. das französische Martinique in der Karibik, nicht eingezeichnet. Zum Kerneuropa gehört daher auch die Schweiz, obwohl ein Großteil der Befragten Europa mit der Europäischen Union gleichsetzt. Ein Kerneuropa ist somit in der Vorstellung aller SchülerInnen vorhanden, seine Ausmaße und seine Verfasstheit (Staatenbund oder Kontinent) variieren jedoch stark (siehe Abbildung 1). Einig sind sich letztlich alle SchülerInnen bei einem Gebiet, das im Westen von der Iberischen Halbinsel bis in den Osten Polens und von Italien im Süden bis Dänemark im Norden reicht. In diesem Gebiet verortet ein Großteil der Befragten auch die EU, was von daher relevant ist, da die EU und Europa in den Interviews häufig gleichgesetzt wurden. Auffällig ist zudem, dass alle Befragten deutschlandzentrierte Europakarten gezeichnet haben, was nochmals die Identifikation sowohl mit Deutschland als auch mit Europa zeigt. Neben der Türkei sind Island, die Britischen Inseln, Kreta und Zypern sowie die Ostgrenze Europas weitaus strittigere Fälle, bei denen die Grenzdarstellungen stark variieren. Es gab in den einzelnen Kartierungen viele Fälle, bei denen Küstenlinien als natürliche Grenzen angenommen wurden. Dies entspricht den gängigen Europadarstellungen auf Karten. Da zur Markierung der Ostgrenze auf der den SchülerInnen zur Verfügung stehenden Karte keine „natürliche“ Grenze, wie z.B. eine Küste eingezeichnet war, sind hier die Variationen in den Grenzzeichnungen besonders groß. Die gesellschaftliche Kontroverse um einen möglichen EU-Beitritt
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der Türkei, zeigt sich möglicherweise auch in den unterschiedlichen Zuordnungen der SchülerInnen (zu Europa, zu Asien oder Teilung in einen europäischen und einen asiatischen Teil).
5. ZUSAMMENFASSUNG Der Begriff „Grenze“ wird für SchülerInnen primär durch die Vorstellung von Nationalstaatsgrenzen geprägt und die Container-Grenze ist dabei der vorrangige Analyserahmen ohne dass die politischen und administrativen Funktionen von Grenzen und ihre historische Entwicklung erfasst werden. Zugleich wird deutlich, dass die Befragten sehr unterschiedliche Erfahrungen an Grenzen gemacht haben und vielfältige Perspektiven auf Grenzen, zwischen einem „Schild an der Autobahn“ und einem „Stacheldrahtzaun“, besitzen. Hieraus lassen sich zwei Konsequenzen ableiten; Erstens erscheint es sinnvoll und notwendig SchülerInnen stärker für Grenzen und deren Konstruiertheit zu sensibilisieren. In den Fokus sollte dazu die Betrachtung und Thematisierung von Grenzen in der persönlichen Wahrnehmung und in der sozialen Konstruktion stehen, wobei zentral auf deren gesellschaftliche Funktionen eingegangen werden sollte. Besonders interessant kann im Unterricht die Thematisierung von denjenigen Gebieten sein, über deren Zuordnung zu Europa die befragten SchülerInnen nicht einig waren, wie Großbritannien, Türkei oder Russland. Durch die Fokussierung auf die Strittigkeit der Zuordnung können verschiedene Europavorstellungen und die Bedeutung von Europa als gesellschaftliche Konstruktion herausgearbeitet werden. Außerdem ist die Reflexion von Grenzen in Karten (vgl. Budke & Schindler, 2016, S. 53) zentral, um einseitigen ContainerVorstellungen zu entgegnen. Gerade, weil deutlich wurde, dass für SchülerInnen das Visuelle bei der Betrachtung von Grenzen entscheidend ist, muss deutlicher gemacht werden, dass auch unsichtbare Grenzen, wie jene des Schengen-Raumes oder der Bundesländer Deutschlands, existieren und wirken. Zweitens bieten sich in heterogenen Klassen Perspektivwechsel an, um für Prozesse von Ein-, Ab- und Ausgrenzung sowie die eigene Verortung und Definition von Identität zu sensibilisieren (vgl. Rhode-Jüchtern, 1996). Hier könnte durch persönliche Schilderungen von Grenzerfahrungen und unterschiedliche Europavorstellungen der SchülerInnen ein Dialog angeregt werden. Dabei kann auch verdeutlicht werden, dass eine Grenze, die bislang aufgrund ihrer Unsichtbarkeit für die hier aufgewachsenen SchülerInnen keine spürbare Relevanz hatte, im Kontext von Migrationserfahrungen eben doch ein Hindernis darstellen kann.
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LITERATUR Budke, A. & Hoogen, A. (2017). Migration durch das „Nadelöhr“ – wie visuelle Darstellungen von Grenzüberschreitungen in Geographieschulbüchern die Schülervorstellungen von „illegaler“ Migration beeinflussen. In H. Jahnke, A. Schlottmann & M. Dickel (Hrsg.), Räume visualisieren (S. 3–17). Geographiedidaktische Forschungen 62. Münster: Münsterscher Verlag für Wissenschaft. Budke, A. & Schindler, J. (2016). Grenzen in Karten reflektieren – Das Beispiel Grenzen in Europa. In I. Gryl (Hrsg.), Reflexive Kartenarbeit. Methoden und Aufgaben (S. 53–59). Braunschweig: Westermann. Glasze, G. & Mattissek, A. (2009). Handbuch Diskurs und Raum. Theorien und Methoden für die Humangeographie sowie die sozial- und kulturwissenschaftliche Raumforschung. Bielefeld: transcript. Gould, P. & White, R. (1986). Mental Maps. 2. Aufl. London: Routledge. Haubrich, H. (Hrsg.) (1987). How I see my country. Personal views of 15 year olds from 28 countries. Freiburg: Selbstverlag. Hoogen, A. (2016). Didaktische Rekonstruktion des Themas Illegale Migration. Argumentationsanalytische Untersuchung von Schüler*innenvorstellungen im Fach Geographie. Geographiedidaktische Forschungen 59. Münster: Verlagshaus Monsenstein und Vannerdat. Lamnek, S. (2010). Qualitative Sozialforschung. Weinheim: Beltz. Leser, H. (Hrsg.) (2005). Diercke Wörterbuch Allgemeine Geographie. 13. Aufl. München: dtv. Mattissek, A., Pfaffenbach, C. & Reuber, P. (2013). Methoden der empirischen Humangeographie. 2. Aufl. Braunschweig: Westermann. Mayring, P. (2002). Einführung in die qualitative Sozialforschung. Eine Anleitung zum qualitativen Denken. 6. Aufl. Weinheim: Beltz. Mayring, P. (2010). Qualitative Inhaltsanalyse. In U. Flick, E. von Kardorff & I. Steinke (Hrsg.), Qualitative Forschung. Ein Handbuch (S. 468–474). Reinbek bei Hamburg: Rohwolt. Reinfrieds, S. (2010). Lernen als Vorstellungsänderung: Aspekte der Vorstellungsforschung mit Bezügen zur Geographiedidaktik. In S. Reinfried (Hrsg), Schülervorstellungen und geographisches Lernen – Aktuelle Conceptual-Change-Forschung und Stand der theoretischen Diskussion (S. 1–31). Berlin: Logos. Reuber, P. (2014). Territorien und Grenzen. In J. Lossau T. Freytag & R. Lippuner (Hrsg.), Schlüsselbegriffe der Kultur- und Sozialgeographie (S. 182–197). Stuttgart: Eugen Ulmer KG. Schmeinck, D. (2007). Wie Kinder die Welt sehen: eine empirische Ländervergleichsstudie zur räumlichen Vorstellung von Grundschulkindern. Bad Heilbrunn: Klinkhardt. Schniotalle, M. (2003). Räumliche Schülervorstellungen von Europa. Ein Unterrichtsexperiment zur Bedeutung kartographischer Medien für den Aufbau räumlicher Orientierung im Sachunterricht der Grundschule. Berlin: Tenea. Schultz, H.-D. (2003). Welches Europa soll es denn sein? Anregungen für den Geographieunterricht. Internationale Schulbuchforschung, 25 (3), 223–256. Schultz, H.-D. (2013). Grenzen. In M. Rolfes & A. Uhlenwinkel (Hrsg.), Metzler Handbuch 2.0: Geographieunterricht. Ein Leitfaden für Praxis und Ausbildung (S. 326–332). Braunschweig: Westermann. Seidel, S. & Budke, A. (2017). Keine Räume ohne Grenzen – Typen von Raumgrenzen für den Geographieunterricht. Zeitschrift für Didaktik der Gesellschaftswissenschaften – zdg, 2017 (2). Erscheint voraussichtlich am 15.11.2017. Sibley, D. (1988). Survey 13: Purification of space. Environment and Planning, 6 (4), 409–421. Wardenga, U. (2002). Räume der Geographie und zu Raumbegriffen im Geographieunterricht. geographie heute, 23 (200), 8–11.
MIGRATIONSBEDINGTE HETEROGENITÄT VON SCHÜLERINNEN ALS HERAUSFORDERUNG FÜR DEN INKLUSIVEN GEOGRAPHIEUNTERRICHT Stephan Langer / Alexandra Budke / Kerstin Ziemen
1. EINLEITUNG Migrationsbewegungen sind so alt wie die Menschheitsgeschichte. Allerdings haben sich im Zuge der Globalisierung die Wanderungsbewegungen verstärkt und betreffen alle Regionen der Erde. Deutschland ist u. a. aufgrund seiner wirtschaftlichen Stärke, seiner politischen Integration in die EU, seinem hochwertigen Bildungssystem und seiner Rechtsstaatlichkeit ein wichtiges Zielgebiet der internationalen Migration. Besonders hoch war das Wanderungssaldo mit über 1 Mio. Personen 2015, was sich vorrangig durch den Krieg in Syrien und den Zuzug von Flüchtlingen erklärt (www.destatis.de). Als Folge der aktuellen und vergangenen Einwanderungen steigt die Zahl der Kinder und Jugendlichen mit Migrationshintergrund im deutschen Bildungssystem. Aktuell haben ca. 30 % aller Kinder und Jugendlichen einen Migrationshintergrund, wobei die Zahlen in den Ballungsgebieten wesentlich höher liegen (vgl. DIPF, 2016, S. 161). Zunehmend besuchen damit SchülerInnen mit unterschiedlichen Sprachkenntnissen deutsche Bildungseinrichtungen. In vielen Schulen stellt die Multilingualität der SchülerInnen den Normalfall dar. Zudem werden die Klassen kulturell heterogener, da dort SchülerInnen zusammen lernen, die unterschiedliche Wertesysteme und Religionen kennengelernt haben und zu den Themen des Geographieunterrichts sehr diverse Vorerfahrungen und Einstellungen mitbringen1. Bisher wurden allerdings nur wenige geographiedidaktische Ansätze entwickelt, um die sprachlichen Fähigkeiten und kulturellen Erfahrungen der SchülerInnen für Bildungsprozesse zu nutzen. Dies ist insofern problematisch, da verschiedene Studien ergeben haben, dass Kinder mit Migrationshintergrund im deutschen Schulsystem benachteiligt sind. Ihre Leseleistungen sind in der Grundschule geringer als bei Kindern ohne Migrationshintergrund, sie besuchen häufiger die Hauptschule und seltener das Gymnasium als Kinder ohne Migrationshintergrund und machen zudem seltener Abitur (vgl. DIPF, 2016, S. 174). Zur Schaffung von Bildungsgerechtigkeit erscheint es demnach dringend geboten, über die didaktischen Möglichkeiten zur Berücksichtigung von sprachlicher und kultureller Heterogenität im Geographieunterricht nachzudenken.
1 „Kulturelle Erfahrungen“ werden in diesem Beitrag als Kenntnisse über unterschiedliche normative Orientierungssysteme, die nicht nationalstaatlich gebunden sind, verstanden.
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Eine Möglichkeit liegt darin, Ansätze, welche bisher im Kontext von „Inklusion“ vorrangig von der Sonderpädagogik und den Bildungswissenschaften diskutiert wurden für den Geographieunterricht fruchtbar zu machen. Dies ist möglich, wenn man als Ziel inklusiven Unterrichts nicht im engeren Sinne die Integration von SchülerInnen mit sonderpädagogischem Förderbedarf in den „Regelunterricht“ versteht, sondern die möglichst qualitätsvolle Bildung für ALLE SchülerInnen (vgl. Reich, 2015, S. 48f.; Feuser & Maschke, 2013, S. 8). Daher wird im folgenden Teil des Artikels auf die Inklusionsdebatte im Allgemeinen eingegangen, welche dann auf den Geographieunterricht bezogen wird. Es wird die theoretische Bedeutung von kulturellen Erfahrungen und Deutschkenntnissen für den Geographieunterricht dargelegt. Nach der Erläuterung der theoretischen Grundlagen wird im dritten Teil eine Befragung von GeographielehrerInnen vorgestellt. Die Ergebnisse der Studie sollen die Frage beantworten, inwiefern die sprachliche und kulturelle Heterogenität von SchülerInnen bisher von GeographielehrerInnen bei der Planung und Durchführung ihres Unterrichts berücksichtigt wurde. Abschließend werden Schlussfolgerungen für einen inklusiven Geographieunterricht abgeleitet, welcher stärker als bisher auf die sprachlichen Fähigkeiten und kulturellen Erfahrungen der SchülerInnen eingeht.
2. INKLUSION UND GEOGRAPHIEUNTERRICHT 2.1 Inklusion Inklusion (lat. inclusio) gilt als gesamtgesellschaftliche Aufgabe, berücksichtigt alle Lebensbereiche, Lebensaltersphasen und gesellschaftliche Felder (vgl. Ziemen, 2017b, S. 101) und zielt darauf ab, Marginalisierung, Diskriminierung und Stigmatisierung zu erkennen und zu beseitigen. Grundlegend im Kontext von Inklusion sind die Anerkennung und Wertschätzung von Verschiedenheit in Gemeinschaften, Institutionen und Organisationen. Das schließt die Analyse ausgrenzender Bedingungen ein. Der Fokus richtet sich auf verschiedene Differenzlinien bzw. Heterogenitätsdimensionen, wie sexuelle Orientierungen und Lebensformen; kulturelle und soziale Herkunft; sozioökonomische Hintergründe; religiöse und weltanschauliche Zugänge, „Behinderung“ u.a.m. (vgl. ebd. S. 101). Im Kontext von „Behinderung“ bzw. „sonderpädagogischem Förderbedarf“ wird die Diskussion bereits seit Jahrzehnten zu Integration bzw. Inklusion geführt. Die vorliegenden Erkenntnisse sind für die Inklusionsdebatte generell fruchtbar. Die kritische Reflexion um das deutsche, gegliederte und ausgrenzende Schul- und Unterrichtssystem (vgl. Feuser, 1995), die seit den späten 1980er Jahren vorliegt, hat bis heute nicht an Aktualität verloren. Inklusion ist seit jeher mit dem Anspruch verbunden, den vielfältigen und unterschiedlichen Ausgangs-, und Umfeldbedingungen der SchülerInnen gerecht zu werden und es allen SchülerInnenn zu ermöglichen, an den Bildungs- und sozialen Prozessen gleichberechtigt zu partizipieren. Damit ist im Kontext von Schule der Blick insbesondere auf die Didaktik zu richten. Bereits bei Johann Amos
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Comenius (1592–1679) und Wolfgang Ratke (1571–1632) ist die Forderung nach einer „Bildung für alle“ (Feuser, 2017, S. 222) präsent. Dieser Anspruch besteht bis heute. Zum einen werden allgemeingültige didaktische Konzepte entwickelt, die allen SchülerInnenn und allen Inhalten entsprechen (vgl. Feuser, 1995, 2011; Ziemen, 2003, 2014, 2017), zum anderen entwickeln die Fachdidaktiken (unter der für diese neuen Prämisse „Inklusion“) didaktische Konzepte und Ideen. Dies wird zumeist durch den Terminus „inklusive Fachdidaktik“ begrifflich gefasst (vgl. Ziemen, 2017). Mit dem Attribut „inklusiv“ wird der Fokus auf die Berücksichtigung der Verschiedenheit der SchülerInnen im Verhältnis zum jeweiligen Lerngegenstand gelegt. Auf das Attribut „inklusiv“ kann verzichtet werden, wenn die selbstverständliche Annahme besteht, dass alle SchülerInnen ohne Ausnahme zu berücksichtigen sind und dies im Kontext Allgemeiner Didaktik und der Fachdidaktik(en). Eine gegenwärtig noch als „inklusiv“ bezeichnete Didaktik wird zukünftig als „Allgemeine Didaktik“ fungieren. Die Prinzipien einer Allgemeinen Didaktik sind für jedes Fach unter Berücksichtigung der fachlichen Logik und der Heterogenität der Schülerinnen und Schüler zu spezifizieren.
2.2 Inklusiver Fachunterricht Im deutschsprachigen Raum lassen sich über 40 Theorien, Modelle und Ansätze einer Allgemeinen Didaktik differenzieren (vgl. Kron/Jürgens/Standop, 2014). In der Fachdiskussion werden jedoch nur wenige Ansätze und Modelle hervorgehoben, so bspw. die „Kritisch-Konstruktive Didaktik“ Wolfgang Klafkis. Diese ist bereits in den späten 1980er Jahren in die im Kontext von Integration von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung ausgearbeiteten „entwicklungslogischen Didaktik“ Georg Feusers (1995, 2011) eingeflossen, welche explizit das Verhältnis zwischen Schülerin/Schüler und Sache (Lerngegenstand) berücksichtigt, der Kooperation der SchülerInnen miteinander und der Arbeit am Gemeinsamen Gegenstand eine zentrale Rolle zuweist. Die daraufhin weiterentwickelte Mehrdimensionale Reflexive Didaktik (vgl. Ziemen, 2017a, S. 108) stellt insbesondere die Lehrpersonen und Teams und deren Reflexionsfähigkeit in den Mittelpunkt. Dabei werden verschiedene Dimensionen berücksichtigt, so im allgemeinsten Sinne die gesellschaftlichen, kulturellen und rechtlichen Anforderungen; die Institution Schule und das Schulsystem sowie die SchülerInnen in ihrem Verhältnis zur Sache/zum Unterrichtsgegenstand. Kern der inklusiven und zugleich mehrdimensionalen Didaktik ist das Verhältnis der SchülerInnen zum Lerngegenstand und die Gestaltung des sozialen Möglichkeitsraumes für das Lernen und die Entwicklung ALLER. Wird die Seite der SchülerInnen betrachtet, kommen die unterschiedlichen Voraussetzungen und Bedürfnisse, die verschiedenen Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungskompetenzen und die verschiedenen Möglichkeiten der Aneignung in den Blick. Auf der Basis pädagogischer Diagnostik sind diese zu erfassen. Pädagogische Diagnostik bezieht sich sowohl auf die Ermittlung fachlicher, hier geographischer Kompetenzen, als
192
Stephan Langer / Alexandra Budke / Kerstin Ziemen
auch der Kompetenzen unterschiedlicher Entwicklungsbereiche, so der Wahrnehmung, der Emotion, der Kognition, der Motorik und der Sprache. Die Erfassung der individuellen Voraussetzungen muss der Sache/dem Unterrichtsgegenstand entsprechen. Grundlegend ist die Frage danach, inwiefern bereits Vorerfahrungen oder Bezüge zum Lerngegenstand bestehen. Ebenso bedeutsam ist die Erfassung der Motivation bzw. des Interesses der Auseinandersetzung mit der Sache. Der hier im Beitrag gerichtete Fokus auf die Differenzlinie Migration lässt den Blick auf die Sprache, so die Herkunftssprache; die Erst-, Zweit-, Drittsprache; auf den kulturellen und sozialen Hintergrund richten. Wird die Seite des Lerngegenstandes, des Inhaltes oder der Sache in den Mittelpunkt gerückt, ist im Kontext geographischer Bildung die Sachstruktur zu analysieren. Diese beinhaltet die Komplexität der Lerninhalte; tragende Begriffe und Zusammenhänge; gesellschaftliche, politische, soziale Bedeutung und Aktualität der Lerninhalte und die mögliche Präsenz des Inhaltes in verschiedenen Wissenschaften bzw. Fächern. Fachdidaktisch ist der Frage nach den je im Fach zentralen Inhalten und Themen nachzugehen. Fächerübergreifende Themen und Lerngegenstände sind mit Blick auf Inklusion besonders relevant, da sie noch vielfältigere Zugangs- und Lernmöglichkeiten für ALLE bieten können. Zwischen der Analyse der Kompetenzen der SchülerInnen und des Lerngegenstandes besteht ein Verhältnis. Beide Seiten sind aufeinander zu beziehen, so ist die Frage nach den Kompetenzen und Voraussetzungen der SchülerInnen für den Lerngegenstand ebenso relevant, wie die Frage der Veränderung des Lerngegenstandes unter Berücksichtigung der Kompetenzen der SchülerInnen. Der Verschiedenheit der SchülerInnen wird im Unterricht durch eine innere Differenzierung des gemeinsamen Unterrichts Rechnung getragen. Differenzierung kann erfolgen nach: Unterschiedlichen Schwierigkeitsgraden, Umfang und Anzahl von Aufgaben, Zur Verfügung stehender Zeit, Unterschiedlicher medialer Zugänge, Unterschiedlicher sprachlicher Anforderungen oder Zugänge, Verschiedener Möglichkeiten der Präsentation der Ergebnisse, Art und Weise personeller Unterstützung oder Aneignungs- und Wahrnehmungsebenen. Letztere entsprechen den „führenden Tätigkeiten“, die als Potential für Entwicklung gelten. Es sind die Tätigkeiten des Empfindens, Wahrnehmens (perzeptive Tätigkeit); des Agierens mit Objekten; des Spiels; des Lernens als operative Aneignung von Welt z.B. durch die Kulturtechniken oder das Verstehen und Erkennen von Zusammenhängen und die Tätigkeit der Arbeit (vgl. Manske, 2014, S. 55). In der geographiedidaktischen Forschung stehen empirische Forschungsergebnisse zur inneren Differenzierung im Geographieunterricht bislang aus (vgl. Höhnle et al., 2011, S. 169). Während die Konzeptentwicklung, insbesondere zur inneren Differenzierung nach Lernstilen (vgl. Uhlenwinkel, 2013), vorangeschritten ist, liegen bislang wenige Unterrichtskonzepte-/-materialien zur differenzierten (fach-) sprachlichen Förderung vor, die im Kontext empirischer Unterrichtsbegleitforschung evaluiert werden konnten. Angesichts der zunehmenden Heterogenität sprachlicher und kultureller Vielfalt im Geographieunterricht gilt es, diesem Desiderat in Zukunft verstärkte Aufmerksamkeit zukommen zu lassen.
Migrationsbedingte Heterogenität von SchülerInnen
193
2.3 Berücksichtigung von sprachlicher und kultureller Vielfalt im Geographieunterricht Wie bereits angesprochen, ist die Berücksichtigung der unterschiedlichen Lernvoraussetzungen, -erfahrungen und Interessen der SchülerInnen zentral für einen inklusiven Geographieunterricht. In diesem Artikel liegt der Fokus auf der sprachlichen und kulturellen Heterogenität der SchülerInnen. Sprachliche Fähigkeiten sind für die SchülerInnen u.a. essentiell, um dem Unterrichtgespräch zu folgen, geographische Medien auszuwerten, Informationen in Gruppenarbeitsphasen auszutauschen, eigene Standpunkte argumentativ zu vertreten und die eigenen Leistungen in Prüfungen darzustellen. In der Regel reichen dafür alltagssprachliche Kompetenzen nicht aus. Es wird Bildungssprache benötigt, was als Sprachregister definiert wird, „das dem Wissenstransfer dient und nicht nur für die Institution Schule, sondern für jeden Bildungskontext grundlegend ist“ (Michalak et al., 2015, S. 50). Besonders bedeutsam sind nach Gogolin (2006) u.a. die höhere Informationsdichte und häufigere Verweisstrukturen im Vergleich zur Alltagssprache. Die Bildungssprache ist zudem dadurch gekennzeichnet, dass sie sich anders als die Alltagssprache vorwiegend an der Schriftsprache orientiert. Sie ist nicht immer in konkrete Situationen eingebunden und der Dialog spielt eine geringere Rolle als in der Alltagssprache. Die Satzstrukturen sind komplexer als im Alltag und viele Wörter sind exakter definiert. Während ein Großteil der SchülerInnen über alltagssprachliche Kompetenzen verfügt, fehlen bei einigen SchülerInnen aus bildungsfernen Familien und/oder neueingewanderten Personen bildungssprachliche Fähigkeiten, was ihren Bildungserfolg erschwert. Für die erfolgreiche Partizipation im Geographieunterricht ist zudem die Fachsprache relevant. Die fachsprachlichen Anforderungen lassen sich in Fachwortschatz, basale Sprachhandlungen auf Satzebene und geographische Diskurse auf Textebene einteilen (siehe Morawski & Budke 2017, S. 64). Entsprechend des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens für Sprachen (GER) lassen sich bei diesen Anforderungen die Dimensionen Sprachrezeption, Sprachproduktion, sprachliche Interaktion und Sprachmittlung sowohl im Mündlichen als auch im Schriftlichen unterscheiden (vgl. Europarat, 2001, S. 62ff.) unterscheiden. Auf der Grundlage der sprachlichen Diagnose sollten alle SchülerInnen gezielt gefördert werden. Eine Auswahl geeigneter sprachlicher Fördermethoden für den Geographieunterricht findet sich in Budke (2012) und Budke/Kuckuck (2017). Zudem sollte die Mehrsprachigkeit der SchülerInnen verstärkt als Potential für fachliches Lernen genutzt werden. Erste Ansätze finden sich bei Weißenburg (2015, S. 45ff.)2, von der mehrsprachliche Unterrichtssequenzen für Grundschulkinder entwickelt und ausgewertet wurden. Ebenso sollten die unterschiedlichen kulturellen Erfahrungen der SchülerInnen für die Erschließung geographischer Themen im Unterricht genutzt werden. In den 2
Siehe hierzu Bildung und Mehrsprachigkeit, Heft 1, 2015. Verfügbar unter: https://www.phkarlsruhe.de/aktuelles/publikationen/bildungsjournal-dialog/ [28.02.2018].
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Stephan Langer / Alexandra Budke / Kerstin Ziemen
Nationalen Bildungsstandards für das Fach Geographie wie auch in vielen bundeslandspezifischen Curricula wird das Interkulturelle Lernen als wichtiges Ziel des Unterrichts definiert: „Daneben sind die entwicklungspolitische Bildung und das interkulturelle Lernen besonders wichtige Anliegen des Geographieunterrichts“ (vgl. DGfG, 2007, S. 7). Aufgrund von Migrationsprozessen, sehr unterschiedlichen Sozialisationserfahrungen und diversen kulturellen Prägungen ist die Schülerschaft zunehmend heterogener geworden. Durch interkulturelles Lernen soll ein Beitrag zum friedlichen Zusammenleben geleistet werden (Budke, 2013). Zentrales Ziel ist es, die SchülerInnen auf ein Leben in einer zunehmend globalen und multikulturellen Gesellschaft vorzubereiten. Dabei sollte allerdings nicht davon ausgegangen werden, dass SchülerInnen mit Migrationshintergrund generell eine fremdkulturelle Prägung ihres „Heimatlandes“ aufweisen, welche die Integration in eine homogene „deutsche Kultur“ erschwert, wie dies noch in der Ausländerpädagogik üblich war und häufig durch die Metapher „zwischen zwei Stühlen“ ausgedrückt wurde. Tatsächlich lässt sich die Existenz von räumlich abgrenzbaren Kulturen nicht wissenschaftlich belegen und die Globalisierung trägt dazu bei, dass zunehmend transkulturelle Phänomene wie z.B. Hip Hop zu beobachten sind (siehe Artikel Ege in diesem Band). Statt kulturelle Erfahrungen als generelles Defizit und Problem wahrzunehmen, sollte das vielfältige Wissen und die normativen Orientierungen von SchülerInnen, die über Migrations- und/oder Reiseerfahrungen verfügen, für die Behandlung spezifischer geographischer Themen genutzt werden. Es geht demnach zunächst darum, das vorunterrichtliche Wissen aller SchülerInnen und ihre Alltagsvorstellungen im Unterricht bewusst und sichtbar zu machen. Diese können im Rahmen des problemorientierten Einstiegs genutzt werden, um Wissenslücken aufzudecken, Bewertungswidersprüche zu erarbeiten oder die Komplexität des Themas aufzuzeigen (vgl. Budke, 2007). Besonders zugewanderte Kinder verfügen häufig über Kenntnisse, welche sie in anderen nationalen Kontexten erworben haben. Diese könnten themenbezogen in den Unterricht eingebracht werden. Beispielsweise kann das Vorwissen von SchülerInnen u.a. bei den Themen Wasser, Globalisierung, Tourismus, Stadtentwicklung, Landschaftszonen oder Entwicklung für den Unterricht relevant werden. Die in unterschiedlichen regionalen und nationalen Kontexten gemachten Erfahrungen, können auch für Vergleiche im Unterricht genutzt werden, um auf diese Weise regionale Unterschiede und allgemeingültige Aussagen zu erarbeiten. SchülerInnen mit Lebenserfahrungen in anderen Ländern können die sachlichen Informationen der Unterrichtsmedien, wie der Schulbücher, durch ihre Alltagserfahrungen bereichern, was besonders Interesse bei den deutschen SchülerInnen hervorrufen kann. Eine Studie von Tröger (1993) hat zudem gezeigt, dass gerade die Thematisierung des Alltags in Afrika dazu beitragen kann, dass sich deutsche Kinder ihrer eigenen (eurozentrischen) Wertvorstellungen bewusst werden und damit ein reflektierter Umgang im Geographieunterricht angebahnt werden kann. Zudem sollte das für globalisierte Gesellschaften typische und durch Migration verstärkte Nebeneinander von unterschiedlichen normativen Orientierungen, pro-
Migrationsbedingte Heterogenität von SchülerInnen
195
duktiv im Geographieunterricht genutzt werden. Bei einem Großteil der dort bearbeiteten Themen handelt es sich zudem um in der Gesellschaft kontrovers diskutierte Fragestellungen, bei denen mit dem Ziel der politischen Bildung die differenzierte Meinungsbildung der SchülerInnen im Vordergrund steht. Im Sinne des Perspektivenwechsels (vgl. Rhode-Jüchtern, 1995) sollten die unterschiedlichen wertebasierten Urteile der SchülerInnen im Unterricht sichtbar gemacht werden und die argumentative Auseinandersetzung bereichern. Es sollten verstärkt Bewertungsaufgaben im Unterricht behandelt werden, welche im Kontext von Raumentwicklungsfragen und Nutzungskonflikten leicht gestellt werden können. Die Unterschiedlichkeit der Ausgangswahrnehmungen und Bewertungen durch die SchülerInnen sollte verstärkt für die Diskussion und die Formulierung von Argumenten genutzt werden. Die Ansichten der zugewanderten SchülerInnen bieten auch die Möglichkeit, eurozentrische Sichtweisen in Frage zu stellen und transkulturelle Gemeinsamkeiten zu thematisieren. Es stellt sich nun die Frage, inwiefern sprachliche und kulturelle Heterogenität heute schon von den GeographielehrerInnen in ihre Unterrichtsplanung und -durchführung einbezogen wird. Zu dieser Frage wurde eine empirische Studie realisiert, die im Folgenden vorgestellt wird.
3. EMPIRISCHE UNTERSUCHUNG- SPRACHLICHE UND KULTURELLE HETEROGENITÄT IM GEOGRAPHIEUNTERRICHT 3.1 Methodik Im Rahmen eines Forschungsvorhabens zu Heterogenität von SchülerInnen in Wahrnehmungs- und Handlungsmustern von GeographielehrerInnen der Sekundarstufe wurde im Schuljahr 2014/15 in Nordrhein-Westfalen eine empirische Studie durchgeführt, um Informationen bezüglich der aktuellen Umsetzung von Inklusion im Geographieunterricht zu erhalten (vgl. Langer, 2017). Dabei wurde u. a. abgefragt, welche Relevanz die Heterogenitätsdimensionen „kulturelle Herkunft/Migrationshintergrund“ und die „Sprachkompetenz (in der deutschen Sprache)“ der SchülerInnen bei der Unterrichtsplanung und -durchführung für GeographielehrerInnen haben. In zwei Gruppeninterviews sowie dreizehn problemzentrierten Einzelinterviews mit GeographielehrerInnen von Sonder- und Regelschulen sowie FachleiterInnen, Schulleitern und einem Fachdezernenten fand zunächst eine Exploration des Forschungsfeldes statt. Basierend auf der Sichtung von Literatur zum Forschungsgegenstand und den Interviewergebnissen wurden im Anschluss daran Hypothesen formuliert, welche die Grundlage zur Erstellung eines anonymisiert bearbeiteten Online-Fragebogens darstellten. Die Stichprobe umfasst 343 Fragebögen und ist formal-statistisch nicht repräsentativ. Aufgrund der Tatsache, dass die Stichprobe relativ groß ist und für die statistische Analyse ausreichend umfangreiche Untergruppen aufweist, liegt jedoch die Vermutung nahe, dass die Ergebnisse eine hohe Realitätsnähe widerspiegeln.
196
Stephan Langer / Alexandra Budke / Kerstin Ziemen
Tab. 1: Zusammensetzung der Stichprobe von GeographielehrerInnen in Nordrhein-Westfalen (Langer 2017) Unabhängige Variablen
Häufigkeit
Prozent
Geschlecht Weiblich
159
46,6
Männlich
184
53,6
20-29 Jahre
18
5,2
30-39 Jahre
132
38,5
40-49 Jahre
71
20,7
50-59 Jahre
72
21
60 und älter
50
14,6
Gymnasium
194
56,6
Gesamtschule
41
12
Realschule
55
16
Hauptschule
43
12,5
Sekundarschule/Gemeinschaftsschule
10
2,9
Gesamtsumme
343
100
Alter
Schulform
Zu beachten ist, dass die Stichprobe zum einen durch LehrerInnen der Schulform Gymnasium und zum anderen durch GeographielehrerInnen der Altersgruppe 3039 Jahre dominiert wird (siehe Tab. 1). Auswertung und Darstellung der Forschungsergebnisse erfolgten anschließend im Sinne eines Mixed-Methods-Forschungsdesigns (vgl. Kuckartz, 2014, S. 54). Dabei standen Daten der standardisierten Befragung, die mittels Häufigkeits- und Korrelationsanalysen ausgewertet werden konnten, im Vordergrund. Die Korrelationsanalysen wurden mittels Kreuztabellierungen und Chi-Quadrat-Tests durchgeführt. Um signifikante Korrelationen näher beschreiben zu können, wurden zusätzlich die korrigierten sowie standardisierten Residuen berechnet (siehe Tab. 2-7). Zitate aus den zuvor mit anderen Lehrkräften durchgeführten qualitativen Interviews dienten zur Triangulation, indem sie zur Explikation und Kontextualisierung der Ergebnisse der standardisierten Befragung herangezogen wurden.
Migrationsbedingte Heterogenität von SchülerInnen
197
3.2. Ergebnisse Um die Wahrnehmung von GeographielehrerInnen in Bezug auf verschiedene Heterogenitätsmerkmale der SchülerInnen genauer zu untersuchen, wurden aus der Literatur und im Verlauf der Pretests der Studie u. a. 16 Heterogenitätsdimensionen ausgewählt, um sie den ProbandInnen wie folgt zur Einschätzung vorzulegen: „Wie stark berücksichtigen Sie die folgenden Heterogenitätsmerkmale Ihrer SchülerInnen bei der Planung und Durchführung Ihres Geographieunterrichts?“ Die Auswahl der Heterogenitätsdimensionen wurde auf der Basis einer Literaturrecherche vorgenommen. Da die angegebenen Sammlungen von Heterogenitätsdimensionen jeweils unterschiedlich ausfielen, wurde eine Häufigkeitsauszählung aller gesichteten Artikel vorgenommen und die 16 am häufigsten benannten Heterogenitätsdimensionen nach eingehender Überprüfung im Rahmen von Pretests in die Liste übernommen. Die ProbandInnen konnten ihre Einschätzung auf einer 5er-Skala von „keine“ bis „starke“ Berücksichtigung vornehmen (siehe Abb.1).
Abb. 1: Berücksichtigung von Heterogenitätsdimensionen der SchülerInnen in der Planung und Durchführung von Geographieunterricht Wahrnehmung der befragten GeographielehrerInnen in NRW (Langer, 2017)
Das Befragungsergebnis der Gesamtstichprobe zeigt, dass die beiden Heterogenitätsdimensionen „kulturelle Herkunft/Migrationshintergrund“ und „Sprachkompetenz (in der deutschen Sprache)“, welche im Fokus dieses Artikels stehen, in der unteren Hälfte der sortierten Merkmale vorzufinden sind. Die „kulturelle Herkunft/Migrationshintergrund“ erfährt von 75,3% der Befragten „eher schwach“,
198
Stephan Langer / Alexandra Budke / Kerstin Ziemen
„schwach“ oder „keine“ Berücksichtigung in ihrer Unterrichtsplanung und -durchführung, die „Sprachkompetenz (in der deutschen Sprache)“ von 62,4%. Damit ist der Anteil der LehrerInnen, die zentrale SchülerInnenmerkmale im Kontext einer sprachlich und kulturell zunehmend diversen Schülerschaft bislang in ihrem Unterrichtskonzept nach ihren Angaben praktisch unberücksichtigt lassen, sehr groß. Die momentan im Zentrum der Inklusionsdebatte stehende Heterogenitätsdimension „sonderpädagogischer Förderbedarf“ erhält zudem von insgesamt 73,1% der befragten GeographielehrerInnen ebenfalls die geringste Aufmerksamkeit. Aus den Daten lässt sich zudem ablesen, dass sich ein Großteil der ProbandInnen bislang für nicht ausreichend qualifiziert einschätzt, um die sonderpädagogischen Förderbedarfe in Bezug auf ihren Unterricht diagnostizieren und konzeptuell berücksichtigen zu können. Möglicherweise sehen sie dafür die Zuständigkeit bislang bei anderen ExpertInnen, wie z. B. den SprachlehrerInnen und SonderpädagogInnen. Da ein hoher Anteil der SchülerInnen mit den diagnostizierten sonderpädagogischen Förderbedarfen „Sprache“ und „Lernen“ ebenfalls einen Migrationshintergrund haben (vgl. Information & Technik NRW, 2016), ist auch diese Heterogenitätsdimension im Kontext der sich durch Migration verändernden Anforderung an Unterricht zu beachten. Im Zuge der Kontingenzanalyse wird deutlich, dass insbesondere die Schulform und der von den befragten angegebene Anteil an SchülerInnen mit Migrationshintergrund in ihren Klassen sowie die Berufserfahrung der Befragten eine wichtige Rolle im Zusammenhang mit der Berücksichtigung dieser zentralen Heterogenitätsdimensionen spielen. Der Zusammenhang zwischen der Schulform und der Berücksichtigung der Heterogenitätsdimensionen „kulturelle Herkunft/ Migrationshintergrund“, „Sprachkompetenz (in der deutschen Sprache)“ und „sonderpädagogischer Förderbedarf“ ist jeweils hochsignifikant (siehe Tab. 2). Tab. 2: Berücksichtigung von Heterogenitätsdimensionen der SchülerInnen in der Planung und Durchführung von Geographieunterricht (Langer 2017) Abhängige Variablen Heterogenität im Alltag
Heterogenitätsdimensionen
als belastend erlebt Sprachkompetenz sonderpädagogischer Förderbedarf Kulturelle Herkunft/ Migrationshintergrund
*p≤0.05, **p≤0.01
n = Stichprobengröße
n 332 299
Schulform C*Wert 0,271** 0,454**
277
0,396**
301
0,303**
C* = Kontingenzkoeffizient normiert
199
Migrationsbedingte Heterogenität von SchülerInnen
Tab. 3: Residualanalyse – Wahrnehmung unterschiedlicher Heterogenitätsdimensionen (Langer 2017)
nie + selten
Haupt.
Real.
Abhängige Variablen
Gesamt.
Gym.
Schulform
+
Heterogenität im Alltag gelentlich als belastend empfunden oft + immer keine + wenig
-
++
++
--
--
deutlich + stark
--
++
++
keine + wenig
++
--
++
Heterogenitätsdimension mittel Sprachkompetenz
Heterogenitätsdimension Sonderpädagogischer
mittel
Förderbedarf
deulich + stark
--
Heterogenitätsdimension
keine + wenig
++
kulturelle Herkunft/ Migrationshintergrund
mittel
-
deutlich + stark
-
-
-++
C* einsehbar in Tab. 1. Symbole: ++ = sehr positive Residuen (deutlich überdurchschnittlich hoch); + = positive Residuen (überdurchschnittlich hoch); - - = sehr negative Residuen (deutlich überdurchschnittlich niedrig); - = negative Residuen (überdurchschnittlich niedrig)
Dabei ist deutlich zu erkennen, dass die befragten GeographielehrerInnen von Gymnasien den drei dargestellten SchülerInnenmerkmalen größtenteils „keine“ und „wenig“ Aufmerksamkeit schenken, wie dies auch im folgenden Zitat deutlich wird: Gymnasiallehrer: „Ich muss sagen, ich habe mich schon im Vorfeld als du mich eingeladen hast gefragt, was kann ich da substantiell zu beitragen zu diesem Thema, weil mir an unserer Schule der Umgang mit oder zumindest die Heterogenität der Schülerschaft, was jetzt so die Lernvoraussetzung, Lernmotivationen, an Fähigkeiten und Fertigkeit ein normales Spektrum an Heterogenität mitbringt, was man so im gymnasialen Unterricht eigentlich nicht würdig findet tatsächlich zu behandeln. Ich kann dazu sagen, dass wir an unserer Schule dieses Thema schon entdeckt haben, konzeptionell aber in keinster Weise da irgendwie in eine Richtung laufen.“
200
Stephan Langer / Alexandra Budke / Kerstin Ziemen
Lehrkräfte von Real- und Hauptschulen geben deutlich überdurchschnittlich häufig an, die „Sprachkompetenz“ „eher stark“ und „stark“ bei ihrer Unterrichtsplanung und -durchführung zu berücksichtigen (siehe Tab. 3). Lehrkräfte von Real- und Hauptschulen geben deutlich überdurchschnittlich häufig an, die „Sprachkompetenz“ „eher stark“ und „stark“ bei ihrer Unterrichtsplanung und -durchführung zu berücksichtigen (siehe Tab. 3). Besonders die HauptschullehrerInnen geben für alle drei Heterogenitätsdimensionen deutlich überdurchschnittlich häufig an, dass sie diese „eher stark“ und „stark“ in ihre Planungen mit einbeziehen. Auffällig hingegen ist, dass die Gruppe der GesamtschullehrerInnen in allen drei Dimensionen keine Zusammenhänge aufweist. Offensichtlich zeigt das Befragungsergebnis in Bezug auf die drei benannten Heterogenitätsdimensionen, dass LehrerInnen der drei selektiven Schulformen Gymnasium, Real- und Hauptschule die Heterogenität ihrer SchülerInnen sehr unterschiedlich wahrnehmen. Danach befragt, inwiefern sie die Heterogenität ihrer SchülerInnen als „belastend“ empfinden, geben zudem GymnasiallehrerInnen überdurchschnittlich häufig an, dass dies „nie“ bzw. „selten“ der Fall sei, während HauptschullehrerInnen deutlich überdurchschnittlich häufig die Einschätzung „oft“ und „immer“ angeben (siehe Tab. 3). Da die Schulform Gesamtschule konzeptionell für den Umgang mit Heterogenität angelegt wurde, scheint hier möglicherweise der Effekt der Normalisierung des Umgangs mit Heterogenität stärker ausgeprägt zu sein. Entsprechend weist der Befund auch keinen Hinweis auf einen Belastungszusammenhang mit der Heterogenität der SchülerInnen bei GesamtschullehrerInnen auf. Zu vermuten ist, dass diese Zusammenhänge auf die sehr ungleichmäßige Verteilung von SchülerInnen mit Migrationshintergrund auf die verschiedenen Schulformen in Nordrhein-Westfalen zurückzuführen ist (siehe Abb. 2).
Migrationsbedingte Heterogenität von SchülerInnen
201
Abb. 2: Ausländeranteil der SchülerInnen in NRW nach Schultypen (eigene Darstellung)
Die Berücksichtigung der Heterogenitätsdimensionen „kulturelle Herkunft/Migrationshintergrund“ und „Sprachkompetenz (in der deutschen Sprache)“ der SchülerInnen nimmt mit der von den Befragten angegebenen Anzahl der SchülerInnen je Klasse, die einen Migrationshintergrund haben, zu (siehe Tab. 4). Der Befund weist einen hochsignifikanten Zusammenhang zwischen der wahrgenommenen Anzahl an SchülerInnen mit Migrationshintergrund und der Berücksichtigung der benannten Heterogenitätsdimensionen auf (siehe Tab. 5). Die Zunahme der Berücksichtigung der Heterogenitätsdimensionen entspricht somit der zunehmenden Anzahl an wahrgenommenen SchülerInnen, die einen Migrationshintergrund haben.
202
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Tab. 4: Residualanalyse - Wahrnehmung von Heterogenitätsdimensionen/ SchülerInnen mit Migrationshintergrund (MH) (Langer, 2017)
nie + selten
2632
1725
0-7
Abhängige Variabeln
8-16
Anzahl SchülerInnen mit MH
++
--
--
++
++
--
deutlich + stark
--
++
keine+wenig
++
Heterogenität im Alltag als gelegentlich belastend erlebt oft + immer keine + Heterogenitätsdimension
wenig
Sprachkompetenz
mittel
Heterogenitätsdimension
-
-
mittel
kulturelle Herkunft/ Migrationshintergrund
deutlich + stark
--
+
C* einsehbar in Tab. 5. Symbole: ++ = sehr positive Residuen (deutlich überdurchschnittlich hoch); + = positive Residuen (überdurchschnittlich hoch); - - = sehr negative Residuen (deutlich überdurchschnittlich niedrig); - = negative Residuen (überdurchschnittlich niedrig)
Tab. 5: Kontingenzanalyse - Wahrnehmung von Heterogenitätsdimensionen/ SchülerInnen mit Migrationshintergrund (Langer, 2017) Abhängige Variablen
14-WHetAlltag Heterogenitätsdimensionen *p≤0.05, **p≤0.01
Belastend Sprachkompetenz Kulturelle Herkunft/ Migrationshintergrund
n = Stichprobengröße
Anzahl SchülerInnen mit Migrationshintergrund n C*Wert 342 0,320** 308 0,304** 310
0,303**
C* = Kontingenzkoeffizient normiert
Migrationsbedingte Heterogenität von SchülerInnen
203
Während Lehrkräfte, die angeben durchschnittlich 0-7 SchülerInnen mit Migrationshintergrund in ihren Lerngruppen zu unterrichten, diesen Merkmalen deutlich überdurchschnittlich häufig „schwache“ bzw. „keine“ Berücksichtigung zukommen lassen, nehmen Lehrkräfte mit 26 und mehr SchülerInnen mit Migrationshintergrund diese Heterogenitätsmerkmale „eher stark“ und „stark“ in ihrer Unterrichtsplanung und -durchführung auf. Der Befund weist somit auf eine zunehmende Sensibilität für die Heterogenitätsmerkmale mit der wahrgenommenen und steigenden Anzahl an SchülerInnen mit Migrationshintergrund hin. Wie aus Abbildung 2 ersichtlich wird, ist der Ausländeranteil an Hauptschulen in Nordrhein-Westfalen besonders hoch. Die Wahrnehmung der LehrerInnen deckt sich demnach mit der Realität. Dies drückt sich möglicherweise auch in einem weiteren Befund der Befragung in Bezug auf die Einschätzung des Potenzials von Medien für einen differenzierenden Geographieunterricht aus. Insbesondere das Potenzial der Medien „Bilder“, „Film“, „dreidimensionale Modelle“ und „originale Gegenstände“, die über die sprachliche Ebene hinaus visuelle und haptische Zugänge zu Lerngegenständen ermöglichen, werden mit steigender Anzahl an SchülerInnen mit Migrationshintergrund überdurchschnittlich häufig mit „eher hoch“ und „hoch“ eingeschätzt. In den qualitativen Interviews, die im Vorfeld der standardisierten Befragung entstanden, wurde das Potenzial des Geographieunterrichts häufig wie in dem folgenden Zitat von einem Gesamtschullehrer beschrieben: Gesamtschullehrer: „Auch da, viele Schüler haben in den mündlichen Beiträgen große Schwierigkeiten, sachorientiert zu argumentieren. Das finde ich im Übrigen prekär, von den Chancen her, […] über die verschiedenen Zugänge des Faches gibt es große Möglichkeiten, weil ich vom Karten malen, über Statistiken basteln lassen, also ganz viele verschiedene Zugänge zu einem Sachphänomen finden kann, die nicht notwendigerweise über die Sprache führen, die dann auch verstellend sind für jemanden, der eben mit dieser Sprache nicht groß geworden ist.“
Die wahrgenommene Zunahme an SchülerInnen mit Migrationshintergrund in einer Lerngruppe führt offensichtlich zu einer stärkeren Berücksichtigung der Heterogenitätsdimensionen „kulturelle Herkunft/Migrationshintergrund“ und „Sprachkompetenz (in der deutschen Sprach)“ und auch zu verstärkten Bemühungen um einen adäquaten Umgang mit entsprechenden Defiziten. Die Heterogenitätsdimensionen „kulturelle Herkunft/Migrationshintergrund“ und „Sprachkompetenz (in der deutschen Sprache)“ weisen zudem signifikante Zusammenhänge mit der Berufserfahrung der befragten GeographielehrerInnen auf (siehe Tab. 6 & 7).
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Tab. 6: Residualanalyse – Heterogenitätsdimensionen / Berufserfahrung (Langer, 2017) Berufserfahrung 3039
2029
1019
0-9
Abhängige Variablen keine + ++ Heterogenitäts-
wenig
dimension
mittel
Sprachkompetenz
+
deutlich + -
+
+
--
stark keine + Heterogenitätsdimension
wenig
kulturelle Herkunft/
mittel
Migrationshintergrund
++
deulich + stark
C* einsehbar in Tab. 5. Symbole: ++ = sehr positive Residuen (deutlich überdurchschnittlich hoch); + = positive Residuen (überdurchschnittlich hoch); - - = sehr negative Residuen (deutlich überdurchschnittlich niedrig); - = negative Residuen (überdurchschnittlich niedrig)
Tab. 7: Kontingenzanalyse – Heterogenitätsdimensionen / Berufserfahrung (Langer, 2017) Abhängige Variable
Heterogenitätsdimensionen
Sprachkompetenz Kulturelle Herkunft/ Migrationshintergrund
Berufserfahrung n C*Wert 308 0,298** 310
0,295*
*p≤0.05, **p≤0.01, n.s. = nicht signifikant; n = Stichprobengröße; C* = Kontingenzkoeffizient normiert
Während GeographielehrerInnen, die noch am Anfang ihrer Berufslaufbahn stehen und über 0-9 Jahre Berufserfahrung verfügen, den Heterogenitätsdimensionen „kulturelle Herkunft/Migrationshintergrund“ und „Sprachkompetenz (in der deutschen Sprache)“ „keine“ und „schwache“ Berücksichtigung zukommen lassen, nimmt die Berücksichtigung ab 10-19 Jahren Berufserfahrung eher zu. Überdurchschnittlich viele GeographielehrerInnen mit 10-19 Jahren Berufserfahrung geben an, dass sie das Merkmal „kulturelle Herkunft/Migrationshintergrund“ als „eher stark“ und „stark“ sowie die „Sprachkompetenz (in der deutschen Sprache)“ immerhin „eher
Migrationsbedingte Heterogenität von SchülerInnen
205
schwach“ in ihrer Planung und Durchführung von Unterricht berücksichtigen. Damit scheint es nach den ersten Jahren der Orientierung und Aneignung von Routinen sowie der Festigung von Lehrkompetenzen im Beruf dazu zu kommen, dass schließlich auch diesen SchülerInnenmerkmalen mehr Aufmerksamkeit zukommt. Im Interview gibt ein Gesamtschullehrer, der sich nach dem Referendariat im ersten Jahr einer Festanstellung befindet an: „Genau, also das was du eben sagest mit der Sprache, das ist ein Aspekt, das muss ich ganz ehrlich sagen, den habe ich nicht so im Fokus.“ Ein Gymnasiallehrer, welcher der Gruppe mit 20–29 Jahren Berufserfahrung angehört und als Deutschlehrer die „Sprachkompetenz“ besonders im Blick hat, gibt dagegen an: Gymnasiallehrer: „Also wir haben bestimmte Rituale entwickelt, wenn es beispielsweise um die Analyse von bestimmten Klimakarten geht oder Lokalisierung. […] Und Sprache kann auch der Unterschied zwischen völlig falsch und völlig richtig sein. Bestes Beispiel: Eine türkische Schülerin von mir schrieb zu einer Klausur, es ging um Frankfurt am Main und den Flughafen, „Frankfurt liegt westlich von Deutschland“. Sie hat also im Prinzip nur die Präpositionen vertauscht. Die Aussage ist sachlich falsch, aus geographischer Sicht völliger Quatsch. Wenn man das als sprachliches Phänomen sieht, würde ich dahin schreiben: Liebe Merve, von und in, da solltest du noch einmal genauer hingucken. Da hat man also sehr schön die Möglichkeiten zu zeigen, wie ein sprachliches Phänomen, einen massiven sachlichen Fehler erzeugen kann. Den kann ich als solchen wahrnehmen oder als sprachlichen Fehler und kann mir einbilden, sie wusste wo Frankfurt liegt. Und genau da findet Sprachförderung und auch Umgang mit Heterogenität statt.“
Das Zitat weist auf die Sensibilität des Lehrers sowohl für die Sprachkompetenz als auch die kulturelle Herkunft der Schülerin hin, was dafür spricht, dass beide Merkmale möglicherweise erst dann stärkere Berücksichtigung finden, wenn die Lehrkräfte bereits mehr Berufserfahrung sammeln und die dazu notwendigen Kompetenzen entwickeln können.
4. DISKUSSION Die Befragung von GeographielehrerInnen zeigt sehr deutlich, dass ein Großteil die unterschiedlichen Sprachkompetenzen der SchülerInnen sowie deren kulturelle Erfahrungen bisher nicht bewusst in die Planung und Durchführung von Geographieunterricht einbezieht. Dies erscheint insofern problematisch, dass damit Möglichkeiten der individuellen und differenzierten Sprachförderung sowie der Fruchtbarmachung von kulturellen Erfahrungen bisher wenig genutzt wurden. Damit besteht die Gefahr, dass SchülerInnen mit bildungs- und fachsprachlichen Defiziten im Deutschen nicht ausreichend am Unterricht partizipieren können und zugewanderte SchülerInnen den Unterricht als wenig anschlussfähig an ihre Vorerfahrungen erleben. Besonders interessant ist auch, dass HauptschullehrerInnen die sprachliche und kulturelle Heterogenität ihrer SchülerInnen zwar stärker als LehrerInnen der anderen Schultypen in Planung und Unterricht berücksichtigen, diese Heterogenität aber größtenteils als sehr belastend empfinden. Dies verwundert angesichts der hohen
206
Stephan Langer / Alexandra Budke / Kerstin Ziemen
AusländerInnenanteile an Hauptschulen nicht (siehe dazu auch Abb. 2). Eine Erklärung für das Belastungsempfinden könnte jedoch auch sein, dass die Lehrkräfte bislang nicht ausreichend aus- und fortgebildet werden konnten, um individuell zu unterstützen und die unterschiedlichen Ansichten, Kenntnisse und Vorerfahrungen ihrer SchülerInnen produktiv im Unterricht einzusetzen. Damit scheint auch die Entwicklung eines inklusiven Geographieunterrichts bisher noch am Anfang zu stehen. Folgende Weiterentwicklungen sind denkbar: – Verstärkte Integration von didaktischen Ansätzen zur inklusiven Unterrichtsgestaltung in die universitäre Bildung, das Referendariat und die Weiterbildung, da ein Großteil der von Langer (2017) befragten Lehrkräfte angibt, bisher nicht ausreichend auf Inklusion vorbereitet zu sein. – Entwicklung von geographiedidaktischen Ansätzen zur Diagnose von Kompetenzen der SchülerInnen u.a. im Bereich der Fachsprache und angepassten Förderinstrumente. – Verstärkte Zusammenarbeit der Geographiedidaktik mit der Sonderpädagogik. – Fort- und Weiterbildungen zu inklusionsdidaktischen Themen im Kontext des Geographieunterrichts und zur pädagogischen Diagnostik, um die Lehrkräfte für unterschiedliche Lernausgangslagen zu sensibilisieren.
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Migrationsbedingte Heterogenität von SchülerInnen
207
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DIE WEGBESCHREIBUNG ANHAND VON MENTAL MAPS ALS INSTRUMENT ZUR SPRACHSTANDSEINSCHÄTZUNG IN EINER SPRACHLERNKLASSE Franziska Dauberschmidt / Miriam Kuckuck
1. EINLEITUNG In „Sprachlernklassen“ werden zugewanderte schulpflichtige Kinder und Jugendliche unterrichtet, mit dem Ziel, sich in der deutschen Sprache verständlich machen zu können und nach spätestens einem Jahr am Regelunterricht teilzunehmen. Ausgerichtet ist dieser Unterricht am System der deutschen Sprache und an bekannten Sprachentwicklungsstufen.1 Obwohl der Spracherwerb in Sprachlernklassen offensichtlich im Fokus stehen muss, kann man die berechtigte Frage stellen, inwieweit auch Unterrichtsgegenstände des Regelunterrichts für den Spracherwerb genutzt werden können. Auf diese Weise könnte den neu zugewanderten Kindern und Jugendlichen der Übertritt in den Regelunterricht erleichtert werden. Bislang liegen kaum Studien vor, welche die Sprachkompetenzen von neu zugewanderten Kindern und Jugendlichen aus der Perspektive der Fachdidaktik Geographie und der Spracherwerbsforschung untersuchen. Im Folgenden stellen wir Ergebnisse einer Studie vor, bei der wir am Beispiel der Versprachlichung von mental maps skizzieren, wie ein Unterrichtsgegenstand des Geographieunterrichts mit dem Erwerb der deutschen Sprache kombinierbar ist. Wir verfolgen dabei das Ziel, mithilfe von Satzbauplänen nach Grießhaber (2012) die Sprachstände am Beispiel von Verben zu erfassen. Der Einstieg in die Kartenarbeit im Geographieunterricht erfolgt aus guten Gründen häufig über Wegbeschreibungen anhand von mental maps in Klasse 5/6. Wegbeschreibungen sind sprachlich äußerst anspruchsvoll, sodass diese sinnvoll genutzt werden können, um Sprachstände zu diagnostizieren und Sprachstandsentwicklungen zu verfolgen. Dabei konzentrieren wir uns auf die Verbstellung, weil diese sich als besonders geeignet erwiesen hat, Sprachstände einzuschätzen. Untersucht haben wir 10- bis 12jährige SchülerInnen, die an einem niedersächsischen Gymnasium in einer Sprachlernklasse unterrichtet wurden. Untersuchungsgegenstand waren Versprachlichungen des Schulwegs von zehn neu zugewanderten Kin-
1
Curriculare Vorgaben für den Unterricht „Deutsch als Zweitsprache“ (vgl. Niedersächsisches Kultusminsterium, 2016, S. 4.).
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Franziska Dauberschmidt / Miriam Kuckuck
dern auf der Basis selbst erstellter mental maps. Um Aussagen über Spracherwerbsfortschritte treffen zu können, wurde die Untersuchung neun Monate später an denselben ProbandInnen wiederholt. Auch GeographielehrerInnen sollten für sprachliche Hürden in ihrem Unterricht sensibilisiert sein, um zwischen fachlichen und sprachlichen Problemen der SchülerInnen differenzieren zu können und um ggf. sprachliche Hilfestellungen, hier bei der Versprachlichung des Schulweges, geben zu können.
2. BEDEUTUNG VON VERBEN BEI WEGBESCHREIBUNGEN Bei der Versprachlichung von Wegen auf der Basis mentaler Vorstellungen stehen Sprechende vor zwei grundlegenden Herausforderungen: Dem der Linearisierung und dem des Blickpunkts (vgl. Buhl, 1996, S. 49f.). Das Linearisierungsproblem entsteht dadurch, dass Sprache und Raum grundsätzlich sehr verschieden organisiert sind. Raum ist mehrdimensional. Er hat eine Ausdehnung, in der Objekte gleichzeitig und nebeneinander vorhanden sind. Sprache ist dagegen linear. Ein Sprechender kann immer nur einen Weg der mentalen Landkarte verfolgen. Er muss dabei seinen mental repräsentierten Weg zu Orientierungspunkten in der mental map in Beziehung setzen. Sollen Merkmale eines Raumes zum Beispiel in einem Gespräch (hier Interview) versprachlicht werden, müssen also sprachliche Elemente nacheinander angeordnet werden, wodurch das Blickpunktproblem entsteht: Es muss deutlich gemacht werden, zu welchem Raumausschnitt man sich gerade äußert. Einem Hörenden muss die Möglichkeit gegeben werden, eine Vorstellung der mental map des Sprechenden zu entwickeln. Werden dabei zu wenige Orientierungspunkte verwendet, werden die Wegerklärungen unverständlich. Solche Orientierungspunkte sind äußerst subjektiv. Ein Sprechender kann Kreuzungen mit Straßennamen oder Geschäfte oder auch markante natürliche Gegebenheiten als Punkte der Orientierung nutzen. Um das Linearisierungsproblem und das Blickpunktproblem zu lösen, müssen Objekte der mental map zu einander in Beziehung gesetzt und die Relationen versprachlicht werden. Dafür steht kompetenten Sprechenden des Deutschen ein umfangreiches Repertoire von Lokalisierungsausdrücken zur Verfügung, das zugewanderte Menschen erlernen müssen. Im Deutschen verwenden wir lokale Präpositionen (auf, unter, neben, …), lokale Adverbien (da, hier, dort, oben, …) und Verben (vgl. z.B. Bryant, 2015, S. 3). Verben sind dabei sprachlich besonders interessant, weil das Deutsche sehr eigene Möglichkeiten hat, Weginformationen in Verben auszudrücken. Der Erwerb von Verben hat sich zudem als besonders geeignet erwiesen, Spracherwerbsprozesse darzustellen (vgl. Grießhaber, 2012). Eines der ersten Verben, die Lernende erwerben, ist das Verb gehen, das deshalb in den folgenden Ausführungen als Beispiel dient. Verben können die Kombination mit einer Präposition fordern (1) oder sich mit anderen Wörtern zu Partikelverben verbinden (2).
Die Wegbeschreibung anhand von mental maps
(1) (2)
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Ich gehe durch den Park. Darf ich hier bitte durchgehen?
In Satz (1) ist durch eine Präposition. Nach der Präposition folgt die verlangte Wortgruppe im Akkusativ. In Satz (2) gibt es eine solche Wortgruppe nicht. Durchgehen und gehen durch sind also verschiedene Verbkonstruktionen. (3)
Ich gehe die Treppe rauf.
Rauf wirkt in (3) auf den ersten Blick wie ein Adverb. Es spezifiziert das Verb gehen. Ohne diesen Verbzusatz ist der Satz aber ungrammatisch (4), sodass es sich nicht um ein Adverb handeln kann. (4)
*2Ich gehe die Treppe.
Erst rauf und gehen gemeinsam bilden das Verb des Satzes. Raufgehen und durchgehen können als Partikelverben beschrieben werden (zur Diskussion vgl. Krause, 2011). Die Funktion von Partikelverben bei Wegbeschreibungen ist nach Talmy (1985) die Vermittlung von WEG- und MODUS-Informationen (zur Auseinandersetzung mit der Theorie von Talmy vgl. Müller, 1998; Bryant, 2015). Im Deutschen geht „man“ nicht einfach: Man geht vorbei, hoch, raus, runter oder durch. Diese Ausdrücke sind direkt mit dem Verb verbunden. Talmy (1985, S. 102) beschreibt sie syntaktisch als Satelliten, die gemeinsam mit dem Verb eine Einheit bilden. Semantisch drücken sie die WEG-Information aus (vgl. Talmy, 1985, S. 61). Dadurch, dass das Deutsche WEG-Informationen in Satelliten auslagert, kann das eigentliche Verb variiert werden. So ist im Deutschen gehen nicht nur gehen. Wir gehen auf sehr unterschiedliche Weise (= MODUS-Information): Wir laufen, watscheln, rennen, schleichen, usw. Verben, mit denen im Deutschen Lokalisierungen vorgenommen werden, bestehen demnach aus zwei Elementen: der WEG-Information, die durch einen Satelliten (z.B. eine Partikel) ausgedrückt werden kann, und der MODUS-Information, die im Verbstamm ausgedrückt wird. Beide müssen sinnvoll miteinander kombiniert werden, sie bilden die für das Deutsche typische Verbklammer eines Satzes. Die Fähigkeit, Orte der mental map benennen zu können, genügt bei Weitem nicht, um Wege zu beschreiben. Hierzu sind auch umfangreiche alltagssprachliche Leistungen nötig: Notwendig sind passende lokale Adverbien, Präpositionen mit korrektem Kasus und Verben, deren WEG- und MODUS-Informationen bedacht werden müssen. Gleichzeitig muss der Standpunkt des Zuhörenden im Blick behalten werden, um Verständnisprobleme zu vermeiden. Für unsere Auseinandersetzung genügt vorerst die Fokussierung auf Verbkonstruktionen, weil diese für die
2
Der Asterisk vor einem Ausdruck kennzeichnet diesen als ungrammatisch.
212
Franziska Dauberschmidt / Miriam Kuckuck
Feststellung eines Sprachstandes äußerst aufschlussreich sind. Eine umfassende Verwendung von Adverbien, Präpositionen UND Verb-Konstruktionen ist wegen der kurzen Sprachkontaktdauer unserer ProbandInnen nicht erwartbar.
3. SPRACHERWERB UND VERBSTELLUNG Um den Sprachstand von Deutschlernenden zu charakterisieren, hat sich die Profilanalyse von Grießhaber (2012) durchgesetzt. Er fokussiert die Verbstellung und leitet daraus sogenannte Sprachprofilstufen ab. Insgesamt hat Grießhaber 6 Profilstufen definiert, die heute fast flächendeckend zur Einschätzung des Sprachstandes von Deutschlernenden eingesetzt werden. Grießhaber kennzeichnet die Sprachprofilstufe 0 dadurch, dass ein Lernender einige Floskeln produzieren kann, auch können einige erste Äußerungen selbst formuliert werden, aber das Verb wird nicht flektiert, weshalb es zu sehr bruchstückhaften Äußerungen kommt. Das ändert sich mit der Sprachprofilstufe 1, auf der Verben in Äußerungen frei eingesetzt und flektiert werden („Ich gehe Schule“). Sobald ein Lernender die Verbklammer verwendet, befindet sie/er sich auf Sprachprofilstufe 2. Die oben beschriebene Trennung von WEG- und MODUS-Information folgt diesem Muster. Partikelverben (Verben plus Präposition, Adverb, Substantiv) sind trennbar, sodass die beiden Teile in vielen grammatischen Konstruktionen an unterschiedlichen Stellen des Satzes auftauchen (5, 6, 7). (5) (6) (7)
Ich gehe die Straße entlang. (gehe = MODUS / entlang = WEG) Ich gehe da entlang. Wenn ich da entlanggehe, muss ich…
Trotzdem ist „entlanggehen“ das Verb des Satzes. Für einen deutschen Hörenden ist eine Äußerung wie (8) unvollständig. Es könnte eine Präposition fehlen wie in (9) und (10). Es könnte aber auch ein Partikel wie in (11) fehlen. Der semantische Gehalt des Satzes verändert sich jedes Mal fundamental. (8) (9) (10) (11)
*Ich gehe Park. Ich gehe durch den Park. Ich gehe in den Park. Ich gehe den Park entlang.
Auf der Profilstufe 3 nach Grießhaber (2012) werden Inversionen möglich. In einem normalen Aussagesatz steht das Verb an zweiter Stelle. Die erste Position ist durch ein Objekt oder das Subjekt besetzt.
Die Wegbeschreibung anhand von mental maps
(12) (13)
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Durch den Park gehe ich. (1. Position „durch den Park“ = Objekt) Ich gehe durch den Park. (1. Position „ich“ = Subjekt)
Wenn nun einem solchen Aussagesatz beispielsweise ein Adverb vorangestellt wird, dann bleibt das Verb auf der zweiten Position und die Wortgruppe, die bisher die erste Position besetzt hatte, rutscht nach hinten, was als Inversion bezeichnet wird. (14) (15)
Danach gehe ich durch den Park. *Danach ich gehe durch den Park.
Beherrschen die SchülerInnen die Inversion, dann können sie auch Nebensätze konstruieren. Häufig wird der Nebensatz durch eine Konjunktion eingeleitet und das finite Verb rückt an das Ende des Satzes (16, 17, 18). (16) (17) (18)
Wenn ich durch den Park gehe, dann … *Wenn gehe ich durch den Park, … *Wenn ich gehe durch den Park, …
Durch die Satzbaupläne von Grießhaber (2012) lassen sich Sprachstände sehr gut einschätzen, weil Satzkonstruktionen in einem hohen Maß Auskunft über das Verständnis der deutschen Sprache geben.
4. MENTAL MAPS DES SCHULWEGES ZUR DIAGNOSE DES SPRACHSTANDES Mental maps werden im Geographieunterricht zu Beginn der Sekundarstufe häufig eingesetzt, um in die Kartenarbeit einzuführen. Die SchülerInnen werden dabei aufgefordert, ihren Schulweg zu zeichnen. Die eigenen Zeichnungen können untereinander, aber auch mit anderen Karten (z.B. Stadtplänen) verglichen werden. Diese mentalen Karten dienen als Kommunikationsanlass, um über den Inhalt aber auch über das Kartenverständnis ins Gespräch zu kommen. Dabei lassen sich mithilfe weniger Verben (z.B. gehen) viele Aspekte und Beziehungen ausdrücken. Trotz der Verwendung der Alltagssprache und der alltäglichen Erfahrungen auf dem Schulweg, die zeichnerisch dargestellt werden, ist die mental map ein genuin geographisches Medium, mit dessen Hilfe eine Annäherung an das abstrakte Konstrukt Karte gelingen kann. Menschen nehmen ihren Nahraum vornehmlich durch ihr eigenes Handeln wahr (vgl. Horn & Schweizer, 2013, S. 11). Dabei werden vor allem visuelle, aber auch akustische, haptische und olfaktorische Reize verarbeitet (Kaminske, 2013, S. 4). Des Weiteren können Eindrücke, die nicht selbst erfahren wurden, wie z.B. durch Nachrichtensendungen, Reisereportagen etc. das Bild von einem Raumausschnitt prägen. Sowohl die selbsterfahrenen Reize und subjektiven Erfahrungen als auch die Rezeption von Bildern, Filmen etc. führen zu einer mentalen Repräsentation eines Raumes. Diese Repräsentationen sind individuell (vgl. Plien
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Franziska Dauberschmidt / Miriam Kuckuck
& Ulrich, 2017, S. 91) und deshalb als Gesprächsanlass geeignet. In der geographischen Disziplin hat sich für diese mentalen Repräsentationen der Begriff „mental map“ etabliert; häufig wird auch der Begriff der „kognitiven Karte“ verwendet. Mithilfe von mental maps können individuelle Weltbilder in Form von Zeichnungen illustriert und durch die Verbalisierung, z.B. in Form einer Beschreibung des Schulweges, versprachlicht werden. Das Verständnis von mental maps und der darin enthaltenen Raumvorstellungen von Kindern und Jugendlichen ist in verschiedenen Studien erforscht worden. In der geographiedidaktischen Forschung hat z.B. Bagoly-Simó (2012) die Fremdund Selbstbilder von rumänischen und mexikanischen SchülerInnen mithilfe von mental maps untersucht. Es gibt eine Vielzahl an Studien aus der Psychologie zu den Bereichen der kognitiven Entwicklung von Raumvorstellungen. Hierzu zählen auch Arbeiten zum räumlichen Denken von Kindern. Schniotalle (2003, S. 61ff.) verweist auf einzelne Studien, die davon ausgehen, dass die Entwicklung mentaler Karten mit der Entwicklung eines räumlichen Vorstellungsvermögens zusammenhängt (vgl. Adamina, 2008, S. 37). Gould & White (1986) vertreten die These, dass Informationen über den Raumausschnitt zunächst punktuell verteilt sind und sich nach und nach zu Knotenpunkten verbinden lassen. Am Ende entsteht ein flächenhaftes Netz von Rauminformationen. Adamina & Whyssen (2005) konnten bestimmte Vorstellungsmuster und Konzepte von Karten und Orientierungssystemen, wie z.B. dass Europa mittig der Karte und Norden oben ist, bei europäischen SchülerInnen feststellen. Dieses Verständnis basiert allerdings auf einer europäischen Wahrnehmung und Darstellung. Es ist zu vermuten, dass die neu zugewanderten Kinder unserer Erhebung dieses Verständnis von dem Konzept „Karte“ erst im Unterricht in Deutschland erlernen werden bzw. gelernt haben. Thierer (2013) zeigt, dass FünftklässlerInnen häufig Steilbilder, also eine Kombination von Grundriss- und Aufrissbildern, zeichnen, wenn sie eine mental map von ihrem Schulweg erstellen sollen. Obwohl der (Nah)Raum nicht nur durch eigene Erfahrungen erlebt und so eine mentale Karte erzeugt wird, sondern auch durch die Rezeption von Narrativen (s. oben), gehen wir in unserer Studie davon aus, dass sowohl die in Deutschland geborenen Kinder als auch die neu zugewanderten Kinder diese Narrative (z.B. Zeitungsberichte über ihren Stadtteil) nicht kennen, da sie kaum den gesellschaftlichen Diskurs aufgrund geringer Sprachkenntnisse oder aufgrund ihres Alters verfolgen. Werden mental maps im Geographieunterricht eingesetzt, sollten sie Anlässe für Kommunikationsprozesse bieten. Denn mental maps steuern die Wahrnehmung und bilden den Ausgangspunkt geographischer Bildungs- und Lernprozesse im Unterricht (Plien & Ulrich, 2017, S. 86). So können die hier genutzten mental maps Anlässe zur Kommunikation über die unterschiedlichen Darstellungsmöglichkeiten bieten und/oder eine Grundlage für einen Abgleich mit einem Stadtplan geben und so in das Kartenverständnis einführen. Die Inhalte einer Karte können/müssen im und für den Unterricht versprachlicht werden. Für die Versprachlichung, z.B. in Form einer Beschreibung des Schulweges, benötigen SchülerInnen Lokalisierungsausdrücke wie Verben (s. oben).
Die Wegbeschreibung anhand von mental maps
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5. METHODIK Kern unserer Studie ist die Sprachstandseinschätzung mittels Versprachlichungen von mental maps. Dazu haben wir 10 Kinder einer Sprachlernklasse eines städtischen Gymnasiums im Alter von 10 bis 12 Jahren mental maps zeichnen lassen und die Kinder einzeln zu diesen interviewt. Für die Erstellung der mental maps erhielten die SchülerInnen Din A3 Papier, bunte Stifte sowie den Arbeitsauftrag „Zeichne deinen Weg von der Schule nach Hause“. Da die Kinder während des ersten Interviews ihre mental maps unterstützend vor sich liegen hatten, ergab sich eine schwierige Kommunikationssituation. Deiktische Elemente wie hier oder da wurden regelrecht provoziert. Aus diesem Grund wurden zwei methodische Entscheidungen gefällt: Zum einen wurde die Erhebung zusätzlich bei 6 Kindern einer fünften Regelklasse durchgeführt, um einen Eindruck zu gewinnen, wie MuttersprachlerInnen die Interviewsituation mit vorliegender mental map lösen. Und zum anderen wurde die Erhebung zu einem späteren Zeitpunkt wiederholt. Während des zweiten Interviews hatten die Kinder ihre mental maps nicht mehr vor sich liegen, sodass räumliche Beziehungen von Objekten der mental maps stärker versprachlicht werden mussten. Gleichzeitig kann durch die Wiederholung eine Sprachstandsentwicklung dokumentiert werden. Die erste Erhebung fand zwischen April und Mai 2016 statt. Zu diesem Zeitpunkt besuchten die Kinder der Sprachlernklasse seit fünf Monaten die deutsche Schule. Bei der zweiten Erhebung waren die Kinder seit einem Jahr im Unterricht. Die SchülerInnen waren kurz davor, in den Regelunterricht versetzt zu werden. Zu Beginn jedes Einzelinterviews wurden die SchülerInnen aufgefordert, ihren Schulweg mithilfe der mental map zu beschreiben. Die offene Fragestellung/Aufgabenstellung ermöglichte eine offene Beantwortung. Erst wenn die SchülerInnen nicht mehr weiterwussten, wurde nachgefragt. Die mental maps der SchülerInnen wurden von den Forscherinnen wie narrative Landkarten ausgewertet (vgl. Behnken & Zinnecker, 2013). Im Ergebnis ließen sich kaum Unterschiede zwischen den mental maps feststellen. Alterstypisch zeichneten die Kinder Aufrisskarten, die bereits einige typische Kartenmerkmale (z.B. farbige Gestaltung) enthielten. Die geringe Anzahl der ProbandInnen machte es möglich, jedes transkribierte Interview sprachlich in mehreren Durchgängen qualitativ auszuwerten. Wir mussten keine Schlagwörter vordefinieren, sondern konnten uns auf die vorkommenden Konstruktionen einlassen und im Anschluss daran Stichworte definieren. In einem ersten Durchgang wurden Verbkonstruktionen gelistet. Der zweite Auswertungsdurchgang versuchte Gruppierungen dieser im Sinne der „Grießhaberschen Profilanalyse“. Im dritten Auswertungsschritt wurden Interpretationen vorgenommen. In einem intersubjektiven Prozess wurden dazu jeder Verb-Konstruktionsgruppe Bedeutungsmuster zugeschrieben, welche in einem vierten Auswertungsschritt überprüft und korrigiert wurden. Beispielsweise wurde von allen Kindern das Verb gehen benutzt, allerdings nicht immer im Sinne von gehen. Gehen kann in den Interviews auch fahren bedeuten, was die Betrachtung jeder einzelnen Verwendungsweise notwendig machte. Standen alle Vorkommen des Verbs gehen im ersten Auswertungsschritt in derselben Liste (Verbkonstruktionen), wurde diese im dritten
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Franziska Dauberschmidt / Miriam Kuckuck
Auswertungsschritt in unterschiedliche Bedeutungsmuster unterteilt (gehen im Sinne von gehen und gehen im Sinne von fahren). Ähnlich verhält es sich mit der Verwendung verschiedener Satelliten. Nicht nur ihr quantitatives Vorkommen ist interessant, auch der sinnvolle Einsatz ist erkenntnisreich. Auch elliptische Formulierungen, die insbesondere im ersten Interview erwartet wurden, konnten wir so erfassen. Theoretisch vordefiniert war nur unsere Beschränkung auf Verb-Formen mit ihren WEG- und MODUS-Informationen. Die Anonymisierung erfolgte durch die Verwendung von Abkürzungen, die die Zuordnung zur Sprachlernklasse (SpL) bzw. Regelklasse (DE) ermöglicht. Die Kinder der Sprachlernklasse wurden mit Großbuchstaben versehen, während die Kinder der Regelklasse nummeriert wurden.
6. ERGEBNISSE 6.1 Versprachlichung der Schulwege: MuttersprachlerInnen Bei der Betrachtung der Schulwegbeschreibungen der sechs vergleichsweise erhobenen, gleichaltrigen Deutsch-MuttersprachlerInnen fällt auf, dass sie erwartbar vielfältige WEG-Informationen mit einem Verb kombinieren. Allein DE_1 kombiniert in einem 5minütigen Interview das Verb gehen mit sechs verschiedenen Satelliten: „Dann geh ich hier an der Straße vorbei; […]straße.3 Hier lang. Hier sind ganz viele Bäume und dann da lang.“ „Dann geh ich hier weiter, den Weg, und dann hier in die […]straße rein.“
DE_2 nutzt darüber hinaus die Möglichkeit der MODUS-Varianz. Obwohl die Aussage, rechts zu gehen, hinreichend präzise wäre, korrigiert sie sich und verwendet abbiegen. „Dann geh ich rechts, bieg ich ab. Dann gehe ich geradeaus. Also die erste Kreuzung dann. Und dann am Ende der Straße, dann bieg ich halt wieder rechts ab.“
Neben gehen und abbiegen finden sich in den Interviews weitere MODUS-Varianten der Bewegung, die sie zur Wegbeschreibung nutzen. Sie steigen ein und aus; sie fahren, warten und stehen.
6.2 Versprachlichung der Schulwege: Sprachlernklasse, erste Untersuchung Den Kindern der Sprachlernklassen stehen nach fünf Monaten intensivem Deutschunterricht vier Verben zur Verfügung, um Bewegungsmodi auszudrücken: gehen, laufen, fahren und kommen. Wobei insbesondere gehen intensiv genutzt wird. Zum
3
Die genannten Straßennamen wurden zur Anonymisierung gelöscht.
Die Wegbeschreibung anhand von mental maps
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Ausdruck der WEG-Information nutzen die Kinder ausschließlich die Adverbien hier oder so. Das ist wenig überraschend, weil die Spracherwerbsforschung schon lange weiß, dass der Erwerb der Verbklammer zu den Meilensteinen der sprachlichen Entwicklung gehört. Zunächst verwenden Lernende Verben in ihrer unflektierten Infinitivform. Erst wenn sie die Personalform halbwegs sicher auch spontan gebrauchen, kommt auch die Verbklammer hinzu, die die Verwendung von trennbaren Verben erst möglich macht (vgl. Grießhaber, 2012). Dazu ist nach fünf Monaten kaum ein Kind in der Lage. SpL_B: „Ich, äh, gehen auf Bus. 51, 52, 53. Gehen zu Hause. Das ist mein Zuhause. […]Gehen fünfzehn Minuten.“
Das folgende Zitat verdeutlicht, dass SpL_C bereits eine Ahnung davon hat, dass verschiedene WEG-Informationen nötig sein könnten. Er hat seine mental map vor sich liegen, sodass er auf Zeigen ausweichen kann und dafür die deiktischen Adverbien hier und so nutzt. Ohne optische Verweise auf die mental map sind seine Ausführungen unverständlich. SpL_C gehört aber zu den wenigen Kindern, die die Richtungsadverbien rechts und links überhaupt zu diesem frühen Zeitpunkt erlernt haben, wodurch Lagebeziehungen von Orientierungspunkten zueinander ausgedrückt werden können. Hervorzuheben ist außerdem, dass SpL_C fahren und gehen in einer Äußerung verwendet. Ob SpL_C damit wirklich verschiedene Modi ausdrücken will, ist unklar. SpL_C: „Das ist mein Hause. Ich fahr hier mit Fahrrad, äh, wenn ich gucke Kaufhaus. Dann gehe ich links.“
Ein anderes Beispiel zeigt, dass fahren und gehen synonym verwendet werden. Ob ein Bus fährt oder geht, bleibt hier ungeklärt. SpL_E: „Und der Bus fahrt zum […]pfad. Hier hat eine Schule, ein Gymnasium. Und danach der Bus gehen zum Berliner Platz.“
6.3 Versprachlichung der Schulwege: Sprachlernklasse, zweite Untersuchung Die zweite Untersuchung im Januar 2017, nach ziemlich genau 13 Monaten Sprachunterricht, zeigt einen erwartbaren Erwerb der grundsätzlichen Verbklammerstruktur: SpL_B: „Was muss ich da jetzt machen?“ SpL_E: „Und dann geht der Bus zum... rechts. Und dann geradeaus und dann rechts, weil die haben die Straße gewechselt und der Bus geht zu einer anderen Straße.“
Beide Kinder, die hier nur als Beispiele dienen sollen, verwenden eine Verbklammer bestehend aus einem Verbteil in zweiter Position (muss und haben) und einem Verbteil in der rechten Verbklammer (machen und gewechselt). Diese Fähigkeit ermöglicht den Kindern auch die Verwendung von Satelliten, um eine WEG-Information zu transportieren.
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Franziska Dauberschmidt / Miriam Kuckuck SpL_E: „Und dann finde ich die Bushaltestelle“ / Und dann, wenn ich rausgehe, dann muss ich links / Und dann bin ich im Neumarkt.“
SpL_E kann ein Rausgehen verbalisieren. Der trennbare Satellit raus wird vom eigentlichen Verb getrennt und es wird ihm eine geeignete Position zugewiesen. Nicht alle Versuche dieser Art sind so korrekt: SpL_J: „Da den Bus 12 oder 13 nehmen und dann würde man bei Straße landet, also das ist […]straße. Dann laufen sie noch zwei andere dazu.“
Was dazulaufen bedeuten soll, ist nicht ganz klar. Das Adverb dazu kommt noch an einer anderen Stelle im Zitat vor. Hier wird deutlich, dass die Schülerin Orte addiert. Es werden also aller Wahrscheinlichkeit nach zwei Straßen „dazugelaufen“. Dazu kann demnach weiter oder vorbei bedeuten. Auch wenn wir die Schülerin verstehen, macht dieses Beispiel deutlich, dass die Wahl eines sinnvollen Satelliten für Zweitsprachenlernende nicht leicht, für die Verbalisierung von Lagebeziehungen aber unerlässlich ist. Auch die MODUS-Information ist nicht unerheblich, wenn auch weniger bedeutungstragend. Nach vier Monaten Sprachunterricht verwendeten die Kinder während der ersten Erhebung nur vier Verben zum Ausdruck von Bewegungen, nämlich gehen, laufen, fahren und kommen. Sieben Monate später ist dieses Repertoire deutlich angewachsen: Die Kinder steigen ein, aus und um. Sie nehmen oder kriegen den Bus. Sie wechseln die Straße. Alle diese Modi verwenden die Kinder spontan. Die Vokabelliste würde aller Wahrscheinlichkeit nach noch deutlich länger, würde man die Kinder explizit zum Sammeln auffordern. Allerdings zeichnet sich die Tendenz ab, gehen als das eine Bewegungsverb zu manifestieren. Der folgende Interviewausschnitt zeigt, dass diese Reduktion zu Verständnisproblemen führen kann. SpL_K: „Ähmm...zuerst...zum Beispiel wir sind beim Ratsgymnasium. Dann gehen wir geradeaus bis zu Neumarkt. Dann gehen wir noch geradeaus bis Berliner Platz. I: Laufen wir das alles?“ SpL_K: „Mit dem Bus. […] Oder Fahrrad oder sowas.“ I: „Okay, kommst du mit dem Bus oder mit dem Fahrrad.“ SpL_K: „Mit dem Bus. […] Ich fahre niemals mit dem Fahrrad.“
Trotz hoher grammatischer Korrektheit verwendet die Schülerin gehen als eine Art Platzhalterverb für eine Bewegung, obwohl sie in der Lage wäre, fahren zu verwenden. Vergleichbare Gesprächssituationen finden sich in vielen Interviews. Die Kinder verstehen die unterschiedlichen MODUS-Informationen und können angemessen auf sie reagieren, verwenden aus eigenem Antrieb aber häufiger gehen. Für Kinder mit mindestens zweijähriger Kontaktdauer zur deutschen Sprache kommt Bryant (2012) zu ähnlichen Ergebnissen, wenn in der Erstsprache die WEGInformation nicht in einen Satelliten ausgelagert wird, sondern diese im Verb selbst realisiert werden muss (vgl. Bryant, 2012, S. 139f.). Diese Kinder entwickeln kein Gespür für differenzierte Ausdrucksmöglichkeiten für Bewegungen und begnügen sich möglicherweise deshalb mit einem Verb, in diesem Fall gehen. Die vielfältig
Die Wegbeschreibung anhand von mental maps
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differenzierenden Möglichkeiten bei der Realisierung von WEG- und MODUS-Informationen stellen ZweitsprachenlernerInnen vor erhebliche Schwierigkeiten. Bryant kommt deshalb zu dem Schluss, dass MODUS-Informationen expliziter Unterrichtsgegenstand sein sollten. Keine der bisher genannten MODUS-Informationen ist als genuin geographisch zu bezeichnen. Eine Wegbeschreibung verlangt auch keinen Einsatz bildungs- oder fachsprachlicher Elemente. Hervorzuheben ist aber, dass die Sprachlernkinder mit ziemlich genau diesem Sprachstand dem Regelunterricht zugewiesen werden und von da an ihr bildungssprachliches Vokabular erst entwickeln. Die Interviews zeigen, dass die grammatischen Strukturen (Verbklammer) vorhanden sind, um den Wortschatz entwickeln zu können. Dass die Kinder aber „gehen“ und „fahren“ nicht unterscheiden, zeigt auch, dass noch viel Spracharbeit vor ihnen liegt. Wenn der Geographieunterricht explizit macht, welche Verben beispielsweise für die Beschreibung von Karten notwendig sind, wird Bildungserfolg möglich. Prototypisch ist das Verb legen. Ein Objekt auf einer Karte kann beispielsweise nördlich VON etwas liegen. Ein Objekt kann auch AUF etwas liegen. In beiden Fällen hat liegen nichts mit dem alltagssprachlichen Liegen zu tun. Vielmehr beschreibt es räumliche Beziehungen von Objekten zueinander. Ein anderes ähnlich typisches Verb ist verlaufen. Ein Objekt einer Karte kann VON einem Ort ZU oder NACH etwas verlaufen. Verlaufen hat seine alltagssprachliche Bedeutung verloren. Welcher MODUS gemeint ist und mit welchen WEG-Informationen er sinnvoll verknüpft werden kann/muss, sollte expliziter Gegenstand geographischer Reflexion im Regelunterricht sein. Auch MuttersprachlerInnen müssen den bildungssprachlichen Wortschatz erst aufbauen, sodass diese Form der Sprachförderung alle Schülerinnen und Schüler unterstützt.
7. ZUSAMMENFASSUNG UND AUSBLICK Die Betrachtung des Spracherwerbstands von neu zugewanderten Kindern und Jugendlichen hat für den Geographieunterricht ebenso eine Bedeutung wie für jeden anderen Unterricht. Das Erlernen der deutschen Sprache wird als elementar für den Bildungserfolg und die Integration angesehen. Daher ist es auch wichtig, die Besonderheiten der deutschen Sprache im Fachunterricht zu kennen und zu beachten. Hier wurde der Fokus auf die Besonderheit der Verben mit WEG-Informationen gelegt. Bei dem gewählten Unterrichtsbeispiel und Forschungsgegenstand handelte es sich um einen üblichen Einstieg in die Kartenarbeit in der Klasse 5/6. Die Kinder beschrieben anhand ihrer eigenen mental maps ihren Schulweg. Obwohl die Sprachlernkinder nach 13 Monaten Sprachunterricht (zweite Erhebung) über die grammatische Grundstruktur der Verbtrennung verfügen, neigen sie noch immer dazu, das Verb gehen als Platzhalterverb für unterschiedliche MODUS-Informationen einzusetzen. Außerdem fällt es Ihnen schwer, geeignete Satelliten zu wählen. Mit diesem Sprachstand werden die Kinder dem Regelunterricht zugewiesen, wodurch deutlich wird, dass auch dem Geographieunterricht noch Sprachförderarbeit zukommt. In Bezug auf Verben – die Forschungsgegenstand waren – kann das
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Franziska Dauberschmidt / Miriam Kuckuck
bedeuten, dass beispielsweise Verben, die zur Beschreibung von Karten notwendig sein können, expliziter Lerngegenstand sein sollten: -
liegen von
-
liegen auf
-
erstrecken sich über
-
verlaufen von … nach
sich befinden
-
vertreten sein
-
stattfinden
-
nutzen für
-
einnehmen
…
-
Diese Verben könnten in verschiedenen Hilfestellungen den SchülerInnen zur Verfügung gestellt werden. Insbesondere der Umgang mit Karten und deren Versprachlichung ist genuin geographisch und kann daher nur im Geographieunterricht geübt werden.
LITERATUR Adamina, M. (2008). Vorstellungen von Schülerinnen und Schülern zu raum-, zeit- undgeschichtsbezogenen Themen. Eine explorative Studie in Klassen des 1., 3., 5. und 7. Schuljahres im Kanton Bern. Münster. Verfügbar unter: https://d-nb.info/989758885/34 [20. 04.2017]. Adamina, M. & Whyssen, H.-P. (2005). RaumZeit, Raumreise und Zeitreise. Lehr- und Lernmaterialien ab 3. Schuljahr (Legeset, Klassenmaterialien und Hinweise für Lehrpersonen). Bern: Schulverlag blmv. Bagoly-Simó, P. (2012). Nationale Räume: Selbst- und Fremdbilder in kognitiven Karten von mexikansichen und rumänischen Schülern. In A. Hüttermann, P. Kirchner, S. Schuler & K. Drieling (Hrsg.), Räumliche Orientierung. Räumliche Orientierung, Karten und Geoinformation im Unterricht (S. 172–181). Braunschweig: Westermann. Behnken, I. & Zinnecker, J. (2013). Narrative Landkarten. Ein Verfahren zur Rekonstruktion aktueller und biographisch einnerter Lebensräume. In B. Friebertshäuser, A. Langer & A. Prengel (Hrsg.), Handbuch Qualitative Forschungsmethoden in der Erziehungswissenschaft (S. 547– 562). Weinheim/München: Beltz Juventa. Bryant, D. (2012). Lokalisierungsausdrücke im Erst- und Zweitspracherwerb. Thema Sprache – Wissenschaft für den Unterricht 2. Baltmannsweiler: Schneider-Verl. Hohengehren. Bryant, D. (2015). Typologisches Bootstrapping als didaktische Ressource. In B. Handwerker, R. Bäuerle, I. Doval & B. Lübke (Hrsg.), Zwischenräume: Lexikon und Grammatik in Deutsch als Zweitsprache (S. 3–28). Baltmannsweiler:Schneider Verlag Hohengehren. Buhl, H. (1996). Wissenserwerb und Raumreferenz. Ein sprachpsychologischer Zugang zur mentalen Repräsentation. Tübingen: De Gruyter. Gould, P. & White, R. (1986). Mental maps. Boston: Allen [and] Unwin. Grießhaber, W. (2012). Zweitspracherwerbsprozesse als Grundlage der Zweitsprachförderung. In B. Ahrenholz (Hrsg.), Deutsch als Zweitsprache (S. 31–48). Stuttgart: Filibach bei Klett. Horn, M. & Schweizer, K. (2013). Einsatz von Mental maps im Geographieunterricht. Einstellungn von Lehrerinnen und Lehrern. Geographie und Schule, 35 (201), 11–17. Kaminske, V. (2013). Mental Map - Repräsentation der Lernlandschaft? Geographie und Schule, 35 (201), 4–11. Krause, M. (2011). Was ist eigentlich ein Partikelverb? In M. Kauffer & R. Métrich (Hrsg.), Verbale Wortbildung (S. 13–24). Tübingen: Stauffenburg-Verl. Müller C. (1998). Redebegleitende Gesten. Kulturgeschichte, Theorie, Sprachvergleich. Berlin: Berlin-Verl. Spitz.
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DURCH SOZIALE KONTAKTE GEOGRAPHISCH LERNEN – EMPIRISCHE ERGEBNISSE ZUR DURCHFÜHRUNG KARTENBASIERTER INTERVIEWS MIT NEU ZUGEWANDERTEN SCHÜLERINNEN Michael Morawski / Alexandra Budke
1. EINLEITUNG Unsere Gesellschaft steht vor der Herausforderung, neu zugewanderte Kinder wertschätzend, gewinnbringend und nachhaltig zu integrieren. Damit diese Entwicklung erfolgreich ablaufen kann, muss die Integration sowohl auf institutioneller als auch auf sozialer Ebene erfolgen. Dafür sollten das Erlernen der deutschen Sprache sowie die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben in Deutschland positiv erlebt werden. Die systemische Integration der neu zugewanderten SchülerInnen findet durch den Schulbesuch statt. Je nach schulorganisatorischem Modell der Schule – ob submersiv, teilintegrativ oder parallel – besuchen die neu zugewanderten SchülerInnen entweder direkt den Fachunterricht und erhalten parallel zusätzliche Sprachförderung oder sie besuchen zunächst eine Vorbereitungs- oder Willkommensklasse, in der das Erlernen der deutschen Sprache im Fokus steht, aber auch auch Geographie unterrichtet werden kann (vgl. Massumi & von Dewitz, 2015). Der Bildungserfolg dieser Kinder hängt mitunter davon ab, inwiefern ihre Deutschkenntnisse aufgebaut und verbessert werden können und inwiefern die Unterrichtsinhalte so vermittelt werden, dass diese anschlussfähig an das bisherige Wissen der betroffenen SchülerInnen sind. Ebenso wichtig wie die systemische ist die soziale Integration der Zugewanderten, was sowohl die Klassen- und Schulgemeinschaft, als auch den außerschulischen Kontext betrifft (siehe Aufenvenne et al. in diesem Band). Unser Artikel stellt Ergebnisse zu der Frage vor, inwiefern sich die Unterrichtsmethode der kartenbasierten Interviewführung eignet, um gelungene soziale Kontakte der neu zugewanderten SchülerInnen zur einheimischen Bevölkerung aufzubauen und die SchülerInnen parallel (fach-)sprachlich zu fördern. Kartenbasierte Interviewführung bedeutet, dass SchülerInnengruppen selbstständig Einheimische zu ihrem neuen Wohnort mithilfe von Karten interviewen. Die vorliegende Studie wurde in dem Forschungsprojekt „Deutsch lernen mit Geographie“ des Instituts für Geographiedidaktik der Universität zu Köln durchgeführt. Es wurde ein Workshop mit DaZ-Lehrkräften, GeographielehrerInnen und SprachwissenschaftlerInnen organisiert, um geeignetes Unterrichtsmaterial zu erarbeiten. Dieses wurde in einer Unterrichtssequenz mit einer Willkommensklasse eingesetzt und evaluiert. Zuge-
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hörige Praxismaterialen sind in dem Praxisartikel von Morawski und Budke in diesem Band vorzufinden. Bevor die Ergebnisse der Studie vorgestellt werden, sollen die zentralen didaktischen Ziele, die durch den Einsatz von Interviews erreicht werden sollen, dargelegt werden. Aus jedem Ziel wird eine Forschungsfrage abgeleitet, welche dann durch die Evaluation der Unterrichtsmethode beantwortet werden soll.
2. DIDAKTISCHE ZIELE DER UNTERRICHTSEINHEIT 2.1 Sozialintegration durch Kontakt Allgemein wird unter Integration zunächst der Zusammenhang von Teilen in einem systemischen Ganzen verstanden (vgl. Esser, 2001, S. 1). Im sozialen Kontext lässt sich nach Esser (2001, S. 2) eine Zweiteilung des Integrationsbegriffs vornehmen. Esser spricht von Systemintegration und Sozialintegration, die sich durch ihren intendierten Bezug unterscheiden. Systemintegration bezieht sich dabei auf den Zusammenhalt eines sozialen Systems und somit z.B. auf eine Gesellschaft als Ganzes. Die Sozialintegration, um die es primär in diesem Beitrag geht, bezieht sich hingegen auf die individuellen Akteure und bezeichnet deren Einbezug in ein bestehendes soziales System wie eine Gesellschaft. Der Begriff der Sozialintegration geht auf den Soziologen Lockwood (1969) zurück und ist verschiedenen Anpassungen unterworfen worden. In Habermas’ Legitimationstheorie führt die Identifizierung von Menschen mit Weltbildern, normierten Persönlichkeitsvorstellungen, Rechtssystemen und moralischen Normen zur sozialen Integration (vgl. Habermas, 1973). In der Strukturationstheorie von Giddens (1992) findet Sozialintegration dagegen über Handlungen statt, die in kleinen Raumeinheiten mit kurzen Zeitspannen in körperlicher Kopräsenz, also in face-to-face Kontakten und in direkter Interaktion, ablaufen. Bei der Sozialintegration unterscheidet Esser (2001, S. 2) vier Dimensionen: Die „Kulturation“ ist als der Erwerb von Wissen und Fertigkeiten, einschließlich der Sprache zu verstehen. Die „Platzierung“ bezeichnet die Übernahme von Positionen und die Verleihung von Rechten. Die „Interaktion“ beschreibt die Aufnahme sozialer Beziehungen im alltäglichen Bereich und die „Identifikation“ die emotionale Zuwendung zu dem betreffenden sozialen System. Alle vier Dimensionen sind interdependent zu verstehen. Als Schlüssel zur Sozialintegration in das Aufnahmeland für neu zugewanderte Kinder gilt nach Esser (2001) die Sprache und die daran anschließende strukturelle Assimilation in das Bildungssystem sowie der Eintritt in das spätere Berufsleben. In unserem Kontext verstehen wir das Erlernen der deutschen Sprache als eine Voraussetzung für die soziale Integration und den Bildungserfolg, wobei die mitgebrachten Sprachen nicht abgewertet werden sollten, sondern als wichtige Ressourcen anzusehen sind. Soziale Integration ist über direkte Interaktion zwischen Zugewanderten und Einheimischen möglich und erforderlich. Dafür sollte der Wille, die Bereitschaft und die Fähigkeit zur Integration auf Seiten der zu „Integrierenden“ und die offene Bereitschaft zum Erfahren sowie Flexibilität auf Seiten der Aufnahmegesellschaft
Kartenbasierte Interviews mit neu zugewanderten SchülerInnen
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vorhanden sein (vgl. Hillmann, 2010, S. 383). Hemmende Faktoren können Vorurteile, negative Stereotypen und Ängste auf beiden Seiten sein, welche Kontakte behindern und Integration aufhalten. Die Kontakthypothese, die ursprünglich auf den Psychologen Allport (1954) zurückgeht, besagt, dass soziale Vorurteile gegenüber abgelehnten Personen oder Personengruppen durch direkte Interaktionen aufgegeben werden können. Eine Verbesserung der Einstellungen, d.h. die Beseitigung interethnischer Feindseligkeiten, erfolgt, da in der Interaktion die Möglichkeit geschaffen wird, Ähnlichkeiten wahrzunehmen. Es können so Gemeinsamkeiten identifiziert und als relevant bewertet werden (vgl. Ibaidi, 1993, S. 107). Bezüglich der Kontakthypothese zeigen sich unterschiedliche, wenn nicht sogar widersprüchliche Forschungsergebnisse. Eine Studie von Budke (2003) ergab, dass alltägliche Kontakte zwischen ausländischen Studierenden und deutscher Bevölkerung nicht ausreichen, um vorhandene negative Stereotypen auf Seiten der Studierenden abzubauen. Dies geschieht erst bei nahen Kontakten wie Freundschaften zwischen Studierenden und einheimischer Bevölkerung. Allerdings wird ein negatives Bild von „den Deutschen“ nur korrigiert, wenn diese Personen nicht als „Ausnahmen“ vom Stereotyp definiert werden. Die positiven oder negativen Folgen des Kontaktes hängen nach Ibaidi (1993, S. 108) von zahlreichen Faktoren ab, z.B. von der Stärke der Vorurteilsverankerung in der Persönlichkeitsstruktur, von der räumlichen Nähe, der Kontaktdauer, der Häufigkeit dieser Kontakte, der Wettbewerbs- oder Kooperationsbedingungen, sowie von den gesamtgesellschaftlichen Bedingungen etc. Allport (1954) war seinerzeit der Ansicht, dass Kontakt alleine nicht ausreicht. Vorurteile, so Allport, bauen sich nur unter konkreten Bedingungen ab. So müssten Personen die Fremden richtig kennenlernen. Zweitens sollten beide auf Augenhöhe kommunizieren. Drittens müssten die Personen möglichst auf ein gemeinsames Ziel hinarbeiten. Und viertens sollten Gesetze den Kontakt zur fremden Gruppe fördern. Es gibt einige weitere empirische Untersuchungen, die sich auf die Effizienz von Kontaktinterventionen beziehen. Menschen, die keine Erfahrung mit Einwanderung haben, zeigen häufig ein besonderes Maß an Unsicherheit im Umgang mit Migranten. Menschen fürchten besonders das Unbekannte oder die Unbekannten, was die Relevanz sozialintegrativer Kontakte bestätigt. Vorurteile und negative Einstellungen sind in Deutschland gerade dort vorhanden und üblich, wo wenige Ausländer wohnen (vgl. InfraTest Dimap, 2015). In Sachsen-Anhalt, wo der Ausländeranteil den bundestweit zweitniedrigsten Wert von 2,8 Prozent besitzt und die AFD im Jahr 2014 , mit 10,6% in den Landtag einzog, stimmten 42,2 Prozent der Befragten ausländerfeindlichen Aussagen zu (vgl. Decker & Brähler, 2016, S. 161). In Bundesländern mit einer hohen Ausländerquote, wie z.B. Nordrhein-Westfalen, ist das Verhältnis umgekehrt – relativ wenige Menschen teilen Ansichten, die auf Angst und Unsicherheiten mit Eingewanderten schließen lassen. Die Studie von Lemmer und Wagner (2015) zeigt anhand einer Auswertung von 73 Kontakt-Interventionsstudien, dass sich Vorurteile im Rahmen von kontaktfördernden Projekten, die Kontaktinterventionen zwischen verschiedenen Gruppen in alltäglichen Situationen durchführen, auch unter weniger „allportschen Bedin-
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gungen“ abbauen lassen. Die Kontakt-Interventionen reduzierten nachhaltig Vorurteile und auch zwölf Monate danach wirkten die Effekte der Kontaktinterventionen zwischen den Gruppen auf die ProbandInnen. Aus den Überlegungen lässt sich schließen, dass positiv erlebte und gelungene Kontakte im Sinne von erfolgreicher Kommunikation und Informationsvermittlung zwischen vor kurzem zugewanderten Kindern und der einheimischen Bevölkerung hilfreich sein können, um die soziale Integration zu begleiten und zu fördern. Aus den dargelegten Ideen ist für die hier vorgestellte Studie die folgende Forschungsfrage von Interesse: Forschungsfrage 1: Inwiefern kann anhand der Unterrichtsmethode „kartenbasierte Interviewführung“ im Geographieunterricht ein positiv erlebter und gelungener Kontakt zwischen neu zugewanderten Kindern und Einheimischen hergestellt werden?
2.2 Förderung von (fach-)sprachlichen Kompetenzen mit kartenbasierten Interviews Der andere zentrale Zielbereich der Unterrichtssequenz ist die Förderung (fach-)sprachlicher Kompetenzen, insbesondere im Bereich des Mündlichen. (Fach-)sprachliche Förderung findet nicht ohne Inhalte statt. Das inhaltliche Lernen findet in unserer Studie im Bereich der Kartenarbeit statt. Kompetenzen zum Verständnis von Karten und der räumlichen Orientierung sind besonders für neu zugewanderte SchülerInnen von Bedeutung, da sich diese in Deutschland einleben und neu zurechtfinden müssen. Dazu gehört auch, dass sie über basales räumliches Wissen bezüglich ihres neuen Standortes verfügen. Die SchülerInnen arbeiten im Laufe der Unterrichtssequenz, nach einer Einführung in die Kartenarbeit, mit selbst erstellten Karten des Nahraums der Schule. Es werden von den SchülerInnen Interviews mit PassantInnen zu städtischen Funktionen und deren Bewertung geführt. Die SchülerInnen können dabei die Karten zur Verdeutlichung von Fragen nutzen und die Antworten in diese eintragen. Im Geographieunterricht sind unterschiedliche Sichtweisen auf die Welt zu berücksichtigen. Außerdem sollten raum- und gruppenspezifische Wahrnehmungssowie Handlungsmuster erkannt werden (vgl. Sitte & Wohlschlägl, 2001). Orte sind keine statischen und neutralen Gebilde. Sie werden sozial konstruiert (vgl. Wardenga, 2002). Orte werden auf persönlicher Ebene eingeschätzt und die Bedeutung des Ortes wird aus dieser Sichtweise gewonnen. Die Bedeutung von Orten für die Gesellschaft und deren Funktion sowie die subjektive Bewertung dieser durch die Einheimischen sollen den SchülerInnen durch die Interviews näher gebracht werden. Die Interviews fördern zudem die Orientierungsfähigkeit der SchülerInnen, da sie Orte, welche städtische Funktionen wie „Erholung“, „Arbeit“ oder „Bildung“ erfüllen, aktiv lokalisieren müssen.
Kartenbasierte Interviews mit neu zugewanderten SchülerInnen
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Als relevante theoretische Rahmung ist zudem das „Ludwigsburger Modell der Kartenkompetenz“ nach Hemmer et al. (2010) zu nennen. Kartenkompetenz beinhaltet demnach Prozesse des Kartenzeichnens, des Kartenauswertens und die Reflexion über Karten. Der Prozess des Kartenzeichnens wird in der Unterrichtssequenz insofern berücksichtigt, als dass in den Interviews ein gemeinsamer Prozess des Kartenzeichnens realisiert wird, da die Befragten und die SchülerInnen gemeinsam zentrale Ergebnisse aus den Interviews in einen Kartenausschnitt aus google maps eintragen und eine Legende erstellen. Die Kartenauswertung erfolgt in einer den Interviews anschließenden Ergebnispräsentation und Reflexion. Um Deutsch zu lernen, ist der vielfältige Kontakt mit Einheimischen in authentischen Sprechsituationen für neu zugewanderte SchülerInnen elementar. In den Interviews geht es vorrangig um die Förderung von fachsprachlichen Satz- und Textkonstruktionen, welche die SchülerInnen in Interviews mündlich entwickeln (vgl. Morawski & Budke, 2017). Auf Wortebene sollen Fachworte zu Funktionen in der Stadt, ihrer räumlichen Lage und deren Bewertung eingeübt werden. Auf rezeptiver Anforderungsebene müssen die SchülerInnen alltagsprachliche Satz- und Textkonstruktionen im Mündlichen, u.a. phonetisch und semantisch, identifizieren und bezogen auf ihre Fragestellung selektiv filtern. Gerade im schnellen mündlichen Alltagsgespräch stellt dies eine große Herausforderung dar. Auf interaktiver Anforderungsebene ist zu nennen, dass die Interviewfragen zwar im Sinne des Scaffoldings gemeinsam vorformuliert wurden, diese im Interview jedoch flexibel angepasst werden konnten (vgl. Gibbons, 2002; vgl. Kap. 4.1, Morawski & Budke in diesem Band). Während der Kontaktaufnahme und Eröffnung der Interviews sollen die SchülerInnen im Alltag übliche Phrasen nutzen, um sich auf interaktiver Ebene vorzustellen und die Befragten höflich bezüglich einer Partizipation anzufragen. Zur interaktiven Anforderung zählt ebenso, dass die SchülerInnen aktiv mit Nachfragen, Umformulierungen und kartenbasierten Interviewunterstützungen (z.B. Zeigen oder Ankreuzen) umgehen müssen. Zur produktiven und transferierenden Anforderungsebene zählt, dass die erhaltenen Informationen von den SchülerInnen schriftlich notiert und in die Karte eingetragen werden. Diese Informationen sollen dann in einer mündlichen Darstellung im Klassenraum präsentiert werden. Die SchülerInnen müssen dazu zwischen den schriftsprachlichen und visuellen Codes transferieren. Forschungsfrage 2: Inwiefern können (fach-)sprachliche Fähigkeiten der SchülerInnen in den Bereichen der räumlichen Orientierung und der Kartenkompetenz durch Interviews gefördert werden?
3. METHODISCHE VORGEHENSWEISE Die Unterrichtssequenz umfasste insgesamt 12 Schulstunden in 8 Unterrichtseinheiten, wovon 4 für die Vorbereitung und Durchführung der Interviews genutzt wurden. Die 13 SchülerInnen (9 Mädchen, 4 Jungen) der Vorbereitungsklasse wa-
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ren zum Erhebungszeitpunkt zwischen 10 und 16 Jahre alt und befanden sich zwischen vier Monaten und eineinhalb Jahren in Deutschland. Die Muttersprachen der SchülerInnen sind serbisch, kroatisch, albanisch, polnisch, arabisch, russisch und kurmandschi. Hierdurch ergab sich ein sprachlich sehr heterogenes Gruppenbild, was auch der Pre-Test, ein schriftlicher Fragebogen zum Vorwissen und zu sprachlichen Fähigkeiten der SchülerInnen, bezogen auf die Kartenarbeit, bestätigte. Dieser wurde im Post-Test weiter eingesetzt, um Veränderungen, vor allem im Bereich des Wortschatzes, zu dokumentieren. Der Test bestand aus 8 offenen Fragen, die sofern möglich, in ganzen Sätzen schriftlich zu beantworten waren. Der schriftliche Test wurde mit den Transkripten der Interviews und den angefertigten SchülerInnenkarten bei der Auswertung in Verbindung gebracht. Durch die Triangulation wird eine voreilige, möglicherweise negativere Einschätzung der fachsprachlichen Kompetenz der SchülerInnen verhindert. Die Fragen bezogen sich zum einen allgemein auf Karten (z.B. „Beschreibe was du dir unter einer Karte vorstellst.“ oder „Was gehört alles zu einer Karte?“) und zum anderen auf die Beschreibung einer Karte des Ortes, in dem sich auch die Schule befand. Es wurden 19 Interviews mit insgesamt 127 Fragen von den SchülerInnengruppen in der Ortschaft Berkum, südlich von Bonn, durchgeführt. Die SchülerInnen wurden in Dreiergruppen mit je unterschiedlichem inhaltlichen Schwerpunkt eingeteilt (Gruppe 1: Bildung und Freizeit, Gruppe 2: Wohnen und Verkehr, Gruppe 3: Versorgung). Die Gruppen wurden nach Interesse der SchülerInnen und nach sprachlichen Fähigkeiten zusammengesetzt, um ein binnendifferenzierendes Helfersystem zu ermöglichen, bei dem sprachlich stärkere SchülerInnen in den Gruppen sprachlich schwächeren SchülerInnen helfen sollten. Die SchülerInnen hatten unterschiedliche Rollen in der Gruppe, welche beliebig gewechselt werden konnten, z.B. GesprächsöffnerIn, ProtokollantIn und KartenexpertIn. Die Rollen wurden vorher eingeübt. Die Lehrkräfte und Forscher begleiteten die SchülerInnengruppen im Rahmen einer offenen Beobachtung, ohne jedoch in die Interviewdurchführungen aktiv einzugreifen. An dieser Stelle wird nun entlang der aufgestellten Forschungsfragen dargestellt, mit welchen forschungsmethodischen Ansätzen jeweils gearbeitet wurde. Uns interessierte zunächst, inwiefern durch die Interviews ein positiv erlebter und gelungener Kontakt zwischen neu zugewanderten Kindern und einheimischen PassantInnen hergestellt werden konnte (sieh Forschungsfrage 1). Relevante Daten, die ausgewertet wurden, sind hier die Transkripte der Interviews und die Transkripte der aufgenommen Feedbackaussagen der SchülerInnen nach den Befragungen. Als Indikatoren für positiv erlebte und gelungene Kontakte wurden im Rahmen einer Analyse der transkribierten SchülerInnenkommentare emotionsgeladene und bewertende Adjektive (z.B. „toll“ oder „unangenehm“) verwendet. Aus den Formulierungen konnten so Rückschlüsse auf das Erleben gezogen werden. Um Antworten nach sozialer Erwünschtheit zu vermeiden, durften die SchülerInnen das Feedback unbeobachtet und anonym aufnehmen. Da die Antworten nicht bewertet wurden, wurden die SchülerInnen weiterhin gebeten, ehrlich zu antworten.
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Als weiterer Indikator für die gelungene Kontaktaufnahme galt, wie viele Anfragen seitens der SchülerInnen tatsächlich zu einem Interview geführt haben. Hierfür wurde die Anzahl der durchgeführten Interviews gezählt. Da die Diktiergeräte die ganze Zeit an waren, konnten neben zustimmender Interaktion auch Ablehnungsgründe der Befragten dokumentiert werden. Es wurde ferner untersucht, inwiefern (fach-)sprachliche Fähigkeiten der SchülerInnen durch die Interviews gefördert werden (siehe Forschungsfrage 2). Dass neu zugewanderte SchülerInnen mit geringen Deutschkenntnissen zwangsläufig auf kommunikative Schwierigkeiten bei Interviews mit Einheimischen stoßen, hatten wir angenommen. Die Frage war nur, mit welchen Strategien und Hilfsmitteln sie versuchen diese Schwierigkeiten zu überwinden. In den Transkripten der Interviews wurden Stopps, Pausen, Zögern, Hilfestellungen und Nachfragen von Befragten und SchülerInnen aufgrund von Missverständnissen als Indikatoren für Kommunikationsschwierigkeiten angesehen. Anhand der Transkripte konnte ebenfalls analysiert werden, inwiefern die SchülerInnen mit diesen umgingen und welche Formulierungen aus dem Hilfsmaterial (Scaffolding) genutzt wurden. Es wurde weiterhin untersucht, inwiefern sich die SchülerInnen kooperativ unterstützten, inwieweit die Befragten helfend eingriffen und inwiefern die Karten zur Aufrechterhaltung der Kommunikation genutzt wurden. Durch diese Vorgehensweise konnten Rückschlüsse gezogen werden, wie effektiv sprachliche Hilfsstrukturen von den SchülerInnen verwendet wurden. Im Bereich der (fach-)sprachlichen Förderung wurde zudem untersucht, welche Fachbegriffe genutzt wurden. Die vorkommenden Begriffe im Post-test wurden mit der Verwendung von Begriffen im Pre-test verglichen. Die Häufigkeiten wurden nur dann gezählt, wenn das Vorkommen des Begriffs inhaltlich Sinn machte. Zudem wurden die durch die SchülerInnen erstellen Karten danach analysiert, inwiefern die Informationen aus den Interviews richtig eingetragen wurden.
4. VORSTELLUNG DER ERGEBNISSE 4.1. Positiv erlebte und gelungene Kontakte Von den insgesamt 127 im Interview gestellten Fragen in den 19 durchgeführten Interviews wurden zunächst 27 von den Befragten (akustisch oder inhaltlich) nicht verstanden. Dass einige wenige Fragen nicht verstanden wurden und einzelne Interviews nicht durchgeführt werden konnten zeigt, dass nur wenige Kommunikationsprobleme aufgetreten sind. Auch bei Verständnisproblemen sind die meisten Befragten freundlich geblieben und standen den SchülerInnen unterstützend zur Seite. Hieraus lässt sich ableiten, dass Kompetenzen auf Seiten der Befragten wie auf Seiten der SchülerInnen vorlagen, um Interviews durchzuführen. Dies ist beachtlich, wenn man die geringen Deutschkenntnisse der SchülerInnen beachtet und bedenkt, dass möglicherweise nicht alle Passanten Interviewerfahrung und Kontakte mit neu zugewanderten SchülerInnen hatten. Die Bedingungen für ein positives Erleben der Interviews durch die SchülerInnen waren so in der Basis gegeben.
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Nach den Interviews wurden die SchülerInnen zu ihren Empfindungen befragt. Dabei zeigte sich, dass die Interviews von den SchülerInnen größtenteils positiv beurteilt wurden, was durch die häufige Nennung von Adjektiven und Nomen wie „Spaß“, „schön“, „gerne“, „super“, „nett“ und „freundlich“ deutlich wird. Dabei sprachen die SchülerInnen Blerta und Lava vier zentrale und hier mit exemplarischen Zitaten dargelegte Gründe für die positive Beurteilung an: Blerta: „Ich hab mich zuerst nicht getraut, damit äh dass ich die Leute frage. Das war mir irgendwie ein bisschen peinlich. Danach hat mir das voll Spaß gemacht, mit diesen Aussprechen und Fragen. Ja, wir hatten auch ein schönes Thema, Wohnen und Verkehr. Ja, auf jeden Fall hat das Spaß gemacht und wir haben etwas davon gelernt.“ Lava: „Ja die Leute waren alle freundlich bei uns, also keiner hat gesagt ich hab kein Zeit.“
Zum einen beurteilten die SchülerInnen positiv, dass bei ihnen Hemmungen durch das Ansprechen fremder Personen abgebaut wurden. Dies erklärten die SchülerInnen dadurch, dass ihnen diese generell sehr freundlich und hilfsbereit entgegentraten. Zum anderen nannten die SchülerInnen indirekt die Stärkung kommunikativer Kompetenzen als positive Erfahrung. Die Möglichkeit sich spontan im Gespräch auszuprobieren, wurde ebenfalls als positiv beurteilt. Weiterhin wurden „Spaß“ und „Motivation“ genannt, welche bei der Durchführung der kartenbasierten Interviewdurchführung erlebt wurden. Letztlich wurde die authentische Lernumgebung, die Möglichkeit relevante Informationen und ortsbezogene Bewertungen von den Befragten zu erhalten, als gelungen angesehen. SchülerInnen haben es dagegen als negativ erlebt, wenn sie sich nicht getraut haben, Befragte anzusprechen – z.B. wenn Befragte Gründe angaben, das Interview abzulehnen oder kurz zu halten. Insgesamt waren die genannten negativen Erfahrungen jedoch weit in der Unterzahl. Die Befragten waren generell sehr entgegenkommend und haben die Interviewanfragen der SchülerInnen weitestgehend nicht abgelehnt, so dass alle Gruppen Interviews durchgeführt haben und Informationen erlangen konnten. Man kann also von gelungenen Kontakten sprechen. Zudem ist den Transkripten zu entnehmen, dass es in den Gruppen meist zu Beginn eine Wortführerin oder einen Wortführer gab, der oder die die Aufgaben in der Gruppe zuteilte und kontrollierte. Dies trug zum Erfolg der Interviews bei. Diese Person begann meist das Interview und stellte die meisten Fragen. In zwei Fällen kam es dazu, dass dieser Wortführer/die Wortführerin sowohl die anderen SchülerInnen in der Gruppe dazu animierte, ebenfalls Fragen zu stellen, als auch den anderen mit Worten und Formulierungen half. Diese Rolle kam den sprachlich erfahrensten und sichersten SchülerInnen zu. Die sprachlich schwächeren SchülerInnen wurden durch den Wortführer/die Wortführerin eher animiert, als dass sie eingeschüchtert worden wären. Die sprachlich unsicheren und schwächeren SchülerInnen übernahmen im Laufe der Interviewdurchführung zunehmend mehr Verantwortung. Zunächst leiteten sie die Begrüßung, dann den Schluss, dann beides und am Ende wagten sie sich auch zu komplexeren Fragestellungen. Zunächst zeigt
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diese Entwicklung, dass die sprachlich stärkeren SchülerInnen, ein Verantwortungsgefühl für das Gelingen der Interviews besaßen. Kooperation, die auf gegenseitiger Abhängigkeit beruht, wurde somit selbstverständlich wahrgenommen und durchgeführt. Dass sich die SchülerInnen dafür einsetzten, dass die Interviews erfolgreich durchgeführt werden, ist nicht selbstverständlich und deutet auf Gewissenhaftigkeit, Motivation und Interesse hin. Durch das energische Vorgehen der WortführerInnen war es auch sprachlich schwächeren oder zurückhaltenden SchülerInnen möglich, sich an den Interviews zu beteiligen. Wie so eine kooperative Interaktion innerhalb der Gruppe und bezogen auf ein Interview aussah, zeigt das Beispiele 1. Hier beginnt Alesia das Gespräch mit den Fragen aus dem Fragenkatalog. Der Kontakt wird etabliert und das Interview läuft an. Schülerin Lava steigt, als das Gespräch läuft, ein, und fordert die befragte Person zur Kartennutzung auf. Lava beendet dann das Gespräch. Alesia zeigte sich in den vorangegangen Schulstunden bereits als sprachlich sichere Schülerin, was auch durch ihre Gesprächseröffnung deutlich wird. Diese Prozesse können in den Interviews vermehrt beobachtet werden. Lava hat also kurz am Interview partizipiert. Folglich ist zu vermuten, dass hierdurch ein Erfolgserlebnis entstanden ist, welches die Schülerin ermutigt, sich auch während des nächsten Interviews einzubringen. Beispiel 1: Alesia: „Guten Tag, können wir Ihnen ein paar Fragen stellen? Welchen Ort in Berkum finden sie am hässlichsten?“ IP1: „Eigentlich gar keinen. Ich finde es hier oben immer sehr schön.“ Alesia: „Ja, welchen Ort in Berkum finden sie am nützlichsten? Und warum?“ IP: „Weil ich hier alles besorgen kann. Ich hab ne Apotheke. Ich hab nen Arzt. Ich ein Einkaufszentrum. Ich hab ein Gartencenter hinten.“ Lava: „Können sie aufzeichnen? Wo das Einkaufszentrum ist.“ IP: „Ach da. Das soll ich ankreuzen? Ok. Ich bin nämlich eigentlich Engländerin.“ Lava: „Dankeschön.“ Alesia: „Vielen Dank und ein schönes Wochenende.“ Lava: „Tschüss.“
1
IP bedeutet Interviewperson.
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4.2. Förderung (fach-)sprachlicher Kompetenzen mit kartenbasierten Interviews Durch die Interviews ist es zu einer Informationsvermittlung von den PassantInnen zu den SchülerInnen gekommen. Das Kapitel soll nun darüber Auskunft geben, wie diese Informationsvermittlung zu deuten ist und inwiefern (fach-)sprachliche Kompetenzen der SchülerInnen geschult werden konnten. Zunächst ist festzuhalten, dass alle Gruppen auf der Grundlage eines Kartenausschnitts von google maps eigene Karten des Gebiets anfertigten, in die sie die im Interview erlangten räumlichen Informationen eintrugen. Dazu gehört in allen Fällen eine Legende, bei der in allen Fällen Fachsprache genutzt wurde. Doch auch während der Interviews war die Fachsprache im Sinne von Ortsbezeichnungen relevant. Es wurden vielfältige Orte angesprochen und von Einheimischen und interviewenden SchülerInnen gemeinsam auf der Karte lokalisiert (siehe Abb. 1). Hallenbad Einkaufzentrum Sekundarschule Forum Stumperweg Kindergarten Fussballplatz Gemeinde Wachtberg Family 0
5
10
15
20
25
30
Im Interview genannt (n=70) Lokalisiert im Interview (Die Befragten verorteten während des Interviews den Ort in der Karte) (n=33) Eingezeichnet in Schülerkarten (n=101)
Abb. 1: Nennung von Orten in den Interviews und Eintragung in die Karte (eigene Darstellung)
Abbildung 1 zeigt exemplarisch Orte, die häufiger als fünfmal genannt und sowohl eingezeichnet, lokalisiert als auch im Interview genannt wurden. Es wurden 37 weitere Orte thematisiert. Die in der Karte schon vor den Interviews enthaltenden räumlichen Informationen zu Orten mit gesellschaftlichen Funktionen, wurden durch die Interviews erweitert, kommuniziert und im Interview genutzt. Außerdem zeigt sich, dass die SchülerInnen in der Lage waren, Orte und Begriffe in einen kommunikativen Kontext einzubinden, Orte in der Karte zu markieren und eine Legende zu erstellen.
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Abbildung 1 ist zu entnehmen, dass Orte mit Freizeit- und Versorgungsfunktionen, vorrangig des kurzfristigen Bedarfs und Orte mit Bildungsfunktionen besonders häufig eingetragen wurden. Dies kann daran liegen, dass SchülerInnen zu diesen Orten einen besonders starken Bezug aufgrund ihres Alltags und ihrer Freizeit besitzen. Die Karten zeigen, dass die SchülerInnen über ein grundlegendes Kartenverständnis verfügen. Es wurden Orte eingezeichnet, die seitens der Einheimischen durch Bewertungen wie „hässlich“ oder „schön“ ergänzt wurden. Ortstypen wurden somit markiert und zugleich in die Kartensignatur aufgenommen.“ Das bedeutet, dass die Interviews aktiv zur Weiterentwicklung des räumlichen Verständnisses bei den neu zugewanderten SchülerInnen beitrugen und sie die Perspektiven der Einheimischen auf den Ort verstanden haben. Sie haben demnach alltagsrelevantes Wissen über ihren neuen Wohnort erworben und zugleich gelernt, wie man Karten benutzt und selber gestaltet. Es sollen nun Strategien vorgestellt werden, die die SchülerInnen zur erfolgreichen Interviewgestaltung verwendeten und die auf den Erfolg sprachlicher Förderung hindeuten. Hierzu zählen auch Strategien, die zur Bewältigung von Kommunikationsschwierigkeiten dienten. Als erfolgreiche, von den SchülerInnen angewandte Strategie lässt sich zunächst das Verwenden sprachlicher Hilfsmittel, die auf Basis des Scaffoldings erstellt wurden, anführen (siehe Kap. 4.1). Stellten die SchülerInnen automatisiert diese Fragen, hatten die Befragten weniger Probleme zu antworten. In Beispiel 1 verwendet Schülerin Alesia die vorgegebene Fragestruktur und erhält eine passende Antwort. In anderen Interviews zeigt sich zudem, dass die SchülerInnen auf Basis der Sprachhilfen ihr Sprachgerüst erweiterten. Das heißt, dass sie neben den sprachlichen Hilfen und Vorgaben flexibel eigene Mittel einbanden (vgl. Beispiel 1 und 5). Zudem fällt auf, dass sich die sprachlich sicheren SchülerInnen schneller von der Struktur der Hilfsmittel lösten als die sprachlich schwächeren SchülerInnen. Sie nutzten während der Intervieweröffnung besonders alltagssprachliche Fragen. So fragten sie bspw. wo eine Person gerade herkomme und nutzen dabei auflockernde Einleitungen wie in Beispiel 2. Dies zeigt, dass bei einigen SchülerInnen bereits Fähigkeiten für eine alltagssprachliche Gesprächseröffnung vorliegen, wovon sprachlich schwächere SchülerInnen durch das sprachliche Vorbild profitieren konnten. Beispiel 2: Abu: „Ähm äh, wo kommen Sie her?“ IP: „In, also aus der Gemeinde Bachbrecht, also in Niederbachem.“ Abu: „Das ist bestimmt ein schönes Ort, oder?“ IP: „Haha, ja.“
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Die flexible Anwendung sprachlicher Mittel wurde zudem relevant, wenn Nachfragen entstanden und die SchülerInnen daher von ihrem Muster abrücken mussten. Im Beispiel 3 wird deutlich, dass die Schülerin Unsicherheit antizipiert und flexibel sprachliche Alternativen vorschlägt. Der Interviewpartner reagiert mit einer Nachfrage. Darauf geht Julia ein, indem sie sich auf einen Ort bezieht, den der Interviewpartner anscheinend kennt, nämlich das Einkaufszentrum. Dieses sollte er in der Karte einzeichnen. Es zeigt sich, dass einige SchülerInnen nicht nur in der Interkation auf flexible Mittel zurückgreifen können, sondern dass sie im Kontakt auch aktiv die InterviewpartnerInnen unterstützen wollen. Sie haben authentische Sprachsituationen erlebt, die im Klassenraum nicht zu simulieren sind. Beispiel 3: Julia: „Wo wohnen sie genau?“ IP: „In Meckenheim? (fragend)“ Julia: „Und wo kann man hier in Berkum gut wohnen, weil sie haben gesagt...sie wissen nur das Einkaufzentrum. Dafür haben wir auch ein Karte mit vielleicht wissen können sie die sich auch ein bisschen orientieren.“
Beispiel 3 weist auf einen weiteren, entscheidenden Aspekt bezüglich des Umgangs mit Kommunikationsschwierigkeiten hin. Hier wird die Karte aktiv als Strategie zur Überbrückung von Schwierigkeiten eingesetzt. Wenn die InterviewpartnerInnen zögerten, verweisen die SchülerInnen häufig auf die Karten. Es lässt sich somit anhand der Audioaufnahmen der Interviews zeigen, dass die Karte ein essentielles Werkzeug zur Aufrechterhaltung der Kommunikation ist. Durch Beispiel 1 wurde bereits gezeigt, dass die SchülerInnen aktiv zusammenarbeiten. Sie unterstützen sich sprachlich, sowie bei der Aufgabe, die Lokalisierung der Orte und die Nutzung der Karte durch die Interviewten korrekt durchzuführen. Das folgende Beispiel 4 zeigt, dass sich die SchülerInnen auch gegenseitig helfen, wenn Kommunikationsprobleme auftreten. Lava startet mit der Frage, zögert, und kann diese nicht beenden. SchülerIn Alesia führt daraufhin diese zu Ende. Das zeigt zum einen, dass SchülerInnen im Bereich der rezeptiven Fähigkeiten erkennen, wann Schwierigkeiten eintreten und dass die SchülerInnen im interaktiven Prozess die Motivation haben zu helfen und dies angemessen tun können. Beispiel 4: Lava: „Welche Ort sind für die (Zögern) ...“ Alesia: „Versorgung in Berkum noch wichtig?“
Auch einige Befragte halfen den SchülerInnen bei der Formulierung der Interviewfragen. Eine der befragten Personen half z.B. bei Ausspracheschwierigkeiten des Wortes „Lebensmittel“, indem sie es wiederholte und damit ein sprachliches Vorbild schafft. Das Beispiel 5 zeigt sogar, dass die SchülerInnen von einigen Befragten aufgefordert wurden, noch mehr Fragen zu stellen. Dies deutet an, dass ein großes Interesse der Befragten in der Interaktion mit den SchülerInnen vorlag.
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Kartenbasierte Interviews mit neu zugewanderten SchülerInnen Beispiel 5:
IP: „Hier könnt ihr noch eine eigene Frage formulieren. Was könntet ihr denn da fragen?“ Lava: „Eh, welche Ort in Berkum finden sie am schönsten? Und warum?“
Anzahl der Verwendungen
Bezogen auf die sprachliche Förderung auf Wortebene ist als zentrales Ergebnis festzuhalten, dass die Verwendung von Fachwörtern im Vergleich zwischen dem Pre- und Post-Test bezogen auf die Anzahl verwendeter Nomen aus dem methodisch-fachinhaltlichen Wortschatz gestiegen ist. Dies gilt insbesondere für Begriffe, die Elemente einer Karte kennzeichnen wie z.B. „Nordpfeil“, „Legende“, „Maßstab“, „Quelle“, „Planquadrat“, „Kartentitel“ oder „Symbol“. Alle SchülerInnen haben im Post-test mehr Fachwörter verwendet als zuvor im Pre-Test. Der Fachwortschatz der SchülerInnen konnte demnach erweitert werden (siehe Abb. 2).
16 14 12 10 8 6 4 2 0 Nordpfeil
Planquadr at
Quelle
Legende
Maßstab
Kartentite Symbol l
Signatur
Pre-Test
1
1
1
2
2
0
0
0
Post-Test
10
9
10
11
14
6
7
2
Abb. 2: Verwendung von Fachwörtern im Pre- und Posttest (eigene Darstellung)
5. ZUSAMMENFASSUNG UND DISKUSSION Die Studie reagiert auf die gesellschaftliche Herausforderung didaktische Konzepte und Methoden zu entwickeln, um eine sprachlich heterogene Schülerschaft sowohl allgemeinsprachlich, bildungssprachlich als auch fachsprachlich zu fördern (vgl. Budke & Kuckuck, 2017, S. 2). Die durchgeführte Intervention mittels kartenbasierter Interviews hatte die Ziele, ein positives und gelungenes Kontakterlebnis zwischen neu zugewanderten SchülerInnen und Befragten herzustellen, räumliche Informationen zum neuen Wohnort zu vermitteln sowie (fach-)sprachliche Kompetenzen zu fördern. Die Kontaktaufnahme und Durchführung der Interviews von neu zugewanderten SchülerInnen mit Einheimischen verlief größtenteils erfolgreich und wurde von den Kindern positiv erlebt. Obwohl nicht alle Angesprochenen bereit waren, Interviews zu führen, war dennoch der Großteil motiviert, mit den SchülerInnen in Interaktion zu treten. Dies sorgte für ein positives Lernerlebnis und führte zu einer
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steigenden Sicherheit bei der Durchführung sprachlicher Handlungen im Deutschen. Zudem wurden möglicherweise Hemmungen auf beiden Seiten abgebaut, was für die soziale Integration der SchülerInnen bedeutsam ist. Besonders das positive Feedback der SchülerInnen lässt auf ein positives Kontakterlebnis schließen, was für Allport (1954) und Esser (2001) ein entscheidender Faktor im sozialintegrativen Prozess zwischen Einheimischen und Zugewanderten darstellt. Bezogen auf kartenbasierte Arbeit ist zum einen als Ergebnis festzuhalten, dass die Transkripte und die angefertigten Karten zeigen, dass die SchülerInnen die Karten im Interview häufig zur Überbrückung von Kommunikationsschwierigkeiten einsetzten und zum anderen, dass bei den SchülerInnen ein kartographisches Verständnis aufgebaut werden konnte. Dies ist zunächst als großes Potenzial im Fachunterricht Geographie zu verstehen, da die SchülerInnen nur geringe bis keine Erfahrungen mit Karten hatten und trotzdem auf die symbolhafte Kodierung zurückgriffen, um ihre Fragen zu untermauern und die Befragten bei der Lokalisierung und Artikulation ihrer Antwort zu unterstützen. Chancen bestehen hier in besonderem Maße im Ausbau der Karten als Hilfsmittel für Interviews (siehe Kap. 4.1). Als Antwort auf die Frage nach der Effektivität der sprachlichen Förderung ist während der Interaktionen weiter zu vermerken, dass die SchülerInnen von sich aus auf interdependente Kooperationsformen zurückgriffen (vgl. Brüning & Saum, 2011, S. 6), d.h., dass sich gruppeninterne Differenzierungs- und Hilfsformen entwickelten. Sprachlich stärkere SchülerInnen konnten den Schwächeren helfen und ihnen die Möglichkeit geben, sich stückweise an die Interaktion heranzutasten. Die Differenzierungsformen zeigen sich weiter darin, dass die verteilten Funktionen innerhalb der Gruppe von den WortführerInnen eingehalten und auch kontrolliert wurden (vgl. Brüning & Saum, 2011; Burwitz-Melzer et al., 2016). Diese gruppeninterne Kooperation könnte für weitere Durchgänge weiterentwickelt werden, z.B. über ein Interviewpatensystem, bei dem innerhalb der Interviews sprachlich stärkere SchülerInnen aktiv und bewusst das Interview für Schwächere anleiten. Der Post-Test zeigt weiter, dass die SchülerInnen mehr Fachbegriffe des methodisch-, fachinhaltlichen Wortschatzes nach den Interviews verwendeten, als zuvor, was auf einen Lerneffekt hinweist. Das von uns entwickelte Scaffolding nach Gibbons (2002) wurde von den SchülerInnen vor allem im Bereich der Gesprächsöffnung und -beendigung genutzt. Damit konnten Formulierungen wie z.B. Begrüßungen und Verabschiedungen eingeübt werden, welche für die SchülerInnen eine hohe Alltagsrelevanz haben. In Gesprächssituationen, in denen die SchülerInnen mit Unsicherheiten konfrontiert waren, ist es sinnvoll, weiteres sprachliches Hilfsmaterial, z.B. Satz- und Frageanfänge oder Modellformulierungen, vorzugeben. Einige SchülerInnen hatten aufgrund des hohen Anspruchs der Aufgabe jedoch Probleme. Gelegentlich nannten potenzielle InterviewpartnerInnen Gründe, warum sie nicht am Interview teilnehmen konnten. Um persönlichen Enttäuschungen bei sensibleren SchülerInnen vorzubeugen, sollte der Umgang mit Absagen im Vorfeld und auch nach den Interviews thematisiert werden. Die Lehrkraft kann vor den Interviews gemeinsam mit den SchülerInnen mögliche Gründe an der Tafel sammeln,
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warum bestimmte Befragtengruppen zu bestimmten Uhrzeiten möglicherweise einem Interview abgeneigt gegenüberstehen. Diese Vorgehensweise sensibilisiert die SchülerInnen für mögliche Absagen und zeigt ihnen, dass diese Absagen nicht persönlich zu nehmen sind und semantisiert gleichzeitig weitere wichtige Begriffe im Kontext der Interviews. Trotz gruppeninterner, binnendifferenzierter und wechselnder Aufteilung in SprecherIn, ProtokollantIn und AufnahmeleiterIn kam es gelegentlich zu Schwierigkeiten bei der Dokumentation der Ergebnisse. Dies hängt damit zusammen, dass es für eine sprachlich unerfahrene Gruppe sehr schwierig ist, wenn rezeptive Anforderungen mit produktiven im Rahmen der Interaktion gekoppelt werden. Das heißt, dass die SchülerInnen parallel zur Aufnahme der fachinhaltlichen Informationen, diese phonetisch verarbeiten und dann in die entsprechende Stelle des Bogens oder der Karte verschriftlichen müssen. Eine zu starke Fokussierung auf die Korrektheit schriftlicher Dokumentationsergebnisse der SchülerInnen kann bei diesen Stress, Frustration und Unsicherheit erzeugen und sollte daher deutlicher entlastet werden. Möglicherweise könnte dies durch eine Trennung von kommunikativer Interaktion und der schriftlichen Dokumentation der Interviews erfolgen. Möglich wäre dies, indem die SchülerInnen während der Interviews lediglich die Karten verwenden und später über die Diktiergeräte die Antworten der Befragten wie in einem Diktat zusammenfassen. Der Umgang mit Kommunikationsproblemen während eines Gesprächs kann in Rollenspielen geschult werden. Mit den SchülerInnen können gemeinsam Nachfragemöglichkeiten entwickelt und somit semantisiert werden. Dies ist vor allem für die schwächeren SchülerInnen essentiell, die sich vermehrt in den Interviews bei der Unterbrechung des Interviewflusses zurückzogen.
6. AUSBLICK Die Ausführungen haben gezeigt, dass die Methode der kartenbasierten Interviews mit neu zugewanderten Kindern innovative Potenziale für den Geographieunterricht aufweist, die aber auch mit Herausforderungen einhergehen und zu berücksichtigen sind. Interessant für weitere Studien in diesem Forschungsbereich wäre es zu untersuchen, wie sich andere Themen und diesbezüglich auch andere Fragebögen für die Durchführung eignen, um einen inhaltlichen und methodischen Reflexionsbereich für die handlungsorientierte Erkenntnisgewinnung durch Interviews anzubahnen. Diesbezüglich wäre ferner interessant zu sehen, inwiefern sich Interviews durchführen lassen, die neben der alltagsorientierten, räumlichen Nähe auch andere, möglicherweise abstraktere geographische Informationsbereiche anschneiden. Dies können bspw. die Meinung zu Migration oder zu Europa, transkulturelle Erfahrungen oder Begegnungen mit nationalen Stereotypen oder Raumnutzungskonflikte wie Bebauungspläne im Nahraum sein. Es könnte untersucht werden, inwiefern auf diese Weise ein Perspektivenwechsel stattfindet.
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Eine genauere Untersuchung der Effektivität unterschiedlicher sprachlicher Hilfsgerüste für die erfolgreiche Interaktion wäre ebenso von Interesse. Langfristig sollte das Ziel bestehen, weitere sozialintegrative Methoden für den Fachunterricht zu entwickeln, welche die SchülerInnen sprachlich fördern, inhaltlich bilden und Kontakthemmungen sowie Vorurteile abbauen.
LITERATUR Allport, G.W. (1954). The nature of Prejudice. Boston/Mass.: Beacon Press. Brüning, L. & Saum, T. (2011). Schüleraktivierendes Lehren und Kooperatives Lernen – ein Gesamtkonzept für guten Unterricht. Verfügbar unter: http://vielfalt-lernen.zum.de/images/ 6/62/Basisartikel_KL_2011.pdf [5.4.2017]. Budke, A. & Kuckuck, M. (2017). Sprache im Geographieunterricht. In A. Budke & M. Kuckuck (Hrsg.), Sprachbewusster Geographieunterricht. Waxmann: Münster. (Im Druck). Budke, A. (2003). Wahrnehmungs- und Handlungsmuster im Kulturkontakt. Studien über Austauschstudenten in wechselnden Kontexten. Osnabrücker Studien zur Geographie 25. Verfügbar unter: http://www.v-r.de/_uploads_media/files/eb_9783737000901_124141.pdf [13.12.2017]. Burwitz-Melzer, E., Mehlhorn, G., Riemer, C., Bausch, K.-R. & Krumm, H.J. (2016). Handbuch Fremdsprachenunterricht. Tübingen: Narr Francke Attempto Verlag. Decker, O. & Brähler, E. (2016). Die enthemmte Mitte Autoritäre und rechtsextreme Einstellung in Deutschland – Die Leipziger „Mitte“-Studien 2016. Verfügbar unter: http://www.zv.uni leipzig.de/pressedaten/dokumente/dok_20160615154026_34260c0426.pdf [5.4.2017]. Esser, H. (2001). Integration und ethnische Schichtung Zusammenfassung einer Studie für das „Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung. Verfügbar unter: http://library.fes.de/ pdf-files/akademie/online/50366.pdf [05.04.2018]. Gibbons, P. (2002). Scaffolding Language, Scaffolding Learning. Teaching Second Language Learners in the Mainstream Classroom. Portsmouth/NH: Heinemann. Giddens, A. (1992). Die Konstitution der Gesellschaft: Grundzüge einer Theorie der Strukturierung . Frankfurt/New York: Campus Verlag. Habermas, J. (1973). Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus. Frankfurt: Surhkamp Verlag. Hemmer, M., Hemmer, I., Hüttermann, A. & Ullrich, M. (2010). Kartenauswertekompetenz ‒ Theoretische Grundlagen und Entwurf eines Kompetenzstrukturmodells. Geographie und ihre Didaktik, 38 (3), 158–171. Hillmann, K.-H. (2010). Integration. In K.-H., Hillman (Hrsg.). Wörterbuch der Soziologie (S. 383– 384). Stuttgart: Alfred Kröner Verlag. Ibaidi, S. (1993). Soziales Verhalten in Gruppen: Zur Frage der sozialen Distanz und psychologischer Befindlichkeit ausländischer und deutscher Studenten in Deutschland. Mikrofiche: Berlin. InfraTest Dimap (2015). Bundesweite Umfrage zu Einstellungen gegenüber Flüchtlingen. Verfügbar unter: www.infratest-dimap.de/umfragen-analysen/bundesweit/umfragen/aktuell/mehrzahlweiterhin-ohne-angst-vor-zu-vielen-fluechtlingen-vier-von-zehn-aber-besorgt/ [5.4.2017]. Lemmer, G. & Wagner, U. (2015). Can we really reduce ethnic prejudice outside the lab? A metaanalysis of direct and indirect contact interventions. European Journal of Social Psychology, 45 (2), 152–168. Lockwood, D. (1969). Soziale Integration und Systemintegration. In W. Zapf (Hrsg.), Theorien des sozialen Wandels (S. 124–137). Köln/Bonn: Kiepenhauer & Witsch. Massumi, M. & Von Dewitz, N. (2015). Neu zugewanderte Kinder und Jugendliche im deutschen Schulsystem. Köln: Mercator-Institut.
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Morawski, M. & Budke, A. (2017). Language Awareness in Geography Education – An Analysis of the Potential of Bilingual Geography Education for Teaching Geography to Language Learners. European Journal of Geography, 7 (5), 61–84. Wardenga, U. (2002). Räume der Geographie – zu Raumbegriffen im Geographieunterricht. Verfügbar unter: http://homepage.univie.ac.at/Christian.Sitte/FD/artikel/ute_wardenga_raeu me.htm [11.06.07].
SPRACHLICHE BILDUNG IM FACHUNTERRICHT – WIE KÖLNER GEOGRAPHIELEHRAMTSSTUDIERENDE IM DAZ-MODUL SPRACHLICHE ANFORDERUNGEN DES UNTERRICHTS ERMITTELN Veit Maier / Christoph Gantefort
1. EINLEITUNG Der Erwerb fachlicher Fähigkeiten im Geographieunterricht ist unter anderem an die Bewältigung vielfältiger sprachlicher Anforderungen gekoppelt. Insbesondere in sprachlich heterogenen Lerngruppen stellen diese für viele Schülerinnen und Schüler eine zusätzliche Herausforderung dar und können von Seiten der Lehrkräfte mit einem sprachbewussten Unterricht adressiert werden. Lehrerinnen und Lehrer sollten in diesem Zusammenhang in der Lage sein, die sprachlichen Anforderungen ihres Unterrichts zu identifizieren, die sprachlichen Voraussetzungen der Schülerinnen und Schüler einzuschätzen und bei Bedarf sprachliche Hilfen bereitzuhalten. Sprache und Kommunikationsprozesse sind im Geographieunterricht bisher jedoch nicht zufriedenstellend empirisch erforscht (vgl. Budke & Weiss, 2017, S. 19). Mit dem vorliegenden Beitrag soll daher im Zuge einer explorativen Studie herausgearbeitet werden, wie Kölner Lehramtsstudierende des Fachs Geographie im Praxissemester mit der im Rahmen des Moduls ‚Deutsch für Schülerinnen und Schüler mit Zuwanderungsgeschichte‘ (DaZ-Modul) an sie herangetragenen Aufgabe umgehen, die sprachlichen Anforderungen ihrer Unterrichtsvorhaben zu analysieren. In Nordrhein-Westfalen sind für alle Lehramtsstudierenden „Leistungen in Deutsch für Schülerinnen und Schüler mit Zuwanderungsgeschichte“ obligatorisch (vgl. Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen, 2009). Im Zusammenhang mit der Neuzuwanderung der jüngeren Vergangenheit wurden darüber hinaus Weiterbildungsangebote für Lehrkräfte aus der Schulpraxis an den lehrerInnenbildenden Standorten in NRW eingerichtet.1 Das DaZ-Modul wird an der Universität zu Köln am Mercator-Institut für Sprachförderung und Deutsch als Zweitsprache angeboten und umfasst mit einer Vorlesung und einem Seminar zwei Lehrveranstaltungen im Master of Education, die mit dem Praxissemester2 verschränkt sind. Vor dem Hintergrund einer Kooperation zwischen dem Mercator-Institut und den Didaktiken von Mathematik, Naturwissenschaften, Sozi-
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Vgl. hierzu z.B. die Universität zu Köln. Verfügbar unter: http://www.mercator-institutsprachfoerderung.de/lehre/weiterbildungsstudium-daz/ [28.02.2018]. Vgl. http://zfl.uni-koeln.de/praxissemester.html [28.02.2018].
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alwissenschaften und Geographie haben Studierende die Möglichkeit, ein fachspezifisches Aufbauseminar im DaZ-Modul zu belegen. Die Studierenden führen ein Portfolio, im Rahmen dessen sie unter anderem gehalten sind, die Sprachsensibilität ihres Unterrichts im Praxissemester entlang der drei Kerndimensionen ‚sprachliche Anforderungen des Unterrichts‘, ‚sprachliche Fähigkeiten der Schülerinnen und Schüler‘ sowie ‚sprachsensible Unterrichtsplanung und -gestaltung‘ zu reflektieren (vgl. Gantefort & Michalak, 2017). Die dabei entstandenen Texte von 11 Lehramtsstudierenden mit dem Fach Geographie für Gymnasien, Gesamt- Real- und Hauptschulen stellen die Datengrundlage für unsere Untersuchung dar. Wir orientieren uns an den folgenden Fragestellungen: 1. Inwiefern gelingt es Studierenden des Faches Geographie, die sprachlichen Anforderungen ihrer Unterrichtsvorhaben mit Blick auf eine sprachsensible Unterrichtsgestaltung zweckmäßig zu analysieren? 2. Welche Potenziale und Bedarfe für die (fachdidaktische) LehrerInnenbildung lassen sich formulieren?
2. SPRACHLICHE BILDUNG IN FACHLICHEN KONTEXTEN Der gegenwärtige Diskurs um sprachliche Bildung und sprachsensiblen Fachunterricht geht unter anderem auf Befunde der empirischen Bildungsforschung zurück. Schülerinnen und Schüler mit Zuwanderungsgeschichte, die mehrsprachig aufwachsen und das Deutsche als Zweitsprache erwerben sowie solche mit einem niedrigen sozioökonomischen Status erscheinen dort regelmäßig als Gruppen, die im Erwerb fachlicher Kompetenzen benachteiligt sind (vgl. z. B. Rauch et al., 2016; Stanat et al., 2010). Ein Erklärungsmodell für diese Bildungsdisparitäten besteht in den Konzepten von Bildungs- und Fachsprache. Damit sind in Abgrenzung zur Alltagsprache sprachliche Register gemeint, die es erlauben, komplexe Sachverhalte der Unterrichtsfächer in situationsentbundenen Sprachverwendungskontexten kohärent und situationsangemessen zu versprachlichen. Als Merkmale von Bildungsund Fachsprache – hier verstanden in ihrer Funktion als Werkzeug zu Wissenserwerb und -vermittlung (vgl. Morek & Heller, 2012) – können die Referenz auf komplexe Sachverhalte, eine hohe Frequenz komplexer lexikalischer und grammatischer Formen sowie bestimmte Schemata der Sprachhandlungsorganisation in schriftlichen Texten und mündlichem Sprachgebrauch genannt werden (vgl. z.B. Gantefort, 2013). In auf Einsprachigkeit in der Unterrichtssprache ausgerichteten Kontexten institutioneller Bildung stehen Zweitsprachlernende vor der doppelten Herausforderung, sich neben den fachlichen Kompetenzen auch die Sprache bzw. das sprachliche Register anzueignen, in welchem die Inhalte vermittelt werden. Bildungs- und Fachsprache sind aber auch für viele Schülerinnen und Schüler, die einsprachig deutsch aufgewachsen sind, eine ‚Fremdsprache‘, deren Aneignung durch eine explizite Vermittlung im Fachunterricht unterstützt werden muss. Die Herausforderung, sprachliche Bildung über den Deutschunterricht hinaus in allen Unterrichtsfächern umzusetzen, kann ein- oder mehrsprachig angegangen werden (vgl. Gantefort, 2017; Bainski et al., 2017). „Durchgängige Sprachbildung“
Sprachliche Bildung im Fachunterricht – das DAZ-Modul
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(vgl. Gogolin et al., 2011) meint in diesem Zusammenhang, dass bildungssprachliche Fähigkeiten koordiniert über Fächergrenzen hinweg gefördert werden und dabei neben der Zweitsprache Deutsch nach Möglichkeit auch die Erstsprache von mehrsprachig aufwachsenden Schülerinnen und Schülern einbezogen wird (horizontale Dimension). In vertikaler Perspektive stellt die Kontinuität der Förderung über die Bildungsbiografie hinweg eine Gelingensbedingung für den Erfolg sprachlicher Bildung dar. Sprachsensibler Unterricht in den Fächern bettet sich demnach in ein übergeordnetes Konzept durchgängiger Sprachbildung ein und zeichnet sich dadurch aus, dass neben den fachlichen Fähigkeiten auch die sprachlichen Kompetenzen vermittelt werden, die mit dem fachlichen Kompetenzerwerb in Zusammenhang stehen. Lehrkräfte können sich in Unterrichtsplanung und -durchführung konkret z. B. am Scaffolding-Ansatz (vgl. Gibbons, 2002) orientieren, indem sie sprachlich-kognitive Operationen wie Schlussfolgern/Argumentieren (vgl. Thürmann & Vollmer, 2017), modellieren und sprachliche Mittel, die zur Bewältigung dieser Sprachhandlung erforderlich sind, auf Wort- Satz- und Textebene bedarfsgerecht bereithalten. Damit sind vor jedem sprachsensibel durchgeführten Unterricht zwei Analyseschritte erforderlich: Die bedarfsgerechte Bereitstellung sprachlicher Hilfen erfordert eine Orientierung über die (bildungs- und fach-)sprachlichen Fähigkeiten der Schülerinnen und Schüler sowie über die (bildungs- und fach-)sprachlichen Anforderungen des eigenen Unterrichts. Wir betrachten an dieser Stelle exemplarisch die Fähigkeit von Studierenden, die sprachlichen Phänomene zu identifizieren, die für die Aneignung fachlicher Kompetenzen im Unterrichtsfach Geographie erforderlich sind. Den mit linguistischer Begrifflichkeit häufig nicht vertrauten Studierenden wird im Rahmen des DaZ-Moduls eine Systematik an die Hand gegeben, in der Phänomene bzw. Kompetenzen auf Wort- Satz- und Textebene unterschieden werden (vgl. z.B. Michalak et al., 2015, S. 56ff.). Sprachliche Anforderungen können z.B. entlang von Kompetenzformulierungen aus Kernlehrplänen, Unterrichtsmaterialien oder Interaktionssituationen im Unterricht kontextualisiert werden.
3. SPRACHLICHE ANFORDERUNGEN IM GEOGRAPHIEUNTERRICHT Auch in der Geographiedidaktik gewinnt der Bereich sprachliche Bildung an Bedeutung, hier unter anderem mit einem Fokus auf die Sprachhandlung Argumentieren (vgl. z.B. Budke & Meyer, 2015; Kuckuck, 2015; Maier & Budke, 2017). Neben der allgemeinen Bedeutung von sprachlicher Heterogenität als Lernvoraussetzung kann diese Entwicklung mit der bildungstheoretischen Ausrichtung an einem konstruktivistischen Paradigma in Verbindung gebracht werden. In der Geographie äußert sich das besonders in der Abkehr von einem essenzialistischen Verständnis von Raum. Raumverständnis wird demnach durch Handlung, und damit auch ganz wesentlich durch sprachliches Handeln konstruiert. Werlen formuliert diesen bedeutungszuweisenden Prozess schlagwortartig mit „Geographie-Machen“ (Werlen, 2008), mit anderen Worten: Man macht Geographie, indem man über Geographie spricht. Damit rücken zunächst die sprachlichen Mittel als eine zu bewältigende
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Anforderung für Lernende und Lehrende in den Blick, welche die Bezugnahme auf Raum im weitesten Sinne ermöglichen. Die Bedeutung von Sprache für das Unterrichtsfach Geographie ist weiterhin kontextualisiert in den Bildungsstandards3 im Fach Geographie für den Mittleren Schulabschluss (vgl. DGfG, 2012). Sprachliche Anforderungen werden in den Bildungsstandards in Form von verschiedenen Kompetenzen beschrieben und in Form von Teilkompetenzen auf unterrichtlicher Ebene adaptiert. Hier wird explizit die Kommunikationskompetenz ausgewiesen. Unter ihr wird das Vermögen verstanden, sich zu geographischen Sachverhalten angemessen auszudrücken und sich darüber austauschen zu können (vgl. DGfG, 2012, S. 21ff.). Da es sich bei geographischen Themen häufig um komplexe Probleme handelt, die nicht in ein binäres Schema von ‚richtig‘ und ‚falsch‘ eingeordnet werden können, baut geographische Kommunikation häufig auf Argumentationen, Erklärungen zu Prognosen und Einschätzungen auf. Ein relevantes Beispiel ist das Argumentieren zu Raumplanungsthemen (vgl. Maier & Budke, 2016). Auch in diesen Zusammenhängen ist die sprachliche Dimension elementar. Denn „Kommunikation [...] findet nicht erst ‚nach‘ dem Erwerb von Fachwissen statt, sondern ist zugleich seine Voraussetzung“ (DGfG, 2012, S. 22). Sprache, Fachsprache und fachliches Wissen bedingen sich gegenseitig (vgl. Hofmann & Mehren, 2015, S. 23). So gesehen ist das Sprechen über geographische Sachverhalte ein Bildungsziel, wobei sich Fachsprache durch Prägnanz, Verständlichkeit, Ökonomie sowie Unpersönlichkeit auszeichnet (vgl. Morawski & Budke, 2017, S. 64; Roelcke, 2010, S. 13ff.). Als weiterer Kompetenzbereich fordert Erkenntnisgewinnung/Methoden den Einsatz von kommunikationstechnologischen Medien sowie Befragungen und das Vermögen raumbezogene Sacherhalte adressatenbezogen verbal darstellen zu können (vgl. DGfG, 2012, S. 18ff.). Der Kompetenzbereich Bewertung/Beurteilung erfordert, dass SchülerInnen sich diskursiv mit eigenen und fremden Positionen und Wertvorstellungen auseinandersetzen (vgl. DGfG, 2012, S. 23ff.). Der Kompetenzbereich Handlung differenziert zwischen den unterschiedlichen Sprachhandlungen wie z.B. Informationshandeln, politischem Handeln und Alltagshandeln und fordert einen reflexiven Umgang damit (vgl. DGfG, 2012, S. 25ff.). Mit Blick auf sprachliche Anforderungen, die sich aus Unterrichtsmaterialien ergeben, ist im Fach Geographie der Einsatz von diskontinuierlichen Texten (Tabellen, Diagrammen, Karten etc.) besonders zentral (vgl. Budke et al., 2016, S. 243; Huber & Stallhofer, 2010, S. 223). Diese Darstellungsformen stellen im Kontext von Verstehens- und Sprachproduktionsprozessen hohe Anforderungen in der Erzeugung von Kohärenz (vgl. Schnotz & Dutke, 2004, S. 63ff.). Müller und Michalak schlagen diesbezüglich ein Sprach-Fach-Netz vor, das die Bereiche Orientie-
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Die Bildungsstandards für das Fach Geographie sind nicht verpflichtend, jedoch stellen sie für die Entwicklung des Unterrichtsfachs und in der Lehramtsausbildung eine bedeutsame Referenz dar.
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rung, Beschreibung, Erklärung und Beurteilung differenziert und sich als Analysehilfe für den Einsatz diskontinuierlicher Darstellungen im Unterricht eignet (2015, S. 153ff.). Sprachliche Anforderungen auf Ebene von Interaktionskonstellationen im Unterricht stellen sich zunächst als wenig fachspezifisch dar. Hier sind es im Allgemeinen die kontextentbundenen Kommunikationsituationen mit abstraktem Adressatenkreis, die mit hohen sprachlichen Anforderungen einhergehen.
4. MATERIAL UND METHODIK Die hier untersuchten Auszüge aus den Reflexionsaufgaben der 11 Studierenden4 wurden im Rahmen von vier, jeweils von unterschiedlichen Lehrpersonen durchgeführten Lehrveranstaltungen im DaZ-Modul als Prüfungsleistung abgegeben. In den Seminaren wurden jeweils unterschiedliche inhaltliche Schwerpunkte gesetzt. Diese lagen in einer fachspezifisch ausgerichteten Lehrveranstaltung auf dem Argumentieren im Geographieunterricht, in einer den Lehrveranstaltungen im Bereich Sprachdiagnostik, DaZ für neu zugewanderte Kinder und Jugendliche und sprachsensiblen Fachunterricht im Allgemeinen. Alle TeilnehmerInnen studieren Geographie auf Lehramt. Eine Teilnehmerin studiert mit Schwerpunkt auf Haupt-, Realund Gesamtschule und 10 von 11 TeilnehmerInnen studieren den Schwerpunkt Gymnasium und Gesamtschule. Die Zweitfächer sind bei 5 von 11 TeilnehmerInnen Sprachen (Deutsch, Englisch, Französisch). Ein naturwissenschaftliches Zweitfach belegen 3 von 11 TeilnehmerInnen (Biologie, Mathematik, Physik). Die übrigen 3 Studierenden machten dazu keine Angaben. Der von den Studierenden durchgeführte und im Portfolio reflektierte Unterricht wurde in 5 von 11 Fällen in der Unterstufe gehalten und jeweils 3 von 11 Studierenden unterrichteten die Mittelstufe bzw. die Oberstufe. Die Unterrichtstunden widmenden sich verschiedenen Themen. Neben physischer Geographie (2 Fälle: Höhenstufen der Alpen, Schalenaufbau der Erde) auch dem Themenbereich Mensch-Umweltbeziehungen (1 Fall: Palmölproduktion im Regenwald) sowie dem humangeographischen Themenschatz (4 Fälle: Gentrifizierung, Wandel des Ruhrgebiets, Human-Development-Index, Global Cities). In den anderen Unterrichtsstunden lag der Fokus auf der Kartenarbeit (digitaler Atlas, Atlasarbeit, verschiedene Lokalisierungen). Die hier relevante Teilaufgabenstellung für die Studierenden im Rahmen der Reflexionsaufgabe lautete: „Welche sprachlichen Anforderungen weisen die Unterrichtsinhalte auf Wort-, Satz- und Textebene auf?“ Den Studierenden stand zur Bearbeitung neben der persönlichen Beratung in den Lehrveranstaltungen eine Handreichung5 zur Verfügung. Aufgabenstellung und Handreichung wurden auf
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Die Teilnehmer wurden anonymisiert und kodifiziert. Die Reflexionsaufgabe ist unter folgender URL verfügbar: https://www.mercator-institutsprachfoerderung.de/fileadmin/Redaktion/PDF/Lehre/DaZ-Modul_-_Reflexionsaufgabe_zum _zum_Praxissemester__neu_.pdf.
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der Grundlage der Erfahrungen und der Rückmeldungen der Studierenden überarbeitet. Die Analyse der Reflexionsaufgaben erfolgte nach der qualitativen Inhaltsanalyse, angelehnt an Mayring (2010). Es wurden deduktiv Codes gebildet und an das Material herangetragen. Die Hauptcodes entsprechen mit Wort-, Satz- und Textebene der Systematik, nach welcher die Studierenden ihre Analysen vornehmen sollten. Codiert wurden alle Nennungen sprachlicher Phänomene und/oder Kompetenzfacetten, die mit dem Erwerb der fachlichen Unterrichtsziele in Zusammenhang gebracht wurden, d. h. allgemeine Nennungen von Merkmalen von Bildungs- und Fachsprache ohne jeglichen Bezug zur Unterrichtsstunde, z. B. die Nennung von ‚Fachwortschatz‘ ohne konkrete Ausdifferenzierung der Lexeme, wurden nicht codiert, da sich aus solchen allgemeinen Nennungen keine konkreten sprachlichen Hilfen ableiten lassen. Mehrfachcodierungen wurden nicht vorgenommen, hingegen wurden auch negative Aussagen als sprachliche Anforderungen gewertet (vgl. „Konditionalsätze [...] nicht verwendet“ (SS)). Die Analyse erfolgte mit Hilfe einer Software zur Inhaltsanalyse. Zur Sicherstellung der Reliabilität wurden Codierung und Ergebnisse zwischen den Forschern intensiv diskutiert. Zu jeder Hauptkategorie wurden anhand der leitenden Fragestellungen unter einem Wechsel von Deduktion und Induktion die folgenden, jeweils Wort-, Satz- und Textebene untergeordneten Codes gebildet: –
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Kategorie: Inwiefern lassen sich die von den Studierenden aufgeführten sprachlichen Anforderungen Wort-, Satz- und Textebene unterordenbaren Kategorien zuordnen? Dies betrifft auf Wortebene z B. die Kategorien ‚Fachwortschatz‘ und ‚komplexe morphologische Formen‘. Mit diesem Subcode korrespondiert die Fragestellung, wie differenziert sprachliche Anforderungen von den Studierenden herausgearbeitet wurden. Zuordnungskorrektheit: Wurde die codierte sprachliche Anforderung korrekt der Wort- Satz- bzw. Textebene zugeordnet? Mit diesem Subcode korrespondiert die Fragestellung, inwiefern die Studierenden mit der Unterscheidung von Wort- Satz und Textebene operieren können. Kontextualisierung: Wurde die codierte sprachliche Anforderung einer ‚Quelle‘ zugeordnet? Wenn ja, welcher? Hier wurden zwischen ‚keine Kontextualisierung‘, ‚Kernlehrplan‘, ‚Unterrichtsmaterial‘ und ‚unterrichtliche Interaktionssituation‘ unterschieden. Mit diesem Subcode korrespondiert die Fragestellung, in welcher Bandbreite die sprachlichen Anforderungen von den Studierenden erfasst wurden. Konkretisierungsgrad: Wie konkret wurde die codierte sprachliche Anforderung formuliert? Es wurden die folgenden Subcodes unterschieden: a) ‚Phänomen ohne Kategorie‘, z. B. Nennung der Phrase „der Jahresverlauf der Temperatur“ (SI), ohne das sprachliche Phänomen einer Klasse zuzuordnen. b) ‚Phänomen mit Kategorie‘, z. B. Nennung der Phrase „der Jahresverlauf der Temperatur“ (SI) mit zusätzlicher Kennzeichnung des sprachlichen Phänomens als Element der Klasse ‚Genitivattribut‘.
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c) ‚Kategorie ohne Phänomen‘, z. B. Nennung von Genitivattributen als sprachliche Anforderung der Unterrichtseinheit, jedoch ohne dieser Klasse das Element „der Jahresverlauf der Temperatur“ zuzuordnen. Mit diesem Subcode korrespondiert die Fragestellung, inwiefern die Studierenden in der Lage sind, sprachliche Anforderungen in einer Form herauszuarbeiten, die auch die Bereitstellung sprachlicher Hilfen erlaubt. Die Darstellung der Ergebnisse im folgenden Abschnitt orientiert sich an den Codehäufigkeiten. Diese wurden aus der Software zur Inhaltsanalyse exportiert und mit statistischer Analysesoftware deskriptiv ausgewertet. Der Schwerpunkt der Auswertung liegt auf prozentualen Anteilen, um zunächst überblicksweise herauszuarbeiten, wie es die Studierenden bewältigen, die sprachlichen Anforderungen ihres Unterrichts im Praxissemester zu ermitteln. Vor allem im Zusammenhang mit der kleinen Stichprobe lassen sich damit unsere leitenden Fragestellungen lediglich in einem ersten, explorativen Zugang bearbeiten.
5. ERGEBNISSE Im Durchschnitt wurden von den Studierenden 18 sprachliche Anforderungen genannt bzw. identifiziert (SD = 15,3). Die hohe Standardabweichung verdeutlicht, dass die Studierenden mit sehr unterschiedlicher Ausführlichkeit auf diesen Aspekt der Reflexionsaufgabe eingegangen sind. Mit Blick auf die Hauptkategorien liegt ein deutlicher Schwerpunkt auf der Wortebene (56%), gefolgt von der Textebene (26%) und schließlich der Satzebene (18 %). Damit bildet sich erwartungsgemäß ab, dass es Studierenden wesentlich leichter fällt, z. B. Fachwortschatz zu benennen, als grammatische Konstruktionen und textuelle Phänomene zu identifizieren, die eine stärkere linguistische Expertise erfordern. Wortebene: Die in dieser Hauptkategorie aufgeführten sprachlichen Phänomene wurden zu 95% korrekt der Wortebene zugeordnet; dabei fallen 79% der Phänomene auf die Kategorie ‚Fachwortschatz‘ (z. B. „Nachhaltigkeit“ (OT), „Thermometer“ (PO), „Erdkern“ (HJ)) und 21% auf die Kategorie ‚komplexe Morphologie‘ (z. B. „ver-schwindet“ (PO) als Derivationsform oder „Lebenserwartung“ (SS) als Kompositum). Sofern diese Phänomene kontextualisiert werden, wird dies fast ausschließlich (zu 99%) über Unterrichtsmaterialien (z.B. Fachtexte, Karten etc.) realisiert. Die vergleichsweise gute Zugänglichkeit sprachlicher Anforderungen auf Wortebene drückt sich auch im Konkretisierungsgrad aus. Es werden 82% der Phänomene sowohl konkret benannt, als auch einer Kategorie wie ‚Fachwortschatz‘ oder ‚Derivationsform‘ zugeordnet, so dass Studierende auf dieser Ebene offenbar gut dazu in der Lage sind, aus der Analyse sprachlicher Anforderungen konkrete sprachliche Hilfen herzuleiten. Satzebene: Im Vergleich zur Wortebene fällt die Zuordnungskorrektheit auf der Satzebene mit 86% der aufgeführten Phänomene etwas geringer aus. Letztere lassen sich insgesamt 9 Kategorien zuordnen, wobei sich insbesondere die Bereiche ‚Konnektoren und semantische Relationen‘ (32%, z. B. „Je weiter es in die Höhe
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geht, desto“ (PO)), ‚komplexe syntaktische Gefüge‘ (26%, z. B. „Auch der erklärende Einleitungstext ist nicht verschachtelt geschrieben“ (GS)), Passivkonstruktionen (13%, z. B. „Von den ermittelten Daten wird der Durchschnitt berechnet“ (SS)) und Attributkonstruktionen (8%, z. B. „Dazu sind […] komplexe Attribute nötig“(KT)) als nennenswert erweisen, während die verbleibenden Kategorien auf weniger als 3 Einzelvorkommen beruhen. Auffällig erscheint die seltene Nennung von Attributkonstruktionen bzw. komplexen Nominalphrasen, handelt es sich doch bei diesen Phänomenen um ein wesentliches Merkmal von Bildungs- und Fachsprache, das funktional eine hohe Informationsdichte ermöglicht, jedoch auch ein zentrales schwierigkeitsgenerierendes Merkmal sowohl in der Sprachrezeption wie -produktion darstellt (vgl. Gürsoy, 2010). Auch auf der Satzebene werden die sprachlichen Anforderungen wenn, dann aus dem Unterrichtsmaterial heraus kontextualisert, wobei meist auf Lesetexte Bezug genommen wird. Die Bedeutung bildungssprachlicher Mittel auf Satzebene für eine erfolgreiche und präzise Kommunikation in dekontextualisierten Unterrichtssituationen scheint den Studierenden demnach insgesamt wenig bewusst zu sein. Ein deutlicher Kontrast zur Wortebene zeigt sich mit Blick auf den Konkretisierungsgrad: Die Phänomene auf Satzebene werden nur zu 33% konkret benannt, während es in 66% der Fälle bei einer allgemeinen Nennung einer (linguistischen) Kategorie verbleibt. In einigen Fällen erweist sich dies als angemessen, z. B. wenn Studierende herausarbeiten, dass komplexe Nominalphrasen in einem zu lesenden Text als spezielle Anforderung ‚nicht‘ vorkommen und daher auch keine speziellen sprachlichen Hilfen erforderlich sind. Nichtsdestoweniger deutet sich an, dass viele Studierende in der Bewältigung der Aufgabe nach einer Strategie verfahren, aus den Lehrveranstaltungen oder der Fachliteratur bekannte bildungssprachliche Phänomene kategorial als sprachliche Anforderungen im Portfolio aufzuführen, wobei der Bezug zu ihrem eigenen Unterricht auch an der Oberfläche verbleiben kann. Textebene: Phänomene auf Textebene scheinen für die Studierenden am wenigsten ‚greifbar‘ zu sein, da diese mit 40% die geringste Zuordnungskorrektheit aufweisen. Der Schwerpunkt der codierten Vorkommen liegt auf den Kategorien ‚sprachlich-kognitive Operationen‘ (37%, z. B. „In der dritten Aufgabe steht dann das Register ‚Beurteilen‘ im Vordergrund“(SS)), ‚Schreiben‘ (27% z. B. „[…] Herausforderung, einen in sich logischen, nachvollziehbaren und strukturierten Aufbau zu gewährleisten […]“(SI)), ‚Leseverstehen‘ (20%, z. B. „So gab es […]schwierige inhaltliche Statements, die die SuS genau lesen und verstehen mussten um klar Antworten zu können“(CL)) sowie ‚diskontinuierliche Darstellungsformen‘ (10% z. B. „So erfordern sie [Karten, d. V.] aufgrund ihres hohen Abstraktionsgrades einen Wechsel der Darstellungsform seitens der SuS“ (HB)). Die Dominanz des Bereichs ‚sprachlich-kognitive Operationen‘ kann mit den bisherigen fachdidaktischen Lerngelegenheiten der Studierenden in Zusammenhang gebracht werden, da ein Schwerpunkt der fachdidaktischen Ausbildung in Köln auf dem Bereich Argumentieren im Geographieunterricht liegt. Diskontinuierliche Texte spielen schließlich eine bedeutende Rolle im Geographieunterricht, ob als Sprechanlässe oder als Informationsträger (vgl. Michalak & Müller, 2016, S. 27ff.).
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An dieser Stelle zeigt sich mit Blick auf die Kontextualisierung ein Kontrast zur Wort- und Satzebene, da neben dem Unterrichtsmaterial (63%) nun auch auf Kernlehrpläne (13%) und in geringem Maß auch auf Interaktionssituationen (7%) Bezug genommen wird. Insbesondere mit Blick auf sprachlich-kognitive Operationen erscheint es wichtig, diese nicht nur zu benennen, sondern auch die Struktur der Sprachhandlung herauszuarbeiten und sie auf die konkreten sprachlichen Mittel auf Wort- und Satzebene zu befragen, die für ihre Bewältigung von Seiten der Schülerinnen und Schüler sowie ihre Modellierung von Seiten der Lehrkräfte erforderlich sind. In Bezug auf alle Kategorien der Textebene wird dies in 20% der Fälle geleistet, in weiteren 37% wurden untergeordnete sprachliche Mittel genannt, wobei das Phänomen auf Textebene implizit bleibt. Knapp die Hälfte der formulierten sprachlichen Anforderungen wurden jedoch ausschließlich als Kategorie benannt (z. B. ‚Leseverstehen‘), ohne herauszuarbeiten, welches die konkreten schwierigkeitsgenerierenden Merkmale sind. Tabelle 1 fasst die wesentlichen Ergebnisse der Auswertung zusammen: Tab. 1: Benannte sprachliche Anforderungen in den untersuchten DaZ-Reflexionsaufgaben Geographielehramtsstudierender (Eigene Darstellung; n=11).
Anteil Zuordnungskorrektheit
Wortebene 56% 95% Fachwortschatz (79%)
Häufigste Kategorien
Komplexe morphologische Formen (21%)
Satzebene 18% 86%
Textebene 26% 40%
Konnektoren und semantische Relationen (32%)
Sprachlich kogntive Operationen (37%)
Komplexe syntaktische Gefüge (26%)
Schreiben (27%)
Passivkonstruktionen (13%)
Leseverstehen (20%)
ohne (9%)
Attributkonstruktionen (8%) ohne (7%)
Diskontinuierliche Darstellungsformen (10%) ohne (17%)
Kontext-
Unterrichtsmaterial (91%)
Unterrichtsmaterial (93%)
Unterrichtsmaterial (63%)
ualisierung
Kernlehrplan (0%)
Kernlehrplan (0%)
Kernlehrplan (13%)
Interaktionssituationen (0%)
Interaktionssituationen (0%)
Konkretisierung
83%
33%
Interaktionssituationen (7%) 53%
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6. DISKUSSION Die vorliegende Studie hat einen explorativen Charakter und beruht auf einer sehr kleinen Auswahl von Texten Studierender, so dass sie lediglich Aussagen mit begrenzter Reichweite erlaubt. Hinzu kommt, dass die Unterrichtskontexte der Studierenden sich sehr heterogen darstellten. Die folgende Zusammenstellung von Aussagen ist daher als eine Sammlung von Hypothesen zu verstehen, die anhand einer größeren Auswertung der im DaZ-Modul entstandenen Texte zu prüfen sind. Entsprechend sind die Schlussfolgerungen tentativen Charakters. –
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Während es den Studierenden kaum Probleme bereitet, den für ihren Unterricht relevanten geographischen Fachwortschatz zu identifizieren, stellen morphologisch-syntaktische Phänomene sowie solche oberhalb der Satzebene offenbar eine wesentlich größere Herausforderung dar. Für die Qualifizierung in der Querschnittsaufgabe sprachlicher Bildung impliziert dies, die Studierenden stärker für die Relevanz dieser Phänomene für den fachlichen Kompetenzerwerb zu sensibilisieren, d. h. genauer herauszuarbeiten, was mit Satz- und Textebene gemeint ist. Der größere Anteil von Phänomenen auf Text- als auf Satzebene kann dabei insofern als Ausdruck dessen interpretiert werden, als dass die Sprachhandlung Argumentieren schon vor dem DaZ-Modul in fachdidaktischen Lehrveranstaltungen thematisiert wurde. Es sollte dabei im Allgemeinen nach dem Grundsatz ‚Erkennen ist wichtiger als Benennen‘ verfahren werden, da das Ziel nicht in der Vermittlung linguistischer Begrifflichkeit an alle Studierenden besteht, sondern in der Entwicklung der Fähigkeit liegt, diese sprachlichen Mittel bei Bedarf in Form von Scaffolds bereitzuhalten. Die Analyse der Bandbreite der sprachlichen Phänomene auf Wort-, Satz- und Textebene sowie deren Konkretisierungsgrad verdeutlicht, dass Studierende sich in der Tendenz zwar der (allgemeinen) Merkmale von Bildungs- und Fachsprache bewusst sind, es ihnen jedoch nicht durchgehend gelingt, dies für den eigenen Unterricht auszubuchstabieren. Denn sprachsensibler Geographieunterricht verlangt die Erstellung konkreter sprachlicher Hilfen. Die Kenntnis der allgemeinen Merkmale von Fach- und Bildungssprache ist in diesem Zusammenhang eine notwendige, jedoch keine hinreichende Bedingung. Für die Entwicklung des Lehrangebots kann der Schluss gezogen werden, dass die kommunikative und epistemische Funktion der sprachlichen Mittel (z. B. von Attributkonstruktionen) stärker markiert werden sollte. Vielversprechend wäre in diesem Zusammenhang die interdisziplinäre Entwicklung fachspezifischer Planungsraster für den Unterricht, die von Studierenden im Praxissemester genutzt werden können und welche die Auflistung konkreter, im Unterricht zu vermittelnder sprachlicher Phänomene unterstützen. Die Analyse der Kontextualisierung der sprachlichen Anforderungen zeigt, dass Studierende vor allem ihr konkretes Unterrichtsmaterial, also Aufgabenstellungen, Lesetexte oder Grafiken und Diagramme sowie in geringerem Ausmaß Kompetenzbeschreibungen aus Kernlehrplänen heranziehen, während Interaktionskonstellationen kaum eine Rolle spielen. Die Bedeutung letzterer als
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schwierigkeitsgenerierende Merkmale auf der sprachlichen Ebene des Fachunterrichts sollte daher ggfs. stärker betont werden: Über welche kohärenzerzeugenden sprachlichen Mittel müssen Schülerinnen und Schüler z. B. verfügen, wenn die Kommunikation über thematische Karten nicht ‚kontexteingebettet‘ in einer Partnerarbeit mit einem konkreten Adressaten, sondern ‚kontextentbunden‘ in einer Präsentation vor der Klasse situiert ist?
7. FAZIT Zwar konnten aus den Analysen einige Schlussfolgerungen für die Ausbildung angehender Lehrkräfte in der Querschnittsaufgabe sprachlicher Bildung gezogen werden, das DaZ-Modul bietet aufgrund seines geringen Workloads jedoch nur begrenzte Ressourcen. Daher möchten wir hier abschließend die Bedeutung einer intensiven Kooperation zwischen Fachdidaktik und DaZ-Modul betonen. In diesem Zusammenhang erscheint die Entwicklung integrierter Curricula zentral, die eine sinnvolle Verzahnung sprachbezogener Inhalte in Fachdidaktik und DaZ-Modul und damit einen kumulativen Aufbau entsprechender Fähigkeiten ermöglichen. Ansätze für weiterführende Forschung liegen neben der Absicherung der identifizierten Tendenzen durch eine größere Stichprobe in einer Ausweitung der Untersuchungskriterien auf die Bereiche Sprachdiagnostik und Unterrichtsgestaltung. Weiterhin ist geplant, auch die in anderen Fächern entstandenen Reflexionsaufgaben einzubeziehen und den Einfluss von (sprachbezogenen) Zweitfächern zu untersuchen.
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KAPITEL 4 Unterrichtspraktische Konzepte
„DAS WAR MIR IRGENDWIE EIN BISSCHEN PEINLICH, DANACH HAT MIR DAS VOLL SPASS GEMACHT MIT DIESEM AUSSPRECHEN UND FRAGEN“ – MATERIALIEN ZUR DURCHFÜHRUNG KARTENBASIERTER INTERVIEWS MIT NEU ZUGEWANDERTEN SCHÜLERINNEN Michael Morawski / Alexandra Budke
1. EINLEITUNG Die verstärkten Migrations- und Flüchtlingsbewegungen der letzten Jahre verändern den Fachunterricht. In Deutschland wurden 2016 rund 720.000 Asylanträge (Erstanträge) gestellt (vgl. BAMF, 2016). Ein Drittel davon kam von Minderjährigen. Diese Kinder sollten möglichst schnell und umfassend in die deutsche Gesellschaft integriert werden. Neben der systemischen Integration in das Bildungssystem ist die soziale Integration (vgl. Esser, 2006) relevant, damit die Kinder erfolgreich lernen, ihre Deutschkenntnisse verbessern können und sich wohl fühlen. Zudem müssen sie sich in der für sie neuen Umgebung orientieren. Daher stellt sich in Bezug auf den Geographieunterricht die Frage, welche Methoden einen erfolgreichen Erwerb von Deutschkenntnissen und räumlichen Orientierungsfähigkeiten sowie den Aufbau sozialer Kontakte zur einheimischen Bevölkerung unterstützen können. Die im Folgenden vorgestellte Interviewmethode wurde mit einer Integrationsklasse durchgeführt. Die 13 SchülerInnen (9 Mädchen, 4 Jungen) der Vorbereitungsklasse waren zum Erhebungszeitpunkt zwischen 10 und 16 Jahren alt und befanden sich seit einem Zeitraum zwischen eineinhalb Jahren und vier Monaten in Deutschland. Die empirischen Ergebnisse finden sich im anderen Artikel von Morawski & Budke in diesem Band.
2. DIDAKTISCHE ZIELSETZUNGEN Durch authentische Interviews soll ein gelungener Kontakt zwischen zugewanderten Kindern und einheimischer Bevölkerung hergestellt werden, welcher dazu beiträgt, ihre soziale Integration zu verbessern. Ein gelungener Kontakt zeigt sich dadurch, dass die Interviews zustande kommen, diese positiv von den Beteiligten erlebt werden und geographische Informationen erfolgreich vermittelt werden. Die Kontakthypothese des Psychologen Allport (1954) besagt, dass soziale Vorurteile gegenüber abgelehnten Personen oder Personengruppen durch direkte Interaktionen aufgegeben werden können. Eine Verbesserung der Einstellungen, d.h. die Be-
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seitigung interethnischer Feindseligkeiten erfolgt, da in der Interaktion die Möglichkeit geschaffen wird, Ähnlichkeiten wahrzunehmen. In unserem Kontext ist relevant, dass durch Kontakte zwischen neu zugewanderten Kindern und Einheimischen Möglichkeiten eröffnet werden, Konfliktpotenziale zu reduzieren und negative Stereotypen auf beiden Seiten zu reflektieren und zu entkräften. Es werden Gemeinsamkeiten identifiziert und als relevant bewertet (vgl. Ibaidi, 1993, S. 107). Die Interviews sollen als Methode erprobt werden, um in einer frühen Phase des Ankommens der Kinder in der Gesellschaft gelungene Kontakte herzustellen und Hemmungen abzubauen. Die Kinder sollen dadurch nachhaltig auf Kontakt vorbereitet werden und zu einem Selbstbewusstsein gelangen, sich nicht von eigenen sprachlichen Defiziten im Erstkontakt abschrecken zu lassen. Budke (2008) betont die Relevanz des positiven Kontakts in der Anfangszeit einer fremden gesellschaftlichen Umgebung. Zudem sollen die Deutschkenntnisse der zugewanderten Kinder durch authentische Sprechsituationen im Interview verbessert werden. Eine Analyse der sprachund kommunikationsbezogenen Ziele in den nationalen Bildungsstandards und den bundesdeutschen Lehrplänen von Budke und Weiss (2014, S. 13) ergab, dass hier die „Fähigkeit Befragungen durchführen“ als ein zentrales Ziel genannt wird. Diese Fähigkeit beinhaltet, dass die SchülerInnen über sprachliche Kompetenzen zur Formulierung von Begrüßungen, Gesprächseröffnungen und Verabschiedungen verfügen müssen. Sie müssen zudem sprachliche Fähigkeiten in den Bereichen Produktion, Rezeption und Interaktion im Mündlichen haben (vgl. Morawski & Budke, 2017), da sie Fragen formulieren, die Äußerungen der Befragten verstehen und darauf sprachlich reagieren müssen. Diese Fähigkeiten müssen im Interview schnell und flexibel eingesetzt werden. Durch die Interviewmethode sollen zudem Kompetenzen der SchülerInnen im Bereich der räumlichen Orientierung (vgl. DGfG, 2014) gefördert werden. Aus diesem Grund wird das Interview zum Thema "Stadt" mit dem Schwerpunkt auf städtische Funktionen (Wohnen, Freizeit, Bildung und Versorgung) und der Bewertung dieser durch die Interviewten geführt. Neben dem Lernzuwachs auf Sachwissensebene soll die methodische Ebene gefördert werden, da die Interviews „kartenbasiert“ stattfinden. Dies bedeutet, dass die SchülerInnen dazu angehalten werden, die im Interview angesprochenen Orte auf einer Karte zu ihrer neuen Stadt zu lokalisieren, bzw. sich die Orte von Passanten auf der Karte zeigen zu lassen. Die Kartenbasierung der Interviews führt zu einer kommunikativen Unterstützung. Sie stellt ein Hilfssystem dar, da die SchülerInnen durch Zeigen, Einzeichnen und Anwenden der Karte auf die visuelle Ebene bei der Verständigung ausweichen können. Dies hat Auswirkungen auf die Kontinuität der Interviews, die ohne Karten, ohne diese visuelle Ebene, vielleicht abgebrochen würden. Dabei bietet die Karte nicht nur die Möglichkeit der sprachlichen Entlastung, sondern die SchülerInnen werden achtsam an Generalisierungsaspekte in Karten herangeführt (vgl. Hemmer et al., 2010).
Materialien zur Durchführung kartenbasierter Interviews
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3. VORSTELLUNG DES MATERIALS UND DURCHFÜHRUNG: INTERVIEWS ZU „MEINER NEUEN STADT“ 3.1. Einstieg Die Unterrichtseinheit geht über drei Doppelstunden und richtet sich an SchülerInnen mit geringen Deutschkenntnissen der Sekundarstufe I. Zu Beginn der Unterrichtseinheit können die SchülerInnen aufgefordert werden, eine mental map ihrer Schule und der Umgebung zu zeichnen. Dies kann in die Idee eingebettet werden, dass ein neuer Schüler oder eine neue Schülerin in die Klasse kommt und man dieser Person bei der anfänglichen Orientierung helfen könnte. Die mental maps haben zwei Diagnosefunktionen: Zum einen kann rudimentär festgestellt werden, was für Konzepte und Vorwissen die SchülerInnen aus ihren Schulerfahrungen in Bezug auf Karteninhalte und Orientierung anhand von Karten mitbringen. Und zum Zweiten können die sprachlichen Fähigkeiten im Bereich des Beschreibens und Erklärens von Karten identifiziert werden. Die Besprechung der Unterschiedlichkeit der mental maps sensibilisiert die SchülerInnen für die subjektiven Wahrnehmungen einer Stadt, was zu der Frage führen kann, wie andere Menschen diese wahrnehmen. Dies soll für das Interview ermöglichen, dass die SchülerInnen sich mit den Passanten über Gemeinsamkeiten und Unterschiede in ihren Wahrnehmungen austauschen. Das Konzept baut u.a. auf den Ansätzen von Thierer (2008) auf, der zeigte wie man sich dem „Fremdverstehen“ von japanischen Austauschstudierenden anhand von mental maps der Stadt Tübingen nähern kann. Die erstellten mental maps sollten gemeinsam besprochen werden. Die Grunddaseinsfunktionen werden anschließend eingeführt und es werden Vermutungen aufgestellt, wo man diese in der neuen Stadt findet. Dies dient der Vorentlastung und der gemeinsamen Entwicklung der Interviewfragen (M2). Die SchülerInnen werden dann mit einem Kartenausschnitt (z.B. aus google.maps) der Umgebung ihrer jeweiligen Schule konfrontiert. Die SchülerInnen sollen Elemente ihrer mental map in der Straßenkarte wiederfinden sowie Orte nennen, die zu den Grunddaseinsfunktionen passen. Der gleiche Kartenausschnitt wird im Interview für die Lokalisierung der Antworten der Passanten verwendet.
3.2. Einübung der Interviews und Durchführung Die SchülerInnen erhalten das Arbeitsblatt M1, welches sprachliche und strukturelle Hilfen zur Interviewdurchführung anbietet. Die Lehrkraft stellt den idealtypischen Interviewablauf anhand der Bilder vor und semantisiert die Phrasen, indem sie diese laut vorspricht. Mit einem Schüler/einer Schülerin kann der Ablauf dann vor der Klasse geübt werden. Für die Einübung der Interviewführung kann die Kugellagermethode oder das Lerntempoduett eingesetzt werden, so dass jeder in der Klasse Zeit erhält, mit einem Partner/einer Partnerin zu üben.
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Die SchülerInnen gehen dann in 3er oder 4er Gruppen zusammen und anhand des nach Grunddaseinsfunktionen strukturierten Interviewbogens (M2) werden die Fragen besprochen und es werden eigene Fragen ergänzt. Die Gruppeneinteilung sollte gewährleisten, dass sprachlich erfahrenere SchülerInnen den schwächeren helfen können. Alternativ bietet sich an, die Rollen der SprecherInnen und ProtokollantInnen einzuführen und in der Gruppe die Rollen zu wechseln. Die Interviews sollten dann in der schulnahen Umgebung durchgeführt werden. Die Ergebnisse sollen die SchülerInnen auf M2 protokollieren sowie die genannten Orte in die von der Lehrkraft mitgegebene Karte einzeichnen.
3.3. Reflexion und Sicherung Nach den Interviews sollten die Erfahrungen und die Emotionen der SchülerInnen reflektiert werden, um positive wie negative Erlebnisse zu thematisieren und Erklärungen für diese zu finden. Es sollte vermieden werden, dass negative Erfahrungen persönlich und pauschalisierend wahrgenommen werden. Positive Erfahrungen sollten dagegen deutlich werden. Weiter sollte der Lernzuwachs thematisiert werden, d.h. welche Phasen des Interviews gut oder weniger gut geklappt haben und in welchen Bereichen die SchülerInnen sich nun sicherer fühlen. Frageimpulse sind in M3 notiert. Die SchülerInnen bekommen dann den Auftrag, ihre Ergebnisse anhand der Karte vorzustellen. Anhand der Fragen in M4 kann die Ergebnispräsentation erfolgen, die sich an den Fragen im Fragebogen orientieren. Als Hausaufgabe könnten die SchülerInnen einen kurzen Willkommensbrief über ihre Stadt an den neuen Schüler schreiben. Als Weiterführung bietet sich die Vertiefung der Arbeit mit Karten an.
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MATERIALANHANG M1 - Sprachliche Hilfen „Ein Interview führen“ Auf diesem Arbeitsblatt findest du sprachliche Hilfen für deine Interviews. Leitfaden „Ein Interview durchführen“ Was soll ich machen?
Wie kann ich es sagen?
In Bildern
1. Ansprache Sprecht die Person höflich an und fragt sie, ob sie bereit ist an einer kurzen Befragung teilzunehmen.
Guten Morgen! Guten Tag! Entschuldigen Sie bitte. Wir sind von der Schule________________________. Wir besuchen dort die Klasse ______________________. Dürfen wir/dürfte ich Ihnen ein paar Fragen stellen? Das Interview wird ungefähr ________ Minuten dauern.
2. Begrüßung und Vorstellung Stellt euch mit Namen vor und erklärt kurz, was ihr vorhabt.
Mein Name ist____________. Im Geographieunterricht behandeln wir das Thema ______________.
3. Notizen machen Notiert die Antworten der befragten Person in Stichworten. Fragt die Person um Erlaubnis.
Wäre es Ihnen recht, wenn wir ein paar Notizen aufschreiben? Ist es ok, wenn wir uns Notizen machen und das Gespräch aufnehmen?
That's me!
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4. Fragen stellen Führt das Interview anhand eures erarbeiteten Fragebogens durch.
Unsere erste Frage lautet… Zweitens wollen wir wissen… Die dritte Frage ist… Eine weitere Frage wäre…
4.1 Nachfragen Wenn ihr etwas genauer wissen wollt, oder wenn ihr einen Punkt nicht richtig verstanden habt, fragt nach. Du kannst hier auch auf deine Notizen zeigen.
Entschuldigen Sie, könnten Sie den letzten Punkt nochmal wiederholen? Entschuldigen Sie, das habe ich nicht ganz verstanden? Sie meinten____________oder?
Meinen Sie_____________? Könnten Sie das nochmal mit anderen Worten erklären? Habe ich Sie so richtig verstanden?
4.2 Auffordern die Karte zu nutzen Fragt die Person, ob Sie etwas in eure Karte einzeichnen kann und erkläre wie sie es machen sollen.
Könnten Sie den Ort hier in die Karte einzeichnen? Sie können den Ort gerne in der Karte markieren/einkreisen/ankreuzen.
Können Sie den Ort_____________in der Karte einzeichnen?
5. Verabschiedung Vielen Dank für das Gespräch. Bedankt euch am Ende des Interviews. Vielen Dank, dass Sie sich die Zeit genommen haben und Ihnen noch einen schönen Tag.
Die Lücken füllst du mit den passenden Worten.
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M2 - Interviewbogen Dein Name: ___________
Datum heute:____
Aufgabe: Trage den Namen deiner Stadt in die Lücken ein. Mit den folgenden Fragen führt ihr eure Interviews. Ihr könnt euch zu jedem Punkt eigene Fragen überlegen. Lasst euch die Orte in die Karte einzeichnen. Interviewbogen: Meine Stadt Thema Beispielfragen und eigene Fragen 1. Wohnen 1. Wo in____________________ finden sie das Wohnen angenehm?
2. Wo kann man in ___________________ gut wohnen? 3. Eigene Fragen:
2. Vesorgung 1. Wo kann man in __________________ gut einkaufen?
2. Welche Orte in ___________________ sind sonst noch interessant, um sich zu versorgen oder shoppen zu gehen? 3. Eigene Fragen:
3. Freizeit 1. Wo kann man in ___________________ seine Freizeit verbringen?
2. Welche Orte sind in ________________ für Jugendliche interessant?
Trage hier die Antworten ein.
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3. Eigene Fragen:
4. Bildung
1. Wo gibt es Schulen in ___________________? 2. Wo kann man sich in ___________________ weiterbilden? 3. Eigene Fragen:
5. Bewertung Welche Orte in _________ finden Sie am schönsten? Warum?
Welche Orte in _________ finden Sie am nützlichsten? Warum?
Welche Orte in _________ finden Sie am hässlichsten? Warum?
M3 - Mögliche Frageimpulse zur direkten Reflexion der Interviews Wie habt ihr euch bei den Interviews gefühlt? Warum? Was hat bei den Interviews gut geklappt und was nicht? Warum? Was hat euch besonders gefallen? Warum? Was hat euch weniger gut gefallen? Warum?
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M4 - Frageimpulse zur Strukturierung der Kartenpräsentation Was habt ihr über die Stadt erfahren? Lokalisierung der Funktionen: Wo kann man in __________________ wohnen? Zeige es auf der Karte. Wie wurde es in die Karte gezeichnet?
Wo kann man sich in __________________ weiterbilden? Zeige es auf der Karte. Wie wurde es in die Karte gezeichnet? Wo kann man in ______________________ einkaufen? Zeige es auf der Karte. Wie wurde es in die Karte gezeichnet? Wo kann man in ______________________ seine Freizeit verbringen? Zeige es auf der Karte. Wie wurde es in die Karte gezeichnet?
Subjektive Wahrnehmung: Welche Orte fanden die Leute, die du befragt hast, schön in__________________? Zeigt sie auf der Karte. Warum finden die Leute diese Orte schön? Welche Orte fanden die Leute, die du befragt hast, nützlich in__________________? Zeigt sie auf der Karte. Warum finden die Leute diese Orte nützlich? Welche Orte fanden die Leute, die du befragt hast, hässlich in__________________? Zeigt sie auf der Karte. Warum finden die Leute diese Orte hässlich?
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LITERATUR Allport, G. W. (1954). The nature of Prejudice. Boston, Mass.: Beacon Press. BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (2016). Aktuelle Zahlen zu Asyl. Verfügbar unter: http://www.bamf.de/DE/Infothek/Statistiken/Asylzahlen/AktuelleZahlen/aktuelle-zahlen-asyl -node.html [05.04.2017]. Budke, A. & Weiss, G. (2014). Sprachsensibler Geographieunterricht. In M. Michalak (Hrsg.), Sprache als Lernmedium im Fachunterricht. Theorien und Modelle für das sprachbewusste Lehren und Lernen (S. 113–133). Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren. DGfG - Deutsche Gesellschaft für Geographie (2014). Bildungsstandards im Fach Geographie für den Mittleren Bildungsabschluss mit Aufgabenbeispielen. Bonn: Selbstverlag DGfG. Esser, H. (2006). Sprache und Integration. Die sozialen Bedingungen und Folgen des Spracherwerbs von Migranten. Frankfurt am Main: Campus Verlag. Hemmer, M., Hemmer, I., Hüttermann, A. & Ullrich, M. (2010). Kartenauswertekompetenz ‒ Theoretische Grundlagen und Entwurf eines Kompetenzstrukturmodells. Geographie und ihre Didaktik, 38 (3), 158–171. Ibaidi, S. (1993). Soziales Verhalten in Gruppen: Zur Frage der sozialen Distanz und psychologischer Befindlichkeit ausländischer und deutscher Studenten in Deutschland. Mikrofiche: Berlin. Morawski, M. & Budke, A. (2017). Language Awareness in Geography Education – An Analysis of the Potential of Bilingual Geography Education for Teaching Geography to Language Learners. European Journal of Geography, 7 (5), 61–84. Thierer, A. (2008). Fremdverstehen im Geographieunterricht – Theoretische Überlegungen und unterrichtspraktische Folgerungen. In A. Budke (Hrsg.), Interkulturelles Lernen im Geographieunterricht (S. 137–149). Potsdamer Geographische Forschungen 27. Potsdam: Universitätsverlag Potsdam.
ORTE AUF ZEIT – ILLEGAL REFUGEE CAMPS IN EUROPE. WANDLUNGSPROZESSE ANHAND DES GRIECHISCHEN ORTS IDOMENI IM RAHMEN EINES ZWEISPRACHIGEN UNTERRICHTSKONZEPTS VERSTEHEN Pola Serwene
1. EINLEITUNG Das Unterrichtskonzept thematisiert das im Rahmen der Flüchtlingskrise 2015/2016 an der griechisch-mazedonischen Grenze entstandene Flüchtlingscamp in Idomeni/Griechenland. Inhaltlich sollen die Lernenden den Wandlungsprozess dieses Ortes erfassen sowie Wandlungsmomente erkennen (vgl. Taylor, 2008, S. 51). Es wird vermittelt, wie Gesetze der Europäischen Union, Hoheitsentscheidungen einzelner Staaten oder das Unterzeichnen der Genfer Flüchtlingskonventionen räumliche Wandlungsprozesse beeinflussen. Besonders für das fachliche Lernen im bilingualen Geographieunterricht lohnt es sich, über das Verhältnis zwischen Umgebungs- und Zielsprache im Unterricht nachzudenken. Da die Zahl der SchülerInnen mit einer anderen Erstsprache als Deutsch zugenommen hat, drängt sich die Frage auf, wie der Erwerb der Schulsprache Deutsch im Fachunterricht gesichert werden kann, wenn er bilingual erteilt wird. (vgl. Diehr, 2016, S. 62). Diese Unterrichtskonzeption verfolgt die Idee einer integrativen Didaktik, um fachliches Lernen in beiden Sprachen möglich zu machen. Methodisch sollen die Lernenden den Wandlungsprozess in Idomeni durch die Methode des Strukturlegens begreifen (vgl. Bernhart & Bernhart, 2007, S. 33). Die Lernenden erhalten die zu legenden Begriffe und Informationen in zwei Sprachen (Deutsch/Englisch). Der Sprachwechsel während des Strukturlegens ist didaktisch angeleitet und die Darbietung der Informationen auf Deutsch erfüllt eine kognitive Funktion für das fachliche Lernen (vgl. Frisch, 2016, S. 92). Das systemische Denken der Lernenden soll durch die Methode des Strukturlegens unterstützt werden und ihnen ein Verständnis der hohen Komplexität verschiedener politischer, geopolitischer und medialer Wirkungsbereiche an diesem Beispiel vermitteln (vgl. Rieß et al., 2015, S. 16).
2. WANDEL – EIN GEOGRAPHISCHES KONZEPT Das im Rahmen der Unterrichtskonzeption zu vermittelnde Verständnis von Wandel ist angelehnt an das Basiskonzept change von Taylor (vgl. Taylor, 2008, S. 51). Taylor versteht unter Konzepten Klassifizierungsmuster, die eine unendlich diverse
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Welt in handhabbare Einheiten unterteilen (vgl. Taylor, 2011, S. 11). In Taylors Definition des Konzepts Wandel ist dieses eng verknüpft mit der Zeitdimension. Sowohl in der Physischen sowie in der Humangeographie beschäftigen wir uns mit Veränderungsprozessen und deren möglicher Steuerung (vgl. Taylor, 2011, S. 8). Zum besseren Verständnis von Wandel formuliert Taylor mögliche Leitfragen (siehe Tab. 1). Taylors Verständnis von Wandel ist hinsichtlich der Zeitdimension vergleichbar mit der Systemkomponente „Prozess“ der Basiskonzepte der Analyse von Räumen im Fach Geographie aus den Bildungsstandards des Faches Geographie (vgl. DGfG, 2008, S. 11). Im Wesentlichen lassen sich sieben Komponenten des Konzepts Wandel identifizieren: Zeit, Dynamik, Materialität, Prozess, Bedeutung, Distanz und Akteure, die geographische Relevanz haben. Die genannten Komponenten sind an Taylors Anmerkungen zum Konzept change sowie der von Dodgshon entwickelten taxonomy of societal change angelehnt (vgl. Dodgshon, 1998, S. 21). Die Komponente Zeit bezieht sich auf die zeitlichen Referenzpunkte Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, die gemeinsam den Zeitraum des Wandels definieren. In Taylors Konzeptverständnis spielen zukünftige Entwicklungen eine entscheidende Rolle. Ihre Leitfragen zeigen, dass es das Ziel ist, mögliche zukünftige Wandlungstendenzen zu entwickeln (vgl. Taylor, 2008, S. 51). Dynamik definiert in welcher Form der Wandlungsprozess stattfindet und ist eng mit Taylors Frage nach der Art und dem Ausmaß der Veränderungen verknüpft (vgl. Taylor, 2011, S. 9; siehe Tab. 1). Dodgshon charakterisiert Dynamik durch die Frage nach Kontinuität und Diskontinuität des Wandlungsprozesses. Ein weiterer Aspekt von Dynamik ist Intensität. Hierbei wird die Frage untersucht, wie stark oder schwach die Veränderung ist (vgl. Dodgshon, 1998, S. 47ff.). Die Komponente Materialität bezieht sich auf die Sinneswahrnehmung und erfasst alles Sichtbare, Hörbare, Fühlbare am Ort des Wandels. Der Prozess umfasst die Ursachen-Folgen-Beziehungen, welche den Wandlungsprozess beeinflussen. Hierbei ist es wesentlich, den Einfluss spezifischer Entscheidungen oder Ereignisse als Wandlungsmomente zu erkennen. Dodgshon nutzt zwei Beschreibungsgrößen, um das Prozesshafte eines Wandels zu analysieren. Er spricht von der Quelle des Wandels (Ursache) und dem Produkt des Wandels (Folge/ Ergebnis) (vgl. Dodgshon, 1998, S. 29). Bedeutungswandel wird identifiziert, wenn sich die Funktionalität eines Ortes durch den Wandlungsprozess verändert hat. Distanz ist neben der Dimension Zeit ein weiterer Vergleichspunkt. Um Wandlungsprozesse zu erfassen, kann die Zeitkomponente mit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft oder die Distanz in Metern oder Kilometern gewählt werden. Eine weitere Rolle spielen die Akteure in einer Phase der Veränderung, da sie durch ihr Handeln Wandlungsmomente auslösen und beeinflussen.
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Tab. 1: Komponenten des Konzepts Wandel (Quelle: vgl. Taylor, 2011, S.9, eigene Darstellung)
Komponenten des Taylors Leitfragen zum Konzept Wandel Konzepts Wandel Angepasst an das Beispiel Idomeni – illegal refugee camp Zeit Wie und warum war es in der Vergangenheit anders?
How has Idomeni been like in the past? Why has it been different in the past?
Was könnte in der Zukunft anders sein? How might Idomeni been different in the future? Welche der unterschiedlichen Möglichkeiten für die Zukunft sind möglich/wünschenswert? Dynamik
Welcher Art waren und welches Ausmaß haben Veränderungen?
Did the change take place over a short or long period of time? Was it a regular or an irregular change?
How did Idomeni look like in the past? How does it look like today? How did the function of the train station Idomeni change?
Materialität
Prozess
Which of the future paths are more desirable for that place?
Welcher Art waren und welches Ausmaß haben Veränderungen? Warum war es in der Vergangenheit anders?
What are the reasons for the change? What kind of effects followed?
Bedeutung
How did the function of the train station Idomeni change?
Akteure
Who is involved? How did the involved persons influence the change of Idomeni?
3. IDOMENI – SCHANDFLECK DER EUROPÄISCHEN UNION? Idomeni ist ein kleines griechisches Dorf an der mazedonischen Grenze mit ca. 154 Einwohnern (vgl. Census Griechenland, 2011). Relevant ist, dass Idomeni einen Grenzbahnhof zur Republik Mazedonien an einer wichtigen europäischen Bahnstrecke hat. Seit 2014 kommen Geflüchtete aus Syrien, Afghanistan und vielen anderen Ländern nach Idomeni, um dort die Grenze zu Mazedonien auf ihrem Weg nach Mittel- und Nordeuropa zu überqueren. Idomeni liegt auf der sogenannten westlichen Balkanroute (vgl. Reimann, 2015). Nach der stufenweisen Schließung der Balkanroute im Februar 2016, hat die mazedonische Regierung mit dem Bau eines Zauns im März 2016 die griechisch-mazedonische Grenze geschlossen. Es
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entstand in kürzester Zeit ein provisorisches Zeltlager für Geflüchtete in Idomeni. Es stauten sich bis zu 14.000 Menschen an der griechisch-mazedonischen Grenze und die Region um Idomeni entwickelte sich zu einem humanitären Krisengebiet (vgl. Jacobsen, 2016). Im Mai 2016 begann die griechische Regierung mit der Räumung des Lagers und brachte die Geflüchteten in Auffanglager im Landesinneren. Es soll nun der Wandel in Idomeni anhand der Komponenten des Konzepts nach Taylor (2011) skizziert werden (siehe Tab. 1). Im Rahmen des Unterrichtsbeispiels wurde die zeitliche Komponente als Vergleichspunkt gewählt. Die Zeitdimension erfasst den Ort Idomeni zunächst in der Vergangenheit als kleines, griechisches Dorf mit einem Grenzbahnhof an der mazedonischen Grenze (siehe M1). Als Gegenwartsmoment wurde das improvisierte Zeltlager für Geflüchtete gewählt (siehe M2). Wesentliche Prozesse, welche den Wandel in Idomeni steuern, lassen sich auf verschiedenen Maßstabsebenen (national, überregional und international) feststellen. Beispielsweise vertrauen einzelne Staaten der Europäischen Union (Slowenien und Österreich) der Sicherung der gemeinsamen Außengrenze des SchengenRaums nicht mehr und schließen ihre Grenzen zum nationalen Schutz. Es werden ab März 2016 keine Geflüchteten über die Westbalkanroute nach Mitteleuropa gelassen. Die Geflüchteten stranden in Griechenland (vgl. Smith, 2016). Die Europäische Union hat zwar theoretisch ein gemeinsames europäisches Asylsystem, es zeigen sich aber Probleme bei der Umsetzung, besonders bei den eklatant differierenden Anerkennungsquoten der Geflüchteten. Beispielsweise werden afghanische Asylsuchende zu 95% in Italien und Dänemark anerkannt und nur zu 20% in Rumänien (vgl. Schammann, 2015). Darüber hinaus gilt seit der Dublin-III-Verordnung von 2013, dass ein Geflüchteter in dem Staat um Asyl bitten muss, in dem er den EU-Raum erstmals betreten hat (vgl. Chischinger, 2015). Aus diesem Grund ist die Westbalkanroute immer noch eine der beliebtesten Routen nach West- und Nordeuropa, da sie es ermöglicht, Länder mit hohen Anerkennungsquoten eher zu erreichen. Es zeigt sich deutlich, dass der Wandel in Idomeni sehr komplexe Ursache-Folge-Beziehungen aufweist und nur einzelne Ursache-Folge-Beziehungen im Unterricht thematisiert werden können. Wesentliche Wandelmomente sind die Entscheidungen einzelner Staaten über das Schließen ihrer Grenzen und damit einhergehend die Verlagerung der Bewältigung der Migration nach Europa an Staaten, die nicht ohne weiteres ihre Grenzen schließen können wie Griechenland und Italien. Darüber hinaus ist Griechenland Unterzeichner der Genfer Flüchtlingskonvention sowie Mitglied der EU und muss sich somit an die Dublin-III-Verordnung halten, was zur Konsequenz hat, dass Griechenland allen ankommenden Geflüchteten ein Asylverfahren ermöglichen muss. Der Wandlungsprozess in Idomeni kann als schnell und diskontinuierlich beschrieben werden. Eine wesentliche Erkenntnis, die an diesem Beispiel verstanden werden kann, ist der Bedeutungswandel. Idomeni hat nicht nur medial einen Bedeutungswandel von einem unbekannten griechischen Ort zum „Schandfleck der europäischen Union“ (Zitat M. Schulz in Jacobsen, 2016) vollzogen, sondern auch die Funktionalität hat sich verändert. Idomeni war ein Transitpunkt im europäischen Verkehrsnetz und dann ein Auffanglager für 12.000 Menschen (vgl. Christides, 2016).
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4. ZWEISPRACHIGKEIT – DIDAKTISCH INSZENIERT Der bilinguale Unterricht hat sich vermehrt dahingehend entwickelt, dass dort wie im Fremdsprachenunterricht Einsprachigkeit gilt, obwohl in der Wissenschaft Einigkeit darüber besteht, dass im bilingualen Sachfachunterricht eine „doppelte Sachfachliteralität“ auszubilden sei (vgl. Vollmer, 2005, S. 134; vgl. KMK, 2013, S. 7). Aktuell zeigt sich, dass die intendierte Zweisprachigkeit des bilingualen Sachfachunterrichts stark aus dem Blickfeld geraten ist. Die Notwendigkeit den bilingualen Unterricht konzeptuell zweisprachig weiterzuentwickeln, erwächst einerseits aus einer Ausweitung des bilingualen Angebots und andererseits aus einer größeren Heterogenität der teilnehmenden Schülerschaft (vgl. Diehr, 2016, S. 62). Eine Idee dieser didaktischen Herausforderung zu begegnen ist einen verstärkt zweisprachigen Sachfachunterricht durchzuführen (vgl. Diehr, 2016, S. 64). Otten und Wildhage sprechen in diesem Zusammenhang von einem Konzept der „funktionalen Mehrsprachigkeit“, bei welcher der Wechsel zwischen den beteiligten Sprachen eine wichtige Funktion bei der Durchdringung der sachfachlichen Themen und Inhalte erfüllt (vgl. Otten & Wildhage, 2003, S. 31). Eine Frage, die sich im Rahmen der Zweisprachigkeit im bilingualen Unterricht stellt, ist die Funktion von Sprachwechsel und dessen Effekte auf das Lernen. „Sprachwechsel unterscheidet sich im Grad der Geplantheit, Systematik, Reflektiertheit und ihrer Zielorientierung“ (vgl. Frisch, 2016, S. 91). Frisch leitet fünf Funktionen von Sprachwechsel im bilingualen Sachfachunterricht ab: kognitive, kommunikative, zeitökonomische, affektive und pädagogische Gründe (vgl. Frisch, 2016, S. 93). In diesem Unterrichtskonzept wird die kognitive Funktion des Sprachwechsels genutzt. Bei dieser Form des Sprachwechsels geht es um die Überwindung inhaltlicher Herausforderungen (vgl. Frisch, 2016, S. 92). Eine weitere Spezifizierung der zweisprachigen Materialien liegt darin, dass den Lernern die gleichen Sachverhalte in zwei Sprachen dargeboten werden. Dabei wird der gleiche Inhalt dargeboten, ohne dass es sich um Übersetzungen handelt. Die Lernenden werden gezielt angeleitet, wann sie in welcher Sprache und mit welchen Materialien arbeiten sollen. Es findet keine unsystematische Zweisprachigkeit statt, bei welcher die Lerner eigenständig eine Sprache für die Bearbeitung der Aufgabe auswählen können, sondern der Sprachgebrauch ist zielorientiert und wird reflektiert didaktisch eingesetzt.
5. UNTERRICHTSKONZEPTION Das Unterrichtsbeispiel ist dem Themenkomplex Bevölkerung und Migration zugeordnet und für den bilingualen Geographieunterricht ab der 10. Jahrgangsstufe konzipiert. Das Ziel besteht darin, den Lernenden einen räumlichen Wandlungsprozess anhand eines aktuellen und schülernahen Beispiels zu vermitteln und aufzuzeigen, wie politische Entscheidungen und rechtliche Vorgaben räumliche Wandlungsprozesse nach sich ziehen. Idomeni steht exemplarisch für einen rapiden, komplexen und stark sichtbaren Wandel. Die Leitfrage des Unterrichtskonzepts
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lautet: Vom Grenzbahnhof zum Flüchtlingslager – what has led to the changes in Idomeni? Folgende Vorkenntnisse benötigen die Lernenden, um die Aufgabe zu bewältigen. Die Aufgabe bedarf einer gut ausgebildeten, räumlichen Orientierung in Europa. Dazu zählen im Besondern die Lage Griechenlands sowie die der Westbalkanroute. Die Lernenden sollten die Länder der Europäischen Union kennen sowie die Herkunftsländer der Geflüchteten.
5.1 Einstieg – How and why has it been different in the past? Der Einstieg erfolgt über sogenannte vision frames. Vision frames strukturieren den Prozess der detaillierten Beschreibung und Interpretation von Bildern (vgl. Taylor, 2004, S. 6). Das erste gewählte Bild zeigt den Bahnhof von Idomeni bevor dieser zu einem improvisierten Flüchtlingslager wird. Ein vision frame wird unterstützt durch eine Reihe von Fragen, welche die Beschreibung und Interpretation leiten (siehe Abb. 1). In diesem Fall sind alle eher objektiven Fragen in englischer Sprache und alle persönlicheren, subjektiven Fragen in Deutsch gestellt. Dies wurde bewusst gewählt, um den Lernenden die Möglichkeit zu geben, ihre Gefühle zu dem Bild in ihrer Umgebungssprache zu äußern. Der Einstieg in die Thematik wird erweitert durch einen vision frame, welcher den Bahnhof von Idomeni zum Zeitpunkt des Auffanglagers im April 2016 zeigt (siehe M2). Die Arbeit mit dem Bild wird mit den gleichen Fragen in Englisch und Deutsch begleitet. Aufgrund der Tatsache, dass die Bilder die gleiche Perspektive auf den Bahnhof zeigen, erkennen die Lernenden schnell, dass es sich um denselben Ort handelt. Es drängen sich Fragen auf, wie dieser Wandel in so kurzer Zeit möglich war und welche Ursachen er hatte. Bezogen auf das Konzept Wandel wird mit dem Einstieg die Materialität des Ortes in den Blick genommen und ein Bewusstsein für die Veränderungen geschult. Im nächsten Schritt bedarf es einer Verortung von Idomeni. Hierbei sind folgende Aspekte wesentlich: die Lage Idomenis an der mazedonischen Grenze und Idomeni als ein wichtiger Ort auf der Westbalkanroute für Immigration in die EU. Im nächsten Schritt kann der Frage nachgegangen werden, wie es zu dieser Veränderung kam.
5.2 Strukturlege-Technik – what has led to the changes in Idomeni? Die Kernaufgabe des Unterrichtskonzepts besteht darin die Ursache-Folge-Beziehungen, die den Wandel in Idomeni verursacht haben, mit Hilfe der StrukturlegeTechnik zu visualisieren. Hierbei werden den Lernenden die 17 Informationskarten in zwei Sprachen (Deutsch/Englisch) dargeboten (siehe M3 & M4). Die einzelnen Phasen des Strukturlegens werden durch einen regelmäßigen Sprachwechsel begleitet, wobei die Lernenden immer nur eine Sprache, mündlich wie schriftlich, zu einer Zeit verwenden (siehe Tab. 2). Die Phase des Strukturlegens erfolgt in Part-
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nerarbeit. Das Schülerpaar arbeitet zunächst in Einzelarbeit mit jeweils einer Version der Karten (Englisch oder Deutsch) (siehe M3 & M4). Hierbei geht es darum, die Informationskarten inhaltlich zu verstehen. Es bietet sich an, leistungsstärkeren Lernenden die englische Version der Informationskarten und leistungsschwächeren SchülerInnen die deutsche Version zu geben. Um die räumliche Orientierung zu unterstützen, sollte den Lernern eine Landkarte der Balkanregion zur Verfügung gestellt werden1. Im nächsten Schritt sollen die beiden Kartensätze zusammengefügt werden. Für jede englische Karte gibt es eine deutsche Variante (siehe Abb. 3). In der Matching-Phase zeigt sich eine intensive Auseinandersetzung mit dem Lerngegenstand (siehe Tab. 2). Im nächsten Schritt sollen die Lernenden Kategorien für die Sortierung der Karten entwickeln. Diese Phase erfolgt mit dem deutschen Kartensatz und in deutscher Sprache. Das Entwickeln von Kategorien erfordert komplexe Denkstrategien, welche von den Schülern zunächst einfacher in deutscher Sprache zu bewältigen sind. Es folgt das Legen der Struktur. In dieser Phase soll mit dem englischen Kartensatz gearbeitet und in Englisch kommuniziert werden. Es hat sich als zielführend herausgestellt, den Sprachwechsel nicht nur über die dargebotenen Unterrichtsmaterialien vollziehen zu lassen, sondern auch die Sprache der Kommunikation zu wechseln und ausgewiesene Phasen der deutschen sowie englischen Gesprächsführung zu integrieren. Die Lernenden erhalten für die Phasen der Kommunikation in Englisch unterstützende Redemittel. Mit Hilfe der gelegten Strukturen wird eine Antwort zu der Leitfrage „What has led to the changes in Idomeni?“ in Kleingruppen präsentiert (siehe M5). Um wesentliche fachliche Aspekte der Thematik zu sichern, sollen die Lernenden anhand ihrer Struktur folgende Fragen beantworten: Why do EU-countries like Hungary, Slovenia or Bulgaria re-build fences as borders to stop refugees from entering? Why do refugees want to move on to Germany and not stay in Greece, Romania or Hungary? Why does Greece need to give shelter to all refugees and grant an asylum application? Why is a migrant leaving Idomeni via Macedonia and applying for asylum in Austria an illegal immigrant? Why do Greece, Italy or Spain have to handle more registration of refugees and asylum applications than Central Europe? Es erfolgt ein Zusammentragen der Aspekte im Plenum, mit dem Ziel die komplexen UrsacheFolge-Beziehungen des Wandlungsprozesses zu sichern. Um den Lernenden die Bewertung des Wandels zu erleichtern, sollen die SchülerInnen auf einer Positionslinie die einzelnen Komponenten des Konzepts Wandel beurteilen. Im Klassenraum wird eine imaginäre Linie gezogen und die Lernenden sollen sich auf dieser zu den jeweils von der Lehrkraft vorgelesenen Fragen positionieren. Einzelne Lerner sollen ihre Position im Anschluss begründen. Die gestellten Fragen lauten wie folgt: Did the change take place over a short or long period of time? Was it a regular or an irregular change? Did the appearance of the place change? (Yes/No) Did the meaning of Idomeni change? (Yes/No).
1
Mögliche Kartenquelle: „Die alten und neuen Fluchtrouten über den Balkan“. Verfügbar unter: http://www.spiegel.de/politik/ausland/bild-1058650-911513.html [03.04.2018].
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Tab. 2: Phasen der Struktur-Lege-Technik (eigene Darstellung)
Phase Lesen der Informationskarten
Verständnis
Matching
Kategorien entwickeln
Struktur legen
Prüfung der Struktur
Präsentation
Sprache Tätigkeit der SchülerInnen und Impuls / Aufgabe Englisch Jeweils ein Schüler / eine Schülerin liest die Karten in einer und Sprache Deutsch - Work on your own. - Read all cards and sort them to the catagories: I understand the information / I don’t understand the information. - Mark the words of information you don’t understand. Englisch Die SchülerInnen stellen sich gegenseitig ihre gelesenen Informationen in der von ihnen verwendeten Sprache vor und Deutsch - Work in pairs. - Explain your partner the cards you understood. Use the language the card is written in. Englisch Die SchülerInnen bringen die deutsche und englische Version der Karten zusammen und Deutsch - Match the German and English cards both of you understood. - Try to understand the information on the cards by reading the other version (English or German). - Match all cards and stick them together. Deutsch Die SchülerInnen entwickeln Kategorien für die Gruppierung der Karten - Arbeitet als Paar mit der deutschen Version. Ihr könnt auf Deutsch sprechen. - Überprüft, ob Beziehungen zwischen den Karten ersichtlich sind. - Entwickelt anhand der Karten Kategorien, die eure Karten strukturieren. - Schreibt diese Kategorien auf leere Karten und findet eine englische Übersetzung. Englisch Die SchülerInnen entwickeln eine Struktur der Karten - Put the given cards into a structure to answer the question above. Use the English version. - Speak in English with each other. - Use the catagories you developed. - Show the relation between the cards by using arrows. Deutsch Die SchülerInnen prüfen ihre gelegten Ursache-Folge-Beziehungen - Dreht die gelegte Struktur zur deutschen Version. - Prüft, ob Euch die Struktur auf Deutsch sinnvoll erscheint. Prüft die Ober- und Unterkategorien in der Struktur sowie die Beziehungen zwischen den Karten. - Klebt die gelegte Struktur auf ein A3-Papier in der englischen Version. Englisch Die SchülerInnen präsentieren ihre Struktur - Explain with the help of your structure the leading question. - Consider: reasons, effects and main events.
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Im abschließenden Schritt sollen die Lerner einen Text verfassen, in dem sie den Wandel in Idomeni erklären und die in der Unterrichtssequenz angesprochenen Komponenten von Wandel bewerten (siehe Tab. 3). Tab. 3: Aufgabenstellung Endprodukt (eigene Darstellung)
Orte auf Zeit – illegal refugee camps in Europe Preparing your writing: Summarise at least 5 slips of paper from your structure which you definitely need to answer the leading question. Main task: Explain the change in Idomeni. Consider the following aspects: time, process of change, extent of change, appearance of the place and function of the place. Consider the following questions: How has the change been like in Idomeni? What are the reasons for the change? Which effects followed? Who is involved? How does Idomeni look like today? 5.3 Wandlungsprozesse reflektieren Es besteht abschließend die Möglichkeit, die Lernenden einen vision frame für die Zukunft Idomenis erstellen zu lassen. Hierbei sollen die Lerner entweder ein Bild von Idomeni zeichnen oder ein geeignetes Bild aus dem Internet auswählen. In dieser Arbeitsphase ist es möglich über zukünftige Entwicklungen in Bezug auf Idomeni, illegale Zeltlager sowie Europas Flüchtlingspolitik zu reflektieren. Die Lernenden würden mit der Entwicklung der Zeichnung die markanten Wandlungsmomente der Vergangenheit abrufen und sie in Bezug auf zukünftige Entwicklungen bewerten. Auch die zukünftige Funktion Idomenis sowie das Erscheinungsbild könnten diskutiert werden.
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MATERIALANHANG M1:
M2:
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SCHLEPPER – KRIMINELLE BANDEN ODER HELFER IN DER NOT? EIN VIERSTÜNDIGER UNTERRICHTSENTWURF FÜR DIE SEKUNDARSTUFE II Holger Wilcke
1. „SCHLEPPERN DAS HANDWERK LEGEN.“ – EINE HEGEMONIALE PERSPEKTIVE HINTERFRAGEN „Wir wissen die Situation der Flüchtlinge ist dramatisch in Libyen und deswegen müssen wir auch so vorgehen, wie wir es auch im Zusammenhang mit der Türkei gemacht haben: Illegalität unterbinden, Schmugglern und Schleppern das Handwerk legen und die Situation der Flüchtlinge verbessern“ (Angela Merkel am 03.02.2017 beim EU-Gipfel auf Malta).
Eine solche Aussage, wie von Angela Merkel am 03.02.2017 in Valetta getroffen, ist so oder in ähnlichen Worten immer wieder von RegierungsvertreterInnen aus dem Schengenraum zu vernehmen. Und auch in den Medien wird diese Figur der „skrupellosen Schlepper“ immer wieder bedient. Die Bild schreibt in Bezug auf den EU-Gipfel auf Malta, dass es das Ziel sei, „die Schlepper zu stoppen, die in Kauf nähmen, dass jährlich hunderte Flüchtlinge im Mittelmeer ertrinken“ und zwar „auch im Interesse der Flüchtlinge“ (vgl. Schuler, 2017). Aber nicht nur in den Boulevardmedien taucht dieser Topos auf. Auch die FAZ schreibt, dass „die libysche Küstenwache [...] so schnell wie möglich so ausgebildet und ausgerüstet werden [soll], dass sie von Schlepperbanden organisierte Überfahrten in Richtung Europa verhindern kann“ (vgl. dpa, 2017a). Und auch in der taz ist in der Berichterstattungen davon zu lesen, dass „mit Hilfe von Kriminellen mehr als 180.000 Menschen über die zentrale Mittelmeerroute nach Europa“ kamen und dass „Tausende weitere ertranken, weil ihre nicht seetüchtigen Boote kenterten“ (vgl. dpa, 2017b). Die Argumentation, dass allein „die Schlepper“ die Schuld am Ertrinken von Menschen im Mittelmeer, im Atlantik und in der Ägäis haben, da sie die Menschen die nach Europa wollen in überfüllten und nicht hochseetauglichen Booten transportieren und damit ihr Leben auf Spiel setzen, ist in der öffentlichen Auseinandersetzung hegemonial und wird nur selten hinterfragt. Genau das ist das Ziel der Unterrichtseinheit, die in diesem Beitrag skizziert wird: Unterschiedliche Perspektiven auf den Gegenstand sichtbar machen und den SchülerInnen damit andere Interpretationsangebote liefern, um eine differenzierte Auseinandersetzung mit und politische Beurteilung von Fluchthilfe und aktueller europäischer Migrationspolitik zu ermöglichen.
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2. DIE PERSPEKTIVE AUF MIGRATION Es gilt zunächst eine kritische Perspektive auf die unterrichtliche Behandlung des Themas „Migration“ einzunehmen. Noch zu oft wird in geographiedidaktischen Beiträgen und dazugehörigen Unterrichtsentwürfen lediglich nach den Ursachen und Gründen der Wanderungsprozesse (vgl. Renz, 2007, S. 19; Gerber, 2008, S. 3f., van der Ruhren, 2009, S. 3) oder nach den Auswirkungen und Möglichkeiten für die Herkunfts- und Ankunftsgesellschaften (vgl. Sprenger & Nienaber, 2014, S. 26ff.; Korby, 2014, S. 30f.; Jürgens, 2011, S. 31) gefragt.1 Dabei werden in der internationalen Migrationsforschung längst andere Fragen gestellt: Zentral ist nun nicht mehr das Warum2, sondern zunehmend das Wie (vgl. Pries, 2001). Eine transnationale Perspektive lenkt den Fokus weg von überholten Ansätzen (neo)klassischer und mikroökonomischer Migrationstheorien (vgl. Kraler & Parnreiter, 2005, S. 328) hin zu einem Verständnis von Migration als Prozess, in dem Wanderungsbewegungen entlang von sozialen Bindungen verlaufen und entstehende transnationale Räume neue Identitäten und Lebensformen hervorbringen (vgl. Glick Schiller et al., 1992, S. 10). Diese Perspektivverschiebung führte in der Migrationsforschung zu einer reflexiven Wende (vgl. Kraler & Parnreiter, 2005; Nieswand & Drotbohm, 2014), bei der die bis dahin gängigen Annahmen, Vorstellungen, Konzepte und Kategorien selbst in den Fokus geraten und kritisch hinterfragt werden (vgl. Hyndman, 2012, S. 244). Zudem bleibt eine transnationale Perspektive nicht im methodologischen Nationalismus, bei dem der Nationalstaat den unhinterfragten Ausgangspunkt der Analyse darstellt und Gesellschaft und Kultur deckungsgleich mit dem nationalstaatlichen Territorium gedacht werden, gefangen (vgl. Glick Schiller et al., 1992; Wimmer & Glick Schiller, 2002). Denn transnationale Migration bringt neue Lebensweisen und -entwürfe mit sich, die einen transnationalen, sozialen Raum über nationalstaatliche Grenzen hinweg formieren. Damit werden MigrantInnen als aktiv handelnde Subjekte verstanden, was den Blick auf Bewegungen und entstandene Sozialräume lenkt und eine eigene und neue Betrachtungsweise hervorbringt (vgl. Nyers & Rygiel, 2012, S. 5). Mit dem Konzept der „Autonomie der Migration“ lässt sich diese Perspektive weiter konkretisieren. Zentral ist dafür der Begriff des „Regimes“3, welcher es erlaubt,
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Gleichzeitig gibt es auch Ausnahmen. Herbert Pichler beispielsweise kritisiert ebenfalls, dass „die öffentlichen und politischen Diskurse […] von der ‚Problemperspektive‘ dominiert“ werden (vgl. Pichler, 2010, S. 24). Auch Verena Sandner Le Gall und Samuel Mösser kritisieren die Perspektiven der klassischen Migrationsforschung und plädieren für ein Verständnis von Migration als sozialem Prozess (vgl. Sandner Le Gall & Mösser, 2009, S. 4ff.). Aus der Frage nach der Ursache für Migration leitet sich nicht selten der kontrollpolitische Anspruch der Verhinderung oder zumindest der Verminderung und Steuerung der Migration ab, womit deutlich wird, wie sehr Migrationsforschung und staatliche Migrationskontrolle in einer Wechselbeziehung zueinander stehen (vgl. Wilcke, 2017, S. 12f.). Das Konzept bezieht sich dabei weniger auf eine politikwissenschaftliche Lesart, wie sie beispielsweise in der Regimetheorie der „Internationalen Beziehungen“ zu finden ist (vgl. Keohane, 1984), als vielmehr auf transdisziplinäre Überlegungen kritischer MigrationswissenschaftlerInnen (vgl. FFM, 1995).
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die widersprüchlichen und konflikthaften Wechselbeziehungen zwischen staatlichen Kontrollpraktiken und den vielfältigen Migrationsprojekten als Ausgangspunkt eines veränderbaren Kompromisses sozialer und politischer Auseinandersetzung zu denken (vgl. Hess & Karakayali, 2017, S. 26f.). Diskurstheoretische Überlegungen ermöglichen es, die unterschiedlichen Darstellungsformen von Migration in die Analyse des Grenz- und Migrationsregimes einzubeziehen. Diskurse sind nach Michel Foucault „als Praktiken zu behandeln, die systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen“ (vgl. Foucault, 1981, S. 74). Ihre spezifische Machtwirkung besteht in der Produktion einer bestimmten sozialen Wirklichkeit. Wenn Angela Merkel darüber spricht, dass den „Schmugglern und Schleppern das Handwerk [zu] legen“ ist, um so „die Situation der Flüchtlinge [zu] verbessern“, wird damit eine solche soziale Wirklichkeit produziert. Die diskursive Figur „des Schleppers“ scheint für die europäische Migrationspolitik dabei von zentraler Bedeutung zu sein. Sie ist aber keineswegs neu, sondern zieht sich durch den Prozess der Europäisierung. Bereits in den 1980er Jahren berieten PolitikerInnen in ersten europäischen Zusammenschlüssen, wie z.B. der TREVI-Gruppe4, über gemeinsame Migrationspolitiken und die Bekämpfung von organisierter Kriminalität und Terrorismus (vgl. Hess & Tsianos, 2007, S. 28f.). In den 1990er Jahren fanden in Wien, Berlin und Budapest internationale Konferenzen statt, auf denen u.a. ein Maßnahmenkatalog von Carrier Sanctions beschlossen wurde (vgl. FFM, 1995, S. 22). Koordiniert wird die Kriminalisierung klandestiner Grenzübergänge und deren Unterstützung auf europäischer Ebene durch das Schengener Durchführungsabkommen und das im Anschluss geltende Dubliner Übereinkommen. Wie zentral die Figur „des Schleppers“ im Diskurs um europäische Migrationspolitiken ist, wird deutlich, wenn die organisierte, grenzüberschreitende Kriminalität und illegale Migration neben dem internationalen Terrorismus zu den zentralen Bedrohungen Europas konstruiert werden.5 Gerade die Parallelisierung der Begriffe „Migration“ und beispielsweise „organisierte Kriminalität“ hilft bei der Konstruktion einer Bedrohung. Damit soll keineswegs geleugnet werden, dass es tatsächlich FluchthelferInnen gibt, die ihre Dienste entlang kapitalistischer Verwertungslogiken ausrichten und dabei auch den Tod von Geflüchteten einkalkulieren (vgl. Anderl & Usaty, 2016, S. 22). Doch die Erzählungen über „Schlepper“ fokussieren in der Regel nicht auf die Aufklärung konkreter Geschehnisse, zumal die Vorstellung von großen, mafiösen Strukturen schlicht nicht zutrifft, da das Gros von Fluchthilfeaktivitäten entlang von losen Netzwerken verläuft, die ihre Dienstleistungen auf einem Markt anbieten (vgl. Neske, 2007; Dietrich, 2005).
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TREVI = Terrorisme, Radicalisme, Extremisme, Violence International – „eine informell unter höchster Verschwiegenheit tagende Runde aus Polizeichefs und hohen Beamten der Innenministerien“, sowie deren MinisterInnen, die sich bereits seit 1976 regelmäßig trafen (vgl. Hess & Tsianos, 2007, S. 28f.). Anlässlich des 50. Jahrestages der Römischen Verträge heißt es beispielsweise in der Berliner Erklärung der EU: „Wir werden den Terrorismus, die organisierte Kriminalität und die illegale Einwanderung gemeinsam bekämpfen“ (vgl. Berliner Erklärung, 2007).
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Die Kriminalisierung von Fluchthilfe erfüllt dabei eine besondere Funktion, denn die diskursive Figur „des Schleppers“ stellt ein entscheidendes Legitimationsvehikel bestimmter Politiken der Ausgrenzung dar, welche die Hürden der Einwanderung nach Deutschland und in den Schengenraum für bestimmte Gruppen nahezu unüberwindbar werden ließ und lässt. Gleichzeitig sind es diese Hürden, die Menschen dazu zwingen, auf ihrem Weg nach Europa Fluchthilfe in Anspruch zu nehmen (vgl. Watson, 2015, S. 42). Nur kaschiert die Fokussierung auf die „skrupellosen Schlepper“ und „kriminellen Schleuser“ die eigentlichen Ursachen der „tödlichen“ Grenzen Europas: Die restriktiven europäischen Migrationspolitiken (vgl. Menschick, 2014, S. 52). Das Offensichtliche wird dabei ignoriert: Legale Einreisemöglichkeiten wären die einfachste Lösung, wenn es darum ginge, „den Schleppern“ das Handwerk zu legen und die Situation von Geflüchteten zu verbessern (vgl. Anderl & Usaty, 2016, S. 21f.).
3. DIDAKTISCHE ANALYSE UND REDUKTION Das Thema des im Folgenden skizzierten, vierstündigen Unterrichtsentwurfs lautet „Schlepper – Kriminelle Banden oder Helfer in der Not?“ und hat das Ziel, die hegemoniale diskursive Figur „des Schleppers“ zu dekonstruieren und unterschiedliche Perspektiven sichtbar(er) zu machen, um eine differenzierte Urteilsbildung zu ermöglichen. Unter Dekonstruktion wird dabei das Aufzeigen unterschiedlicher, gesamtgesellschaftlich weniger wahrgenommener Perspektiven und das Hinterfragen und Irritieren von vermeintlich eindeutigen und unverrückbaren Wirklichkeiten und Wahrheiten verstanden (vgl. Morgan, 2002, S. 27; Gryl & Kanwischer, 2011, S. 187; Sitte, 2014, S. 29). Es wird weiterhin die Annahme getroffen, dass die Figur des „Schleppers“ eine solche diskursive Wirkmächtigkeit hat, dass sich die hegemoniale Sichtweise auf den Gegenstand auch bei den SchülerInnen durchgesetzt hat. Der Unterrichtsentwurf ist für die Sekundarstufe II konzipiert. Da das Themenfeld der Fluchthilfe kombiniert mit dem Anspruch ihrer Dekonstruktion eine hohe Komplexität aufweist, bedarf es einer Anpassung und didaktischen Reduktion. Die Komplexität des Themas soll an den vier konkreten Personen Harriet Tubman, Varian Fry, Hartmut Richter und Hanna L. verhandelt werden, die alle als „Schlepper“ agiert haben. Da die „Schlepperbanden“ und „kriminellen Schleuser“ in der hegemonialen Darstellung als gesichtslose Figuren erscheinen, soll so den verallgemeinernden Abstraktionen eine didaktische Konkretion entgegen gesetzt werden. Mit der Hilfe von Harriet Tubman und der Underground Railroad konnten zwischen 1850 und 1865 Menschen der Sklaverei in den amerikanischen Südstaaten entfliehen (vgl. Humez, 2004). Mehr als 1.000 Personen gelang 1941 die Flucht vor den NationalsozialistInnen durch Varian Fry und sein Rettungskomitee, welches von Marseille aus Überfahrten in die USA organisierte (vgl. Klein, 2007). Hartmut Richter verhalf zwischen 1970 und 1975 FreundInnen und Verwandten bei der Flucht aus der DDR in die BRD (vgl. Detjen, 2005). Durch die Hilfe von Hanna L. gelang es zwischen 2011 und 2013 270 Menschen aus der lebensbedrohlichen Lage
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in Syrien nach Deutschland zu fliehen (vgl. Buchen, 2014). Sie alle brachen Gesetze und setzten sich über die bestehende Ordnung hinweg, um anderen Menschen bei der Flucht zu helfen. Durch die Auseinandersetzung mit den vier Personen, ihren Hintergründen und Motiven sowie der konkreten historischen Situation, in der sie sich bewegten, kommt es zu einem ersten Moment der Dekonstruktion. Denn „die Schlepper“ bekommen ein Gesicht und einen Namen und ihre Motive werden sichtbar und für die SchülerInnen nachvollziehbar. Dadurch entsteht Irritation und die einfachen Erzählungen von „skrupellosen und kriminellen Schleusern“ werden hinterfragt. Die Irritation ist dabei eine wesentliche Bedingung für eine begründete Bewertung des zur Diskussion stehenden Themas durch die SchülerInnen (vgl. Rhode-Jüchtern, 2009, S. 91). Ein zweites Moment der Dekonstruktion entsteht durch den Kontrast des unterschiedlichen, aktuellen gesellschaftlichen Umgangs mit den vier Personen. Nach Harriet Tubman sind heute Schulen benannt und ab 2020 wird sie als erste Schwarze Frau auf dem 20-US-Dollar-Schein abgebildet sein (vgl. Calmes, 2016). Nach Varian Fry wurde in Berlin eine Straße benannt und er ist „Gerechter unter den Völkern“ (vgl. Yad Vashem, 2016). Hartmut Richter wurde für seine Taten 2012 das „Bundesverdienstkreuz am Bande“ verliehen (vgl. Hache, 2012). Hanna L. hingegen wurde im Sommer 2013 mit dem Vorwurf der „Einschleusung von Ausländern“ als „Kopf einer internationalen Schlepperbande“ angeklagt (vgl. Buchen, 2014, S. 14f.). Die unterschiedliche Behandlung wirft die Frage auf, warum ähnliche Handlungen zu einem gegensätzlichen Umgang mit den Personen führen. Diese Frage bleibt auch dann offen, wenn in Betracht gezogen wird, dass die anderen drei FluchthelferInnen zu ihrer Zeit ebenfalls kriminalisiert und erst im Nachhinein rehabilitiert wurden. Für die Analyse der unterschiedlichen Behandlung werden vier unterschiedliche Perspektiven betrachtet (vgl. Martin, 2011, S. 220f.): Eine kontrollpolitischstaatliche Argumentation, die Fluchthilfe als eine Straftat interpretiert; eine journalistische Perspektive, die den konkreten Fall von Hanna L. differenziert betrachtet; eine weitere journalistische Perspektive, welche zwischen damaligen Fluchthelfern und heutigen „Schleppern“ nicht nur semantisch unterscheidet; und eine diskurshinterfragende Interpretation, welche in der Kriminalisierung von Fluchthilfe eine wesentliche Funktion europäischer Migrationspolitik vermutet. Die unterschiedlichen Interpretationsangebote liefern den SchülerInnen eine Vielzahl von Sichtweisen auf denselben Kontext, was eine differenzierte politische Beurteilung von Fluchthilfe und dem gesellschaftlichen Umgang damit ermöglicht. Mit der politischen Beurteilung und Bewertung wird bereits ein konkreter Kompetenzbereich angesprochen, der mit dieser Unterrichtseinheit berührt wird. Inwieweit auch die Kompetenzbereiche Fachwissen, räumliche Orientierung, Methoden und Kommunikation berührt werden, wird im folgenden Kapitel entlang des Unterrichtsentwurfes konkretisierend dargelegt.
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4. DER UNTERRICHTSENTWURF Die vorgeschlagene Unterrichtseinheit besteht insgesamt aus 4 Stunden, die als zwei Doppelstunden konzipiert sind. Insgesamt besteht die Einheit aus vier Phasen, wovon drei in der ersten Doppelstunde und eine in der zweiten erfolgen, die im Folgenden näher vorgestellt werden. In jeder Phase werden unterschiedliche Kompetenzbereiche (vgl. DGfG, 2014) berührt, die in einer Tabelle am Ende des Abschnitts zusammenfassend dargelegt werden.
4.1 DER EINSTIEG Der Einstieg gelingt mit dem Titelblatt einer Tageszeitung aus dem Jahr 2015.6 Darauf zu sehen ist eine Todesanzeige für 400 Menschen, die bei dem Versuch der Überfahrt nach Europa vor der Küste Libyens ertrunken sind. Dieses Titelbild wird für alle ersichtlich an die Wand projiziert und die SchülerInnen werden aufgefordert, das Titelbild eine Minute auf sich wirken zu lassen. Im Anschluss sollen die SchülerInnen erste Impulse formulieren, die in einer entstehenden Mindmap an der Tafel gesichert werden. Hierbei sollen Emotionen und Überlegungen zu möglichen Hintergründen formuliert werden. Vor dem Hintergrund der medialen Präsenz der Figur des „Schleppers“, kann davon ausgegangen werden, dass die SchülerInnen diesen Themenkomplex selbst ansprechen. Der Einstieg hat bereits die Intention, die SchülerInnen miteinander ins Gespräch kommen zu lassen. Die Lehrperson tritt in dieser Phase mehr als ModeratorIn auf, welche die Äußerungen der SchülerInnen unkommentiert stehen lässt und höchstens weitere Impulse in Form von Fragen generiert. Insgesamt dient der Einstieg dazu ein differenziertes Bild über das Vorwissen und die Haltungen der SchülerInnen sichtbar zu machen. Mit der erstellten Mindmap werden zudem erste Ergebnisse gesichert, auf welche die SchülerInnen während der gesamten Einheit zurückgreifen können und auf die am Ende gezielt zurückgegriffen wird. Diese erste Phase entspricht den gängigen Ansprüchen an einen gelungenen Einstieg, da er einen Aktualitätsbezug aufweist, Vorwissen aktiviert sowie die SchülerInnen motiviert sich mit dem Thema auseinanderzusetzen (vgl. Köck & Stonjek, 2005, S. 74). Die aufgeworfene Frage, ob es sich bei „Schleppern“ nun um kriminelle Banden oder HelferInnen in der Not handelt, gibt zugleich einen Ausblick auf die kommenden Stunden, in denen diese Frage tiefergehend bearbeitet wird (vgl. Lach & Massing, 2007, S. 211).
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„400 Menschen – gestorben am 12. April 2015“. Verfügbar unter: http://www.taz.de/uploads/ images/684x342/S01-s1-bln-01.ebook-3.pdf__1_Seite_.jpg [07.06.2017].
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4.2 Vier FluchthelferInnen – eine Gruppenarbeit In der zweiten Phase der Einheit setzen sich die SchülerInnen in einer methodengleichen Gruppenarbeit mit „Schleppern“ auseinander, die zu unterschiedlichen Zeiten und in unterschiedlichen gesellschaftlichen Räumen Menschen bei ihrer Flucht unterstützten. Die SchülerInnen teilen sich dazu in vier Gruppen ein und bereiten auf Basis einer Internetrecherche eine Präsentation ihrer Figur vor. Ausgangspunkt dieser Recherche ist ein Blog7, auf dem grundlegende Informationen zu allen vier Personen, ihren Handlungen und den jeweiligen historisch-räumlichen Kontexten zu finden sind. Alle Gruppen haben die gleichen Arbeitsaufgaben. Die SchülerInnen sollen die zentralen Aussagen zu den jeweiligen Figuren, ihren „Schleppertätigkeiten“ und den gesellschaftlichen Bedingungen in denen sie leb(t)en zusammenfassen. Anschließend sollen sie die Handlungen vor dem Hintergrund der jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnisse diskutieren, in dem sie sich in unterschiedliche Rollen versetzen: Die der „SchlepperIn“, die des Flüchtlings und die der Kontrollinstitutionen, welche die „Schlepperei“ bzw. Fluchthilfe unterbinden wollen. Basierend auf den eigenen Wertevorstellungen sollen die SchülerInnen die „Schleppertätigkeiten“ in der Diskussion begründet bewerten. Zentral ist die dritte Aufgabe. Die SchülerInnen werden aufgefordert eine Präsentation vorzubereiten mit der die jeweilige Gruppe ihre Figur so vorstellt, dass die Thematik für die SchülerInnen der anderen Gruppen interessant, ansprechend und nachvollziehbar wird. Zur Visualisierung wird den Gruppen ein Plakat zur Verfügung gestellt, welches frei gestaltet werden kann. Die Aufgaben sind so aufgebaut, dass sie die drei Anforderungsbereiche Reproduktion (Zusammenfassen), Reorganisation und Transfer (Auswerten, Analysieren) als auch Reflexion und Problemlösung (Diskutieren, Begründen, Bewerten, Gestalten) ansprechen (vgl. Hieber, 2011, S. 13). Die Phase endet mit der gegenseitigen Vorstellung der Ergebnisse und einer abschließenden Diskussion über die Gemeinsamkeiten der vier Figuren und über die Bewertungen ihrer Aktivitäten seitens der SchülerInnen. Der Lehrkraft kommt in dieser Phase eine moderierende Rolle zu.
4.3 Der unterschiedliche Umgang mit FluchthelferInnen heute Die dritte Phase der Einheit ist zugleich auch als Abschluss für die erste Doppelstunde gedacht. Als PartnerInnenarbeit konzipiert, knüpft sie direkt an die Diskussion um die Ergebnisse der Gruppendiskussion an. Die Zusammensetzung der Zweierteams ist dabei unabhängig davon, in welchen Arbeitsgruppen die SchülerInnen zuvor gearbeitet haben. Jedes Teammitglied zieht eine Karte, die jeweils einen bewertenden Bezug auf eine der vier FluchthelferInnen nimmt (siehe Materialanhang M1–M11). Die Kar-
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Verfügbar unter: http://fluchthilfe.blogsport.eu/ [07.06.2017].
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ten bestehen dabei aus unterschiedlichen Arbeitsmaterialien (Bildquellen, Abbildungen, Zeitungsüberschriften, Textfragmente), die den Onlineauftritten größerer Tageszeitungen entstammen. Insgesamt gibt es elf unterschiedliche Materialien die je nach Klassengröße mehrfach ausgegeben werden können. Die Karten werden nach dem Zufallsprinzip verteilt und es ist gewollt, dass SchülerInnen in der Regel eine Karte bekommen, die auf eineN FluchthelferIn Bezug nimmt, zu der/dem sie nicht in der vorherigen Gruppenphase gearbeitet haben. Zudem ist zu beachten, dass jedes Zweierteam mit zwei unterschiedlichen Quellen arbeitet. Nach dem Prinzip des Think, Pair & Share (vgl. Kestler, 2015, S. 240) sollen die SchülerInnen in kurzer Einzelarbeit ihre Karte analysieren und sich dann im Zweierteam gegenseitig vorstellen. Zudem werden die SchülerInnen angehalten, den Umgang nach ihren eigenen Wertvorstellungen zu beurteilen. Anschließend stellt jede Gruppe ihre Karte im Plenum vor. Dabei wird deutlich, dass sich der gesellschaftliche Umgang mit Hanna L. von demjenigen mit Harriet Tubman, Varian Fry und Hartmut Richter unterscheidet. Die Lehrkraft leitet die Präsentation und anschließende Diskussion durch das Setzen von Impulsen, beispielsweise durch offene Fragen, weiterleitende Äußerungen oder zusätzliche Fakten. Ziel dieser Phase ist es, den SchülerInnen alle vier FluchthelferInnen mit ihren Motiven und Aktivitäten nahe zu bringen. Darauf aufbauend sollen die SchülerInnen in der Lage sein, den staatlich-öffentlichen Umgang mit den Personen zu benennen, zu vergleichen und zu diskutieren. Abschließend sollte es zu Vermutungen über die Gründe für den unterschiedlichen Umgang kommen.
4.4 Urteilsbildung Diese letzte Phase dient vorrangig der Urteilsbildung und zieht sich über die komplette zweite Doppelstunde. Als Einstieg werden die Erkenntnisse aus der letzten Doppelstunde im Klassengespräch wiederholt. Dazu werden die SchülerInnen aufgefordert, eineN FluchthelferIn und dessen/deren heutigen gesellschaftlichen Umgang mit ihm/ihr vorzustellen. Dabei sollte darauf geachtet werden, dass die jeweilige Person von dem Teil der Klasse vorgestellt wird, der in der Gruppenarbeitsphase nicht zu dieser Person gearbeitet hat. In Anschluss daran folgt eine weitere Gruppenarbeitsphase. Die SchülerInnen teilen sich dazu in vier neue Gruppen ein, die sich mindestens aus je einer SchülerIn der alten Arbeitsgruppen zusammensetzen sollen. Die vier Gruppen beschäftigen sich mit vier unterschiedlichen Perspektiven auf das Thema. Gruppe 1 setzt sich mit der realpolitischen Sichtweise auf „Schlepperkriminalität“ auseinander, zum einen mit einer Position des Bundesinnenministeriums8 und zum anderen mit einem
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Verfügbar unter: http://www.bmi.bund.de/DE/Themen/Sicherheit/Illegale-Einreise/IllegaleEinreise/illegale-einreise_node.html [07.06.2017].
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Statement der Bundesregierung9. Gruppe 2 bearbeitet einen journalistischen Text, der sich differenziert mit dem Fall von Hanna L. auseinandersetzt.10 Gruppe 3 arbeitet mit zwei Texten, die die Unterscheidung der Begrifflichkeiten „Fluchthilfe“ und „Schlepperei“ thematisieren. Dabei handelt es sich um einen journalistischen Artikel und um einen Beitrag eines ehemaligen DDR-Fluchthelfers11. Gruppe 4 arbeitet mit Texten zweier Autorinnen, die sich mit den Zusammenhängen zwischen europäischer Migrationspolitik und „Schlepperei“ bzw. Fluchthilfe auseinandersetzen.12 Alle Beiträge können von den SchülerInnen selbst als Onlinequelle genutzt werden. Es empfiehlt sich jedoch, die Texte an das Kompetenzniveau der SchülerInnen anzupassen und bearbeitet zur Verfügung zu stellen. Die Lehrkraft erläutert den Arbeitsauftrag: Die SchülerInnen in den Gruppen sollen ihre vorgegebenen Quellen lesen, Unklarheiten untereinander klären, ggf. Hilfsmaterialien hinzuziehen, wesentliche Aussagen und Argumente zusammenfassen, diese in einer gemeinsamen Diskussion in der Gruppe in Beziehung zu den bisherigen Diskussionen der Unterrichtsreihe bringen und dazu Stellung beziehen. Zudem erhalten sie den Arbeitsauftrag sich auf eine Talk-Show, also eine fiktive Debatte, vorzubereiten (vgl. Hankele, 2015, S. 21), in der sie die Perspektive und Rolle der jeweils auf ihren Arbeitsblatt beschriebenen Person bzw. Institution annehmen, unabhängig davon, wie die SchülerInnen deren Position bewerten (vgl. Kuhn, 2004, S. 142). Konkret soll dafür ein 30-sekündiges Eingangsstatement schriftlich vorbereitet werden, dass wesentliche Argumente der jeweiligen Position enthält. Die Argumente werden dabei auf Basis der Arbeitsblätter formuliert. Die SchülerInnen sollen darüber hinaus ermuntert werden, die jeweilige Rolle über die Informationen der Arbeitsblätter hinaus zu befüllen. Die Durchführung der Talkshow wird dabei mit der „Fishbowl-Methode“ durchgeführt und von der Lehrkraft moderiert (vgl. Mattes, 2002, S. 52). Dabei gibt es einen Stuhlkreis mit zwei mal vier Stühlen für die vier Positionen. Dort sitzen jeweils zwei SchülerInnen jeder Gruppe und nur sie debattieren. Hinter den Stühlen stehen jeweils der Arbeitsgruppe zugehörige SchülerInnen, die die Debatte beobachten. Nachdem die Eingangsstatements vorgetragen wurden und die Debatte beginnt, können und sollen die SchülerInnen einer Gruppe die beiden Plätze im Stuhlkreis durchtauschen. Die Lehrkraft als ModeratorIn leitet die Diskussion auf einer argumentativen, sachlichen Ebene und achtet darauf, dass die Gesprächsanteile, sowohl unter den vier Gruppen, als auch innerhalb der Gruppen gleichmäßig verteilt sind. Zudem sollte die Diskussion sowohl allgemein, als auch am konkreten
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Verfügbar unter: https://www.bundesregierung.de/Content/DE/Artikel/2016/09/2016-09-23fluchtursachen-stoppen-illegale-ueberfahrten-mittelmeer.html [07.06.2017]. 10 Verfügbar unter: http://www.deutschlandfunk.de/schleuser-krimineller-menschenhandel-oderfluchthilfe.1310.de.html?dram:article_id=296265 [07.06.2017]. 11 Verfügbar unter: https://www.welt.de/geschichte/article144585278; www.b-b-e.de/fileadmin/ inhalte/aktuelles/2015/10/newsletter-21-veigel.pdf [07.06.2017]. 12 Text 1 verfügbar unter: https://www.frauenrat.de/fileadmin/user_upload/zeitschrift/20152/Fluchthilfe.pdf [07.06.2017]; Text 2 verfügbar unter: http://www.hinterland-magazin.de/ artikel/schlepperschleuser-wahnvorstellung/ [07.06.2017].
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Fall von Hanna L. bzw. anderen FluchthelferInnen, geführt werden. Nach der ersten Phase werden die angenommenen Rollen abgelegt und es folgt eine Reflexionsphase im gemeinsamen Gespräch. Die SchülerInnen erzählen, wie sie sich mit ihren Rollen gefühlt haben. Im Anschluss wird eine erneute Debattenphase eingeleitet. Diesmal sollen die SchülerInnen ihre eigene Position vertreten. Sie können die Gruppen wechseln und sich jener anschließen, welche der eigenen Position am nächsten kommt. Auch ist das Wechseln der Gruppen während der Debatte möglich und erwünscht, wenn sich während der Diskussion Meinungen bei SchülerInnen verschieben. In dieser Phase der Diskussion soll zudem auf die Mindmap der Einstiegsphase Bezug genommen werden. Dazu wirft die Lehrkraft als Moderation Positionen, Gedanken und Fragen aus dieser Phase ein und stellt sie zur Diskussion. Abschließend wird die Debatte beendet und die Einheit wird mit einem abschließenden Klassengespräch beschlossen, in dem die SchülerInnen darüber reflektieren sollen, inwieweit die Unterrichtseinheit ihnen neue oder andere Argumente und Perspektiven vermittelt hat und inwiefern diese ihre Urteilsbildung auf die Frage, ob „Fluchthilfe als kriminelle Handlung“ oder „Helfen in der Not“ zu bewerten sei, beeinflusst hat. Vor dem Hintergrund, dass es nicht das „wahre“ oder „endgültige“ Urteil gibt, sondern dass das gesellschaftliche und politische Leben eine Kontingenz aufweisen und Ausdruck von Aushandlungsprozessen sind, verstehe ich auch das Bewerten und Beurteilen eines geographischen Sachverhalts als einen selbstkritischen und reflexiven Prozess, der keinen Abschluss findet, sondern vielmehr dazu anhält bereits getroffene Urteile immer wieder zu hinterfragen. Dies gelingt in dieser abschließenden Phase zum einen durch die Methoden. Durch die Talkshow werden Perspektivenwechsel (vgl. Rhode-Jüchtern, 1996) ermöglicht, welche die Nachvollziehbarkeit und Logik bestimmter Positionen und Sichtweisen für die SchülerInnen erhöhen. Weiterhin werden die SchülerInnen in der zweiten Debattenrunde dazu eingeladen ihre eigenen Standpunkte zu artikulieren und zur Diskussion zu stellen und dadurch zu verifizieren und zu verfestigen oder auch zu hinterfragen und ggf. zu transformieren. Zum anderen gelingt dies durch eine Multiperspektivität, mit der das Kontroversitätsprinzip (vgl. Nehrdich, 2011) beachtet wird. Denn den SchülerInnen werden unterschiedliche und gegensätzliche Positionen und Argumente zum gleichen Gegenstand vorgestellt, die teilweise mit den gängigen Betrachtungsweisen brechen. Auf diese Weise wird die Basis für eine argumentative Auseinandersetzung gelegt, welche die Grundvoraussetzung für ein begründetes, differenziertes Urteil darstellt.
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4.5 Kompetenzen, die in der Unterrichtsreihe gefördert werden Abschließend werden in der folgenden Tabelle die vorgestellten Unterrichtsphasen und die darin geförderten Kompetenzen dargelegt (siehe Tab. 1). Tab. 1: Kompetenzerwerb in Unterrichtsphasen
Phase Einstieg
Inhalt / Methode Interpretation eines Titelblatts zu ertrunkenen Flüchtlingen auf dem Mittelmeer;
Kompetenzbereiche Räumliche Orientierung; Kommunikationskompetenz
Diskussion im Plenum Erarbeitungsphase I
Gruppenarbeit zu vier FluchthelferInnen, ihren Handlungen und den jeweiligen gesellschaftlichen Kontexten;
Geographisches Fachwissen; Räumliche Orientierung;
Informationsgewinnung und -auswertung aus technikgestützten Quellen, Transfer von Informationen in andere Darstellungsformen;
Methodenkompetenz; Kommunikationskompetenz
Diskussion und Austausch über geographische Sachverhalte in der Gruppe und im Plenum, Präsentation der Ergebnisse Erarbeitungsphase II
PartnerInnenarbeit und Diskussion im Plenum zum gesellschaftlichen Umgang mit den vier FluchthelferInnen;
Kommunikationskompetenz; Reflexionskompetenz13;
Informationsgewinnung und –auswertung unterschiedlicher Quellen Sicherung und Urteilsbildung
Methodenkompetenz
Gruppenarbeit zu unterschiedlichen Perspektiven Geographisches auf „Schlepperei“ bzw. Fluchthilfe; Fachwissen; Informationsgewinnung und -auswertung unterschiedlicher Quellen; Talkshow
Methodenkompetenz; Kommunikationskomptenz; Beurteilung und Bewertung
13 Die Reflexionskompetenz (vgl. Gryl & Kanwischer, 2011, S. 177) wird an dieser Stelle betont, da sie von der Deutsche Gesellschaft für Geographie nicht als eigenständiger Kompetenzbereich ausgewiesen ist (vgl. DGfG, 2014, S. 9), für die hier beschriebene Unterrichtseinheit jedoch zentral erscheint.
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MATERIALANHANG M1: Der gesellschaftliche Blick auf FluchthelferInnen
M1.1: Harriet Tubman wird ab 2020 auf dem 20 US-Dollar Schein abgelichtet sein.
Quelle: https://www.nytimes.com/2016/04/21/us/women-currency-treasury-harriet-tubman.html. Entwurf: Holger Wilcke
M1.2: Harriet Tubman – Homepage des Harriet Tubman Museums in Dorchester, USA Verfügbar unter: http://visitdorchester.org/harriet-tubman-museum-educational-center/
M1.3: Harriet Tubman – Einweihung einer Statue New statue of Harriet Tubman unveiled at school named in her honour St. Catharines - Ronna Lockyer, principal of Harriet Tubman Public School, said it’s always been a source of pride that Tubman called St. Catharines home after fleeing the bonds of slavery. Lockyer said the statue will pay tribute to a tiny woman who became a giant in history. It’s a tribute to a courageous woman who changed the course of history and is still teaching us today. She’s an incredible example of how one individual, with courage and conviction, can change not only the lives of the people she saved, but also history for future generations. Quelle: https://www.niagarathisweek.com/news-story/6270533-new-statue-of-harriet-tubmanunveiled-at-school-named-in-her-honour/
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M1.4: Varian Fry – Gerechter unter den Völkern Der Fluchthelfer der Dichter und Denker Er war ein Held des Zweiten Weltkriegs, doch sein Name ist heute vergessen: Varian Mackey Fry hat vielen Intellektuellen, Schriftstellern und Künstlern zur Flucht vor der NaziVerfolgung verholfen. Varian Fry starb 1967, nicht frei von Bitternis. Die Anerkennung, die er sich gewünscht hatte, kam postum. 1996 ehrte die Holocaust Gedenkstätte Yad Vashem ihn als „Gerechten unter den Völkern“, fünf Jahre zuvor hatte das Holocaust Memorial Museum der USA ihm eine erste Ausstellung gewidmet. Quelle: https://www.welt.de/kultur/article1387312/Der-Fluchthelfer-der-Dichter-und-Denker.html
M1.5: Varian Fry – Seit 1997 ein Straßenname in Berlin
Foto: Holger Wilcke
M1.6: Varian Fry – Gedenktafel an der Varian-Fry-Haltestelle am Potsdamer Platz, Berlin
Foto: Holger Wilcke
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M1.7: Hartmut Richter – Verleihung Bundesverdienstkreuz am 29.10.2012 DDR-Fluchthelfer erhalten Bundesverdienstkreuz Berlin/Dresden - Zwei DDR-Fluchthelfer und ehemalige politische Häftlinge des StasiGefängnisses Bautzen werden heute in Berlin mit dem Bundesverdienstkreuz geehrt. Der Berliner Innensenator Frank Henkel wird Dieter Hötger und Hartmut Richter sowie 13 anderen früheren Fluchthelfern die Auszeichnung verleihen, teilte die Gedenkstätte Bautzen mit. Quelle:https://www.welt.de/newsticker/dpa_nt/regioline_nt/berlinbrandenburg_nt/article110338518/DDR-Fluchthelfer-erhalten-Bundesverdienstkreuz.html
M1.8: Hartmut Richter – Auszeichnung für Fluchthelfer Berliner Fluchthelfer erhalten Bundesverdienstkreuz Wer uneigennützig anderen Menschen hilft, verdient Lob. Wer die eigene Freiheit, sogar das eigene Leben aufs Spiel setzt, um Verwandten, Freunde oder gänzlich Unbekannten ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen, ist dem gesunden Menschenverstand zufolge ein Held. Geehrt werden nur Fluchthelfer, die aus politischen Gründen geholfen haben und höchstens Aufwandsentschädigungen entgegengenommen haben. Die Verleihung der Orden ist ein erster Schritt zur gesellschaftlichen Anerkennung der Fluchthilfe. Quelle: http://www.morgenpost.de/berlin/article110338973/Berliner-Fluchthelfer-erhaltenBundesverdienstkreuz.html
M1.9: Hanna L. – Festnahme am 29.02.2013 „Action-Day“ gegen die Schlepperkriminalität in Europa: 103 Festnahmen Am 29. Januar 2013 fand ein europaweiter Schlag gegen internationale Schlepperorganisationen in zehn europäischen Ländern statt. In Kroatien, Tschechien, Frankreich, Griechenland, Deutschland, Ungarn, Polen, der Slowakei, Türkei und im Kosovo wurden insgesamt 103 Verdächtige festgenommen. Bei 117 Hausdurchsuchungen konnte umfangreiches Beweismaterial gesichert werden, unter anderem Notebooks, Mobiltelefone, Unterlagen und Bargeld in der Höhe von 176.500 Euro sowie eine halbautomatische Schusswaffe samt Munition. Die Beschuldigten hatten über lange Zeit Illegale vorwiegend aus Afghanistan, dem Irak, Pakistan, Syrien über die Türkei in die Europäische Union geschleppt. Quelle: Jahresbericht des Bundeskriminalamt 2013
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M1.10: Hanna L. – Verhaftung Chef internationaler Schleuser in Essen verhaftet Essen – Sie sollen illegale Einreisen aus Syrien und dem Libanon auf dem Luftweg organisiert haben: In drei Bundesländern hat die Polizei zum Schlag gegen ein international agierendes Schleuser-Netzwerk ausgeholt. Der mutmaßliche Kopf der Bande wurde in Essen verhaftet. Quelle: https://www.ruhrnachrichten.de/Nachrichten/Chef-internationaler-Schleuser-in-Essenverhaftet-198057.html
M1.11: Hanna L. – Verurteilung Bewährung und 110.000 Euro Strafe für Schleuser aus Essen Essen – Anfangs hatte die Bundespolizei den Bauingenieur aus dem Essener Süden als „Kopf“ einer internationalen Schleusergruppe geführt. Von dieser Einschätzung blieb am Dienstag im Urteil zwar nichts übrig. Strafbar gemacht hat sich der gebürtige Syrer Hanna L. (59) dennoch, als er half, Landsleute aus den Kriegsgebieten nach Deutschland zu holen. Das Landgericht Essen verurteilte ihn zu zwei Jahren Haft mit Bewährung, außerdem muss er 110.000 Euro Geldbuße zahlen. Quelle: http://www.derwesten.de/staedte/essen/bewaehrung-und-110-000-euro-strafe-fuerschleuser-aus-essen-id8785358.html
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DIE DILEMMA-ANALYSE AM BEISPIEL DER „FLÜCHTLINGSKRISE“ Christian Sitte
1. EINLEITUNG Als Dilemma wird im allgemeinem eine Situation bezeichnet, in der zwischen mindestens zwei Möglichkeiten entschieden werden muss. Dabei sind beide Varianten in Hinsicht auf ihr absehbares Resultat gleichermaßen problematisch. Dilemmasituationen beinhalten also Entscheidungsoptionen, die zu verschiedenen, aber nicht unbedingt befriedigenden, Resultaten führen. In politischen Prozessen sind Dilemmasituationen oft die Regel. Dies liegt u.a. daran, dass konkrete Entscheidungen rasch getroffen werden müssen. Ein Geographieunterricht, der den Anspruch erhebt auch politisch bildende Aspekte miteinzubeziehen (vgl. u.a. Sitte, 2014), sollte hier im Sinne der Demokratieerziehung seinen Beitrag leisten. Die Diskussionslinien um die im Sommer/Herbst 2015 mit einem ersten Kulminationspunkt (vgl. Kneissl, 2015; Sitte, 2015a) angeschwollene Migrationsbewegung nach EU-Europa ist ein gutes Beispiel – auch, weil ihre Auswirkungen die kommende Generation massiv betreffen werden (vgl. u.a. Thome & Wilhelmi, 2016; Wilhelmi, 2010; Schwarz, 2017; Sloterdijk, 2015; bpb, 2017). Interessant ist dabei ferner ihre sich wandelnde Perzeption (vgl. u.a. Alexander, 2017; Asserate, 2016; Betts & Collier, 2017; Kußerow et al., 2017; Palmer, 2017). Eine Beschäftigung damit bedingt, dass Kontroverses auch grundsätzlich kontrovers dargestellt werden sollte (vgl. Winkelmann & Hübner, 2016). Die Herausbildung von „Urteilskompetenz“ (vgl. Applis, 2013; Budke & Uhlenwinkel, 2013), welche eine kritische Argumentations-, Diskussions- und Bewertungskompetenz (vgl. Budke et al., 2016, S. 59) fordert, ist dabei ein wichtiges Ziel. Für dieses ist eine Gesprächsfähigkeit im politischen Diskurs notwendig. Gesprächsfähigkeit bedeutet konkret das Vermögen, sich Argumente der anderen Seite anzuhören, andere Interessenslagen und Wahrnehmungen in Betracht zu ziehen und nicht mit „Totschlagargumenten“ zu reagieren. Denn: „Eine lebendige Demokratie lebt davon, dass es Gegenpole gibt […]. Politik lebt von Alternativen“ (Heistermann, 2017). Gerade bei komplexen Fragestelllungen (vgl. Mehren et al., 2015, S. 5ff.) werden in der Schulrealität – wohl auch bedingt durch Zeitknappheit – mitunter verkürzte Lösungen als Unterrichtsertrag erreicht, welche oft ohne Dekonstruktion der dahinterliegenden Geflechte von Interessen und Wahrnehmungen erfolgen. Schulbücher, als eine der Leitmedien im Unterricht, haben oft lange Vorläufe in der Produktion und bei Bewilligungsverfahren sowie lange Nutzungszyklen (vgl. hierzu
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Christian Sitte
eine Analyse österr. Schulbücher bei Keller, 2017). Lehrkräfte müssen daher aktuell aufkommende und sich verändernde Schlüsselthemen oft in Eigenregie angehen. Hierdurch lassen sich multiperspektivische Zugänge, die in Schulbüchern mitunter zu wenig Raum einnehmen, adäquat und vielfältiger strukturieren. SchülerInnen bekommen so für ihre Meinungsbildung einen breiteren Ansatz durch die Nutzung von Medien, abseits der der üblichen Facebook- & Twitter-„Blasen“, bzw. der „Boulevard-gratis-Zeitungen“1, vermittelt. Es gibt für Lehrkräfte vielfältige Angebote eigene Klassenwebseiten oder Blogs zu gestalten. In der einfachsten Variante genügt für so eine Nutzung ein von der Klasse gemeinsam genutztes Postfach, in dem in thematischen Ordnern Links oder Attachementfiles mit Fragestellungen, Rollenanweisungen etc. verfügbar gemacht und abgelegt sind. Die an der PH Niederösterreich seit dem Sommer 2015 laufend aktuell gehaltene und ausgebaute Zusammenstellung von Zeitungsartikeln (vgl. Sitte, 2015b) kann als „Steinbruch“ für die Erstellung weiterer Unterrichtsmaterialen dienen. Weitere Zusammenstellungen finden sich bei der Bundeszentrale für Politische Bildung (dort seit Januar 2016) und bei Deutschlandfunk (laufend): Dossier: Flüchtlinge. Die folgenden Ausführungen sollen verschiedene Ansätze der Annäherung an das aktuelle Thema „Migration“ aufzeigen. Dabei muss man sich von dem Gedanken freispielen, dass im Klassenunterricht eindeutige „Lösungen“ erarbeitet werden können. Es muss aber möglich sein, die in der Wahrnehmung der Öffentlichkeit heftig und kontrovers diskutierte „Flüchtlings“- später immer mehr als „Migrationswelle“ gesehene gesellschaftliche Veränderung, einigermaßen adäquat in ihren vielfältigen Dimensionen zu beleuchten. Hierzu soll in Kapitel 2 die Dilemma-Analyse als ein geeigneter Methodenzugang vorgeschlagen werden, mit dem anhand von Zeitungsartikeln und deren Analyse die Veränderungen in der veröffentlichten Perzeption der aktuellen Flüchtlings- bzw. Migrationsfrage herausgearbeitet werden können. Exemplarisch wird in Kapitel 3 die aktuelle Diskussion um die Schließung der MITTELMEERROUTE mit der Dilemma-Analyse illustriert. Einige weiterführende Aspekte zu den Möglichkeiten und Variationen der Dilemma-Methode werden im abschließenden Kapitel 4 aufgezeigt.
2. DILEMMA-ANALYSE ALS EIN MÖGLICHER METHODENZUGANG Die Dilemma-Analyse ist eine inhaltlich offene Variante, um Urteilskompetenz zu entwickeln. Nicht die reinen Fakten und Oberflächenstrukturen sind es, die einen Fall diskussionswürdig machen, sondern Vernetzungen und deren Bedeutung für uns oder anderen, also die Tiefenstrukturen (vgl. Rhode-Jüchtern, 1995, S. 22). Die-
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Wobei der Vergleich der am Boulevard gängigen Aufmachung und die ausführlichere Analyse in Qualitätsmedien – aber auch der dort angebotenen Bildinformationen bzw. der Leserkommentare – weitere interessante Auswertmöglichkeiten darstellen (vgl. u.a. Ammerer, 2008).
Die Dilemma-Analyse am Beispiel der „Flüchtlingskrise“
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ses erfolgt anhand von Problemstellungen, die KEINE evidenten Lösungsmöglichkeiten haben und wo unterschiedliche Positionen nicht nur auftreten, sondern auch jeweils legitime, unterschiedlich argumentierbare Hintergründe haben. Dabei erscheint jede der angesprochenen Lösungsvarianten mit Nachteilen verbunden, wenn dabei die unterschiedlichen Sichtweisen und Betroffenheiten, die auf Werten und Normen basieren, argumentativ aufeinander treffen. Dieser didaktische Ansatz wird seit längerem in der Naturwissenschaftsdidaktik genutzt (vgl. Cantz, 2008; Lind, o.J.; Ammerer, 2011). Dieser Methodenzugang lässt sich bei der hier angesprochenen Migrationsthematik gut in den Geographieunterricht einbauen. So handelt es sich auch bei der aktuellen Problematik um Fragestellungen, die nicht mit Kategorien wie schwarz/weiß, gut/böse oder richtig/falsch zu beurteilen wären. Ferner verändern sich diese in der Wahrnehmung nach Interessensgruppen bzw. auch im Zeitablauf (vgl. Sitte, 2015a, 2015b). Jede „Wahrheit“ gilt zunächst nur in ihrem System. In diesen konfliktbeladenen Entscheidungssituationen (vgl. Meyer, 2015) ist die Kommunikationsfähigkeit, das miteinander Sprechen, das Zuhören und das Eingehen auf Gegenargumente wesentlich; genauso wie die letztlich herauszuschälende Frage in einer Abschlussreflexion, ob eine für alle Beteiligten befriedigende Entscheidung überhaupt möglich sei. Zur Umsetzung dieses Methodenzugangs findet man mehrere Beiträge zu anderen Themen in der Zeitschrift Praxis Geographie (PG 3/2013, 5/2010, 7-8/2007) und in Praxis-Politik (2/2016). Dabei schließt die Methode an die von Applis (2013, 2014) angestrebte Werteerziehung an und steht ebenso in Zusammenhang mit der Kompetenz „Argumentieren“ (vgl. Budke, 2012; Budke & Uhlenwinkel, 2013; Kukuck, 2014). Mehren et al. (2015, S. 6ff.) streichen heraus, dass bei der Behandlung komplexer Themen konkurrierende Wertmaßstäbe existierten: „Um bestehende Kontroversen …Rechnung zu tragen… sollen gezielt solche Standpunkte und Alternativen besonders herausgearbeitet werden, die den Schülern von ihrer jeweiligen politischen und sozialen Herkunft her fremd sind“ (ebd., S. 7). Diese von ihnen als „doppelte Komplexität“ bezeichnete Ausrichtung gehe „in der Regel mit Ergebnisoffenheit einher…(da) die Komplexität der Fragestellung (oft) keine Eindeutigkeit zulässt“ (ebd., S. 9).
Der hier genannte Anwendungsbereich „Migration“ zeigt ferner gerade auch dabei ablaufende gesellschaftliche Wandlungsprozesse und Änderungen in den Wertediskussionen! So wurde etwa nach dem Zweiten Weltkrieg die Genfer Flüchtlingskonvention unter ganz anderen Randbedingungen international beschlossen und wird – das schält sich in der politischen Diskussion seit 2015 heraus – heute durchaus als veränderungswürdig gesehen. Zudem ist es spannend, die Veränderung der unterschiedlichen Positionen und ihrer Argumentationslinien bzw. deren Perzeption seit dem Sommer 2015 zu untersuchen (vgl. Sitte, 2015b). Im Sinne einer politischen Bildung gilt es daher aufzuzeigen, dass in der Politik auch (mitunter suboptimale?) Entscheidungen fallen, die punktuell von speziellen, akuten Randbedingungen abhängig sind.
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Bei der Dilemma-Methode wird folgende Schrittabfolge vorgeschlagen (vgl. Cantz, 2008; Wilhelmi 2010, S. 38; Meyer, 2015, S. 171; Rhode-Jüchtern, 1995, S. 22; Mayerhofer, 2008, S. 13; Ulrich-Riedhammer & Applis, 2013, S. 27): 1. Schritt: Konfrontation mit einem moralischen Dilemma & spontane Standortbestimmung sowie Äußerungen, die keine Wertungen beinhalten dürfen, sammeln (das kann etwa mit Kärtchen und/oder einem „Stummen-Dialog“ an der Tafel erfolgen). 2. Schritt: Differenzierte Analyse der Dilemmasituation – hier soll ein Verständnis für andere geweckt und verschiedene Positionen und Handlungsoptionen betrachtet werden. Weiterhin sollen die Folgen für die verschieden betroffenen Gruppen abgewogen werden und eine Klärung betroffener Werte & Normen sowie eine vergleichende Analyse der Argumente erfolgen. Das erfolgt etwa in einer Gruppe die Position „Ja“ und in einer Gruppe die Position „Nein“ formuliert. Hier soll das Dilemma zunächst ohne die Frage nach der Richtigkeit oder Falschheit der vom Protagonisten getroffenen Entscheidung präsentiert werden. Es wird nur danach gefragt, wie schwer man das Dilemma empfindet und worin das Dilemma liegt (vgl. Lind, o.J.) Dieser in der Erarbeitungsphase durchaus konstruktivistisch ablaufende Teil kann auch teilweise projektorientiert in Freiarbeitsabschnitten ausgelagert werden. Ein Forum-/bzw. Abstimmungs-Modul, etwa auf einer Lernplattform wie Moodle, kann dabei hilfreich sein. 3. Schritt: Vortrag und Diskussion der verschiedenen Argumente – mit denen sich dann alle SchülerInnen auseinandersetzen und deren (aus ihren jeweiligen Lebenssituationen unterschiedliche?) Legitimität reflektieren müssen – auch unter Abwägung möglicher Interessen und Folgen für die jeweiligen Gruppen. WICHTIG ist in Summe ein Bewusstsein auszubilden oder der Versuch es zu vermitteln, sodass die andere Seite mit ihren Argumenten ebenfalls (an)gehört werden muss und dass dort u.U. artikulierte Ängste und Bedenken zumindest als akzeptabel angesehen werden müssen und ein Gespräch nicht verweigert wird – auch wenn man diese Argumente nicht teilt! Erfahrungen zeigen, dass man hier nach Klassengröße unterschiedlich vorgehen kann. Der Autor fand es ertragreich, wenn in größeren Gruppen die Vorbereitung stattfand, dann aber zur Diskussion ausgewählte SprecherInnen in Aktion traten. Wie in politischen Diskussionsrunden können dann auch „Publikumsfragen“ zugelassen werden. Die Unterrichtsform ist zeitintensiv, ergebnissoffen, kontrovers und führt zu vielschichtigen Ergebnissen. Der Aspekt einer Ertragssicherung wird gewährleistet, wenn schriftliche (portfolioartige) Produkte nachgeschoben werden – etwa in Auflistungen von Gegensatzpaaren, oder als Leserbriefe-/Berichte für Zeitungen. Variationen dazu zeigen ferner die Vorschläge bei Ammerer (2008), Pichler (2008) und Sitte (2011, S. 49f.). In letzterem wird insbesondere für Leistungskurse (in Österreich Wahlpflichtfächer), die mehr Zeit für die Behandlung einzelner Themen besitzen, auf die Möglichkeit der „Debatingmethode“ hingewiesen. Diese ist u. a. ein an westeuropäischen Hochschulen üblicher Debattier-Wettbewerb (vgl. hierzu http://worlddebating.blogspot.co.at/p/rules.html).
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Sollte man sich diesen komplexeren Zugang in seiner Klasse noch nicht vorstellen können, so kann auch als Alternative die von Uhlenwinkel & Wienecke (2013, S. 44) ähnlich gelagerte Variante der sogenannten „Denkhüte“ verwendet werden. Letztere erzielt ähnliche Ergebnisse.
3. DILEMMAANALYSE KONKRET – MIGRATIONEN AUF DER MITTELMEERROUTE Die Zeitungsdokumentation an der PH-Niederösterreich (vgl. Sitte, 2015b) vermittelt die Veränderungen in der Darstellung der Europa betreffenden Migrationsbewegungen seit 20152. Immer stärker schälte sich dabei ein grundsätzlicher Konsens in der EU heraus. Diskussionslinien gibt es bei der Umsetzung. Konsens ist, die ungeregelte und unkontrollierte Migration wie 2015/16 nicht mehr zuzulassen. Die Schließung der Balkanroute und das Abkommen zur Begrenzung der Migrationen über die Türkei in die Europäische Union ließen den Fokus der öffentlichen Debatte (vgl. bei der Zeitungsdokumentation T 45, 46, 47, 48ff. vom Sommer 2017) auf die zunehmende Migrationsbewegung über das westliche Mittelmeer richten. Folgende Fragestellung für den Unterricht bietet sich an: (Wie) soll die Mittelmeerroute für Migranten geschlossen werden? Das Ziel erscheint dabei klar definiert, über den Weg ist die EU uneins (vgl. T 49, T 50f.) – jedoch ergibt sich die Dilemmasituation aus den dazu führenden, politisch durchsetzbaren Zugängen. Etwa wie sich die Einschätzung der Tätigkeit von NGOs verändert, ob Libyen mit möglicherweise dubiosen Partnern arbeitet, ob bereits in den Ländern südlich der Sahara eingegriffen werden solle und wo bzw. wie Hotspots für eine möglicherweise legale Migration nach Europa eingerichtet werden sollten. Die folgenden ausgewählten Linkangaben stellen einen ERSTEN ZUGANG dar. Es empfiehlt sich in der jeweiligen Argumentationsfindung auf die ausführlichere Zeitungsdokumentation zurückzugreifen. Der Vorschlag richtet sich an SchülerInnen der Sekundarstufe II. Sein Zeitumfang kann variieren, ist aber sicher mit mindestens drei Unterrichtsstunden zu veranschlagen. Erweiterungen (siehe Kap. 4 und Fußnote 3) lassen sich sowohl individuell (etwa als Portfolioarbeiten), als auch im Klassenverband realisieren. Als EINSTIEG könnte ein Videoausschnitt – etwa die ersten 10-15 Minuten, evtl. ergänzt um Min. 42.15-45 – aus der Diskussion von Kneisel u.a. (2017) eingesetzt werden3.
2
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Daneben gibt es mit Beginn des Jahres 2016 auch eine Dokumentation auf www.bpb.de/politik/innenpolitik/flucht/222455/migrationspolitik-der-monatsrueckblick und dazu hilfreich die Informationen bei www.bpb.de/gesellschaft/migration/laenderprofile/. URL zum Einstiegsvideo: https://www.youtube.com/watch?v=u-7MmgIiNpE. Die etwas längere Diskussionsrunde kann seitens der SuS auch von zu Hause ausgewertet werden.
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Im Folgenden sind erste Einstiegslinks4 nach drei Gruppen gegliedert: Ein Kasten mit allgemeinen Informationen für beide Dialogparteien (A), ferner einer mit Unterlagen zur Position einer kritischen Sicht der Schließungsvorschläge (B) und ein dritter Kasten mit Argumenten für eine konkrete und rasche Schließung (C).
A5 Flüchtling oder Migrant – eine Begriffsklärung: http://www.unis.unvienna.org/unis/de/pressrels/2015/unisinf513.html Dazu: www.fluechtlingskonvention.de/vertragsstaaten-der-genfer-fluechtlingskonvention-3274/ Daten & Karten nach Regionen & Ländern : https://data2.unhcr.org/en/situations >> Insbes. zur Mittelmeersituation https://www.marinetraffic.com/en/ais/home/centerx:18.0/centery:35.5/zoom:7 alle Schiffe…. (Anklicken!) bzw. auch : https://www.vesselfinder.com/vessels/VOS-PRUDENCE-IMO9664213-MMSI-247324600 http://www.imap-migration.org/index.php?id=4 Daten zur Flüchtlingsmigration zu Deutschland www.bamf.de/
4 5
Die hier schiftlich verfügbaren Linkangaben findet man auf der Linkdokumentation der PHnoe direkt zum anklicken etwa af T 47 oder 48 – August 2017 und in den Monaten danach. Diese LINKLISTE kann ergänzt werden und ist direkt zum Anklicken gespeichert auf: http://fachportal.phnoe.ac.at/fileadmin/gwk/Aktuelle%20Themen/WEBergaenzung_noe.ac.at/ fileadmin/gwk/Aktuelle%20Themen/WEBergaenzung_zu_DilemmaAnalyse_CH_Sitte_2017. pdf bzw. auch als gleichnamiges ...doc-File.
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B http://www.deutschlandfunk.de/bootsfluechtlinge-sie-haben-das-recht-nacheuropa-zu-kommen.694.de.html?dram%3Aarticle_id=282478 (10. 08 2017). https://kurier.at/politik/ausland/libyen-das-chaos-aus-dem-der-terrorntstand/266.209.601 (26.05. 2017). https://derstandard.at/2000058181447/Fluechtling-ist-nicht-gleichFluechtling (26.05.2017). https://www.rbb-online.de/politik/beitrag/2017/07/hans-christian-stroebelekritisiert-merkel-fluechtlignspolitik-vor-abschied-sommerpause.html (21.7.2017). http://www.sueddeutsche.de/politik/eu-fluechtlingspolitik-wir-wollen-einenkontrollierten-zufluss-1.3601207 (24.07.2017) http://www.spiegel.de/politik/deutschland/fluechtlinge-und-retter-im-mittelmeer-muessen-wir-helfen-a-1161209.html (7.8.2017). http://www.sueddeutsche.de/politik/martin-schulz-im-faktencheck-stehteine-neue-fluechtlingskrise-bevor-1.3600966 (24.7.2017). http://www.faz.net/aktuell/g-20-gipfel/g-20-gipfel-koennte-fuer-afrika-trauriges-ereignis-werden-15093879.html (06.07.2017): „Am Ende kann es dem Kontinent mit der am schnellsten wachsenden Bevölkerung egal sein, mit welcher Motivation die großen „Gebernationen“ ihre Entwicklungszusammenarbeit betreiben. Hauptsache, sie wirkt – doch genau da liegt das Problem.“ http://diepresse.com/home/innenpolitik/5257278/NeosChef-will-Land-inAfrika-fuer-Fluechtlingszentren-pachten (24.7.2017). https://www.welt.de/politik/deutschland/article167214512/Sehr-nachdenkliche-Toene-von-Dunja-Hayali.html (31.07.17). https://derstandard.at/2000064137913/Und-irgendwann-bleiben-sie-danndort-in-Afrika (17.9.17): „In den Schlussfolgerungen des Europäischen Rates (2005) wird festgehalten, „dass Migrationsfragen für die EU und ihre Mitgliedstaaten immer wichtiger werden". Man stimme überein, dass etwas unternommen werden müsse, „um die illegalen Migrationsströme und die Zahl der Todesfälle zu verringern, die sichere Rückkehr illegaler Einwanderer zu gewährleisten und Kapazitäten für eine bessere Steuerung der Migration – auch durch Maximierung der Vorteile der legalen Migration für alle Partner – aufzubauen.“
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C http://diepresse.com/home/meinung/dejavu/5257766/Dejavu_Die-Rettungals-Fahrkarte-nach-Europa (26.7.17). http://www.deutschlandfunk.de/flucht-und-migration-von-politischem-kontrollverlust.1310.de.html?dram:article_id=386582 (23.7.2017). https://www.welt.de/politik/deutschland/article166917736/Wir-wissen-alleDie-Migrationswelle-wird-weitergehen.html (23.7.2017). http://www.dw.com/de/gastkommentar-das-dilemma-der-europ%C3%A4ischen-migrationspolitik/a-39590440 (7.7.2017): „[…] alle aufnehmen können wir auch nicht“ (v. Reinhard Vesser). http://www.spiegel.de/politik/ausland/fluechtlinge-aus-afrika-europas-toedlicher-wall-aus-sand-a-1165318.html (6.9.2017). https://www.nzz.ch/international/eu-innenminister-beraten-fluechtlingskriseitalien-stoesst-auf-taube-ohren-ld.1304613 (7.7.2017): „Die EU-Innenminister wollen Italien keine Migranten mit geringen Chancen auf Asyl abnehmen.“ https://think-beyondtheobvious.com/stelters-lektuere/die-europaeischebevoelkerung-teilt-die-ansichten-donald-trumps/ (18.7.2017). http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/boris-palmer-afghanistan-so-sicherwie-brasilien-15127535.html (29.7.2017). https://kurier.at/politik/inland/asyl-gutachter-rueckstaendigesislamverstaendnis/286.781.152 (18.9.2017).
Im einfachsten Fall können die Argumente auf Plakaten zusammengetragen werden. Für die Zeit zwischen den ersten beiden Stunden bietet sich auch die in Fußnote 4 angesprochene Videoauswertung an. Die Gegenüberstellung erfolgt in einer Diskussionsphase (bei großen Klassen evtl. auch in der „Fish-bowl-Variante“ mit Aspekten aus Kapitel 4 für die zusehenden Klassenmitglieder). Die hier vorgestellten Verweise und Anmerkungen stammen aus einer seit dem Sommer 2015 eher zufällig entstandene Protokollierung veröffentlichter Zeitungsartikel zur Migrationswelle. Inzwischen haben diese Linklisten einen laufend und bis auf weiteres halbmonatlich fortgesetzten Charakter und stehen als Materialzugang für unterschiedlichste Nutzungen unter „Aktuelle Themen“ auf dem Portal http://fachportal.phnoe.ac.at/gwk der Pädagogischen Hochschule für Niederösterreich (Die Hoch-
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schule besitzt einen eigenen Fortbildungslehrgang zu Migrationspädagogik und engagiert sich in der Flüchtlingsintegrationsarbeit – z.B. im Flüchtlingslager Traiskirchen6).
4. VARIATIONEN UND ERWEITERUNG DER DILEMMA-ANALYSE Um eine erste Übersicht zu gewinnen, kann das Arbeiten mit dem Ansatz des „Concept Mappings“ (vgl. Mehren et al., 2015, S. 9) oder auch mit der Methode des „Mysteries“ (vgl. Fridrich, 2015) hilfreich sein. Hier geht es darum, die vorgegebenen Begriffsstränge/Begriffe zu ergebnisoffenen Beziehungsgefügen zu konstruieren oder mit Lebensliniendiagrammen näher zu bringen (vgl. Fridrich, 2017). Damit können auch die vielfältigen Verflechtungen zumindest einmal übersichtsmäßig angedeutet, aber auch im Laufe des Erarbeitungsprozesses ergänzt werden. Im Sinne des „blended-learnings“ bietet sich (ergänzend/alternativ/ertragssichernd) auch die Methode eines „WebQuests“ an. Hier geht es darum, dass nach einer (online-, als auch papiergestützten) Recherche zu einer Fragestellung ein Produkt erstellt wird – z.B. Dossier, Leserbrief, Beitrag in einer Qualitätszeitung, Argumentationspapier etc. (vgl. u.a. Sitte, 2013b). Der bei der Dilemmamethode oben angesprochene zweite Schritt kann damit (evtl. mit Rollenbeschreibungen wie beispielsweise „Du bist ein Reporter einer NGO“, „Du bist ein Reporter einer eher CSU-nahen Zeitung“ oder „Du schreibst einen Leserbrief aus der Perspektive…“) verkürzt werden. Neu (insbesondere in Fächern wie dem Kombinationsfach „InternationaleWirtschafts- und Kulturräume“ (IWK) im Abschlussjahrgang an österreichischen Handelsakademien7) wäre es, die „weichen Informationen“ aus den Inhalten der Zeitungsartikel, ferner der dort auftauchende Karten, in einer (geopolitischen) synthetischen Raumdarstellung, einem Croquis, zu strukturieren. Dabei werden, anders als bei komplex-analytischen Thematischen Karten mit ihren ausschließlich übereinander geschichteten Kartenebenen, synthetische Zusammenschauen erstellt. Diese sind einerseits einfacher zu lesen, andererseits stellen sie eine erarbeitete Interpretation dar (bei Matura-/Abiturfragen wäre das die III. Kompetenzniveaustufe). Herangezogen werden dabei nicht nur harte (eindeutig verortbare) Daten, sondern auch weiche Daten, etwa aus Bildern, Berichten etc. (vgl. Sitte, 2013a). Bei der Konstruktion der Croquis werden anhand der kartographischen Darstellungselemente (Punkt/Linie/Fläche) und in den Darstellungsebenen (z.B. von Elementen, Strukturen, Kontakten, Bewegungen, Ausbreitungen), Hierarchien in einer Synthese zusammengefasst. Das eröffnet damit auch dynamischere Blickwinkel. Uhlenwinkel hat eine diesbezügliche Signaturenauswahl nach Brunet veröffentlicht 6 7
Nähre Informationen sind unter der folgenden URL verfügbar: www.ph-noe.ac.at/ fileadmin/lehrgaenge/Migration_Asyl_und_Schule.pdf und http://migration.ph-noe.ac.at/. Zur Österreichischen Schulgeographie und den Lehrplänen vgl. das Stichwort „Geographie und Wirtschaftskunde“ unter: https://de.wikipedia.org/wiki/Geographie_und_Wirtschaftskunde.
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(vgl. Uhlenwinkel, 2007). Zusätzlich lassen sich bei Croquis-Darstellungen alle vier Raumbegriffe (wie sie der österr. AHS-LP aus 2004 schon enthält) gut anwenden (vgl. Wardenga, 2002). Dies würde auch einer Darstellung unterschiedlicher Sichtweisen entgegenkommen. Anmerken möchte der Autor zusätzlich, dass bei einer Thematik wie „Migration“ auch nichträumliche Aspekte im Sinne der angestrebten Dimensionen „Ordnung der Dinge“ – in diesem Fall die wesentlichen Fakten und Beziehungen – und „Ordnung der Blicke“ – verschiedene Wahrnehmungen von Gruppen/Individuen aufgrund medialer Konstruktionen (vgl. Fögele & Mehren, 2017, Abb.1) – und damit einhergehend der Prozess „des Machens“ thematisiert werden sollen (vgl. ebd., S. 7)8.
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8
Für eine weiter in Spezialfragen gehende Beschäftigung siehe einige weitere Vorschläge bei: https://www.edugroup.at/fileadmin/DAM/Gegenstandsportale/Geographie_und_Wirtschaftsk unde/Lernpakete/audiatur3_Im_DILEMMA_zwischen.pdf.
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GRENZEN SETZEN – WAS IST GUT FÜR UNS? Stefan Padberg / Sabrina Zandl / Samuel Wintereder / Sebastian Lonsing
Abb.1: Melilla, Spanien. MigrantInnen versuchen über den Grenzzaun von Marokko nach Spanien zu flüchten, während Personen Golf spielen. 22. Oktober 2014. Bild: REUTERS/Jose Palazon
1. EINLEITUNG Grenzen sind seit 2015 Thema der öffentlichen Debatte wie schon lange nicht mehr. Sie sind Thema derjenigen, die versuchen, sie zu überwinden und sie sind Thema derjenigen, die sie „sichern“ wollen. Grenzen sind neuralgische Linien in Bezug auf Migration. An ihnen manifestiert sich das Anliegen, Migration zu steuern. Donald Trump gewinnt die US-Wahl 2016 u.a. mit dem Versprechen, an der Grenze zu Mexiko eine Mauer zu bauen. Menschen, die aus Krieg und existenzbedrohendem Elend fliehen und im wahrsten Sinne des Wortes notgedrungen Grenzen überwunden haben, treffen in unseren Ländern vielfach auf rassistischen Hass, aber auch auf millionenfache ehrenamtliche Hilfe (vgl. Padberg et al., 2016). Auf der institutionell-politischen Ebene wird angesichts dieser Grenzüberschreitungen wenig über die Fluchtursachen und deren langfristiger Beseitigung debattiert, sondern es werden die Lebensbedingungen der ohnehin prekär und mit unsicheren Zukunftsaussichten ausgestatteten Geflüchteten weiter materiell, z.B. durch geringere
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staatliche Transfers und schlechtere Integrationsprogramme und diskursiv, vor allem durch alltagsrasisstische und zum Teil auch offen rassistisches Reden, verschlechtert. Staaten mit einemhohem Risiko für Leib und Leben werden zu „sicheren Drittstaaten“ erklärt. Es wurden kurz vor Weihnachten 2016 beispielsweise geflüchtete Menschen von Deutschland nach Afghanistan abgeschoben. Die Ängste der (potentiellen) Wählerinnen und Wähler rechter und rechtsradikaler Parteien werden auf diese Weise „ernster genommen“ als jene der Geflüchteten, die 2016 in Deutschland pro Tag in den Unterkünften für AsylwerberInnen durchschnittlich drei Angriffen aus dem rechten Spektrum ausgesetzt waren (vgl. amnesty international, 2016; Focus, 2016) und die nach erfolgter Abschiebung oft erneut in Elend und Krieg leben (vgl. Mayer-Biskamp, 2016). MinisterInnen können nun davon sprechen, die „Festung Europa“ abzusichern, so etwa die österreichische Innenministerin im Jahr 2015. Das ist besonders bemerkenswert, weil es eine deutliche Diskursverschiebung markiert: Die Rede von der „Festung Europa“ war bis dato stets mit dem Protest gegen die Abschottung an Europas Außengrenzen verbunden – materiell markiert z.B. durch den Zaun in den spanischen Enklaven Melilla (vgl. Abb. 1) und Ceuta. Jose Palazon hat das Foto bereits im Jahr 2014 aufgenommen. Er interviewte die Menschen, die auf dem in der spanischen Enklave Melilla mittels EU-Fördergeldern angelegten Golfplatz spielten, während flüchtende Menschen im Hintergrund auf dem mehrfach gesicherten Zaun, der hier die EU-Südgrenze markiert, ihre Gesundheit und ihr Leben riskieren. Die Golfspielenden gaben zu Protokoll, dass sie, auch angesichts der Not der Flüchtenden ja auch ihr Leben leben müssten (Interview in Carne Cruda Radio, 2015). Internationale Grenzen, vor allem solche des Globalen Nordens (v.a. EU, USA, Australien) scheinen im herrschenden Diskurs unhinterfragbar und ihre „Sicherung“ ein hohes Gut. Sie erscheinen fast natürlich: So wie es Gebirge und Flüsse gibt, gibt es auch Grenzen. Tatsächlich gibt es nur sehr wenige „natürliche“ Grenzen, zumindest wenn die Auffassung geteilt wird, dass Nationen keine natürlichen Gebilde sind. Grenzen sind gesellschaftliche Konstrukte, wie Hans-Dietrich Schultz anhand der Geschichte der Geographie und Kartographie an zahlreichen Beispielen aufzeigt. So trägt er Material zur Dekonstruktion des "Mitteleuropa"Begriffs, zu den „natürlichen Grenzen Deutschlands“ und auch zur Ausdehnung Europas zusammen (vgl. Schultz, 1993, 1997, 1999) und weist nach, wie sich die Vorstellung davon, wo Deutschland bzw. Europa endet, im Laufe der Jahrzehnte und Jahrhunderte deutlich veränderte. Es wird deutlich, dass Grenzen über viele Jahrhunderte in keinster Weise in Stein gemeißelt waren, wie es uns heute erscheint, zumal sich weltliche und kirchliche Herrschaftsräume oft unterschiedlich abgrenzten. Das administrative Fixieren von Grenzen verstärkte sich mit der Industrialisierung und der gewaltsamen Kolonialisierung großer Teile des Planeten im 19.Jh. Entgegen der augenscheinlichen Annahme, dass es im Kalten Krieg die größte Zahl an befestigten - das heißt für Personen nur unter bestimmten Bedingungen passierbaren – Grenzen gab, weisen Stephane Rossière und Reece Jones schon 2012 nach, dass es niemals so viele befestigte Grenzen gab wie heute. Des Weiteren tragen sie Zahlen zusammen, wie
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viele Menschen beim Versuch diese Grenzen zu überwinden pro Jahr ihr Leben verlieren. Die UN-Organisation für Migration IOM verzeichnet für das Jahr 2016 (bis zum 18.12.) 7100 Tote an den Grenzen, davon über 4800 an den Südgrenzen der Europäischen Union im Mittelmeer (vgl. IOM, 2016). Der Bezug zum Lehrplan des Gymnasiums in NRW zeigt sich in den Kompetenzerwartungen für die Jahrgangstufen 7 bis 9. Hier heißt es, dass die SchülerInnen am Ende der Klasse 9 in der Lage sein sollten „den durch demographische Prozesse, Migration und Globalisierung verursachten Wandel in städtischen und ländlichen Räumen darzustellen“ (Ministerium für Schule und Weiterbildung 2007, S. 27).
2. DIDAKTISCHE ANALYSE UND ANLIEGEN DES UNTERRICHTSVORSCHLAGS Gründe und Auswirkungen von grenzüberschreitender Migration verständlich zu machen, ist ein klassisches Anliegen von Geographieunterricht. Der Fokus auf Grenzen bietet in besonderer Weise die Chance, politische Bildung durch geographisches Lernen anzustreben. SchülerInnen der Migrationsgesellschaft (vgl. Mecheril, 2016) haben häufig selbst in ihrer Biographie Grenzen überschritten oder überschreiten müssen bzw. ihre Eltern und / oder Großeltern leben mit dieser Erfahrung. Zudem haben SchülerInnen vielfältige Reiseerfahrungen bei denen sie Grenzen überschritten haben. Diese schulgesellschaftlichen Realitäten sind eingebettet in den oben skizzierten Diskurs zu Grenzen und deren Sicherung, den auch SchülerInnen wahrnehmen und reproduzieren. Die hier zusammengestellten Unterrichtsideen fordern SchülerInnen auf und ermöglichen ihnen: – Erkenntnisse über die gesellschaftliche Konstruktion von Grenzen zu erlangen (Kompetenz Fachwissen (vgl. DGfG, 2007, S. 19). – die gesellschaftlichen Positionen zu Flucht und die daraus resultierende Einwanderung kennenzulernen und sich dazu zu positionieren Kompetenz Beurteilung und Bewertung (vgl. ebd., S. 29). – die Auswirkungen des Zufalls des eigenen Geburtsortes zu erkennen. Je nach geopolitischer Situation des Landes, das meinen Pass ausgestellt hat, habe ich andere Möglichkeiten und kann bestimmte Staatengrenzen überschreiten und andere nicht (Kompetenz „Erkenntnisgewinnung“ und „Kommunikation“) (vgl. ebd. S. 22). – die Folgen der „Sicherung“ von Grenzen zu erkennen (Kompetenz „Fachwissen“) und diese – kritisch zu hinterfragen (Kompetenz „Beurteilung und Bewertung“ sowie „Kommunikation“). Die Unterrichtseinheiten sind für die Klassenstufen 7–9 gedacht. Die drei Einheiten sind für ca. drei mal 90 Minuten geplant.
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3. METHODISCHES VORGEHEN Die Reihenfolge der Unterthemen begründet sich durch einen schülerInnenorientierten Ansatz wie folgt: Zunächst wird ein spielerischer Zugang angeboten, der in einem fiktiven Raum stattfindet. Im zweiten Schritt erfolgt der Transfer in die Realität über die erlebte Situation von Bertolt Brecht als Migrant und Flüchtling inklusive der Übertragung von Brechts Situation durch die Prüfung der „Reichweite“ heutiger Pässe. Schließlich geht es im Dienste politscher Bildung im Geographieunterricht, um die gesellschaftliche Positionierung der SchülerInnen in Bezug auf politische Grenzen und deren Auswirkungen und Folgen für sich selbst und für MigrantInnen (vgl. Vielhaber, 2001). Tab. 1: Grenzen setzen – was ist gut für uns?
Einheit 1: Grenzen setzen – was ist gut für uns? Phase Einstieg ca. 5 Min
(Unter)Thema
Struktur und Bemerkung
Grenzen setzen 1 Thema der Stunde an die Tafel Schreiben – was ist gut für 2 SuS mit dem fiktiven Kontinent uns? Manowaus bekannt machen Bemerkung: Karte M1
Erarbeitung 1 Stammgruppenphase ca. 10 Min
1 Mündlich oder per Arbeitsblatt wird erläutert: Bislang gab es keine Grenzen zwischen den Regionen Manowaus. Nun sei es erforderlich, Grenzen zu ziehen - so die öffentliche Diskussion.
2 Bilden von Kleingruppen à 4 Personen 3 Je ein Exemplar der Materialien 2–5 werden an die KGs ausgeteilt 4 Einzelarbeit in den KGs: Lesen – ca. 7 Minuten
Bemerkung: M1–M5
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Erarbeitung 2 Grenzen setzen
1 Nennen des veränderten Themas
ExpertInnengruppenphase
2 Es treffen sich alle, die Material 2 hatten zu einer ExpertInnengruppe, alle, die Material 3 hatten, zu einer weiteren usw.
ca. 20 Minuten
– was ist gut für unsere Region?
3 Die Gruppen tauschen sich 15 Minuten aus Erarbeitung 3 Zweite Stammgruppenphase des Gruppenpuzzles ca. 20 Minuten
Grenzen setzen 1 Ursprüngliche KGs aus der Stammgruppenphase setzen sich wieder zu viert zusammen – 2 Nennen des erneut veränderten Themas was ist gut für unser 3 Die Schüler diskutieren über das veränderte Thema und suchen nach einer Lösung Manowau? - Dazu werden die Positionen zum Thema in der Stammgruppe gegenseitig vorgestellt und die Grenzen schließlich auf der Karte (Material 1), die allen KGs in einer Kopie in A3 vorliegt, markiert Bemerkung: Karte, Stifte
Erarbeitung 4 Grenzen setzen – Reflexion was ist gut für uns? ca. 30 Minuten
1 Alle Beteiligten werden aus den Rollen entlassen: Du bist jetzt nicht mehr der Vertreter / die Vertreterin „deiner“ Region, sondern wieder Du selbst!
2 Museumsgang: Wie haben es die anderen gelöst? Spontane Gespräche und Fragen an den "Museumstischen". (Alternativ: Alle Karten an die Tafel und Austausch im Plenum. (Museumsgang bringt Bewegung in den Raum) 3 Anregungen für die Diskussion: Verweis auf das Thema der Unterrichtseinheit: Grenzen setzen - was ist gut für uns? Wer hat warum welche Lösung gefunden? - Wie verlief der Aushandlungsprozess? - Ist die Lösung für alle gut? - Seht Ihr Alternativen? - Sind Grenzen an sich gut für uns? Für wen genau?
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Alternativer weiterer Impuls für die Diskussion (auch als Überleitung zur nächsten Unterrichtseinheit): Animation zur historischen Veränderung der Grenzen in Europa zeigen: https://www.welt.de/kultur/history/video120339331/1000-Jahre-Europa-im-Zeitraffer.html (Tipp: Video in Zeitlupe abspielen und Ton ausschalten).
Tab. 2: Grenzen sind gesetzt – was heißt das für mich?
Einheit 2: Grenzen sind gesetzt – was heißt das für mich? Phase
(Unter)Thema
Struktur und Bemerkung
Einstieg
Grenzen sind gesetzt – was heißt das für mich?
1 Im Plenum der Lerngruppe wird M6 vorgelesen. Dies geschieht, um den Blick auf die ungleich verteilten Möglichkeiten der Migration je nach Staatsangehörigkeit zu lenken
ca. 10 Min.
2 Arbeitsauftrag: Bitte äußert eure Reaktionen auf den Text. Ihr habt dazu drei Minuten mit dem Nachbarn oder der Nachbarin, dann tragen wir im Plenum zusammen, was wichtig geworden ist. 3 Im Laufe des Plenums wird folgende Frage hinzugefügt: Wenn Ihr das Gesagte zur Kenntnis nehmt: Bedeutet das etwas für die Grenzentscheidungen, die Ihr letzte Stunde getroffen habt? Bermerkung: Karte M6 Erarbeitung 1 ca. 25 Min.
Eine Welt? 1 Bilden von 2er-Gruppen – 2 Zufälliges Verteilen von „Pässen“ an alle Gruppen was ermöglicht mir ,z.B. durch blindes Ziehen aus einem Umschlag mein Pass? 3 Arbeitsauftrag an die Paargruppen: Recherchiert, wohin Ihr ohne Probleme mit diesem Pass reisen könnt. Konkret: Könnt Ihr in einen sicheren Staat reisen, wenn Ihr wollt oder müsst? Bemerkung: Ausgedruckte „Pässe“ (Anhang siehe die Links unten, Quelle: www.passportindex.org) Die Pässe können aus der Quelle ausgedruckt werden oder schlicht aus einem kleinen Zettel mit der Aufschrift des jeweiligen Staatennamens bestehen.
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Quellen:
www.passportindex.org/byRank.php + https://en.wikipedia.org/wiki/Visa_requirements_for_xxx_citizens wobei xxx = Nationalität in Englisch meint ggf. Links ausgeben (M7), erspart die eigene Suche nach dem, was statt xxx getippt werden muss. - Anschließend im Plenum: Austausch der Ergebnisse, die 2er-Gruppen erläutern mit Weltkarte per Projektion Reflexion 10–30 Min.
Grenzen sind gesetzt – was heißt das für mich?
1 Im Plenum zur Diskussion einladen: Was heißt der Zufall des Ortes meiner Geburt / des Zustandekommens meiner Staatsangehörigkeit für mich?
2 Rückbezug: Wenn ich das Brecht-Gedicht jetzt lese… Hat sich in meiner Wahrnehmung etwas verändert?
Tab. 3: „Festung Europa" an der Südgrenze der EU – will ich das so?
Einheit 3 „Festung Europa“ an der Südgrenze der EU – Will ich das so? Phase Einstieg 5–10 Min.
(Unter)Thema
Struktur und Bemerkung
Die Südgrenze 1 Stummer Impuls: M8, eine GIS-Anwendung zu Fluchtmigration an den Außengrenzen der EU der EU – Fakten zur 2 Äußerungen der SchülerInnen bleiben unkommentiert Kenntnisnahme stehen, Ausnahme sind nur Verständnisfragen zum Material.
3 Fakten der dem Plenum gezeigten Materialien werden erläutert, möglichst durch SchülerInnen – sofern das nicht in den spontanen Äußerungen geschehen ist. Bemerkung: M8a +M8b
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1 1zelArbeit, M9, lesen
Erarbeitung 1
2 Verständnisfragen klären
ca. 10 Min.
Bemerkung: M9 Erarbeitung 2 ca. 45 Min.
Unterschied- 1 Markt der Positionen: Jede Schülerin bzw. jeder liche Akteure Schüler bekommt zufällig eines der Materialien 9 - 13 – wie stehen sie 2 Lesen und Notizen zum Arbeitsauftrag machen zu Grenzen? 3 Jetzt gehen alle durcheinander auf den Markt: Interviewt euch gegenseitig zu euren Positionen. Notiert Euch die Meinungen der anderen. Ihr könnt euch dafür frei im Raum bewegen (mind. 15 Minuten) 4 Kleingruppe à 4 Personen bilden. Auftrag: Fasst auf einem Plakat die wichtigsten Aussagen zu eurer These zusammen (10 Min) 5 Plenum: Präsentiert die Ergebnisse und eure eigene Meinung zu der Position Bemerkung: M10.1-M10.5
Reflexion ca. 35 Min
„Festung Europa“ an der Südgrenze der EU – wie stehe ich dazu?
1 60 Sekunden kreatives Schweigen, Nachdenken über die eigene Position zur EU-Südgrenze
2 Einzelarbeit: Notieren der eigenen Position in Stichworten. Wichtig: Begründen können 3 Vorlesen aller Positionen 4 Die Quellen der Texte werden bekannt gegeben 5 Sinnvolle Anschlussaufgabe: – Recherchiere die Position der im nationalen Parlament vertretenen Parteien zur EU-Südgrenze – Fügt Eurer Erkenntnisse auf den letzten beiden Stunden zusammen und beurteilt begründet, wie Ihr zu den Positionen der Parteien steht – Begründet Eure eigene Position zur „Sicherung“ der EU-Südgrenze
Grenzen setzen – was ist gut für uns?
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MATERIALANHANG
M1: Karte Manowau
Abb. 4: Karte von Manowau
Herzlich willkommen in Manowau! Über viele Jahre hinweg waren die Bewohnerinnen und Bewohner sehr zufrieden und es herrschten Überfluss und ein reger Austausch zwischen den einzelnen Regionen Manowaus. Doch in letzten Jahren entwickelten sich diese sehr unterschiedlich, sodass sich Konflikte mehren. Eine Region
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beschuldigt eine andere z.B. das knappe Wasser übermäßig zu nutzen. Wieder andere Bewohnerinnen und Bewohner streiten darum, wer welchen Anteil des fruchtbaren Bodens nutzen darf. Da es so nicht weitergehen kann, sollen nun Grenzen zwischen den vier Regionen gezogen werden, um die Streitigkeiten ein für alle Mal zu beenden. Jede Region schickt eine Vertreterin oder einen Vertreter um zu einer gemeinsamen Lösung zu kommen. Arbeitsauftrag: Diskutiert den Grenzverlauf der einzelnen Regionen im Sinne der euch vorgegebenen Interessen. Legt gemeinsam mit den VertreterInnen der anderen Regionen den Grenzverlauf fest.
M2: Aleewa, Region A Du vertrittst die Region Aleewa (A) in Manowau. Ihr seid die reichste Region des Landes und im Besitz des Hafens, der euch zum Handel mit der restlichen Welt befähigt. Eure Region ist von fruchtbarem Boden umgeben und ihr könnt die notwendigen Lebensmittel selbst herstellen. Für euch besteht eigentlich kein Grund, mit den anderen Regionen große Kompromisse einzugehen und großflächig Land an die benachbarten Regionen abzutreten. Ihr seht jedoch nicht ein, warum die Region Dogi (D) als einzige Zugang zum Steinbruch haben soll. Diese Bodenschätze sind für euren Handel von großer Bedeutung.
M3: Bonubo, Region B Du bist eine Bewohnerin oder ein Bewohner der Region Bonubo (B) in Manowau. Im Süden dieses Landes gibt es sehr fruchtbaren Boden, da durch den nahegelegenen Fluss die Bewässerung der Felder möglich ist. Somit sind Getreideanbau, Viehzucht und große Holzvorkommen gegeben. Natürlich wollt ihr euren fruchtbaren Boden behalten und kein bisschen davon an eure Nachbarregionen abtreten. Weil ihr nicht auf Fisch verzichten wollt, hättet ihr gerne einen Zugang zu den fischreichen Gewässern in der Region Chickahominy (C).
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M4: Chickahominy, Region C Du bist Teil der Bewohnerinnen und Bewohner der Region Chickahominy (C) in Manowau. Auf der Westküste des Landes ist eure Region mit den fischreichsten Gewässern des Landes gesegnet. Allerdings wollt ihr mehr Reichtum von eurer reichen Nachbarregion der Aleewa abbekommen. Denn einige eurer Mitbürgerinnen und Mitbürger wohnen im Westen der Region Aleewa (A), weshalb ihr natürlich einen Anspruch auf dieses Gebiet habt. Auch die fruchtbaren Böden im Süden des Landes sind für das Fortbestehen eurer Region von großer Bedeutung!
M5: Dogi, Region D Du vertrittst die kleine Region Dogi (D) in Manowau. Ihr seid stolz auf eure Tradition als Bergarbeiterinnen und Bergarbeiter. Die ganze Ostküste ist euer Zuhause, wobei diese leider nicht sehr fruchtbar ist und auch keine großen Fischvorkommen aufweist. Ihr fühlt euch von den anderen Regionen benachteiligt und ausgebeutet. Besonders die Region Aleewa bedient sich eurer im Steinbruch gewonnenen Bodenschätze, von deren Reichtum ihr nicht profitieren könnt.
M6: Aus: „Flüchtlingsgespräche“ von Bertolt Brecht, 1956 „Im Bahnhofsrestaurant zu Helsinki sitzen zwei Männer, ein großer und ein untersetzter, und unterhalten sich, ab und zu vorsichtig um sich blickend, über Pässe. „Der Paß“, meditiert der Untersetzte, „ist der edelste Teil von einem Menschen. Er kommt auch nicht auf so einfache Weise zustande wie ein Mensch. Ein Mensch kann überall zustandekommen, auf die leichtsinnigste Art und ohne gescheiten Grund, aber ein Paß niemals. Dafür wird er auch anerkannt, wenn er gut ist, während ein Mensch noch so gut sein kann und doch nicht anerkannt wird.“ In seltsamer Übereinstimmung ergänzt der Große: „Man kann sagen, der Mensch ist nur der mechanische Halter eines Passes. Der Paß wird ihm in die Brusttasche gesteckt wie die Aktienpakete in das Safe gesteckt werden, das an und für sich keinen Wert hat, aber Wertgegenstände enthält“ (Zeit, 1961, S. 2).
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M7: Reichweite der Pässe https://en.wikipedia.org/wiki/Visa_requirements_for_Afghan_citizens https://en.wikipedia.org/wiki/Visa_requirements_for_German_citizens https://en.wikipedia.org/wiki/Visa_requirements_for_Greek_citizens https://en.wikipedia.org/wiki/Visa_requirements_for_Austrian_citizens https://en.wikipedia.org/wiki/Visa_requirements_for_Swiss_citizens https://en.wikipedia.org/wiki/Visa_requirements_for_Ethiopian_citizens https://en.wikipedia.org/wiki/Visa_requirements_for_Iranian_citizens https://en.wikipedia.org/wiki/Visa_requirements_for_Iraqi_citizens https://en.wikipedia.org/wiki/Visa_requirements_for_United_States_citizens https://en.wikipedia.org/wiki/Visa_requirements_for_French_citizens https://en.wikipedia.org/wiki/Visa_requirements_for_Romanian_citizens https://en.wikipedia.org/wiki/Visa_requirements_for_Pakistani_citizens https://en.wikipedia.org/wiki/Visa_requirements_for_Kosovan_citizens https://en.wikipedia.org/wiki/Visa_requirements_for_Eritrean_citizens
M8: Todesfälle in Zusammenhang mit Migration a: http://15years.morizbuesing.com/ b: http://www.unitedagainstracism.org/wp-content/uploads/2015/06/Listofdeaths22394June15.pdf
M9: Informationstext zu Flucht und Migration Nachdem im Zweiten Weltkrieg und in den durch Armut und Wiederaufbau geprägten Jahrzehnten danach Millionen Menschen aus Europa in andere Teile der Welt fliehen mussten, suchen nun viele Menschen in Europa Zuflucht. Sie fliehen vor Kriegen und diktatorischen Regimen sowie vor extremer existenzbedrohender Armut, deren Entstehung vielfach nicht ohne Analyse postkolonialer Strukturen zu verstehen ist. Sie kommen, um weiter leben zu können. Auf dem Weg aus Afghanistan, dem Irak, Syrien, Eritrea und anderen Ländern gibt es für die allermeisten der Flüchtenden aufgrund der Gesetze der Europäischen Union keine legalen Wege der Einreise nach Europa. Schon um bis an Süd- und Ostufer des Mittelmeers zu gelangen, müssen sich viele verschulden, um die so genannten Schlepper für den Transport durch die Sahara an die Küsten Libyens oder Tunesiens oder über die hohen Gebirge des Iran und quer durch die Türkei zu bezahlen. Die Überfahrt über das Mittelmeer erfolgt abermals vermittelt durch Schlepper. Die Flüchtenden zahlen viel Geld für einen Platz in einem kaum seetüchtigen Boot. 1000ende sind in den letzten Jahren ertrunken. Jene, die lebend ankommen, landen in den südlichen Staaten der Europäischen Union, also vor allem in Griechenland und Italien. Griechenland ist seit 2008 durch
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die Folgen der so genannten Finanzkrise und den Umgang der EU damit selbst sehr stark verarmt. Auch wenn die Bevölkerung oft solidarisch hilft, sind die Lebensbedingungen für die geflüchteten Menschen erbärmlich. Gleiches gilt für den Süden Italiens. Die Folge: Wenn sie es irgendwie schaffen, ziehen die Geflüchteten weiter. Allerdings dürfen sie legal wiederum keine weitere Grenze übertreten: Die Asyl-Regelung der EU besagt, dass ein Flüchtling nur dort Asyl beantragen kann, wo er den Boden der EU zuerst betritt. Also können Geflüchtete aus Afrika und dem Nahen Osten offiziell unmöglich in Deutschland oder Österreich Asyl beantragen, weil sie anderswo zuerst ankommen. Da viele Menschen sich jedoch mit den unerträglichen Lebensbedingungen und den kaum vorhandenen Chancen in diesen ohnehin armen Ländern Europas Arbeit zu finden, nicht abgeben, migrieren einige dennoch nach Mitteleuropa. In Deutschland war es z.B. 2015 eine Million, d.h. ein Geflüchteter kam auf je 80 Menschen, die schon in Deutschland wohnten.1
M10: Positionen zu Flucht und Migration in Originaltexten Arbeitsauftrag (für M 10.1 – M 10.5): Fasse die wesentlichen Aussagen des Textes zusammen. Wende die hier dargestellte Position auf den Umgang mit der Südgrenze der EU an.
M10.1: Erklärung der Menschenrechte der Vereinen Nationen „Artikel 1: Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen. Artikel 2: Jeder hat Anspruch auf alle in dieser Erklärung verkündeten Rechte und Freiheiten, ohne irgendeinen Unterschied, etwa nach Rasse, Hautfarbe, Geschlecht, Sprache, Religion, politischer oder sonstiger Anschauung, nationaler oder sozialer Herkunft, Vermögen, Geburt oder sonstigem Stand. (…) Artikel 3: Jeder hat das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person. Artikel 4: Niemand darf in Sklaverei oder Leibeigenschaft gehalten werden; Sklaverei und Sklavenhandel in allen ihren Formen sind verboten. Artikel 5: Niemand darf der Folter oder grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden. Artikel 6: Jeder hat das Recht, überall als rechtsfähig anerkannt zu werden.
1
Hintergrundinfos und ergänzendes Material unter: http://www.planet-schule.de/php/ sendungen.php?sendung=10113. Zudem: http://www.kmii-koeln.de/manifest-1997.
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Artikel 7: Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich und haben ohne Unterschied Anspruch auf gleichen Schutz durch das Gesetz. Alle haben Anspruch auf gleichen Schutz gegen jede Diskriminierung, die gegen diese Erklärung verstößt, und gegen jede Aufhetzung zu einer derartigen Diskriminierung. Artikel 8: Jeder hat Anspruch auf einen wirksamen Rechtsbehelf bei den zuständigen innerstaatlichen Gerichten gegen Handlungen, durch die seine ihm nach der Verfassung oder nach dem Gesetz zustehenden Grundrechte verletzt werden. Artikel 9: Niemand darf willkürlich festgenommen, in Haft gehalten oder des Landes verwiesen werden. […] Artikel 13: 1. Jeder hat das Recht, sich innerhalb eines Staates frei zu bewegen und seinen Aufenthaltsort frei zu wählen. 2. Jeder hat das Recht, jedes Land, einschließlich seines eigenen, zu verlassen und in sein Land zurück zukehren. Artikel 14: 1. Jeder hat das Recht, in anderen Ländern vor Verfolgung Asyl zu suchen und zu genießen.“2
M10.2: Bündnis 90 / Die Grünen „Einwanderung, Integration und Asylpolitik Der Einsatz für eine menschenwürdige Flüchtlings- und Asylpolitik ist seit unserer Gründung eines unserer Kernanliegen. Die Heimat verlassen zu müssen, weil dort Leben und Gesundheit gefährdet sind, ist ein traumatisches Erlebnis. Asyl ist Menschenrecht. Ob Ärztin, Altenpflegerin, Imbissbudenbesitzer oder Ingenieur – ob wir sie aus der Schule, von der Arbeit, als Nachbar oder aus dem Sportverein kennen: Wir alle haben Menschen in unserem Umfeld, die selber oder deren Eltern nicht in Deutschland geboren wurden. Sie zeigen uns: Ohne Einwanderung stünde Deutschland heute wirtschaftlich und kulturell um einiges ärmer da. Verbessert Deutschland seine Einwanderungsbedingungen nicht, wird es die Herausforderungen des demografischen Wandels und Fachkräftemangels kaum lösen können. Die Zahlen des Statistischen Bundesamtes sind alarmierend. Und doch scheint sich nichts zu tun. Bis 2050 wird die Bevölkerung in Deutschland um sieben Millionen Menschen auf insgesamt 75 Millionen Menschen schrumpfen. Da wir gleichzeitig eine immer höhere Lebenserwartung haben und weniger Kinder bekommen, altert unsere Gesellschaft. Mögliche Auswirkungen lassen sich schon heute beobachten: Die realen Renten sinken, da immer weniger BeitragszahlerInnen auf immer mehr RentnerInnen kommen. Dörfer, Wohngebiete und ganze Städte leiden darunter, dass mehr junge Menschen wegziehen als neu geboren werden. Dazu beklagen sich viele Unternehmen 2
Verfügbar unter: http://www.un.org/Depts/german/menschenrechte/aemr.pdf [22.12.2016].
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über Fachkräftemangel. Es gibt in Deutschland einen Fachkräftebedarf von circa 300.000 Menschen pro Jahr, der derzeit nicht abgedeckt wird. Mehr Einwanderung ist für diese Herausforderungen nicht das Allheilmittel, sie kann aber einen sehr wichtigen Beitrag leisten.“3
M10.3: Europäische Kommission „Politikbereiche In ihrer Migrationsagenda zeigt die Kommission Sofortmaßnahmen zur Bewältigung der Krise im Mittelmeerraum auf und legt dar, wie die Migration längerfristig und umfassend angegangen werden kann. Verringerung der Anreize für irreguläre Migration Aufspürung, Zerschlagung und Verfolgung krimineller Schleusernetze und Vereinheitlichung der Vorgehensweise der EU-Länder bei der Rückführung, unter anderem durch die Stärkung von Frontex. Ausbau der Beziehungen zu Ländern außerhalb der EU, denen in diesem Zusammenhang eine Schlüsselrolle zukommt. Rettung von Menschenleben und Sicherung der Außengrenzen Überarbeitung des Vorschlags zu „intelligenten Grenzen“, Finanzierung von Initiativen in Nordafrika, um diese Region stärker in Such- und Rettungsmaßnahmen einbeziehen zu können, und Prüfung der Notwendigkeit einer europäischen Grenzschutztruppe. Ein starkes gemeinsames Asylsystem Uneingeschränkte und einheitliche Umsetzung des gemeinsamen europäischen Asylsystems: Systematischere Identifizierung von Migranten durch Abnahme von Fingerabdrücken, Beurteilung der Effizienz eines einheitlichen Asylverfahrens zur Gleichbehandlung von Asylbewerbern in Europa sowie Bewertung des Dubliner Systems bis Mitte 2016. Eine neue Migrationspolitik Angesichts des Bevölkerungsrückgangs braucht Europa legale Zuwanderung und sollte daher seine Attraktivität durch eine Überprüfung des „Blue Card“-Systems erhöhen, in der Integrationspolitik neue Prioritäten setzen und die Vorteile legaler Migration in den Herkunftsländern greifbarer machen, unter anderem durch die Erleichterung von Heimatüberweisungen.“4
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Verfügbar unter: https://gruene-dev-2.rsm-development.de/themen/soziale-gerechtigkeit/ einwanderung-integration-und-asylpolitik.html [22.12.2016]. Verfügbar unter: http://ec.europa.eu/priorities/migration_de 22.12.2016 [22.12.2016].
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M10.4: ProAsyl „Seit langem sterben vor Europas Grenzen jedes Jahr Hunderte Menschen. 2014 und 2015 waren es Tausende. Die meisten von ihnen flohen vor Krieg, Verfolgung und Elend. Ein Großteil von ihnen hätte, einmal in Europa angekommen, gute Chancen gehabt, im Asylverfahren einen Schutzstatus zu erhalten. Für das Sterben an Europas Grenzen sind weder Naturgewalten verantwortlich noch Schlepperorganisationen, sondern eine Asylpolitik, die Schutzsuchende dazu zwingt, ihr Leben zu riskieren, um Schutz erhalten zu können. Der Ausbau der Festung Europa Die EU versucht, ihre Grenzen hermetisch abzuriegeln. An einigen Grenzabschnitten haben die Nationalstaaten meterhohe Stacheldrahtzäune errichtet, an anderen Abschnitten kommt die EU-Grenzschutzagentur Frontex zum Einsatz. Mittlerweile sollen auch Militäreinsätze dafür sorgen, dass Flüchtlinge es nicht in die EU schaffen. Andere der Maßnahmen zum „Grenzschutz“ werden kaum sichtbar – etwa das EUROSUR-System, das die Grenzen mit Satelliten, Drohnen und Sensoren überwacht. Letztlich sorgen die kostspieligen Investitionen vor allem dafür, dass die Fluchtwege für Schutzsuchende riskanter und teurer werden. Die oft mit „Schlepperbekämpfung“ gerechtfertigte Abschottung der Grenzen ist gut für das Geschäft der Schleuser – und für das der Rüstungsindustrie. […] Unmenschlich und Unsolidarisch: Das Dublin-System Welcher EU-Staat für einen Asylsuchenden zuständig ist, ist in der Dublin-III-Verordnung festgelegt. Die Grundregel dieser Regelung ist einfach, aber perfide: Jener EU-Staat, der einen Flüchtling die EU hat betreten lassen, ist auch für ihn verantwortlich. Die EU-Regelung schiebt damit die Verantwortung für den Flüchtlingsschutz an EU-Randstaaten ab. Und motiviert sie, Flüchtlinge an den Grenzen abzuwehren. Oder so schlecht zu behandeln, dass sie in andere EU-Staaten weiterfliehen. Die Folge: Flüchtlinge irren durch Europa und werden wie Stückgut hin- und hergeschoben. Für Flüchtlinge bedeutet Dublin III Elend und Abschiebungen. In der Praxis ist das Dublin-System gescheitert. Doch eine Einigung über ein alternatives Modell ist nicht in Sicht. Denn die unsolidarische Regelung hat unter den EU-Staaten einen heftigen Konflikt befeuert, der eine Einigung auf eine gemeinsame, solidarische Flüchtlingspolitik extrem erschwert.“5
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Verfügbar unter: https://www.proasyl.de/thema/eu-asylpolitik/ [22.12.2016].
Grenzen setzen – was ist gut für uns?
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M10.5: AfD „1. Dauerhafte Sicherung aller nationalen Grenzen Wir fordern die dauerhafte Aufrechterhaltung der Kontrollen an den deutschen Grenzen. Personen, die einen Asylantrag stellen wollen, sind von der Bundespolizei gemäß ihrem gesetzlichen Auftrag aufzuhalten und zurückzuweisen, anstatt sie geregelt einreisen zu lassen. […] 2. Konsequente Abschiebung anstatt Legalisierung und Bleiberecht für ausreisepflichtige Ausländer Mit dem zum 01.8.2015 in Kraft getretenen Gesetz zur „Neubestimmung des Bleiberechts und der Aufenthaltsbeendigung“ hat die Bundesregierung außer einigen zu begrüßenden asylrechtlichen Klarstellungen in verfassungswidriger Weise die Weichen zur Legalisierung illegaler Einwanderung gestellt. Das Gesetz sieht ein neues Bleiberecht für Ausländer vor, die aufgrund stereotyp verlängerter Duldung mehrere Jahre in Deutschland verbracht haben (4 bis 8 Jahre). Wer als Ausländer seine Abschiebung lange genug abwenden kann, wird mit einer Aufenthaltserlaubnis belohnt! Dieses Gesetz muss umgehend korrigiert und mit folgenden Forderungen ergänzt werden: – die konsequente Abschiebung abgelehnter Asylbewerber – die Verschärfung der Nichtanerkennungsregeln bei Straftaten von Asylbewerbern – die Einschränkung des Asyl-Missbrauchs unter dem Deckmantel „unbegleiteter minderjähriger Flüchtling“ (Altersbestimmung, Verschärfung der Nachzugsregelungen) 3. 48-Stunden-Schnellverfahren Solange die Voraussetzungen für die Asylbeantragung im Ausland noch nicht gegeben sind, müssen Asylanträge aus sicheren Herkunftsstaaten, sowie Anträge von Antragstellern, die über sichere Drittstaaten eingereist sind, innerhalb von 48 Stunden beschieden werden. Des Weiteren müssen Asylanträge, die ohne urkundlichen Nachweis von Staatsangehörigkeit und Identität gestellt werden, als offensichtlich unbegründet oder unzulässig innerhalb derselben Frist abgelehnt werden.“6
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Verfügbar unter: http://www.afdbayern.de/faq/zu-zuwanderung-und-asyl/ [22.12.2016].
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Stefan Padberg / Sabrina Zandl / Samuel Wintereder / Sebastian Lonsing
LITERATUR Amnesty International (2016). Verfügbar unter: https://www.amnesty.de/2017/2/27/deutschlandgewalt-gegen-fluechtlinge-nimmt-weiter-zu [4.7.17]. Carne Cruda Radio (2015). Interview. Verfügbar unter: http://www.eldiario.es/carnecruda/ programas/ [6.7.2017]. Deutsche Gesellschaft für Geographie (DgfG) (2007). Bildungsstandard im Fach Geographie für den Mittleren Bildungsstandard. Berlin. Focus (2016). Verfügbar unter: http://www.focus.de/politik/deutschland/erschreckende-zahlen-bkazaehlt-ueber-900-attacken-gegen-fluechtlingsunterkuenfte_id_6418636.html?utm_source=facebook [4.7.17]. IOM (2016). Verfügbar unter: http://www.iom.int/news/migrant-deaths-worldwide-top-7100-overhalf-mediterranean [4.7.17]. Mayer-Biskamp, F. (2016). Angst-Traum „Angst-Raum“. Über den Erfolg der AfD, „die Ängste der Menschen“ und die Versuche, sie „ernst zu nehmen“. Zeitschrift des Informations- und Dokumentationszentrums für Antirassismusarbeit in Nordrhein-Westfalen (IDA), 22 (3), 3–10. Mecheril, P. (Hrsg.) (2016). Handbuch Migrationspädagogik. 1. Aufl. Weinheim: Beltz. Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen (2007). Kernlehrplan für das Gymnasium – Sekundarstufe I (G8) in Nordrhein-Westfalen. Erdkunde. Düsseldorf. Padberg, S., Pichler, H., Hintermann, C., Baumann, S. (2016). Flucht und Migration bewegt Schüler/innen, Studierende und Lehrpersonen! Geographiedidaktik und Geographieunterricht für Menschenrechte und gegen Rassismus. GW-Unterricht, 143, 197–205. Rossière, S. & Jones, R. (2012). Teichopolitcs: Re-considering Globalisaton Through the Role of Wall and Fences. Geopolitcs, 17 (1), 217–234. Schultz, H. (1993). Deutschlands "natürliche Grenzen". In A. Demandt (Hrsg.), Deutschlands Grenzen in der Geschichte (S. 32–93). München: Beck. Schultz, H. (1997). Räume sind nicht, Räume werden gemacht. Zur Genese „Mitteleuropas“ in der deutschen Geographie. Europa Regional, 5 (1), 2–14. Schultz, H. (1999). Natürliche Grenzen als politisches Programm. In C. Honegger et al. (Hrsg.), Grenzenlose Gesellschaft (S. 328–343). Teil. 1 (= Verhandlungen des 29. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie etc.). Opladen: Leske + Budrich. Vielhaber, C. (2001). Politische Bildung in der Schulgeographie. In Sitte, W. & Wohlschlägl, H. (Hrsg.), Beiträge zur Didaktik des „Geographie- und Wirtschaftskunde“- Unterrichts (S. 333– 355). Materialien zur Didaktik der Geographie und Wirtschaftskunde. Band 16. Wien: Inst. für Geographie und Regionalforschung der Univ. Zeit (1961). Verfügbar unter: http://www.zeit.de/1961/03/fluechtlingsgespraeche/seite-2 [6.7.17].
FLUCHTMIGRATION ALS THEMA IN DER GRUNDSCHULE. EINE PROBLEM- UND FORSCHUNGSORIENTIERTE ANNÄHERUNG AN MOTIVE, ROUTEN SOWIE SCHWIERIGKEITEN VON FLÜCHTLINGEN Hannah Krings / Lena Weckauf / Günther Weiss
1. EINLEITUNG Die seit 2008 rapide angestiegene Flüchtlingszuwanderung nach Europa und insbesondere nach Deutschland gilt als zentrale Herausforderung für das gesellschaftliche Zusammenleben in den kommenden Jahren. Vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge wurden 2015 fast eine halbe Million Anträge auf Asyl entgegengenommen (vgl. BAMF, 2016; Ette & Swiacny, 2016). FluchtmigrantInnen sind gemäß der Genfer Flüchtlingskonvention Menschen, die ihr Land nicht freiwillig verlassen und dort wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung bedroht sind und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen können (vgl. UNHCR, 2017). Das Thema Fluchtmigration hat in den Medien unterschiedliche Konjunktur, wird jedoch immer wieder aufgegriffen. Die Darstellung in den Medien ist gerade für SchülerInnen der Primarstufe häufig schwer zu durchschauen. Es ist von verschiedenen Herkunftsländern die Rede, von sichern und unsicheren Ländern und von Flüchtlingen, die abgeschoben werden, weil sie angeblich in ihrem Heimatland gar nicht bedroht sind. Flüchtlinge kentern auf Schiffen im Mittelmeer, sind aber auch in Lagern an der Grenze zur Türkei und auf einer „Balkanroute“ unterwegs. Berichtet wird von Menschen, die nach Deutschland wollen aber auch solchen, die auf andere Länder abzielen und beispielsweise am französischen Eingang des Eurotunnels campieren, um nach Großbritannien zu gelangen. Neben der indirekten medialen Erfahrung begegnen Flüchtlinge den SchülerInnen seit der großen Immigrationswelle von 2015 auch zunehmend im Alltag: Es entstanden beispielsweise Containersiedlungen oder Zeltdörfer, um die große Zahl an FluchtmigrantInnen unterzubringen. Weiterhin brachten Integrationsbestrebungen der deutschen Gesellschaft Flüchtlinge vermehrt in Arbeitsstätten und Vereine sowie nicht zuletzt deren Kinder an Schulen, wo sie teilweise separiert in Vorbereitungsklassen, teilweise auch innerhalb bestehender Klassen, unterrichtet werden (vgl. Aumüller & Bretl, 2008). Ziel der vorliegenden Unterrichtseinheit ist es einen groben Überblick über die Fluchtmigration zu geben und Ordnung in die sehr heterogene mediale Darstellung
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zu bringen. Die SchülerInnen sollen erkennen, dass es unterschiedliche Fluchtmotive, Herkunftsländer, Fluchtrouten und Verkehrsmittel sowie Probleme in den Aufnahmegesellschaften gibt. Gemäß den Ansprüchen des problemorientierten, angeleitet forschenden Lernens geht es ferner darum, dass SchülerInnen lernen, selbst Informationen auszuwählen und diese fragengleitet aufzubereiten, indem sie einen eigenen Zeitungsartikel zu Aspekten des Themas Fluchtmigration verfassen. Dabei steht die Entnahme von Informationen aus thematischen Karten als Teil einer geographischen Orientierungskompetenz im Mittelpunkt des Forschens.
2. DIDAKTISCHER ANSATZ Die Tatsache, dass in der Schule gelerntes Wissen häufig in konkreten, alltäglichen Situationen nicht angewendet werden kann, wird u.a. auf die Steuerung des Lernprozesses durch die Lehrkräfte zurückgeführt, da die Lernenden zu häufig eine passiv-rezeptive Position einnehmen. In einer gemäßigt konstruktivistischen Perspektive ist Lernen aber ein Prozess, bei dem die Lernenden selbst einem Gegenstand Bedeutung zuordnen, ihn ihrem Vorwissen gemäß interpretieren und in die vorhandenen Wissensbestände einordnen. Lernen ist in diesem Verständnis ein aktiver, konstruktiver, selbst gesteuerter, emotionaler, sozialer und situativer Prozess (vgl. Mandl, 2010, S. 20). Diese konstruktivistische Sicht wird im Ansatz des problemorientierten Lernens aufgegriffen und didaktisch konkretisiert. Ziel von problemorientiertem Lernen ist erstens die Konstruktion einer flexiblen und breiten Wissensbasis, die unter verschiedenen Umständen angewendet werden kann. Dazu muss das Lernen in anwendungsbezogene Kontexte eingebaut und das Anknüpfen an vorhandenes Wissen ermöglicht werden. Zweitens geht es um die Entwicklung von effektiven Fertigkeiten der Problemlösung, d.h. die Fähigkeit, angemessene metakognitive Strategien und Vorgehensmuster zu aktivieren und zudem den Problemlöseprozess zu planen und zu kontrollieren. Drittens soll die Fähigkeit zu selbstgesteuertem lebenslangem Lernen entwickelt werden, d.h. die Lernenden sollen das fehlende Wissen identifizieren, Lernziele setzen, die Aktivitäten des Lernvorganges planen sowie die Zielerreichung überprüfen. Viertens sollen Lernende gute TeamarbeiterInnen werden, indem sie das Problem in einer Arbeitsgruppe bearbeiten, dort Diskrepanzen beseitigen, Aktivitäten koordinieren und Spielregeln aushandeln. Dies benötigt die Fähigkeit zu Ausdruck und offenem Austausch eigener Vorstellungen. Fünftens ist es Ziel der Problemorientierung, eine intrinsische Lernmotivation zu schaffen. Ein geeignetes Problem kann auch für heterogene Gruppen interessant sein, wenn es herausfordernd ist und die Anwendung von bestehendem oder noch zu beschaffendem Wissen auf das konkrete Problem ermöglicht wird (vgl. Hmelo-Silver, 2004, S. 240f.). Problemorientierung kann im Unterricht auf verschiedenen Wegen realisiert werden. Die didaktischen Vorschläge bewegen sich zwischen zwei Polen: Im einen Extrem wird die Lösung beispielhaft vom Lehrenden präsentiert, begründet und vom Lernenden nur nachvollzogen. Im anderen Extrem erarbeiten Lernende die Lösung komplett selbstständig. Dazwischen angesiedelt sind Vorgehensweisen, bei
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denen Lernende vom Lehrenden angeleitet die Lösung erarbeiten (vgl. Savin-Baden, 2006). Für die Grundschule scheint ein solches angeleitetes Vorgehen sinnvoll, da die Lernenden noch wenige Vorkenntnisse und eine geringe Fehlertoleranz besitzen. Daher folgt auch der nachfolgende Unterrichtsvorschlag dem Ansatz eines problemorientierten, angeleiteten forschenden Lernens.
3. KLASSENSTUFE UND CURRICULARE BEZÜGE Die vorliegende Unterrichtseinheit wurde für eine 3. Grundschulklasse entwickelt und dort mit Erfolg durchgeführt. Grundsätzlich kann der Unterrichtsrahmen auch in noch höheren Jahrgangsstufen verwendet werden, wobei den Lernenden zunehmend größere Freiräume bei Auswahl und Beschaffung der notwendigen Informationen eingeräumt werden können. Die Möglichkeiten der curricularen Einbindung sollen beispielhaft an Lehrplänen für Grundschulen in Nordrhein-Westfalen aufgezeigt werden: Schwerpunktmäßig gehört das Thema hier in den Sachunterricht und kann dort in drei Bereiche eingeordnet werden: Gemäß dem Bereich „Mensch und Gemeinschaft“, Schwerpunkt „Zusammenleben in der Klasse, in der Schule und in der Familie“, sollen sich SchülerInnen in die Gefühle, Bedürfnisse und Interessen anderer Menschen (hier der Flüchtlinge) hineinversetzen und aus deren Sicht argumentieren können. Im Bereich „Zeit und Kultur“, Schwerpunkt „Viele Kulturen – eine Welt“, wird erwartet, dass SchülerInnen Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Menschen und deren Lebenssituation vergleichen können (hier Flüchtlinge mit verschieden Anlässen zur Flucht, Vergleich zur eigenen Situation). Im Bereich „Raum, Umwelt, Mobilität“, Schwerpunkt „Wohnort und Welt“, wird formuliert, dass SchülerInnen Veränderungen in geographischen Räumen (hier durch Fluchtmigration nach Europa) untersuchen, beschreiben und vergleichen sollen. Im Schwerpunkt „Schule und Umgebung“ wird das Nutzen von Karten (hier thematische Europa- / Weltkarten) als Orientierungsmittel gefordert (vgl. MSW, 2008, S. 46ff.). Neben dem Sachunterricht besitzen einige Aspekte der Unterrichtseinheit starke Bezüge zum Lehrplan Deutsch. Im Bereich „Lesen - mit Texten und Medien umgehen“ sollen SchülerInnen lernen, Informationsangebote (hier verschiedene Karten, Statistiken, Bilder) zu nutzen und begründet auszuwählen. Im Bereich „Schreiben“ geht es darum, dass SchülerInnen, wie im Schwerpunkt „Texte situations- und adressatengerecht verfassen“ gefordert, bis zum Ende der 4. Klasse lernen, Texte verschiedener Textsorten funktionsangemessen, u.a. darstellende Texte (hier Zeitungsartikel), verständlich und strukturiert zu verfassen (vgl. MSW, 2008, S. 29ff.).
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4. VORGEHEN 4.1 Einstieg Im problemorientierten Lernen ist der Einstieg ein bedeutendes Element des Unterrichts, da es nicht darum geht, ein Thema zu benennen, sondern ein für die SchülerInnen sinnvolles Lernbedürfnis zu initiieren. Das am Anfang stehende Problem soll den SchülerInnen verdeutlichen, dass Sie zu einem bedeutsamen Gegenstand nur unzureichendes Wissen haben und, verbunden mit der subjektiv empfundenen Herausforderung, die Lösung des Problems als wichtig empfinden. Denn ein Problem an sich gibt es nicht; es muss sich dem Subjekt individuell stellen (Betroffenheit) und es muss beim Subjekt eine Bereitschaft entstehen, das Problem zu bearbeiten (Involviertheit) (vgl. Dreßler, 2016, S. 15). Budke (2007) identifiziert drei Möglichkeiten problemorientierter Einstige: Über Wissenslücken, Widersprüche und Kompliziertheit. Allen drei Wegen ist gemeinsam, bei den SchülerInnen Irritation und den Wunsch nach Klärung, mithin Motivation für die Beschäftigung mit dem Thema, erreichen zu wollen. Der Einstieg über Lücken will verdeutlichen, dass etwas nicht bekannt ist. Der Einstieg über Kompliziertheit stellt die SchülerInnen vor ein scheinbar schweres Rätsel, verbunden mit dem Versprechen, dass dieses für die Lernenden durch Nachdenken grundsätzlich lösbar ist (z.B. Gestaltung eines „Mysterys“ in der Logik eines Kriminalfalls mit einzelnen „Zeugenaussagen“ zur Frage „Warum soll das Flüchtlingskind Madschabihn nach Afghanistan zurückgeschickt werden?“). Das breiteste Spektrum von Optionen bietet der Einstieg über Widersprüche: Im Sachunterricht grundsätzlich lohnend sind Widersprüche generierende Einstiege über individuelle SchülerInnenvorstellungen. Sofern davon ausgegangen werden kann, dass SchülerInnen gewisse Vorkenntnisse oder zumindest Vermutungen zu einem Thema haben, werden diese aufgefordert, einen Sachverhalt wenn möglich zu malen bzw. in Stichworten zu beschreiben. In diesem Fall könnten vorweg folgende Fragen gestellt werden: Aus welchen Ländern kommen Flüchtlinge? Warum verlassen sie ihr Heimatland? Wie kommen sie zu uns? Was für Schwierigkeiten haben sie nach Ihrer Ankunft in Deutschland? Die Antworten sollten von den SchülerInnen notiert und anschließend dem Plenum präsentiert werden (z.B. Übertragen an die Tafel). Aus den mit größter Wahrscheinlichkeit unterschiedlichen Antworten kann Unsicherheit erzeugt und Klärungsbedarf plausibel abgeleitet werden. Alternativ könnten den SchülerInnen verschiedene Überschriften aus Zeitungen und Zeitschriften zum Thema Fluchtmigration präsentiert werden, die sich tendenziell widersprechen (z.B. über Herkunftsländer: Syrien, Irak, Afghanistan; oder über Routen: Mittelmeer, Balkanroute). Aus einem sehr abstrakt formulierten oder mehreren widersprüchlichen Artikeln kann die Notwendigkeit abgeleitet werden, einen eigenen, besser verständlichen Artikel für andere Kinder zu verfassen und mithin in die Rolle eines Journalisten zu schlüpfen. Damit ist zugleich ein Anspruch an den Weg der Problembearbeitung festgelegt: Ein (echter) Journalist schreibt nicht einfach die Artikel von KollegInnen aus anderen Zeitungen ab, sondern re-
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cherchiert selbst. Dazu muss er nicht unbedingt in die Herkunftsländer der Flüchtlinge reisen, sondern kann sich auch amtlicher, unter kontrollierten Bedingungen erhobener, statistischer Daten bedienen, diese selbst auswerten und in einen Text umformen. Da Kinder in der Regel selten ZeitungsleserInnen sind, erzeugt dieser Einstieg weniger Betroffenheit als die direkte Auseinandersetzung mit den Vorstellungen der MitschülerInnen. Anderseits erlaubt er einen direkten Übergang zu einem anwendungsbezogenen Kontext der Problembearbeitung, denn es geht nicht (nur) darum, individuelles Wissen zu erweitern, sondern auch andere zu informieren. Den SchülerInnen diese Expertenrolle anzudienen, legitimiert nicht nur das Procedere der Problembearbeitung, sondern kann auch dazu motivieren, das beabsichtigte Produkt „Zeitungsartikel“ zu erstellen (vgl. Weiss, 2017). Wichtig ist dabei, dass der zu erstellende Artikel auch öffentlichkeitswirksam verwendet wird. Bei der Durchführung der Unterrichtseinheit wurden ausgewählte Artikel auf einer Litfasssäule im Treppenhaus der Schule zur Information der anderer SchülerInnen, LehrerInnen und Eltern ausgestellt. Für den Einstieg sind je nach Vorgehensweise 20 bis 45 Minuten anzusetzen.
1. Problemorientierter Einstieg: Sammeln und Vergleichen der SchülerInnenvorstellungen zu den Fragen: Aus welchen Ländern kommen Flüchtlinge? Warum verlassen sie ihr Heimatland? Wie kommen sie zu uns? Was für Schwierigkeiten haben sie nach Ihrer Ankunft in Deutschland? 2. Überleitung zur Arbeitsphase: Klärung von Widersprüchen der SchülerInnenvorstellungen durch eine eigene Recherche der SchülerInnen für einen Zeitungsartikel. 3. Arbeitsteilige Gruppenarbeit zu den Themen „Herkunftsländer und Fluchtgründe“, „Fluchtrouten und Verkehrsmittel“ sowie „Probleme der Flüchtlinge in Deutschland“ anhand vorgegebener Materialien. 4. Individuelles Verfassen und Gestalten eines Zeitungsartikels aus den in Schritt 3 gewonnenen Informationen. 5. LehrerInnen wählt inhaltlich und formal gute Artikel für die Präsentation (SchülerInnenzeitung, Infosäule, Schaukasten etc.) aus. Abb. 1: Ablaufschema der Unterrichtseinheit
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4.2 Erarbeitung Nachdem die Problemstellung geklärt ist, wird die Erarbeitungsphase in arbeitsteiliger Gruppenarbeit organisiert. Dazu werden jeweils Gruppen von 4 bis 6 SchülerInnen einem der drei Themen „Herkunftsländer und Fluchtgründe“, „Fluchtrouten und Verkehrsmittel“ sowie „Probleme der Flüchtlinge in Deutschland“ zugeteilt. Gegebenenfalls wird ein Thema an zwei oder mehr Arbeitsgruppen vergeben. Weitere Themen sind je nach Interessen der Kinder denkbar, z.B. die „Wohnsituation der Flüchtlinge“. Das arbeitsteilige Vorgehen spart Unterrichtszeit und legitimiert zusätzlich das Verfassen eines Artikels für andere SchülerInnen, da es nun Kinder gibt, die sich über einen Aspekt nicht selbst informieren konnten. Die SchülerInnen werden aufgefordert, in den Arbeitsgruppen eigene konkrete Fragen zu ihrem Unterthema zu formulieren und aufzuschreiben. Gegebenenfalls müssen durch den Lehrenden Anregungen oder eine Beispielfrage gegeben werden. Die Fragen der Testklasse werden weiter unten benannt, um Einblick in den Fragehorizont der Kinder zu geben. Mit der Begründung, dass sich ein Journalist aus erster Hand informiert, werden den SchülerInnen keine fertigen Texte, sondern statistisches Material, vor allem in Form von Karten gegeben, um den Raumbezug der Daten zu verdeutlichen und deren räumliche Zuordnung gegenüber einer Datentabelle zu erleichtern. Auf diese Weise soll auch die Kompetenz im Umgang mit Karten geschult werden. Um dem Anspruch gerecht zu werden, hier Daten aus erster Hand auszuwerten, werden keine vereinfachten, grundschulspezifischen Karten verwendet, sondern Informationen, die auch ein Journalist heranziehen würde, z.B. Informationen des „Bundesamts für Migration und Flüchtlinge“ oder der „Bundeszentrale für politische Bildung“. Zum Sichten und Auswerten des Materials sollte den SchülerInnen mindestens eine Doppelstunde (90 Minuten) zur Verfügung stehen. Zur Strukturierung der Aufgaben kann das Arbeitsblatt M1 verwendet werden. Im Folgenden werden Fragen und Arbeitsmaterialien der einzelnen Gruppen kurz vorgestellt: a) Gruppe „Herkunftsländer und Fluchtgründe“ Folgende Fragen wurden in den beiden Arbeitsgruppen formuliert: Warum flüchten Menschen? Warum werden Menschen in ihrem Heimatland schlecht behandelt? Woher kommen die meisten Flüchtlinge? Wie viele Flüchtlinge gibt es ungefähr? Wie entsteht Krieg? Die SchülerInnen erhalten folgendes Material: Eine Karte „Wichtigste Migrationsströme seit 1990“ weltweit (wichtige Herkunfts- und Zielländer, vgl. M2 in Kap. 5), eine Karte „Migration – Erde“ im Diercke Weltatlas 2015, ebenfalls mit wichtigen Herkunfts- und Zielländern (M3), ein Tortendiagramm zu den Hauptherkunftsländern der Asylbewerber in Deutschland 2015 (M4), eine Weltkarte „Krisenherde der Welt im Überblick“ (M5) mit stichwortartiger Information zur Art der Krise in den einzelnen Ländern (Bürgerkrieg, Terrorismus, religiöse / ethnische Verfolgung, Hunger) sowie eine Karte „Hauptflüchtlingsrouten zwischen Mai 2014 und September 2015 nach Europa“ (M6).
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b) Gruppe „Fluchtwege und Fluchtmittel“ Folgende Fragen wurden von den Kindern formuliert: Wie fliehen die Flüchtlinge aus ihrem Land? Wie viele Flüchtlinge kommen über das Wasser? Warum nehmen die Flüchtlinge immer denselben Weg? Wie lange dauert die Flucht? Fliehen die Menschen nur nach Europa oder auch in andere Kontinente? Wie viele Kilometer müssen sie von Syrien nach Deutschland fahren? Die SchülerInnen erhalten folgendes Material: Eine Karte „Wichtigste Migrationsströme seit 1990“ weltweit (wichtige Herkunftsländer und Zielländer) (M2), eine Karte „Hauptflüchtlingsrouten zwischen Mai 2014 und September 2015 nach Europa“ (westliche, zentrale, östliche Mittelmeerroute, Ostafrikanische Route, Balkanroute) (M6), eine Karte „Balkanroute“ (Wege und durchquerte Länder zwischen Syrien und Deutschland) (M7) sowie die Karte „Flüchtlingskrise in Europa 2015“ mit der Zahl der Nutzer einzelner Fluchtrouten, der Zahl der aufgenommenen Flüchtlinge nach Land und einer Balkengraphik der Flüchtlinge nach Herkunftsstaaten (M8). c) Gruppe „Sprachen und Probleme“ Zu diesem Aspekt formulierte Fragen waren: Welche Sprachen sprechen und welche Schrift schreiben die Flüchtlinge? Gibt es Lehrer für Flüchtlinge? Haben Flüchtlinge viele Freunde? Warum müssen Flüchtlinge wieder gehen? Als Material erhalten die SchülerInnen eine Karte aus dem Diercke Weltatlas 2015 zu „Sprachen der Welt“ (M9), weiterhin ein Arbeitsblatt, auf dem Ländernamen in landestypischen Schriften notiert sind (Arabisch, Persisch, Tigrinya) (M10). Das Vorgeben von mehreren Karten pro Thema soll die SchülerInnen dazu anregen, sich mit der Aussage der Karten intensiver auseinanderzusetzen und – wie es auch ein Journalist tun muss – zu überprüfen, welche Variante als Informationsquelle für die zu beantwortende Frage geeigneter ist. Zunächst muss geklärt werden, welche der Karten-Information überhaupt benötigt wird. So zeigt die Karte der Migration im Diercke Atlas (2015, S. 279) die globalen Migrationsbewegungen nach Migrationsform (Arbeitsmigranten, Flüchtlinge, Binnenwanderung). Hier wäre nur auf die Signaturen in der Farbe der Flüchtlingsbewegung zu achten. Für die Frage „Wie viel Flüchtlinge kommen über das Wasser [= Mittelmeer]“ ist eine standardisierte Darstellung der Fluchtrouten mit gleich großen Pfeilen unbrauchbar; nur in einer Karte lässt sich die Zahl der Grenzübertritte differenziert nach Route an der Dicke der Pfeile ablesen. Weiterhin muss entschieden werden, welcher Detaillierungsgrad gewünscht ist. Manche Karten fassen Flüchtlingsrouten mit einem Pfeil zusammen, andere erfassen die genauen Wege und Knotenorte. Der Test hat dabei gezeigt, dass die SchülerInnen von der Arbeit mit mehr als zwei Karten zu einem Thema tendenziell überfordert sind, da der Umgang mit thematischen Weltkarten noch ungewohnt und die Komplexität (Zahl der Informationsschichten) mancher Karte recht hoch ist. Zudem weisen die Karten abhängig von Aktualität und Definitionen auch Widersprüche auf. So zählt in einer Karte (z.B. „Wichtige Migrationsströme nach 1990“) die Türkei zu den „Herkunftsländern der großen Flüchtlingsströme“, in allen anderen Karten zur selben Thematik nicht. Eine Hilfestellung ist auch bei der Identifizierung von Staaten auf Karten, die
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nur Ländergrenzen, aber keine Staatennamen enthalten nötig (z.B. Atlaskarte „Erde – Sprachen“), da das Erkennen von Grenzumrissen noch schwer fällt und Kinder die Staaten leicht verwechseln. Abhängig von den Vorkenntnissen kann es notwendig sein, erst einmal den Umgang mit Karten und Diagrammen zu üben bzw. in Erinnerung zu rufen. In der Testklasse wurde dazu ein Arbeitsblatt zur Kartenauswertung verteilt. In diesem Arbeitsblatt sollten die SchülerInnen aus einer Karte zum Ausländeranteil in Deutschland nach Landkreisen unter Verwendung der Legende konkrete Informationen entnehmen (z.B. „Wie hoch ist der Anteil der Ausländer in Köln?“ oder „Wie hoch ist der Anteil der ausländischen Bevölkerung ungefähr in ganz RheinlandPfalz?“). Im durchgeführten Unterricht konnten die Kinder viele ihrer Fragen mit Hilfe des Materials beantworten, wenn auch selten vollständig. Beispielsweise wurden nur einige Quellländer der Flucht aus den Karten heraus identifiziert. Zur Illustration möglicher Antworten werden nachfolgend die Ergebnisse der Gruppe „Herkunftsländer und Gründe“ aufgeführt: „1. Warum flüchten die Menschen? Wegen Terrorismus, Bürgerkrieg und anderen Religionen in ihrem Land 2. Warum werden die Flüchtlinge in ihrem Heimatland schlecht behandelt? Wenn sie z.B. eine andere Religion oder Meinung haben. 3. Woher kommen die meisten Flüchtlinge? Aus dem Iran, Syrien, Afghanistan und der Türkei. 4. Wie viele Flüchtlinge gibt es ungefähr? Über 60.000.000 Menschen sind momentan auf der Flucht. 5. Wie entsteht der Krieg? Weil sich Leute nicht entscheiden können und unterschiedliche Meinungen haben.“
Bei manchen Antworten ist unklar, ob die Problematik verstanden wurde. So wurden z.B. als Fluchtgründe „Terrorismus, Bürgerkrieg und andere Religionen in ihrem Land“ aufgeschrieben, wobei religiöse Vielfalt natürlich nicht das Problem darstellt, sondern Intoleranz einer herrschenden Mehrheit. Einige Fragen der SchülerInnen konnten nicht aus dem Material beantwortet werden; in diesem Fall wurden die Kinder auf plausible Vermutungen gelenkt. So wurde die Frage nach dem Grund für die Wahl weniger bestimmter Routen mit „Weil es sicher ist“ beantwortet, als Grund für die Entstehung von Kriegen „Weil sich die Leute nicht entscheiden können und unterschiedliche Meinungen haben“. Diese Antworten sind zwar nicht tiefgründig, bieten aber zumindest einen ersten, sachlich nicht falschen Zugang zu diesen Themen. Grundsätzlich ist es schwierig, solche Fragen forschend zu beantworten, da hier einfache (statistische) Daten nicht mehr genügen. Hier könnte man, um weiterhin forschend vorzugehen, mit Interviews ausgewählter ExpertInnen der Flüchtlingshilfe oder mit Mail-Anfragen an solche ExpertInnen gearbeitet werden. Dies bedarf jedoch eines größeren Aufwandes für die Vorbereitung (Akquise und
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Einverständnis der ExpertInnen); zudem ist bei ExpertInnen unsicher, ob sie in der Lage sind, ihre Antworten für Kinder nachvollziehbar zu formulieren. Das Einladen einzelner Flüchtlinge zum Gespräch in den Klassenraum birgt emotionale Risiken (evtl. Traumatisierung durch Flucht, Schamgefühl angesichts von Problemen) und bietet ohnehin nur singuläre Einblicke, so dass allgemeine Fragen (z.B. „Haben Flüchtlinge viele Freunde?“) nicht grundlegend beantwortet werden können. Daher wurde in der vorliegenden Unterrichtseinheit auf diese Möglichkeiten verzichtet. Um das Interesse der SchülerInnen am Thema Flüchtlinge nicht auszubremsen, empfiehlt es sich jedoch, auch solche, nicht einfach zu beantwortenden Fragen, zu akzeptieren.
4.3 Sicherung Zu Sicherung der Ergebnisse erhalten die SchülerInnen die Aufgabe, aus den jeweils in ihrer Gruppe stichwortartig beantworteten Fragen individuell einen zusammenhängenden Text in Form eines Zeitungsartikels für ihr Thema zu formulieren, um auf diese Weise andere in der Klasse und in der Schule zu informieren. Aus diesem Grund wurde auch darauf verzichtet, die Ergebnisse der Gruppenarbeiten vorab dem Klassenplenum mündlich vorzustellen; dadurch wäre der Anlass zum Verfassen und Lesen der Artikel obsolet geworden. Damit die Gruppennotizen jedem Kind individuell zur Verfügung stehen, werden sie kopiert. Weiterhin erhält jede Gruppe in einem Umschlag Bilder zum Thema, wobei jedes Bild als Kopie jeder Schülerin / jedem Schüler zur Verfügung steht. Für diese Aufgabe haben die SchülerInnen etwa 60 Minuten Zeit. Abhängig von den Vorkenntnissen ist es wiederum notwendig, kurz in die Merkmale der Textsorte „Zeitungsartikel“ einzuführen. Im Testunterricht sollten die SchülerInnen über einen Museumsrundgang die strukturellen und inhaltlichen Ähnlichkeiten typischer Zeitungsartikel erkennen (hier zum Thema Wetterprognosen für Weihnachten). Als relevante formale Merkmale wurden eine groß geschriebene, kurze Überschrift, sowie gegebenenfalls ein Untertitel, Abschnitte für jedes Teilthema mit Absatz bzw. Leerzeile danach und ein Bild zur Illustration des Themas festgehalten. Als wichtige inhaltliche Merkmale können eine Interesse weckende Einführung in das Thema, ein Hauptteil und eine kurze Zusammenfassung sowie das Vermeiden von Gefühlsausdrücken zugunsten eines sachlichen Berichts genannt werden. Abhängig von fächerübergreifenden Intentionen einer Textsortendidaktik kann diese Schulung auch einfacher oder intensiver ausfallen und weniger oder weitere Merkmale einbeziehen. Die SchülerInnen werden aufgefordert den Artikel so zu gestalten, dass andere Kinder stehen bleiben und Lust haben, ihn zu lesen, indem z.B. ein das Thema gut illustrierendes Bild verwendet, eine spannende Überschrift gewählt und deutlich geschrieben wird. Um Irritationen zu vermeiden, ist zu klären, wie mit Fehlern bzw. Änderungen umgegangen werden („Durchstreichen oder neu schreiben?“) und welche Länge der Artikel haben soll („Woran merke ich, ob es genug ist?“) sowie wel-
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che Art der Kooperation mit anderen zulässig ist (z.B. Nachfragen bei schlecht lesbaren Notizen). Die Artikel der SchülerInnen werden auf korrekten Inhalt und Rechtschreibung hin überprüft. Artikel, die den Vorgaben entsprechen und auch sprachlich zufrieden stellen, werden ausgewählt und „veröffentlicht“, im vorliegenden Fall an der Informationssäule im Treppenhaus befestigt. Abhängig von den Formulierungsfähigkeiten der SchülerInnen wurden in der Testklasse Artikel von sehr unterschiedlicher Qualität verfasst. Einige Kinder fanden eine spannende Überschrift und gaben ihre Erkenntnisse inhaltlich und auch formal korrekt wieder. Um einen Erwartungshorizont abzustecken, hier ein Beispiel aus der Gruppe „Fluchtwege und Fluchtmittel“: „‚Die lange Reise der Flüchtlinge‘ Momentan sind sehr viele Flüchtlinge unterwegs. Sie kommen zum Teil meistens aus Syrien und Russland. Sehr viele Flüchtlinge müssen zu Fuß nach Deutschland und in andere Länder gehen, aber trotzdem müssen manche ihr Glück auf einem alten Wrack versuchen. Der Weg von Syrien nach Deutschland ist rund 3.150 Kilometer weit und von Russland sind es 1.800 Kilometer, aber eine Sache ist klar: Anstrengend wird es.“
Schwächere SchülerInnen orientierten sich stark an den Forschungsfragen ihrer Gruppe und schreiben lediglich diese Fragen mit jeweils einer kurzen Antwort ab, so dass der Charakter eines Zeitungsartikels nicht erreicht wurde. Etliche SchülerInnen hätten die Artikel lieber in ihrer Arbeitsgruppe verfasst, konnten jedoch mit Verweis auf eine gewünschte Auswahl und die Tatsache, dass letztlich jeder als Journalist seine Fähigkeiten unter Beweis stellen sollte, zur individuellen Arbeit motiviert werden. Zur Unterstützung formulierungsschwacher SchülerInnen kann die Kooperation in Partnerarbeit erlaubt werden. Als weitere Hilfestellung kann eine grob vorgestaltete Zeitungsseite (großes, leeres Kästchen für Überschrift, Linien für Text, Platzhalter für Bild) verteilt werden, für Kinder mit großen Sprachproblemen evtl. sogar mit einer Auswahl vorformulierter Sätze auf Basis der Gruppennotizen, in die nur noch konkrete Fakten oder erläuternde Adjektive eingetragen werden müssen. Abschließend wurden die SchülerInnen der Testklasse nach einem eingeübten Schema zu einem Feedback über die Unterrichtsreihe gebeten. Dazu wurden zu jedem Aspekt jeweils nur drei Meldungen der Kinder abgerufen, damit die Aussagen sich nicht wiederholen: Die aufgerufenen SchülerInnen fanden gut, dass „man selber überlegen und schreiben konnte“ und ihnen gefiel die Themenstellung. Nicht verstanden hatten sie, „ob die Flüchtlinge in einem Dorf bleiben und anderen Menschen helfen würden“, „ob die Flüchtlinge anderen Menschen auch helfen“ und „ob sie genug Essen haben“. Nach eigener Einschätzung hatten sie gelernt, dass „Flüchtlinge in unterschiedlichen Ländern leben“, „es unterschiedliche Gründe gibt, warum jemand flieht“ und „dass die Flüchtlinge verschiedene Sprachen reden.“ Dieses kurze Feedback deutet an, dass die beabsichtigten Inhalte auch von den Kindern als wesentlich behalten wurden. Die offene Frage, ob Flüchtlinge auch selbst anderen helfen, stellt eine Anregung dar, die SchülerInnen-Forschung um diesen Aspekt zu erweitern (Thema „Flüchtlinge als Helfer“), zumal tatsächlich Flüchtlinge nicht selten Landsleuten beim Einleben zur Seite stehen, sobald sie
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selbst im Aufnahmeland etwas etabliert sind. Die Qualität der Schreibergebnisse streute erheblich, belegt aber eine grundsätzlich erfolgreiche Informationsentnahme aus den Primärmedien sowie eine hohe Motivation für die eigene Recherche im Rahmen journalistischer Tätigkeit.
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MATERIALANHANG M1: Arbeitsblatt „Journalisten auf den Spuren der Flüchtlinge in Deutschland“ Unser Thema lautet: __________________________________________________________________ 1. Überlegt, was ihr zu dem Thema wissen möchtet. Tragt unten in die linke Spalte der Tabelle die Fragen eurer Gruppe ein. 2. Jede Gruppe erhält eine Reihe von Materialien (Karten, Diagramme und Ähnliches). Versucht nun, mit Hilfe des Materials euere Fragen zu beantworten. Wenn ihr nicht weiter wisst, meldet euch bitte und fragt. Tragt die Antworten, die ihr aus dem Material gefunden habt, in die rechte Spalte der Tabelle neben die passende Frage ein. Frage 1:
Antworten:
Frage 2:
Antworten:
Frage 3:
Antworten:
Frage 4:
Antworten:
Frage 5:
Antworten:
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Schreibt hier Fragen oder Unklarheiten auf, die bei der Arbeit mit dem Material neu aufgetreten sind. __________________________________________________________________ __________________________________________________________________ __________________________________________________________________
3. Nachdem ihr aus dem Material Antworten auf eure Fragen gefunden habt, sollt ihr nun daraus einen Zeitungsartikel schreiben und gestalten. Hier sind noch einmal wichtige Merkmale eines Zeitungsartikels: Kreuzt zum Schluss an, welche Merkmale ihr berücksichtigt habt.
Kurze, groß geschriebene Überschrift Einleitung
Eine Interesse weckende
Hauptteil mit den Informationen zum Thema Schluss
Kurze Zusammenfassung am
Bild zur Veranschaulichung des Themas
M2: Karte: „Wichtige Migrationsströme seit 1990“. In Felsch, M. & Radde, D., Seeber, C., Töppner, G., Kort, HG. & Müller, F. (2011). Seydlitz Geographie Oberstufe. Ausgabe für die Sekundarstufe II in Berlin, Bandenburg und Mecklenburg Vorpommern. Braunschweig: Schroedel.
M3: Karte: „Migration – Erde“. Diercke Weltatlas, 2015, S. 279.
M4: Diagramm: „Hauptherkunftsländer im Jahr 2015“. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Hrsg.) (2015). Aktuelle Zahlen zum Asyl.
M5: Karte: „Flucht - die Krisenherde der Welt im Überblick“. Misereor (Hrsg.) (2016). Projekttag zum Thema „Flucht“. Materialien für die Sekundarstufe II. Verfügbar unter: https//www. misereor.de/fileadmin/publikationen/unterrichtsmaterial-projekttag-zum-thema-flucht.pdf [14.08-2017].
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Hannah Krings / Lena Weckauf / Günther Weiss
M6: Karte: „Flucht nach Europa – Hauptflüchtlingsrouten zwischen Mai 2014 und September 2015“. Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.) (2015). Spicker aktuell Nr. 2: Flucht und Asyl 2015. Verfügbar unter: http://www.bpb.de/shop/lernen/Spicker-Politik/217681/flucht-und-asyl-2015.
M7: Karte: Balkanroute. In taz.de vom 23.12.2014. Protokoll einer Flucht aus Syrien. Odyssee in ein neues Leben. Verfügbar unter: www.taz.de/picture/76855/948/GrafikFlucht_Europa01.jpg [14.08.2017].
M8: Karte: „Flüchtlingskrise in Europa 2015“. Verfügbar unter: https://wiki.zum.de/wiki/Datei:Karte_Flüchtlingskrise_in_Europa_2015.png [14.08-2017].
M9: Karte: „Erde - Sprachen“. Diercke Weltatlas, 2015, S. 278.
M10: Arbeitsblatt: „Sprachlos“. Verfügbar unter: http://www.planet-schule.de/ schule.de/fileadmin/dam_media/swr/seeking_refuge/pdfdoc/zuflucht_grundschule _ab2.pdf [14.08-2017].
Fluchtmigration als Thema in der Grundschule
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LITERATUR Aumüller, J. & Bretl, C. (2008). Die kommunale Integration von Flüchtlingen in Deutschland. Berlin: Institut für vergleichende Sozialforschung. Budke, A. (2007). Einstiege in Geographiestunden. Praxis Geographie, 37 (1), 4–7. BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (2016). Migrationsbericht des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge im Auftrag der Bundesregierung. Migrationsbericht 2015. Verfügbar unter: https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Publikationen/Migrationsberichte/ migrationsbericht-2015.pdf?__blob=publicationFile [04.04.2017]. Dreßler, S. (2016). Was ist (d)ein Problem? Überlegungen zur Gestaltung eines problemhaltigen Musikunterrichts. In S. Dreßler (Hrsg.), Zwischen Irritation und Erkenntnis. Zum Problemlösen im Fachunterricht (S. 13–29). Münster / New York: Waxmann. Ette, A. & Swiacny, F. (2016). Migration von Flüchtlingen. Aktuelle Entwicklungen in Deutschland im historischen und internationalen Vergleich. Geographische Rundschau, 68 (4), 48–57. Hmelo-Silver, C. E. (2004). Problem-Based Learning: What and How do Students Learn? Educational Psychology Review, 16 (3), 235–266. Mandl, H. (2010). Lernumgebungen problemorientiert gestalten. Zur Entwicklung einer neuen Lernkultur. In E. Jürgens & J. Standop (Hrsg.), Was ist „guter“ Unterricht? Namhafte Expertinnen und Experten geben Antwort (S. 19–38). Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt. MSW - Ministerium für Schule und Weiterbildung NRW (Hrsg.) (2008). Richtlinien und Lehrpläne für die Grundschule in Nordrhein-Westfalen. Frechen: Ritterbach. Savin-Baden, M. (2006). Challenging Models and Perspectives of Problem-Based Learning. In E. de Graaf & A. Kolmos (Hrsg), Management of Change. Implementation of Problem-Based and Project-Based Learning in Engineering (S. 9–29). Rotterdam / Taipei: Sense Publishers. UNHCR - United Nations High Commissioner for Refugees (Hrsg.) (2017). Fragen und Antworten: Flüchtling. Verfügbar unter: http://www.unhcr.de/questions-und-answers/fluechtling.html [04.04.2017]. Weiss, G. (2017). Problem-Oriented Learning in Geography Education: Construction of Motivating Problems. Journal of Geography, 116 (5), 206–216.
AUTORINNEN UND AUTOREN Aufenvenne, Philipp Institut für Geographie Seminarstr. 19 a/b 49074 Osnabrück [email protected] Bernzen, Amelie, Dr. rer. nat Geographisches Institut Albertus-Magnus-Platz 50923 Köln [email protected] Braun, Boris, Prof. Dr. Geographisches Institut Albertus-Magnus-Platz 50923 Köln [email protected] Budke, Alexandra, Prof. Dr. Institut für Geographiedidaktik Gronewaldstr. 2 50931 Köln [email protected] Dauberschmidt, Franziska Institut für Germanistik Neuer Graben 40 49074 Osnabrueck [email protected] Ege, Ronja Institut für Geographiedidaktik Gronewaldstr. 2 50931 Köln [email protected]
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Autorinnen und Autoren
Gantefort, Christoph, Dr. Mercator-Institut für Sprachförderung und Deutsch als Zweitsprache Innere Kanalstraße 15 50823 Köln [email protected] Hintermann, Christiane, Mag. Dr. Institut für Geographie und Regionalforschung Universitätsstraße 7/5 A-1010 Wien [email protected] Hoogen, Andreas, Dr. Gymnasium Hochdahl Rankestr. 4-6 40699 Erkrath [email protected] Krings, Hannah Studentin der Universität zu Köln Albertus-Magnus-Platz 50923 Köln [email protected] Kuckuck, Miriam, Jun. Prof. Dr. Institut für Geographie und Sachunterricht Gaußstr. 20 42119 Wuppertal [email protected] Land, Matthias, M.A. Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) Universität Osnabrück Postfach: 49069 Osnabrück [email protected] Langer, Stephan, StR i.H. Geographisches Institut Albertus-Magnus-Platz 50923 Köln [email protected]
Autorinnen und Autoren
Leimbrink, Nina, B.Sc. Institut für Geographie Seminarstraße 19ab 49074 Osnabrück [email protected] Lonsing, Sebastian Institut für Geographie und Regionalforschung 1010 Wien [email protected] Maier, Veit Institut für Geographiedidaktik; Mercator-Institut für Sprachförderung und Deutsch als Zweitsprache Gronewaldstr. 2 50931 Köln [email protected] Morawski, Michael, Dipl.-Geograph Institut für Geographiedidaktik Gronewaldstr. 2 50931 Köln [email protected] Padberg, Stefan, Dr. Institut für Geographie und Sachunterricht Gaußstraße 20 42119 Wuppertal [email protected] Pochadt, Max, B.Sc. Institut für Geographie Seminarstraße 19ab 49074 Osnabrück [email protected] Pott, Andreas, Prof. Dr. phil. Institut für Geographie/ Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) 49069 Osnabrück [email protected]
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Autorinnen und Autoren
von Reumont, Frederik Institut für Geographiedidaktik Gronewaldstr. 2 50931 Köln [email protected] Seidel, Sebastian, M.Sc. Institut für Geographiedidaktik Gronewaldstr. 2 50931 Köln [email protected] Serwene, Pola, M. Ed. Institut für Geographie Karl-Liebknecht-Str. 24/25 14476 Potsdam [email protected] Sitte, Christian, Prof. Mag. Dr. Pädagogische Hochschule für Niederösterreich Mühlgasse 67 A-2500 Baden, [email protected] Steinbrink, Malte, Priv.-Doz. Dr. phil Institut für Geographie Seminarstr. 19 a/b 49074 Osnabrück [email protected] Weckauf, Lena Studentin der Universität zu Köln Albertus-Magnus-Platz 50923 Köln [email protected] Weiss, Günther, PD Dr. Institut für Geographiedidaktik Gronewaldstr. 2 50931 Köln [email protected]
Autorinnen und Autoren
Wilcke, Holger, Dr. Institut für Geographiedidaktik Gronewaldstr. 2 50931 Köln [email protected] Wintereder, Samuel Institut für Geographie und Regionalforschung Universitätsstraße 7/5 A-1010 Wien [email protected] Zandl, Sabrina Institut für Geographie und Regionalforschung Universitätsstrasse 7 A-1010 Wien [email protected] Ziemen, Kerstin, Prof. Dr. Department Heilpädagogik und Rehabilitation Klosterstr. 79b 50931 Köln [email protected]
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Felicitas Hillmann
Migration Eine Einführung aus sozialgeographischer Perspektive
Sozialgeographie kompakt – Band 4 die autorin Felicitas Hillmann, Promotion 1994 im Rahmen des Promotionskollegs „Sozialer und Räumlicher Wandel“ der Universitäten Bremen und Oldenburg. Seit 2015 ist sie am IRS (Leibniz-Institut für Raumbezogene Sozialforschung) als Abteilungsleiterin in der Abteilung „Regenerierung von Städten“ tätig und außerdem Professorin mit dem Fachgebiet „Urbane Transformation im internationalen Kontext“ an der TU Berlin, Institut für Stadtund Regionalplanung.
Migration stellt ein zentrales Thema in der Geographie dar: Dieses Lehrbuch führt in die grundlegenden theoretischen Konzepte seit Beginn der Fachgeschichte bis zur Herausbildung der „neuen Geographien der Migration“ ein. Historische und aktuelle regionale Beispiele zeigen, wie Migration als Ausdruck und Triebkraft sozialen und räumlichen Wandels wirkte und heute einen elementaren Bestandteil der globalisierten Welt bildet. Lange wurde „Migration“ als Teil der Bevölkerungsgeographie diskutiert, neuerdings finden zunehmend auch international diskutierte Konzepte der Migrationsforschung Eingang in die Sozialgeographie. Das Lehrbuch greift diese neueren Entwicklungslinien beispielhaft auf und stellt die unterschiedlichen Forschungsfelder und Forschungsansätze vor. Empirische Beispiele illustrieren, wie Migration mit globalen Dynamiken, beispielsweise Klimawandel und Urbanisierung, interagiert. rezenSionen „Felicitas Hillmann fällt mit dem vorliegenden Lehrbuch das Verdienst zu, die geographische Migrationsforschung für die Lehre aus der Bevölkerungsgeographie herausgelöst, ja gar befreit zu haben.“ Pascal Goeke, raumnachrichten.de, 2016
245 Seiten mit 7 s/w-Fotos, 19 s/w-Abbildungen, 5 farbigen Schaubildern und 7 Übersichten 978-3-515-10636-8 kart. 978-3-515-10871-3 e-Book
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Migrationsbewegungen sind für Deutschland schon lange bedeutsam und stehen nicht zuletzt durch die aktuellen Flüchtlingsbewegungen im Zentrum des öffentlichen Interesses. Daher ist Migration auch ein wichtiges Thema im Geographieunterricht. Darüber hinaus beeinflusst Migration in starkem Maße die Lernvoraussetzungen der SchülerInnen: Fast ein Drittel der Kinder und Jugendlichen in Deutschland haben einen Migrationshintergrund. Es müssen daher geeignete geographiedidaktische Ansätze entwickelt werden, um die unterschiedlichen Migrationserfahrungen der SchülerInnen im Unterricht berücksichtigen zu können und um der sprachlichen Heterogenität gerecht zu werden. Alexandra Budke und Miriam Kuckuck liefern mit diesem Band die dafür nötigen Grundlagen: Sie stellen sowohl die aktuelle fachwissenschaftliche Forschung zum Thema Migration vor als auch geographiedidaktische Ansätze, die dazu beitragen, relevante Kompetenzen der SchülerInnen zu entwickeln.
ISBN 978-3-515-11874-3