Migration, Bildung und Familie: Ethnografische Annäherung an den Alltag dreier Generationen zwischen türkischem Dorf und Neuköllner Kiez 9783839443538

Intriguing and complex insights into the history and current lives of three generations of a German-Turkish family.

206 100 1MB

German Pages 274 Year 2018

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Table of contents :
Inhalt
1. Vorwort
2. Theoretische Vorüberlegungen
3. Die Forschung
4. Im türkischen Dorf
5. Im Arbeiterviertel
6. Im (post-)migrantischen Kiez
7. Bildung im Kontext von Familie und Migration
8. Abschließende Bemerkungen
Literatur
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Migration, Bildung und Familie: Ethnografische Annäherung an den Alltag dreier Generationen zwischen türkischem Dorf und Neuköllner Kiez
 9783839443538

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Sophie Luise Reimers Migration, Bildung und Familie

Kultur und soziale Praxis

Ich danke Familie »Imren« für die Offenheit und das Vertrauen, ihren Familienalltag und die eigenen Geschichten zu teilen. Dieses Buch widme ich den Frauen der Familie.

Sophie Luise Reimers, geb. 1981, ist Kultur- und Sozialanthropologin mit den Schwerpunkten kritische Migrationsforschung, Bildung und Biografieforschung. Sie promovierte 2017 bei Werner Schiffauer an der Europa-Universität Viadrina (Frankfurt/Oder).

Sophie Luise Reimers

Migration, Bildung und Familie Ethnografische Annäherung an den Alltag dreier Generationen zwischen türkischem Dorf und Neuköllner Kiez

Der Druck dieser Publikation wurde aus Mitteln der Europa-Universität Viadrina gefördert.

© 2018 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4353-4 PDF-ISBN 978-3-8394-4353-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt 1 VORWORT | 9 2 THEORETISCHE VORÜBERLEGUNGEN | 15 2.1 Migration – Begriffe und Entwicklungen der Forschung | 15

2.1.1 Veränderte Perspektiven der Migrationsforschung – Denken außerhalb eines nationalen Containers | 16 2.1.2 Grenzen und Regime als begriffliche Bezugspunkte | 19 2.1.3 Migrationsforschung als Kritik | 20 2.2 Warum mit Bildung denken und mit welcher Ausrichtung? | 22

2.2.1 Entstehungskontext des spezifisch deutschen Bildungsbegriffs | 23 2.2.2 Bildungskritik – zwischen begrifflicher Inflation und Aufgabe des Konzepts | 27 2.2.3 Institutionalisierte Bildung als Problem | 31 2.2.4 Neubestimmungen und Anschlüsse des Bildungsbegriffs | 35 2.3 Spezifische Konstellationen im Kontext von Migration und Bildung | 37

2.3.1 Der Begriff „Bildungsferne“ | 42 2.3.2 Kopplung von Bildung und Integration | 45

3 DIE FORSCHUNG | 47 3.1 Fragestellung | 47 3.2 Familie als Forschungsfeld | 49

3.2.1 Generationenbegriff im spezifischen Kontext | 52 3.3 Biografien im Fokus | 56 3.4 Feldzugang, Datenerhebung und -analyse | 61

3.4.1 Ethnografische Feldforschung | 61 3.4.2 Zugang zum Forschungsfeld | 63 3.4.3 Durchführung der Interviews | 67

3.4.4 Sprache im Forschungsverlauf | 70 3.4.5 Analyseschritte | 71 3.5 Reflexionen des Forschungsprozesses | 73 3.6 Vorstellung der Familie | 77

4 IM TÜRKISCHEN DORF | 81 4.1 Erste Generation | 81 4.2 Zweite Generation | 87 4.3 Getrennt von den Eltern | 90 4.4 Resümee: Migration als Einschnitt in die Familiengeschichte | 96

5 IM ARBEITERVIERTEL | 101 5.1 Erste Generation – Arbeit und aufgeschobene Rückkehr | 102 5.2 Familienreunion – Fremdheit, Konflikte und Neubeginn | 107 5.3 Schulkarrieren: Anschlüsse und Grenzen in der zweiten Generation | 112 5.4 Suche nach Räumen der Selbstbestimmung und Verwirklichung | 118 5.5 Erste Familiengründungen der zweiten Generation | 122 5.6 Resümee: Krisen und Neuformierungen der Familie | 126

6 IM (POST-)MIGRANTISCHEN KIEZ | 131 6.1 Postindustrielle Arbeitsverhältnisse | 135 6.2 Erziehen und (Aus-)Bildung als Familienaufgabe | 142

6.2.1 Kommunikation und Offenheit | 151 6.2.2 Umfeld und Kontrolle | 156 6.2.3 Aktiv Mitgestalten | 158 6.2.4 Organisation der Freizeit | 159 6.2.5 Zukunftsfragen und Perspektiven | 163 6.2.6 Resümee: Grenzen und Transformationen in Bildungsverläufen | 166 6.3 Zugehörigkeiten und Ausgrenzung | 171 6.4 Begegnungsorte im lokalen Netzwerk | 188

6.4.1 Kulturverein – Religion und Bildung | 189 6.4.2 Lokale Initiativen – Bildungsräume für Frauen und Kinder | 199 Familienhaus | 199 Lernladen | 203 Patenschaften | 205 Maria Berlin | 208 6.4.3 Anerkennung in außerschulischen Bildungs- und Begegnungsräumen | 210

7 BILDUNG IM KONTEXT VON FAMILIE UND MIGRATION | 215 7.1 Bildungsbedeutungen | 215

7.1.1 Schlüssel zum Aufstieg | 216 7.1.2 Freiheit und Autonomie oder Bildung als goldener Rettungsring | 220 7.1.3 Das ethisch gute Leben | 224 7.1.4 Wertekompass als Verbindung dreier Generationen | 233 7.2 Familiengeschichte als Bildungsanlass | 237

7.2.1 Krisen und Transformationen | 237 7.2.2 Familie als ambivalenter Bildungsraum | 242

8 ABSCHLIESSENDE BEMERKUNGEN | 249 9 LITERATUR | 255

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Vorwort

„So that is how to create a single story: show a people as one thing, as only one thing over and over again and that is what they become. [...] The consequence of the single story is this: It robs people of dignity. It makes our recognition of our equal humanity difficult. It emphasizes how we are different rather than how we are similar. [...] Stories matter. Many stories matter. Stories have been used to dispossess and to malign. But stories can also be used to empower and to humanize. Stories can break the dignity of a people, but stories can also repair that broken dignity.“ Chimamanda Ngozi Adichie (2009)

Wir begegnen in diesem Buch einer Familie mit ihren Geschichten, über drei Generationen verweben sich ganz unterschiedliche Narrative, Positionen und Perspektiven. Viele dieser Geschichten lassen sich in Bezug setzen zu Bildung, und jede einzelne ist von Bedeutung. Der Beginn der Familiengeschichte könnte so lauten: Ein Mensch verlässt sein Dorf, das Land in dem er geboren ist, um an einem ihm bis dahin unbekannten Ort neue Möglichkeiten zu ergreifen. Dieser Topos ist universell, er lässt sich nicht nur einer spezifischen Epoche zuordnen oder auf ein geografisches Gebiet festlegen, und er repräsentiert eine Normalität unserer Gegenwart. Viele Geschichten beginnen so und entspinnen sich weiter in Narrationen vom Werden, Enden, Weitermachen, Verbinden und Abschneiden, Erreichen und Verfehlen, Verlassen und Finden. Aber es ist nur eine Geschichte unter vielen weiteren, es gibt ein „davor“ und ein „danach“ und jedes Kapitel kann aus ganz unterschiedlichen Blickwinkeln erzählt werden. Der Mann, der sein Dorf verlässt, heißt Can, und er verlässt die Türkei, um nach Berlin zu gehen und dort zu arbeiten.1 Er ist mit Ferda verheiratet, und die beiden sind Eltern von vier Kindern, die später nach Berlin folgen werden, denn die geplante Rückkehr findet nicht statt. Diese dürftigen Eckpunkte sind Teil

1

Alle Namen sind ausnahmslos zum Zweck der Anonymisierung von der Autorin gewählte Pseudonyme.

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seiner individuellen Biografie und bilden gleichzeitig seit den 1970ern den Migrationstopos der Deutschen: türkische Gastarbeiter, gekommen um zu arbeiten, geblieben. Innerhalb der Familiengeschichte ist die Überquerung nationaler Grenzen allerdings nur eine Form von Grenzübertritt oder Erweiterung unter vielen anderen. Die Betonung dieses biografischen Elements – des Migrationstopos – entspricht also nicht der familieninternen Schwerpunktsetzung. Es sind die herrschenden Diskurse und Praktiken, die sie als „immerwährende Neuankömmlinge“ (El-Tayeb 2011: xxv) markieren, deren Hiersein und Legitimation der gesellschaftlichen Teilhabe fortwährend in Frage gestellt werden. Alle Grenzüberschreitungen haben biografische Relevanz und sind entscheidend für den weiteren Verlauf, und sie alle markieren den Beginn eines neuen Kapitels in der jeweiligen Geschichte, aber nicht alle finden gleichermaßen Eingang in gesellschaftliche Diskurse. Die Familiengeschichte könnte von ganz unterschiedlichen Momenten aus erzählt werden: „Eine junge Frau beginnt ein technisches Studium in einem ihr bis dahin fremden Stadtteil.“ „Ein Paar fährt U-Bahn und beschließt zu heiraten.“ „Eine erwachsene Frau, Mutter von vier Kindern, bringt sich selbst Lesen und Schreiben bei.“ oder „Eine Familie lässt eine ihnen unbekannte Forscherin an ihrem Alltag teilnehmen und erzählt ihr von ihrem Leben.“ Je nachdem welche Geschichte wir erzählen, welcher wir zuhören und Raum geben wollen, lenken wir den Blick auf einen Ausschnitt. Die Geschichten sind nie vollkommen oder vollendet, es bleiben immer Fragen, Widersprüche und Leerstellen. Das Ausfransen, Überlappen und gegenseitige Konkurrieren der Geschichten ist Ausdruck von Heterogenität, wohingegen eine einzige Geschichte Reduktion bedeutet. Chimamanda Adichie beschreibt die Gefahr einer einzigen Geschichte prägnant, einer Geschichte, die durch ihre Verbreitung und Wiederholung keine Alternativen zu haben scheint. Auch wenn wir über Bildung und Migration nachdenken, ist es eine Geschichte, die sehr präsent ist und weiter reproduziert wird. Es ist die Geschichte einer Gruppe von Menschen, denen gemeinsam ist, dass sie, ihre Eltern oder ihre Großeltern aus der Türkei nach Deutschland gekommen sind und deren „Angekommensein“ in Deutschland eng an den Bildungsaufstieg geknüpft wird. In dieser Geschichte wird konstatiert, jene Menschen seien Bildung noch immer zu fern, und es wird nach Ursachen gesucht. Um diese dominante Version gruppieren sich weitere Ableger von Geschichten, die aber dem Hauptnarrativ nicht widersprechen. Dazu gehören Geschichten von Aufsteigern, die es trotz schwieriger Umstände zu einem erfolgreichen Bildungsabschluss geschafft haben, und am anderen Ende Geschichten von Schulversagen, überforderten Lehrern und hilflosen Eltern. Geschichten über die Zerrissenheit zwischen

Vorwort | 11

„bildungsfernen“ Eltern und Schulumfeld und auch über Benachteiligung und Diskriminierung an Schulen. Die Single Story ist die von einer „türkischen Community“, deren Bildungsdefizite häufig kulturell-religiös begründet werden, sie fragt nach Erfolg oder Scheitern und was Bildung dabei bedeutet, bleibt seltsam diffus. Diese Geschichte und ihre Ableger schieben sich immer wieder vor, nehmen Raum ein, und auch wenn wir uns von ihnen abzugrenzen suchen, sind sie doch immer präsent. In dem somit knapp umrissenen Spannungsfeld bewegt sich die vorliegende Arbeit und soll einen Beitrag leisten, das Verständnis von Bildungsbedeutungen im Kontext der Migration zu erweitern. Die ethnografische Beschreibung des familiären Alltags lässt uns tief eintauchen, das Familienleben und die einzelnen Biografien werden in ihrer gegenseitigen Bezogenheit erfasst und die vielfältigen Varianten bildungsbezogenen Handelns und Denkens lassen sich differenzieren. Es gibt nicht nur eine Geschichte von Bildung und Migration, es sind unzählige, und das Nachvollziehen dieser Diversität, das Nacherzählen verschiedener Geschichten fordert Raum zurück, der bislang häufig von einer einzigen Geschichte besetzt zu sein schien. Einer einzigen Geschichte, über fast drei Millionen türkeistämmige Menschen in Deutschland2, von denen Can einer ist, dessen Realität und Ausrichtung wenig gemeinsam hat mit beispielsweise der seiner Enkelin. Schon innerhalb einer Familie öffnen sich uns plurale Lebensrealitäten, und diese Vielfalt zu vermitteln, ist ein zentrales Anliegen dieser Arbeit. Die vorliegende Ethnografie der Großfamilie beginnt nicht mit Cans Schritt nach Deutschland, er steht nicht einmal im Mittelpunkt meiner Betrachtungen. Uns begegnen die miteinander verwobenen Biografien der Familie, wir erfahren mehr über ihr alltägliches Handeln, ihre Orientierungen, und diese Annäherung 2

Wenn ich mich im Folgenden zum Teil allgemeiner auf die aus der Türkei eingewanderten Menschen beziehe, ist dabei immer von einer heterogenen Gruppe auszugehen, der gemeinsam ist, dass sie aus dem geografischen Gebiet Türkei stammt. Diese Gruppe als Türken zu bezeichnen, entspricht zwar der gesellschaftlich gängigen, nationalstaatlichen Einordnung, sollte allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie Individuen und Kollektive mit vielfältigen, auch gegenläufigen Identifikationen umfasst. „The Turkish community in Germany mirrors the ethnic and religious variety in the country of origin. There are about 70 percent ethnic Turks, 20 percent Kurds and a series of other ethnic groups such as Albanians, Georgians and Armenians. Most of the Turkish migrants are Sunnite Muslims; the share of Alevites amounts to approximately 20 percent.“ (Worbs 2003: 1013) Dazu auch bei Jenny B. White: „The Turkish ,community‘ refracts into numerous subcategories with sometimes substantially different interests and lifestyles: worker, student, Islamist, leftist, Kurd, Alevi, second and third generation, artistic elite, and so on.“ (White 1997: 755)

12 | Migration, Bildung und Familie

kann auch als Versuch gelten, einen anderen, erweiterten Bildungssinn zu erfassen. Ein Bildungsverständnis, das über Verwertungslogik hinausgeht, Raum für biografische Erfahrungen und deren Deutungen lässt und sich vom Integrationsappell entkoppelt. Dabei stehen die Probleme des Bildungsbegriffs, aber auch sein Potenzial gerade im Kontext von Migration zur Diskussion. Denn wenn wir Bildung als wiederkehrende Auseinandersetzung mit Selbst- und Weltverhältnissen (vgl. Marotzki 1990, Koller 2012) begreifen, kann sie möglicherweise einen Entfaltungsraum für Freiheit und Verwirklichung in sich bergen. Umgekehrt sind aber gerade diese Werte in der gesellschaftlichen Realität konstant bedroht, da der vorherrschende Bildungsbegriff andere Aspekte betont. Bevor ich die empirischen Ausschnitte des Familienlebens entfalte, muss das Feld, zu dem neue Erkenntnisse zu gewinnen sind, gedanklich abgesteckt werden. Ich skizziere die beiden grundlegenden Begriffe Migration und Bildung erstens in ihrer jeweiligen wissenschaftlichen Entwicklung sowie Verwendung und zweitens in ihrer Verbindung. Der Migrationstopos wird kontinuierlich mit spezifischen Bildungsanforderungen und -konzepten gekoppelt, diese freizulegen und zu reflektieren ist für eine kritische Untersuchung von Bildung im Migrationskontext unumgänglich. Nach der theoretischen Vorbereitung des Feldes, wird zunächst die Fragestellung rekapituliert und in ihrer Ausrichtung klar umrissen. Es folgt die Einführung der Konzepte Familie und Biografie, die sich bereits an der Schnittstelle von Theorie und Methode bewegen. Im Anschluss wird der Feldzugang nachvollzogen, hier lege ich dar, für welche methodischen Schritte ich mich in der Erhebung und Analyse der Daten entschieden habe, und beschreibe das stufenweise Vorgehen in der Forschung. Das Kapitel zur Vorgehensweise abschließend und zu den empirischen Kapiteln überleitend, stelle ich die Familie Imren und ihre Mitglieder, die Akteure und Gesprächspartnerinnen vor, und es entsteht ein erster Eindruck der familiären Strukturen und Geschichte. In den folgenden Kapiteln werden drei Phasen des Familienlebens mit ihren biografisch prägenden Themen und lebensweltlichem Kontext beleuchtet. Vom „türkischen Dorf“ gelangen wir über das „Arbeiterviertel“ in die Gegenwart zum „(post-)migrantischen Kiez“ und mit diesen Stationen entspannt sich gleichsam ein Eindruck der Entwicklungen, Verschiebungen und Konstanten über drei Generationen. Die Beschreibung der Gegenwart nimmt dabei den größten Raum ein, denn in dieser Phase konnte ich selbst Teil des Familienalltags werden, die signifikanten Orte in der Nachbarschaft kennenlernen und an den üblichen Aktivitäten partizipieren. Mit dem abschließenden Kapitel zu „Bildung im Kontext von Familie und Migration“ greife ich die unterschiedlichen Fäden der vorherigen Kapitel auf und führe sie analytisch zusammen. Mit dieser Analyse kann deutlich werden, wie die unterschiedlichen Dimensionen miteinander verwoben

Vorwort | 13

sind, welche Bedeutungen Bildung innerhalb des spannungsvollen Raums Familie einnimmt und auf welche Weise die Migrationsgeschichte weiterwirkt.3

3

Ich verwende mit Blick auf Gender die inklusive Schreibweise, das bedeutet, dass mit Nennung der weiblichen/männlichen Bezeichnung, sofern nicht anders gekennzeichnet, immer auch die männliche/weibliche Form mit gemeint ist.

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Theoretische Vorüberlegungen

2.1 MIGRATION – BEGRIFFE UND ENTWICKLUNG DER FORSCHUNG Im Folgenden umreiße ich einige Positionen und Aushandlungen der mit Migration befassten Disziplinen, ihre Entwicklungsschritte und Kritik, um letztlich die gegenwärtig vertretenen Anforderungen einer kritischen Migrationsforschung aufzunehmen. Die Migrationsforschung hat sich relativ spät als eigenes Forschungsfeld herausgebildet, wenn man in Betracht zieht, dass das von ihr untersuchte Phänomen immer Teil des menschlichen Erfahrungshorizonts war. In Deutschland entwickelt sich der Bereich etwas zeitversetzt im Anschluss an die sogenannte Gastarbeiteranwerbung in den 1960er und 1970er Jahren (vgl. Mecheril, 2013: 12). Disziplinen wie Soziologie, Pädagogik, Psychologie, Ethnologie, Bevölkerungswissenschaften, Demografie, Geografie, Geschichts-, Politik-, Rechts- und Wirtschaftswissenschaft, Geschlechterforschung, Sprach- sowie Literaturwissenschaften und Medizin beginnen sich dem Thema zu widmen, und es entstehen neue Forschungszweige (vgl. Bommes 2010). Die hier herausgegriffenen Entwicklungen und Fragen bilden selbstverständlich nur einen Ausschnitt der Migrationsforschung ab, die sich in Deutschland und vor allem auch international etabliert hat. Meine Auswahl konzentriert sich dabei eher auf jene Konzepte, die für die vorliegende Forschung richtungweisend waren, während andere interessante Bereiche der Migrationsforschung notwendigerweise außen vor bleiben müssen. Gerade mit Blick auf die Verbindung von Migrations- und Bildungsforschung ist die kritische Perspektive auf den methodologischen Nationalismus von Bedeutung, da von hier ein wichtiger Impuls für meine Forschungsperspektive ausgeht, national geprägte Kategorien fortwährend in Frage zu stellen.

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2.1.1 Veränderte Perspektiven der Migrationsforschung – Denken außerhalb eines nationalen Containers In der Entwicklung der Migrationsforschung erscheint die Verstrickung mit einem nationalstaatlich geprägten Denken als ein Grundproblem, wenn der Nationalstaat als quasi natürliche und selbstverständliche Kategorie vorausgesetzt wird, ohne sich explizit mit dessen Strukturen und vorgegebenen Deutungen zu befassen. Eben jene Vorgehensweise wissenschaftlicher Forschung und Theoriebildung wird unter dem Begriff des methodologischen Nationalismus kritisiert und dessen Überwindung als notwendiger Schritt betrachtet. Andreas Wimmer und Nina Glick-Schiller beschreiben drei Modi dieser von ihnen problematisierten wissenschaftlichen Verengung: den Modernitätsbegriff klassischer Sozialtheorien, die selbstverständliche Rahmung und unhinterfragte Einordnung von Phänomenen in nationalstaatliche Kategorien und eine Auffassung von Gesellschaft als Container (vgl. Wimmer/Glick-Schiller 2002: 303f.). Erstens wurde der Nationalstaat demnach in Theorien der Moderne schlicht als gegebene Größe ignoriert, anstatt dessen historischen Einfluss auf Politik und Konflikte des 19. und 20. Jahrhunderts zu berücksichtigen. Weiterhin wird der Nationalstaat zweitens in empirisch ausgerichteten Forschungen als natürlicher Rahmen gesetzt, beispielsweise, wenn in der Betrachtung des Wirtschaftssystems klar zwischen nationalen und internationalen Prozessen unterschieden wird. Weitere Beispiele finden sich in der frühen Anthropologie, die den Westen in seiner modernen, nationalstaatlichen Verfasstheit, als normative Entwicklungsstufe begreift und beforschte indigene Gruppen und Ethnien als von diesem völlig getrennt untersucht (ebd. 305). Der dritte Modus bezieht sich auf die wissenschaftliche Bearbeitung von gesellschaftlichen Phänomenen und Problemen, die in der nationalen Box verbleibt, anstatt die Verbindungslinien und Vernetzungen nachzuvollziehen, die dieses System überschreiten. Auch bei Ulrich Beck und Edgar Grande (2010) wird die Notwendigkeit hervorgehoben, den Nationalstaat in den Sozialwissenschaften, mit- und über ihn hinauszudenken. Daran knüpft sich der Vorschlag eines methodologischen Kosmopolitismus, der in der Lage ist, „grenzüberschreitende Dynamiken, Dependenzen, Interdependenzen und Vermischungen“ (Beck/Grande 2010: 189) in den Blick zu nehmen und so auch weniger Gefahr läuft, nationale Phänomene zu universalisieren. Während also die Aufgabe, methodologische Nationalismen zu überwinden, in unterschiedlichen Richtungen sozialwissenschaftlicher Forschung gestellt ist, gilt sie im Besonderen für die Migrationsforschung, welche Migranten lange entsprechend nationalstaatlicher Kategorien als Problem konzipiert hat. Migranten werfen demnach unter anderem Fragen der Loyalität gegenüber dem Staat auf,

Theoretische Vorüberlegungen | 17

sie durchbrechen vermeintliche kulturelle Homogenität, erscheinen nicht ohne weiteres in das auf Solidarität basierende Sozialsystem integrierbar und tragen dazu bei, definierende Grenzziehungen aufzuweichen (vgl. Wimmer/GlickSchiller 2002: 309-311). Mit Migration wird die nationalstaatliche Ordnung herausgefordert, da sie Fragen der Zugehörigkeit und Legitimation aufruft. Den national spezifischen Migrationszugang in Deutschland sieht Michael Bommes durch zwei Merkmale gestaltet, erstens dass es hier nicht zum Selbstverständnis gehört(e), Einwanderungsland zu sein und zweitens die Einordnung von Migration als zuallererst „soziales Integrationsproblem“ (Bommes 2010: 33). Er weist darauf hin, „dass vermutlich in keinem anderen Land in Europa mit vergleichbarem symbolischem Aufwand ein ‚nationaler Integrationsplan‘ erstellt worden ist“ (Bommes 2010: 31). Die Rahmung von Migration als politischem Problem spiegelt sich in diesem Sinne in der Migrationsforschung wider. Rekapitulieren wir die Entwicklungsschritte der Migrationsforschung, wird ihre enge Verbindung mit dem jeweils aktuellen Migrationsverständnis in politisch, öffentlichen Diskursen deutlich oder, wie Bommes es formuliert, eine Ausrichtung an den „Leitperspektiven des bundesdeutschen Wohlfahrtstaates“ (Bommes 2010: 33). Von Beginn an ist die Migrationsforschung Bestandteil des eigenen Forschungsfelds und ihre politische Ausrichtung sehr ausgeprägt. Erstens fließen die Deutungsmuster und das generierte Wissen zu Migration in öffentliche Diskurse ein und gestalten so auch mit wie Migration perzipiert wird.1 Zweitens sind Migrationsforscherinnen und -forscher Teil ihres Felds indem sie sich hier praktisch engagieren, interagieren und Ratschläge für die Umsetzung in der Praxis an Politik, Bildung und andere Bereiche richten. Bommes konstatiert, dieses eingelassen sein der Migrationsforschung mit ihrem Feld habe von Anfang an bestanden, sie agiere innerhalb desselben und bringe dieses mit hervor. Die entsprechende Kritik lautet, Migrationsforschung sei zu eng an die Politik gekoppelt, orientiere sich allein an aktuell diskutierten, gesellschaftlichen Fragen und halte demensprechend nicht die für Wissenschaft angebrachte Distanz (vgl. Bommes 2010, Bukow 1998). Die Ursache kann zum Teil mit dem Phänomen Migration selbst erklärt werden, es ist für alle gesellschaftlichen Bereiche relevant und wird konstant umkämpft, da es zentrale Fragen von gesellschaftlicher Teilhabe, Ungleichheit und Legitimation berührt. Das Thema mobilisiert die Öffentlichkeit und wird auf allen Ebenen verhandelt (vgl. Mecheril 2013: 43,44). Unter dem Begriff Gastarbeiterforschung wird Migration zum Forschungsthema, die anfängliche Ausrichtung beschreibt Mecheril als Beschäftigung „v. a. aus sozialarbeiterischer Sicht mit den sozialen und psychischen Folgen des Le1

Dies gilt im Übrigen nicht nur im Bereich der Migrationsforschung, sondern wie Mecheril bemerkt, für jegliche „(wissenschaftliche) Sprachpraxis“.

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bens in der sogenannten Fremde“ (Mecheril 2013: 15). Unter der Bezeichnung Ausländerforschung werden dann in den 1970ern Fragen der Assimilation, Integration und deren Bedingungen ins Zentrum gebracht, ein Bereich der auch besonders das Interesse der Erziehungswissenschaften weckt. Seit den 1980er Jahren bildet sich der Begriff Migrationsforschung heraus, verbunden ist damit zunächst die Fokussierung auf Fremdheit und deren Ursache und wird mit dem Konzept der Ethnizität beantwortet, wobei sich auch verstärkt Kritik an dieser Perspektive regt. Besonders Ethnologie und Soziologie beschäftigen sich nun mehr mit Fragen der „kulturellen Identität“ und sind damit Teil gesellschaftlicher „Selbst- und Fremdethnisierungsprozesse“ (ebd.). Mecheril formuliert diesen Aspekt der Migrationsforschung als Affirmation der „Realität gegebener, den Handlungsspielraum von Migrantinnen (etc.) konstituierender, sozialer, politischer, kultureller und rechtlicher Verhältnisse“ (ebd.: 14). Die reflexive Einbeziehung der nationalstaatlichen Bedingungen, Rahmungen und Grenzen in gegenwärtige Forschung ist ein zunehmend vertretenes Anliegen, so auch formuliert in Mecherils „Migrationsforschung als Kritik“ (2013). Er skizziert darin die schrittweise vollzogenen Versuche des Forschungsfelds, die wissenschaftliche Arbeit zu Migration aus den festen Mustern zu lösen, Migration nicht länger einseitig zu betrachteten und die bestehende Ordnung unhinterfragt stehen zu lassen. Eine solche Weiterentwicklung beginnt in Abgrenzung zur Ausländerforschung und wird anfangs häufig mit Fokussierung „alltagsweltlicher Praktiken und Selbstverständnisse“ anhand qualitativer Methoden versucht. Diese akteurszentrierte Forschung nimmt die „Perspektive der Subjekte“ in den Blick und setzt sich vom Reduktionismus vorheriger Forschung ab. Allerdings wird auch hier die bestehende Ordnung reproduziert, denn sie formiert die Vorstellungs- und Lebenswelt der Subjekte, die im Zentrum stehen. Als „eine ‚Antwort‘ auf Essenzialisierungstendenzen in der und durch die Migrationsforschung“ widmen Forscherinnen und Forscher subjektivierungstheoretischen Ansätzen mehr Aufmerksamkeit. Sie analysieren das Verhältnis von Subjekten und gesellschaftlicher Ordnung und deren gegenseitige Konstituierung (vgl. Mecheril 2013: 17,18). Aus dem Bereich der Cultural Studies kommt das Konzept der Hybridität, ein Vorstoß, sich von dem problematisierenden Blick auf das „zwischen den Kulturen“ des migrantischen Individuums zu lösen und dem Vorschlag, das Überlagert- und vielfältig verwoben sein als Möglichkeitsraum zu betrachten, der sich beispielsweise in Sprache und Kunst ausdrückt. Kritik an dieser Perspektive richtet sich u.a. auf deren Vernachlässigung des alltäglichen eingelassen Seins in „vielfältige Machtbeziehungen“ (vgl. Schiffauer 2006: 98, 99). Der Subjektivierungsbegriff dagegen, ermöglicht zwar die Analyse von Gesellschafts-

Theoretische Vorüberlegungen | 19

verhältnissen, befreit die Migrationsforschung aber auch nicht aus dem Problem des methodologischen Nationalismus. Mit dem vorliegenden Buch ist der Versuch verbunden, anhand ethnografischer Methoden die Bildungskonzepte, -zugänge und -biografien in ihrer vielfältigen Vernetzung nachzuzeichnen und dabei, nationalstaatliche Prägungen nicht als selbstverständliche Rahmung außen vor zu lassen. Gerade wenn wir die in der Bildungsforschung gängigen Verschränkungen von Bildung und Integration betrachten, die ich unter 2.3 näher beschreibe, ist es entscheidend zu fragen, welche Funktionen Bildung im Migrationskontext erfüllt. 2.1.2 Grenzen und Regime als begriffliche Bezugspunkte Nicht nur die Soziologie ist demnach vom nationalstaatlichen Denken geprägt, auch die Erziehungswissenschaften beziehen sich auf einen national geformten Bildungsbegriff (vgl. Gogolin 1994), und die „tiefe Imprägnierung der Migrationsforschung in jeweilige Nationalstaaten“ (Bommes 2010: 35) wurde bereits angedeutet. Diesen blinden Fleck sieht Mecheril in einer Weiterentwicklung der Migrationsforschung mit Begriffen des „Grenz- und Migrationsregimes“ angesprochen. Regime bezieht sich dabei auf politische, kulturelle und interaktive Mechanismen der Regulation und Steuerung von Migration bzw. globalen Wanderungsprozessen. Es geht um die Frage wie gesellschaftliche Ordnungen in vielschichtigen und vernetzten Prozessen hergestellt werden, sich stabilisieren und, zumindest zeitweise, von den Akteuren als Normalität oder „objektives Regelwerk“ akzeptiert werden. Ein solches Regime macht Mecheril innerhalb der Praktiken und Diskurse zu Integration aus. Jeweilig gerahmte Analysen versuchen, in den Griff zu bekommen „was durch diese Bedingungen aktueller Formen der Vergesellschaftung hindurchgeht, um darüber hinauszuweisen“ (Mecheril 2013: 18f.). Die hier befürwortete Ausrichtung schlägt auch Schiffauer (2006) für eine kulturwissenschaftliche Migrationsforschung vor. Mit der begrifflichen Kategorie des Raums können wir diverse, miteinander verbundene Ebenen, Positionierungen der Akteure und eben besonders auch Grenzziehungen analytisch fassen. Der unterschiedlichen Ausformung von Grenzen wird hier mit mehreren Begriffen entsprochen; so durchziehen und gestalten eben nicht nur nationalstaatliche Grenzen (Borders), sondern auch sozialräumliche Grenzziehungen (Boundaries) und nicht zu überschreitende Limits den migrantischen Raum (vgl. Schiffauer 2006: 99-104). Eine auf diese Weise lancierte Analyse der Migrationsforschung ist besser als bisher in der Lage, die diversen Grenzziehungen und deren Erscheinungsformen zu bestimmen, die bei Mecheril beispielsweise so beschrieben werden:

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„Die natio-ethno-kulturellen Zugehörigkeitsordnungen sind diffuse, vielgesichtige, variable Unterscheidungsformen, die sowohl von nationalstaatlichen Differenzierungspraxen als auch von Unterscheidungen getragen werden, die ‚den Westen‘ von einem ‚Rest‘ trennen, an ‚Rasse‘-Konstruktionen anschließen, zwischen ‚Europeanness‘ und ,Non-Europeanness‘ sowie zwischen ‚Islam‘ und ‚Non-Islam‘ unterscheiden.“ (Mecheril 2013: 23)

Vorgeschlagen wird somit eine Forschungsrichtung, die nicht das vermeintliche anders sein der Migranten fokussiert, sondern die Funktionen einer solchen Rahmung als anders betrachtet. So kann beispielsweise „der Islam“ als Gegenentwurf zu einem „modernen Westen“ als gegenwärtiger Bezugspunkt der Selbstvergewisserung betrachtet werden (ebd.: 24). 2.1.3 Migrationsforschung als Kritik Was sind nun also die Ziele, an der sich eine mit Migration befasste Forschung ausrichten sollte? Allgemein formuliert es Schiffauer für die Kulturwissenschaften, sollten jene bis dahin unabhängigen Perspektiven des Migranten als homo agens (Sozialwissenschaften) und homo expressivus (Cultural Studies/ Postcolonial Studies) verbunden und besonders unter Berücksichtigung der „Komplexität der Machtbeziehungen“, dem „Zusammenspiel von hegemonialer Macht und Gegenmacht“ untersucht werden (Schiffauer 2006: 99). Die hier vorgeschlagene Richtung kann als Orientierung gelten, und in der kritischen Migrationsforschung finden wir sie weiter ausdifferenziert. So hebt Mecheril drei Ziele hervor, um die es in „einer vom Motiv der Kritik mobilisierten Migrationsforschung“ gehen soll: Erstens die „Analyse migrationsgesellschaftlicher Herrschaftsstrukturen2, also jener Strukturen, die Menschen im Hinblick auf die Möglichkeit einer

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„Herrschaft verstehen wir in diesem Sinne als institutionalisiertes, eine gewisse Dauerhaftigkeit aufweisendes, temporär verfestigtes, strukturiertes und strukturierendes soziales Verhältnis, in dem die Möglichkeiten wechselseitiger Einflussnahme (Macht) asymmetrisch verteilt sind. Im Unterschied zu Gewaltverhältnissen zeichnen sich Herrschaftsverhältnisse durch eine Art Selbstverständlichkeit aus. Als gelebte und auf eine verfestigte Geschichte zurückblickende Realität asymmetrischer Beziehungen erscheinen sie selbstverständlich, unabänderlich oder ‚natürlich‘. Die in einer kritischen Migrationsforschung in den Blick genommenen ‚legitim institutionalisierten asymmetrischen Verhältnisse der Unterscheidungen‘ stellen nicht nur selbstverständliche, sondern in ihrer Selbstverständlichkeit unmerkliche, in Bourdieuscher Terminologie: doxische Verhältnisse der Asymmetrie dar. Eine Migrationsforschung, die diese Asymmetrien indirekt oder direkt als gegeben akzeptiert, muss als Praxis der

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freieren Existenz behindern, ihre Würde einschränken und sie entmündigen“. Was unter „Würde“, „Entmündigung“ oder „freierer Existenz“ verstanden wird, soll offen gehalten und Teil empirischer und begrifflicher Auseinandersetzung sein. Zweitens die Betrachtung der in diesen Strukturen verlaufenden „Subjektivierungsprozesse“ und drittens die Analyse des Möglichkeitsraums, wörtlich der „Formen der Verschiebung und Veränderung von Zugehörigkeitsordnungen und Herrschaftsstrukturen, sowie des Widerstands gegen sie und in ihnen“ (Mecheril 2013: 48,49). Was in der Forschung dabei keineswegs außen vor bleiben soll, sind Fragen der eigenen Positionierung als Forscherin und die kritische Reflexion der bereits erwähnten Verstrickungen durch Wissensproduktion. Diese Durchlässigkeit soll auch in Hinblick auf die Maßstäbe der Kritik programmatisch sein. „Jene Migrationsforschung im Zeichen der Kritik, die eine zurückgenommenere Haltung pflegt, bekennt sich zur Praxis der Kritik, ohne ein für alle Mal festgelegt zu haben, an welchen Maßgaben die Kritik sich zu orientieren habe. Das Maß der Kritik steht nicht außer Frage. Die mit dieser Infragestellung verbundene, empirisch begründete begriffliche und methodologische Arbeit verstehen wir als konstitutive Aufgabe einer sich in der Praxis der Kritik erschaffenden Migrationsforschung.“ (Mecheril 2013: 42)

Die beschriebenen Anforderungen sind konsequent; die Ausrichtung auf Ungleichheit und Exklusion soll entsprechend theoretisch fundiert untersucht werden und gleichzeitig im Entwicklungsprozess eine gewisse Offenheit beibehalten. Übertragen auf die vorliegende Forschung lässt sich daraus folgende Perspektive ableiten: es sollte nicht allein darum gehen, die Akteure und ihr Handeln und Denken zu beschreiben, sondern anhand der empirischen Grundlage Grenzziehungen auszumachen und zu verorten. Die Frage, wie Bildung in den Biografien der drei Generationen vorkommt und mit der Migrationsgeschichte in Verbindung steht, ist also auch immer in Bezug zu jeweiligen Herrschaftsstrukturen zu setzen. Von hier aus können wir bestimmen, welche Grenzen starr erscheinen und wo es zu Widerständen oder Verschiebungen kommt.

Konservierung und Verlängerung von Herrschaft verstanden werden. Denn immer sind Herrschaft und Unterordnung mit dem Argument aufgetreten, dass Unterordnung funktional und bedeutsam für die Beherrschten sei: es entspreche ihrer Natur (Nähe zu sich selbst), es ermögliche ihnen den Eingang ins Paradies (Nähe zu Gott), es sei Voraussetzung ihrer gesellschaftlichen Partizipation (Nähe zu Privilegien).“ (Mecheril 2013: 47)

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2.2 WARUM MIT BILDUNG DENKEN UND MIT WELCHER AUSRICHTUNG? Eine Auseinandersetzung mit Bildung, deren Bedeutungsebenen und Wirkungsweisen, ermöglicht vielfältige Erkenntnisse, ist jedoch auch voller Tücken. Zunächst scheint der Begriff in seiner Allgegenwart zwar vielschichtig, aber doch anschlussfähig, denn sowohl im alltäglichen als auch im wissenschaftlichen Umfeld begegnet er uns mit Selbstverständlichkeit. Bildung wird nicht nur überall als zu unterstützendes, gesellschaftliches Ziel ausgerufen, sie wird im Grunde als Antwort für eine breite Auswahl gesellschaftlicher Probleme betrachtet. Bildung soll nicht nur die Emanzipation und Integration benachteiligter Gruppen ermöglichen, sie sei auch ein „[...] Mittel, mit dem unter anderem Vorurteile, Diskriminierungen, Arbeitslosigkeit, Hunger, Aids, Inhumanität und Völkermord verhindert, die Herausforderungen der Zukunft bewältigt und nebenbei noch Kinder glücklich und Erwachsene beschäftigungsfähig gemacht werden sollen“ (Liessmann 2009: 146). Gebündelt liest sich das wie eine Utopie, aber tatsächlich wird im gesellschaftlichen Diskurs angesichts vielfältiger Krisen auf den Bildungsbegriff zurückgegriffen. Bildung soll den Menschen aus seiner Lage befreien, sie gilt als Schlüssel zu gesellschaftlicher Teilhabe und Integration. Dementsprechend ist die Bildung der folgenden Generationen ein hervorgehobenes Anliegen, sie soll die Zukunft und Weiterentwicklung absichern. Was sich hier abzeichnet, ist folgendes: Bildung müssen wir zunächst als zentralen gesellschaftlichen Begriffskomplex einordnen, der nach wie vor vielfältige Funktionen erfüllt und Konsens schafft. Von welcher Bildung wir nun aber genau sprechen ist noch unklar. Beziehen wir uns auf die institutionelle Bildung in Schule und Universität? Meinen wir die Aneignung von Wissen, das Lernen spezifischer Inhalte? Begreifen wir Bildung als Sammlung funktionaler Kompetenzen? Oder gehen wir darüber hinaus und betrachten Bildung als Auseinandersetzung mit jeglichen Erfahrungen, als inneren Prozess der Veränderung? Wenn Fragen nach Bildungskonzepten und bildungsbezogenem Handeln die Annäherung an mein Forschungsfeld formieren, muss der Rahmen begrifflich etwas klarer abgesteckt werden. Dazu soll als Beginn die historische und spezifisch deutsche Fassung des Begriffs ausschnitthaft nachgezeichnet werden, denn nur so wird das Bedeutungsrepertoire erschlossen, das häufig mitschwingt, wenn von Bildung die Rede ist. Anschließend gehe ich auf die nicht unerheblichen inneren Widersprüche und kritischen Positionen ein, die den Begriff von Beginn an begleiten. Hier knüpft sich eine (kritische) Begutachtung der institutionellen Verkörperungen von Bildung, sowie Fragen der Bildungsgerechtigkeit an. Abschließend möchte ich Möglichkeiten aufzeigen, wie das Bildungskonzept wei-

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terhin fruchtbar gemacht wird und welche dieser theoretischen Ausgangspunkte vielversprechend erscheinen. 2.2.1 Entstehungskontext des spezifisch deutschen Bildungsbegriffs Bildung wird als „Bewegungsbegriff“ (Koselleck 2010) oder auch „semantisches Deutungsmuster“ (Bollenbeck 1994) begriffen und bündelt diverse Konnotationen, so kann sie „einen Prozeß und ein Resultat, ein Ziel und einen Zustand bezeichnen, kann aktiv, passiv und reflexiv, individuell und (seltener) kollektiv gemeint sein“ (ebd.: 109). Bildung als „Deutungsmuster“ beginnt, anknüpfend an das Denken der deutschen Aufklärung, im 18. Jahrhundert, an Bedeutung zu gewinnen. Sie wird in Beziehung zu den Schlüsselbegriffen dieser Zeit – Freiheit, Vernunft, Autonomie, Emanzipation – gedacht und weiterentwickelt und fügt sich ähnlich wie Kants „Kultur“ in das „frühliberale Leitbild eines selbstverantwortlichen, handlungsfähigen Individuums“ (ebd.: 102). Neben den Idealen der Aufklärung ist es eine verweltlichte Form protestantischer Religiosität, die sich im spezifisch deutschen Bildungsbegriff niederschlägt. „Es zeichnet den deutschen Bildungsbegriff geradezu aus, nicht spezifisch bürgerlich oder politisch konzipiert worden zu sein – sondern primär theologisch.“ (Koselleck 2010: 113) Die religiöse Verwendung geht zurück bis ins Mittelalter, sich bilden bedeutet zunächst dem Bild Gottes gleich zu werden, ist hier allerdings kein selbstgesteuerter Prozess. Der im Anschluss an die Aufklärung verwendete Begriff ist zwar säkularisiert, bricht aber nicht vollkommen mit seiner religiösen Vergangenheit, wenn beispielsweise Einkehr und Innerlichkeit hervorgehoben werden (vgl. Bollenbeck 1994: 106). Der aufgeklärte Bildungsbegriff ist also dahingehend neugeformt, dass religiöse Bedingungen transformiert werden in „Herausforderungen persönlicher Lebensführung“ und Bildung so „die Autonomie der Individualität generierend, offen und anschlussfähig ist in alle konkreten Lebenslagen hinein und [...], als Arbeit begriffen, das integrierende Element der arbeitsteiligen Welt“ (Koselleck 2010: 137). Seine Dynamik entfaltet der Bildungsbegriff als Konstrukt zentraler Theoretiker, er wird aufgegriffen, weiterentwickelt und gefestigt und diese „begriffsgeschichtliche Karriere“ zeugt von „konzeptioneller Kraft als auch deren enorme(r) Anschlussfähigkeit, mit dem Effekt, dass auch der Bedeutungsgehalt gerade dadurch sich vielfach multiplizieren konnte“ (ebd.: 274). Shaftesbury und Rousseau sind zwei wichtige Vordenker für die Entwicklung des Bildungsbegriffs, beide betonen eine Erziehung nach inneren, zweckfreien Maßstäben und die Selbstbildung. Rousseau gesteht dem Einzelnen Autonomie zu, nicht von außen

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sollen die Maßstäbe des Denkens und Handelns übernommen werden, sondern von einer „inneren Instanz“, dem Gewissen. Herder gilt als erster Theoretiker des spezifisch deutschen Bildungsbegriffs, auch indem er zu dessen Komplexität beiträgt. Bildung wird für Herder zum Schlüsselbegriff, er begreift den Menschen als vernunftfähig, unter der Voraussetzung, dass ihm die Navigation zwischen den Zwängen der Natur und Gefahren der Freiheit gelingt. Bildung soll die Funktion einer „metaphysischen Gewißheit des ‚Fortgangs‘ der ‚Humanität‘“ erfüllen und auch wenn Herder als „theoriegeschichtliches Auslaufmodell“ erscheint, ist sein Einfluss für den Bildungsbegriff nicht unerheblich, bei ihm klingt die Verknüpfung von Bildung mit den Begriffen „Kultur“ und „Humanität“ an (Bollenbeck 1994: 116 ff.). Bildung entfernt sich mit dem Idealismus noch weiter von den anfänglich vergleichbaren Konzepten „civilisation“ und „éducation“, sie „umfaßt nun nicht mehr die äußerliche Erziehung zum praktischen Leben. Und ‚Kultur‘ gerät, auf Wissenschaft und Kunst eingeschränkt, zum Medium der ‚Bildung‘“ (Bollenbeck 1994: 126f.). Einer der diversen Denker, die das idealistische Bildungsverständnis vorantreiben, ist Friedrich Schiller. Er betrachtet die Aufklärung und französische Revolution als Überforderung, die das Individuum nur durch eine vorhergehende „ästhetische Erziehung“ entsprechend mittragen könne, der Neuordnung des Staates soll also eine innere Verwandlung durch Bildung vorweggehen (vgl. Bollenbeck 1994: 136 ff.). Der kritische Blick auf die gesellschaftlichen Verhältnisse findet sich u.a. auch bei Humboldt, Fichte, Hölderlin und Hegel, es wird hinterfragt, welchen Raum Bildung einnehmen kann und ein Spannungsverhältnis zwischen dem sich bildenden Individuum und der Arbeit innerhalb der bürgerlichkapitalistischen Gesellschaft konstatiert. „Deren Denken kritisiert in der Gegenwart auch schon das sich herausbildende Zukünftige: die Arbeitsteilung und Verstümmelung im bürgerlichen Erwerbsleben, die Vereinseitigung des Menschen im unmittelbar praktisch ausgerichteten Wissen [...].“ (Ebd.: 128) Die „Distanz gegenüber dem Ökonomischen“ (vgl. ebd.: 142) oder allgemeiner einer Zweckorientierung bleibt im Bildungsideal bestehen, Bildung soll über einen praktischen Nutzen hinausreichen und zielt auf den ganzen Menschen (vgl. Koselleck 2010: 119). Insbesondere in Hinblick auf die später immer engere Verquickung von Bildung und Arbeit, lässt sich hier ein wiederkehrendes Thema der Auseinandersetzung ausmachen. „Bildung bedeutete immer mehr als Qualifikation, sie verwies immer auf die Utopie einer anderen, besseren Gesellschaft, die im Prinzip nicht in die Niederungen kapitalistischer Warenproduktion verstrickt war. Sie hat aber neben ihren systemtranszendierenden Funktionen immer auch einen systemerhaltenden Charakter.“ (Ebd.: 109)

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Das idealistische Bildungsverständnis will nicht an einen produktiven Nutzen gebunden sein, andererseits lässt sich Bildung für die Logik des kapitalistischen Arbeitsmarkts nutzbar machen. In seiner theoretischen Grundfassung wird das Deutungsmuster aber immer auf die gesamte Lebensführung bezogen, es durchzieht alle Bereiche und widersetzt sich der Beschränkung auf ein Gebiet. Es lässt sich auch nicht auf die Abkehr nach außen reduzieren, denn Innerlichkeit wird zwar immer wieder betont, aber Bildung wird auch als „kommunikative Leistung“ interpretiert und mit einem geselligen Lebensstil in Einklang gebracht. Eine „vita activa“ sei also das Ziel, „daß ein Leben geführt werden müsse und nicht nur ertragen oder erlitten werden darf“ (vgl. ebd.: 122). Hier kommt ein Bildungsbegriff zum Ausdruck, der die Positionierung des Individuums verlangt, ein lebendiges, bewegliches Reagieren auf die Umgebung und ein Ausloten der eigenen Grenzen. Seine Vertretung findet der bildungsgerichtete Lebensstil im Bürgertum, das die selbst erworbenen den vererbten „Leistungen“ des Adels entgegenstellt und so seinen Machtanspruch und Selbstbewusstsein mit Bildung begründet. Koselleck bezeichnet sie als „eine kleine Schicht mit einer großen Definitionsmacht“, die im 19. Jahrhundert den universellen Anspruch für „Bildung“, „Kultur“, „Liberalismus“ und „Nation“ geltend machen (ebd.: 244). Ein Name taucht bis heute unweigerlich auf, wenn es um Bildungsideale, die Gegenwart und Zukunft von Bildung geht und der Tenor lautet dann „Wilhelm von Humboldt hat noch immer Recht.“ (Ricken 2006: 14) Die Ursache für seine mächtige Rolle liegt allerdings nicht unbedingt in der theoretischen Schärfe seiner Arbeiten, er ist zu seiner Zeit vielmehr „osmotischer Repräsentant“ des intellektuellen Lebens in Deutschland und kann mit seinem Bildungsideal die Strömungen „im geistigen Erfahrungskapital der [...] Intelligenz“ weiterentwickeln (Bollenbeck 1994: 147). Der menschliche Geist strebt in der „Theorie der Bildung des Menschen“ nach Verknüpfung des Ichs mit der Welt (Humboldt 19593: 25). „Bildung, Weisheit und Tugend“ sollen sich möglichst verbreiten und mit ihrer Entwicklung und Weitergabe einen bleibenden Wert über das einzelne Leben hinaus schaffen. Bildung ist also von Beginn an „relational verfasst“ und betrifft drei Ebenen, auf denen sich das Subjekt verbindet: Erstens „Selbstverhältnisse“, womit die innere Reflexion, Autonomie und Entfaltung der individuellen Fähigkeiten gemeint sind, zweitens „Weltverhältnisse“ und damit Wissen und reflexive Aneignung der Welt und drittens „Anderenverhältnisse“, die sich auf die Kommunikation und auch Anerkennung beziehen (vgl. Ricken 2006: 168). Seit Beginn des 19. Jahrhunderts gilt Bildung genauso wie Kultur als Modewort, und gerade dass der Begriff nicht eindeutig umgrenzt ist, sondern offen, eben beweglich bleibt, scheint dem Deutungsmuster zu seinem bis heute andau3

Verfasst 1793.

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ernden Erfolg verholfen zu haben (Bollenbeck.: 105 ff.). Darüber hinaus ist es die Verwobenheit und gegenseitige Hervorbringung mit weiteren Begriffen der Moderne, die den Terminus als zentrales Deutungsmuster ausmacht. „Wie kaum ein anderes ‚anthropologisches Deutungsmuster‘ ist ‚Bildung‘ als praktischtheoretisches Konzept mit der modernen ‚Geburt des Subjekts‘ verknüpft und damit im deutschen Diskurs elementarer Teil des modernen Selbstverständnisses, gilt doch das ‚Subjekt‘ als das neuzeitlich-moderne Paradigma der theoretischen wie auch praktischpolitischen Selbstverständigung in der westeuropäischen Kultur schlechthin.“ (Ricken 2006: 211)

Um es noch einmal festzuhalten, Bildung können wir als substanzielles Konzept im Kontext der Herausbildung moderner Subjektivität begreifen, und sie ist eng gekoppelt an Begriffe von Freiheit, Vernunft und Handlungsfähigkeit.4 Bildung vollzieht sich jedoch nicht im luftleeren Raum, Hegel verweist auf deren Abhängigkeit von Gesellschaft, Natur, Staat, Kultur und Geschichte, und Humboldt begreift den Prozess der Aneignung dieser Welt als andauerndes Projekt (vgl. Dörpinghaus/Poenitsch/Wigger 2003: 69ff.). Bildungsprozesse werden zunächst also sehr umfassend definiert, zwar auch schon als Erziehung und Ausrichtung an bürgerlichen Zielen, aber mindestens genauso als Selbstentfaltung und -befreiung, Entwicklung eigener Maßstäbe durch Erfahrung, Reflexion und Kommunikation. Das Individuum soll mündig werden, kritikfähig und so zu einer aktiven Lebensführung befähigt. Verschiedene Positionen, was als bildungsbedeutsam gelten soll, bleiben nebeneinander bestehen, ohne dass sich eine durchsetzt. Sind es eher lebensnahe Themen auf die sich Bildung orientieren müsse (beispielweise bei Herder) oder findet sie ihren geeigneten Gegenstand in „zweckfreier“ Ausrichtung auf Kunst und Kultur (vertreten von Humboldt u.a.)? Ein gemeinsamer roter Faden, der diese teils widersprüchlichen Haltungen durchzieht, ist der Kantsche Gedanke, nachdem der Mensch nicht als Mittel, sondern als Zweck in sich stehen soll, seine Würde Bedeutung hat. Dem entspricht das Bildungsideal, nach dem die individuelle Entfaltung nicht an gesellschaftlichen Maßstäben bewertet werden soll, sondern aus sich selbst Geltung beanspruchen kann (vgl. Dörpinghaus et al.: 59). Dieses offenere Bildungsverständnis bleibt bestehen, beispielsweise in Nietzsches Auffassung von Bildung

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Allerdings sind die Einflüsse nicht allein an die spezifische Entstehungssituation um 1800 gekoppelt, verschiedene Phasen überlagern sich hier und haben eine „diachrone“ Wirkungsweise (Koselleck 2010: 143, 145), so wird als ein Ursprung des Bildungsideals die „Paideia“ der griechischen Antike zitiert.

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als Lebenskunst „werde der, der du bist“ (ebd.: 101), die sich anders formuliert auch als offener Prozess der Identitätsfindung deuten lässt. 2.2.2 Bildungskritik – zwischen begrifflicher Inflation und Aufgabe des Konzepts Der Bildungsbegriff wird spätestens seit Ende des 19. Jh. von diskursiven Turbulenzen begleitet. Wie kann das kritische Potenzial von Bildung umgesetzt werden und bleibt es überhaupt bestehen, wenn Bildung längst in ein gesellschaftliches Programm eingeformt ist? Wie können Bildungsansprüche erhoben werden, ohne Bildung zum Distinktionsmerkmal verkommen zu lassen? „Veraltet und doch zählebig“ (Bollenbeck: 231) trotzt der Begriff allerdings dem kritischen Wellengang, bleibt auch im nationalsozialistischen Deutschland in Gebrauch, reduziert allerdings, ohne humanistisch emanzipative Komponente und wird in Folge bis in die Gegenwart einerseits als theoretisches Konstrukt verworfen und andererseits in unendlichen Variationen und Kontexten weiterverwendet. Der Bildungsbegriff ist interdisziplinär in Gebrauch, allerdings ohne einheitlichen Zugriff auch in der Pädagogik, der mit Bildung auf das engste verwobenen Fachrichtung, hat sich kein Konsens zu den Funktionen dieses Konzepts für die Gegenwart und seiner weiteren Verwendbarkeit ausgeprägt (vgl. Alheit 1994). Eine theoretische Inspektion des Deutungsmusters bringt dagegen seit einigen Jahrzehnten hauptsächlich deren Inkonsistenzen ans Licht, was dann zu einer Absage an einen weiteren produktiven Einsatz führt. Diese kritischen Stellungnahmen bleiben für den öffentlichen Diskurs jedoch wirkungslos, denn hier überdauert der Begriff weitgehend unhinterfragt und stabil. Die kritische Auseinandersetzung mit Bildung ist entsprechend der Reichweite des Begriffs breit angelegt, von der Nachkriegszeit über die 1970er Jahre bis zur Gegenwart wandeln sich die gesetzten Schwerpunkte und Vorschläge zu Neufassungen. Hier sollen nur einige zentrale Positionen zur Sprache kommen, ohne Vollständigkeit zu beanspruchen. Bildungskritik wird auf einer ersten grundlegenden Stufe an der zu großen Beweglichkeit, anders ausgedrückt konzeptuellen Ungenauigkeit geübt. Dieser Einwand richtet sich gegen eine viel zu verschwommene, nicht eingrenzbare Begriffskontur und darüber hinaus die initial verankerten Ambivalenzen, die auch mit einer Nachjustierung des Begriffs nicht verschwinden. Die „längst sichtbar gewordene Untauglichkeit als inhaltlich präzise gefasstes, kategorial angemessen ausgearbeitetes und disziplinär weithin geteiltes Konzept“ (Ricken 2006: S.20) führt jedoch nicht zu dessen Verschwinden, sondern ist im Gegenteil, und hier können wir eine Besonderheit des Begriffs notieren, sogar „Bedingung der Möglichkeit ihres öffentlich-diffusen Ge-

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brauchs.“ (ebd.). Es lässt sich also eine Überlagerung in der Begriffsverwendung beobachten, einerseits ist dessen „Nutzung seit rund 200 Jahren diskursiv gut eingespielt“ (Manhart 2009: 80) und andererseits wird das Bedeutungsgeflecht in seiner Konsistenz konstant in Frage gestellt. Eine weitere Stufe der Bildungskritik betrifft dabei den ursprünglichen Kontext des Begriffs und problematisiert dessen Entfernung aus diesem Bedeutungsrahmen. Die Kritik lässt sich auch dahingehend verstehen, dass Bildung als sozialgeschichtliches Phänomen einer anderen Epoche zuzuordnen und auf die Gegenwart mit völlig veränderten Bedingungen nicht mehr anwendbar ist. Hier ließe sich ein weiteres Spektrum der Kritik auseinander dividieren, von Analysen, die das humanistische Bildungsideal nach wie vor als Ziel betrachten, an dessen Umsetzung es allerdings hapere (Behrens 2002: 72), über den Befund der Begriff habe ausgedient, sei „ein akademischer Pflegefall“ (Bollenbeck: 307) und höchstens noch als historischer Faktor interessant. In dieser Perspektive werden die Bildungsideale genauso wie deren Trägerschicht, das Bürgertum, als der Vergangenheit zugehörig betrachtet, die heute nicht mehr in dieser Form existieren. Es bleibt festzuhalten, dass sich hier zwei Stränge der Kritik ausmachen lassen; einer an dem Ursprungskonzept Bildung festhaltender und einer, der das Konzept selbst als problematisch und als Ursache der ambivalenten Umsetzung zu verwerfend bewertet. Letztere Ausrichtung der Kritik kann als dritte Stufe gelten, die Einlösbarkeit der Bildungsideale und des emanzipativen Potenzials wird hier stark bezweifelt, wenn nicht gänzlich abgewiesen. Ricken positioniert sich auf diese Weise, wenn er „die in ‚Bildung‘ implizit wie explizit formulierte und gesellschaftlich praktizierte ‚Illusion der Souveränität und Unabhängigkeit‘“ problematisiert, die „als Freiheit sich anpreist und Ohnmacht produziert.“ (Ricken 2006:213). Demzufolge ist die krisenhafte Situation der Bildung in der Gegenwart nicht Folge einer ungenauen oder verschobenen Umsetzung der Ursprungsidee, die Bildungsidee selbst trägt diese späteren Probleme in sich. Was kann Bildung bewegen, und ist sie tatsächlich geeignet als Grundlage für Widerstand, als herrschaftskritisches Element? An dieser Stelle scheiden sich die Geister in solche, die ihr das kritische Potenzial absprechen und jene, die trotz der Vereinnahmung von Bildung ein nicht zu verhinderndes Reservoir an Widerständigkeit ausmachen. Die gegenseitige Durchdringung von Bildung und herrschendem System verursacht Zweifel, ob gerade Bildung als Ressource zur Befreiung beitragen kann. Diese Unentschiedenheit klingt auch nachfolgend an: „Bildung ist als Vermögen zu begreifen, Wege der Identität zu finden (oder zu erfinden); Anpassung an Herrschaft, Selbstkontrolle und Konformität gehören ebenso dazu wie Un-

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rechtsbewusstsein und Widerstands- beziehungsweise Widerspruchsfähigkeit. Entscheidend ist, dass die Muster solcher Identitätsbildung einer kulturellen Logik entspringen, die heute vollständig von der Logik kapitalistischer Verwertung durchsetzt ist.“ (Behrens 2007: 63)

An anderer Stelle wird diese Ambivalenz nicht erst mit der flächendeckenden Durchsetzung des Kapitalismus assoziiert, die gleichzeitige Reproduktion und Bedrohung eines bestehenden Systems wird als Ausdruck modernen Denkens interpretiert, das sich von Anfang an gegen sich selbst richtete (vgl. Drechsel 1994: 110 ff.). Heydorn ist einer jener Bildungstheoretiker, die zwar das Bildungspotenzial als gefährdet begreifen und gleichwohl an der Möglichkeit einer Unterwanderung des Systems festhalten. Mit der Institutionalisierung droht Bildung ihm zufolge ihren emanzipativen Charakter zu verlieren, sie wird zu einem Privileg der herrschenden Klassen und stabilisiert damit die Gesellschaftsordnung (vgl. Heydorn 1970, 1995). Bildung wird hier eng an Mündigkeit und damit auch die Fähigkeit des kritischen Hinterfragens gebunden, bleibt sie aber allein auf industrielle Produktion und Arbeitsmarkt ausgerichtet, degeneriert diese Komponente, und das Subjekt wird im „Ritus der Unterwerfung“ Teil einer Logik, die Mündigkeit nur noch scheinbar unterstützt, aber vielmehr auf arbeitsförmige Funktion und Konsum programmiert (Heydorn 4/1995: 65f.). Trotz dieses Befunds über den Zustand der Bildung innerhalb der spätkapitalistischen Gesellschaft wird das Konzept nicht vollends aufgegeben. Bildung sei das „Gedächtnis des heilen Menschen inmitten der Paradoxie“ meint Heydorn und in diesem Sinn nicht vollständig vereinnahmbar. Sein Bildungsverständnis geht davon aus, dass Bildung, selbst wenn sie in institutionalisierter Form „degeneriert“ und politisch genutzt wird, Raum freihält, „der gewissermaßen über das politisch erwünschte Maß hinausschießt und zur kritischen Auseinandersetzung mit dem Bestehenden Anlass gibt.“ (Borst 2011: 166) Hier liegt das kritische Potenzial und damit auch die Gefahr, da sich Bildung „der Deckungsgleichheit entzieht, der Gleichheit mit dem Verwertungsprozeß“ (Heydorn 3/1995: 312). Dieses Vertrauen in ein bildungsimmanentes Reservoir der Herrschaftskritik wird in anderen Bildungstheorien angezweifelt. Hier wird eher davon ausgegangen, dass gerade in der Annahme, Bildung sei per se kritisch, ein Faktor für deren erfolgreiche Vereinnahmung liegt. „Es ist die ‚Macht der Bildung‘ (Groppe), die nicht nur immer wieder übersehen, sondern auch verstärkt wird, wenn Bildung immer nur als ‚Widerspruch zu Herrschaft‘ (Heydorn) ausgegeben und kommuniziert wird. Wenn aber stimmt, dass ‚Bildungsfragen [...] Machtfragen‘ (Heydorn 1979, 337) sind, dann ist es weder sinnvoll noch überzeugend, Bildung

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in ihrem Kern von Macht auszunehmen und als Inbegriff des ‚Menschlichen‘ auszugeben.“ (Ricken 2006: 24).

Bildung muss demnach im Zusammenhang mit Macht gedacht werden, und das Konzept selbst sollte davon nicht ausgenommen bleiben, sondern kritisch hinterfragt werden. Einer so gelagerten Analyse folgt bei Manhart die These, Bildung teile mit weiteren modernen Begriffen wie Subjekt, Staat und Markt das Problem der Selbstorganisation (Manhart 2009: S.80). „Bildung, konkret die Erziehung von Menschen durch Selbsttätigkeit, ist die Voraussetzung, auf die eine neoliberale Politik des ‚aktivierenden Staats‘ mit den zunehmenden Forderungen nach individueller Eigenverantwortung reagiert. Die Kontextsteuerung mithilfe vor allem finanzieller Anreizsysteme aus der Wirtschaft und Politik auch in der (Sozial-)Pädagogik anzuwenden, also zwischen Markt und Bildung auch ganz praktische Analogien herzustellen, liegt nicht näher als man denkt, sondern es liegt so nahe, weil man es so denkt.“ (Ebd.: 94)

Das hier vermittelte Bildungsverständnis stellt eine direkte Verbindung zwischen dem auf Selbsttätigkeit beruhenden Bildungskonzept und einem (neo-)liberalen Gesellschaftsmodell her und relativiert somit im Grunde auch die herrschaftskritische Komponente von Bildung. Über die Frage, ob Bildung noch als emanzipatives Werkzeug gelten sollte, herrscht keinesfalls Einigkeit. Unterschiedliche Positionen und Unentschiedenheiten bleiben nebeneinander bestehen, und die Frage „Gibt es einen begründeten Anlass zu der Annahme, dass verinnerlichte Zwangsmechanismen durchschaubar werden?“ (Borst 2003: 121) wird nicht einheitlich dahingehend beantwortet, dass Bildung dazu Voraussetzung sei. Nichtsdestotrotz sind einige Bildungstheoretiker nach wie vor von der Bildung innewohnenden kritischen Kraft überzeugt. So auch Pongratz, der Humboldts Theorien als „Ferment eines unnachgiebig kritischen Denkens“ (Pongratz 1986: 148) relevant einstuft und auch trotz diverser Schwierigkeiten mit dem Konzept daran festhält, Bildungstheorie sei „Als Kritik des universal gewordenen Herrschaftsanspruchs [...] unaufgebbar.“ (ebd.: 115). Ob Bildung nun als widerständiges Aggregat begriffen werden kann, möchte ich an dieser Stelle offen lassen und eine weitere Auseinandersetzung mit dieser Frage anhand des empirischen Materials angehen. Angeklungen sind bereits die theoretischen und kritischen Vorbehalte gegenüber der institutionalisierten Form von Bildung, eine besonders weit verbreitete Ausrichtung der Bildungskritik, die hier gesonderte Aufmerksamkeit erhält.

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2.2.3 Institutionalisierte Bildung als Problem Schon zu Beginn der Etablierung des Bildungsbegriffs, noch bevor also der Bildungsprozess institutionell organisiert ist, können wir auf eine gewisse Dissonanz zwischen Bildung und Erziehung stoßen. Die Persönlichkeit soll sich frei entfalten in einem Prozess der Weltaneignung, an dessen Ende das Individuum Mündigkeit erlangt, die Erziehung schränkt aber jene freie Entfaltung ein. Eine auf Grenzziehungen und Disziplinierung aufbauende Erziehung lässt sich nicht ohne weiteres mit dem autonomen, zweckfreien Ideal von Bildung in Einklang bringen. Dieser Zwang wird legitimiert, weil er ermöglichenden Charakter hat, denn mit einer solchen Ausrichtung wird der Einzelne auf die Geleise zur Entfaltung seines Potenzials gesetzt, um als Subjekt Mündigkeit und Freiheit zu erreichen. So wird bei Hegel das Ziel eines „sittlichen Lebens“ gesetzt, zu dem die Kinder, deren Verhalten Triebe und Launen bestimmten, zu erziehen seien (vgl. Dörpinghaus et al 2003: 84f.). Trotz teilweise gegensätzlicher Ausrichtung überlagern sich Bildungs- und Erziehungsbegriff in ihrer Verwendung ebenso wie in der Praxis. Bereits aus diesem (Miss-)Verhältnis quellen Schwierigkeiten der Konzeptualisierung, aber spätestens wenn wir uns den Bildungsinstitutionen zuwenden, scheint sich eine Lücke zwischen dem aufzutun, was theoretisch als Bildung definiert wird, gegenüber jenem, was im Rahmen schulischer Bildung zur Bildungspraxis gehört. Der in Bezug auf Erziehung problematisierte Zwang kann genauso in Bezug auf die Schule in Frage gestellt werden. Und auch hier lässt sich die Ambivalenz argumentativ nicht einfach auflösen. „Die geschichtliche Genese der Schule als gesellschaftlichem Subsystem institutionalisierter Bildung bleibt in diesen Widerspruch eingelassen. Mit ihrem Ziel, den Menschen die Mittel an die Hand zu geben, um sich der unmittelbaren Lebensnot zu entwinden, verweist sie auf die Möglichkeit von Freiheit jenseits des Naturzwangs. Doch schleppt sie in ihrer institutionalisierten Form diesen Zwang zugleich mit sich fort.“ (Pongratz 1986: 259)

Die hier angesprochene Ambivalenz nimmt im gesellschaftlichen Diskurs zu Schule nicht viel Raum ein. Die grundsätzliche Infragestellung der Bildungsinstitutionen und ihrer Sinnhaftigkeit ist unterschiedlich verortet, hat allerdings keine machtvolle Position. Erwähnenswert erscheint sie mir trotzdem, so wird beispielsweise aus postkolonialer Sicht in Frage gestellt, weshalb Bildungsprozesse an Schule gebunden werden. „Denn was eigentlich zählt ist die Fähigkeit, sich eine Biografie zu ‚basteln‘, indem man auf seine kulturelle Tradition rekurriert. Hierfür gibt es gesellschaftliche Vorbilder, deren

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Lebenserfahrung für die Bildungsprozesse jüngerer Generationen fruchtbar genutzt werden könnten. Jedoch werden diese Erfahrungen selten zur Sprache gebracht.“ (Foaleng 2002: 215)

Hier lässt sich ein Bildungsverständnis als „Biografiearbeit“ erkennen, auf das ich an späterer Stelle zurückkommen möchte. Aus seiner Perspektive folgt für Foaleng die Forderung nach einer Infragestellung der Monopolisierung von Bildung durch Schule und entsprechender theoretischer Neufassung (vgl. ebd.). In eine ähnliche Richtung geht die Einschränkung Liessmans nach dessen Unterscheidung nur Ausbildungsprozesse bewertbar seien, Bildung aber nicht, wenn wir sie begreifen als „wie jemand in der Welt ist“ (Liessmann 2009: 155). Diese kritischen Einwände stellen sowohl in Frage, inwiefern Bildungsinstitutionen Bildung zu deren Ungunsten vereinnahmen als auch, ob es überhaupt noch Bildung ist, die in diesen Institutionen vermittelt wird. Vielmehr als über das Ob wird allerdings über das Wie verhandelt. Nuancen der Selbstbestimmung im schulischen Bildungsprogramm werden diskutiert, den Schülern wird in speziellen Lernformen mehr Freiheit eingeräumt, die Verpflichtung zu Bildung ist jedoch weniger Gegenstand der Aushandlung. Schule und Bildung scheinen dagegen miteinander verschmolzen zu sein und die Institutionalisierung gewissermaßen unhinterfragbar. „Wo von ‚Bildung‘ die Rede ist, wird ‚Schule‘ immer schon mitgehört. Dieser [...] Assoziationszusammenhang ist dabei Folge einer doppelten Etablierung: so wie die allgemeine Durchsetzung des Bildungsdenkens Ausdruck wie Folge [...] der Ausweitung der ‚Schule‘ als eines neuen gesellschaftlichen Funktionssystems ist, so verdankt sich die flächendeckende und erstaunlich schnell als verbindlich akzeptierte Etablierung des pädagogischen Systems in den deutschen Ländern auch der ‚diskursiven Macht‘ des Bildungsdiskurses selbst.“ (Ricken 2006: 283)

Die diskursive Macht des Deutungsmusters Bildung und deren institutionelle Ausformung bedingen sich demnach gegenseitig. Genau wie sich die Bildungskritik vielschichtig darstellt, werden auch an Schule, Universität, Kindergarten – jeglichen Bildungsinstitutionen und Ausbildungsformen konstant Kritik und Forderungen geübt. Im Folgenden erwähne ich nur einzelne kritische Einwände, die mir zentral erscheinen. Bereits angeklungen ist gerade im Zusammenhang mit Heydorn die Sicht auf institutionalisierte Bildung als „Instrument der Herrschaft“, mit dem in erster Linie Anpassung und damit die Reproduktion der modernen Gesellschaft sichergestellt werden soll. Mit dem Bedeutungswachstum der Schule als „gesellschaftli-

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chem Faktor“ bündelt sie zunehmend politische und wirtschaftliche Macht, wobei auch der Kontrast gegenüber der eigenen theoretischen Grundlage schärfer wird (Heydorn 1970: 312). Die Schule wird zur entscheidenden Institution des Nationalstaats, hier werden die Bürger auf dessen Werte hin ausgerichtet eine „Kultur der Zivilgesellschaft“ vermittelt (vgl. Schiffauer 2002b: 1ff.). Mit ihrer kulturellen Integrationsfunktion trägt Schule zur Erzeugung nationalspezifischer Habitusstrukturen bei (z.B. Gründlichkeit) (vgl. Bourdieu 2001: 10,11). Eine traditionell ausgerichtete Bildung wird als begrenzt betrachtet und problematisiert, da sie gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse reproduziert (vgl. Borst .2011: 34).5 Darüber hinaus sollen die Schüler innerhalb der hierarchisch gegliederten Schultypen auf eine produktive Integration in die Arbeitswelt hinsteuern. Die dahingehende Kritik macht eine Zuschneidung von Bildung auf Ausbildung aus, ohne dass diese Veränderung begrifflich klar markiert wäre. Bildung, Ausbildung und Erziehung verschwimmen mit der Institutionalisierung immer mehr zu einem Begriffsgefüge. Neben der Entfernung der institutionalisierten Bildung von den konzeptuellen Idealen beschäftigt sich die Kritik weiterhin umfangreich mit anknüpfenden Fragen der Gerechtigkeit. Ausgehend von der Würde des Menschen kann grundsätzlich kein Unterschied gemacht werden im Bildungsanspruch eines jeden Menschen, das Recht auf Bildung ist verankert als Menschenrecht (Art. 26) und gilt als Grundlage für die Durchsetzung weiterer Menschrechte. Die Kritik sieht diesem allgemeinen Anspruch eine Realität entgegengesetzt, in der Bildungschancen hochgradig ungleich verteilt sind und nicht ausreichend viel getan wird, um unsymmetrische Ausgangspositionen überwindbar zu machen. Auf dieses Defizit weist auch Koselleck in seiner eher historischen Betrachtung des Bildungsbegriffs hin und erkennt dessen Scheitern daran, „empirisch wichtige Trennlinien auszuhebeln“. „Formal ist Bildung allgemein, inhaltlich elitär. Im konkreten sozialen Zusammenhang bleibt Bildung anschlussfähig nur für den, der am vorausgesetzten Bildungswissen teilhat und der Urteilsfähigkeit über Bildungsgüter erkennen lässt.“ (Koselleck 2010: S.131) Pierre Bourdieu hat sich eingehender mit dieser tief in das Bildungssystem eingegrabenen Schieflage beschäftigt und die beschworene Chancengleichheit als Illusion ausgewiesen (vgl. Bourdieu 2001). Das Bildungssystem privilegiert dementsprechend das kulturelle Kapital einer Klasse, indem es dieses als „normale“ Anforderung wertet. Die Erfüllung der Anforderungen wird gesellschaftlich jedoch nicht offen als ererbte 5

Die Kritik geht dabei in unterschiedliche Richtungen, bei Borst wird der Blick auf die Fortschreibung eines Dualismus der Geschlechter gelenkt. Bildung sei demnach auch „Geschlechterbildung“ und mit ihr schrieben sich Unterdrückungsformen fort (Borst 2011: 5, 34).

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Fähigkeit benannt, sondern als Begabung oder persönlicher Verdienst umgedeutet. Innerhalb dieses Systems erscheint es den Unterprivilegierten als eigenes Versagen, als individuelle Schwäche, wenn sie den Anforderungen nicht genügen (vgl. ebd.). Bourdieus Analyse des Schulsystems hinterließ nachhaltigen Eindruck, auch weil die einzelnen Funktionen dieses Betriebs nachvollziehbar gemacht und ihr erfolgreiches Wirken erklärbar wurden. So zum Beispiel deren scheinbar neutrale Ausrichtung, aber tatsächliche Zugrundelegung eines idealen Habitus, dem je weiter entfernt der im sozialen Umfeld angeeignete Habitus, deutlich schwerer zu entsprechen ist (vgl. ebd. 25ff.). Dass diese Schräglage nicht transparent ist, wird problematisiert. Als zu deterministisch, wird teilweise Bourdieus Zeichnung eines Kreislaufs aus objektiven Chancen, Verinnerlichung dieser im Umfeld (z.B. Anzahl der Akademiker in der Familie) und der Entwicklung einer eigenen Perspektive betrachtet. Bourdieu rechnet mit einer deutlich geminderten Ausrichtung auf objektiv unwahrscheinliche Ziele, was kumuliert mit dem defizitären Kapital in geringere Aussichten auf Bildungserfolg mündet. Weiterhin werden den Angehörigen der unterprivilegierten Gruppen gesellschaftliche Positionen zugewiesen, die ihrem Kapital entsprechen sollen. „So trägt alles dazu bei, diejenigen, die, wie man sagt ‚keine Zukunft haben‘. zu ‚vernünftigen‘ oder, wie Lewin sagt, ‚realistischen‘ Erwartungen, was sehr oft heißt zum Verzicht auf das Hoffen anzuhalten.“ (Bourdieu 2001: 35)

Über die Schule wird die eigene gesellschaftliche Situation legitimiert und soll so auch weniger anfechtbar werden. Gewiss könnten punktuelle Einwände gegenüber dieser grundlegenden Kritik erhoben werden, festzuhalten ist allerdings, dass Bourdieus Feststellung Zukunftschancen seien eng an die Entscheidung für die Oberschule gekoppelt ebenso wie seine Aussagen zum Zusammenhang von Schulerfolg und elterlicher Unterstützung (vgl. ebd.: 36) nach wie vor gelten, wie aktuelle Untersuchungen belegen (vgl. Radtke 2004: 143 ff.). Die meritokratischen Bedingungen des Bildungssystems werden nach wie vor angezweifelt, auch wenn sich die Gruppe derer, die als benachteiligt gilt, verschoben hat.6 Auf die spezifische Verschränkung von Bildung und Migration soll allerdings später weiter eingegangen werden. Halten wir fest, was die kritische Betrachtung der Institutionalisierung von Bildung – hier mit dem Fokus Schule – ergibt: die enge Verschränkung mit staatlichen Interessen auch auf Kosten bildungsspezifischer Ideale, die Verzwe-

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Vom vielbeschworenen „katholischen Mädchen vom Lande“ zu „Jungen mit türkischem Migrationshintergrund“.

Theoretische Vorüberlegungen | 35

ckung und Reduzierung auf Ausbildung7 und gleichzeitig die ungerechte Chancenverteilung. 2.2.4 Neubestimmungen und Anschlüsse des Bildungsbegriffs Eingangs habe ich den Bildungsbegriff als ein Konzept voller Tücken bezeichnet, ein Deutungsmuster, das sich zunächst eher unverfänglich präsentiert, bei näherer Betrachtung aber zu verschwimmen beginnt. Trotz oder wegen dieser „catch-all-Eigenschaften“„bewegt“ Bildung nach wie vor, ist beliebtes rhetorisches Mittel einer „Festtagssemantik“, die aber schwer mit den Alltagsverhältnissen in Bezug gesetzt werden kann (Bollenbeck 1994: 238). Die verschiedenen begrifflichen Diskrepanzen und Verwobenheiten haben einige Kritiker dazu bewogen, die Aufgabe des Theoriebegriffs als angesagt zu betrachten. Doch auch wenn die Kritik eindeutig zu Ungunsten des Konzepts ausfällt, erweist sich die Lossagung von Bildung als schwierig zu bewerkstelligen. Erkennt man sie als zentralen „anthropologischen Grundbegriff“ an und rechnet ihr zu „Handlungs-, Erfahrungs- und Wahrnehmungsweisen der Menschen selbst zu figurieren“ (Ricken 2006: 25), kommt man nicht umhin, weiter mit Bildung zu denken. Dass dabei der performative Charakter kritisch mitgedacht und das Deutungsmuster machttheoretisch dekonstruiert werden sollte, ist ein wichtiger Hinweis. Wird Bildung nicht nur in seiner Verwendung und unvollkommenen Praxis problematisiert, sondern gänzlich aufgrund seiner Machtförmigkeit, wird konsequenterweise angezweifelt, ob eine Neuformierung des Begriffs fruchtbar ist, da sie an der Grundausrichtung im Kern nichts verändern kann (ebd.: 348). Mit dieser Position kann der Begriff zwar nicht verworfen werden, muss aber in Zusammenhang mit Macht und Herrschaft kritisch verwendet werden. Weitere theoretische Zugriffe rechnen Bildung nach wie vor ein utopisches Potenzial zu und sehen darin ein Argument, das Konzept trotz seiner Schwächen nicht aufzugeben. Bildungstheorie verbindet dann Kritik einerseits mit Möglichkeitsdenken andererseits und setzt sich damit über die empirische Uneinlösbarkeit hinweg (vgl. Drechsel 1994). Die Grundidee der „‚Selbstbildung aller‘ und einer geglückten Identität“ (Bollenbeck 1994: 312) wird mehrheitlich nicht

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Eine einheitliche Ausrichtung auf die Arbeitswelt wird auch kritisiert, weil Verberuflichung die Gesellschaft hierarchisch ordnet und ihre enge Abgrenzung von Kompetenzen und Verantwortung die Kooperation bei komplexen Herausforderungen verhindert. Da aber die Lösung gesellschaftlicher Probleme als eine Zielrichtung von Bildung begriffen werden kann, sollte eben nicht auf enge Berufsfelder hin gebildet werden (Drechsel 1994: 116).

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als obsolet betrachtet. Und auch wenn an Bildung anschließende Vorschläge der Neukonzipierung gemacht werden, soll dieses Grundelement „hinübergerettet“ werden. Anschlussfähiger für diese Forschung sind möglicherweise Ausrichtungen des Begriffs, die ihn anhand ihrer Eingrenzung nutzbar machen und weniger normativ argumentieren. Sinnvoll erscheint der Vorschlag, Bildung als Kontext zu begreifen (Koch 2002: 53ff.).8 Ein solches Verfahren eignet sich für hoch verallgemeinerte Begriffe, denen es aufgrund der Breite an theoretischer Funktionalität fehlt. Bildung ließe sich damit als „inklusiver struktureller Kontext“ begreifen, der Begriff ist damit nicht mehr eindeutig zu definieren, sondern wird zu einer Art „Projektionsfläche“, die vielfältige Prozesse widerspiegelt. Auf diesem Wege können wir die oben erwähnten Divergenzen nebeneinander stehen lassen und in ihrer Relation erkenntnisgenerierend betrachten. Ein solches Begriffsverständnis im „nicht-kategorialen Sinne“ ermöglicht es, die problematisierte Vielschichtigkeit und Ambivalenz von Bildung einzufangen, multiple Prozesse, die alle auf der Projektionsfläche Bildung erscheinen. Mit diesem von Koch vorangebrachten Ansatz bleibt der Begriff in Verhandlung und eignet sich so auch für einen interdisziplinären Zugriff. Weiterhin wird „[...]auch Nicht-Wissen in der Kommunikation gehalten: Etwa das unbestimmte Wissen über das, was in den „Zwischenräumen“ der Teilgegenstände liegt, die jeweils punktuell von den spezialisierten – eventuell imkompatiblen, aber gleichermaßen erkenntnisreichen – Zugriffen beleuchtet werden“ (Koch 2002: 55).

Diese Umgangsweise mit Bildung erscheint mir vielversprechend und insbesondere auch für eine ethnografische Forschung besser handhabbar, als eine kategoriale Festlegung. Was Bildung sein kann, ist offensichtlich sehr variabel, gleichzeitig besteht die Gefahr, bewaffnet mit diesem wirkmächtigen Begriffsinstrument seine negativen Funktionen zu verstärken. Die Verwendung als Kontext unter Einbeziehung von Zwischenräumen und noch unbestimmten Stellen, erschwert gewissermaßen das „in die Falle tappen“, da Unabgeschlossenheit betont wird. Ein weiterer theoretischer Vorschlag, der unter bestimmten Prämissen an Bildung festhält, soll noch Erwähnung finden, denn hier wird ebenfalls ein Bereich betont, der mit Blick auf das empirische Material produktiv erscheint. In dem von Eva Borst (2003) entwickelten theoretischen Zugriff werden die anerkennungstheoretischen Grundlagen von Bildung betont. Damit wird auch ins 8

Als Vorbild für eine solche Konzipierung können Jessops Ausarbeitungen zu den Begriffen „Globalisierung“ und „Zivilgesellschaft“ dienen (vgl. Jessop 1997).

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Gedächtnis gerufen, dass Bildungsprozesse nicht als isolierte, individuelle Vorgänge, sondern immer im intersubjektiven Kontakt vollziehen, der zentral ist für die Konstituierung des Subjekts. Eine Verwendung des Bildungsbegriffs in Kombination mit Anerkennung ist insofern interessant, als sich „ein politischer Raum öffnet, in dem der Inklusions- und Exklusionsmechanismus hegemonialer Strukturen zum Vorschein gebracht und subvertiert werden kann und darüber hinaus die Modalitäten für Handlungsalternativen bereitstellt.“ (ebd.: 224). Eine solche Kombination adressiert somit auch die von bildungskritischer Seite betonte „Machtförmigkeit“ und ermöglicht mit dem Anerkennungsbegriff eine alternative Betonung. Mit diesen beiden Theorievorschlägen, sind Möglichkeiten, Bildung weiterhin produktiv zu nutzen, knapp umrissen. Was aber als Argument beinahe schwerer wiegt, wenn es um die (berechtigte) Frage geht „Warum überhaupt Bildung?“ ist simpel ausgedrückt das Weiterwirken dieses Begriffs in der Gesellschaft und damit auch innerhalb meines Forschungsfelds. Bildung begegnet uns als bewegliches Konstrukt überall und kann auch nicht ohne weiteres begrifflich ersetzt werden, auch wenn es stetig versucht wird. Diese Situation wird auch in Kosellecks historischem Blick auf die Bildungssemantik offenbar. „Es gibt quer durch allen diachronen Wandel und quer durch schier unendliche Diversifikationen semantische Gemeinsamkeiten, minimale, aber nicht verrückbare Strukturen oder Selbstdeutung, die anthropologisch nur als Bildung zu begreifen sind.“ (Koselleck 1990: 147) Tatsächlich werden unzählige Praxen und Ideen Bildung zugerechnet, und solange diese diskursive und praktische Verwendung besteht, sollte sie auch Gegenstand von Forschung sein. Dass die begrifflichen Bedenken damit nicht alle über Bord geworfen werden, versteht sich von selbst.

2.3 SPEZIFISCHE KONSTELLATIONEN IM KONTEXT VON MIGRATION UND BILDUNG Mit der näheren begrifflichen Bestimmung von Migration und Bildung ist deutlich geworden, dass Forschende in diesem Feld besonders umsichtig vorzugehen haben und im Blick behalten sollten, was sich als natürlich, gegeben darstellt und doch nationalspezifisch vermittelt ist. Kritische Migrationsforschung und Bildungskritik fügen sich insofern zusammen, als dass sich aus beiden Perspektiven die Auflage ableiten lässt, das Wirken von Herrschaftsstrukturen in die Analyse einzubeziehen. Eine grundlegende Ausrichtung ist damit gelegt, aber es erscheint mir gewinnbringend noch etwas weiter auf die spezifischen Verschränkungen von Migration und Bildung einzugehen. Im Mittelpunkt steht dabei besonders die für diese Arbeit relevante Gruppe sogenannter Türkeistämmiger,

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nach Statistiken des Bundesamts für Migration gehörten 2013 2,793,000 Menschen dazu. Hinter dieser Zahl verbergen sich Individuen mit heterogenen Biografien, die aber ein Element teilen – sie selbst, ihre Eltern oder Großeltern haben ein neues Kapitel begonnen und sich aus dem bekannten Erfahrungsraum in einen neuen begeben. Die Bewegung von einem nationalen Gefüge in ein anderes, eurozentristisch perzipiert als „von außen ins innen“, ist seitdem nicht nur für diese sondern auch für folgende Generationen Angelpunkt ihrer gesellschaftlichen Position und Verwirklichung, denn ihre Teilhabe wird im nationalstaatlichen Gefüge Deutschlands nicht als selbstverständlich bewertet. Vielmehr wird sie regelmäßig in Zweifel gezogen. Diese Zweifel sind Teil der entscheidenden Frage, die auf allen gesellschaftlichen Ebenen an Migranten und „Andere Deutsche“ (Mecheril 1997: 177)9 gestellt wird – sind sie integriert? Der Integrationsdiskurs ist in der gesellschaftlichen Gegenwart äußerst bestimmend und Bildung erscheint entscheidend, wenn es um die Frage geht, wie „Ausländer/innen Deutsche werden können“ (Castro Varela 2013: 16). „Seit Beginn des 21. Jahrhunderts können wir […] ohne Übertreibung von einer diskursiven Explosion sprechen, deren Effekte nicht nur in der Politik, sondern auch in der Pädagogik, Sozialen Arbeit und im Alltag spürbar sind. Die Mehrheit ist sich darüber einig, dass die Integration von Migrantinnen und Migranten nicht nur notwendig ist, sondern eben oft auch nicht gelingt. Diese Diagnose impliziert, dass eine genaue Vorstellung darüber existiert, was Integration tatsächlich bedeutet und wie gesellschaftliche Integration gemessen werden kann – eine höchst debattierbare Annahme.“ (Castro Varela 2013: 8)

Teil dieses Diskurses ist Bildung als zentrales Element der zu erbringenden Integrationsleistung und damit Konstrukt, das für gesellschaftlichen Erfolg aber auch Ausschluss entscheidend sein kann. Diese Verknüpfung mit Integration ist das charakteristische Merkmal des Diskurses zu Migration und Bildung. Bildung als Schlüssel für die gesellschaftliche Teilhabe zu betrachten (vgl. Geißler/Weber-Menges 2008: S.14) ist ein äußerst gängiger Zugriff, der uns in vielfältiger Form ständig begegnet. Forschungen zu Migration und Bildung gehen hauptsächlich von dieser Grundannahme aus; Bildung gilt als ermöglichende Ressource, als entscheidendes Kapital, das weitere Bereiche erschließt. Das Bildungsniveau beeinflusst die Chancen am Arbeitsmarkt und die Position in der 9

„Menschen, die wesentliche Teile ihrer Sozialisation in Deutschland absolviert haben und die Erfahrung gemacht haben und machen, aufgrund sozialer oder physiognomischer Merkmale nicht dem fiktiven Idealtyp des oder der ‚Standard-Deutschen‘ zu entsprechen, weil ihre Eltern oder nur ein Elternteil oder ihre Vorfahren als aus einem anderen Kulturkreis stammend betrachtet werden.“ (Mecheril 1997: 177)

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beruflichen Hierarchie, diese werden weiterhin in Zusammenhang mit Einkommen, Lebensstandard, sozialer Sicherheit und gesellschaftlichem Ansehen gebracht (vgl. ebd.). Bildung ist demnach Voraussetzung für sozialen Aufstieg, und da dieser als eine zentrale Motivation der Migration zählt, sollte es nicht überraschen, dass die Bewertung von Bildung, Wissen und der Bildungsoptimismus in dieser Gruppe als vergleichsweise hoch gelten (Wippermann, Flaig 2009: 5,11). Die im Rahmen der Bildungsbegriffe dargestellte Vielfalt spiegelt sich nicht wider, wenn es um den Migrationskontext geht. Bildung wird zuallererst als Kapital begriffen, teilweise im Sinne Bourdieus, aber häufig auch in einer ökonomisch orientierten Ausrichtung. Humankapital wird durch Bildungsinvestitionen angehäuft, die wiederum von den vorhandenen Ressourcen abhängen. Die Investitionen und Ressourcen des Elternhauses gelten unbestritten als bestimmende Richtungsgeber für den jeweiligen Bildungsweg. Auch wenn eine Bandbreite von Grundthesen zum Verhältnis von Bildung und Migration existieren, die teilweise auch weniger wirtschaftlich argumentieren, bleibt festzuhalten, dass der Bedeutungsgehalt auf die integrativen Funktionen von Bildung verengt ist. Von hier aus eröffnen sich dann diverse Bestandsaufnahmen zum (Miss-) Erfolg einer solchen Anbahnung mit Bildung, deren Ursachen und diversen Forderungen nach Verbesserungen und Neuordnungen (vgl. Behrensen/Westphal 2009, Granato 2003/2005, Nauck et al. 1998, Rohr 2004, Tepecik 2009). Die Bestandsaufnahmen zum Gelingen der vorgezeichneten Entwicklung fällt mit Bezug auf die „türkeistämmig“ markierte Bevölkerung eher problematisierend aus, wobei dieser hakende Prozess nicht dem Aufstiegs- und Integrationstool Bildung angelastet wird. Dass es am Bildungserfolg noch hapert, wird aus den statistischen Erhebungen (besonders prominent PISA 2000 Stanat, Artelt, Baumert et al.) abgeleitet, denn sie schneidet dort im Vergleich mit anderen Migrantengruppen ungünstig ab.10 Diese Konstellation wird zwar einhellig als Problem eingeordnet, die Verortung der Ursachen fächert sich allerdings in unterschiedliche Richtungen auf. Auf der einen Seite offenbart sich ein, wenn auch nicht immer explizit, auf Assimilation ausgerichtetes Denken. Innerhalb dieser Logik sind es „kulturspezifische Werte und Verhaltensweisen von Migranten“, die Bildung boykottieren, so seien beispielsweise die „traditionelle Haltung zum Wissen“ und die „kollektive Orientierung“ in türkischen Familien hinderlich für ein erfolgreiches sich Einfügen in individuell und modern konzipierte Bildungseinrichtungen (vgl. Leenen/Grosch/Kreidt 1990).

10 30% verlassen die Schule ohne Bildungsabschluss und 14% besitzen eine Hochschulberechtigung (Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung: 2009: 38, 39).

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Vergleichbare Argumentationslinien sind seit einiger Zeit zunehmender Kritik ausgesetzt, die Verortung der Defizite im fehlenden Kapital der Gruppe bleibt dennoch als verbreitete Annahme bestehen. Es wird allerdings allgemeiner von Kapitaldefiziten in Hinblick auf Sprache und Informationen gegenüber dem deutschen Schulsystem gesprochen. Die herkunftsspezifischen Kapitalien lassen sich demnach nicht kontextunabhängig einsetzen und verlieren somit an Wert. Familien, die beispielsweise aus der ländlichen Türkei nach Deutschland kommen, sind in dieser Perspektive vielfältigen Hindernissen ausgesetzt, wenn es darum geht, den „Bildungsaufstieg“ zu bewerkstelligen. Sie starten aus einer benachteiligten Position und müssen das Kapitaldefizit ausgleichen, um nicht abgehängt zu werden (vgl. Granato/Kristen 2004). Das familiäre Umfeld wird in diesen Erklärungen dahingehend analysiert, ob es begünstigend oder hemmend auf die „Entwicklung des Leistungspotenzials“ einwirke (vgl. Geißler/WeberMenges 2008) und jenes in Familien mit türkischem Migrationshintergrund wird tendenziell defizitär eingeordnet. Zu dieser Einschätzung kommt auch Meryem Uçan innerhalb des ethnologischen Forschungsberichts „Schule, Moschee, Elternhaus“ (2015), wobei sie sich dezidiert muslimischen Familien widmet. Sie beschreibt in ihrer Analyse der Interaktion des Spannungsfeldes zunächst den Wunsch der Eltern, den Kindern möge eine erfolgreiche Schulkarriere und damit der soziale Aufstieg gelingen. Dem stehen verschiedene sprachliche, kulturelle und soziale Barrieren im Wege, wobei erschwerend hinzukommt, dass die Kooperation mit Pädagogen häufig nicht funktioniert. Unsicherheiten, Missverständnisse und fehlende Augenhöhe prägen Uçan zufolge häufig das Verhältnis von Lehrer und muslimischen Eltern. Auf diese Weise entsteht ein Teufelskreis, der letztlich die gerechte Bildungsteilhabe weiter erschwere (vgl. Uçan 2015). Etwas anders gelagert stellen sich Argumentationen dar, die auf die Schwierigkeiten der Migrationssituation selbst und des „kulturellen Fremdseins“ abheben. Das „in-between“ zwischen familiärer Herkunfts- und „fremder“ Schulkultur bringe demnach Konflikte mit sich, die einen linearen Bildungsverlauf erschwerten (vgl. Badawia 2003). Die Gefährdung der schulischen Leistungen wird dabei auch der monokulturellen Ausrichtung der Schulen angerechnet. In der dort herrschenden Umgebung befürchteten die Schüler „Germanisierung“, sie sähen die kulturellen Traditionen der Eltern entwertet und sich von diesen entfremdet, wenn sie sich völlig einließen (vgl. Rohr 2004).11 Hier lässt sich eine Analyse der Adoleszenzentwürfe junger

11 „Religion, Tradition und Kultur der Familie werden massiv entwertet, sie tauchen in den Schulbüchern entweder gar nicht oder allenfalls als Fußnote der Geschichte auf. Das heißt, weder die zivilisatorischen und wissenschaftlichen Leistungen in den Her-

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Migrantinnen anschließen, die zwischen restriktivem Elternhaus und emanzipativen Idealen aus dem Schulkontext hin und hergerissen sind (ebd.). Ein weiterer Strang erklärt Bildungsunterschiede anhand struktureller Benachteiligung. Teilweise wird argumentiert, die Situation zeige nur wiederholt, dass das meritokratische Prinzip in deutschen Schulen ungenügend umgesetzt werde. Schichtzugehörigkeit sei entscheidend für die Bildungschancen, und da die türkisch-deutsche Migration vor allem ungelernte Arbeiter aus ruralen Gebieten umfasse, seien diese Gruppe und deren Nachkommen institutionell benachteiligt (auch ohne kulturelle Differenzen einzubeziehen). Darüber hinausgehend wird jedoch auch Diskriminierung thematisiert und als eine der Ursachen für Bildungsungleichheit bewertet (vgl. King 2007, Weber 2003, Worbs 2003). Einheitlich wird in allen unterschiedlichen Strängen die Familie als äußerst wirksam für die Bildungsbiografie beurteilt und die intergenerative Weitergabe von Ressourcen betont. Widersprüchlich ist allerdings in welche Richtung der Einfluss von Familienbeziehungen auf Bildung und Integration interpretiert wird. Zum Teil wird davon ausgegangen, Familie stelle eine Art „Eingliederungsalternative“ dar, wovon abzuleiten sei, hier wurzele ein Widerstand „der eine an universalistischen, leistungsbezogenen Kriterien orientierte individuelle Assimilationsmotivation verhindere, da dieser Familialismus an ‚traditionelle‘, askriptive Wertvorstellungen der Herkunftsgesellschaft geknüpft sei.“ (Nauck 2004: 84). Entgegengesetzt dazu werden Familien- und Verwandtschaftsbeziehungen auch als „Eingliederungsopportunität“ eingeordnet, die unterstützend und motivierend wirken und so auch begünstigend in Bildungsprozessen aufgehen. Dazu passt der Blick auf migrationsspezifische Ziele, die sich nur im Generationenzusammenhang realisieren lassen und so eine aktivierend, verpflichtende Wirkung entfalten können (vgl. Hamburger/Hummrich 2007). Was sich in der Betrachtung des Verschränkungszusammenhangs Bildung/Migration zeigt, entspricht der beschriebenen Analyse einer spezifisch ausgerichteten Migrationsforschung. Als Ausdruck dessen können wir den Umstand deuten, dass Bildung primär als Antwort auf das „Problem“ Migration verhandelt wird. Die Frage, woran Bildungsverläufe scheitern, wird zwar auch systemkritisch erwidert, aber die nationalstaatlich geprägte Rahmung von Bildung bleibt dabei häufig unberührt. Was Bildung außerhalb dieses politischen Zugriffs sein kann, findet dann eher unter anderen Begriffen wie Identität Beachtung, bleibt aber mit Bildungsprozessen wenig verbunden. Was uns im besagten Verschränkungszusammenhang begegnet, ist dagegen eine Verengung auf Bildungserfolg als Schulerfolg. Die synonyme Verwendung der beiden bestätigt erwähnte kunftskulturen der Eltern noch ihre eigenen migratorischen Leistungen erfahren im schulischen Raum eine Würdigung.“ (Rohr 2004: 6)

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begriffliche Verschiebungen und Probleme. Die Zweckausrichtung drängt dabei den auch enthaltenen Anspruch auf Selbstentfaltung an den Rand. Diese Tendenz wird allgemein gesellschaftlich beobachtet, aber im Kontext der Migration gewinnt sie besondere Schärfe, wenn Erfolg oder Misserfolg der Zweckausrichtung existentielle Konsequenzen haben können. 2.3.1 Der Begriff „Bildungsferne“ Um noch deutlicher zu umreißen welche Probleme ein integrationsbezogenes Bildungskonzept nach sich zieht, möchte ich hier in einem kurzen Exkurs den Begriff der „Bildungsferne“ näher beleuchten. „Bildungsferne“ wird als Beschreibung eines individuellen Zustands sowohl im Kontext der Sozialpädagogik, als auch im politischen und alltagssprachlichen Gebrauch verwendet. In der pädagogischen und sozialarbeiterischen Praxis hat er zunehmend Bezeichnungen wie „schwierig“, „sozial schwach“ oder „benachteiligt“ abgelöst und wird als Versuch verstanden, die hier gemeinten Familienkontexte weniger defizitär einzuordnen (vgl. Witt 2013). Grundsätzlich wird der Begriff aber kontrovers diskutiert, ihm wird Euphemismus vorgeworfen und das Fehlen einer einheitlichen Definition. Aktuelle Verwendungsformen (z.B. in der PISA Studie) fassen den Begriff tatsächlich unterschiedlich. Erstens wird er in Bezug zum formalen Bildungserwerb gesetzt. Zweitens wird damit die Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe mit geringem Bildungskapital bezeichnet, und eine dritte Verwendungsweise bezieht sich auf das Fehlen spezifischer Kompetenzen (Lesen, Schreiben, Mediennutzung etc.). Wird das Label „bildungsfern“ vergeben, schließt daran meistens die Prognose einer Negativ-Karriere an, „bildungsferne“ Familie = defizitäre Schulkarriere = geringe Arbeitsmarktchancen. So erscheint die Entwicklung geradezu unausweichlich vorgezeichnet, wenn nicht intensive Kompensationsbemühungen, angefangen im Kindergarten und fortgesetzt in der Schule, unterstützend eingreifen. An zweiter Stelle wird die Mündigkeit in Frage gestellt und damit die Voraussetzungen für eine demokratiepolitische Teilnahme (vgl. Witt 2013). Aufschlussreich erscheint die breite Verwendung des Begriffs gerade aufgrund dessen, was assoziativ mitschwingt, ohne klar benannt zu werden. Zwar erscheint die Definition als Abwesenheit von Bildungszertifikaten zunächst recht eindeutig, hier lässt sich aber unmittelbar der kritische Hinweis anschließen, dass nur spezifische, d.h. deutsche oder anders nationale, gleich bewertete Abschlüsse Geltung haben (vgl. ebd.). Eine solche Bewertungspraxis ist nicht neutral, sondern eindeutig hierarchisch strukturiert, solange verschiedene Bildungsabschlüsse nicht anerkannt werden. Darüber hinaus wird nur spezifisches Wissen, be-

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stimmte Kulturtechniken als relevant eingeordnet, der Stempel „bildungsfern“ bezeichnet jedoch die völlige Abwesenheit solcher. Dagegen argumentiert die Sozialpädagogin Witt mit Blick auf die als „bildungsfern“ geltenden Familien in ihrem Forschungsfeld. „Diese Familien sind mindestens genauso ‚bildungsreich‘ wie ‚bildungsfern‘: Wie wir in unserer Forschung erlebten, haben sie als Experten ihres Alltags viel Wissen und Kompetenz, was in erfolgreich arbeitenden Projekten respektiert und genutzt wird. In Handlungsansätzen wie z.B. der Peer-Hilfe können sich die so genannten Bildungsfernen untereinander oft erfolgreicher unterstützen als ein bestens an der Kultur und Gesellschaft teilhabender Sozialpädagoge.“ (Witt 2013)

Die hier beschriebenen Aspekte von Bildung und bildungsgerichtetem Handeln gehen in dem Konzept der „Bildungsferne“ unter. Genauso häufig wird die Problematik des Bildungszugangs vernebelt, ein Anschluss, der eigentlich unmittelbar auf die Identifizierung des als „Bildungsferne“ benannten Problems folgen müsste. Was wir allerdings gerade in der medialen Verwendung des Begriffes häufig antreffen, ist eine ausgrenzende Verwendung, mit der die jeweilig Bezeichneten abgewertet und für ihre Position selbst verantwortlich gemacht werden. Wie sonst kann es interpretiert werden, wenn beispielsweise in einem Artikel der Wochenzeitung „Die Zeit“ darauf hingewiesen wird, Eltern „problematischer“ Kinder träten nie in der Schule in Erscheinung und engagierten sich nicht, wovon auf ein „willentliches Fernhalten von Bildung“ geschlossen wird.12 In dieser Sicht ist die Grundlage eines Bildungsprozesses der Wille, die Entscheidung des Individuums beziehungsweise zunächst einmal der mit der Fürsorge betrauten Eltern. Bleiben sie der Bildungsinstitution fern, verfehlen sie die Erfüllung der hier erwarteten Aufgaben, fehlt ihnen offensichtlich die Bildungsorientierung. Die eigentlich grundlegende Problematik, dass nur, wer bereits ansatzweise die gefragte Bildung hat, sie auch besonders effektiv zu verfolgen weiß, bleibt auf der Strecke. Der Begriff wird auf diese Weise nutzbar, wenn es darum geht, gesellschaftliche Exklusion und deren Ursachen in den Bereich individueller Verantwortung zu verlagern, ein Vorgehen, dass beispielsweise auch in der politischen Praxis ausgemacht werden kann. Auf diese Weise gerahmt, sind auch die Äußerungen des ehemaligen Neuköllner Bezirksbürgermeisters Heinz Buschkowsky zu verstehen, der Bildungsferne als Absage an „unsere Werte“ interpretiert und damit den gesellschaftlichen Ausschluss begründet und zugleich legitimiert.

12 „Die Zeit“ 29.01.2009: „Bildungsferne. Versuch einer Definition“.

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„Ich möchte, dass die Einwanderer die Kulturriten und die Regeln des Zusammenlebens dieses Landes respektieren. Dazu gehört, dass jeder die gleiche Chance erhält, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Darauf haben als Allererstes die Eltern hinzuwirken. Wenn sie selbst nicht über die Kompetenzen verfügen, erwarte ich, dass sie ihre Kinder so früh wie möglich in den Kindergarten bringen und dafür sorgen, dass sie regelmäßig zur Schule gehen und die Sprache des Landes lernen, in dem sie leben. Ich bin für Kindergartenpflicht und Ganztagsschulen als Regelangebot. Wo Staat dran steht, muss auch Staat drin sein. Kommt das Kind nicht in die Schule, kommt das Kindergeld nicht auf das Konto. Klarer Fall. Die Gesellschaft muss dafür die Infrastruktur bereitstellen. Aber auch die Einwanderer müssen sich bewegen. In der Stadtbücherei bekommen die Kinder die Bücher umsonst. Man braucht kein Geld, um zu lernen. Wer nicht vormachen kann, muss wenigstens motivieren. Ich habe da eine klare Linie. Familien, die Jahrzehnte hier leben und ihren Kindern den Weg in die Gesellschaft versperren, würde ich gern beim Kofferpacken helfen, ehrlich, weil, so wird das nichts.“ (Buschkowsky 2013)13

Zum einen werden auf das Problem „Bildungsferne“ potentielle Antworten in Form staatlicher Sanktionierungen (Kindergeld) angeführt, in letzter Instanz ist in dieser Logik aber der gesellschaftliche Ausschluss (Abschiebung) die Ultima Ratio. Kitapflicht ab dem vollendeten ersten Lebensjahr und Ganztagsschulen sind demzufolge notwendig, um die Kinder dem Einfluss des defizitären Elternhauses zu entziehen, denn andernfalls sei das Abgleiten dieser Gruppe unausweichlich: „Wir müssen uns entscheiden, ob wir Schul- oder Gefängnisplätze finanzieren wollen.“ (Buschkowsky 2012)14 Die zentrale Bedeutung des Willens der Eltern in Hinblick auf die Bildungsverläufe, die hier angesetzt wird, mündet in der Annahme der Entscheidungsspielraum sei möglichst umfassend einzuschränken. So fordert Buschkowsky eine frühzeitige Förderung der Kinder, sei „zur Not gegen den Elternwillen“ (ebd.) durchzusetzen. All diese Apelle und Forderungen bemühen einen Bildungsbegriff, der einerseits eng an schulische und nachfolgend berufliche Eingliederung gekoppelt ist, aber eben auch darüber hinausgeht, wenn der Politiker in Bezug auf das Betreuungsgeld kritisch bemerkt „Wer glaubt, dass bildungsferne Eltern ihren Kindern davon eine Geige kaufen, der irrt.“ (Ebd.) Die Geige als Symbol eines bildungsbürgerlichen Ideals und Habitus15 irrlichtert hier durch ein ansonsten eher wirtschaftlich und politisch gerichtetes Bildungsdenken und deutet ein weiteres Mal die weitverzweigten Di13 „DIE ZEIT“ 20. September, Nr.39/2013, Interview von Özlem Topcu und Heinrich Wefing „Da helfe ich gerne beim Kofferpacken“. 14 „Frankfurter Allgemeine“ 21.03.2012. 15 Pierre Bourdieu definiert den Begriff des Habitus „als einverleibte, zur Natur gewordene und damit als solche vergessene Geschichte […].“ (Bourdieu 1987: 105)

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mensionen des Begriffs an, der gerade in seiner vielfältigen Verwendung seine Wirkung entfaltet. Was in verschleierter Form gesagt wird, ist aus meiner Sicht folgendes: die Gruppe der „Bildungsfernen“ ist von sich aus nicht in der Lage, kulturelle Werte und relevantes Wissen zu erkennen und sie sich anzueignen, sie muss dahin geleitet und zur Not dazu gezwungen werden, da sonst abweichendes Verhalten wahrscheinlich wird, dass rigidere Maßnahmen (Gefängnis oder Abschiebung) erfordert. 2.3.2 Kopplung von Bildung und Integration Eine wissenschaftliche Analyse von Bildungsprozessen sollte die Reduktion, die spezifische Rahmung, die mit der Integrationskopplung einhergeht, reflexiv einbeziehen. Nur so kann erkennbar werden, wie spezifische Bildungsregime wirken, wie sie sich in Praktiken und Diskursen niederschlagen und welche darüber hinausreichenden Handlungs- und Deutungsweisen wiederum die Akteure entwickeln. Welche Grenzziehungen lassen sich in Zusammenhang mit Bildung identifizieren, wie positionieren sich die Akteure in diesem Raum, welche Erweiterungen schlagen sie vor? Eine solche reflexive Öffnung und Erweiterung wird hier deshalb betont, weil die Einfügung von Bildungsbedeutung unter Integration, die „gesellschaftliche Brauchbarkeit“ in den Mittelpunkt stellt und dabei andere Bildungsbedeutungen wegfallen. Bildung ist dabei nur eine Ebene von Integration, allerdings eine entscheidende, wobei beide Begriffe gleichermaßen schwierig zu fassen sind. Gängig ist der Gebrauch eines Integrationsbegriffs nach dem „ein Migrant oder eine Migrantin erfolgreich integriert (ist), wenn er oder sie die deutsche Sprache beherrscht, einen Bildungsabschluss besitzt und erwerbstätig ist“ (Mecheril 2011). Problematisch wird hier aus kritischer Perspektive die Einordnung als „Anpassungsleistung“, die der einzelne zu erbringen hat, gesehen. Ein in diese Richtung verwendeter normativer Integrationsbegriff taucht wie oben beschrieben auf, wenn von „Bildungsferne“ oder allgemeiner den Defiziten der Migrationsanderen die Rede ist. Entlang dieses Begriffs werden, mit Mecheril gedacht, die „Anderen“ erzeugt, um ein „Wir“ zu fassen zu kriegen (ebd.). Die Grenzziehung zwischen einem „natio-ethno-kulturellen Wir“ und den „Anderen“ wird spätestens dann in ihrer Konsequenz deutlich, wenn der Ausschluss als Sanktion dient. „[...] wenn ‚sie‘ sich also weigern, (wie) ‚wir‘ zu sein, oder sich weigern, die Selbstdisziplin aufzubringen, die erforderlich ist, um zu funktionieren und brauchbar zu sein wie

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‚wir‘ (droht) der Ausschluss aus dem symbolischen und auch geopolitischen Zugehörigkeitsraum.“ (Mecheril 2011)

Bildung wird demnach innerhalb des „Integrationsdispositivs“ verwendet, um den Wert der Migrantinnen und Migranten zu bestimmen. Anhand dieser kann eine Einteilung in „gute“ und „schlechte“ Migranten erfolgen, wobei sich diese Bewertung auch an ihrem Beitrag zu Wohlstand und Entwicklung, bzw. dessen Ausbleiben festmacht. Leistung und Kompetenzen als begriffliche Eckpunkte eines solchen Diskurses werden betont und sind Teil einer Dynamik, in der Migranten „ihre Anwesenheit durch gesellschaftliche Erträge legitimieren müssen.“ (Mecheril 2013: 31). Die vorliegende ethnografische Forschung zu Bildung und Familie im Migrationskontext muss als Versuch verstanden werden, Distanz zu dieser Bewertungslogik zu halten. Dieses Vorhaben ist immer wieder gefährdet, denn wie wir Bildung denken, scheint geradezu davon durchdrungen und ist Ausdruck von deren umfassender Verwobenheit mit Grenzziehungsprozessen. Trotz dieser Möglichkeit des partiellen Scheiterns, muss der Versuch unternommen werden, denn nur so können wir erfahren, was sich möglicherweise der „Deckungsgleichheit“ mit institutioneller Bildung entzieht und damit im Zweifelsfall auch Widerstandspotenzial bilden kann. Grundlegend ist zu eruieren, wie der Bildung ermöglichende Raum strukturiert ist, wie die Akteure diesen Raum erleben und wie sie sich dazu positionieren.

3

Die Forschung

3.1 FRAGESTELLUNG Vor Beginn dieser Forschung beschäftigte ich mich bereits mit Fragen der sozialen Gerechtigkeit, Bildung und Migration. Während eines Forschungsprojekts erhielt ich Einblick in den Alltag einer 9. Klasse an einer Berliner Sekundarschule.1 Unbestimmbarkeiten, Ambivalenzen und latente Zuschreibungen prägten von Beginn an meine Wahrnehmung dieses Feldes. Sie begegneten mir während der Feldforschung an jener Schule in Neukölln, dem Berliner Bezirk also, der sich als eine Metapher für die Aushandlungen von marginalisierten, Anderen Deutschen im großstädtischen Raum herausgebildet hatte. Hier traf ich nicht nur auf die heterogenen Bildungsvorstellungen in der Praxis, ich bemerkte auch, wie wenige Übereinstimmungen es zwischen den Narrativen der Schüler und den Einschätzungen der Lehrer gab. Auf der einen Seite erzählten mir die jungen Frauen und Männer von ihren Ideen und Zielen für die Zukunft, und ich begegnete Menschen, die sich eher trotz als wegen ihrer Erfahrungen etwas zutrauten. Die meisten von ihnen hatten im schulischen Umfeld abwertende Erfahrungen gemacht und sahen sich aufgrund ihrer Herkunft (sozial, räumlich, kulturell) mit Vorurteilen konfrontiert. Unterstützt fühlten sich diese Jugendlichen vor allem von ihren Familien, die Eltern beschrieben sie als zentrale Bezugspersonen und

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Zum Zeitpunkt der Forschung stand die damalige Realschule kurz vor der Fusion mit einer Hauptschule zu einer Sekundarschule. 2009 wurde vom Berliner Abgeordnetenhaus die „Weiterentwicklung der Berliner Schulstruktur“ entschieden und eines der zentralen Elemente war die Umstellung von Drei- (Gymnasium, Real- und Hauptschule) auf Zweigliedrigkeit (Integrierte Sekundarschule und Gymnasium) (Baumert et al 2013: 3).

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Vorbilder, denen die Bildung der Kinder wichtig sei.2 Sprach ich mit den Lehrerinnen und Sozialarbeiterinnen ergab sich ein ganz anderes Bild. Hier wurden eher die Probleme der Familien thematisiert, die mangelnden Kenntnisse der Eltern, ihre „Bildungsferne“ und so auch die eher schlechten Prognosen für die Kinder begründet. Beiden Seiten galt Bildung als bedeutsam, nur schien die pädagogische Seite, welche die Deutungshoheit innehatte, die Bildungsorientierung der anderen Seite nicht anzuerkennen oder nahm sie nicht als solche wahr. Für mich ergaben sich aus dieser Situation einige Erkenntnisse, aber ungleich mehr Fragen und weiterer Forschungsbedarf. Ausgangspunkt für meine Forschung war also u.a. die Suche nach spezifischeren Bestimmungen von Bildung unter Berücksichtigung ihres Eingelassenseins in gesellschaftliche Positionen. Von hier aus entwickelte ich während des gesamten Forschungsprozesses die Fragestellung weiter, und diese kann nun folgendermaßen präzisiert werden. Ziel meiner Arbeit ist es, den wissenschaftlichen Austausch zu Bildungsbedeutungen im Kontext der Migration zu erweitern. Meine Fragestellung kann in drei Unterbereiche gegliedert werden: erstens die Bedeutungsebene, welche sich auf die Bildungskonzepte der Akteure und deren diskursive Verortung bezieht, zweitens die Handlungsebene, auf der individuelle Praxen betrachtet werden, die sich als bildungsbezogen interpretieren lassen und drittens die soziale Ebene, auf der beispielsweise untersucht wird, wie die gesellschaftlichen Bedingungen den Zugang zu Bildung strukturieren. Die drei Ebenen sind untrennbar miteinander verbunden, aber um sich die Zielsetzung zu verdeutlichen, werden sie an dieser Stelle getrennt voneinander betrachtet. Auf der ersten Ebene soll ein Verständnis der mit Bildung verbundenen Konzepte in der Familie Imren entstehen. Wie wird Bildung für den Einzelnen definiert, welche Ziele sind damit verbunden, welche Vorstellungen werden weitergegeben und welche spezifische Bedeutung kann Bildung in der Migrationssituation haben? Inwiefern wird Bildung für die Akteure zur Ressource und welche Deutungen stehen dann im Vordergrund? Ein zweiter Bereich meiner Fragestellung bezieht sich auf die praktischen Aspekte der Bildungsbiografien. Welche Strategien werden verfolgt, um Bildung zu erreichen und weiterzugeben? Welche Methoden werden vorgelebt oder gezeigt? Wie gehen die Akteure mit Barrieren oder Misserfolgen um? Hier kann anhand des Vergleichs der Handlungsstrategien deutlich werden, wie das familiäre Umfeld die Bildungsbiografie beeinflusst. Allgemeiner formuliert, ist also zu fragen, wie Bildung in das familiäre Handeln integriert ist und welche Wirkung sie erzeugt. Die dritte Ebene der Fragestellung betrifft die Einflüsse ver2

Nach Zinnecker et al (2002) ist das Ansehen der Eltern unter heutigen Kindern und Jugendlichen vergleichsweise hoch, und sie werden als die zentralen Bezugspersonen betrachtet (vgl. Zinnecker/Behnken/Maschke/Stecher 2002: 36ff.).

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schiedener Ungleichheit erzeugender Kategorien auf die Bildungsbiografien. Es ist unumstritten, dass insbesondere institutionelle Bildung nicht jedem Menschen auf dieselbe Weise offen steht und verschiedene Formen von Ungleichheit wirksam sind. Somit sind die Zugangsbedingungen zu Bildung unterschiedlich. Zu untersuchen ist nun, welche Kategorien von Ungleichheit identifizierbar sind und wie diese die Biografien beeinflussen. Dabei können verschiedene Kategorien wie Ethnizität, Klasse, Geschlecht oder Religion relevant sein. Inwiefern existieren beispielsweise je nach Geschlecht unterschiedliche Bildungsbiografien, Ziele und Rollenerwartungen? Wichtig ist besonders der Einfluss des Bildungssystems und auf welche Weise dessen Strukturen Chancengleichheit fördern oder erschweren, bzw. welche der erwähnten Kategorien in diesem System von Bedeutung sind. Auf intergenerationaler Ebene kann deutlich werden, welche Ungleichheit erzeugenden Kategorien an Bedeutung gewinnen oder verlieren und inwiefern sich die Strategien der Akteure verändern oder weitergegeben werden. Wie beeinflussen die in der Familie gemachten Erfahrungen die weiteren Generationen? Ziel ist es, zum Wissensstand darüber beizutragen, wie Bildungserfahrungen weitergegeben werden, welche Grenzziehungen relevant sind oder sich verschieben, inwiefern (Bildungs-)räume erschlossen werden. Darüber hinaus denke ich weiter über den Bildungsbegriff nach, dessen gesellschaftliche Funktionen und mögliche Erweiterungspotenziale. So entstehen Anknüpfungspunkte ob und wie Bildung in der modernen Migrationsgesellschaft der Gegenwart orientierend weiterwirken kann.

3.2 FAMILIE ALS FORSCHUNGSFELD „Wandel und Kontinuität bilden [...] in der Familiengeschichte ein enges Geflecht und einer raschen und tiefgreifenden Modernisierung stehen nicht selten Mentalitäten und Familienkulturen gegenüber, die eine überraschende Kontinuität aufweisen, sodass auch immer Fragen einer ‚longue durée‘ für die Geschichte der Familie von Bedeutung sein können.“ (Fuhs 2007: 23)

Die Entscheidung zu einer Familienethnografie stand ganz zu Beginn dieser Forschung, denn in der vorhergehenden Auseinandersetzung mit dem Themenfeld Migration, Bildung und Ungleichheit kamen unweigerlich immer wieder Fragen zu Familie auf. Viele dieser Fragen blieben offen, das familiäre System erschien im Vergleich zu anderen Bereichen weniger transparent und auch weniger umfassend erforscht. So ist von der „Blackbox Familie“ (Weiss/Schnell/Ateş 2014: 9) die Rede und von Familie als der „vergessenen Dimension von Migration“

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(Kofmann 2004). Zwar ist das Interesse der Migrationsforschung an Weitergabeund auch Integrationsprozessen über Generationen zunehmend geweckt, aber gerade qualitative Forschungen im familiären Raum sind weiterhin eher begrenzt zu finden.3 Dabei ermöglicht der Blick auf Familie und damit auch die Einbeziehung mehrerer Generationen einzigartig die Analyse von Wandlungsprozessen und Interaktionen, in denen sich immer auch die gesellschaftlichen Bedingungen abbilden. Der familiäre Raum, die alltäglichen Praxen der Familie, deren kommunikative und biografische Vernetzung lässt es zu, über die Binnenperspektive des Einzelnen hinaus die Dynamiken und Verarbeitungsmodi, deren Weitergabe und Transformationen auszumachen. Familien können als „Lebensgemeinschaften“ definiert werden, „in die Kinder durch Geburt oder Adoption und Eheleute durch institutionalisierte Bindung eintreten“ (Luckmann 1998: 36.). Hervorzuheben ist dabei die vergleichsweise relative Sicherheit dieser Beziehungen aufgrund von traditionellen, juristischen, affektiven Rahmungen und je nach Kultur auch ökonomischen Zwängen (vgl. ebd.). Die theoretischen Auseinandersetzungen zum Familienbegriff sollen hier nur am Rande Erwähnung finden, es wird vielmehr darum gehen, welche Bedeutungen Familie im konkreten Forschungskontext hat. Bereits seit längerem scheint der Verfall der Familie ausgemacht, aber auch wenn diese Sphäre sich verändert, gilt sie nach wie vor als zentraler Ort der Herausbildung „personaler Autonomie und der Selbstreproduktion der Gesellschaft“ (Allert 1998: 2). Es erscheint sinnvoll, wenn der „Rückgang der Kernfamilie“ nicht länger hauptsächlich als Krisensymptom betrachtet und stattdessen der Familienbegriff selbst unter die Lupe genommen und um die diversen Modelle und Lebensformen postmoderner Realität erweitert wird (vgl. Goldberg 1998: 13).4 Doch auch wenn die Kernfamilie – Vater, Mutter, Kind(er) eine Familie unter anderen wird, bleibt Familie ein „[…] aufgeladenes Symbol. […] Normative Idealisierung und politische Funktionalisierung gehen Hand in Hand“ (Hamburger/Hummrich 2015: 112). Die Familie ist als gesellschaftliche „Gegenstruktur“ bedeutsam, ihr kommen entscheidende Aufgaben zu, hier findet die Erziehung der nächsten Generation statt, sie bildet Rückzugsraum und damit Gegengewicht zu den Forderungen der Arbeitswelt, ihr werden Organisation des 3

„Empirische Untersuchungen, welche die Verschränkung generationaler Beziehungen in den Blick nehmen und damit über die Perspektive einer Generation hinausgehen, sind bislang rar und müssen als Forschungsdesiderat vermerkt werden.“ (Hamburger/Hummrich 2015: 127)

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Im Kontext der Familiensoziologie wird eine solche begriffliche Öffnung seit längerem gefordert, um das normative Familienmodell und den damit verbundenen „universellen Status der Kernfamilie“ (Marbach 2008: 15) etwas auszuhebeln.

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Sozialen und Pflege anvertraut. Sogenannten „Migrantenfamilien“ werden diese gesellschaftsstabilisierenden Funktionen jedoch nicht in gleicher Form zuerkannt, wie Hamburger und Hummrich treffend beschreiben. Sie identifizieren vielmehr eine Kategorisierung dieser anderen Familien als „Gegengesellschaft“, als „Symbol einer fremden Welt“, wo Zugehörigkeit zu jenen eine Belastung sei, der kompensatorisch begegnet werden müsse (vgl. ebd.). Diese Perspektive begegnet uns unter anderem, wenn es um Bildungsdefizite geht und der familiäre Hintergrund als Ursache beschrieben wird oder wenn allgemeiner nach Integrationserfolg im Kontext der Migrationsfamilie gefragt wird (vgl. Keller 2004). Schule, Familie und außerschulische Räume bilden ein sogenanntes „BildungsDreieck“, dessen einzelnen Eckpunkten hemmende oder förderliche Wirkungen zugeordnet werden (vgl. King 2006: 43). Im Fall migrantischer Familien wurde und wird häufig auf bildungshemmende Familienbedingungen geschlossen, anstatt das komplexe Ursachengefüge näher zu bestimmen. Familie ist in hohem Maße bildungsrelevant, aber was in unterschiedlichen Familien als bildungsbedeutsam gilt und welche Anforderungen daraus abgeleitet werden, ist äußerst variabel. Die ethnografische Forschung innerhalb des familiären Alltags kann hier Einblick geben in ein quer vernetztes Beziehungs- und Handlungsgeflecht und herausfiltern, welche Familienthemen sich über die Generationen wie transformieren oder auch beibehalten werden, denn Familie ist eine „jener Institutionen, in der Tradierung und Wandel eng aufeinander bezogen sind“ (Ecarius 2007: 147). Wenn wir innerhalb der hier beschriebenen Forschung also den familiären Alltag und die Narrative der Familienmitglieder kennenlernen, stellen sich Fragen nach den zentralen Familienthemen und deren Bezug zu Bildung. Grundsätzlich kristallisieren sich diese sogenannten Familienthemen über Erziehungsprozesse heraus, als „spezifische familiale Erfahrungen, „mental methods“, die nicht selten als spezielle Aufgabe an die jüngere Generation weitergegeben werden“ (ebd.). Diese allgemeine Dynamik gewinnt im Migrationskontext sogar noch an Bedeutung, da sich hier zentrale Ziele tatsächlich nur im Generationenverlauf erreichen lassen (vgl. Nauck 2007). Schon die Migrationsentscheidung kann weniger als individueller und vielmehr als Beschluss des Haushalts verstanden werden, der den Nutzen für alle beteiligten und auch kommenden Generationen einbezieht (vgl. Baykara-Krumme 2015: S.714 f.). Sowohl im Bildungs- als auch im Migrationskontext erscheint es konsequenterweise sinnvoll, die Dimension Familie nicht nur mit einzubeziehen, sondern sie als Forschungsort in den Mittelpunkt zu stellen. Erziehung ist dabei ein wirkungsvoller Bereich, dem wir uns analytisch annähern, hier lässt sich der familienspezifische Habitus ausmachen, und nachvollziehen, wie sich dieser trans-

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formiert. Ein weiteres bedeutsames Element sind die bereits erwähnten Familienthemen, die zurückgehen auf „typisierende Sinndeutungen“ und in unterschiedlicher Verknüpfung (inhaltlich und beziehungsbezogen) emotional, wahrnehmend und rational wirken. Sie werden „über Narrative, kollektive Handlungen und Rituale verkörpert und transportiert, tradiert oder transformiert“ (vgl. Ecarius 2007: 141 ff.). Welche Erfahrungen innerhalb der Familie prägend sind und auf welche Weise sie verarbeitet werden, ist eine der hier anknüpfenden Fragen. Die markanten Familienthemen können weiterhin in Bezug zu den gesellschaftlichen Bedingungen interpretiert werden, zumal der soziale Raum Familie nicht in Abtrennung von Gesellschaft gedacht werden sollte (vgl. Fuhs 2007: 30). Der hier beschriebene Forschungskontext umfasst mehr als das klassischerweise von der Kernfamilie ausgehende Modell, denn es werden die Großeltern, ihre Kinder und angeheirateten Partner und deren Kinder einbezogen.5 Der Kreis derjenigen, die zur Familie zählen, ist somit etwas erweitert, aber die entscheidenden Merkmale namentlich Fürsorge und Solidarität, räumliche Nähe (Kontakthäufigkeit) und emotionale Bindung treffen weiterhin zu (vgl. ebd.). Inwiefern diese Solidarität und Verbundenheit freiwillig geboten und ob sie auch als Last wahrgenommen werden, ist an anderer Stelle etwas detaillierter zu befragen. Zunächst möchte ich näher auf den Generationenbegriff eingehen und kurz darstellen, wie er von mir verwendet wird und in welche Richtung diese Perspektive führt. 3.2.1 Generationenbegriff im spezifischen Kontext Es sind drei Generationen, die im Mittelpunkt dieser Forschung stehen, ihre Biografien werden innerhalb der Familiengeschichte nachvollzogen, und sie alle gestalten den familiären Alltag der Gegenwart mit. Grundsätzlich erscheint die Verwendung des Generationenbegriffs im Feld der Migration insofern naheliegend, als die Einwanderungsbewegungen in Schüben verliefen. Aufgrund dieses historischen Verlaufs ist eine Generationenlagerung gegeben, und die Terminologie wird von den Migranten selbst vielfach gebraucht. Der Generationenbegriff 5

Der in der Familiensoziologie gängige Begriff fasst als „Normalfamilie“ Mutter, Vater, Kinder und vermehrt auch jeweilige Großeltern (vgl. Nave-Herz 1994). In der hier beschriebene Familie steht die Beziehung von Eltern, deren vier Kindern und Enkeln im Vordergrund, wobei auch die angeheirateten Partner sehr stark eingebunden sind. Deren Eltern und Geschwister finden auch Erwähnung, sind aber aufgrund von geringerer Kontakthäufigkeit und größerer räumlicher Entfernung im Alltag weniger präsent und so auch in der Forschung weniger repräsentiert.

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bedarf allerdings näherer Festlegung, denn die Konzeptualisierung ist durchaus nicht einheitlich. Einen ersten Zugang bildet der von Karl Mannheim geprägte historisch-soziologische Generationenbegriff, der das kollektive Erleben einer historisch spezifischen Zeit in einer Altersgruppe bestimmt. Die Einbeziehung der „Generationenlagerung“ lässt eine Verbindung subjektiver und objektiver Elemente zu und kann die Analyse generationenspezifischer Problemlagen ermöglichen. Auch wenn unter postmodernen Bedingungen mit wachsender Pluralisierung und Individualisierung das Konzept einer „Generationseinheit“ zunehmend in Frage zu stellen ist, bleibt die Rahmung der Generation und die Erfahrung des Aufwachsens unter spezifischen Bedingungen weiterhin aufschlussreich, auch wenn die Verarbeitung der historisch-gesellschaftlichen Bedingungen sehr heterogen sein mag (vgl. Liebau 1997: 20 ff.). Eine weitere Bedeutungsebene betrifft den genealogisch familiensoziologischen Generationenbegriff. Hier stehen weniger die gesellschaftlichen Bedingungen im Vordergrund, als vielmehr die genealogische Abfolge oder auch lineage innerhalb der Familie, die sich in bestimmten Abständen reproduziert.6 Eine verlängerte Lebenserwartung hat prägende Wirkung auf diese Abfolge und die verschiedenen Lebensphasen, und das durchschnittliche Alter bei der Geburt des ersten Kindes hat sich ebenfalls verschoben. Eine Folge dieser veränderten Situation ist die längere Lebensüberschneidung von drei oder teilweise sogar vier Generationen, was Konstellationen und Interaktionen begünstigt (vgl. ebd.).7 Auf einer dritten Ebene wird der Generationenbegriff pädagogisch definiert, das heißt, es wird die Beziehung der Generationen, deren Dynamik und Interaktion unter erziehungstheoretischen Prämissen gesehen. Gefragt wird nach den Erziehungsvorstellungen, -strategien und jeweiligen Konflikten, die zwischen den Generationen im Grunde unumgänglich sind. Lernprozesse finden nicht nur in eine Richtung statt, postmoderne Bedingungen mit rasanten Veränderungen 6

Einschränkend ist anzumerken, dass die demographischen Entwicklungen selbstverständlich gesellschaftliche Entwicklungen widerspiegeln. Diese Tendenzen können dann daran abgelesen werden, wie jeweilige Generationen zahlenmäßig vertreten sind, wobei anhand dessen nur der Geburtenrückgang per se festgestellt werden kann, ohne dass Rückschlüsse auf die Ursachen gezogen werden könnten.

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Ergänzend eine Beschreibung der umfassenden Transformationen bei Voges: „Die verlängerte Lebenserwartung und die veränderten Lebensabschnitte haben einen enormen sozialen Wandel bewirkt. Dieser Wandel verbannte den Tod aus der Kindheit, nahm ihm den Charakter des allgegenwärtigen, jederzeit eintretbaren Ereignisses und brachte ein ‚standardisiertes Sterben‘ im höheren Lebensalter [...]. Im Verlauf dieses ‚Modernisierungsprozesses‘ erfolgte ein Übergang ‚von der unsicheren zur sicheren Lebenszeit‘.“ (Voges 1987: 9)

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bringen es auch mit sich, dass nachfolgende Generation spezifische Kompetenzen besitzen, die sie an Eltern und Großeltern weitervermitteln können. Ein weiteres Kennzeichen der gegenwärtigen Lage ist ein herausgeschobenes „Ende der Erziehung“, wenn überhaupt je von einem solchen die Rede sein kann, vielmehr ist der Zeitpunkt der Ablösung diffuser und nicht mehr klar zu bestimmen (vgl. ebd).8 Alle drei Dimensionen des Generationenbegriffs sind für die hier verfolgte Fragestellung interessant und aufschlussreich und kommen an unterschiedlicher Stelle zum Tragen. Eine Beschränkung auf eines dieser Verständnisse wäre meiner Ansicht nach eine unnötige Begrenzung, da besonders die Einbeziehung der historisch-gesellschaftlichen Lagerung und der pädagogischen Prozesse interessante Dimensionen eröffnen. Im letzten Abschnitt habe ich bereits angedeutet, dass sich mit der Familienperspektive Fragen der longue-durée besser beantworten lassen, was in diesem spezifischen Themenfeld diverse Vorteile hat. So stehen nicht allein die individuellen Erfahrungen und Deutungen zur Diskussion, sondern sie können zueinander und zur (historischen) Generation in Beziehung gesetzt werden. Wenn wir also die biografischen Stationen von Ferda und Can nachvollziehen, lassen sich diese Daten insofern verdichten, als wir sie nicht nur als zwei individuelle Biografien, zwei Migrationsgeschichten, sondern auch als Zeugnisse der ersten Generation türkischer Migranten in Deutschland, der sogenannten „Gastarbeiter“, lesen und deuten. Das bedeutet nicht, dass wir sie als repräsentativ für diese Gruppe betrachten, aber wir können uns anhand vielfältiger Belege erstens einen Eindruck des prägenden Erfahrungshorizonts machen und zweitens innerhalb dieses spezifischen Generationenzusammenhangs Bezüge herstellen. In der Migrationsforschung wird die Generationenperspektive üblicherweise einbezogen, um die schrittweise Eingliederung in die neue Gesellschaft zu evaluieren. Lange wurde dabei von einem „three-generation-assimilation cycle“ ausgegangen, bei dem der idealtypische Verlauf einer graduellen Anpassung an das

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Diese drei Generationenbegriffe könnten selbstverständlich noch um weitere Ansätze ergänzt werden, die mir allerdings spezifischer und in diesem Kontext weniger relevant erscheinen. Zu erwähnen ist ein Verständnis des Begriffs entlang der Kategorien „alt“ und „jung“, weiterhin kann der Begriff in Zusammenhang mit Fragen der Verantwortung gebracht werden, einerseits innerhalb einzelner Familieneinheiten, aber auch auf höherer Ebene, wenn es beispielsweise um den Generationenvertrag geht. Die einzelnen Bedeutungsebenen sind allerdings nicht klar voneinander abzugrenzen, sondern überlagern sich gegenseitig (vgl. Wissenschaftlicher Beirat für Familienfragen 2012: 21 f.).

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Einwanderungsland als charakteristisch galt.9 Mittlerweile musste diese Perspektive um diverse Verlaufsformen ergänzt werden (vgl. Esser 1980: 40f.), es bleibt aber dabei, dass Fragestellungen häufig um Stadien der Integration kreisen. Kritisch erscheint diese Betrachtungsweise von Generation insofern, als sie die Assimilation (wie auch immer benannt) zum impliziten Maßstab erklärt und somit beispielsweise Orientierung an anders religiösen und kulturellen Mustern rückwärtsgewandt erscheinen und problematisiert werden. In diesem Verständnis werden intraethnische Heiraten in der zweiten oder dritten Generation als Zeichen für fehlende Integration gewertet, da von einem Idealverlauf der Migration ausgegangen wird, bei dem in den Folgegenerationen interethnische Heiraten Segregation verhindern. Eine so gelagerte Verwendung des Generationenbegriffs ist deutlich mit einer normativen Folie unterlegt, die vorgibt, wie der Verlauf sein sollte und von da aus die jeweilige Situation bewertet. Was sich an dieser Stelle zeigt, ist die in der Auseinandersetzung mit dem Migrationsbegriff sowie der Migrationsforschung beschriebene Festschreibung als „soziales Integrationsproblem“. Anstelle einer solchen bewertenden Betrachtung, die sich auch besonders in Bezug auf Bildungsverläufe aufdrängt, sollten andere Aspekte in den Vordergrund rücken, die den diskursiven Rahmen nicht fraglos übernehmen. Mit den drei Ebenen der Familie erfahren wir zum einen die Familiengeschichte aus unterschiedlichen Perspektiven, erhalten einen Eindruck, welches die prägenden Erfahrungen waren, wie diese gedeutet wurden und wie diese Deutungen weitergegeben werden. Welche familiären Ressourcen dabei genutzt werden, ist entscheidend und auch die Frage danach, wie das familiäre System funktioniert, denn Konflikte bleiben, wie bereits erwähnt, nicht aus. Ambivalenz ist vielmehr ein signifikantes Merkmal von Generationenbeziehungen und auch wenn diese als konstitutiv für die Gesellschaft gelten, sind sie gleichzeitig gefährdet (vgl. Lüscher 2000: 138). Von gegenseitiger Solidarität profitieren die Familienmitglieder einerseits, aber sie kann und wird auch häufiger als Belastung empfunden, was jedoch zu unterschiedlichen Konsequenzen führt (vgl. Bertram 2000: 101).

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„Das Theorem besagt, dass die erste Generation große Anpassungsschwierigkeiten im Ankunftsland hat und sich daher an den Werten und Normen der eigenen ethnischen Gruppe orientiert; dass die zweite Generation zwischen den Kulturen steht und nach und nach Werte der Ankunftsgesellschaft übernimmt, während die dritte Generation bereits vollständig in der Ankunftsgesellschaft aufgegangen und sich der nationalen Herkunft der Eltern- und Großelterngeneration kaum noch bewusst ist.“ (Apitzsch 2014: 195f.)

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3.3 BIOGRAFIEN IM FOKUS „Zwar gilt, dass vergangene Ereignisverkettungen der Biografieforschung immer nur als gegenwärtig produzierte biografische Texte vorliegen, dennoch haben aber die in diesen Texten geschilderten Prozesse und die Art und Weise, wie die Person in sie involviert ist, dazu beigetragen, dass dieser biografische Text heute so und nicht anders ausfällt.“ (Wohlrab-Sahr 2002: 12)

Die theoretischen Vorüberlegungen haben die Notwendigkeit ergeben, Brüche, Neuverortungen, Umdeutungen, Aushandlungen, also unterschiedlich zu spezifizierende Praxen auszumachen, die Handlungsspielräume außerhalb normativer Vorgaben signalisieren. Sie werden dann sichtbar, wenn Herrschaftsstrukturen und damit verknüpfte Grenzziehungsprozesse in die Forschungsperspektive einbezogen werden und damit auch „[...] das, was durch sie hindurchgeht und über sie hinausweist“ (Mecheril 2013: 18ff). Der Blick auf das Deckungsungleiche, die Irritation ergibt sich erstens aus dem Migrationskontext, aber eben auch aus einem erweiterten Bildungsverständnis, das sich auf eine kritisch, reflexive Positionierung zum Gegebenen beruft. Krisen eröffnen hier gleichermaßen einen Raum, der Umdeutung und Transformation erlaubt. Die biografische Methode erscheint als ein Weg dem so beschriebenen Bedarf, Grenzziehungen und deren Verschiebungen auszuleuchten, zu begegnen. Biografie umfasst die Ambiguität zwischen Transformation und Reproduktion, das heißt sie korrespondiert auf diese Weise mit den erwähnten theoretischen Forderungen. Bei Kohli und Fischer heißt es: „Biografie ist mehr als ein gegebenes soziales Regelsystem, sie ist zugleich das Mittel der Artikulation neuer sozialer Orientierungsmuster par excellence.“ (Fischer/Kohli 1987: 46) Biografie lässt sich erst einmal begreifen als „soziale Realität eigener Art“, sowohl der zeitliche Ablauf, als auch die einzelnen Stationen sind institutionalisiert und bei aller Pluralisierung ist dabei die Schablone eines „Normalverlaufs“ immer von Bedeutung (ebd.: 41). Was die eigene Biografie entstehen lässt, ist darüber hinaus jene Arbeit oder auch „Orientierung“, die aufgreift, verändert, hinter sich lässt, abschneidet, wiederentdeckt, neuinterpretiert. Während also mehr oder minder bewusst gewisse Normen und Regeln, wie gelebt werden sollte, präsent sind, hat der sogenannte Biografieträger die Verantwortung zu gestalten. „Eigene Erfahrungen machen“ bedeutet damit, einen „gleichzeitig ‚Altes‘ aufnehmenden und variierenden wie ‚Neues‘ schaffenden Umgang mit Wirklichkeit“ zu entwickeln (ebd.: 31). Für meine Forschung ist es weniger die „Biografizität“ selbst, die im Mittelpunkt des analytischen Interesses steht, die biografische Methode ist innerhalb der Familienethnografie eine der gewählten Formen der Datenerhebung. Da es nicht der

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alleinige Fokus ist, werden sicherlich nicht alle methodischen Möglichkeiten der analytischen Auswertung ausgeschöpft. Das sollte allerdings nicht als Nachteil betrachtet werden, denn auch als (nur) ein Element innerhalb der Feldforschung ist die biografische Methode von großem erkenntnisgenerierenden Nutzen.10 Als Forscherinnen und Forscher können wir als ersten Schritt anhand der verfügbaren Daten Biografien rekonstruieren und so gewisse Verlaufslinien und auch Brüche nachzeichnen. Die Einbeziehung des biografischen Konstrukts als Narrativ geht darüber hinaus, es eröffnet in seiner Komplexität weitaus vielfältigere Deutungsebenen, hier zeichnen sich sowohl die „authentische Darstellung subjektiver Binnenperspektiven“ als auch reproduzierte gesellschaftliche Strukturen ab (Apitzsch 2014: 197). Die Biografieforschung gilt als etablierte Methode (vgl. Fischer/Kohli 1987: 25) und wird in unterschiedlichen Wissenschaftsfeldern betrieben. Als Orientierung werden dabei häufig Fritz Schütze, Wolfram Fischer-Rosenthal und Gabriele Rosenthal herangezogen. Schützes Methode der Durchführung des narrativen Interviews (1977, 1983) ist ein verbreiteter Weg, Lebensverläufe zu erfragen. In der Interviewsituation wird im Anschluss an die Eingangsfrage eine Geschichte produziert, die sich auf den vom Fragenden aufgespannten thematischen Rahmen bezieht, bzw. das die die Biografen als solchen interpretieren. Die erzählte Geschichte ist also gleichermaßen ein Produkt der gegenwärtigen Situation und eine Konstruktion biografischer Erfahrungen in der sich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verbinden (vgl. Rosenthal 1993). Was wir anhand dieses Narratives analysieren können, ist folglich nicht nur die Bedeutung jeweiliger Erfahrungen in der Vergangenheit, sondern auch der chronologische Ablauf prägender Ereignisse und drittens deren Bedeutung in der Gegenwart. Rosenthal schlägt die Methode der hermeneutischen Fallrekons-

10 „Es geht darum, den ‚latent wirkenden Steuerungsmechanismus‘ einer biografischen Gestaltbildung zunächst durch die Rekonstruktion der Wissens- und Relevanzsysteme der Subjekte aufgrund der Einordnung von Erlebnissen in thematische Felder zu entdecken und diesen hypothetisch definierten ‚Steuerungsmechanismus‘ dann in der sequentiellen Feinanalyse nach den Regeln der strukturalen Hermeneutik zu verifizieren oder falsifizieren. Diese Analyse geschieht nicht in der Absicht, den subjektiv gemeinten Sinn zu rekonstruieren. Rekonstruiert werden soll vielmehr die sich im Akt der Zuwendung darbietende Gesamtgestalt der Biografie, die interaktiv konstituierende Bedeutung der Erfahrung und Handlungen der Subjekte, die sich zum Teil ihren Intentionen entzieht. Wir wollen also nicht nur analysieren, wie die Biografen die Welt erleben, sondern ebenso, wie die soziale Welt ihr Erleben konstituiert.“ (Rosenthal 1995, 218)

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truktion vor (ebd.), als Einbeziehung von „Life story“ und „Life history“11 und damit zweier Ebenen, die sich gegenseitig hervorbringen und auf komplexe Weise miteinander verwoben sind. Mit dem biografischen Narrativ liegt uns eine individuelle Konstruktion vor, die bestimmte Elemente der eigenen Geschichte hervorhebt und andere negiert, dabei ist auch die Dynamik des Erinnerns selbst zwischen Detailschärfe und Diffusität interessant. Erinnern ist in diesem Sinne weniger der exakte Nachvollzug, oder die Wiederherstellung eines Ereignisses, als dessen Rekonstruktion unter veränderten Bedingungen (vgl. Bruner 1983: 5). Anne Phoenix beschreibt eindrücklich, wie narrative Konstruktionen unter Migrationsbedingungen Raum schaffen, das eigene Leben, in Abgrenzung zu normativen Kategorisierungen als wertvoll zu fassen. Sie betont die zunehmende wissenschaftliche Beachtung von Narrativen und deren Vermögen, Erinnerungen, Erfahrungen und Identitäten zu begründen. Auch wenn Erzählungen individuell präsentiert werden, sind sie immer sozial, kulturell überlagert (vgl. Phoenix 2009: 268ff.). In Anlehnung an Butler (2004) und Foucault (1988) erörtert Phoenix überdies die Rolle biografischer Narrative angesichts eingeschränkter Subjektpositionen. Hegemoniale Normen legen demnach fest, welche Lebensformen als erstrebenswert und wertvoll gelten („livable lives“) und jene, die dabei ausgegrenzt sind, bleiben zurück als unerträglich, nicht lebens- und wünschenswert („unbearable lives“). Da Migrationsandere vielfach entlang dieser Grenzziehungen konstruiert werden, bzw. ihre Normalität noch nicht entsprechend repräsentiert ist, kann das Erzählen der eigenen Geschichte ein Akt sein, mit dem Anspruch auf individuelle und kollektive Anerkennung erhoben wird.12 Die Umdeutung und Transformation der eigenen Erinnerungen dient also in diesem Zusammenhang einer positiv festigenden Selbstpositionierung. Nähern wir uns dem Biografiekonstrukt auf diese Weise, deuten sich die konzeptionellen Überschneidungen mit dem Identitätsbegriff an. Gerade wenn wir Bildungsprozesse weiter als Entfaltungsprozesse fassen, überlagern sie sich mit identitätsbezogenen Vorgängen. Identität erscheint ebenso wie Bildung kein klar umgrenzter Begriff, die beiden überschneiden sich vielfach, und so scheint Identität zwar immer wieder durch, wird als Konzept aber eher untergeordnet behandelt, um nicht den Rahmen dieser Arbeit zu sprengen.13 Was allerdings 11 Zu übersetzen als „Lebenslauf“ und „Lebensgeschichte“. 12 „This notion of the need to assert a claim to a livable life, fits with narrative theory.“ (Phoenix 2009: 270) 13 Fuchs stellt in seiner Arbeit zu „Bildung und Biografie“ (2011) die These auf, gerade die Instabilität eines Identitätskonzepts und weniger deren Entwicklung, seien in biografischen Konstruktionen von Interesse. Er begründet das mit dem Hinweis, dass

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noch weiter auszuarbeiten wäre, ist das Verhältnis von Bildung und Biografie, denn der biografische Zugang kann Ausgangspunkt für ein alternatives Bildungsverständnis sein. Eine für diese Arbeit wichtige Vorlage, die zeigt, wie sich Biografie als Raum für potentielle Bildungsprozesse deuten lässt, findet sich bei HansChristoph Koller (2012). Unter der Devise „Bildung anders denken“ entwickelt er in Anlehnung an Humboldt, Bourdieu, Lacan und Butler ein Bildungskonzept, dass „Lernprozesse höherer Ordnung“ umfasst. Anstoß für jene Lernprozesse geben Krisen, die dazu aufrufen, bisherige Deutungsmuster zu transformieren. Die Vorstellung solcher Transformationsprozesse setzt Koller mithilfe von Bourdieus Gesellschaftstheorie in Zusammenhang mit gesellschaftlichen Machtverhältnissen und verweist somit auf die unterschiedlichen Positionierungen im sozialen Raum und deren Auswirkungen. Vielfach werden Bildungsbiografien dahingehend untersucht, welches entscheidende Motivationen und Hemmnisse sein können (Brendel 1998, Pott 2002, Korucu-Rieger 2014), Kollers Ansatz geht mit seinem erweiterten Bildungsverständnis darüber hinaus. Bildung wird als „[...] unabschließbarer Prozess der Infragestellung oder Verflüssigung bestehender Ordnungen und eines Anderswerdens mit offenem Ausgang“ (Koller 2012: 169) gefasst. Eine solche Konzeption ist hilfreich, um das vorgeformte auf Ausbildung und Erwerbstätigkeit ausgerichtete Verständnis zu überwinden, aber es ist auch gleichermaßen problematisch in der Umsetzung. Zwar schlägt Koller verschiedene methodische Schritte vor, die Transformationsprozesse und deren Komponenten freilegen sollen, aber er konstatiert auch die diversen damit verbunden Hindernisse. Mit Blick auf „Bildung und Migration“ stellt er heraus, dass mit dem Schritt in eine „neue soziale Lebenswirklichkeit“ eben jene gesellschaftlichen Transformationen verbunden sind, die individuelle Bildungsprozesse formen (vgl. Koller 2002). Die Strukturebene einzubeziehen, ist ein wichtiges Anliegen, dem Koller mit der Gesellschaftstheorie Bourdieus begegnet, aber um biografische Bildungsprozesse greifen zu können, sind auch Frage der individuellen Aneignung und Hybridität bedeutsam, die er mit Stuart Halls Kultur- und Identitätsbegriff verbindet. Die Herausforderung sieht Koller darin, diese beiden Ansätze theoretisch zu verbinden (vgl. Koller 2002: 198).14 „erst durch Problematisieren des Selbstverhältnisses und die reflexive Bearbeitung des Selbstentwurfs“ die Ausformung einer Identität bildungsrelevant wird. 14 U.a. ausgehend von Kollers Arbeiten unternimmt auch Florian von Rosenberg (2011) den Versuch „einen philosophisch fundierten Bildungsbegriff empirisch anschlussfähig zu machen“ (von Rosenberg 2011: 11). Auch er bezieht sich vor allem auf Bourdieus Theorie der Praxis und begreift den Anspruch darin, „einen Bildungsbegriff

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Grundsätzlich kann die forschende Bearbeitung von Biografie sich immer nur über die „qualitativen Entäußerungen der Biografieträger und deren Interpretationen“ annähern und verlangt gewissermaßen nach dem Einbezug verschiedener Perspektiven (vgl. Jansen 2009). Dazu gehören auch die Selbstreflexion der Forschenden, sowie der Wertestandpunkt eines „verstehenden Paradigmas“ (ebd.: 19) und die Berücksichtigung des engen Zusammenhangs von Datengenerierung und Datenauswertung. Es wird ein Vorgehen vorgeschlagen, bei dem theoretische Auseinandersetzung und empirische Forschung in ein sich gegenseitig ergänzendes Verhältnis gesetzt werden, bei dem die Offenheit gegenüber empirisch Unerwartetem bewahrt wird.15 Eine wiederholt geäußerte Kritik gegenüber der biografischen Methode lautet, Forschende säßen einer „Illusion narrativer Artefakte“ auf. Ihr wird mit dem erwähnten mehrperspektivischen Einbezug begegnet, beispielsweise indem Fallrekonstruktionen, nicht allein aus der Erzählung sondern aus verschiedenen Kommunikationssituationen hergeleitet werden. Die Verfechter der biografischen Methode sind überzeugt, dass Narrative zwar von der Interviewsituation determiniert werden, sich aber trotzdem soziale Strukturen und Prozesse abzeichnen, die sich auf diese Weise in einen lebensgeschichtlichen Zusammenhang bringen lassen (vgl. Apitzsch 2014: 197.). Die Biografieforschung ist damit umrissen, sie ermöglicht es „nicht nur Vorannahmen der Forschenden zu bestätigen oder zu falsifizieren, sondern neue und reichere Hypothesen zu entwickeln, die sich auch aus den komplexen Selbstdeutungen der handelnden Subjekte zu verschiedenen Zeitpunkten des Lebens speisen.“ (ebd.: 196). In der vorliegenden Forschung werden ihre methodischen Möglichkeiten nicht vollständig ausgeschöpft. bzw. durch andere methodische Perspektiven ergänzt. Von Bedeutung ist sie zusammengefasst, da wir so langfristige Prozesse in den Blick bekommen, das soziale Konstrukt Biografie Aushandlungen im strukturellen Rahmen vermittelt und diese beiden Aspekte soauszuarbeiten, der die „objektiven gesellschaftlichen Bedingungen der Möglichkeit von Bildung in den Blick nimmt, ohne dabei andererseits die ‚subjektiven‘ Konstruktionsleistungen von Akteuren zu vernachlässigen“ (von Rosenberg 2011: 13). 15 „We advocate the use of microscopic empirical studies that take the perspective of individual actors and communities seriously and acknowledge their distinctive geographical and historical characteristics. In view of the complexity of objects, this task can only be resolved by idiographic investigations, or case studies, that are typical of the empirical methods of historical and ethnological research. We do not argue for an empiricism that is devoid of ‚theory‘ (this would in any case be impossible), but for a conscious bracketing of theoretical presumptions and a decided shift in the balance between theory and empirical discovery in favor of the latter.“ (Bogner/Rosenthal 2009: 9)

Die Forschung | 61

wohl für Bildung als auch Migration bedeutsam sind. In Migrationsbiografien verflechten sich transnationale und transkulturelle Räume auf individuelle Weise. Innerhalb der biografischen Struktur werden Zugehörigkeiten, Vernetzungen und Positionierungen immer wieder neu hergestellt. Interessant ist die Nachzeichnung sogenannter „Verlaufskurven“ innerhalb der langfristigen biografischen Prozesse und in dieser Forschung zudem die Familie als „Ort kollektiver Verlaufskurven“. Ein analytischer Fokus ist dabei die Frage, inwiefern sich über die Generationen migrationsspezifische Verläufe abheben, die einen Eindruck der (un-)sichtbaren Grenzziehungen der Einwanderungsgesellschaft vermitteln (Apitzsch 2003: 72).

3.4 FELDZUGANG, DATENERHEBUNG UND -ANALYSE Nachdem mit den theoretischen Vorüberlegungen der begriffliche Rahmen weitgehend abgesteckt ist und die zentralen Aspekte der Fragestellung erläutert wurden, nähern wir uns dem empirischen Teil der Arbeit. Hier gehe ich aber zunächst auf mein methodisches Vorgehen im Rahmen der Forschung ein. Dazu werden die verschiedenen Phasen der Feldforschung nachvollziehbar gemacht, eine Übersicht des Felds gegeben und meine Reflexionen der eigenen Rolle im Forschungskontext angedeutet. So können die methodischen Entscheidungen und Prozesse transparent und verständlich werden. 3.4.1 Ethnografische Feldforschung „[...] Ethnography has come home, to become a tool for understanding ourselves and the multicultural societies of the modern world.“ (Spradley 1980: V)

Wenn wir das Denken, die variierenden Deutungsmuster begreifen wollen, die sich andere in ihrem spezifischen Kontext angeeignet haben, ermöglicht die Ethnografie es, diese in besonderer Weise zu erfassen. Auch wenn es unmöglich ist, die eigenen Annahmen und Prägungen außen vor zu lassen, können wir mit dieser Methode doch den Versuch unternehmen, Distanz zu dem, was als uns bisher als normal, selbstverständlich oder gegeben galt, einzunehmen. Die Handlungen, Entscheidungen und Äußerungen der Akteure im Feld werden somit nicht wie im Alltag umgehend kategorisiert und nach bekannten Mustern kontextualisiert, ihre Bedeutung wird vielmehr auf mehreren Ebenen interpretiert. So wird im Idealfall ein Zugang zu weiteren, komplexeren Deutungsmöglichkeiten und Vernetzungen gelegt. Spradley beschreibt dieses Vorgehen der Ethnografie als Mög-

62 | Migration, Bildung und Familie

lichkeit, zumindest zeitweise dem sozial vererbten Ethnozentrismus zu entkommen und sich in die Position anderer Menschen hineinzuversetzen, die nach anderen Bedeutungssystemen leben (vgl. Spradley 1980: vii). Ob oder inwieweit wir tatsächlich Distanz zu unseren Interpretationsmustern halten können, bleibt fraglich. Wenn jedoch gerade dieses Hinterfragen, die Missverständnisse und Erkenntnisse über eigene Vorannahmen reflektiert werden, können sich von hier aus weitere interessante Beobachtungen entfalten. „Doing ethnography“ setzt vielfältige Schritte voraus: Annähern, Beobachten, Eintauchen, Probieren und Dokumentieren, Austauschen, um nur einige zu nennen, die grundlegend sind für das Beschreiben von „Kultur“. Die teilnehmende Beobachtung kann als konstitutive Phase der ethnografischen Forschung betrachtet werden. Sie ist ein wichtiges Instrument, wenn es darum geht zu erforschen, welche Bedeutung Menschen bestimmten Handlungen und Ereignissen geben. Diese Bedeutung wird zum einen direkt in Sprache deutlich, vieles wird jedoch unhinterfragt hingenommen und nicht explizit thematisiert. Insofern bietet die Teilnahme an Situationen des Alltags die Möglichkeit, neben der Analyse von Kommunikation, Daten anhand weiterer erfahr- und beobachtbarer Dimensionen zu generieren. Die teilnehmende Beobachtung ist besonders geeignet, um dichte Beschreibungen zu produzieren, die nicht nur Schnappschüsse einer Situation darstellen, sondern Prozesse und strukturelle Komplexität wiederspiegeln. Der chronologische Fluss kann hier verdeutlicht werden und damit Fragen danach, welche Ereignisse zu welchen Konsequenzen geführt haben. Darüber hinaus stößt diese Vorgehensweise neue Fragen an und verlangt vielfach das ursprüngliche Fragenrepertoire zu erweitern und das anfängliche Verständnis zu revidieren (vgl. Miles/Huberman 1994). Ein solcher Prozess ist insofern wünschenswert, als er eine schrittweise Schärfung der Perspektive und damit auch qualitative Verfeinerung ermöglicht. Mit der Deskription von Alltagssituationen, Sprache, Ritualen, Beziehungen etc. wird eine kohärente Analyse angestrebt, die den Ausschnitt, der in unterschiedlichen Facetten beschrieben wurde, auch jenen Lesern näher bringt, die nicht von vornherein mit der jeweiligen sozialen Gruppe oder Situation vertraut sind (Emerson 2011: 142). Die Beobachtungen und Interaktionen im Feld werden anhand von Notizen im Feldtagebuch festgehalten, anhand dieses Texts und den weiteren Daten (Interviews) kann in der analytischen Verknüpfung mit dem theoretischen Rahmen ein Sinnzusammenhang herausgearbeitet werden. Die Feldforschungsnotizen stellen dabei keine deskriptiven Fakten dar, sie sind Interpretationen der Forschenden, können aber in einer mehrperspektivischen Vorgehensweise überprüft werden. Qualitative Methoden liefern insofern die passenden Werkzeuge für diesen Forschungskontext, da sie sich für die Untersuchung von vielfältigen Erfah-

Die Forschung | 63

rungen, Interpretationen und Deutungen anbieten, die hier von Interesse sind. Anstatt also mit einer klar umrissenen Theorie anzufangen und diese zu überprüfen wird der Forschungsbereich abgesteckt – in diesem Fall die Mehrgenerationenfamilie – und in jenem Feld werden nun die unterschiedlichen Perspektiven, Beziehungen, Muster und Verbindungen analysiert und aufgrund dieser Kategorien entwickelt. Erst mit dem Datensammlungsprozess werden die hier aufgetauchten Themen wechselseitig in Beziehung zur Theorie gebracht. Das bedeutet nicht, dass die Datenerhebung ohne jegliche theoretische Rahmung und Vorbereitung erfolgt, sie bleibt allerdings verhandelbar und ist kein starres Gerüst. 3.4.2 Zugang zum Forschungsfeld Zu Beginn der hier beschriebenen Forschung hatte ich die ersten Schritte innerhalb des Themenfelds bereits gemacht, die sich ergebenden Fragen und anschließende Recherche waren für mich Anlass, den Forschungskontext Familie weiter zu erschließen. Dabei waren meine entscheidenden Erwartungen zunächst, dass die Familie mehrere Generationen umfassen, eine bestimmte Größe haben und aus der Türkei stammen sollte. Der gewählte Stadtteil war einerseits aufgrund seiner Sozialstruktur und der relativ hohen Dichte an Familien mit türkischem Migrationshintergrund und auch wegen bestehender Kontakte in diesem Umfeld geeignet. Die Bedingung des türkischen Familienhintergrunds resultierte vor allem aus der Problemstellung, aber auch, weil dieses die größte der deutschen Einwandergruppen ist.16 Nach einer Vorlaufphase, der Entwicklung erster Forschungsfragen sowie des theoretischen und methodischen Rahmens, begann ich 2010 Zugang zum Feld zu suchen und bestehende Kontakte zu aktivieren.17 Da ich von Anfang an die Vorstellung verfolgte, am Alltag der Familie teilzunehmen, sah ich in meinem Feldzugang das größte Problem. Der familiäre Raum als Forschungskontext ist in seiner Privatheit verglichen mit anderen Orten eher schwer zugänglich. Bereits bestehende Kontakte, zu denen ich ein Vertrauensverhältnis aufgebaut hatte, sollten deshalb als Vermittler den Zugang zu ihren Familien erleichtern. Es stellte sich schwierig dar, frühere Interviewpartner zu erreichen und nur einige erschienen mir für die weiterführende Forschung geeignet. Ich konnte die Kon-

16 In Deutschland leben nahezu 3 Millionen Menschen mit sogenannter türkischer Herkunft (vgl. Haug et al. 2009). 17 Von 2007 bis 2008 führte ich im Rahmen meines Master Studiums eine Mixedmethods Studie an einer Berliner Schule durch, deren Ergebnisse ich 2009 innerhalb der Abschlussarbeit vorlegte.

64 | Migration, Bildung und Familie

takte zu einigen früheren Gesprächspartnern zwar herstellen, aber mein Anliegen ihre Familien in den Mittelpunkt einer Ethnografie zu stellen, erschien aus unterschiedlichen Gründen schwierig. In einem Fall war die Familiengröße ausschlaggebend, den Alltag prägten hier die Beziehungen innerhalb der Kernfamilie, d.h. den Eltern und drei Kindern, während mit der weiteren Verwandtschaft nur sporadisch Kontakt bestand. Hier bot sich mir nicht wie in einer Mehrgenerationenfamilie die Möglichkeit, Entwicklungen und Verknüpfungen zu untersuchen. Eine weitere Gesprächspartnerin war zwar selbst offen für weitere Fragen, aber ihre Familie erklärte sich nicht bereit, für das von mir angedachte Projekt. Nachdem die Wiederaufnahme bestehender Kontakte zu keinem Ergebnis geführt hatte, wählte ich einen alternativen Weg und stellte mein Projekt im weiteren Umfeld lokaler Bildungseinrichtungen, bei verschiedenen Personen vor, die hier in der Sozialarbeit oder bei freien Trägern in dem von mir fokussierten Stadtteil tätig waren. Die Projektleiterin einer mir bekannten Patenschaftsinitiative arrangierte schließlich ein Treffen mit einer Familie, die nach ihrer Auffassung sehr offen wäre und mit der sie sich ein solches Projekt vorstellen könne. Sie selbst kannte die Familie Imren schon länger, aus ihrer Projektarbeit, bei der Kinder aus dem Kiez sogenannte Talentpatenschaften eingingen. Gewissermaßen moderiert von der Projektleiterin Semra Kurtuluş begegnete ich also im Frühjahr 2011 zum ersten Mal der Familie Imren, die ich dann bis zum Frühjahr 2013 begleitete. Semra, die auch aufgrund ihrer Arbeit das Vertrauen und die Anerkennung der Familie genoss, besuchte mit mir gemeinsam die Familie in der Wohnung von Maral Imren, wo sich die Frauen und Kinder der Familie versammelt hatten. Sie stellte mich kurz vor, und ich hatte Gelegenheit, den Anwesenden mein Forschungsvorhaben zu unterbreiten und damit vor allem auch meine Anfrage an sie als Familie zu stellen. Sie erfuhren einerseits, in welchem thematischen Rahmen sich die Forschung bewegen würde und welche Schritte damit verbunden wären; regelmäßige Besuche, Interviews und letztendlich eine Beschreibung ihres Alltags, ihrer Einstellungen und biografischen Entwicklung. Ich beantwortete diverse Fragen zu meiner Person und zu Einzelheiten der Forschung. Bereits bei diesem ersten Treffen mit einem Teil der Großfamilie hatte ich den Eindruck, dass sich die Frauen stark positionierten; sie begegneten mir mit großer Offenheit und stellten direkte Fragen. Als am Ende des Nachmittags die Frage blieb, ob ich am Familienalltag teilnehmen könne, erklärten sie unumwunden ihre Bereitschaft. Auf Semras Vorschlag, diese Entscheidung in Ruhe mit den Männern zu besprechen, fiel die Entgegnung klar aus „Nein, das ist beschlossene Sache.“ (Journal 3.3.2011) Nachdem mit dem ersten Treffen der Kontakt zu Familie Imren hergestellt war und sie ihre Teilnahme an meiner Forschung zugesagt hatten, begann ich sie

Die Forschung | 65

regelmäßig zu besuchen. Zur Familie zählen vier Haushalte, in denen jeweils mindestens zwei Generationen zusammenleben. 2011 lagen drei dieser Haushalte in Wohnungen in direkter Nachbarschaft zueinander. Tabelle 1: Verteilung der Haushalte – Familie Imren Generation

Wohnung 1:

1

Ferda & Can

Wohnung 4: Mutter von Ali

(Großeltern in

(pflege-

Rente)

bedürftig)

2

3

Wohnung 2:

Wohnung 3:

Fatma &

Maral

Elif (Tochter

Feza (Tochter

Fatih

(Tochter von

von

von F. & C)

(Sohn von F.

F. & C) &

F. & C)

& Ali

& C.)

Muhammet

& Cenk

Kinder:

Kinder: Mel-

Kind:

Kinder:

Cengiz,

ek, Nuriye,

Oktay

Osman,

Aynur,

Gülay,

Özlem,

Mustafa

Meryem

Emre

Abbildung 1: Räumliche Aufteilung der Familie(n)

Wohnung 1 (Dachgeschoss) Wohn

Wohnung 3

Wohnung 4

Wohnung 2 (4. Stock) Nachbarhäuser

Entfernung: ca. 10 km

Die Großeltern wohnten gemeinsam mit ihrem einzigen Sohn, dem jüngsten ihrer vier Kinder, dessen Frau und vier Enkeln in einer Wohnung. Ein Stockwerk tiefer befindet sich die Wohnung von Tochter Maral, deren Ehemann und vier

66 | Migration, Bildung und Familie

Kindern, und im Nachbarhaus wohnte Tochter Elif mit Mann und einem Sohn. Diese drei Haushalte, insbesondere die Wohnungen von Maral und Ferda, bildeten das Zentrum meiner Beobachtungen, meine Besuche hier waren eine Konstante, an diesem Ort begegnete ich den unterschiedlichen Familienmitgliedern und weiteren Personen aus dem Umfeld. In diesen Wohnungen und dem nachbarschaftlichen Umfeld war der Alltag der Familie lokalisiert, und hier fand der Hauptteil meiner ethnografischen Forschung statt. Während Elif18 regelmäßig bei ihrer Mutter oder Schwester zu Besuch war und ich auch immer wieder in ihre Wohnung kam, blieb der vierte Haushalt der ältesten Schwester Feza, mit den dort lebenden Familienmitgliedern in meiner Forschung eher außen vor. Die räumliche Nähe der Haushalte ermöglichte den Familienmitgliedern im Alltag eine sehr enge Interaktion, Besuche der Kinder, kurze Gespräche zwischendurch, wechselseitige Unterstützung waren die Regel. Für meine Forschung war der begrenzte räumliche Rahmen insofern von Vorteil, als sich hier die Lebensräume einer relativ hohen Anzahl von Familienmitgliedern überschnitten. So konnte ich, wenn ich mich in Whg. 1 oder 2 aufhielt, auch Mitgliedern der anderen Haushalte begegnen und ein breites Spektrum an Interaktionen beobachten. Meine Besuche waren fast immer verabredet, häufig war ich tagsüber für einige Stunden mindestens einmal in der Woche anwesend. Ab und zu brachte ich auf Wunsch der Familie meinen Sohn mit zu den Treffen, der dann mit den anderen Kindern spielte. Im Rahmen unserer anfänglichen Absprachen hatte ich gewissermaßen als Gegenleistung für die Forschungsteilnahme angeboten, wenn nötig Nachhilfe zu geben oder andere praktische Unterstützung zu leisten. Wir einigten uns darauf, dass ich eine Art informelle Patenschaft mit Aynur eingehen, ihr also etwas mehr Zeit und Aufmerksamkeit widmen sollte.19 Während der Forschungslaufzeit gab es einige Kontinuitäten und gleichzeitig veränderten sich die Treffen kontinuierlich, es öffneten sich neue Räume, aber es gab auch Brüche und Konflikte. Darin spiegeln sich im Grunde die charakteristischen Elemente von Familie, deren Konstellationen, Transformationen und Ambiguitäten.

18 Und auch ihr Mann Cenk und deren Sohn Oktay. 19 Diese Idee kam von Seiten der Familie, denn Aynur hatte schon häufiger das Interesse an einer Patenschaft im beschriebenen Projekt geäußert. Ich erklärte mich bereit dazu, mit der Einschränkung, dass ich keine wöchentlichen Aktivitäten bieten könne, wie im Rahmen des Patenprojekts vorgesehen, da ich bereits eine laufende Patenschaft hatte. Wir einigten uns darauf, dass ich mit etwas reduziertem Aufwand als Ansprechpartnerin für Aynur da sein und ihr helfen solle, eigene Interessen zu entdecken und zu verfolgen.

Die Forschung | 67

Konstanten bildeten bestimmte Personen, so wie Maral und ihre Töchter Melek und Nuriye, die über den Forschungszeitraum hinaus wichtige Gesprächspartnerinnen blieben, aber auch gewisse Rituale und Abläufe, so wie das gemeinsame Teetrinken, gemeinsames Essen und wiederkehrende Gesprächsthemen. Um die eng vernetzten Lebensräume der Familie gruppierten sich weitere Orte, die entweder nur für einzelne oder für die gesamte Familie bedeutsam waren. Nach einer Anfangsphase, in der ich mich fast ausschließlich zwischen Whg. 1 und Whg. 2 bewegte, begleitete ich im weiteren Forschungsverlauf die Familienmitglieder auch zu Aktivitäten in der Nachbarschaft. Ich besuchte Schulfeste, Kindergeburtstage im Park, Familienfeiern, wir gingen gemeinsam einkaufen, zum Jobcenter, in den Garten, die Moschee und den Kulturverein. Meine Beobachtungen dokumentierte ich im Anschluss an die Treffen in Form des Feldtagebuchs. 3.4.3 Durchführung der Interviews Die Interviews fanden innerhalb der Feldforschung in einem Zeitraum von etwa einem Jahr statt (09/2011 - 12/2012). Selbstverständlich war die gesamte teilnehmende Beobachtung von zahlreichen „informellen“ Gesprächen und Diskussionen begleitet, die ich dokumentierte und analysierte. Die Interviews verliefen dagegen zu einem gemeinsam vereinbarten Termin, in ruhiger Atmosphäre (ohne weitere Personen) und aufgezeichnet mit einem Aufnahmegerät. Die Datenerhebung war hier an den Grundprinzipien des narrativen Interviews orientiert; beginnend mit einer biografischen Einstiegsfrage wurde die anschließende Erzählung nicht unterbrochen, sondern nur zustimmend begleitet.20 Die narrative Form der Interviews (Schütze 1977, Girtler 2000) erlaubt es entlang der Einstiegserzählung Impulse der Gesprächspartner und deren Schwerpunktsetzungen nachzuvollziehen, sowie Sinnzusammenhänge zu rekonstruieren.21 Anschließend wurden die von mir als zentral wahrgenommenen Aspekte, Unklarheiten oder Leerstellen durch „erzählgenerierende Nachfragen“ im Rahmen eines Leitfadens ergänzt (Rosenthal 2001: 272). Die Fragen des Leitfadens waren je nach Alter 20 „Ich möchte dich bitten, mir von deinem Leben zu erzählen, all die Erlebnisse, die dir einfallen. Du kannst dir dazu so viel Zeit nehmen, wie du möchtest. Ich werde erst einmal nicht unterbrechen und mir nur einige Notizen machen. Später können wir darauf zurückkommen.“ Orientiert an dieser offenen Einstiegsfrage (Rosenthal 2001: 274) wurde der Erzählimpuls formuliert. 21 „Über Kognitionen, Gefühle oder Motive erfahren wir nicht losgelöst von der Handlungsgeschichte, sondern sie sind eingebettet in die Erzählungen biografischer Erlebnisse.“ (Rosenthal 2001: 272)

68 | Migration, Bildung und Familie

etwas angepasst. Von den 21 Familienmitgliedern führte ich mit 14 narrative Interviews. Mein zu Forschungsbeginn an die Familie geäußertes Ziel, alle Mitglieder zu interviewen, wurde zwar zunächst zugesagt, aber im Verlauf der Forschung wurde deutlich, dass es bei Einzelnen Vorbehalte gab und sich dieses Ziel nicht realisieren lassen würde. Entlang dieser Dynamik entstand ein Familienpanorama, in dem einige Biografien näher und detailreicher heranrückten und andere etwas unschärfer blieben.

Tabelle 2: Überblick Interviews (14)

1.

Name

Interview vorhanden (V/ /) Länge

Ferda

/ nur kurze schriftliche Auskunft biografischer Fragen

2.

Can

/

3.

Feza

V Länge: 1 h 05 min.

4.

Maral

V Länge: 1 h 40 min.

5.

Elif

V Länge: 1 h 02 min.

6.

Ali

/

7.

Muhammet

V Länge: 1 h 20 min.

8.

Cenk

V Länge: 1 h 28 min.

9.

Fatih

V Länge: 46 min.

10.

Fatma

V Länge: 1 h 07 min.

11.

Osman

/

12.

Meryem

/

13.

Melek

V Länge: 1 h 32 min.

14.

Nuriye

V Länge: 1 h 15 min.

15.

Gülay

V Länge: 1 h 16 min.

16.

Mustafa

V Länge: 53 min.

17.

Cengiz

V Länge: 58 min.

18.

Aynur

V Länge: 43 min.

19.

Özlem

V Länge: 30 min.

20.

Emre

/ (ausgelassen wegen Alter – geb. 2003)

21.

Oktay

/ (ausgelassen wegen Alter – geb. 2007)

Die Forschung | 69

Neben den narrativen Interviews wurden mehrere Interviews im Umfeld der Familie geführt. In diesen Gesprächen wurden bestimmte Aspekte und Fragestellungen aus der teilnehmenden Beobachtung diskutiert und vertieft. Tabelle 3: Überblick Interviews im Umfeld (4)

1.

2.

3.

IP (Funktion)

Thema

Sabine

Austausch zu Interaktionen,

(Trainerin

Deutungsmustern in der Familie mit Bezug

Familienhaus)

auf Bildung

Herr Ozan

Rolle des Bildungsvereins, Zusammenhänge

(Mitglied

Religion und Bildung, Engagement des

Bildungsverein)

Vereins

Herr Yıldırım (Mit-

Rolle des Bildungsvereins, Zusammenhänge

glied Bildungsverein)

Religion und Bildung, Engagement des Vereins

4.

Semra Kurtuluş

Austausch zu Interaktionen,

(Leiterin Patenschafts-

Deutungsmustern in der Familie

projekt)

mit Bezug auf Bildung

Schon zu Beginn der teilnehmenden Beobachtung waren die Interviews Gesprächsthema in der Familie, sie wurden mit einer Mischung aus Anspannung und Erwartung diskutiert. Dabei war ich vom ersten Tag an innerhalb der Familie an Gesprächen beteiligt, die ich im Rahmen der Situationen durch bestimmte Fragen mit strukturierte. Allerdings waren diese Fragen nicht vorher geplant, der Ablauf verlief spontan und folgte den Gesprächsimpulsen des Moments. Im Rahmen des familiären Alltags waren die Gelegenheiten, sich mit den einzelnen Familienmitgliedern auszutauschen, unterschiedlich häufig. Grundsätzlich waren die Männer aufgrund ihrer Berufstätigkeit weniger im Alltag anwesend und Can, war zwar in Rente, aber zog sich aus dem Familienleben zurück und blieb mir gegenüber sehr distanziert. So führte ich die begleitenden Gespräche in der Feldforschung eher mit den Frauen, und es ergaben sich immer wieder Situationen, in denen auch Themen aufkamen, die im Rahmen der Interviews relevant waren. Maral rekonstruierte beispielsweise in den informellen Gesprächen große Teile ihrer Biografie, während sie in der Situation des Interviews sehr viel gehemmter erschien. Die Interviews fanden insofern auf ganz unterschiedlicher Grundlage

70 | Migration, Bildung und Familie

statt, teilweise bündelten sich hier die zentralen biografischen Daten und entscheidenden individuellen Themen, teilweise fungierten sie eher ergänzend zu den bereits erhobenen Daten. Die Dynamik des Forschungsprozesses, die Konzentration auf spezifische Bereiche des Familienlebens (zeitlich, räumlich) ließ abschließend ein sehr komplexes Bild entstehen, in dem die Vernetzung der Biografien und die Familienchronik nachvollziehbar wurde, spezielle Themen und einzelne besonders dicht rekonstruierte Biografien herausstachen. 3.4.4 Sprache im Forschungsverlauf Während der Feldforschung wurde im Familienalltag Deutsch, Pontosgriechisch und Türkisch gesprochen. Besonders Ferda und Can, die Angehörigen der ersten Generation kommunizierten viel auf Türkisch mit ihren Kindern und Enkeln. Die erste Generation spricht außerdem mit der zweiten (den eigenen Kindern) Pontosgriechisch, die Alltagssprache mit der sie in der Türkei aufgewachsen sind.22 Diese eigenständige mit der Schwarzmeerregion verbundene Sprache wird in der dritten Generation nur noch vereinzelt und rudimentär verstanden. Die Eltern der zweiten Generation wechselten zwischen den Sprachen hin und her, und in der dritten Generation wurde hauptsächlich Deutsch gesprochen. Alle Kinder konnten zwar Türkisch verstehen, aber die Kenntnisse waren gerade bei den Jüngsten weniger umfangreich. So antworteten Emre und Oktay auf türkische Fragen häufig auf Deutsch. Medienkonsum fand ebenfalls zweisprachig statt, wobei die 1. und 2. Generation eher türkische und die 3. eher deutsche Programme im Fernsehen wählte. Ich selbst führte Gespräche auf Deutsch und auch in den Interviews wurde Deutsch gesprochen, da meine Türkischkenntnisse sich nur für einfache Konversationen eigneten. Während meiner Anwesenheit in der Familie wurde trotzdem immer wieder ins Türkische geswitcht. Von diesen Gesprächen verstand ich einen Teil, manches wurde übersetzt, und einiges blieb offen. Während die zweite Generation umfangreich und sicher auf Deutsch kommuniziert, vermittelten Ferda und Can eher sprachliche Unsicherheit. Für die Interviews bot ich an, diese mit der Unterstützung eines Übersetzers auf Türkisch zu führen, aber in keinem der geführten Interviews wurde von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht.

22 Im folgenden Kapitel gehe ich näher auf den Hintergrund der Sprache ein.

Die Forschung | 71

3.4.5 Analyseschritte Im Laufe der ethnografischen Forschung entstand eine umfangreiche Sammlung an unterschiedlichen Daten, die systematisch ausgewertet wurden. Methodische Orientierung lieferte dabei die Grounded Theory (vgl. Strauss/Corbin 1996). Mithilfe der darunter fallenden forschungspraktischen Techniken können Daten aufbereitet, analysiert und aus ihnen Theorien abgeleitet werden (vgl. Dilger 2000: 1). Es ist gewissermaßen ein Modifizierungsprozess, in dem Theorie „flüssig“ bleibt und in einem Wechselverhältnis von Datengewinnung und Theorieentwicklung langsam entsteht. Nachdem also im Rahmen der Feldforschung mit jeder Notiz das ethnografische Material stetig wächst, müssen diese Daten schließlich systematisch durchforstet werden. Die Daten, die während der Forschungsaktivität generiert und interpretiert werden, sollen Aufschluss über das Handeln und die Sinndeutungen der Akteure geben, dieses Verständnis ist dann für andere zugänglich zu vermitteln. In diesen Prozess sind unvermeidlich „theoretische“ Annahmen eingeflochten, darüber was Wissen konstituiert, was es legitimiert und welche Ziele damit verfolgt werden (vgl. Schwandt: 191). Der Ablauf lässt sich zusammenfassend folgendermaßen beschreiben: „In sum, acting and thinking, practice and theory, are linked in a continuous process of critical reflection and transformation.“ (Ebd.) Um analytische Kategorien zu entwickeln, waren die von Robert M. Emerson (1995) vorgeschlagenen Arbeitsschritte hilfreich. Aus dem Lesen der Feldnotizen als Datensatz, den verschiedenen Codierschritten (offen, fokussiert), dem Verfassen von Memos kann schließlich die Beschreibung theoretischer Ergebnisse hervorgehen, die dem jeweiligen Feld entwachsen sind (vgl. Emerson 1995: 167). Als orientierender Leitfaden dienten darüber hinaus Matthew B. Miles‘ und A. Michael Hubermans Methodenwerk „Qualitative Data Analysis“ (1994). Hier wird ein Vorgehen vorgeschlagen, anhand dessen Daten nicht nur systematisiert werden, sondern der Analyseprozess gleichsam transparent und nachvollziehbar verläuft. Doch auch wenn es gelingt, Transparenz herzustellen und so die Rückbindung entwickelter Thesen zum Feld sichtbar wird, soll diese Herangehensweise nicht dazu dienen, die Unanfechtbarkeit oder Objektivität der Ergebnisse zu untermauern. Zwar werden existierende Realitäten beschrieben, aber mögen die Beobachtungen auch noch so allgemein oder vermeintlich akkurat beschrieben sein, so bringt die Beschreibende doch immer die eigene Perspektive mit ein. Wenn wir menschliche Lebenswelten als multidimensional begreifen, können wir uns zwar einzelnen Lagen dieser Realität nähern, aber bewerten diese Annäherung nicht als repräsentativ und gehen davon aus, dass auch andere Sichtweisen Geltung beanspruchen (vgl. Charmaz 2000: 523). Im Bereich

72 | Migration, Bildung und Familie

der Grounded Theory ist es dagegen verbreitet, die Daten als objektiv zu betrachtet, nach der Prämisse „The data do not lie“ (Strauss/Corbin 1998: 85). In Abgrenzung dazu sollten wir uns vergegenwärtigen, dass es sich bei diesen Daten um unsere narrativen Konstruktionen handelt. „They are reconstructions of experiences; they are not the experiences itself.“ (Charmaz 2000: 515) So begreife ich auch meine Beobachtungen aus dem Feld ebenso wie die Datenanalyse nicht als objektive Wiedergabe der bestimmenden Situationen und Probleme, sondern als meinen spezifischen Blickwinkel auf das Geschehen. Die ersten Schritte zur Datenanalyse fanden mitten in der Feldforschungsphase statt. Einzelne Interviews wurden transkribiert und codiert und die bisherigen Feldforschungsnotizen in einem ersten Prozess ausgewertet. Bedeutsam erschien in dieser Phase eine wechselseitige Interaktion zwischen Codes, entwickelten Kategorien und den Daten, ohne voreilig Schlüsse zu ziehen oder den Daten griffige Label überzustülpen. Innerhalb dieses ersten Analyseschritts konnten unvorhergesehene Aspekte und Fragen zum Vorschein gebracht und in die weitere Forschung integriert werden. Auf dieser Grundlage wurden bestimmte Themenfelder eröffnet, die zu Beginn der Forschung nicht auf meinem Radar waren und auch der Leitfaden für die Interviews konnte anhand dessen überarbeitet werden. Nach Abschluss der Feldforschungsphase wurden alle Interviews selbst transkribiert, dabei richtete sich die Genauigkeit nach den Erfordernissen der Fragestellung (vgl. Flick 1995: 380). Tabelle 4: Abkürzungen Transkription Transkription23 Interviewerin:

I: Interviewerin

Interviewpartner/-in:

IP: Interviewpartner

Orthografie

Der besseren Lesbarkeit halber bereinigt, Dialekt, wenn von Bedeutung

Pausen

Ab 1 sec (Dauer)

unsichere Transkription

(abc?)

Satzabbrüche

Abc-

Wortabbrüche

Abc-

gleichzeitiges Sprechen

#abc#

gedehnte Töne

23 Vgl. Flick 1995: 381f.

Die Forschung | 73

hörbares Ein-/Ausatmen

H::: (proportional zur Länge des Atmens)

Lachen

(lachen)

Erklärende

((Abc))

Ergänzungen Die Interviewtranskripte wurden gemeinsam mit den Feldforschungsnotizen anhand der Analysesoftware MaxQda erfasst. Die Arbeit mit einer solchen Software zu qualitativen Datenanalyse erleichtert anhand verschiedener Werkzeuge den umfangreichen Korpus an Daten zu systematisieren, zu vergleichen, Kategorien und Typen zu bilden. Angesichts der großen Menge verschiedener Dokumente war dies eine hilfreiche Methode, um Muster und Themen in den Daten festzustellen (vgl. Kukartz 1999: 16ff.). Als erster Schritt wurden alle vorhandenen Daten in einem offenen Durchgang codiert. Die Analyse verlief hier Zeile für Zeile und lieferte einen Überblick vielfältiger Themen. Im weiteren Verlauf wurden spezifische Themen verfeinert, miteinander verglichen und als weiterer Schritt verschiedene Codegruppen, und -kategorien gebildet. Auch das Erstellen von mental maps war konstruktiv, um Vernetzungen und Beziehungen zu visualisieren und damit verständlich zu machen (Ryan/Bernard 2000: 773f). Codierungen waren zum Teil sogenannte „Invivo Codes“ (MaxQda), also aus der Interviewpassage oder Feldtagebuch entnommene Begriffe, die herausstachen oder geeignet waren, eine Kategorie zu bilden. Andere Codierungen benannte ich selbst, um bestimmte Themen zu identifizieren. Ich erstellte beispielsweise den Code „Drecksarbeit“ als „Invivo“ aus dem Material selbst, genauso wie die kontrastierenden Beschreibungen unter der Codierung „vernünftiger Job“, während beide als Subcodes der Kategorie Arbeit zugeordnet wurden. Auch während der Ausarbeitung der Forschungsergebnisse sind die systematisierten Daten schnell zugänglich und bestimmte thematische Aspekte können so zuverlässig rekonstruiert werden.

3.5 REFLEXIONEN DES FORSCHUNGSPROZESSES „Gegen migrationsgesellschaftliche Ordnungen, in denen die natürliche Ungleichheit der Menschen, die Unvermeidbarkeit der Exklusion, die unabänderbare, zumindest träge Gegebenheit hierarchischer Asymmetrien behauptet und erzeugt wird, findet die Praxis der Kritik [...] zunächst ihren Ausgangspunkt in einem Moment der Empörung.“ (Mecheril 2013: 43)

74 | Migration, Bildung und Familie

Mecheril beschreibt hier, wie die Wahrnehmung von Benachteiligung und Ausschluss Auslöser sein kann für eine innere Gegenwehr, ein sich aufdrängendes Unbehagen und darauf folgende Reaktion, die sich von der als ungerecht erlebten Praxis abzugrenzen sucht. Die abwehrende Reaktion und deren moralische Grundlage sind „noch kein wissenschaftlicher Akt“, aber sie setzen gewissermaßen Energie frei, die sich in Erkenntnisprozesse umwandeln lässt (ebd.). Auch mein Zugang zum hier beschriebenen Forschungsfeld kann von einem solchen „Moment der Empörung“ aus erzählt und nachvollzogen werden. Insbesondere die Erfahrungen im Klassenzimmer, die Perspektiven der Jugendlichen und deren Zusammenprall mit alltäglichen Zuschreibungen, prägten sich ein und ließen mich nicht mehr los. Dies war einer der unterschiedlichen Ausgangspunkte für die vorliegende Forschung, und einem Impuls zur Vereinfachung folgend könnte eine solche kritische Haltung als ausreichende Legitimierung des Forschungsprojekts erscheinen.24 Während des Forschungsprozesses erschien es allerdings notwendig, meine Position stärker mit einzubeziehen und zu hinterfragen. Dabei sind verschiedene Ebenen zu unterscheiden; die Problematik „eines Sprechens für Andere“ (vgl. Alcoff 1991, hooks 1989), Fragen nach möglichen eigenen Beiträgen zur Marginalisierung mit der Studie, Möglichkeiten differente Positionen zu reflektieren und Rollen in der Forschung zu dekonstruieren. In einem ersten Schritt sind die spezifischen Erfordernisse und auch Gefahren im Forschungskontext näher zu beleuchten. Dabei begegnet uns unmittelbar die grundlegende Frage, nach dem eigenen Verhältnis zu den Akteuren der Forschung und dem geteilten Raum zwischen Forschenden und Partizipanten. „[...] can we incorporate the voices of ‚others‘ without colonizing them in a manner that reinforces patterns of domination?“ (England 1994: 242). Insbesondere wenn es um Fragen der Ungleichheit geht, wird unter Aktivisten und Forschenden seit längerem Kritik gegenüber einer Praxis geübt, die vorgibt, für andere zu sprechen. Gerade wenn Forschende durch ihre Zugehörigkeiten Zugang zu mehr gesellschaftlichen Privilegien als die marginalisierten Forschungsteilnehmenden haben, wird der Akt des Sprechens für die Anderen problematisiert, auch wenn dies mit dem Impetus geschieht, die Situation zu verändern. „Speaking for others does nothing to disrupt the discursive hierarchies that operate in public spaces.“ (Alcoff 1991) so der Standpunkt und die Grundlage der Kritik. Tatsächlich kann 24 In diesem Sinne würde die Problematisierung der eigenen Rolle als Forscherin mit der Begründung zurückgewiesen, dass die Kritik der Ungleichheit dem Projekt als Ziel zugrunde liegt und es so quasi immun sei gegen die Reproduktion der ungleichen Strukturen. Tatsächlich kann jedoch gerade auch eine Untersuchung, die Differenzen zum Thema macht, „die Anderen“ beschreibt, ihre Geschichte erzählt, weiter zur Marginalisierung beitragen (hooks 1989, 2008 f.).

Die Forschung | 75

das „Sprechen für Andere“ eine weitere Einschreibung machtvoller Missrepräsentionen bedeuten. Das Problem der Repräsentation ist allerdings nicht auf das Verhältnis von Privilegierten und Marginalisierten zu beschränken, letztlich sind alle Akte des Sprechens für (mich oder andere) vermittelt über vernetzte Pfade aus Diskurs, Macht und der jeweiligen Verortung (vgl. ebd.). Fragen danach, wer wo sprechen kann und von wem gehört wird, sind in diesem Kontext aufschlussreich. Was kann also als im konkreten Forschungskontext als Orientierung gelten und inwiefern ist die Konstellation einer Forscherin ohne sogenannten Migrationshintergrund innerhalb einer migrantischen Familie diffizil? Es lässt sich in der Auseinandersetzung mit diesen Fragen kein eindeutiges methodisches Rezept darlegen. Für die Familienethnografie wurden unterschiedliche Ansatzpunkte kombiniert, mit denen Bedingungen für ein dialogisches Verhältnis mit den Akteuren und die Reflektion des eingebunden seins in ein Netzwerk vielschichtiger Machtbeziehungen geschaffen werden. Gleichzeitig erschien es wichtig, besonders ethnische Differenz nicht überzubewerten und so als vermeintlich primäre Kategorie geltend zu machen. Eine Forschung in diesem Verständnis ginge davon aus, dass aufgrund der ethnischen Differenz die Annäherung an die Lebenserfahrung der „Anderen“ immer auf Grenzen stößt, während andere Differenzen (Klasse, Geschlecht, Alter) ausgeblendet werden. Dass die Beschreibungen tatsächlich immer eine Annäherung bleiben und nur eine von vielen Perspektiven wiederspiegeln, ist aber auch ohne ethnische Differenz eine Tatsache. Im Forschungsprozess sollen Differenzen berücksichtigt werden, allerdings unter Wahrnehmung ihrer Komplexität und ohne zu essenzialisieren (vgl. Gunaratnam 2003, 80ff.). Es kann in Forschungsinteraktionen immer (auch ohne markante Differenzen) zu Missverständnissen und Missrepräsentationen kommen, besonders kritisch sind solche Konflikte, wenn sie jene Machtdifferenzen untermauern, die in der Forschung doch eigentlich hinterfragt werden sollten. Mit dem Fokus auf Bildung war es in der vorliegenden Forschung entscheidend, mit den gesellschaftlich machtvollen Definitionen auch die eigenen Annahmen zu überprüfen und im Feld gewissermaßen in einen Austausch darüber zu treten, was Bildung sein könnte. Dazu gehörten Fragen zur gängigen Bildungspraxis, den Verknüpfungen mit Zugehörigkeiten und des Umgangs mit solchen. Im gesamten Forschungsprozesses entwickelte und veränderte sich das Verständnis dessen, was Bildung sei und sein könne, fortwährend, eigene Erkenntnisse trug ich ins Feld zurück und brachte sie in die Diskussion ein. Damit flossen verschiedene Wissensformen ineinander ein, was für die Forschung eine Bereicherung bedeutete, aber auch auf Gegenseitigkeit abzielte. Die teilnehmende Beobachtung ist in ge-

76 | Migration, Bildung und Familie

wisser Weise für die Dekonstruktion der Expertenrolle (vgl. Gunaratnam 2003: 92) prädestiniert, denn hier werden die Akteure selbst als Experten für ihr Leben, ihre Erfahrungen angesehen. Einen Austausch von Praxis- und Theoriewissen und mithin Demokratisierung dieses Bereichs wird auch für die partizipative Forschung vorgeschlagen (vgl. Bergold/Thomas 2010). Gefühle und Handlungen können so als gleichwertig zu Kognition und Rationalität im Prozess der Wissensgenerierung gelten (vgl. Gaventa/Cornwall 2001: 74). Die Multiperspektivität einer Familie ermöglicht auf besondere Weise den Vergleich und so auch Interpretationen eher im Verhältnis zu sehen, denn bestimmte Ereignisse werden von jedem Familienmitglied sehr unterschiedlich erzählt und eingeordnet. In Bezug auf diese Divergenzen, aber auch wenn es zu anderen Fragen wiederholt Überschneidungen gab und sich hier ein Muster innerhalb der Familie herauszubilden schien, suchte ich gezielt den Austausch zu diesen Beobachtungen. Diese Vorgehensweise ist, ebenso wie die Rückkopplung und Diskussion der Ergebnisse an die Teilnehmenden ein weiteres methodisches Element, um den Raum für eine Entgegnung zu schaffen. Auch wenn der Versuch unternommen wird, dialogische Bedingungen zu schaffen, ist letztlich immer die Perspektive der Forscherin entscheidend, denn sie ist es, die eine Frage entwickelt, sich damit in einem komplexen Prozess auseinander gesetzt hat, Entscheidungen trifft und die Verantwortung trägt. Insofern spricht aus jeder Forschung zuallererst der oder die Forschende selbst, auch wenn hier mannigfaltige Positionen einfließen, so entstanden in dieser Forschung Schwerpunkte gleichsam aufgrund meiner individuellen Verortung. Als grundlegend lässt sich zunächst das Bedürfnis ablesen, meine eigene bildungsbürgerliche Sozialisation in ihrer Ausrichtung kritisch zu hinterfragen und damit verbunden die Legitimität der eigenen Privilegien. So veränderten sich in diesem Prozess auch unvermeidlich mein eigenes Selbstverständnis und der Blick auf mein Umfeld. Darüber hinaus bilden sich vielleicht mein eigenes Aufwachsen in und die Zugehörigkeit zu einer Großfamilie, meine Rolle als Mutter, als Frau ab, wenn die Forschung sich besonders mit den Ambivalenzen von Familie befasst und dabei eher frauenzentriert Biografien und Alltagsdynamiken nachzeichnet. Gerade meine eigene Mutterrolle wurde von den Gesprächspartnerinnen von Beginn als Position begriffen, mit der Gemeinsamkeiten betont und auf einer Ebene Austausch stattfinden konnte. Auf diese Weise verdichten sich im dynamischen Interaktionsprozess der Forschung spezifische Themenfelder, während andere weniger berührt werden, was allerdings nicht bedeutet, dass diese weniger relevant wären. Relativ zu Beginn meiner Forschung realisierte ich weiterhin, dass nicht nur ich spezifische Ziele mit diesem Projekt verband, sondern auch die Familienmitglieder unterschiedliche Wünsche und Vorstellungen

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daran knüpften. Implizit nahm ich immer wieder den Auftrag wahr, mit meiner Ethnografie ein Gegennarrativ zu einem Diskurs beizusteuern, der hauptsächlich die Defizite der Migranten thematisierte. Diese Ausrichtung ließ sich mit meiner eigenen Orientierung verbinden und gerade deswegen musste ich immer wieder Abstand dazu suchen und mich von diesen Prämissen lösen, um auch unerwartete oder unerwünschte Perspektiven wahrzunehmen. Mit dieser Arbeit nähere ich mich den Positionen der Familie an, versuche diese und mit ihnen auch die Bezüge zwischen Bildung und Migration besser zu verstehen, aber sie gibt nicht die Erfahrungen, Gedanken und Positionen als repräsentative Darstellungen eins zu eins wieder. Denn trotz des Anspruchs, unterschiedliche Perspektiven einzubeziehen, eigene zu reflektieren, kann kein Bild entstehen, dem nichts mehr hinzuzufügen, an dem nichts verändert werden müsste. Der Forschungsprozess ist in diesem Sinne nicht abschließbar und die beschriebenen Ergebnisse umfassen einen Ausschnitt, der erweitert, ergänzt und je nach Position auch gänzlich verschoben wahrgenommen werden kann. Festzuhalten bleibt, dass Forschungen wie die vorliegende kein Ersatz sind für Auseinandersetzungen mit migrationsspezifischen Ausgrenzungen von Forschenden, die als Andere Deutsche selbst von diesen Praxen betroffen sind. Die in der Einleitung zitierten Sätze „Stories matter. Many stories matter“ können hier in Erinnerung gerufen werden, denn gerade an dieser Stelle gilt: je mehr vielfältige Geschichten, denen von möglichst vielen zugehört wird, desto besser.

3.5 VORSTELLUNG DER FAMILIE Meine Forschung konzentriert sich auf einen Familienkreis von 21 Personen zwischen 70 und vier Jahren (Stand 2011). Der ersten Generation gehören Ferda (*1943) und Can (*1941) an, die beide in der Schwarzmeerregion geboren und aufgewachsen sind. Die zweite Generation bilden die vier Kinder von Ferda und Can und deren Ehepartnerinnen und -partner. Sie sind alle, bis auf die jüngste Schwiegertochter Fatma, in der Türkei geboren, haben dort in ländlicher Umgebung gelebt und sind als Kinder oder Jugendliche nach Deutschland emigriert. Für alle war mit der familiären Migration eine zeitweilige Trennung von den Eltern verbunden, die zwischen zwei und sechs Jahren andauerte. Der dritten Generation gehören die zehn Enkel von Ferda und Can an, die alle in einer deutschen Großstadt geboren und in engem familiären Kontakt aufgewachsen sind.

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Tabelle 5: Übersicht der Familie Imren – Geburts-/Heiratsdaten Can



Ferda

(*1941)

(1960)

(*1943)

Feza

Maral

Elif

Fatih

(*1962)

(* 1965)

(*1966)

(*1968)

∞ 1980

∞ 1984

∞ 1989

∞ 1996

Ali

Muhammet

Cenk

Fatma

(*1958)

(*1964)

(*1967)

(*1978)

Osman

Melek

Oktay

Cengiz

(*1982)

(*1987)

(*2007)

(*1997)

Meryem

Nuriye

Aynur

(*1989)

(*1990)

(*1999)

Gülay

Özlem

(*1992)

(* 2000)

Mustafa

Emre

(*1999)

(*2003)

Der von mir zur Familie gezählte Kreis ließe sich durchaus um weitere Verwandte und Bezugspersonen erweitern, sie bleiben aber in dieser Arbeit eher im Hintergrund. Zum besseren Verständnis des Familiensystems und der Vernetzungen folgt eine etwas detaillierte Darstellung mit einigen überblicksartigen Informationen. Während der zwei Jahre, in denen ich regelmäßig am Alltag der Imrens teilnehme, entsteht ein komplexer Eindruck des Familienlebens, dem Rhythmus der Abläufe, den besonderen Anlässen, der Ausrichtung auf konkrete Ereignisse. Einerseits zeigt sich der gewachsene Zusammenhalt der Familie, andererseits werden auch Brüche und Distanz sichtbar. Ferda, die mir anfangs als herzlich, strenge Matriarchin begegnet, die das familiäre Miteinander gestaltend prägt, offenbart auch Zweifel und Unsicherheiten ob ihrer familiären Rolle. Wir tauchen also im Folgenden weiter ein in die Geschichte(n) der Familie, anhand derer sich die Positionen der einzelnen lokalisieren lassen. In den folgenden Kapiteln zeichne ich dazu die familiären Bezugspunkte, die biografischen Narrative und thematischen Schwerpunkte nach, die in der Feldforschung deutlich wurden. Dabei begebe ich mich an drei Orte der familiären Vergangenheit und Gegenwart und ermögliche so eine Vorstellung der jeweiligen Verbindungen von Or-

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ten, deren strukturellen Eigenschaften mit den Biografien und Orientierungen der Frauen, Männer und Kinder. Die Orte sind bestimmten zeitlichen Abschnitten zugeordnet, der Blick auf die Abfolge dieser familiären Epochen, ihre jeweiligen prägenden Momente lässt auch das Erkennen einer Entwicklung oder, um einer weniger linearen Vorstellung zu folgen, einer familiären Transformation zu. Ich beschreibe drei Orte, die für die Familie bedeutsam, an denen sie zu Hause waren oder sind, und gleichzeitig drei Phasen, drei Stationen in der Familienbiografie.

4 Im türkischen Dorf

Das türkische Dorf ist ein biografischer Bezugspunkt für die erste Generation sowie fast alle Mitglieder der zweiten Generation und gleichzeitig prägender Ort der Kindheit, des Aufwachsens, der Gemeinschaft. Hier fehlende Möglichkeiten vermutet die erste Generation in der deutschen Großstadt, dort angekommen, wird das Dorf zum Sehnsuchtsort. Es wird zu einem Ort der Vergangenheit, dessen Einschränkungen und Freiräume in Gedanken und Gesprächen abgewägt werden. Das hier beschriebene türkische Dorf ist in Wirklichkeit nicht ein einziges Dorf – es ist eine Klammer, die alle Narrative zum Leben in der dörflichen Umgebung oder sogar noch allgemeiner, zum Leben vor der Migration umfasst. Ich führe sie zu einer Art imaginären Ort zusammen, der verschiedene geografische Bezugspunkte und zeitliche Ebenen besitzt.

4.1 ERSTE GENERATION Die Familie Imren stammt aus der Schwarzmeerregion (Karadeniz Bölgesi) im Norden Anatoliens, genauer einer kleinen Stadt in der Provinz Trabzon.1 Der Ort, am Ufer eines Sees, ist umgeben von steil ansteigenden Bergen, einer Landschaft, die von dichten Nadelwäldern geprägt ist. Dort werden Ferda (*1943) und Can (*1941) geboren, sie verbringen hier ihre Kindheit und Jugend, lernen sich als junge Erwachsene über ihre Eltern kennen und gründen eine eigene Familie. Die Republik Türkei ist zum Zeitpunkt ihrer Geburt noch jung, der zweite Weltkrieg und die letzte wirtschaftliche Depression nicht lange her, Mustafa Kemal hat einen umwälzenden Modernisierungsprozess vorangetrieben, verbun-

1

Auch die Familien von Can (dem ältesten Schwiegersohn) und Fatma (der Schwiegertochter) kommen aus dieser Gegend.

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den mit Säkularisierung und Nationalisierung (vgl. Zürcher 1993). In den ländlichen Gebieten zeichnen sich die Veränderungen verzögert ab und bis in die 1950er lebt ein Großteil der türkischen Bevölkerung (70%) in den Provinzen. Die Geburten- und Mortalitätsrate sind sehr hoch, Armut weit verbreitet (vgl. Güvenç 2004: 31). Auch Can und Ferda wachsen mit vielen Geschwistern auf, Ferdas Vater ist dreimal verheiratet, seine erste Frau und deren Kind sterben, mit der zweiten Frau, Ferdas Mutter, hat er vier Kinder. Später heiratet er eine weitere, jüngere Frau und bekommt mit ihr noch einmal 4 Kinder. Während Can die Grundschule besucht, erhält Ferda keine schulische Ausbildung, den Koranunterricht ausgenommen. Lange bevor die Verbreitung staatlicher Schulen vorangetrieben wird, gibt es die medreses – religiöse Schulen, betrieben von lokalen şeyhs, die das Studium des Qur`an vermitteln.2 Die medreses bleiben auch nach der Einführung der staatlichen Einheitsschulen von Bedeutung, der Unterricht wird oft in Ergänzung zur Standardbildung wahrgenommen, aber teilweise auch anstelle einer solchen (vgl. Özgür 2012: 26ff).3 Ferdas Brüder besuchen alle die Schule, aber für Mädchen ist es noch nicht verbreitet, am Schulunterricht teilzunehmen. Ähnlich wie Ferda bleiben verschiedene Segmente der Bevölkerung aufgrund ihrer Zugehörigkeit (Klasse, Geschlecht, Religion, Ethnizität) von einer allgemeinen, schulischen Bildung ausgeschlossen. Während 1927 11% alphabetisiert sind, wächst die Rate 1935 auf 20.4% und bis 1981 auf 69% (Gök 2007: 249). Ferda lernt Lesen und Schreiben als Erwachsene in Deutschland, indem sie es sich selbst beibringt. Die Familie Imren zählt sich zur Gruppe der Pontosgriechen, deren Sprachraum entlang der Schwarzmeerküste verläuft. Bis heute kommunizieren die erste und zweite Generation zum Teil in dem für diese Gruppe charakteristischen pontischen Griechisch.4 Bereits im Altertum kamen ihre vermutlichen Vorfahren in die historisch als Pontos5 bezeichnete Region, mit dem Bevölkerungsaustausch 1923 zwischen Griechenland und der Türkei wurden viele Pontosgriechen ver2

Medrese ist die türkische Transliteration der arabischen madrasa oder madrasah. Weiterführende Literatur zur Geschichte der Medreses in der Türkei siehe auch Bahattin Akşit (1991): „Islamic Education in Turkey: Medrese Reform in the Late Ottoman Times and Imam-Hatip Schools in the Republic“.

3

„Zu den beachtlichsten und nachhaltigsten Leistungen der Republik gehört der Aufbau eines allgemeinen, breiten und tief gegliederten Schulwesens. Die Verfassung garantiert eine kostenlose Elementarbildung.“ (Kreiser/Neumann 2008: 419)

4 5

(https://de.wikipedia.org/wiki/Pontosgriechen 26.02.2016) Der Name Pontos leitet sich von der antiken Bezeichnung für das Schwarze Meer Pontos Euxeinos ab. (https://de.wikipedia.org/wiki/Pontosgriechen 26.02.2016)

Im türkischen Dorf | 83

trieben (vgl. Günay 2012: 132ff.). Mit dem aufkommenden Ideal des Nationalstaates wird die ethnisch kulturelle Vielfalt im früheren Osmanischen Reich zunehmend als Problem betrachtet. Im Fall der Pontosgriechen wird allerdings die religiöse Zugehörigkeit als entscheidendes Merkmal erhoben, Christen müssen nach Griechenland übersiedeln, Muslime dürfen bleiben. Auch die Imrens gehören dem muslimischen Teil der Gruppe an, die türkische Namen angenommen haben und nur noch an der Sprache als Pontosgriechen zu erkennen sind.6 Im Dorf sprechen alle Pontosgriechisch, aber Ferdas Tochter Maral erzählt, dass ihre Großeltern auch sehr gut Türkisch gesprochen hätten. Interessanterweise wird diese Zweisprachigkeit nur nebenbei erwähnt und nicht besonders hervorgehoben. Die Haushalte im Dorf sind, wie in weiten Teilen Anatoliens, generationsübergreifend organisiert. Schiffauer beschreibt die Familien eines vergleichbaren Dorfes in „Die Migranten aus Subay“ (1991) als „wirtschaftliche, soziale und politische Einheiten“.7 Cans Familie lebt von der Landwirtschaft, und er muss von klein auf mithelfen. Zu dieser Zeit ist die technologische Entwicklung in der Agrikultur noch nicht weit entwickelt, dementsprechend ist die Mitarbeit vieler gefordert (Shorter 2000: 103). Ferdas Familie betreibt Landwirtschaft, aber darüber hinaus ist ihr Vater 30 Jahre lang Bürgermeister (muhtar) der Gemeinde. Seine Enkelinnen beschreiben ihn als gebildeten Mann, der eine Bibliothek besitzt und andere Länder bereist. Die Position des muhtars hat einen hohen Status im Ort, von ihm werden Regierungs-, Kontroll- und Repräsentationsaufgaben erwartet. Er kennt alle Bewohner und wird mit offiziellen Aufgaben betraut (Behar 2003: 160). Can lernt während seines Militärdienstes den Beruf des Imkers, den er danach auch ausübt. Die Ehe von Ferda und Can wird von den Eltern arrangiert, die beiden kennen sich bis dahin nicht, nur ihre Familien sind miteinander bekannt. Als sie heiraten ist Can fast 20 und Ferda 17 Jahre alt. Entsprechend der Tradition zieht Ferda nun bei Cans Familie ein und arbeitet dort mit, es gibt in der Landwirtschaft immer viel zu tun. Zwei Jahre nach der Hochzeit wird die

6

Die pontische Sprache basiert auf der attischen griechischen Sprache, enthält aber auch Elemente von Byzantinisch-Griechisch, Türkisch, Persisch und kaukasischen Sprachen. Heute ist die Sprache der UNESCO zufolge vom Aussterben bedroht. (https://de.wikipedia.org/wiki/Pontische_Sprache 26.02.2016)

7

„[...] Wirtschaftseinheiten, weil in den Haushalten gemeinsam produziert und konsumiert wird; soziale Einheiten, weil die soziale Absicherung nur durch die Familie verbürgt ist; politische Einheiten, weil nur die Solidarität der Haushaltsangehörigen angesichts der relativ abgelegenen Lage des Dorfes die Rechtssicherheit und den politischen Status des einzelnen gewährleistet“ (Schiffauer 1991: 34).

84 | Migration, Bildung und Familie

erste von drei Töchtern – Feza – geboren, es folgen 1965 Maral, 1966 Elif und 1968 dann Fatih, das vierte und letzte Kind der beiden. Eigentlich ist die Familie mit der Landwirtschaft versorgt, aber der Vater von Can verliert beim Glücksspiel viel Geld. Möglicherweise ist das einer der Gründe für die Entscheidung, nach Südostanatolien zu gehen. 1965 siedelt die Großfamilie jedenfalls im Rahmen einer staatlichen Initiative um, in eine bis dahin hauptsächlich von Kurden besiedelte Gegend. Im Gegensatz zur waldig, grünen Umgebung ihres früheren Dorfs ist die Landschaft hier eher karg, die Siedlung liegt in einer weiten Ebene etwa 20 km von der iranischen Grenze entfernt im Osten der Türkei. Auch hier lebt die Familie von der Landwirtschaft, sie bauen Getreide an (hauptsächlich Mais) und halten Kühe und Schafe. Die Türkei bietet zu dieser Zeit wirtschaftlich und politisch wenig Sicherheit, Armut ist gerade in den ländlichen Regionen verbreitet, eine Situation in der das 1961 mit der Bundesrepublik Deutschland geschlossene Anwerbeabkommen als aussichtsreiche Perspektive angenommen wird.8 Es initiiert eine enorme Migrationsbewegung, aus vielfältigen Gründen entscheiden sich Menschen in der prosperierenden BRD temporär als sogenannte „Gastarbeiter“ zu bleiben. Zu Beginn sind die Zahlen der Auswanderer noch sehr überschaubar, es folgen hauptsächlich gut ausgebildete Männer aus höher entwickelten Regionen der Anfrage. Aber die Entwicklung setzt sich weiter fort, und in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre kommt der Hauptteil der Migranten aus ruralen Gebieten (Kaya 2005: 188). In Anatolien kursieren nun nicht mehr nur Mythen über Istanbul, das mit Gold gepflastert sei, auch deutsche Orte verheißen Wohlstand und Aufstieg (vgl. Goddar/Huneke 2011). Can und Ferda erfahren von dieser Möglichkeit aus ihrem Umfeld, und sie erhoffen sich, wie viele andere, eine Chance, ihre gegenwärtige Lage zu verbessern. Ihr Sohn Fatih beschreibt die Entscheidungsfindung in ihrer Ambivalenz. „Ihre Zeit war ne schwierige Zeit, sie sind ja alle in ärmlichsten Verhältnissen aufgewachsen, sie mussten auch als Kind schon arbeiten, mithelfen, damit die Familie sich auch halbwegs ernähren kann, und da bot sich natürlich die Chance, dass man im Ausland mal für ein zwei Jahre eigenes Geld verdienen konnte, und dann sich das alles erarbeiten konnte, was man sich erträumt hat, alles. Jeder hat ja Träume, irgendwelche Träume, die er er8

Am 30. Oktober 1961 wurde das bilaterale Abkommen „zur Regelung der Vermittlung türkischer Arbeitnehmer“ zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Türkei geschlossen (bpb 2011). Auch mit den Niederlanden, Belgien und Österreich (1964), Frankreich (1965), Schweden (1967), der Schweiz (1971), Dänemark (1973) und Norwegen (1981) wurden vergleichbare Abkommen geschlossen (Bozkurt 2009:32).

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füllen möchte. Das war wahrscheinlich der Ansporn für sie, warum sie auch hierhergekommen sind. Normalerweise verlässt ja kein Mensch seine gewohnte Umgebung und sagt „Ich möchte dort leben.“ also das macht ja keiner freiwillig. Das ist ja auch ’n gewisser Buschfunk, hören und sagen, da sind ja die ersten, die hierher ((nach Deutschland)) gekommen sind, die sind dann zurück gekommen und haben sich dann groß ((getan)) (lacht) sagen wir mal sind wie Protz aufgetreten und haben das Paradies auf Erden gesehen und haben dann erzählt, und jeder wollte dann natürlich werden wie die. „Wenn er das geschafft hat, dann schaff ich das ja auch.“ (Interview Fatih)

Während also die Lebenssituation, die tägliche Arbeit in der Landwirtschaft, wenig Entwicklungspotenzial zu bergen scheint, kommen die Berichte der Auswanderer zurückgeflattert, das „Paradies auf Erden“ wird ausgemalt, es wird geprotzt, wie Fatih es in der Rückblende beschreibt, aber die überzeichneten Erfolgsstories hinterlassen doch Eindruck. Sollte man die Chance, die sich hier bietet, verpassen? Wäre es nicht ein Fehler, an Ort und Stelle im vertrauten Alltag zu bleiben und so weiter zu machen wie bisher? So ähnlich mögen sich die Überlegungen zu der Zeit entwickeln, und je mehr Menschen den Schritt wagen, desto mehr Raum nimmt die Idee des Auswanderns ein. Während 1961 6.800 Türken in die BRD ziehen, sind es 1964 85.200 und 1966 bereits 161.000 (Spohn 2002: 133). 1968, drei Jahre nach der Umsiedlung, verlässt auch Can gemeinsam mit seinem Bruder und weiteren Dorfbewohnern die Familie, um in Deutschland zu arbeiten. Dieser Schritt ist erst einmal vorgesehen für einen begrenzten Zeitraum, die finanzielle Entlohnung soll den Aufstieg in der Türkei z.B. mit einem Immobilienerwerb ein besseres, komfortableres Leben ermöglichen. Die Entscheidung erscheint in diesem Sinne als Ergebnis rationalen Verhandelns, eine Ausrichtung, die auch Schiffauer in seiner Studie über die erste Generation der Migranten beschreibt. „Es war eine Entscheidung, in der sich die reine Zweckrationalität gegen alle Bedenken – Ängste vor der neuen Situation, Trennung, Sorge vor Unbequemlichkeit, – durchsetzte: Mit der Entscheidung, ins Ausland zu gehen, verbanden die meisten nichts anderes, als ihre Arbeitskraft an denjenigen zu verkaufen, der das meiste bot [...].“ (Schiffauer 1991: 92)

Mit der gestiegenen Nachfrage an Arbeitskräften in Deutschland und dem in Gang gesetzten Prozess wird gleichsam das Konzept der Arbeit transformiert, weg von bisherigen Einlassungen in Tradition und Gemeinschaft hin zu einem Produkt der freien Marktwirtschaft (vgl. ebd.: 91). Arbeiten, um eine Grundlage an Kapital zu verdienen, damit der Aufstieg möglich ist, dieses klar abgesteckte

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Projekt erweist sich allerdings als nicht ganz berechenbar. Bei Can und vielen anderen Migranten stellt sich diese Vorstellung als „Rückkehrmythos“ (vgl. Hunn 2005) heraus. Abbildung 3: Übersicht, Migration in drei Schritten - von 1968 – 1978

1. Migration – 1968 Can emigriert gemeinsam mit anderen Dorfbewohnern nach Deutschland.

2. Migration – 1972 Ferda folgt mit den beiden jüngeren Kindern Elif und Fatih ihrem Mann.

Remigration 1973 – Die beiden Kinder werden zu ihren Geschwistern zurückgeschickt als die Mutter zu arbeiten beginnt.

3. Migration – 1978 Die vier Kinder verlassen das Dorf und die Großeltern und ziehen zu ihren Eltern in die deutsche Großstadt.

Nach fünf Jahren (1972) hat sich der Schritt in die fremde Umgebung noch nicht in erhoffter Weise ausgezahlt. Nun folgt Ferda mit den beiden jüngeren Kindern ihrem Mann nach Deutschland. Nach Jahren der Trennung werden die beiden wieder zusammen sein, Ferda kann ihren Ehemann in der Verfolgung der familiären Ziele unterstützen. Nach einem Jahr findet auch sie Arbeit, und die Kinder werden zurück ins Dorf zu ihren Geschwistern geschickt. Mit der Migrationsentscheidung endet also für die jungen Eltern das vertraute Dorfleben, und sie schlagen ein neues Kapitel auf.

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4.2 ZWEITE GENERATION Während die Eltern in Berlin leben, bleiben die vier Kinder bis 1978 bei ihren Großeltern und weiteren Verwandten im Dorf. Auch Cenk, Ali und Muhammet, die späteren Schwiegersöhne, werden in der Türkei geboren. Die Eltern von Cenk und Muhammet gehen ebenfalls zunächst ohne die Kinder nach Deutschland, und auch hier bleiben die Kinder bei Großeltern oder anderen Verwandten in ländlicher Umgebung. Das Leben der Kinder im Dorf ist eingelassen in die Großfamilie, den vertrauten Alltag, den Rhythmus der Jahreszeiten und wiederkehrenden Rituale. Ein Netzwerk aus Großeltern, Verwandten und Nachbarn kann die Kinder versorgen, aber schon früh wird ihnen auch Verantwortung übertragen, und sie beteiligen sich an den anfallenden Arbeiten. Die Kinder helfen im Haus, mit den Tieren oder bei anderen Aufgaben in der Landwirtschaft mit. Gleichzeitig erleben sie diese Zeit als sehr frei, sie bewegen sich ungezwungen und sind viel draußen. Die älteste Schwester Feza erzählt mir von den verschiedenen Nuancen der Kindheit im Dorf. „‚Das ist nur ein hässliches Dorf, im Winter hat der Wind das Dach abgerissen. Und im Sommer waren die Farben gelb und grün, so schön. Und wir haben gespielt wie die Verrückten.‘ [...] Auch die Nachbarn kümmerten sich um sie und fuhren extra in die Stadt, wenn sie etwas brauchten. Sie arbeiteten viel, aber spielten auch sehr viel und waren sehr glücklich.“ (Feldtagebuch 26.09.2012)

Die Gespräche mit Feza und den anderen Familienmitgliedern vermitteln mir den Eindruck eines Alltags ohne besonderen Komfort, aber in engem Bezug zu Gemeinschaft und Natur. Die Kinder sind in Pflichten eingebunden, aber sie können sich auch mit Gleichaltrigen zusammenschließen und ihren Interessen nachgehen, ohne sich überall von Erwachsenen kontrolliert zu fühlen. Die dörfliche Topografie bietet Vertrautheit und damit auch einen gewissen Bewegungsradius, in dem die Kinder spielen, erfahren und lernen können. Muhammet hebt in seiner Erinnerung an die Kindheit im Dorf besonders den Freiheitsaspekt hervor. „Das war alles freie Wirtschaft, ganz schön. [...] Die ganzen Ferien lang gehörte das ganze Dorf dir, und wenn du Lust hast, machst du Hausaufgaben. (Klatscht mit den Händen auf die Schenkel). Die haben mich immer gefragt, ob ich Hausaufgaben gemacht habe, ich war klein. Dann bin ich mal da hingerannt, mal da gerannt, war alles frei. War schön. Kein Verkehr, nix. Nur ein, zwei Autos damals. Mit den Dorfbewohnern waren wir befreundet, war ein ganz anderes Leben gewesen, ganz schön. Alles ruhig, nicht wie hier. (Lacht) [...]

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Wir sind einfach mit paar Jungs immer in die Wälder gegangen, Berge, hochgeklettert. War schön alles. Wir haben immer gegenseitig aufgepasst. Und die Sommerzeit war ganz anders. Wir sind immer schwimmen gegangen, Meer, [...] war nicht so weit weg. I: Also deine Kindheit war schon so [...] sorglos? IP: Ich hatte keine Sorgen, nix. [...] Ja. Das war so schön also, ich möchte gerne nochmal Kind werden. Es war alles frei.“ (Interview Muhammet)

Hier werden bereits die Kontraste von Gegenwart und Vergangenheit, Stadt und Land angedeutet. Das Dorf erscheint in der Erinnerung idyllisch, ohne viel Verkehr, ruhiger und vor allem frei. Zwar achten die Verwandten darauf, dass die Hausaufgaben gemacht sind, aber sonst gibt es wenig Verpflichtungen, die Kinder können eintauchen in die sie umgebende Welt. Ein solches Aufwachsen ist neben dem schulischen Alltag geprägt durch die Möglichkeiten, sich auf eigene Faust die lebensweltlichen Phänomene anzueignen, durch Spiel, Beobachtung, berühren, sammeln und erkunden. Das kindliche Tun wird dabei nicht von Erwachsenen angeleitet, es findet seinen Raum eher in der Gruppe mit anderen Kindern, die auch füreinander Verantwortung tragen lernen. In der Übernahme von Aufgaben für die Gemeinschaft liegt eine weitere Möglichkeit der Aneignung von Fähigkeiten, Wissen und Erfahrung. Feza lernt beispielsweise von ihren Großeltern Brot zu backen, beim ersten Mal misslingt es ihr, aber sie darf diese Arbeit weiter ausführen und kann so für ihre und die benachbarte Familie diesen wichtigen Bestandteil aller Mahlzeiten herstellen. Lern- und Erfahrungsprozesse sind im dörflichen Raum zwar strukturiert, aber während in der Schule, im Koranunterricht und auch in der Interaktion mit Großeltern und Verwandten Wissen, Traditionen und Kulturtechniken weitergegeben werden, gibt es auch Bereiche, in denen die Kinder ohne Vorgaben von Erwachsenen interagieren. Während Ferda und Can im Dorf noch kein umfassender Zugang zu Schulbildung offen stand, haben ihre Kinder die Möglichkeit, eine Grundschule zu besuchen. In der zweiten Generation unterscheiden sich die Bildungswege allerdings erheblich, je nachdem in welchem Alter die Migration nach Deutschland stattfindet. Die Jüngeren besuchen nur teilweise eine türkische Grundschule oder kommen sogar bereits im Kindergartenalter nach Deutschland. Die Älteren absolvieren ihre gesamte Grundschulzeit in der Dorfschule. Die Eltern und Großeltern wünschen sich auch für ihre Töchter eine weiterführende, schulische Ausbildung, aber im Dorf gibt es nur eine Grundschule, und die Möglichkeit, zur Sekundarschule in die nächste größere Stadt zu gehen, erscheint nicht realisierbar.9 Diese Situation schränkt besonders die beiden älteren Mädchen ein, die 9

Die Möglichkeit, eine weiterführende Schule zu besuchen, kann als wichtiges Migrationsmotiv eingeordnet werden.

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nach dem Ende der Grundschulzeit auf eine Fortsetzung ihrer Ausbildung warten. So beschreibt es Feza innerhalb ihres biografischen Narratives: „Und dann, nach der fünften Klasse10, dann hat mein Opa zu mir gesagt-, mein Opa mochte sehr gern, dass wir studieren, aber in unserem Dorf war nur eine Grundschule, zur Oberschule müssten wir 1 1/2 Stunden mit dem Bus fahren.11 Die Lehrer haben gesagt ‚Sie können studieren, schickt die Kinder.‘ aber Opa hat gesagt ‚Ich bin zu alt. Ich kann die Kinder nicht alleine lassen, ich muss auch in die Großstadt ziehen und das kann ich nicht aushalten.‘ er hat uns immer gebeten, ‚Bitte wartet bis die Eltern kommen.‘ er hat immer gedacht ‚Die kommen nächstes Jahr, die kommen bestimmt nächstes Jahr.‘ Und wir haben immer auch gedacht, die kommen nächstes Jahr. Aber es hat nie geklappt. Und dann e::, deswegen haben wir auch nicht studiert, wir konnten nicht studieren, weil wir haben immer gedacht, nächstes Jahr, nächstes Jahr.“ (Interview Feza)

Die Lehrerin rät dem Großvater die Mädchen auf eine weiterführende Schule zu schicken, aber die täglichen Arbeiten in der Landwirtschaft fordern ihn, er wird älter, sein Gesundheitszustand verschlechtert sich und er kann den Mädchen diesen Schritt nicht ermöglichen. Zudem hofft er und auch die übrige Familie darauf, dass die Eltern bald zurückkehren. Immer wieder vertröstet er die Kinder, sie kämen nächstes Jahr, aber der Rückkehrplan wird nicht realisiert. Als Alternative beginnt Feza, die älteste Tochter, eine Handarbeitsausbildung, sie lernt Teppiche zu knüpfen, und der Großvater versucht, sie zusätzlich, zuhause zu unterrichten. Feza ist bereits 10 Jahre alt, als ihre Mutter dem Vater nach Berlin folgt, nach der fünfjährigen Grundschule fehlt es weder ihr an Motivation noch ihrem Umfeld an Zutrauen, aber seit der Migration der Eltern erscheint es schwierig, zu planen und eine klare Zukunftsperspektive zu entwickeln. Sobald die Eltern zurückkehren, könnten sie sich um die weitere Ausbildung der Kinder kümmern, aber in der gegenwärtigen Situation wird dieses Thema aufgeschoben. Unter Abwägung der verfügbaren Ressourcen im dörflichen Raum entwickeln die dort verbliebenen Akteure eine Alternative, so zum Beispiel in Ferdas Fall die Handarbeitsausbildung.

10 Bis 1997 sind Kinder in der Türkei fünf Jahre lang schulpflichtig, mit der Schulreform wird eine Verlängerung auf acht Jahre durchgesetzt. Auf die fünfjährige Grundschule folgt von da an die dreijährige Mittelschule. (Vgl. http://www.lehrer-info.net/kom petenz-portal.php/cat/17/aid/75/title/Schulsystem_Tuerkei. Stand: 17.02.2016) 11 Der Begriff „Studieren“ wird in der 1. und 2. Generation teilweise synonym mit einer weiterführenden Ausbildung auch im Sinne von schulischer Ausbildung verwendet.

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Auch die schulische Ausbildung des späteren Schwiegersohns Muhammet wird durch die Migration(en) seiner Eltern erschwert, in seinem Fall ist es das Pendeln zwischen der Türkei und Deutschland, das immer wieder zu Unterbrechungen führt. „Meine Eltern haben immer keine Zeit gehabt, ne. Weil die immer ausgewandert sind in die Türkei, wieder zurück nach Deutschland, wieder zurück nach Türkei, zwei-, dreimal, das sind ja viele lange Wege.“ Interview Muhammet) 1972 gehen der Vater und dessen zweite Frau12 nach Deutschland, Muhammet und seine Schwester bleiben bei Verwandten auf dem Dorf, und er besucht bis zum zehnten Lebensjahr die Grundschule. Dann holen ihn seine Eltern nach Deutschland, kehren aber nach zwei Jahren wieder mit ihm in die Türkei zurück. Dort begibt er sich in die Lehre bei einem KFZ-Mechaniker und führt sie sechs Jahre lang fort, bis seine Eltern ihn 1980 wieder nach Deutschland holen, wo seine Berufsausbildung jedoch nicht offiziell anerkannt wird.

4.3 GETRENNT VON DEN ELTERN Die Trennung von den Eltern ist ein zentrales Thema in der Familie, das für die Familie einen Einschnitt bedeutet und teilweise bis heute nachwirkt. Das Phänomen der zeitweisen Trennung von Familien als Phase der Kettenmigration ist absolut nicht als Einzelfall zu betrachten, es findet vielmehr in unterschiedlichen Konstellationen von Migrationsbewegungen weltweit ständig statt (vgl. Geisen 2014: 173). Obwohl viele Familien im Verlauf ihrer Migration Trennungserfahrungen machen, ist dieses Thema von der wissenschaftlichen Forschung bislang wenig beachtet worden. Diese Lücke moniert auch Hajji (2009), der davon ausgeht, dass von den im Zuge der Gastarbeiteranwerbung nach Deutschland eingewanderten Kindern etwa 70% vorher von den Eltern getrennt waren.13 Mit der Auswanderung der Eltern beginnt ein neuer Abschnitt in der Familie Imren, das gewohnte Leben verändert sich auf unbestimmte Zeit, und die Kinder lernen, sich in dieser Situation zurechtzufinden. Besonders die älteren Schwes-

12 Mutter und Vater lassen sich scheiden, als Muhammet vier Jahre alt ist. Von da an lebt er beim Vater und hat bis ins Erwachsenenalter keinen Kontakt zur Mutter. 13 Auch bei Geisen wird auf dieses Forschungsdefizit hingewiesen: „Allerdings ist dieser Aspekt ((Auswirkung der Trennungssituation)) von familialen Migrationsprozessen bislang noch wenig als eigenständiges Migrationsphänomen untersucht worden. Dies gilt auch für die Frage nach den Auswirkungen von Trennungssituationen und multilokalen Familienkonstellationen auf intergenerationale Transmissionsprozesse.“ (Geisen 2014: 173)

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tern Feza und Maral, die von Anfang an im Dorf bleiben, beschreiben eindrücklich ihre kindliche Perspektive. Feza versteht mit zehn Jahren die Beweggründe, dass erst der Vater und dann die Mutter mit den beiden jüngeren Geschwistern weggehen und versucht, auch Maral zu trösten. Ihre Erinnerungen an diese Zeit deuten an, dass sie sich zwar damit abfinden, ohne Mutter und Vater zu sein, aber gleichzeitig wird es als Entbehrung betrachtet, als Verlust. „Und danach, [...], meine Großmutter und mein Großvater, sie haben uns genug Liebe gegeben, aber das war vielleicht nicht genug für mich. Weil es hat da immer was gefehlt, diese Mutterliebe oder diese Vaterliebe, weil in diesem Dorf hatten ja alle Eltern, und wir waren die einzigen, die keine Eltern hatten, das war natürlich nicht schön.“ (Interview Maral)

Eltern zu haben wird als Normalität beschrieben, von der die Kinder nun abweichen. Und der Eltern-Kind-Beziehung wird eine spezifische, emotionale Qualität zugeschrieben, die auch die sehr enge Bindung zu den Großeltern nicht ersetzen kann. „Mutter- oder Vaterliebe“, werden von Maral gewissermaßen als eine spezifische Form der Liebe begriffen, eine Zuneigung, die sie nun im Alltag nicht mehr von diesen beiden Personen erfährt. Ein Jahr, nachdem die Mutter mit den jüngeren Geschwistern abgereist ist, kommen die beiden Kleinen, Elif und Fatih zurück ins Dorf. Wieder erleben die älteren Mädchen eine Umstellung, und die Erzählung ihrer Reaktion deutet an, wie instabil sie ihre Situation erleben. „Also Fatih war e:: fünf Jahre alt und Elif war sechs. Da sind die zurückgekommen. Und das war das Schlimmste noch dazu, weil wir hatten gelernt, allein zu leben und dann kamen die beiden noch dazu, also das war für uns wieder ein Katastrophe, ne. Maral hat gesagt ‚Warum haben die wieder die Kinder geschickt, wir haben jetzt gelernt, allein zu leben Abla.‘ Sie ((Maral)) hat mich immer große Schwester genannt. ‚Und jetzt sollen wir auf die beiden noch aufpassen.‘ Das war auch ein bisschen schwer. Dann waren noch zwei Geschwister da, das war auch eine Last ne, denn wir müssen auf die aufpassen [...]. Erstmal mussten die Kinder zu uns gehören, zu uns, zur Umgebung, alles war für sie schlimm. Die wollten nicht schlafen, erstmal, bis sie es gelernt haben. Das hat auch ein, zwei Jahre gedauert, aber danach waren sie auch bestimmt sehr glücklich.“ (Interview Feza)

Feza erinnert sich in dieser Passage an ihre damalige Perspektive, wie sie schrittweise lernen, ohne die Eltern zu leben, und nachdem etwas Stabilität gewonnen ist, die plötzliche Verantwortung für die jüngeren Geschwister zugemutet zu bekommen. Die beiden Jüngeren müssen sich nach ihrem zweijährigen Aufenthalt in Berlin an eine neue Situation gewöhnen, und ihre Schwestern sol-

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len sie unterstützen. Diese Rolle zu übernehmen entspricht nicht unbedingt dem eigenen Bedürfnis nach Stabilität und möglicherweise auch Abgrenzung vom Thema der Trennung, aber die Mädchen verweigern sich dem nicht. Die familiäre Vertrautheit ist mit der räumlichen Trennung gewichen, die Geschwister müssen erst wieder „zueinander gehören“, obgleich hier die Selbstverständlichkeit familiärer Nähe zeitweise abhanden gekommen ist, trägt das Familiensystem aber weiterhin. Das Leben im Dorf ohne Mutter und Vater wird von den Geschwistern unterschiedlich beschrieben, Elif greift die Zeit ohne Eltern als anders sein auf. „Ich hatte nur eins vermisst, alle meine Freunde, die hatten ja ihre Eltern, dieses Wort Mama zu sagen. Das hatte ich vermisst. Ich wollte auch irgendjemanden Mama nennen, aber ansonsten so richtig Eltern vermisst, nicht wirklich. Nur dieses Wort wollte ich auch irgendwie sagen, Mama.“ (Interview Elif)

Wie Maral hebt Elif den Vergleich zu den anderen Kindern hervor, sie können jemanden „Mama“ nennen, haben diese Bezugsperson, die bei den ImrenKindern fehlt. Während ihre Schwestern als Teil der Erfahrung auch ein emotionales Vakuum beschreiben, tritt in Elifs Narration noch prägnanter das Abweichen von der Normalität in den Vordergrund. Sie verneint die Distanz auf emotionaler Ebene als „vermissen“ erlebt zu haben, aber in der kommunikativen Praxis, beim Benennen der zentralen Komponenten des Alltagslebens fehlt ein Element (Mama). Innerhalb des türkischen Dorfs ist die normative Kindheit an die Anwesenheit der Eltern geknüpft, eine Vorstellung, die in der Gegenwart weiter besteht und an Bedeutung gewonnen hat. Ann Phoenix (2009), deutet darauf hin, dass Bindungstheorien in vielen Gesellschaften verbreitet sind und hier davon ausgegangen wird, dass die Anwesenheit möglichst beider Eltern ohne längere Trennung zentral für das psychologische Wohlergehen des Kindes ist. Eine Kindheit in Abwesenheit der Eltern wird als problematisch und möglicherweise traumatisch betrachtet und damit das Ideal einer eng verbundenen (psychisch und physisch) Kernfamilie bestätigt (vgl. Phoenix 2009: 267, 271). Meine Gesprächspartner müssen in ihren biografischen Narrativen also nicht nur ihren eigenen Zugang zu den Trennungserfahrungen finden, der für sie mehr oder weniger einschneidend war, sie werden ebenfalls mit einer gegensätzlichen Normativität konfrontiert. Wenngleich vergleichbare Trennungserfahrungen verbreitet sind, gelten sie als nicht normativ, als Problem, als Abweichung vom Ideal der Familie. In der familiären und individuellen Biografie werden unterschiedliche Wege gefunden, die eigenen Erfahrungen entgegen dieser Grenzziehungen zu konstruieren, als „lebenswert“ und nicht als defizitär.

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Zwischen 1972 und 1978 kommen die Eltern dreimal zu Besuch und besonders Feza und Maral erinnern sich, dass es schwer fällt, auf die ungewohnte Anwesenheit der Eltern einzugehen. „Feza und Maral fürchten die Abschiede, wenn ihre Mutter weint, und als sie das letzte Mal kommen sagt Feza: ‚Warum kommt ihr überhaupt, wenn ihr uns dann immer wieder alleine lasst?‘ Es ist schwer zu verstehen für die Kinder, dass sie für einige Wochen Eltern haben und dann wieder nicht.“ (Feldtagebuch 20.09.2012)

Für die erste Migrantengeneration wirken sich Globalisierungsentwicklungen noch nicht umfassend spürbar aus, die Räume des türkischen Dorfs und der deutschen Stadt sind noch nicht wie in der heutigen Form durch Technologie, Transport und Medien verbunden. Familiäre Interaktion und Kommunikation sind erschwert, und diese Situation generiert Distanz. „Urlaub? Die haben jede fünf Jahre oder vier Jahre Urlaub gemacht. Das war einen Monat Urlaub, was denkst du? Ein Monat bringt nichts. Sowieso, du kennst deine Eltern nicht, und auf einmal hast du Eltern. Zum Beispiel konnte sie ((die Schwester)) zu meiner Mama nicht mal Mama sagen. Wir haben Briefe geschrieben an unsere Eltern, wir haben immer gefragt uns gegenseitig ‚Was sollen wir schreiben? Mama? Papa? Oder Name? Was schreiben wir?‘“ (Interview Feza)

Ein weiteres Mal wird hier interessanterweise im Rückblick die Auseinandersetzung mit der Praxis der Benennung „Mama“ thematisiert. Es kann unterschiedliche gedeutet werden: Die Worte Mama und Papa, im Türkischen anne und baba, beziehen sich auf spezifische Rollenerwartungen (z.B. anne kümmert sich um mich, anne ist mir vertraut) – das lange Nachdenken über die passende Benennung der Eltern kann als zögernde Unsicherheit ob der Rollendiskrepanzen interpretiert werden. Weiter können wir uns vorstellen, wie das Wort Mama oder eigentlich anne quasi seine Leichtigkeit verliert, mit der es Kindern sonst von den Lippen geht. Mit dem Lavieren zwischen verschiedenen Benennungen wird vielleicht auch ein Ausdruck für den Zwiespalt der eigenen Mutter und einer idealen Mutterfigur gefunden. Vom Vater ist in diesen Passagen weniger die Rede, was auch darauf zurückzuführen sein könnte, dass die Abwesenheit des Vaters weniger von der Norm abweicht, oder als solche weniger problematisiert wird. Entfremdung von den Eltern, das Fehlen der Beziehung zu den Eltern, das Anderssein im Vergleich mit den Kindern im Dorf, Zweifel – die Trennungserfahrung verändert die Kinder der zweiten Generation und hinterlässt Spuren in de-

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ren Biografien. Einerseits sind an die Migration der Eltern für die Kinder zunächst Aufschiebungen und Grenzen gekoppelt, ihre Abwesenheit schlägt sich auf Möglichkeiten (weiterführende Schule) nieder, sie sind nicht greifbar, um zu unterstützen und Normalität zu gewährleisten. Andererseits können die Kinder auf das Netzwerk im Dorf zurückkommen und finden sich auch ohne die elterliche Anwesenheit zurecht, entwickeln Handlungsalternativen. Trennungsschmerz wird zwar thematisiert, ist aber durch die Gemeinschaft im Dorf deutlich gemildert. Ein Satz der alle Narrative der zweiten Generation verbindet lautet: „Ich hatte eine schöne Kindheit.“ Dieser positive Zugang lässt in den Narrativen auch die Trennung von den Eltern in den Hintergrund treten. Fatih, der als Fünfjähriger nach einem Jahr in Deutschland zurück zu seinen älteren Schwestern ins Dorf kommt, beschreibt auf meine Nachfrage, ob die Trennung für ihn schwierig war, die schnelle Anpassung. „Die schwierige Zeit- Ich kann mich nur an bestimmten Situationen oder Augenblicke erinnern. Das war die Zeit, wie wir hier dann ins Flugzeug eingestiegen sind, abgeflogen sind und dort mit meinem Onkel hingekommen sind. Wo ich dann das erste Mal so ein Dorf und Dorfleben und die Menschen da gesehen habe. Das war alles so grau und dunkel und kalt und schmutzig, aber ich glaube nach ein, zwei Wochen hab ich dann alles vergessen. Ich hab mich dann dermaßen dran gewöhnt. Hab dann auch angefangen, mit den Kindern zu spielen. War genauso dreckig wie die.“ (Interview Fatih)

Entgegen einer Konstruktion von Kindheit in Abhängigkeit von Eltern und deren Zuwendung, ist Fatihs Erinnerung weniger elternzentriert. Vielmehr spricht daraus eine gewisse Unerschütterlichkeit und Anpassungsfähigkeit in Anbetracht sich transformierender Umstände. Auch Cenk, der Mann von Elif, ist noch jung (im Kindergartenalter), als er mit seiner Schwester ohne Eltern in der Türkei bleibt. Im Nachhinein blickt er eher positiv auf diese Phase seiner Kindheit. „War ne schöne Zeit im Dorf. Mein Onkel der ist Lehrer gewesen. [...] Das war herrlich. Also wir haben alles gehabt, was wir wollten als Kinder. Als Kind brauchst du auch nicht viel. Bestimmt n paarmal hat uns das schon gestört, weil die uns- ((zurückgelassen haben)). Also gestört insofern, dass die Eltern nicht dabei waren. Das waren ja doch, glaub ich, knapp zwei Jahre.“ (Interview Cenk)

Sowohl Fatih als auch Cenk thematisieren die Trennung nicht als verunsichernde Erfahrung. Allerdings schließt Cenk vielleicht in innerer Aushandlung mit normativen Vorstellungen von Kindheit, es habe ihn „bestimmt“ gestört, dass die Eltern nicht dabei waren. Dem Narrativ einer freien, unbeschwerten und glückli-

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chen Kindheit scheint gewissermaßen die Abwesenheit der Eltern zu widersprechen. Der impliziten Annahme, es müsse schwierig, wenn nicht sogar traumatisch gewesen sein, wird einerseits widersprochen und andererseits mit Konzessionen begegnet, wenn beispielsweise Cenk annimmt, er habe die Abwesenheit der Eltern als störend empfunden. Während sich für die Eltern mit der Migration alles verändert, bleiben die Kinder eingebettet in die Großfamilie und die dörfliche Alltagsroutine. Von großer Bedeutung sind in dieser Situation die Geschwister, mit denen die Erfahrungen geteilt werden. Innerhalb der zweiten Generation der Imrens besteht zwischen den Geschwistern bis heute ein enger Kontakt. Dieses Verhältnis wird auch in der Interviewsituation deutlich, aus der die nächste Passage stammt. Feza spricht vor dem Interview sehr offen über ihre gegenwärtigen Probleme, und ihre Schwester nimmt die Rolle derjenigen ein, der sie sich anvertrauen kann. Das Gespräch findet bei Maral zuhause statt und verläuft sehr emotional, eine Situation, die einerseits durch die Lebenskrise Fezas, aber andererseits auch ihr Verhältnis zur Vergangenheit hervorgerufen wird. Im Gespräch beginnt Feza mehrmals zu weinen, eine Situation, die mich in meiner Rolle als Interviewerin verunsichert, mit der Maral jedoch gelassen und humorvoll umgeht. Hier deutet sich das vertraute Verhältnis der Schwestern und ihre gegenseitige Unterstützung durch verschiedene Phasen an, die Feza auch in Bezug auf die Zeit nach der Trennung von den Eltern beschreibt. „Wir waren, wir beide. Es war wirklich schön. Also für Maral war es am Anfang sehr schlimm, weil sie nicht reagieren konnte. Warum meine Eltern hier sind (in Deutschland), also getrennt. Wir haben einen Unterschied von dreieinhalb Jahren, also ich bin dreieinhalb Jahre älter, ich hab verstanden warum, aber sie nicht (weinend). Aber trotz allem haben wir es schnell vergessen. Also wir waren glücklich da. Wir haben allein zu sein akzeptiert. Also diese Geschichte, allein zu sein, ohne Vater, Mama zu leben ist, ist geblieben, aber auf der anderen Seite, das tägliche Leben da war sehr schön. Also, das war wirklich schön.“ (Interview Feza)

Die Erinnerung an die Schönheit des alltäglichen Lebens ist nicht überlagert vom zeitweisen Verlust der Eltern, die Beziehung zur Schwester tritt umso mehr in den Vordergrund. Vielleicht zeigt sich hier auch der Versuch, statt der schmerzhaften Aspekte, die positiven Erfahrungen der eigenen Biografie in den Vordergrund zu stellen. Die Geschwister unterstützen sich gegenseitig, sie sind eine wichtige Konstante und jeder hat die Möglichkeit sich über Sorgen, Erlebnisse und Gefühle auszutauschen. Nicht alle nutzen dieses Verhältnis in derselben Form, aber es wird doch deutlich, dass sich bei allen Mitgliedern der zweiten

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Generation die Geschwister in ihrer Kindheit sehr nahe stehen. Der folgende Abschnitt aus dem Feldtagebuch beschreibt ein Gespräch über die Zeit im Dorf und die Bindung der Schwestern, nicht nur die Ältere wollte demnach die Jüngere behüten. „Feza meint Maral war frech wie ein Junge und wollte sie immer beschützen. Maral sagt, das sei deswegen gewesen, weil sie nur noch Feza hatte und Angst hatte, sie auch noch zu verlieren. Immer wenn ein Junge Feza nur anschaute, zischte Maral ihn an. Die Jungs hatten Angst vor der ‚Polizistin‘. Als im Dorf ein Tanzabend war, zog der Großvater die Mädchen schön an, badete sie und kämmte ihnen die Haare. Maral passte aber genau auf Feza auf, dass ihr nichts passierte.“ (Feldtagebuch 26.09.2012)

4.4 RESÜMEE: MIGRATION ALS EINSCHNITT IN DIE FAMILIENGESCHICHTE Was können wir den mit dem dörflichen Raum verknüpften Biografien, Erinnerungen und Daten entnehmen? Die Familiengeschichte begegnet uns fest in diesem Ort verankert und wenn die individuellen Erzählungen mit Wehmut darauf ansprechen, dann klingt hier nicht nur der Verlust eines Ortes („Heimat“), sondern auch einer Zeit (Kindheit, Jugend) an (vgl. Bozkurt 2009: 113). Die Erinnerungen, die geschilderte Balance zwischen gemeinschaftlicher Verbundenheit und Freiheit im Dorf, können in der Gegenwart wie ein „emotionales Schild“ (ebd.: 135) wirken. Weiterhin lassen sie sich als Versuch verstehen, die eigene Biografie als „lebenswert“ (vgl. Butler 2004) zu entwerfen. Um diese Perspektive nachzuvollziehen, müssen wir gedanklich vorgreifen und uns den Migrationskontext in Deutschland vorstellen, eine Situation, in der viele türkische Gastarbeiter mit Stereotypen konfrontiert werden (vgl. Schiffauer 1991: 347f.) Die gruppenspezifischen Zuschreibungen sind auch mit eindimensionalen Vorstellungen der ländlichen Türkei verbunden, so spricht der Kölner Schriftsteller Selim Özdogan vom „seltsamen Anatolienbild“ in Deutschland. Darin erscheinen der „ostanatolische Bauer“ und die dort herrschende „Rückständigkeit“, aber das anatolische Dorf wird selten als Ort entworfen, mit dem auch lebendig, dynamische Imaginationen verbunden sein können. Aufgrund der marginalisierten Position der türkischen Migranten sind ihre vielfältigen Erfahrungen und Vorstellungen weniger repräsentiert und die Herkunftsorte bleiben lange eher eine Leerstelle, die als Gegenentwurf zum modernen Westen konstruiert wird; arm und bäuerlich, patriarchalisch traditionell, unterentwickelt. Diese Elemente werden in den Beschreibungen der Familie Imren nicht unbedingt negiert, aber das

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Leben im Dorf erscheint lebenswert, obwohl oder gerade weil es anders ist. Mit dem fokussierenden Erinnern an kraftvolle, harmonische Momente wird eine subjektive Version der Lebensgeschichte hervorgehoben und damit Raum eingenommen. Auch wenn die Orte und die Zeit von normativen Vorstellungen abweichen (das Dorf war „dreckig“, die Kinder von den Eltern getrennt) beschreiben meine Gesprächspartner ihre Kindheit als glückliche Zeit, sie thematisieren zwar stellenweise auch Brüche verknüpft mit der elterlichen Migration, aber sie alle scheinen in der Lage, diese Situation zu kompensieren. Die Ambivalenz und Irritation dieses Nebeneinanders deutet an, dass sich in den biografischen Konstruktionen Umdeutungen und Neuverortungen ausmachen lassen, die sich einer vereinfachenden Einordnung als defizitär widersetzen. Während die erste Generation im klar strukturierten Mikrokosmos des Dorfs aufwächst und auch an Grenzen stößt, haben sich diese Linien in der zweiten Generation bereits verschoben. Ihre Geschlechtszugehörigkeit verstellt Ferda den Zugang zu einer allgemeinen Schulbildung, und sie bleibt vorerst Analphabetin, Can indessen besucht die fünfjährige Grundschule. In der zweiten Generation wird die Schullaufbahn aller Kinder ungeachtet des Geschlechts unterstützt, auch von den Großeltern. Weitere Grenzverschiebungen hängen mit der Migrationsentscheidung der 1. Generation zusammen. Can und Ferda können mit dem Erwachsenwerden ihre Möglichkeiten im dörflichen Raum überschauen und entschließen, aus hauptsächlich wirtschaftlichen Erwägungen das Dorf und die Türkei Richtung Deutschland zu verlassen. Sohn Fatih sieht ein Motiv in den „Träumen“, die jeder habe und nach deren Erfüllung strebe. Was genau diese Träume umfassen – materielle Sicherheit, ein Auto, auszubrechen aus der dörflichen Routine, sozialen Aufstieg und Veränderung – bleibt offen, aber alle diese und weitere Elemente spielen in Zusammenhang mit der Migrationsbewegung nach Deutschland eine Rolle. Ein explizites Ziel ist die Akkumulation einer Kapitalgrundlage, dann nach der Rückkehr in die Türkei Investition in Land oder eine Immobilien und damit ein erweiterter Handlungsspielraum. Die wachsende Auswanderungswelle scheint in der Türkei der 1960er und 1970er Jahre einen Sog zu entwickeln, mit dem Anwerbeabkommen hat sich für viele eine Grenze verschoben, eine Erweiterung, ein neuer Raum eröffnet. Welche neuen Begrenzungen mit der Migration verbunden sind, wird erst in den folgenden Jahrzehnten deutlich. Die zweite Generation ist zu diesem Zeitpunkt noch nicht in der Position, über den Wohnort zu entscheiden. Sie sind Teil des familiären Kollektivs und die Gegebenheiten vor Ort strukturieren ihre Möglichkeiten. Die Mädchen nehmen zwar gleichberechtigt am Schulunterricht teil, gleichzeitig führt gerade die Abwesenheit der migrierten Eltern zur Stagnation der schulischen Bildungslauf-

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bahn. Deren Rückkehr wird immer wieder aufgeschoben, eine Situation, in der Bildungsinvestitionen nicht klar ausgerichtet werden können. Die Ausdehnung einer Phase der räumlichen Trennung, die eigentlich begrenzt sein sollte, wird, je länger sie andauert, zu einer Zerreißprobe für die Familie. Die Trennung von den Eltern und die folgende Neuorientierung lassen sich eindeutig als Familienthema der Imrens identifizieren, wobei sich in der jeweiligen biografischen Bearbeitung ganz unterschiedliche Facetten zeigen. Der zweiten Generation gelingt die Anpassung und Gewöhnung, unterstützend wirken dabei die familiäre Einbettung und die Gemeinschaft mit den Geschwistern. Nach einer Phase der Verunsicherung richtet sich die Aufmerksamkeit der Kinder wieder auf das alltägliche Leben im Dorf, sie erleben eine Kindheit, die eingebettet ist, aber trotzdem viele Freiräume lässt. Die Eltern rücken dabei sehr fern. Wie kann nun zusammenfassend der Bildungsraum Dorf beschrieben werden, welche Formen von Bildung sind hier bedeutsam? In den biografischen Verläufen erscheint die Schule nur als eine nebengeordnete Institution, die zwar mit strukturiert, aber keineswegs zentral erscheint. Die religiöse Bildung ist ein ebenso selbstverständlicher Pfeiler, der die Kinder begleitet (im Fall von Ferda als einzige institutionelle Form der Bildung). In der medrese wird der Qur‘an gelehrt und mit dessen Exegese auch moralisch-religiöse Werte vermittelt. Mit dem Verweis auf Ferdas Vater wird deutlich, dass in der Familie unterschiedliche Arten von Kulturkapital existieren und im Dorfkontext offenbar auch an einen bestimmten Status geknüpft sind. In der Familiengeschichte wird mit der Hervorhebung seiner Person in gewisser Weise ein bildungsbürgerlicher Akzent gesetzt, indem auf das vorhandene kulturelle Kapital in Form der Bibliothek und Reisen hingewiesen wird. Der Vater Ferdas wird von seinen Enkeltöchtern als „gelehrter Mann“ beschrieben, der als langjähriger Bürgermeister auch eine hervorgehobene Stellung im Dorf innehatte. Das hier durchscheinende Bildungskonzept bezieht sich somit auf Wissen, dessen individuelle Aneignung, den damit verknüpften Habitus und – so scheint – es auch den höheren sozialen Status. Eine solche Konstruktion könnte auf Abgrenzung mithilfe des kulturellen Kapitals abzielen, sowohl innerhalb des Dorfes, als auch im deutschen Kontext. Darüber hinaus ist die alltägliche Lebenswelt Gegenstand der Aneignung, sowohl relevante Arbeitspraktiken (Versorgung der Tiere, Brot backen, Teppich knüpfen etc.) als auch das freie Spiel in der Gemeinschaft anderer Kinder nehmen viel Raum ein. Im Kontext des türkischen Dorfes erscheint eine umfangreiche schulische Ausbildung (noch) nicht unbedingt notwendig, solange das hauptsächliche Arbeitsfeld die Landwirtschaft ist. Das notwendige Wissen kann von Generation zu Generation weitergegeben werden, die biografischen Ziele sind eng an der familiären und lokalen Struktur orientiert. Impuls geben dabei

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zum Teil auch die Individuen selbst, sie entwickeln Interessen und formen so ihren Weg, sei es mit der Ausbildung zum Imker bei Can, der Handarbeitsausbildung von Feza oder der Lehre zum KFZ-Mechaniker bei Muhammet.14 Gerade mit Blick auf die zweite Generation kann es hilfreich sein, wenn wir Bildung weiterhin als Transformation begreifen. Die Handlungsspielräume der Kinder und Jugendlichen erscheinen begrenzt, sie sind gewissermaßen den Entscheidungen der Eltern ausgeliefert, wann diese zurückkehren und wie es dann weitergeht, diese Fragen bleiben offen. Die familiäre Krise ist aber ambivalent einzuordnen, denn während sie bestimmte Ressourcen entzieht, bietet sie auch Möglichkeiten des Wandels und der Entwicklung. Die Kindheitsphase ohne Eltern zu gestalten, Selbstständigkeit zu entwickeln trotz des Herausfallens aus dem Rahmen der normativen Familie, einen Sinn für Geborgenheit und Zugehörigkeit zu finden, hier liegen möglicherweise die frühen biografischen Transformationserfahrungen. Begleitet und unterstützt werden diese vom familiären und sozialen Umfeld, hier erfahren die Kinder das Prinzip gegenseitiger Solidarität. Ein zentrales Thema der zweiten Generation ist das „sich gewöhnen“ an neue und nicht selbst gewählte Situationen (vgl. Bozkurt 2009: 118f.)15 Die Trennung hat demnach für die Biografien der Familienmitglieder gleichzeitig be- und entgrenzende Folgen.

14 Muhammet beginnt seine Lehre nicht im türkischen Dorf, sondern in Izmir, wo er nach einem ersten Aufenthalt in Deutschland mit seinen Eltern lebt. Er selbst hat die Idee und schlägt dem Vater vor, hier in die Lehre zu gehen. 15 Bozkurt zitiert einen Interviewpartner der zweiten Generation mit der folgenden Passage, die sich sehr treffend auf die Erfahrungen der Imrens übertragen lässt. „Getting used to ... This can be the motto of my generation... Getting used to the separation from the family, then, after you get used to it, joining the family and getting used to them again [...] we spent our lives like a tennis ball, from one corner to the other... As an adult, you can handle it, but for a child, especially for a child, it is not easy.“ (Bozkurt 2009: 119)

5 Im Arbeiterviertel

Die räumliche Klammer des Arbeiterviertels steht für die erste Zeit nach der Migration und die Folgejahre während derer die zweite Generation nachkommt und langsam erwachsen wird. Für die neu in der Stadt Ankommenden zeichnet das Quartier sich durch günstigen Wohnraum und die Nähe zu Gewerbe und Industrie und damit Arbeitsmöglichkeiten aus. Schon vor dem zweiten Weltkrieg ist der Berliner Wedding ein Arbeiterbezirk1, Unternehmen wie AEG, Osram, Schering haben hier ihren Standort (vgl. Dettmer 1988: 17f.). Seit den 1960er Jahren beginnt sich der Bezirk zu wandeln, ganze Altbauquartiere werden abgerissen, Neubauten entstehen und sollen auch das Image des „Arme-Leute-Bezirks“ verschwinden lassen (vgl. Lefèvre 1990: 244).2 Aber trotz der Erneuerungsbemühungen wirkt die Großstadt hier eher grau und trist (unter anderem auch weil noch vorwiegend mit Kohle geheizt wird). Eigentlich zentral gelegen, ist der Wedding während der deutschen Teilung Grenz- und damit Randbezirk von Westberlin und verliert mit der Verbindung in das angrenzende Mitte, Pankow und Prenzlauer Berg den Verkehr und belebenden Austausch in diese Richtung. Die Wohnung der Imrens liegt direkt an der Bernauer Straße und damit nah der Berliner Mauer, die Gegend ist zu dieser Zeit bestimmt durch ein „katastrophales 1

So beschreibt Mahlich den sogenannten „roten Wedding“, der im 19. Jahrhundert ein Zentrum der Arbeiterbewegung war. „Der Begriff ‚roter Wedding‘ kennzeichnet die dominante politische Orientierung der in diesem Stadtteil lebenden und arbeitenden Bevölkerung, die vorwiegend aus Arbeiterinnen und Arbeitern bestand.“ (Mahlich 1990: 152)

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Als „größtes zusammenhängendes Sanierungsgebiet der Bundesrepublik“ und „ehemaliges Arbeiterwohnquartier“ wird der Wedding 1990 vom Bezirksamt bezeichnet, zu diesem Zeitpunkt hat sich die Bevölkerungszahl seit den 1920er Jahren um die Hälfte verringert – kein Zeichen für die hohe Lebensqualität dieses Stadtteils (vgl. Mahlich 1990).

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Nebeneinander von Leerstand und Brachen sowie abrissreifen Häusern“ und in den sanierungsbedürftigen noch kriegsgezeichneten Mietshäusern, kommen nun die neuen Bewohner aus der Türkei unter (25 Jahre Stadtsanierung: 40 zitiert in: Lefèvre 1990: 110). Im Gegensatz zum Dorf, das im Nachhinein als „emotionales Schild“ in positiver Weise konstruiert wird, taucht das Arbeiterviertel in den Narrativen nicht als identifikativer Ort auf. Bedeutsam ist die Großstadtkulisse im Kontext des Ankommens, die Familie erlebt eine harsche Andersartigkeit, und die Mitglieder haben unterschiedlich starke Anpassungsschwierigkeiten. Während der Zeit im Arbeiterviertel ist die familiäre Perspektive ungeklärt: bleiben oder gehen? Der Wunsch, in die Türkei zurückzukehren, bleibt bestehen, und es kommt in dieser Phase des Familienlebens nicht der Zeitpunkt, an dem eine klare Entscheidung getroffen wird.

5.1 ERSTE GENERATION – ARBEIT UND AUFGESCHOBENE RÜCKKEHR Mit Cans Schritt, Ende der sechziger Jahre gemeinsam mit dem Bruder und anderen Männern aus dem anatolischen Dorf in die deutsche Großstadt zu gehen, beginnt ein neuer Abschnitt in der Familienbiografie der Imrens. Die Veränderung verlangt Neuorientierung in unterschiedlichen Facetten, und ihre Folgen sind nicht von vornherein überschaubar. Der Alltag wird von der Priorität dieser Lebensphase strukturiert – der Arbeit. Die Männer richten sich nicht zum Bleiben ein, sie arbeiten und sparen, schicken das Geld nach Hause an ihre Familie. Der Sohn Fatih zeichnet die damalige Zukunftsperspektive der Eltern folgendermaßen nach: „Meine Eltern sind eigentlich damals nach Deutschland gekommen, in erster Linie um Geld zu verdienen. Also ich glaub, die hatten so weit nicht gedacht damals, die wollten ja nur ein paar Jahre arbeiten, bisschen Geld verdienen und dann in der Türkei, was weiß ich, Stück Land kaufen oder so.“ (Interview Fatih)

Vier Jahre vergehen, dann folgt Ferda Can nach Deutschland, bis dahin ist sein jüngerer Bruder bei ihm gewesen, der kehrt ins Dorf zurück, er hat nicht Fuß fassen können, keine passende Arbeit gefunden. Die folgenden Jahre sind entbehrungsreich, eigentlich geht es in dieser Phase hauptsächlich darum, eine Grundlage für die familiäre Entwicklung zu schaffen, die Gegenwart wird für eine bessere Zukunft in Kauf genommen. Im Rückblick kommentiert Ferda diese

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Situation mit Ernüchterung und vielleicht auch Bitterkeit: „Geprägt durch harte Arbeit und Erziehung der Kinder gab es keine eigene Entwicklung.“ (Interview Ferda) Sie betont mit dieser knappen Bilanz eines längeren Zeitraums ihr Eingebundensein für das familiäre Kollektiv, das auf Kosten einer individuellen Orientierung verlaufen sei. Damit hebt Ferda in ihrer Biografie das Sorgen für andere hervor, ihre Priorität sei es gewesen, Verantwortung zu übernehmen, und die persönlichen Interessen seien dabei nicht zur Geltung gekommen. Ferda und Can sind insofern typisch für die erste Generation der türkischen Arbeitsmigranten, als sie, wie Schiffauer es nachvollzieht, zunächst eine „pragmatisch-instrumentelle Beziehung“ zu ihrer deutschen Umgebung und auch der Arbeit pflegen (Schiffauer 2006: 101). Anfänglich in der Position einer „ethnic under-class“ haben sie weder großen Gestaltungs- noch Verhandlungsspielraum, was die Art der Arbeit und den Lohn betrifft. Immer mit der Rückkehr und den damit verbundenen Visionen von Aufstieg und Transformation als quasi aufgeschobene Entlohnung im Blick, lassen sie sich auf die von den Etablierten größtenteils abgelehnten Jobs ein. Beide Seiten können so vermeintlich ihre Lage verbessern – die Arbeitsmigranten hoffen auf Rückkehr und Aufstieg, und das Einwanderungsland verlagert die Arbeit am unteren Ende der gesellschaftlichen Hierarchie und deren Komplikationen gleichsam nach außen (vgl. ebd: 102).3 Innerhalb der zweiten Generation zeigt sich allerdings in vielen Einwandererfamilien und auch bei den Imrens, dass die Ausdehnung dieser Phase unerwartete Kosten mit sich bringt. Zunächst sind die beiden jüngeren Kinder (Elif und Fatih) mit in der Großstadt, sie besuchen hier sogar den Kindergarten. Aber als sich auch für Ferda die Möglichkeit ergibt zu arbeiten und Elif in die erste Klasse kommen soll, entscheiden die Eltern, die Kinder zurückzuschicken. Es folgen fünf Jahre ohne Kinder, eine Zeit, in der die beiden Anfang Dreißigjährigen in Fabriken mit Schichtbetrieb arbeiten. Später erhält Can die Chance auf eine neue Tätigkeit als Gärtner. So wie die Kinder die Trennung phasenweise als emotionale Belastung beschreiben, ist auch für die Eltern die Situation nicht einfach, wobei sie heute nicht gerne über diese Zeit sprechen, wie Tochter Elif mir gegenüber bemerkt. „Sie erzählt uns zwar nicht viel, aber manchmal erzählt sie, dass sie- Sie hat nächtelang geheult, weil sie so eine Sehnsucht nach uns hatte.“ (Interview Elif) Bis in die Gegenwart scheint das Familienthema der Trennung zu wirken, teilweise als Bereich der Biografie, der besser nicht beleuchtet wird. Während es für die zweite Generation darum geht, die eigene Kindheit trotz der Trennung nicht als defizitär zu betrachten, muss sich die erste Generation mit der eigenen 3

„Anders als Arbeiterprobleme waren Migrantenprobleme zunächst einmal die Probleme „der Anderen“ und nicht die der eigenen Gesellschaft.“ (Schiffauer 2006: 102)

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Verantwortung für diesen Teil der Familiengeschichte auseinandersetzen. Die Position als Eltern und besonders als Mutter gilt es zu entwerfen im Bewusstsein, dass die getrennte Familie von normativen Vorgaben abweicht. Ferda setzt dem nun beispielsweise Erzählungen entgegen, die das eigene Leiden unter der Trennung verdeutlichen, oder auch ihre Verantwortlichkeit für die Versorgung der Familie und den damit verbundenen Verzicht. Eine Phase, die eigentlich nur für einen kürzeren, überschaubaren Zeitraum geplant war, dehnt sich und verändert die Familie. Und die Zielsetzung mit dem erarbeiteten Kapital zurückzukehren und dort das familiäre Projekt weiterzuverfolgen bleibt aus verschiedenen Gründen unerreicht. „[...] das ganze Ersparte, was sie immer in die Heimat geschickt haben, an die engsten Verwandten, das haben die Verwandten schamlos ausgenutzt, so dass sie zum Schluss mit leeren Händen da standen [...]. Diese Beispiele gibt‘s sehr viele, da kannst du jeden fragen, jeder hat bestimmt in der Familie irgendein Erlebnis gehabt, wo er von seinen Verwandten, engsten Verwandten, so richtig betrogen wurde.“ (Interview Fatih)

Der hier von Fatih beschriebene Ablauf deutet an, wie komplex das mit der Migration verbundene Beziehungsnetz (und der Transfer) ist, der Schritt nach Deutschland hat nicht nur bei den Migrierenden selbst Erwartungen geweckt. Für diejenigen, die ins Ausland gegangen sind und sich nun in einem fremden Land behaupten müssen, ist es wichtig, die Verbindung zu Familie und Verwandtschaft aufrecht zu halten. Was sie erarbeiten, behalten sie nicht allein für sich, es kommt dem familiären Netzwerk zugute. Gleichzeitig haben die Verwandten und früheren Nachbarn häufig keine realistische Vorstellung vom Leben derer, die ausgewandert sind. Fatih weist darauf hin, dass diese Entwicklung, während der Ausgewanderte und Zurückgebliebene sukzessive in konträre Positionen geraten, keineswegs ein Einzelfall ist. Dass den Migranten auch in ihren Herkunftsorten die Anerkennung zunehmend verweigert wurde und sie auch hier als die Anderen gelten, wird in der Forschungsliteratur zur türkischen Migration umfassend beschrieben (vgl. Schiffauer 1991 und 2006, Kaya/Kentel 2005, Bozkurt 2009).4 4

Beispielsweise beschreibt Bozkurt eindrücklich den Statusverlust der Migranten der ersten Generation in ihrem Heimatland. „The economic power they achieved is highly appreciated in the homeland, and is used to support not only family members but also the relatives and the fellow townsmen. However, an opposite effect is observed in terms of their social status: ‘They find us ignorant, unmannered, crude peasants. We are great when it comes to pay the bills, but after that we become mountain Turks, crude peasants.‘ [...] As emphasized above, their new financial power is appreciated

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Auch die Familien der späteren Schwiegersöhne Ali, Cenk und Muhammet wohnen in ihrer ersten Zeit in der Großstadt in Arbeitervierteln. Im Feldjournal notiere ich ein Gespräch mit Cenk über die Anfangszeit in Berlin und die damaligen Lebensumstände. „Cenk bestätigt, dass viele Familien in abbruchreifen Häusern in Kreuzberg wohnten. Er erzählt, dass eine bekannte Familie von ihnen in einer Wohnung wohnte, deren Küchenfußboden eingebrochen war. Sie konnten zu ihren Nachbarn nach unten schauen. Viele wohnten auch in Kellern meint Cenk. Seine eigene Familie wohnte in einer 2Zimmerwohnung mit Außenklo in der O.straße[...]“. (Feldtagebuch 11.01.2012)

Die Wohnsituation von Cenks Familie und auch die der Familie Imren ist typisch für erste Phase nach der Arbeitsmigration. Sanierungsbedürftige Altbauten und auch provisorische Sammelunterkünfte sind als Wohnorte für Gastarbeiter vorgesehen, der Wohnraum ist oft sehr beengt und die sanitären Bedingungen unzureichend.5 Die bescheidene Unterbringung wird als vermeintliche Übergangsphase akzeptiert, ebenso wie die wohnräumliche Segregation. Ein unterstützendes Netzwerk muss nach der Migration erst aufgebaut werden, so bleibt die erste Generation anfangs hauptsächlich auf bestehende Kontakte zu anderen Einwanderern und Verwandten in der Heimat angewiesen. Allerdings nicht nur, wie aus dem folgenden Auszug im Feldtagebuch hervorgeht: „Ferda hat durch die Arbeit und das Netzwerk der Heimatkontakte einige Freunde und Bekannte. Bei der Arbeit lernt sie Griechen, Thailänderinnen und Deutsche kennen. Die sprachlichen Barrieren erschweren aber teilweise die Kontakte. Zu den Weihnachtsfeiern geht Ferda nicht, weil sie denkt, dass es sich als Frau nicht gehört, dort alleine hinzugehen und die anderen schlecht von ihr denken könnten. Von Can kommen diese Einschränkungen nicht.“ (Feldtagebuch – Gespräch mit Elif und Maral) and abused by their fellows in Turkey. The expectation that the financial growth will elevate their social status is not met. Emigrants are believed to distance themselves from the homeland not only geographically, but also culturally.“ (Bozkurt 2009: 102, 103) 5

Sandfuchs (1981) fasst die kennzeichnenden Faktoren der Wohnsituation der Arbeitsmigranten zusammen und weist außerdem darauf hin, dass sie „oftmals Wucherpraktiken von Vermietern ausgesetzt“ gewesen seien, sie zudem nur einen kleinen Anteil ihres Verdienstes für die Miete aufzubringen bereit waren und den Rest ansparten, sie „oft konzentriert in bestimmten Häusern oder Wohngebieten“ lebten, damit segregiert waren und der Zugang zu höherwertigen Wohnungen häufig verwehrt wurde (vgl. Sandfuchs 1981: 21f.).

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Ferda und Can sprechen noch wenig Deutsch, und es fehlt ihnen das Wissen über eigene Rechte, Möglichkeiten und Sozialleistungen. Ferda ist überzeugt, sie könnten ausgewiesen werden, wenn sie zum Sozialamt gingen. Auch Cenks Vater fehlen zunächst entsprechendes Wissen und Deutschkenntnisse, trotzdem wagt er den Schritt und eröffnet eine eigene Bäckerei. Für die Buchführung seines Geschäfts, insbesondere die Steuererklärung, ist er auf Unterstützung angewiesen, die vermeintliche Hilfe, die ihm sein Netzwerk vermittelt, entpuppt sich als Betrug. Die sprachlichen Grenzen und fehlenden Kenntnisse des Rechtssystems können leicht in Abhängigkeit und Ausbeutung führen. „Damals gab es hier [...] ganz wenig Türken, die sich mit dem Rechtssystem [...], auskannten. Und Bastürk hieß der Typ, das werd ich nie vergessen, der hat viele Türken richtig pleite und arm gemacht hier in Deutschland, weil er sich eigentlich um nichts gekümmert hat, er hat Monate kassiert [...] ‚Ich mache dir deine Gewerbesache fertig. Ich mache für dich die Lohnsteuer fertig und deine Einkommensteuer.‘ Und und und. Papa hat immer bezahlt, ich glaub der Laden lief anderthalb oder zwei Jahre und dann kam irgendwann das Finanzamt, von wegen der hat nie was bezahlt, der Kerl. Weil der Idiot sich das wahrscheinlich in die Tasche gesteckt hat [...]. Und da war Papa stinksauer gewesen und musste leider den Laden wieder schließen, weil das Geld einfach vorne und hinten nicht gelangt hat.“ (Interview Cenk)

Die beschriebene Situation deutet an, wie prekär die Umstände für diejenigen sein können, die noch nicht gut vernetzt sind. Je besser die Position innerhalb des Netzwerks (z.B. etwa als „ethnischer Unternehmer“, Vermittler, Experte) und je ausgedehnter die Vernetzung, desto machtvoller ist der eigene Zugang zum Netzwerk (vgl. Schiffauer 2006: 105). Doch auch der Investition in die Weiterknüpfung des Netzwerks steht zu Beginn der „Rückkehrmythos“ entgegen, und so entwickeln sich hier zunächst wenige Möglichkeitsräume für die Imrens. Die Lebensbedingungen sind bescheiden, das andauernde Provisorium zehrt an den Kräften, und doch ermöglicht die Großstadt neue Erfahrungen, sich selbst anders zu erfinden. Die erste Generation der Imrens berichtet wenig aus dieser Zeit, aber es bleibt doch die Vermutung, dass sie die Migrationserfahrung nicht nur als Entbehrung, sondern in mancher Hinsicht als Bereicherung begreifen können. So beschreiben auch Bozkurt und Schiffauer entlang ihrer ethnografischen Aufzeichnungen die biografischen Erlebnisse der ersten Generation als nicht nur schmerzhaft, sondern zum Teil ebenso befreiend. Restriktive Normen, traditionelle Strukturen im Dorf sind im urbanen Umfeld anfänglich wenig spürbar, und so werden neue Handlungsspielräume geschaffen. Das klingt auch in einem Gespräch mit Tochter Maral an, die erzählt, ihre Mutter habe in der

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Zeit ohne Kinder auch schöne Dinge unternommen, sich mit Freundinnen zum Spazieren getroffen und sich selbst kleine Wünsche erfüllt. Sich an einem unbekannten Ort zu bewegen, die neue Umgebung kennenzulernen und hier unkontrolliert vom sozialen Umfeld eigene Wege zu gehen, wird also womöglich auch eine positiv transformierende Erfahrung gewesen sein. Zu dieser Perspektive passt, dass sich Ferda hier Lesen und Schreiben beibringt, aus Trotz, denn den Impuls dazu gibt eine Situation, in der ihr der sonst so ruhige Can auf ihre Frage, einen Zeitungsartikel vorzulesen, genervt antwortet, sie solle doch selber lesen lernen. Sie lernt es tatsächlich – autodidaktisch – und diese Episode wird heute von ihren Enkeln anerkennend weitererzählt. „Meine Oma hat natürlich viel erlebt. Alleine, dass sie von der Türkei hierhergekommen ist, und sie hatte ja keine richtige Schulbildung. Sie hat mir mal erzählt, dass sie sich selber das Schreiben und Lesen beigebracht hat. Da muss man sich auch mal vorstellen. Ich würd mir das glaub ich niemals so selber beibringen können.“ (Interview Nuriye)

Die Erfahrungen im neuen Umfeld sind ambivalent, neben vielen Einschränkungen sind Öffnungen und Neuentdeckungen möglich und werden auch genutzt. Als die Eltern beschließen, die Kinder nachzuholen, ist Can seit zehn und seine Frau Ferda seit sechs Jahren in Deutschland, und sie haben den Punkt noch nicht erreicht, der für sie die Rückkehr signalisiert. Was letztendlich doch zum Bleiben führt, ist unklar, Feza meint, ihr Vater habe Schulden gehabt, und so ist es vermutlich, wie bei vielen anderen Familien, die noch unerreichte, das Emporkommen ermöglichende Kapitalgrundlage, die ein Zurückgehen verhindert. Eine Rückkehr wäre aus dieser Lage heraus nicht mit Aufstieg verbunden, und so könnte die Auswanderung innerhalb der gegebenen Logik nur als Misserfolg gelten. Neben dieser Kosten-Nutzen-Rechnung fließt wahrscheinlich ein Gemisch diverser Argumente und Aspekte in die Entscheidung ein, die nicht ganz klar voneinander zu trennen sind und sich phasenweise verändern. Letztendlich führt der Schritt, die Kinder nachzuholen, noch weiter von der Rückkehr weg.

5.2 FAMILIENREUNION – FREMDHEIT, KONFLIKTE UND NEUBEGINN Die Entscheidung, nach Deutschland zu kommen, treffen die Eltern für ihre Kinder, und die sind nicht vorbereitet auf das, was sie erwartet. Die Kinder haben jahrelang nicht mit ihren Eltern gelebt, und es gab keine klare Zukunftsperspektive, wann und wie die Familie wieder zusammen sein würde. Relativ abrupt en-

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det dann das bekannte Leben im Dorf, und die Kinder fliegen zu Vater und Mutter nach Deutschland. Die Eltern sind ihnen fremd geworden, und auch der Ort, an dem sie von nun an zusammen leben werden, ist völlig ungewohnt; das löst Unsicherheit und in Fatihs Fall auch Freude aus. „Dann anschließend kamen unsere Eltern uns abholen. ‘78 war das Jahr, da kamen sie zurück und haben sich dazu entschieden, dass sie alle Kinder jetzt mit nach Deutschland nehmen. Das war, glaub ich, ein auslösender Moment für mich. Eigentlich wollte ich zu dem Zeitpunkt gar nicht nach Deutschland, weil ich mich dort ((im türkischen Dorf)) schon fast eingelebt hatte, aber auf der anderen Seite war das ein Punkt, wo die ganze Familie dann wieder zusammen sein sollte, und das war für mich auch ne Freude.“ (Interview Fatih)

Für die Kinder ist die Situation widersprüchlich, sie sehnen sich nach den Eltern, aber sie lassen ihre Bezugspersonen und ihr vertrautes Umfeld zurück. Die Kinder von Ferda und Can werden ihre Großeltern nicht wiedersehen und erst viel später ins Dorf zurückkehren. Den Moment der Ankunft in der Großstadt haben alle noch vor Augen, Elif beschreibt ihn im Interview. „Wo wir dann zuhause ankamen, das war so ne Erdgeschosswohnung in Wedding, zwei Zimmer und ne Riesenwohnküche, da war schon ein Schock. ‚In diesen beiden Zimmern sollen wir leben?‘ Weil auf dem Lande hatten wir ein riesiges Haus, weißt du? Das war schon ein großer Schock. In dem Moment wollte ich zurück (lacht). Naja, das war schon nicht schön.“ (Interview Elif)

Die bescheidenen Wohnverhältnisse entsprechen nicht der Vorstellung des Lebens in Deutschland. Als „Schock“ beschreibt Elif diesen Moment des Ankommens, in dem die Imaginationen des Lebens in Berlin mit der Realität konfrontiert werden, und diese Situation der Ernüchterung zu verarbeiten, erfordert von den Familienmitgliedern unterschiedlich viel Zeit. Der jüngere Bruder ist zwar auch nicht nur begeistert, denn er hatte sich an das Dorfleben gewöhnt, trotzdem hat er eine positive Perspektive auf den Neubeginn. „Und dann die erste Zeit, wie wir hier angekommen sind, waren wir noch in der kleinen Wohnung, in der Zwei-Zimmer-Wohnung, wo meine Eltern gewohnt hatten, da waren wir alle eng beieinander, wir haben meistens im Wohnzimmer geschlafen, meine großen Schwestern in der großen Küche und die Zeit war auch schön. Also an die Zeit kann ich mich auch sehr gut erinnern. Wie wir angekommen sind, war es Winter, es war ein stren-

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ger Winter, da war so viel Schnee. (Lacht) An den kann ich mich noch erinnern.“ (Interview Fatih)

Während Fatih die Veränderung schnell akzeptiert, fällt den Schwestern, besonders Maral und Feza, die Umstellung sehr schwer. Die Erzählung des Bruders prägt eher die Vorstellung der behaglichen Atmosphäre in der kleinen Wohnung, des Zusammenrückens, aus Fezas Perspektive klingt die Episode ganz anders. „Dann sind wir hier angekommen, ich mit 16, 17 und Maral war glaube ich 14 oder so. Als wir hier ankamen oa:::, das Schlimmste. Ich hab Deutschland nie geliebt. Wirklich nicht. Ich hab gedacht ‚Papa, holt uns nur für ein Jahr oder für Urlaub.‘ ich dachte Urlaub, ne wir gehen nach Europa so Urlaub machen und dann schickt er mich wieder zurück. [...] Also wir haben uns von Anfang an wirklich nicht wohl gefühlt hier. Als wir mit dem Taxi nach Hause gekommen sind, hat Papa gesagt: ‚Wir steigen jetzt aus. Das ist unsere Wohnung.‘ Maral hat gesagt: [...] ‚Und das soll die schöne Stadt sein, von der ihr immer erzählt habt?‘ er hat gesagt ‚Ja, das ist unser Haus.‘Sie hat sofort zu dem Fahrer gesagt: ‚Bitte Onkel, bring mich zurück. Bitte ich will nach Hause zurück.‘ Und dann naja sind wir reingegangen, also für mich war es sowieso eine Katastrophe.“ (Interview Feza)

Die kleine Wohnung, die urbane Umgebung des Wohnviertels beschreibt Schwester Maral als Gefängnis, sie können sich nicht frei bewegen wie im Dorf, alles schmeckt anders, riecht anders. Die alltägliche Realität der Eltern hat wenig mit dem gemein, was die Kinder sich während der Trennung in der „schönen Stadt“ ausgemalt haben. In den Gesprächen über diese Zeit scheinen die Schwestern beinahe in ihre damaligen Gefühle, eine Mischung aus Trauer und Wut zurückversetzt. In ihren Worten schwingt mit, wie ausgeliefert sie sich den neuen Lebensumständen fühlen und wie beängstigend fremd sie das Umfeld erleben. Maral und Feza werden in dieser Zeit krank und interpretieren das beide als Ausdruck ihrer Sehnsucht.6 „Am Anfang war ich sehr traurig, und ich war ja auch sehr krank. Es war wahrscheinlich die Stadt, also das Ganze- Ich bin ja auf dem Land aufgewachsen, und Stadtleben das war nicht für mich. Allein dieser viele Verkehr, diese große Stadt das war für mich- ja wie gesagt, das war zu viel für mich.“ (Interview Maral) „Ich bin sehr krank geworden, sehr und der Arzt musste mein ganzes Blut waschen und der Arzt hat gesagt: ((zum Vater)) ‚Du musst das Kind zurückschicken. (beginnt zu wei6

Im ersten Jahr war Maral dann auch krank, ihr wurde oft schwindelig und sie musste sich übergeben. Die Ärzte konnten nichts feststellen, aber sie meint, das war natürlich aus Sehnsucht (Feldtagebuch 30.08.2012).

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nen) Sie hat Heimweh.‘ (0.8) Aber Vater wollte nicht, er hat gedacht: ‚Wenn ich sie nochmal schicke, dann trennen wir uns wieder.‘ Aber er hat an sich gedacht, nicht an mich, ne. Er hat mich nicht gefragt, ob ich gehen will.“ (Interview Feza)

Feza verbindet in ihrem biografischen Narrativ das physische Leiden mit dem Heimweh, die räumliche Veränderung gegen ihren Willen wird als körperlich spürbar erzählt. Judith Butler schreibt dazu: „Genauso wie eine körperliche Verletzung auch die Psyche betrifft, so wirkt eine psychische Verletzung auf die körperliche Doxa […].“ (Butler 2006: 249) Sie deutet an, wie sich die Erfahrungen Sedimenten gleich im Körper absetzen, allerdings ohne ihn zu determinieren. Dass sie während der Erzählung wieder zu weinen beginnt, scheint die Distanz zu dieser Zeit zu verringern, als sei sie wieder in den Moment verlagert. Die Gründe für Fezas Traurigkeit liegen (auch) in der Gegenwart, allerdings beschreibt sie die „Versetzung“ nach Berlin als biografischen Einschnitt, von dem an ihr Leben gewissermaßen ins Ungleichgewicht geriet. Das Familienleben verläuft in dieser Zeit dann auch nicht konfliktfrei, besonders mit der Mutter setzen sich die Mädchen im Streit auseinander. „Aber andererseits war es auch schwierig, mit meinen Eltern irgendwie so n inniges Verhältnis zu haben, das war bisschen schwierig, mich richtig denen zu öffnen. Das hat ne lange Weile gedauert. Ich kann mich auch erinnern, ich hatte mich mit meiner Mutter gestritten, und ich hab gesagt ‚Du bist nicht meine Mutter, ich will zurück zu meinen Großeltern! Ich hasse Deutschland!‘“ (Interview Elif)

Die Distanz zwischen erster und zweiter Generation ist spürbar, die Selbstverständlichkeit der Rollen aufgehoben. Das Zusammensein mit den Eltern ist nicht automatisch vertraut, und die Kinder vermissen ihre gewohnte Umgebung. Gleichzeitig gibt es von beiden Seiten ein Bemühen um die familiäre Beziehung, im Grunde wünschen sich alle, dass die Familie wieder zusammen wächst. „Also unsere Eltern waren sehr nett zu uns, sehr lieb, die haben alles getan, was wir wollen, aber wir haben nicht mehr gepasst, also Mutter und Kind. Wir haben lange nicht miteinander gelebt, und es war- Wir haben unsere Eltern geliebt, die haben uns sehr geliebt, aber da war was drin, was Kaltes. [...] Nur wir beide ((Feza und Maral)) konnten uns verstehen, wir haben immer heimlich gesprochen, unseren Eltern haben wir nie was gesagt. ‚Wir brauchen das und das‘, haben wir nicht gesagt, obwohl unsere Eltern sehr lieb waren, sehr nett waren. Die haben uns alles – Antworten, alles gegeben, aber da war wieder dieses- Ich weiß nicht. Da war was.“ (Interview Feza)

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Auf meine Nachfrage, ob sie den Eltern verziehen habe, antwortet Feza: „Doch ich hab ihnen immer verziehen, meiner Mama, meinem Papa, aber von der einen Seite, von anderer Seite, durch diese Trennung zwischen uns gab es nicht diese Möglichkeit zwischen Mama und uns- (I: Diese Verbindung) gibts nicht mehr. Hm:: da war immer eine Wand zwischen uns. Mama wollte auch mit uns, ich weiß das ganz genau, aber sie selber konnte sie auch nicht aufmachen. Und wir auch nicht. (I: Obwohl ihr wolltet) Obwohl von beiden Seiten.“ (Interview Feza)

Feza umschreibt die emotionale Beziehung zu den Eltern und versucht zu greifen, was sich dort verändert hat, „was Kaltes“, ein unerklärliches Element, das hier nicht hingehört. Nah, vertraut, warm diese familienspezifischen Ideale sind für Feza nicht mit der eigenen Beziehung zu den Eltern in Einklang zu bringen, obwohl die Bereitschaft von beiden Seiten da ist. Die innerfamiliäre Distanz scheint zeitweise mindestens für die Mädchen unüberwindbar, aber es gibt auch neue, vorsichtige Annäherungen. Elif beschreibt beispielsweise, wie der Vater den Töchtern schriftlich Mitteilungen macht und Ratschläge erteilt. „Mein Vater ist so n Mensch, (raucht) der redet nicht viel, in der Pubertät weiß ich noch, der hatte uns allen drei Mädchen so kleine Heftchen gekauft, weil er hatte mich mal erwischt, beim Rauchen. Er hat mir nie direkt ins Gesicht gesagt, du sollst jetzt nicht rauchen, oder er war nie so richtig böse, sondern er hat immer in dieses Heft geschrieben: ‚Meine Tochter, dein Verhalten hat mir heute nicht so gut gefallen. Ändere dich.‘ oder irgendwie sowas. Wir hatten wirklich alle drei so ein Heft von ihm (lacht) (I: Achso und dann hat er da was, Nachrichten hinterlassen?) Ja.“ (Interview Elif)

Möglicherweise fällt es dem zurückhaltenden Vater leichter, den Töchtern so seine Vorstellungen mitzuteilen, als im direkten Gespräch, das im Konflikt enden könnte. Er zieht sich nicht völlig zurück, sondern sucht nach einem Weg, mit ihnen zu kommunizieren. Das Leben der Imrens im Arbeiterviertel ist eine Phase des Umbruchs, es ist weiterhin nicht klar, ob sie in die Türkei zurückkehren sollen, und es ist nicht abzusehen, ob sie als Familie wieder zusammenfinden werden. Gleichzeitig bindet die Arbeit die Eltern sehr ein, sie sind hauptsächlich damit beschäftigt, die Lebensgrundlage der Familie zu sichern, und daneben bleibt nicht viel Raum. Die Kinder nehmen ihre Zeit mit den Eltern unterschiedlich wahr, aber sie alle erleben die Ankunft in Deutschland auch als Ernüchterung.

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„[...] ich war ein bisschen erwachsener als die anderen Kinder. Ich weiß nicht, ich hab das gehasst, dieses Leben. Und auf der einen Seite haben wir gedacht: ‚Wir leben wenigstens mit unserer Mama und Papa.‘ Aber die haben gearbeitet! Die hatten keine Zeit für uns. Wir dachten: ‚Ok, wir gehen jeden Tag spazieren mit unseren Eltern.‘ Man träumt davon, aber es war nicht so, weil die sind morgens früh um vier Uhr aufgestanden, arbeiten gegangen und um vier Uhr wieder zurück. Wir waren wieder allein.“ (Interview Feza) „Also die erste Zeit 78, wo wir dann gemeinsam hergekommen sind, hatte ich ne ganz andere Vorstellung. Ich dachte, ich würde hier in ein Paradies reinkommen, wo alles anders wäre, aber- Ich hab dann auch ziemlich schnell festgestellt, dass die Leute doch alle gleich sind, also es gibt im Grunde genommen keinen Unterschied. Was hier anders war für mich, was besser war, dass wir dann doch mit der Familie gemeinsam viel unternommen haben. Das war eigentlich, was prägend war.“ (Interview Fatih)

Wir lesen hier zwei unterschiedliche Sichtweisen auf dieselbe Zeit – Feza, die älteste Tochter ist bereits 16, als sie nach Deutschland kommt, Fatih 10 Jahre alt. Bemerkenswert ist, wie gegensätzlich Schwester und Bruder auf das damalige Familienleben blicken. Beide sind vom Leben in Deutschland desillusioniert, aber während Fatih beschreibt wie er sich auf die veränderte Lage und die Eltern schnell wieder einlässt, hebt Feza die Enttäuschung als prägende Erinnerung hervor. Der Altersunterschied ist nicht nur in Bezug auf die Umstellung auf das neue Leben bedeutsam, er beeinflusst im Fall der vier Geschwister auch entscheidend den Bildungsweg.

5.3 SCHULKARRIEREN: ANSCHLÜSSE UND GRENZEN IN DER ZWEITEN GENERATION Als die vier Kinder nach Deutschland kommen, möchten ihre Eltern, dass sie die schulische Ausbildung fortsetzen und Deutsch lernen. Auch wenn unklar ist, wie lange sie bleiben wollen, ist ihnen wichtig, dass die Kinder diese Möglichkeit wahrnehmen. Elif geht näher darauf ein, wie ihre Mutter Ferda sie dazu motivierte. „[...] Meine Mutter hat gesagt: ‚Ihr müsst die Sprache lernen, anders geht’s nicht.‘ Sie hat immer gesagt: ‚Eine Sprache, ein Mensch. Wenn du eine Sprache kannst, dann bist du ein Mensch. Wenn du noch ne Sprache kannst, dann bist du noch ein Mensch sozusagen. Entweder lernst du die Sprache so schnell wie möglich, ich kann dir helfen, so gut ich kann, oder du bist aufgeschmissen.‘ Komischerweise hab ich die Sprache ziemlich schnell

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gelernt. Und die Sesamstraße hat mir sehr gut geholfen, Deutsch zu lernen, wirklich. Da hatte ich schon die Basis, das klingt zwar komisch, aber Sesamstraße hat mir sehr gut geholfen.“ (Interview Elif)

Elif spielt hier auf ein von Ferda erwähntes Sprichwort an, im Türkischen lautet es „Bir lisan, bir insan. Iki lisan, iki insan.“7, und es wird in dem Sinne verstanden, dass Sprache eine Erweiterung sei, die gewissermaßen ermöglicht, ein weiterer Mensch zu werden. Deutsch oder allgemein eine weitere Sprache zu lernen, wird damit zunächst einmal unabhängig vom praktischen Nutzen als wertvoll vermittelt. Trotz der familiären Bereitwilligkeit zum Bildungsangebot verläuft der Übergang ins deutsche Bildungssystem nicht für alle Kinder nahtlos. Nachdem die Kinder in der Stadt angekommen sind, erhält die Familie für die beiden Jüngeren eine schriftliche Benachrichtigung, in der sie aufgefordert werden, die Kinder in der Grundschule anzumelden. Fatih und Elif gehen relativ bald in eine sogenannte Vorbereitungsklasse, in der die Kinder beginnen, Deutsch zu lernen. Zu diesem Zeitpunkt – Ende der 1970er Jahre – ist vielen Akteuren im Bildungswesen bereits offenbar, dass die deutsche Schule alternative Praxisformen entwickeln muss, um den neu eingewanderten Kindern gerecht zu werden. Noch in den 1960er Jahren gelten die nicht-deutschen Schülerinnen und Schüler als „exotische Einzelfälle“, aber mit dem Fortlauf der Migrationsbewegung verändert sich diese Situation und 1981 hält Sandfuchs fest, dass „die Schule in der Bundesrepublik vor die größte Herausforderung ihrer Geschichte gestellt worden ist“ (Sandfuchs 1981: 7). Grundsätzlich bezieht die Schulpflicht alle in Deutschland lebenden Kinder ein, aber tatsächlich sind in den 1970er Jahren weder alle eingewanderten Kinder erfasst, noch wird die „Ordnungswidrigkeit“ des Fernbleibens von der Schule systematisch von der Bürokratie verfolgt (vgl. ebd.: 17).8 Die verzögerte Reaktion auf die hinzukommenden Schüler und Entwicklung geeigneter Maßnahmen ist wiederum Ergebnis der damaligen politischen Rahmung der Migration, die eben Gastarbeit also temporäre Beschäftigung gefolgt von Rückkehr ins Herkunftsland (Rotationsprinzip) konzipierte (vgl. Gogolin/Krüger-Potratz 2006: 64). Dass sowohl politische Akteure, als auch die eingewanderten Familien diesem theoretischen Konzept, entgegen der sich mehr und mehr etablierenden Praxis anhingen, wirkte sich negativ auf die Ausrichtung der Schule und die indivi-

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„Eine Sprache, ein Mensch. Zwei Sprachen, zwei Menschen.“ „Nach den vorliegenden Berechnungen und Schätzungen muß man davon ausgehen, daß ein großer Teil der ausländischen Kinder keine Schulen besucht.“ (FeidelMertz/Grossmann 1974: 17)

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duellen Schulkarrieren aus (vgl. Schiffauer 2006: 102)9. Auch die Vorbereitungsklassen sind in dieser Logik zu verstehen, zwar variierte die Umsetzung je nach Bundesland, aber die grundlegende Idee war es, den Kindern weiter muttersprachlichen Unterricht und den Zugang zu Sprache und Kultur des Herkunftslandes zu ermöglichen. So sollen sie bei einer Rückkehr ins eigene Land in der Lage sein, im dortigen Bildungssystem Anschluss zu finden. Die Vermittlung von Deutschkenntnissen und dem weiteren Lehrplan war in der Schulpraxis auf ein Mindestmaß reduziert (vgl. Feidel-Mertz/Grossmann 1974: 18).10 Tatsächlich wird die Praxis der segregierten Unterrichts von Beginn an kritisch eingeschätzt; es mangelt an konkreten Zielen, die Verantwortung für den muttersprachlichen Unterricht ist ausgegliedert (vgl. Friberg/Hohmann 1982: 18), sie seien das „Getto innerhalb der deutschen Schulen“, heißt es und die bereits aufgrund ihrer Schichtzugehörigkeit benachteiligten Kinder hätten so geringe Chancen im Bildungssystem (vgl. Feidel-Mertz/Grossmann 1974: 19f.).11 Häufig sind die Vorbereitungsklassen wie „Zwergschulen“ organisiert, d.h. Kinder werden altersübergreifend unterrichtet (vgl. ebd.: 72). Die großen Leistungsunterschiede, die oft überschrittene Klassenfrequenz und die fehlende Vorbereitung der Lehrer auf die Heterogenität der Schulpraxis führt zu vielfältigen Problemen (vgl. BoosNünning/Hohmann 1982: 27ff.), aber auch die Eingliederung in Regelklassen ist diffizil und weder organisatorisch, noch didaktisch-methodisch konzipiert (Friberg 1982: 186). In die so umschriebene Schullandschaft sind auch die Bildungsverläufe der vier Kinder der Imrens eingelassen. Die beiden Jüngeren können nach einem bzw. zwei Jahren auf die Oberschule wechseln, hier sind sie nicht mehr gesondert, sondern Teil einer deutschsprachigen Regelklasse. Fatih erzählt rückblickend vom Übergang in die neue Schule.

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Schiffauer bezeichnet in diesem Zusammenhang die zweite Generation, die ohne klare Perspektive zwischen Deutschland und der Türkei hin- und herpendelte, was häufig Schulabbrüche zur Folge hatte, als „verlorene Generation“. (Schiffauer 2006: 102)

10 Dieser Praxis lag der Beschluss der Kultusministerkonferenz (KMK) von 1964 zugrunde, nach dem „die ausländischen Schüler zwar einerseits in das deutsche Schulwesen zu integrieren sind, daß aber andererseits ihre nationale Eigenständigkeit und die Verbindung mit der Kultur und Sprache ihres Landes erhalten werden müssen“ (Feidel-Mertz/Grossmann 1974: 18). 11 Vorbereitungsklassen können als „Nationalklassen“ organisiert sein, in denen beispielsweise nur türkische Kinder nach dem türkischen Lehrplan unterrichtet werden, oder es befinden sich hier alle „ausländischen“ Kinder unterschiedlicher Nationalitäten, nur teilweise wird hier auch Deutsch als Fremdsprache unterrichtet (vgl. BoosNünning/Hohmann 1982: 30).

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„Also die ersten Schwierigkeiten hatte ich dann in der Oberschule, in der Realschule. Dort hab ich dann doch gemerkt, dass die Grundschule und das, was wir dort gelernt hatten, eigentlich gar nicht ausgereicht hat. Da wir ja auch gesondert in diesen Migrantenklassen gelernt haben, waren wir ja unter uns und hatten dann meistens auch Türkisch gesprochen, also von daher. Ich war zwar in Mathe gut und in anderen Fächern, aber in Deutsch – das war nicht ausreichend. Dort hatte ich meine Schwierigkeiten.“ (Interview Fatih)

Nach anfänglicher Segregation der Nicht-Deutsch-Muttersprachler werden Elif und Cenk auf der Oberschule regulären Klassen zugeordnet. Die beiden müssen sich umstellen, und es dauert eine Weile aufzuholen, aber sie lernen relativ schnell Deutsch und kommen in der Schule gut zurecht. Cenk, Elifs späterer Ehemann, kommt bereits vor der Einschulung in die erste Klasse nach Deutschland und absolviert seine gesamte Schulzeit hier. Bei den Jugendlichen stellt sich der Wechsel etwas schwieriger dar, im Fall der Imrens erhält die Familie zunächst auch gar keine schriftliche Benachrichtigung für die älteren Mädchen. Mit 16 ist Feza im Gegensatz zur dreizehnjährigen Maral nicht mehr schulpflichtig, aber diese Details sind den Eltern nicht bekannt.12 Im Interview berichtet Feza, dass ihr Vater auf eine weitere Benachrichtigung wartete, er wollte gerne auch die älteren Töchter zur Schule schicken, aber es vergehen zwei Jahre, bis schließlich ein Brief von der Stadt kommt. Can soll 5000 DM Strafe zahlen, weil er Maral nicht zur Schule geschickt hat. Er widerspricht dem mithilfe eines Rechtsanwalts, verteidigt sich, er habe die schulische Ausbildung der Kinder unterstützen wollen, aber sei nicht schriftlich informiert worden, wie für die Jüngeren. Es ist ein Missverständnis, vermutlich ein bürokratischer Fehler, der dazu führt, dass Maral und Feza erst nach einer Wartezeit von zwei Jahren zur Schule gehen. Im rückblickenden Austausch mit den beiden Frauen nehme ich weniger Bitterkeit, aber doch Wehmut und Enttäuschung, ob der entgangenen Möglichkeiten wahr. Dass es weniger klare Grenzziehungen, als eher das unglückliche Ergebnis einer unklaren Situation war, das die Bildungsverläufe verhindert hat, ist für sie nicht einfach zu akzeptieren. Diese Episode vermittelt eindrücklich, wie sich die politische Rahmung der Migranten als temporäre Gäste auf die einzelnen Biografien niederschlägt. Fezas schulische Ausbildung ist bereits in der Türkei nach dem Ende der fünfjährigen Grundschulzeit aufgeschoben worden und in Deutschland vergehen weitere Jahre ohne eigene Perspektive. In dieser Zeit sind die Mädchen sehr auf sich gestellt, sie sprechen kein Deutsch, sind von der urbanen Umgebung eingeschüch12 „Für Jugendliche, die am Ende ihrer Schulpflicht oder als Jugendliche in die Bundesrepublik kommen, gibt es faktisch kein Bildungsangebot mehr in den öffentlichen Schulen.“ (Feidel-Mertz/Grossmann 1974: 18)

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tert und haben wenig Austausch. Vermutlich entspricht der geringe Bewegungsradius auch dem Bedürfnis der Eltern, die Kinder zu schützen, denn im Gegensatz zum Dorf erscheint der städtische Raum vielen türkischen Migranten nicht kontrollierbar, unstrukturiert und damit bedrohlich (vgl. Schiffauer 2006: 103). So ist der Alltag der Mädchen in dieser Zeit sehr viel begrenzter, als sie es aus dem Dorf gewohnt sind, und eine Veränderung tritt erst mit dem Beginn der Schule ein. „Das war eine Realschule, oder ein Gymnasium, vor unserer Tür. Und dann haben [...] die uns in eine Vorbereitungsklasse gesteckt, [...] mit Maral in eine Klasse, siebente Klasse war das [...], das war für alle ausländischen Kinder. Eigentlich hab ich danach keine Schule mehr gekriegt, weil ich älter war als die anderen, ne? [...] die Lehrerin hat zu meinem Vater gesagt: ‚Da musst du Feza nach Westdeutschland schicken. Und sie kann abends Abendschule machen, also die Grundschule beenden, und am Tag dann macht sie weiter mit der Schule, also Oberschule, und dann kann sie da studieren.‘ Da gab’s so eine Möglichkeit, aber hier nicht. Dann hat mein Vater gesagt: ‚Nein, das wäre noch eine Katastrophe für meine Kinder und für mich auch.‘ Und dann hab ich aufgehört. Maral hat noch ein Jahr, glaube ich, weitergemacht. Ich hab dann die Vorbereitungsklasse so halb gelassen und hab so ne Berufsschule vom Arbeitsamt gekriegt, Metall. Ein Jahr hab ich diese Schule gemacht, und dann hab ich einfach gesagt: ‚Nein, es gibt kein Zurück mehr. Also du musst was tun.‘ (Interview Feza)

Anders als bei den jüngeren Geschwistern, die während einer Übergangsphase zügig Deutsch lernen und beide die Realschule abschließen, ist es für die Mädchen ungleich schwieriger, Anschluss zu finden. Die Eltern sind nicht bereit, eine erneute Trennung in Kauf zu nehmen und Feza auf die Abendschule in ein anderes Bundesland zu schicken. Feza ist bereits 18 Jahre alt als sie schließlich in die deutsche Schule kommt, Maral ist 15, und sie sind seit der Grundschule nicht unterrichtet worden, zusätzlich fällt es schwer, sich nicht von den begrenzten sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten entmutigen zu lassen. „Und so nach zwei Jahren bin ich erst richtig in die Schule gegangen. In eine Vorbereitungsklasse, da wollte ich natürlich auch nicht hingehen, weil ich kein Wort Deutsch konnte. Ich fühlte mich wie eine-, blöd fühlte ich mich (lachend). Kannst nichts, alle können fast Deutsch und du nicht. Ich wollte gar nicht hingehen, das hat mir auch überhaupt keinen Spaß gemacht. Ich hab die Schule gehasst. Geschwänzt hab ich, ein paar Mal hab ich auch geschwänzt. [...] Nach einem Jahr hab ich dieses Abgangszeugnis genommen, das war kein richtiges Zeugnis. [...] Nach der Schule hab ich-, es gab für ausländische

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Kinder Berufsvorbereitung. Und da hab ich auch ein Jahr mitgemacht. Ich hab dann Malen und Streichen, Tapezieren gelernt (Lachen).“ (Interview Maral)

Sowohl die Vorbereitungsklasse als auch die spätere berufsvorbereitende Schulung segregieren die Nicht-Deutsch-Muttersprachler, die Ausbildung soll auf diese spezifische Zielgruppe zugeschnitten sein. Weder Maral noch Feza führen allerdings die ihnen zugeteilten beruflichen Lehren, die nichts mit ihren Interessen zu tun haben, zu Ende.13 Auch Marals späterer Mann Muhammet verlässt ohne Abschluss die Schule, er hat zwischen ’74 und ’76 während des ersten Deutschlandaufenthalts die Grundschule besucht – auch eine Vorbereitungsklasse, wo er ein wenig Deutsch lernt. Zurück in der Türkei beschließt er mit zwölf, dass er eine Lehre zum KFZ-Mechaniker machen möchte und verfolgt diese Ausbildung auch, bis seine Eltern ihn 1980 erneut nach Deutschland holen. Er besucht nun noch zwei Jahre die Realschule, aber er muss im Restaurant der Eltern bis spätabends helfen und kann sich in der Schule nicht konzentrieren. „Da haben wir auch 75% deutsche Schüler gehabt, 25% türkische Schüler, aber wir waren natürlich schwächer gewesen als die, ne. Wenn jetzt sagen wir mal die Lehrer schnell erzählt haben, dann begreifst du ja nicht alles hundertprozentig. Naja das hat da ein Jahr gedauert, und ich musste auch Nachtarbeiten. Restaurant. Naja, das war ein komischer Fall [...], ich bin irgendwie eingeschlafen in der Unterrichtsstunde, Lehrer hat mich gefragt, ich hab antwortet: ‚Ja, Döner kostet 7 Mark 50 mit Joghurt.‘ da haben sie mich alle ausgelacht, [...]. Ich erinner mich immer noch, ne. Und, naja Ende neunte Klasse hab ich Abgangszeugnis bekommen, weil halt Noten nicht gut waren, 4, 3, eine 5 hab ich gehabt. Hab ich gesagt: ‚Ich geh nicht mehr Schule, weil ich schaff das nicht.‘ Für mich war es zu spät. War ja schon 18, 19 und alle Kinder sind ungefähr 15 Jahre alt. Also drei Jahre, vier Jahre Unterschied. Ich bin ja älter gewesen als einziger. Hab ich gesagt: ‚Geh, ich geh mal arbeiten.‘ Dann hab ich gleich Arbeit angefangen wieder im Restaurant, natürlich.“ (Interview Muhammet)

13 Bei Grossmann wird in einem Exkurs zur Berufsschule darauf hingewiesen, dass der Besuch einer solchen „für alle ausländischen Jugendlichen unter 18 Jahre Pflicht, für Lehrlinge bis zum Abschluß der Lehre“ Pflicht sei. Es gebe allerdings „besondere Schwierigkeiten dadurch, daß ältere Jugendliche am Unterricht teilnehmen sollen, ohne daß sie zuvor deutsche Hauptschulen besucht haben, weil sie erst später in die BRD kamen. Die haben deshalb nicht nur Sprachschwierigkeiten, ihnen fehlen auch die bildungsmäßigen Voraussetzungen für den Abschlußunterricht der Berufsschule“ (Feidel-Mertz/Grossmann 1974: 17).

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Muhammet wird immer wieder vor Neuanfänge gestellt, darüber hinaus agiert er in seiner Familie schon während der Adoleszenz als zusätzliche Arbeitskraft. Während die Imrens eine schulische Ausbildung unterstützen, setzen Muhammets Eltern mit seiner Einbindung in die Arbeitswelt parallel zur Schule die Prioritäten anders. 1984 kehren seine Eltern in die Türkei zurück, von da an arbeitet Muhammet, statt weiter zur Schule zu gehen, er hat die Verantwortung für den jüngeren Bruder und schickt den Eltern regelmäßig Geld. Auch Fezas Mann Ali wird von seinen Eltern nicht in seiner schulischen Ausbildung unterstützt und bricht die Oberschule nach drei Jahren ab, wie ich im Gespräch mit seiner Frau erfahre. „Ich frage nach Ali, und sie erzählt, er sei in der Türkei in die Grundschule gegangen und mit 12 nach Deutschland gekommen. Dort hat er drei Klassen der Oberschule besucht, aber nach dieser Zeit wurde er gegen die Empfehlung der Lehrer von der Schule genommen, weil sein Vater meinte, sie würden sowieso bald zurück in die Türkei gehen. Er hat dann keine Berufsausbildung fortgeführt „sondern andere Sachen weitergemacht“, meint Feza.“ (Feldtagebuch 26.09.2012)

Der ersten Generation fehlen Kenntnisse des Bildungssystems, die prekären Arbeits- und Lebensbedingungen und die Annahme einer kurzen Aufenthaltsdauer tragen weiter dazu bei, dass die schulischen Biografien der Kinder wenig Unterstützung finden. Je nach Alter hat diese Situation für die zweite Generation in meiner Untersuchung unterschiedliche Konsequenzen.

5.4 SUCHE NACH RÄUMEN DER SELBSTBESTIMMUNG UND VERWIRKLICHUNG Es ist offensichtlich; die Arbeit strukturiert die Lebensphase im Arbeiterviertel, sie ist Voraussetzung für das Leben an diesem Ort. Die Entscheidung, hier vorerst zu bleiben, hängt zuallererst an ihr, nicht an anderen Qualitäten dieses Viertels oder hiesigen Gemeinschaften. Der Standort bietet Arbeit, günstigen Wohnraum, er lässt auch manches vermissen, aber da für die gefassten Ziele das Einkommen benötigt wird, werden andere Bedürfnisse zunächst aufgeschoben. Der Arbeitsalltag der ersten Generation ist bereits angedeutet worden, Ferda ist Maschinenführerin in einer Fleischwarenfabrik, sie arbeitet im Schichtdienst, auch Can ist erst in einer Fabrik beschäftigt, findet aber später Arbeit als städtischer Gärtner im Schlosspark. Bei diesen Tätigkeiten werden weder umfassenden Deutschkenntnisse noch spezifische Ausbildungen verlangt. Über das Netzwerk

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werden Arbeitsmöglichkeiten vermittelt, und ungelernte Kräfte kommen an vielen Stellen zum Einsatz, so z.B. in der verarbeitenden Industrie, auf dem Bau, aber zunehmend auch im Servicebereich, der Nahrungsmittelproduktion, Gastronomie und Technologie (vgl. Bozkurt 2009). Solange Ferda und Can Schichtarbeit leisten, sind die Kinder tagsüber viel auf sich gestellt, dabei kümmern sich die Älteren um die Jüngeren. Das geht auch aus den Kindheitserinnerungen von Maral zu dieser Zeit hervor: „Maral fühlte sich oft verantwortlich ihrer Mutter zu helfen. Die kam abends fertig von der Arbeit und tat Maral leid. Deshalb wollte sie bei den Hausarbeiten mitmachen. Ferda verteilte Aufgaben an alle Kinder, aber die anderen hatten keine Lust. Maral schlug die anderen, wenn sie nicht helfen wollten.“ (Feldtagebuch 07.12.2011)

Schon im Dorf haben die Kinder eine gewisse Selbstständigkeit angenommen und ihnen wurden alltägliche Aufgaben übertragen. In der Stadt sind sie umso mehr selbstverantwortlich. Bei den Imrens sind, wie in vielen anderen eingewanderten Familien, sowohl Vater, als auch Mutter berufstätig, Elif beschreibt, wie sie als einzige Schülerin am Elternabend teilnimmt. „Und zu Elternabenden, mein Vater musste immer um vier aufstehen, meine Mutter auch, die mussten also dementsprechend früher ins Bett, jedes Mal wenn es Elternabend gab, sagte meine Mutter: ‚Ja, ich kann zwar mitkommen, aber ich versteh nicht viel.‘ dann musste ich immer alleine hingehen, weißt du? (lacht) Das war auch schön irgendwie, alle Eltern saßen da, nur ich alleine. Aber meine Klassenlehrerin, das war so ne liebe, die wusste ja Bescheid, und dann hat sie mir auch alles so erklärt.“ (Interview Elif)

Elif begreift die frühe Verantwortlichkeit hier nicht als Defizit, sondern beschreibt es eher so, als hätte sie ihre Autonomie als Bereicherung empfunden. Die Kinder lernen ihren Alltag selbstständig zu meistern, aber sie werden auch von Nachbarn oder Lehrern unterstützt. So bilden sich erste zarte Netzwerke, auch im Fall von Elifs späterem Mann Cenk und dessen Hausgemeinschaft. „Und bei uns im Haus glaub ich, da waren wir die einzige türkische Familie, und der Rest war alles deutsch. Und ich kann es wirklich so sagen, ich hatte überall offene Türen, egal ob jetzt alt oder jung, weißt du. [...] Also das menschliche Miteinander das war super gewesen.“ (Cenk)

Cenk ist in dieser Zeit, vor seiner Einschulung, viel alleine zuhause, wenn seine Eltern arbeiten, aber er blickt sehr positiv auf diese Phase und erinnert das auf-

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genommen werden von den Nachbarn. Maral und Feza dagegen sind schon älter und beschreiben die ersten zwei Jahre nach der Migration, die sie ohne Schule und viel Zuhause verbringen, eher als Einschränkung. Ohne Abschluss haben sie nach dem Ende der Schullaufbahn nicht dieselben Möglichkeiten wie ihre jüngeren Geschwister später. Ihnen beiden werden über das Arbeitsamt die bereits erwähnten Weiterbildungsmaßnahmen vermittelt, die ihren Voraussetzungen entsprechen sollen, Feza im Bereich Metall und Maral im Bereich Malen, Streichen und Tapezieren. Maral bleibt nicht lange dabei und beginnt stattdessen eine Ausbildung als Schneiderin, was eher ihren Interessen entspricht. Sie hat sich in der zweijährigen Zeit nach der Migration Handarbeitstechniken selbst beigebracht. „Also wir waren doch in der Zwischenzeit allein zuhause. Und ich war sehr kreativ. Meine Mutter hatte ja auch Stoffe zuhause, und die hab ich mir allein zugeschnitten, zugenäht und gebastelt und was gemacht. Oder ich habe mir auch was gestrickt oder gehäkelt. Das hab ich mir selber ((beigebracht)) irgendwie, aus Langeweile.“ (Maral)

Auch Feza entscheidet sich nach einer Weile, die vermittelte Ausbildung abzubrechen. Ihre Entscheidung fällt, als ihr bewusst wird, dass es vorerst kein Zurück in die Türkei gibt. Möglicherweise verspricht eine bezahlte Arbeit ihr in diesem Moment mehr Unabhängigkeit, sie ist jedenfalls von da an sieben Jahre lang in Schichtarbeit in einer Kakaofabrik beschäftigt. Marals späterer Mann Muhammet arbeitet schon während der Schulzeit im Dönerladen der Eltern, einem kleinen Restaurant, das sie allerdings später verkaufen. Er sucht nach einer Arbeit mit besserem Verdienst und fängt in einer Fabrik an, die Kassetten produziert. Dann schaut er sich nach einer Arbeit um, bei der er seine mechanischen Kenntnisse einsetzen kann und beginnt in einer Textilfirma zu arbeiten, in der er nach einem Jahr Betriebsschlosser wird und hier die folgenden fünfzehn Jahre bis zur Auflösung des Standorts bleibt. Für diejenigen, die schon früher in die deutsche Schule gewechselt sind, Deutsch gelernt haben und sich während der Schulzeit orientieren konnten, ergibt sich eine veränderte Ausgangslage für den Übergang in die Arbeitswelt. Während die Eltern und auch die älteren Geschwister noch Arbeiten und Lehren ausführen, die ohne spezifische Voraussetzungen zugänglich sind, häufig manuelle Tätigkeiten im industriellen Bereich, haben die jüngeren mit dem Realschulabschluss neue Möglichkeiten. Elif hegt den Wunsch, Modedesignerin zu werden und verfolgt dieses Ziel auch eine Weile weiter, bis sie sich schließlich umorientieren muss.

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„Also Mode hat mich schon immer interessiert, irgendwas mit Modedesign machen, aber dafür bräucht ich Abi aber dazu haben meine Noten nicht gereicht. Und es gab hier in Berlin damals nicht so viele Hochschulen für Modedesign, da müsste ich nach München oder Düsseldorf, und dagegen waren ja meine Eltern.14 Ich hab zwar drei Jahre lang eine Schneiderausbildung gemacht und beendet – das war natürlich auch Voraussetzung, nähen zu können – aber in dem Beruf wollt ich nicht bleiben. Ständig in der Fabrik nur nähen, nähen, war nichts für mich. [...] Und dann hab ich es einfach-, das war dann ein Traum, der ist verflogen.“ (Interview Elif)

Elif träumt von einer Arbeit, bei der sie ihre Fähigkeiten und Interessen einbringen kann, die Arbeit in der Fabrik, beschließt sie, sei nichts für sie. Später entscheidet sie sich für eine Ausbildung als Zahnarzthelferin, schließt die Lehre auch ab und arbeitet mit Freude in dem Beruf. Auch Fatih erzählt, dass er sich in der beruflichen Ausrichtung an seinen Interessen und Talenten orientiert habe. Schon in der Schule habe er festgestellt, dass ihm Naturwissenschaft und Technik liegen, und er verfolgt diese Richtung von da an zielgerichtet und erfolgreich. „[...] die Realschule war auch in der Zeit, wo ich dann eigentlich angefangen habe, mich damit auseinanderzusetzen, woher ich komme, was ich möchte, wie es weitergehen soll. Und dort hatte ich nen naturwissenschaftlichen Lehrer, also unser Klassenlehrer war ein Mathelehrer und Physiklehrer und für mich war er so n Vorbild. Der war auch ein kleiner Bastler, also so ’n Mathegenie und Physiker, der hatte immer schöne Sachen, die er mitgebracht hat, und der konnte uns irgendwas vorführen. H::: (lauter) Das war auch die Richtung, wo ich gesagt habe: ‚Mathe, Physik interessiert mich. Kann ich mich auseinandersetzen.‘ das war auch die Richtung, die ich dann eingeschlagen habe. Wo ich dann auch festgestellt habe, dass ich ne Begabung dafür habe. Und dann hab ich eine Ausbildung angefangen als Elektroniker und Elektriker.“ (Interview Fatih)

Im Laufe der Ausbildung entscheidet er relativ bald, dass er seine Ausbildung an der Universität fortsetzen möchte und sich diesen Weg zutraut. Er schließt dann auch ein Studium der Elektrotechnik an einer technischen Fachhochschule an, nach dessen Abschluss ihn eine etwas aufreibende Zeit der Arbeitsuche über

14 „Aber mein Bruder, ich glaub wenn er diesen Traum gehabt hätte mit 16, 17 ‚Ich will jetzt in eine andere Stadt.‘ er hätte auch nicht die Chance hinzugehen. Das, nee, wir sind nicht so aufgewachsen Mädchen, Junge hat nen anderen Stellenwert, nee.“ (Interview Elif)

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Zeitarbeitsfirmen schließlich in die Bahnindustrie führt, wo er bis heute als Ingenieur angestellt ist.

5.5 ERSTE FAMILIENGRÜNDUNGEN DER ZWEITEN GENERATION Nicht nur beruflich strecken die Familienmitglieder in der Lebensphase im Arbeiterviertel nach und nach ihre Fühler aus und werden selbstständiger. Auch die ersten Familiengründungen der zweiten Generation fallen in diese Zeit und beginnen ein neues Kapitel in der Familiengeschichte. Dabei ist es möglicherweise sinnvoll, die beruflichen Möglichkeiten oder auch Grenzen und die Entscheidung für Heirat und Kinder gemeinsam zu betrachten. Sowohl Maral als auch Feza beschreiben den Wunsch, heiraten zu wollen und eine eigene Familie zu gründen verbunden mit der Vorstellung sich ein eigenes Leben aufzubauen und so eine Alternative zur wenig befriedigenden, beruflichen Arbeit zu haben. „Ich bin froh, dass ich vier Kinder habe. Ich wusste, sonst kannst du sowieso nichts erreichen. Ich hatte keine schulische Erfahrung und so. Das Beste, was ich machen konnte, war eine Familie zu gründen (lachend). Das hab ich auch erreicht, naja das hat mich glücklich gemacht, das ist alles.“ (Interview Maral)

In Marals biografischer Betrachtung kann die Geburt ihrer Kinder als alternative Entwicklungsmöglichkeit interpretiert werden. Hier werden ihr keine Grenzen gesetzt, und sie kann das Familienleben nach ihren Vorstellungen gestalten, eine ihr zufolge befriedigende Erfahrung. Auch die ältere Schwester Feza setzt die Entscheidung zu heiraten im biografischen Narrativ mit ihrer Vorgeschichte, der Unzufriedenheit in Deutschland, dem holprigen Bildungs- und Berufsverlauf in Beziehung. Erst schildert sie ihre Verzweiflung, als ihr bewusst wird, dass sie nicht in die Türkei zurückkehren kann, weil ihr Vater es nicht erlaubt. Er möchte keine weitere Trennung erleben, und Feza muss sich mit der Entscheidung abfinden, obwohl sie nach wie vor Heimweh hat. „Danach hab ich gedacht: ‚Naja ok, dann hab ich ja die zweite Wahl, ich heirate.‘ Ich weiß nicht warum, aber ich dachte: ‚Ja, ok, das ist auch ein Weg.‘ Nach einem Jahr, wo ich gearbeitet habe, hab ich geheiratet. (0.5) Ok, dann fängt wieder eine Katastrophe an, mein Leben. (0.4) Dann hab ich einen Mann geheiratet, ok vielleicht hab ich ihn geliebt, oder es war auch ein Ausweg ich weiß nicht. (0.5) Nach der Heirat, nach sechs Monaten war ich schwanger, eigentlich wollten meine Eltern nicht, dass ich ihn heirate. Aber ich hab ihn

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geliebt, er war ehrlich, also er war wie ein Mann. Ich dachte: ‚Ok, was er früher gemacht hat, ist mir egal. Aber er ist ja ehrlich, nett.‘“ (Interview Feza)

Für beide Schwestern erscheint Heiraten als Alternative, als Möglichkeit, die eigene Zukunft zu gestalten, etwas zu beginnen, das dem Leben eine neue Wendung geben könnte. Sie erleben ihre Möglichkeiten als recht eingeschränkt, für die schulische Ausbildung werden sie als zu alt eingestuft, ohne Schulabschluss und mit fehlenden Deutschkenntnissen ist auch der Arbeitsmarkt eingegrenzt und die eingeschlagenen Wege stellen sich nicht als zufriedenstellend heraus. Als die jungen Mädchen ihre zukünftigen Ehemänner kennenlernen, entsteht einerseits eine Zuneigung, andererseits eben auch ein Möglichkeitsraum, der in einer als begrenzt erlebten Situation willkommen ist. Besonders Feza hebt hervor, wie sehr ihr die Entscheidung, in der deutschen Großstadt leben zu müssen, von Anfang an widerstrebt, sie kann sich nicht mit der Veränderung abfinden, als ihr schließlich doch klar wird, dass ihre Eltern einer erneuten Trennung der Familie nicht zustimmen werden und sie als junges Mädchen nicht alleine zurückgehen lassen, ist die Heirat die nächstbeste Möglichkeit, etwas zu verändern. Im Rahmen der familiären Tradition ist es auch der einzige anerkannte Weg, sich von der eigenen Familie zu lösen, denn alleine auszuziehen ist keine akzeptable Option. Den Töchtern zufolge sind ihre Eltern trotzdem in beiden Fällen nicht begeistert, sie kennen die Familien der jungen Männer nicht und stimmen der Hochzeit nicht unumwunden zu. In Fezas Fall sind die Zweifel möglicherweise nicht ohne Berechtigung, denn ihre Ehe ist nicht allzu glücklich. Nach der Heirat zieht sie bei Alis Familie ein, das Verhältnis mit den Schwiegereltern ist von Anfang an schwierig. Kurz darauf wird Feza schwanger und zum Ende der Schwangerschaft erfährt sie am Telefon, dass ihr Mann nach gerichtlichem Beschluss ausgewiesen werden soll, weil er straffällig geworden ist. Noch bevor der gemeinsame Sohn geboren wird, muss er Deutschland verlassen und kehrt in die Türkei zurück. „Es war gerichtlich, er wurde verhaftet und dann haben sie ihn wirklich abgeschoben. Einfach so. Und ich stand wieder da. So. (I: Schwanger) Schwanger. Ph::: ich kannte ihn nicht, ich kannte seine Familie nicht (beginnt zu weinen) ich stand da, ich konnte mich wieder nicht wehren. Und danach hab ich fünf Jahre gewartet, und ich hab immer wieder Anträge gestellt, dass er hierher kommen kann, und das haben die immer wieder abgelehnt, denn er hatte zwei Jahre Strafe. Also zwei Jahre durfte er nicht mehr hierher kommen. Aber es war anscheinend auch für ihn sehr schlimm, dass er einfach dahin abgeschoben wurde, er kannte da auch niemanden. Er hat gedacht: ‚Was soll ich denn hier machen zwei Jahre?‘ Er hat beantragt, seine Armeepflicht zu machen. Also es hat vier, fünf Jahre

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gedauert. Und danach hab ich wieder Anträge gestellt, ich hab sieben Mal beantragt, dass er hierher kommen kann, und ich bin mit seinen Scheißeltern hiergeblieben. In einem Haus. Ah::: das war das Schlimmste. Ich hab aber gearbeitet. Als mein Sohn dann fünf Jahre alt war, [...] nach sechs Jahren hab ich ihn hergeholt [...]. (Interview Feza)

Wieder kommt es zu einer Trennung, diesmal zwischen Ali und seinem Sohn Osman, der 1982 in Berlin geboren wird. Er wächst bei seiner Mutter und den Großeltern auf und Feza arbeitet für den Lebensunterhalt der Familie. Erst nach sechsjähriger Odyssee und unzähligen Anträgen gelingt es mit Hilfe eines Rechtsanwalts und einem Antrag auf Familienzusammenführung, ihren Mann wieder nach Deutschland zu holen. Ihre Schwester Maral besucht sie häufig in dieser Zeit, sie unterstützen sich nach wie vor gegenseitig, besonders in der Krise. Maral selbst heiratet 1984, ihr Mann Muhammet erinnert sich im Interview an die Zeit ihres Kennenlernens. „Wir haben uns bei einer Hochzeit kennengelernt, gesehen. Das war auch so Zufall. Ich hab sie eingeladen zu mir, [...] ich hab gesagt: ‚Ich wohn allein hier mit meinem Bruder.‘ Sie war sehr freundlich gewesen, sehr süß und hat gleich mein Haus gesehen, Wohnung [...]. Hat gleich bisschen geholfen und ist dann paarmal gekommen, da hab ich entschlossen sie ist ein nette Frau, ich geh mal zu ihren Eltern. Dann haben mein Bruder und ich uns angezogen, Blumenstrauß genommen und bei uns ist ja Süßigkeiten, muss man ja mitnehmen. Wir sind zu ihren Eltern gegangen, dann hab ich gesagt: ‚So, so ich wollte ihre Tochter heiraten. Maral. In Gottes Namen Allah.‘ bei uns sagt man das ja so. Sagt er: ‚Ja, hast du keine Eltern? Keinen Vater, keine Mutter?‘Ich hab gesagt: ‚Ja‘ ‚Ja gib mir mal‘ sagt er ‚Telefonnummer. Warum kommst du hier alleine plötzlich auf einmal, was ist denn mit dir? Wer bist du denn?‘ Und so. Ich hab gesagt: ‚So, und so ich arbeite, ich hab ja jetzt gerade eine Arbeit angefangen vor einem Jahr, ich hab eine Festanstellung, also einen Arbeitsplatz.‘ Dann haben die mit meinen Eltern gesprochen [...] was sie gesprochen haben h:::, weiß ich nicht. Und natürlich ihre Eltern haben Maral gefragt ‚Bist du auch einverstanden?‘ Sie sagt ‚Ja‘ und dann ging das alles schnell. 15 Tage später haben wir die Verlobung gemacht, nach einem halben Jahr oder so geheiratet. Ging alles so schnell.“ (Interview Muhammet)

Nachdem er Maral getroffen hat, ist Muhammet nach kurzer Zeit überzeugt, dass sie zusammenpassen und sucht auch wenig später die Eltern auf, um deren Zustimmung einzuholen. Can ist verwundert über den selbstständigen jungen Mann, der ohne familiäre Anbindung zu sein scheint und nur von seinem jüngeren Bruder begleitet bei den Imrens erscheint. Aber auch ohne sich näher zu kennen, stimmen die beiden Familien der Ehe letztendlich zu. Von da an lebt

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Maral mit Muhammet und seinem jüngeren Bruder zusammen, der noch in der Ausbildung ist. 1987 wird ihr erstes Kind Melek geboren, Maral ist oft mit der Tochter bei ihren Eltern, denn Muhammet arbeitet im Schichtdienst und ist abends meistens nicht da. 1989 heiratet auch die jüngste Schwester Elif und zieht von Zuhause aus in die gemeinsame Wohnung mit Cenk. „Also mein Mann war 20 ich war 21. Wir haben uns kennengelernt, innerhalb von fünf Monaten, wir saßen in der U-Bahn glaub ich, ja er wollte mich nach Hause fahren, plötzlich kam die Frage ‚Wollen wir nicht heiraten?‘ (lachen). Und ich ‚Ja::, ja, warum nicht?‘ (lachen) und dann ‚Ja, wir heiraten, ok.‘ Und dann hab ich das meiner Mutter erzählt, sie fiel natürlich aus allen Wolken ‚Mit wem willst du denn heiraten? Du bist doch noch so klein! Wer ist das überhaupt? Wir kennen die Familie gar nicht! Nein, kommt gar nicht in die Tüte!‘ (Mit verstellter Stimme, aufgebracht), und dann mein Papa…, weil ich war ja die Lieblingstochter von meinem Papa. Der ist ja aus allen Wolken gefallen ‚Was? Meine kleine Tochter? Die will heiraten, nee kommt gar nicht in die Tüte.‘ Der ist richtig krank geworden. Und dann irgendwie, so langsam, langsam haben sich die Familien gegenseitig kennengelernt, ja dann haben wir geheiratet.“ (Interview Elif)

Während die Eltern zunächst nicht überzeugt von der Heiratsidee sind, erscheinen Ferda und Can dem potentiellen Schwiegersohn Cenk auf Anhieb sympathisch, und er fühlt sich in der Familie wohl. So erzählt er mir, wie ihm Ferda und die familiäre Atmosphäre bei ihrer ersten Begegnung imponierte. Sowohl Muhammet als auch Cenk werden nach der Heirat sehr in die Familie integriert und schätzen diese Einbindung wert. Aber anfangs fällt es den Eltern nicht leicht, ihre Kinder loszulassen und ihre eigenen Wege gehen zu sehen. Nach und nach wird die Familie größer, 1989 bekommt Feza ihr zweites Kind Meryem, 1990 folgt Nuriye, die zweite Tochter von Maral. Die Kinder wachsen im großfamiliären Kontext auf, sie besuchen sich gegenseitig und wohnen alle nicht weit voneinander entfernt. Als letzter heiratet 1996 Fatih, die Familie seiner Frau stammt aus derselben Gegend wie Ferda und Can, allerdings leben sie jetzt in Lübeck. Fatih lernt die damals noch Siebzehnjährige bei einem Besuch kennen, er ist dort von da an regelmäßig zu Gast, und die beiden telefonieren viel. Nach einem Jahr heiraten die beiden, Fatma kommt nach Berlin und zieht bei den Schwiegereltern ein. Mit den Familiengründungen, dem selbstständig werden der Kinder, dem Anwachsen der Familie endet langsam die Zeit im Arbeiterviertel. Die dritte Generation nimmt immer mehr Raum ein, von ihnen werden nur die Ältesten noch Erinnerungen an diese Phase haben. Die Familien benötigen mehr Platz, nur das erste Kind von Fatih und Fatma – Sohn Cengiz –

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wird 1997 noch in der alten Wohnung geboren, drei weitere werden später in neuer Umgebung folgen.15

5.6 RESÜMEE: KRISEN UND NEUFORMIERUNGEN DER FAMILIE Der biografische Abschnitt im Arbeiterviertel umfasst Erinnerungen an Neuanfang, Arbeit und die Reunion der Familie. Betrachten wir die Erzählungen und Kontextbeschreibungen zu dieser Zeit, lassen sich unterschiedliche Grenzverschiebungen und Transformationen beschreiben. Für die erste Generation wandelt sich in einem eher schleichenden Prozess die mit der Migration verbundene Perspektive. Die zunächst als Möglichkeitsraum konzipierte deutsche Stadt stellt sich nicht als Sprungbrett für kurzfristigen Aufstieg dar, und trotzdem erscheint ein Abbruch des Projekts nicht möglich, denn der Migrationsschritt bindet auf vielfältige Weise. Die Rückkehr wird unter anderem erschwert durch die neu gezogenen Grenzen zwischen Migranten und den im Dorf Verbliebenen. Solange die mit der Migration verbundenen Ziele nicht erreicht sind, erscheint der Schritt in die Türkei nicht als weiterführende Perspektive für die Familie. Während das Netzwerk zu Verwandten, Bekannten und Freunden in der Heimat im Alltag keine Unterstützung mehr bietet, entwickeln sich neue Kontakte zum deutschen Umfeld erst langsam, und auch hier sind Fremdheit und Grenzziehungen für die erste Generation deutlich spürbar. Das Nachholen der Kinder ist mit der Hoffnung verbunden, mit dem Familienleben auch das Vertraute wieder herstellen zu können. Aber die Entfremdung reicht bis in die Familie selbst und verschwindet erst zaghaft, wobei hier differente Perspektiven der Geschwister auftauchen. Mit dem Nachzug der Kinder, wird deutlich, dass mit der jahrelangen Trennung Grenzen entstanden sind, und während sich vorher jeder in individuelle Imaginationen der Familie flüchten konnte, ist die Familie nun mit der Aufgabe konfrontiert, unter den gegebenen Umständen eine neue Form des Miteinanderseins zu entwickeln. In der Krise des Neuanfangs in einer fremden Stadt ist die Vernetzung mit dem Umfeld ein unterstützendes Element. Innerhalb der zweiten Generation gelingt es besonders den Jüngeren, sich schnell umzustellen und in Schule und Nachbarschaft Kontakte zu knüpfen. Isolation, so

15 Auch Muhammet und Marals Familie wächst, und so beschreibt Muhammet, wie er die für ihn schwierige Entscheidung trifft, dass sein Bruder nicht länger bei ihnen wohnen kann. Dieser hat selbst eine Freundin und das nicht konfliktfreie Zusammenleben ist zu beengt und belastet die Familie.

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wie bei Maral und Feza, erschwert es, die Krise biografisch zu verarbeiten. Zwischen den vier Geschwistern tut sich in den folgenden Jahren eine Schere auf; während die älteren Mädchen zum Warten gezwungen sind und ihre Oberschulzeit durch die Unterbrechungen auf einen kurzen Zeitraum zusammenschrumpft, können die jüngeren direkt in die Schule gehen, sie lernen die Sprache und betrachten die Zeit positiv. Es deutet sich in diesem Kapitel die Unterschiedlichkeit innerfamiliärer Erfahrungen und deren Kontextabhängigkeit an. Schule und Arbeit sind die zentralen Institutionen des neuen Lebensumfelds, ohne Einbindung in diese bleiben die Akteure gesellschaftlich exkludiert. Und nur die schulisch erworbene Bildung lässt sich direkt für den beruflichen Einstieg einsetzen. Andere Formen von Bildung, andere Abschlüsse (KFZMechaniker) und Fähigkeiten (Handarbeit) erscheinen nicht direkt anschlussfähig und werden sich erst zu einem späteren Zeitpunkt hilfreich erweisen. Bildung und auch Sprache sind dahingehend mit Macht verwoben, als sie die Position der Akteure, ihre Wahl- und Widerstandsmöglichkeiten entscheidend prägen. Ohne dieses Kapital – genauer gesagt die Ausbildung an einer deutschen Schule und Kenntnis der deutschen Sprache – sind die Handlungsmöglichkeiten deutlich begrenzt. Die erste Generation arbeitet auf die materielle Absicherung der Familie hin, die Voraussetzungen für ihre Arbeit sind relativ gering, aber auch ihre eigenen Erwartungen sind moderat. In der zweiten Generation vollzieht sich auf dieser Ebene ein Wandel, diejenigen mit stärker durchbrochenen Bildungsverläufen üben ähnlich wie die Eltern noch ungelernte Tätigkeiten aus, sehen ihre Situation allerdings kritischer bzw. suchen auch aktiv nach Alternativen. Noch spezifischere Ansprüche richten dann die in der deutschen Schule über längere Zeiträume Ausgebildeten an ihre berufliche Zukunft und können diese auch zum Teil verwirklichen. Doch unabhängig von der Umsetzung ist der Wandel allein in den Träumen und Zielen spürbar, das Selbstkonzept, die Vorstellung der Selbstverwirklichung gewinnt an Bedeutung, oder ihr wird mehr Raum gewährt. (Schulische) Bildung wird von der zweiten Generation als Voraussetzung für Wahlmöglichkeiten und damit auch Selbstverwirklichung, im Sinne des Nachgehens eigener Interessen und Talente betrachtet. Während die erste Generation Arbeit als mehr oder minder erzwungene Notwendigkeit für andere ausführt, auch auf Kosten des Raums für „eigene Entwicklung“, variieren die Lebensläufe der zweiten Generation zwischen diesem und einem erweiterten Arbeitskonzept, dass selbstbestimmter und individuell zugeschnitten ist. Das Arbeiterviertel als Bildungsraum enthält im Vergleich zum türkischen Dorf neue Erfahrungen und damit auch TransformationsPotenzial, Einschränkungen und Erweiterungen von Selbstbestimmung finden parallel statt. So erscheint der Möglichkeitsraum von Maral und Feza zunächst deutlich begrenzter,

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während sich für Elif und auch Cenk neue Freiheiten (Elternabend, soziale Kontakte) ergeben. Die Neuorientierung in dieser ambivalenten Situation ist prägend und verweist auf weitere biografische Bildungsmomente. In der Familiengeschichte tauchen Kreativität und Autodidaktik als Ressourcen im Umgang mit gewissen Einschränkungen auf. Ferda eignet sich Lesen und Schreiben an und löst sich so auch aus der Abhängigkeit, von ihrem Mann informiert werden zu müssen. Und Maral bringt sich in der ihr überlassenen Zeit ohne klare Perspektive das Nähen, Häkeln und Stricken bei. Darüber hinaus werden im neuen Umfeld bis dahin selbstverständliche Überzeugungen und Werte mit anderen Konzepten konfrontiert. Bei Maral löst diese Situation eine nähere Auseinandersetzung mit der eigenen Religion – dem Islam – aus, in der Zeit im Arbeiterviertel liest sie Bücher des Vaters und betont, dass sie diese Suche bei der sie „viel gelesen und geforscht“ habe, „ganz allein“ initiiert und vorangetrieben habe. Die Migrationsentscheidung der Imrens wird in dieser Phase des Familienlebens neu abgewogen, die Konsequenzen sind für beide Generationen ambivalent; abgesehen von den Veränderungen der Lebensumstände ist der Schritt der Eltern einerseits Ansporn, andererseits Abschreckung. Dass der Arbeitsrhythmus den Alltag diktiert und den Kindern die Eltern auch entzieht, ist ein Aspekt. Je älter die Kinder werden, desto eher knüpft sich hier die Frage an, ob dieses Engagement sich gelohnt hat. Diese Frage wird unterschiedlich beantwortet und bindet dann auch die eigene Biografie mit ein, so ist jedes Familienmitglied Teil des Migrationsprojekts und der Logik des Scheiterns oder Erfolgs. Wie diese Rahmung mit individuellen Sinndeutungen verknüpft und in Bezug zur eigenen Biografie gesetzt wird, kann auch als migrationsspezifische Herausforderung und bildungsrelevanter Moment gelten. Denn von hier aus werden in unterschiedlicher Ausrichtung die eigenen Lebensvorstellungen entworfen und Ziele gesetzt. In diesem Licht kann auch die Entscheidung zur Familiengründung als mehr denn die Ausführung eines traditionell vorgeprägten Weges interpretiert werden. Erstens wird mit den Heiraten eine weitere Transformation und Grenzverschiebung sichtbar und zwar in der Partnerwahl der jungen Erwachsenen der zweiten Generation. Sie beziehen die Eltern in die Heiratsentscheidung immer noch mit ein, aber gleichzeitig ist deren Zustimmung nicht mehr entscheidend, sondern wird eher der Form halber gewünscht. Zweitens ist die Entscheidung für eine Familie und Betonung des Kinderwunsches auch eine Ausrichtung auf den Lebensbereich, der mit der Migration in den Hintergrund geraten ist. Zwar ist das gesamte Projekt auf das Fortkommen der Familie ausgerichtet, aber in der praktischen Umsetzung hat es die familiäre Gemeinschaft destabilisiert. Mit dem Schritt, eine eigene Familie zu gründen, können auch Transformationsaspiratio-

Im Arbeiterviertel | 129

nen in dem Sinne verbunden sein, die Erfahrungen in positiver Weise für die nächste Generation zu nutzen. In den biografischen Narrativen taucht die Familie immer wieder als erweiterter Gestaltungs- und Deutungsraum auf. Auch wenn es darum geht, das eigene Leben entgegen einer Defizitperspektive zu entwerfen, bietet die Familie sozusagen einen vergrößerten Spielraum. So kann Ferda darauf hinweisen, dass sie für ihre Familie schwer gearbeitet habe und eigene Ambitionen dabei vernachlässigen musste, und diese Deutung wird von den folgenden Generationen anerkannt, aufgegriffen und ergänzt. So konstatiert Fatih die Erfahrungen seiner Eltern folgendermaßen: „Aber ich denke mal, die erste Generation hatte es am Schwierigsten, sie haben vieles über sich ergehen lassen ohne sich zu wehren. Haben sehr viel mitgemacht, haben viel geholfen, dass Deutschland wirtschaftlich dort steht, wo es jetzt steht, wo wir jetzt sind, aber man hat es ihnen nie gedankt, man hat es ihnen auch nie irgendwie zurückgegeben. [...] Die, die davon profitiert haben, sind wahrscheinlich wir, die zweite Generation [...]“ (Interview Fatih)

Die harte Arbeit der Eltern, die Inkaufnahme der Entbehrungen, kann innerhalb des Mehrgenerationenrahmens sinnvoll erscheinen, auch wenn die Transformationen sich anders gestalten als anfänglich vorgestellt. In den biografischen Narrativen von Maral und Feza wird die Entscheidung zur Familiengründung darüber hinaus als einzige Möglichkeit der Selbstbestimmung eingebracht. In Marals Fall beschreibt sie diesen Weg zwar als Ergebnis ihrer unbefriedigenden beruflichen Optionen, dessen ungeachtet schildert sie die Heirat und Geburt eigener Kinder als Wendepunkt, der sie „glücklich gemacht“ hat. Auch in Bezug auf Feza wird zwar weniger die Heirat, aber dafür das Muttersein als positive Erfahrung beschrieben. Zum einen könnten darin normative Frauenbilder und deren enge Verbindung mit Mutterschaft gelesen werden, darüber hinaus ist jedoch Familie und die Erziehung von Kindern auch als transformativer Raum denkbar. In jedem Fall versuchen die Männer und Frauen der zweiten Generation eine Perspektive zu entwickeln, die über eine materielle Absicherung hinausgeht und den wachsenden gestalterischen Freiraum zu nutzen. Die längere Ausbildung der Jüngeren vermittelt ihnen neben den formalen Abschlüssen auch ein anderes Selbstbewusstsein, neue Ansprüche und Vorstellungen entstehen und werden anders vertreten. Elif beschließt nach abgeschlossener Schneiderlehre nicht in der Fabrik zu arbeiten, sucht und findet eine neue Perspektive, die ihr eher entspricht. Die Entwicklung der zweiten Generation deutet im Grunde schon weg vom Arbeiterviertel in eine neue Lebensphase. Das Ende der Zeit in diesem

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Stadtteil lässt sich auch mit den Geburten der ersten Enkel von Ferda und Can verknüpfen. Die Kinder der dritten Generation wachsen in der deutschen Großstadt auf, sie kennen das türkische Dorf nur aus Erzählungen, und sie verwurzeln die Familie nun noch mehr in der ehemals fremden Stadt.

6 Im (post-)migrantischen Kiez

Nachdem wir in den vorherigen Kapiteln auf vergangene Phasen der Familiengeschichte und das jeweilige Umfeld des Dorfs und Arbeiterviertels geblickt haben, reicht der folgende Abschnitt in die Gegenwart und bleibt somit unabgeschlossen. Die Familie Imren ist deutlich gewachsen, Can und Ferda haben mittlerweile elf Enkel und die Familien von Feza, Maral, Elif und Fatih sind eigenständige Einheiten mit einem jeweils angepassten Alltagsgefüge, unterschiedlichen Orientierungen und Dynamiken. Die vier Geschwister richten sich neu aus, sie knüpfen neue Verbindungen (auch über ihre jeweiligen Ehepartner) und gleichzeitig bleibt der großfamiliäre Rahmen bestehen und wird durch regelmäßige Interaktionen bestätigt. Die bereits beschriebene Wohnsituation in kurzer räumlicher Distanz ermöglicht die unkomplizierte Integration der familiären Begegnungen in den Alltag.1 Auch in dritter Generation wird der Kontakt zu Großeltern, Tanten, Onkels, Cousins und Cousinen als zentraler Bestandteil des Alltags beibehalten, besonders die Gleichaltrigen interagieren eng miteinander. Während die familiäre Gemeinschaft zunächst relativ konstant erscheint, haben in anderen Lebensbereichen deutliche Veränderungen und Verschiebungen stattgefunden. Die erste Generation richtete ihr Leben zeitlich und räumlich an der Arbeit(smigration) aus, und die damit verbundenen Aspirationen wurden lange aufrechterhalten, die zweite Generation lässt sich etwas weniger (oder auf andere Weise) an diese Versprechungen binden und setzt neue Schwerpunkte. Mit der Rahmung „postmigrantischer Kiez“ sollen verschiedene Aspekte angedeutet werden, die Verwendung des Begriffs ist in der wissenschaftlichen Debatte allerdings nicht unumstritten, weswegen ich etwas näher auf meine Be1

Zwischen der Gegenwart der Familie in nachbarschaftlicher Nähe in Neukölln und der Wohnsituation im Wedding, liegt eine Zwischenphase in der die einzelnen Kernfamilien verteilt in unterschiedlichen Bezirke leben. Auch in dieser Phase besteht konstant reger Austausch zwischen den Einzelfamilien.

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weggründe für diese Bezeichnung eingehe. Bezogen auf die Familie wird mit dem „post-„ auf eine veränderte Lebenssituation hingewiesen. Während die vorherige Lebensphase im Zeichen der Migration und den damit einhergehenden Transformationen stand, ist diese Erfahrung im Alltag der Gegenwart in den Hintergrund gerückt. Die dritte Generation ist in Berlin geboren, auch die Rückkehrorientierung verschwindet schleichend, für diesen Teil der Familie ist die Wanderung kein selbst erfahrenes biografisches Element. Selbstverständlich ist dieser Status nicht repräsentativ für alle Bewohner des Stadtviertels mit ihren vielfältigen Biografien, aber Orte wie dieser vermitteln gewissermaßen die Alltäglichkeit migrantischer Erfahrungen als mittlerweile (integraler) Bestandteil einer deutschen Großstadt. Das „post“ soll diesen Übergang zur gesellschaftlichen Zugehörigkeit und neuen Formen der Selbstverortung, dem langsamen Entstehen neuer Räume für Hybridität andeuten. Paul Mecheril lehnt die Verwendung des Ausdrucks „postmigrantisch“ ab, da er ihn als Abgrenzung „vom falschen Objekt“ – dem Migrantischen selbst – versteht, gewissermaßen einer begrifflichen Bestätigung der Abwertung (Mecheril 2014: 107f.). Mecheril spricht dem Begriff nicht die ihm innewohnende Kritik ab, die sich auf das „nationalstaatliche Integrationsdispositiv“, die abwertende Einordnung nach „Verwertbarkeit“ der Migration, die Vernachlässigung der Hybridität migrantischer Realitäten und die herrschenden „Repräsentationsverhältnisse“ bezieht. Gleichzeitig berge das „post“ vor dem Migrantischen die Gefahr, als Überwindung desselben, als Absetzung vom negativ konnotierten Migrantenbegriff zu erscheinen (ebd. 108ff.). Ich stimme diesen Einwänden zum Teil zu, sehe aber gleichzeitig die Möglichkeit mit dem Begriff gewisse Verschiebungen und neue Anordnungen zu markieren, ohne dass damit zwingend eine Abwertung des Migrantischen per se verbunden wäre.2 Biografisch hat sich das Thema Migration innerhalb der familiären Narrative und Alltagserfahrungen von einer konkreten Transformationserfahrung in der ersten 2

Da ich den Einwänden Mecherils zum Teil zustimme, verwende ich den Begriff in folgender Form als (post-)migrantisch, wobei die Einklammerung die Bestimmung des Begriffs etwas in der Schwebe halten soll. Tatsächlich ist innerhalb der Familie die Migration nicht mehr für alle Mitglieder Teil der eigenen Biografie und auch für die erste und zweite Generation lässt sich hinterfragen, wie lange dieses Element biografisch zentral bleibt. Das „post“ hebt aus meiner Sicht die begriffliche und diskursive Ambivalenz des Begriffskonstrukts des „Migranten“ hervor, die sonst aufgrund der Normalität der Verwendung der Kategorie untergeht. Meine Verwendung soll somit nicht retuschieren, dass eine Auseinandersetzung mit der Kategorie „Migrant“ vor den Begriff des Postmigrantischen zurückreicht, sie wird vielmehr als expliziter Marker für die Verschiebungen und zunehmende Komplexität um dieses Label gedacht.

Im (post-)migrantischen Kiez | 133

und zweiten Generation, zu einer Normalität verlagert, die eher durch Zuschreibungen, abwertende Diskurse und strukturelle Grenzziehungen relevant und sozusagen als „Normalität des Andersseins“ ins Bewusstsein gerufen wird. Yildiz weist darauf hin, dass mit den Narrativen der zweiten und dritten Generation, ihren „hybriden Lebensentwürfen“ auch ein neuer Blick auf die Geschichten der ersten Generation geworfen wird und so „marginalisierte Wissensarten sichtbar“ werden, was er unter dem Begriff des „Postmigrantischen“ fasst (Yildiz 2013: 144)3. Auf der räumlichen Ebene kann weiterhin die Veränderung der Stadtstruktur mit und durch das Migrantische mit diesem Begriff aufgenommen werden. Darauf deutet auch der Begriff Kiez hin, und außerdem soll mit ihm ein weiteres zentrales Element der familiären Lebenswelt vorweg anklingen – die lokale Vernetzung. Kiez bezeichnet ein Wohnumfeld, dass durch sein (post-)migrantisches Milieu geprägt wird, wobei die lokale Infrastruktur der Nachbarschaft auf vielseitige Weise gestaltet und genutzt wird (vgl. Welz 2012: 144f.). Die Nachbarschaft hat hier symbolische und praktische Bedeutung und kann so Zugehörigkeit und Unterstützung vermitteln, gleichzeitig ist der Begriff wie auch der Raum selbst wirtschaftlichen und politischen Veränderungen und auch Vereinnahmung ausgesetzt.4 Der (post-)migrantische Kiez entwickelt sich aus einem ehemaligen Arbeiterviertel, und die Veränderungen des Lebensraums spiegeln sich auch in den Biografien der Familie. Neukölln, der (neue) Lebensmittelpunkt der Familie, hat traditionell eine ähnliche soziale Zusammensetzung wie der Wedding, 1989, die deutsche Wiedervereinigung, der Rückzug der Industrie (bzw. deren Verlagerung ins Ausland), die Neu- und Umnutzung von Gewerberäumen, aber eben auch die hier sesshaft gewordenen (Post-)Migranten geben Impulse für das Anderswerden der Stadtviertel. Das urbane Umfeld der Familie Imren ist kein stati3

Yildiz begreift den von ihm vorgeschlagenen Begriff wie folgt: „Dabei geht es um kulturelle Überschneidungen, Grenz- und Zwischenräume, um Kreuzungen und simultane Zugehörigkeiten.“ (ebd.)

4

Welz zeigt in ihrer Auseinandersetzung mit dem Begriff Kiez die durchaus ambivalente Nutzung desselben auf. Neben der erwähnten Verwendung als „migrantisch geprägte Milieus“ und eng vernetzte „Nahwelt“ sei eine zunehmende Ausweitung im öffentlichen Gebrauch festzustellen. Damit entwickelt sich der Begriff auch von einem berlinspezifischen zu einem deutschlandweit genutzten, der politisch und wirtschaftlich vereinnahmt und so Teil der „neoliberalen Transformation von deutschen Städten“ wird. „Der Kiez ist in der neoliberalen Stadt also zum Baustein eines sozialpädagogischen Regimes der Konfliktprävention geworden, zum anderen ein Produkt, das für den Raumkonsum urbaner Mittelschichten hergestellt wird.“ (Welz 2012: 147)

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sches Gefüge, die Stadt hat sich gewandelt, sie wurde und wird von den Menschen gestaltet, die hier leben. Die Stadtbewohner hinterlassen ihre Spuren und kreieren neue Räume, bringen unterschiedliche inhaltliche und ästhetische Konzepte mit. Anfänglich war das Leben im Arbeiterviertel eher auf Zweckmäßigkeit hin ausgerichtet, die Mieten waren günstig, die Arbeitsstelle in der Nähe, die Infrastruktur noch nicht weit gediehen und wenig bis gar nicht auf türkische Migranten ausgerichtet. Mittlerweile sind seit Cans Migration fast fünfzig Jahre vergangen, mit der Zeit wachsen Engagement und Investitionen im Umfeld, und in seinem jetzigen Stadtteil gibt es türkische Lebensmittelläden, Kulturvereine und Moscheen neben Kneipen, Cafés, Kinderläden und Galerien. Die grauen Fassaden und Kohleöfen sind weniger geworden, die Konservenfabrik und die Textilfabrik sind geschlossen, die Mieten deutlich gestiegen. Einerseits wird seit den achtziger Jahren die (nicht so) neue Diversität der städtischen Bewohner erstmals teilweise anerkannt und als Bereicherung ausgemacht, andererseits werden in den 1990er Jahren mit wachsender Arbeitslosigkeit (Verlust von Zweidritteln der Arbeitsplätze in der Industrie) Abgrenzungsmechanismen reaktiviert. So gerät eben jene „kulturelle Vielfalt“ zum Problem und wird unter dem Begriff des „Ghettos“ in Bezug zu defizitären Räumen gesetzt (vgl. Lanz 2011: 122f.). Zwar entstehen eine Vielzahl neuer Netzwerke, Nischen und damit auch Handlungsspielräume, aber gleichzeitig ist das unter WestBerliner Bedingungen noch von außen stabilisierte urbane System nach dem Mauerfall „umso jäher den nunmehr verschärften Verhältnissen des Spätkapitalismus“ ausgesetzt (Mannitz 2006: 292). Das Setting des Berliner Raums ist Mannitz zufolge insofern spezifisch, als hier ganz eigene Strukturveränderungen stattfinden, und diese prägen auch die Biografien der Familie Imren.5

5

Ein Beispiel für diese berlinspezifischen Entwicklungen wird bei Mannitz beschrieben: „Haushaltsmittel, die der Berliner Senat in den 1980ern bereits für die Investitionen in Kreuzberg und Neukölln vorgesehen hatte, wurden in Anbetracht der veränderten Situation, Ausgaben für die gesamte Stadt Berlin budgetieren zu müssen, teilweise in den ehemaligen Ostteil umgelenkt. [...] Sonderheiten wie diese tragen dazu bei, dass Berlin in seinen von den Arbeitsimmigranten der letzten Jahrzehnte geprägten innerstädtischen Quartieren, zu denen auch Kreuzberg und Neukölln zählen, nicht nur sozialstrukturelle Phänomene der Benachteiligung versammelt hat, wie sie für sogenannte ‚soziale Brennpunkte‘ allgemein typisch sind. […] Hinzu kommt die sogar überregional kommunizierte Stigmatisierung als ‚Slum‘ oder ‚Ghetto‘ (Cağlar 2001), die in einer symbolischen Ausgrenzung die überproportionale Exklusion der ansässigen Bevölkerung aus dem Arbeitsmarkt noch unterstreicht.“ (Mannitz 2006: 292)

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6.1 POSTINDUSTRIELLE ARBEITSVERHÄLTNISSE Das Arbeitsleben liegt hinter Ferda und Can, sie sind seit einiger Zeit in Rente und können sich ganz der Familie und anderen Interessen wie dem Garten und den Enkelkindern widmen. 1989-90 wird die Konservenfabrik, in der Ferda arbeitet, geschlossen, daraufhin ist sie einige Jahre arbeitslos, meldet sich dann als Frührentnerin, da sie sich der Interaktion mit dem Arbeitsamt nicht mehr aussetzen will. Can muss Ende der 1990er Jahre wegen unterschiedlicher gesundheitlicher Probleme in Frührente gehen und kann die von ihm gern ausgeführte Arbeit als Gärtner nicht weiter praktizieren.6 Die zweite Generation steht dagegen mitten im Arbeitsleben, wobei nur die Männer in Vollzeit beschäftigt sind und sich die Tätigkeiten zwangsläufig mit der Schließung vieler Fabriken weg von der industriellen Verarbeitung orientiert haben. Ende der 1980er Jahre verlagern beispielsweise die Textil- und die Sargbaufabrik, in denen Muhammet und Cenk arbeiten, ihre Standorte nach Polen. Elifs Mann Cenk ist von da an selbstständig als Tischler tätig, Maral arbeitet unter anderem auf 400 € Basis für einen freien Träger im Bereich Kinder- und Familienarbeit, Feza arbeitet im Dienstleistungssektor7, und Muhammet ist im Logistikbereich eines Flughafens beschäftigt. Vorher hat er jahrelang für verschiedene Zeitarbeitsfirmen gearbeitet, um (wie sein Schwager Fatih) auf diesem Weg Zugang zu einer festen Anstellung zu finden. Nach mehreren befristeten Verträgen hat er jetzt eine feste Stelle und ist zum „Teamleader“ aufgestiegen. Im Interview nimmt er auf die urbanen und gesellschaftlichen Veränderungen der letzten Jahrzehnte Bezug und deutet an, dass sich das Leben nun anders anfühlt. „Jetzt hast du überall türkische Restaurants und Türken arbeiten überall, z.B. wenn du zur Tankstelle gehst, zum Anwalt, auch Polizist und alles mögliche. Früher war das nicht so, früher war das wenig. Früher 80er Jahre, 70er Jahre haben die Gastarbeiter immer ganz normale Arbeit geleistet, immer körperlich belastet. Jetzt sind viele zwischendurch aufgestiegen, sogar Ärzte geworden. Ist ganz anders geworden. Ich fühl mich jetzt wie in der Türkei in Berlin. Bestimmt, nehm ich mal an, ist es auch in Köln so, oder Düsseldorf. In der Zwischenzeit ist das eine Multikultistadt geworden, ganz anders.“ (Interview Muhammet)

6

Im Feldtagebuch notiere ich „Elif und Maral meinen, dass er seine Probleme nie mitgeteilt, sondern in sich hineingefressen und deshalb oft krank geworden sei.“ (Feldtagebuch)

7

Sie widmet sich zum Zeitpunkt des Interviews der häuslichen Pflege ihrer demenzkranken Schwiegermutter.

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Im Umfeld und in der eigenen Familie kann Muhammet eine Diversifizierung der Lebensläufe feststellen, die er als Aufstieg betrachtet. In nahezu allen gesellschaftlichen Positionen seien nun auch Türken, betont er und grenzt diese Situation von der Anfangszeit in Deutschland ab. Gleichzeitig beschreibt er eine Entwicklung, die von der Lebenssituation als sogenannte Gastarbeiter wegführt, als durchaus ambivalent und deutet in Bezug auf die eigene Biografie das Entstehen neuer Zwänge an, die ihm wenig Aushandlungsspielraum lassen. Es sei auch nicht mehr so, dass sich leicht über Mundpropaganda ein Arbeitsplatz finden lasse, ohne spezielle Ausbildung. „In der jetzigen Zeit muss ja unbedingt ein Bewerbungsschreiben sein. Du sollst dein Leben komplett erzählen, wo, welche Schule du besucht hast usw., was du für Kenntnisse hast. Früher war das nicht so, du bist hingegangen, die schauen ‚Oha, du bist ja körperlich ok, ja, nicht schwer behindert, du kannst ja arbeiten, ok versuch mal. Ein, zwei Monate‘ [...] Wir haben gerne gearbeitet. Sechs Tage die Woche, ne. Da wurde der Körper belastet, viel gearbeitet. Aber damals war es nicht so wie jetzt, Fremdenhass und so weiter, ne. Jetzt scheint alles wie modern, wir sind freundlicher aber hinterhältig, ganz anders. ‚Ach lass mal die Schweine arbeiten,‘ weißt du, ‚ist doch egal, wenn die sieben oder acht Euro verdienen.‘ Die wissen, dass das Geld ja nicht reicht, dass es nicht ausreichend ist für den Unterhalt. Jetzt ist es ganz anders. Wie oft geh ich zum Chef, zum Beispiel am Flughafen bei meiner jetzigen Arbeit, ich erzähle von unseren Problemen und er sagt nur ‚Ist egal, du kannst gehen.[...] Vor der Tür stehen viele vom Arbeitsamt und möchten gerne arbeiten, deinen Platz einnehmen.‘ Deswegen kannst du nicht fordern ‚Ok ich will n bisschen mehr Geld haben.‘“ (Interview Muhammet)

Arbeitsverhältnisse, in denen wenig spezifische Kenntnisse verlangt wurden, sondern eher die Bereitschaft, viel, und auch körperlich harte Arbeit zu verrichten entscheidend war, sind mittlerweile nicht mehr verbreitet. So schlägt sich die erwähnte Verschärfung angesichts industriellen Rückgangs und damit abrupt einsetzende spätkapitalistische Verhältnisse biografisch nieder.8 Muhammets 8

Zur Destabilisierung der Arbeitsverhältnisse und deren Folgen siehe Baumann (2003). „Man braucht nicht viel Phantasie, um sich die Unsicherheit der überflüssig gewordenen Menschen vorzustellen. Aber darüber hinaus trifft es – psychologisch gesehen – auch alle anderen, wenn auch im Moment nur mittelbar. In der Welt struktureller Arbeitslosigkeit ist niemand mehr sicher. Sichere Arbeitsplätze in stabilen Unternehmen tauchen bestenfalls in den Erzählungen der Großväter auf; auch gibt es kaum mehr Qualifikationen und Berufserfahrungen, die, einmal erworben, dafür sorgen, dass der einmal und nur einmal angebotene Arbeitsplatz dauerhaft ist.“ (Baumann 2003: 190)

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Gehalt beim Flughafen hat sich im Vergleich zu früher als Betriebsschlosser verschlechtert und seine Verhandlungsmöglichkeiten sind begrenzt. Seine frühere Beziehung zum Meister beschreibt er als von gegenseitigem Vertrauen geprägt („Die waren alle freundlich gewesen. Wir waren immer offen [...] wir kannten uns ja seit zehn Jahren.“), heute fühlt er sich konstant unter Druck gesetzt, und das Gehalt reicht trotz der vollen Stelle nicht für den Unterhalt der Familie aus. An seinen freien Tagen repariert er deshalb bei Gelegenheit für Bekannte das Auto, eine Arbeit, die er gerne tut und mit der er sich auch selbstständig machen wollte. Dieser Versuch scheiterte, weil ihm das notwendige Startkapital fehlte. Der beschriebene Kontrast zwischen der früheren Fabrikarbeit und der veränderten Arbeit der Gegenwart ist bezeichnend für einen umfassenden Wandel, den Zygmunt Baumann (2003) als Abstieg des „schweren Kapitalismus“ umschreibt.9 Die Arbeitsverhältnisse sind vorher gleichfalls durch Abhängigkeit geprägt, den Gegensatz zur „leichten Moderne“ sieht Baumann jedoch in deren Gegenseitigkeit, die Verhandlungen ermöglicht „[...] in denen die Arbeiter ihre Ansprüche formulieren und ein Stück weit durchsetzen konnten“ (Baumann 2003: 173). Die langfristige Bindung an einen Betrieb gewährt demnach auch Sicherheit, und mit zunehmender Flexibilität, Mobilität und Kurzfristigkeit verlieren die Arbeitsverhältnisse an Solidarität und Vorhersehbarkeit (vgl. ebd: 73f.). Wenn ich Muhammet während der Feldforschung begegne und wir zum Beispiel zusammen beim Frühstück sitzen, erzählt er von der fordernden Arbeit; er steht bei der Gepäckverladung ständig unter Zeitdruck, die Koffer müssen in Windeseile richtig zugeordnet werden, fehlt ein Gepäckstück, wird er angerufen und muss es wiederfinden. Er verliert bei seinen Erzählungen keineswegs den Humor, wirkt bei seinen Ausführungen fröhlich, wenn er zum Beispiel mit dem Hinweis, das sei seine Nervennahrung, eine riesige Tafel Schokolade einpackt. Humor kann eine Ressource im Umgang mit der Prekarität der Lebensumstände sein, gleichzeitig wird auch immer wieder deutlich, dass die Situation Ängste und Wut auslöst. Dass die eigene Arbeit nicht ausreicht, das Leben der Familie zu finanzieren und die Familie sich um staatliche Unterstützung bemühen muss, erscheint zeitweise als krisenhafte Normalität und alternative Handlungsoptionen

9

„Der Fordismus prägte das Selbstbewusstsein der modernen Gesellschaft in ihrer ‚schweren‘, ‚kompakten‘, ‚immobilen‘, ‚verwurzelten‘ und ‚soliden‘ Phase. Auf dieser gemeinsamen Stufe ihrer gemeinsamen Geschichte schien es, als wären Kapital, Management und Arbeiter, ob sie wollten oder nicht, für eine lange Zeit, vielleicht sogar für immer aneinander gekettet – verbunden durch riesige Fabriken, große Maschinen und massiven Einsatz von Arbeitskräften.“ (Baumann 2003: 72)

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außer Reichweite.10 Sowohl Muhammet und Familie, als auch Feza (Marals ältere Schwester) erwähnen im Verlauf der Feldforschung das eigene Widerstreben gegenüber der Interaktion mit dem Jobcenter und die damit verbundenen Komplikationen. Der folgende Abschnitt aus dem Feldtagebuch beschreibt eine Alltagssituation, wir sitzen gemeinsam am Küchentisch, als das Thema aufgegriffen wird. „Maral meint, auch wenn es um das Thema Hartz 4 geht, werde man gleich in eine Ecke gestellt. Sie erzählt, dass sie neulich mit Muhammet beim Amt war, da sie 67 € erhalten. Der Sachbearbeiter habe sie nicht gegrüßt und nicht aufgesehen, als sie den Raum betraten. Muhammet meinte ‚Guten, Tag. Wir sind doch alle Menschen also sollten wir auch so miteinander umgehen.‘ Der Mann reagiert nicht, woraufhin Muhammet nachfragte ‚Haben sie mich nicht gehört?‘ Der Mann meinte, er habe ja gegrüßt, und Muhammet habe es nur nicht gehört. Maral sagt, der sei immer so unfreundlich, und sie fühle sich wie das letzte Stück Dreck, wenn sie dort sei. Neulich habe der Bearbeiter ihr nicht geglaubt, als sie eine Bestätigung ihrer Arbeitgeberin, bei der sie putzt, abgegeben hatte. Melek meint, es sei auch ein so großer Aufwand, immer die Unterlagen, für diese 67 € würde sich das eigentlich nicht lohnen. Muhammet möchte nun auf das Geld verzichten. Er ist sauer und will nicht mehr hingehen. Melek meint, dass sei sehr häufig der Fall, dass Leute schon richtige Angst vor dem Termin im Amt hätten. Neulich habe sich Meryem ((ihre Cousine, die Tochter von Feza)) arbeitslos gemeldet und da sei sie schon um 6:00 Uhr morgens aufgestanden und habe zuhause alles zusammengesucht und vorbereitet, sie sei sehr nervös gewesen. [...] Maral muss sich demnächst arbeitslos melden, da die Firma, in der sie putzt, in Konkurs geht.“ (Feldtagebuch 14.09.2011)

Die Interaktion mit dem Jobcenter und dem individuellen Sachbearbeiter folgt einer ganz eigenen Logik und löst auf emotionaler und affektiver Ebene zum Teil deutlich spürbare Reaktionen aus. Es erscheint nahezu unmöglich, sich von der im Jobcenter herrschenden Atmosphäre abzugrenzen und die defizitäre Perspektive abzuschütteln, die in der Verwaltungspraxis wahrgenommen wird. Muhammets Bemerkung „Wir sind doch alle Menschen“ gegenüber dem Sachbearbeiter, der ihn nicht wahrzunehmen scheint, deutet an, dass er sein „Menschsein“ hier in Frage gestellt wähnt. Das deutlich spürbare Machtgefälle, die auch als Willkür erlebten bürokratischen Verfahren tragen weiter dazu bei, dass die Inanspruchnahme der Sozialleistungen nicht als alltäglicher Akt der familiären Existenzsicherung erlebt wird. Die Legitimität des Anspruchs auf finanzielle 10 Lauren Berlant beschreibt in „Cruel Optimism“ (2011) eine Gegenwart, in der Krisen kein Ausnahmezustand, sondern als „crisis ordinariness“ Prozesse des Alltags sind und als solche von Tag zu Tag beantwortet werden müssen (Berlant 2011: 10).

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Unterstützung wird von bürokratischer Seite konstant in Frage gestellt, und die Leistungsempfänger, in diesem Fall Muhamet und seine Familie, scheinen damit fast automatisch in eine defensive Rolle zu geraten. Muhammet löst die Situation, indem er freiwillig auf die Transferleistungen verzichtet, ein Ausweg, der aber nicht immer praktikabel ist. Auch Feza beschreibt zu einem anderen Zeitpunkt am selben Küchentisch ihre Misere und ist erschöpft von der andauernden Auseinandersetzung, um die notwendigen finanziellen Bezüge. „Feza kommt und ist sehr geschafft. Sie sieht müde aus, ist ganz blass. Sie erzählt, dass sie sich mal einen Tag frei genommen habe von der Betreuung ihrer Schwiegermutter und Meryem nun aufpasse. Sie fängt gleich an zu essen, meint, sie sei hungrig und erzählt, wie es ihr geht. Dabei ist sie sehr offen. Scheiße sei alles. Sie hat Probleme mit dem Jobcenter, das aufgrund eines fehlenden Blattes der Kontoauszüge seit Juni nicht zahlt. Sie hat einen Onlineauszug nachgereicht, aber auch das reicht nicht. Nun musste sie für 15 € das Blatt nachbestellen. Wir unterhalten uns über die Willkür der Jobcenter, dass oft jeder Mitarbeiter etwas anderes sagt. Einmal musste sie nach einem Jahr ihr Weihnachtsgeld (2000 €) zurückzahlen, obwohl sie alles eingereicht hatte und die Mitarbeiterin meinte, es sei in Ordnung.“ (Feldtagebuch, 26.09.2012)

Feza hat ihre vorherige Arbeit aufgegeben, um ihre demenzkranke Schwiegermutter pflegen zu können. Sie ist rund um die Uhr mit dieser Aufgabe beschäftigt, und die finanzielle Unsicherheit ist eine zusätzliche Belastung in der krisenhaften Normalität. Sowohl das Beispiel Muhammets, als auch das Fezas verdeutlichen, wie das Dispositiv des erfolgreich aktiven Subjekts verinnerlicht wurde und die Inanspruchnahme von Sozialleistungen als Abwertung der eigenen Arbeit und gesellschaftlichen Situation erlebt wird. Elifs Ehemann Cenk äußert sich im Interview in ähnlicher Richtung, er vermittelt den Eindruck, sich nicht in die Position begeben zu wollen, Sozialleistungen entgegenzunehmen und grenzt sich dabei von denen ab:„die das wirklich bitter nötig haben. [...] ich bin nicht so der Mensch. Weißt du, wenn ich das nicht nötig habe, nehm ich das nicht gerne in Anspruch, ich sag dann immer ‚Mann Frau, es geht uns gut.‘ (Interview Cenk) Die Leistungen zu beanspruchen, wäre seiner Logik zufolge ein Indiz dafür, dass es ihm und seiner Familie nicht gut geht, es ihnen an etwas mangelt. Mit der Ablehnung der staatlichen Unterstützung bleibt diese Perspektive auf das eigene Leben gegen das Stigma des „Empfängers“ geschützt. Eben jene diskursive Figur bringt Cenk dann auch im weiteren Verlauf des Gesprächs auf, als Personen „die nicht einen Groschen eingezahlt haben in die deutsche Staatskasse“, aber „das Land ausnutzen und ausschöpfen bis zum geht nicht mehr.“ und kommt schließlich nicht zufällig auf Fragen der Integration und Zugehörigkeit.

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„Entschuldigt bitte, wir sind hier wirklich nur zu Gast. Ja und ich weiß nicht, warum man jetzt diesen Gastarbeiter umformulieren musste, es ist nunmal so. Ok, man hat sich jetzt integriert, ja, ich sag mal auch der Großteil meiner Generation ist mittlerweile deutsch, ich will es nicht wirklich sein, weil es bringt mir nichts, weder geistig noch sonstwas, ich bleib äußerlich trotzdem so, wie ich bin, und mein Geist wird sich auch nicht ändern, nur weil ich n deutschen Pass in der Tasche habe. Die Leute, die haben diesen Anspruch darauf, aber doch nicht die, die jetzt noch nie irgendetwas getan haben für Deutschland, weißt du wie ich meine? Die nie in diesen Sozialtopf irgendetwas reingepackt haben, jetzt aus vollen Händen schöpfen, das ist schon Scheiße.“ (Interview Cenk)

In Cenks Rede finden sich typische stigmatisierende Diskurselemente wieder, die er zum Teil annimmt und dem gleichzeitig etwas Eigenes entgegensetzt. Deutlich wird, dass beim Thema Sozialleistungen verschiedene Mechanismen wirken, die eng mit dem Integrationsdiskurs verbunden sind, und es erschweren, wenn nicht unmöglich machen, sich mit deren Inanspruchnahme nicht selbst zur abgehängten, defizitären Gruppe zu zählen. Lanz weist daraufhin, dass der Integrationsbegriff erfolgreiche Migranten als „ohne Sozialleistungen auskommende Subjekte“ konstruiert, während dafür notwendige soziale Bedingungen nicht miteinbezogen werden (Lanz 2009: 127). Obwohl Feza, Muhammet und Cenk arbeiten, ist ihr Selbstbild nicht immun gegen das Stigma des Sozialleistungsbeziehers, und auch Muhammet verzichtet am Ende lieber auf die Bezüge, als sich der als erniedrigend wahrgenommenen Praxis im Jobcenter und deren bürokratischen Anforderungen auszusetzen. Bei den Mitgliedern der zweiten Generation kann unterschieden werden zwischen unbezahlter Arbeit (Erziehung, Hausarbeit, Pflege), gering bezahlten Tätigkeiten (400 € Jobs) und der nur von Männern ausgeführten Berufstätigkeit in Vollzeit. Mit konstanter finanzieller Knappheit lavieren besonders diejenigen Familienmitglieder, deren abgebrochene Schullaufbahn ich im vorigen Kapitel beschrieben habe. Dazu zählt auch Maral, sie beginnt, als ihre Kinder schon etwas älter sind, in verschiedenen Reinigungsjobs zu arbeiten. Zum Zeitpunkt der Feldforschung führt Maral diese Arbeit auch aus, es ergeben sich aber aus dem lokalen Netzwerk weitere Möglichkeiten. Putzen als „Form von Lohnarbeit“ wird Friese zufolge „unter dem Konsens des Verschweigens begraben („sowohl das ‚Putzenlassen‘ wie das ‚Putzengehen‘“), dabei kann es als „ein Phänomen moderner Gesellschaften, in dem sich die drei grundlegenden Kategorien sozialer Ungleichheit class-race-gender in prägnanter Weise überlagern“, betrachtet werden (Friese 1994: 424).11 Sie bezieht sich hier insbesondere auf die Situation, 11 „Gleichzeitig spiegelt sich eine strukturelle Tendenz der modernisierten Gesellschaft wider: Denn die Entwicklung der modernen Dienstleistungsgesellschaft wird ganz

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in der für den beruflichen Aufstieg „westlicher Mittelschichtsfrauen“ auf die Ressourcen migrantischer Frauen zurückgegriffen wird, die deren Hausarbeit übernehmen. Die Arbeit als Reinigungshilfe in Firmen und Privathaushalten wird von Maral zwar nur vorsichtig problematisiert, aber gleichzeitig wird im Alltag deutlich, dass sie nach Alternativen sucht, und als ihr bei einem Termin im Jobcenter wieder nur Reinigungsjobs angeboten werden, ist sie sichtlich enttäuscht. Die jüngeren Geschwister thematisieren finanzielle Nöte weniger, und Fatih baut im Forschungszeitraum sogar ein Einfamilienhaus, in das die Familie gemeinsam mit den Großeltern Ende 2012 einzieht. Er ist seit längerem als Elektroingenieur in der Bahnindustrie tätig, nachdem sich auch bei ihm die Krise Ende der 1980er in seiner beruflichen Biografie auswirkte. „[...] wo dann der Mauerfall war und wo dann der Markt, der Arbeitsmarkt ganz schön durcheinander gewirbelt wurde. Wir standen alle ohne Arbeit da, Angebote gab’s nicht. Dann hat ja jeder versucht, irgendwo anders Fuß zu fassen, also viele ((seiner Kommilitonen)) haben auch in sozialen Bereichen gearbeitet, viele haben sich selbstständig gemacht, ich hab dann versucht, über Zeitarbeitsfirmen erstmal in den Beruf reinzukommen, war auch unproblematisch, damals war ja die Zeit, wo diese Zeitarbeitsfirmen gekommen sind. Da hab ich dann angefangen und bin dann zufällig in die Bahnindustrie gekommen. Ich glaub, angefangen hab ich 96, 97 und seit 97 bin ich dann auch dort geblieben“ (Interview Fatih)

Für Fatih, der ein Studium abgeschlossen hat, eröffnet sich in diesem Fall die Möglichkeit einer Berufstätigkeit mit mehr Stabilität und größerer finanzieller Sicherheit. Während der Feldforschung thematisiert er auch keine Schwierigkeiten in Zusammenhang mit seiner Arbeitssituation, und der Bau des eigenen Hauses deutet zudem einen gewissen finanziellen Spielraum an. Zusammenfassend lässt sich hier ein divergierendes Bild konstatieren, die Fabrikarbeit gehört innerhalb der Familie weitestgehend der Vergangenheit an, es haben sich neue Arbeitsfelder und Möglichkeiten erschlossen, aber auch neue Grenzen gezogen. Der Rhythmus der (Schicht-)Arbeit strukturiert nicht mehr so klar den familiären Alltag, wie zu Beginn der Zeit in Berlin, andere Lebensbereiche haben an Bedeutung gewonnen, und damit hat sich auch das Verhältnis zur Arbeit gewandelt. Im Gegensatz zur Lebensphase im Arbeiterviertel erscheinen die Entscheidungen der Familie gegenwartsbezogener, es wird nicht mehr hauptsächlich für die Zukunft gearbeitet und gespart, aber auch die türkische Verwandtschaft wird

wesentlich durch den weiblichen Anteil und nicht zuletzt durch die Frauen auf den untersten Rängen getragen.“ (Friese 1994: 424)

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nach wie vor unterstützt.12 Mit der dritten Generation scheinen sich veränderte Vorstellungen und Lebensmodelle zu entwickeln, auch weil mit den Biografien der Eltern und Großeltern sichtbar wurde, wie vereinnahmend Arbeit sein kann. So nimmt sich Melek für ihre eigene Familie vor, die Prioritäten etwas anders zu setzen. „Ich würde wollen, dass mein Mann mehr Zeit hat für die Kinder. Also mein Vater hatte auch immer Zeit für uns. Er hat uns immer spazieren gebracht, das war jetzt nicht so. Und mein Mann soll auch so sein. Er soll auch arbeiten, auch so viel, aber vielleicht nen bisschen mehr Zeit. Nicht- also bei meinem Vater ist es so, er hat immer Angst, dass wir wirklich irgendwann gar kein Geld mehr haben werden und irgendwann mal verhungern werden und darum arbeitet und arbeitet er und macht sich kaputt, aber dass er sich kaputt macht, das macht uns traurig eigentlich, weil er ist ja nicht mehr der Jüngste. [...] Und anstatt ihn so zu sehen, soll er weniger arbeiten und dann verzichten wir halt auf einen Fernseher oder auf ein Spiel. Und, so wären bestimmt meine Kinder auch, die wollen bestimmt nicht ihre Eltern irgendwie kaputt gehen sehen. Und mein Vater denkt immer, er müsste uns das alles geben, weil wir sonst nichts mehr haben, aber wir haben doch alles.“ (Interview Melek)

Melek erkennt die geleistete Arbeit des Vaters an und leidet gleichzeitig mit ihm, wenn sich die Spuren seines unermüdlichen Tuns zeigen. Sie schätzt die Haltung ihres Vaters und doch wünscht sie sich für die Zukunft Veränderungen.

6.2 ERZIEHEN 13 UND (AUS-)BILDUNG ALS FAMILIENAUFGABE Erziehungs- und Bildungsfragen sind während der Feldforschung ein häufig wiederkehrendes Thema, sie kommen in alltäglichen Situationen ständig vor. Wenn die Kinder von Kita, Schule oder Ausbildung nach Hause kommen, sind meistens die Mütter anwesend und übernehmen die weiteren Betreuungsaufgaben des Tages. Väter und Mütter treffen wichtige Entscheidungen in der Erzie-

12 Muhammet besitzt beispielsweise ein Haus in Izmir, das er vermietet, die Einkünfte erhält sein Vater. Seine Mutter, die vom Vater getrennt lebt, unterstützt er auch. 13 „Ritzel (1973) spricht von Vermittlung der Mündigkeit an Unmündige, Benner (1987) versteht unter Erziehung die Aufforderung zur Selbsttätigkeit. Nach Lassahn (1983) ist Erziehung das Eingreifen von Menschen in den Prozess des Werdens der Person.“ (Ecarius 2007: 137)

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hung gemeinsam und äußern gleichermaßen den Wunsch, für die Kinder da zu sein, aber im Alltag sind besonders die Frauen zuständig, wobei sich die Großfamilie gegenseitig unterstützt.14 Diese Aufteilung wird in der klassischen Erziehungstheorie als traditionell bezeichnet, wobei sich in diesem Bereich Veränderungen abzeichnen, Arbeit und Erziehung hängen dabei unterschwellig zusammen (vgl. Ecarius 2007: 138). Feza hat als einzige, auch als ihre Kinder jünger waren, gearbeitet, die Schwiegermutter übernahm in dem Fall die Kinderbetreuung. Nach der Abschiebung ihres Mannes war die Familie allerdings auch auf ihr Einkommen angewiesen, und so war die Option weniger oder gar nicht mehr zu arbeiten möglicherweise nicht gegeben. Ihre jüngere Schwester Maral bricht die Lehre zur Schneiderin ab, als sie heiratet und das erste Kind bekommt. „Ich kann sehr gut schneidern, eigentlich hab ich mir das selber beigebracht. Sagt man das so? (I: Hm.) Ja und das hat mir auch sehr viel geholfen, zum Beispiel hab ich die Sachen für meine Kinder selber genäht oder für mich, sei es Tischdecken, sei es Bettdecken, und das hat uns natürlich auch finanziell sehr geholfen. Ja hätt ich da mehr- manchmal bereu ich das, dass ich das abgebrochen habe, diese Ausbildung. Hätt ich da weitergemacht-.“ (Interview Maral)

Rückblickend fragt sich Maral, ob sie mit dem Abbruch der Ausbildung zur Schneiderin, einer Tätigkeit, die sie gut und gerne ausführte, nicht eine Chance vergeben hat. Erst als die älteste Tochter Melek zehn Jahre alt ist, beginnt sie wieder als Reinigungskraft in verschiedenen Teilzeitjobs zu arbeiten.15 Die jüngere Schwester Elif und ihr Mann Cenk bekommen ihr erstes Kind später als der Rest der Familie, nachdem sie schon 18 Jahre verheiratet sind, und Elif arbeitet von da an nicht mehr als Zahnarzthelferin, was sie folgendermaßen begründet: „Es ist ja ein absolutes Wunschkind, und ich will mich um dieses Kind kümmern, weißt du.“ Auch Fatma, die Frau des jüngeren Bruders Fatih, bricht nach der Heirat mit 18 ihre schulische Ausbildung in der 10. Klasse ab und widmet sich später der Betreuung ihrer Kinder und den häuslichen Aufgaben. Eigentlich hat sie bis dahin das Ziel gehabt, Kinderkrankenschwester zu werden, die Entscheidung, ob sie diesen Weg nach der Heirat weiterverfolgen will, wird ihr überlassen. Fatma verlässt letztendlich ohne den Realschulabschluss vorzeitig die Schule, hinterfragt jedoch in ihrer biografischen Erzählung diesen Schritt.

14 Beispielsweise betreut Ferda häufig die Kinder und auch die älteren Kinder helfen, indem sie die Jüngeren von Kindergarten oder Schule abholen etc. 15 Während der Feldforschung ergeben sich zwei weitere Arbeitsmöglichkeiten aus dem Netzwerk, auf das ich später näher eingehe.

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„H:::: Es war also, h::: unklar war das, also ich hab erst gedacht ‚Will ich machen.‘ ((den Abschluss)) dann wollt’ ich nicht mehr (lacht), weil ich Kinder wollte. [...] Ich liebe ja Kinder, deswegen hab ich dann nicht mehr daran gedacht. Jetzt denke ich ‚Wieso hab ich das nicht gemacht?‘“ (lacht). (Interview Fatma)

Maral und Fatma beschreiben den Abbruch ihrer jeweiligen Bildungslaufbahn im Zusammenhang mit der Familiengründung, stellen ihre Entscheidung aber im Nachhinein in Frage. Ich möchte an dieser Stelle kurz auf die Ambivalenzen eingehen, die mit dem Rückzug aus der Erwerbsarbeit (bzw. Ausbildung) und Übernahme von häuslichen und familiären Aufgaben verbunden sind. Ursachen für diesen Schritt lassen sich anhand der Biografien in verschiedene Richtungen deuten. Einerseits mögen im Fall der Imren-Töchter die eigenen Kindheitserfahrungen, die wenig verfügbaren Eltern, die Entfremdung und resultierenden Konflikte der Familie dazu beigetragen haben, sich anders als die eigene Mutter mindestens zeitweise gegen eine berufliche Tätigkeit zu entscheiden. Anders gelagert ist die Entscheidung für Fatma, deren Mutter selbst nie berufstätig war, während ihr Mann in einer Holzfabrik arbeitet, kümmert sie sich um die sechs Kinder. In der Familie wird Türkisch gesprochen, die Kinder besuchen keinen Kindergarten, und Fatma lernt erst in der Schule deutsch, was ihre schulische Laufbahn erschwert zu haben scheint. Sie entscheidet sich nach der Heirat gegen die Fortsetzung der Schullaufbahn und übernimmt wie ihre Mutter die häusliche Arbeit. Aus einer Gegenwart in der „Selbstverwirklichung, Gestaltung und Autonomie“ eng an „eine eigene Erwerbstätigkeit“ (Dausien 1994: 573) geknüpft sind erscheint es unzeitgemäß sich ganz der Familie zu widmen, noch dazu auf Kosten der Entwicklung einer eigenständigen Berufsperspektive. Aber eine Einordnung dieser biografischen Ausrichtung als rein „traditionale Frauenleben“, als „Dasein für andere“ (Beck-Gernsheim 1983: 313) wäre vorschnell, denn die Frauen der Familie Imren sind sich ihrer Lage bewusst und beschreiben ihre Entscheidung zudem als eine Option neben anderen. Dausien weist auf die entscheidende Funktion der Erwerbsarbeit für die „Suche nach dem eigenen Leben“ hin, da sie neben der „ökonomischen Unabhängigkeit“ entscheidend ist, um „als eigenständig handelndes Subjekt mit der Gesellschaft in Bezug zu treten“ (Dausien 1994: 587). Bleibt die Erwerbsarbeit neben der Reproduktionsarbeit allerdings nur eine untergeordnete Nebentätigkeit oder fehlt sie ganz, mangelt es häufig an sozialer Anerkennung der Leistungen. Dass Erwerbstätigkeit grundsätzlich ein selbstbestimmtes Leben ermöglicht, erscheint trotzdem äußerst zweifelhaft, gerade wenn wir die beschriebenen Arbeitsbedingungen berücksichtigen.

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„[...] Erwerbstätigkeit wird – gerade von IndividualisierungstheoretikerInnen – gemeinhin nicht als Ort der Bildung, Selbstverwirklichung und Autonomie gedacht und ist zweifellos, angesichts der doppelten Ausbeutung der Frauen in der Lohnarbeit, keineswegs per se ‚befreiend‘.“ (ebd.: 575)

Mit dieser Perspektive Dausiens kommen wir möglicherweise auch den hier thematisierten weiblichen Biografien näher, in denen allein die Entscheidung für oder gegen Erwerbsarbeit nicht in eindeutiger Weise an Selbstverwirklichungsmöglichkeiten geknüpft ist. Ferda beschreibt ihre Arbeit in der Fabrik recht deutlich als „Dasein für andere“, unter Bedingungen „doppelter Vergesellschaftung“ bleibt wenig Raum für eigene Entwicklung (vgl. ebd.: 586). Als junges Mädchen hatte Ferda die Vorstellung, später Lehrerin zu werden, tatsächlich bleiben ihre Möglichkeiten begrenzt und entsprechen nicht ihrer anfänglichen Idee eines eigenen Lebens. Ferda kann innerhalb dieser Grenzen trotzdem eigene Schwerpunkte setzen und ihr Leben gestalten, sie nimmt in ihrer Familie eine sehr aktive Rolle ein, wie ihre Tochter Elif im Interview andeutet. „Also der Herr im Haus war schon immer Mama. Papa hat das Geld verdient, das meiste, natürlich hat Mama auch gearbeitet, er hat Miete und alles bezahlt und den Rest hat er Mama machen lassen. Nach außen hin ist natürlich Papa der Chef, aber Mama ist die Chefin, war schon immer so. (I: Hat dich das beeinflusst mitzuerleben, dass deine Mutter auch Entscheidungen getroffen hat und-) Natürlich, natürlich. Sie als Frau weißt du, dass sie so selbstständig ist und so selbstbewusst, natürlich.“ (Interview Elif)

Auch wenn Feza innerhalb ihrer Biografie nur in Ansätzen die gesellschaftlich gesetzten Grenzen überschreiten kann, bringt sie für die folgende Generation Veränderungen ins Rollen. Dausien beschreibt diese Verschiebungen als „Lernprozesse“ die nicht allein als individuelle Vorgänge gedacht werden sollten, da sie „immer eine kollektive Dimension besitzen“. Unter dem Begriff „Lernprozess“ wird hier weniger eine lineare Entwicklung, als vielmehr eine „Suchbewegung“, beispielsweise das Aushandeln zwischen Autonomie und Beziehung gefasst, das auch ein Nebeneinander gegensätzlicher Orientierungen einbeziehen kann (vgl. ebd.: 577). Ein solcher Lernprozess kann vielleicht auch in Bezug auf Feza und ihre Töchter identifiziert werden. Fezas Heirat wird arrangiert, schulische Bildung bleibt ihr weitgehend verschlossen, aber in ihrer Ehe nimmt sie eine aktiv gestaltende Rolle ein, gewinnt auch mit der eigenen Erwerbsarbeit und der Aneignung des Lesens und Schreibens an Unabhängigkeit. In der folgenden Generation wird die Entscheidung zur Heirat selbstständig getroffen, und auch in Bezug auf die Arbeit ist der Gestaltungsspielraum größer.

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Entscheidend ist, dass die zweite Generation mehr Wahlmöglichkeiten zur Verfügung hat. Welche dieser Optionen nun handelnd umgesetzt werden, ist eng an die „Lernprozesse“ gekoppelt und findet nicht automatisch statt. Maral und Fatma entscheiden sich möglicherweise auch für die familiäre Sphäre, weil sie sich hier mehr Einfluss zutrauen. Die Bildungs- und Berufslaufbahn konfrontiert sie mit Defiziten, sie verlangt die Ausrichtung an vorgegebenen Maßstäben. Die Reproduktionsarbeit ist ebenso normativen Vorstellungen unterworfen, aber sie wird nicht auf dieselbe Weise kontrolliert und bewertet, was auch als Handlungsautonomie wahrgenommen werden kann. Die Familie ist für alle beschriebenen Frauen ein zentraler Bezugspunkt ihres Lebens, die Kindheitserzählungen werden dementsprechend gerahmt, Familie erscheint hier stabilisierend und orientierend. Die Gründung einer eigenen Familie und Ausrichtung auf diese kann in der biografischen Konstruktion in diesem Sinne als konsequent einleuchten. Gleichzeitig muss die Entscheidung auch immer im Kontext nach wie vor begrenzter Bildungs- und Berufsmöglichkeiten bedacht werden.16 Die so deutliche Gewichtung zu Gunsten der Familie in Anbetracht des „weiblichen Dilemmas“ (Mannitz 2006: 197)17 ist nicht von vornherein vorgesehen, alle Frauen haben zunächst auch berufliche Ziele, es lässt sich eher annehmen, dass Fatma, Elif und Maral von einem geplanten Modell der Vereinbarkeit von Familie und Beruf zur dann im Alltag umgesetzten Priorisierung von Familie „im konventionellen Typ der Versorgerehe“ wechseln. Die Probleme der Vereinbarkeit sind vielfältig und lassen sich hier nur andeutungsweise an folgendem Beispiel aus dem familiären Alltag beschreiben. „Maral erzählt von einem Bewerbungsgespräch in einer Zahnarztpraxis. Sie hatte sich dort für eine Putzstelle beworben. Die erste Frage, die ihr gestellt wurde, war, wo sie herkomme. Als sie meinte, sie komme aus der Türkei war die zweite Frage, wie viele Kinder sie habe. Als sie antwortete, sie habe vier Kinder, war die Reaktion ablehnend ‚Soo viele 16 Im vorhergehenden Kapitel habe ich bereits auf die Verzahnung von fehlenden beruflichen Perspektiven und Familiengründung hingewiesen. Zur Erinnerung; Maral sagt: „(Lachend) Ich bin froh, dass ich vier Kinder habe und- Weil ich wusste auch sonst kannst du sowieso nicht erreichen. Ich hatte keine schulische Erfahrung und so. Das Beste, was ich machen konnte, war eine Familie zu gründen (lachend). Das hab ich auch erreicht, naja das hat mich glücklich gemacht, das ist alles.“ (Interview Maral) 17 Als „weibliches Dilemma“ bezeichnet Mannitz die Wahl zwischen der „Ausübung eines qualifizierten, bezahlten Berufs, der ökonomische Unabhängigkeit verspricht, gegenüber der Option einer Mutterschaft mit dem Risiko einer Benachteiligung auf dem Arbeitsmarkt oder der vollständigen ökonomischen Abhängigkeit von einem Familienernährer [...]“ (ebd.).

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Kinder, hmm.‘ Maral ist sich sicher, dass die potentiellen Arbeitgeber ihre Herkunft und die Anzahl der Kinder negativ bewerteten. Sie bekam den Job nicht.“ (Feldtagebuch)

Abgesehen davon, dass in dieser Bewerbungsepisode diskriminierende Grenzziehungen sowie die Intersektion von Ethnizität und Geschlecht sichtbar werden, erscheint auch die Rolle als Mutter von vier Kindern im beruflichen Kontext nicht wünschenswert, sondern als Ausschlusskriterium.18 So erscheint die Priorisierung der Familie nicht allein als individueller Wunsch, sondern auch als Ergebnis struktureller Bedingungen des Arbeitsmarkts. Dass einige Mütter der Familie Imren sich ganz den Familienaufgaben widmen, bedeutet nicht, dass sie damit Bildungs- und Berufsthemen aus ihrem Leben ausklammern, sie werden vielmehr zu einem großen Teil auf die Folgegeneration verlagert. Schule und Ausbildung sind zentrale Themen in der Familie, Gespräche und Handlungen kreisen ständig um Schularbeiten, Noten, Versetzungen, Schulwechsel, die berufliche Orientierung und Übergänge. Es offenbart sich, welcher Wert (Schul-)Bildung in der Familie beigemessen wird, den Eltern ist die schulische Laufbahn ihrer Kinder ausnahmslos sehr wichtig. Zum Zeitpunkt meiner Forschung haben die ältesten Kinder die Schule bereits abgeschlossen und sind weiter in der Ausbildung, während der Jüngste erst mit der Grundschule beginnt.

18 Zu Intersektionalität siehe Winker/Degele (2009).

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Tabelle 6: Stand der Ausbildung der 3. Generation zum Ende der Feldforschung (2013) Kinder von

Kinder von

Kind von

Kinder von

Feza & Ali

Maral & Muhammet

Elif & Cenk

Fatma & Fatih

Osman (*1982):

Melek (*1987):

Oktay (*2007):

Cengiz (*1997):

Realschulab-

Fachabitur

Grundschüler

Schüler

schluss

Abgeschlossene

Gesamtschule

In der Ausbildung

Ausbildung als

Ziel: Abitur,

zum Altenpfleger

Erzieherin

Studium

arbeitet als Erzieherin Ziel: Studium Meryem (*1989):

Nuriye (*1990):

Aynur (*1999):

Fachabitur

Fachabitur

Schülerin

In der Ausbildung

Studiert Energie- und

Gesamtschule

zur Altenpflegerin

Gebäudetechnik FH

Ziel: Abitur

Gülay (*1992):

Özlem (*2000):

Abitur

Schülerin

Ziel: Studium

Gymnasium Ziel: Abitur

Mustafa (*1999):

Emre (*2003):

Schüler Gymnasium

Grundschüler

Ziel: Abitur, Studium

Abstufung des Grautons entspricht dem jeweiligen Stand in der Bildungskarriere; je weiter, desto dunkler.

Die Eltern unterstützen ihre Kinder sehr viel aktiver, als sie selbst es erlebt haben, sie helfen bei den Hausarbeiten oder organisieren Hilfe, sie sprechen mit Lehrern, informieren sich. Das Ziel ist für sie alle, dass die Kinder einen Abschluss erreichen, der Übergang zu Studium oder beruflicher Ausbildung gelingt und sie eine „gute“ Arbeit finden. Dieser familiären Zielsetzung werden teilweise auch die individuellen Zukunftspläne, bzw. überhaupt erst die Entwicklung solcher untergeordnet. Unzählige Male betont die mit Fatih verheiratete Fatma im Interview, dass ihr die schulische Ausbildung der Kinder am Herzen liegt.

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„Na, für meine Kinder will ich jetzt, also ich will sie unterstützen, dass die die Schule machen. Ja, dass sie eine schöne Arbeit finden zum Beispiel, dass sie einen richtigen Beruf erlernen. Für mich? Vielleicht später arbeiten, [...]. Ich weiß nicht, aber es kommt ja noch, also daran können wir danach denken. Aber ich will meine Kinder unterstützen, also dass sie die Schule fertig machen.“ (Interview Fatma)

Auch Muhammet, der selbst früh zu arbeiten begonnen hat, unterstreicht, dass er für seine Kinder andere Wünsche hegt. „Und ich wollte unbedingt, das ist mein Ziel, dass sie es nicht wie ich machen. Meine Kinder sollen studieren, ihren Beruf lernen, einen richtigen Beruf abschließen. Den Wunsch hab ich. Wie Melek zum Beispiel, sie hat ja die Schule abgeschlossen und gleich Arbeit gefunden, jetzt macht Nuriye die Uni. Und danach wart’ ich auf Gülay und danach auf Mustafa, das ist mein Wunsch.“ (Interview Muhammet)

Muhammet verknüpft hier die Ausbildung auch direkt mit der erfolgreichen Einmündung in die Arbeitswelt „einen richtigen Beruf abschließen“ und „gleich Arbeit“ finden. Es geht den Eltern der zweiten Generation nicht nur darum, dass die Kinder irgendeine Arbeit finden, es wird betont, dass es eine „schöne“, „richtige“ Arbeit sein soll, und damit ist aus meiner Sicht impliziert, sie solle mit gesellschaftlicher Anerkennung verbunden sein. Mit diesem Wunsch ist die Vorstellung eines sozialen Aufstiegs verbunden, oder zumindest einer verbesserten individuellen Position, bezüglich der Arbeitsbedingungen und Verwirklichung eigener Interessen. Feza geht im Folgenden detaillierter darauf ein, wie sie die Bildungslaufbahn ihres Sohns Osman begleitet hat. „Ja, sehr wichtig. Sehr wichtig war es für mich, dass die Kinder studieren oder ihren Beruf machen. Es ist sehr schön, also ich wollte das sehr gern, sehr gern, dass sie das machen. Und ich hab sehr aufgepasst, besonders bei meinem Sohn. Ich hab ihn zur Schule geschickt, ich hab jedes Mal von Anfang an, von der ersten Klasse bis zu seiner Ausbildung, wirklich, ich hab ihn beobachtet. Von zuhause zu seiner Schule waren es zehn Stationen und jeden Morgen, glaub mir, bin ich hinter ihm her gegangen. Na, das ist Neukölln, du kennst das nicht. Das ist- Ich hab [...] ihn vorgeschickt und ich bin hinter ihm hergegangen, immer, bis zur Schule, ich hab ihn beobachtet, ich hab ihn sogar zur Pause beobachtet, weil sonst, sonst hätte er es nicht geschafft, wirklich nicht.“ (Interview Feza)

Die Risiken des Neuköllner Umfelds erlebt Feza als unmittelbar, und den einzigen Weg den Sohn vor diesen zu schützen, sieht sie in ständiger Begleitung bzw.

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Kontrolle. Ihre jüngere Schwester Elif setzt ihre Priorität, bei allen Unterschieden zwischen den Schwestern, in diesem Fall gleich. „Natürlich ist mein Ziel erstmal mein Kind. Weißt du, so die Schule, das Weitere, das ist natürlich das Wichtigste in meinem Leben erstmal. Das in die Reihe zu kriegen. Seine Bildung ist mir, uns, sehr wichtig und der Rest kommt.“ (Interview Elif)

Die erste Generation betonte in ihrer Erziehung und Wertevermittlung bereits den Gedanken eines Aufstiegs durch Bildung, die Kinder sollten eine schulische Ausbildung verfolgen, so weit wie möglich fortführen und damit auch Unabhängigkeit erlangen. Trotz dieser Prämisse konnten nur die jüngeren Geschwister die von den Eltern vermittelten Ziele umsetzen, bei den Älteren wirken sich die Umstände – besonders die migrationsbedingten Unterbrechungen und auch weitere migrationsspezifische Grenzziehungen – negativ auf ihre Schullaufbahn aus. Sie selbst konstatierten schließlich das Scheitern ihrer Bildungsziele und richteten sich neu aus, suchten nach Alternativen und arrangierten sich. Als Eltern werden die Ziele allerdings neu belebt, nun mit der Hoffnung, die eigenen Kinder – die dritte Generation – könnte sie erreichen. Und mit Blick auf diese Perspektive werden neue Kräfte mobilisiert, denn das Gelingen der schulischen Ausbildung wird nicht mehr den Lehrern und der Institution Schule überlassen, die Eltern der zweiten Generation sehen sich selbst in der Verantwortung und handeln dementsprechend. So bildet die eigene Erziehung, aber auch die individuelle Biografie, unabhängig von Erfolgen oder Misserfolgen, eine Grundlage den Bildungsweg der Kinder umso mehr zu unterstützen. Diejenigen, die selbst keinen anerkannten Abschluss erreichen konnten, wissen um die Begrenzungen des Arbeitsmarkts, dessen beschriebene Risiken und die Kompromisse, die sie eingehen mussten, und diejenigen mit Abschluss haben erlebt, dass sie mehr Auswahlmöglichkeiten und damit die Chance hatten, sich für eine Tätigkeit im eigenen Interessengebiet zu entscheiden. Alle Frauen und Männer der zweiten Generation haben den Einsatz der Eltern, als ungelernte Arbeiter und dessen Erlös abwägen können und zudem die Entwicklung des Arbeitsmarkts mit sinkendem Bedarf an ungelernten Kräften verfolgt. Diese biografischen Prägungen und Erfahrungen münden in die Überzeugung, die eigenen Kinder sollten einen möglichst hohen Bildungsabschluss erreichen.19 Das Bildungsvorhaben zieht, wie

19 Gleichzeitig ist eine Bildungsorientierung gesellschaftliche Norm, sich nicht für Bildung einzusetzen erscheint demnach inakzeptabel und wird gerade für andere Deutsche als Integrationsunwille interpretiert. So wie Reckwitz in Bezug auf Kreativität feststellt, es sei in der Gegenwart keine Option, nicht kreativ sein zu wollen, lässt sich

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sich schon beim Lesen des Zitats von Feza weiter oben andeutet, vielfältige Handlungen und Entscheidungen nach sich. Dazu zählen die aufmerksame Wahl der Schule, die Betrachtung der jeweiligen Zusammensetzung der Klasse, die Interpretation von Rückmeldungen der Lehrer und entsprechende Reaktion, die Beobachtung des Kindes und seiner Motivation, die aktive Förderung der Kinder in Form von Nachhilfe, Musikunterricht, Sport, Tanz, Theater usw. um nur einige zu nennen. Insbesondere die Mütter, die tagsüber die Betreuung der Kinder leisten, übernehmen die notwendigen Schritte, um ihre Kinder zu unterstützen und Schwierigkeiten zu bewältigen. Bei der unterstützenden Begleitung des Bildungswegs lassen sich unterschiedliche Handlungsfelder benennen, die jeweils als grundlegende Erziehungsentscheidungen oder in Reaktion auf bestimmte Probleme fungieren. Die unterschiedlichen Herangehensweisen der Eltern in der Unterstützung des Bildungswegs werden auch bei Meryem Uçan weiter beleuchtet: vom Engagement in Schulgremien, über das Einüben von Gesprächen mit Lehrerinnen und Lehrern richten in diesen Beispielen die Mütter ihr Verhalten aus (vgl. Uçan: 15f.). Interessant ist hier festzustellen, inwiefern eine „Transformation und Delegation von familialen Aufgaben“ stattfindet und auch das biografisch erfahrene Wissen im Sinne von „mental methods“ an die nächste Generation weitergegeben wird (vgl. Ecarius 2006:147). 6.2.1 Kommunikation und Offenheit Kommunikation ist für die Eltern der zweiten Generation ein wirkungsvolles Element in der Beziehung zu ihren Kindern. Während meiner Feldforschung nehme ich immer wieder den freundschaftlichen Umgang zwischen Eltern und Kindern wahr, der besonders in den offenen Gesprächen spürbar ist. Mit dieser stärkeren Hinwendung zu einer Erziehung der Partnerschaftlichkeit und emotionalen Offenheit entspricht die Familie einem generell in der Gesellschaft beobachtbaren Wandel (vgl. Ecarius 2007: 142 sowie Busse/Helsper 2007: 323).20

ähnliches für Bildung feststellen, allerdings mit noch drastischeren Konsequenzen bei „Bildungsdesinteresse“ (vgl. Reckwitz 2012). 20 Dazu weiter bei Busse/Helsper: „Die moderne Familie – als eine spezifische Familienform – bildet sich seit dem 18. Jahrhundert in frühbürgerlichen Milieus in der Ambivalenz kindzentrierter Haltungen und einem pädagogisch kontrollierten Normalisierungs- und Disziplinierungsblick heraus (vgl. Foucault 2003). Diese Familienform wird im Verlauf des 20. Jahrhunderts zunehmend auch für andere Milieus und Lebenslagen bedeutsam. Im Rahmen dieser emotionalisierten und intimisierten Eltern-

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Die Mütter und Väter äußern das Ziel, auch in schwierigen Phasen das kommunikative Band zu ihren Kindern nicht abreißen zu lassen und verbinden damit die Hoffnung, dass so eine vertrauensvolle Beziehung entsteht, die die Kinder stärkt. Sie äußern weiter den Wunsch, dass die Kinder in kritischen Situationen Probleme zur Sprache bringen, anstatt sie zu verheimlichen. Der Erziehungsstil variiert in unterschiedlichen Phasen und in den einzelnen Kernfamilien, lässt sich aber in einem Spektrum zwischen demokratisch/autoritativ und autoritär einordnen.21 Zum Teil handeln und entscheiden die Eltern klar ohne Einbeziehung der Kinder und üben Kontrolle aus (autoritär) und zum Teil werden die Kinder ermutigt, selbstbestimmt zu handeln und Verantwortung zu übernehmen (demokratisch/autoritativ). Eine Verschiebung über die Generationen von autoritärem zu demokratischem Erziehen ist also nicht vorhanden, teilweise erscheint der Erziehungsstil der ersten Generation sogar sehr viel permissiver als in der Folgegeneration, viele Entscheidungen und Aufgaben wurden den Kindern selbst überlassen, und damit waren Freiräume aber auch Verantwortung verbunden. Was möglicherweise als intergenerationale Veränderung interpretiert werden kann, ist die vermehrte Bereitschaft der Eltern, Entscheidungen zu begründen und mit den Kindern zu kommunizieren, eine Entwicklung, die dem generellen gesellschaftlichen Trend von Familie zum „Aushandlungshaushalt“ entspricht (vgl. Busse/Helsper 2007:325).22 Jutta Ecarius weist jedoch darauf hin, dass der jeweilige Erziehungsstil für die Zufriedenheit von Heranwachsenden weniger entscheidend ist als „Dimensionen wie Wärme und Kälte, bzw. Nähe und Distanz“ (Ecarius 2007: 144). Aus den Alltagsbeobachtungen und Interviews schließe ich auf eine enge Eltern-Kind-Beziehung, die eher auf emotionaler Zugewandtheit, Kind-Beziehungen werden die Grundlagen für den Individuations- und Vergesellschaftungsprozess von Kindern gelegt.“ (ebd.) 21 Jutta Ecarius beschreibt überblicksartig drei Erziehungsstile, die in den Erziehungswissenschaften nach wie vor als Prototypen gehandelt werden. Die Bezeichnungen variieren je nach Ansatz, beschreiben aber ähnliche Handlungsweisen. Die drei Erziehungsstile gliedern sich demnach in 1. permissiv/Laisser-faire-Stil, 2. autoritär und 3. autoritativ/demokratisch. Dabei ist zu bedenken, dass „das gesamte soziale Umfeld, die Interaktionsstrukturen zwischen Kindern und Erwachsenen, das soziale Milieu, das Geschlecht sowie die gesellschaftlichen Bedingungen“ Erziehung mitgestalten (vgl. Ecarius 2007: 137f.). 22 Die erste Generation trifft Entscheidungen mit wenig oder ohne die kommunikative Einbeziehung der Kinder, so beispielsweise die Migrationsentscheidung. Interessant wäre weiter nachzuvollziehen, auf welche Weise sich in dem Erziehungswandel auch Veränderungen des sozialen Umfelds, der gesellschaftlichen Bedingungen widerspiegeln.

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einem freundschaftlich anmutenden Verhältnis beruht. Die Kinder, Adoleszenten und jungen Erwachsenen der dritten Generation suchen beispielsweise alle, in Problemlagen, den Rat und Austausch mit Mutter und auch Vater.23 Diese Beziehungspraxis zu stärken, beschreibt Fatma, Mutter von Vieren als ein wichtiges Anliegen. „I: Wie würdest du denn dein Verhältnis mit deinen Kindern beschreiben? Also es gibt ja ganz unterschiedliche Arten, wie Eltern und Kinder miteinander so sind. IP: [...] Wie soll ich’s sagen Freundin? Nicht wirklich, also – Das ist immer verschieden, manchmal reden sie mit mir, manchmal gar nicht (lacht), manchmal weiß ich dann gar nicht, was sie machen, manchmal doch [...] und das ist wichtig. Also wenn die Kinder zu den Eltern kommen, dass die Eltern auch zuhören. Also, ich versuch das. Ich werde versuchen, dass ich das schaffe, dass die Kinder zu mir kommen, mit mir reden (lacht) hoffentlich klappt das und bleibt auch so. Abwarten, sie sind noch zu klein, das kommt noch.“ (Interview Fatma)

Ich beobachte während der Feldforschung häufig Interaktionen von Fatma mit ihren Kindern, in der viel gelacht, miteinander gescherzt und spielerisch diskutiert wird.24 In diesen Situationen verschwimmt die Grenze zwischen Mutter und Kindern, und Fatma kann auch außerhalb ihrer Elternrolle agieren. Ihre Tochter Özlem (11 J.) erzählt im Interview, wie sie zunächst einen eigenen Umgang mit Problemsituationen sucht und meistens die Mutter einbindet. „Also ich würde es erstmal in mir behalten, weil das mach ich sehr oft [...] wenn ich sowas habe, dann unterdrücke ich’s erstmal, aber wenn es dann rauskommt, erzähl ich’s meinen Freunden. Meiner besten Freundin eher gesagt, manchmal auch meinen anderen Freunden, und eigentlich erzähl ich alles meiner Mutter, außer so Geheimnisse und sowas, ja.“ (Interview Özlem)

23 Auch mit dieser Tendenz ist die Familie insofern typisch, als gegenwärtige Studien der Familienforschung zu dem Schluss kommen das Ansehen der Eltern sei bei Kindern und Jugendlichen heute vergleichsweise hoch. „Die [...] befragten 10 – 18Jährigen nennen ihre Mütter und Väter als wichtigste Menschen auf der Welt und auch als bedeutende Vorbilder. Sie würden ihre Kinder genauso oder ähnlich erziehen, wie sie selbst erzogen wurden.“ (Fölling-Albers/Heinzel 2007: 315) 24 Auch in der restlichen Familie erlebe ich Humor als wichtiges Element in der alltäglichen Interaktion von Kindern und Eltern. Beide Seiten zeigen so ihre Zuneigung (wenn z.B. Maral ihren 11jährigen Sohn Mustafa „Mein Baby“ nennt) oder äußern auf diese Art Kritik.

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Auch Feza betont ihr vertrauensvolles Verhältnis zu den beiden mittlerweile erwachsenen Kindern. Sie deutet dabei auch an, wie sie reagiert, wenn die Kinder anders als von ihr erwünscht und erhofft handeln oder entscheiden. „Mit meinen Kindern hab ich mich immer wie eine Freundin verhalten. Vielleicht war es so, weil ich mit meinen Eltern nicht so einen Dialog gehabt habe. Ich hab das immer versucht mit meinen Kindern. Guck Maral weiß es auch, ich bin für die immer da, egal was passiert ist, ich wusste es immer. Erst hab ich es erfahren, und dann gehen sie, wo sie hinwollen. Egal was, auch wenn es was Schlimmes ist, die sagen mir es sofort, und ich war nie böse. Ich bin auch nie sauer zu meinen Kindern.“ (Interview Feza)

Feza erwähnt hier explizit die Distanz zu ihren Eltern und den Wunsch nach einer Veränderung in Bezug auf die eigenen Kindern. Das Vertrauensverhältnis hebt Feza als Priorität hervor, wenn die Kinder ihr mit Offenheit begegnen, bliebe auch ihre Reaktion im Rahmen. Ähnlich beschreiben die älteren Töchter von Muhammet und Maral die Beziehung zu ihren Eltern, die sich zwar sorgen, zu bestimmten Fragen und Forderungen der Kinder klar Position beziehen und Grenzen setzen, aber in der Kommunikation auch eine gewisse Partnerschaftlichkeit anstreben. „Also ich hab doch vorhin gesagt, so wie meine Eltern das gemacht haben würde ich es auch machen. Immer so diese freundschaftliche Basis [...]. Mein Vater hat immer so gesagt ‚Ich bin nicht nur dein Vater, ich bin auch dein Freund. Wenn du was hast, kannst du immer zu mir kommen.‘ Genauso wie ich zu meiner Mutter gehe, ok es gibt manche Sachen, die man natürlich dem Vater nicht immer erzählen kann, aber zu meinem Vater kann ich auch immer gehen, wenn was ist. Also so würde ich das mit meinen Kindern auch machen. Dass ich denen alle Türen offen lasse, aber ihnen auch zeige, was falsch und was nicht falsch ist, so.“ (Interview Melek)

Auch mit Meleks Charakterisierung des Eltern-Kind-Verhältnisses wird das eingangs beschriebene Erziehungshandeln zwischen klaren elterlichen Vorgaben und gleichrangiger Kommunikation vermittelt. Ihre jüngere Schwester Nuriye hat eine vergleichbare Sicht auf die Beziehung zu den Eltern. „Und darum hab ich auch wahrscheinlich heute noch so ne gute Bindung zu ihr ((zur Mutter Maral)), weil- Sie war immer so wie ne Freundin für uns, auch damals schon. Wir sollten ihr alles sagen, und sie hat uns auch gleich alles erzählt, so immer, wenn wir was falsch gemacht haben. Und mein Vater, ja zu dem hab ich auch ne sehr sehr gute Bindung, weil mein Vater hat bis jetzt immer alles für mich gemacht. Und er hat uns auch noch nie

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so angemeckert, ich hab noch nie gesehen, auch wenn ich Scheiße gebaut hab, hat er versucht, immer so mit uns zu reden. Wo ich sogar selbst sagen würde ‚Oa:: jetzt müsst ich eigentlich Schläge kriegen.‘ Aber mein Vater nie, nie. Er hat auch nie gebrüllt oder so, ich kann mich nicht dran erinnern, dass er mich jemals so richtig krass angebrüllt hat oder so. Sondern er hat immer das versucht zu erzählen, ‚Ja::, Tochter bitte, ich will ein Freund für dich sein. Erzähl mir, wenn du Probleme hast. Und komm, wir machen das zusammen.‘ Oder sowas immer dann. Ja und darum hab ich ne sehr sehr gute Bindung zu meinen Eltern.“ (Interview Nuriye)

Nuriye hebt hier besonders hervor, dass ihre Eltern und insbesondere der Vater eine gewaltfreie Erziehung verfolgt, im Sinne eines Verzichts auf Machtausübung durch körperliche Bestrafung. In ihrer Erzählung scheint sie diese autoritären Erziehungsmaßnahmen durchaus einem normalen Erziehungsrepertoire zuzurechnen, und so wird das alternative Handeln des Vaters als außergewöhnliche Erfüllung seiner Rolle interpretiert. Ein wichtiges Element ist in den Beziehungen zwischen zweiter und dritter Generation mit dem Begriff der „Freundschaftlichkeit“ verknüpft. Dieses Merkmal bedeutet nicht, dass Kinder und Eltern in jeglicher Hinsicht auf einer Ebene agieren, entscheidend dafür ist eher der Versuch der Eltern, sich den Kindern immer wieder als Rückhalt und kommunikativer Partner anzubieten. Dieses Erziehungshandeln kann sich nur zum Teil auf Vorbilder aus der eigenen Familie, dem eigenen biografischen Erleben stützen. So ist beispielsweise Muhammet, der in seiner Vaterrolle von den Kindern positiv bestärkt wird, selbst ohne eine entsprechende Bezugsperson aufgewachsen und war gezwungenermaßen von klein auf sehr eigenständig. In Muhammets biografischer Erzählung spielt die Beziehung zu seinem Vater nur am Rande eine Rolle, aber er betont wiederholt, dass er früh selbst verantwortlich war. „I: Wurdest du denn auch mal unterstützt von anderen? IP: Gar keinem. Bis jetzt nicht. Seit ich so jung bin, keiner. I: Und Unterstützung so im Sinne, wenn du Probleme hattest, dass du jemanden fragen konntest, oder dir jemand Ratschläge gegeben hat, oder geholfen hat [...]? IP: Ich war sehr selbstständig. Ich hab keinen was gefragt, was ich machen sollte, welche Wege ich gehen sollte. Das hab ich selber entschlossen, immer.“ (Interview Muhammet)

Muhammets Kindheit ist in diesem Sinne geprägt durch Autonomie, auf der Kehrseite fehlt hier aber die Möglichkeit, Verantwortung abzugeben und sich den Eltern anzuvertrauen. Bei seinen eigenen Kindern praktiziert Muhammet Elternschaft gemeinsam mit Maral in jedem Fall anders, als er es erlebt hat. Das Element der „Freundschaftlichkeit“ spielt allerdings nicht nur für diese beiden,

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sondern für alle befragten Eltern der 2. Generation eine wichtige Rolle und trägt entscheidend zur innerfamiliären Atmosphäre bei. 6.2.2 Umfeld und Kontrolle Während der eigenen Adoleszenz hat die zweite Generation der Familie Imren nicht nur die vielfältigen Möglichkeiten des urbanen Umfelds, sondern auch diverse Risiken erfahren. Sowohl innerhalb der eigenen Biografie, als auch anhand des Bekanntenkreises wird deutlich, dass informierte Entscheidungen den Bildungsweg mit formieren und dass der großstädtische Raum Jugendlichen zwar Entwicklungsmöglichkeiten bietet, aber auch auf Abwege führen kann.25 Das Wissen über zu vermeidende Risiken gründet also zu einem großen Teil auf biografischen Erfahrungen der Familie. Die Eltern versuchen nun diejenigen Elemente zu erkennen, welche sich hemmend auf die schulische Laufbahn auswirken und diese unter Kontrolle zu bringen. Ein Beispiel dafür ist die Frage nach der günstigen Zusammensetzung einer Schulklasse. Dieses Thema wird immer wieder angesprochen und bewegt sich zwischen den Polen „viele Ausländer“ und „fast nur Deutsche“.26 Während die homogen andersdeutsche Klasse als nachteilig für beispielsweise die Deutschkenntnisse bewertet wird, werden in den homogen deutschen Klassen eher Ausgrenzungserfahrungen als problematisch beschrieben. Das vermittelt auch die Abiturientin Gülay (19J.), wenn sie rückblickend über ihre Schulzeit spricht. „[...] die Schule, wo ich jetzt hingegangen bin, also diese Realschule war auch nicht so gut, da haben die einen nicht so gebildet. Da waren auch sehr viele Ausländer und zum Teil die Kinder, die auch keine Lust auf Schule haben, und da wird man mitgezogen. In meiner Grundschule war das gar nicht so, da waren auch mehr Deutsche, da waren höchstens so sechs Ausländer in einer Klasse von so 30 Schülern, und automatisch konnte ich auch in der Grundschule besser Deutsch reden als jetzt, finde ich. Seitdem ich [...] auf die

25 Während der Feldforschung und im Rahmen der Interviews tauchen wiederholt die Themen Sucht (Drogen, Alkohol, Glücksspiel) und Kriminalität auf. Maral erzählt in einem unserer Gespräche, dass gerade unter Angehörigen ihrer (der zweiten) Generation Drogenprobleme verbreitet seien, was sie mit dem fehlenden Halt in der Familie nach längeren Phasen der Trennung begründet. In gewisser Weise knüpfen diese Beschreibungen auch an Schiffauers Beobachtung an, nach der die „Erfahrung von Strukturlosigkeit“ auch mit dem Wunsch nach Grenzziehung beantwortet wird (vgl. Schiffauer 2006: 103). 26 Diese Bezeichnung stammt aus den Interviews mit Gülay, Nuriye und Melek.

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Realschule gegangen bin, hat sich mein Deutsch [...] verschlechtert, und das finde ich halt schade irgendwie.“ (Interview Gülay)

Der Abschnitt deutet an, wie Marals Tochter Gülay das jeweilige schulische Umfeld bewertet, einschätzt, welchen Einfluss es auf ihren Bildungsweg hat.27 Die Eltern sehen die Notwendigkeit abzuwägen, welches Umfeld sie für ihre Kinder geeignet finden, dabei sind die Handlungsmöglichkeiten eingeschränkt. Während der Grundschulzeit ihrer ersten Tochter Melek kann Maral nur gegen Widerstände den Schulwechsel erwirken. Sie befürchtet, dass ihre Tochter in einer Klasse mit sehr wenig muttersprachlich deutschen Kindern keine guten Lernvoraussetzungen hat. Für diesen Wechsel muss Maral sich gegen bürokratische Widerstände durchsetzen, sie nimmt die Rückweisung ihrer Anfrage im Schulamt nicht hin, insistiert, sucht nach Alternativen, und ihr Anliegen hat letztendlich erst im direkten Gespräch mit einer Schulleiterin Erfolg. Aber auch ein schulisches Setting mit hauptsächlich muttersprachlich deutschen Kindern birgt Risiken, insbesondere das der Diskriminierung. An anderer Stelle möchte ich näher auf die Exklusion im schulischen Kontext eingehen, nur so viel – ein heterogenes Schulumfeld erscheint besser geeignet, um Ausgrenzungserfahrungen als andere Deutsche zu vermeiden.28 Eine andere Form Risiken im Schulumfeld einzugrenzen, ist die Kontrolle der Kinder. So überwacht eben Feza jahrelang den Schulweg ihres Sohns, weil sie ihn dem Risiko ausgesetzt sieht, von seiner Peergroup und dem Umfeld zu delinquentem Verhalten angestiftet zu werden. Die Sorge geht hier über die gelingende Schullaufbahn hinaus und bezieht auch allgemein das Wohlergehen ihres Kindes ein. Ihr Risikobewusstsein ist nicht nur auf das städtische Umfeld zurückzuführen („Na, das ist Neukölln, du kennst das nicht.“ Interview Feza), nachdem Osmans Vater Ali zu Beginn ihrer Ehe straffällig geworden ist, hat Feza auch aus ihrer Biografie heraus Anlass so zu handeln, wie sie es tut. Sie richtet sich damit aktiv gegen eine intergenerationale Fortsetzung einer „sozialen Abwärtsmobilität“, die Mannitz zufolge unter Bedingungen der Benachteiligung mit einer „dichten Konzentration von Belastungsfaktoren“ entstehen kann (Mannitz 2006: 300). Auch Fatma und Maral wollen von ihren Kindern häufig über 27 Neben den eigenen Erfahrungen können sich hier auch die Stereotype gegenüber einem migrantischen Schulmilieu als defizitär niederschlagen. 28 Auch Mannitz unterstützt die These, dass ein migrantisch geprägtes Schulumfeld für Schülerinnen und Schüler gewisse Vorteile haben kann, da sie hier keine „Sonderbehandlung“ oder „Vereinzelung“ erleben, sondern vielmehr die „Gelegenheit zur intersubjektiven Verständigung über ähnlich gelagerte adoleszente Krisen und Probleme als ‚AusländerInnen‘“ bestehe (Mannitz 2006: 300f.).

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deren Verbleib informiert werden und können restriktiv sein, wenn es um die Freizeitgestaltung geht. Sichtbar wird hier neben dem Bewusstsein konkreter Risikofaktoren auch eine veränderte Perspektive auf Kindheit und die zunehmende Orientierung an einer normgerechten Schullaufbahn, die sich vom Aufwachsen im dörflichen Kontext deutlich unterscheidet. 6.2.3 Aktiv Mitgestalten Zur unterstützenden Begleitung des Bildungswegs der Kinder gehört für die Eltern auch die eigene Beteiligung am Schulalltag. Fatma beispielsweise nimmt an den Elternabenden aller vier Kinder teil, hilft beim Schulfest und sucht bei Problemen in der Klasse das Gespräch mit Lehrern und anderen Eltern. Als ihr ältester Sohn während der Grundschulzeit zum Außenseiter wird, merkt sie an seinem Verhalten, dass etwas nicht stimmt und versucht gemeinsam mit den Lehrern, die Situation zu verändern. „[...] ich konnte gleich mit dem Lehrer reden. Sie haben immer gesagt ‚Bist du schon wieder da?‘ (lacht) Sie haben mich so oft gesehen, aber ich hab gesagt ‚Nee, also wenn es so weiter geht, dann muss ich ja kommen, ich muss ja meinem Kind helfen, wenn es sich ausgeschlossen fühlt [...]. Wenn er denkt, dass er nicht hierhergehört. Er muss sich ja wohlfühlen, wenn er in die Schule kommt.‘“ (Interview Fatma)

Fatma ist sich auch aufgrund ihrer eigenen Bildungsbiografie bewusst, wie gravierend eine Schulunlust die Chancen auf einen erfolgreichen Abschluss mindert und ist unter anderem deswegen sehr bedacht darauf, ihren Sohn in Bezug auf sein Auskommen mit den anderen Kindern zu unterstützen. Auch sie greift hier nicht auf bekanntes Verhaltensrepertoire der eigenen Eltern zurück, sondern initiiert gewissermaßen einen Neuanfang innerhalb der Elternrolle. Ähnlich handelt Maral, als ihre Tochter sich von der Klassenlehrerin ungerecht behandelt fühlt. Sie akzeptiert die Situation nicht, sondern bringt das Problem gegenüber der Elternsprecherin zur Sprache. „[...] bei Gülay, ich hab bei ihr etwas gemerkt. Gülay hat mir immer erzählt ‚Alles was ich mache, guckt sie sich gar nicht an ((die Lehrerin)), sie zerreißt die Blätter und schmeißt sie erstmal in den Müll.‘ Und dann hat sie geweint ein paar Mal, hat gefragt, warum sie das so macht, und sie hat gar keine Antwort gegeben. Und dann war ich bei der Elternsprecherin und hab ihr die Sache erklärt, und sie war auch ganz nett und hilfsbereit, sie hat mir dann geholfen, indem sie die Lehrerin beobachtet hat. Und da hat sie sie erwischt. Und das war’s, dann haben die Eltern alle unterschrieben, da ist sie weg. Gleich. Aus der Schule.

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(Lacht) Wegen Gülay. Aber das hat sie ja nicht nur mit Gülay gemacht, das hat sie ja auch mit ein paar- besonders mit ausländischen Kindern hat sie’s gemacht.“ (Interview Maral)

Die Eltern nehmen die Probleme der Kinder somit wahr und setzen sich für deren Interessen aktiv ein. Mitbestimmungsoptionen für Eltern sind in der Schule nach wie vor begrenzt (vgl. Busse/Helsper 2006: 324), aber die Eltern (in diesem Fall besonders die Mütter) nutzen den vorhandenen Spielraum und verändern so auch das schulische Umfeld. 6.2.4 Organisation der Freizeit Um den Bildungsweg der Kinder zu unterstützen, wirken die Eltern nicht nur auf äußere Faktoren des Lernumfelds, sondern achten auch auf das Lernen selbst. Zunächst wird Aufmerksamkeit auf schulische Aufgaben und das Erreichen jeweiliger Zielsetzungen gerichtet. Wenn die Lernfortschritte eines Kindes in einem Bereich stagnieren, wird im Gespräch nach Ursachen und Lösungsmöglichkeiten gefahndet. Häufig findet sich innerhalb der Großfamilie jemand, der bei speziellen Aufgaben helfen kann, besonders die älteren Geschwister, Cousinen und Cousins können die Jüngeren unterstützen. Während meiner Teilnahme am Familienalltag erscheint es als Selbstverständlichkeit, dass gegenseitige Hilfe geleistet wird, wobei je nach Kenntnissen einzelne als „Fachleute“ für bestimmte Themen gelten (so z.B. Fatih für Naturwissenschaften). Marals Sohn Mustafa (12 J.) ist kurz vor dem kritischen Übergang an eine weiterführende Schule und wird dabei von verschiedenen Seiten unterstützt. „Ja die ((Schwestern)) helfen mir da auch sehr viel, und mit denen lerne ich auch mehr. Zum Beispiel Englisch und so kann ja meine Mutter nicht, und da lern ich mit denen. Mathematik bei meiner anderen Schwester irgendwie so halt. Ja bei den Fächern lern ich meistens mit meiner Schwester, aber auch mit meiner Mutter. Wenn ich mal sowas auswendig lernen muss oder beim Korankurs, da geh ich auch eher zu meiner Mutter, weil die kann ja sowas und wenn ich mal so ’n Dua ((Bittgebet)) auswendig lerne, dann hilft sie mir auch dabei.“ (Interview Mustafa)

Falls sich innerhalb der Familie nicht die geeignete Hilfe findet, organisieren die Eltern auch Nachhilfeunterricht für die Kinder, um sie in bestimmten Bereichen zu fördern. Für ein erfolgreiches Bestehen in der Institution Schule erscheint es erforderlich, dass Lernen begleitet und organisiert wird, auch auf der Oberschule fehlt den Kindern häufig noch die Übersicht und Disziplin, ihren Schulalltag selbstständig zu bestreiten, Eltern fragen nach anstehenden Tests, nach Haus-

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arbeiten usw. Hier schlägt sich wiederum eine Entwicklung nieder, die insgesamt beobachtet wird und als zunehmende „Verschulung“ von Freizeit, bzw. einem weiten Hineinreichen von Schule in die Familie beschrieben werden kann (vgl. Fölling/Albers 2006: 304). Die Familie hat für die Erfüllung schulischer Aufgaben zu sorgen und nimmt auch in der Freizeit zunehmend schultypische Aktivitäten mit auf. So wird neben dem schulischen Lernen auch Lernen in anderen Kontexten und Formen initiiert und gefördert. Nach Schulschluss können die Kinder zwar spielen und frei über ihre Zeit verfügen, die Eltern vermitteln ihnen aber auch teils pädagogische Aktivitäten, an denen sie mit mehr oder weniger großem Interesse teilnehmen. Theaterkurs, Instrumente lernen (Saz), Nachhilfeunterricht, Teilnahme am Patenprojekt sind einige der Initiativen zu deren Teilnahme die Kinder motiviert werden, bzw. die die Eltern begleiten. So beschreibt auch Cenk den Erziehungsstil seines Schwagers Fatih, der darauf Wert legt, dass seine Kinder ihre Zeit gezielt gestalten. „[...] er zwingt sie halt nur dazu, niemals Leerlauf zu haben. Da bin ich auch wieder anderer Meinung, weil ich sage zu ihm ‚Mann, das sind Kinder, lass die doch am Sonntag Kinder sein.‘ und dann müssen sie halt unbedingt zu dieser Vereinigung29, dass sie da nochmal Hausaufgaben machen, dass sie da nochmal Korankurse machen, [...] im Nachhinein überleg ich mir ‚Vielleicht macht er’s ja doch gar nicht so verkehrt.‘ Weil, was willst du machen? Wenn die Kinder jetzt Leerlauf haben und sich hier auf der Straße mit anderen rumtreiben, ob es dann vielleicht sinnvoll ist? [...] er besteht darauf, dass sie halt Samstag und Sonntag diese Kurse belegen, damit sie nicht zuhause auf dumme Gedanken kommen. Es ist kein Zwang. [...] Aber er ist schon hinterher, dass die halt wirklich was machen und nicht NUR zuhause am Computer spielen oder sonst irgendwas. Da ist er schon hinterher, ist ja auch ok. Da bin ich auch nicht so der Freund von.“ (Interview Cenk)

Cenk, dessen eigener Sohn Oktay zum Zeitpunkt des Gesprächs noch nicht in die Schule geht, überlegt hier im Gespräch inwiefern der Eingriff in die Freizeitgestaltung der Kinder sinnvoll und notwendig sein kann. Es gilt demnach abzuwägen zwischen erwähnten Risiken („sich auf der Straße rumtreiben“ „nur am Computer spielen“) und der Freiheit, die als kindheitstypisches Element gilt. Die Teilnahme an zusätzlichen Freizeit- und Lernangeboten in schulischem Stil wird in der Forschung tatsächlich als wichtiger Beitrag zum Schulerfolg eingeordnet (vgl. Fölling-Albers/Heinzel 2006: 316). Auch in folgendem Eintrag aus dem Feldforschungsjournal wird das elterliche Ringen um die Vereinbarung ver29 Auf den hier angesprochenen Kulturverein und dessen Rolle für die Familie gehe ich an späterer Stelle näher ein.

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schiedener Erziehungsziele (Bildungserfolg, Freiräume für das Kind, demokratischer Erziehungsstil) deutlich. „Maral erzählt, dass Mustafa eine Fünf in Englisch nach Hause gebracht hat. Daraufhin hat sie ihm den Fernseher und den Computer weggenommen. Sie meint, sie wisse, das sei gemein, aber sie müsse das tun. Sie hat ein etwas schlechtes Gewissen deswegen, [...]. Sie meint, sie habe ihn auch angeschrien, aber später mit ihm geredet. Mustafa hat nun ein ganzes Probejahr auf dem Gymnasium vor sich, und Maral macht sich offensichtlich Sorgen, ob und wie er es schaffen kann.“ (Feldtagebuch 22.09.2011)

Marals Reaktion kann als Zeichen für den gestiegenen Leistungsdruck der Schule interpretiert werden, der sich auch auf die Eltern ausweitet. Der Einfluss der Schule und die hier gesetzten Maßstäbe haben sich längst auf den privaten Raum ausgedehnt und müssen von den Eltern mitgetragen und umgesetzt werden, wenn das Kind Erfolg haben soll. So ist es letztendlich Fatma, die sich mit ihrer Tochter darum streitet, dass sie noch die Zeitung lesen muss (eine Ferienhausaufgabe) oder Maral, die ständig mit ihrem Sohn darüber verhandelt, ob er genug geübt hat für die anstehende Arbeit. In der Forschungsliteratur zum Thema Familie und Schule ist von einem „Spannungsverhältnis“ die Rede, denn hier kollidieren unterschiedliche Interessen und Funktionen miteinander (Fölling-Albers 2006: 300).30 Grundsätzlich ist aber auch festzuhalten, dass Marals Abweichen von eigenen erzieherischen Vorsätzen Teil familiärer Interaktion ist und diese im Allgemeinen konflikthaft verläuft. Erziehungsziele sind dabei nur als „sprachlich artikulierte Pläne“ zu begreifen, die aber in der jeweiligen Situation oft nicht dem tatsächlichen Handeln entsprechen, dass mehr eine Reaktion auf das unvorhersehbare Verhalten darstellt (vgl. Ecarius 2006: 139). Ambivalenzen und Konflikte sind dem Familiensystem quasi inhärent, aber die von der Institution Schule geforderten Leistungen verschärfen diese Spannungen noch weiter. Medienkonsum ist eines der üblichen Aushandlungsobjekte, und es erfordert viel Geduld und Ausdauer von den Eltern (meistens den Müttern), diesen im Rahmen zu halten und zur schulischen Pflichterfüllung aufzurufen. Teilweise übernehmen aber auch die älteren Geschwister erzieherische Verantwortung und versuchen, die Jüngeren zu beeinflussen, so wie Gülay bei ihrem Bruder Mustafa. 30 Bei Busse und Helsper wird weiter ausgeführt, dass „Leistung zu einem immer wichtigeren Bestandteil der Schule werde, insbesondere im Zusammenhang mit der hohen Bedeutsamkeit von Bildungstiteln für die Zukunft der Heranwachsenden, Schule damit weniger den Charakter eines Bildungsmoratoriums besitze, sondern eine Ernstsituation darstelle und die Schule stärker in den Alltag und die Lebenszeit von Jugendlichen expandiere.“ (Busse/Helsper 2006: 325)

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„[...] wenn ich jetzt nen kleines Kind von Anfang an nur vor ’n Fernseher setze und es gar nicht mit Büchern oder sowas erziehe, dann hat es später auch gar keine Lust darauf, denke ich mal. Dann mag es die Bücher und so einfach nicht. Es kann dann wahrscheinlich nicht gut lesen und mag einfach nur das Fernsehen und spielen und sowas, darum schimpf ich auch immer mit Mustafa, wenn er so viel X-Box spielt. Weil er sich das nicht so zur Gewöhnung machen soll. Er soll schon jetzt anfangen, Bücher zu lesen, das ist mir schon wichtig, was aus Mustafa wird. Das ist jetzt nicht so ‚Das ist mir egal, ich hab mein Abitur‘, weil er ist ja mein Bruder. Und jetzt hab ich mit ihm eine Wette gemacht. Ich hab gesagt ‚Du suchst dir ein Buch aus, und ich such mir ein Buch aus, und wer das Buch als erstes durchliest, ist der Gewinner und darf von dem anderen was verlangen.‘ Zum Beispiel ‚Du musst mich auf ’n Essen einladen [...].‘“ (Interview Gülay)

Gülay hat die in der Familie vor allem aber im schulischen Umfeld gesetzten Werte offenbar internalisiert, Bücher zu lesen wird als nachhaltige, sinnhafte Tätigkeit eingestuft, die Chancen eröffnet. Auf strategischem Weg, nämlich anhand eines spielerischen Wettbewerbs mit Belohnung, versucht sie nun, ihrem Bruder diesen Bereich näher zu bringen. Mit ihrer Betonung der Bedeutung von Lesekompetenz entspricht sie exakt einem pädagogischen Diskurs in dem diese als entscheidendes Kapital für die Schullaufbahn gilt. Ihr ist bewusst, dass Bücher lesen zu einem in der Schule bevorzugten Habitus gehört, während ausschließlicher Medienkonsum (Computer, Fernsehen) eher einem defizitären Habitus der Unterschicht zugerechnet wird. Dass ihr und vor allem auch den Eltern wichtig ist, „was aus den Kindern wird“, sie sich dafür motivierend einzusetzen versuchen, erscheint zuallererst orientierend und unterstützend, es könnte allerdings auch zu sogenannten „systemischen Rückkopplungen“ kommen (FöllingAlbers/Heinzel 2006: 306). Das bedeutet, dass im Fall von schulischen Misserfolgen aufgrund der engen Verquickung der beiden Systeme, die Kinder den Liebesentzug der Eltern befürchten und sich umgekehrt die Interaktion mit den Eltern in den Schulleistungen abzeichnet. Die beiden Systeme sind demnach eng aufeinander bezogen, ein Befund, der sich in der Familie bestätigt, wobei die Eltern versuchen, dem Leistungsdruck entgegenzuwirken. Das wird beispielsweise aus Fatmas Reaktion auf die Klassenarbeit ihrer Tochter Özlem deutlich. „Achso, wenn ich mal ne schlechte Arbeit geschrieben habe, oder einen Test, dann zeige ich’s meiner Mutter und sie sagt ‚Egal, nächstes Mal machst du es besser.‘ Und ich versuch’s auch nächstes Mal besser zu machen. Jetzt nicht, dass ich denke ‚Ach ja::, meine Mutter ist so cool, sie lässt das so.‘ Nein ich versuche, mich auch zu verbessern. Aber ich find’s sehr schön, dass sie nicht so ausrastet wie paar andere Leute und sagt ‚Ach du hast ne Drei, das geht aber besser mit ner Eins.‘ oder sowas. Also ja, oder was sie ((die Eltern))

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öfters wiederholen, ‚Ich bin nur ein Mensch. Ich kann nicht alles.‘ Versteh ich ja auch, also meine Mutter sagt das ja auch. [...] Oder ‚streng dich an‘ das kommt jetzt nicht so oft, aber wenn sie es mal sagen, dann sagen sie es mit deutlicher Beschriftung.“ (Interview Özlem 11J.)

In den unterschiedlichen Aussagen kann der Versuch herausgelesen werden, im Spannungsfeld zwischen Schule und Familie Alltag so zu gestalten, dass die dritte Generation einerseits neue Chancen erhält und nutzt, aber anderseits nicht überfordert wird und die Familie als emotionaler Rückzugsort erhalten bleibt. 6.2.5 Zukunftsfragen und Perspektiven Eine individuelle Perspektive, welcher Schulabschluss, welche Berufsrichtung angestrebt werden sollte, beschreiben meine Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner als Prozess, der von verschiedenen Seiten mit beeinflusst wird. Die drei explizit benannten Einflüsse sind Schule, Familie und Freunde bzw. das Umfeld.31 Die Ausrichtung der Eltern (und Großfamilie) ist dabei eine Konstante, hier wird an alle Kinder das Ziel eines möglichst hohen Bildungsabschlusses herangetragen und auch gegenüber anderen kurzfristigeren Zielen immer wieder als Priorität bestätigt. Auch wenn die von den Eltern vermittelte Perspektive konstant aufrechterhalten wird, gerät sie zum Teil in den Hintergrund, so beispielsweise bei Melek, die sich zeitweise eher an den Peers aus dem Umfeld orientiert. „Und dann hatte ich so in der Fachabizeit so ne Phase, wo ich dann dachte ‚Das nützt doch eigentlich gar nichts, wozu soll ich denn meine Schule machen?‘ Also meine Eltern waren immer hinter mir, die haben immer so gesagt ‚Warum willst du arbeiten? Du brauchst doch nicht zu arbeiten, wir geben dir doch Geld. Mach doch lieber deine Schule. Es ist wichtig, du willst doch nicht so enden wie wir.‘ Mein Vater zum Beispiel arbeitet in ner Werkstatt, aber er kann nicht offiziell irgendwo arbeiten, weil er ja keine Ausbildung hat. Und deswegen war es ihm immer von Anfang an wichtig, dass wir unsere Schule machen und was in der Hand haben, und dann können wir das machen auf was wir Lust haben. Und dann hatte ich irgendwie trotzdem so die Phase ‚Warum soll ich denn das tun was meine Eltern wollen? Ich will doch gar nicht Schule machen. Ich werd’ doch sowieso heiraten, Kinder bekommen, und dann muss ich zuhause bleiben.‘“ (Interview Melek)

31 Diese drei Faktoren (Schule – Familie – außerschulische Räume) werden bei Vera King (2006) als „Bildungsdreieck“ bezeichnet, das auf unterschiedliche Weise die Bildungsbiografie formen kann (King 2006: 43).

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Die Eltern sind eher kritisch, wenn es um eine frühe Heirat ohne jegliche Berufsausbildung geht, weil gerade die Frau in eine Position der Abhängigkeit geraten könne. „Die sagen auch immer ‚Mach was, damit du nicht von deinem Mann abhängig bist. Dass wenn mal was ist, Trennung oder so, dass du dann auch in der Lage bist, auf deinen eigenen Füßen zu stehen.‘ So das sind so die Ziele glaub ich.“ (Interview Melek)

Der Einfluss der elterlichen Erwartungen und der von ihnen delegierten Transformationsaufgaben ist offenbar begrenzt. Melek beschreibt, wie in der Adoleszenz die Familie in den Hintergrund rückt und sie eher aufgrund ihres Umfelds schlussfolgert, es sei nahezu unausweichlich, dass auch sie früh heiratet und eine Familie gründet. Die Imaginationen einer (Traum-)Hochzeit nimmt als biografischer Meilenstein in unterschiedlichen Milieus nach wie vor viel Raum ein, wobei es hier zum Teil um Konsum- und Repräsentationswünsche und möglicherweise auch die Vermeidung von Verantwortung zu gehen scheint und weniger um Fragen einer gelingenden Partnerschaft.32 Interessanterweise wird in Meleks biografischem Narrativ ihre Hinwendung zum Islam mit einem Sinneswandel in Hinblick auf eine aktive, über die Reproduktionsarbeit hinausreichende weibliche Rolle verknüpft. Neben Freunden und Bekannten nimmt selbstverständlich auch das Schulumfeld Einfluss auf die Entwicklung individueller Zukunftspläne, vor allem die 32 Im folgenden Eintrag des Forschungsjournals wird ein Gespräch zur Bedeutung von Heirat rekonstruiert. „Hochzeit ist ein wichtiges Thema, schon von der Kindheit an. Woher das komme, kann Melek auch nicht erklären, aber sie hat schon als Kind mit ihren Schwestern und der Cousine Kataloge durchgeblättert und überlegt, was sie alles für sich und ihren zukünftigen Mann kaufen könnten. Welche Einrichtung sie sich anschaffen könnten etc. Der Traum von der Hochzeit in Weiß ist bei vielen Mädchen sehr bedeutsam, aber nicht die Eltern sind es nach Meleks Ansicht, die diese Vorstellung unterstützen. Die Mädchen selbst erhoffen sich, einen Tag lang eine Prinzessin zu sein und einen Mann zu finden, der für sie sorgt, so dass sie selbst diese Verantwortung nicht mehr tragen müssen. Dieser Traum zerplatze leider häufig. Eine Freundin von Melek, die bereits mit 19 geheiratet hat, rät Melek, ihren Weg weiter zu verfolgen, sie meint, es sei viel schwerer verheiratet zu sein, als man denke. Melek erzählt auch von einer bekannten Familie, in der die Töchter alle gegen den Willen der Eltern sehr früh heirateten. Der Vater wollte eigentlich, dass sie studieren und war enttäuscht von der Entscheidung seiner Töchter. Ein Bekannter von den Imrens studiert nun selbst, nachdem keines seiner Kinder diesen von ihm erhofften Weg eingeschlagen hat.“

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Setzung beruflicher Ziele wird dort zum Gespräch. Die Rolle der Lehrer wird allerdings in Bezug auf die konstruktive Unterstützung der Jugendlichen in diesem Prozess als ambivalent beschrieben. Neben motivierenden und unterstützenden Episoden äußern sich die Schüler und Absolventen der dritten Generation durchaus kritisch gegenüber dem, was Lehrer und auch Berufsberater ihnen als Möglichkeitsraum skizzieren. Gülay wird beispielsweise in der 9. Klasse von einer Lehrerin abgeraten, auf das Gymnasium zu wechseln, eine Entscheidung, die sie wiederum mit dem Einfluss ihrer Freundinnen begründet, die auch Abitur machen wollen. „Nee, mach das nicht, das wirst du nicht schaffen.“„Mach ne Ausbildung.“ an diese Sätze von Lehrer erinnert sie sich rückblickend. Zum Zeitpunkt des Interviews steht Gülay kurz vor dem Abitur und versucht die Ursachen der abratenden Haltung in der folgenden Auseinandersetzung nachzuvollziehen. „Und irgendwie hatte ich immer das Gefühl, als ob sie ((die Lehrerin)) uns das nicht gönnen möchte. Sie hat ja selber auch Allgemeinabi gemacht, sonst wär sie ja nicht Lehrerin. Und sie hat ja selber auch studiert. Die sagen ja immer ‚Mach eine Ausbildung, dann hast du viel schneller das Geld.‘ Hat mal ein Lehrer als Grund genannt. ‚Hast du viel schneller das Geld schon angesammelt, als wenn du jahrelang noch Abi machst und dann jahrelang noch studierst, dann- ‘so hat der das gesagt, ‚-dann hat der andere schon so viel Geld gespart‘ und so. Aber dann denke ich mir immer ‚Du selber hast doch auch studiert, wieso sagst du sowas?‘ (Lacht) Und irgendwie, also das hatte ich ja auch schon öfters von meinen Schwestern gehört, dass die Lehrer das immer sagen, darum hatte ich das Gefühl, dass die das uns nicht gönnen möchten und hab mich damit so abgefunden. Wurde jetzt auch nicht jedes Mal so traurig, nur bei diesem ersten Mal, wo die dann gesagt hat ‚Nee, das schaffst du nicht.‘ Aber sonst hab ich das einfach trotzdem gemacht. Natürlich hat mich das trotzdem irritiert, und ich hatte Angst so ‚Wenn ich das jetzt wirklich nicht schaffe.‘ Weil es sind ja schließlich Lehrer und man glaubt das schon, was die sagen. Und das macht einem dann auch so voll Angst und em:: auch wenn man sich so vorbereitet für die Prüfung, denkst du ‚Oah schaffst du doch sowieso nicht, hat er doch gesagt.‘ Und so. Das finde ich halt voll schlecht bei den Lehrern. Als ob die uns das nicht gönnen möchten, also wenn ich Lehrerin wär, würd’ ich das niemals machen. Irgendwie habe ich mir dann immer eingeredet, dass die nicht wollen, dass wir gut sind, weil wir Ausländer sind, hab ich mich dann auch gefühlt so n bisschen.“ (Interview Gülay)

Es geht an dieser Stelle nicht darum, das pädagogische Vorgehen und dessen Ursachen zu reflektieren, was hervorgehoben werden soll, ist die Widersprüchlichkeit dessen, was aus den unterschiedlichen Sphären an die jüngere Generation als Zielsetzung herangetragen wird. Die in der Familie betonten Ziele rangieren neben einer Reihe konkurrierender Werte (z.B. frühe finanzielle Unab-

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hängigkeit, Heirat und Familiengründung) aus den anderen Kontexten und müssen sich hier behaupten. Auch wenn die grundlegende Unterstützung aus dem Elternhaus besteht, lösen die Aussagen gerade von Lehrerinnen und Lehrern Zweifel aus („man glaubt das schon, was die sagen“), hier agiert die Schülerin gewissermaßen zwischen unterschiedlichen Systemen, und es erscheint hilfreich, wenn über Angehörige der eigenen Generation eine Einordnung vorgeschlagen wird („hatte von meinen Schwestern gehört, dass die Lehrer das immer sagen“). In diesem Sinn zeigt sich die bei Bourdieu beschriebene Funktion der Schule, diejenigen, die nicht den normativen Anforderungen entsprechen, zu „vernünftigen Erwartungen“ und damit dem „Verzicht“ auf ambitioniertere Ziele anzuhalten (vgl. Bourdieu 2001: 34f.). Anders als bei Bourdieu vermittelt sich Gülay von Familie und Umfeld allerdings nicht so sehr ein Klassenethos, der gleichsam die Vorstellung begrenzter Chancen verstärkt, hier bleibt vielmehr die Perspektive des Bildungsaufstiegs orientierend bestehen. Was sich mit den Zukunftsfragen der dritten Generation zeigt, ist, dass die Familie intergenerationale Ziele, wie das des Bildungserfolgs, gegen vielfältige gegenläufige Einflüsse verteidigen muss und diese, einmal gefasst, nicht ohne weiteres fortbestehen. 6.2.6 Resümee: Grenzen und Transformationen in Bildungsverläufen Der familiäre Alltag ist geprägt von den Aufgaben, die sich aus den Bildungsverläufen der dritten Generation ergeben. Bildung erlebe ich im Alltag der Familie und den Narrativen als eine Art rahmende Zielsetzung. Die damit verknüpften Handlungen sind vielfältig und in verschiedenen Kontexten verortet. Die institutionelle Bildung nimmt in der familiären Interaktion viel Raum ein und ist eng an Verwertbarkeit, das heißt die spätere berufliche Einmündung in eine „gute“ Arbeit verbunden. Damit finden wir die in der Bildungskritik angesprochene gesellschaftliche Verengung und Durchsetzung des Bildungsbegriffs von der Logik kapitalistischer Verwertung hier wieder. „Zweckfreie“ Elemente sind im Alltagshandeln und den kommunizierten Familienthemen auf Anhieb weniger offenbar.33 Die familiären Praktiken, die sich auf den institutionellen Bildungserfolg richten, sind dagegen sichtbar und zeigen sich auch in dem Versuch, die diversen Risiken zu kontrollieren, die während der Schullaufbahn auftreten. Delinquenz, problematisches Lernumfeld, Medienkonsum, Mobbing, Diskriminierung, Demotivierung, Orientierung an der Peergroup und alternativen Zielset-

33 Diese „zweckfreien“ Aspekte existieren aber bei genauerer Betrachtung auch, und ich werde später auf sie zurückkommen.

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zungen sind einige der erwähnten Bereiche, die den Bildungsverlauf beeinträchtigen können und gegen den die Eltern anzuwirken versuchen. Die Familie agiert im Spannungsfeld schulisch gesetzter Anforderungen und familiärer Werte. Es besteht ein umfangreiches Wissen, welches Kapital für den Bildungsweg bedeutsam ist, und dieses wird möglichst gefördert. Die öffnende Funktion der institutionellen Bildung wird nur peripher in Frage gestellt, es überwiegt in den Äußerungen der Tenor, Bildung sei entscheidend, um mit den jeweiligen Zertifikaten größere Entscheidungsfreiheit für den beruflichen Werdegang zu erreichen. Die zahlreichen Unterstützungsformen in der Familie kompensieren nur zum Teil jenen Umstand, dass die Kinder nicht dem „Normalschüler“ entsprechen, an dem die Schule nach wie vor ausgerichtet ist. Zweisprachigkeit (bzw. nichtdeutsche Muttersprachlichkeit) erscheint in Abgleich mit den „normalen Anforderungen“ als Problem, und gerade dieser Bereich wird im schulischen Alltag immer wieder als Defizit beschrieben. Fast alle Schulkinder thematisieren Schwierigkeiten mit dem Schulfach Deutsch, wobei sich die sprachlichen Probleme dann auch in anderen Fächern niederschlagen. Nicht nur die deutsch-muttersprachlichen Kenntnisse, sondern das kulturelle Kapital einer Klasse wird privilegiert (Bourdieu 2001: 25ff.), und so geht es vermutlich nicht nur um grammatikalische Fehler, sondern auch den in der Schule präferierten Sprachstil, von dem die Neuköllner Schülerinnen und Schüler abweichen. Die Feinheiten dessen, was in der Schule implizit und explizit erwartet wird, waren der ersten Generation noch weniger geläufig und münden nun in der 2. Elterngeneration in ein gewandeltes Handlungsrepertoire ein. Dass die Eltern (Mütter) so aktiv den Bildungsverlauf mitgestalten, liegt auch daran, dass ihnen bewusst ist, welche Nachteile Kinder aus türkischen Arbeiterfamilien ausgleichen müssen, um den schulischen Anforderungen gerecht zu werden. Das praktische Wissen um vermeintliche Risiken der Schulverläufe ist größer, und die Familie hat sich darauf ausgerichtet und im Alltag reorganisiert. Dieses Element der „Reorganisation“ wird bei Hummrich und Hamburger als migrationsspezifische Herausforderung beschrieben, die auch die „Ausbildung von lokalen Bezügen, angefangen mit der Neustrukturierung der Kernfamilie bis hin zu Kontakten im Wohnumfeld“ umfasse (vgl. Hamburger/Hummrich 2006: 119). In der zweiten Generation der Imrens lassen sich tatsächlich ein gewachsenes Netzwerk und auch eine veränderte Elternrolle ausmachen. Der Erziehungsstil ist dabei nicht auf grundlegend veränderte Werte gerichtet, ganz im Gegenteil, aber in der Umsetzung ist mehr Raum für Aushandlung. Die Einhaltung von Normen erscheint weniger im Vordergrund als die Prämisse einer „freundschaftlichen“, d.h. kommunikativ offeneren Beziehung.

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Die neue Nähe und stärkere Ausrichtung an den Bedürfnissen der Kinder ist eine Seite der veränderten Familiengestaltung, aber auf der anderen Seite scheint die Kindheit durch den kontrollierenden und gestaltenden Eingriff der Erwachsenen an Freiheit zu verlieren. Entscheidend für diese Entwicklung sind erstens die veränderten institutionellen Anforderungen, denen die Kinder gerecht werden sollen, und zweitens Risiken des großstädtischen Lebens (auch im Vergleich zum Aufwachsen im türkischen Dorf). Dies sind auch Aspekte, die Elisabeth Beck-Gernsheim als Effekte eines Zeitalters der Pädagogisierung beschreibt, so lässt sich über die drei Generationen beobachten, wie Kindheit sich wandelt und mit den „Individualisierungsschüben“ sowohl Chancen als auch neue Zwänge entstehen (vgl. Beck-Gernsheim 1989: 148). Einerseits sind die Entwicklungsansprüche gestiegen, Kinder sollen umfassend gefördert werden, andererseits lässt die moderne Gesellschaft wenig Raum für kindlichen Bewegungs- und Entdeckerdrang, und es bleibt Aufgabe der Eltern, diesen zu gestalten. Drittens sind nicht zuletzt die veränderten Vorstellungen und Wünsche der Eltern für ihre Kinder Grund für die pädagogisierte Kindheit. Zu einem guten Leben wird die Freiheit, einen passenden Beruf wählen zu können gezählt, der dann auch gewisse finanzielle Freiheit und Unabhängigkeit mit sich bringt. Als Voraussetzung dafür gilt der erfolgreiche Bildungsabschluss und auf dem Weg dorthin, mit seinen Schlaufen, Tälern und Kurven befinden sich die Kinder, und die Eltern sehen ihre Aufgabe darin, sie dabei zu unterstützen. Sie selbst haben als Kinder im Dorf und auch später in der Großstadt mehr Freiraum erlebt, waren sich innerhalb der Gemeinschaft oft selbst überlassen, mussten auch früher Verantwortung tragen und Aufgaben übernehmen. In der Rückschau wird gerade diese Autonomie der Kindheit positiv hervorgehoben. Den eigenen Kindern bieten sich ganz andere neue Möglichkeiten, aber auch andere Einschränkungen. Anhand der eigenen Erfahrungen in der Großstadt, mit dem Wissen um die vielfältigen Risiken und auch entsprechend des gesellschaftlichen Trends zu mehr Kontrolle, werden die Kinder stärker an die Eltern gebunden. Die Mütter der Familie Imren übernehmen die zentralen Aufgaben im erzieherischen und schulischen Alltag. Diese Rolle kann als höchst ambivalent interpretiert werden, denn sie verbindet die Zurücksetzung eigener Verwirklichung mit der Entwicklung von Selbstwirksamkeit innerhalb der Erziehungsaufgaben. Die Gründe für die Übernahme dieser Rolle sind komplex, ich habe sie eingangs beschrieben als Zusammenspiel verschiedener Faktoren: von Widerständen der eigenen Biografie und begrenzten beruflichen Perspektiven, über Imaginationen von Ehe und Mutterschaft als Glücksverheißung, zu Familie als Gestaltungsmöglichkeit. Allerdings werden die Bildungs- und Autonomiewünsche auf die

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Folgegeneration verlagert, was auch als migrationsspezifischer Vorgang interpretiert werden kann. Ziele, die sich nur im Generationenzusammenhang realisieren lassen, können demnach eine aktivierend, verpflichtende Wirkung bei den Kindern entfalten, „da Transformation zum Prinzip des familialen Handelns gemacht wird“ (Hummrich/Hamburger 2006: 119).34 So betont beispielsweise Fatma, die selbst mit 17 die Schule abgebrochen hat, immer wieder, wie wichtig es ihr sei, dass die Kinder die Schule beendeten. Der Weg zum Engagement für die Kinder führt mitten durch die eigenen biografischen Brüche und verlangt gewissermaßen ein darüber Hinauswachsen. Ohne abgeschlossene Ausbildung und mit niedrigerem gesellschaftlichem Status sind die Frauen in keiner machtvollen Position, doch sie begeben sich nicht in eine passive Rolle, sondern nutzen ihnen zur Verfügung stehende Möglichkeiten und gestalten so auch ihr Umfeld aktiv mit. Als ich mich mit Elif über diese Ambivalenzen der alltäglichen Herausforderungen unterhalte, in diesem Fall in Bezug auf die ältere Schwester Maral, meint sie „ja es sei ein Kampf für Maral und sie erlebe das auch jeden Tag mit, wie anstrengend es sei, diesen Weg zu gehen.“ (Feldtagebuch 11.01.2012). In der Feldforschung wird dieses Engagement auch angesichts von Widerständen wiederholt thematisiert, so zum Beispiel als wir mitten in einem Gespräch über ein schulisches Problem stecken. Marals Sohn Mustafa wurde an allen vier Gymnasien, bei denen er sich beworben hat, abgelehnt, es herrscht sehr gedämpfte Stimmung, und Marals Reaktion deutet an, wie sie ihre Aufgabe wahrnimmt. „Maral sagt mit leiser Stimme, sie werde nicht aufgeben. ‚Wie kann ich das so lassen? Ich bin die Mutter, als Mutter muss man alles für die Kinder tun.‘“ (Feldtagebuch 27.04.2011) Die Mutterrolle wird offenbar als Aufgabe interpretiert, die umfassendes Engagement fordert. Ein solches Mutterideal als aktiv, engagiert, für die Kinder streitend, findet auch teilweise gesellschaftliche Anerkennung und möglicherweise konstruieren die Frauen der zweiten Generation ihre Rolle unter anderem deswegen auf diese Weise.35 Mutterschaft kann in diesem Sinne im Anschluss an Pnina Werbner (1999) auch als politisch („political motherhood“) interpretiert werden, denn der Einsatz für die eigene Familie bleibt nicht auf den privaten Raum begrenzt. Ausgehend von einer Sphäre, in der den Frauen Macht, Eigentum und Verantwortung zugespro34 Apitzsch weist darauf hin, dass die Bildungsmotivation der Kinder steige, wenn Eltern ihre eigenen gescheiterten Erwartungen auf diese übertrügen (vgl. Apitzsch 1990: 214). Diese Konstellation kann aber auch zu einer Verweigerungshaltung gegenüber dem elterlichen Auftrag führen, da dieser als Last erlebt wird. 35 Der hier beschriebene Imperativ der Mutterrolle „Du musst alles für deine Kinder tun“ kann gleichzeitig auch als einengend und belastend vorgestellt werden, die Maßstäbe sind hier sehr hoch angelegt.

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chen wird, können sie Einfluss üben und Synergien zwischen Mutterschaft und Demokratie erzeugen (vgl. Werbner 1999: 222). Ihr Engagement reicht in die öffentliche Sphäre, und auch wenn es keine verbundene Bewegung ist, so wird mit dem eigenen Handeln doch etwas in Gang gesetzt. Letztlich ist aber gerade die Bildungsorientierung der Familie auch ein kritisches Element, wenn es um die Mutterrolle der Frauen geht. Es sind die institutionellen Anforderungen, die der Familie deutlich bewusst sind und deren Erfüllung die aktive Elternschaft quasi einfordert. Es bleibt fraglich, ob die erfolgreiche Schullaufbahn der dritten Generation auch gelänge, wenn die Mütter sich weniger aktiv einbrächten. Aus diesem Blickwinkel betrachtet, steht die Bildungsinstitution mit ihren in die Familien hineinreichenden Aufgaben einer beruflichen Integration beider Eltern im Wege. Das trifft umso mehr zu, wenn eine Familie wie die Imrens einen Bildungsaufstieg unter migrationsspezifischen Bedingungen anstrebt. Im Schulkontext wird ein sogenannter „Migrationshintergrund“ nach wie vor als Defizit behandelt und wirkt sich so als zusätzliches Bildungsrisiko aus.36 Im Fall der Imrens kann nicht von einem Widerspruch zwischen den Anforderungen der Schule und der Familie die Rede sein, im Sinne eines sogenannten „In-Between“ oder einer Angst vor „Germanisierung“ durch die deutsche Schule.37 Im Gegenteil: während die Eltern befürwortend den Bildungsweg unterstützen, ist das System Schule selbst zum Teil Quelle von Widerständen. Wenn Differenzen in der Schule noch nicht anerkennend integriert werden können oder sogar abgewertet werden, hat dies Konsequenzen für die Schülerinnen und Schüler, die nicht dem Idealschüler entsprechen. Diese Konsequenzen abzufedern ist eine Aufgabe, die im Fall der Imrens die Eltern zu leisten versuchen.

36 Bei Hamburger und Hummrich heißt es dazu „Eine Renaissance erlebt diese Perspektive ((Defizit- und Problemperspektive)) in der öffentlichen Diskussion, seitdem mit dem Erscheinen der PISA-Studie [...] offiziell belegt wurde, dass Migrantinnen und Migranten im Bildungssystem benachteiligt sind. Migration erscheint damit ein, wenn nicht das Risiko gesellschaftlicher Desintegration (vgl. Heitmeyer 2002) zu sein.“ (Hummrich/Hamburger 2006: 117) 37 Hiermit beziehe ich mich auf in der Forschung als migrationsspezifische Probleme beschriebene Konstellationen, in denen die Adoleszenten zwischen dem traditionellen Elternhaus und den Anforderungen der Modernität verkörpernden Schule hin- und hergerissen sind (vgl. Karakasoğlu 2010: 136).

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6.3 ZUGEHÖRIGKEITEN UND AUSGRENZUNG Der familiäre Alltag im (post-)migrantischen Kiez gibt immer wieder Anlass über Fragen der Zugehörigkeit, der kulturellen Bricolage nachzudenken und auch Kritik zu üben an ausgrenzenden Praktiken und Diskursen. Diese Aspekte sind hier auch deswegen relevant, weil Bildung und Identität als eng aufeinander bezogene Begriffe konstruiert werden. Zum Teil wird Identität als zeitgemäßer Ersatz für den Bildungsbegriff entworfen, da sie „nicht normativ, sondern selbstreferentiell“ ausgerichtet sei (Karakaşoğlu 2010: 133). Mit Ricken (2009) kann Identität als ein Prozess der „aktiv herzustellenden Selbstmarkierung in (vielfältigen) Relationen zu anderen“, der nicht auf die Adoleszenz begrenzt ist, sondern fortläuft, begriffen werden.38 Erziehung und Bildung sollen diesen dynamischen Wandlungsprozess des Individuums unterstützend begleiten, „ohne belehrend und normativ einschränkend auf das Individuum einzuwirken“ (Karakaşoğlu 2010: 133). Wenn eine gegenteilige Praxis verfolgt wird, wie beispielsweise im letzten Abschnitt in Zusammenhang mit Abwertungserfahrungen in der Schule angedeutet, wird die biografische Suchbewegung in ihrer Dynamik mit ihren jeweilig relevanten Selbstmarkierungen nicht oder nur begrenzt anerkannt und damit eingegrenzt. Die Zugehörigkeitsordnungen und das biografische Austarieren innerhalb dieser gestalten somit erstens einen allgemeiner als Bildung gefassten Entfaltungsprozess und zweitens die institutionelle Bildungslaufbahn mit. An Fragen der Zugehörigkeit sind schließlich auch ganz konkrete Ausgrenzungsmechanismen gebunden, die gesellschaftliche Teilhabe erschweren oder verwehren können. Im Folgenden soll es um verschiedene Bezugspunkte und Umgangsweisen mit identitären Verortungen, Zugehörigkeitspraxen und Grenzziehungen in den Biografien der Familie gehen.

38 Ergänzend dazu findet sich bei Jenny B. White folgende Fassung des Identitätsbegriffs, der die Ambivalenz zwischen Selbst- und Fremdzuschreibung noch deutlicher hervorhebt: „First, identity is a dialectic between how people see themselves and how others see them; both are subject to the intervention of historical events. Second, identity has an essentialist or ‚external‘ component, visible as ethnic or other named categories and focused on boundary maintenance, but it also has a processual ‚internal‘ component, which builds social relations in a changing and unstable social environment. This processual component of German Turkish identity is generalized reciprocity, an adaptable set of expectations that forges community across boundaries of social class, lifestyle, generation, and even ethnicity.“ (White 1997: 754)

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Für die erste Generation hat die Türkei als räumlich identitärer Bezugspunkt (als „Heimat“39 oder Zuhause) bis in die Gegenwart eine besondere Bedeutung. Ferda und Can verbringen als Rentner wieder mehr Zeit dort, während der Feldforschung wiederholt zum Teil mehrere Monate. Die Familie, die Enkelkinder halten sie in Berlin, aber abgesehen davon erscheint die Türkei als Sehnsuchtsort, und so pendeln sie zwischen diesen beiden.40 Auch Feza erwähnt während ihres biografischen Narrativs, dass sie ihr Hiersein nach wie vor als schmerzhaft empfinde („ich hasse es immer noch“), für sie bleibt die Vorstellung ihrer Kindheit im Dorf, als unerreichbare Imagination bestehen. In ihrem biografischen Narrativ beschreibt Feza die Migration als Einschnitt, als „katastrophal“, und die weiteren biografischen Entwicklungen deutet sie gewissermaßen unter diesem Vorzeichen. Die Geburt ihrer Kinder, das Muttersein wird als schöne Erfahrung hervorgehoben, aber andere Neuformierungen und positiven Bezugspunkte werden von Feza nicht benannt. Anders als die Eltern, hat sie nicht die Möglichkeit, in die Türkei zu pendeln, und so bleibt die Vorstellung eines anderen Lebens, an einem anderen Ort eine rein hypothetische Angelegenheit, ohne die Aussicht diese umzusetzen. In Auseinandersetzung mit Fezas Biografie ist bereits deutlich geworden, dass sie die Möglichkeiten, nach den eigenen Vorstellungen zu gestalten, als begrenzt erlebt. Für sie geht auch der Weg, mit einer Heirat und Familiengründung einen eigenständigen Neuanfang zu versuchen, nicht auf, weil ihre Ehe nicht so verläuft, wie erhofft und die Probleme ihres Mannes sich negativ auf ihren Möglichkeitsraum auswirken („eine weitere Katastrophe“). Ihr Verhältnis zur Familie des Mannes beschreibt sie ebenfalls als krisenhafte Beziehung. Nach verschiedenen Rückschlägen (der gemeinsame Laden muss wegen eines Autobahnprojekts weichen, Arbeitslosigkeit etc.) erhält Feza aus einer Maßnahme des Jobcenters die Möglichkeit, in einem Sozialprojekt mitzuarbeiten, eine Arbeit, die sie sehr gerne ausführt, aber aufgibt, um ihre Schwiegermutter zu pflegen. Feza konstruiert in ihrem Narrativ eine Biografie, die seit der Migration durch vielfältige Krisen geprägt ist, aus denen sie keinen „Ausweg“ findet. Auf diese Krisenhaftigkeit bezogen, lässt sich auch ihre Aussage, dass sie das Hiersein hasse, interpretieren. Im Unterschied zu den Eltern und der ältesten Schwester beziehen sich die weiteren Geschwister und die dritte Generation anders auf Berlin, Deutschland 39 Siehe dazu auch Bozkurt 2009: 19ff. 40 Bei Bozkurt wird für die erste Generation ebenfalls beschrieben, dass viele ihrer Angehörigen die Heimat mystifiziere und der Wunsch zurückzukehren aufrechterhalten werde. Daraus resultiere dann häufig das „dilemma of commuting“ (DietzelPapakyriakou 1993), das von einigen bereichernd, von anderen belastend erlebt werde.

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und die Türkei. Sie hegen keine (Re)Migrationswünsche und ihre Selbstverortung ist auf ihr Lebensumfeld gerichtet. Maral beschreibt es im Interview folgendermaßen:„Also ich gehöre hier hin, so fühle ich mich, also ich liebe Deutschland, trotzdem-. Ich liebe die Deutschen trotz Schwierigkeiten. Ich sehe das als meine Heimat, ich kann hier leben und ich werde auch hier leben.“ (Interview Maral) Ein Gefühl des Hingehörens „trotzdem“, entgegen der Widerstände und sogar ein Entgegenkommen mit dem großzügigen Wort „liebe“ äußert Maral hier. Es zeigt sich bei den Aussagen der Schwestern einerseits die Bandbreite der biografischen Entwicklungen in Berlin, deren emotionale Aufladung zwischen Liebe und Hass, und es deutet sich weiterhin mit dem Begriff „trotzdem“ an, dass es ein reibungsvoller Prozess war und ist. In den Gesprächen mit der zweiten Generation wird der Eindruck einer sich verstärkenden Entfremdung unterschiedlicher Gruppen im gesellschaftlichen Zusammenleben und mit dieser Entwicklung auch die zunehmende Ausgrenzung von Menschen aus der Türkei beschrieben. Der folgende Auszug drückt knappt die Haltung Fezas aus und entspricht in seinem Tenor auch anderen Aussagen der zweiten Generation. „Die Deutschen hat sie früher als sehr nett erlebt, meint sie. Es gab weniger Ablehnung als heute. Gleichzeitig gab es auch nie großes Interesse an ihrer Geschichte, aber sie hatte keine Probleme mit Deutschen. ‚Wenn mich jemand Ausländer nennt, dann interessiert mich das nicht.‘“ meint Feza.“ (Feldtagebuch 26.09.2012)

Die erste Generation äußert sich zurückhaltender, und ich höre von ihnen auch keinerlei Kritik zur ersten Zeit in Deutschland. „Gegenüber den Deutschen haben die Eltern wenig negative Vorbehalte. Sie bewundern sie eher bei der Arbeit für ihre Korrektheit. Diskriminierungserfahrungen sind in dieser Zeit kein Thema für sie. Elif meint, die Deutschen hätten sich damals anders verhalten als heute.“ (Feldtagebuch 23.01.2013)

Die Aufzeichnungen deuten an, dass Rassismus und andere Ausgrenzungserfahrungen in der ersten Phase nach der Migration innerhalb der Familie weniger erlebt, oder zumindest weniger problematisiert werden. Zwar scheint die Anerkennung der individuellen Biografie begrenzt („nie großes Interesse an ihrer Geschichte“), aber möglicherweise wird das auch aufgrund der anfänglichen Selbstpositionierung außerhalb der deutschen Gesellschaft akzeptiert. Unter den Familienmitgliedern der 1. und 2. Generation nimmt die Frage der Zugehörigkeit

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zunächst nicht viel Raum ein.41 Erst als sich mit den Jahren die Verbindung zur umgebenden Lebenswelt festigt und spätestens mit der dritten Generation, die hier geboren und selbstverständlich zuhause ist, findet ein deutlicher Wandel statt. Sowohl innerhalb der Familie als auch gesellschaftlich gibt es Verschiebungen und insbesondere wachsende Xenophobie, wirkt sich auf das Zugehörigkeitsempfinden der Familie aus. Im Interview spielt Elif auf einen zeitlichen Bezugspunkt für eine solche Veränderung an und zwar in ihrer Antwort auf meine Frage, ob es auch Momente in ihrer Biografie gab, an denen sie sich fremd gefühlt habe. „Ja, eine Zeit und zwar da, wo die Mauer aufging und da wo es mit den Rechtsradikalen so schlimm anfing. Da dachte ich ‚Nee, nee ich will zurück in die Türkei.‘ [...] Das war keine schöne Zeit. Obwohl, wir waren wirklich die ersten mit meinem Mann in der Kochstraße, wir standen ganz vorne ‚Die Mauer muss weg, die Mauer muss weg‘ haben wir geschrien. (lacht) Irgendwie blöd. Ja und dann fing diese Geschichte mit Solingen an, und was weiß ich was [...], da hab ich mich richtig unwohl gefühlt, aber jetzt geht’s wieder.“ (Interview Elif)

Innerhalb eines wiedervereinten Deutschlands wird die Kategorie des Türken oder Ausländers, als dem Anderen neu konstruiert (vgl. Mannitz 2006, White 1997)42, Elif nimmt diese Veränderung des gesellschaftlichen Klimas deutlich wahr, die in gewalttätigen Übergriffen gipfelt, und dementsprechend endet die Euphorie recht bald. Weniger konflikthaft erscheint beispielsweise die Wahl der Staatsbürgerschaft, sie ist für Maral und ihren Mann Muhammet ein eher bürokratischer Schritt, den sie auch aus pragmatischen Gründen gegangen sind. Die jüngere Schwester Elif und ihr Mann Cenk entscheiden sich dagegen und nennen die beiden seitdem manchmal scherzhaft „Maria und Josef“, als Symbol für deren vermeintliche Morphose. Cenk scheint den Status quo für sich akzeptiert zu ha41 Möglicherweise stehen der ersten Generation auch aufgrund ihres gesellschaftlichen Status als ungelernte Arbeiter, sowie der Herkunft aus ruralen Verhältnissen nicht die entsprechenden Ressourcen zur Verfügung, Ausgrenzungs- und Abwertungserfahrungen anzuprangern und sich jenen zu widersetzen. Zudem wird das Label „Ausländer“ zum Teil akzeptiert, weil es mit der Selbstbeschreibung korrespondiert. 42 Mannitz weist daraufhin, dass die Rahmung von rassistischen Erfahrungen als Produkt der ehemaligen DDR, die Möglichkeit bietet, sich mit einem Teil der Gesellschaft weiter zu identifizieren (vgl. Mannitz 2006: 310). Auch innerhalb der Familie werden rassistische Angriffe häufig in einem Ost-Berliner Kontext verortet und deutlich distanziert, insofern als dass diese Erfahrungen nicht in Neukölln stattfänden.

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ben und sieht keinen Grund, daran zu rütteln. Im Interview akzeptiert er das Label des „immerwährenden Neuankömmlings“ (El-Tayeb 2011) wenn er selbst äußert, „wir sind hier wirklich nur zu Gast.“ weist aber gleichzeitig die Assimilation von sich („auch der Großteil meiner Generation ist mittlerweile deutsch, ich will es nicht wirklich sein, weil es bringt mir nichts, weder geistig noch sonstwas“). Daraus lässt sich erkennen wie sich die ständige Infragestellung der Zugehörigkeit eingegraben hat. Cenk kombiniert in diesem Fall zwei ambivalente Reaktionsweisen, einerseits die Übernahme der ausgrenzenden Einordnung („nur zu Gast“) und andererseits die Zurückweisung der Assimilationsforderung. Tatsächlich sind er und seine Familie eng mit ihrer Lebenswelt vernetzt, und sie könnten sich eher nicht vorstellen, diesen Lebensmittelpunkt in die Türkei zu verlagern. So beschreibt es auch Elif gegen Ende ihres biografischen Narratives. „Ja, das Leben in Deutschland ist eigentlich jetzt mittlerweile sehr schön. Wenn ich in den Urlaub fliege, länger als drei Wochen halt ich das nicht aus. Dann sag ich immer ‚Ich will nach Hause. Ich will nach Berlin.‘ Es ist komisch.“ (Interview Elif)

Zuhause ist für die zweite und dritte Generation Berlin, auch wenn der Bezug zur Türkei präsent bleibt und auch in der dritten Generation als besondere Destination gilt. Die Erzählungen von Urlauben in der Türkei beziehen auch kleine Irritationen mit ein, die ein glattes sich Einfügen in den vertrauten und doch auch fremden Kontext verhindern. „Ich hab das ja auch gemerkt in der Türkei, ich weiß nicht, ich glaub, ich würd da nicht wirklich glücklich werden, ich müsste mich da wirklich erstmal eingewöhnen. Ich glaub, das wäre sehr sehr schwer für mich.“ (Interview Nuriye)

So erzählt ihre Mutter Maral wie Nuriye während des Türkeibesuchs weinte „Ich will zurück nach Hause“, worauf ihre Mutter entgegnete „Das ist doch hier deine Heimat“, aber Nuriye fühlte sich fremd. Das Heimweh richtet sich nach Berlin und wird als Hinweis auf die eigene Zugehörigkeit interpretiert. Zwischen „gedeutsch“ oder „getürkt“, „ick bin ein Berlina“, „Deutsche mit türkischen Wurzeln“, „Türkin, die in Deutschland lebt“, „Misch-Masch“, „Schwarzkopf“43 (um 43 „I: Du hast ja auch mal gesagt, dass ihr euch selbst als Schwarzköpfe in der Schule bezeichnet (lacht), kam das daher, weil andere das gesagt haben (IP: ja.) oder war das sozusagen selberIP: Ja, auch so andere immer. Weil in meiner Klasse, wie gesagt, da waren wir so die ersten Türken irgendwann, im ersten Jahr, und da war ich die erste wirklich, die wirklich so schwarze Haare hat und da wurd ich auch so von Kumpels und so ‚Ey du

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nur einige zu nennen) changieren die Selbstbezeichnungen der Familienmitglieder je nach Person und Kontext. Auch die Identifikation mit dem Lebensumfeld und auf abstrakterer Ebene dem nationalen Gefüge fluktuiert und ist innerhalb der Familie keineswegs einheitlich. Für die erste und zweite Generation sind verschiedene Orte in der Türkei bedeutsam als Kontext des Aufwachsens, der Sozialisation. Einige Erfahrungen werden an die folgende Generation weitergegeben, die dann auf je unterschiedliche Weise bestimmte Elemente hervorhebt oder beiseite lässt. Im Gespräch mit dem zwölfjährigen Mustafa wird die Familiengeschichte eher selbstverständlich betrachtet, der Türkeibezug gehört zwar zur Familie, ist aber momentan kein Thema, mit dem sich der Junge vertieft beschäftigt. „Also für mich ist es nicht so doll wichtig, und ich interessier mich nicht wirklich dafür, aber meine Mutter und mein Vater haben mir sehr viel über ihre Familie erzählt. Ich kann mich jetzt nicht wirklich dran erinnern, aber manchmal interessier ich mich dafür und frag auch nach, aber manchmal halt auch nicht. Und öfters halt nicht. Also darüber denk ich nicht wirklich nach. Mir wird jetzt auch nicht gesagt ‚I::h du bist ein Türke‘ oder sowas. Ja eigentlich ist mir das egal. (I: Und das spielt sozusagen gar keine Rolle?) Ja, also eigentlich bin ich ja Deutscher. Aber ich seh mich eher als Türke. [...] Weil meine Mutter und so weiter ja auch Türken sind, meine Schwestern und so weiter und deshalb, weil es sozusagen von der Familie aus ist. (I: Und in der Schule, spielt das jetzt in deiner neuen Schule auch keine Rolle mehr?) Nee, weil da sind viele sozusagen so wie ich. Auch die sozusagen hier geboren sind, aber auch Araber oder Pole sind, also da ist es ganz gemischt, da sind auch Deutsch-Deutsche, ja ist ganz gemischt da.“ (Interview Mustafa)

Mustafa betrachtet seine (mindestens) zweifache Zugehörigkeit als Normalität, fühlte sich bislang seltener veranlasst, sich der Familiengeschichte ausführlicher zu widmen. Er ist in der Lage, zwischen Deutsch und Türkisch, sowie unterschiedlichen Codes im Kontext seines schulischen Umfelds oder in der Familie zu wechseln. Er will sich offenbar nicht im Sinne einer entweder/oder Logik für eine nationale Zugehörigkeit entscheiden und kann diese hybride Selbstverortung auch aufgrund seines heterogenen Umfelds aufrechterhalten. Diese Positionierung findet sich wieder in diversen Berichten der Migrationsforschung zu hybriden Zugehörigkeitskonstruktionen, die sich nicht festlegen und eingrenzen lassen und somit weiterhin dominanten Anforderungen einer monokulturellen Identifikation kollidieren können (Apitzsch 2009, Klein-Zimmer 2013, Mannitz Schwarzkopf.‘ Und so ‚Komm mal her.‘ (in scherzhaftem Ton) und so bezeichnet, und darum hab ich mich dann auch irgendwann in Yappi mal so genannt. (lacht)“ (Interview Nuriye)

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2005/2006, Römhild 2011, Yildiz 2013). „Da sind viele so wie ich“ ist in diesem Sinne eine wirksame biografische Erfahrung, um den offenen Prozess der Identitätsentwicklung im eigenen Rhythmus zu gestalten. Auch Cengiz (13J.) äußert sich ähnlich wie sein Cousin, er fragt nicht intensiv nach der Vergangenheit und thematisiert auch identitäre Fragen nicht weiter, räumt allerdings der Türkei eine besondere Rolle ein. „IP: Also die Türkei ist schon wichtig, da muss man öfters hin. (I: Wie hat’s dir denn gefallen, als du da warst?) IP: Gut, also das war, das war nicht bekannt, aber es war schon so gewohnt. Hier leben wir ja auch so ’n bisschen türkisch. Also n bisschen erkennt man’s wieder, aber so von draußen her, so das war so nicht Deutschland. (I: Ok, und warum findest du das wichtig, auch in die Türkei zu fahren und so?) Weil Türkei meine Mutterstadt ist. [...] Also meine Heimat sozusagen, ich bin ja hier aufgewachsen, aber dort ist ja meine Mutterheimat sozusagen und meine Vaterheimat. (I: Wieviel weißt du denn über die Geschichte von eurer Familie, wie eure Großeltern hierhergekommen sind und wie das damals alles so war.) E::: nicht so viel.[...] Ja, also ich wusste, dass meine Großeltern hier als Gastarbeiter waren, und dann später mein Vater und meine Tanten kamen und dann auch hier aufgewachsen sind. (I: Und redest du manchmal mit deinen Großeltern, wie das war, als die so alt waren wie du, in der Türkei, wie die dort aufgewachsen sind?) Eher seltener. Aber ab und zu vielleicht. [...] Das klingt so n bisschen so geschichtenmäßig, weil das ja nicht jeden Tag vorkommt.“ (Interview Cengiz 16 Jahre)

Cengiz interessiert sich zwar für die Türkei, sieht auch einen Bezug zu seiner Biografie („Hier leben wir ja auch so ’n bisschen türkisch“) und ab und zu hört er die Erzählungen der Großeltern, mit denen er zusammenwohnt und viel Kontakt hat, aber diese Narrationen sind für ihn gleichzeitig weit entfernt vom eigenen Leben, klingen „geschichtenmäßig“, also beinahe surreal. Trotzdem knüpft er ähnlich wie sein Cousin mit dem Begriff „Heimat“ ein Band, mit dem über die Generationen eine Verbindung zu früheren Familienorten bestehen bleibt. Die Lebenswelt der dritten Generation ist geprägt durch Vielfalt, und so wird das eigene Aufwachsen mit den von Familie und Umfeld vermittelten kulturellen Bezugspunkten als selbstverständlich und gleichzeitig eine von vielen verschiedenen Lebensweisen gedacht. Die aus dem türkischen Kontext mitgetragenen Elemente weben sich in den Berliner Alltag, sind hier verortet und werden mehr oder weniger bewusst weitergegeben und verändert. Dazu zählen ganz unterschiedliche sichtbare und unsichtbare Elemente, in meinen Alltagsbeobachtungen sehe ich einige davon in Bezug zu einem als türkisch gedachten kulturellen Repertoire, z.B. was gekocht wird, der schwarze Tee, das Sitzen auf dem Tep-

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pichboden um einen niedrigen Tisch, türkisch sprechen, türkische Zeitung und Fernsehen, die Fastenzeit, Einrichtungsgegenstände, der Gebetsruf des Weckers, das festliche Begehen muslimischer Feiertage, Musik und Tänze aus der Schwarzmeerregion während der Feste. Diese Komponenten sind Teil der alltäglichen Struktur, sie bilden deren Geschmack, die Geräusche und den Duft, lassen sich als Elemente eines urbanen Alltags jedoch genauso wenig eindeutig einer „Nationalkultur“ zuordnen, wie die Individuen selbst. Maral nähert sich im Gespräch einer transformierten Familienkultur folgendermaßen an: „Typisch türkisch sind wir nicht, nein. Wir haben uns verändert. Also wir sind jetzt, wie sagt man? (lachend) Gedeutscht oder getürkt, so ein Mischmasch. Also eigentlich, du hast das ja auch gesehen, wir haben unsere Kultur, wie leben unsere Kultur, aber gleichzeitig sind wir auch deutsch, und wir sind ja in dieser Gesellschaft drin, wir haben uns angepasst. Weil typisch türkisch kann man nicht sagen, oder nee eigentlich haben wir beides.“ (Interview Maral)

Unabhängig davon, was typisch türkisch sein könnte, wird hier die Transformation der Familie angedeutet, eine Verbindung und Vermischung, Neuorientierung und -kombination, die je nach Kontext unterschiedliche Betonungen erhält. Bei den größeren Familienfesten, zu denen ich eingeladen werde, ist ein wichtiges Element, dass Musik aus der Schwarzmeerregion gespielt wird, bei Emres Beschneidungsfeier tanzt zusätzlich ein Bauchtänzer unter großem Beifall der Frauen. „In Begleitung von Trommel und Tulum halten die Kinder und Jugendlichen Einzug in den Saal. Oktay läuft in seinem Prinzenkostüm umringt von Cousins und Cousinen unter der türkischen Flagge herein. Dabei wird laute Musik gespielt. Nachdem sie vor der Bühne angelangt sind, dreht er sich ängstlich um und flüchtet zu seinem Vater. Melek führt den folgenden Tanz in einem Halbkreis an. Dann folgen Nuriye, Meryem, Gülay, Mustafa, Cengiz, Aynur und Özlem. Der Tanz ist ein traditioneller Tanz vom Schwarzen Meer. Die jüngeren schauen sich den Schritt bei den Älteren ab, können aber noch nicht so richtig folgen. Dann kommen Elif, Maral, die Nachbarin und weitere Frauen hinzu. [...] Am Ende des Abends kommt noch eine Bauchtanzaufführung- zu meiner Überraschung ist es ein männlicher Bauchtänzer. Zunächst tanzt er in einem langen Mantel und dreht sich in Anlehnung an einen Derwisch. Später trägt er einen Rock und am Ende eine Haremshose. Seine Vorführung zeugt von großer Körperbeherrschung, aber nicht alle scheinen davon begeistert, einige der Männer schauen ausdruckslos. Die Frauen jubeln und klatschen (Elif und ihre Freundinnen). Maral sagt, sie hätten einen Mann ausgesucht, damit die Männer sich nicht freuen.“ (Auszug Feldtagebuch)

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Gerade zu wichtigen Anlässen wie Familienfeiern erscheint es bedeutsam, unterschiedliche Traditionen einfließen zu lassen, auch wenn diese im Lauf der Zeit verändert und neu erfunden werden. Mit dem Thema Sprache erwähnt Melek einen weiteren Bereich, dessen Weitergabe in der Familie als bedeutsam gilt. „Na, ich also meine Wurzeln sind türkisch, aber ich bin Deutsche, weil ich hier aufgewachsen bin, also deswegen würd’ ich sagen ich bin Deutsch-Türkin, aber möchte auch nicht meine Kultur so vergessen. Ich hab trotzdem was vom Schwarzen Meer und auch von Antalya. Ok ich kenne zum Beispiel die Traditionen, die in Antalya sind nicht so, eher so vom Schwarzen Meer. Pontus-Griechisch gehört dazu, dass ich das lerne, und auch so der ganze Schnick-Schnack. Zum Beispiel reden die auch n anderes Türkisch so mit Dialekt, aber bei uns in der Familie reden wir normales Türkisch ohne Dialekt. Also das bin ich. Von allem etwas, man kann das eigentlich nicht trennen. Ich bin auch Deutsche, weil ich hier groß geworden bin. Ich hab alles hier erlebt, von meiner Kindheit bis zur jetzigen Zeit nur hier. Nur die Erinnerung ist halt da in der Türkei und die Tradition, die wir auch hier weiterführen.“ (Interview Melek)

Die Familiengeschichte mit dem, was als Tradition weitergegeben, neu belebt, verändert und in unterschiedlichen Kontexten reproduziert wird, ist hier eine wichtige Quelle der identitären Verortung.44 In bestimmten Kontexten wird auch spezifisches kulturelles Wissen, die eigene Identifikation als Türkin von Melek als Vorteil aufgefasst, weil es ihr ermöglicht, die Rolle einer Vermittlerin einzunehmen. So z.B. bei ihrem Praktikum während der Ausbildung zur Erzieherin: „Dass ich Türkisch reden konnte, das war auch im Kindergarten gut, weil die Kinder haben dann so ne andere Beziehung. Die wissen, dass ich aus derselben Kultur komme und viele Sachen dann auch n bisschen besser verstehe [...]. Zum Beispiel wie bei dieser einen Sache, dass die Mädchen dann nicht mehr in den Club ((Jugendfreizeiteinrichtung)) kommen durften, weil andere Familienbekannte geredet haben. Und die eine Mitarbeiterin hat das dann irgendwie gar nicht verstanden, warum das so wichtig ist, was andere sagen und warum die Eltern dann e:: also auf die Wünsche der Kinder verzichten, nur damit andere nicht reden. Aber- ok bei uns ist das zwar nicht so, aber ich kenne das ja aus meiner Kultur, also dass es für manche wirklich wichtig ist, was andere sagen und dass es eigentlich gar nicht so schlimm ist. Also das ist dann nur ne Phase und wenn sich alles gelegt hat, werden- Weil die Eltern sind ja nicht so, die Älteren sind viel schlimmer da. Also für die

44 Mit der Familie des Vaters aus der Region Antalya besteht weniger Kontakt, vermutlich der Grund dafür, dass zu jeweiligen regionalen Traditionen weniger Wissen weitergegeben wurde.

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ist das viel wichtiger, was andere reden. Aber je jünger die Generation ist, desto weniger interessieren sie sich auch dafür, was andere reden. Und das ist zum Beispiel ein Vorteil, weil die Eltern die Kinder dann auch mir anvertrauen. Und die Mädchen haben dann auch zum Beispiel gesagt an dem Tag ‚Ja du verstehst, was ich meine, ne. Aber alle verstehen das nicht, sag das mal bitte nicht den anderen Mitarbeitern.‘ Das ist auch ein Vorteil, wenn die Kinder dann gesehen haben ‚Ah sie ist Türkin, Hurraa.‘ (Lacht) Freuen sich dann immer voll.“ (Interview Melek)

Die Episode umreißt, wie Melek, da sie als Türkin wahrgenommen wird, die Rolle der verstehenden Vermittlerin zwischen den Kulturen annimmt. Sie selbst hat in ihrer Familie zwar nicht die Erfahrung gemacht, dass aufgrund gewisser Verhaltensnormen je nach Geschlecht Einschränkungen gemacht werden, aber sie begründet ihr Verständnis und die Fähigkeit das Handeln der Eltern einzuschätzen mit „ihrer Kultur“ und grenzt sich gleichzeitig von der distanzierteren Haltung der anderen Sozialpädagoginnen ab.45 Diese Einordnung kann als Reproduktion einer essenzialisierenden Vorstellung von „Kultur als Container“ und dem damit verbundenen „Wissen, welches sich [...] qua Geburt einstellt“ (Castro Varela/Dhawan 2007: 40) interpretiert werden. Das Wissen um die hier verhandelten Normen bezieht sie zunächst aus ihrem lebensweltlichen Kontext, dem Milieu in Schule und Stadtviertel. Dass sie in ihrer sozialpädagogischen Arbeit von Eltern und Kindern als deren Verbündete angesehen wird, ordnet sie als Vorteil ein, der ihre Möglichkeiten erweitert. An anderen Stellen wird die Übernahme einer kulturspezifisch zugeordneten Rolle weniger positiv, ermöglichend bewertet, sondern eher im Gegenteil als Belastung. Gerade der Schulkontext ist immer wieder Schauplatz von Aushandlungen über Zugehörigkeit. Der folgende Abschnitt aus dem Feldtagebuch beschreibt eine Gesprächssituation mit Nuriye am Küchentisch, die über ihre Erfahrungen in einer neuen Schulklasse berichtet. „Die Mitschüler hätten sie zu Beginn ausgefragt, ‚Ob ich verheiratet werde und ob ich Kopftuch tragen muss.‘ Sie lacht und meint, ‚Nein ich bin genauso frei wie die Deutschen. Einige Mitschüler haben ausländerfeindliche Ansichten und sagen zu ihr ‚Du bist anders.‘ Gleichzeitig fragen sie Nuriye, warum die türkischen Jungs so aggressiv seien und vermitteln ihr ein sehr negatives Bild, das sie von Ausländern haben. Nuriye findet ihre repräsentative Rolle teilweise schwierig. ‚Man hat schon Angst etwas falsch zu machen oder falsch zu erklären.‘ Die Mitschüler wollen von ihr Informationen über den Islam und die Musli45 Meleks Beobachtungen entsprechen der bereits 1997 von White beschriebenen Situation, in der sich die Erwartungen türkischer Familien und die der deutschen Sozialarbeit insbesondere bezüglich weiblicher Autonomie widersprächen (vgl. White 1997: 759f.).

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me und sie versucht, sie so gut es geht zu vermitteln. Ein Schüler hat erzählt ‚Ich wurde von Moslems abgezogen.‘ Sie lacht und meint, ‚woher wusstest du denn dass das Moslems waren?‘ und stellt in Frage, ob ein richtiger Moslem das überhaupt tun würde, gleichzeitig unterbricht sie sich und meint, ja aber was sei schon ein richtiger Moslem. Sie und Elif sprechen beide über die Schwierigkeiten, als Repräsentanten einer Gruppe zu gelten und Auskünfte über die Religion geben bzw. gegen Vorurteile ankämpfen zu müssen.“ (Feldtagebuch 25.05.2011)

Nuriye wird in dieser Situation mit gesellschaftlich verbreiteten Stereotypen über Türken und Muslime konfrontiert, eine typische Konstellation, die Battaglia als „alltagssprachliche Belangung der prekär ‚Anderen‘ als RepräsentantInnen ihrer ‚Herkunft‘“ zusammenfasst (Battaglia 2006: 185f.). Die Mitschüler schließen auf ein restriktives Elternhaus und erwarten von Nuriye gewissermaßen ein erklärendes Statement zum Verhalten „ihrer Gruppe“. Der muslimische, junge Mann als migrantische Problemfigur ist eine weit verbreitete Konstruktion im Diskurs zu anderen Deutschen (vgl. Scheibelhofer 2011: 192), die hier aufgegriffen wird. Wieder begegnen wir der Programmatik des Verstehens und der inhärenten Machtasymmetrie dieser Konstellation, die Fremden und ihre Kultur müssen verstanden werden und darin manifestiert sich ihr grundlegendes Anderssein (Scherr 1999: 63). Darüber hinaus ist in diesem und ähnlichen Kontexten das Problem die Fremddefinition, das „du bist anders“ beruht auf der ausgrenzenden Zuordnung, eine Grenzziehung aufgrund der „natio-ethno-kulturellen Zugehörigkeit“ (vgl. ebd.: ). Deutsch zu sein, rückt in Folge dieser Belangung außer Reichweite. Nuriye wird nicht nur als „Andere“ konstruiert und damit die Selbstpositionierung als zugehörig verwehrt, sie wird als Vertreterin einer natioethno-kulturellen Gruppe für „ihre Mitglieder haftbar gemacht“ ein Vorgang, der nicht gegenüber einem fraglos Deutschen denkbar wäre (Battaglia 2011: 186).46 Die Übernahme der Repräsentantenrolle erscheint unmöglich zu erfüllen und wird doch übernommen, um sich den Vorurteilen zu widersetzen. Gleichzeitig bleiben Zweifel, ob der korrekten Ausführung als Expertin und Repräsentantin, die eigene Rolle erscheint höchst fragwürdig.47 Zum Zeitpunkt des obigen Er46 Ein Beispiel wäre die in Deutschland an einen fraglos Deutschen gerichteten Frage: „Ein Christ hat mich bestohlen, was sagst du dazu?“ 47 Die Angst, falsch zu repräsentieren, ist ein Aspekt der problematischen Position, die bei Castro-Varela und Dhawan weiter ausgeführt wird. „Denn das Sprechen der Migrantin über ihre Kultur stabilisiert nicht nur die Idee statischer Kulturen als Container, sondern erzeugt auch eine Vorstellung von Wissen, welches sich quasi – so die Vorstellung – qua Geburt einstellt. Solcherlei Wissen, welches von den Mitgliedern der Dominanzkultur immer wieder gerne abgerufen wird, erweist sich als risikoreich,

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lebnisses ist Nuriye schon eine junge Erwachsene, im Nachhinein rekapituliert sie im Gespräch mit ihrer Tante die Situation und tauscht sich mit ihr aus, so kann Familie in der gemeinsamen Auseinandersetzung der Erfahrung einen Bildungsraum eröffnen. Anhand des folgenden biografischen Narratives möchte ich an einem weiteren Beispiel verdeutlichen, welche Rolle Zugehörigkeit(en) im Schulkontext spielt und wie prägend damit verknüpfte Zuschreibungen erlebt werden. Die Familie fungiert auch hier als Unterstützung. Melek berichtet innerhalb ihrer biografischen Einstiegserzählung über die Zeit nach ihrem Schulwechsel und die folgenden Jahre. „[...], da war ich dann sozusagen in der Klasse die einzige Türkin und sonst nur Deutsche. Und em::: das war dann ein bisschen schwer für mich, in die Klasse reinzukommen, [...]. Ich hatte kaum Freunde, die haben über meinen Namen gelacht, und wenn sie sich mal für mich interessiert haben und nach den Namen von meinen Schwestern und über meine Familie gefragt haben, haben die angefangen zu lachen, was für komische Namen wir haben. Ich kam nie rein, ich war so bisschen die Außenseiterin [...]. In der Klasse war ich auch voll still und immer ganz schüchtern. Ich hab kaum geredet, auch im Unterricht nicht. Mein Klassenlehrer hat dazu nie was gemacht. [...] ich hatte mir dann vorgenommen, in der 7. Klasse ganz anders zu sein. Ich wollte selbstbewusster sein. Das hatte ich mir von Anfang an- in den Sommerferien hatte ich das geplant, also in den Kopf gesetzt, [...] Meine Tante und meine Mutter haben auch vorher immer gesagt ‚Trau dich, geh und rede. Dann kriegst du schon Freunde, und mach dir keinen Kopf.‘ Und dann hat mich das gestärkt, dass die mir vorher Mut gemacht haben. [...] Also in der Oberschule war’s dann ne gemischt Klasse, also halb-halb, mit Migrationshintergrund, n bisschen auch Deutsche und da war’s dann ganz anders meine Stellung. [...] aber da war’s schon n bisschen schwierig für mich, mit Deutschen klarzukommen. Ich hatte schon kleine Schwierigkeiten. Ich weiß nicht, es lag vielleicht daran, dass ich diese Erfahrungen gemacht hab in der Grundschule. [...] Ich hatte auch Freunde von Bozkurt, die Grauen Wölfe, wir waren dann sowieso nur immer unter uns Türken und wollten keine Kurden, keine Deutschen (lachend). Obwohl ich keine Ahnung hatte, was das genau ist. Später, wo ich dann erwachsen geworden bin, hab ich mir dann Gedanken darüber gemacht und geguckt, was das eigentlich ist, und hab das alles dann auch zur Seite gelegt, diese Einstellung. Also meine Eltern waren dann auch immer so ‚Nein, mach das nicht. Das ist nichts Gutes, das sind türkische Nazis.‘ Und so. [...] Da war ich genau das Gegenteil, ich war dann nicht mehr die Ruhige, die ich in der Grundschule war, sondern eher die, die sogar noch mehr provoziert hat. Aber danach ging die Phase auch zum Glück weg (lachend ausatmen). Ja, also ich denk jetzt gar nicht

weil es hegemoniale Strukturen nicht problematisiert, sondern vielmehr stabilisiert.“ (Castro-Varela/Dhawan 2007: 40)

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mehr so, das kam eigentlich eher vom Freundeskreis her, dass man so ne Einstellung hatte.“ (Interview Melek)

Melek erlebt die Grundschulzeit als Außenseiterphase, die Ausgrenzung erfährt sie auch im Zusammenhang mit der natio-ethno-kulturellen Zugehörigkeit.48 In ihrer biografischen Verarbeitung greift sie auf unterschiedliche Ressourcen zurück. Die familiäre Unterstützung stärkt sie in ihrer Individualität, hier wird sie aufgefordert, die Zuschreibungen nicht anzunehmen, sondern weiterhin soziale Beziehungen anzustreben. Melek beobachtet bei sich selbst rückblickend wachsende Sicherheit, aber auch das Zurückbleiben einer distanzierteren Haltung zu „den Deutschen“. In der Oberschule identifiziert sie sich zunehmend mit der ihr zugeschriebenen nationalen Zugehörigkeit, was gewissermaßen in ihrer spielerisch, provokanten Liaison mit den grauen Wölfen gipfelt. Als graue Wölfe oder Ülkücüs bezeichnen sich die Mitglieder einer als rechtsextrem eingestuften ultranationalistischen Gruppierung in der Türkei, die aber auch in Deutschland Anhänger hat.49 Unter den Berliner Jugendlichen kann die Identifikation mit dieser Gruppierung einerseits die Funktion der Selbstethnisierung haben und andererseits auch gut als adoleszenztypische Provokation des Umfelds (Lehrer, Eltern) herhalten.50 Selbstethnisierung, bzw. die Betonung nationaler Identität kann in Meleks Fall auch als Reaktion auf die vorher verwehrte Zugehörigkeit gelesen werden, ein Prozess der gerade in Zusammenhang mit der dritten Generation mehrfach beschrieben wurde (u.a. Bozkurt 2009: 156ff. Schiffauer 2002: 47ff. Schramkowski 2009: 158ff.). Die Familie übt Kritik an dieser Orientierung und wirkt so aktiv auf den Umgang mit Ausgrenzungserfahrungen ein. Das elterliche Engagement wird wie bereits angedeutet besonders im schulischen Alltag wiederholt notwendig. So erwirkt Maral die Versetzung einer dis-

48 Melek wird in der Schule auf verschiedenen Ebenen als anders konstruiert. Neben der Fremdethnisierung ihres Namens und Aussehens wird auch ihr Habitus als zu maskulin problematisiert, weil sie „wie ein Junge gekleidet ist“ und Fußball spielt. 49 Mit der Thematik der Grauen Wölfe in Deutschland beschäftigen sich z.B. Kemal Bozay in seiner Arbeit „..,ich bin stolz, Türke zu sein!: Ethnisierung gesellschaftlicher Konflikte im Zeichen der Globalisierung“ (2005) und Emre Aslan in „Der Mythos der Nation im Transnationalen Raum. Türkische Graue Wölfe in Deutschland“ (2009) 50 Die Ursachen für türkischen Rechtsextremismus unter Jugendlichen werden in einer Studie von Heitmeyer et al. als vielfältig beschrieben, darunter fallen z.B. „Fremdenfeindliche Gewalt, [...] Reaktion auf die Verweigerung der Anerkennung einer kollektiven Identität, Ethnisch-kulturelle Identifikation, Problematische Familiensituation.“ (Arslan 2009: 14).

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kriminierenden Lehrerin, aber nicht immer kann eine Veränderung der Situation herbeigeführt werden. „IP: Und das war’s, dann haben die Eltern alle unterschrieben, da ist sie weg. Gleich. Aus der Schule. (Lacht). Wegen Gülay. Aber das hat sie ja nicht nur mit Gülay gemacht, das hat sie ja auch mit ein paar- besonders mit ausländischen Kindern hat sie’s gemacht. I: Wie war das für dich sowas zu erleben? IP: Es ist natürlich nicht schön. Enttäuschung, enttäuscht fühlt man sich - (0.3) es verletzt einen, es tut natürlich weh. (0.3) Man will sich integrieren, und dann erlebst du sowas. I: Und wie konntest du deinen Kindern dann helfen? IP: Also ich hab meine Kinder nicht mit Hass erzogen. Trotz dieser Sachen hab ich mit meinen Kinder gesprochen, dass es in jeder Gesellschaft solche Menschen gibt, dass sie trotzdem weiter auskommen müssen. [...] Natürlich gab’s auch Situationen, in denen sie keine Lust gehabt haben, aber am Ende haben sie es doch geschafft. Also bei Melek gab’s zum Beispiel Situationen, dass sie immer geweint hat, sie hatte gar keine Lust zur Schule zu gehen. [...] Sie wurde auch von den deutschen Kindern gehetzt, weil sie das einzige türkische Kind war [...] – dann kam sie nach Hause, hat geweint, keine Lust, sie wollte nicht zur Schule gehen und so. I: Und dann hast du sie trotzdemIP: -trotzdem wieder dahingeschickt, mit ihr gesprochen. I: Wie war das dann für dich, wenn du wusstest, dass sie dort so unglücklich ist? IP: Na für mich war das auch nicht schön, natürlich. Ich hab auch darunter gelitten. Es ist ja dein eigenes Kind. Aber ich wollte auch, dass sie halt nicht aufhört und trotz Schwierigkeiten weitermacht. Das hab ich ihr auch erklärt.“ (Interview Maral)

Auch in dritter Generation wirkt sich die Migrationsgeschichte auf die Bildungsbiografie insofern aus, als ein Umgang mit Ausgrenzungsmechanismen gefunden werden muss. Der Integrationswille, die Bildungsbereitschaft und auch bereits erreichte Bildungsziele verändern nicht oder nur teilweise den gesellschaftlichen Status als nicht ganz zugehörige „Neuankömmlinge“.51 Anderes Aussehen, andere Namen, was auch immer die äußerlichen Marker sind, von denen auf ein Anderssein, eine Nicht-Zugehörigkeit geschlossen wird, die impliziten und expliziten Grenzziehungen werden in vielfältiger Form erlebt. Fatih beschreibt seine Reaktion auf bestimmte Zuschreibungen und Widerstände eher im Rahmen einer aktiven Erfüllung insbesondere der Bildungsanforderungen. 51 Fatima El-Tayeb beschreibt diese Form der rassistischen Ausgrenzung folgendermaßen: „Europeans possessing the (visual) markers of Otherness thus are eternal newcomers, forever suspended in time, forever ‚just arriving‘ defined by a static foreignness overriding both individual experience and historical facts.“ (El-Tayeb 2011: xxii)

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„Bo:: die Widerstände waren der Kampf gegenüber den Mitkommilitonen oder Mitschülern. Also wir mussten doppelt so viel kämpfen wie sie, zumindest hatte ich den Eindruck, dass wir es schwerer hatten. Weil egal wie, das Aussehen war da, man war von Vorherein schon abgegrenzt und deswegen musste man sich auch beweisen, deswegen musste man auch doppelt so viel kämpfen. Musste sich alles hart erarbeiten, das war so, ist nach wie vor so, also das ist ja nicht so, auch wenn man Erfolg hat im Beruf, dass man da irgendwie so einfach durchreitet, man muss dafür kämpfen.“ (Interview Fatih)

Fatih sieht sich in seiner prekären Zugehörigkeit (Battaglia 2013) aufgefordert, die doppelte Leistung zu erbringen, um seine Anwesenheit in Schule und Universität zu legitimieren und hier erfolgreich sein zu können. Interessanterweise wählt auch er in diesem Kontext den Begriff des „Kampfes“, der beispielsweise in Bezug auf Marals Einsatz für die Bildungsverläufe ihrer Kinder und Fezas bürokratische Bemühungen für die Rückkehr ihres Mannes nach Deutschland aufgetaucht ist.52 Kampf könnte hier als Reaktion auf die Zugehörigkeitsordnung, die definiert wer ein- oder ausgeschlossen wird, interpretiert werden als Kampf um Anerkennung. Zu kämpfen setzt einen Widerstand voraus, in Fatihs Fall die von ihm wahrgenommenen Vorurteile, die auch nach dem Studium innerhalb seines beruflichen Alltags nicht aufgehoben sind. Anerkennung wird bei Taylor (2009) als menschliches Grundbedürfnis definiert und damit „[…] zeugt NichtAnerkennung oder Verkennung des anderen nicht bloß von einem Mangel an gebührendem Respekt. Sie kann auch schmerzhafte Wunden hinterlassen […].“ (Taylor 2009:14). Während Fatih in Ausbildung und Beruf die ihm zugestandene Autonomie aktiv nutzen kann und Grenzziehungen in seiner Biografie zu transformieren sucht, indem er die systemischen Anforderungen erfüllt, ist diese Umgangsweise in anderen Situationen verstellt. Maral erlebt im Alltag mit ihren Kindern wiederholt Diskriminierung, wird als nicht-zugehörig markiert und abgewertet, ein Angriff auf ihre Existenz innerhalb der Gesellschaft. „Ich habe ein Jahr lang das Kopftuch getragen, ich wollte gucken, wie das ist, ob ich das machen kann. Und da hab ich das noch extremer erlebt, weißt du? [...] Ich hatte schon meine Kinder, und da hab ich zum Beispiel beim Einkaufen [...] immer diese flüsternden Sachen gehört ‚Scheiß Ausländer‘, ‚Scheiß Muslime‘, oder extremere Sachen. Und ich hab das auch ein paar Mal mit den Kindern erlebt, mit oder ohne Kopftuch, als ich Melek und Nuriye hatte, ‚Guck dir mal diese Scheiß Ausländer an, mit so vielen Kindern.‘ Das hab ich ein paar Mal auch gehört, aber das hat mich nicht so getroffen. Natürlich man

52

Auch Ferda benennt Kampfgeist und Geduld als ihre Form des Umgangs mit Schwierigkeiten.

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fühlt sich erniedrigt und diskriminiert, aber ich habe immer gehofft, dass es in dieser Gesellschaft auch andere Menschen gibt, ich wusste das auch. Das hat mich dann getröstet. Natürlich man fühlt sich ne Weile so-, vielleicht kennst du dieses Gefühl, aber nach einer Weile geht das vorbei. Es gibt überall diese Menschen, und deshalb kann ich jetzt nicht sagen ‚Ich mag die Deutschen nicht‘ oder ‚Ich mag diese Gesellschaft nicht‘, nee das ist dann falsch.“ (Interview Maral)

Meine Gesprächspartnerin sucht deutend einen Umgang mit einer von Judith Butler als „hate speech“ bezeichneten diskriminierenden Sprache, einer Sprache, die verletzt, auch indem sie Herrschaftspositionen reartikuliert (vgl. Butler 2006). Maral negiert nicht die Verletzung, widersetzt sich aber, die binäre Zugehörigkeitslogik des Angriffs zu übernehmen. Indem sie den Akt der Diskriminierung als universales Phänomen einordnet und so auch die Austauschbarkeit der Kategorien hervorhebt, kann sie der Definition als „Ausländerin“ in ihrer Deutung der Vorfälle etwas entgegensetzen. Mit ihrer Differenzierung ist es möglich, die gesellschaftliche Identifikation zu bewahren, anstatt sich zurückzuziehen. Diese Umgangsweise des sich Absetzens und Differenzierens wird auch an die dritte Generation weitergegeben. Eine etwas andere Konstellation stellt sich dar, wenn Diskriminierung von institutioneller Seite stattfindet und nicht ignoriert werden kann, ohne Nachteile in Kauf zu nehmen. Ich habe den Kontext der folgenden Szene schon im Zusammenhang mit Umfeld und Kontrolle angedeutet, möchte aber an dieser Stelle darauf zurückkommen, weil ich auch diese Situation für ein familiäres Schlüsselerlebnis halte. Maral ist auf Anraten der Lehrerin entschlossen, Melek in einer anderen Schule anzumelden, auch weil sie glaubt, dass eine Klasse mit mehr muttersprachlich deutsch sprechenden Kindern für ihre Tochter von Vorteil wäre. Sie spricht mit einem Mitarbeiter im Schulamt und ist schockiert von dessen Abweisung. „Du denkst, du gehst in ein Amt, da passiert nichts. Da sind ja nur die Leute, die einfach- (I: die eigentlich helfen sollen-) Ja da denkt man nicht, dass man diskriminiert wird.“ Ihr Anliegen wird nicht ernst genommen und ihr zudem jede Legitimität ihres Anspruchs abgesprochen. „Ja, eine andere Schule- Und da meinte er warum, wieso gefällt’s ihr nicht? Er meinte diese Schule wär ja genau das Richtige für mein Kind. Und als ich gesagt habe ‚Nein, das ist ja nicht genau das Richtige.‘ Hat er daraufhin gesagt: ‚Na dann, wenn es Ihnen nicht passt, dann (lacht) kannst Du zurückgehen.‘ Ich hab erst gar nicht verstanden, ich hab gesagt ‚Wie bitte?‘ ‚Ja, ja sie haben richtig verstanden. Sie können zurückgehen, ihre Heimat ist doch die Türkei.‘ So. Ich hab nichts gesagt, (lachend) ich war schockiert. Ich hab geweint und dann bin ich einfach gegangen.“ (Interview Maral)

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Die Szene im Schulamt verdeutlicht wiederholt die Zumutung, unter Bedingungen struktureller Ungleichheit Integrationsforderungen gerecht zu werden. Die prekäre Zugehörigkeit steht der aktiven, biografischen Gestaltung einer Transformation durch Bildung im Weg. Der Beamte gesteht der Mutter nicht zu, über die passende Schule mitzubestimmen, Kritik zu äußern, stattdessen wird sie von ihm nach außerhalb, zurückverwiesen. Sie wird als „Person, die eigentlich woanders hingehört“ und somit als problematisch eingeordnet, eine Praxis die nicht nur als individuelle Handlung des einzelnen Beamten, sondern als Ausrichtung der Verwaltungs- und Bildungsorgane allgemein verstanden werden kann (vgl. Krondorfer 2011: 27).53 Die Situation lässt sich etwas allgemeiner formuliert als Demütigung begreifen, denn Maral fühlt sich der Institution ausgeliefert, als könne sie nicht länger für ihre Interessen (und die der Kinder) sorgen (vgl. Margalit 1997: 150). Auch hier führt das „kämpfen“ Maral letztendlich zur Durchsetzung ihres Anliegens, wobei sie gleichzeitig auch Raum für Verletzung und Schmerz lässt. „Kämpfen“, sich zu widersetzen steht als Handlungsmodus allerdings nicht immer zur Verfügung. Recht unerwartet kommt Maral in einem eher allgemeinen Gespräch mit einer befreundeten Palästinenserin über gesellschaftliche Ungleichheit auf einen Haltepunkt in ihrer Biografie zu sprechen, an dem sie nicht weiter kämpfen wollte. „In einer Heftigkeit, die ich von ihr nicht gewohnt bin, erzählt sie, nach einer Weile der wiederholten Versuche habe sie gedacht ‚Sch… auf diese Integration, ich will mich nicht mehr integrieren.‘ Ich hatte genug. Mir wurden alle Türen vor der Nase zugeknallt.“ (Feldtagebuch 14.07.2011)

Was genau der Auslöser für die Rückweisung des Integrationsapells ist, wird innerhalb des Gesprächs nicht eindeutig benannt. Anhand der beschriebenen Episoden wird jedoch deutlich, dass es eine Vielzahl unterschiedlicher Ausgrenzungsformen sind, die im Alltag wirken, sich summieren und deren biografische Verarbeitung auf vielfältige Weise verläuft. Im Moment des Erzählens scheinen die von Taylor beschriebenen „schmerzhaften Wunden“ aufzuflackern, die mit der Nicht-Anerkennung der eigenen Identität entstanden sind. Wut drückt Maral mit ihren Worten aus, denn auch wenn es ihr häufig gelingt, die diversen Exklusionserfahrungen einordnend zu relativieren, ist der Allgegenwart des Integra-

53 Siehe dazu auch Gomolla und Radtke (2002) „Institutionelle Diskriminierung“. Hier wird herausgearbeitet, dass die Diskriminierung „als formale Rechte, etablierte Strukturen, eingeschliffene Gewohnheiten, etablierte Wertvorstellungen und bewährte Handlungsmaximen“ institutionalisiert sind (Gomolla/Radtke 2002: 14).

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tionsdiskurses nicht zu entkommen. Dieser Diskurs wirkt durch die Hervorhebung von „Negativnarrativen“ (Mecheril 2011) und stellt die Integrationsfähigkeit türkischer Migranten oder allgemeiner Muslimen wiederholt in Frage. Marals Wut ist die Reaktion auf ein „Integrationsdispositiv“ (ebd.) mit dem Forderungen verbunden sind, aber keine entsprechenden Bedingungen, welches zudem die Verantwortung für die gesellschaftliche Eingliederung als individuelle Leistung konzipiert. Auch wenn es in Reaktion auf diese Grenzziehungen in den Biografien Phasen des Rückzugs gibt, bleibt der familiäre Alltag geprägt von den diversen sozialen Beziehungen zum Umfeld und vielfältigen lokalen Vernetzungen. Neben den negativen Erfahrungen entwickeln sich hier diverse Kontakte, die von gegenseitiger Anerkennung geprägt sind. Im Folgenden soll es um einige dieser Orte gehen, die Begegnungen, Vernetzung und auch Bildungs- und Transformationserfahrungen ermöglichen.

6.4 BEGEGNUNGSORTE IM LOKALEN NETZWERK Als eine wichtige Ressource für die facettenreichen Bildungsformationen in der familiären Gegenwart erlebe ich die gewachsenen, sich verlagernden und neu entstehenden lokalen Vernetzungen. Dieser Befund entspricht einem Verständnis von Familie als sozialem Netzwerk, das eingebettet, sich erweiternd und ergänzend mit der Lebenswelt verwoben ist (vgl. Keppler-Seel/Knoblauch 1998: 72). Ich möchte deshalb näher auf verschiedene Orte der sozialen Begegnung eingehen, die für die Familie oder einzelne Familienmitglieder von Bedeutung sind. An dieser Stelle können wir die Verknüpfung von Biografie und gesellschaftlichem Umfeld greifen, die Bezüge zum Kollektiven und die Bedeutung des Dialogs und der Anerkennung in unterschiedlichen Kontexten. Insbesondere für die Bildungsprozesse ist es sinnvoll nachzuvollziehen, inwiefern kollektive Bezüge (bestimmte Gruppen, Vereine oder Assoziationen) als Alternative zu den zentralen Institutionen Familie und Schule deren Verlauf mit formen. Der Fokus liegt auf den individuellen Zugängen und Verbindungen der Familie zu diesen Zusammenschlüssen, deren biografischer Einwebung. Die einzelnen Organisationen können dabei nur überblicksartig dargestellt, nicht aber in ihrer jeweiligen Struktur umfassend analysiert werden. Während der zuerst beschriebene Kulturverein eindeutig in die Kategorie einer „Migrantenorganisation“ fällt („Organisationen [...], die in einem ganz erheblichen Ausmaß (mindestens etwa zur Hälfte) aus Migranten zusammengesetzt sind und die sich mit migrationsrelevanten Themen und Aufgaben beschäftigen“ (Pries/Sezgin 2010: 3), sind die weiteren Orte dem nicht ohne weiteres zuzuordnen. Jede der Initiativen ist allerdings auf

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Bildung und entsprechend der Nachbarschaft eine (post-)migrantische Zielgruppe ausgerichtet. Forschungen speziell zu Migrantenorganisationen haben lange eine eher marginale Rolle gespielt, aber seit Ende der 1990er Jahre an Bedeutung gewonnen (vgl. Schimany/Schock 2010: 356), wobei nach wie vor großer Forschungsbedarf konstatiert wird (Pries 2010: 49ff.). Dieser Bedarf richtet sich auch auf eine Diversifizierung des Forschungsinteresses, denn häufig werden Migrantenorganisationen zuallererst dahingehend untersucht, ob sie Integration verhindern oder befördern (Schoeneberg 1985, Pries/Sezgin 2010). Zunächst ist mit den folgenden Ausführungen die Grundannahme bisheriger Forschungen, nach der Migrantenorganisationen „eine große Bedeutung für die gesellschaftliche Teilhabe von Menschen mit Migrationshintergrund“ haben (Pries/Sezgin 2010: 7) zu bestätigen, wobei es hier zu präzisieren gilt, von welchen Bedeutungsebenen wir sprechen und wie sich diese auf die gesellschaftliche Teilhabe auswirken. Wie die unterschiedlichen Begegnungsorte in den Alltag integriert werden und so zu einem familiären Bezugspunkt avancieren, möchte ich zuerst am Beispiel des Kulturvereins und dann anhand mehrerer lokaler Initiativen beschreiben, an denen sich insbesondere Frauen und Kinder der Imrens beteiligen. 6.4.1 Kulturverein – Religion und Bildung Schon relativ zu Beginn meiner Feldforschung macht mich Fatih auf die Existenz eines Vereins aufmerksam, der für die Familie eine Rolle spielt, aber erst nachdem dieser Ort im Gespräch immer wieder aufgetaucht ist, mache ich mir selbst ein Bild. Die Räume liegen im Stadtteil der Imrens und werden sowohl von den Kindern und jungen Erwachsenen, als auch von Fatih, der aktives Mitglied ist, regelmäßig besucht. Für Passanten wirkt der Verein beinahe unscheinbar, im Erdgeschoss eines Wohnhauses gelegen, mit zwei zur Straße gehenden Räumen und großen Fenstern, lässt sich nicht gleich ausmachen, um was es sich handelt. Tatsächlich befinden sich unter diesem Dach vier verschiedene Vereine – ein Theologenverein, der türkische Bildungsverein, die Elterngemeinschaft und eine türkische Bibliothek. Es gibt entsprechend der verschiedenen Ausrichtungen unterschiedliche Zugänge und Interessen, die den Einzelnen herführen. Meine Aufmerksamkeit schärft sich, als ich hier eine enge Verknüpfung von Bildung und Religion feststelle, die auch in den Gesprächen mit der Familie zum Ausdruck kommt. Rüzgar Karataş, der Gründer des Zentrums und Hauptinitiator

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der Aktivitäten ist, wird mir von der Familie als hoca vorgestellt.54 Es handelt sich nicht um eine klassische Moscheegemeinde, vielmehr nimmt der Verein eine recht unabhängige Position im Kontext verschiedener religiöser Ausrichtungen ein, so entnehme ich es auch der Präsentation im Rahmen einer bezirklichen Veranstaltung zum Thema „Islam in Neukölln“. „Wir kooperieren mit keinem der Moscheevereine. Unsere Arbeitsfelder und vor allem unser Religionsverständnis, das koranbasiert ist, macht eine Zusammenarbeit mit einem Moscheeverein nicht möglich. Die Menschen in den Moscheen sind jedoch zwangsläufig unsere Zielgruppe bei unseren Anstrengungen. Aus dem Grund machen wir keine Unterschiede zwischen den Moscheen, wir besuchen jede Moschee.“ (Ausschnitt MOCCA „Islâm in Neukölln“ Ausgabe 7/2009, 05. Januar 2010)

Ein zentraler religiöser Vergemeinschaftungsort der Familie ist demnach keine klassische Gemeinde oder Moschee, sondern scheint ein Verbund von Initiativen zu sein, mit dem auch religiöse Themen vorangetrieben werden sollen. Begonnen hat die Initiative mit der Gründung eines Elternvereins zur Unterstützung des Umfelds durch Bildung. Seit den 1980er Jahren (in Folge der verstärkten Familienzusammenführungen) haben sich deutschlandweit zahlreiche migrantische Elternvereine gegründet, um die Bildungssituation ihrer Kinder aktiv zu verbessern (vgl. Sezgin 2010: 214).55 Die Entstehung dieser Selbsthilfeorganisationen war auch im Sinne der 1981 von der Bundesregierung eingesetzten Ausländerbeauftragten und wurde somit unterstützt (vgl. Kastoryano 2004: 1241). Die verstärkte Ausrichtung von Migrantenorganisationen auf Bildungsthemen, begreift Boos-Nünning als Reaktion „auf das offensichtliche Unvermögen der deutschen Bildungseinrichtungen, die Situation der Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund zu verbessern.“ (Boos-Nünning 2011: 62). Die in der Vereinssatzung gefassten Ziele gehen allerdings über die schulische Unterstützung deutlich hinaus. „Ausschließlicher Zweck des Vereins ist es, den Integrations-Prozess sowohl mit der deutschen Bevölkerung als auch mit den anderen hier lebenden Nationen zu fördern, voranzutreiben und in friedlicher Nachbarschaft miteinander auszukommen. In diesem Zusammenhang sollen jegliche Probleme der Arbeitsimmigranten und ihrer Familienangehörigen im Hinblick auf die hiesige Gesellschaft und auf die Herkunftsländer angenommen und 54 Der türkische Begriff hoca bedeutet sowohl Lehrer als auch Geistlicher (PONS Standardwörterbuch Türkisch 1998). 55 Zur Föderation Türkischer Elternvereine in Deutschland FÖTED e.V., die sich 1995 gegründet hat, zählen beispielsweise 80 Mitgliedsvereine.

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dafür Lösungsvorschläge erarbeitet werden. Schwerpunkt der Arbeit des Vereins bilden folgende Punkte: 1. Förderung der Jugendarbeit im Kiez a.) Schularbeitszirkel und Kurse für Jugendliche und Frauen in Zusammenarbeit mit den örtlichen Bildungseinrichtungen (z. B. Sprach und Computerkurse) b.) Angebote (Vorträge, Seminare und Kurse) vor allem für Jugendliche im Bereich der parteiunabhängigen, politischen Bildung, um die politische Urteilsfähigkeit der Jugendlichen zu schärfen, die Bereitschaft zur Toleranz, die Einstellung gegenüber den Grundwerten der freiheitlichen Demokratie zu fördern und das Wesen demokratischer Spielregeln einzuüben. 2. Organisation und Durchführung von Zusammenkünften für Kinder und Jugendliche und ältere Menschen aus unterschiedlichen Kulturkreisen, um das Verständnis der Generationen zu fördern. 3. Sammlung und zur Verfügungsstellung von Arbeitsmaterialien zu Bereichen Erziehung, Bildung und Kultur.“ (Auszug aus der Vereinssatzung)

Die Satzung gibt damit eine Zielsetzung vor, nach der auf solidarischem Weg gesellschaftliche Problemstellungen bearbeitet werden sollen.56 Diese differenzierte Ausrichtung wird auch im Gespräch mit einem der ehrenamtlich aktiven Vereinsmitglieder Herrn Ozan deutlich, der beschreibt, wer regelmäßig hierher kommt und welche Angebote es gibt. Die grundlegende Funktion der schulischen Unterstützung ist nach wie vor wichtig. Es gibt viele Kinder und Jugendliche, die zur Nachhilfe kommen oder an Musikkursen (Saz, Ney), MSAVorbereitungskursen teilnehmen. Herr Ozan führt weiter aus: „Zeitweilig, also je nach Interesse, machen wir viele Sachen. Ich persönlich suche zum Beispiel brennend nach Kindern, Jugendlichen, die Technik lernen wollen, weil ich da begabt bin. Außerdem gibt’s hier Koranunterricht, Türkisch-, Deutsch-, Arabischkurse, je nachdem. Und bei Bedarf immer wenn sich fünf, sechs Leute melden ‚Wir wollen einen solchen Kursus haben.‘ Dann suchen wir nach einer kompetenten Person, die das machen könnte und machen das auch. Weil das ist ja ein türkischer Bildungsverein, also türkisch ist nicht so wichtig, aber eben Bildungsverein.“ (Interview Herr Ozan)

56 Damit entspricht der Verein in seiner Ausrichtung dem Selbstverständnis vieler Migrantenorganisationen, die Schimany und Schock zufolge auf „Empowerment“ ausgerichtet seien und darüber hinaus „eine potenzielle organisatorische Basis der kollektiven Interessenbekundung, Problemartikulation, Willensbildung und gezielten Einflussnahme“ darstellen (Schimany/Schock 2010: 331).

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Das Angebot richtet sich demnach zunächst nach den vorhandenen Bedürfnissen, und der Verein kann aus seinem Pool engagierter Mitglieder und dem Netzwerk viele Interessen decken. Die Kurse werden hauptsächlich von den Jugendlichen der Neuköllner Umgebung besucht, sie sind, wie Herr Ozan hervorhebt, nicht auf eine deutsch-türkische Zielgruppe begrenzt ‚von den Schülern her ist das Mischmasch, arabisch, türkisch, deutsch. Die Kinder der Familie Imren nehmen hier insbesondere am Wochenende an verschiedenen Unterrichtsprogrammen teil, vor allem den unterschiedlichen Gruppen des Koranunterrichts.57 Die Motivation zur Teilnahme schwankt besonders bei den Schulkindern, und Mustafa deutet im Interview an, dass er den Korankurs eher seinen Eltern zuliebe besucht. „ (I: Warum gehst du hin?) Damit ich meine Eltern glücklich mache (lachend) und damit ich auch e::m etwas über meiner Religion lernen kann, weil ich weiß ja jetzt nicht so viel darüber.“ (Interview Mustafa) Die Weitergabe religiösen Wissens, der Austausch zu religiösen Themen ist eine zentrale Säule des Vereins. Ergänzend zu den Kursen zum grundlegenden Koranverständnis haben sich im Rahmen des Theologenvereins „Dialoggruppen“ gebildet, die sich interreligiös zu unterschiedlichen Fragen austauschen (z.B. indem Kirchenvertreter eingeladen werden). Diese Gruppen richten sich an Erwachsene, und hier ist insbesondere Fatih aktiv beteiligt. Herr Ozan bedauert, dass es bislang hauptsächlich „türkische Personen“ sind, die hier teilnehmen, da der Verein grundsätzlich die Vernetzung zu unterschiedlichen Gruppen des Umfelds anstrebt. Das dahinterliegende Dialogverständnis umreißt er als „gegenseitig sprechen [...], dass man versucht zu verstehen, warum jemand so denkt [...]“ und grenzt sich von einem Dialogverständnis ab, das auf Missionierung oder religiöse Assimilation abzielt. Freitagabends findet immer das sohbet (Koranverständnisgespräch) statt, eine Gesprächsrunde, an der auch Fatih regelmäßig teilnimmt und die ein weiteres Mitglied, Herr Yıldırım, als „nicht eintönig, sondern sehr beweglich, sehr dynamisch (lachend)“ beschreibt. Hier diskutiert eine wechselnde Gruppe von Männern unter der inhaltlichen Leitung des hocas. Auch Fatma und Maral nehmen an einigen Veranstaltungen teil, z.B. den Reisen, die vom Verein organisiert werden. Während der Feldforschung findet beispielsweise ein Wochenendseminar in der Nähe von Frankfurt/Oder zum Thema „Alltagsregeln im Islam“ statt, zu dem ein Islamwissenschaftler aus der Türkei eingeladen ist und an einer Gruppenreise durch die südliche Türkei mit vielfältigem Kulturprogramm nehmen Fatih mit Frau und Kindern, Melek, Gülay und Nuriye mit ihrem Freund Nils teil. Zu wichtigen muslimischen Feiertagen werden große Nachbarschaftsfeste organisiert, zu denen auch jene Familienmitglieder kom57 Emre und Oktay sind während der Feldforschung noch nicht im entsprechenden Alter, sollen aber auch zukünftig teilnehmen.

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men, die im Alltag nicht den Verein besuchen. Als ich das zu Kurban Bayramı (Opferfest) organisierte Straßenfest besuche, nehme ich die in der Konzeption verankerte Öffnung in den nachbarschaftlichen Raum in der Praxis wahr. „Für das Fest ist extra die Straße abgesperrt worden. Passanten, Anwohner und die Besucher des Vereins mischen sich. Es gibt Stände mit Essen, Süßigkeiten, Kuchen und religiöser Literatur. Auf der einen Seite ist eine Bühne aufgebaut, auf der das Programm stattfindet. Melek und Gülay sind am Teestand beschäftigt und schenken kostenlos Tee und Kaffee aus. Viele Männer sind elegant gekleidet in Anzügen und Mänteln. Auch die Mädchen sehen festlich gekleidet aus. Maral erzählt, dass sie am Donnerstag mit der ganzen Familie bei ihren Eltern waren und gefeiert haben. [...] Mittlerweile stehen Mustafa, Özlem und Aynur auf der Bühne zusammen mit einigen anderen Teenagern. Gemeinsam mit Begleitung und ihrem Musiklehrer tragen sie einige türkische Lieder vor, ziemlich zurückhaltend allerdings. [...] An einem weiteren Stand wird kostenlos eine Mahlzeit aus Fleisch, Reis und Salat verteilt. Maral unterhält sich mit Leuten, die sie trifft, und auch Fatih ist stets im Kontakt mit den Bekannten.“ (Feldtagebuch 28.10.2012)

Nicht alle Familienmitglieder praktizieren gleichermaßen ihre Religion, für einige scheint dieser Bereich selbstverständlich im Alltag integriert, für andere nur sehr lose. Für das familiäre Kollektiv bildet der Verein aber einen festen Bezugspunkt und ist Bestandteil des Alltags. Ursprünglich war es Fatih, der über einen Freund diesen Ort kennengelernt hat und hier nach und nach seine Familie mitbrachte. Eine für ihn zentrale Funktion des Vereins – nämlich als Ort der Kulturvermittlung – thematisiert Fatih im folgenden Interviewausschnitt. „Die größte Rolle ist eigentlich die Erziehung der Kinder. (I: Hm::) Das zumindest ein Teil der Kultur, die wir ja mitgebracht haben, die auch zu uns gehört, nicht verloren geht. Die möchte man doch auch ein bisschen weiter pflegen, und das geht nur in der Gemeinschaft, alleine kriegst du’s nicht bewältigt. Irgendwann, wenn man nichts tut, dann kommt eine Generation, wo dann alles vergessen ist. Und das ist auch der Ansporn, wo ich dann sage ‚Da muss man was tun.‘ [...] Zumindest die Kultur, oder die Werte, oder die Religion weiterführen. (I: Na in dem Verein, [...] was mir so aufgefallen ist, dass schon auch da die Religion und Bildung, diese beiden Bereiche so sehr verbunden erscheinen.) Das hängt sehr mit dem derzeitigen Leiter zusammen, das ist der Herr Karataş, der bemüht sich wirklich, also er ist auch ein studierter Islamwissenschaftler, der bemüht ist, dass wir unsere Werte weitergeben. Also er ist auch ein Ansporn, dass wir miteinander, wo wir uns schon zu Deutschland hingehörend fühlen, auch dann mit unseren Nachbarn ne gewisse Beziehung aufbauen, ohne irgendwelche Vorurteile. Die sind ja immer da, aber man möchte sich gerne so präsentieren, wie man ist, deswegen bemühen wir uns auch mit unseren

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Nachbarn, mit der Umgebung und dort spielt natürlich die Erziehung ne ganz wichtige Rolle. Und eigentlich, ursprünglich wurde ja der Verein auch als Nachhilfeverein gegründet, was ja auch nach wie vor weitergemacht wird, und die meisten derzeitigen Nachhilfelehrer sind ja alles ehemalige Schüler, die jetzt in irgendwelchen Universitäten studieren oder schon abgeschlossen haben. Das ist dann immer der Kreislauf, der dann immer weitergeht.“ (Interview Fatih)

Einerseits sollen also die Kinder den Zugang zum kulturellen Fond der Familie nicht verlieren, aber auch die gesellschaftliche Verortung, Verantwortung und Repräsentation wird angesprochen. Religion, Bildung, Kultur – diese Begriffe sind in den Beschreibungen des Vereins eng miteinander verwoben, und gerade die religiöse Identität wird als Bildungsanlass betrachtet.58 Die Bildungsbetonung wird auch in den vom Verein herausgegebenen MOCCA-Zeitschriften offensichtlich, die sich mit aktuellen Gesellschaftsthemen befassen.59 Mit dieser Ausrichtung kann dem gesellschaftlichen Integrationsmodell entsprochen werden, während Bildung gleichzeitig als genuin religionsgebunden gefasst wird. So eröffnet die Positionierung des Vereins Raum für bildungsorientiertes Handeln, dass nicht defensiv auf gesellschaftliche Anforderungen reagiert, sondern aus den religiös geprägten Deutungs- und Sinnkonstruktionen begründet werden kann. Anders formuliert, kann Bildung auf dieser Grundlage nicht nur auf gesellschaftliche Anerkennung, sondern vor allem die Anerkennung Gottes gerichtet sein. Die religiöse Verortung des Vereins fällt eher unspezifisch aus, wobei gerade dieser Aspekt als Vorteil beschrieben wird. So notiere ich aus einem Gespräch: „Der Verein hat keine Zugehörigkeit zu einer speziellen Religionsgruppe, das findet Maral gerade gut. Sie meint, sonst sind die Überzeugungen so fest, dass gefalle ihr nicht.“ Während sie sich früher den Hanafiten (der verbreitetsten sunnitischen Rechtsschule) zugeordnet hätten, hat sich die religiöse Selbstverortung auch durch die Impulse innerhalb des Vereins verschoben. Maral und ihre Tochter umreißen ihre Interpretation in dem Sinne: „[...] dass der Islam vor allem eine Form des Zusammenlebens, des sozialen Miteinanders beschreibe und dass das wichtig sei. Es gebe nicht einen falschen und einen richtigen Gott, sondern auch der Gott der Juden und Christen sei derselbe Gott. Wichtig ist für sie nur, an einen Gott zu glauben, nicht aber an welchen. Wie man betet und wie oft ist für sie auch

58 Ein Beispiel für die Verbindung von Religion und Bildung ist die aus dem Koran abgeleitete Aufforderung „logisch zu denken“, die Maral mit Berufung auf den hoca im Gespräch darlegt. 59 Die Zeitschrift trägt den Untertitel „Sınırsız Eğitim – Bildung ohne Grenzen“.

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nicht zentral. Es ist eher wichtig, wie man sich anderen gegenüber verhält.“ (Auszug Feldtagebuch)

Der Austausch im Rahmen der Vereinsinitiativen scheint Transformationen und die Neuverhandlung des religiösen Verständnisses in der Familie impulsgebend zu begleiten. Wichtiger als eine „obrigkeitliche Ideologie“ und damit Einordnung in spezifische religiöse Schulen ist für die Familienmitglieder die lebensweltliche Integration des Glaubens entlang einer Wertorientierung, die sich mit Stauth (1996) als „Lebenssunna“ (Stauth 1996: 34 zitiert in Nökel 1999: 286)“ beschreiben lässt. Dass besonders diejenigen Familienmitglieder, die Religion in ihren Alltag integrieren, dazu auch die Gemeinschaft des Vereins nutzen, hat sich nicht zufällig so ergeben. Meleks mittlerweile eigenes Interesse hier teilzunehmen, wurde ihr zunächst von der Familie verordnet, wie im Interview deutlich wird, als wir über ihre Hinwendung zur Religion sprechen. „Ich glaube, es hatte damit angefangen, ich konnte am Anfang nicht beten. Ich wusste nicht, wie es geht. Ich hab das nicht in der Moschee gelernt. [...] ich wollte auch gerne lernen, wie das geht. Und ich hab dann immer Bücher gelesen, wie man betet und so und auch über Religion Bücher. Und dann standen da auch so interessante Sachen, die dann noch mehr mein Interesse geweckt haben, und dann hab ich angefangen, immer mehr zu lesen darüber. Ich hab mir dann überall so aus verschiedenen Quellen im Internet oder so Bücher ausgeliehen. Und dann hatte ich Interesse, und es stieg, und ich wollte immer mehr wissen und war dann mittendrin, und dann ging es so weiter. (0.2) [...] Bei uns war das ja so, zum Koran war immer mein Onkel ((Fatih)) der Mann, der immer am besten Bescheid wusste. Wenn jemand was nicht wusste, sind wir immer zu ihm gegangen. Aber irgendwie hatte ich auch so – ‚wir müssen doch auch selber wissen, wir können doch nicht immer jedesmal zu meinem Onkel gehen und ihn fragen, kann ja auch sein, dass er falsch liegt‘ [...] Und später erst [...] haben die Angst bekommen, dass ich irgendwie zu krass islamistisch werde, so richtig extrem und in irgendwelche Sekten reinfalle, und da haben die sich dann Sorgen um mich gemacht, weil ich dann angefangen habe, auch regelmäßig zu beten und so. Ich weiß nicht warum, aber die haben sich einfach Sorgen gemacht. [...] Meine Eltern, mein Onkel auch meine Oma, alle. Und da hab ich auch gesagt ‚Nein, ihr braucht keine Angst zu haben. Also ich lerne, das ist einfach ein Interesse. Ich mach das.‘ Okay, es kann sein, dass ich es manchmal übertrieben habe, aber das kam einfach von mir, so. Aber ich würd niemals in irgendeine Sekte fallen, oder so. Da haben die dann beschlossen, dass ich auch nochmal in diesen Verein gehen soll, damit ich da den Koran von diesem Hoca nochmal bisschen mehr lerne. Und dann ging ich auch dahin. Jetzt haben sie auch nicht mehr Angst, weil ich ja zu jemandem gehe, den sie kennen und von ihm auch lerne. Und das hat sich dann jetzt so ’n bisschen gestellt.“ (Interview Melek)

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Das Narrativ beschreibt einen Prozess, der bei Nökel unter dem Stichwort „meine Religion wirklich leben“ als rationale Prüfung und Aneignung eingeordnet wird und nicht untypisch sei für in Deutschland geborene junge Frauen aus muslimischen Familien (vgl. Nökel 1996: 279f.).60 Abgesehen vom autodidaktischen Zugang Meleks, der mir bemerkenswert erscheint, verdeutlicht dieses Narrativ eine zentrale Funktion des Vereins für die Familie, die der religiösen Instanz. Nachdem Melek zusichert, dass sie nicht mehr nur auf eigene Faust die Suche nach der passenden religiösen Praxis verfolgt, sondern die Vermittlung ihrer besorgten Familie zum Verein akzeptiert, glätten sich die Wogen. Die Familie vertraut darauf, dass hier vermitteltes Wissen, Gedanken und Fragen Melek unterstützen werden, und außerdem bleibt sie so im bekannten Umfeld gewissermaßen unter familiärer Kontrolle.61 In dieser Konstellation erscheint die religiöse Bildung der folgenden Generation in verantwortlichen Händen zu liegen, ein Vertrauen, dass die Familie nicht in jedem Fall hatte. Melek findet hier einen „Dialogpartner“, der in der Lage ist, ihre Suchbewegung und Wertaneignung aktiv zu begleiten und zu unterstützen und gleichzeitig nicht in konflikthafter Konkurrenz zum familiären Habitus steht. Im Verein sind viele der aktiven Lehrer ehemalige Schüler, die mittlerweile studieren und auch als Ratgeber und Vorbilder für die Jüngeren fungieren.62 60 Nökel zieht weiterhin eine Verbindung zwischen Fremdessenzialisierung und der Attraktivität einer religiösen Identifikation, die mit der „selbst konstruierten Selbstessenzialisierung“ auch Freiheitsgewinne für das weibliche Subjekt bedeutet (Nökel 1996: 297). Melek äußert sich vergleichsweise deutlich und kritisch zu Diskriminierungserfahrungen, konstruiert diese als biografisch signifikante Erfahrungen, und sie ist es auch, die besonders aktiv ihren religiösen Entfaltungsprozess verfolgt, ein Zusammenwirken, das sich, wenn wir Nökel folgen wollen, möglicherweise gegenseitig bedingt. 61 Sigrid Nökel führt den angedeuteten Konflikt unter dem Stichwort des „Neo-Islam“ insofern weiter aus, dass Eltern „diese Wende zur religiösen Innerlichkeit, die auch noch nach äußerer Demonstration drängt, suspekt ist und die befürchten, daß die Investitionen in die Ausbildung der Töchter nicht die erwarteten Früchte von sozialem Aufstieg und gut entlohnter Arbeitsstelle tragen und daß womöglich die Heiratschancen sinken“ (Nökel 1996: 279). Ob vergleichbare Befürchtungen auch Meleks Familie hegt, lässt sich anhand der Erzählungen nicht ausmachen, die Ängste scheinen eher ob eines möglichen Abgleitens in fundamentalistische Kreise zu bestehen. 62 Die Dynamik innerhalb des Vereins profitiert von der Bildung der Mitglieder, dazu bei Boos-Nünning: „Durch Professionseliten wird die politische Kraft der Migrantenorganisationen gestärkt. Sie sind nunmehr auch in der Lage die [...] Lücken zu füllen und eigene Beratungsangebote aufzubauen [...].“ (Boos-Nünning 2011: 63)

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Zwar werden in der Familie gewisse religiöse Traditionen und Wissen weitervermittelt, aber andererseits ist die alltägliche Ausgestaltung des Glaubens individuell sehr unterschiedlich. Alle Familienmitglieder haben den Koranunterricht besucht und identifizieren sich mit dem Islam, inwieweit aber beispielsweise gebetet, gefastet, sich weiterhin mit der Religion befasst wird, variiert bis in die Kernfamilien. Während Muhammet seinen Alltag als weniger religiös geprägt beschreibt, ist für seine Frau und die Tochter das abendliche Gebet ein bedeutsames Alltagselement. „Das Beten ist ihnen wichtig, um zur Ruhe zu kommen und die Sorgen des Tages zu vergessen. Melek erzählt, dass sie oft erst zur Ruhe kommt, wenn sie das Abendgebet zuhause nachholen kann. Maral hat immer gebetet. In ihrer Kindheit ihm Dorf standen sie zum frühen Gebet am Morgen auf und versorgten nach dem Beten die Tiere, dann legten sie sich nochmal hin. Dort erscholl der Gebetsruf, und alle Dorfbewohner beteten. In Berlin hatte sie manchmal Phasen, in denen sie weniger betete, weil sie viel zu tun und z.B. finanzielle Sorgen hatte und es ihr sehr schlecht ging. Aber ihr Nachtgebet verpasst sie nie, meint Maral. Dann sei sie ja meistens alleine und das helfe ihr, dann mit Gott zu sprechen.“ (Feldtagebuch)

Im Verlauf der Feldforschung beobachte ich häufiger, wie das Gebet von einigen Familienmitgliedern selbstverständlich in den Alltag eingeflochten wird. Auch das Fasten während des Ramadans wird unterschiedlich gehandhabt, einige fasten und stellen andere Verpflichtungen in dieser Zeit zurück, andere fasten nicht. Das Kopftuch wird ebenso nur von einigen Frauen und von ihnen auf je unterschiedliche Weise getragen. Meleks Entscheidung, das Kopftuch zu tragen, fällt während der Forschungsphase („weil sie auch nach außen zeigen will, dass sie Muslima ist, weil sie ihren Glauben zeigen will.“ Auszug Feldtagebuch), ihre Mutter und Schwestern tragen es hingegen nicht. Anhand dieser Elemente religiösen Handelns lässt sich erkennen, dass die spirituelle Ausgestaltung des Alltags in der Familie jedem selbst überlassen bleibt. Zwar wird eine grundlegende Richtung vorgegeben, aber wie sehr diese dann weiterentwickelt und bestätigt wird, ist eine individuelle Entscheidung. Diese Haltung scheint auch die erste Generation in der Weitergabe religiöser Werte vertreten zu haben, so klingt es in Elifs Antwort auf die Frage, welche Rolle Religion in der Familie spiele, an. „Eine große Rolle, wir sind ja religiös aufgezogen. Und in der Religion ist ja auch das Gleiche wichtig, was uns unsere Eltern, Großeltern beigebracht haben. Zusammenhalt, Respekt, Sauberkeit, was weiß ich, alles. Aber uns wurde die Religion niemals mit Zwang präsentiert. Das hieß niemals ‚Du musst‘, ‚Du musst jetzt ’n Kopftuch tragen. Du musst

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jetzt den Koran lesen.‘ Es wurde uns anders beigebracht und deshalb liebe ich auch den Islam, überhaupt den Glauben.“ (Interview Elif)

Dem Islam zugeordnete Werte und Praktiken fließen in die Erziehung mit ein, während die Vertiefung religiöser Fragen eine Angelegenheit ist, die jeder für sich verfolgt. Maral hat beispielsweise erst als junge Erwachsene begonnen, sich näher mit der Religion zu befassen „[...] indem ich allein also gelesen, viel gelesen und erforscht hab“. Besonders die Geburt ihrer Kinder ist für sie ein Anlass, mehr über den Islam herauszufinden, denn so wie es auch ihre Tochter äußert, möchte sie Deutungsweisen nicht unhinterfragt von anderen übernehmen, sondern auf der Grundlage einer eigenen Auseinandersetzung zu den jeweiligen Antworten kommen. Diejenigen Familienmitglieder, die sich weiter aktiv mit religiösen Fragen befassen, tun dies nun verstärkt auch im Rahmen der Vereinsstruktur, hier erhalten sie neue Impulse und bringen ihre Erfahrungen ein. Die Deutungen des hocas werden zum Teil orientierend auf den Alltag bezogen, so z.B. seine Aufforderung, sich zunächst um die Konflikte im eigenen Umfeld zu kümmern. „Der hoca sagt immer: ‚Wenn dein Haus brennt, dann rennst du doch auch nicht zum Nachbarn und löscht erstmal sein Haus. Du rettest erst dein eigenes Haus und dann hilfst du deinem Nachbarn.‘ So müssen erstmal die Probleme in Deutschland gelöst werden, und das kann lange dauern, meint Melek, und dann kann sie in die Türkei und dort etwas verändern.“ (Auszug Feldtagebuch)

Zwar ist der Kulturverein auf seine unmittelbare Nachbarschaft und allgemeiner „die Probleme in Deutschland“ ausgerichtet, gleichzeitig werden aber transnationale Bezüge hergestellt, so z.B. wenn türkische Gäste eingeladen, Reisen in die Türkei unternommen werden. Die Organisation agiert also über nationale Grenzen hinweg und verbindet Funktionen der Weitergabe kulturell-religiöser Werte mit jenen, die gesellschaftliche Teilhabe und Integration vorantreiben sollen. Die Übernahme dieser „scheinbar separaten“ Ziele wird von Sezgin als typisches Element von Migrantenorganisationen beschrieben, da so „Mitgliederinteressen mit Erwartungen der institutionellen Umwelt“ verflochten werden (Sezgin 2010: 216), selten sind die Vereine dabei auf einen Bereich spezialisiert, sondern häufig eben eher multifunktional ausgerichtet (vgl. Pries 2010: 21f.). In den Gesprächen und dem familiären Alltag wird die Gemeinschaft des Vereins ebenso vielfältig eingeflochten. Anders als die ansonsten besuchten Orte des Alltags (Lernladen, Familienhaus u.a.) wird die Rolle des Vereins als religiös orientierend und sinnstiftend vermittelt. So wird der Verein und insbesonde-

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re der hoca als Vermittler von Weltdeutungen beschrieben, die in den einzelnen Biografien integriert und transformiert werden und so weiter wirken. Für die Eltern erfüllt das Kursangebot einen erweiterten Erziehungsraum, Fatih betont, dass es für die Weitergabe kulturspezifischer Elemente eines gemeinschaftlichen Rahmens bedarf. Mit dem Verein erhält die Familie einen Ort, der in seinen grundlegenden Funktionen den migrantischen Vereinen gleicht, die Kastoryano folgendermaßen beschreibt: „These associations were a refuge, sometimes even a sanctuary, where culture, religion, ethnicity, and nation of origin were interpreted, became manifest, and took root.“ (Kastoryano 2004: 1238) Die Kinder der dritten Generation werden hier religiös gebildet, sie lernen türkische Lieder, knüpfen neue Kontakte. Der Verein bietet damit eine Alternative zu sonstigen Freizeitbeschäftigungen am Wochenende und darüber hinaus Raum für „kulturelle Identitätsbildung“ (Goeke 2010: 135). Hier sind Vertrauensbeziehungen entstanden, andere Vereinsmitglieder werden eingeladen, der hoca ist bei den Familienfeiern zu Gast und besucht auch Großvater Can, als es ihm gesundheitlich nicht gut geht. Zusammenfassend ermöglicht die Vernetzung mit dem Verein den Austausch sozialen und kulturellen Kapitals und die Erweiterung sowie Stabilisierung sozialer Beziehungen. Für die familiären Bildungsbiografien hat sich die Vernetzung mit dem Verein zu einer Ressource im Alltag entwickelt, die auf vielfältige Weise Einfluss nimmt. 6.4.2 Lokale Initiativen – Bildungsräume für Frauen und Kinder Neben dem Kulturverein entwickeln sich noch weitere Orte und lokale Initiativen zu interessanten Forschungsschauplätzen. Während im Kulturverein auch die Männer der Familie vernetzt sind, nehmen an den folgenden Projekten hauptsächlich die Kinder, Jugendlichen und zum Teil auch Frauen teil. Die Initiativen sind alle in der Neuköllner Umgebung situiert und bilden gewissermaßen Knotenpunkte auf der Karte der alltäglichen Begegnungen in der Familie. Familienhaus Das Familienhaus lerne ich näher kennen, als Maral mir vorschlägt, sie zu einem Sportkurs zu begleiten, der hier zweimal pro Woche stattfindet. Auf der Internetseite stellt sich das Projekt als „pädagogische Freizeit- und Bildungseinrichtung für Kinder und Jugendliche [...] und deren Eltern“ vor, die Träger sind das Neu-

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köllner Jugendamt und ein freier Träger der Familienhilfe.63 Das Familienhaus bietet auf einem großen Gelände mit Garten und Wasserspielplatz vielfältige Freizeitangebote, hierher kommen vormittags Kitagruppen und den ganzen Tag über Eltern (hauptsächlich Mütter) aus der Umgebung mit ihren Kindern. Neben freiem Spiel und Bewegung finden Kurse statt, die von Sozialpädagogen, Erziehern und freien Mitarbeitern angeleitet werden, es gibt Lagerfeuer, Holzbauwerkstatt, Akrobatik, Elterncafé etc.. Während der Feldforschung nehmen einige Kinder der Imrens an einem Theaterworkshop teil, der in den Sommerferien stattfindet. Ähnlich wie im Kulturverein geht die Motivation zur Teilnahme zunächst von den Eltern aus. Fatma erzählt, dass ihre Töchter erst keine Lust zu dem Theaterworkshop hatten, sie dort aber schnell Freunde gefunden und Spaß an dem Projekt entwickelt haben. Auch Muhamet wird von seiner Mutter Maral zur Teilnahme an einem Theaterstück im Familienhaus überredet, jedes Mal wenn er zur Probe soll, diskutieren sie und verhandeln, häufig zwischen seinem Wunsch, auf der Konsole zu spielen und ihrem, den Kurs nicht abzubrechen. Maral ist hier wie viele Eltern mit der virtuellen Welt als konkurrierendem „Ort des kulturellen Lernens“ (Stecher/Zinnecker 2007: 400) konfrontiert, dessen Einfluss sie mit der Vermittlung eines weiteren von ihr gewählten Lernorts zu begrenzen sucht. Letztendlich nimmt Mustafa weiterhin am Theaterstück teil, übernimmt sogar mehrere Rollen und zeigt mir im Nachhinein stolz die Filmaufnahme seines Auftritts. Gemeinsam mit den Sozialpädagogen haben die Kinder ein auf einer Geschichte von James Krüss basierendes Stück einstudiert, das in Neukölln spielt und verschiedene Probleme aufgreift. Von den Erwachsenen nutzt in der Zeit der Forschung besonders Maral die Bildungs- und Freizeitangebote im Familienhaus. Der Kurs, zu dem ich sie begleite, findet im Rahmen einer EU geförderten Initiative unter dem Titel „Stärken vor Ort“ statt. Es ist ein „Sport und PC Kurs für selbstbewusste und aktive Mütter“, der aufgrund des Interesses der Frauen vor Ort von Sabine ins Leben gerufen wurde. „Der Sport macht ihr mehr Spaß als der Kurs. Trotzdem findet sie es wichtig, mit dem Computer umgehen zu lernen. Bisher musste sie immer die Kinder um Hilfe fragen, wenn sie den Computer benötigte. Sie konnte ihn nicht einmal anschalten. Nun weiß sie einige

63 Die allgemeine Zielsetzung wird auf der Homepage folgendermaßen gefasst: „ Gemeinsam arbeiten wir im Sinne der §§11 und 16 des Kinder- und Jugendhilfeschutzgesetzes, welche die allgemeine Förderung der Persönlichkeitsentwicklung von Kindern und Jugendlichen und die Stärkung von Familien in Erziehungsfragen durch entsprechende Bildungsangebote beinhalten.“

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grundlegende Schritte und kann einiges alleine machen. Sie findet das wichtig, weil die Kinder auch nicht immer Lust und Zeit haben, ihr zu helfen.“ (Auszug Feldtagebuch)

Das Verhältnis der Frauen zur Kursleiterin Sabine beobachte ich als sehr herzlich, es wird viel gelacht, geredet. Sabines Art zu kommunizieren zielt darauf ab, die Frauen zu ermutigen: „Ihr seid viel selbstbewusster geworden, seit ihr hier seid“ und als es um die Unzufriedenheiten mit dem eigenen Körper geht, „Ihr seid alle schön, habt eine tolle Ausstrahlung.“. Nach dem Sport wird gemeinsam Kaffee getrunken, die Frauen thematisieren z.B. familiäre oder gesundheitliche Probleme, in den Gesprächen mischen sich deutsch, türkisch und arabisch. Eine der Frauen erzählt von ihrem Alltag mit drei, bald vier Kindern und kritisiert die Unselbstständigkeit ihres Mannes, der nie selber koche und immer erwarte, dass man ihm das Essen fertig serviere. Die Frauengruppe scheint eine vertraute Atmosphäre zu bieten, in der es möglich ist, familiäre Konflikte anzusprechen und sich darüber auszutauschen.64 Der offene und auf Bewegung und Gespräch angelegte Modus des Kurses scheint mir ähnlich wie auch das Theaterprojekt bei den Kindern Anerkennung als wichtiges Element von Bildungsprozessen einzubeziehen. Im Gespräch mit Sabine betont sie, dass sie sich um eine durchlässige Haltung bemühe und in ihrer Arbeit versucht habe, möglichst wenig vorzugeben, sondern auch die Impulse der Frauen aufzunehmen. „Sie war sehr offen den Frauen gegenüber, erzählte, dass sie Saunagängerin ist, Sport macht, auch erst in der Ausbildung ist und noch viel lernen muss. Sie ließ auch Fehler zu, wollte keine hervorgehobene Position, sondern mit den Frauen auf einer Ebene arbeiten. Maßregelungen wären sehr destruktiv gewesen. Sie praktiziert für sich eine andere Art des Umgangs. Sie selbst meint, es sei ihr auch angenehmer, wenn Menschen mit ihr so positiv umgingen. Wenn es Probleme gab, wie z.B. die Pünktlichkeit suchte sie eine demokratische Einigung. Sie fragte die Frauen, wie sie die Situation regeln wollten, und am Ende des Prozesses waren die Frauen häufig schon vor ihr am Familienhaus.“ (Interview Sabine – Gedächtnisprotokoll)

So, wie ich es während meiner Teilnahme erlebe, scheint mit diesen Zusammentreffen der Versuch verbunden, Raum zu schaffen für Anerkennung gegenüber 64 Diese Form der eher informellen Beratung und Unterstützung ist auch insofern hervorzuheben, weil Forschungen zur interkulturellen Familienhilfe darauf hinweisen, dass stärker professionalisierte, sozialpädagogische Beratungsangebote von Migrantinnen und Migranten vergleichsweise weniger genutzt werden (Vgl. Erdem 2013). Die Ursachen dafür werden vielfältig verortet, bei Sprachbarrieren, fehlender interkultureller Kompetenz der Beratungsstellen etc.

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den Lebensgeschichten, individuellen Fähigkeiten und Konflikten und Körpern. Im Feldtagebuch notiere ich aus einem unserer Gespräche „Maral findet diese Begegnungen mit anderen Frauen sehr schön. Sie unterhalten sich, wenn eine Probleme hat, und sie sagt ‚die Bewegung tut so gut auch für die Seele‘.“ (Auszug Feldtagebuch) Im Rahmen des Kurses gehen die Frauen gemeinsam in einen Kreuzberger Hamam, sie nehmen an einem Laufwettbewerb des Familienhauses teil, sie kochen gemeinsam, oder es wird ein Tanzabend veranstaltet. Maral fährt auch gemeinsam mit Mustafa auf Wochenendreise ins Berliner Umland. In diesem Sinne wird eine Erweiterung des Erfahrungsraums unterstützt, die sonst gewissen (z.B. finanziellen/organisatorischen) Einschränkungen unterworfen ist. Das Familienhaus erlebe ich während der Feldforschung als Begegnungsort, der besonders Müttern die Möglichkeit gibt, andere Frauen zu treffen, sich zu unterhalten, während die Kinder hier vielfältige Spiel- und Lerngelegenheiten haben. Das heterogene Umfeld des Stadtteils bildet sich hier ab, aber anders als in Marals Kurs beobachte ich im offenen Spielbereich des Familienhauses, dass sich meistens unterschiedliche Gruppen entlang natio-ethno-kultureller, sozialer und religiöser Zugehörigkeiten bilden, die eher wenig miteinander interagieren. Der gemeinsame Kurs ist möglicherweise ein Anlass, Grenzziehungen zu verwischen, ohne diese organisatorische Rahmung bleiben die grenzüberschreitenden Kontakte eher die Ausnahme. Das Familienhaus hat sich für viele der Frauen als Alltagsort etabliert, einige von ihnen kommen schon seit 10 Jahren hierher, und so ist auch Marals Familie über diesen Ort vielfältig vernetzt. Kritisch äußert sich Maral über Brigitte, die Leiterin des Projekts, die ihr zufolge nicht den richtigen Ton gegenüber den Frauen treffe und beispielsweise eine ihrer Bekannten harsch zurechtgewiesen habe. „Sie (Maral) sagt, die Frauen hätten schlimme Dinge erlebt, und alles sei sehr schwierig für sie. Natürlich gebe es dann auch Konflikte, aber darauf müsse sich jemand einstellen, der in einem solchen Ort arbeitet. Die Frauen haben Probleme mit ihren Familien, mit den Ämtern, sie haben viele Sorgen, meint Maral.“ (Auszug Feldtagebuch)

Maral versucht zwischen den verschiedenen Seiten zu vermitteln, sie kennt die Familienbiografien mit ihren Konflikten und erwartet entsprechend der sozialpädagogischen Ausrichtung eine emphatische Grundhaltung der Leiterin. Sie setzt sich auch für die Weiterbeschäftigung von Trainerin Sabine ein, als deren Stelle als Honorarkraft eingespart werden soll. Im Verlauf der Feldforschung wird Maral schließlich selbst eine Arbeit (Minijob) im Familienhaus angeboten. Damit verändert sich ihre Rolle hier, denn sie hat nun umso mehr gestaltend Anteil, an einem Ort, den sie als wichtige Unterstützung für Familien betrachtet.

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Lernladen Der Lernladen ist ein Angebot für Schülerinnen und Schüler in direkter Nachbarschaft zu der Grundschule, die während der Feldforschung fünf Kinder der Familie Imren besuchen. Fatma erzählt, dass es mittlerweile drei oder vier Jahre her sei, seit sie über ein Schulprojekt der Kinder den Initiator Herrn Mai kennengelernt und das Angebot erhielt, Cengiz, Aynur und Özlem zum Lernladen zu schicken. Sie war anfangs abwartend, ist aber mittlerweile überzeugt von Herrn Mais positivem Einfluss auf die Entwicklung ihrer Kinder. „Ich hab gedacht ‚Wir gucken uns das erstmal an, wie das da ist und so. Aber dann haben wir uns- [...] also ich bin jetzt zufrieden. Ich bin glücklich, dass wir Herrn Mai kennengelernt haben, der macht viel mit den Kindern. Er erzählt auch viel, er redet mit den Kindern, ich meine, das ist wichtig für die Kinder, oder? Das der Mann zuhört, das ist so wie Nachhilfe, also er macht Hausaufgaben, oder die machen Projekte, machen Ausflüge oder Ferienprogramme.“ (Interview Fatma)

So, wie von Fatma bereits angedeutet, geht das Angebot des Lernladens, das von der Familie sehr eng an die Person Herrn Mais geknüpft wird, über klassische Nachhilfe hinaus. Ein Kollege von Herrn Mai erklärt mir während eines Sommerfestes, dass die Arbeit im Rahmen des Projekts „Gemeinschaftlich Fördern“ eher konzipiert sei, um „Motivation zu wecken zum Lernen“. Ziel sei es, den Kindern selbst „Antrieb und Interesse an den Themen“ (Auszüge Feldtagebuch) zu vermitteln, und dazu werden unterschiedliche, weniger unterrichtsähnliche Formate und Strategien genutzt. Alle Grundschulkinder besuchen den Lernladen regelmäßig, hier wird Mathe oder Deutsch geübt, aber es finden auch so unterschiedliche Aktivitäten wie technische Versuche, Rollenspiele und Ausflüge statt. Das anspruchsvolle Rollenspiel „Shadowrun“ begeistert besonders die älteren Jungen, die hier häufig gemeinsam ihre Nachmittage verbringen. In den Sommerferien bietet Herr Mai ein Ferienprogramm an, fährt mit den Kindern z.B. ins Bode Museum oder geht mit ihnen ins Schwimmbad, wo er einigen der teilnehmenden Jungen das Schwimmen beibringt. Die Familie vertraut Herrn Mai mit der Betreuung, und Fatma beobachtet auch Veränderungen bei ihren Kindern, die sie wohlwollend bewertet. „Ich mein, das hat viel geholfen. Also ich merk das von Cengiz, von Aynur, von Özlem, jetzt auch von Emre, er hat auch dieses Jahr angefangen, e::: ich mein das ist- Doch die sind sehr viel aufgeschlossener, die können jetzt ihre Sachen ausdrücken, doch es ist schon wirklich besser. Ich glaub, das hängt auch an Herrn Mai, also er hört ja den Kindern zu.

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Also nicht, dass er sagt ‚Du kannst dich hinsetzen, jetzt nicht reden.‘ Er macht das, also er hört den Kindern zu, was sie sagen, was sie wollen, und das ist wichtig für die Kinder, wenn man zuhört. Wir sind zufrieden, also ich bin zufrieden, dass die dahin gegangen sind. Natürlich zuerst waren wir immer skeptisch, wie das aussieht, oder was die da machen, ich weiß ja nicht. Aber danach, nach der Zeit, haben wir dann gesehen, wie das da abläuft, dann war das ok.“ (Interview Fatma)

Mittlerweile ist der Lernladen als Ort in den familiären Alltag integriert und eine freundschaftlich vertraute Beziehung zu Herrn Mai entstanden. Er besucht die Familie auch zuhause und unterhält sich beispielsweise mit Fatih, Großmutter Ferda kennt ihn und auch sie, die ihre Enkel nur ungern aus dem Blick lässt, unterstützt die Besuche im Lernladen. Bei einem gemeinsamen Picknick mit allen Kindern zum Zeugnistag, notiere ich im Feldtagebuch: „Die Kinder sprechen in sehr freundschaftlichem vertrautem Ton mit Herrn Mai. Sie machen Scherze mit ihm, und er erscheint für sie offensichtlich nicht als distanzierte Autoritätsperson. Er geht sehr humorvoll mit den Kindern um und geht auf die einzelnen ein.“ (Auszug Feldtagebuch)

Bei dieser kleinen, vom Lernladen initiierten Zeugnisfeier, verabschieden die Kinder ihre Lehrerin, Mustafa hält, souffliert von Herrn Mai, eine kleine Rede und jedes Kind erhält eine Urkunde über ihre Teilnahme zum Programm zur „Befähigung für die Gymnasialstufe“ (o.ä.). Die anwesenden Mütter klatschen, verhalten stolz und auch die Kinder sind guter Stimmung. Herr Mai sagt zu jedem Kind ein paar Worte, und in der Rede zu Fatmas Tochter Aynur wird hervorgehoben „mit welcher Abneigung zu allen schulischen Themen (besonders Mathematik) sie immer nachmittags gekommen sei. Umso erstaunlicher sei, dass sie immer ihren inneren Schweinehund überwunden habe und so regelmäßig dagewesen sei. Fatma lacht und ruft rein ‚Sie sagt immer, ich kann das nicht, ich bin schlecht, dabei kann sie das, und ist auch gut in Mathe.‘“ (Auszug Feldtagebuch)

Im Gespräch mit Mustafa erwähnt auch er Herrn Mai als wichtige Unterstützung, einerseits praktisch aber auch darüber hinaus. Dass es um eine Art emotionalen Rückhalt geht, deutet der folgende Abschnitt an, wobei Mustafa die Anerkennung selbst nicht ganz einzuordnen weiß.

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„Ja Herr Mai hat mir in sehr vielen Sachen, zum Beispiel bei der Schulauswahl, wie gesagt geholfen. Also er hilft mir sehr viel und will auch, dass ich weit komme. Er sagt immer zu meiner Mutter, dass ich irgendwie besonders bin, ich weiß nicht warum, keine Ahnung.“ (Interview Mustafa)

Herr Mai steht der Familie zur Seite, als Mustafas Bewerbung auf allen vier Gymnasien abgelehnt wird, begleitet sie zum Treffen im Schulamt, berät über mögliche rechtliche Schritte und steht für die verschiedenen Fragen zur Verfügung. Auch Fatma bestätigt im Interview, Herr Mai sei bei schulischen Problemen immer der erste Ansprechpartner für sie „bei Problemen gehe ich immer zuerst zu ihm“. Die vielseitige Bedeutung des Lernladens und Herrn Mais Engagement wird auch deutlich, als das Projekt droht, beendet zu werden. Gemeinsam mit ihrer Freundin Rüya, deren Söhne auch den Lernladen besuchen, verfasst Maral einen Brief, um das Bestehen der Initiative zu unterstützen. Herr Mai erzählt: „einige türkische Frauen hätten den Brief gelesen und gemeint, das sei aber eine gebildete Familie, die den Brief verfasst habe. Rüya und Maral lachen und freuen sich sichtlich über diesen Kommentar. Herr Mai meint, er habe gesagt, es stimme ja auch nicht, dass die türkischen Familien keine Bildung hätten.“ (Auszug Feldtagebuch)

Die Familie wertschätzt die sozialpädagogische Arbeit Herrn Mais, denn sein Einsatz geht über die im Projekt konzipierten Aufgaben deutlich hinaus. Anhand des kurzen Abschnitts deutet sich weiter an, dass Herr Mai nicht nur für die Kinder eine vielfältig unterstützende Funktion hat. Patenschaften Das Neuköllner Patenschaftsprojekt ist weniger als Ort denn als Initiative für die Familie von Bedeutung, denn im Rahmen dieser entstehen verschiedene Freundschaftsbeziehungen, die zum Zeitpunkt der Forschung weiter andauern und sich erweitern. Ich kenne das Projekt aufgrund meiner eigenen Teilnahme als Patin bereits seit einigen Jahren, als die Projektleiterin 2011, den Kontakt zu Familie Imren vermittelt. Zu diesem Zeitpunkt ist nur Fatmas Sohn Cengiz aktiv im Patenschaftsprojekt beteiligt, er trifft sich seit längerem mit seinem Paten Moritz. Die Grundidee des Projekts ist die Vernetzung von Neuköllner Kindern mit engagierten Erwachsenen, so entstehen Zweierkonstellationen, die darauf abzielen, Raum für die Entfaltung des jeweiligen Kindes zu schaffen. Wöchentliche Treffen sind dafür vorgesehen, wie diese gestaltet werden, hängt ganz von den Inte-

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ressen des Kindes und den gemeinsam entwickelten Ideen des Patenpaares ab. Cengiz war von Anfang an auf der Suche nach jemandem, der sein Interesse für technisch-naturwissenschaftliche und konstruierende Projekte teilt, mit Moritz scheint er einen entsprechenden Partner gefunden zu haben. „Also angefangen hat’s ja mit der Patenschaft, ich wollte dort einen technisch Begabten, der auch mit [...] Bauarbeiten klar kommt. Und da gab’s nicht so viele. Und irgendwann kam dann Moritz, dann hat uns Semra ((Projektleiterin)) vorgestellt, und dann haben wir uns regelmäßig getroffen, haben an Projekten gearbeitet. (I: Was war euer wichtigstes Projekt?) Na, wichtigstes Projekt war- Ich hab eigentlich zwei, dieses was wir gerade bauen, unsere Windmühle und dieses e:: Projekt das wir gebaut haben und das dann auch veröffentlicht wurde im Tagesspiegel. Die haben Patenschaften interviewt und dann haben die uns mit unserem Projekt fotografiert. Das war ein Kran, den man hoch und runter fahren kann. Das war sozusagen wie eine Geschäftsidee [...] hier ist eben das Einkaufszentrum, gab’s hier oben ein Kino, hier war der Kran, war hier ein kleines Metallflugzeug, das man dann hochhebt. Das war einfach so, just for fun. Das hat Spaß gemacht [...] also wir haben ja eine Freundschaft aufgebaut, und ich mochte das eben, wenn wir diese Projekte bauen.“ (Interview Cengiz)

In Cengiz Fall verläuft die Patenschaft so, wie sie von der Projektkonzeption idealerweise vorgesehen ist. Moritz bringt Zeit und Ideen ein und Cengiz erfährt Aufmerksamkeit und Anerkennung für die von ihm geäußerten Interessen und Fähigkeiten. Über die regelmäßigen Treffen wird Moritz zunehmend in die Familie integriert, Ferda betont mir gegenüber mehrmals, er gehöre schon zur Familie. Die Idee am Patenschaftsprojekt teilzunehmen, kommt von Cengiz’ Lehrerin und wie beim Lernladen ist seine Mutter Fatma auch hier zunächst nicht überzeugt. „Ich glaub, das war in der vierten Klasse, da hatte uns die Lehrerin gefragt, ob wir sowas machen wollen. Und natürlich ich war zuerst skeptisch. Ich wusste ja nicht, was da abläuft oder wie das geht. Cengiz wollte das gerne, er wollte gucken, wie das da ist, dann hab ich mir gedacht ‚Ich geh mal hin, frag mal, also was die da machen, oder wie die das machen.‘“ (Interview Fatma)

Sie spricht daraufhin mit der Projektleiterin Semra, die sie zum KennenlernNachmittag einlädt. Und mittlerweile meint Fatma: „Also Moritz ist jetzt wie ein guter Freund [...], er gehört jetzt zur Familie (lacht), also er kommt immer noch, Cengiz geht immer noch zu ihm. Das ist schön.[...] Er redet auch ger-

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ne mit Moritz, also für ihn ist das wichtig, ja dass er ihn ansprechen kann.“ (Interview Fatma)

Auch die Geschwister und der Cousin haben Interesse an einer Patenschaft oder haben es bereits ausprobiert, aber nicht immer passt die Konstellation, wird die Regelmäßigkeit der Treffen von den Paten erfüllt, und so hat es bei Mustafa und Aynur nicht funktioniert. Nachdem Cengiz jüngere Schwester ihre Mutter immer wieder gebeten hat, begleitet ihre Mutter auch sie zu einem KennenlernNachmittag, und von da an trifft sich Özlem mit Tanja. Für das große Sommerfest des Patenprojekts übt Tanja mit den Schwestern Özlem und Aynur einen Tanz (traditionell aus der Schwarzmeerregion) ein, den sie auf der Bühne gemeinsam vorführen. Zu diesen Festen kommt ein großer Teil der Familie, die Frauen bringen Selbstgebackenes, und die Kinder sind festlich gekleidet. Die Paten werden auch zu besonderen Anlässen eingeladen, Tanja kommt zum Beispiel zum Opferfest des Kulturvereins und bringt ihre Familie mit. Das Projekt kann somit als Anfangspunkt eines Vernetzungsprozesses fungieren, der dann auch das weitere familiäre Umfeld umfasst. So ist Moritz’ Vater als Architekt am Bau des Einfamilienhauses beteiligt, in das Fatih mit Familie später einzieht. Die Vernetzung über das Projekt liefert weiterhin Zugang zu alltagsrelevanten Informationen, es werden auch für die Eltern Vorträge und Workshops angeboten. Maral erzählt von einem Workshop zum Thema AD(H)S65, der vom Patenprojekt organisiert wird, und den sie ihrer Freundin Rüya empfiehlt. Rüyas Sohn, der im schulischen Umfeld als „verhaltensauffällig“ gilt und von medizinischer Seite mit ADHS diagnostiziert wurde, ist deshalb in ärztlicher Behandlung, und Maral versucht ihrer Freundin im Umgang mit dieser krisenhaften Situation weitere Unterstützung zu vermitteln. Gegenseitige Hilfe beobachte ich auch in Bezug auf eine andere Freundin Marals, deren Tochter ebenfalls im Patenprojekt teilnimmt. Auch hier wird während einer familiären Krise, in diesem Fall ausgelöst durch Spielsucht und Gewalttätigkeit des Mannes, Unterstützung und Begleitung geleistet, unter anderem anhand der Vermittlung konkreter Hilfs- und Beratungsmöglichkeiten. Zusammenfassend erscheint das Patenprojekt im familiären Alltag erstens als Gelegenheit der teilnehmenden Kinder, Aufmerksamkeit und Anerkennung für das eigene Erleben, die individuellen Wünsche und Interessen zu erhalten, eine Situation, die innerhalb der Großfamilie unter anderen Bedingungen verläuft. Sie begegnen alternativen Denk- und Lebensweisen, und zweitens kommt ein Vernetzungsprozess in Gang, der nicht nur die beiden Teilnehmenden, sondern auch deren soziales Umfeld betrifft und den Akteuren Ressourcen eröffnet. 65 Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung.

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Maria Berlin Maral hat sich seit der Jugend viel mit Nähen, Stricken und Häkeln beschäftigt, und so ist ihr Interesse geweckt, als sie von einem Neuköllner Designprojekt hört, bei dem türkische Frauen mit Handarbeitskenntnissen gesucht werden. Die junge Designerin Ruth bietet ihr beim ersten Treffen sofort an, testweise ein Accessoire zu häkeln, und einige Wochen später ist Maral regelmäßig im Atelier beschäftigt. Das neu gegründete Label Maria Berlin produziert hauptsächlich Accessoires mit Häkeltechniken und arbeitet von Anfang an eng mit Frauen türkischer Herkunft, die traditionelle Techniken beherrschen. Diese Idee wurde seit der Gründung mehrfach ausgezeichnet, 2011 erhielt das Projekt z.B. einen Preis von Bundeskanzlerin Merkel. Hervorgehoben wird dabei die Verbindung eines hochwertigen Modelabels mit der integrativen Funktion für die mitwirkenden Frauen, denen sich hier die Möglichkeit der Partizipation und ein Weg aus Langzeitarbeitslosigkeit bieten. Maral begreift die Arbeit bei Maria Berlin anfangs als mögliche Alternative zu den sonstigen Arbeitsangeboten, die weniger ihren Interessen entsprechen. Die feine Handarbeit ist aufwendig, aber sie macht ihr Spaß, und auch den Austausch im Atelier erlebt sie als Bereicherung. Sie berichtet mir von der Ausstellung der Accessoires bei der Berliner Modemesse Fashionweek, zeigt mir die von ihr gehäkelten Stücke auf Fotos, und sie ist stolz, dass ein Modell nach ihr Maral benannt wurde. Auch ihre Töchter erkennen die Arbeit an, sind interessiert an den Entwicklungen und begleiten sie in den minimalistisch eingerichteten Laden. Wenn im Atelier gemeinsam an neuen Stücken gearbeitet wird, unterhalten sich die Frauen auf Türkisch und Deutsch über alltägliche Themen, und es werden neue Kontakte geknüpft, Techniken weitergegeben und angeeignet. Trotz der medialen und öffentlichen Aufmerksamkeit, die Maria Berlin erfährt, scheint die Finanzierung des Projekts fortlaufend problematisch. Die Bezahlung ist in Zusammenhang mit der Arbeit in dem Designprojekt ein dauernder Kritikpunkt, immer wieder wägt Maral ihre Arbeitszeit und die nur unregelmäßige, geringe Entlohnung ab. Einige der anderen Frauen entscheiden sich, ihre vorherigen Jobs wieder aufzunehmen „Die gehen dann lieber putzen, weil die Arbeit ihrer Ansicht nach nicht genug einbringt und dafür zu anstrengend ist.“ (Auszug Feldtagebuch). Maral hat ähnliche Zweifel, bleibt aber letztendlich dabei, da sie die Handarbeiten gerne macht und auch aus Solidarität mit Ruth, die ständig um die Existenz des Projekts kämpft. Von der Vermarktung als Integrationsprojekt ist Maral weniger begeistert, das wird erkennbar, als wir gemeinsam verschiede-

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ne Fernsehbeiträge über Maria Berlin anschauen. Auf allen drei Sendern (ARD, ZDF, RBB) wird das Modelabel als soziales/integratives Projekt beschrieben. „Interviewausschnitte von den beiden Designerinnen (…) werden gezeigt, in denen sie erzählen, wie das Projekt entstanden ist. Sie erzählen, dass die türkischen Frauen am Anfang sehr erstaunt waren und nicht wussten, was sie von ihnen wollten. Mittlerweile hätten sich Freundschaften gebildet und man rede miteinander über Männer etc. Zunächst sind die Frauen im Atelier beim Häkeln zu sehen, dann kommen einzelne von ihnen zu Wort. Maral sagt einmal, dass sie immer schon gerne gehäkelt habe und deshalb Lust hatte mitzumachen und einmal wird sie gefragt, was sie vom Jugend Integrationsgipfel halte, woraufhin sie meint, sie glaube das bringe nichts.“ (Auszug Feldtagebuch)

Maral findet es „unsinnig“, dass sie in diesem Kontext zu Politik befragt wird, und es stört sie, dass in der medialen Aufbereitung die türkischen Frauen immer mit den Begriffen „Integration“ und „Migrationshintergrund“ in Verbindung gebracht werden, sie meint, sie könne das nicht mehr hören. Es gibt zwar bei Maria Berlin auch Frauen, die kein Deutsch sprechen und nun im Rahmen des Projekts einen Deutschkurs besuchen, aber Maral stößt sich an der vereinheitlichenden Darstellung, die den gesellschaftlichen Stereotypen entspricht. Allerdings ist es gerade das Label als „Integrationsprojekt“, dass öffentliche Aufmerksamkeit für das Modedesignprojekt erwirkt und deshalb auch immer wieder betont wird. Diese Überbetonungen haben für Maral aber einen eher entfremdenden Effekt innerhalb des Projekts, denn sie wird immer wieder auf ihre Rolle als „zu integrierend“ reduziert. Gleichzeitig erlebt sie hier eine Anerkennung ihrer Arbeit, der von ihr in Handarbeit hergestellten Produkte und ihr eröffnen sich immer wieder neue Räume und Erfahrungen. Gemeinsam mit Designerin Ruth und anderen Frauen aus dem Projekt besucht sie die Fashion Week, das Kaufhaus Galerie Lafayette und das KaDeWe, wo ihre Accessoires ausgestellt werden, sie findet ihre gehäkelten Werke wieder in Modemagazinen und an bekannten Schauspielerinnen und erzählt begeistert von den neuen Ideen der Designerin. Die Arbeit bei Maria Berlin geht mit einer Neubewertung ihrer Fähigkeiten einher, denn hier wird die Handarbeit als „einzigartiges Talent“ begriffen und die Weitergabe „vom Aussterben bedrohter Häkeltechniken“ (Webseite Maria Berlin) als wichtig betrachtet. Bis dahin gab es für Marals Arbeit keine öffentliche Anerkennung, und diese Erfahrung ist möglicherweise ihr Antrieb auch trotz der gelegentlich kritisierten finanziellen und repräsentativen Schieflagen die Arbeit fortzuführen.

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6.4.3 Anerkennung in außerschulischen Bildungs- und Begegnungsräumen Die Gemeinschaften im Neuköllner Umfeld erfüllen vielfältige Funktionen als Orte der praktischen Unterstützung, des Lernens, der Begegnung und des Austauschs. Spezifisch für Biografien im Kontext der Migration ist, dass die Akteure sich im lokalen Umfeld neu verorten und vernetzen müssen und so auch intergenerationale Veränderungen stattfinden. Der Schritt von der Dorfgemeinschaft in die Großstadtumgebung Berlins verlangt eine Neuorientierung und gerade mit Blick auf notwendige Ressourcen des Bildungsverlaufs, erscheint es unerlässlich, gemeinschaftliche Formen der Unterstützung einzubeziehen. Während früher Wissen, Techniken und Ideen im verwandtschaftlichen Umfeld und innerhalb der Institutionen der Dorfgemeinschaft weitergegeben wurden, sind die Bedingungen in der gegenwärtigen Lebenssituation transformiert und die unterschiedlichen Vereine und Netzwerke werden genutzt, um sich auf die veränderte Lage einzustellen. Darüber hinaus nehme ich diese Orte aber vor allem auch als Quellen von Anerkennung wahr. Der Begriff der Anerkennung scheint im Kontext der beschriebenen Bildungsbiografien grundlegend. Der anerkennungstheoretische Diskurs nimmt eine ethische Position ein und fasst soziale Anerkennung als „konstitutive Voraussetzung von Gesellschaftlichkeit“ auf (Schäffter 2009: 172). Charles Taylor fragt beispielsweise nach den Bedingungen und Möglichkeiten von Anerkennung in der multikulturellen Gesellschaft (vgl. Taylor 2009), und ähnlich gerichtet untersucht Avishai Margalit entlang der Dimensionen „Demütigung“, „Achtung“ und „Anstand“, wie eine „anständige Gesellschaft“ funktionieren kann (vgl. Margalit 1997). Axel Honneth unterscheidet in Anlehnung an Hegel und Mead drei Formen der reziproken Anerkennung: die Liebe (als emotionale Zuwendung in Beziehungen), die rechtliche Anerkennung und die solidarische Zustimmung (vgl. Honneth 1992: 151). Diese Dreiteilung lässt sich auf die Sphären Familie, Staat und bürgerliche Gesellschaft beziehen, auch greifbar als „Lebensgemeinschaft“, „Personengemeinschaft“ und „Gesellschaft“ (vgl. ebd.). Dass Anerkennung unter widersprüchlichen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen stattfindet, deutet sich in den von mir nachgezeichneten Biografien spürbar ab. Es wird erkenntlich, dass zwar einerseits intersubjektive Anerkennung entscheidend ist, aber dazu auch „kulturelle und soziale Vielfalt rechtlich und gesellschaftlich gewährleistet“ und ökonomische Sicherheit geschaffen werden muss (vgl. Borst 2011: 184). Wenn wir beispielsweise das Recht auf Bildung voraussetzen und die diversen Widerstände in Betracht ziehen, wird die Verwobenheit dieser Dimensionen offenbar. Die außerschulischen Bildungsräume interpretiere

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ich nun besonders in Bezug auf Anerkennung als bedeutungsvoll, einerseits als Orte der Solidarität und sozialen Wertschätzung, aber auch als Kompensation oder Gegenbewegung zu erlebten Missachtungsformen.66 Eine erste Ebene, die sich in den unterschiedlichen Begegnungsorten ausmachen lässt, ist die Zugrundelegung „egalitärer Differenz“ (Prengel 2001: 93ff.) und damit auch die Zielsetzung eines gleichberechtigen, gesellschaftlichen Partizipierens. Die beschriebenen Projekte versuchen aus meiner Sicht, Anerkennung ohne eindimensionale Bewertung von Leistung zu vermitteln, allerdings mit der Perspektive „individuelle Entwicklung und Kreativität zu fördern und zu Leistungsfähigkeit für eine selbstständige Lebensbewältigung zu qualifizieren“ (ebd.: 103) wie es bei Prengel in Bezug auf außerschulische Bildungsprozesse heißt. Dass diese Räume gewissermaßen ein Gegengewicht zu Schule und Arbeit bilden, ist kein Zufall, sondern entspricht ihrer gesellschaftlichen Funktion. Im Fall des Patenprojekts und des Lernladens ist es die Lehrerin, die den Kontakt vermittelt und der Familie ans Herz legt, diesen Ort zu besuchen. Auf diese Weise werden gewisse Bildungsaufgaben in außerschulische Räume delegiert, Räume, in denen unter etwas anderen Bedingungen agiert werden kann. Fatma betont, dass Herr Mai zuhöre, er auf die Kinder und deren Interessen eingehe, ähnlich ist es im Rahmen der Patenschaften, auch hier findet ein Dialog statt. Die beschriebenen Initiativen eröffnen einen Raum, in dem unterschiedliches Kapital und hybride Identitäten Anerkennung finden, und zugleich bilden sich hier gesellschaftliche Diskurse ab, werden Zugehörigkeitsordnungen reproduziert. Zentrale gesellschaftliche Bewertungsmaßstäbe wie schulischer oder wirtschaftlicher Erfolg bleiben dabei nicht außen vor. Das in der Interaktion mit den unterschiedlichen Initiativen Entstehende ist jedoch nicht alleine auf Zweckmäßigkeit ausgerichtet, sondern scheint darüber hinauszugehen. Der im Familienhaus stattfindende Kurs ist beispielsweise als Vorqualifizierung für den Arbeitsmarkt konzipiert, aber für die Frauen ist hier aus meiner Sicht besonders die grundlegende Erfahrung gegenseitiger Anerkennung wichtig. Die eigene Geschichte findet hier Gehör und lässt sich zu anderen in Bezug setzen. Zwar bil66 Thomas Geisen weist darauf hin, dass Anerkennung immer auf erbrachten Leistungen basiere und ein Verständnis als „fragloses Angenommen werden durch den oder die Anderen“ besser mit dem Begriff „Respekt“ (vgl. Sennet 2004) handhabbar werde (vgl. Geisen 2007). Hier liegt möglicherweise eine Schwäche des Anerkennungsbegriffs, wobei einzuwenden wäre, dass mit dem Bezug auf eine allgemeine, menschliche Würde eben keine Leistung verlangt wird, um Anerkennung zu erhalten. Vielmehr bezieht sich Anerkennung dann auf „ein universelles menschliches Potential“. Was das Individuum aus diesem Potential macht, ist nicht entscheidend (vgl. Taylor 2009: 28).

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den die Projekte in ihrer eher ganzheitlichen Ausrichtung gewissermaßen einen Kontrast zur Praxis in anderen Bildungsinstitutionen, aber gleichzeitig greifen die Systeme vielfältig ineinander. So hat das in den außerschulischen Räumen erworbene Kapital (z.B. Theaterkurs, Sprachentwicklung) positive Effekte für die Schullaufbahnen.67 Die Begegnungsorte eröffnen weiterhin Räume, in denen Erfahrungen und Sichtweisen der (Post-)Migranten Anerkennung finden. Diese Räume können eine Art Refugium sein, das in einer als ambivalent, wenn nicht sogar bedrohlich erlebten Umwelt, Sicherheiten im Sinne von Verständnis und Gemeinschaft bietet. Kultur wird hier nicht nur vermittelt, sondern auch anerkannt, und so entstehen auch alternative Orientierungen, Möglichkeiten sich entgegen dominanter Diskurse zu positionieren. Mit der kulturell-religiösen Vergemeinschaftung und Identitätsentwicklung kann so beispielsweise Gott zum Anlass und Ziel der eigenen Bildungsbestrebungen werden. Je nach Ausrichtung und Selbstverständnis können die lokalen Gemeinschaften eine Polarisierung zwischen gesellschaftlichem und privatem Rückzugsort eher verstärken oder abfedern. Schließlich besteht die Chance, Ausgrenzungserfahrungen im gemeinschaftlichen Kontext anders zu verarbeiten und neues Vertrauen in die Gesellschaft zu fassen. In allen Projekten wird ein individueller Bezug zu einzelnen Akteuren – dem hoca Herrn Karataş, Patenprojektleiterin Semra, Trainerin Sabine, Lernpsychologen Herrn Mai oder der Modedesignerin Ruth hergestellt, und sie werden in den familiären Alltag einbezogen. Die Bedeutung der jeweiligen Initiative wird damit auch eng an das individuelle Engagement, die persönliche Beziehung zu den Hauptakteuren und die von ihnen gesetzten Impulse gekoppelt. In den Erzählungen und Beschreibungen der Familie tritt die Organisation gewissermaßen zugunsten der Einzelpersonen in den Hintergrund, dementsprechend wäre es auch möglich gewesen, anstelle der fünf Gemeinschaftsorte, die fünf Akteure und ihre Bedeutung für die Familie zu beschreiben. Die Überwindung einer anfänglich skeptischen Distanz wird mit diesen Akteuren und der wahrgenommenen biografischen Auswirkung der Projekte begründet. Die Position der Familie kann in Konkurrenz zu anderen Orten und Institutionen konzipiert werden, die ebenfalls Angebote kulturellen Lernens eröffnen. Deutlich wird, dass die Familie darauf bedacht ist, mit den erwähnten Begegnungsorten auch die Kontrolle über sozialisierende Einflüsse der Kinder zu wahren. Das Kuratieren oder Kontrollieren der außerschulischen Lernräume kann so auch als erzieherisches Handeln 67 Dass die Familie diese Initiativen quasi als Mitstreiter benötigt, um ihre Ziele zu verfolgen, deutet wieder die unzureichende Anerkennung migrantischer Realitäten in den Institutionen an, denn es wird den Akteuren überlassen, diese ausgleichenden Formen der Unterstützung in Anspruch zu nehmen.

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gelten, mit dem die Eltern den Familienzielen zuwiderlaufenden außerfamilialen Instanzen möglichst wenig Raum lassen. Bevorzugt werden Orte, die die Familie als „Ermöglichungsräume“ begreift und in denen sich die Biografie in Wechselwirkung entfalten kann (vgl. Karakaşoğlu: 2010: 139). Was weiterhin für jedes der erwähnten Projekte gilt, ist die finanzielle Unsicherheit, die ein Weiterbestehen immer wieder in Frage stellt und die Selbstausbeutung der Akteure notwendig macht. Bis auf das Modelabel sind die Initiativen allein auf öffentliche Gelder angewiesen, der Kulturverein und das Patenschaftsprojekt erhalten zusätzlich Spenden von verschiedenen Sponsoren und bei allen werden Finanzierungsschwierigkeiten thematisiert. Damit deutet sich ein grundlegender Konflikt dieses Bereichs an, in dem einerseits gerade dann erfolgreiche Projekte entstehen, wenn einzelne Akteure sich umfassend für die Entstehung sozialer Netzwerke einsetzen und andererseits prekäre Arbeitsbedingungen ohne langfristige Perspektiven die Regel sind. Diese Situation erscheint insofern kritisch, als in der Stadtforschung gerade Projekte, wie die oben beschriebenen, die an mikrosozialen Netzwerken anknüpfend „informelle Selbstgestaltungskräfte“ und „gegenseitige soziale Unterstützungsformen“ stärken (Gögercin 2006), als einflussreiche Organe der Stadt betrachtet werden. Für die familiären Akteure ermöglichen sie jedenfalls neue Formen der Interaktion und geben Anlass, Handlungsspielräume auszuloten. Das eigene Potenzial wird erforscht und neu bewertet, wenn beispielsweise Maral im Familienhaus als sogenannte „Königin der Handarbeit“68 Kurse anleitet, und so kann auch die individuelle Biografie auf neue Weise Anerkennung finden.

68 Siehe Homepage Familienhaus.

7 Bildung im Kontext von Familie und Migration

Mit den biografischen Narrativen und Beschreibungen des Alltags in der Gegenwart konnte ein Eindruck der prägenden Familienthemen der Imrens über einen längeren Zeitraum hinweg entstehen. Gleichzeitig stellt sich die familiäre Realität als komplexes Gefüge dar, in dem sich die Einzelbiografien nach je eigener Logik und Orientierung vollziehen. Im folgenden Kapitel soll nun fokussiert werden, was anhand der bisherigen Beschreibungen zum Teil bereits angeklungen ist: wenn wir Bildung als Kontext begreifen, welche Konzepte und Konnotationen erscheinen dann im Rahmen der Familie auf ihrer Projektionsfläche? Wie wird Bildung umrissen, und wie sind diese verbalisierten Konstrukte biografisch eingeflochten? Ich beschreibe damit, wie meine Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner den Bildungsbegriff interpretieren und inwiefern ihr Handeln bildungsrelevant ist. Unter dem Punkt „Familiengeschichte als Bildungsanlass“ schließe ich Überlegungen dazu an, inwiefern familiäre Krisen und Transformationen als Bildungsprozesse Geltung beanspruchen können. Es sollen hier auch Ambivalenzen der Familienorientierung hinsichtlich der Bildungsbiografien angedeutet werden, ihre unterstützenden und hemmenden Auswirkungen. Aus den vielfältig verwobenen Handlungen, Orientierungen und Strukturen werden so spezifische Ausschnitte im Spannungsfeld von Familie und Migration beleuchtet.

7.1 BILDUNGSBEDEUTUNGEN Eine entscheidende Frage, die ganz zu Beginn dieses Dissertationsprojekts stand, war jene nach den Bildungskonzepten innerhalb der Familie, deren intergenerationaler Weitergabe und Transformation. Diese scheinbar klare Ausrichtung er-

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weist sich insofern als anspruchsvoll, als ganz weitläufige Denk- und Handlungsmuster zu Bildung gerechnet werden können, sie vielfältig aufeinander bezogen und nicht eindeutig auf spezifische Grundlagen zurückzuführen sind. Ich konzentriere mich im folgenden Abschnitt auf Bildungsbedeutungen, die aus meiner Sicht besonders hervortreten und verknüpfe diese mit ihren biografischen und gesellschaftlichen Rahmungen. Während der Feldforschung ließen sich vielfältige Formen alltäglichen Handelns ausmachen, die ich als bildungsbezogen deutete. Darüber hinaus war der Bildungsbegriff Thema vieler Gespräche, selbstverständlich auch der biografischen Interviews. Wenn ich die variierenden Nuancen und Betonungen herausarbeite, sollte das nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich all diese bildungsbezogenen Ideen und Orientierungen überlagern. Vorweggenommen werden kann schon folgendes: sowohl die zentrale gesellschaftliche Bedeutung des Begriffskomplexes, als auch dessen vielfältige Funktionen bilden sich im Forschungsfeld der Familie ab. Das Bedeutungsspektrum ruft die theoretischen Vorüberlegungen ins Gedächtnis, in denen Bildung trotz oder wegen seiner konzeptuellen Breite als gesellschaftlicher Konsens erschien. Darüber hinaus lassen sich Betonungen und Bezugsweisen beleuchten, die eher als familien- und migrationsspezifisch interpretiert werden können. 7.1.1 Schlüssel zum Aufstieg „Was bedeutet Bildung für mich? Bildung ist eigentlich n Schlüssel in meinem Leben, weil nur gebildet ist man halbwegs in der Lage auch sich durchsetzen zu können, man schafft das doch durch ne gewisse Art und Weise, sich so zu präsentieren, dass man dann auch sozusagen nicht auf der niedrigen Stufe steht, sondern auf der höheren Stufe steht.“ (Interview Fatih)

Die hier ausgewählten Sätze stammen aus dem Interview mit Fatih, der als erster aus seiner Familie einen Studienabschluss erreicht hat und nun als Elektroningenieur arbeitet. Das von ihm kurz zusammengefasste Bildungsverständnis und auch die Metapher des Schlüssels korrespondieren mit einer häufig anzutreffenden Fassung des Begriffs. Bildung gilt hier als Voraussetzung dafür, gesellschaftliche Ziele zu erreichen und sich „durchzusetzen“. Einen Schlüssel könnte ich mir einerseits als Gegenstück zum Schloss darstellen, als etwas, das mir übergeben oder von mir gefunden wurde und nun in meiner Hand liegt. Eine andere Bedeutungsebene erschließt sich, wenn der Schlüssel eher als Code gedacht wird, den es zu dechiffrieren gilt, oder der uns direkt vom Hausbesitzer mitgeteilt wird. Fatih hebt weniger spezifisches Wissen oder Fähigkeiten hervor, sondern eher den als bildungsnah verorteten Habitus, die Art sich zu geben. Er

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spricht vom „sich präsentieren“ und inwiefern Bildung entscheidend ist, um dies auf eine Weise zu tun, die gesellschaftliche Anerkennung und Status nach sich ziehen. In diesem Sinne wird die öffnende Funktion des Begriffs betont, Bildung oder die Selbstdarstellung nach einem als bildungsnah verorteten Code bietet Zugang zu einer höheren gesellschaftlichen Position. Mit Bourdieu können wir die hier angesprochene Kontur von Bildung als kulturelles Kapital verstehen, wobei sich Fatih vor allem auf dessen inkorporierte Form bezieht, wenn von der „Art und Weise sich zu präsentieren“ die Rede ist. Bildung ist in diesem Sinne ein Zustand, der sich in einem Prozess herausgebildet hat, von der Person verinnerlicht wurde und den sie mit ihrem Habitus verkörpert (vgl. Bourdieu 1983: 186ff.). Das Verständnis von Bildung als Schlüssel wird in der Familie Imren vielfältig geäußert und bezieht sich dabei nicht allein auf das inkorporierte Kapital, sondern häufig auch auf das besser greifbare, institutionalisierte Kapital, besonders in Form von Schulabschlüssen. Hier bestätigt sich die in der theoretischen Auseinandersetzung beschriebene und kritisierte Verschmelzung von Bildung und Schule, denn wenn von Bildung die Rede ist, wird das Thema Schule automatisch mitaktiviert. Diese gesellschaftliche Tendenz spiegelt sich im Feld wieder, wenn Bildung und schulische Ausbildung synonym verwendet werden. In dieser Verkettung ist gleichzeitig die Ausrichtung auf einen spezifischen Nutzen eingelassen, denn wenn es um Schulbildung geht, ist in der Familie immer die Wegebnung für berufliche Ziele anvisiert. Diese Richtschnur lässt sich auch am familiären Handeln ablesen, wenn die Schullaufbahn der dritten Generation auf beschriebene Weise tatkräftig unterstützt wird. Allgemein erscheint Bildung hier eher zweckgebunden als notwendige Ressource, um Zugang zu weiteren Ressourcen zu erhalten. Der Gedanke von Bildung als Schlüssel kann also erst einmal die Übernahme einer Wertorientierung des gesellschaftlichen Kontexts bedeuten. Meine Gesprächspartner verbinden mit ihrer Aufstiegs- oder allgemeiner Entwicklungsorientierung die Vorstellung, dass Bildung ein unerlässliches Repertoire darstellt, um diverse Erfolgstüren zu öffnen. Auch wenn sich die Bildungsabschlüsse bislang nicht immer unmittelbar als Schlüssel erweisen, ist das familiäre Engagement für die Schullaufbahnen der dritten Generation ungemindert. Möglicherweise zeigt sich hier auch die Wirksamkeit eines „Integrationsdispositivs“ oder allgemeiner des Bildungsregimes. Teil dieser Logik ist im Umkehrschluss auch die Begründung der gesellschaftlichen Position im Individuum. Das Bild des Schlüssels suggeriert Einfachheit, als könne jede und jeder sich den Schlüssel nehmen und das Tor aufschließen. Dabei bleibt unklar: wieviel Bildung, welche Bildung erweist sich als Schlüssel zu welcher Tür? Ist es möglich, einen

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Schlüssel zu verlieren oder ist es vielmehr so, dass jede Tür nur einmal durchschritten werden kann, sich aber dahinter immer neue Türen auftun? Während die Überzeugung, dass Bildung ein Schlüssel sei, allgemeine Zustimmung findet, sind diese Fragen weniger schnell einhellig beantwortet. Hier bleibt dem Individuum viel Interpretationsspielraum. Ebenso unklar ist die Verantwortung für verschlossen bleibende Türen, trägt sie allein der- oder diejenige ohne oder mit falschem Schlüssel? Wenn sich die Tür nicht öffnen lässt, wird weniger kritisch betrachtet, wer eigentlich über Türen und Schlösser entscheidet, als der eigene Weg zum Schlüssel rekonstruiert, um etwaige Abwege, Fehlentscheidungen zu entdecken. „Und vor allem wenn ich dann Mädchen sehe, die dann studieren und irgendwas machen, dann denk ich- komme ich mir dann auch ein bisschen so vor, als ob ich meine Chance vergeigt habe, dass ich das nicht gemacht habe. Aber ich denke mir schon, dass ich jetzt auf dem richtigen Weg bin.“ (Interview Melek)

Melek hebt ihren eigenen Anteil an der Bildungslaufbahn hervor und auch an späterer Stelle sucht sie die Ursachen für in ihren Augen verpasste Chancen vor allem in der eigenen Leistungsfähigkeit. „Also, manchmal denk ich schon ich, also meine Schwäche war es immer, dass ich wirklich faul war. Also hätt’ ich mir mehr Mühe gegeben, hätt’ ich vielleicht nicht nur Fachabi, sondern Allgemeinabi machen und doch Rechtsanwältin werden können.“ (Interview Melek)

Faulheit könnte auch als Abwesenheit von Motivation beschrieben werden, woran sich die Frage knüpft, weshalb diese zum Teil fehlt. Hier können wir uns eine Reihe unterschiedlicher Bedingungen vorstellen, von der Struktur des schulischen Alltags, den Lerninhalten, fehlenden Erfahrungen von Selbstwirksamkeit, alternativen Orientierungen in der Adoleszenz bis zur Betonung eines antischulischen Habitus im umgebenden Milieu. Diese und weitere Modalitäten wirken sich auf Motivationslagen aus, und so erscheint Faulheit nicht nur als individuelles Defizit, sondern auch als Ausdruck, inwiefern das Individuum den in der Schule gefragten Leistungsmodus für sich als Entfaltungsmöglichkeit sieht, nutzen kann und will. Meleks Ursachenforschung, weshalb es bislang nicht zum anvisierten Studium gekommen ist, endet bei der eigenen Faulheit, ohne dahinterliegende Dimensionen anzuschließen. Diese Betonung der Eigenverantwortlichkeit entspricht einer Auffassung, die trotz kritischer Einwände weiter Bestand hat, nach der Bildungschancen jedem offen stehen und sich das Individuum

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„nur“ entscheiden muss, diese Chancen zu verfolgen, den Schlüssel zu ergreifen. Verfehlte Ziele fallen auf den Einzelnen zurück. So wird die Problematik der Schlüsselmetapher oder innerhalb der Familie der intergenerational vermittelten Bildungsausrichtung deutlich, denn während die erste und zweite Generation noch viel deutlicher auf die Bedingungen verweisen, wenn es um verpasste Bildungsziele ging, erscheint die dritte Generation im Zugzwang. So wird in der Familie immer wieder auf die schwierige Situation im Kontext der Migration hingewiesen, die anderen Umstände im Dorf, die Sprachschwierigkeiten in Deutschland etc. und im Vergleich wird die Lage der Schülerinnen und Schüler in der Gegenwart als deutlich verbessert betrachtet. Wenn Melek im Rückblick auf ihren bisherigen Bildungsweg also die eigene Leistungsfähigkeit in Frage stellt, kann das auch als Ausdruck einer Situation verstanden werden, in der diese Ebene betont und andere Bereiche weniger verhandelt und damit einer Kritik schwerer zugänglich sind. Bildung als Bedingung erfolgreicher gesellschaftlicher Teilhabe erscheint nahezu alternativlos. Zwar äußern einige Familienmitglieder durchaus Zweifel, ob die folgende Generation tatsächlich Chancen auf eine gute Arbeit hat, ob ihr Bildungskapital wirklich umzusetzen sein wird, Bildung bleibt aber quasi unumstößlich mit beruflicher Integration und damit Teilhabe und Potenzial verquickt. Niemand stellt in der Familie in Frage, ob weiter in die Bildung der Folgegeneration investiert werden sollte oder rät zu einer alternativen Ausrichtung. Im Umfeld finden sich schließlich auch jene Erfolgsgeschichten, die als Beispiele für einen intergenerationalen Aufstieg mittels Bildung betrachtet werden. Und aus dem Erfahrungswissen der Familie selbst lässt sich mit Fatih, der hier als Muster des Aufsteigers gilt, gleichsam auf den Bildungsschlüssel verweisen. Das Konzept von Bildung als Schlüssel kann demnach sowohl als Ausdruck des gesellschaftlichen Diskurses, als auch familieninhärente Überzeugung, resultierend aus dem biografischen Reservoir, gewertet werden. Die Aufstiegsorientierung selbst betrachte ich als eines der zentralen Familienthemen, das über einen längeren Zeitraum hinweg in den Biografien deutliche Impulse setzt. Das Ziel des gesellschaftlichen Erfolgs, der Absicherung der familiären Zukunft ist ein Fixstern, auf den sich die Migration richtet. Auch die erste Generation – Ferda und Can – haben bereits mit ihrem Schritt nach Deutschland und den folgenden Arbeitsjahren diese Perspektive im Blick gehabt. Während es ihnen noch an Kapital für die merkliche Anhebung des Status fehlt, richtet sich die zweite Generation deutlicher auf Bildung aus. Nur einige von ihnen können unter den Bedingungen der Migration diese Ziele tatsächlich realisieren. Heute wird Bildung als essenzielle Voraussetzung für die Erfüllung der wichtigen Meilensteine dessen, was wir als normative Biografie fassen können,

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betrachtet – Ausbildung, Arbeit, Heirat, Familiengründung, Immobilienerwerb – alle diese Schritte werden damit in Verbindung gebracht. Der Schritt der Großeltern mit seinen weitreichenden Folgen für die Großfamilie, die Zurückstellung eigener Wünsche in der ersten und zweiten Generation, diese Investitionen sollen sich gelohnt haben und werden von der dritten Generation als Bildungsmotivation benannt. Die Perspektive erscheint im Grunde pragmatisch, gesellschaftliche Erfordernisse werden abgewogen und die notwendigen Schritte unternommen. Die verbundene Zielvorstellung (gute Arbeit, finanzielle Sicherheit) ist in ihrer Allgemeinheit gleichzeitig bescheiden und umkämpft. Spezifisch ist nicht unbedingt das, sondern wie diese Ziele verfolgt werden. Diesen Bereich habe ich ausführlich beschrieben und dabei besonders das Engagement der Mütter hervorgehoben, deren Alltag von den Anforderungen des Bildungssystems mitbestimmt wird und in dem vielfältige kollektive Ressourcen angezapft werden. Bildung wird in diesem Sinne auf vielfältige Weise angestrebt, um Weiterentwicklung, Aufstieg, aber auch Stabilität zu erschließen. 7.1.2 Freiheit und Autonomie oder Bildung als goldener Rettungsring „Bildung gibt mir Freiheit, jegliche Freiheit. Ohne Bildung hast du nur so ’n eingeschränkten Weg [...], aber wenn du gebildet bist, [...] dann bist du reicher. In allem.“ (Interview Elif)

Anschließend an das mit der Metapher des Schlüssels vermittelte Bildungsverständnis wird innerhalb der Familie der Bildungsbegriff eng mit Freiheit verbunden. Diese Interpretation betont ebenfalls die öffnende Seite von Bildung, geht allerdings zum Teil über die Zweckausrichtung hinaus. Sie umfasst nicht nur die erweiterten Möglichkeiten gesellschaftlichen Erfolgs, sondern auch eine innere Transformation. Dahingehend lässt sich auch Elifs Umschreibung als eine alles umfassende Bereicherung deuten. Ähnlich weit fasst Feza Bildung und betont, was für sie an einem Studium mit der Aneignung vielfältigen Wissens und verschiedener Perspektiven erstrebenswert erscheint:„da weiß man vieles, nicht nur eine Seite. [...] studieren ist immer Freiheit. Frei zu sein.“ (Interview Feza). Die Entwicklung eigener Maßstäbe mit Wissen, Freiheit infolge dieser Aneignung, die begriffliche Verknüpfung lädt dazu ein, die Überlegungen Fezas mit den bildungsbürgerlichen Idealen des modernen Deutungsmusters in Bezug zu setzen. Aber kommen wir den familiären Bildungsvorstellungen auf diesem Weg tatsächlich näher? Von der weiter andauernden umfangreichen Konnotation des Bildungskonzepts kann nicht auf eine tatsächliche Einlösung dieser idealisti-

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schen Aufladung geschlossen werden. Zwar scheint das Bildungsideal über die Generationen als orientierend zu wirken, gleichzeitig unterliegt dessen biografische Umsetzung Einschränkungen. Möglicherweise dient gerade die verbale Bekräftigung dieser individuellen und familiären Ausrichtung der Selbstpositionierung. Wenn Bildungsverläufe zum Teil nicht aufgingen wie erhofft, wenn eigene Ziele nicht erreicht wurden, kann so trotzdem ein Bewusstsein für den Wert mit Bildung verbundener Prozesse, eine Überzeugung zu deren Wirksamkeit demonstriert werden. Auf diesem Weg kann sich das Individuum, in diesem Fall Feza, ganz unabhängig von eigenen Bildungstiteln als bildungsorientiert präsentieren. Begriffe wie Bildung und Freiheit sind normativ aufgeladen und wenn Feza diese im Gespräch verwendet, evoziert sie damit kollektive Bedeutungen, an die sich nach wie vor Geschichten von Befreiung, Herauslösung und Entwicklung knüpfen. Bildung verspricht Freiheit und ist gleichzeitig Grund, Unfreiheiten der Gegenwart zu akzeptieren. Problem der geäußerten Begriffe ist deren große Vagheit, sie könnten so vieles bedeuten und erscheinen damit letztendlich nur begrenzt aussagekräftig. Biografische Erfahrungen sind als Quelle eines auf Autonomie gerichteten Bildungsbegriffs möglicherweise aufschlussreicher als die Rückbindung an dessen philosophischen Entstehungskontext und weitere Interpretation. Freiheit, im Sinne eines weiten und selbstbestimmten Möglichkeitsraums, wurde in den Biografien der ersten und zweiten Generation nur begrenzt wahrgenommen. Fezas und Cans Biografien sind durch Arbeit und Entscheidungen geprägt, die auf eine transformierte Zukunft der Familie zulaufen sollten. Das Jetzt ist vor allem der Weg zu einem neuen Kapitel. Auch in der zweiten Generation bleibt diese Ausrichtung zum Teil bestehen, wobei noch deutlicher die Idealvorstellung der Selbstverwirklichung mitschwingt. Einen eigenen Weg zu finden, der über die Absicherung der Familie hinausgeht und individuellen Neigungen entspricht, wird mit Bildung in Verbindung gebracht. So sagt Feza im Gespräch mit mir, Bildung wäre für sie ein „Ausweg“ gewesen, in einer Situation, die sie als perspektivlos beschreibt. „Aber ich hab immer gewusst ‚Ok, jetzt finde ich einen Ausweg. Wenigstens eine Ausbildung zu machen. Oder irgendeiner nimmt meine Hand und zieht mich so raus.‘ Aber es hat nicht geklappt. Wir wussten vielleicht keinen Weg- [...] da gab’s keine Informationen, für unsere Eltern nicht und für uns auch nicht.“ (Interview Feza)

Feza findet in Berlin keinen Zugang zum Bildungssystem oder eine für sie gleichwertige Entwicklungsperspektive, während viele ihrer Verwandten in der Türkei studieren, sieht sie sich in einer Sackgasse. Zwar findet sie Arbeit und

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kann ihre Familie in den folgenden Jahren ernähren, aber trotzdem betrachtet sie ihre Möglichkeiten als begrenzt und sich selbst den Verwerfungen der folgenden Arbeitsjahre mehr oder minder ausgeliefert. In diesem Sinne wird Bildung als Gegenentwurf zum „ausgeliefert sein“ konstruiert, als Versprechen größerer Unabhängigkeit. Das Freiheitsversprechen hält eine Möglichkeit offen, sich gegenüber den Bedingungen des Arbeitsmarkts besser zu wappnen, wenn nicht selbst, dann wenigstens in folgender Generation. Bildung bietet aus diesem Blickwinkel Schutz, indem sie mehr Wahlmöglichkeiten generiert. Wenn es um geschlechtsspezifische Konstellationen geht, wird in der Familie ebenfalls die schützende Funktion von Bildung hervorgehoben. Diesen Aspekt möchte ich anhand der Redensart der „goldenen Armreifen“ etwas näher erläutern. Diese Verwendungsweise bezieht sich auf ein gängiges türkisches Sprichwort „Meslek altın bileziktir“, das als „Beruf ist ein goldener Armreif“ übersetzt werden kann. Goldene Armreifen sind als Teil türkischer Hochzeitstraditionen ein Brautgeschenk bzw. Mitgift, welche die Frau auch nach einer Scheidung mit sich trägt. Der Beruf wird in diesem Sinn als ein Gut verstanden, das die Frau erhält, auf das sie zurückgreifen und über das sie verfügen kann, das als ihr Besitz gilt. „Meslek“ als Beruf zu übersetzen, bildet allerdings nicht ganz adäquat dessen Bedeutung ab, denn eigentlich sind vor allem jene Berufe gemeint, für die der Erwerb theoretischen Wissens Voraussetzung ist (vgl. Neumann 1985: 117). Innerhalb der Familie ist das Sprichwort in seiner Bedeutung erweitert, als goldene Armreifen werden hier diverse bereichernde Errungenschaften einer Frau begriffen. Dazu zählt vor allem auch Bildung, wobei wieder die institutionalisierten Bildungsformen im Vordergrund stehen. Elif erzählt beispielsweise, wie wichtig in der Familie Bildung gewesen sei und dass ihre Mutter immer darauf bestanden habe, dass sie dieses Ziel verfolgten „Sei es auch ein Ausbildungsberuf. Die hat immer gesagt: ‚ne Ausbildung ist n goldener Armreif. Müsst ihr machen.‘“ Das Sprichwort könnte als Hinweis für die Äußerlichkeit von Bildung aufgefasst werden, als hätten die Erfolge nur schmückende Funktion. Dagegen spricht, dass die goldenen Armreifen auch in ihrer materiellen Form, als Tradition nie nur als Schmuck gedacht sind, sie sichern die Frau ab und können so auch als Rettungsreifen interpretiert werden, der vor allem dann notwendig wird, wenn die Ehe sich als Havarie erweist. Als Armreifen werden jene biografischen Schritte gezählt, die gesellschaftlich anerkannt werden, möglichst in Form institutionalisierten Kapitals und als Bedingung einer selbstständigen Existenz gelten.

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„Also es ist denen nicht wichtig, dass wir Geld nach Hause bringen, sondern dass wir erstmal was in der Hand haben. Also wir sagen immer Armreifen. Zum Beispiel ich hab meinen Armreifen, indem ich meinen Führerschein habe, mein Fachabi gemacht habe, [...] sogar dass ich beim Friseur gearbeitet habe [...] ist für uns ein Armreifen. Und wenn ich meine Ausbildung jetzt fertig habe, hab ich noch einen Armreifen. Man sagt das so mit jedem Erfolg kriegt man einen Armreifen. [...] Also für mich ist das auch n Ziel, nicht nur von meinem Mann abhängig zu sein, sondern auch ich selber muss erst mal auf meinen eigenen Füßen stehen und dann heiraten. Nicht dass er dann sagt so ‚Ja, ich habe dich aber ernährt.‘ Sowas will ich- also sowas wollen auch nicht meine Eltern. Die sagen auch immer ‚Mach was, damit du nicht von deinem Mann abhängig bist. Dass wenn mal was ist, Trennung oder so, dass du dann auch in der Lage bist, auf deinen eigenen Füßen zu stehen.‘ So das sind so die Ziele glaub ich.“ (Interview Melek)

Die Vehemenz, mit der diese biografische Ausrichtung weitergegeben wird, ist auch Ergebnis familiärer Erfahrungen. Eigene und im sozialen Umfeld perzipierte Abhängigkeitsverhältnisse werden problematisiert und Bildungskapital als Möglichkeit begriffen, gar nicht erst in diese Lage zu gelangen. Bildung als Freiheit und Vermeidung von Abhängigkeit, Bildung als Schlüssel und gleichzeitig einschließende Erwartungen, Bildung als Versprechen und Grundlage des sich Abfindens mit fehlender Anerkennung. Mit dem Versuch der Ausarbeitung distinkter Bedeutungsebenen verdichten sich die Zweifel gegenüber der Handhabbarkeit des Konstrukts Bildung. Da häufig in der Schwebe bleibt was genau gemeint ist, wenn wir von Bildung sprechen, ist auch schwer bestimmbar, welche Orientierungsebenen entscheidend sind. Bildung erscheint in unterschiedlichen Formen vielfältig nutzbar und gleichzeitig verschleiert diese Unfassbarkeit und Allgegenwart das Zusammenwirken mit hegemonialen Strukturen. So erscheint ein pragmatisches Bildungsverständnis, das Bildung als Bedingung gesellschaftlichen Erfolgs voraussetzt, zunächst recht klar, einhergehend mit institutionalisierten Handlungsschritten und Erwartungen, die sich eng an normativen Vorstellungen einer idealen Biografie ausrichten, im Sinne einer Weiterentwicklung auf zentrale Meilensteine hin. Und doch verlaufen die Biografien trotz dieser Orientierung nicht nach eben diesem Schema, Brüche entstehen, Hindernisse blockieren den Weg und die Einlösung der Bildungsversprechen wird immer wieder aufgeschoben. Ungeachtet aller Schwierigkeiten bleibt dies der ausgeschilderte Weg, der legitime Weg auf den sich zu berufen bereits eine gewisse Sicherheit bringt und der auf diversen Ebenen vor Abstürzen bewahren soll. Bildung erscheint mir in diesem Sinne als absichernd, orientierend, motivierend und begrenzend zugleich.

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Ein Bild, das in der Bearbeitung dieser Fragen entsteht, ist das eines weitverzweigten Netzes von Wegen, die alle mit dem Wegweiser Bildung ausgeschildert sind, und einen Berg empor zu führen scheinen. Nur einige davon führen tatsächlich zum Gipfel, andere enden plötzlich an einer Kluft. Vom Verlassen der Wege wird dringend abgeraten, weil es hier sumpfiges Gelände geben soll und jeder möchte doch eigentlich auch die Aussicht vom Gipfel genießen. Jeder Wanderer scheint eine ganz eigene Vorstellung vom Ziel des Wegs zu haben, die ihn vorwärts treibt – ist es tatsächlich der weite Blick oder eher der trockene Unterschlupf dort oben? Auch führen ja alle Wegweiser in diese Richtung, wäre es akzeptabel umzukehren, sich entgegen der Laufrichtung zu bewegen oder stehen zu bleiben? Die Wanderer starten aus ganz unterschiedlichen Richtungen, einige Wege sind sehr eben, breiten Straßen gleich, andere schlagen sich durchs Gestrüpp. Für diejenigen Wanderer, die seit Generationen dieselbe Strecke nehmen, scheint es zum Teil schwer nachvollziehbar, weshalb andere nicht auch ihren Weg wählen, die Hindernisse jenseits ihrer Spur sind ihnen nicht bewusst. Ihre Füße machen wie von selbst den nächsten Schritt, sie sind gut ausgerüstet und vorbereitet. Oben warten schon alle anderen auf sie. Auf den Karten sind nicht alle Wege abgebildet, manche erscheinen zugänglich und sind dann doch gesperrt, wenn man aus der falschen Richtung kommt. Erst aus der Vogelperspektive wird das Ausmaß dieses Wegelabyrinths deutlich und dass es nicht nur einen Berggipfel gibt, sondern sich dahinter eine ganze Bergkette anschließt. 7.1.3 Das ethisch gute Leben Bislang wurden mit den beschriebenen Bildungsbedeutungen eher jene Formen angesprochen, die gesellschaftlich als Kapital eingeordnet werden und auf unterschiedlichen Ebenen erweiterte Möglichkeitsräume versprechen. Dahinter spannt sich in der Familie ein Bildungskonzept auf, das in weitere Sphären eindringt und weniger auf pragmatische Ziele begrenzt bleibt. In der Vorstellung des Kulturvereins ist bereits ein ganzheitliches Bildungsverständnis angeklungen, und in den Gesprächen mit den Familienmitgliedern wird diese Interpretation ebenfalls immer wieder akzentuiert. Auch hier sind die Begriffe oft vage, es ist von „Mensch sein“ die Rede, davon „logisch zu denken“. Von Bedeutung sind diese Elemente insofern, als dass sie anderen Bildungsformen übergeordnet werden, quasi rahmende Funktion haben. Als exemplarischen Ausgangspunkt kann Marals Selbstbeschreibung „Ich bin gebildet“ herangezogen werden. Maral positioniert sich trotz durchbrochener Schulbildung und fehlendem Schulabschluss so, und es schließt sich die Frage an, worauf sich dieses Postulat gründet. Im Dialog äußert sie die Vorstellung, dass „logisch denken“ eine Bedingung für Bildung

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oder gebildet sein ist, die allerdings weniger mit Wissenserwerb, als einer allgemeinen Haltung gegenüber der Lebenswelt zu tun hat. „Also für mich ist ein Mensch, der nicht logisch denken kann, eh ist nicht gebildet. Es gibt auch viele gebildete Leute, die gar nicht logisch denken, dann sind die für mich gar nicht(I: Und was heißt dann logisch denken?) Ja logisch denken, also ich muss die Menschen erstmal akzeptieren wie die sind, logisch denken. Oder ich muss die Kinder lieben, Tiere lieben, ich muss meine Umwelt lieben, das ist auch logisch denken.“ (Interview Maral)

Logisch denken hat in dieser Verwendungsform weniger mit einer klassischen Logik und nur entfernt mit dem alltagssprachlichen Gebrauch zu tun, der eher auf die Allgemeinverständlichkeit eines Zusammenhangs verweist. Logisches Denken beweist ein Mensch, indem er sein Handeln und Denken an grundlegenden Prinzipien ausrichtet. Für Maral geht logisch zu denken mit einer auf Harmonie ausgerichteten Haltung einher, die verschiedene Lebensformen anerkennt. Liebe wird als ein zentraler Modus dieser Haltung angegeben und damit eine grundlegende Anerkennung, ohne vorweg Bedingungen zu stellen. Unterschiedliche Wertvorstellungen und Überzeugungen, denen das Individuum begegnet, müssen reflexiv eingeordnet und so mit den Grundprinzipien in Einklang gebracht werden. Dieser Prozess verläuft im Austausch mit der Umwelt, aber verlangt vom Individuum eine abwägende Aneignung und nicht fraglose Übernahme. Begründet wird diese Ausrichtung religiös, Gott hat den Menschen Verstand gegeben, und diesen zu nutzen ist Teil der Glaubenspraxis. So verstehe ich in diesem Kontext stehende Episoden, die immer auch den eigenen, reflexiven Anteil an verschiedenen Entwicklungsprozessen betonen. Maral erläutert beispielsweise, dass für sie Glaube und Bildung untrennbar sind, „Glaube heißt ja Bildung, Bildung heißt ja Glaube, also dann gehören die zusammen.“ und begründet das mit einem islamimmanenten Imperativ „unser Glaube sagt ja, du musst erstmal dich bilden. [...] (I: Also du musst nicht nur über den Glauben Bescheid wissen sondern auch-) Ja über das ganze, über alles.“ (Interview Maral). Anschließend erzählt sie, wie sie ihr religiöses Wissen zunächst aus der Koranschule bezog, in die sie die Großeltern schickten. „Also das kam natürlich erst von meinen Großeltern, ich musste damals, weil sie es gesagt haben […]. Es war wie eine Schule, ich musste einfach dahin gehen. Aber im Nachhinein hab ich mir schon Gedanken darüber gemacht. Es gab Sachen, es gab viele falsche Sachen, die sie uns damals beigebracht haben, die gar nicht für mich logisch waren, und im Nachhinein habe ich das selber herausgeforscht und gesehen.“ (Interview Maral)

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Für Maral ist es entscheidend, dass sie sich ihre eigenen Gedanken zu den vermittelten Inhalten macht und im Austausch mit weiteren Quellen eine eigene Position entwickelt, die ihrer Logik entspricht. Diese Haltung wird von ihrer Tochter Melek weiter ausdifferenziert, auch hier liegt die Überzeugung zugrunde, dass die Offenheit eigene Überzeugungen zu hinterfragen, Neues zu lernen, zentraler Teil einer religiösen Praxis sein sollte. „Am Anfang, also natürlich bin ich mit der Religion aufgewachsen, aber ich musste halt einfach zur Moschee und die:: Suren lernen so, aber was für ne richtige Bedeutung das hatte, hab ich damals nicht so verstanden. Und so viel, so viel Wert hatte das damals nicht so für mich, also ich wusste, ich bin Muslima, aber mehr so was da alles dazuge- Das war so, so sind auch viele Jugendliche, wie ich damals war. ‚[...] Ah ich bin Muslimin, das reicht schon.‘ Aber das geht ja nicht so. Man ist ja nicht nur Muslimin vom Sagen oder nur vom Beten oder so, sondern mit den Taten, wie man anderen Menschen gegenüber ist. Und das hab ich früher nicht gewusst. Also, ich dachte, man muss einfach nur sagen ‚El hamdullah, ich bin Moslem‘, fertig. Dann bist du schon ein guter Moslem. Aber ist ja nicht so. Und das versuch ich auch zum Beispiel ist das auch ein Ziel, was ich irgendwie den Kindern vermitteln will [...]. Zum Beispiel waren wir neulich in der Moschee mit so einem Mädchen von unserer Gruppe aus dem B. ((Kinder- und Jugendfreizeiteinrichtung)) und dann hat ein Mann einen Vortrag gehalten, so kurz über den Islam, und dann hat das Mädchen sich irgendwie so voll verweigert zuzuhören, weil sie der Meinung war, dass sie Moslem ist und sie das sowieso schon weiß, und deswegen muss sie nicht zuhören. Und dann dacht ich mir so ‚So ist das aber nicht.‘ […] Das Wissen, was wir haben, ist gerademal so wie ein Tropfen aus dem ganzen, großen Meer, habe ich ihr dann auch gesagt. Ich meinte ‚Du wirst bis zum Ende deines Lebens lernen müssen, nicht nur über den Islam, sondern über die ganze Welt, über alles, über- Also lernen hat nie ein Ende.‘ Das würde ich gerne allen auch so ein bisschen vermitteln.“ (Interview Melek)

Wie in Marals Narrativ unterscheidet auch Melek hier zwischen einer Glaubenspraxis, die eher passiv bleibt, und einer individuellen Auseinandersetzung, die begleitet ist von anhaltendem Fragen. Muslima zu sein ist in diesem Sinne keine Zugehörigkeit, die man wählt oder annimmt und die dann selbstverständlich zu einem gehört, sondern ein Prozess, der die Art zu denken und handeln spiegelt. Dabei hebt Melek zwei Elemente hervor, erstens „Wie man anderen Menschen gegenüber ist“ und zweitens „lernen hat nie ein Ende“. Mit dieser Orientierung erscheint Bildung oder Lernen als Lebensaufgabe, die nie endet und mit der das Individuum in seinen Begegnungen immer wieder neu aufgefordert ist, einen stimmigen Weg zu finden. Zu akzeptieren, dass eigenes Wissen, die eigene Perspektive nur einen kleinen Tropfen bilden und trotzdem tropfenweise das Meer

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zu erforschen, diese Prämisse erschließt sich eigentlich nur, wenn wir uns von einer linearen Zielorientierung lösen. Stattdessen liegt darin eine Grundhaltung, die als Glaubenspraxis aus sich selbst sinnhaft erscheint. Lernen, nicht um mit dem Wissen ein Ziel zu erreichen, sondern weil es als Aufgabe Gottes interpretiert wird. Mit diesen Gedanken und Narrativen erschließt sich eine weitere Facette von Bildung, die sich zwar ganz anders auffächert als beispielsweise das Konzept von Bildung als Armreifen, aber gleichzeitig mit den anderen in Berührung kommt. Dabei können die unterschiedlichen Bedeutungselemente in vielfältiger Beziehung zueinander stehen, in gegenseitiger Konkurrenz, Widerstreit, als schwer miteinander vereinbare Nachbarn oder in wechselseitiger Unterstützung. Diese Vereinbarung muss das Individuum leisten, wobei es sich daran orientieren kann, wie das Verhältnis in seinem Umfeld gedeutet wird. Im Fall der Imrens scheint der Kulturverein hier wichtige Impulse zu geben, die den individuellen Prozess begleiten. Die Ausrichtung auf die Gemeinschaft, das Handeln „anderen Menschen gegenüber“ kann so zu einem weiteren Motor für Bildung, auch im institutionellen Sinn werden. Selbst wenn Lernen in einem ganzheitlichen Sinne interpretiert wird, muss das eigene Handeln auf die gesellschaftlichen Regeln abgestimmt sein. Um Einfluss nehmen zu können, sind dann bestimmte Schritte notwendig. „Mit dem, was ich jetzt habe, kann ich nicht viel bewegen. bin ja noch gerad in der Ausbildung, also ich kann ja jetzt gerad mal gar nichts machen, mit dem was ich habe. Also in dem Bereich bin ich noch nicht so weit. Ich bin erst soweit, wenn ich meine Ausbildung fertig habe, aber nicht mal dann kann ich viel bringen. Dann müsste noch ein nächster Schritt gemacht werden, also Studium, irgendwas, wo ich ’n bisschen mehr machen kann.“ (Interview Melek)

Etwas machen, etwas bewegen verstehe ich hier nicht nur als Möglichkeit im Sinne von eigenem Statusgewinn, einer individuellen Erfolgsgeschichte, sondern auch in Bezug auf den Einflussbereich für die Gemeinschaft, einen erweiterten Wirkungsradius. Deutlicher wird diese Kombination vielleicht mit dem folgenden Zitat von Melek, in dem sie sich weiter auf die Frage bezieht, was Bildung für sie bedeute. „Was es für mich bedeutet, dass ich angesehener werde, wenn ich Bildung habe, dass dann- dass ich, wenn ich was zu sagen habe, dass ich ernst genommen werde und dass nicht jemand sagt ‚Ja du hast ja sowieso keine Ahnung. Du hast ja gerad mal deine Friseurausbildung, und du hast ja sonst nichts.‘ Dass ich dann Vorbild sein kann auch für al-

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le, ob Kind, Jugendlicher, Erwachsener. [...] Gebildet ist jemand, der also natürlich im schulischen Rahmen sich weitergebildet hat, was erreicht hat, sein Studium abgeschlossen hat und alles Diplomingenieur ist und so, aber dazu gehört auch noch, dass er ein Mensch ist also, dass er nicht damit prahlt, sondern auch, auch die, die unter ihm sind, sag ich mal, zu denen trotzdem nett ist, hilfsbereit ist und dass es sich nicht alles um Geld dreht, sondern um etwas zu erreichen in der Gesellschaft, dass er damit der Gesellschaft was bringt. Zum Beispiel wenn er Architekt ist, dass er zum Beispiel für Kinder n Spielplatz baut, dann tut er ja was Gutes. Und nicht nur einfach reichen Leuten Häuser baut und das Geld einkassiert. Also sowas ist ein gebildeter Mensch.“ (Melek Interview)

Sichtbar wird eine klare Ordnung der Bildungsfacetten, die oft nur implizit mitschwingt, aber hier nuanciert auf den Punkt gebracht wird. Allein die Erfüllung institutioneller Bildungsziele ist nicht ausreichend, um als gebildeter Mensch gelten zu können. Sie ist allerdings notwendig, um Gehör zu finden, einen Status zu erlangen, der von anderen anerkannt wird. Eine Friseurausbildung erscheint Melek zu wenig, nichts hat sie in der Hand aus dieser imaginierten Fremdperspektive. Ernst genommen werden, als Vorbild gelten, für diese Positionen ist Bildung notwendig und diese möchte sie erreichen, um andererseits „etwas Gutes zu tun“. Diese Auflage sieht sie eng mit den Bildungserrungenschaften verbunden, der Status verpflichtet zurückzugeben. Geht allerdings ein bildungserfolgreicher Mensch nicht auf gesellschaftliche Bedürfnisse ein, bleibt ganz bei sich und verzehrt die Früchte seines Erfolgs allein, kann er aus diesem Verständnis heraus nicht als vollwertig gebildet anerkannt werden. „Jemand, der zum Beispiel studiert hat, [...] der für andere keinen Nutzen hat, sondern nur für sich und sein Leben sich nur um Geld dreht. Zum Beispiel ein Rechtsanwalt, der keinen Menschen, die wirklich Hilfe brauchen, hilft, sondern nur denen, die viel Geld haben. Das ist dann, ok er hat sich zwar schulisch gebildet, aber nicht gebildet in der Hinsicht, was eigentlich auch Bildung ist, Menschen helfen. Also dieses Zusammenleben ist sehr wichtig, finde ich, und das lernt man ja auch, indem man sich weiterbildet.“ (Melek Interview)

Zusammenleben, sich als Teil einer Gemeinschaft zu begreifen, die auf Solidarität angewiesen ist, diese Erkenntnis ist Voraussetzung um Bildung in ihrem ganzheitlichen Sinn gerecht zu werden. Offen bleibt, wer bewertet, ob wir unsere Erkenntnisse und unsere Position zum Nutzen anderer einsetzen. Kann dies die Gemeinschaft einschätzen oder nur Gott? Die Überzeugung, dass die individuelle Entwicklung auch dem Kollektiven zugutekommen soll, ist nicht allein in einer islamischen Lehre zu finden, sie kann in verschiedene Richtungen religiös

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oder philosophisch begründet werden. Immer geht es darum, die eigenen Errungenschaften auch für ein gemeinsames Wohl einzusetzen, womit wir wieder bei der Frage nach dem Nutzen von Bildung wären. Kann nach diesem Bildungsverständnis auch ein Künstler, der sich einsam zurückzieht und einen Ausdruck für seine Innenwelt sucht, ohne diesen Prozess und dessen Ergebnisse mit anderen zu teilen, als gebildet gelten? Und wie steht es mit einer erfolgreichen Geschäftsfrau, die zwar andere ausbeutet, aber auch viel Geld für soziale Zwecke spendet? Die Konturen eines gebildeten Individuums bleiben auch hier verschwommen und müssen wohl immer wieder neu ausgehandelt und abgewogen werden. Als rahmende Orientierung dient vor allem die Vorstellung von Gemeinschaft, in der ein angemessener Platz gefunden werden muss. „Du bist in allen Grundregeln der Glaubensrichtungen, egal sei es Judentum, Christentum, Islam oder Buddhismus geht es einfach nur um das soziale Miteinander, denke ich. Und wenn du das von dir selber aus machst, mit einem guten Gewissen, dann muss ich nicht in ein Gebetshaus gehen, das kann ich auch so machen. [...] Man muss kein guter Christ sein, nur weil du jeden Sonntag in der Kirche bist. Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun.“ (Interview Cenk)

Das eigene Gewissen als Maßstab, an anderer Stelle wurde auf den Verstand, auf die Notwendigkeit „logisch zu denken“ verwiesen und damit scheint wieder die Idee eines inneren Kompass auf, der den Einzelnen in Bezug auf das „soziale Miteinander“ leitet. Eine spezifische Vorstellung des Kompasses ist aus den Gesprächen nicht abzuleiten, mein Eindruck ist, dass diese innere Instanz als universelles, menschliches Potenzial begriffen wird. Das einheitliche Verhältnis mit dem Gewissen, das Handeln nach diesen Maßstäben ist entscheidend, aber auch der innere Prozess. Ein frommer Mensch im Sinne eines guten Muslims oder allgemein Gläubigen wird so wie ein gebildeter Mensch daran bemessen, wie er sich zur Gemeinschaft verhält – hier zeigt sich die Verschränkung von Bildung und Religion. Der Koran gilt zwar als grundlegende Orientierung, aber dessen Aussagen müssen in Bezug gesetzt und eingeordnet werden, eine Aufgabe, die jedem selbst obliegt, wie Melek mir während der Feldforschung erklärt. Wir sprechen darüber, dass der Klatsch, die Kritik, das Reden über andere eigentlich nicht mit religiösen Werten vereinbar sind. Melek äußert die Auffassung, viele nach außen gläubige Menschen hätten keine Ahnung von der Religion und machten sich auch keine Gedanken darüber. Sie und ihre Schwestern hätten gelernt, sich auf ihre eigene Art mit dem Glauben auseinanderzusetzen, auch nachzufragen und selbst zu suchen. Bildung sei vom Koran gefordert, genauso wie selbst zu denken. Sie meint viele Familien seien ungebildet und begründeten ihr

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Handeln zwar mit der Religion, das sei aber oft nicht richtig. Auf andere herabund sich selbst besser zu sehen, sei ihrer Meinung nach gerade nicht ein vom Koran beschriebenes Verhalten. Bewusstsein, kritisches Hinterfragen, Ausrichtung an der Gemeinschaft – diese Elemente können auch mit dem Begriff einer „vita activa“ verstanden werden. Die Vorstellung eines tätigen Lebens oder einer „vita activa“ wurde auf unterschiedliche Weise gedeutet. Mit Hannah Arendt (1981) wird vor allem das soziale und politische Handeln als Bedingung einer solchen definiert, während Bollenbeck die „kommunikative Leistung“ hervorhebt, das Angewiesensein auf die zwischenmenschlichen Beziehungen. Eindeutig einfügen lassen sich die Deutungsmuster der Familie hier nicht, aber die Idee der „vita activa“ kann als Rahmung eines komplexen Gefüges an Bedeutungselementen dienen, die alle das Verbindende, die soziale Ausrichtung befürworten und sich von einer passiven Lebensweise des sich mittreiben Lassens abgrenzen. Das Leben „über sich ergehen zu lassen“ bildet das Gegenstück zu einer tätigen Biografie. Bildung wird in diesem Verständnis auch als Formung, Modellierung des eigenen Wegs verstanden, und eine Person, die nicht in ihrem Sinne versucht, hier mitzugestalten, kann nicht als gebildet gelten. Gleichzeitig lässt sich die Haltung, wie ein an die Gesellschaft gerichteter innerer Monolog lesen, der wiederkehrende Stereotype abweist und sich dezidiert an zentralen Werten von individuellselbstbestimmter Lebensführung orientiert. Ein solches Bekenntnis erscheint insofern notwendig, als die Negativnarrative zu anderen Deutschen sehr laut und weit verbreitet sind. Möglicherweise betont Melek im folgenden Abschnitt auch deswegen so eindeutig die Gegenposition, anstatt jene alternative Lebensweise anzuerkennen. „Genau, halt der nichts gemacht hat aus seinem Leben und der das einfach nur über sich ergehen lässt. [...] Zum Beispiel eine Frau, die Zuhause sitzt, kocht und Kinder bekommt zehn Stück (lacht) und dann denkt ‚Ja, das ist mein Schicksal.‘ Weil das ist nicht dein Schicksal, das hast du in der Hand. Der Weg steht dir offen, du hast dich für diesen Weg entschieden. Das ist für mich ein ungebildeter Mensch.“ (Interview Melek)

Sich selbst aus seiner Lage zu befreien, kritisch tradiertes Wissen zu hinterfragen, für die Gemeinschaft von Nutzen sein, mit diesen bildungsbezogenen Bedingungen entsteht der Eindruck einer Ethik, die Grundlinien der Moderne aufgreift und diese in religiösen Bezug bringt. Oder werden vielmehr Elemente gegenwärtiger Realität in Einklang gebracht mit religiösen Sinndeutungen? Es erscheint mir unmöglich und vielleicht auch nicht entscheidend, zu klären, welches die ursprüngliche Quelle der hier vermittelten Deutungsmuster ist. Sinnge-

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halte werden je nach Kontext neu zusammengefügt, und es entstehen hybride Muster. Diese in einzelne Teile zu zerlegen, um dann festzustellen, inwiefern sie eine legitime Grundlage besitzen, setzt den Schwerpunkt auf die Frage des rechtmäßigen Besitzes. Wer darf Bildung definieren? Wer darf sich auf sie berufen? Womit kann Bildung begründet, worauf darf sie gerichtet sein? Die Entstehungsgeschichte von Bildung, der beinah heilige Mythos ihrer Geburt – wie Jesus für das Christentum, umfasst Bildung die zentralen Ideen der Moderne. Wie kann Bildung anerkannt werden, wenn dabei nicht die Moderne, sondern der Islam als Grundlage dient, eine Religion, deren Kompatibilität mit Aufklärung und Vernunft, mit zentralen Ideen der Moderne von vielen, die sich als Vertreter eines aufgeklärten Westens betrachten, konstant in Frage gestellt oder verneint wird? Die Handlungs- und Denkweisen der Familie deuten in eine andere Richtung und lassen sich mit den festen Kategorien (modern, aufgeklärt, bildungsorientiert – traditionell, religiös, bildungsfern) nicht greifen. Anstatt nach dem spezifisch Islamischen zu fahnden, das sich möglicherweise hinter der Betonung des Kollektiven verbirgt, möchte ich genau hier ansetzen und die Verbindung in andere Kontexte moderner Gesellschaft nachzeichnen. Springen wir von der Begegnung mit der Familie Imren nach New York, wo die First Lady Michelle Obama im Juni 2016 eine feierliche Rede für die Absolventen des Jahrgangs 2016 am City College von New York gehalten hat. Die graduation als Abschlusszeremonie wird in den USA als wichtiges Ritual begangen. Mit besonderer Robe und Hut ausgestattet, sind die Absolventen deutlich hervorgehoben, und auch die First Lady trägt zu diesem Anlass einen solchen Umhang. Ihre Worte werden immer wieder von Jubel und Applaus unterbrochen, sie adressiert darin gleichermaßen die individuellen Geschichten der Absolventen, als auch die Vorstellung einer nationalen, der amerikanischen Geschichte. Sie hebt die Diversität der Absolventinnen und Absolventen hervor, die an dieser öffentlichen Bildungseinrichtung die Gelegenheit erhielten, miteinander in Austausch zu treten, sich gegenseitig dazu anzustoßen, alte Überzeugungen zu hinterfragen und neue Perspektiven in Betracht zu ziehen (vgl. Obama 2016). In ihrer Rede wird die erfolgreiche Laufbahn der Studentinnen und Studenten, als Errungenschaft gefeiert, als Ergebnis harter Arbeit und Anstrengung, motiviert vom amerikanischen Freiheitsgedanken. Bildung wird hier auch als nationales Konstrukt vereinnahmt und gleichzeitig mit der Aufforderung versehen, etwas an die Nation zurückzugeben. „Our greatness has never, ever come from sitting back and feeling entitled to what we have. It’s never come from folks who climb the ladder of success, or who happen to be born near the top and then pull that ladder up after themselves. No, our greatness has al-

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ways come from people who expect nothing and take nothing for granted – folks who work hard for what they have then reach back and help others after them.“ (Obama 2016)

Michelle Obama zeichnet hier das Bild des idealen amerikanischen Staatsbürgers, als bescheiden und gleichzeitig zielorientiert, als unnachgiebig im Ausschöpfen des eigenen Potenzials und gleichzeitig freigebig zu anderen. Das Wir bezieht sich auf die Nation, die Absolventen werden in diese einbezogen und gleichzeitig als verantwortliche Bürger konstruiert. Mit dem Abschluss der Ausbildung an dieser Schule stehen den Studierenden vielfältige Chancen offen, aber sie werden in der Rede auch eindeutig an Auflagen gebunden, die es zu erfüllen gilt. „I also want to be very clear that with those successes comes a set of obligations – to share the lessons you’ve learned here at this school. The obligation to use the opportunities you’ve had to help others. That means raising your hand when you get a seat in that board meeting and asking the question, well, whose voices aren’t being heard here? What ideas are we missing? It means adding your voice to our national conversation, speaking out for our most cherished values of liberty, opportunity, inclusion, and respect [...]. It means reaching back to help young people who’ve been left out and left behind, helping them prepare for college, helping them pay for college, making sure that great public universities like this one have the funding and support that they need. Because we all know that public universities have always been one of the greatest drivers of our prosperity, lifting countless people into the middle class, creating jobs and wealth all across this nation.“ (Ebd.)

Die plötzlich mitschwingende Strenge der First Lady, nach vorherigem Lob und Zuspruch mutet beinahe mütterlich an, den Kinder wird Liebe versichert und gleich im Anschluss zu Verantwortung gemahnt.1 Aus der Rede spricht die Vorstellung von Bildung als gesellschaftlichem Motor, als treibender Kraft, die Entwicklung, neue Ideen, Fortschritt verheißt. Bildungserwerb wird als gesellschaftliche Aufgabe betrachtet, als Weg auf dem Kreativität, kritisches Denken und Wissen erworben wird, das nur dann wirklich von Nutzen ist, wenn es nicht im Individuum eingeschlossen bleibt, sondern geteilt wird und weiter Impulse setzt. Die Rede ließe sich auf vielfältige Weise weiter deuten und kontextualisieren. Was ich mit dem kurzen Exkurs zeigen möchte, ist allein, wie die in der Familie geäußerten Vorstellungen auf unterschiedliche Weise verknüpft werden können. Bildung wird hier wie dort als individuelle Leistung betrachtet, die auf 1

Am Ende der Rede sagt Obama wörtlich „I love you all“ was mit viel Jubel und Liebesbekundungen des Publikums beantwortet wird.

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Tätigkeit, Aktivität, kritischem Hinterfragen beruht. Gleichzeitig wird der kollektive Bezug mitgedacht und somit der (schwer messbare) Nutzen für die Gemeinschaft. Der Blick auf einen kleinen Ausschnitt des amerikanischen Diskurses verdeutlicht weiterhin, wie glatt sich dieses Bildungsverständnis in hegemoniale Vorstellungen eines selbstverantwortlichen Subjekts einfügen lässt und wie sehr es einer auf ständige Weiterentwicklung fixierten Gesellschaft entspricht. Zwar ist auch der Zweifel, das vernunftgemäße Hinterfragen im beschriebenen Bildungskonzept angelegt und daraus könnten Widerstände gegenüber gesellschaftlichen Bedingungen erwachsen, die hier beschriebenen Vorstellungen von Bildung sind allerdings nicht per se gesellschaftskritisch, erwähnte Maßstäbe eines aktiven Lebens können auch ohne weiteres in kapitalistischen Verhältnissen erfolgreich aufgehen. 7.1.4 Wertekompass als Verbindung dreier Generationen Bildung ist immer eng mit Erziehung verwoben, erstere wird als Prozess nicht allein dem Individuum überlassen, sondern begleitet. Während im erzieherischen Alltagshandeln Schule und damit institutionelle Bildungsverläufe viel Raum einnehmen und Aktivität einfordern, zeigen sich die dahinterliegenden, rahmenden, stützenden Bedeutungsräume erst nach und nach. Wenn wir also das Erziehungshandeln in den Blick nehmen und fragen, welche Grundwerte zur Orientierung dienen, erfahren wir viel über das Bildungsverständnis der Akteure. Bei Familie Imren ist das alle einende Ziel und gleichzeitig die Grundlage des familiären Agierens der Zusammenhalt, wie ein Haus schützt und umschließt er die Familie, und dieser Wert wird auf unterschiedliche Weise von den Bewohnern immer wieder untermauert. Je mehr sich die einzelnen Familienmitglieder auf die gemeinsamen Säulen einigen können, desto stabiler erscheint auch diese zusammenhaltende Behausung. Trotz der weitreichenden Transformationen im lebensweltlichen Kontext erscheinen einige der Säulen relativ konstant, oder werden als konstant beschrieben. Miteinander teilen ist eine solche Säule, die mir in der Interaktion mit der Familie auffällt und auch in den Gesprächen als Voraussetzung für ethisches Handeln und damit Erziehungsziel hervor scheint. Dieser Wert blitzt auch in einer Unterhaltung mit Maral auf, in der wir über die Entwicklung ihres Sohnes Mustafa reden, und sie erzählt, er sei schon immer eher ruhig und hilfsbereit gewesen. Sie berichtet von einer Episode, aufgrund der sie sehr stolz auf ihren Sohn war, Mustafa hatte sich bei einem Fest im Familienhaus besonders aufmerksam verhalten. Es gab bei diesem Fest zu wenig Kuchen, und sie mussten die Stücke genau aufteilen. Dabei wurde ein Junge im Rollstuhl vergessen. Mustafa fiel das auf, und er gab dem Jungen sein Kuchenstück. Diese

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Vignette steht in Marals Erzählung für das ethische Handeln des Sohnes, der Blick für die Anderen und die Gemeinschaft werden hier ausgezeichnet. Wenn ich selbst während der Feldforschung die Familie besuche, erlebe ich diese Haltung am eigenen Leib, immer werden mir selbst zubereitete Speisen und Getränke angeboten und sogar meine Familie wird mit gefüllten Tupperdosen bedacht, die mir mit auf den Heimweg gegeben werden. Gastfreundschaft oder die Zurücknahme des Einzelnen zugunsten der Gemeinschaft zeigt sich aus meiner Sicht auch, wenn Fatih und seine Frau Fatma beim gemeinsamen Grillen im Garten erst die gesamte Großfamilie samt Gästen mit Essen versorgen und sich selbst ganz zum Schluss bedienen. Alltagspraxen wie diese werden in der Familie auch mit dem Begriff des Respekts begründet. Respekt wird dabei vor allem gegenüber der Eltern- und Großelterngeneration erwartet, ein Aspekt, den auch Cenk aus seiner eigenen Erziehung betont. „Was mir vermittelt worden war, also ich denke, das ist aber allgemein auf der ganzen Welt so, lügen das ist ne Sache gewesen, klauen oder stehlen, das ging überhaupt nicht, bei uns in der Familie. Das war eigentlich so das Wertgefühl und vor allen Dingen, was bei uns sehr, sehr wichtig ist, wo ich eigentlich auch noch heute bei den Kindern da drüben so’ n bisschen versuche zu achten, gut bei Marals Kindern gelingt’s mir nicht mehr, die sind jetzt schon zu groß, aber bei Fatihs wenigsten noch, einfach so weißt du, das Alter zu respektieren. Das ist für mich sehr, sehr wichtig. Man sitzt nicht einfach bei uns im Zimmer rum, wenn jetzt jemand reinkommt. Man geht hin und grüßt, so kenn ich das zum Beispiel. Einfach nur zu sagen ‚Hallo‘ wer auch immer reinkommt. Weißt du, wie ich meine? Das sind so Sachen, die waren bei uns also sehr wichtig. Einfach den Respekt vor den Älteren zu haben, immer wieder. Ich glaub das war das, was mir so am meisten im Kopf hängen geblieben ist, klar bestimmt auch noch Millionen andere Sachen, die ich unbewusst gemacht hab, vielleicht weiß ich nicht. Aber das war das, wo meine Eltern immer drauf geachtet haben. Immer Respekt vor dem Alter, egal wer es ist, ob du den kennst oder nicht, das war uns sehr wichtig gewesen.“ (Interview Cenk)

Cenk übernimmt diese Gewichtung von seinen Eltern und versucht sie nicht nur seinem eigenen Sohn, sondern auch den anderen Heranwachsenden im großfamiliären Umfeld weiterzugeben. Seine Frau Elif behält diese Orientierung ebenfalls bei und fasst sie folgendermaßen zusammen: „Respekt vor sich selber, Respekt vor anderen, sich gut benehmen, das Benehmen an sich.“. Fatma betont gleichsam, „dass man zu den Großen Respekt haben sollte und zu den Kleinen liebevoll sein.“. Respekt gegenüber den älteren Generationen lässt sich weiter verstehen als Unterordnung, oder weniger negativ besetzt Würdigung derjeni-

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gen, die Familie bis dahin geprägt und gestaltet haben. Denn weshalb in der Familie ein enger Zusammenhalt herrscht, wird im Fall der Imrens besonders auch an Ferda und ihr Wirken gebunden. Sich ihr und generell den Älteren gegenüber respektvoll zu verhalten, bedeutet, die Harmonie zu wahren und das familiäre Konstrukt nicht zu gefährden. Gleichzeitig sind der beschriebene Respekt, die Höflichkeit, das gute Benehmen Teil eines Habitus, der mit guter Erziehung und Bildung assoziiert wird und mit dem sich gewisse Grenzziehungen abbilden. Auch in der dritten Generation bleiben diese Verhaltensmaßstäbe bestehen, beispielsweise verweist Nuriye auf Respekt als charakteristisches Merkmal in der Erziehung. „Respekt gegenüber uns untereinander und ja dieses höflich sein, wenn zum Beispiel Besuch kommt, dass man dann e:: dem, der gerade, dem Gast halt alles anbietet und sowas wurde uns immer alles weitergegeben und e:: so zum Beispiel, wenn ne ältere Person in einen Raum kommt, dann haben wir auch gelernt, dass wir aufstehen oder so. Und ich merk, dass ja jetzt bei meinen deutschen Freunden, z.B. wenn ich bei denen bin und irgendjemand Älteres kommt rein, dann bin ich immer noch so, dass ich gleich aufstehe oder so gleich begrüß und die sind dann nur so, dass die immer noch liegen bleiben. Das kenn ich nicht so. Da hab ich mich erstmal auch gewundert. Oder so ganz andere Sachen, z.B. wir würden nicht rauchen vor ner älteren Person. Da versucht man eigentlich so Respekt zu erweisen, indem man auch nicht trinkt oder so, neben dem dann. Oder man küsst sich nicht so mit dem Freund vor, vor deinen Eltern oder sowas. Das gibt’s bei uns auch nicht. Sowas wurde uns halt beigebracht.“ (Interview Nuriye)

Respektvolles Verhalten innerhalb der Familie heißt, sich nach den Regeln der Familie zu richten, auch wenn außerhalb andere Regeln herrschen mögen. So wie der Verzicht auf ein weiteres Stück Kuchen ist auch der Verzicht auf cooles, dem Habitus der Gleichaltrigen angepasstes Verhalten der Gemeinschaft zuliebe angesagt. Wenn die Kategorie Respekt hier etwas starr erscheint, sollte dies allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass trotz dieser Orientierung in jeder Generation auch familiäre Interaktionen stattfanden und -finden, die diesen Rahmen durchbrechen und verschieben. Dazu müssen wir uns nur die innerfamiliären Konflikte oder die verschiedenen Formen des familiären Erziehungshandelns in Erinnerung rufen, mit denen Aushandlung, Dialog und Verständnis geschaffen werden. Respekt wird zwar auf konkrete Verhaltensrichtlinien bezogen, gleichzeitig bleibt diese Säule ein Teil des größeren Wertegebäudes und gleichsam verbunden mit anderen Bereichen, die weniger greifbar erscheinen. Fatihs Sohn Cengiz nähert sich der Frage danach, was seinen Eltern für ihn wichtig sei, folgendermaßen an. „Fürsorge? Gutes Benehmen. Die Ethik, also das gute Le-

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ben, das rühmt ((unverständl.)) sich ja, das ist ja so wie verhält man sich, kümmert man sich um andere, das ist ja so- Ethik eben, das gute Leben.“ (Interview Cengiz) Das, was sich bei aller Vagheit immer wieder abzeichnet, ist die auch religiös begründete Ausrichtung auf die eigene Rolle in der Gemeinschaft. Der erzieherische Rahmen wird dabei weniger als Resultat von Aushandlungen beschrieben, in den biografischen Narrativen wird eher dessen Selbstverständlichkeit vermittelt, in Fatihs Worten als „klassische Erziehung“, die sich nicht besonders von anderen Familien unterschieden habe. Der Sicht, dass hier etwas ganz Grundlegendes und in seiner Selbstverständlichkeit beinahe nicht Hinterfrag-bares weitergegeben wird, entspricht der in den Gesprächen verwendete Begriff des „Mensch Seins“. So wie ich das Konzept verstehe, wird es in der Familie mit eben jenen ethischen Maßstäben versehen, die für einen gebildeten und religiösen, also den ethisch guten Menschen gelten. Die Werte gelten als Basis und folglich ist auch das „Mensch Sein“, die Grundlage für alles weitere. Die Haltung zur Gemeinschaft, enthalten in der Idee der Nächstenliebe, ist Voraussetzung um „Mensch zu sein“. Welche konkreten Anforderungen an dieses Konzept gebunden sein können, wird mit Fezas biografischem Narrativ deutlich. Nachdem sie nach vielen schwierigen Arbeitsjahren eine Stelle bei einem sozialen Träger gefunden hatte, die ihr gefiel und für die sie Anerkennung erhielt, hat sie diese Tätigkeit aufgegeben, um ihre demenzkranke Schwiegermutter zuhause zu pflegen, eine Frau mit der sie immer ein sehr konflikthaftes Verhältnis hatte. Wie es zu dieser Entscheidung kam, begründet sie folgendermaßen: „Erstmal das hat mit meinem Innen, also mit meinem Glaube, mit meinem Mensch sein zu tun. Ich hab auch von meinen Eltern also, auch von meinen Großeltern immer was Gutes gekriegt, also Nettes gegenüber anderen Menschen und gegenüber anderen Menschen, die leiden, auch wenn sie zu mir gemein sind. [...] Bei uns ist es so, wir sagen immer ‚Menschen, die leiden, muss man helfen.‘“ (Interview Feza)

Dieses Verständnis habe sie auch an ihre Kinder weitergegeben, erzählt Feza weiter, und damit die Auflage, immer zwischen den eigenen Bedürfnissen und denen der Familie und Umgebung abzuwägen und hier für andere zu sorgen, unabhängig davon, ob die Zuwendungen auf Gegenseitigkeit beruhen. Der Verbleib der Schwiegermutter in der Familie erscheint auch deshalb so unabdingbar, weil nur so der Zusammenhalt gewahrt scheint und der familiären Verantwortung entsprochen wird. Andere Optionen, wie die Unterbringung in einem Heim, werden als nicht vereinbar mit den Bedingungen des „Mensch Seins“ betrachtet. Der im familiären Handeln und eben auch in der Erziehung erkennbare Werte-

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kompass ergänzt somit das Spektrum der Bildungsbedeutungen um weitere Bezugspunkte zu einem keineswegs einheitlichen Gefüge.

7.2 FAMILIENGESCHICHTE ALS BILDUNGSANLASS Familie erscheint in den Narrativen der Imrens als Konstante, die trotz der transformierten Bedingungen des alltäglichen Lebens über die Generationen bedeutsam bleibt. So könnte die Familie beinahe als Festung erscheinen, die allen Widerständen zum Trotz ihren Bewohnern Schutz gewährt, mit ihrem alten Gemäuer unverändert weiter besteht. Diese Vorstellung ist allerdings irreführend, denn die Familie war nie als festes Gefüge unverwüstlich gegen jegliche Angriffe gewappnet. Ob sie nach ihren eigenen Vorstellungen weiter als Familie funktionieren könnte, war unter wechselnden Bedingungen immer wieder in Frage gestellt. Im Folgenden möchte ich also nachvollziehen, wie sich die unterschiedlichen Krisen innerhalb des familiären Raums abgezeichnet haben, wie sie gedeutet und integriert wurden. Dies ist auch der Versuch, die biografischen Erfahrungen in ihrem transformativen Potenzial zu fassen und mit diesem verschobenen Blickwinkel die beschriebenen Bildungskonturen zu erweitern. Die Migration erscheint dabei entscheidend, ruft doch der Schritt nach Berlin ganz neue Fragen, Möglichkeiten und Problemstellungen hervor und ist damit Auslöser für Neuorientierungen. Andererseits können wir davon ausgehen, dass die Familie, auch wenn Can der Arbeitsanwerbung nach Deutschland damals nicht gefolgt, sondern im Dorf geblieben wäre, heute anders dastünde als vor fünfzig Jahren. Dort hätten sich ebenfalls neue Möglichkeiten aufgetan und Chancen eröffnet, die zu überwindenden Grenzziehungen wären dabei jedoch andere gewesen als in Deutschland. Entscheidend sind die einzelnen Geschichten in ihrer Verwobenheit mit den kontextuellen Bedingungen und ihr Zusammenlaufen im Konstrukt der Familie. Mit der Aussicht, diese und damit auch einen weiteren Blick auf Bildung herauszufiltern, beschreibe ich die Momente der Familiengeschichte, in denen bestehende Handlungs- und Denkmuster neu belebt, aber auch bis dahin unbekannte Wege gefunden werden mussten, Situationen, in denen Ziele und Deutungen überdacht wurden und neue Ausrichtung erhielten. 7.2.1 Krisen und Transformationen Krisen können in Bezug auf Bildungsprozesse als Phasen verstanden werden, in denen bisherige Deutungen und Handlungsweisen nicht länger passend erscheinen (vgl. Koller 2012: 16). Die Selbstverständlichkeit und Sicherheit schwinden

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und verlangen nach Innehalten und Neuausrichtung. Diese Momente können Anlass sein, das eigene Verhältnis zum Selbst, zu Anderen und zur Welt zu verändern, ganz grundlegend oder nur minimal. Bei Koller werden diese Transformationsprozesse in Abgrenzung zu Lernprozessen als Bildungsprozesse gefasst. Während beim Lernen der Deutungsrahmen selbst unverändert bleibt, umfasst Bildung eine grundlegende Veränderung und Neuausrichtung (vgl. ebd. 15f.).2 Die Abgrenzung zwischen Lern- und Bildungsprozessen erscheint mir empirisch nicht immer klar nachvollziehbar, nichtsdestotrotz kann der Transformationsbegriff in Hinblick auf Bildungsbiografien fruchtbar sein. Gerade im Kontext der Migration erscheint es vielversprechend, nach Neuausrichtungen zu fragen, denn was bisher orientierend galt, wird neu kontextualisiert, die eigene Position ist verschoben, und diese Situation kann als Krise erlebt werden. Nicht in jedem Fall sind diese Krisen und deren biografische Verarbeitung greifbar, aber wenn Brüche und Veränderungen thematisiert und als Episode der eigenen Entwicklung geteilt werden, können wir sie nachzeichnen. Eine Krise, die in vielen Narrativen aufgegriffen wird und mir als transformatives Element erscheint, hängt mit der Trennung der Familie zusammen. Die geografische Distanz bringt auch emotionale Distanz in die Familie, sie erschwert ein Zusammengehörigkeitsgefühl. Mit der Reunion wird deutlich, dass Familie neu hergestellt werden muss, wobei besonders die älteren Geschwister diese Situation thematisieren. Sowohl die Rolle der Eltern, als auch ihre Entscheidungen sind deutlich in Frage gestellt, und von hier ausgehend lassen sich nun unterschiedliche Neuausrichtungen beschreiben. Die Familienorientierung bleibt auch nach der Krise bestehen, wird aber von da an auf veränderte Weise in Handeln übersetzt. Die erste Generation hatte mit der Migrationsentscheidung den Aufstieg, die verbesserte Lage der Familie im Blick und ordnete die Trennung als Übergangsphase ein, Hauptsache der Einsatz würde sich lohnen, neue Lebensbedingungen und Möglichkeiten schaffen. Mit der familiären Krise werden die unintendierten Folgen dieser Entscheidung ersichtlich, eine innerfamiliäre Distanz, die zu überbrücken von allen Bewegung erfordert. Maral und Elif erzählen, dass sie sich mit ihrer Mutter laut gestritten hätten in dieser Zeit, der Vater schreibt Briefe an seine Töchter, die Krise verlangt von den Einzelnen Akteuren, Wege zu finden, um auf andere Weise zusammenzukommen. Dass die Familie in immer wieder wandelnder Form aneinander festhält, sich neu aufeinander bezieht und ausrichtet, wird von vielfälti2

Diese Unterscheidung findet sich auch bei Marotzki, der Lernen als Wissenswachstum und somit Veränderung innerhalb eines Deutungsrahmens begreift und Bildung dagegen als Veränderung des Deutungsrahmens selbst fasst (vgl. Marotzki 1990: S.32ff.).

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gen Transformationsprozessen begleitet, und so ist vielleicht weniger die Festung sondern eher ein Zelt das passende Bild. Die Zeit nach der Trennung stelle ich mir als Sturm vor, der die Zeltwände anhebt, so dass sie zeitweise nur noch von Ferda gehalten werden, die mit Can in der Mitte steht. Das Zelt flattert in der Luft und während Fatih, der Jüngste, sich weiter an die Eltern drängt, sind die Schwestern wütend und wollen eigentlich weg, was soll dieses Zelt überhaupt sein, es bietet ja doch keinen Schutz, der Regen kommt herein, die Eltern haben den Platz falsch ausgesucht. Erst nach längerem Streit einigt man sich, wie das Zelt neu befestigt werden kann, es wird in verschiedene Richtungen neu gespannt. Einerseits Flexibilität und die Möglichkeit an unterschiedlichen Orten etwas Schützendes, Vertrautes zu haben, andererseits die Notwendigkeit von Stabilität und Verankerung, diese unterschiedlichen Bedingungen und Bedürfnisse formen Familie und ihren Zusammenhalt, der unter immer wieder neuen Bedingungen hergestellt werden muss. Verschobene Ausrichtungen können auf unterschiedlichen Ebenen beschrieben werden, wobei vieles schon in den drei Stationen der Familienbiografien angeklungen ist. Die aufstiegsorientierte Priorisierung von Arbeit und Ausrichtung nach deren Bedingungen wird zunehmend hinterfragt, und es werden Wege gesucht, diese besser mitgestalten zu können. Dazu wird einerseits der Bildungsverlauf der Folgegeneration immer aktiver unterstützt, und die Frage der Verwirklichung eigener Interessen erhält mehr Raum. Der Mitgestaltung der Bedingungen in den außerfamiliären Alltagsräumen Arbeit und Schule sind Grenzen gesetzt, und die erste Generation akzeptiert viele dieser Einschränkungen, immer unter Annahme einer bevorstehenden Rückkehr in die Türkei. In der folgenden Generation verliert diese Option langsam ihre Wirkung, und es werden Möglichkeiten gesucht und ausprobiert, trotz der Grenzziehungen das erneuerte familiäre Ziel des Aufstiegs zu verwirklichen. Sich auf diese einzustellen, bedeutet für die Familie ein Verständnis zu entwickeln, wie Arbeits- und Bildungssystem funktionieren, die Ausrichtung auf Bildung zu übernehmen, sich zu vernetzen und sich auch gegen Widerstände als Teil der eigenen Lebenswelt zu positionieren, nicht länger eine Außenseiterrolle zu akzeptieren. Dass sich die Krise der Familie auch als Bildungsanlass deuten ließe, wird besonders dann schlüssig, wenn wir die Neuanfänge, die Entstehung neuer Kernfamilien anschauen. Mutter zu werden, Vater zu werden, wird als besonderer Wendepunkt beschrieben, mit dem auch Reflexionen der eigenen Deutungsmuster und Suche nach kohärenten Begründungen (im Gegensatz zu selbstverständlicher Fortführung) initialisiert werden. Eltern zu werden wird fast immer als einschneidende Erfahrung begriffen, die Neuverortung notwendig macht (vgl.

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Beck-Gernsheim 1989: 11f.).3 Mit dem Alltag der Imrens habe ich umrissen, dass die Familienbiografie mit ihrer Trennungsgeschichte auf eigene Weise die Erziehungsstile der Eltern formt. So richtet sich das Erziehungs- und Beziehungshandeln nun besonders auf Nähe zwischen Eltern und Kind. „Also ich merke, dass meine Eltern auf jeden Fall uns das geben wollen, was sie nicht hatten. Zum Beispiel mein Vater und meine Mutter, die umarmen uns und küssen uns, auch in dem Alter, obwohl ich schon 24 bin. Mein Vater und meine Mutter, wenn wir schlafen, kommen die und küssen uns oder auch so bei der Begrüßung, so als ob wir kleine Kinder sind, und das haben die nie gesehen. Das weiß ich. Und die geben uns das, was sie nicht hatten. Meine Mutter sagt auch immer ‚Meine Mutter hat mich nie umarmt.‘ Und das machen die.“ (Interview Gülay)

Familie zu sein, wird hier mit neuen Vorstellungen verbunden, Nähe hergestellt durch Kommunikation, liebevolle Fürsorglichkeit. Diese Formen des Familie seins, des Zusammenhalts orientieren sich nur zum Teil an den eigenen Eltern, entwickeln sich aber auch in Abgrenzung zu denen, unter Einbeziehung anderer biografischer und gesellschaftlicher Impulse. Es lässt sich natürlich in Frage stellen, ob diese Modifikationen nicht auch ohne vorhergehende Krise(n) hätten stattfinden können und eine eindeutige Antwort erscheint hier nicht möglich. Aber auch wenn sich Ursache und Folgen nicht exakt festlegen lassen, werden die Krisen innerhalb der biografischen Narrative mit vielfältigen Bewegungen in Verbindung gebracht. Die Familie verändert sich nicht nur mit der Krise, sondern auch im Zuge ihres Anwachsens durch Heiraten und Geburten. Während zu Fezas Mann kein solch enger Kontakt besteht, sind Muhammet und Cenk von Beginn an vom familiären Zusammenhalt der Imrens angetan. Beide haben in ihren eigenen Familien die Trennung der Eltern erlebt, Muhammet sehr früh, Cenk erst später als Jugendlicher, und sie nehmen bei den Imrens eine Atmosphäre war, die ihnen vorher gefehlt hat. Cenk erzählt, dass er sich eigentlich zuerst in Ferda verliebt habe. Er war mit Elif und einigen Freunden unterwegs, und als sie die Freundin abends nach Hause brachten, meinte Ferda „Ihr habt doch bestimmt Hunger, kommt esst was.“ Er fühlte sich umgehend wohl und fand dort etwas, was es nach der Scheidung seiner Eltern so nicht mehr gab. Die Gastfreundschaft und das gute Essen beeindruckten ihn, und er sagt Ferda an diesem Abend, „Wenn du in meinem Alter wärst, würde ich dich heiraten.“ Die beiden jungen Männer 3

So beginnt sich Maral beispielsweise nach der Geburt ihrer Tochter intensiver mit dem Islam zu beschäftigen, weil ihre bisherige religiöse Bildung ihr etwas oberflächlich übernommen erscheint.

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nehmen die Familie also nicht nur als Nebeneffekt ihrer neuen Beziehungen in Kauf, sondern wählen diese auch beabsichtigt als Bezugsraum für die Zukunft aus. Anhand der eigenen Erfahrungen ist ihnen nicht nur das Konfliktpotenzial, sondern auch die Fragilität von Familie bewusst, und an die Entscheidung für dieses Lebensmodell ist eine gewisse Kompromissbereitschaft gekoppelt. So erwähnt Muhammet, dass ihm der familiäre Frieden wichtiger sei, als im Streit das letzte Wort zu behalten. „Bei Kleinigkeiten muss man sich ja nicht immer scheiden. ‚Ok, du hast heute schlechte Laune, ich geh mal raus. Komme nachher‘ [...] Auch wenn sie nicht Recht hat, weißt du, sie hat auch Stress mit Kindern ‚Ok, du hast ja Recht, du hast so viel gemacht, Kinder waren zu laut oder aggressiv zuhause. Komm gehen wir spazieren.‘“ (Interview Muhammet)

In diesem Sinne werden Konflikte als unausweichlicher Bestandteil von Familie akzeptiert, und einen Umgang mit diesen zu finden, als wichtige Voraussetzung für das neu aufgesetzte Ideal des familiären Zusammenhalts verstanden. Dass Familie nicht natürlich gegeben fortbesteht, sondern immer wieder aktiv hergestellt werden muss, greift auch Fatih auf. „Es ist nicht alles selbstverständlich. Es gibt ja Familien, die ja total zerrissen sind, es gibt auch Familien von der zweiten Generation, wo die Kinder total verloren sind. Da spielen auch andere Faktoren, also sind Scheidungen, Verlust der Arbeit oder die Zeit, wo die Eltern nur arbeiten waren und sich nicht um die Kinder gekümmert haben, die Kinder sind dann meistens in die schiefe Bahn geraten, und diese Beispiele gibt’s dann natürlich auch, das gibt’s sehr oft, sehr viel.“ (Interview Fatih)

Sowohl eigene familiäre Krisen, als auch die im städtischen Umfeld wahrgenommenen führen dazu, die Bedingungen und Funktionen von Familie aus anderer Perspektive zu sehen und damit auch neu wertzuschätzen. Eine weitere Rolle spielt der gesellschaftliche Raum, wenn es um die Familienorientierung geht. Die eigene Zugehörigkeit erscheint immer wieder in Frage gestellt, die Identität wird auf das migrantische Anderssein reduziert und zum Teil abgewertet. In dieser Situation kann die Familie als Gegenmodell wahrgenommen werden, als ein Ort, an dem die eigene Zugehörigkeit fraglos akzeptiert ist. Im Konfliktfall kann diese vermutlich auch ins Wanken geraten, aber gleichzeitig erscheinen die Funktionsbedingungen transparenter und die eigenen Möglichkeiten, hier Einfluss zu nehmen, größer als in äußeren Kontexten. Im öffentlichen Raum begegnen die Akteure ständig impliziten und expliziten Grenzziehungen, immer wieder zeigt sich, dass migrantische Identitäten und Realitäten problematisiert und

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stigmatisiert werden. In dieser Situation ist es schlüssig, Familie als Rückzugsraum zu konzipieren, der Sicherheit gewährt und in dem von gegenseitiger Anerkennung und Zusammenhalt ausgegangen wird – auch wenn nicht alle immer einer Meinung sind. „Ich bin nicht nachtragend. Das haben wir zum Beispiel in der Familie auch immer gelernt. Wenn Streit kam, egal was passiert ist, aber abends am Esstisch saßen alle fünf zusammen. Und haben an einem Tisch gegessen. Und das ist das, was ich heute sehr, sehr wichtig finde.“ (Interview Cenk)

7.2.2 Familie als ambivalenter Bildungsraum Die Familiengeschichte erscheint wie eine Collage, die aus größerer Distanz betrachtet ein klares, harmonisches Bild zu ergeben scheint und erst aus der Nähe ihre einzelnen, überlagerten, zerrissenen Elemente, die aus unterschiedlichen Kontexten stammen und sich aufeinander schichten, erkennen lässt. Innerhalb der Familie verknüpfen sich Perspektiven und Erfahrungen von vielfältig positionierten Individuen, die sich alle auf Familie als sinngebenden Rahmen berufen. In Austausch, Weitergabe, Neukombination verschieben und formen sich die familiären Themen und bilden so einen spannungsvollen Raum, den die Akteure auszubalancieren suchen. Eine Lesart von Familie kann sich auf das intergenerationale Weitertragen von Erfahrungen und Handlungsweisen beziehen. Familie bietet in diesem Sinne einen Fundus von Ressourcen, die ihre Mitglieder nutzen können, wobei die Weitergabe an die jüngere Generation in den Vordergrund gestellt wird. In diesen Blickwinkel passt das Muster der autodidaktischen Aneignung in allen drei Generationen, Ferda bringt sich Lesen und Schreiben bei, Maral und Melek durchlaufen unterschiedliche religiöse Lernprozesse, Feza erzählt, dass sie sich mit Zeitung lesen alleine Deutsch beigebracht hat. Die Episode um Ferdas eigenständige Entscheidung zur Alphabetisierung und Umsetzung dieser bleibt eine wiederkehrende Vignette familiären Erzählens und evoziert eine eingängige Vorstellung von Unabhängigkeit und vielleicht auch Grenzüberwindung. „Sie hat ja keine Schule besucht, gar nichts, nur die Koranschule. Aber sie hat sich Lesen und Schreiben selber beigebracht, also sie hat eine Bildung. Sie ist eine gebildete, sie ist eine kluge Frau. Sie war eigentlich diejenige, die die Familie so zusammengehalten hat.“ (Interview Elif)

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Die Episode taucht in unterschiedlichen Gesprächen immer wieder auf und wird als Emblem für ein individuelles und davon ausgehend familiäres Vermögen, im Sinne von Befähigung interpretiert. So vermute ich, dass dieses Handlungsmuster auch in anderen Kontexten orientierend wirkt, beispielsweise wenn es um die Glaubenspraxis und theologische Auseinandersetzung geht. Als orientierende Basis fungieren Erfahrungen und individuelles Agieren in der Familie ebenfalls, wenn spezifische Muster sich verstärken und verfestigen. Eine solche Bewegung habe ich in Bezug auf geschlechtsspezifische Grenzziehungen und Normen mit dem Begriff des „Lernprozesses“ beschrieben. Ferda erscheint in ihrer Rolle als Mutter und später Großmutter sehr aktiv, wird als die Matriarchin, die Familie bestimmend gestaltet, beschrieben. Can überlässt Ferda diesen Gestaltungsraum, er ist zurückhaltend, und seine Töchter beschreiben ihn als einen Einzelgänger, der immer gern unterwegs war, in Parks, Museen, auf der grünen Woche, er liebe die Natur und sei besonders gern in seinem Garten, wo er im Sommer auch übernachtet. Dass Ferda die verantwortliche Rolle im Familienalltag übernimmt, kann für ihre Biografie unterschiedlich ausgelegt werden, sowohl als einschränkend als auch ermöglichend. Innerhalb der Familie wird eher die Interpretation der Mutter und Großmutter als wirkender Kraft betont, mit der Selbstbewusstsein und Stärke assoziiert werden können. So meint Enkelin Özlem „Oma ist die leitende Hand, befiehlt alles.“ und diese Rolle kann nun in den folgenden Generationen auf unterschiedliche Weise orientierend weiterwirken. Der Begriff „Lernprozess“ erscheint nur dann passend, wenn er nicht als lineare Entwicklung im Sinne einer aufsteigenden Kurve gedacht wird, sondern eher als Raum, in dem sich die unterschiedlichen Akteure wie Energiefelder gruppieren. Ferda erscheint auf dieser Karte wie ein energiegeladenes Epizentrum, das andere neue Prozesse in Gang setzt, ohne dass diese vollständig intendiert sind oder beeinflusst werden können. Ihre Enkeltochter Melek formt beispielsweise auf ähnlich selbstständig, gestaltende Weise wie die Großmutter ihren Weg, aber grenzt sich von einigen ihrer Überzeugungen ab. Sie findet es beispielsweise wichtig, dass Jungen und Mädchen in der Familie gleichberechtig sind und problematisiert, dass die Großmutter ihre männlichen Enkel bevorzuge. Damit soll folgendes angedeutet werden: auch wenn sich die normativen Vorstellungen unterscheiden, zum Teil auch widersprechen mögen, kann die aktiv gestaltende Position Ferdas für folgende Generationen einen Maßstab setzen. Eine dritte Lesart der Familie als ambivalentem Bildungsraum kommt auf die Migration als rahmenden Kontext der Familiengeschichte zurück. Die Migrationsentscheidung wird in den biografischen Narrativen immer auf die Familie bezogen und weniger als individuelle Entscheidung beschrieben. Mit dieser Ausrichtung wird das eigene Handeln mit dem Kollektiv begründet, konkret soll die

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eigene Arbeit neue Möglichkeiten für die Familie schaffen. Dieses Motiv bindet die Biografien der drei Generationen eng aneinander, und diese Vorgabe kann als Belastung und auch als Aktivierung erfahren werden, oder vielleicht beides zugleich. Von meinen Gesprächspartnern wird eher die motivierende Seite dieses Verhältnisses beschrieben, so beispielsweise von Melek, als ich sie frage, ob sie das Bewusstsein der elterlichen Ausrichtung auf ihre Generation unter Druck setzt. „Nein, das macht eher das Gegenteil. Dadurch bin ich noch mehr ermutigt, das zu machen, das gibt mir noch mehr Ansporn, sonst würd ich sagen ‚Ach das ist mir doch egal.‘ Würde noch mehr faul rumsitzen und gar nichts machen. Würde mir denken ‚Egal‘ aber das macht mir, also das spornt mich noch mehr an. Ich möchte das für meine Eltern tun, damit auch andere sehen ‚Die Kinder, die Töchter von Muhammet und Maral haben das geschafft.‘ Also, keiner soll über meine Eltern reden. (Lacht) Obwohl meine Eltern sind jetzt nicht so, dass die da darauf hören, was andere sagen.“ (Interview Melek)

Melek sieht also gerade in der Familiengeschichte einen wichtigen Antrieb, sich in der Verfolgung gesetzter Ziele anzustrengen und die Familie in einer Weise zu repräsentieren, die positiv auf sie zurückstrahlt und so auch den Leistungen der Eltern rückwirkend Anerkennung einbringt. Die kollektive Ausrichtung der Biografien in der ersten und zum Teil auch zweiten Generation mündet nach dieser Logik erst dann ein, wenn die folgende Generation ihre neu entstandenen Möglichkeiten erfolgreich umsetzt. Das Arbeiten für eine „bessere Zukunft“ legitimiert sich nicht, bevor sich diese biografisch zeigt und die Familie offiziell angekommen ist. Fatih sieht eine wichtige Verantwortung darin, seinen Kindern zu vermitteln, dass die Großeltern mit Blick auf die familiäre Zukunft die eigenen Bedürfnisse nur sehr begrenzt erfüllen konnten. Die Arbeit der Großeltern für die Familie anzuerkennen, bedeutet aus seiner Sicht, sich der eigenen Privilegien bewusst zu werden und diese zu honorieren. Das Bewusstsein dieser Möglichkeiten wird in der familiären Interaktion immer wieder mit Erzählungen aus der Vergangenheit geschärft, aus denen hervorgeht, dass die vielfältigen Chancen der Gegenwart nicht selbstverständlich sind. Darüber hinaus lässt sich darin, wie Melek ihr eigenes Handeln auf die Eltern ausrichtet, auch der Versuch einer Wiedergutmachung ausmachen, ein weiteres etwas anders gelagertes Motiv für den familienorientierten, erfolgreichen Lebensweg. „Die hatten keine Bildung, darum wollen die, dass wir uns auf jeden Fall bilden, weil sie wissen, dass es uns was bringt. Also, ich werde traurig über das, was ich immer höre. Zum Beispiel mein Vater, also er hatte ja keine Kindheit oder Jugend, weil er musste schon [...]

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als Kind arbeiten und für die Familie sorgen, und wenn ich daran denke werd ich traurig[...] Und darum ist es für mich als ihre Tochter wichtig, dass keiner die jetzt traurig macht. Also ich würde das niemals aushalten, dass jemand die traurig macht und deswegen ist es auch für mich wichtig, dass ich aufpasse, dass ich sie nicht traurig mache mit irgendwelchen Fehlern. Mit, keine Ahnung, mit irgendwas, dass ich irgendeinen Idioten heirate. Ich weiß, dass die traurig wären, obwohl das ist ja mein Leben, ob es mir dann scheiße geht oder wenn ich keine Schule mache und irgendwo sitze. [...] Ok es ist natürlich auch für mich schlecht, aber ich weiß, dass meine Eltern traurig wären. Also ich achte schon mit allem, was ich mache, also ich mache nicht alles nur für mich, sondern auch für meine Familie.“ (Interview Melek)

Melek verbindet die unerfüllten Potenziale in den Geschichten der Eltern mit Traurigkeit, vielleicht auch weil sie dieses Gefühl von Mutter und Vater wahrnimmt und so auszumachen sucht, was es ausgelöst hat. Ihr Anliegen ist es, für eine Wende der familiären Geschichten zu sorgen, die ausgleichend wirkt und sich wie Balsam auf die Verletzungen der Eltern legt. Diese Verantwortung kann sicherlich Motor sein für vielfältige biografische Entwicklungen, gleichzeitig bleibt die Frage, welche Folgen ein Scheitern der gesetzten Ziele in dieser Rahmung hat. Auch den vielbeschworenen Möglichkeiten der dritten Generation sind eigene Grenzen gesetzt, diese geraten ein wenig in den Hintergrund und laufen Gefahr, innerhalb der beschriebenen Logik der wachsenden Chancen negiert zu werden. Den Ausgleich zu finden zwischen einer empathischen Haltung gegenüber den familiären Biografien, der individuellen Verantwortung und selbstbestimmten Zielen, erscheint als Herausforderung und Bildungsaufgabe in sich. Was lässt sich nun abschließend über den familiären Geist festhalten, wie wirkt er sich auf die einzelnen Bildungsbiografien aus? Fatih führt die positive Entwicklung der Familie auf ihr Zusammenhalten zurück. Ohne den Zusammenhalt wäre ihm zufolge die familiäre Situation eine andere, vermutlich schlechtere, so klingt es in der folgenden Passage. „Dieser Zusammenhalt, dass die Familie doch als Ganzes immer so geblieben ist. Also es gab keine Extreme bei uns, ne. Das hat aber auch viel mit der Rolle der Mutter zu tun. Mutter war immer die, die die Zügel in der Hand hatte und die Familie zusammengehalten hat.“ (Interview Fatih)

Auch wenn die Familienmitglieder nicht in jeglicher Hinsicht mit Ferdas „Führungsstil“ einverstanden sind, wird ihr Wirken doch anerkannt und geschätzt. Ferda erscheint als tragender Pfeiler innerhalb eines sich transformierenden Ge-

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füges. Fatihs Antwort auf meine Frage, was genau das Funktionieren als Großfamilie ausmache, lässt sich so verstehen, dass Teil dieses Gefüges zu sein gleichzeitig einen erweiterten Bezugsrahmen und weniger individuellen Spielraum bedeutet. „Ja, was macht das aus? Es stärkt einen, man hat das Gefühl, dass man in der Gemeinschaft mehr erreichen kann, als wenn man alleine wäre. Und man kommt dann auch nicht in Versuchung, irgendwas anders zu machen, sondern man hat auch bestimmte Aufgaben, die man dann auch durchführt, und es wird ja auch ne Aufgabenteilung gemacht irgendwie, und jeder hat dann seine Pflichten und dann geht das auch einfacher. Ist mein Eindruck.“ (Interview Fatih)

Wie die familiäre Rolle und daran geknüpfte Anforderungen sich mit den individuellen Vorstellungen und Wünschen vereinbaren lassen, ist Aufgabe jedes einzelnen und kann unterschiedliches KonfliktPotenzial bergen. So problematisiert Maral beispielsweise die Erwartungen ihrer Mutter, die Tochter solle sie möglichst täglich besuchen, und sucht einen Kompromiss, der beide Seiten zufrieden stellt. Harmonie lässt sich innerhalb des spannungsvollen Gefüges nicht dauerhaft herstellen, die individuellen Positionen müssen immer wieder neu ausgehandelt werden, um die Familie in Balance zu halten. Die Ausrichtung auf die Familie kann nicht nur auf individueller Ebene Kollisionen erzeugen, sie scheint auch nicht ohne weiteres mit gesellschaftlich herrschenden Idealen von Unabhängigkeit und Selbstständigkeit vereinbar. Greifbar werden diese Themen im Alltag, wenn beispielsweise Klassenfahrten und damit einige Tage ohne die vertraute Atmosphäre mit Eltern und Geschwistern, in der Familie als schwierige Erfahrung besprochen werden. Ferda, aber auch einige Mütter und Väter der zweiten Generation, scheinen oft besorgt um das Wohlergehen der Kinder und sind froh, wenn die Kinder im familiären Umfeld bleiben. Sowohl die Trennungserfahrung als auch das Erleben des urbanen Umfelds als risikoreich und potentiell bedrohlich tragen vermutlich zu der eher protektiven Haltung gegenüber den Kindern bei. Ferda reagiert entsetzt, als ihre schon erwachsene Tochter Elif gemeinsam mit Cenk eine Indienreise plant. Und auch als die Enkelin Nuriye für ein Auslandspraktikum alleine nach Irland reist, um dort als einzige Frau in einer Baufirma zu arbeiten, ist sie äußerst besorgt. Unterstützt von den Eltern entscheidet Nuriye sich für diesen Schritt und entspricht damit normativen Vorstellungen von Adoleszenz unter den Bedingungen einer globalisierten Moderne. Ihre jüngere Schwester Gülay dagegen kann sich schlecht vorstellen, weit entfernt von der Familie zu leben.

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„Ich bin halt ein bisschen so ’n Familienmensch, glaub ich, weil ich könnte mir auch nicht vorstellen, außerhalb irgendwie zu studieren. Dann müsste ich alleine irgendwo anders wohnen, ok mit einer Freundin vielleicht, aber das wäre niemals so schön wie es jetzt gerad ist. Darum sag ich immer ‚Nee ich studiere nur in Berlin oder halt höchstens in Potsdam.‘ Dass ich dann jederzeit hierherkommen kann.“ (Interview Gülay)

Beide Schwestern haben vergleichbare Optionen und entscheiden sich aus vielfältigen Gründen unterschiedlich. Hervorzuheben ist meiner Ansicht nach, dass Gülays zu diesem Zeitpunkt geäußerte Präferenz womöglich nur bedingt als selbstbestimmte Entscheidung gesellschaftliche Anerkennung findet. Daran zeigt sich, dass die Familienorientierung, insbesondere wenn sich ihre Konsequenzen im Verzicht auf bestimmte Möglichkeiten zeigen, schwer mit den gängigen Vorstellungen eines modernen, selbstbestimmten Individuums übereinzubringen sind. Während Nuriyes Entschluss ohne weiteres als bildungsorientierte und aufgeschlossene Haltung durchginge, bleibt anzuzweifeln, ob Gülays Handeln ähnliche Attribute erhielte. Auch ihre Tante Fatma kann sich keine Unternehmung, wie die ihrer Nichte vorstellen. Während der Kindheit in Lübeck war sie immer von Geschwistern und Eltern umgeben, und nun lebt sie mit Mann Fatih, den gemeinsamen vier Kindern und den Schwiegereltern zusammen. Ihr Schwager Cenk äußert sich anerkennend gegenüber der von ihr täglich geleisteten Arbeit – „Das ist wie 12h Fabrikarbeit“ – schließt aber unmittelbar an, er sei überzeugt, dass sie diese Rolle gerne ausfülle. Ihre Bescheidenheit und Ausrichtung auf den familiären Raum unterstreicht er, indem er erzählt, dass Elif und Ferda sie nahezu überreden müssten, gemeinsam bummeln zu gehen. „Sie macht es richtig: auf den ganzen Konsum kommt es nicht an.“ kommentiert er diese Episode und stellt so auch die Familienorientierung als eine Art Gegenmodell zur allgegenwärtigen Konsumausrichtung in der Moderne dar. Cenk bietet damit einen alternativen Blickwinkel auf Familie an, indem er Fatmas Lebensmodell andere Unabhängigkeitsgewinne zuordnet. In diesem Sinne sollten die unterschiedlichen familiären Positionen, nicht vorschnell in eine Richtung bewertet werden, auch wenn es darum geht, wie sie Bildungsverläufe formen. Familie wird geprägt durch die vielfältigen hier zusammenlaufenden Erfahrungen der aufeinander bezogenen Individuen. Dieses Beziehungsgefüge in seinem Verhältnis zu Bildung festlegen zu wollen, erscheint angesichts seiner dynamischen Form ein unmögliches Unterfangen. So kann das kollektive Ziel des institutionellen Bildungserfolgs die individuelle Aneignung der Lebenswelt „untergraben“ oder die Mutterrolle Raum bieten, sich neu zu positionieren und bildungsgerichtet zu handeln. Viele Bildungsverläufe werden nur dann sichtbar, wenn wir die biografische Geschichte zurückverfolgen. Suchen wir allerdings

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mit einer fixierten Schablone nach einem normativen Bildungsergebnis, bleiben vielfältige Transformationen außen vor. Das Prozesshafte, die Integration vorheriger Krisen, die Aushandlung im Bezug zu Anderen, zur Lebenswelt macht jedoch gerade die subjektive Verarbeitung und Verwandlung aus und lässt sich nicht allein von ihrem vorläufigen Endpunkt begreifen. Vielleicht ist es an dieser Stelle nicht notwendig zu entscheiden, inwiefern die Familie Bildungsverläufen hemmend oder unterstützend begegnet, sondern Familie als eigenständigen Erfahrungsraum anzuerkennen, als lebendigen Bildungsraum, der Gegenstand der Aushandlung unterschiedlicher Wertvorstellungen ist und immer wieder neu ausgerichtet werden muss.

8 Abschließende Bemerkungen

In den vorangegangenen Kapiteln habe ich die ethnografischen Ergebnisse aus meiner Teilnahme am Alltag der Familie Imren beschrieben und vielfältige Geschichten, Bezüge und Knotenpunkte aus unseren zahlreichen Gesprächen rekonstruiert. Mein Fokus auf das Themenfeld Bildung hat in der Auswahl und Analyse dieser Geschichten die Richtung vorgegeben. Die Narrative der Großfamilie sind dabei in keiner Weise einheitlich, sie führen uns in ihrer Verwobenheit und Multidimensionalität vielmehr vor Augen, dass die Wahrnehmung eben dieser Komplexität bedeutsam und notwendig ist. Eine entscheidende Zielsetzung meiner Untersuchung war es, das Verständnis von Bildungsbedeutungen im Kontext der Migration zu erweitern. Dabei bin ich von einer kritischen Position gegenüber der Konstruktion migrantischer Anderer als „immerwährende Neuankömmlinge“, die ihre Zugehörigkeit auch anhand bildungsbezogener Integrationsleistungen immer wieder zu beweisen haben, ausgegangen. Eine solche Perspektive erscheint ebenso problematisch wie die eher defizitäre Einordnung der migrantischen Familie als Bildungsraum. Von den hier anknüpfenden Erzählungen des dominanten Diskurses galt es Distanz zu halten, um den vielen weniger etablierten Geschichten Raum geben zu können. Mit dem Blick auf drei Orte der familiären Vergangenheit und Gegenwart konnte ich biografische Schlüsselmomente in ihrem jeweiligen Verhältnis zu Bildung rekonstruieren. Hier wurden auch bereits die drei Ebenen der Fragestellung nach Bildungskonzepten, Bildungshandeln und sozialen Bildungsbedingungen angedeutet. Einerseits konnte so ein Eindruck der Familiengeschichte entstehen, andererseits wurde das transformative Potenzial der jeweiligen Lebenssituation ganz unabhängig voneinander deutlich. Im türkischen Dorf erscheint das Bildungshandeln noch weniger auf den institutionellen Rahmen der Schule eingeengt. Sowohl die religiöse Sphäre, als auch die familiäre und kollektive Gemeinschaft sind als Bildungsräume mindestens gleichrangig, wenn nicht wichtiger. Allerdings findet hier zur zweiten Generation hin ein Wandel statt, mit dem

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die schulische Ausbildung an Bedeutung gewinnt, so dass die Bildungsmöglichkeiten in Deutschland als eines der Migrationsmotive relevant werden. Die Migration, welche als aufstiegsorientiertes Handeln gewertet werden kann, das der Familie neue Möglichkeiten der Entwicklung eröffnen soll, hat weitreichenden Einfluss auf die Biografien und setzt vielfältige Dynamiken in Gang, deren individuelle Aneignung gleichermaßen als Bildungsaufgabe gelten kann. Die biografischen Sequenzen im Arbeiterviertel sind für die erste Generation zunächst von den Anforderungen des beruflichen Alltags geprägt, der diese Phase strukturiert. Gleichzeitig bleibt die Ausrichtung der Familie unbestimmt, lange wird die Rückkehrorientierung aufrechterhalten, während sich zaghaft das Netzwerk der Familie im Berliner Umfeld entwickelt. Von besonderer Virulenz zeigt sich im Rahmen der Forschung das Thema der Trennung und die daran geknüpften Transformationen der Familie. Im biografischen Rückblick wird sichtbar, dass diese an die Migration geknüpfte Situation das Familienkonstrukt herausfordert und eine Neuausrichtung notwendig wird. Von einem nahtlosen Übergang und Weiterfunktionieren der Familie kann unter diesen Umständen nicht ausgegangen werden. Da zeitweilige innerfamiliäre Trennungen von Eltern und Kindern im Migrations- und Fluchtkontext häufig vorkommen, ist es wichtig, diese stärker in Forschungen zu berücksichtigen und auch in Zusammenhang mit Bildungsverläufen einzubeziehen. Die Tatsache, dass diese Erfahrung für Kinder und Jugendliche eine markante Verschiebung des Bezugsrahmens und auch Verunsicherung bedeuten kann, sollte in Bildungsräumen einer pluralen von Migration geprägten Gesellschaft Anerkennung finden. Bislang bleiben diese Erfahrungen allerdings noch zu sehr marginalisiert und finden gerade im wichtigen Bezugsraum der Schule zu wenig Anschluss. Viele biografische Erfahrungen der zweiten Generation scheinen in Form von mental methods wieder auf, wenn die dritte Generation und deren Bildungsbiografie unterstützend begleitetet wird. Das erzieherische Handeln und die vermittelten Orientierungen werden in der Gegenwart, dem Alltag im (post)migrantischen Kiez nachvollziehbar. Gerade aus der Drei-GenerationenPerspektive werden spezifische Muster und Entwicklungen deutlich: der zunehmende Wunsch einer beruflichen Aufgabe, die auch eine selbstverwirklichende Ebene involviert, die neu verfasste Priorisierung der Familie seitens der Eltern in der zweiten Generation, die aktive Unterstützung der Bildungsverläufe mithilfe eines vielfältigen Netzwerkes, das Ideal einer möglichst offenen und kommunikativen Beziehung zu den eigenen Kindern und die individuelle Aneignung und Weitergabe religiöser und kultureller Elemente, um nur einige zu rekapitulieren. Das urbane Umfeld des Berliner Kiezes ist für die zweite und dritte Generation Lebensmittelpunkt geworden, gleichzeitig bleibt das Erleben von Marginalisie-

Abschließende Bemerkungen | 251

rung, die Konfrontation mit defizitären Stereotypen und Diskriminierung prägend und entzieht den Familienmitgliedern die Grundlage einer selbstverständlichen Zugehörigkeit. In der Reflexion und resilienten Abwehr dieser Ausgrenzungspraxen erscheint die Familie als kraftvolles Reservoir. Erweitert wird dieser Rückzugsort oder – weniger defensiv ausgedrückt – stärkende Raum durch das Netzwerk des Kulturvereins und die weiteren lokalen Bildungsräume. Hier werden vielfältige Selbstverortungen anerkannt und wertgeschätzt, Vernetzungen und Austausch entstehen, so dass weniger hierarchisch angeordnete Lernprozesse entstehen können. Gemessen an den formalen Bildungsabschlüssen, den Bildungszertifikaten gelingt der Familie Imren über die drei Generationen ein Bildungsaufstieg par excellence. Während Großvater Can nur die Grundschule und Ferda als Mädchen keine Schule besucht, sind in der zweiten Generation alle an weiterführenden Schulen, wobei für einige die Migration hier zu Unterbrechungen und Abbrüchen führt. Nur dem jüngsten Bruder Fatih gelingt es bereits, Abitur zu machen und zu studieren. In der dritten Generation setzt sich das Ziel Abitur durch und im Sommer 2016 haben bereits vier Töchter den Abschluss erreicht, und auch die Jüngeren sind alle auf dem Weg dahin. Allein die Frage nach der erfolgreichen Qualifizierung zu stellen, erscheint mir jedoch als Tunnelblick, der das Spektrum an bildungsrelevanten Faktoren und Prozessen nicht ausreichend berücksichtigt. Entlang formaler Bildungskriterien können Fatma, Maral und Feza nicht als gebildet gelten, sie besitzen keinen Schulabschluss und haben keine berufliche Ausbildung abgeschlossen. Gleichzeitig sind es gerade diese Frauen, die sich in ihrer Mutterrolle unablässig auf diversen Ebenen für die Bildungsverläufe der nächsten Generation einsetzen und großen Anteil an deren Gelingen haben. Sie haben dabei nicht nur diverse Risiken des Bildungsverlaufs im Blick, sondern setzen sich aktiv für die Durchsetzung der familiären Interessen ein, auch entgegen diskriminierender Strukturen. Lern- und Transformationsprozesse außerhalb formaler Kategorien nicht in Bildungsdiskurse einzubeziehen, bedeutet die fehlende Anerkennung dieser individuellen Aneignungsformen und Entwicklungen. Schule erscheint aus (post-)migrantischer Perspektive nach wie vor als Bildungsraum unter erschwerten Bedingungen. So erscheint der Bildungsaufstieg im Alltag als kollektiver Kraftakt, bei dem die Schülerinnen und Schüler beständig ausgleichen müssen, dass sie nicht dem bildungsbürgerlichen, muttersprachlich deutschen Normschüler entsprechen. Ein durch Diversität geprägtes Schulumfeld wie in Neukölln bietet hier insofern Vorteile, als kulturelle Mehrfachzugehörigkeiten nicht als Ausnahme gelten, sondern Normalität sind. Weiterhin haben die beschriebenen außerschulischen Bildungsräume eine wichtige Funk-

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tion, indem sie einerseits praktische Hilfe im Schulalltag leisten, das Lernumfeld erweitern und gleichzeitig Anerkennungsräume für die migrantischen Realitäten und hybriden Zugehörigkeiten bieten. Umso problematischer erscheint es, dass gerade diese Orte und die hier beschäftigen Menschen trotz ihrer einflussreichen Funktion häufig am Rand der Selbstausbeutung agieren, da eine ausreichende und langfristige Finanzierung der Projekte die Ausnahme ist. Unter Einbeziehung dieses Unterstützungssystems gelingt es trotz der vielfältig vorhandenen Risiken im Umfeld (u.a. Demotivation, Delinquenz, Mobbing, Diskriminierung, abweichende Orientierungen der Peergroup), die familiären Bildungsziele aufrechtzuhalten. Wenn wir die Schritte vom türkischen Dorf über das Arbeiterviertel in die Gegenwart des (post-)migrantischen Kiezes mit verfolgen, rückt die Schule immer deutlicher in den Mittelpunkt und strukturiert den Alltag der Familie. Diese Entwicklung ist nicht migrationsspezifisch, allgemein lässt sich in vielen westlich geprägten Gesellschaften eine zunehmend pädagogisierte Kindheit ausmachen. In der Analyse der Bildungskonzepte findet sich ebenfalls die verbreitete Rahmung von Bildung als institutionelle und somit auch zweckorientierte Aufgabe wieder. Auch angesichts der vielfältigen Hürden, die mit dem Schulabschluss keineswegs enden, wird Bildung nach wie vor eine eröffnende Funktion zugestanden. So fasst die in den Gesprächen aufgegriffene Metapher des Schlüssels oder des goldenen Armreifens Bildung als normativen Wert, der zunächst mehr oder minder unhinterfragt scheint. Weniger offenbar sind jene erweiterten Bildungsverständnisse, die sich an Vorstellungen eines ethisch guten Lebens und der Weitergabe zentraler, familiärer Werte anschließen und über die Zweckorientierung hinausgehen. Die Orientierung am gemeinschaftlichen Wohl, die empathische, tolerante Haltung gegenüber anderen, die Bereitschaft mit anderen zu teilen, demütig und respektvoll zu handeln – dies sind einige der Säulen, die als grundlegende Elemente von Bildung betrachtet werden und denen in diesem Sinne auch mehr Bedeutung zukommt, als dem formellen Bildungserfolg. Mit dieser Deutung gelten unterschiedliche biografische Erfahrungen als bildungsbedeutsame Prozesse und können so in eine positive Selbstpositionierung als gebildet einfließen, die gleichsam fehlende Abschlüsse relativiert. Die religiöse Praxis und Auseinandersetzung mit islamischer Lehre erscheint in diesem Kontext als Quelle für jenes eher ganzheitlich orientierte Bildungsverständnis. Familie selbst eröffnet einen Raum, der gerade mit der Migration an komplexen Bildungsanlässen gewinnt. So sind in Anknüpfung an diese umfassende Veränderung Krisen zu überwinden, das Miteinander neu zu formieren. Die hier stattfindenden Lernprozesse wirken intergenerational weiter und reichen so in vielfältige Kontexte hinein. Als Bildungsraum fungiert die Familie in umfassend

Abschließende Bemerkungen | 253

unterstützender Weise, sowohl praktisch, als auch als orientierender Rahmen. Zugleich können die familiären Erwartungen, Rollen und Bindungen einengend, belastend und begrenzend wirken. Insofern beschreibe ich den familiären Raum als ambivalent – bildungsfördernd und -hemmend zugleich. Mit der vorliegenden Forschung konnte die Dichte und Verwobenheit von bildungsbezogenem Handeln und Denken in den Biografien ausgespannt werden. Gleichzeitig bleiben die Ergebnisse in ihrer qualitativen Form auf den spezifischen Rahmen begrenzt und lassen sich nicht ohne weiteres auf andere Familien oder Kontexte übertragen. Insofern erscheint es vielversprechend, die hier entwickelten theoretischen Ideen in anderen Forschungsformaten weiter zu untersuchen. Fragen wir nach den Bedingungen für das Gelingen von Bildungsverläufen, sollte die Komplexität der Faktoren im Migrationskontext berücksichtigt und nicht zuletzt allgemein hinterfragt werden, was eigentlich als Bildung gelten soll und inwieweit dieser Begriff in der Gegenwart sinnvoll weiterwirken kann. Die Frage bleibt an dieser Stelle nach ausgiebiger Auseinandersetzung mit theoretischen und praktischen Formen von Bildung offen. Der Begriff erweist sich einerseits als produktiv, um vielfältig verbundene Praxen und Deutungen zu kategorisieren, aber zugleich bleiben die Schwierigkeiten aufgrund seiner Diffusität, Komplexität und Inkonsistenz bestehen und sind im Erkenntnisprozess hinderlich. Insofern fällt es mir schwer, eindeutig für die wissenschaftliche Weiterverwendung dieses Begriffs zu plädieren, doch bislang hat sich keine überzeugende Alternative durchgesetzt und zeichnet sich auch angesichts der alltagssprachlichen Verbreitung in der Gegenwart nicht ab. Wenn also zunächst mit Bildung weitergedacht und geforscht werden soll, lassen sich aus dem Kontext meiner Arbeit mehrere Modi für die Weiterführung des Begriffs ableiten: erstens sollte die nationalstaatliche Rahmung und Verbindung mit Integration im Kontext der Migration reflektiert und kritisch mit einbezogen werden, da so entscheidende Grenzziehungen sichtbar werden. Zweitens erscheint eine Verwendung des Begriffs nur dann seiner Komplexität gerecht zu werden, wenn sie nicht auf den institutionellen Rahmen begrenzt bleibt, und drittens sollte gegenüber den subjektiven Aneignungsformen dieses Begriffs größtmögliche Offenheit bewahrt bleiben, da so ein neues und inklusives Bildungsverständnis entstehen kann. Gerade in der konzeptuellen Verbindung von Bildung und Anerkennung liegt aus meiner Sicht noch viel Potenzial verborgen, die Vernetzung und Bezogenheit von Lern- und Entfaltungsprozessen theoretisch fassbar und auf die Bedingungen der Migrationsgesellschaft übertragbar zu machen.

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Soziologie Sighard Neckel, Natalia Besedovsky, Moritz Boddenberg, Martina Hasenfratz, Sarah Miriam Pritz, Timo Wiegand

Die Gesellschaft der Nachhaltigkeit Umrisse eines Forschungsprogramms Januar 2018, 150 S., kart. 14,99 € (DE), 978-3-8376-4194-3 E-Book kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-4194-7 EPUB: ISBN 978-3-7328-4194-3

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Soziologie Robert Seyfert, Jonathan Roberge (Hg.)

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Ilker Ataç, Gerda Heck, Sabine Hess, Zeynep Kasli, Philipp Ratfisch, Cavidan Soykan, Bediz Yilmaz (eds.)

movements. Journal for Critical Migration and Border Regime Studies Vol. 3, Issue 2/2017: Turkey’s Changing Migration Regime and its Global and Regional Dynamics 2017, 230 p., pb. 24,99 € (DE), 978-3-8376-3719-9

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