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German Pages 677 Year 2016
Schriften zum Öffentlichen Recht Band 1333
Möglichkeiten und Grenzen der Anfechtbarkeit juristischer (Staats-)Prüfungen
Von
Benjamin Unger
Duncker & Humblot · Berlin
BENJAMIN UNGER
Möglichkeiten und Grenzen der Anfechtbarkeit juristischer (Staats-)Prüfungen
Schriften zum Öffentlichen Recht Band 1333
Möglichkeiten und Grenzen der Anfechtbarkeit juristischer (Staats-)Prüfungen
Von
Benjamin Unger
Duncker & Humblot · Berlin
Die Juristische Fakultät der Universität Passau hat diese Arbeit im Jahr 2015 als Dissertation angenommen.
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Vorwort Die vorliegende Arbeit hat der Juristischen Fakultät der Universität Pas‑ sau im Jahre 2015 als Dissertation vorgelegen. Rechtsprechung und Schrift‑ tum sowie die Nachweise der einschlägigen gesetzlichen Grundlagen befin‑ den sich im Wesentlichen auf dem Stand von Februar 2015. Neue Publika‑ tionen und Gesetzesänderungen sind vor der Drucklegung zum Teil noch bis April 2016 berücksichtigt worden. Die Idee zur Untersuchung der Möglichkeiten und Grenzen der Anfecht‑ barkeit juristischer (Staats‑)Prüfungen entstand in den ersten Jahren meiner auf das Prüfungsrecht spezialisierten anwaltlichen Tätigkeit, die mich bald zu einer Vielzahl von schwierigen Fragen und ungelösten Problemen des (juristischen) Prüfungsrechts führte. Daran, dass ich sie letztlich in der vorliegenden Form umgesetzt habe, hat zunächst meine Ehefrau einen maßgeblichen Anteil. Sie hat mich darin bestärkt, das im Ergebnis umfangreiche Werk trotz meiner insbesondere beruflichen Verpflichtungen in Angriff zu nehmen, und sein Abschluss wäre ohne ihre unermüdliche Unterstützung nicht denkbar gewesen. Zudem hat sie den Inhalt der Arbeit mit ihrem fachlichen Rat in psychologischen Fra‑ gen im Besonderen und durch dankbar aufgenommene kritische Hinweise und Anregungen im Allgemeinen bereichert. Schließlich hat sie die Übellau‑ nigkeit des Verfassers in unproduktiven Phasen stets tapfer ertragen. Ich bin ihr insoweit zu besonderem Dank verpflichtet. Dass die vorliegende Untersuchung letztlich eine Doktorarbeit geworden ist, habe ich meinem Erstbeurteiler und Betreuer Herrn Prof. Dr. MüllerTerpitz zu verdanken. Er hat sich vom ersten Moment an begeistert für das Thema gezeigt und mir ohne Vorbehalte als „Externem“ die Möglichkeit gegeben, mich an der Universität Passau zu promovieren. Dafür, für seine inhaltlichen Anregungen und seine (zeitlichen) Mühen mit der Korrektur der umfangreichen Arbeit möchte ich ihm sehr danken. Ebenso danke ich dem Zweitgutachter Herrn Prof. Dr. Kramer für seine nicht weniger mühevolle Korrektur und seine zahlreichen und nicht selten berechtigten Hinweise in formaler Hinsicht, die in der Erstellung der Druckfassung noch berücksich‑ tigt worden sind. Die Erstellung der Arbeit in ihrer vorliegenden Form und innerhalb des – unter Berücksichtigung meiner beruflichen Verpflichtungen letztlich noch überschaubaren – zeitlichen Rahmens wäre ohne die Möglichkeiten der
6 Vorwort
Recherche in digitalen Datenbanken über das Internet und im www mithil‑ fe von google nicht möglich gewesen. Durch sie ist mir nicht nur mancher Gang in die Bibliothek erspart geblieben. Vor allem konnte ich mir auch im Ausland, wenn ich im „Arbeitsurlaub“ an der Dissertation gearbeitet habe, die erforderlichen Informationen, insbesondere Rechtsprechung und wissen‑ schaftliche Publikationen, verschaffen. Diesem Umstand ist es zu verdan‑ ken, dass die Arbeit in wesentlichen Teilen im Ausland, insbesondere in meiner zweiten Heimat Griechenland, entstanden ist. Trotz aller technischen Erleichterungen war die Anfertigung der Disserta‑ tion neben meiner selbstständigen anwaltlichen Tätigkeit eine große Heraus‑ forderung, die nicht selten an die Substanz ging. Für Zuspruch in besonders schweren Phasen danke ich auch meiner Mut‑ ter. Grüßen möchte ich mit dieser Arbeit Herrn Richter am Oberlandesgericht Hamburg, Dr. Michael Labe, Leiter der juristischen Prüfungsämter, der mich bei der Anfechtung der Ergebnisse meiner ersten juristischen Staats‑ prüfung unterstützt und mich darin bestärkt hat, meinen Weg weiter zu gehen. Ich widme die Dissertation meinem viel zu früh verstorbenen Vater, der dieses Werk sicherlich mit Stolz in den Händen gehalten hätte, weil er festgestellt hätte, dass sein kritischer Geist, den ich ihm zu verdanken habe, darin weiterlebt. Ich verbinde mit ihr die Hoffnung, dass sich meine Mühen gelohnt haben. Ich wünsche mir, einen wertvollen Beitrag zur Fortentwicklung des Prü‑ fungsrechts geleistet zu haben, der mittelfristig zu einer Verbesserung der Rechtsstellung des Prüflings führt. Barnten, im April 2016
Benjamin Unger
Inhaltsübersicht Kapitel 1 Einleitung
21
Kapitel 2
Gang der Untersuchung
28
Kapitel 3
Verfassungsrechtliche Determinanten
31
A. Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 B. Art. 3 Abs. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 C. Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 D. Art. 20 Abs. 3 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 Kapitel 4
Rechtsgrundlagen des deutschen Juristenausbildungs- und Prüfungsrechts
56
A. Einleitung und Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 B. Durch den Untersuchungsgegenstand begrenzte Einzelbetrachtung der Rechtsgrundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 I. Zwischenprüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 II. Schwerpunktbereichsprüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 III. Staatliche Pflichtfachprüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 IV. Das Verhältnis der Schwerpunktbereichsprüfung zur staatlichen Pflicht‑ fachprüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 V. Die Zweite juristische Staatsprüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115
8 Inhaltsübersicht Kapitel 5
Mögliche Angriffsgegenstände im Rahmen einer Prüfungsanfechtung und vorprozessuale Rechtsschutzmöglichkeiten des Prüflings im Überblick
122
A. Mögliche Angriffsgegenstände im Rahmen einer Prüfungsanfechtung . . . . 122 B. Vorprozessuale Rechtsschutzmöglichkeiten des Prüflings . . . . . . . . . . . . . . 125 Kapitel 6
Möglichkeiten und Grenzen der (gerichtlichen) Kontrolle der Prüfungsentscheidung
139
A. Verfahrens- und Bewertungsfehler und deren Abgrenzung im Überblick . . . 139 B. Die (nachträgliche) Geltendmachung von Verfahrensfehlern und deren Kompensation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 I. Voraussetzungen des Anspruchs auf die Neuerbringung einer fehlerhaft ermittelten Prüfungsleistung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 II. Inhalt des Anspruchs bzw. Art und Weise der Kompensation . . . . . . . . 211 C. Die Erhebung formeller und materieller Bewertungsrügen und ihre (poten‑ tielle) Erheblichkeit als Rechtsfehler im Bewertungsvorgang . . . . . . . . . . . . 222 I. Der Ablauf des Bewertungsvorgangs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 II. Die Anerkennung eines Bewertungsspielraums als Konsequenz der Eigentümlichkeiten des Bewertungsvorgangs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 III. (Verbleibende) Möglichkeiten und Grenzen der (gerichtlichen) Kon trolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280 Kapitel 7 Das verwaltungsinterne Kontrollverfahren (Überdenkungsverfahren)
421
A. Einleitung und Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 421 B. (Defizitäre) Gesetzliche Regelung des verwaltungsinternen Kontrollverfah‑ rens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 425 C. Voraussetzungen für die Einleitung und Durchführung des Überdenkungs‑ verfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 429 I. Das Recht des Prüflings auf Akteneinsicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 429 II. Der Anspruch des Prüflings auf eine Begründung der Leistungsbewer‑ tung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 451 III. Voraussetzungen für die Einleitung des Überdenkungsverfahrens . . . . . 496 IV. Die Einleitung und Durchführung des Widerspruchs- / Überdenkungs‑ verfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 526
Inhaltsübersicht9 Kapitel 8
Verwaltungsprozessuale Rechtsschutzmöglichkeiten
559
A. Gegenstand und Voraussetzungen der gerichtlichen Überprüfung . . . . . . . . 559 I. (Ursprünglicher) Klage- und Streitgegenstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 559 II. Prozessuale Konsequenzen und Grundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 567 B. Erneuter Eintritt in das Überdenkungsverfahren? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 572 I. Prüferbeteiligung gegen den Willen des Prüflings? . . . . . . . . . . . . . . . . 572 II. Anspruch des Prüflings auf (erneute) Prüferbeteiligung? . . . . . . . . . . . . 576 C. Gerichtliches Rechtsschutzinstrumentarium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 598 I. Hauptsacheverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 598 II. Vorläufiger Rechtsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 617 D. Gerichtlicher Entscheidungsfindungsprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 636 I. Allgemeine Grundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 636 II. Die Feststellung von Bewertungsfehlern im Besonderen . . . . . . . . . . . 639 E. Möglichkeiten der Prozessbeendigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 645 I. Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 646 II. Gerichtlicher Entscheidungsrahmen bei einer Prozessbeendigung durch Urteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 646 III. Prozessvergleich und möglicher Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 651 IV. (Bindungs‑)Wirkung von Urteil und Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 651 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 658 Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 669
Inhaltsverzeichnis Kapitel 1 Einleitung
21
Kapitel 2
Gang der Untersuchung
28
Kapitel 3
Verfassungsrechtliche Determinanten
31
A. Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 B. Art. 3 Abs. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 C. Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 D. Art. 20 Abs. 3 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 Kapitel 4
Rechtsgrundlagen des deutschen Juristenausbildungs- und Prüfungsrechts
56
A. Einleitung und Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 B. Durch den Untersuchungsgegenstand begrenzte Einzelbetrachtung der Rechtsgrundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 I. Zwischenprüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 1. (Formell‑)Gesetzliche Vorgaben für die Ausgestaltung der Zwischen‑ prüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 a) Inhalt der formell-gesetzlichen Regelungen . . . . . . . . . . . . . . . . 63 b) Verfassungsrechtliche Bewertung nach Maßgabe der Wesentlich‑ keitstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 c) Notwendige Erstreckung des Einheitlichkeitsgebots auf die Zwi‑ schenprüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 2. Grundzüge der Zwischenprüfungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 3. (Verfassungs‑) Rechtliche Bewertung (der Ausgestaltung) der Zwi‑ schenprüfungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 II. Schwerpunktbereichsprüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 1. (Formell‑)Gesetzliche Ausgestaltungsvorgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . 79
12 Inhaltsverzeichnis a) Inhalt und Umfang der formell-gesetzlichen Direktiven . . . . . . . 79 b) Verfassungsrechtliche Bewertung unter dem Blickwinkel der Wesentlichkeitstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 2. Grundzüge der Schwerpunktbereichsausbildung und -prüfung . . . . 86 3. Abschließende Bewertung der Ausgestaltung der Schwerpunktbe‑ reichsprüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 a) Erfüllung des bundesgesetzlichen Regelungsauftrags und Wah‑ rung des Einheitlichkeitsgebots . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 b) Verfassungsrechtliche Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 aa) Prüfungsanforderungen und Bestehensregelungen . . . . . . . . 93 bb) Rechtsschutzmöglichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 III. Staatliche Pflichtfachprüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 1. Bundesgesetzliche Vorgaben für die Ausgestaltung der staatlichen Pflichtfachprüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 2. Die weitere Ausgestaltung der staatlichen Pflichtfachprüfung in den Bundesländern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 a) Formell-gesetzliche und / oder verordnungsrechtliche Konkretisie‑ rungen der Rahmenvorgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 b) Verfassungsrechtliche Bewertung unter dem Gesichtspunkt der Wesentlichkeitslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 c) Wesentliche Grundzüge der staatlichen Pflichtfachprüfung . . . . 107 3. Abschließende Bewertung der Ausgestaltung der staatlichen Pflicht‑ fachprüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 a) Wahrung des Einheitlichkeitsgebots des § 5 Abs. 1 Satz 2 DRiG . 111 b) Verfassungsrechtliche Bewertung der Ausgestaltung der staat lichen Pflichtfachprüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 IV. Das Verhältnis der Schwerpunktbereichsprüfung zur staatlichen Pflicht‑ fachprüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 V. Die Zweite juristische Staatsprüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 1. Bundesgesetzliche Vorgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 2. Die weitere Ausgestaltung der Zweiten juristischen Staatsprüfung in den Bundesländern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 3. Bewertung der Ausgestaltung der Zweiten juristischen Staatsprü‑ fung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 a) Wahrung des Einheitlichkeitsgebots des § 5d Abs. 1 Satz 2 DRiG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 b) Verfassungsrechtliche Bewertung der Ausgestaltung der Zweiten juristischen Staatsprüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121
Inhaltsverzeichnis13 Kapitel 5
Mögliche Angriffsgegenstände im Rahmen einer Prüfungsanfechtung und vorprozessuale Rechtsschutzmöglichkeiten des Prüflings im Überblick
122
A. Mögliche Angriffsgegenstände im Rahmen einer Prüfungsanfechtung . . . . 122 B. Vorprozessuale Rechtsschutzmöglichkeiten des Prüflings . . . . . . . . . . . . . . 125 Kapitel 6
Möglichkeiten und Grenzen der (gerichtlichen) K ontrolle der Prüfungsentscheidung
139
A. Verfahrens- und Bewertungsfehler und deren Abgrenzung im Überblick . . . 139 B. Die (nachträgliche) Geltendmachung von Verfahrensfehlern und deren Kompensation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 I. Voraussetzungen des Anspruchs auf die Neuerbringung einer fehlerhaft ermittelten Prüfungsleistung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 1. Vorliegen eines (wesentlichen) Verfahrensmangels . . . . . . . . . . . . . . 149 a) Mögliche Faktoren der Leistungsbeeinträchtigung im Überblick . 149 aa) Äußere Störungen des Prüfungsablaufs . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 bb) Innere Störfaktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 cc) Sonderfall Prüfungsstoffüberschreitung . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 b) Erheblichkeit des Verfahrensmangels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 aa) Dogmatische Grundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 bb) Notwendige Maßstabskonkretisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 (1) Innere Bedingungen der Leistungserbringung . . . . . . . . . 154 (2) Äußere Bedingungen der Leistungserbringung . . . . . . . . 157 2. Rüge- bzw. Anzeigeobliegenheit des Prüflings . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 a) (Verfassungsrechtliche) Grundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 aa) Rechtsdogmatische Verortung bzw. verfassungsrechtliche Ableitung und Rechtfertigung der potentiellen Rüge- bzw. Anzeigeobliegenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 bb) Fallgruppenabhängige Obliegenheit des Prüflings . . . . . . . . . 168 b) Zeitpunkt der Rüge bzw. Anzeige des Verfahrensmangels . . . . . 182 aa) Grundsatz: Obliegenheit zur unverzüglichen Geltendmachung . 183 bb) Vorbehalt der Zumutbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 cc) Fallgruppenabhängige Konkretisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 (1) Äußere Störungen und Prüfungsverfahrensfehler im en‑ geren Sinne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 (2) Prüfungsunfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 c) Notwendigkeit einer gesetzlichen Regelung der Rüge- bzw. An‑ zeigeobliegenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197
14 Inhaltsverzeichnis 3. Unterbliebene Abstellung oder unzureichende Kompensation des Verfahrensfehlers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 4. Gesetzliche Ausschlussfristen / Obliegenheit zur rücktrittsähnlichen Erklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 5. Hinweispflichten des Prüfungsamtes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 II. Inhalt des Anspruchs bzw. Art und Weise der Kompensation . . . . . . . . 211 1. Rechtsfolgen einer Rücktritts- oder äquivalenten Erklärung . . . . . . 211 2. Rechtsfolgen der Geltendmachung sonstiger Verfahrensmängel . . . 217 C. Die Erhebung formeller und materieller Bewertungsrügen und ihre (poten‑ tielle) Erheblichkeit als Rechtsfehler im Bewertungsvorgang . . . . . . . . . . . . 222 I. Der Ablauf des Bewertungsvorgangs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 1. Der äußere Vorgang der Leistungsbewertung bzw. das formelle Be‑ wertungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 2. Der innere Vorgang der Leistungsbewertung bzw. das materielle Be‑ wertungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 a) Die Ermittlung der relevanten Beurteilungsgrundlage . . . . . . . . . 228 b) Der eigentliche Vorgang der Leistungsbewertung . . . . . . . . . . . . 242 II. Die Anerkennung eines Bewertungsspielraums als Konsequenz der Eigentümlichkeiten des Bewertungsvorgangs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 1. Die verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung zum Beurteilungsspiel‑ raum des Prüfers vor dem 17.04.1991 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 2. Die Ersetzung des „Beurteilungsspielraums“ durch einen auf „prü‑ fungsspezifische Wertungen“ beschränkten „Bewertungsspielraum“ durch das BVerfG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 3. Die Aufnahme der Entscheidung des BVerfG in Rechtsprechung und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 4. Der heutige Meinungsstand zum Bewertungsspielraum . . . . . . . . . . 259 5. Der Bewertungsspielraum des Prüfers im Lichte der aktuellen, all‑ gemeinen Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 a) Der unstreitige Gewährleistungsgehalt von Art 19 Abs. 4 Satz 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 b) Die Diskussion um die einschlägigen grundrechtlichen Legitima‑ tionsmaßstäbe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 aa) Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG als Legitimationsanker . . . . . . . . . 266 bb) Die materiellen Freiheitsgrundrechte als maßgebliche Richt‑ schnur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 c) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268 aa) Grundrechtliche Standortbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268 bb) Hinreichende Rechtmäßigkeitskontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 cc) Anforderungen an eine und Grenzen der Kontrolle einer rechtsverletzenden Unzweckmäßigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 (1) Unzweckmäßigkeit als Rechtsverletzung und mögliche Rechtskontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272
Inhaltsverzeichnis15 (2) Ablehnung einer gerichtlichen Eigenbewertung als Form der Zweckmäßigkeitskontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 dd) Kompensation des gerichtlichen Rechtsschutzdefizits durch verwaltungsinterne Kontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278 ee) Der Bewertungsspielraum des Prüfers im Lichte des Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 d) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280 III. (Verbleibende) Möglichkeiten und Grenzen der (gerichtlichen) Kontrolle . 280 1. Voraussetzungen für die Eröffnung des Bewertungsspielraums . . . . 283 a) Verfahrensfehlerfrei ermittelte Prüfungsleistung . . . . . . . . . . . . . 284 b) Eignung der Prüfungsaufgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 aa) Eignung der Prüfungsaufgabe im engeren Sinne . . . . . . . . . . 285 (1) Bewertungsspielraum des Prüfers bzw. des Prüfungs amtes bei der Auswahl der Prüfungsaufgabe? . . . . . . . . 285 (2) Gesetzliche Vorgaben für Art und Inhalt der Prüfungs‑ aufgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 bb) Problem der Vorbefassung der Prüflinge mit der Prüfungsauf‑ gabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304 c) Vollständige und zutreffende Feststellung der Beurteilungsgrund‑ lage / „Sachverhaltsirrtum“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306 2. Bisherige Grenzen des Bewertungsspielraums . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 a) Einleitung und Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 b) Anzuwendendes Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 c) Verletzung „allgemein gültiger Bewertungsgrundsätze“ . . . . . . . 316 aa) Einleitung und Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316 bb) Entwicklung und gegenwärtiger Stand der Rechtsprechung . 317 (1) Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichtes . . . . . 318 (2) Instanzgerichtliche Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . 324 cc) Eigene Bewertung der Rechtsprechungsleistung . . . . . . . . . . 329 dd) Die Konkretisierungs- und Konturierungsbemühungen in der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 ee) Zusammenfassung der bisherigen Erkenntnisse . . . . . . . . . . . 334 3. Einordnung der „Bewertungsgrundsätze“ und des bisherigen Kon trollansatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335 4. Das Modell der rationalen Abwägungskontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . 341 a) Einführung durch das Bundesverfassungsgericht . . . . . . . . . . . . . 342 b) Entwicklung und gegenwärtiger Stand der Diskussion in der Ver‑ waltungsrechtsdogmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 346 c) Das universelle Abwägungskontrollmodell Riehms . . . . . . . . . . . 350 aa) Die einzelnen Kontrollparameter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 350 bb) Weitgehende Korrespondenz mit den Kontrollparametern der Abwägungsfehlerlehre im (Bau‑)Planungsrecht . . . . . . . . . . . 352
16 Inhaltsverzeichnis d) (Potentielle) Geeignetheit der Abwägungsfehlerlehre / rationalen Abwägungskontrolle zur Kontrolle der Abwägungsentscheidung des Prüfers? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 354 aa) Verneinung der Übertragbarkeit der Abwägungsfehlerlehre durch das BVerwG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355 bb) Eigene Ansicht: Eignung als Kontrollmaßstab aufgrund pa ralleler Entscheidungsstrukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 356 e) Die den Kontrollparametern der Abwägungsfehlerlehre entspre‑ chenden materiell-rechtlichen Bindungen im Prüfungsrecht . . . . 357 aa) Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357 bb) Normative Anbindung des Abwägungsgebots . . . . . . . . . . . . 359 cc) Abwägungsausfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 362 dd) Abwägungsdefizit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363 ee) Abwägungsfehleinschätzung / -disproportionalität . . . . . . . . . 366 ff) Zusammenfassung und Erweiterung der rationalen Abwä‑ gungskontrolle im engeren Sinne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 370 (1) Das Gebot der rationalen Abwägung . . . . . . . . . . . . . . . 370 (2) Das Gebot der Sachlichkeit als (weiterer) Abwägungs‑ falsifikationsmaßstab . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 371 f) (Weitere) Übertragung des rationalen Abwägungskontroll modells . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373 aa) Die den Abwägungsrahmen bildenden Abwägungsdirektiven . 374 (1) Das Gebot der zweckgerichteten Korrektur / Verbot der Anstellung sachfremder Erwägungen . . . . . . . . . . . . . . . 374 (2) Das Gebot der Respektierung des Antwortspielraums des Prüflings in Fachfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377 (3) Das Gleichbewertungsgebot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 402 bb) Das Gebot der rationalen Abwägung / „Sachlichkeitsgebot“ . 403 5. Erheblichkeit von Abwägungsfehlern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 409 a) Einleitung und Grundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 410 b) Generelle Erheblichkeit von Mängeln im Abwägungsvorgang im engeren Sinne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 411 c) Erheblichkeit von Fehlern bei der Zusammenstellung des Abwä‑ gungsmaterials . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 411 aa) Die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichtes . . . . . . 412 bb) Bewertung der Rechtsprechung des Bundesverwaltungs gerichtes und eigener Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 414 (1) Der dogmatische Ausgangspunkt der Kausalitätsprüfung . 414 (2) Die vom BVerwG benannten Ausnahmefälle mangelnder Kausalität des (Abwägungs‑)Fehlers . . . . . . . . . . . . . . . 415
Inhaltsverzeichnis17 Kapitel 7 Das verwaltungsinterne Kontrollverfahren (Überdenkungsverfahren)
421
A. Einleitung und Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 421 B. (Defizitäre) Gesetzliche Regelung des verwaltungsinternen Kontrollverfah‑ rens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 425 C. Voraussetzungen für die Einleitung und Durchführung des Überdenkungs‑ verfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 429 I. Das Recht des Prüflings auf Akteneinsicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 429 1. Einleitung und Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 429 2. Rechtsgrundlage(n) des Anspruchs und Verhältnis der Regelungen zueinander . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 430 3. Art und Umfang der Gewährleistung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 435 a) Anspruchsvoraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 436 b) Zeitpunkt des Entstehens und Erlöschens des Akteneinsichtsrech‑ tes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 437 c) Gegenstand der Akteneinsicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 440 d) Modalitäten und Ort der Einsichtnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 443 II. Der Anspruch des Prüflings auf eine Begründung der Leistungsbewer‑ tung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 451 1. Einleitung und Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 451 2. Rechtsgrundlagen und Anspruchsvoraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . 453 a) (Obligatorische) Begründung der Bewertung schriftlicher Prü‑ fungsleistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 453 b) Der fakultative Begründungsanspruch bei mündlichen Prüfungen . 454 aa) Erfordernis eines (spezifizierten) Begründungsverlangens des Prüflings . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 456 bb) Faktische und normative Befristungen des Begründung anspruchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 459 cc) Hinweispflichten des Prüfungsamtes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 462 3. Form, Inhalt und Umfang der Begründung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 463 a) Form der Bewertungsbegründung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 464 b) Allgemeine Erfordernisse an Inhalt und Umfang der Bewertungs‑ begründung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 465 aa) Mitteilung der leitenden Gründe (§ 108 Abs. 1 Satz 2 VwGO analog) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 465 bb) Äquivalenter Anspruchsinhalt nach der Rechtsprechung des BVerwG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 468 cc) Verfassungsrechtliche Determinanten . . . . . . . . . . . . . . . . . . 470 dd) Konkretisierung der Ursprungsbegründung . . . . . . . . . . . . . . 471 ee) (Teilweise) Nachreichung der tragenden Begründungserwä‑ gungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 474
18 Inhaltsverzeichnis c) Realisierung des Begründungsanspruchs im konkreten Einzelfall . 482 aa) Die Offenlegung des fachspezifischen Bewertungsmaßstabs . 483 bb) Die Plausibilisierung der Abwägungsentscheidung . . . . . . . . 485 4. Anforderungen an die Begründung des Zweitvotanten . . . . . . . . . . 491 III. Voraussetzungen für die Einleitung des Überdenkungsverfahrens . . . . . 496 1. Erfordernis der Geltendmachung substantiierter Einwände . . . . . . . . 496 a) Einleitung und Begriffsklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 496 b) (Unterbliebene) Gesetzliche Regelung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 498 c) Verfassungsrechtliche Bewertung (der Substantiierungsobliegen‑ heit) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 500 d) (Konkreter) Inhalt der Substantiierungsobliegenheit . . . . . . . . . . 509 aa) Das Substantiierungserfordernis in der Rechtsprechung des BVerwG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 509 bb) Das Substantiierungserfordernis in der instanzgerichtlichen Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 511 cc) Die Interpretation des Substantiierungserfordernisses in der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 512 dd) Bewertung und eigener Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 512 e) Zielrichtung der Einwendungen und erforderliche Präzisierungen . 517 aa) Allgemeine Grenzen des Darlegungsmaßes . . . . . . . . . . . . . 517 bb) Verfahrensfehler und Missachtung von Abwägungsdirek tiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 519 cc) Prüfungsspezifische Wertungen bzw. Gewichtungen und Ab‑ wägungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 520 2. (Zusätzliches) Erfordernis der Schlüssigkeit der Einwendungen? . . . 522 a) Der Meinungsstand in der (instanzgerichtlichen) Rechtsprechung . 522 b) Die Rechtsmeinungen in der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 524 c) Gesetzliche Normierung des Schlüssigkeitserfordernisses . . . . . 524 d) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 525 IV. Die Einleitung und Durchführung des Widerspruchs- / Überdenkungs‑ verfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 526 1. (Organisations‑)Aufgaben und (Kontroll‑)Befugnisse des Prüfungs‑ amtes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 526 2. Befassungs- und Bescheidungspflicht des Prüfers . . . . . . . . . . . . . . 536 3. Umfang und Grenzen der Überprüfungskompetenz des Prüfers . . . 542 4. Umfang und Grenzen der Neubewertungs- / Abänderungsbefugnis des Prüfers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 545 5. Abschluss des Überdenkungs- / Widerspruchsverfahrens . . . . . . . . . . 554
Inhaltsverzeichnis19 Kapitel 8
Verwaltungsprozessuale Rechtsschutzmöglichkeiten
559
A. Gegenstand und Voraussetzungen der gerichtlichen Überprüfung . . . . . . . . 559 I. (Ursprünglicher) Klage- und Streitgegenstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 559 1. Der Streitgegenstand im Allgemeinen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 559 2. Der Kontrollgegenstand bei Bewertungsrügen . . . . . . . . . . . . . . . . . 563 3. Veränderungen des Streitgegenstandes im gerichtlichen Verfahren . . 565 II. Prozessuale Konsequenzen und Grundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 567 1. Substantiierungsobliegenheit / Amtsermittlungsgrundsatz . . . . . . . . . . 567 2. Weitergehende prozessuale Handlungslasten des Prüflings . . . . . . . . 571 B. Erneuter Eintritt in das Überdenkungsverfahren? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 572 I. Prüferbeteiligung gegen den Willen des Prüflings? . . . . . . . . . . . . . . . . 572 II. Anspruch des Prüflings auf (erneute) Prüferbeteiligung? . . . . . . . . . . . . 576 1. (Fehlende) Einfach-rechtliche Regelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 577 a) Die Rechtslage in Bayern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 577 b) Die Rechtslage in den übrigen Bundesländern . . . . . . . . . . . . . . 578 2. Differenzierung wesentlicher Fallgruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 579 a) Verantwortlichkeit des Prüfungsamtes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 579 aa) Neubewertung der Prüfungsleistung mit erstmaliger Begrün‑ dung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 579 bb) Unterbliebene Durchführung des Überdenkungsverfahrens . 580 cc) Ungenügende Durchführung des Überdenkungsverfahrens . 581 b) Verantwortlichkeit des Prüflings . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 584 aa) Die Rechtsprechung der Instanzgerichte . . . . . . . . . . . . . . . . 584 bb) Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes . . . . . 586 cc) Die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichtes . . . . . 586 dd) Die Rechtsstandpunkte im Schrifttum . . . . . . . . . . . . . . . . . . 589 ee) Eigene Auffassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 590 C. Gerichtliches Rechtsschutzinstrumentarium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 598 I. Hauptsacheverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 598 1. Die prinzipiell statthafte Klageart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 598 2. Prozessuale Überholung des Klagebegehrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . 603 a) Fortbestehendes Rechtsschutzbedürfnis bei bestandener Wieder‑ holungsprüfung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 603 aa) Erledigung des Verpflichtungs- / Leistungsbegehrens . . . . . . 604 bb) Erledigung auch des Anfechtungsbegehrens . . . . . . . . . . . . . 607 cc) Umstellung des Klagebegehrens auf eine Fortsetzungsfest‑ stellungsklage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 610 b) Prozessuale Handlungslasten bei vollständiger Erledigung . . . . 613 II. Vorläufiger Rechtsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 617 1. Die vorläufigen Rechtsschutzbegehren im Überblick . . . . . . . . . . . . 617
20 Inhaltsverzeichnis 2. Vorläufige Durchsetzung der Neben- und Hilfsansprüche . . . . . . . . 618 a) Einordnung des Begehrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 619 b) § 44a Satz 1 VwGO als Durchsetzungshindernis? . . . . . . . . . . . . 620 c) Anspruchsvoraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 625 3. Vorläufige Durchsetzung des materiell-rechtlichen Hauptanspruchs . 627 a) Allgemeine Einordnung und Bewertung des Begehrens . . . . . . . 627 b) Vorläufige Zulassung zur mündlichen Prüfung . . . . . . . . . . . . . . 630 c) Vorläufige Neuerbringung von Prüfungsleistungen . . . . . . . . . . . 633 d) Vorläufige Neubewertung von Prüfungsleistungen . . . . . . . . . . . 633 D. Gerichtlicher Entscheidungsfindungsprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 636 I. Allgemeine Grundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 636 1. Amtsaufklärungspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 636 2. Beweislastverteilung und Beweisgrundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 636 II. Die Feststellung von Bewertungsfehlern im Besonderen . . . . . . . . . . . 639 1. Sachverhaltsermittlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 639 2. Beweiserhebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 641 3. Sachverhalts- und Beweiswürdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 644 4. Grenzen der Kausalitätsprüfung eines festgestellten Bewertungsfeh‑ lers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 644 E. Möglichkeiten der Prozessbeendigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 645 I. Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 646 II. Gerichtlicher Entscheidungsrahmen bei einer Prozessbeendigung durch Urteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 646 1. Bindung des Gerichtes an das Klagebegehren im Allgemeinen . . . 646 2. Prozessuale Bindungswirkung eines Notenverbesserungsbegehrens im Besonderen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 647 3. Abarbeitung des Klagebegehrens und möglicher Urteilsinhalt . . . . 650 III. Prozessvergleich und möglicher Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 651 IV. (Bindungs‑)Wirkung von Urteil und Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 651 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 658 Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 669
Kapitel 1
Einleitung Die vorliegende Untersuchung widmet sich ausweislich ihres Titels – Möglichkeiten und Grenzen der Anfechtbarkeit juristischer (Staats‑)Prüfun gen – einem prüfungsrechtlichen Thema und damit einem Rechtsgebiet, das aufgrund der anfänglich und viele Jahre unterbliebenen Normierung des Prüfungswesens1 noch als „jung“ bezeichnet werden kann, lange Zeit durch die – in der Praxis ohnehin allein maßstabsbildende – Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichtes geprägt war, erst spät in den wissenschaftlichen Fokus geraten ist2 und schließlich erst durch eine vom Bundesverfassungs‑ gericht erzwungene Rechtsprechungsänderung und die sich daran anschlie‑ ßende Entwicklung zu einer ernst zu nehmenden und mittlerweile ernst genommenen Rechtsdisziplin geworden ist3. Ohne bereits an dieser Stelle allzu sehr zu den Details der Materie vor‑ dringen zu wollen, so soll doch wenigstens kurz darauf hingewiesen werden, dass bis zu der viel beachteten4 Entscheidung des Bundesverfassungsgerich‑ tes vom 17.04.19915 die Chancen des Prüflings, erfolgreich die Bewertun‑ insoweit Lampe, S. 25. insoweit die grundlegenden Untersuchungen von Hummel, Gerichtsschutz gegen Prüfungsbewertungen; Pietzcker, Verfassungsrechtliche Anforderungen an die Ausgestaltung staatlicher Prüfungen; Guhl, Prüfungen im Rechtsstaat; Becker, Prü‑ fungsrecht. 3 Als Beleg dafür sei hier nur einerseits auf das mittlerweile in 6. Auflage er‑ schienene Standardwerk „Prüfungsrecht“ von Niehues/Fischer/Jeremias sowie die noch umfangreicheren Werke von Zimmerling/Brehm, „Der Prüfungsprozess“ und „Prüfungsrecht“ verwiesen und andererseits auf die zunehmende Zahl der Rechtsan‑ wälte, die sich auf dieses Rechtsgebiet spezialisiert haben, sowie die Fülle der mitt‑ lerweile vorliegenden Gerichtsentscheidungen (siehe für das juristische Prüfungs‑ recht die Darstellung bei Zimmerling/Brehm, Prüfungsrecht, Rn. 718 m. Fn. 1908, sowie die über 3000 Treffer bei einer juris-Recherche mit den Suchworten „Prüfung“ und „juristisches Staatsexamen“). Siehe zur Anerkennung des Prüfungsrechts als eigenständiges Rechtsgebiet auch Ibler, S. 359, mit ähnlichen Erwägungen. 4 Den Inhalt dieser Entscheidung referierend etwa Rozek, NVwZ 1992, 343 f.; v. Mutius/Sperlich, DÖV 1993, 45 f.; siehe im Weiteren etwa auch die Besprechun‑ gen von Becker, NVwZ 1993, 1129 ff.; Seebass, NVwZ 1992, 609 ff.; Niehues, NJW 1991, 3001 ff.; siehe zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes und ihrer Aufnahme in der Literatur auch Zimmerling/Brehm, Der Prüfungsprozess, Rn. 62 f. 5 BVerfGE 84, 34 ff. 1 Vgl.
2 Siehe
22
Kap. 1: Einleitung
gen seiner Leistungen im Ersten und Zweiten juristischen Staatsexamen im Wege einer Prüfungsanfechtung anzugreifen, äußerst gering waren. Dies hatte seinen Grund einerseits darin, dass nach der bis dahin vorherrschenden Rechtsauffassung Prüfungsentscheidungen nur in einem sehr geringen Um‑ fang gerichtlich überprüfbar waren. So sollte die gerichtliche Überprüfungs‑ kompetenz – ähnlich wie bei Ermessensentscheidungen der Behörden (siehe § 114 VwGO6) – darauf beschränkt sein, ob der Prüfer von falschen Tatsa‑ chen ausgegangen ist, allgemein gültige Bewertungsgrundsätze nicht beach‑ tet hat oder sich von sachfremden Erwägungen hat leiten lassen7. Der ge‑ richtlichen Überprüfung entzogen war damit insbesondere die Überprüfung der Frage, ob die von einem Prüfling in einer schriftlichen (Hausarbeit, Klausur) oder mündlichen Prüfung gegebene Antwort respektive der auf‑ grund einer bestimmten, vertretenen Rechtsauffassung eingeschlagene Lö‑ sungsweg richtig oder falsch bzw. zumindest vertretbar ist8. Diese Einschät‑ zung sollte allein den Prüfern aufgrund des ihnen zustehenden „Beurtei‑ lungsspielraums“ vorbehalten sein9, was in der Konsequenz eine weitgehen‑ de10 „Freiheit zum Irrtum“11 in fachlich-wissenschaftlichen Fragen für die Prüfer bedeutete. Überdies stand dem Prüfling – gewissermaßen korrespondierend mit der aufgrund des weit reichenden Beurteilungsspielraums nur stark einge‑ schränkten (gerichtlichen) Überprüfungsmöglichkeit in materieller Hin‑ 6 Vgl. VGH Mannheim, Urt. v. 27.01.1988 – 9 S 3018/87, NJW 1988, 2633 (2634); Urt. v. 08.03.1989 – 9 S 3264/88, NVwZ 1989, 482 (483); siehe auch VGH Kassel, Urt. v. 04.11.1970 – II OE 55/68, SPE 552 Nr. 10; v. Golitschek, BayVBl. 1994, 257 (257). Zur entsprechenden Anwendung des § 114 VwGO auf die Kontrol‑ le der Ausübung von Beurteilungsspielräumen siehe einstweilen Kopp/Schenke, § 114 VwGO, Rn. 28. 7 Siehe zunächst für schulische Leistungsbewertungen BVerwGE 8, 272 (274); sodann übertragen auf die Möglichkeiten der gerichtlichen Kontrolle juristischer Prüfungsentscheidungen in BVerwG, Bes. v. 09.10.1969 – VII B 4.69, Buchholz 421.0 Nr. 39, 15 (15); Bes. v. 8.01.1983 – 7 CB 55/78, DVBl. 1983, 591 (591). 8 BVerwG, Bes. v. 26.02.1979 – 7 B 15/79, Buchholz 421.0 Nr. 104, 149 (150); Bes. v. 12.11.1979 – 7 B 228/79, Buchholz 421.0 Nr. 121, 194 (195). 9 BVerwG, Bes. v. 26.02.1979 – 7 B 15/79, Buchholz 421.0 Nr. 104, 149 (150); Bes. v. 12.11.1979 – 7 B 228/79, Buchholz 421.0 Nr. 121, 194 (194 f.) 10 Unverbindlich war die Einschätzung der Prüfer nur dann, wenn sie auf einer derart eklatanten und außerhalb jedes vernünftigen Rahmens liegenden Fehleinschät‑ zung wissenschaftlich-fachlicher Gesichtspunkte beruhte, so dass sich ihr Ergebnis dem Richter als gänzlich unhaltbar aufdrängen muss, vgl. BVerwG, Bes. v. 12.11.1979 – 7 B 228/79, Buchholz 421.0 Nr. 121, 194 (195); siehe zu den Grenzen des seinerzeit anerkannten Beurteilungsspielraums der Prüfer in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichtes auch Barton, NVwZ 2013, 555 (556). 11 Pointiert BVerwG, Bes. v. 26.02.1979 – 7 B 15/79, Buchholz 421.0 Nr. 104, 149 (150); Bes. v. 12.11.1979 – 7 B 228/79, Buchholz 421.0 Nr. 121, 194 (194 f.).
Kap. 1: Einleitung23
sicht – weithin auch kein Rechtsbehelf zur Seite, mit dem er wirkungsvoll Einwände gegen die Bewertung seiner Prüfungsleistung hätte geltend ma‑ chen können. In den meisten Bundesländern war in den jeweiligen Juristen‑ ausbildungsgesetzen bzw. -ordnungen das Widerspruchsverfahren nach den §§ 68 ff. VwGO ausgeschlossen und auch kein anderes (förmliches) Verfah‑ ren vorgesehen, in dem der Prüfling (wirksam) Einwände gegen die Bewer‑ tungen seiner Prüfungsleistungen (vor Klageerhebung) hätte geltend machen können. Er hatte nur die Möglichkeit, in einem formlosen Gegenvorstel‑ lungsverfahren Einwände gegen die Bewertungen seiner Prüfungsleistungen zu erheben, um eine Änderung derselben (noch vor Ablauf der Klagefrist des § 74 VwGO) zu erreichen. Dabei war eine Beteiligung der Prüfer, die die streitige Bewertung vorgenommen hatten, aber entweder generell nicht vorgesehen, oder sie wurde von der Qualität der vom Prüfling erhobenen Einwendungen abhängig gemacht. Die Ausgestaltung des Gegenvorstel‑ lungsverfahrens und der Umgang mit den Einwendungen des Prüflings stand mangels gesetzlicher Regelung mehr oder weniger im Belieben der Prüfungsbehörde. Daher war auch die verfahrensrechtliche Position des Prüflings äußert schwach. Sie beschränkte sich letztlich auf die Möglichkeit der Geltendmachung der wenigen Einwendungen, die nicht Aspekte betra‑ fen, die in den Beurteilungsspielraum des Prüfer fielen, also gerichtlich überprüfbar waren. Das Bundesverfassungsgericht erklärte in der angeführten Entscheidung die bisherige Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte zur gerichtlichen Kontrolle von Prüfungsentscheidungen als unvereinbar mit dem Grundrecht der Berufsfreiheit. Es postulierte einen (neuen) allgemeinen Bewertungs‑ grundsatz, wonach eine vertretbare und mit gewichtigen Argumenten folge‑ richtig begründete Lösung nicht als falsch bewertet werden dürfe12, und schränkte durch die damit erfolgte Anerkennung eines „Antwortspielraums“ des Prüflings den Beurteilungsspielraum des Prüfers wesentlich ein. Ein Bewertungsspielraum ist den Prüfern aber auch nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes geblieben und zwar insoweit, als die Einwen‑ dungen des Prüflings die Anwendung von Beurteilungskriterien betreffen, die erst durch eine langjährige Prüfungspraxis gewonnen werden können und über die das Gericht regelmäßig nicht verfügt. Sie werden allgemein unter dem Terminus der „prüfungsspezifischen Wertungen“13 im Gegensatz zu den nun überprüfbaren „fachspezifischen Wertungen“14 gefasst. 12 BVerfGE
84, 34 (55) und 3. Leitsatz. zu ihnen an dieser Stelle nur Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 635 f., und im Übrigen ausführlich Kapitel 6 C. I. 2. b); III. 4. f) aa) (2). 14 Auch insoweit sei zunächst nur auf die Darstellung bei Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 633 f., und im Übrigen auf die Darlegungen in Kapitel 6 III. 4. f) aa) (2) verwiesen. 13 Siehe
24
Kap. 1: Einleitung
Weiter forderte das Bundesverfassungsgericht zur Kompensation der Rechtsschutzlücke, die dadurch entsteht, dass den Prüfern nach wie vor ein gerichtlich nur eingeschränkt überprüfbarer Bewertungsspielraum zusteht, die Einrichtung eines (später als verwaltungsinternes Kontrollverfahren be‑ zeichneten) Verfahrens, das es dem Prüfling ermöglicht, rechtzeitig und wirkungsvoll Einwendungen gegen die Bewertungen seiner Prüfungsleistun‑ gen vorzubringen, um so ein Überdenken insbesondere der prüfungsspezifi‑ schen Wertungen erreichen zu können15. Damit wurde die Rechtsposition des Prüflings nicht nur in materieller, sondern vor allem auch in verfahrensrechtlicher Hinsicht gestärkt, was zu mitunter nachgerade euphorischen Reaktionen (im Schrifttum) führte16. Seit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes sind nun 25 Jahre vergangen. Das „Donnergrollen“17 aus Karlsruhe ist längst verstummt, und es ist an der Zeit zu fragen, welche Spuren der „Blitzstrahl aus Karlsruhe“18 in Rechtsprechung und Schrifttum hinterlassen hat und ob und inwieweit die Umsetzung der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes die Chan‑ cen einer erfolgreichen Prüfungsanfechtung tatsächlich erhöht hat. Insoweit ist zunächst zu konstatieren, dass zuerst die Instanzgerichte19 die Vorgaben aus Karlsruhe umgesetzt haben und sodann das Bundesverwal‑ tungsgericht in mehreren Grundsatzentscheidungen seine Rechtsprechung den vom Bundesverfassungsgericht aufgestellten Postulaten angepasst hat20. Namentlich aufgrund der vom Bundesverfassungsgericht erweiterten Kon trolldichte sind sodann in der Folgezeit Entscheidungen zugunsten des Prüflings ergangen, die vor dem 17.04.1991 undenkbar gewesen wären. Die Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte erfolgte bis etwa Mitte der Neun‑ zigerjahre unter dem nachhaltigen Eindruck der Entscheidung des Bundes‑ verfassungsgerichtes. Sie war von dem erkennbaren Bemühen geprägt, den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichtes möglichst in jeder Hinsicht ge‑ 15 BVerfGE
84, 34 (46 f.). referierend etwa Seebass, NVwZ 1992, 609 (609), und Becker, NVwZ 1993, 1129 (1129), der von einem „Blitzstrahl“ aus Karlsruhe spricht. 17 Diese in der Diskussion verwendete Metapher referierend Seebass, NVwZ 1992, 609 (609). 18 So Becker, NVwZ 1193, 1129 (1129); Niehues, NJW 1997, 557 (559). 19 OVG Münster, Urt. v. 14.08.1991 – 22 A 502/90, DVBl. 1992, 1049 (1050); BayVGH, Urt. v. 29.12.1992 – 3 B 92.399, juris, Rn. 33; HessVGH, Urt. v. 04.02.1993 – 6 UE 795/92, juris, Rn. 26 f. 20 Beginnend mit BVerwGE 91, 262 (265) – erstmalige Anerkennung eines Be‑ gründungsanspruchs des Prüflings; BVerwGE 92, 132 (136 ff.) – Anerkennung des Anspruchs auf Durchführung eines Überdenkungsverfahrens; BVerwG, Urt. v. 24.02.1993 – 6 C 38/92, NVwZ 1993, 686 (687) – „Antwortspielraum“. 16 Vgl.
Kap. 1: Einleitung25
recht zu werden21. Im Übrigen setzten auch die Landesgesetzgeber im Nachgang zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes die Vorgaben aus der Entscheidung vom 17.04.1991 um, indem die gesetzliche Möglich‑ keit dafür geschaffen wurde, Einwendungen gegen die Bewertungen der Prüfungsleistungen (vor Klageerhebung) in einem verwaltungsinternen Kon‑ trollverfahren geltend zu machen22. Ist deswegen für den Prüfling nun „alles gut“, oder muss ihm die Prüfer‑ tätigkeit nach wie vor erscheinen wie die „Ausübung einer vierten Staats‑ gewalt nach dem Muster uralter chinesischer Staatsweisheit“23? Geht man allein von den vorliegenden Statistiken der Landesjustizprüfungsämter aus, nach denen die außergerichtliche wie gerichtliche Anfechtung der in den juristischen Staatsprüfungen erzielten Ergebnisse nach wie vor ganz über‑ wiegend erfolglos bleibt24, muss davon ausgegangen werden, dass sich die in der vielstimmigen Resonanz auf den Beschluss des Bundesverfassungs‑ gerichtes25 in der Literatur bereits geäußerte Befürchtung, dass sich im Er‑ gebnis für den Prüfling nicht allzu viel ändern werde26, bewahrheitet hat. Bislang sind die „Auswirkungen der ‚neuen‘ Bundesverfassungsgerichts‑ 21 Paradigmatisch insoweit etwa die Entscheidung des VG Lüneburg, Gerichtsbe‑ scheid vom 30.10.1996 – 1 A 16/94, juris, Rn. 26 ff. 22 Überwiegend durch die Einführung des bis dato meist nicht vorgesehenen Wi‑ derspruchsverfahrens. Darauf sowie auf den in Bayern mit der Einführung des „Nachprüfungsverfahrens“ beschrittenen Sonderweg wird im Einzelnen in Kapitel 7 B. eingegangen, wo auch der Frage nachgegangen werden wird, ob der jeweilige Landesgesetzgeber mit den derzeitigen gesetzlichen Vorschriften seinem Regelungs‑ auftrag in hinreichender Weise nachgekommen ist. 23 Vgl. Becker, NVwZ 1992, 1129 (1130), unter Verweis auf Werner, DVBl 1952, 342 (342), der allerdings von einer „fünften“ Staatsgewalt neben der Gesetzgebung, der Verwaltung, der Rechtsprechung und dem Zensoramt spricht. 24 Vgl. etwa die Statistik des Landesjustizprüfungsamtes Bayern, abrufbar unter http://www.justiz.bayern.de/media/pdf/ljpa/jahresberichte_mit_statistiken/bericht_ 2013.pdf, S. 11, nach der die Erfolgsquote außergerichtlich im Jahr 2013 bei 6,45 %, gerichtlich bei 0 % lag; siehe auch den Jahresbericht des Landesjustizprüfungsamtes in Baden-Württemberg aus dem Jahre 2013, nach dem in 71 Widerspruchsverfahren nur von 4 Prüfern die Bewertung angehoben worden ist, Jahresbericht 2013, S. 16, abrufbar unter http://www.justiz-bw.de/pb/site/jum/get/documents/jum1/JuM/JuM/ Pr %C3 %BCfungsamt/Jahresbericht %202013.pdf. 25 Siehe den Inhalt der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes referierend etwa Rozek, NVwZ 1992, 343 ff.; v. Mutius/Sperlich, DÖV 1993, 45 ff.; diese auch bewertend etwa Becker, NVwZ 1993, 1129 ff.; Linke, in: Menzel/Müller-Terpitz, Verfassungsrechtsprechung, S. 470 ff.; Seebass, NVwZ 1992, 609 ff.; Niehues, NJW 1991, 3001 ff.; siehe zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes und ihrer Aufnahme in der Literatur darstellend Zimmerling/Brehm, Der Prüfungsprozess, Rn. 62 ff. 26 Siehe insbesondere Seebass, NVwZ 1992, 609 (613); skeptisch aber auch Niehues, NJW 1991, 3001 (3005).
26
Kap. 1: Einleitung
rechtsprechung auf das juristische Prüfungsrecht und die gerichtliche Kon trolle von Prüfungsentscheidungen und die Ausgestaltung von Prüfungsver‑ fahren“ nur skizziert27, nicht aber rechtstatsächlich befundet worden. Die letzte umfangreichere Untersuchung zum allgemeinen Prüfungsrecht stammt von Lampe, die ausgehend von der Entscheidung des Bundesverfassungsge‑ richtes Wege zu „Gerechteren Prüfungsentscheidungen“ sucht28, ohne den Folgen ihrer Umsetzung nachzugehen, die (seinerzeitige) prüfungsrechtliche Dogmatik grundlegend zu hinterfragen und weiterzuentwickeln. Der Erwäh‑ nung bedürftig sind daneben das Standardwerk „Prüfungsrecht“ von Niehues / Fischer / Jeremias sowie die Darstellungen „Prüfungsrecht“ und „Der Prüfungsprozess“ von Zimmerling / Brehm. Zwar finden sich in beiden Wer‑ ken ausführliche Darstellungen zum juristischen Prüfungsrecht29. Die maß‑ geblichen Rechtsfragen werden aber ganz überwiegend nur in einer prakti‑ schen Bedürfnissen entsprechenden Art und Weise und nicht wissenschaft‑ lich vertiefend aufbereitet. Im Übrigen existieren nur Kurzbeiträge, in denen überblicksartig die Chancen der angehenden Juristen dargestellt werden, die von ihnen erzielten Prüfungsergebnisse (erfolgreich) anzugreifen30, oder einzelne prüfungsrechtliche Fragen vertieft erörtert werden31. Die vorliegende Untersuchung wird nun erstmals hinsichtlich der gerin‑ gen Erfolgsaussichten der Anfechtung der in den juristischen Staatsexamina erzielten Prüfungsergebnisse eine grundlegende rechtsdogmatische und rechtspraktische Ursachenforschung betreiben und die Möglichkeiten und Grenzen der Anfechtbarkeit juristischer (Staats‑)Prüfungen umfassend auf‑ zeigen. Dabei wird sich der Verfasser aber selbstverständlich nicht auf eine Beschreibung des status quo beschränken, sondern namentlich die aktuelle Rechtsprechung einer kritischen Würdigung unterziehen und die Notwen‑ digkeit und die Möglichkeiten einer (weiteren) Verbesserung der Rechtsstel‑ lung des Prüflings aufzeigen. Im Zuge dessen wird deutlich werden, dass dem Prüfling – um im meteorologischen Bild zu bleiben – trotz der forma‑ 27 Siehe insoweit – auch zur Formulierung – insbesondere Eisleben, Die Auswir‑ kungen der neuen Bundesverfassungsgerichtsrechtsprechung zum Prüfungsrecht auf die gerichtliche Kontrolle von Prüfungsentscheidungen und die künftige Ausgestal‑ tung von Prüfungsverfahren unter besonderer Berücksichtigung juristischer Staats‑ prüfungen. 28 Lampe, Gerechtere Prüfungsentscheidungen. 29 Siehe insbesondere Zimmerling/Brehm, Prüfungsrecht, Rn. 718 ff.; Niehues/Fischer/Jeremias, etwa Rn. 84 ff. 30 Siehe Gohrke/Bresahn, SächsVBl. 1999, S. 54 ff.; Beaucamp/Seifert, NVwZ 2008, 261 ff. 31 Siehe etwa Steike, NVwZ 2001, 868 ff. (Akteneinsicht); Müller-Franken, Verw Arch 92 (2001), 507 ff. (Begründungsanspruch); Koenig, VerwArch 83 (1992), 351 ff. (gerichtliche Kontrolldichte).
Kap. 1: Einleitung27
len Umsetzung der Vorgaben des Bundesverfassungsgerichtes mittlerweile wieder ein starker Wind entgegen weht32, und sich namentlich in der Recht‑ sprechung prüferfreundliche Rechtsstandpunkte verhärtet haben, deren Re‑ vidierung teilweise nur durch einen neuerlichen „Blitzstrahl aus Karlsruhe“ möglich erscheint. Vielleicht kann aber auch die vorliegende Untersuchung ihren Beitrag für ein Umdenken in der Beantwortung der einen oder ande‑ ren Rechtsfrage leisten. Bevor sogleich der Gang der vorliegenden Untersuchung näher beschrie‑ ben wird, besteht im Rahmen dieser Einleitung noch Veranlassung, die sich möglicherweise aufdrängende Frage zu beantworten, weshalb sich der Un‑ tersuchungsgegenstand auf die Anfechtbarkeit juristischer (Staats‑)Prüfungen beschränkt. Dies erklärt sich vor allem daraus, dass es gerade die angehen‑ den (Voll‑)Juristen sind, die die Bewertungen ihrer Prüfungsleistungen an‑ fechten, während Studierende33 anderer Fachrichtungen deutlich zurückhal‑ tender sind. Dieser Befund mag zunächst einmal „berufsbedingte Gründe“ haben. Es ist aber auch nicht zu verkennen, dass in kaum einem anderen Beruf der Berufszugang so sehr von den jeweils erzielten Abschlussnoten abhängt34, dass selbst bei erfolgreich absolvierten Prüfungen häufig noch hinreichender Anlass für eine Anfechtung der (Gesamt) Bewertung besteht. So sind es also die Juristen, die für die Vielzahl der zum Prüfungsrecht ergangenen Entscheidungen verantwortlich zeichnen35, und die gegenwärti‑ ge prüfungsrechtliche Dogmatik beruht im Wesentlichen auf der Rechtspre‑ chung, die zu den juristischen (Staats‑)Prüfungen ergangen ist, so dass es insgesamt nahe lag, den Untersuchungsgegenstand insoweit zu beschränken. Die wesentlichen Aussagen, die die vorliegende Untersuchung hervorbrin‑ gen wird, gelten aber auch für die Anfechtung von Prüfungsentscheidungen, denen sich Studierende anderer Fachrichtungen unterziehen müssen.
32 So auch die Einschätzung von Zimmlerling/Brehm, im Vorwort zu Prüfungs‑ recht, 3. Auflage, München 2007; siehe zu diesem Befund im Übrigen bereits Unger, NordÖR 2012, 71 (72). 33 Der Verfasser verwendet in dieser Untersuchung – sich den allgemeinen Ge‑ pflogenheiten anpassend – diesen Begriff anstatt „Studenten/Studentinnen“, obwohl er nach wie vor der Auffassung ist, dass als „Studierende“ diejenigen zu bezeichnen sind, die sich intensiv in ein Werk vertiefen, und „Studierender“ nicht einen allge‑ meinen Status bezeichnet. 34 Siehe insoweit nur die in den Bundesländern vorausgesetzten Noten für eine Einstellung als Richter oder Staatsanwalt und insoweit die Verlinkung auf der Seite http://www.juristenkoffer.de/richter/ zu den in den Bundesländern jeweils vorausge‑ setzten Noten in den Staatsexamina, die im Regelfall auf „vollbefriedigend“ lauten müssen; siehe zu dieser Einschätzung im Übrigen auch Knecht, BayVBl. 2013, 359 (359). 35 Vgl. Zimmerling/Brehm, Prüfungsrecht, Rn. 718, m. w. N. in Fn. 1908.
Kapitel 2
Gang der Untersuchung Die Gliederung der vorliegenden Untersuchung orientiert sich im Wesent‑ lichen an dem tatsächlichen Ablauf einer Prüfungsanfechtung. Demgemäß werden die maßgeblichen Rechtsfragen und ‑probleme dort erörtert, wo sie in der Praxis auftauchen und relevant werden, und zwar im Zusammenhang und nicht losgelöst voneinander. So wird etwa die Frage, welche Anforde‑ rungen an die Begründung der Bewertung einer Prüfungsleistung zu stellen sind, nicht unter einem vorgezogenen Gliederungspunkt „Formelle Recht‑ mäßigkeit der Prüfungsentscheidung“ erörtert, sondern im Kontext mit der Darstellung des Ablaufs des verwaltungsinternen Kontrollverfahrens und der an die Durchführung desselben zu stellenden Anforderungen. Denn der Prüfling respektive der ihn vertretende Rechtsanwalt ist nur dann in der Lage, substantiierte Einwendungen gegen die Bewertungen der Prüfungs‑ leistungen zu erheben, wenn er weiß, welche Mängel und Vorzüge die Prüfer in der jeweils vorgelegten Prüfungsleistung erkannt, welche Gründe sie also zu der abschließenden Bewertung bewogen haben. Der Prüfling, der die Durchführung einer Prüfungsanfechtung in Erwä‑ gung zieht, sucht in der Praxis den Rechtsanwalt regelmäßig auf, nachdem er einen Bescheid der Universität oder des (Landes‑) Justizprüfungsamtes erhalten hat, ausweislich dessen er die in der Prüfungsordnung vorgesehene Zwischenprüfung oder die universitäre Schwerpunktbereichsprüfung respek‑ tive die staatliche Pflichtfach- oder die Zweite juristische Staatsprüfung nicht oder mit einer Note bestanden hat, die seiner Auffassung nach sein Leistungsvermögen nicht widerspiegelt. Bereits in diesem Verfahrensstadium stellen sich eine Reihe von Fragen: Mit welchen Rechtsbehelfen kann das – ggf. zu ermittelnde und regelmäßig insbesondere auf die Höherbewertung von Prüfungsleistungen oder deren Neuerbringung gerichtete – Begehren des Prüflings durchgesetzt werden? Welche Rechtsbehelfsfristen sind einzuhalten und sind, (auch) unabhängig von ihnen, Einwendungen gegen die Bewertung einer Prüfungsleistung in‑ nerhalb eines bestimmten Zeitraums vorzubringen? Welche Einwendungen können überhaupt nur mit Aussicht auf Erfolg vorgetragen werden? Ist inso‑ weit zu differenzieren zwischen solchen, die außerhalb, und solchen, die in‑ nerhalb eines gerichtlichen Verfahrens vorgetragen werden? Welche Anforde‑ rungen werden an ihre Darlegung gestellt? Dieser Fragenkatalog ließe sich so
Kap. 2: Gang der Untersuchung29
lange fortsetzen, bis eine vollständige Einzelgliederung der Arbeit vorliegt. Dies ist aber nicht das Ziel des vorliegenden Abschnitts, der vielmehr nur dazu dient, dem Leser eine erste Orientierung zu geben, und die Nachvoll‑ ziehbarkeit der nachfolgenden Ausführungen auch dadurch zu erleichtern, dass eine gewisse Sensibilität für die Perspektive eines Prüflings geschaffen wird, der sich (mit anwaltlicher Vertretung) außergerichtlich und / oder ge‑ richtlich gegen eine ihn belastende Prüfungsentscheidung wendet. Die faktische Verpflichtung der Rechtsanwälte, Prüfungsbehörden und Gerichte zur rationellen Fallbearbeitung schließt es grundsätzlich aus, im Rahmen einer Prüfungsanfechtung Rechtsprobleme zu erörtern, die der vor‑ liegende Fall nicht aufwirft, und Grundsatzdiskussionen ohne hinreichenden Fallbezug zu führen. Dafür sind auch weder das Widerspruchsverfahren noch der Verwaltungsprozess geeignete Orte. Andererseits würden aber die Rechtsanwälte und Richter die ihnen insoweit gleichermaßen obliegende Aufgabe, den Prüfling vor Fehlentscheidungen durch Behörden und (ande‑ re) Gerichte zu bewahren, und gegen verfassungswidrige Beeinträchtigung und staatliche Machtüberschreitung zu sichern1, verfehlen, wenn sie ihre Beratung und Vertretung bzw. ihre Entscheidung allein an der kritiklos übernommenen (obergerichtlichen) Rechtsprechung ausrichten würden und die durchaus gegebene Möglichkeit ungenutzt ließen, Rechtsstandpunkte, die sich bezüglich einer im konkreten Fall relevanten Frage manifestiert haben, durch Aufzeigen von Alternativlösungen in Frage zu stellen, und die Problematik in einer wissenschaftlichen Anforderungen im Ansatz durchaus gerecht werdenden Tiefe aufzubereiten. Hierzu sind der Rechtsanwalt wie der Richter aber nur imstande, wenn sie einen Gesamtüberblick über das Rechtsgebiet haben und so in der Lage sind, ihre Argumentation zu einem Einzelproblem von den Grundlagen her aufzubauen. Ausgehend von dieser Prämisse werden im ersten Kapitel der eigentli‑ chen Untersuchung (Kapitel 3) die das Prüfungsrecht prägenden verfas‑ sungsrechtlichen Determinanten und die sich aus ihnen ergebenden wesent‑ lichen Maßgaben für die Ausgestaltung der juristischen (Staats‑)Prüfungen vorgestellt. Im nachfolgenden Kapitel 4 wird insbesondere deren tatsächlicher Inhalt und Ablauf aufgezeigt, wie er durch die derzeit gültigen Juristenausbil‑ dungsgesetze bzw. -ordnungen vorgegeben ist, und im Lichte der grundge‑ setzlichen Vorgaben bewertet. Kapitel 5 nähert sich dann der eigentlichen Fragestellung der Untersu‑ chung, indem die nach dem aktuellen juristischen Prüfungsrecht bestehen‑ 1 Siehe für den Rechtsanwalt § 1 Abs. 3 Berufsordnung für Rechtsanwälte (BORA) in der Fassung vom 01.03.2011.
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Kap. 2: Gang der Untersuchung
den außerprozessualen Rechtsschutzmöglichkeiten des Prüflings im Über‑ blick dargestellt werden. Im zentralen Kapitel 6 schließlich werden die Möglichkeiten und Grenzen der Anfechtbarkeit juristischer Staatsprüfungen nach Maßgabe des materiellen Rechts umfassend untersucht, indem die möglichen (Rechts‑)Fehler einer Prüfungsentscheidung einschließlich ihrer (unterschiedlichen) Rechtsfolgen sowie deren (notwendige) Abgrenzung und die Voraussetzungen ihrer (erfolgreichen) – namentlich gerichtlichen – Gel‑ tendmachung nach dem Stand der derzeitigen Rechtspraxis und Rechtsdog‑ matik und nach deren – teils grundlegender – Neujustierung aufgezeigt werden. Die Kapitel 7 und 8 beschäftigen sich dann abschließend mit der Frage, welche Möglichkeiten das Verfahrensrecht dem Prüfling bietet, seine zuvor ausführlich dargestellte materiell-rechtliche Rechtsposition durchzusetzen. Hierzu werden in Kapitel 7 erstmals die an die Einleitung und Durchfüh‑ rung des vom Bundesverfassungsgericht geforderten Überdenkungsverfah‑ rens zu stellenden Voraussetzungen eingehend behandelt. Dabei wird auch auf die verfahrensrechtlichen Nebengewährleistungen wie die Ansprüche des Prüflings auf die Gewährung von Akteneinsicht und die Begründung der erfolgten Bewertungen seiner Leistungen vertieft eingegangen. Im abschließenden Kapitel 8 werden dann die verwaltungsprozessualen Rechtsschutzmöglichkeiten des Prüflings im Falle einer außergerichtlich erfolglos gebliebenen Prüfungsanfechtung aufgezeigt.
Kapitel 3
Verfassungsrechtliche Determinanten Auf Fritz Werner geht der mittlerweile zum geflügelten Wort1 avancierte Ausspruch zurück, dass Verwaltungsrecht konkretisiertes Verfassungsrecht sei2. Mit ihm wird das Verhältnis der beiden normativen Ebenen insoweit zutreffend beschrieben, als die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers, wie dies unmittelbar aus den Art. 20 Abs. 3, 1 Abs. 3 GG folgt, durch die Wer‑ tentscheidungen des Grundgesetzes begrenzt ist, und namentlich dem nor‑ mativen Druck der Grundrechte unterliegt3. Die mit den vorstehenden Vorschriften statuierte Verfassungsbindung der Gesetzgebung erschöpft sich aber nicht in einem Verletzungsverbot in dem Sinne, dass die einfachrechtlichen Vorschriften des allgemeinen und besonderen Verwaltungsrechts mit den verfassungsrechtlichen Bestimmungen in Einklang stehen müssen. Vielmehr folgt aus diesen auch ein Gestaltungsauftrag für den Gesetzgeber dergestalt, dass auf die Verwirklichung der verfassungsrechtlichen Inhalte hingewirkt und ihnen zu optimaler Wirksamkeit verholfen werden muss4. Dabei reicht die dirigierende Kraft der Verfassung aber – wie Werners Aus‑ spruch suggerieren könnte – nicht so weit, dass sich jede einfach-rechtliche Vorschrift aus ihr unmittelbar deduzieren ließe5. Dieser Umstand vermag die überragende Bedeutung der Verfassung bei der rechtlichen Ausgestal‑ tung eines jeden Lebensbereichs aber nicht infrage zu stellen. Deren durch den Gesetzgeber konkretisierte Wertentscheidungen sind ebenso von der Verwaltung zu beachten, da sie nach Art. 20 Abs. 3 GG zur Beachtung von Gesetz und Recht verpflichtet ist, woraus ebenfalls eine ständige Anbindung an die Verfassung resultiert6. 1 So auch die Einschätzung von Schönberger, in: Stolleis, 53 (53); Bredemeier, S. 233. 2 So der Titel eines Beitrags von Werner, DVBl. 1959, 527 (527 ff.). 3 Vgl. Ehlers, in: Erichsen/Ehlers, § 6, Rn. 3; siehe zur Bindung der „Prüfungs‑ gewalt“ an die Grundsätze des Rechtsstaats auch Guhl, S. 21. 4 Vgl. Ehlers, in: Erichsen/Ehlers, § 6, Rn. 3; die verfassungsrechtlichen Bestim‑ mungen können insoweit als Prinzipien im Sinne eines Optimierungsgebots verstan‑ den werden, vgl. zu diesen Begriffen Alexy, S. 75 f. 5 Vgl. Ehlers, in: Erichsen/Ehlers, § 6, Rn. 4. 6 Ehlers, in: Erichsen/Ehlers, § 6, Rn. 4; siehe zur Bindung der „Prüfungsge‑ walt“ im Speziellen Guhl, S. 21.
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Kap. 3: Verfassungsrechtliche Determinanten
Auch wenn es keinen Lebensbereich gibt, der dem Geltungsbereich der Verfassung ganz oder teilweise entzogen wäre, so ist doch festzustellen, dass der jeweilige Einfluss des Verfassungsrechts bei dem Erlass von ein‑ fach-rechtlichen Vorschriften und deren Umsetzung in Abhängigkeit von den jeweils tangierten grundrechtlichen Bestimmungen unterschiedlich stark ist. Für das Prüfungswesen lässt sich feststellen, dass es im besonderen Maße der verfassungsrechtlichen Prägung unterliegt. Dies liegt zum einen darin begründet, dass bei dem Tätigwerden des Gesetzgebers und / oder der Verwaltung sogleich eine Vielzahl von verfassungsrechtlichen Bestimmun‑ gen aktiviert wird. Zum anderen stellte die Verfassung wegen der zunächst fehlenden gesetzlichen Vorschriften und eines insoweit inexistenten Prü‑ fungsrechts7 lange Zeit den einzigen Maßstab dar, an dem die Rechtmäßig‑ keit von Prüfungsentscheidungen gemessen werden konnte. Mittlerweile ist das Juristenausbildungs- und Prüfungsrecht in allen Bundesländern in ent‑ sprechenden Gesetzen und Verordnungen scheinbar umfassend geregelt. Gleichwohl ergeben sich in der Praxis doch nach wie vor eine Vielzahl von offenen Fragen und zu lösenden Problemen, die entweder einer einfachrechtlichen Regelung nicht zugänglich oder vom Gesetz- bzw. Verordnungs‑ geber nicht angegangen worden sind. In solch einem Fall sind entweder die einschlägigen verfassungsrechtlichen Bestimmungen allein maßgebend, oder sie müssen jedenfalls zur Auslegung der einfach-rechtlichen Vorschriften ergänzend herangezogen werden. Angesichts dessen erscheint es unabdingbar, zunächst die für das Prü‑ fungsrecht maßgeblichen verfassungsrechtlichen Direktiven vorzustellen, bevor eine Darstellung der Möglichkeiten und Grenzen der Anfechtbarkeit juristischer (Staats‑) Prüfungen nach Maßgabe des – verfassungsrechtlich beeinflussten – materiellen und Prozessrechts erfolgt. Als maßgebliche verfassungsrechtliche Direktiven zu benennen sind inso‑ weit das Grundrecht der Berufsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG, der aus diesem sowie dem Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG abgeleitete Grundsatz der Chancengleichheit aller Prüflinge sowie die Rechtsschutzga‑ rantie des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG8. Jedenfalls in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichtes hat daneben auch das Rechtsstaatsprinzip er‑ hebliche Bedeutung für die Ableitung allgemeiner prüfungsrechtlicher Grundsätze.
7 Früher wurde die Geltung des Gesetzesvorbehalts im Prüfungsrecht in Abrede gestellt und Prüfungsordnungen waren lediglich in Verwaltungsvorschriften geregelt; vgl. insoweit die Darstellung von Lampe, S. 25. 8 Lindner, in: Geis, Kapitel II, Rn. 129; ders., BayVBl. 1999, 100 (100); Kempen, in: Hartmer/Detmer, Kapitel I, Rn. 106 ff.
A. Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG33
A. Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG Wohl kaum ein Aspirant, der den Beruf des Richters, Staatsanwalts, Rechtsanwalts etc. ergreifen möchte, fühlt sich dadurch in seinen Freiheits‑ rechten beeinträchtigt, dass er zunächst eine langjährige Ausbildung absol‑ vieren und erfolgreich beenden muss, bevor er seinen Wunschberuf ausüben darf. Dieser Umstand ändert aber nichts an dem verfassungsrechtlich evi‑ denten Befund9, dass bereits Vorschriften, die für die Aufnahme eines Berufes oder für die Fortsetzung einer Berufsausbildung das Bestehen einer Prüfung zum Nachweis beruflicher Kenntnisse und Fähigkeiten verlangen, die Freiheit der Berufswahl beschränken und somit Eingriffe in den – ein‑ heitlichen10 – Schutzbereich des Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG darstellen11. Das gilt auch für die Erste und Zweite juristische (Staats‑)Prüfung12. Der Eingriffscharakter dieser Prüfungen wird namentlich für diejenigen Kandida‑ ten fühlbar, denen aufgrund der Feststellung ihres endgültigen Nichtbeste‑ hens der Berufszugang insgesamt versperrt bleibt. Eine Freiheitsbeschrän‑ kung dürften nun aber auch diejenigen Kandidaten empfinden, die sich mit den von ihnen ausweislich der Prüfungsbescheide erzielten Abschlussnoten daran gehindert sehen, ihren Wunschberuf zu ergreifen, weil sie mit ihnen die insoweit in der Praxis bestehenden Einstellungsvoraussetzungen nicht erfül‑ len. Das gilt insbesondere dann, wenn nach der Auffassung der Betroffenen die Abschlussnoten ihr Leistungsvermögen nicht zutreffend widerspiegeln. Demgemäß stellen auch die vom Prüfungsamt auf der Grundlage entspre‑ chender Vorschriften getroffenen Prüfungsentscheidungen wie insbesondere das Feststellen des Nichtbestehens der Prüfung Eingriffe in das Grundrecht der Berufsfreiheit dar13. Die Feststellung des Eingriffscharakters von Ausbildung und Prüfung wirft die Frage nach der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung dieser (Be‑ 9 Vgl. zum „evidenten“ Bezug berufsbezogener Prüfungen zum Grundrecht der Berufsfreiheit Lindner, in: Geis, Kapitel II, Rn. 130, und zum evidenten Eingriffs charakter der Prüfung bereits Pietzcker, S. 71; siehe ferner Guhl, S. 21: „Es liegt auf der Hand …“. 10 BVerfGE 7, 377 (402); Scholz, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 12, Rn. 22 ff. 11 BVerfGE 13, 97 (106 f.); 19, 330 (336 f.); 84, 34 (45); bezugnehmend 37, 342 (352); 41, 251 (261); 52, 380 (388); 79, 212 (218); BVerwG, Urt. v. 21.03.2012 – 6 C 19/11, NVwZ 2012, 1188 (1189); Urt. v. 29.05.2013 – 6 C 18/12, DVBl 2013, 1122 (1123); Kempen, in: Hartmer/Detmer, Kapitel I, Rn. 106; siehe auch Lindner, in: Geis, Kapitel II, Rn. 130; Lampe, S. 23, Eisvogel, S. 38; Guhl, S. 21, Pietzcker, S. 71. 12 BVerfGE 84, 34 (46); 37, 342 (352); 79, 212 (218). 13 Lampe, S. 23; Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 19; Zimmerling/Brehm, Prüfungs‑ recht, Rn. 8; siehe auch BVerfGE 84, 34 (50).
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Kap. 3: Verfassungsrechtliche Determinanten
rufs‑)Freiheitsbeschränkungen auf. Sie ist zunächst dahin zu beantworten, dass ausweislich des Wortlauts des Art. 12 Abs. 1 Satz 2 GG zwar nur die Berufsausübungsfreiheit durch oder aufgrund eines Gesetzes beschränkt werden darf, sich der hier normierte Regelungsvorbehalt aber auch auf die Berufswahl erstreckt14, was insoweit Folge des Verständnisses des Art. 12 Abs. 1 GG als einheitliches Grundrecht der Berufsfreiheit ist15. Demnach kann grundsätzlich auch die Freiheit der Berufswahl durch oder aufgrund eines Gesetzes beschränkt werden, wobei aber stets der Wille des Gesetz‑ gebers zu beachten ist, dass die Berufswahl grundsätzlich „frei“ sein soll16. Diesem Umstand hat das Bundesverfassungsgericht in seinem berühmten Apothekenurteil17 durch die Entwicklung der Drei-Stufen-Theorie18 Rech‑ nung getragen. Nach ihr wird zwischen objektiven Zulassungsbedingungen, die mit der persönlichen Qualifikation des Berufsanwärters nichts zu tun haben, und subjektiven Zulassungsschranken, auf die er Einfluss nehmen kann, sowie sonstigen Eingriffen in die Berufsfreiheit unterschieden, die in Orientierung am Verhältnismäßigkeitsgrundsatz unterschiedlichen Rechtfer‑ tigungsanforderungen unterworfen werden19. Im Sinne dieser dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz geschuldeten diffe‑ renzierenden Kategorisierung stellen sich die im Folgeabschnitt noch näher zu beleuchtenden Vorschriften des Juristenausbildungs- und Prüfungsrechtes des Bundes und der Länder, die den Zugang zu den juristischen Berufen durch eine vorgeschriebene theoretische und praktische Ausbildung, die je‑ weils mit einer erfolgreichen Prüfung abzuschließen ist, reglementieren, nach zutreffender Auffassung als subjektive Zulassungsschranke dar20. Auch 14 BVerfGE 7, 377 (401 ff., insb. S. 402); 54, 237 (246); 84, 133 (148); 110, 304 (321); Ruffert, in: Epping/Hillgruber, Beck’scher Online-Kommentar zum GG, Art. 12, Rn. 74. 15 Lampe, S. 24. 16 BVerfGE 7, 377 (402). 17 BVerfGE 7, 377 ff. 18 Vgl. BVerfGE 7, 377 (405 ff.). 19 BVerfGE 7, 377 (405 ff.). 20 Eisvogel, S. 39; Guhl, S. 22; anders Lampe, S. 35, die davon ausgeht, dass nur eingeschränkt wiederholbare Berufszugangsprüfungen eine objektive Zulassungs‑ schranke errichten. Daran ist richtig, dass sich Prüfungen faktisch als objektive Zulassungsschranke darstellen, wenn sie vom Kandidaten endgültig nicht bestanden werden. Die Frage des Bestehens oder Nichtbestehens hängt indes von der Qualität der Prüfungsleistung ab, die der Prüfling abliefert; und diese kann er selbst beein‑ flussen, so dass die Einordnung Lampes nicht überzeugt. Zutreffend demgegenüber Guhl, S. 22. Die Abgrenzung zwischen den beiden Stufen sollte ohnehin nicht über‑ bewertet werden. Viel wichtiger ist die Verwirklichung des dahinter stehenden Ver‑ hältnismäßigkeitsgrundsatzes bei dem Erlass von Ausbildungs- und Prüfungsvor‑ schriften und deren Anwendung; zutreffend insoweit Pietzcker, S. 80.
A. Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG35
wenn dem Berufsanwärter mit einer verbindlich vorgeschriebenen Ausbil‑ dung nur etwas zugemutet wird, was er grundsätzlich der Sache nach ohne‑ hin auf sich nehmen müsste, wenn er den Beruf ordnungsgemäß ausüben will21, wird damit die Freiheit der Berufswahl doch empfindlich beschränkt, da er bis zum Nachweis der erforderlichen Qualifikationen durch eine die Ausbildung abschließende Prüfung den Beruf nicht ausüben kann22. Subjek‑ tive Zulassungsschranken sind nach der Rechtsprechung des Bundesverfas‑ sungsgerichtes daher nur zulässig, wenn sie zum Schutz besonders wichtiger Gemeinschaftsgüter erforderlich sind und die Vorschriften zum angestrebten Zweck der ordnungsgemäßen Ausübung der Berufstätigkeit nicht außer Verhältnis stehen23. Gemessen daran begegnet die Reglementierung des Zugangs zu den ju‑ ristischen Berufen im Grundsatz keinen Bedenken, da mit ihr eine ord‑ nungsgemäße Berufsausübung zur Schaffung bzw. Erhaltung einer funktio‑ nierenden und leistungsfähigen Rechtspflege als besonders wichtiges Ge‑ meinschaftsgut bezweckt wird24. Im Hinblick auf deren für den Rechtsstaat konstituierende Bedeutung steht es auch außer Frage, dass der Gesetzgeber eine auf die Kontrolle der Berufseignung abzielende Prüfung verlangen kann und sich ohne geführten Leistungsnachweis nicht darauf verlassen muss, dass die für die ordnungsgemäße Berufsausübung erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten, die die vorgeschriebene Ausbildung vermittelt, von den Berufsaspiranten auch tatsächlich erworben worden sind25. Da das Ablegen der juristischen Prüfungen eng mit dem späteren Berufs‑ weg zusammenhängt und ihr Bestehen Zulassungsvoraussetzung für die Aufnahme eines juristischen Berufes ist, können Prüfungsregelungen fraglos den besonderen Freiheitsraum tangieren, den Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG ge‑ rade sichern will26. Die Ausgestaltung und die Durchführung juristischer Prüfungen sind daher an dem Grundrecht der Berufsfreiheit – insbesondere am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit – zu messen27. Folglich bedürfen die in den Prüfungen aufgestellten Leistungsanforderungen und die Maßstäbe, nach denen die erbrachten Leistungen zu bewerten sind, gemäß Art. 12 21 BVerfGE
7, 377 (407). BVerfGE 19, 330 (337); 13, 97 (107). 23 BVerfGE 7, 377 (406 f.) und Leitsatz 6b; 13, 97 (107); 19, 330 (337). 24 Vgl. BVerwGE 38, 105 (113 f.); Pietzcker, S. 80; Neumann, DVBl 1987, 339 (344). 25 Vgl. BVerwGE 38, 105 (114); vgl. zur Rechtfertigungsbedürftigkeit der Prü‑ fung unter dem Blickwinkel des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes Becker, S. 95 f. 26 BVerfGE 52, 330 (388); vgl. auch BVerwG, Urt. v. 29.05.2013 – 6 C 18/12, DVBl. 2013, 1122 (1123). 27 BVerwGE 38, 105 (113); BVerfGE 52, 30 (388); 84, 34 (45). 22 Vgl.
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Kap. 3: Verfassungsrechtliche Determinanten
Abs. 1 Satz 2 GG einer gesetzlichen Grundlage28; die Prüfungsschranke darf nach Art und Höhe nicht ungeeignet, unnötig oder unzumutbar sein29. Im Hinblick auf die erforderliche gesetzliche Grundlage zur Schranken‑ ziehung durch eine vorgeschriebene Ausbildung und Prüfung ist der Rege‑ lungsvorbehalt des Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG in den Blick zu nehmen, nach dem die Berufsfreiheit durch oder aufgrund eines Gesetzes beschränkt werden kann. „Gesetz“ im Sinne des Art. 12 Abs. 1 Satz 2 GG erfordert nicht ein Gesetz im formellen, sondern lässt auch ein solches im materiellen Sinne ausreichen, so dass die Berufsfreiheit sowohl durch formelles Bun‑ des- oder Landesgesetz als auch durch Rechtsverordnung oder Satzung30 beschränkt werden kann31. Gleichwohl geht Art. 12 Abs. 1 Satz 2 GG davon aus, dass Regelungen der Berufsfreiheit zumindest ihre Grundlage in einem formellen Gesetz finden, wobei es auf das Vorliegen eines Eingriffs nicht primär ankommt32. Insoweit liegt es auch – zumal Art. 12 Abs. 1 GG den Willen des Verfassungsgebers, die Berufswahl von Beschränkungen grund‑ sätzlich frei zu halten, erkennen lässt – auf der Hand, dass die Frage des Ob und der grundlegenden Ausgestaltung einer Berufszugangsreglementie‑ rung nicht von einem mit beschränkter demokratischer Legitimität ausge‑ statteten Rechtssetzungsorgan wie dem Justizministerium oder den Univer‑ sitäten erlassen werden kann. Außerhalb solcher Evidenzen ist die Frage, ob die Gestaltung der Ausbildung und namentlich die Ausgestaltung und Durchführung der Prüfungen der Regelung durch ein formelles Bundesoder Landesgesetz bedürfen, oder ob der Erlass der erforderlichen Vor‑ schriften ganz oder teilweise an die Exekutive delegiert werden darf, anhand der vom Bundesverfassungsgericht maßgeblich im Zusammenhang mit Re‑ gelungen zur Berufsfreiheit entwickelten33 „Wesentlichkeitslehre“ zu beant‑ worten34. Nach der Wesentlichkeitslehre ist der Gesetzgeber verpflichtet – losgelöst vom Merkmal des Eingriffs – in grundlegenden normativen Berei‑ chen, zumal im Bereich der Grundrechtsausübung, alle wesentlichen Ent‑ 28 BVerfGE 84, 34 (45); BVerwG, Urt. v. 29.05.2013 – 6 C 18/12, DVBl. 2013, 1122 (1123). 29 BVerfGE 80, 1 (24); 84, 34 (45); vgl. auch BVerwG, Urt. v. 29.05.2013 – 6 C 18/12, DVBl. 2013, 1122 (1124). 30 Siehe zur Möglichkeit der Beschränkung der Berufsfreiheit durch untergesetz‑ liche Normen BVerfGE 20, 283 (295); 21, 72 (73); 33, 125 (156 ff.); 51, 166 (173); 65, 248 (258); BVerwG, Urt. v. 29.05.2013 – 6 C 18/12, DVBl. 2013, 1122 (1124). 31 Scholz, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 12, Rn. 323; Ruffert, in: Epping/Hillgruber, Beck’scher Online-Kommentar zum GG, Art. 12, Rn. 76. 32 Scholz, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 12, Rn. 324. 33 Scholz, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 12, Rn. 324. 34 Zur Geltung der Wesentlichkeitslehre im Ausbildungs- und Prüfungsrecht siehe zuletzt BVerwG, Urt. v. 29.05.2013 – 6 C 18/12, DVBl. 2013, 1122 (1123 f.).
A. Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG37
scheidungen selbst zu treffen, und er darf diese weder ausdrücklich in Form von Verordnungsermächtigungen noch konkludent durch Verwendung unbe‑ stimmter Rechtsbegriffe an die Exekutive delegieren35. Die Wesentlichkeits‑ theorie beantwortet dabei nicht nur die Frage, ob überhaupt ein bestimmter Gegenstand gesetzlich geregelt sein muss. Sie ist vielmehr auch dafür maßgeblich, wie weit diese Regelungen im Einzelnen gehen müssen36. Im Übrigen ist für den Regelungsvorbehalt des Art. 12 Abs. 1 Satz 2 GG unter dem Eindruck der Wesentlichkeitslehre davon auszugehen, dass prinzipiell jede Regelung, gleichgültig, ob sie „grundrechtsgestaltender (grundrechts‑ prägender), grundrechtseingreifender oder grundrechtsfördernder“ Art ist, unter den Vorbehalt des formellen Gesetzes fällt, soweit der konkrete Rege‑ lungsinhalt „wesentlich“ ist37. Weil sich aber der Begriff der „Wesentlichkeit“ einer Konkretisierung weitgehend entzieht38 – wenngleich zur Bestimmung derselben das Maß der grundrechtlichen Betroffenheit39 zweifelsohne ein wichtiges, aber gleichfalls vages Kriterium darstellt – und das Bundesverfassungsgericht es nicht für erforderlich hält, dass sich die gesetzlichen Vorgaben unmittelbar aus dem Wortlaut der Ermächtigung ergeben, sondern es ausreichen lässt, wenn die‑ se sich mit Hilfe allgemeiner Auslegungsgrundsätze erschließen lassen, insbesondere aus dem Zweck, dem Sinnzusammenhang und der Vorge‑ schichte des Gesetzes40, „besteht nach wie vor erhebliche Unsicherheit hinsichtlich der Frage, was im Einzelnen Gegenstand normativer Regelun‑ gen sein muss [, …] wie konkret dieses oder jenes zu regeln ist“41 und welche Regelungen so „wesentlich“ sind, dass sie der unmittelbaren Rege‑ lung durch den parlamentarischen Gesetzgeber bedürfen42. 35 Vgl. BVerfGE 33, 125 (158); 34, 52 (60); 34, 165 (192 f.); 40, 237 (249 f.); 41, 251 (260); 45, 400 (417 f.); 47, 46 (78 ff.); 48, 210 (221); 49, 89 (126 f.); 61, 260 (275); 83, 130 (142); zur Bedeutung der Wesentlichkeitslehre im Prüfungsrecht siehe Wahl, DVBl 1985, 822 (823 ff.); Becker, NJW 1990, 273 (277 f.); Wortmann, NWVBl. 1992, 304 (304); Reidt, DÖV 1992, 916 (919); speziell in Bezug auf das verwaltungsinterne Kontrollverfahren Muckel, NVwZ 1992, 348 (349 f.); Lampe, S. 26 f.; Zimmerling/Brehm, Prüfungsrecht, Rn. 10 f.; Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 22. ff.; Eisvogel, S. 293 f. 36 BVerfGE 49, 89 (127 und 129); 83, 130 (152). 37 Scholz, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 12, Rn. 324. 38 Wortmann, NWVBl. 1992, 304 (304); Lampe, S. 26. 39 Vgl. BVerfGE 49, 89 (127); Muckel, NVwZ 1992, 348 (349); Reidt, DÖV 1992, 916 (919). Siehe zur Bestimmung der „Wesentlichkeit“ insbesondere auch BVerfGE 83, 130 (142, 152). 40 BVerfGE 80, 1 (21); 58, 257 (277). 41 Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 21. 42 So die zutreffende Einschätzung von Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 21 f.; ähn‑ lich Zimmerling/Brehm, Prüfungsrecht, Rn. 11.
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Kap. 3: Verfassungsrechtliche Determinanten
Es ist nicht das Ziel der nachfolgenden Untersuchung, diesen Unsicher‑ heiten nachzugehen und die Vorschriften des Juristenausbildungs- und Prü‑ fungsrechtes grundlegend daraufhin zu untersuchen, inwieweit sie den An‑ forderungen des Gesetzesvorbehalts in der Interpretation des Bundesverfas‑ sungsgerichtes gerecht werden43. Nur soweit es der Untersuchungsgegen‑ stand erfordert, wird die Tauglichkeit einzelner Regelungen näher in den Blick genommen. In Vergegenwärtigung desselben ist die nachfolgende Klärung der Frage von größerer Bedeutung, welche Steuerungswirkung der Gewährleistungs‑ gehalt des Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG insbesondere für die Ausgestaltung und Durchführung der juristischen Prüfungen und den Rechtsschutz des Prüf‑ lings gegen Prüfungen hat. Dass der Schutzbereich des Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG bislang noch nicht näher beleuchtet worden ist, findet seinen Grund darin, dass die Berufsfreiheit wie jede Freiheitsgewährleistung ihre wesent‑ liche Inhaltsbestimmung aus ihrer Grenzziehung bezieht44. Der von ihr ge‑ schützte Bereich lässt sich also nicht vollständig losgelöst von potentiellen Eingriffen definieren und ist daher in gewisser Weise eingriffsgeprägt. Es bedurfte somit zunächst der Benennung der für den Zugang zu den juristi‑ schen Berufen vorgesehenen Ausbildung und Prüfungen als Eingriffe, bevor nun dargestellt werden kann, welche wesentlichen Vorgaben für deren Aus‑ gestaltung und Durchführung sich Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG entnehmen lassen. Wenn der Schutzbereich dieses Grundrechtes maßgeblich durch dessen Grenzziehung determiniert wird, ist ein echter Grundrechtsschutz nur gege‑ ben, wenn der die Freiheit begrenzende Verwaltungsakt – mithin die Prü‑ fungsentscheidung – rechtmäßig und sachlich richtig ist45. Die Rechtmäßig‑ keit der Prüfungsentscheidung setzt unter den Kautelen des Verhältnismä‑ ßigkeitsgrundsatzes insbesondere voraus, dass die Prüfung so ausgestaltet ist und durchgeführt wird, dass mit ihr die Eignung der Kandidaten für den angestrebten Beruf ermittelt werden kann46. Gefordert ist mithin die Geeig‑ netheit der Prüfung, den angestrebten Zweck zumindest zu fördern. Nur sofern diese gegeben ist, muss sich der Aspirant die Einschränkung seiner Berufswahl um eines höherrangigen Schutzgutes willen gefallen lassen47. Da das Ziel einer jeden Prüfung darin zu sehen ist, die Kandidaten zu er‑ 43 Siehe im Ansatz insoweit Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 22 f.; Zimmerling/ Brehm, Prüfungsrecht, Rn. 16 ff. 44 Vgl. Becker, S. 94 f.; Pérez Barberá, in: FS Roxin, S. 35 ff. 45 Becker, S. 94. 46 Vgl. BVerwG, Urt. v. 29.05.2013 – 6 C 18/12, DVBl. 2013, 1122 (1124 f.); vgl. auch Becker, S. 88, 94. 47 Becker, S. 88.
A. Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG39
mitteln, die das Ausbildungsziel erreicht haben, und entsprechend von denjenigen zu unterscheiden, die es verfehlt haben48, bedarf die Prüfung insoweit der entsprechenden Ausgestaltung und Durchführung. Aus diesem Postulat ergeben sich zunächst (verfassungsrechtliche) Anforderungen für die Auswahl des Prüfungsstoffes, die durch das Ziel der Prüfung determi‑ niert und zugleich auch begrenzt ist49. Demgemäß dürfen grundsätzlich keine Kenntnisse und Fähigkeiten abgeprüft werden, die in der späteren Berufs-(Praxis) nicht gefordert sind50, wobei aber nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes ein gewisser „Überschuss“ an Prüfungsan‑ forderungen bei einem besonders wichtigen Gemeinschaftsgut, dessen Schutz bezweckt wird, nicht zu beanstanden ist51. Aber auch bei zweckentsprechender Ausgestaltung der Prüfung und ins‑ besondere Geeignetheit und Angemessenheit des Prüfungsstoffes können die für den Beruf geeigneten Bewerber nur dann zutreffend ermittelt und von den ungeeigneten Kandidaten unterschieden werden, wenn die Leistung ei‑ nes jeden Kandidaten zutreffend ermittelt und bewertet wird. In diesem Sinne folgt aus Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG prinzipiell das Erfordernis der inhaltlichen Richtigkeit der Prüfungsentscheidung52. Die Bestimmung der Richtigkeit der Prüfungsentscheidung setzt aber das Vorhandensein entspre‑ chender objektiver Beurteilungsmaßstäbe voraus53. Während sich das Ver‑ fahren der Leistungsermittlung und -bewertung im Vorhinein grundsätzlich ohne Weiteres festlegen und dessen Einhaltung vollständig (gerichtlich) überprüfen lässt, ist die Richtigkeit der Bewertung als solche kaum be‑ stimmbar. Denn Prüfer gehen bei ihrem wertenden Urteil über die Qualität 48 Vgl. BVerwG, Urt. v. 09.08.1996 – 6 C 3.95, NVwZ-RR 1998, 176 (177); Urt. v. 29.05.2013 – 6 C 18/12, DVBl. 2013, 1122 (1124 f.); siehe auch BVerwGE 38, 105 (114); HessVGH, Urt. v. 29.04.2010 – 8 A 3247, LKRZ 2010, 471 (472); Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 380. 49 Vgl. Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 380; Guhl, S. 108. 50 Vgl. Haase, in: Johlen/Oerder, MAH VerwR, § 16, Rn. 91. 51 Vgl. BVerfGE 80, 1 (24), in Bezug auf die ärztliche Ausbildung/Prüfung. Im Hinblick auf die juristische Ausbildung/die juristischen Prüfungen dürfte aber ange‑ sichts der konstituierenden Bedeutung einer effektiven Rechtspflege für einen funk‑ tionierenden Rechtsstaat nichts anderes gelten; siehe zum Ganzen grundsätzlich auch Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 384; siehe jetzt auch BVerwG, Urt. v. 29.05.2013 – 6 C 18/12, DVBl. 2013, 1122 (1125). 52 Zutreffend Becker, S. 94, der allerdings zu Unrecht die inhaltliche Richtigkeit der Prüfungsentscheidung in den Vordergrund rückt und der Form und dem regelge‑ rechten Zustandekommen weniger Bedeutung beimisst. Richtig dürfte vielmehr sein, dass das regelgerechte Zustandekommen nicht zuletzt auch im Hinblick auf die zu gewährleistende Chancengleichheit aller Prüflinge Bedingung der inhaltlichen Rich‑ tigkeit der Entscheidung ist. 53 Vgl. insoweit auch Pietzcker, S. 168: „der Begriff der ‚richtigen‘ Entscheidung ist seinerseits auf Wertungen verwiesen“.
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Kap. 3: Verfassungsrechtliche Determinanten
der Prüfungsleistung auch von persönlichen Einschätzungen, Erfahrungen und Vorstellungen aus, die sie im Laufe ihrer Examenspraxis bei vergleich‑ baren Prüfungen entwickelt haben und allgemein anwenden54, so dass die Bewertung einer Prüfungsleistung auch auf komplexen Erwägungen beruht, die sich nicht regelhaft in objektivierbaren Maßstäben erfassen lassen55, an denen die Bewertung gemessen und deren (Un‑)Richtigkeit festgestellt wer‑ den könnte. Ausgehend von dieser Erkenntnis wird dem Prüfer im Bereich der sogenannten prüfungsspezifischen Wertungen56 ganz überwiegend ein Bewertungsspielraum eingeräumt, dessen Ausübung nach überwiegender Meinung gerichtlich nur eingeschränkt überprüfbar sein soll57. Die (konkre‑ te) Reichweite eines insoweit angenommenen Bewertungsspielraums ist ebenso wie der Inhalt der um seine Legitimation bzw. Legitimierbarkeit geführten Diskussion erst zu einem späteren Zeitpunkt zu klären58. In die‑ sem Abschnitt bedarf es zunächst nur der Feststellung, dass es selbst bei der Ablehnung eines Bewertungsspielraums des Prüfers der Benennung von Kriterien bedarf, an denen der Prüfer seine Bewertung auszurichten hat, und die als (objektiver) Überprüfungsmaßstab im Rahmen der (gerichtlichen) Überprüfung der Richtigkeit der Bewertung fungieren können. Soweit es – wie im Regelfall – an expliziten normativen Vorgaben dies‑ bezüglich mangelt, gewinnt die Herausarbeitung allgemeiner Bewertungs‑ grundsätze im Sinne zwingender verfassungsrechtlicher oder aus sonstigen Gründen beachtlicher (Bewertungs‑)Vorgaben an Bedeutung. Diese lassen sich insbesondere aus dem Schutzbereich des Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG extrahieren und sind nachfolgend darzustellen. Es bedarf aber bereits jetzt des klarstellenden Hinweises, dass die solchermaßen begründbaren Anforde‑ rungen nicht notwendigerweise dem Maß der (gerichtlichen) Kontrolle der Prüfungsentscheidung entsprechen (müssen). Wenn die juristischen Staatsprüfungen der Überprüfung dienen, ob die Kandidaten die Mindestqualifikationen erfüllen, ohne die eine verantwor‑ tungsvolle und sachgerechte Ausübung des Berufs des Richters etc. nicht gelingen kann, folgt aus der soeben geforderten Richtigkeit der Prüfungs‑ entscheidung und somit aus dem Gewährleistungsgehalt des Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG auch der selbstverständliche Anspruch eines jeden Prüflings, 54 Vgl. BVerfGE 84, 34 (51 f.); BVerwGE 91, 261 (273 f.); 99, 185 (197); BVer‑ wG, Bes. v. 13.05.2004 – 6 B 25/04, NVwZ 2004, 1375 (1376). 55 BVerfGE 84, 34 (52). 56 Siehe zu diesen BVerfGE 84, 34 (53); BVerwG, Bes. v. 13.05.2004 – 6 B 25/04, NVwZ 2004, 1375 (1377); Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 635. 57 BVerfGE 84, 34 (52); BVerwG, Bes. v. 13.05.2004 – 6 B 25/04, NVwZ 2004, 1375 (1377); Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 874 ff., anders insbesondere Ibler, S. 372 ff., insb. S. 378 f., zusammenfassend S. 413. 58 Siehe Kapitel 6 II., III.
A. Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG41
dass sämtliche von ihm erbrachten (Teil‑) Leistungen, die – wenn viel‑ leicht auch nur in Ansätzen – eine Eignung für den angestrebten Beruf erkennen lassen, Grundlage der Bewertung des Prüfers werden. Dieses Postulat beschränkt sich aber nicht auf die evidente Verpflichtung des Prüfers, den Gegenstand der Bewertung und insoweit die Kenntnisse und Fähigkeiten des Prüflings vollständig und zutreffend zu ermitteln und sei‑ ne Entscheidung demgemäß auf einer vollständigen Tatsachengrundlage zu treffen59. Zutreffend hat das Bundesverfassungsgericht unmittelbar aus Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG auch einen allgemeinen Bewertungsgrundsatz des Inhalts abgeleitet, dass eine vertretbare und mit gewichtigen Argumenten folgerich‑ tig begründete Lösung nicht als falsch bewertet werden darf60, da eine solche nämlich eine Eignung für den angestrebten Beruf erkennen lässt. Weiter folgt aus Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG, dass die vom Prüfling erbrachten brauchbaren (Teil‑) Leistungen mit dem Gewicht in der Gesamtbewertung berücksichtigt werden müssen, wie es unter Berücksichtigung des Zwecks der juristischen Staatsprüfungen geboten erscheint, während auf der anderen Seite Mängel der Leistung, die keine ernstlichen Zweifel an der juristischen Befähigung des Kandidaten aufkommen lassen können, auch nicht wesent‑ lich negativ in der Gesamtbewertung berücksichtigt werden dürfen. Damit folgen bereits unmittelbar aus Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG Postulate für die Gewichtung und Abwägung der (Teil‑)Leistung(en) des Prüflings, die für die (gebotene) Kontrolle der Prüfungsentscheidung und somit die Rechts‑ schutzmöglichkeiten des Prüflings, wie im Einzelnen noch aufzuzeigen sein wird, von besonderer Bedeutung sind. Soweit verfassungsrechtlich die Ausgestaltung und Durchführung der Prüfung durch ihren Zweck begrenzt ist, die für die Berufsausübung geeig‑ neten Kandidaten zu ermitteln und von den ungeeigneten zu unterscheiden, dürfen im Rahmen der Leistungsbewertung nur Bewertungskriterien heran‑ gezogen werden, die in einem inhaltlichen Zusammenhang mit dem Zweck der Leistungskontrolle stehen. Demgemäß folgt aus Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG das Verbot der Anstellung sachfremder Erwägungen, d. h. das Abstellen auf Kenntnisse und Fähigkeiten, die im Rahmen der späteren Berufsaus‑ übung irrelevant sind61. 59 Vgl. BVerwGE 70, 143 (145 f.); Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 619, indes ohne den Rekurs auf Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG, sowie zum „Sachverhaltsirrtum“ als Be‑ wertungsfehler Rn. 620 und 679 m. Fn. 318 sowie näher unten Kapitel 6 III. 1. a). 60 BVerfGE 84, 34 (55). Neuerdings spricht das Bundesverfassungsgericht wohl vereinfachend nur noch von „guten“ Gründen, siehe BVerfG, Bes. v. 04.11.2010 – 1 BvR 3389/08, NVwZ 2011, 486 (489). 61 Siehe zum Verbot sachfremder Erwägungen im Rahmen der Bewertung von Prüfungsleistungen einstweilen nur BVerwG, Bes. v. 13.05.2004 – 6 B 25/04, NVwZ
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Kap. 3: Verfassungsrechtliche Determinanten
Im engen Zusammenhang mit dem Verbot der Anstellung sachfremder Erwägungen steht das bislang als allgemeiner Bewertungsgrundsatz verstan‑ dene Gebot der Sachlichkeit der Bewertung62. Dieses lässt sich ebenfalls ohne Rekurs auf andere verfassungsrechtliche Bestimmungen bzw. Grund‑ sätze unmittelbar aus dem Gewährleistungsgehalt des Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG ableiten63. Denn wenn der Prüfer die Leistung des Prüflings nicht mit innerer Distanz und frei von übermäßigen Emotionen zur Kenntnis nimmt64, besteht zunächst die Gefahr, dass er ihre zu Recht oder Unrecht monierten Mängel mit einem unangemessenen bzw. unter Beachtung des Verhältnismä‑ ßigkeitsgrundsatzes unzulässigen Gewicht in der Gesamtbewertung berück‑ sichtigt. Zudem wird möglicherweise aufgrund der Echauffierung des Prü‑ fers über die vermeintlich oder tatsächlich schwache Prüfungsleistung sein Blick auf die (vorhandenen) brauchbaren (Teil‑)Leistungen verstellt und / oder diese werden von ihm nicht mehr mit dem ihnen objektiv zukommenden Gewicht in der Gesamtbewertung berücksichtigt65. Bei einem Verstoß gegen das Sachlichkeitsgebot besteht mithin keine Gewähr mehr für eine zutref‑ fende Bewertung der Leistungen des Prüflings und damit für eine Richtig‑ keit der Bewertung66. Dass der Prüfling unter Berufung auf Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG die Ein‑ haltung der vorstehenden Bewertungsgrundsätze und bei ihrer Verletzung 2004, 1375 (1377); Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 642, und allgemein im Rahmen von Abwägungsentscheidungen Riehm, S. 59. 62 Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 642. 63 Grundlegend zum Sachlichkeitsgebot BVerwGE 70, 143 (151 f.), das diesen Bewertungsgrundsatz aber aus Art. 3 Abs. 1 GG unter dem Aspekt der zu gewähr‑ leistenden Chancengleichheit sowie aus dem in Art. 20 Abs. 3 GG niedergelegten Rechtsstaatsprinzip ableitet; siehe zu den dogmatischen Grundlagen und dem Inhalt des Sachlichkeitsgebotes auch Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 328 f., 642, 656. 64 Im Allgemeinen wird gefordert, dass der Prüfer die Prüfungsleistung „frei von Emotionen“ zur Kenntnis nehmen müsse: BVerwGE 70, 143 (151 f.); BVerwG, Bes. v. 08.03.2012 – 6 B 36/11, NJW 2012, 2054 (2056); BayVGH, Bes. v. 21.11.2011 – 7 ZB 11.1320, BayVBl. 2012, 214 (215); st. Rspr.; Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 331; richtigerweise ist diese Forderung aber illusorisch, da eine Bewertung ohne jede Emotion nicht denkbar ist. Verlangt werden kann daher nur, dass der Abwä‑ gungsprozess nicht maßgeblich durch Emotionen geprägt und dadurch irrational geworden ist, vgl. zutreffend Riehm, S. 97. 65 Vgl. auch BVerwGE 70, 143 (151 f.), nach der aus dem Sachlichkeitsgebot die Verpflichtung des Prüfers folgt, sich zu bemühen, die Darlegungen des Prüflings richtig zu verstehen und auf dessen Gedankengänge einzugehen. 66 Vgl. insoweit auch Becker, S. 94 f.: „… es kommt darauf an, die Prüfung nach einem Modus abzuwickeln, der sicherstellt, dass Prüfungsentscheidungen fallen, an deren Richtigkeit Zweifel vernünftigerweise nicht mehr auftauchen“; Pietzcker, S. 167; siehe aus neuerer Zeit allgemein Riehm, S. 97 ff., S. 174, zur Notwendigkeit einer sachlichen Begründung als formale Grundvoraussetzung für die pragmatisch verstandene Richtigkeit der Abwägungsentscheidung.
A. Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG43
grundsätzlich eine Neubewertung seiner Prüfungsleistung(en) verlangen kann, liegt nach dem Ausgeführten auf der Hand, weil sich die Nichteinhal‑ tung bestehender Bewertungsvorgaben negativ auf ihre Bewertung auswir‑ ken und seine Chancen, die Berufszugangsberechtigung zu erwerben, ver‑ schlechtern kann. In seinen Rechten ist der Prüfling bei zutreffender Betrachtung des Vor‑ gangs der Prüfung aber grundsätzlich auch dann tangiert, wenn zwar bei der Bewertung seiner Leistungen die vorstehenden Bewertungsgrundsätze eingehalten, bei anderen Kandidaten aber andere Maßstäbe angelegt wor‑ den sind, indem etwa ein Prüfer im Laufe des Korrekturdurchgangs einen Mangel bei den ersten Arbeiten noch moniert und in der Gesamtbewertung berücksichtigt, später aber über diesen hinweggesehen hat. Die Rechtsbe‑ einträchtigung resultiert hier konkret daraus, dass derjenige Prüfling, bei dem im Vergleich zu den anderen Prüflingen noch ein strengerer Bewer‑ tungsmaßstab angelegt worden ist, nicht die gleiche Chance auf eine gute Bewertung und infolgedessen den Berufszugang hatte wie die anderen Kandidaten67. Aus dem Gewährleistungsgehalt des Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG lässt sich aber ohne Weiteres das Recht eines jeden Grundrechtsträgers ableiten, bei dem Versuch, die Berufszugangsberechtigung durch die Absolvierung der geforderten Ausbildung und Prüfungen zu erwerben, dieselben Chancen zu erhalten wie alle anderen Grundrechtsberechtigten, mit denen er um den Berufszugang konkurriert. Dies ergibt sich aus der banalen Erkenntnis, dass nach Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG allen und nicht nur einigen Deutschen grundsätzlich das Recht zusteht, ihren Beruf frei zu wählen. Wenn auch dieses Freiheitsrecht wie gesehen durch eine subjektive Zulassungsschranke in Form einer vorgesehenen Ausbildung und der ihre Abschnitte abschlie‑ ßenden Prüfungen zulässigerweise reglementiert werden kann, so muss diese wenigstens bei allen Bewerbern in gleicher Art und Weise angewendet werden, indem insbesondere bei der Beurteilung der im Rahmen der Prü‑ fung erbrachten Leistungen dieselben Bewertungsmaßstäbe angewendet werden. Mit anderen Worten sind die Beschränkungen der Berufswahlfreiheit nur dann gerechtfertigt, wenn für alle Prüflinge die formal gleiche Chance be‑ 67 Vgl. zu dem Zusammenhang zwischen der Bevorzugung des einen Teils der Kandidaten und der daraus resultierenden Benachteiligung der Chancengleichheit der anderen Prüflinge Pietzcker, S. 187 f.; siehe in diesem Zusammenhang auch Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 489 und 538, zu den unter dem Gesichtspunkt der Chancengleichheit relevanten Nachteilen, wenn die Leistungen der bevorteilten Prüf‑ linge die Bildung des Maßstabs für die „durchschnittlichen Anforderungen“ beein‑ flusst haben.
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Kap. 3: Verfassungsrechtliche Determinanten
steht, die Berufszugangsberechtigung zu erwerben68. Diese Erkenntnis gründet letztlich auf der gleichheitsrechtlichen Dimension, die jedem Frei‑ heitsgrundrecht innewohnt69, und wie gesehen auch Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG zu entnehmen ist70. Sie lässt sich aber auch daraus gewinnen, dass – was mit der Konkurrenz der Prüflinge um den Berufszugang en passant bereits im Ansatz zum Aus‑ druck gebracht wurde – die Prüflinge zueinander in einem Wettbewerbsver‑ hältnis stehen71. Insoweit ist zu berücksichtigen, dass das Bestehen der juristischen Prüfun‑ gen Grundvoraussetzung für das Ergreifen der juristischen Berufe ist, darüber hinaus aber insbesondere der Zugang zum Staatsdienst und zum Richterberuf von der erzielten Abschlussnote und davon auch das berufliche Fortkommen in der Privatwirtschaft abhängt72. Man kann insoweit von einem natürli‑ chen – äußeren – Wettbewerbsverhältnis73 sprechen. Der Wettbewerbscharak‑ ter der Prüfung ist gesetzlich mittlerweile teils ausdrücklich festgeschrie‑ ben74. Ein Konkurrenzverhältnis besteht aber auch innerhalb des Prüfungs‑ verfahrens75, da die Bewertung der jeweiligen Leistungen nicht nur nach ei‑ nem absoluten Maßstab, sondern auch im Vergleich mit den übrigen Arbeiten erfolgt, so dass etwa zu gut bewertete Arbeiten den – insbesondere für eine durchschnittlichen Anforderungen noch gerecht werdende Arbeit anzulegen‑ den – Maßstab76 zulasten der schwächeren Arbeiten beeinflussen können77. 68 Vgl. Guhl, S. 114; Lindner, in: Geis, Kapitel II, Rn. 131; ders. BayVBl. 1999, 100 (101); siehe auch Pietzcker, S. 187 f., der allerdings die Chancengleichheit prin‑ zipiell aus Art. 3 Abs. 1 GG ableitet; so auch Becker, S. 98; Eisvogel, S. 43; siehe aber auch Pietzcker, S. 188: „Wenn man auf die Verletzung eines sonstigen Rechtes abstellt, kommt man zu demselben Ergebnis, weil Art. 12 I berührt ist.“ 69 Siehe zur gleichheitsrechtlichen Dimension der Freiheitsrechte Lindner, NJW 1998, 1208 (1209 f.). 70 Lindner, BayVBl. 1999, 100 (101). 71 Ebenso BVerfGE 37, 342 (353 f.); BVerwG, Bes. v. 11.06.2010 – 6 B 86/09, juris, Rn. 10; BVerwGE 41, 34 (36); Pietzcker, S. 165, S. 187 f.; Becker, S. 98; Eisvogel, S. 44; ablehnend Guhl, S. 115, der diesen Ansatz für „gekünstelt“ hält. 72 Zutreffend BVerfGE 37, 342 (353); 84, 34 (50 f.); Pietzcker, S. 165, S. 188; Becker, S. 98. 73 Siehe zum Begriff des „natürlichen Konkurrenzverhältnisses“ BVerfGE 37, 342 (353 f.). 74 Siehe § 2 Abs. 1 Satz 2 JAG Sachsen; Art. 74 Abs. 2 Satz 1 Bayerische Ver‑ fassung. 75 Pietzcker, S. 188; Eisvogel S. 44. 76 Siehe zu dessen Maßgeblichkeit § 1 Bundesnotenverordnung. 77 Vgl. OVG Lüneburg, Bes. v. 29.09.2015 – 2 ME 234/15, juris, Rn. 5 f.; OVG NRW, Urt. v. 20.11.2012 – 14 A 755/11, NVwZ-RR 2013, 469 (470); Pietzcker, S. 188; Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 538.
A. Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG45
Wegen dieses natürlichen Konkurrenzverhältnisses zwischen den Prüflin‑ gen hat das Bundesverwaltungsgericht bereits frühzeitig – allerdings zu‑ nächst primär aus dem allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG und nur unter kontextlicher Erwähnung des Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG – den Grundsatz der Chancengleichheit aller Prüflinge mit Wirkung für die Aus‑ gestaltung und Durchführung der Prüfungen abgeleitet78. Erst in späteren Entscheidungen wurde erkannt und betont, dass der Inhalt des in Art. 3 Abs. 1 GG wurzelnden Chancengleichheitsgrundsatzes maßgeblich auch durch den Gewährleistungsgehalt des Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG mitgeprägt wird79. Seit dieser Erkenntnis wird der Chancengleichheitsgrundsatz zu‑ sätzlich aus dieser Verfassungsnorm deduziert und ihm ein das Prüfungs‑ recht „beherrschender“80 Charakter zugesprochen81. In der Literatur findet der Chancengleichheitsgrundsatz allseits Anerkennung82; er wird aber wie hier teilweise bereits unmittelbar aus dem Gewährleistungsgehalt des Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG abgeleitet83. Erst diese zusätzliche Lokalisierung des Chancengleichheitsgrundsatzes in Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG konturiert und plausibilisiert den nun darzustel‑ 78 BVerwGE 41, 34 (36); zuvor bereits – allerdings ohne diesen mit der Kon‑ kurrenzsituation und mit dem Gewährleistungsgehalt des Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG zu begründen – BVerwGE 14, 31 (34); BVerwG, Bes. v. 06.03.1962 – VII B 42.61, DÖV 1962, 955 (955); Urt. v. 22.03.1963 – VII C 141.61, DÖV 1963, 475 (475); Urt. v. 03.05.1963 – VIIC 46.62, GewArch 1963, 286 (287). 79 Richtungsweisend BVerwG, Bes. v. 26.08.1988 – 7 C 76/87, Buchholz 421.0 Nr. 257, 68 (73). 80 Siehe zum „beherrschenden“ Charakter des Chancengleichheitsgrundsatzes BVerwG, Bes. v. 26.08.1988 – 7 C 76/87, Buchholz 421.0 Nr. 257, 68 (73); BVerfGE 84, 34 (52). In den dort zitierten Entscheidungen [BVerfGE 37, 342 (352 f.); 79, 212 (218)] ist vom „beherrschenden“ Charakter des Chancengleichheitsgrundsatzes noch nicht die Rede. 81 Den „Wendepunkt“ in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichtes markiert insoweit BVerwG, Bes. v. 26.08.1988 – 7 C 76/87, Buchholz 421.0 Nr. 257, 68 (73), und dann nachfolgend BVerwG, Bes. v. 11.04.1996 – 6 B 13/96, NVwZ 1997, 502 (502): „ggf. in Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG verankerte“; BVerwG, Urt. v. 19.12.2001 – 6 C 14/01, NVwZ 2002, 1375 (1376): „nach dem in Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG verankerten“; ebenso: BVerwG, Urt. v. 10.10.2002 – 6 C 7/02, NJW 2003, 1063 (1063); Bes. v. 28.10.2004 – 6 B 51/04, juris, Rn. 20; wiederum nur auf den Gewährleistungsgehalt des Art. 3 Abs. 1 GG rekurrierend demgegenüber BVerwG, Bes. v. 11.06.2010 – 6 B 86/09, juris, Rn. 10. 82 Pietzcker, S. 163 ff.; Guhl, S. 113 f.; Becker S. 97 ff.; Eisvogel, S. 42 ff., Lampe, S. 54 f.; Niehues/Fischer/Jeremias, insb. Rn. 4 und 18 und öfter; Zimmerling/ Brehm, Prüfungsrecht, insb. Rn. 87 ff.; Lindner, in: Geis, Kapitel II, Rn. 131 f.; ders. BayVBl. 1999, 100 (101); Reich, HRG, § 16 Rn. 4; Schnellenbach, in: Hartmer/ Detmer, HSchR, Kapitel XII, Rn. 37. 83 Lindner, in: Geis, Kapitel II, Rn. 131 f.; ders. BayVBl. 1999, 100 (101); wohl auch Reich, HRG, § 16, Rn. 4.
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Kap. 3: Verfassungsrechtliche Determinanten
lenden Gewährleistungsgehalt des Chancengleichheitsgrundsatzes. Denn auch wenn dieser seine verfassungsrechtliche Wurzel primär in Art. 3 Abs. 1 GG hat, der es nur verbietet, ohne sachlich gerechtfertigten Grund wesent‑ lich Gleiches ungleich und wesentlich Ungleiches gleich zu behandeln84, hat der Chancengleichheitsgrundsatz eine strenge, über das Willkürverbot hin‑ ausgehende Ausprägung erfahren85. Er hat eine absolute formale Gleichstel‑ lung zum Inhalt, von der Ausnahmen nur dann gemacht werden dürfen, wenn diese unabdingbar erforderlich sind86, und gebietet für ein Prüfungs‑ verfahren, möglichst gleichmäßige Voraussetzungen für alle Prüflinge zu schaffen und damit allen Prüflingen gleiche Erfolgschancen einzuräumen oder – negativ formuliert – die Prüflinge nicht vor unterschiedliche Prü‑ fungsbedingungen zu stellen87. Nach dem Grundsatz der Chancengleichheit müssen für vergleichbare Prüflinge so weit wie möglich vergleichbare Prü‑ fungsbedingungen und Bewertungskriterien gelten88. Seine Wirkung er‑ schöpft sich nicht in der Forderung nach einer möglichst formal gleichen Gestaltung des Prüfungsverfahrens. Er wirkt auch auf den Vorgang der Leistungsbewertung89 und auf die Kontrolle und Korrektur der Bewertung in dem Sinne ein, dass es einem Prüfling weder zum Vorteil noch zum Nachteil gereichen darf, dass er die Anerkennung eines Bewertungsfehlers mit Hilfe eines Rechtsbehelfs erstreiten muss90. Da der Chancengleichheitsgrundsatz auf die Schaffung bzw. Erhaltung gleicher Wettbewerbsbedingungen abzielt, steht er nicht erst Maßnahmen im Wege, die die namentlich aus Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG folgenden materiel‑ len Rechte des Prüflings unmittelbar beeinflussen. Seine Schutzwirkungen greifen bereits wesentlich früher und fordern eine Sicherung der Gleichstel‑ lung der Prüflinge schon in dem Bereich, in dem deren unterschiedliche Behandlung noch gar nicht zu unterschiedlichen Konsequenzen führen muss („Vorfeldsicherung“)91. Da nach umstrittener, aber zutreffender Auffassung ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG keine über die willkürliche Ungleichoder Gleichbehandlung hinausgehende Benachteiligung des Grundrechts 84 Kischel, in: Epping/Hillgruber, Beck’scher Online-Kommentar zum GG, Art. 3 I GG, Rn. 14 i. V. m. 24. 85 BVerfGE 37, 342 (353); BVerwG, Bes. v. 26.08.1988 – 7 C 76/87, Buchholz 421.0. Nr. 257, 68 (73). 86 Guhl, S. 114; Eisvogel, S. 42. 87 BVerwGE 41, 34 (35); Guhl, S. 116; Eisvogel, S. 43 f. 88 BVerfGE 84, 34 (52); BVerwG, Urt. v. 19.12.2001 – 6 C 14/01, NVwZ 2002, 1375 (1376); Urt. v. 10.10.2002 – 6 C 7/02, NJW 2003, 1063 (1063); Lindner, in: Geis, Kapitel II, Rn. 131. 89 Eisvogel, S. 45. 90 Vgl. BVerwG, Urt. v. 10.10.2002 – 6 C 7/02, NJW 2003, 1063 (1063). 91 Vgl. Guhl, S. 114; Eisvogel, S. 42.
A. Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG47
adressaten voraussetzt92, reicht dementsprechend für die Annahme der Ver‑ letzung des Chancengleichheitsgrundsatzes die bloße Möglichkeit aus, dass die unterschiedlichen Prüfungsbedingungen bzw. Bewertungskriterien das Bewertungsergebnis beeinflusst haben. Im Hinblick auf die erforderliche Vergleichbarkeit der Prüflinge ist zu beachten, dass nach dem Bundesverwaltungsgericht Chancengleichheit nicht nur innerhalb der einzelnen Prüfungsgruppe, sondern bezüglich der äußeren Prüfungsbedingungen auch im Verhältnis zu den Prüflingen anderer Prü‑ fungsgruppen zu gewährleisten ist93. Mithin ist nicht bloß ein Vergleich zwischen dem einzelnen Prüfling und den übrigen Prüflingen seiner konkre‑ ten Prüfungsgruppe zu ziehen. Der einzelne Prüfling ist vielmehr darüber hinaus auch mit allen übrigen Prüflingen vergangener und zukünftiger Gruppen zu vergleichen, die die gleiche berufliche Betätigung anstreben oder anstreben werden94. Die vorstehenden Ausführungen haben gezeigt, dass der Chancengleich‑ heitsgrundsatz (Aus‑)Wirkungen auf das gesamte Prüfungsverfahren hat und somit dirigierende Kraft angefangen vom Stadium der Leistungsermittlung über dasjenige der Bewertung bis hin zur Kontrolle / Korrektur derselben im Rechtsbehelfsverfahren entfaltet. Daraus ergeben sich zahlreiche konkrete rechtliche Anforderungen insbesondere für die äußere Gestaltung des Prü‑ fungsverfahrens, den Prüfungsinhalt, die Transparenz der Bewertung einer Prüfungsleistung und der Prüfungsentscheidung sowie für die verwaltungs‑ interne und verwaltungsgerichtliche Überprüfung einer Bewertung95. Im Hinblick auf diese weitreichende Steuerungswirkung wird dem Chancen‑ gleichheitsgrundsatz im Prinzip zu Recht ein „multifunktionaler“ Charakter für die Ausgestaltung des Prüfungsverfahrens zugesprochen96. Diese Cha‑ rakterisierung darf aber nicht – wie dies insbesondere in der Rechtsprechung immer wieder zu beobachten ist – dazu führen, bei allen auftretenden Fragen und Problemen reflexartig auf den Chancengleichheitsgrundsatz zu rekurrie‑ ren und dessen dogmatische Wurzeln zu vernachlässigen97. Vielmehr ist im Einzelfall stets nach der Vergleichbarkeit der Prüflinge bzw. der prüfungs‑ 92 Zutreffend Kischel, in: Epping/Hillgruber, Beck’scher Online-Kommentar zum GG, Art. 3 Rn. 19, mit einer Darstellung des Streitstandes. 93 BVerwG, Bes. v. 11.11.1975 – VII B 72/74, BayVBl. 1977, 183 (183); Guhl, S. 116. 94 Guhl, S. 116; Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 485 m. Fn. 706 und Rn. 501. 95 Vgl. Lindner, in: Geis, Kapitel II, Rn. 131; ders., BayVBl. 1999, 100 (102); zu den möglichen konkreten Folgerungen für die Ausgestaltung des Prüfungsverfah‑ rens siehe Lindner, BayVBl. 1999, 100 (102 ff.). 96 Lindner, in: Geis, Kapitel II, Rn. 131; ders., BayVBl. 1999, 100 (102). 97 In diese Richtung auch Schnellenbach, in: Hartmer/Detmer, HSchR, Kapi‑ tel XII, Rn. 39.
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Kap. 3: Verfassungsrechtliche Determinanten
relevanten Sachverhalte und insbesondere auch nach der Möglichkeit der Beeinflussung des Bewertungsergebnisses zu fragen. In Beherzigung dessen wird sich im Rahmen der nachfolgenden Untersuchung zeigen, dass der vermeintlich das Prüfungsrecht „beherrschende“ Grundsatz der Chancen‑ gleichheit in vielen Konstellationen, in denen er zur Ergebnisbegründung herangezogen wird, überhaupt gar nicht einschlägig ist, oder es dessen Heranziehung zumindest nicht bedarf. Ungeachtet dessen hat der Chancengleichheitsgrundsatz dort, wo dessen Gewährleistungen auf Verwirklichung drängen, fraglos ein besonderes Ge‑ wicht, was nicht zuletzt dessen doppelte, verfassungsunmittelbare Radizier‑ barkeit belegt98. Dementsprechend ist nach der Rechtsprechung namentlich der Gesetzgeber gehalten, die Chancengleichheit der Prüflinge so weit wie möglich sicherzustellen99. Aus der Formulierung „so weit wie möglich“ lässt sich ohne Weiteres die Verpflichtung des Gesetzgebers herauslesen, die Chancengleichheit der Prüflinge zu optimieren. Damit führt das als Optimierungsgebot verstandene Sicherstellungsgebot zu einem bekannten Terminus der Grundrechtstheorie100. Versteht man den Chancengleichheits‑ grundsatz als Optimierungsgebot101, dann sind neben dem Gesetzgeber auch die mit dem Vollzug des Prüfungsrechts Betrauten, die prüfenden Personen selbst sowie die Verwaltungsgerichte gefordert, dem Chancen‑ gleichheitsgrundsatz in möglichst hohem Maße zur Wirksamkeit zu verhel‑ fen102. Dementsprechend ist „jede Vorschrift des Prüfungsrechtes im Lich‑ te des Chancengleichheitsgrundsatzes anzuwenden und ggf. teleologisch zu erweitern oder zu reduzieren“103, soweit dessen „Schutzbereich“ tangiert ist. Da der Chancengleichheitsgrundsatz in erster Linie eine formelle Gleich‑ heit der Prüflinge in Form eines einheitlichen Verfahrens der Leistungser‑ mittlung und Bewertung sowie Kontrolle und Korrektur derselben fordert104, steht er im engen Zusammenhang mit der Figur des „Grundrechtsschutzes 98 Lindner,
BayVBl. 1999, 100 (101). 37, 342 (354); BVerwG, Bes. v. 26.08.1988 – 7 C 76/87, Buchholz 421.0 Nr. 257, 68 (73). 100 Vgl. insbesondere Alexy, S. 75 ff.; zum prozeduralen Grundrechtsoptimie‑ rungsgebot Tschentscher, in: Demel u. a., 165 (184) m. w. N.; allgemein zur gebote‑ nen Optimierung der verfassungsrechtlichen Inhalte unter dem Aspekt der Bindung der Verwaltung an Gesetz und Recht Ehlers, in: Erichsen/Ehlers, § 6, Rn. 2. 101 So ausdrücklich Lindner, in: Geis, Kapitel II, Rn. 131; ders. BayVBl 1999, 100 (101). 102 Lindner, in: Geis, Kapitel II, Rn. 131; ders. BayVBl. 1999, 100 (101). 103 Zur Formulierung und in der Sache Lindner, in: Geis, Kapitel II, Rn. 131. 104 Vgl. zur wünschenswerten, aber nicht realisierbaren inhaltlichen Gleichheit Lampe, S. 54 f. 99 BVerfGE
A. Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG49
durch Verfahren“105. Deren Ausgangspunkt ist die Erkenntnis, dass die ef‑ fektive Durchsetzbarkeit der von den materiellen Grundrechten geschützten Interessen ihr integraler Bestandteil ist106. Insoweit wäre der Grundrechts‑ schutz durch die alleinige Einräumung materieller Gewährleistungen unvoll‑ kommen, wenn dem Grundrechtsträger also keine Möglichkeiten zur Seite stünden, diese auch durchzusetzen. Das so verstandene grundrechtsunmittel‑ bare Effektivitätsgebot bezieht sich nicht allein auf die gerichtliche Durch‑ setzbarkeit der Grundrechte; es umfasst insbesondere auch die Struktur der aus den Grundrechten folgenden Abwehr- und Unterlassungsansprüche so‑ wie ihre Vorwirkung in das Verwaltungsverfahren107. Dementsprechend hat das Bundesverfassungsgericht frühzeitig zahlreichen Grundrechten und ins‑ besondere dem Gewährleistungsgehalt des Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG auch eine prozedurale Komponente entnommen: Grundrechtsschutz sei auch durch die Gestaltung des Verfahrens zu bewirken, da Grundrechte nicht nur das materielle Recht beeinflussten, sondern auch das Verfahrensrecht, so‑ weit dieses für einen effektiven Grundrechtsschutz von Bedeutung sei108. Die Figur des Grundrechtsschutzes durch Verfahren kann als punktuelle Ergänzung des materiellen Schutzes oder im Sinne eines prozeduralen Grundrechtsoptimierungsgebots verstanden werden109. Diese Einordnungs‑ frage bedarf hier allerdings keiner allgemeinen und grundsätzlichen Klärung, da der Chancengleichheitsgrundsatz nach dem Dargelegten zweifelsohne ein Optimierungsgebot darstellt. 105 Zur Bezeichnung als „Figur“ siehe Tschentscher, in: Demel u. a., 165 (182); zum Zusammenhang zwischen der Figur des Grundrechtsschutzes durch Verfahren und dem Optimierungsgebot siehe Lindner, BayVBl. 1999, 100 (102). 106 Huber, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 19 Abs. 4, Rn. 364. 107 Huber, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 19 Abs. 4, Rn. 364. 108 BVerfGE 52, 380 (389 f.); 53, 20 (65); 84, 34 (42 f.); BVerfG, Bes. v. 04.11.2010 – 1 BvR 3389/08, NVwZ 2011, 486 (489); siehe zur Entwicklung des Grundrechtsschutzes durch Verfahren in der Rechtsprechung des Bundesverfassungs‑ gerichtes Laubinger, VerwArch 73 (1982), 60 (62 f.); v. Mutius, NJW 1982, 2150 (2153 f.); aus der jüngeren Literatur etwa Jochum, S. 48 f.; allgemein Dolde, NVwZ 1982, 65 (65 f.); zum heutigen Stand der Dogmatik siehe etwa Bonk/Schmitz, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, § 1, Rn. 45 f. Den Bedenken, die an der Tragfähigkeit der dogmatischen Konstruktion des Bundesverfassungsgerichtes geäußert worden sind, kann im Rahmen dieser Darstellung nicht nachgegangen werden, vgl. insoweit etwa Dolde, NJW 1982, 65 (70); Laubinger, VerwArch 73 (1982), 60 (68 f.); Jochum, S. 55 ff., insbesondere S. 58, die dem Bundesverfassungsgericht im Ergebnis zustimmen, die Verfahrensgarantien aber unmittelbar aus dem Rechtsstaatsprinzip ableiten (Laubinger aaO, und Jochum, aaO). 109 Siehe zum Streitstand insoweit Tschentscher, in: Demel u. a., 165 (183 f.). Siehe speziell zum Grundrechtsschutz durch Verfahren bei berufsbezogenen Prüfun‑ gen und den Konsequenzen für die konkrete Verfahrensgestaltung v. Golitschek, BayVBl. 1994, 257 (258 f.); Wortmann, NWVBl. 1992, 304 (305, 313); Jochum, S. 49 f.; Eisvogel, S. 252 f.
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Kap. 3: Verfassungsrechtliche Determinanten
Erkennt man, wie dies ganz überwiegend geschieht110, die Figur des Grundrechtsschutzes durch Verfahren und insoweit also neben der genuinen materiellen auch eine prozedurale Gewährleistungskomponente an, lassen sich unmittelbar aus Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG eine Reihe von Anforderun‑ gen insbesondere für die Ausgestaltung des Verfahrens der Bewertung und ihrer Überprüfung ableiten. Hierzu gehört in erster Linie der vom Bundes‑ verfassungsgericht entwickelte Anspruch des Prüflings auf die Durchführung eines verwaltungsinternen Kontrollverfahrens, im Rahmen dessen er die Möglichkeit hat, zeitnah nach Bekanntgabe der Prüfungsentscheidung subs‑ tantiierte Einwände gegen die ihr zugrunde liegenden Bewertungen zu erhe‑ ben. Dieser stellt eine unerlässliche Kompensation für die nach wie vor bestehende Rechtsschutzlücke dar, die aus der immer noch begrenzten Möglichkeit der gerichtlichen Kontrolle der Bewertung resultiert111. Damit das verwaltungsinterne Kontrollverfahren – dessen Einleitungsund Durchführungsvoraussetzungen in Kapitel 7 ausführlich dargestellt werden – seinen Zweck, das Grundrecht der Berufsfreiheit effektiv zu schützen, erfüllen kann, müssen gewisse Voraussetzungen erfüllt sein. Es muss unter anderem gewährleistet sein, dass die Bewertungsentscheidungen nachvollziehbar begründet werden und der Prüfling das Recht hat, Einsicht in diese sowie die übrigen Prüfungs- und Bewertungsunterlagen zu neh‑ men112. Dementsprechend kann der Prüfling unmittelbar aus Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG, gestützt auf den der Effektivierung des Grundrechtsschutzes dienenden prozeduralen Gewährleistungsgehalt dieses Grundrechtes, einen Begründungsanspruch geltend machen, der ebenso wie das ihm zustehende Akteneinsichtsrecht in Kapitel 7 näher behandelt werden wird113. Unabhängig davon, ob gesetzliche – auf die Leistungsermittlung, -bewer‑ tung und ‑überprüfung abzielende – Verfahrensvorschriften zur Wahrung des Chancengleichheitsgrundsatzes oder der materiellen Gewährleistungen des Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG im Übrigen erlassen werden, haben sie grund‑ rechtsfördernden Charakter, so dass wie dargelegt die Wesentlichkeitslehre des Bundesverfassungsgerichtes auch insoweit Geltung beansprucht. Zu der danach vom Gesetzgeber in ihren wesentlichen Leitlinien zu regelnden Ma‑ 110 Vgl. die Nachweise in Fn. 144; siehe aber Kaufmann, S. 244 ff., der eine pro‑ zedurale Komponente der materiellen Grundrechte im Sinne des Effektivitätsgebots ablehnt, S. 276. 111 BVerfGE 84, 34 (46 f.) und 1. LS.; im Anschluss BVerwGE 92, 132 (136 f.); zuletzt nochmals bestätigt durch BVerwG, Bes. v. 09.10.2012 – 6 B 39/12, NVwZRR 2013, 44 (45). 112 Vgl. grundlegend BVerwGE 92, 132 (136); BVerwG, Bes. v. 09.10.2012 – 6 B 39/12, NVwZ-RR 2013, 44 (45). 113 Vgl. zur Ableitung dieses Rechts aus der Figur des Grundrechtsschutzes durch Verfahren an dieser Stelle nur Laubinger, VerwArch 73 (1982), 60 (75).
B. Art. 3 Abs. 1 GG 51
terie zählt auch die Ausgestaltung des Verwaltungsverfahrens, in welchem die Grenzen der konkurrierenden Freiheitsrechte abgesteckt werden sol‑ len114. Hier ist es erforderlich, eine Verfahrensordnung bereitzustellen, die an dieser Aufgabe orientiert und zugleich geeignet ist, das zu gewährleisten, was Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG gewährleisten will115. Das Gebot, Grundrech‑ te durch entsprechende Verfahrensvorschriften zu verwirklichen, richtet sich dabei zunächst an den Gesetzgeber116. Wirkt sich das Verwaltungsverfahren unmittelbar auf grundrechtlich geschützte Positionen aus, müssen die Ver‑ fahrensvorschriften in deren Interesse rechtssatzförmig festgelegt sein117. Dementsprechend bedarf – wie weiter unten noch im Einzelnen aufzuzeigen sein wird118 – insbesondere das verwaltungsinterne Kontrollverfahren einer formell-gesetzlichen Grundlage.
B. Art. 3 Abs. 1 GG Leitet man wie hier den Grundsatz der Chancengleichheit aller Prüflinge unmittelbar aus Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG ab, verliert der Gewährleistungs‑ gehalt des Art. 3 Abs. 1 GG als Direktive für die Ausgestaltung des juristi‑ schen Prüfungswesens an Bedeutung. Gleichwohl lässt sich jener jedenfalls auch aus dem Gleichheitsgrundsatz deduzieren und durch diese doppelte verfassungsrechtliche Ableitbarkeit wird wie ausgeführt die Bedeutung der Chancengleichheit für ein faires Prüfungsverfahren unterstrichen. Im Übrigen hat der Gleichheitsgrundsatz eigenständige Steuerungskraft119, soweit dessen Grundgedanken120 berührt werden oder berührt werden kön‑ nen. Da es insoweit nach Art. 3 Abs. 1 GG unzulässig ist, willkürlich we‑ sentlich Gleiches ungleich und wesentlich Ungleiches gleich zu behan‑ deln121, folgt aus dem Gleichheitssatz das Gebot, wesentlich gleiche Prü‑ fungsleistungen auch gleich zu bewerten122. Freilich lässt sich dieses wie‑ 114 BVerfGE
83, 130 (152). und mit dieser Formulierung in Bezug auf Art. 5 III GG: BVerfGE 83, 130 (152); 53, 30 (65); in Bezug auf Art. 16 GG: BVerfGE 65, 76 (94). 116 BVerfGE 83, 130 (152); 73, 280 (296). 117 BVerfGE 83, 130 (152). 118 Siehe Kapitel 7 B. 119 Siehe zur Bedeutung des Art. 3 Abs. 1 GG für die Ausgestaltung von Prüfun‑ gen auch Pietzcker, S. 162 f.; Kempen, in: Hartmer/Detmer, Kapitel I, Rn. 110. 120 Siehe zum „Grundgedanken“ des allgemeinen Gleichheitssatzes Kischel, in: Epping/Hillgruber, Beck’scher Online-Kommentar zum GG, Art. 3 I GG, Rn. 14. 121 Kischel, in: Epping/Hillgruber, Beck’scher Online-Kommentar zum GG, Art. 3 I GG, Rn. 14 m. Rn. 30. 122 Siehe zum verfassungsrechtlichen Gebot, Gleiches gleich zu bewerten, Nie hues/Fischer/Jeremias, Rn. 665. 115 So
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Kap. 3: Verfassungsrechtliche Determinanten
derum wie gezeigt auch schon aus dem aus Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG ableitbaren Chancengleichheitsgrundsatz gewinnen. Im Übrigen wird durch den Gewährleistungsgehalt des Art. 3 Abs. 1 GG insbesondere das allgemei‑ ne Willkürverbot bekräftigt, welches in Art. 20 Abs. 3 GG und dem hierin normierten Rechtsstaatsprinzip wurzelt123.
C. Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG Soweit dem Gewährleistungsgehalt des Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG eine prozedurale Komponente als Folgerung des Effektivitätsgebots als integra‑ lem Bestandteil eines jeden Grundrechtes124 entnommen wird, ergeben sich Überschneidungen mit dem Schutzbereich des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG125. Denn die Rechtsweggarantie des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG gewährleistet nicht nur gerichtlichen Rechtsschutz schlechthin, sondern auch dessen Ef‑ fektivität126. Der Bürger hat einen substantiellen Anspruch auf eine tatsäch‑ lich wirksame gerichtliche Kontrolle127. Dieses somit auch dem Gewähr‑ leistungsgehalt des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG innewohnende Effektivitätsge‑ bot äußert ebenso wie dasjenige des Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG Vorwirkungen auf das dem gerichtlichen Rechtsschutzverfahren vorgelagerte Verwaltungs‑ verfahren, das so zu gestalten ist, dass der durch die behördliche Maßnah‑ me Betroffene wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz in Anspruch nehmen kann128. Demgemäß folgt auch aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG ein Recht des Prüflings auf eine nachvollziehbare Bewertungsbegründung und auf Akten‑ einsicht, weil er ansonsten seine aus Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG folgenden Rechte nicht wahrnehmen und die Erfolgsaussichten eines Rechtsbehelfs nicht abschätzen könnte. Hinsichtlich der sich aus dem Effektivitätsgebot ergebenden Vorwirkungen für die Gestaltung des Verwaltungsverfahrens 123 Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 639; allgemein zum Willkürverbot und seiner Verortung auch im Rechtsstaatsprinzip siehe Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 3 Abs. 1, Anhang, Rn. 5. 124 Vgl. Huber, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 19, Rn. 364. 125 Vgl. Huber, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 19, Rn. 364. 126 BVerfG, Bes. v. 08.12.2011 – 1 BvR 1932/08, NVwZ 2012, 694 (695); BVerfGE 129, 1 (20); BVerfG, Bes. v. 10.12.2009, NVwZ 2010, 435 (437); BVerfGE 84, 34 (49); Huber, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 19, Rn. 459; Lindner, in: Geis, Kapitel II, Rn. 128; Laubinger, VerwArch 73 (1982), 60 (82). 127 BVerfGE 35, 382 (401 f.); 84, 34 (53); 84, 59 (77); Bes. v. 10.12.2009 – 1 BvR 3151/07, NVwZ 2010, 435 (437); Bes. v. 04.11.2010 – 1 BvR 3389/08, NVwZ 2011, 486 (489); Bes. v. 08.12.2011 – 1 BvR 1932/08; NVwZ 2012, 694 (695); BVerfGE 129, 1 (20); Laubinger, VerwArch 73 (1982), 60 (82); Huber, in: v. Man‑ goldt/Klein/Starck, GG, Art. 19, Rn. 460. 128 Laubinger, VerwArch 73 (1982), 60 (82).
C. Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG 53
unter dem Gesichtspunkt des zu gewährleistenden Grundrechtsschutzes durch Verfahren führen Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG und Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG zu identischen Ergebnissen und sind nebeneinander anwendbar. Im unmittelbaren Gewährleistungsbereich der Rechtsschutzgarantie ist für ei‑ nen Rückgriff auf materielle Grundrechte und damit auf Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG aber weder Raum noch Bedarf129. Insoweit gilt es zu betonen, dass aus dem aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG dargelegten Anspruch des Bür‑ gers auf eine tatsächlich wirksame gerichtliche Kontrolle grundsätzlich die Pflicht der Gerichte folgt, die angefochtenen Verwaltungsakte in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht vollständig nachzuprüfen130. Dies soll eine Bin‑ dung an die im Verwaltungsverfahren getroffenen Feststellungen und Wer‑ tungen im Grundsatz ausschließen131. Hiervon wird seit jeher eine umstrit‑ tene Ausnahme für Prüfungsentscheidungen gemacht, die gerichtlich nur eingeschränkt überprüfbar sein sollen132. Insoweit hat das Bundesverfas‑ sungsgericht aber in seiner „Juristenentscheidung“133 die fachwissenschaft‑ lichen Bewertungen der Prüfer einer engeren gerichtlichen Kontrolle unter‑ worfen, indem es einen Bewertungsspielraum nur noch im Bereich der prüfungsspezifischen Wertungen anerkennt134. Auf die dogmatischen Grundlagen dieses Bewertungsspielraums und dessen umstrittene Anerken‑ nung wird ebenso wie auf die fach- und prüfungsspezifischen Wertungen im Laufe der weiteren Untersuchung noch näher einzugehen sein. Hier sei nur vorweggenommen, dass auch diese Untersuchung die Legitimität des Bewertungsspielraums im Ergebnis nicht in Frage stellen wird. Soweit mit dessen Anerkennung eine beschränkte (gerichtliche) Kontrolle der Richtig‑ keit der Prüfungsentscheidung und damit ein Rechtsschutzdefizit auf Seiten des Prüflings einhergeht, wird die verfassungsrechtliche Notwendigkeit, dieses durch die Durchführung eines verwaltungsinternen Kontrollverfah‑ rens auszugleichen, aber (auch) dem Gewährleistungsgehalt des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG entnommen. Demgegenüber sieht das Bundesverfas‑ sungsgericht die verfassungsrechtlichen Wurzeln dieses Verfahrens mehr in 129 Huber,
in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 19 Abs. 4 GG, Rn. 364. 84, 34 (49); BVerfG, Bes. v. 08.12.2011 – 1 BvR 1932/08, NVwZ 2012, 694 (695); BVerfGE 129, 1 (20). 131 BVerfGE 61, 82 (110 f.); 78, 214 (226); 84, 34 (49); BVerfG, Bes. v. 10.12.2009, NVwZ 2010, 435 (437); BVerfGE 129, 1 (20); BVerfG, Bes. v. 08.12.2011 – 1 BvR 1932/08, NVwZ 2012, 694 (695). 132 BVerfGE 84, 34 (53); BVerwGE 92, 132 (137); BVerwG, Bes. v. 13.05.2004 – 6 B 25/04, NVwZ 2004, 1375 (1376); Bes. v. 08.03.2012 – 6 B 36/11, NJW 2012, 2054 (2056); Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 874 ff.; Zimmerling/Brehm, Der Prü‑ fungsprozess, Rn. 142; anders insbesondere Ibler, S. 372 ff., insb. S. 378 f., zusam‑ menfassend S. 413. 133 BVerfGE 84, 34 (53). 134 BVerfGE 84, 34 (53). 130 BVerfGE
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Kap. 3: Verfassungsrechtliche Determinanten
der verfahrensrechtlichen Komponente des Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG denn in Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG135.
D. Art. 20 Abs. 3 GG Neben den vorstehend beleuchteten verfassungsrechtlichen Gewährleis‑ tungen ist schließlich noch das in Art. 20 Abs. 3 GG verankerte Rechts‑ staatsprinzip136 namentlich in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungs‑ gerichtes für die Gewinnung spezieller prüfungsrechtlicher und allgemeiner Grundsätze bzw. Maßstäbe von Bedeutung. Schon in einer der ersten zum Prüfungsrecht ergangenen Entscheidungen ist das Rechtsstaatsprinzip dort als für das Prüfungsrecht wesentliches Verfassungsprinzip bezeichnet und damit bereits zu einem Zeitpunkt als potentielle Rechtsquelle benannt wor‑ den137, als das Bundesverwaltungsgericht aus ihm noch gar keine Folgerun‑ gen zugunsten des Prüflings abgeleitet hatte. Erst wesentlich später ist aus dem Rechtsstaatsprinzip zunächst das Recht des Prüflings auf ein faires Prüfungsverfahren bzw. das Gebot der Fairness138 entwickelt und dies so‑ gleich zum Anlass genommen worden, dem Rechtsstaatsprinzip neben dem Grundsatz der Chancengleichheit in nachfolgenden Entscheidungen eine das Prüfungsrecht beherrschende Stellung einzuräumen139. Gleichsam zur Untermauerung dieser Bedeutungszuschreibung hat das Bundesverwal‑ tungsgericht dann einige Jahre später in einer grundlegenden Entscheidung dem Rechtsstaatsprinzip sowohl das Gebot der Sachlichkeit140 als ersten allgemeingültigen Bewertungsgrundsatz als auch die Regel entnommen, dass einem Prüfling nicht die Beweislast dafür aufgebürdet werden dürfe, dass sich ein festgestellter Bewertungsfehler auf das Prüfungsergebnis aus‑ gewirkt habe141. Zudem hat es von Anfang an entsprechend seiner jeden‑ 135 Vgl. BVerfGE 84, 34 (45 f.); BVerwGE 92, 132 (136 f.); BVerwG, Bes. v. 09.10.2012 – 6 B 39/12, NVwZ-RR 2013, 44 (45 f.); Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 786; Lindner, in: Geis, Kapitel II, Rn. 132; Zimmerling/Brehm, Der Prüfungs‑ prozess, Rn. 18, in Rn. 27 aber auch auf Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG rekurrierend. 136 Siehe etwa BVerwGE 70, 143 (148, 151); 78, 367 (370); BVerwG, Urt. v. 24.02.1993 – 6 C 38/93, NVwZ 1993, 686 (686); Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20, Rn. 1. 137 BVerwGE 16, 154 (154); BVerwG, Bes. v. 02.02.1973 – VII B 99.71, Buch‑ holz 421.0 Nr. 54, 60 (61). 138 BVerwGE 55, 355 (360); später mehrfach bestätigt, BVerwGE 70, 143 (151); BVerwG, Bes. v. 09.10.1984 – 7 B 100/84, Buchholz 421.0 Nr. 204, 222 (222); BVerwG Bes. v. 28.0.2004 – 6 B 51/04, juris, Rn. 24. 139 BVerwGE 68, 69 (74); BVerwG, Bes. v. 21.07.1986 – 7 B 36/86, NJW 1988, 781 (781). 140 BVerwGE 70, 143 (151). 141 BVerwGE 70, 143 (148).
D. Art. 20 Abs. 3 GG 55
falls in der Rechtsprechung weithin üblichen Verortung ebendort142 den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Rechtsstaatsprinzip lokalisiert und dessen Geltung auch auf das Prüfungsrecht erstreckt143, ohne dass es aus diesem aber über den Einzelfall hinausgehende Grundsätze abgeleitet hätte. Tat‑ sächlich bedarf es aber, wie sich im Laufe der Untersuchung zeigen wird, nicht der (zusätzlichen) Heranziehung des Rechtsstaatsprinzips, um die anerkannten prüfungsrechtlichen Grundsätze verfassungsrechtlich fundieren zu können.
142 BVerfGE 19, 342 (348 f.); 23, 127 (133); 29, 312 (316); BVerfG, Bes. v. 08.03.2011 – 1 BvR 47/05, NVwZ 2011, 743 (745); BVerwG, Bes. v. 04.01.2007 – 4 B 74/06, BauR 2007, 667 (668); BVerwGE 108, 1 (11); siehe zur umstrittenen Ableitung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im Übrigen Greszick, in: Maunz/ Dürig, GG, Art. 20, Rn. 107, und die dort angegebenen Nachweise insbesondere aus der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung sowie Reuter, JURA 2009, 511 (512); Lindner, S. 219 ff. 143 BVerwG, Bes. v. 02.02.1973 – VII B 99.71, Buchholz 421.0 Nr. 54, 60 (61); BVerwGE 78, 55 (57).
Kapitel 4
Rechtsgrundlagen des deutschen Juristenausbildungs- und Prüfungsrechts A. Einleitung und Überblick Nachdem im vorangegangenen Abschnitt die für die Ausgestaltung des Juristenausbildungs- und Prüfungsrechts maßgeblichen verfassungsrechtli‑ chen Determinanten benannt und deren Steuerungswirkungen herausgearbei‑ tet worden sind, sollen nun die maßgeblichen Rechtsvorschriften, auf deren Grundlage die Ausbildung zum (Voll‑) Juristen erfolgt und die jeweiligen Prüfungen abgenommen werden, vorgestellt werden. Dabei ist deren Inhalt jedenfalls insoweit zu referieren, als sie unmittelbare Quelle der Prüfungsund Bewertungsentscheidungen sind, die in den Fokus einer Prüfungsan‑ fechtung geraten können. Hinsichtlich der maßgeblichen Rechtsvorschriften bedarf es des einleiten‑ den Hinweises, dass die Leitlinien für die Juristenausbildung in dem vom Bund erlassenen Deutschen Richtergesetz1 (DRiG) zu finden und im Wesent‑ lichen in §§ 5–5d DRiG geregelt sind, wohingegen die Einzelheiten in den Juristenausbildungsgesetzen und -verordnungen der jeweiligen Bundesländer sowie ergänzend in den Studien- und Prüfungsordnungen der jeweiligen Uni‑ versitäten, an denen Rechtswissenschaften studiert werden können, normiert sind. Dieses Nebeneinander von bundes- und landesgesetzlichen Vorschriften sowie autonomem Satzungsrecht der Hochschulen wirft die Frage nach der (allgemeinen) Gesetzgebungskompetenz für die Juristenausbildung auf, die auch nach dem Inkrafttreten der Föderalismusreform2, die zu einer Neujustie‑ rung der sich nach wie vor auf den Bund und die Länder verteilenden Gesetz‑ gebungskompetenzen geführt hat, uneinheitlich beantwortet wird. Da der Bund – wie sogleich noch zu zeigen sein wird – in den §§ 5–5d DRiG aber nur einige Eckpunkte für die Juristenausbildung und die zu absolvierenden Prüfungen vorgegeben hat und das Nähere durch Landesrecht geregelt wer‑ 1 Deutsches Richtergesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 19. April 1972 (BGBl. I, S. 713), das zuletzt durch Artikel 17 des Gesetzes vom 6. Dezember 2011 (BGBl. I, S. 2515) geändert worden ist. 2 Am 01.09.2006 mit einem Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes, BGBl. I, S. 2034, 2098.
A. Einleitung und Überblick 57
den soll3 und worden ist, stellt sich de lege lata zunächst nur die Frage, ob dieser aktuelle Regelungszustand durch die Kompetenzordnung des Grund‑ gesetzes abgedeckt ist4. Da deren Klärung für den eingangs vorgestellten Un‑ tersuchungsgegenstand zudem von allenfalls untergeordneter Bedeutung ist, kann es hier bei den folgenden Hinweisen verbleiben: Die im Ergebnis un‑ streitige allgemeine Gesetzgebungskompetenz des Bundes für die Juristen‑ ausbildung ist vor dem Inkrafttreten der Föderalismusreform entweder aus Art. 98 Abs. 2, 3 Satz 2 GG a. F. (Rechtsstellung der Richter) oder nach der Gegenansicht aus Art. 74 Nr. 1 GG a. F. (Gerichtsverfassung) abgeleitet wor‑ den5. Nach neuer Verfassungsrechtslage wird sie nunmehr entweder ebenfalls Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG n. F. oder Art. 98 Abs. 1 GG n. F. sowie daneben Art. 74 Abs. 1 Nr. 27 GG6 (Statusrechte der Richter) entnommen. Auch die jüngste Reform der Juristenausbildung7 hat nichts an dem mit ihr verfolgten, alt hergebrachten Ziel geändert, den Kandidaten die Befähigung zum Richteramt zu vermitteln. Deren Erwerb ist aber gleichfalls Vorausset‑ zung für die Ausübung des Berufs des Staatsanwalts8, des Rechtsanwalts9 und Notars10 und die Einstellung in den höheren Verwaltungsdienst11. Soweit 3 Siehe § 5a Abs. 4 DRiG; § 5b DRiG Abs. 6; § 5c Abs. 2 DRiG, § 5d Abs. 6 DRiG. 4 Siehe zur Reichweite der Kompetenz des Bundes für das Juristenausbildungsund Prüfungsrecht die Begründung des Gesetzes zur Reform der Juristenausbildung vom 17.10.2001, BT-Drucksache 14/7176, S. 6. 5 Siehe zum seinerzeitigen Streitstand die Darstellung bei Neumann, DVBl. 1987, 339 (341); siehe auch Wahl, DVBl. 1985, 822 (829); Zimmerling/Brehm, Prü‑ fungsrecht, Rn. 733: SächsVerfGH, Bes. v. 21.02.2002 – Vf.71-IV-01, abrufbar unter www.justiz.sachsen.de/esaver/2001_071_IV/2001_071_IV.pdf. 6 Siehe im Einzelnen Staats, DRiG, Vorbemerkungen zu den §§ 5–8 DRiG, Rn. 3. 7 Durch das Gesetz zur Reform der Juristenausbildung vom 11.07.2002, BGBl. I, S. 2592, in Kraft getreten zum 01.07.2003; zu diesem siehe etwa Gilles/ Fischer, NJW 2003, 707 ff.; Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 85 ff. 8 Siehe § 122 Gerichtsverfassungsgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 9. Mai 1975 (BGBl. I, S. 1077), das durch Artikel 1 des Gesetzes vom 6. De‑ zember 2011 (BGBl. I, S. 2554) geändert worden ist. 9 Siehe § 4 Bundesrechtsanwaltsordnung in der im Bundesgesetzblatt Teil III, Gliederungsnummer 303-8, veröffentlichten bereinigten Fassung, die zuletzt durch Artikel 7 des Gesetzes vom 10. Oktober 2013 (BGBl. I, S. 3786) geändert worden ist. 10 Siehe § 5 Bundesnotarordnung in der im Bundesgesetzblatt Teil III, Gliede‑ rungsnummer 303-1, veröffentlichten bereinigten Fassung, die zuletzt durch Arti‑ kel 2 des Gesetzes vom 15. Juli 2013 (BGBl. I, S. 2378) geändert worden ist. 11 Vgl. § 21 Abs. 2 Bundeslaufbahnverordnung v. 12.02.2009 (BGBl. I, S. 284), zuletzt geändert durch Art. 16 Abs. 16 des Gesetzes vom 19.10.2013, BGBl. I, S. 3836, sowie die entsprechenden Vorschriften der Bundesländer für die Landesbe‑ amten.
58
Kap. 4: Rechtsgrundlagen des deutschen Juristenausbildungsrechts
in der freien Wirtschaft Juristenstellen vakant sind, wird – auch wenn das Stellenprofil keine anwaltlichen Tätigkeiten umfasst – im Regelfall ebenso die Befähigung zum Richteramt vorausgesetzt12. Somit fungiert diese im Er‑ gebnis nicht nur als dienstrechtliche Einstellungsvoraussetzung; sie stellt vielmehr eine subjektive Zulassungsvoraussetzung für alle juristischen Beru‑ fe im oben dargestellten Sinne schlechthin dar13. Die Befähigung zum Richteramt erwirbt nach dem novellierten § 5 Abs. 1 Hs. 1 DRiG, wer ein rechtswissenschaftliches Studium an einer Universität mit der Ersten Prüfung und einen sich anschließenden Vorbereitungsdienst mit der Zweiten juristischen Staatsprüfung abschließt. Das wesentliche – durch das jüngste Juristenausbildungsreformgesetz geschaffene – Novum ist darin zu erblicken, dass sich die Erste juristische (Staats‑)Prüfung, die bis‑ lang als reine Staatsprüfung konzipiert war, nach § 5 Abs. 1 Hs. 2 DRiG nunmehr in eine universitäre Schwerpunktbereichsprüfung und in eine staatliche Pflichtfachprüfung aufteilt14. Die damit erstmals erfolgte Imple‑ mentierung einer Hochschulprüfung in die Erste juristische Prüfung hat dazu geführt, dass bei der Erfüllung des Regelungsauftrags des Reformge‑ setzgebers durch die Bundesländer nicht nur wie bisher die in den §§ 5 ff. DRiG normierten speziellen bundesgesetzlichen Vorgaben für die Juristen‑ ausbildung, sondern auch die allgemeinen Vorgaben für die Abnahme von Hochschulprüfungen, wie sie im Hochschulrahmengesetz des Bundes (HRG) und den jeweiligen Landeshochschulgesetzen, die ihrerseits den durch das HRG gezogenen Rahmen ausfüllen, zu beachten waren. Insoweit ist insbe‑ sondere auf das in § 15 Abs. 1 Satz 2 HRG statuierte und – da nach § 5a Abs. 1 Hs. 1 DRiG die Studienzeit vier Jahre beträgt – einschlägige Erfor‑ dernis hinzuweisen, dass in Studiengängen mit einer Regelstudienzeit von mindestens vier Jahren eine Zwischenprüfung stattfindet, die nach § 15 Abs. 1 Satz 3 HRG in der Regel Voraussetzung für den Eintritt ins Haupt‑ studium ist15. Damit kann bereits die nach § 15 Abs. 1 Satz 2 HRG obligatorische Zwi‑ schenprüfung als Berufszugangsschranke fungieren16. Denn ihr endgültiges Nichtbestehen führt zum Ausschluss des Studierenden vom Hauptstudium. auch die Beobachtung von Schmidt-Räntsch, DRiG, § 5, Rn. 6. an dieser Stelle nur Schmidt-Räntsch, DRiG, § 5, Rn. 8. 14 Vgl. zu dieser wesentlichen Neugestaltung Schmidt-Räntsch, DRiG, § 5, Rn. 1; Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 87. 15 Vgl. zu den nunmehr einzuhaltenden Geboten des HRG auch Niehues/Fischer/ Jeremias, Rn. 90. 16 Siehe zur berufswahlbeschränkenden Wirkung von Zwischenprüfungen nur Becker, NJW 1990, 273 (276); vgl. auch BVerwG, Urt. v. 29.05.2013 – 6 C 18.12, DVBl. 2013, 1122 (1123); Bes. v. 03.11.1986 – 7 ZB 108/86, NVwZ 1987, 978 (979); VG Regensburg, Urt. v. 08.08.2012 – RO 1 K 11.800, juris, Rn. 29. 12 So
13 Vgl.
B. Einzelbetrachtung der Rechtsgrundlagen59
Er ist dann an der Fortsetzung seiner Ausbildung und ihrem erfolgreichen Abschluss gehindert und kann diese Berufszugangsvoraussetzung nicht mehr erfüllen17. Die Berührung des Schutzbereichs des Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG18 ist dabei ebenso evident wie das aus Art. 12 Abs. 1 Satz 2 GG folgende Erfordernis einer gesetzlichen Grundlage19 in Form einer (Zwi‑ schen‑)Prüfungsordnung. Die Normierung desselben in § 16 HRG hat dem‑ nach nur deklaratorischen Charakter. Gleichfalls auf der Hand liegt die verfassungsrechtliche Notwendigkeit einer gesetzlichen Ausgestaltung der Schwerpunktbereichsprüfung. Deren Charakter als freiheitsbeschränkende Berufszugangsprüfung20 ergibt sich dabei ohne Weiteres aus § 5d Abs. 2 Satz 4 DRiG, wonach das Bestehen der Ersten juristischen (Staats‑)Prüfung eine bestandene Schwerpunktbereichsprüfung voraussetzt21. Da die Univer‑ sitäten gemäß § 58 HRG und den jeweils einschlägigen landesrechtlichen Bestimmungen mit dem Recht zur Selbstverwaltung ausgestattet sind, das nach ganz herrschender Meinung die Satzungskompetenz22 und somit die Befugnis der Hochschule einschließt, die Ausgestaltung und den Ablauf der Prüfungen durch eine Prüfungsordnung selbst zu regeln23, haben die ca. 40 Universitäten in Deutschland, an denen ein mit der Ersten juristischen Prü‑ fung abzuschließendes rechtswissenschaftliches Studium absolviert werden kann, jeweils eigene Prüfungsordnungen für die Zwischen- und Schwer‑ punktbereichsprüfung erlassen, wobei die durch die jeweiligen Juristenaus‑ bildungsgesetze und -ordnungen in den 16 Bundesländern konkretisierten Vorgaben zu beachten waren.
B. Durch den Untersuchungsgegenstand begrenzte Einzelbetrachtung der Rechtsgrundlagen Damit hat die Erfüllung des durch den Bundesgesetzgeber erteilten Rege‑ lungsauftrags zu einer erheblichen Rechtsgrundlagenvermehrung geführt, wo‑ bei man im Hinblick auf das Ausmaß der Diversifizierung aus gesamtstaat 17 BVerwG,
Urt. v. 29.05.2013 – 6 C 18.12, DVBl. 2013, 1122 (1123). Regensburg, Urt. v. 08.08.2012 – RO 1 K 11.800, juris, Rn. 29. 19 Siehe nur BVerwG, Bes. v. 03.11.1986 – 7 ZB 108/86, NVwZ 1987, 978 (979). 20 Siehe zum Eingriffscharakter der Universitätsprüfung nun auch ausdrücklich BVerwG, Urt. v. 29.05.2013 – 6 C 18.12, DVBl. 2013, 1122 (1123). 21 BT-Drucksache 14/7176, S. 10; siehe auch Schmidt-Räntsch, DRiG, § 5d, Rn. 27. 22 Vgl. allgemein zur Satzungskompetenz der Hochschulen Kempen, in: Hart‑ mer/Detmer, Kapitel IV, Rn. 27, 129; Reich, HRG, § 58, Rn. 4 f. 23 Zur Kompetenz der Universitäten zum Erlass von Prüfungsordnungen siehe Reich, HRG, § 16, Rn. 2 und Schmidt-Räntsch, DRiG, § 5, Rn. 36. 18 VG
60
Kap. 4: Rechtsgrundlagen des deutschen Juristenausbildungsrechts
licher Perspektive bereits von einem „Normenwirrwarr“ sprechen muss, das im Rahmen dieser Untersuchung nicht vollständig entflochten werden kann. Wohl aber sollen im Folgenden in dem für den Untersuchungsgegenstand unabdingbaren Maß die zuvor bereits angedeutete wesentliche Systematik und Struktur der Rechtsgrundlagen des Juristenausbildungs- und Prüfungs‑ rechts sowie der Inhalt der jeweiligen Vorschriften dargestellt und die durch die Neuregelungen entstandenen Rechtsprobleme behandelt werden. Dem‑ gemäß sind insbesondere die studienbegleitenden und sonstigen Prüfungen, die im Rahmen der Ausbildung zu absolvieren sind, und deren jeweilige Ausgestaltung näher zu beleuchten. Zuvor ist aber gleichsam in Zusammenfassung der einleitenden Ausfüh‑ rungen die einfach-rechtliche Normenpyramide darzustellen, die das Juris‑ tenausbildungs- und Prüfungsrecht konstituiert24. Deren Grundlage bilden wie aufgezeigt auf bundesgesetzlicher Ebene das DRiG und das HRG. Die dort namentlich in den §§ 5–5d DRiG bzw. §§ 15, 16 HRG statuierten Vor‑ gaben markieren einen einheitlichen Rechtsrahmen, der durch spezielle landesrechtliche Regelungen auszufüllen ist25. Mehr als nur einen ausfül‑ lungsbedürftigen Rechtsrahmen, sondern vielmehr eine verbindliche Detail‑ regelung, stellt demgegenüber die auf der Grundlage des § 5d Abs. 1 Satz 3 DRiG zur Wahrung der Einheitlichkeit der Leistungsbewertung erlassene Verordnung des Bundesjustizministers über eine Noten- und Punkteskala für die Erste und Zweite juristische Staatsprüfung dar26. Bei dieser Verordnung handelt es sich um in den Ländern unmittelbar geltendes Bundesrecht. Ihre Geltung hängt nicht von ihrer Umsetzung bzw. Wiederholung im jeweiligen Landesrecht ab. Es genügt vielmehr, wenn das Landesrecht auf sie ver‑ weist27. Zum Zeitpunkt ihres Erlasses hatte der Verordnungsgeber nur die Bewertung der im Rahmen der juristischen Staatsprüfungen erbrachten Prüfungsleistungen im Blick. Da § 1 Bundesnotenverordnung aber (nur) die Erste und Zweite Prüfung anspricht, gilt sie ohne Weiteres auch für die „neue“ Erste juristische (Staats‑)Prüfung und damit für die Bewertung der im Rahmen der staatlichen Pflichtfachprüfung und der universitären Schwer‑ punktbereichsprüfung erbrachten Leistungen28, nicht aber für die Bewertung der Zwischenprüfungsleistungen. 24 Zur Darstellung der Rechtsgrundlagen des Juristenausbildungs- und Prüfungs‑ rechts siehe insbesondere auch Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 84 ff. 25 Vgl. Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 85. 26 Vom 16.08.1980, BGBl. I S. 1451; vgl. zu dieser allgemein Schmidt-Räntsch, DRiG, § 5d, Rn. 12 f. und die Einzelkommentierung im Anhang zu § 5d DRiG, Rn. 99 f. 27 Vgl. zum Ganzen Schmidt-Räntsch, DRiG, Anhang zu § 5d, Rn. 101. 28 Schmidt-Räntsch, DRiG, Anhang zu § 5d DRiG, Rn. 102; Staats, DRiG, § 5d, Rn. 5.
B. Einzelbetrachtung der Rechtsgrundlagen61
Dem bundesgesetzlichen Regelungsauftrag sind die Bundesländer durch den Erlass von Juristenausbildungsgesetzen bzw. -ordnungen29 und Lan‑ 29 Baden-Württemberg: Gesetz über die juristischen Prüfungen und den juristi‑ schen Vorbereitungsdienst (Juristenausbildungsgesetz – JAG) vom 16.07.2003 (GBl. S. 354), zuletzt geändert durch Gesetz vom 01.04.2014, GBl. S. 99, 169, sowie Verordnung des Justizministeriums über die Ausbildung und Prüfung der Juristen (Juristenausbildungs- und Prüfungsordnung) in der Fassung vom 08.10.2002, GBl. S. 391, zuletzt geändert durch Gesetz vom 01.04.2014, GVBl. S. 99, 170; Bayern: Ausbildungs- und Prüfungsordnung für Juristen (JAPO) in der Fassung der Bekannt‑ machung vom 13.10.2003 (GVBl. S. 758), zuletzt geändert durch Verordnung vom 10.09.2013, GVBl. S. 606, und durch Verordnung vom 22.06.2014, GVBl. S. 286; Berlin: Gesetz über die Ausbildung von Juristinnen und Juristen im Land Berlin vom 23.06.2003 (Berliner Juristenausbildungsgesetz – JAG), GVBl. S. 232, zuletzt geändert durch Gesetz vom 19.03.2009, GVBl. S. 70, sowie Ausbildungs- und Prü‑ fungsordnung für Juristinnen und Juristen im Land Berlin (Berliner Juristenausbil‑ dungsordnung – JAO) vom 04.08.2003, GVBl. S. 298, zuletzt geändert durch Art. I Dritte ÄndVO vom 20.09.2010 (GVBl. S. 470); Brandenburg: Gesetz über die Ju‑ ristenausbildung im Land Brandenburg (Brandenburgisches Juristenausbildungsge‑ setz – BbgJAG) vom 04.06.2003, GVBl. I/03, [Nr. 09], S. 166, zuletzt geändert durch Gesetz vom 03. Juni 2014 (GVBl. I/14, [Nr. 23]), sowie Ausbildungs- und Prüfungsordnung für Juristen im Land Brandenburg (Brandenburgische Juristenaus‑ bildungsordnung – BbgJAO) vom 06.08.2003, GVBl. II S. 438, zuletzt geändert durch Verordnung vom 22. November 2010 (GVBl. II/10, [Nr. 80]); Bremen: Bremi‑ sches Gesetz über die Juristenausbildung und die Erste juristische Prüfung (Juristen‑ ausbildungs- und -prüfungsgesetz), BremGBl. S. 251, zuletzt geändert durch Nr. 2.1 i. V. m. Anl. 1 ÄndBek vom 24.01.2012, BremGBl. S. 24; Hamburg: Hamburgisches Juristenausbildungsgesetz (HmbJAG) v. 11.06.2003, HmbGVBl. S. 156, zuletzt ge‑ ändert am 15.12.2009, HmbGVBl., S. 405, 436; Hessen: Gesetz über die juristische Ausbildung (Juristenausbildungsgesetz – JAG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 15.03.2004, GVBl. I S. 158, zuletzt geändert durch Gesetz vom 27.05.2013, GVBl. S. 218, sowie Verordnung zur Ausführung des Juristenausbildungsgesetzes (Juristische Ausbildungsordnung – JAO) vom 25.10.2004, GVBl. I S. 316, zuletzt geändert durch Gesetz vom 03.11.2014, GVBl. S. 269; Mecklenburg-Vorpommern: Gesetz über die Juristenausbildung im Land Mecklenburg-Vorpommern (Juristenaus‑ bildungsgesetz – JAG M-V), vom 16. Dezember 1992 (GVOBl. M-V S. 725), letz‑ te Änderung vom 24. März 2011 (GVOBl. M-V S. 180), sowie Verordnung zur Ausführung des Juristenausbildungsgesetzes (Juristenausbildungs- und Prüfungsver‑ ordnung – JAPO M-V) vom 16.06.2004 (GVOBl. M-V 2004, S. 281), zuletzt geän‑ dert durch Verordnung vom 1. April 2011 (GVOBl. M-V S. 227); Niedersachsen: Niedersächsisches Gesetz zur Ausbildung der Juristinnen und Juristen (NJAG) in der Fassung vom 15.01.2004 (Nds. GVBl. S. 7), zuletzt geändert durch Artikel 1 des Gesetzes vom 27.08.2009 (Nds. GVBl. S. 348), sowie Verordnung zum Niedersäch‑ sischen Gesetz zur Ausbildung der Juristinnen und Juristen (NJAVO) vom 02.11.1993 (Nds. GVBl. S. 561), zuletzt geändert durch Verordnung vom 11. September 2009 (Nds. GVBl. S. 354); Nordrhein-Westfalen: Gesetz über die juristischen Prüfungen und den juristischen Vorbereitungsdienst; Juristenausbildungsgesetz NordrheinWestfalen – JAG NRW vom 11.03.2003 (GV. NRW S. 135, 431), zuletzt geändert durch Artikel 8 des Gesetzes vom 04.02.2014 (GV. NRW S. 104). In Kraft getreten am 27.02.2014; Rheinland-Pfalz: Landesgesetz über die juristische Ausbildung
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Kap. 4: Rechtsgrundlagen des deutschen Juristenausbildungsrechts
deshochschulgesetzen30 nachgekommen, in denen – wie nachfolgend aufzu‑ zeigen sein wird – „das Nähere“ der zu absolvierenden Ausbildung und (staatlichen) Prüfungen geregelt worden ist und Vorgaben für die von den Universitäten zu erlassenden Prüfungsordnungen für die Zwischen- und Schwerpunktbereichsprüfung normiert worden sind. Die Universitäten sind ihrem Regelungsauftrag in unterschiedlicher Art und Weise nachgekommen, indem entweder eine jeweils eigenständige Zwischen- und Schwerpunktbe‑ reichsprüfungsordnung und flankierend eine Studienordnung31 oder eine (JAG) vom 23.06.2003, GVBl. S. 116 ff., zuletzt geändert durch Gesetz vom 20.10.2010, GVBl. S. 319, sowie Juristische Ausbildungs- und Prüfungsordnung (JAPO) vom 01.07.2003, GVBl. S. 131, zuletzt geändert durch Verordnung vom 23.07.2010, GVBl. S. 249; Saarland: Gesetz über die juristische Ausbildung (Juris‑ tenausbildungsgesetz – JAG), vom 06.07.1988 in der Fassung der Bekanntmachung vom 08.01.2004, Amtsbl. S. 78, zuletzt geändert durch das Gesetz vom 12.11.2014 (Amtsbl. I S. 438), sowie Verordnung zur Ausführung des Gesetzes über die juristi‑ sche Ausbildung (Ausbildungsverordnung für Juristen – JAO) vom 03.10.1988 in der Fassung der Bekanntmachung vom 08.01.2004 (Amtsblatt S. 90); zuletzt geän‑ dert durch Verordnung vom 20.10.2011 (Amtsblatt I S. 352); Sachsen: Gesetz über die Juristenausbildung im Freistaat Sachsen (Sächsisches Juristenausbildungsge‑ setz – SächsJAG) vom 27.06.1991, GVBl. S. 224, zuletzt geändert durch Artikel 21 des Gesetzes vom 18. Dezember 2013 (SächsGVBl. S. 970), sowie Ausbildungsund Prüfungsordnung für Juristen des Freistaates Sachsen (SächsJAPO) in der Fas‑ sung vom 07.04.2006, SächsGVBl. S. 105, zuletzt geändert durch Verordnung vom 09.07.2013, SächsGVBl. S. 560, und durch Verordnung vom 16.09.2014, SächsGV‑ Bl. S. 530; Sachsen-Anhalt: Gesetz über die Juristenausbildung im Land SachsenAnhalt (Juristenausbildungsgesetz Sachsen-Anhalt – JAG LSA) v. 16.07.2003, GVBl. LSA, S. 167, sowie Ausbildungs- und Prüfungsverordnung für Juristen (JAPrVO) vom 02.10.2003, GVBl. LSA, S. 245, zuletzt geändert durch Art. 2 Abs. 32 G zur Neuordnung des Landesbeamtenrechts vom 15.12.2009 (GVBl. LSA S. 648); Schleswig-Holstein: Gesetz über die Ausbildung der Juristinnen und Juristen im Land Schleswig-Holstein (Juristenausbildungsgesetz – JAG) vom 20.02.2004 (GVOBl. 2004, S. 66), zuletzt geändert durch Gesetz vom 04.04.2013 (GVOBl. S. 143), sowie Landesverordnung über die Ausbildung der Juristinnen und Juristen (Juristenausbildungsverordnung – JAVO) in der Fassung der Bekanntmachung vom 15.02.2014 (GVOBl. S. 35); Thüringen: Thüringer Gesetz über die juristischen Staatsprüfungen und den Vorbereitungsdienst (Thüringer Juristenausbildungsgesetz – ThürJAG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 28.01.2003, GVBl. S. 33, zu‑ letzt geändert durch Gesetz vom 20.03.2009, GVBl. S. 238, sowie Thüringer Juris‑ tenausbildungs- und Prüfungsordnung (ThürJAPO) vom 24.02.2004, GVBl. S. 217, zuletzt geändert durch Gesetz vom 20.03.2009, (GVBl. S. 238, 274). 30 Siehe insoweit die Übersicht bei Kempen, in: Hartmer/Detmer, Kapitel I, Rn. 50, der allerdings die jüngsten Änderungen noch nicht hat berücksichtigen kön‑ nen. Die jeweils aktuellen Gesetze sind mit den jüngsten Änderungen und unter Angabe von deren Fundstellen zugänglich über http://www.gew.de/Landeshochschul gesetze_3.html und http://www.hochschulverband.de/cms1/hochschulgesetzsammlung. html auffindbar. 31 So stellt sich etwa die Rechtslage an der Universität in Bonn dar, siehe: Stu‑ dienordnung für den Studiengang Rechtswissenschaften der Rechts- und Staatswis‑
B. Einzelbetrachtung der Rechtsgrundlagen63
einheitliche Studien- und Prüfungsordnung erlassen worden ist, in der neben dem allgemeinen Ablauf des Studiums auch das Verfahren der Leistungser‑ mittlung und -bewertung bei der Zwischen- und Schwerpunktbereichsprü‑ fung geregelt worden ist32.
I. Zwischenprüfung 1. (Formell‑)Gesetzliche Vorgaben für die Ausgestaltung der Zwischenprüfung In Orientierung an der Chronologie der im Laufe des Studiums bzw. der Gesamtausbildung zu absolvierenden Prüfungen soll zunächst die neue Zwi‑ schenprüfung in den Blick genommen werden. a) Inhalt der formell-gesetzlichen Regelungen Für deren Ausgestaltung konnte der Bundesgesetzgeber aufgrund seiner beschränkten Regelungsbefugnis im DRiG keine Vorgaben machen. Formellgesetzliche Regelungen mit hinreichender normativer Steuerungskraft hätten indes die jeweiligen Landesgesetzgeber aufgrund und im Rahmen ihrer Ge‑ setzgebungskompetenz erlassen können. Davon ist wohl mit Blick auf die insbesondere den Erlass von (Zwischen‑) Prüfungsordnungen umfassende Selbstverwaltungsgarantie der Hochschulen überwiegend abgesehen worden. So enthalten nur die Juristenausbildungsgesetze in Niedersachsen33, Nord‑ senschaftlichen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn v. 10.02.2009; Zwischenprüfungsordnung der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn für den Studiengang Rechtswissenschaft vom 10.02.2009; Prüfungsordnung der Rechts- und Staatswis‑ senschaftlichen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn für den Schwerpunktbereich für den Studiengang Rechtswissenschaften vom 10.02.2009, jeweils abrufbar unter http://www.jura.uni-bonn.de/index.php?id=488. 32 So stellt sich etwa die Rechtslage an der Universität Augsburg dar, siehe: Studien- und Prüfungsordnung für das Studium der Rechtswissenschaften an der Universität Augsburg in der Fassung vom 17.03.2010, abrufbar unter http://www. zv.uniaugsburg.de/sammlung/download/1_Rechtssammlung_neu/Konsolidierungen/ Jura/Studiengaenge/Staatsexamen/Studien-und-Pruefungsordnung_Rechtswissen schaft/L-1640-1-004_ehem_565.pdf; so nunmehr etwa auch in Hamburg, siehe: Stu‑ dienordnung der Fakultät für Rechtswissenschaften der Universität Hamburg für den Studiengang Rechtswissenschaften (StPO HH), abrufbar unter http://www.jura.unihamburg.de/public/rechtsgrundlagen/StPO_2013-06-19.pdf; zuvor existierten jeweils verschiedene Ordnungen. 33 § 1a NJAG.
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Kap. 4: Rechtsgrundlagen des deutschen Juristenausbildungsrechts
rhein-Westfalen34, Hessen35 sowie im Ansatz in Sachsen-Anhalt36 und in Berlin / Brandenburg37 Direktiven für die Ausgestaltung der Zwischenprü‑ fung. Während sich die Regelungen in Nordrhein-Westfalen und Hessen auf die Vorgabe beschränken, dass sich die Zwischenprüfung auf alle drei Pflicht‑ fächer (Bürgerliches Recht, Strafrecht und Öffentliches Recht bzw. Staats‑ recht) erstrecken muss38, sind in Niedersachsen neben dem Zeitpunkt (studi‑ enbegleitend) insbesondere die Prüfungsgegenstände und Mindestbestehens‑ voraussetzungen sowie eine obligatorische Wiederholungsmöglichkeit als Ausgestaltungsmaßgaben vorgegeben39. Zudem ist eine Regelung für das Verfahren der Leistungsbewertung dahin getroffen worden, dass die Bewer‑ tung der Zwischenprüfungsleistungen durch nur einen Prüfer vorgesehen werden kann40. In Sachsen-Anhalt ist lediglich die Möglichkeit der Wieder‑ holung der Prüfung verbindlich vorgegeben worden41. Die Gesetzgeber in Berlin und Brandenburg haben schließlich allein die Notwendigkeit gesehen, die Anerkennung von Studien- und Prüfungsleistungen festzulegen, die an Universitäten außerhalb Brandenburgs bzw. Berlins erworben worden sind42. b) Verfassungsrechtliche Bewertung nach Maßgabe der Wesentlichkeitstheorie Mit Ausnahme des Landes Baden-Württemberg, das in § 9 Abs. 1 Nr. 4 JAG Ba.-Wü. das Justizministerium immerhin noch mit der Normierung der Voraussetzungen für die Ausgestaltung der Zwischenprüfung beauftragt hat, haben sich alle anderen Landesgesetzgeber in vollständiger Zurückhaltung geübt und diese den Hochschulen in Alleinverantwortung überlassen. Damit wird zwar das den Universitäten eingeräumte Recht zur Selbstverwaltung bestmöglich gewahrt. Fraglich ist aber, ob dieser Verzicht auf die Ausübung der landesgesetzlichen Regulativgewalt mit den oben dargestellten Postula‑ ten der Wesentlichkeitslehre43, die insbesondere verlangt, dass der Gesetz‑ 34 § 28
Abs. 2 JAG NRW. Abs. 2 Satz 2 JAG Hessen. 36 Siehe § 3 JAG LSA. 37 Siehe § 4 JAG Berlin/Brandenburg. 38 Siehe § 28 Abs. 2 JAG NRW, hier aber auch den Regelungsauftrag in § 28 Abs. 4 JAG NRW, und § 8 Abs. 2 Satz 2 JAG Hessen. 39 Siehe § 1a NJAG. Inhaltsgleich ist die in § 4 JaPrO Ba.-Wü. aufgrund der Verordnungsermächtigung in § 9 Abs. 1 Nr. 4 JAG Ba.-Wü. getroffene Regelung. 40 § 1a Abs. 3 Satz 4 NJAG. 41 § 3 Satz 2 JAG LSA. 42 Vgl. § 4 Satz 1 JAG Berlin und Brandenburg. 43 Zur nicht einheitlich beantworteten Begrenzung der Satzungsautonomie der Hochschulen siehe Reich, HRG, § 58, Rn. 3; Krausnick, in: Geis, Kapitel I, Rn. 176; 35 § 8
B. Einzelbetrachtung der Rechtsgrundlagen65
geber im grundrechtsrelevanten Bereich die wesentlichen Entscheidungen selbst trifft, vereinbar ist. Bei entsprechenden Überlegungen ist zunächst zu beachten, dass im Hin‑ blick auf die grundrechtlich durch Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG gewährleistete Selbstverwaltung der Hochschulen44 Prüfungsordnungen nicht ohne Weite‑ res an den Maßstäben der Wesentlichkeitsrechtsprechung gemessen werden dürfen45. Die den Hochschulen zugestandene Selbstverwaltung gründet auf der Erkenntnis, dass die Fakultäten die sie selbst betreffenden Angelegen‑ heiten am sachkundigsten beurteilen können und sich durch den Erlass hochschuleigener (Prüfungs‑)Ordnungen der Abstand zwischen Normgeber und Normadressat mit dem Ergebnis einer größeren Akzeptanz der Regelun‑ gen verringert46. Nach zutreffender Auffassung insbesondere des Bundesver‑ fassungsgerichtes führt aber die Selbstverwaltungsbefugnis der Hochschulen nicht zu einer vollständigen Desavouierung der Grundsätze der Wesentlich‑ keitstheorie und einer vollständigen Entwertung des Parlamentsvorbehalts. Auch im Rahmen einer an sich zulässigen bzw. gebotenen Autonomiege‑ währung soll der Grundsatz bestehen bleiben, dass der Gesetzgeber sich seiner Regelungsbefugnis nicht völlig entäußern und seinen Einfluss auf den Inhalt der von den körperschaftlichen Organen zu erlassenden Normen nicht gänzlich preisgeben darf47. Dabei hängt es nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes vom Einzelfall und insoweit von der Intensität des mit dem Satzungserlass erfolgenden Grundrechtseingriffs ab, welche Anforderungen an die gesetzlichen Vorgaben des parlamentarischen Gesetz‑ gebers und deren Konkretheit zu stellen sind48. Zur Bestimmung der Inten‑ siehe auch Kempen, in: Hartmer/Detmer, HSchR, Kapitel I, Rn. 115; siehe jetzt auch die nach Einreichung der Dissertation noch ergangene Entscheidung des BVerfG, Bes. v. 26.06.2015 – 1 BvR 2218/13, NVwZ 2015, 1444 ff. 44 Vgl. zu dieser im Einzelnen Kempen, in: Hartmer/Detmer, Kapitel I, Rn. 114 und 118 ff.; BVerfG, Bes. v. 26.06.2015 – 1 BvR 2218/13, NVwZ 2015, 1444 (1444 f.). 45 Ablehnend insoweit wohl Kempen, in: Hartmer/Detmer, Kapitel I, Rn. 115 f.; Salzwedel, in: Flämig, HdbWissR, S. 719; anders die wohl herrschende Meinung, siehe OVG Koblenz, Bes. v. 21.07.2010 – 10 D 10792/10, LKRZ 2010, 386 (387); Krausnick, in: Geis, HSchR-Bayern, Kapitel I, Rn. 176; unklar Reich, HRG, § 16, Rn. 2. 46 Vgl. BVerfGE 33, 125 (156 f.) und hier und im Folgenden instruktiv OVG Koblenz, Bes. v. 21.07.2010 – 10 D 10792/10, LKRZ 2010, 386 (387). 47 BVerfGE 33, 125 (158); OVG Koblenz, Bes. v. 21.07.2010 – 10 D 10792/10, LKRZ 2010, 386 (387); vgl. auch Möstl, in: Erichsen/Ehlers, AVerwR, § 19 II, Rn. 5 ff.; Wieland, in: Dreier, GG, Art. 12, Rn. 83; Pernice-Warnke, ZjS 2014, 263 (266); mehr die Gestaltungsfreiheit der Universitäten betonend Gärditz, DVBl. 2013, 1384 (1387). 48 BVerfGE 33, 125 (160); OVG Koblenz, Bes. v. 21.07.2010 – 10 D 10792/10, LKRZ 2010, 386 (387).
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Kap. 4: Rechtsgrundlagen des deutschen Juristenausbildungsrechts
sität des Grundrechtseingriffs könne die Drei-Stufen-Theorie entsprechend herangezogen werden49, die als leitendes Prinzip vorgäbe, dass Regelungen, die die Freiheit der Berufswahl und dadurch sogar schutzwürdige Interessen von Nichtmitgliedern (Berufsanwärtern) berühren, insofern also den Kreis „eigener“ Angelegenheiten überschreiten, vom Gesetzgeber selbst getroffen werden müssten50. Diesen überzeugenden Ansatz des Bundesverfassungsgerichtes aufgrei‑ fend ist damit in Bezug auf die Ausgangsfrage zunächst festzustellen, dass das Erfordernis einer bestandenen Zwischenprüfung als Voraussetzung für die Fortsetzung der Ausbildung wie dargelegt die Freiheit der Berufswahl beschränkt. Zudem können (Zwischen‑) Prüfungsregelungen namentlich durch die Festlegung der Bestehensvoraussetzungen und der Prüfungsinhal‑ te und -leistungen den Freiheitsraum wesentlich tangieren, den Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG gerade sichern will51. Infolgedessen steht es im Grundsatz außer Frage, dass der Landesgesetzgeber die wesentlichen Entscheidungen über die Ausgestaltung der Zwischenprüfung selbst treffen muss, wobei die sich daraus ergebenden Anforderungen an Inhalt und Umfang der parlamen‑ tarischen Leitentscheidungen aber im Einzelnen umstritten sind. Einigkeit besteht jedoch darüber, dass der Gesetzgeber durch seine Vorgaben die Regelungen auf untergesetzlicher Ebene nach Tendenz und Programm bere‑ chenbar machen muss52. Auf der anderen Seite ist es nach dem bisher Dargelegten ebenso wenig zweifelhaft, dass die parlamentarischen Vorgaben den Universitäten noch einen hinreichenden Gestaltungsspielraum belassen müssen. Mithin sind das verfassungsrechtlich durch Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG ge‑ schützte Interesse der Hochschulen an einer autonomen Regelung ihrer Angelegenheiten53 sowie dasjenige der Prüflinge an einer Wahrung der ih‑ nen durch Art. 12 Abs. 1 GG eingeräumten (Grund‑)Rechte gegeneinander abzuwägen und zueinander ins Verhältnis der praktischen Konkordanz zu bringen54. Diese wird durch den überwiegend erfolgten vollständigen Ver‑ 49 BVerfGE
33, 125 (160). BVerfGE 33, 125 (160); OVG Koblenz, Bes. v. 21.07.2010 – 10 D 10792/10, LKRZ 2010, 386 (387). 51 Siehe zum Eingriffscharakter von Prüfungen, die mittelbar den Berufszugang verhindern, weil sie – wie die Zwischenprüfung – den Weg zur Abschlussprüfung versperren, BVerwG, Urt. v. 29.05.2013 – 6 C 18/12, DVBl. 2013, 1122 (1123). 52 BVerwGE 68, 69 (72 f.); BVerwG, Urt. v. 29.05.2013 – 6 C 18.12, DVBl. 2013, 1122 (1123). 53 Vgl. zur geschützten Selbstverwaltung der Hochschulen im Einzelnen Kempen, in: Hartmer/Detmer, Kapitel I, Rn. 114 und 118 ff. 54 Siehe hierzu jetzt die nach Einreichung der Dissertation ergangene Entschei‑ dung des BVerfG vom 26.06.2015 – 1 BvR 2218/13, NVwZ 2015, 1444 ff., in wel‑ 50 Vgl.
B. Einzelbetrachtung der Rechtsgrundlagen67
zicht des Gesetzgebers auf parlamentarische Leitentscheidungen offenkun‑ dig nicht hergestellt. Sie wäre allerdings bei einer weitgehenden Vollrege‑ lung der Zwischenprüfung im formellen Gesetz zweifelsohne ebenso wenig verwirklicht. Der schwierige Spagat zwischen der in ihrem Kern zu wah‑ renden Selbstverwaltungsgarantie der Universitäten und den Anforderungen der Wesentlichkeitslehre kann aber – wie dies die in Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen55 getroffenen Regelungen belegen – bewältigt werden. In beiden Bundesländern sind durch einige konkrete inhaltliche Vorgaben und in Nordrhein-Westfalen zusätzlich durch die Benennung der in der Prüfungsordnung zu regelnden Fragen nur die für die Grundrechtsverwirk‑ lichung wesentlichen Grundzüge der Zwischenprüfung bestimmt worden, während die Regelung der näheren Einzelheiten den Universitäten überlas‑ sen worden ist56. Der damit geschaffene grobe Rahmen für die Ausgestal‑ tung der Zwischenprüfung stellt sich als angemessener Ausgleich der wider‑ streitenden Interessen dar, zumal die jeweils vorgesehene Genehmigungsbe‑ dürftigkeit der Universitätssatzungen57 eine zusätzliche demokratische Legi‑ timation der konkreten Regelungen bewirkt58. c) Notwendige Erstreckung des Einheitlichkeitsgebots auf die Zwischenprüfung Soweit es in den übrigen Bundesländern wie dargelegt an parlamentari‑ schen Ausgestaltungsvorgaben für die Zwischenprüfung weithin fehlt, und es damit möglich ist, dass sich die entsprechenden Regelungen bereits in‑ nerhalb eines Bundeslandes stark unterscheiden, gerät dies mit dem in § 5 Abs. 1 Satz 2 DRiG normierten Einheitlichkeitsgebot, nach dem die Einheit‑ lichkeit der Prüfungsanforderungen und der Leistungsbewertung zu gewähr‑ leisten ist59, aber nicht in Konflikt, da dieses nur die universitäre Schwer‑ punktbereichsprüfung, nicht aber die universitäre Zwischenprüfung erfassen soll60. cher die Notwendigkeit der Beachtung der Wissenschaftsfreiheit bei der Beurteilung der Rechtmäßigkeit von universitären Prüfungsregelungen betont wird. 55 Hier ergibt sich die erforderliche demokratische Rückbindung jedenfalls aus dem Katalog der zu treffenden Regelungen in § 28 Abs. 4 JAG NRW. 56 Vgl. insoweit auch Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 29, zu den Anforderungen an die gesetzliche Grundlage bei studienbegleitenden Leistungskontrollen. 57 Siehe etwa § 28 Abs. 4 JAG NRW, § 1a Abs. 3 NJAG. 58 Vgl. insoweit Kempen, in: Hartmer/Detmer, HSchR, Kapitel I, Rn. 116. 59 Siehe zum Inhalt des Einheitlichkeitsgebots im Einzelnen Staats, DRiG, § 5d, Rn. 4; Schmidt-Räntsch, DRiG, § 5d, Rn. 11. 60 BT-Drucksache 14/7176, S. 12; Schmidt-Räntsch, DRiG, § 5d, Rn. 4; Staats, DRiG, § 5d, Rn. 4.
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Kap. 4: Rechtsgrundlagen des deutschen Juristenausbildungsrechts
So zutreffend dieser insbesondere durch den Willen des Reformgesetz‑ gebers gesicherte Befund de lege lata auch sein mag, so zweifelhaft ist doch zugleich die Nichterstreckung des Einheitlichkeitsgebots auf die Zwi‑ schenprüfung. § 5d Abs. 1 Satz 2 DRiG beruht auf der Erkenntnis, dass die Gleichwertigkeit der Abschlüsse gerade in einem Bundesstaat von grund‑ legender Bedeutung für den Arbeitsmarkt und den freien Zugang zu öffent‑ lichen Ämtern ist61. Dann müssen die Kandidaten aber auch annähernd vergleichbare Voraussetzungen für den Zugang zu dem Erwerb des berufs‑ qualifizierenden Abschlusses vorfinden. Dies ist bei aufgrund des Fehlens regulativer Vorgaben des Landesgesetzgebers erheblich divergierenden Zwischenprüfungsordnungen (bereits) innerhalb der Bundesländer62 aber nicht gewährleistet. Erstreckt man das Einheitlichkeitsgebot wie hier auch auf die Ausgestaltung der Zwischenprüfung, erscheint der Umstand, dass die Bundesnotenverordnung nicht für die im Rahmen der Zwischenprüfun‑ gen erbrachten Leistungen als einheitlicher Bewertungsmaßstab gilt, beson‑ ders problematisch. Denn die Einheitlichkeit der Leistungsbewertung ist ohne einen einheitlichen Notenmaßstab nicht zu erreichen63. Sofern die Universitäten für die Bewertung der Zwischenprüfungsleistungen unter‑ schiedliche Noten- und Punkteskalen verwenden, tauchen daher im Falle eines Studienortswechsels des Prüflings hinsichtlich der Frage der Ver‑ gleichbarkeit und Anrechenbarkeit der Studienleistungen kaum lösbare Pro‑ bleme auf64.
61 BT-Drucksache
14/7176, S. 9. dazu, dass § 5d Abs. 1 Satz 2 DRiG auch eine Verpflichtung der Bun‑ desländer zur Abstimmung untereinander enthält, Staats, DRiG, § 5d, Rn. 4. 63 Schmidt-Räntsch, DRiG, Anhang zu § 5d, Rn. 101. 64 Diese Fragen können im Rahmen dieser Untersuchung nicht vertieft und be‑ antwortet werden. Hingewiesen sei nur darauf, dass die Anerkennung von Studien‑ leistungen anderer Universitäten regelungsbedürftig und überwiegend auch geregelt worden ist, vgl. etwa § 6 Ordnung über die Durchführung einer studienbegleitenden Zwischenprüfung für das rechtswissenschaftliche Studium an der Juristischen Fakul‑ tät der Georg-August-Universität Göttingen vom 01.04.2014 (Zwischenprüfungsord‑ nung – ZwPrO), abrufbar unter http://www.uni-goettingen.de/de/zwischenpr %C3 % BCfungsordnung/112939.html; § 13 StPO HH; § 12 ZwPO Universität Halle-Witten‑ berg (Satzung der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg über die Durchfüh‑ rung studienbegleitender Leistungskontrollen im Fach Rechtswissenschaften, Amts‑ blatt der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg 2003, Nr. 6 vom 30.09.2003, S. 10, zuletzt geändert am 08.07.2009, ABl. 2010, Nr. 1 vom 09.02.2010, S. 7, ab‑ rufbar unter http://wcms.uzi.uni-halle.de/download.php?down=19661&elem=22718 17, wobei allerdings das Problem der Gleichwertigkeit nicht durchgehend bzw. nicht hinreichend erkannt worden zu sein scheint, siehe etwa § 12 Abs. 1 ZwPO Univer‑ sität Halle-Wittenberg. 62 Siehe
B. Einzelbetrachtung der Rechtsgrundlagen69
2. Grundzüge der Zwischenprüfungen Nicht zuletzt aufgrund der weitgehend fehlenden formell-gesetzlichen Direktiven und / oder etwaigen Vorgaben in den Juristenausbildungs- und Prüfungsordnungen für die Ausgestaltung der Zwischenprüfung divergieren die jeweiligen Vorschriften auch innerhalb desselben Bundeslandes nicht unerheblich. Es würde den Rahmen dieser Untersuchung vollständig spren‑ gen, die Gemeinsamkeiten und Unterschiede sämtlicher Zwischenprüfungs‑ ordnungen darzustellen, was vom Untersuchungszweck her auch nicht ge‑ boten erscheint. Insoweit genügt es, die wesentlichen Grundzüge der Zwi‑ schenprüfungen darzustellen und auf einige grundrechtsrelevante Aspekte und Probleme hinzuweisen. Die Zwischenprüfungen werden an allen Universitäten naheliegenderwei‑ se durchweg studienbegleitend durchgeführt65, und zwar in der Art und Weise, dass in der Regel bis zum Ablauf des vierten Fachsemesters66 eine bestimmte Anzahl von Teilprüfungen in Form von (Semesterabschluss‑) Klausuren und / oder Hausarbeiten67 jedenfalls in den Pflichtfächern Straf‑ recht, Öffentliches Recht und Zivilrecht – regelmäßig daneben auch in ei‑ nem Grundlagenfach68 – zu absolvieren ist bzw. absolviert werden kann, 65 Siehe etwa § 1 Abs. 1 Satz 1 Zwischenprüfungsordnung des Fachbereichs Rechtswissenschaft der Justus-Liebig-Universität Gießen vom 19.02.2003 in der Fassung der 7. Änderungssatzung vom 05.06.2013, abrufbar unter http://www.uni‑ giessen.de/fbz/fb01/einrichtungen/pruefungsamt/mediathek/dateien/dateien_zp/zwpro _7_aenderungsfassung.pdf; § 5 Abs. 1 Satz 1 ZPO Universität Bonn; § 3 Abs. 1 Satz 1 Zwischenprüfungsordnung für den Studiengang Rechtswissenschaften an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf vom 03.09.2003 in der Fassung der Bekannt‑ machung vom 26.07.2010, abrufbar unter. http://www.jura.hhu.de/fileadmin/redaktion/ Fakultaeten/Juristische_Fakultaet/Fakultaet/Rechtsgrundlagen/Zwischenpruefungsord nung.pdf. 66 Siehe etwa § 3 Abs. 1 Satz 1 ZPO Universität Düsseldorf. Dieser Zeitpunkt erklärt sich daraus, dass normalerweise das Grundstudium nach vier Semestern ab‑ geschlossen ist bzw. sein sollte; vgl. Schmidt-Räntsch, DRiG, § 5d, Rn. 25. 67 Die zu erbringenden Prüfungsleistungen unterscheiden sich erheblich. Teilweise müssen nur (Semesterabschluss-)Klausuren geschrieben werden, siehe insoweit § 4 Abs. 2 ZPO Gießen (sechs Klausuren in den prüfungsrelevanten Lehrveranstaltungen) und § 3 Abs. 1 Satz 4 a) ZPO Universität Düsseldorf (zwölf Semesterabschlussklau‑ suren, von denen grundsätzlich neun bestanden werden müssen); häufig müssen ne‑ ben Klausuren aber auch Hausarbeiten angefertigt werden, siehe etwa § 5 Abs. 1 Satz 2 e) ZPO Universität Bonn; selten gibt es daneben eine mündliche (Ergänzungs-) Prüfung, siehe etwa § 3 Abs. 1 Satz 4 b) 5 ZPO Universität Düsseldorf. 68 Siehe zu den Zwischenprüfungsinhalten beispielhaft § 14 Abs. 1 ZwPrO Uni‑ versität Göttingen; § 6 Abs. 1 ZwPO Universität Halle-Wittenberg; § 5 Abs. 1 ZPO Universität Bonn; § 26 Nr. 3 StPO HH; § 5 Abs. 1 ZPO Universität Gießen (Grund‑ lagenfächer sind hier nicht Zwischenprüfungsinhalt); § 3 Abs. 1 Satz 2 ZPO Univer‑ sität Düsseldorf (Grundlagenfächer sind hier nicht Zwischenprüfungsinhalt).
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Kap. 4: Rechtsgrundlagen des deutschen Juristenausbildungsrechts
wobei wiederum eine bestimmte Anzahl bestanden sein muss69. Die Teilprü‑ fungsleistungen sollen überwiegend in entsprechender Anwendung der Bundesnotenverordnung oder der gleichlautenden landesgesetzlichen Vor‑ schrift70 bewertet werden71. Vereinzelt ist aber auch lediglich die Bewertung der Prüfungsleistungen mit „bestanden“ oder „nicht bestanden“ vorgesehen und die Anwendung der Bundesnotenverordnung in das Belieben der Lehrund Prüfperson gestellt72. In der Regel werden die Teilprüfungsleistungen nur von dem Dozenten bzw. Leiter der Lehrveranstaltung oder einem von diesem bestimmten Prüfer bewertet73. Die Begutachtung der Prüfungsleis‑ tung durch einen zweiten Prüfer ist dann nur für den Ausnahmefall vorge‑ sehen, dass eine Teilprüfungsleistung (im Rahmen eines letzten Wiederho‑ lungsversuchs) nicht mindestens mit der Note „ausreichend“ bewertet wur‑ de74. Soweit eine Zweitbegutachtung darüber hinaus obligatorisch ist, kann von dieser im Einzelfall dennoch abgesehen werden75. Im Falle einer vor‑ 69 Siehe etwa § 4 Abs. 2 Satz 1 ZPO Gießen: sechs Klausuren in den prüfungs‑ relevanten Lehrveranstaltungen müssen bestanden sein; § 3 Abs. 1 Satz 4 a) ZPO Universität Düsseldorf: neun von zwölf Semesterabschlussklausuren oder sieben Semesterabschlussklausuren und mündliche Ergänzungsprüfung, § 3 Abs. 1 Satz 4 b) ZPO Universität Düsseldorf. 70 Siehe dazu, dass die Wiederholung der Bundesnotenverordnung im Landes‑ recht (siehe etwa § 15 JaPrO Ba.-Wü.) „unglücklich“ erscheint, weil sie den bundes‑ gesetzlichen Charakter der Verordnung verdunkelt, zutreffend Schmidt-Räntsch, DRiG, Anhang zu § 5d, Rn. 101. 71 Siehe etwa § 9 Abs. 1 ZwPrO Universität Göttingen,; § 8 Abs. 4 ZwPO Uni‑ versität Halle-Wittenberg; § 7 ZPO Universität Bonn; § 4 Abs. 3 ZPO Gießen; § 16 StPO HH. 72 Siehe § 9 Abs. 2 ZPO Universität Düsseldorf. 73 Siehe etwa § 4 Abs. 1 Satz 1 ZwPrO Universität Göttingen; § 8 Abs. 1 ZPO Universität Halle-Wittenberg; § 7 Abs. 1 Satz 1 ZPO Universität Bonn; zur unter‑ schiedlichen Möglichkeit der Bewertung der Prüfungsleistungen durch eine andere als die jeweilige Lehrperson siehe etwa § 4 Abs. 1 Satz 2 ZPO Gießen einerseits, und § 8 Abs. 1 ZPO Universität Halle-Wittenberg andererseits. Eine Zweitbewertung ist nur im Ausnahmefall obligatorisch, siehe etwa § 9 Abs. 1 Satz 1 ZPO Universität Düsseldorf. Auf die erforderliche Qualifikation der Prüfer wird hier nicht näher eingegangen, da sie auch im weiteren Verlauf nicht Gegenstand der Untersuchung wird. Hier sei nur darauf hingewiesen, dass regelmäßig zumindest eine bestandene Erste juristische Prüfung – mitunter mit einer bestimmten Mindestnote – vorausge‑ setzt wird, siehe etwa § 4 Abs. 1 Satz 3 ZPO Gießen, aber auch § 4 Abs. 3 Satz 1 ZwPrO Universität Göttingen; § 8 Abs. 2 Satz 2 ZwPO Universität Halle-Wittenberg; § 9 Abs. 1 Satz 4 ZPO Universität Düsseldorf. 74 § 4 Abs. 3 Satz 2 ZwPrO Universität Göttingen; § 7 Abs. 3 Satz 1 ZPO Uni‑ versität Bonn; § 9 Abs. 1 Satz 3 ZPO Universität Bonn. Demgegenüber sieht bei‑ spielsweise § 8 Abs. 3 Satz 2 ZPO Universität Halle-Wittenberg auch für diesen Fall nur die Bewertung der Prüfungsleistungen durch den Dozenten vor. 75 Vgl. etwa § 9 Abs. 1 Satz 1 ZwPrO Universität Göttingen; § 9 Abs. 1 Satz 1 ZPO Universität Düsseldorf.
B. Einzelbetrachtung der Rechtsgrundlagen71
zunehmenden Zweitbewertung ergibt sich die Möglichkeit einer Notendiver‑ genz, für die die Zwischenprüfungsordnungen jeweils ein Verfahren zu einer einheitlichen Notenfindung vorsehen76. Können die geforderten Leistungsnachweise nicht bis zu dem jeweils festgelegten Termin vom Studierenden beigebracht werden, gilt die Zwi‑ schenprüfung als nicht bestanden. Nicht bestandene – d. h. im Regelfall nicht mindestens mit der Note „ausreichend“ im Sinne der Bundesnotenver‑ ordnung bewertete77 – Teilprüfungsleistungen können in der Regel ein‑ mal78, manchmal auch zweimal79, wiederholt werden. Im Falle des end‑ gültigen Nichtbestehens der Zwischenprüfung erhält der Studierende hierü‑ ber einen mit einer Rechtsbehelfsbelehrung versehenen Bescheid80, im Übrigen ein Zwischenprüfungszeugnis mit den ausgewiesenen Leistungen81. Daneben ist teilweise ausdrücklich die für den Studierenden gegebene Mög‑ lichkeit geregelt, sich eine Bescheinigung über eine bestandene Teilprü‑ fungsleistung ausstellen zu lassen82. 3. (Verfassungs‑)Rechtliche Bewertung (der Ausgestaltung) der Zwischenprüfungen Bereits vor dem Inkrafttreten des jüngsten Juristenausbildungsreformge‑ setzes gab es studienbegleitende Leistungskontrollen in Form von Anfänger‑ übungen, wobei ein dort erworbener Leistungsnachweis Voraussetzung für die Teilnahme an den Fortgeschrittenenübungen und deren erfolgreicher Besuch wiederum Voraussetzung für die Zulassung zur Ersten juristischen Staatsprüfung war. Durch die aus hochschulrechtlichen Gründen notwendig gewordene Einführung einer Zwischenprüfung aufgrund der Implementie‑ rung der Schwerpunktbereichsprüfung in die Erste juristische (Staats‑)Prüfung haben die studienbegleitenden Leistungskontrollen aber eine deutliche Auf‑ wertung erfahren. Diese liegt vor allem darin begründet, dass die Zwischen‑ prüfung wie ausgeführt nun als Berufszugangsschranke fungiert, weil deren 76 Siehe § 9 Abs. 3 ZPO Universität Düsseldorf, § 4 Abs. 3 Satz 2 ZwPrO Uni‑ versität Göttingen; § 7 Abs. 3 Satz 2 ZPO Universität Bonn. 77 § 9 Abs. 2 Satz 1 ZwPrO Universität Göttingen; § 4 Abs. 3 Satz 2 ZPO Uni‑ versität Gießen; § 7 Abs. 2 Satz 2 ZPO Universität Bonn. 78 Siehe etwa § 6 Abs. 6 Satz 3, 5 ZPO Universität Gießen; § 12 Satz 1 ZPO Universität Düsseldorf. 79 Siehe etwa § 9 Abs. 3 Satz 1 ZPO Universität Bonn. 80 Siehe etwa § 8 Abs. 3 ZPO Universität Gießen; § 9 Abs. 4 ZPO Universität Bonn; § 10 Abs. 2 ZPO Universität Düsseldorf. 81 Siehe etwa § 8 Abs. 2 ZPO Universität Gießen; § 9 Abs. 2 Satz 1 ZPO Uni‑ versität Bonn; § 10 Abs. 1 Satz 1 ZPO Universität Düsseldorf. 82 Siehe etwa § 8 Abs. 1 ZPO Universität Gießen.
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Kap. 4: Rechtsgrundlagen des deutschen Juristenausbildungsrechts
Bestehen Voraussetzung für die Fortsetzung der Ausbildung ist, und die im Rahmen der Zwischenprüfung zu erbringenden Teilleistungen in Abwei‑ chung von der bisherigen Rechtslage nur begrenzt wiederholt werden kön‑ nen. Die potentielle Sperrwirkung der Zwischenprüfung für den regulär vorgesehenen weiteren Ausbildungs- und Prüfungsweg des Rechtskandida‑ ten sowie deren inhaltliche Ausgestaltung sind daher an dem Gewährleis‑ tungsgehalt des Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG zu messen. Dabei ist im Ausgangspunkt dem soweit ersichtlich auch unangefochte‑ nen Rechtsstandpunkt des Bundesverwaltungsgerichtes beizutreten, nach dem es Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG nicht per se ausschließt, den Berufszugang (bereits) an die erfolgreiche Absolvierung studienbegleitender Leistungsund Eignungsnachweise zu knüpfen, und die Feststellung der Erreichung des Ausbildungsziels (allein) in einer das Studium beendenden Abschluss‑ prüfung nicht verlangt83. Eine durch die Zwischenprüfung erfolgende früh‑ zeitige Rückmeldung über die Berufseignung liegt letztlich auch im Inter‑ esse des Berufsaspiranten, der sich so im Falle eines Negativattestats noch rechtzeitig umorientieren kann84. Bei der Ausgestaltung der hiernach im Grundsatz verfassungsrechtlich unbedenklichen Zwischenprüfung sind aber die aus dem Grundrecht der Berufsfreiheit für eine jede Berufszugangsprüfung folgenden Restriktionen zu beachten. Dabei bedarf insbesondere das den Gestaltungsspielraum des Satzungsgebers beschränkende, sich aus dem Ausbildungsziel und dem da‑ mit korrespondierenden Prüfungszweck sowie dem Verhältnismäßigkeits‑ grundsatz ergebende Erfordernis der Beachtung, dass die vom Studierenden im Rahmen der studienbegleitenden Prüfungen gezeigten Leistungsmängel einen hinreichend sicheren Schluss auf dessen mangelnde Berufseignung zulassen müssen. Dies kann im Hinblick auf die für die Ausübung des Richteramtes erforderlichen Rechtskenntnisse und Fähigkeiten zunächst nur dann angenommen werden, wenn sich die Zwischenprüfung im Wesentli‑ chen auf die Kernrechtsgebiete des Öffentlichen Rechts, des Strafrechts und des Zivilrechts erstreckt85. Mit anderen Worten dürfen nicht allein Fehlleis‑ tungen des Rechtskandidaten in Grundlagenfächern und Nebenrechtsgebie‑ ten Grundlage des negativen Befähigungsurteils werden86. Die bisher erlas‑ 83 BVerwG,
Bes. v. 03.11.1986 – 7 ZB 108/86, NVwZ 1987, 978 (979). BVerwG, Bes. v. 03.11.1986 – 7 ZB 108/86, NVwZ 1987, 978 (979). 85 Vgl. insoweit die übertragbaren Ausführungen von Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 91, zur Schwerpunktbereichsprüfung; siehe auch BVerwG, Bes. v. 03.11.1986 – 7 ZB 108/86, NVwZ 1987, 978 (979). 86 Vgl. zum Erfordernis einer hinreichend breiten Beurteilungsgrundlage BVerfGE 80, 1 (35); BVerwG, Bes. v. 10.10.1994 – 6 B 73/94, NJW 1995, 977 (978); Urt. v. 29.05.2013 – 6 C 18/12, DVBl. 2013, 1122 (1124); VGH Mannheim, 84 Vgl.
B. Einzelbetrachtung der Rechtsgrundlagen73
senen Zwischenprüfungsordnungen begegnen in dieser Hinsicht aber keinen Bedenken. Weiter ist im Hinblick auf die tatsächlichen Berufsanforderungen erfor‑ derlich, dass die im Rahmen der Zwischenprüfung zu absolvierenden Prü‑ fungsaufgaben nicht nur auf die Abfrage von Wissen abzielen, sondern dem Studierenden im ausreichenden Maße auch die Gelegenheit geben, darzutun, dass die rechtswissenschaftliche Methodik der Fallbearbeitung beherrscht wird. Auch dieses verfassungsrechtliche Postulat erscheint aber durch die gegenwärtige Rechtslage gewahrt. So wird die Beherrschung der Methodik der Fallbearbeitung als erforderliche und nachzuweisende Qualifikation mitunter schon ausdrücklich benannt87. Im Übrigen wird dieser Befähi‑ gungsnachweis konkludent dadurch abverlangt, dass nach der Prüfungsord‑ nung die Prüfungsaufgaben als Klausurfall zu stellen sind88 oder die Fähig‑ keit überprüft werden soll, das Recht mit Verständnis zu erfassen und anzu‑ wenden89. Auch wenn es an solchen (ausdrücklichen) Bestimmungen fehlt, kann davon ausgegangen werden, dass wie vor der Reform im Rahmen der studienbegleitenden Leistungskontrollen überwiegend Rechtsfälle zur Bear‑ beitung gestellt werden. Über die vorstehenden Anforderungen hinaus muss auch das mit dem Inkrafttreten des Reformgesetzes eingeführte und sich aus § 5a Abs. 3 und § 5d Abs. 1 Satz 1 DRiG ergebende Gebot, die rechtsprechende, verwalten‑ de und rechtsberatende Praxis einschließlich der hierfür erforderlichen Schlüsselqualifikationen nicht nur während des Studiums zu vermitteln, sondern auch in den (universitären) Prüfungen zu berücksichtigen90, richti‑ gerweise bereits bei der Ausgestaltung der Zwischenprüfung Beachtung finden. Zwar nimmt das DRiG wie oben ausgeführt mit „universitärer Prü‑ fung“ nur die Schwerpunktbereichsprüfung in Bezug. Allerdings streiten diejenigen Gründe, die bereits für eine notwendige Erstreckung des Einheit‑ lichkeitsgebots des § 5d Abs. 1 Satz 2 DRiG auch auf die Zwischenprüfung angeführt worden sind, gleichermaßen für eine von Studienbeginn an erfol‑ gende Berücksichtigung der Schlüsselqualifikationen in Ausbildung und Urt. v. 16.05.2000 – S 2537/99, NVwZ 2001, 940 (941); VG Sigmaringen, Urt. v. 30.10.2003 – 8 K 556/01, juris, Rn. 36. 87 § 25 Abs. 1 Satz 1 StPO HH. 88 § 6 Abs. 3 Satz 2 ZwPO Universität Halle-Wittenberg. 89 Vgl. § 2 Abs. 1 Satz 3 NJAG i. V. m. § 1a Abs. 1 Satz 1 NJAG; § 1 Abs. 1 Zwi‑ schenprüfungsordnung für den Staatsexamensstudiengang Rechtswissenschaften der Universität Konstanz in der Fassung vom 4. April 2008 und den Änderungen vom 16. März 2011 und vom 20. März 2012, abrufbar unter http://www.jura.uni-konstanz. de/staatsexamensstudiengang/grundstudium/zwischenpruefungsordnung/?print=1. 90 Siehe zu den aus dem Berücksichtigungsgebot im Einzelnen abzuleitenden Forderungen Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 94 ff.
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Kap. 4: Rechtsgrundlagen des deutschen Juristenausbildungsrechts
Prüfung. Die Notwendigkeit, die während des Studiums vermittelten Schlüsselqualifikationen bereits in der universitären Zwischenprüfung zu berücksichtigen, lässt sich aber vor allem aus dem in Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG wurzelnden Gebot, dass der Prüfungsstoff dem Ausbildungsstoff folgen muss, ableiten91. Denn ob das mit einer jeden (Berufs‑)Ausbildung verfolg‑ te Ziel, die für eine ordnungsgemäße Berufsausübung erforderlichen Kennt‑ nisse und Fähigkeiten zu vermitteln92, erreicht worden ist, kann verlässlich nur dann festgestellt werden, wenn sich die Studieninhalte in den zu erbrin‑ genden Prüfungsleistungen und zu lösenden Prüfungsaufgaben im angemes‑ senen Umfang widerspiegeln. Das Gebot der weitgehenden Äquivalenz von Ausbildung und Prüfung steht daher nicht nur Prüfungsanforderungen ent‑ gegen, für deren Bewältigung im Rahmen des Studiums nicht vermittelte Fähigkeiten und Kenntnisse erforderlich wären93, sondern es erfordert auch eine angemessene Abbildung des Lehrspektrums in den (universitären) Prü‑ fungen94. Demgemäß erscheint es problematisch, wenn § 5a Abs. 3 DRiG als Schlüsselqualifikationen Verhandlungsmanagement, Gesprächsführung, Rhetorik, Streitschlichtung, Mediation, Vernehmungslehre und Kommunika‑ tionsfähigkeit benennt, entsprechende – namentlich mündliche – Prüfungs‑ leistungen im Rahmen der Zwischenprüfung in den jeweiligen Ordnungen aber ganz überwiegend nicht vorgesehen sind95. Die im Regelfall nur schriftlich durchgeführte Zwischenprüfung hat notwendigerweise zur Kon‑ sequenz, dass eine auch nur teilweise Kompensation hier gezeigter Leis‑ tungsmängel durch bessere mündliche Prüfungsleistungen ausgeschlossen ist. Dies erscheint aus den dargelegten Gründen nicht nur verfassungsrecht‑ lich bedenklich96, sondern zudem auch systemwidrig, weil eine entsprechen‑ 91 Vgl. zu dem Gebot der Äquivalenz von Ausbildung und Prüfung im Einzelnen Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 375, 385 ff.; siehe hierzu auch Schmidt-Räntsch, DRiG, § 5d, Rn. 17; Zimmerling/Brehm, Prüfungsrecht, Rn. 351. 92 Vgl. Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 380. 93 So aber Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 385. 94 Siehe zur gebotenen Berücksichtigung der Schlüsselqualifikationen in den universitären Prüfungen insbesondere Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 96 und 393, die allerdings die Anforderungen für die Ausgestaltung der Zwischenprüfung nicht aus‑ drücklich benennen, so aber zuvor bereits Becker, S. 172. 95 Eine Ausnahme stellt etwa die an der Universität Düsseldorf in § 5 ZPO vor‑ gesehene Möglichkeit zumindest einer mündlichen Ergänzungsprüfung bei wieder‑ holt unzureichenden schriftlichen Leistungen dar. 96 Vgl. in diesem Zusammenhang – Ausschluss der Kompensation schlechter durch guter Noten – Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 91, 167, 540 ff.; zum Problem des Ausschlusses der Kompensation durch – nicht vorgesehene – mündliche Prü‑ fungsleistungen insbesondere Rn. 542 und Rn. 167 und zum sich verstärkenden (verfassungsrechtlichen) Problem des Versagens in einem Teilbereich bei nicht vor‑ gesehenen mündlichen Prüfungsleistungen Rn. 542. Siehe andererseits aber etwa VG Mainz, Urt. v. 23.01.2002 – 7 K 656/01.MZ, juris, Rn. 19 ff., das im Hinblick auf
B. Einzelbetrachtung der Rechtsgrundlagen75
de Kompensationsmöglichkeit für die staatliche Pflichtfachprüfung – wie noch zu zeigen sein wird – ganz überwiegend besteht97. Infolge des Bedeutungszuwachses, den die studienbegleitenden Leistungs‑ kontrollen als nunmehr integraler Bestandteil der neuen, berufsbeschränken‑ den Zwischenprüfung erfahren haben, sind auch die Anforderungen an die Ausgestaltung des Verfahrens der Leistungsbewertung und ihrer Überprüfung potentiell gestiegen. Diese ergeben sich im Wesentlichen aus dem nunmehr unmittelbar anwendbaren Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG und dem aus diesem Grundrecht folgenden Anspruch des Prüflings auf eine „richtige“ Bewertung der studienbegleitend erbrachten Prüfungsleistungen sowie eine effektive ver‑ waltungsinterne und gerichtliche Kontrolle der getroffenen Prüfungsentschei‑ dung bzw. der ihr zugrunde liegenden Teilbewertungen. Daraus folgt konkret zunächst, dass die bereits vor der Einführung der Zwischenprüfung von den Universitäten bzw. Lehrpersonen weitgehend geübte Praxis, den Studieren‑ den eine Remonstrationsmöglichkeit einzuräumen, indem sie bei der jeweili‑ gen Lehrperson Einwände gegen die Bewertung ihrer Leistungen vorbringen können, nunmehr zur verfassungsrechtlichen Notwendigkeit geworden ist. Denn bei der Zwischenprüfung handelt es sich um ein berufsbezogenes Prü‑ fungsverfahren, so dass der Prüfling nach der bereits referierten Rechtspre‑ chung des Bundesverfassungsgerichtes98 die Möglichkeit haben muss, im Rahmen eines verwaltungsinternen Kontrollverfahrens wirksam Einwände gegen seine (Abschluss‑)Noten zu erheben. Dem ist in einigen Zwischenprü‑ fungsordnungen bereits dadurch Rechnung getragen worden, dass dem Prüf‑ ling das Recht eingeräumt worden ist, zeitnah nach Bekanntgabe der Teilprü‑ fungsergebnisse Einwände gegen die Bewertung bei der jeweiligen Lehrper‑ son auch außerhalb eines Widerspruchsverfahrens vorzutragen99. die in § 39 Abs. 3 JAPO RLP getroffene Regelung, wonach die Zulassung zum mündlichen Teil der Zweiten juristischen Staatsprüfung voraussetzt, dass der Kandi‑ dat in den Klausuren einen Notendurchschnitt von 4,0 oder mehr erzielt hat, keine verfassungsrechtlichen Bedenken hat; siehe zum (verfassungsrechtlichen) Problem des Versagens in einem Teilbereich und den Anforderungen an die Ausgestaltung der Prüfungsleistungen grundlegend VGH Mannheim, Urt. v. 16.05.2000 – S 2537/99, NVwZ 2001, 940 (941). 97 Zutreffend in Bezug auf die universitäre Schwerpunktbereichsprüfung Niehues/ Fischer/Jeremias, Rn. 91. 98 BVerfGE 84, 34 1. Leitsatz und 46 f. 99 Siehe etwa § 7 Abs. 4 ZPO Bonn; § 15 Abs. 4 Ordnung für die Durchführung einer studienbegleitenden Zwischenprüfung im Rechtswissenschaftlichen Studium mit dem Abschluss Erste Prüfung am Fachbereich Rechtswissenschaften der Univer‑ sität Osnabrück vom 04.01.2002 in der Fassung der Änderung vom 03.11.2011 (Zwischenprüfungsordnung – ZwPrO), abrufbar unter http://www.jura.uni-osna brueck.de/html/dateien/ZwPrO_2011.pdf; § 9 Abs. 3 ZwPrO Göttingen; § 10 Abs. 2 Satz 1 ZwPO Universität Halle-Wittenberg.
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Kap. 4: Rechtsgrundlagen des deutschen Juristenausbildungsrechts
Das verwaltungsinterne Kontrollverfahren dient wie ausgeführt der ver‑ fassungsrechtlich gebotenen Kompensation der Rechtsschutzlücke, die da‑ durch entsteht, dass den Prüfern nach wie vor ein gerichtlich nur einge‑ schränkt überprüfbarer Bewertungsspielraum zugestanden wird, und ver‑ wirklicht insoweit Grundrechtsschutz durch Verfahren. Fraglich und teilweise umstritten ist, ob es zur verfahrensmäßigen Absi‑ cherung der materiellen Gewährleistungen des Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG darüber hinaus erforderlich ist, dass die Prüfungsleistungen im Rahmen der Zwischenprüfungen – wie bei den staatlichen Prüfungen – stets von zwei Prüfern bewertet werden. Während in der Rechtsprechung – namentlich des Bundesverwaltungsge‑ richtes – bisher letztlich einhellig der Rechtsstandpunkt eingenommen wor‑ den ist, dass es keinen allgemeinen – etwa auf Verfassungsrecht beruhen‑ den – Rechtsgrundsatz gäbe, der es gebiete, dass (studienbegleitende) Prü‑ fungsleistungen mindestens von zwei Prüfern zu bewerten sind100, wird die Geltung eines solchen in der Literatur uneinheitlich beantwortet. Während eine Mindermeinung eine Zweitbewertung in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung für verfassungsrechtlich nicht geboten erachtet101, wird in älteren Beiträgen für eine generelle Anwendung des Zwei-Prüfer-Prinzips eingetreten102 und eine Zweitkorrektur in der jüngeren Literatur jedenfalls dann für erforderlich gehalten, wenn im letzten Wiederholungsversuch die Prüfungsleistung des Prüflings als nicht bestanden bewertet wird103. Die (aktuelle) Meinung in der Literatur entspricht den überwiegend in den Lan‑ deshochschul- bzw. Universitätsgesetzen getroffenen Regelungen104, wonach 100 BVerwG, Bes. v. 13.04.1983 – 7 B 25/82, Buchholz 421.0 Nr. 173, 118 (120); Bes. v. 24.08.1988 – 7 ZB 113/88, NVwZ-RR 1989, 80 (81); in diese Richtung tendierend nun aber en passant BVerwG, Bes. v. 09.10.2012 – 6 B 39/12, NVwZ-RR 2013, 44 (45); offen lassend OVG NRW, Bes. v. 08.07.2010 – 6 B 743/10, juris, Rn. 19 f.; unklar OVG Münster, Urt. v. 16.12.2008 – 14 A 2154/08, NVwZ-RR 2009, 422 (423): „wesentlicher Bestandteil verfassungskonformer Prüfungsverfah‑ rensregelungen“; in diese Richtung auch VG Schwerin, Urt. v. 30.06.2010 – 3 A 1488/08, juris, Rn. 29. 101 Heckmann/Vogler, JZ 1998, 637 (644); eine Zweitbewertung ebenfalls ableh‑ nend und als bloße „Service-Leistung“ betrachtend v. Golitschek, BayVBl. 1994, 302 (304). 102 Für eine obligatorische Zweitbewertung bereits Pietzcker, S. 137 f., 206; Guhl, S. 183; insbesondere auch für die Zwischenprüfung Becker, S. 173. 103 So Zimmerling/Brehm, Prüfungsrecht, Rn. 253; Waldeyer, in: Hailbronner/ Geis, HRG, § 15 Rn. 67; im Grundsatz auch Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 547 ff. 104 § 33 Abs. 1 Satz 4 BerHG; § 62 Abs. 3 Satz 3 BremHG; § 18 Abs. 1 Satz 3 HessHG; § 36 Abs. 5 LHG M‑V; § 58 Abs. 4 Satz 1 UG Saarland; § 51 Abs. 4 Satz 2 HSG S-H; § 48 Abs. 4 ThürHG; § 35 Abs. 7 Satz 1 SächsHG; § 12 Abs. 5 HSG LSA; § 12 Abs. 4 Satz 1 BgbHG.
B. Einzelbetrachtung der Rechtsgrundlagen77
Prüfungsleistungen entweder (in der Regel) generell105 oder jedenfalls dann von zwei Prüfern zu bewerten sind, wenn deren Bestehen Voraussetzung für die Fortsetzung des Studiums ist106. Werden Universitätssatzungen solchen einfach-rechtlichen Vorgaben nicht gerecht, sind sie unwirksam107. Fehlt es an solchen, oder steht die Legitimität einer Ausnahme vom Zwei-PrüferPrinzip in Rede, erlangt der Streit um die verfassungsrechtliche Notwendig‑ keit der Erstreckung des Zwei-Prüfer-Prinzips auf die Bewertung der Zwi‑ schenprüfungsleistungen rechtspraktische Bedeutung. Daher ist auch im Rahmen der vorliegenden Untersuchung zur verfas‑ sungsrechtlichen Reichweite bzw. zulässigen Durchbrechung des ZweiPrüfer-Prinzips Stellung zu beziehen. Diesbezüglich sind bereits erhebliche Zweifel daran anzumelden, ob eine Bewertung durch einen Zweitprüfer – zumal bei der überwiegend praktizierten offenen Zweitkorrektur – überhaupt wie von ihren Befürwortern angenommen108 zu einer Objektivierung des Prüfungsverfahrens beitragen kann. Dies gilt zunächst einmal rein rechtstat‑ sächlich insoweit, als in der ganz überwiegenden Zahl der Bewertungsfälle der Zweitvotant der vom Erstvotanten vergebenen Bewertung jedenfalls im Ergebnis folgt. Abgesehen davon erscheint die Annahme eines Objektivie‑ rungsgewinns durch die Einschaltung eines Zweitprüfers kraft des ihm ebenso wie dem Erstvotanten zukommenden Bewertungsspielraums als ein offenkundiger rechtlicher Trugschluss. Denn wenn sich der Erstprüfer inner‑ halb seines Bewertungsspielraums bewegt, setzt der Zweitprüfer lediglich seine subjektive Bewertung anstelle derjenigen des Erstprüfers, die – wenn sich auch der Zweitprüfer innerhalb seines Bewertungsspielraums bewegt – ebenso „richtig“ bzw. „falsch“ ist wie diejenige des Erstprüfers. Durch eine mehrfache Korrektur kann daher die „Richtigkeit“ der Bewertung auch nicht gefördert werden109. Auch hängt das Bestehen der Prüfung im Falle der Bestellung eines Zweitprüfers nicht weniger von dem Zufall ab, welcher (Zweit‑) Prüfer mit welchen subjektiven Wertmaßstäben die Leistung des Prüflings bewertet110, als im Falle der Bewertung der Prüfungsleistung nur durch einen (Erst‑)Prüfer. Sollte der Erstprüfer objektive Bewertungsmaß‑ stäbe verletzen und damit seinen Bewertungsspielraum überschreiten, könn‑ 105 Siehe
etwa § 33 Abs. 1 Satz 4 BerHG. etwa § 36 Abs. 5 LHG M-V. 107 Vgl. Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 549; Zimmerling/Brehm, Prüfungsrecht, Rn. 251. 108 So insbesondere Waldeyer, in: Hailbronner/Geis, HRG, § 15, Rn. 67; Guhl, S. 181 f.; siehe auch OVG NRW, Urt. v. 16.12.2008 – 14 A 2154/08, NVwZ-RR 2009, 422 (423); VG Schwerin, Urt. v. 30.06.2010 – 3 A 1488/08, juris, Rn. 29; siehe nun auch BVerwG, Bes. v. 09.10.2012 – 6 B 39/12, NVwZ-RR 2013, 44 (45). 109 So aber Waldeyer, in: Hailbronner/Geis, HRG, § 15, Rn. 67. 110 Anders Waldeyer, in: Hailbronner/Geis, HRG, § 15, Rn. 67; Guhl S. 181 f. 106 Siehe
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Kap. 4: Rechtsgrundlagen des deutschen Juristenausbildungsrechts
te dieser Rechtsverletzung zwar durch einen Zweitprüfer begegnet werden, der in einem durch eine wesentlich bessere Bewertung erzwungenen Eini‑ gungsverfahren den Erstprüfer von der fehlerhaften Bewertung überzeugen und zu deren Korrektur veranlassen könnte111. Auch erscheint es nicht ausgeschlossen, dass es dem Zweitprüfer gelingt, den Erstprüfer davon zu überzeugen, seine noch innerhalb des Bewertungsspielraums liegende Be‑ wertung abzuändern, weil diese auf der Anwendung überzogener subjektiver Maßstäbe beruht. Durch entsprechende substantiierte Einwände könnte aber auch der Prüfling selbst den (Erst‑) Prüfer in einem verwaltungsinternen Kontrollverfahren von der Notwendigkeit der Anhebung der Bewertung überzeugen, oder diese könnte im Wege der Rechtmäßigkeitskontrolle durch das Prüfungsamt oder das Verwaltungsgericht aufgehoben werden. Mithin bedarf es zur Realisierung der von Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG ge‑ forderten effektiven Kontrolle der Prüfungsentscheidung nicht der Einschal‑ tung eines Zweitprüfers, die der Prüfling daher unter diesem Gesichtspunkt auch nicht beanspruchen kann. Da mit einer obligatorischen oder fakultati‑ ven Zweitbewertung aus den dargelegten Gründen auch keine erhöhte (ob‑ jektive) Richtigkeitsgewähr verbunden sein kann, der Prüfling aber aus Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG keinen Anspruch auf eine weitere subjektive, „richtige“ Bewertung ableiten kann, ist auch insoweit eine Zweitkorrektur nicht verfassungsrechtlich geboten. Im Ergebnis ist daher der Ansicht der Rechtsprechung zuzustimmen. Soweit in den Zwischenprüfungsordnungen die Bewertung der Prüfungsleis‑ tungen nicht oder nur ausnahmsweise durch zwei Prüfer erfolgt, begegnet dies also keinen durchgreifenden (verfassungsrechtlichen) Bedenken, solan‑ ge die Möglichkeit einer effektiven Selbstkontrolle der Bewertung durch die Prüfer gewährleistet ist. Im Hinblick darauf, dass sämtliche Zwischenprüfungsordnungen die Möglichkeit vorsehen, die Zwischenprüfung zumindest einmal zu wiederho‑ len, stellt sich nur die umstrittene Frage, ob aufgrund des Gewährleistungs‑ gehalts des Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG darüber hinaus eine unbegrenzte Wiederholbarkeit der Zwischenprüfungen vorgesehen werden muss. Dieser soll hier aber nicht näher nachgegangen werden, da aus ihrer Beantwortung keine Erkenntnisse für die im Zentrum der Untersuchung stehende Frage der Rechtsschutzmöglichkeiten des Rechtskandidaten bei umstrittenen Leis‑ tungsbewertungen gewonnen werden können. Insoweit muss es bei dem Hinweis verbleiben, dass die ganz herrschende Meinung eine einmalige Wiederholungsmöglichkeit für ausreichend, aber auch erforderlich hält112, zutreffend Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 547. stellvertretend Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 769, mit zahlreichen Rechtsprechungsnachweisen; Rozek, JA 1989, 233 (238). 111 Insoweit 112 Siehe
B. Einzelbetrachtung der Rechtsgrundlagen79
während nur vereinzelt für eine unbegrenzte Wiederholungsmöglichkeit des Prüflings eingetreten wird113.
II. Schwerpunktbereichsprüfung 1. (Formell‑)Gesetzliche Ausgestaltungsvorgaben Während es wie dargelegt an formell-gesetzlichen Vorgaben für den (Regelungs‑) Inhalt der Zwischenprüfung weitgehend mangelt, haben der Bund und vor allem die Länder von den ihnen eingeräumten Kompetenzen zur Ausgestaltung der Schwerpunktbereichsprüfung in einem etwas größe‑ ren Umfang Gebrauch gemacht. a) Inhalt und Umfang der formell-gesetzlichen Direktiven § 5d Abs. 2 Satz 2 DRiG enthält zunächst die Vorgabe, dass in der uni‑ versitären Schwerpunktbereichsprüfung mindestens eine schriftliche Prü‑ fungsleistung zu erbringen ist, wodurch aber lediglich ausgeschlossen wird, nur mündliche Prüfungsleistungen vorzusehen114. Es können daher insbe‑ sondere mehrere schriftliche und eine Kombination aus schriftlichen und mündlichen Prüfungsleistungen vorgesehen werden115. Entsprechend dieser singulären bundesgesetzlichen Rahmenvorgabe in § 5d Abs. 2 Satz 2 DRiG und dem in § 5d Abs. 6 DRiG formulierten Auf‑ trag, „das Nähere“ im Landesrecht zu regeln, beschränken sich die formellgesetzlichen Vorgaben in den Bundesländern überwiegend auf die genauere Festlegung der Art der zu erbringenden Prüfungsleistungen. Diesbezüglich hat sich die Mehrheit der Länderparlamente dafür entschieden, eine (wissen‑ schaftliche) Hausarbeit als Prüfungsleistung verbindlich vorzuschreiben116. Während es in Hessen und in Berlin / Brandenburg117 mit dieser Regelung sein Bewenden hat, sind in den anderen Bundesländern daneben weitere Mindestprüfungsleistungen und deren jeweilige Art vorgegeben. Bei diesen 113 So insbesondere Becker, S. 145 ff., und neuerdings Lampe, S. 175; zurückhal‑ tender Zimmerling/Brehm, Prüfungsrecht, Rn. 52: Im Ausnahmefall ist eine weitere Wiederholungsmöglichkeit einzuräumen. 114 Schmidt-Räntsch, DRiG, § 5d, Rn. 21. 115 Schmidt-Räntsch, DRiG, § 5d, Rn. 21. 116 Siehe § 24 Abs. 4 JAG Hessen; § 5 Abs. 1 JAG Brandenburg; § 5 Abs. 1 JAG Berlin; § 7 Abs. 1 Satz 2 JAG S.-H; § 28 Abs. 3 Satz 3 JAG NRW; § 4a Abs. 2 Satz 2 NJAG. 117 In Berlin und Brandenburg ist neben der verpflichtenden wissenschaftlichen Hausarbeit nur die Höchstzahl der Prüfungsleistungen vorgegeben.
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Kap. 4: Rechtsgrundlagen des deutschen Juristenausbildungsrechts
handelt es sich mehrheitlich um eine – teils der Verteidigung der wissen‑ schaftlichen Arbeit dienende118 – mündliche Prüfung119 oder um eine Auf‑ sichtsarbeit als weitere schriftliche Leistung120. Die der Konkretisierung des § 5d Abs. 2 Satz 2 DRiG dienenden formellgesetzlichen Vorschriften in den übrigen Bundesländern bestimmen neben der (Mindest‑)Anzahl der (schriftlichen) Prüfungsleistungen121 die Notwen‑ digkeit der Erbringung mindestens einer Aufsichtsarbeit und schließen damit eine (wissenschaftliche) Hausarbeit als schriftliche Prüfungsleistung zumin‑ dest nicht aus122. Zudem wird teilweise eine mündliche Prüfung als notwen‑ dige Prüfungsleistung vorgeschrieben123. Die Vorgaben in den Juristenausbildungsgesetzen für die Ausgestaltung der Schwerpunktbereichsprüfung erschöpfen sich im Wesentlichen in der Festlegung der Art und Anzahl der zu erbringenden Prüfungsleistungen. Daneben sind in einigen Bundesländen vereinzelt insbesondere die Voraus‑ setzungen für die Zulassung zur Schwerpunktbereichsprüfung124 und deren Bestehen125 geregelt, die Wiederholungsmöglichkeiten bestimmt126 sowie Vorgaben für das Verfahren der Leistungsbewertung127 und die Gewichtung der Teilprüfungsleistungen im Rahmen der Gesamtnotenbildung128 gemacht worden. Einige Bundesländer, nämlich Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen, Ba‑ den-Württemberg und Bayern, haben von dem Erlass formell-gesetzlicher Ausgestaltungsdirektiven gänzlich abgesehen. Die parlamentarische „Leit entscheidung“ erschöpft sich hier überwiegend darin, in einer Verordnungs‑ ermächtigung das Justizministerium dazu zu ermächtigen, nähere Bestim‑ mungen für die Schwerpunktbereichsprüfung zu treffen129. Kraft dieser Verordnungsermächtigungen sind in Baden-Württemberg (§§ 26 ff. JAPrO), 118 § 7 119 § 7
Abs. 1 Satz 3 Hs. 2 JAG S.-H. Abs. 3 Satz 3 Hs. 1 JAG S.-H.; § 2a JAG M-V; § 32 Abs. 3 2 Hs. 1 JPAG
Bremen. 120 § 28 Abs. 3 Satz 3 JAG NRW. 121 § 6 Abs. 2 Satz 3 JAG Saarland; § 32 Abs. 1 Satz 1 JAG HH; § 4 Abs. 2 Satz 1 JAG RLP. 122 Siehe insoweit insbesondere auch § 4 Abs. 2 Satz 2 JAG RLP. 123 § 32 Abs. 1 Satz 1 JAG HH; § 4 Abs. 2 Satz 1 JAG RLP. 124 § 6 Abs. 1 JAG S.-H. (bestandene Zwischenprüfung); § 4a Abs. 3 Satz 1 NJAG (erfolgreiche Teilnahme an einer Lehrveranstaltung). 125 § 4 Abs. 4 JAG RLP. 126 § 7 Abs. 2 Satz 1 JAG S.-H.; § 32 Abs. 2 JAG HH. 127 § 32 Abs. 3 Satz 5 JAPG Bremen; § 7 Abs. 3 JAG S.-H.; § 4a IV Satz 2 NJAG; § 6 Abs. 2 Satz 4 JAG Saarland; § 4 Abs. 3 JAG RLP. 128 § 33 Abs. 2 Satz 2 JAG HH. 129 § 9 Nr. 6 JAG Ba.-Wü.; § 8 Abs. 2 JAG Thüringen; § 8 Nr. 5a SächsJAG.
B. Einzelbetrachtung der Rechtsgrundlagen81
Bayern (§ 38 ff. JAPO) sowie Thüringen (§ 31 JAPO) nähere Bestimmungen namentlich über die Art und Anzahl der zu erbringenden Prüfungsleistun‑ gen, deren Bewertung, die Bestehensvoraussetzungen sowie die Wiederho‑ lungsmöglichkeiten getroffen worden, in deren Rahmen die Universitäten den Inhalt der Schwerpunktbereichsausbildung und -prüfung konkretisieren und diese in eigener Verantwortung durchführen dürfen. In Sachsen hat das Justizministerium von der in § 8 Nr. 5a JAG enthaltenen Ermächtigung zur näheren Ausgestaltung der Schwerpunktbereichsprüfung keinen Gebrauch gemacht. Der Gesetzgeber in Sachsen-Anhalt hat in § 9 Abs. 4 Nr. 2 LSA JAG lediglich die Universitäten dazu ermächtigt, die Schwerpunktbereichs‑ prüfung nach den Maßgaben in § 9 Abs. 1 Nr. 2–4 LSA JAG, die notwen‑ dige Mindestregelungen über Prüfungsinhalte und das Verfahren der Leis‑ tungsermittlung und -bewertung vorsehen, näher auszugestalten.130 Ange‑ sichts der Satzungsautonomie der Hochschulen hat diese überflüssige Er‑ mächtigung nur deklaratorischen Charakter, während der Auftrag, „das Nähere“ der Schwerpunktbereichsprüfung zu regeln, nicht erfüllt worden ist. b) Verfassungsrechtliche Bewertung unter dem Blickwinkel der Wesentlichkeitstheorie Nach dieser Darstellung der landesgesetzlichen Direktiven für die Ausge‑ staltung der Schwerpunktbereichsprüfung ist zwischenresümierend festzu‑ stellen, dass zwar der Gestaltungsspielraum der Universitäten bei der Schwerpunktbereichsprüfung geringer als bei der Zwischenprüfung, aber immer noch erheblich ist. Dieser Gestaltungsspielraum ist politisch gewollt und soll die Stellung der Universitäten im Rahmen der juristischen Ausbil‑ dung stärken sowie den unter ihnen bestehenden Wettbewerb fördern131. Da auch opportune rechtspolitische Erwägungen keine Abweichung von verfas‑ sungsrechtlichen Vorgaben rechtfertigen, muss gleichwohl zunächst kritisch hinterfragt werden, ob die in einigen Bundesländern gänzlich fehlenden formell-gesetzlichen Vorgaben für die Ausgestaltung der Schwerpunktbe‑ reichsprüfung mit den Anforderungen der Wesentlichkeitslehre vereinbar sind. Im Ausgangspunkt der diesbezüglichen Überlegungen gilt, dass die Be‑ fugnis der Universitäten zur autonomen (Aus‑)Gestaltung der Schwerpunkt‑ bereichsprüfung die Geltung der Grundsätze der Wesentlichkeitstheorie im 130 Im Übrigen wird die Schwerpunktbereichsprüfung nur etwa in § 1 Abs. 5 und § 7 Abs. 2 JAPrVO LSA en passant erwähnt. 131 Vgl. BT-Drucksache 14/7176, S. 13, und Schmidt-Räntsch, DRiG, § 5d, Rn. 21, sowie BVerwG, Urt. v. 29.05.2013 – 6 C 18/12, DVBl. 2013, 1122 (1123).
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Kap. 4: Rechtsgrundlagen des deutschen Juristenausbildungsrechts
Kern unberührt lässt. Diese Erkenntnis folgt aus der Anwendung der bereits dargelegten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes, nach der eine Autonomiegewährung zugunsten des untergesetzlichen Normgebers nicht die Preisgabe jeglichen Einflusses auf den Inhalt der grundrechtsbeschrän‑ kenden Regelungen zur Folge haben darf. Die Schwerpunktbereichsprüfung stellt ebenso wie die Zwischenprüfung eine Berufszugangsprüfung dar und namentlich die erforderliche Regelung der Prüfungsinhalte und -leistungen sowie der Bestehensvoraussetzungen kann die von Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG gewährleisteten Freiheiten beschränken. Die Notwendigkeit des Vorliegens einer darauf bezogenen parlamentarischen Leitentscheidung erscheint damit evident. Allerdings ist wie bereits angedeutet fraglich und umstritten, welche An‑ forderungen an Inhalt und Umfang der parlamentarischen Leitentscheidun‑ gen konkret zu stellen sind. Innerhalb der Rechtsprechung sind diese jedoch im Wesentlichen geklärt. Das Bundesverwaltungsgericht vertritt diesbezüg‑ lich schon seit Längerem die Auffassung, dass es nicht zu den dem parlamen‑ tarischen Gesetzgeber vorbehaltenen Leitentscheidungen gehöre, Vorschrif‑ ten über den Prüfungsstoff, das Prüfungssystem und die Einzelheiten des Prüfungsverfahrens zu erlassen, und ihm in aller Regel auch nicht die Festle‑ gung der Bestehensvoraussetzungen obliege132. Diese Grundsätze hat das Bundesverwaltungsgericht in einer jüngeren Entscheidung nun auch auf die Schwerpunktbereichsprüfung erstreckt133. Hier werde den Anforderungen des Rechtstaats- und Demokratieprinzips bereits dadurch hinreichend Genüge ge‑ tan, dass der parlamentarische Gesetzgeber durch die Vorgabe von Ziel und Inhalt der Ausbildung in den §§ 5 Abs. 1 Hs. 2, 5a Abs. 2 Satz 4 DRiG die Regelungen auf untergesetzlicher Ebene nach Tendenz und Programm bere‑ chenbar gemacht habe134. Da der Bundesgesetzgeber mit der Einführung der Universitätsprüfung das Ziel verfolgt habe, den Fakultäten Gestaltungsspiel‑ räume zu eröffnen, sei es dem Gesetz- oder Verordnungsgeber nicht verwehrt, die nähere Ausgestaltung der Universitätsprüfung den Universitäten zu über‑ lassen135. Gemessen an diesen Anforderungen wäre wohl selbst die in Sach‑ sen-Anhalt getroffene Entscheidung, den Gestaltungsspielraum der Universi‑ täten nicht einmal durch Rahmenvorgaben des Justizministeriums zu begren‑ zen, nicht zu beanstanden. Allemal hinreichend erscheinen aber ausgehend von der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichtes die in Bayern, Ba‑ den-Württemberg und Thüringen im Verordnungswege erfolgten Begrenzun‑ gen der Regelungsbefugnisse der Universitäten. 132 BVerwG,
Bes. v. Urt. v. 134 BVerwG, Urt. v. 135 BVerwG, Urt. v. 133 BVerwG,
17.09.1987 – 7 B 160.87, Buchholz 421.0 Nr. 244, 26 (27 f.). 29.05.2013 – 6 B 18.12, DVBl. 2013, 1122 (1123 f.). 29.05.2013 – 6 B 18.12, DVBl. 2013, 1122 (1124). 29.05.2013 – 6 B 18.12, DVBl. 2013, 1122 (1124).
B. Einzelbetrachtung der Rechtsgrundlagen83
Während also die eingangs der Untersuchung bereits dargelegten und auf den ersten Blick strengen Anforderungen der Wesentlichkeitslehre – sobald es um deren Umsetzung im konkreten Einzelfall geht – von der Rechtspre‑ chung keineswegs besonders streng gehandhabt werden136, bestehen in der Literatur seit jeher tendenziell höhere Erwartungen an die „Leitentscheidun‑ gen“ des Gesetzgebers. Dieser habe etwas wirklich Gehaltvolles und Grund‑ sätzliches im konkreten Sachbereich zu regeln137, wozu im Prüfungsrecht etwa Regelungen betreffend das Verfahren der Leistungsermittlung und -bewertung und der Leistungsanforderungen gehören sollen138. Dabei bleibt aber zumeist die Frage offen, welche Bereiche der Gesetzgeber und wie konkret im Gesetz selbst zu regeln hat und welche regelungsbedürftigen Einzelheiten er an den Verordnungsgeber delegieren darf139. Reine Organi‑ sations- und Ermächtigungsnormen140 für den Erlass von Prüfungsordnun‑ gen, in denen wie in Bayern, Baden-Württemberg, Sachsen und SachsenAnhalt keinerlei konkrete Vorgaben gemacht werden, dürften den Anforde‑ rungen der Wesentlichkeitslehre hiernach aber kaum gerecht werden141. Die Möglichkeiten und Grenzen der Delegation von Rechtssetzungsge‑ walt durch den parlamentarischen Gesetzgeber und die konkrete Reichweite seiner Verpflichtung, selbst die erforderlichen Leitentscheidungen (auch) im Prüfungswesen zu treffen142, müssen zur Beantwortung der bislang aufge‑ worfenen Frage nicht abschließend geklärt werden. Denn die Landesgesetz‑ geber wären in Bezug auf die Schwerpunktbereichsausbildung und -prüfung umso mehr zur Regelung aufgerufen gewesen, als mit dieser und der nun‑ mehr gebotenen Berücksichtigung von Schlüsselqualifikationen in der Juris‑ tenausbildung und den darauf aufbauenden Prüfungen etwas wesentlich Neues eingeführt worden ist. Zwar konnten sich die Universitäten bei der Ausgestaltung der Schwerpunktbereichsausbildung und -prüfung hinsicht‑ lich der jeweiligen Inhalte im (Regelungs‑)Ansatz noch an den bundesge‑ setzlichen Vorgaben in § 5a Abs. 2 Satz 4 DRiG und an dem Zuschnitt der 136 Niehues/Fischer/Jeremias,
Rn. 36; Wahl, DVBl. 1985, 822 (825). insoweit zunächst Wahl, DVBl. 1985, 822 (826); später etwa Becker, NJW 1990, 273 (278 ff.), und insbesondere Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 25, 34 ff. 138 Siehe insbesondere Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 25, 34 ff.; Zimmerling/ Brehm, Prüfungsrecht, Rn. 12; Wahl, DVBl. 1985, 822 (827); Becker, NJW 1990, 273 (278). 139 Siehe aber etwa das konkrete Beispiel von Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 32 f.; implizit Becker, NJW 1990, 273 (277). 140 Zu dieser Terminologie Becker, NJW 1990, 273 (277). 141 So wohl auch Becker, NJW 1990, 273 (277). 142 Zu deren Diskussion siehe etwa Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 21 ff.; Zimmerling/Brehm, Prüfungsrecht, Rn. 8 und 728 ff.; Wahl, DVBl 1985, 822 (823 ff.); Becker, NJW 1990, 273 (277 ff.). 137 Siehe
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Kap. 4: Rechtsgrundlagen des deutschen Juristenausbildungsrechts
Wahlschwerpunkte des alten Rechts orientieren. Bei der Bestimmung der konkreten Prüfungsinhalte, -leistungen und Bestehensvoraussetzungen war aber die Aufwertung der (Wahl‑)Schwerpunktbereichsprüfung zu einer ei‑ genständigen Berufszugangsprüfung einerseits und die gebotene Implemen‑ tierung von Schlüsselqualifikationen andererseits zu berücksichtigen. Hier fehlte es an einer hinreichenden Vorformung des zu regelnden Sachbereichs. Infolgedessen konnte der Landesgesetzgeber jeweils nicht davon ausgehen, dass der Verordnungsgeber bzw. die Universitäten bei der näheren Ausge‑ staltung der Prüfungsregelungen für die Schwerpunktbereichsprüfung an schon bestehende Grundsätze anknüpfen können. Damit ist ein in der Rechtsprechung anerkannter wesentlicher Legitimationsgrund für eine geringe(re)Bestimmtheit der Verordnungsermächtigung weggefallen143. Die rechtliche Situation stellt sich vielmehr so dar, dass erhöhte Anforde‑ rungen an die Bestimmtheit der parlamentarischen Leitentscheidung beste‑ hen144. Welchen Inhalt eine solche in Bezug auf die nähere Umsetzung der bundesgesetzlich gebotenen Berücksichtigung der Schlüsselqualifikationen in Ausbildung und Prüfung haben kann, zeigt die in Niedersachsen in § 4 Abs. 3 S. 4 NJAG getroffene (Ausnahme‑)Regelung145, wonach die im Rah‑ men der Schwerpunktbereichsprüfung vorgesehene Studienarbeit insbeson‑ dere durch die Teilnahme der Studierenden an einem „Moot-Court“ ersetzt werden kann. Eine parlamentarische Leitentscheidung in Bezug auf die Schlüsselqualifikationen kann aber auch schlicht dadurch erfolgen, dass eine mündliche Prüfung als Prüfungsleistung den Universitäten verbindlich vor‑ gegeben wird146, was wie dargelegt in einigen Bundesländern auch erfolgt ist. Da es aber in Bayern, Baden-Württemberg, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen an jeglicher formell-gesetzlichen Vorgabe dahingehend fehlt, wie die bundesrechtlich gebotene Berücksichtigung der Schlüsselqualifika‑ tionen umzusetzen ist, werden die bloßen Ermächtigungen zur näheren Ausgestaltung der Schwerpunktbereichsprüfung dem Gesetzesvorbehalt des Art. 12 Abs. 1 Satz 2 GG unter Berücksichtigung der Anforderungen der Wesentlichkeitslehre jedenfalls insoweit nicht gerecht. Im Übrigen gilt Folgendes: Es erschließt sich nicht, wie der parlamentari‑ sche Gesetzgeber allein mit der abstrakten Bestimmung von Ziel und Inhalt der Ausbildung sowie dem in der Organisations- und Ermächtigungsnorm BVerfGE 62, 203 (210, 212); Wahl, DVBl. 1985, 822 (825). Wahl, DVBl. 1985, 822 (825); Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 21 und insbesondere Rn. 38. 145 In einigen wenigen anderen Bundesländern findet sich die nicht verbindliche Vorgabe, dass auch Schlüsselqualifikationen im Rahmen der Ausbildung berücksich‑ tigt werden können, siehe etwa § 6 Abs. 2 JAPG Bremen; § 6 Abs. 2 JAG S.-H.; § 27 Abs. 3 Satz 2 JAPrO Ba.-Wü. 146 Zutreffend Schmidt-Räntsch, DRiG, Anhang zu § 5d, Rn. 7. 143 Vgl. 144 Vgl.
B. Einzelbetrachtung der Rechtsgrundlagen85
erteilten bloßen Regelungsauftrag in Bezug auf offensichtlich regelungsbe‑ dürftige Punkte wie die „Anforderungen in der Schwerpunktbereichs prüfung“147 eine Leitentscheidung im Konflikt zwischen dem gebotenen Schutz der Rechtspflege einerseits und dem den Prüfungskandidaten zur Sei‑ te stehenden Grundrecht der Berufsfreiheit andererseits getroffen haben soll148. Wenn die berechtigten Postulate der Wesentlichkeitslehre ernst ge‑ nommen werden sollen, wird man daher verlangen müssen, dass im formel‑ len Gesetz noch etwas Substantielles in Bezug auf die wesentlichen Fragen geregelt ist. Als wesentlich und damit regelungsbedürftig erscheint dabei ne‑ ben der Art der zu erbringenden Prüfungsleistungen namentlich auch das Ver‑ fahren der Leistungsbewertung, die Festlegung der Bestehensvoraussetzun‑ gen einschließlich Regelungen zur Kompensation von unzureichenden Teil‑ leistungen, die Möglichkeit der Wiederholung der Prüfung sowie die Ausge‑ staltung der vom Bundesverfassungsgericht geforderten verwaltungsinternen Kontrolle der Prüfungsentscheidung149. Den so verstandenen Anforderungen der Wesentlichkeitstheorie werden die vorhandenen formell-gesetzlichen Re‑ gelungen im Wesentlichen gerecht. Es mangelt lediglich an der Vorgabe, im Rahmen der Schwerpunktbereichsprüfung eine verwaltungsinterne Kontrolle der Prüfungsentscheidung vorzusehen. Diesbezüglich hatte das Bundesver‑ waltungsgericht schon in seiner Grundsatzentscheidung zum verwaltungsin‑ ternen Kontrollverfahren verlangt, dass diese wegen ihrer „wesentlichen“ Bedeutung für die Verwirklichung des Grundrechtes aus Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG vom parlamentarischen Gesetzgeber zu regeln sei150. Das hier dargelegte Verständnis der Anforderungen der Wesentlichkeits‑ theorie lässt die den Universitäten eingeräumte Garantie der Selbstverwal‑ tung unberührt, da die Berufszugangsvoraussetzungen den Bereich der eige‑ nen Angelegenheiten überschreiten. Im Übrigen belegen auch die in einigen Bundesländern getroffenen Regelungen, dass eine angemessene und dem Gebot der praktischen Konkordanz gerecht werdende Aufteilung der Regu‑ lativgewalt dadurch erreicht werden kann, dass der Landesgesetzgeber auf eine Vollregelung verzichtet und sich auf die Normierung einiger besonders grundrechtsrelevanter Fragen und / oder deren enumerative Auflistung in ei‑ nem für die Universitäten konkretisierten Regelungsauftrag beschränkt151. 147 Vgl.
8 Nr. 5 a SächsJAG. Wahl, DVBl. 1985, 822 (825 m. Fn. 35), der völlig zu Recht in dieser Weise bezüglich einer Vorschrift des ärztlichen Ausbildungsrechts argumentiert. 149 Siehe zu den durch den parlamentarischen Gesetzgeber zu treffenden Ent‑ scheidungen Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 25 ff., sowie den nicht ganz vollständi‑ gen Katalog in § 28 Abs. 4 JAG NRW; § 6 Abs. 2 JAG Saarland. 150 BVerwGE 92, 132 (140). 151 So geschehen in NRW und im Saarland, siehe § 28 Abs. 4 JAG NRW; § 6 Abs. 2 JAG Saarland. Davon ging offenkundig auch der Reformgesetzgeber aus, 148 Vgl.
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Kap. 4: Rechtsgrundlagen des deutschen Juristenausbildungsrechts
2. Grundzüge der Schwerpunktbereichsausbildung und -prüfung Da die Landesgesetzgeber bei der Schwerpunktbereichsprüfung wie aus‑ geführt im größeren Umfang als bei der Zwischenprüfung von der Möglich‑ keit Gebrauch gemacht haben, regulative Vorgaben für ihre Ausgestaltung zu machen, ergeben sich deren wesentliche Grundzüge teilweise bereits aus den vorangegangenen Ausführungen. Im Rahmen dieses Abschnitts ist daher in erster Linie ergänzend nur noch aufzuzeigen, wie die Universitäten den ihnen im Rahmen der formell-gesetzlichen und verordnungsrechtlichen Vor‑ gaben verbliebenen Spielraum genutzt haben. Dabei kann aber ebenso wenig wie bei der Darstellung der Zwischenprüfung eine komplette Analyse der ca. 40 Schwerpunktbereichsprüfungsordnungen erfolgen152; vielmehr ist ihr Inhaltsreferat im Wesentlichen auf eine problemfokussierte Vervollständi‑ gung der bereits im Ansatz dargestellten Grundzüge der Schwerpunktbe‑ reichsprüfungen zu beschränken. Davon ausgehend sind zunächst die Voraussetzungen für die Zulassung zur Schwerpunktbereichsprüfung darzustellen. Nach den einschlägigen Schwerpunktbereichsprüfungsordnungen erfordert diese neben der Immatri‑ kulation an der jeweiligen Hochschule mindestens eine bestandene Zwi‑ schenprüfung, regelmäßig aber das Vorliegen weiterer (Leistungs‑)Nachweise. So wird etwa der Nachweis des erfolgreichen Besuchs von Lehrveranstal‑ tungen, in denen Fremdsprachenkompetenzen und / oder Schlüsselqualifika‑ tionen153 und / oder die Methoden / Grundlagen der Rechtswissenschaft ver‑ mittelt worden sind, verlangt154. Nach anderen Prüfungsordnungen muss siehe BT-Drucksache 14/7176 S. 13: „… trägt eine im Rahmen der landesrechtlichen Vorgaben universitätsautonome Gestaltung der Prüfungsanforderungen …“. 152 Siehe zum Inhalt der Schwerpunktbereichsausbildung und -prüfung an einigen Universitäten – allerdings ohne jeweils eine rechtliche Bewertung vorzunehmen – die Darstellungen von Günzel, LKRZ 2008, 237 ff. (Universität Trier); Horn, LKRZ 2008, 358 ff. (Universität Marburg); Gröpl/Herbert, LKRZ 2007, 325 ff. (Universität Saarbrücken); des Weiteren die Statistik zu den Ergebnissen der Schwerpunktbe‑ reichsprüfungen für das akademische Jahr 01.10.2009-30.09.2010 des DeutschenJuristen-Fakultätentages, abrufbar unter. http://www.djft.de/pdf/Schwerpunktstatistik_ DJFT_2011.pdf 153 Siehe etwa § 50 Abs. 2 Nr. 3, 4 Studien- und Prüfungsordnung des Fachbe‑ reichs Rechtswissenschaft der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main für den Studiengang Rechtswissenschaft mit dem Abschluss Erste Prüfung vom 10.02.2010 (SPO), abrufbar unter http://www.jura.uni-frankfurt.de/43344455/ StudODruck.pdf; § 9 Abs. 4 Satzung der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg vom 09.07.2003, zuletzt geändert am 22.05.2013 (Schwerpunktbereichsprüfungsord‑ nung – SPO), abrufbar unter http://wcms.uzi.uni-halle.de/download.php?down=33595 &elem=2762654. 154 Siehe etwa § 7 Abs. 1c Ordnung über die Durchführung der Schwerpunktbe‑ reichsprüfung an der Juristischen Fakultät der Universität Hannover vom 06.07.2012
B. Einzelbetrachtung der Rechtsgrundlagen87
zusätzlich eine bestimmte Anzahl von im Hauptstudium erworbenen Leis‑ tungsnachweisen155 zu den Pflichtfächern des Rechts und / oder ein Seminar‑ schein156 vorgelegt werden. Erfüllt der Studierende die jeweils vorgesehenen und wie dargestellt stark divergierenden Zulassungsvoraussetzungen, ist er berechtigt, mit der Absol‑ vierung der festgelegten Prüfungsleistungen zu beginnen. Diese fallen als Folge der überwiegend sehr zurückhaltenden bundes- bzw. landesrechtlichen Vorgaben sehr unterschiedlich aus157. So sind vereinzelt im Rahmen der universitären Schwerpunktbereichsprüfung nur158 oder ganz überwiegend159 schriftliche Prüfungsleistungen, regelmäßig daneben aber auch mündliche Prüfungsleistungen zu erbringen160. Bei den vorgesehenen schriftlichen Prüfungsleistungen handelt es sich entweder (lediglich161) um die bereits nach dem Landesrecht häufig obligatorische wissenschaftliche Hausarbeit (Schwerpunktbereichsprüfungsordnung – SPBPO Hannover: nur Besuch einer Lehr‑ veranstaltung zur Methodenlehre); § 5 Abs. 2 Satz 2 Schwerpunktbereichsprüfungs‑ ordnung für den Studiengang Rechtswissenschaft an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf (SPO) vom 03.09.2003, zuletzt geändert am 26.07.2010, abrufbar unter http://www.jura.hhu.de/fileadmin/redaktion/Fakultaeten/Juristische_Fakultaet/Fakul taet/Rechtsgrundlagen/Schwerpunktbereichspruefungsordnung_03092003_26072010. pdf (Grundlagenschein, Seminarschein sowie weitere Leistungsnachweise). 155 Siehe etwa § 4 Abs. 1 Nr. 3 SPO Universität Bonn; § 37 Abs. 1 Nr. StPO HH. 156 Siehe etwa § 9 SPO Universität Halle-Wittenberg, § 5 Abs. 2 SPO Universität Düsseldorf. 157 Siehe zu den an den jeweiligen Universitäten zu erbringenden Prüfungsleis‑ tungen die Statistik zu den Ergebnissen der Schwerpunktbereichsprüfungen für das akademische Jahr 01.10.2009–30.09.2010 des Deutschen-Juristen-Fakultätentages, abrufbar unter www.djft.de/Schwerpunktstatistik_DJFT_2011.pdf. 158 Siehe etwa § 38 Abs. 1 Studien- und Prüfungsordnung der Ruhr-Universität Bochum für das Studium der Rechtswissenschaft mit Abschluss „Erste Prüfung“ vom 26.08.2011, abrufbar unter http://www.uv.ruhr-uni-bochum.de/dezernat1/amt liche/ab884.pdf; § 4 Abs. 1 Schwerpunktbereichsprüfungsordnung des Fachbereichs Rechtswissenschaften der Philipps-Universität Marburg vom 12.12.2007. Immerhin ist hier im Rahmen des Seminars ein Referat zu halten (§ 14 SPO), das ebenso wie die sich anschließende Diskussion als „bestanden“ oder „nicht bestanden“ zu bewer‑ ten ist, aber nicht in die Bewertung der im Rahmen der Schwerpunktbereichsprüfung zu erbringenden Hausarbeit miteinfließt. 159 Siehe § 51 Abs. 2, Abs. 3 SPO Universität Frankfurt am Main, wonach höchs‑ tens zwei der sechs vorzulegenden Leistungsnachweise durch mündliche Prüfungen erworben sein dürfen. 160 Siehe § 40 Abs. 1 StPO HH; § 6 Schwerpunktbereichsprüfungsordnung des Fachbereichs Rechtswissenschaft der Justus-Liebig-Universität Gießen vom 22.06. 2005, zuletzt geändert am 26.03.2013 (SPO Universität Gießen), abrufbar unter http://www.uni-giessen.de/fbz/fb01/einrichtungen/pruefungsamt/mediathek/dateien/ dateien_spb/sbo-4-aenderungsfassung.pdf; § 8 SPBPO Universität Hannover; § 4 SPO Universität Düsseldorf. 161 Siehe etwa § 6 SPO Universität Gießen.
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Kap. 4: Rechtsgrundlagen des deutschen Juristenausbildungsrechts
und162 / oder163 um eine164 oder mehrere Aufsichtsarbeit(en)165. Die überwie‑ gend zusätzlich verlangten mündlichen Prüfungsleistungen sind regelmäßig im Rahmen einer mündlichen Prüfung166 und167 / oder168 in Form eines in einem Seminar zu haltenden Referats169 zu erbringen. Prüfungsleistungen, mit denen die Studierenden von ihnen erworbene Schlüsselqualifikationen nachweisen können, sind nur ganz vereinzelt vorgesehen170. Die in der Schwerpunktbereichsprüfung jeweils geforderten Prüfungsleis‑ tungen sind entweder wie bei der Zwischenprüfung ausschließlich171 oder jedenfalls auch172 studienbegleitend oder in einer das Schwerpunktbereichs‑ studium beendenden (gestreckten) Abschlussprüfung zu erbringen173. Die Schwerpunktbereichsprüfung beginnt mit der ersten aufgrund und im Rahmen der Schwerpunktbereichsprüfungsordnung zu erbringenden Prü‑ fungsleistung und endet mit dem Abschluss des Bewertungsvorgangs res‑ pektive dem Vorliegen sämtlicher (Teil‑)Prüfungsergebnisse. Die Bewertung der in der Schwerpunktbereichsprüfung erbrachten (Teil‑)Prüfungsleistungen erfolgt abweichend vom Rechtszustand bei der Zwischenprüfung kraft Bun‑ desrechtes zwingend nach der Bundesnotenverordnung. Sie wird zudem überwiegend durch einen Erst- und Zweitprüfer vorgenommen174. Wie bei 162 Siehe etwa § 40 Abs. 1 Nr. 1 StPO HH; § 51 Abs. 1 SPO Universität Frank‑ furt; § 4 SPO Universität Düsseldorf, wo neben der wissenschaftlichen Hausarbeit zumindest noch eine Aufsichtsarbeit anzufertigen ist. 163 Siehe etwa § 3 Abs. 2 Nr. 1 der Ordnung des Fachbereichs Rechts- und Wirt‑ schaftswissenschaften der Johannes Gutenberg-Universität Mainz zur Regelung des Studiums und der Prüfung in Schwerpunktbereichen als Teil des Staatsexamensstu‑ diengangs Rechtswissenschaft vom 18.02.2005 (Schwerpunktbereichsordnung Rechts wissenschaft – SPBO), abrufbar unter http://www.uni-mainz.de/studlehr/ordnungen/ Ordnung_Schwerpunktbereich_ 01_05.pdf, wonach lediglich zwei Aufsichtsarbeiten anzufertigen sind. 164 Siehe etwa § 40 Abs. 1 Nr. 2 StPO HH; § 4 Abs. 1 Satz 1 SPO Universität Düsseldorf. 165 Siehe etwa § 3 Abs. 2 SPO Universität Mainz. 166 Siehe etwa § 40 Abs. 1 Nr. 3 StPO HH; § 6 Abs. 1 SPO Gießen; § 4 SPO Universität Düsseldorf. 167 Siehe etwa § 8 SPBPO Universität Hannover. 168 Siehe etwa § 14 SPO Universität Marburg. 169 Siehe etwa § 14 SPO Universität Marburg; § 10 Abs. 1 SPBPO Universität Hannover. 170 Siehe etwa § 9 Abs. 1 Satz 1 SPBPO Universität Hannover (Moot-Court). 171 Siehe etwa § 6 Abs. 1 Satz 1 SPO Universität Bonn. 172 Siehe etwa § 51 Abs. 1 SPO Universität Frankfurt. 173 Siehe etwa § 4 Abs. 1 und § 7 Abs. 1 SPO der Universität Düsseldorf („… nach Beendigung des Schwerpunktbereichsstudiums …“). 174 Vgl. etwa § 8 Abs. 1, Abs. 2 SPO Universität Düsseldorf; § 12 Abs. 4 Studienund Prüfungsordnung der Universität Freiburg für die universitäre Schwerpunktbe‑
B. Einzelbetrachtung der Rechtsgrundlagen89
der Bewertung der Zwischenprüfungsleistungen wird aber an manchen Uni‑ versitäten auch in der Schwerpunktbereichsprüfung ein Zweitprüfer nur dann eingeschaltet, wenn die Prüfungsleistung mit „mangelhaft“ oder „un‑ genügend“ bewertet worden ist175. Das Bestehen der Schwerpunktbereichsprüfung setzt mindestens voraus, dass in der Gesamtnote, deren Bildung von der unterschiedlichen Gewich‑ tung der jeweiligen Prüfungsleistungen176 abhängt, zumindest eine ausrei‑ chende Leistung erzielt wird177. Mitunter ist die Prüfung aber auch in diesem Fall nicht bestanden, wenn nicht sowohl in der schriftlichen als auch in der mündlichen Prüfung mindestens ausreichende Leistungen erbracht werden178. Während es sich bei den insoweit verlangten ausreichenden mündlichen Prü‑ fungsleistungen auch bei einer auf „ausreichend“ oder besser lautenden Ge‑ samtnote eher um eine Exotenregelung handelt, hängt nach einigen Schwer‑ punktbereichsprüfungsordnungen die Zulassung zur mündlichen Prüfung – soweit eine solche vorgesehen ist – von bestimmten schriftlichen Mindest‑ leistungen ab. Teils wird verlangt, dass mindestens eine der zu erbringenden schriftlichen Prüfungsleistungen mit „ausreichend“ bewertet worden sein muss179, im Übrigen werden gewisse in den schriftlichen Prüfungsleistungen erreichte Mindestpunktzahlen vorausgesetzt, wonach etwa die Hausarbeit mit mindestens drei180 oder vier Punkten181 und / oder in der Aufsichtsarbeit182 / den reichsprüfung (Universitätsprüfung) und das Pflichtfachstudium im Studiengang Rechtswissenschaft (StuPrO Universität Freiburg), abrufbar unter http://www.jura. uni-freiburg.de/studium/pruefungsamt/gesetzepruefungsordnungen/stpro/view; die Hausarbeit wird dagegen nur durch einen Prüfer bewertet, siehe § 12 Abs. 3 StuPrO Universität Freiburg; § 16 Abs. 1 SPO Universität Halle-Wittenberg; § 52 Abs. 4 Satz 1 SPO Universität Frankfurt. 175 Siehe etwa § 12 Abs. 2 Satz 1 SPBPO Universität Hannover. 176 Siehe als Beispiele für die unterschiedliche Gewichtung der einzelnen Prü‑ fungsleistungen etwa § 12 Abs. 3 SPO Universität Düsseldorf; § 13 Abs. 1 Satz 2 SPBPO Universität Hannover. 177 Siehe etwa § 46 Abs. 2 Satz 1 StPO HH; § 14 Abs. 2 SPO Universität Gießen; § 13 Abs. 3 SPBPO Hannover; § 12 Abs. 2 SPO Universität Düsseldorf. 178 Siehe etwa § 17 und § 22 Satz 2 SPO Universität Halle-Wittenberg. 179 Vgl. etwa § 13 Abs. 1 Satz 1 SPO Universität Düsseldorf, § 8 Abs. 3 Satz 1 SPBO Universität Mainz. 180 Siehe etwa § 12 Abs. 1 SPO Gießen. 181 Siehe etwa § 45 Abs. 1 Satz 2 StPO HH. 182 Siehe etwa § 14 Abs. 1 Prüfungsordnung für das Schwerpunktbereichsstudium im Studiengang Rechtswissenschaft an der Universität Potsdam (Schwerpunktbe‑ reichsprüfungsordnung – SBPO) vom 13.08.2003 in der Fassung zur zweiten Ände‑ rung der Prüfungsordnung vom 23.04.2008, abrufbar unter http://uni-potsdam.de/ ambek/ambek2008/11/Seite4.pdf, wonach die Zulassung zur mündlichen Prüfung voraussetzt, dass in den beiden schriftlichen Prüfungsleistungen (Hausarbeit und Klausur) jeweils mindestens 3,5 Punkte erzielt worden sind.
90
Kap. 4: Rechtsgrundlagen des deutschen Juristenausbildungsrechts
Aufsichtsarbeiten183 und / oder in den schriftlichen Prüfungsleistungen insge‑ samt eine bestimmte (Durchschnitts‑)Punktzahl erreicht worden sein muss184. Werden diese Voraussetzungen nicht erfüllt, gilt die Schwerpunktbereichsprü‑ fung bereits vor der Durchführung der mündlichen Prüfung als nicht bestan‑ den185. Sind nach der Schwerpunktbereichsprüfungsordnung lediglich schrift‑ liche (Abschluss‑)Prüfungsleistungen vorgesehen, so wird etwa an der Uni‑ versität Bonn für das Bestehen der Schwerpunktbereichsprüfung neben einer ausreichenden Leistung in der Hausarbeit auch ein Notendurchschnitt von 4,0 Punkten oder besser in den Klausuren186 oder an der Universität Frankfurt eine ausreichende Leistung in der die Schwerpunktbereichsprüfung abschlie‑ ßenden wissenschaftlichen Hausarbeit verlangt187. Nach anderen Ordnungen wird die Schwerpunktbereichsprüfung aber bereits dann für bestanden erklärt, wenn insgesamt eine ausreichende Gesamtnote vorliegt188. Im Falle des Be‑ stehens der Schwerpunktbereichsprüfung erhält der Studierende hierüber ein – mitunter mit einer Rechtsbehelfsbelehrung versehenes189 – Zeugnis190 und jedenfalls im Falle des endgültigen Nichtbestehens einen mit einer Rechtsbehelfsbelehrung versehenen Bescheid191. Vereinzelt werden bei ei‑ nem bestehenden rechtlichen Interesse auf begründeten Antrag Zwischenoder Teilbescheinigungen über bereits bestandene Teilprüfungsleistungen ausgestellt192. Besteht der Prüfling die Schwerpunktbereichsprüfung nicht, kann diese regelmäßig nur einmal193, selten zweimal194 wiederholt werden. 183 Siehe etwa argumentum e contrario § 18 Abs. 3 Prüfungsordnung für die Schwerpunktbereichsprüfung der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der FriedrichSchiller-Universität Jena vom 15.05.2007, abrufbar unter http://www.uni-jena.de/ unijenamedia/Downloads/einrichtungen/dez1/ordnungen/fak2/rewi22.pdf. 184 Vgl. etwa § 8 Abs. 3 Satz 1 SPO Universität Mainz. 185 Siehe etwa § 8 Abs. 2 Satz 2 SPO Universität Mainz; § 13 Abs. 1 Nr. 1 SPO Düsseldorf. 186 Siehe etwa § 11 Abs. 1 c) SPO der Universität Bonn. 187 Siehe etwa § 51 Abs. 2 SPO der Universität Frankfurt. 188 Siehe etwa § 13 Abs. 2 Satz 3 StuPrO Universität Freiburg. 189 Siehe etwa § 13 Abs. 4 SPO Universität Hannover. 190 Siehe etwa § 15 Abs. 1 SPO Universität Gießen; § 58 Abs. 1 SPO Universität Frankfurt; § 14 Abs. 1 SPO Universität Düsseldorf. 191 Siehe etwa § 15 Abs. 3 SPO Universität Gießen; § 58 Abs. 3 SPO Universität Frankfurt am Main; § 13 Abs. 4 SPBPO Universität Hannover; § 14 Abs. 3 SPBPO Universität Hannover. 192 Siehe etwa § 42 Abs. 4 StuPrO Universität Bochum. 193 Siehe etwa § 56 Abs. 2 SPO Universität Frankfurt; § 17 Abs. 1 SPBPO Uni‑ versität Hannover; § 17 Abs. 1 Satz 1 SPO Universität Düsseldorf. 194 Siehe etwa § 53 Abs. 1 Satz 1 Studien- und Prüfungsordnung für den Studien gang Rechtswissenschaften der Fakultät für Rechtswissenschaft der Universität Bie‑ lefeld vom 15.02.2012, abrufbar unter http://www.jura.uni-bielefeld.de/studium/ser vice/dokumente_ordnungen/Jg41-05_2012-02-15_15.pdf.
B. Einzelbetrachtung der Rechtsgrundlagen91
3. Abschließende Bewertung der Ausgestaltung der Schwerpunktbereichsprüfung Nachdem nunmehr die Grundzüge der Schwerpunktbereichsausbildung und -prüfung vollständig dargestellt worden sind, ist abschließend zu prü‑ fen, inwieweit die erfolgten bzw. unterbliebenen Regelungen den einfachund verfassungsrechtlichen Vorgaben gerecht werden. a) Erfüllung des bundesgesetzlichen Regelungsauftrags und Wahrung des Einheitlichkeitsgebots Fraglich ist insoweit zunächst, ob die Landesgesetzgeber der ihnen oblie‑ genden Aufgabe, „das Nähere“ des universitären Prüfungsrechts im Rahmen der bundesgesetzlichen Vorgaben zu regeln, hinreichend nachgekommen sind. Hier bestehen jedenfalls im Hinblick auf den Auftrag, die Schlüssel‑ qualifikationen in Ausbildung und Prüfung zu berücksichtigen (§§ 5a Abs. 3 Satz 1, 5a Abs. 4, 5d Abs. 1 Satz 1, 5d Abs. 6 DRiG), in Bezug auf den Regelungszustand in Sachsen und Sachsen-Anhalt selbst dann durchgreifen‑ de Bedenken, wenn es in Übereinstimmung mit dem Bundesverwaltungsge‑ richt für zulässig erachtet wird, dass die nähere Ausgestaltung der Schwer‑ punktbereichsprüfung den Universitäten überlassen wird. Insoweit ist im Anschluss an die obigen Ausführungen zur Verfehlung der Anforderungen der Wesentlichkeitstheorie daran zu erinnern, dass in den genannten Bun‑ desländern nur pauschale Verordnungsermächtigungen bestehen, in denen es an einem konkretisierten Auftrag zur Berücksichtigung der Schlüsselqualifi‑ kationen fehlt. Im Übrigen könnte von einer erfolgten Regelung „des Nähe‑ ren“ im Landesrecht nur dann gesprochen werden, wenn jedenfalls in einer Verordnung über die Maßgabe in § 5d Abs. 1 Satz 1 DRiG hinaus konkre‑ tisierende Vorgaben – wie etwa eine obligatorische mündliche Prüfung im Rahmen der Schwerpunktbereichsprüfung – gemacht werden. Daran fehlt es aber wie dargelegt vielfach. Des Weiteren bestehen Zweifel, ob mit der bloßen Direktive einer obli‑ gatorischen schriftlichen Prüfungsleistung das mit ihr verfolgte Ziel des Reformgesetzgebers erreicht worden ist, durch diese Begrenzung der Prü‑ fungskompetenz der Universitäten die Gleichwertigkeit der Abschlüsse zu sichern195. Jene werden genährt durch die teils stark divergierenden Schwer‑ punktbereichsprüfungsordnungen und lassen die Wahrung des in § 5d Abs. 1 Satz 2 DRiG manifestierten Gebots der Einheitlichkeit der Prüfungsanfor‑ derungen fraglich erscheinen. 195 BT-Drucksache
14/7176, S. 9.
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Kap. 4: Rechtsgrundlagen des deutschen Juristenausbildungsrechts
Bei dieser Vorschrift handelt es sich um verbindliches Rahmenrecht und nicht um eine bloße Programmnorm ohne Rechtswert196. Nach der Recht‑ sprechung des Bundesverwaltungsgerichtes gebietet § 5d Abs. 1 Satz 2 DRiG aber gleichwohl keine strikte Uniformität und steht begrenzten Ab‑ weichungen zwischen verschiedenen Prüfungsordnungen nicht entgegen197. In Bezug auf die Schwerpunktbereichsprüfungsordnungen nimmt das Bun‑ desverwaltungsgericht nun im Lichte der mit der Einführung der Universi‑ tätsprüfung vom Gesetzgeber verfolgten Absichten eine noch einschränken‑ dere Auslegung des § 5d Abs. 1 Satz 2 DRiG vor198. Hiernach soll das Einheitlichkeitsgebot nur solchen Regelungen entgegenstehen, die sich in gravierender Weise vom bundeseinheitlichen Standard abheben, so dass sich in ihnen ein regelrechter Systembruch manifestiert199. Diese erhebliche Aufweichung der sich aus § 5d Abs. 1 Satz 2 DRiG ergebenden Anforderungen durch das Bundesverwaltungsgericht verleiht dieser Vorschrift im Ergebnis doch den Charakter einer bloßen Programm‑ norm und vermag deshalb nicht zu überzeugen. Der vom Reformgesetzgeber gewollte Wettbewerb zwischen den Universitäten kann nur im Rahmen des als Ausgestaltungdirektive zu verstehenden § 5 Abs. 1 Satz 2 DRiG erfol‑ gen, der in seiner insoweit unmissverständlichen Formulierung200 unverän‑ dert geblieben ist. In diesem Fall steht § 5 Abs. 1 Satz 2 DRiG im Sinne des ursprünglichen Verständnisses nur begrenzten Abweichungen der Schwerpunktbereichsprüfungen nicht entgegen. Gemessen daran ist von ei‑ ner vielfachen Missachtung des Einheitlichkeitsgebots des § 5d Abs. 1 Satz 2 DRiG auszugehen. Exemplarisch soll der Verstoß an dem weitgehenden Verzicht der Landesge‑ setzgeber, die Prüfungsanforderungen und Bestehensvoraussetzungen näher zu regeln, aufgezeigt werden201: Bei den in diesem Zusammenhang zu treffen‑ den Festlegungen stellt sich etwa neben der Frage der Gewichtung der vorge‑ schriebenen Teilleistungen auch diejenige der Möglichkeit der Kompensation einer unzureichenden Teilleistung durch besser bewertete andere Leistun‑ 196 Schmidt-Räntsch,
DRiG, Anhang zu § 5d, Rn. 11; Staats, DRiG, § 5d, Rn. 7. Bes. v. 09.06.1993 – 6 B 35792, NJW 1993, 3340 (3342); Bes. v. 09.06.1995 – 6 B 100/94, Buchholz Nr. 421.0 Nr. 350, 79 (79 f.); BVerwG, Urt. v. 29.05.2013 – 6 C 18/12, DVBl. 2013, 1122 (1123); Urt. v. 21.03.2012 – 6 C 19/11, NVwZ 2012, 1188 (1190). 198 BVerwG, Urt. v. 29.05.2013 – 6 C 18.12, DVBl. 2013, 1122 (1123). 199 BVerwG, Urt. v. 29.05.2013 – 6 C 18.12, DVBl. 2013, 1122 (1123). 200 Vgl. Staats, DRiG, § 5d, Rn. 7. 201 Auch wenn das BVerwG jüngst nicht überzeugende Zweifel dahin angemeldet hat, ob das Einheitlichkeitsgebot auf Bestehensregelungen anwendbar ist, siehe BVerwG, Urt. v. 29.05.2013 – 6 C 18.12, DVBl. 2013, 1122 (1123). 197 BVerwG,
B. Einzelbetrachtung der Rechtsgrundlagen93
gen202, die im Rahmen der Schwerpunktbereichsprüfung erbracht worden sind. Fehlt es an einer solchen (formell-gesetzlichen) Regelung, führt dies un‑ ter Umständen zu (stark) divergierenden Regelungen bereits innerhalb eines Bundeslandes etwa dergestalt, dass an einer Universität Voraussetzung für das Bestehen der Schwerpunktbereichsprüfung eine mit mindestens „ausreichend“ bewertete Hausarbeit ist, während anderenorts eine mit „mangelhaft“ bewerte‑ te Hausarbeit durch bessere mündliche Prüfungsleistungen ausgeglichen wer‑ den kann203. Von einer Gleichwertigkeit der Abschlüsse kann in diesem Fall, wenn insbesondere nicht landesübergreifend die Möglichkeit besteht, unzurei‑ chende Leistungen in der wissenschaftlichen Hausarbeit durch bessere (münd‑ liche) Prüfungsleistungen auszugleichen, nicht mehr gesprochen werden. Selbst wenn man den vom Bundesverwaltungsgericht definierten Maßstab an‑ legen würde, müsste im Ergebnis ein Verstoß angenommen werden. Denn zum bundesüblichen Standard gehörte es bislang, dass in den Staatsprüfungen unzureichende schriftliche teilweise durch bessere mündliche Prüfungsleistun‑ gen ausgeglichen werden können. Wenn davon nun in einigen universitären Prüfungsordnungen abgewichen wird, stellt sich dies nach diesseitiger Auffas‑ sung als gravierende Abweichung im Sinne eines Systembruchs dar. b) Verfassungsrechtliche Bewertung Infolge der erheblichen Aufwertung der im Rahmen der ehemaligen Wahlschwerpunktbereiche zu erwerbenden Leistungsnachweise von einer bloßen Voraussetzung für die Zulassung zur Ersten juristischen Staatsprü‑ fung zu einer eigenständigen Berufszugangsprüfung als Teil der neuen Ersten juristischen (Staats‑)Prüfung bleibt dem Rechtskandidaten im Falle des endgültigen Nichtbestehens der universitären Schwerpunktbereichsprü‑ fung der Zugang zu den juristischen Berufen endgültig versperrt. aa) Prüfungsanforderungen und Bestehensregelungen Dieser erhebliche Eingriff in das Grundrecht der Berufsfreiheit204 ist ge‑ mäß den eingangs dargestellten verfassungsrechtlichen Anforderungen an 202 Vgl. zur erforderlichen Regelung der Gewichtung der Prüfungsleistungen Schmidt-Räntsch, DRiG, § 5d, Rn. 28. 203 So stellt sich etwa die Rechtslage in Hessen dar; siehe zunächst die rudimen‑ täre Vorgabe für die Schwerpunktbereichsprüfung in § 24 JAG Hessen und sodann § 52 Abs. 5 SPO Universität Frankfurt einerseits sowie § 12 Abs. 1 SPO Universität Gießen andererseits. 204 Siehe zum Eingriffscharakter der Universitätsprüfung BVerwG, Urt. v. 29.05.2013 – 6 C 18/12, DVBl. 2013, 1122 (1123).
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Kap. 4: Rechtsgrundlagen des deutschen Juristenausbildungsrechts
die Ausgestaltung des Prüfungsrechts zunächst in der Weise zu begrenzen, dass insbesondere die zu erbringenden Prüfungsleistungen und die Leis‑ tungsanforderungen an dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und insoweit insbesondere an dem (übergeordneten) Ziel der Juristenausbildung, die Be‑ fähigung zum Richteramt zu vermitteln, auszurichten sind205. Demgemäß dürfen mit den in den Schwerpunktbereichsprüfungsordnun‑ gen normierten Bestehensregelungen insbesondere keine Anforderungen aufgestellt werden, die ungeeignet, unnötig oder unzumutbar sind und des‑ halb den mit der (Ersten juristischen) Prüfung verfolgten Zweck, festzustel‑ len, ob der Prüfling das rechtswissenschaftliche Studienziel erreicht hat und damit für den Vorbereitungsdienst sowie die spätere Berufsausübung als Richter etc. fachlich geeignet ist206, nicht erreichen können207. Insoweit begegnet es schon verfassungsrechtlichen Bedenken, dass die Schwerpunktbereichsausbildung nach § 5a Abs. 2 Satz 4 DRiG per definiti‑ onem nur der Ergänzung und Vertiefung der Pflichtfächer dient. Damit kommt nämlich zum Ausdruck, dass in den einzelnen Schwerpunktbereichen regelmäßig gerade kein Wissen vermittelt wird, das für die erfolgreiche Absolvierung des Vorbereitungsdienstes bzw. die spätere Ausübung des Richteramtes etc. unabdingbar wäre. Ziel der Schwerpunktbereichsausbil‑ dung ist es demnach nicht, einen vollständigen Überblick über die Rechts‑ wissenschaft – dies ist Aufgabe des rechtswissenschaftlichen Studiums im Übrigen – zu geben, sondern allein die vertiefte Auseinandersetzung mit einem Teilbereich derselben zu ermöglichen208. Demgemäß bilden die Schwerpunktbereiche – wenn überhaupt – nur einen kleinen Ausschnitt 205 So nun auch ausdrücklich BVerwG, Urt. v. 29.05.2013 – 6 C 18/12, DVBl. 2013, 1122 (1124 f.). 206 Siehe zum gesetzlich definierten Zweck der Ersten juristischen Prüfung § 6 Abs. 1 JAG HH; § 1 Abs. 2 Satz 1 JAG S.-H.; § 1 Abs. 2 Satz 2 JAG Berlin und Bbg.; § 2 Abs. 2 Satz 2 SächsJAG; § 2 Satz 3 JAG M-V; § 1 Abs. 2 Satz 2 JAG Saarland; § 2 Abs. 1 Satz 2 JAG NRW; § 3 Abs. 1 Satz 2 JAG RLP; § 1 Abs. 2 Satz 2 JAPrO B.-W.; § 16 Abs. 1 Satz 2 JAPO Bayern; ähnlich § 9 Satz 2 JAPG Bremen; § 2 Satz 3 NJAG; siehe zu den sich daraus ergebenden Beschränkungen für die Ausgestaltung der Schwerpunktbereichsprüfung nun BVerwG, Urt. v. 29.05.2013 – 6 C 18/12, DVBl. 2013, 1122 (1125 f.). 207 Vgl. zu den sich aus Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG ergebenden Anforderungen an die Ausgestaltung der Bestehensregelungen und insbesondere zu dem Verbot einer ungeeigneten, unnötigen oder unzumutbaren Schranke BVerfGE 80, 1 (24); 84, 34 (45); BVerwG, Bes. v. 09.06.1993 – 6 B 35/92, NJW 1993, 3340 (3342); Bes. v. 10.10.1994 – 6 B 73/94; NJW 1995, 977 (977); Bes. v. 09.06.1995 – 6 B 100/94, Buchholz 421.0 Nr. 350, 79 (80); Bes. v. 13.05.2004 – 6 B 25/04, NVwZ 2004, 1375 (1376); VGH Mannheim, Bes. v. 25.03.2003 – 9 S 1791/02, n. v., BU S. 4; VG Sigmaringen, Urt. v. 30.10.2003 – 8 K 556/01, juris, Rn. 36. 208 Siehe zum Zweck der Schwerpunktbereichsprüfung nun auch BVerwG, Urt. v. 29.05.2013 – 6 C 18/12, DVBl. 2013, 1122 (1125).
B. Einzelbetrachtung der Rechtsgrundlagen95
derjenigen Anforderungen ab, mit denen der Richter in der täglichen Praxis konfrontiert ist. Sofern der Prüfling im Rahmen der Schwerpunktbereichs‑ prüfung (wiederholt) unzureichende Leistungen erbracht hat, steht damit allenfalls fest, dass er in einem Teilbereich der Rechtswissenschaft versagt hat. Das Versagen in diesem Teilbereich lässt aber keinesfalls (ohne Weite‑ res) den Schluss zu, dass der Rechtskandidat für die juristischen Berufe, die allesamt als Qualifikation die Befähigung zum Richteramt voraussetzen, generell ungeeignet ist209. Dies mag im Einzelfall schon durch eine bereits bestandene staatliche Pflichtfachprüfung widerlegt sein. Demgemäß hält die Rechtsprechung Bestehensregelungen, die wie die universitäre Schwerpunktbereichsprüfung lediglich an einen Teil der im Prüfungsverfahren insgesamt zu erbringenden Teilleistungen anknüpfen, nur dann für verfassungsgemäß, wenn dieser (Prüfungs‑)Teil eine zuverlässige Grundlage für die Feststellung bietet, dass das Ausbildungsziel nicht er‑ reicht worden ist210. Davon soll nach einem aktuellen Urteil des Bundesver‑ waltungsgerichtes betreffend die Verfassungsmäßigkeit einer Schwerpunkt‑ bereichsprüfungsordnung im Grundsatz nur dann ausgegangen werden können, wenn durch die Teilprüfungsleistung eine Fähigkeit nachgewiesen werden soll, die als unerlässlicher, nicht ausgleichsfähiger Bestandteil der‑ jenigen Qualifikationen anzusehen ist, die mit der Prüfung nachgewiesen werden sollen. Eine solche Fähigkeit möge beispielsweise in der Beherr‑ schung einer bestimmten Fachmaterie oder, ggf. kombiniert, einer bestimm‑ ten Bearbeitungs- oder Darstellungsmethode bestehen, die nur in der betrof‑ fenen Teilprüfung abgeprüft wird211. Dieser Rechtsauffassung im Wesentlichen entsprechend hatten zuvor be‑ reits Niehues / Fischer die Auffassung vertreten, dass die Annahme der Verfehlung des Ausbildungsziels aufgrund des Nichtbestehens einer Teilprü‑ fungsleistung nur dann gerechtfertigt sei, wenn das Prüfungsfach für die berufsspezifische Befähigung eine wichtige – nahezu unverzichtbare – Be‑ deutung habe212. Voraussetzung hierfür sei insbesondere, dass nicht nur Spezialfragen, sondern zentrale Themen aus dem Fachgebiet geprüft würden und die vom Prüfling gezeigten Leistungsmängel gravierend seien213. Kor‑ respondierend mit diesen Postulaten war ehedem vom VGH Mannheim die Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 91. 80, 1 (35); BVerwG, Bes. v. 10.10.1994 – 6 B 73/94, NJW 1995, 977 (978); Urt. v. 29.05.2013 – 6 C 18/12, DVBl. 2013, 1122 (1124); VGH Mann‑ heim, Urt. v. 16.05.2000 – S 2537/99, NVwZ 2001, 940 (941); VG Sigmaringen, Urt. v. 30.10.2003 – 8 K 556/01, juris, Rn. 36. 211 BVerwG, Urt. v. 29.05.2013 – 6 C 18/12, DVBl. 2013, 1122 (1124). 212 Niehues/Fischer, 5. Auflage, Rn. 541; siehe jetzt Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 541. 213 Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 541. 209 Zutreffend 210 BVerfGE
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Kap. 4: Rechtsgrundlagen des deutschen Juristenausbildungsrechts
(zusätzliche) Anforderung aufgestellt worden, dass die Prüfungsfragen und ‑aufgaben so gestellt werden müssten, dass ein Versagen des Kandidaten nicht nur auf dessen Unkenntnis in dem speziellen Teilfach, sondern zu‑ gleich auf unzureichende Kenntnisse und Fähigkeiten in weiteren Teilgebie‑ ten, in die das Teilfach eingebettet sei, schließen lasse214. Gemessen an diesen Anforderungen darf die Schwerpunktbereichsausbil‑ dung und -prüfung zwar nicht vorschnell mit dem Verdikt der Verfassungs‑ widrigkeit belegt werden. Gerechtfertigt aber erscheint die Feststellung, dass die Fokussierung der Schwerpunktbereiche auf Teilbereiche der Rechtswissenschaft besondere Anforderungen an den Zuschnitt der Schwer‑ punktbereichsausbildung, die Art der zu erbringenden Prüfungsleistungen, die Auswahl des Ausbildungs- und Prüfungsstoffes sowie die Ausgestaltung der Bestehensregelungen mit sich bringt. Mit Blick auf das Ziel der juristischen Ausbildung erscheint das durch Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG grundrechtlich geschützte und durch das Erforder‑ nis der erfolgreich zu absolvierenden Schwerpunktbereichsprüfung beein‑ trächtigte Interesse des Prüflings an einem freien Berufszugang zunächst nur dann hinreichend gewahrt, wenn die Schwerpunktbereiche mehrere Rechtsgebiete umfassen und sie aufgrund ihres Stoffzuschnitts einen Über‑ blick über einen wesentlichen Teilbereich der Rechtswissenschaft ermögli‑ chen. Diese Notwendigkeit ist zumindest von einigen Landesgesetzgebern erkannt und entsprechend als verbindliche Direktive für die Hochschulen bei der Ausgestaltung der Schwerpunktbereichsausbildung gesetzlich veran‑ kert worden215. Vereinzelt ebenfalls normiert worden ist das weitere Erfor‑ dernis, dass sich die hinreichende stoffliche Bandbreite, die die Schwer‑ punktbereichsausbildung vermitteln muss, auch in der Schwerpunktbereichs prüfung durch eine entsprechende Festlegung des Gegenstands und Inhalts der hier zu erbringenden Teilprüfungsleistungen widerspiegelt216. Darüber hinaus ist aber zu fordern, dass der Kandidat in den Schwer‑ punktbereichsprüfungen hinreichend Gelegenheit erhält, seine im Rahmen der späteren Berufsausübung (tatsächlich) geforderten Fähigkeiten und hier insbesondere die in §§ 5a Abs. 3 Satz 1, 5d Abs. 1 Satz 1 Hs. DRiG genann‑ ten Schlüsselqualifikationen unter Beweis zu stellen. Dies erscheint zunächst nur möglich, wenn in der Schwerpunktbereichsprüfung neben schriftlichen auch mündliche Prüfungsleistungen vorgesehen sind, da es schlechterdings ausgeschlossen ist, im Rahmen einer schriftlichen Arbeit Qualifikationen 214 VGH
Mannheim, Urt. v. 16.05.2000 – S 2537/99, NVwZ 2001, 940 (941). etwa § 31 Abs. 2 Satz 2 JAG HH; § 2a Abs. 1 2 JAG M-V; § 39 Abs. 2 Satz 3 JAPO Bayern. 216 Vgl. in diesem Sinne § 32 Abs. 1 S. 3 JAG HH; § 2a Abs. 2 JAG M-V; § 4a Abs. 2 NJAG, § 40 Abs. 1 Satz 2 JAPO Bayern. 215 Siehe
B. Einzelbetrachtung der Rechtsgrundlagen97
wie rhetorische und kommunikative Fähigkeiten darzutun. Im Hinblick auf deren nicht zweifelhafte und bundesgesetzlich klar unterstrichene Bedeu‑ tung für die spätere Berufsausübung muss die Bewertung der mündlichen Prüfungsleistungen aber auch mit angemessenem Gewicht in der Gesamtbe‑ wertung der Schwerpunktbereichsprüfung berücksichtigt und die Möglich‑ keit vorgesehen werden, unzureichende schriftliche zumindest teilweise durch bessere mündliche Prüfungsleistungen auszugleichen. Wie bereits oben im Rahmen der Bewertung der Ausgestaltung der Zwi‑ schenprüfung ausgeführt und im Vorgehenden angedeutet, lässt sich die Notwendigkeit einer solchen Kompensationsmöglichkeit unmittelbar aus dem Gewährleistungsgehalt des Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG ableiten. Denn das Versagen in einem einzelnen Fach der Schwerpunktbereichsprüfung, die ja selbst in ihrer Bandbreite nur einen Teilbereich der Rechtswissenschaft behandelt, rechtfertigt eben grundsätzlich nicht die Annahme, dass der Prüf‑ ling für die angestrebten juristischen Berufe nicht hinreichend qualifiziert bzw. ungeeignet ist217. Daraus folgt weitergehend, dass – sofern ausweislich der Prüfungsordnung mehrere schriftliche Prüfungsleistungen zu erbringen sind – auch innerhalb derselben eine Ausgleichsmöglichkeit gegeben sein muss, das Versagen allein bei einer dieser Teilprüfungen also nicht schon zum Nichtbestehen der Universitätsprüfung führen darf218. Dieser Befund ergibt sich – wie bei der Zwischenprüfung – insbesondere auch daraus, dass es systemwidrig wäre, die bei der staatlichen Pflichtfachprüfung beinahe ausnahmslos vorgesehene Möglichkeit, einzelne unzureichende schriftliche Prüfungsleistungen durch stärkere Klausurleistungen auszugleichen, und insgesamt nicht ausreichende schriftliche Leistungen durch bessere mündli‑ che Prüfungsleistungen zu kompensieren, auszuschließen219. Mit anderen Worten ergibt sich im Ergebnis das vom Bundesverwaltungsgericht jüngst aufgestellte Erfordernis der Kongruenz der Eignungsstandards zwischen Pflichtfach- und Universitätsprüfung220. 217 Vgl. Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 91; siehe nun auch BVerwG, Urt. v. 29.05.2013 – 6 C 18/12, DVBl. 2013, 1122 (1124 f.); siehe (hierzu) auch Gärditz, der zwar anerkennt, dass das in den Fächern der Schwerpunkte vermittelte Wissen kaum berufsrelevant ist, allerdings hierin im Hinblick auf den eindeutigen Willen des Gesetzgebers, die Schwerpunktbereichsprüfung in die Erste jur. Prüfung zu in‑ tegrieren, kein Problem sieht, DVBl 2013, 1383 (1385 f.). Diese Auffassung vermag im Hinblick auf den von ihm nicht erörterten Gewährleistungsgehalt des Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG nicht zu überzeugen. 218 BVerwG, Urt. v. 29.05.2013 – 6 C 18/12, DVBl. 2013, 1122 (1126), weiter‑ gehend juris, Rn. 35 ff. 219 Zutreffend Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 91. 220 BVerwG, Urt. v. 29.05.2013 – 6 C 18/12, juris, Rn. 37, insoweit nicht abge‑ druckt in DVBl 2013, 1122 (1126). Diese Entscheidung ist durch einen nach Einrei‑ chung der Dissertation ergangenen Beschluss des BVerfG vom 26.06.2015 – 1 BvR
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Kap. 4: Rechtsgrundlagen des deutschen Juristenausbildungsrechts
Mithin muss auch im Rahmen der Ausgestaltung der Schwerpunktbe‑ reichsprüfung der Grundsatz zum Ausdruck kommen, dass einzelne partiel‑ le Leistungsschwächen die Eignung für den juristischen Vorbereitungsdienst nicht entfallen lassen221. Gemessen an den vorstehenden Maßstäben erschei‑ nen zunächst Schwerpunktbereichsprüfungsordnungen als unvereinbar mit dem Gewährleistungsgehalt des Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG, nach denen ausschließlich schriftliche Prüfungsleistungen zu erbringen sind oder min‑ destens ausreichende schriftliche Prüfungsleistungen als Voraussetzung für die Zulassung zur mündlichen Prüfung erzielt werden müssen222. Weiterge‑ hend hat das Bundesverwaltungsgericht in einem aktuellen Urteil im Ergeb‑ nis zu Recht eine Prüfungsordnung für verfassungswidrig erklärt, nach welcher Voraussetzung für das Bestehen der Schwerpunktbereichsprüfung mindestens ausreichende Leistungen in allen der sich aus schriftlichen und mündlichen (Teil‑) Prüfungsleistungen zusammensetzenden Prüfung wa‑ ren223. Dabei hat es allerdings den Ansatz des Satzungsgebers, für das Be‑ stehen der Schwerpunktbereichsprüfung eine mindestens ausreichende Leistung auch in der wissenschaftlichen Studienarbeit zu verlangen, unbe‑ anstandet gelassen224. Die Rechtfertigung für die vorgenommene Verabsolu‑ tierung des Aussagewerts dieser Teilleistung erblickt das Bundesverwal‑ tungsgericht darin, dass diese in besonderer Weise auf die Ermittlung der wissenschaftlich-methodischen Fertigkeiten des Prüflings ausgerichtet sei und sich mithin eindeutig der Vertiefungsfunktion des Schwerpunktbereichs 2218/13, NVwZ 2015, 1444 ff., aufgehoben worden, weil das BVerwG die Wissen‑ schaftsfreiheit im Rahmen der Entscheidungsfindung nicht hinreichend berücksich‑ tigt hat. Es hat allerdings ausdrücklich betont, dass die in Ausübung der Wissen‑ schaftsfreiheit erlassenen universitären Prüfungsregelungen dem Grundsatz der Ver‑ hältnismäßigkeit gerecht werden müssen. Damit ist es auch nach dem BVerfG nicht ausgeschlossen, wie hier anzunehmen, dass Bestehensregelungen ohne Kompensa tionsmöglichkeiten unverhältnismäßig und deshalb mit dem Gewährleistungsgehalt des Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG unvereinbar sind. 221 BVerwG, Urt. v. 29.05.2013 – 6 C 18/12, DVBl. 2013, 1122 (1126), weiter‑ gehend juris, Rn. 37. 222 Siehe zum Problem des Versagens in einem Teilbereich und dem Ausschluss von Kompensationsmöglichkeiten, das sich bei nicht vorgesehen mündlichen Prü‑ fungsleistungen verstärkt, Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 542, 540 ff.; siehe auch Rn. 167 und 91, dort insbesondere zum hier behandelten Problem des Versagens des Prüflings in einzelnen Teilen der Schwerpunktbereichsprüfung. 223 BVerwG, Urt. v. 29.05.2013 – 6 C 18/12, juris, Rn. 37, insoweit nicht abge‑ druckt in DVBl 2013, 1122 (1126); vorgehend VG Karlsruhe, Urt. v. 30.06.2010 – 7 K 3369/09; juris; VGH Mannheim, Urt. v. 16.02.2012 – 9 S 2003/11, VBlBW 2012, 385 ff.; die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes referierend und im Ergeb‑ nis zustimmend Brehm, NVwZ 2014, 345 ff.; ablehnend Gärditz, DVBl. 2013, 1384 (1385). 224 BVerwG, Urt. v. 29.05.2013 – 6 C 8/12, juris, Rn. 37, insoweit nicht abge‑ druckt in DVBl 2013, 1122 (1126).
B. Einzelbetrachtung der Rechtsgrundlagen99
zuordnen lasse225. Demgegenüber werde mit der Aufsichtsarbeit und der mündlichen Prüfung (nach der Ausgestaltung im konkreten Fall) in einer strukturell den Teilprüfungen der staatlichen Pflichtfachprüfung vergleichba‑ ren Art und Weise mehr die fachliche Stoffbeherrschung abgeprüft226. Diese Teilprüfungen seien daher mehr der Ergänzungsfunktion des Schwerpunkt‑ bereichs zuzuordnen, so dass das Kongruenzgebot hier greife227. Dieser differenzierende Begründungsansatz des Bundesverwaltungsge‑ richtes und die damit einhergehende gesonderte Betrachtung und Einord‑ nung der wissenschaftlichen Studienarbeit vermag im Hinblick auf das be‑ stehende verfassungsrechtliche Gebot der weitgehenden Äquivalenz der Prüfungs- mit den späteren Berufsanforderungen nicht ohne Weiteres zu überzeugen. Denn bereits die vielfach – häufig sogar landesgesetzlich vor‑ gegebene – erfolgte Wiedereinführung der (wissenschaftlichen) Hausarbeit als obligatorische schriftliche Prüfungsleistung im Rahmen der universitären Schwerpunktbereichsprüfung kann je nach deren Interpretation und der sich daraus ergebenden Anforderungshöhe verfassungsrechtlichen Bedenken be‑ gegnen. Wie bereits ausgeführt, wird der Zweck der Ersten juristischen (Staats‑)Prüfung nämlich allgemein in der Überprüfung der Erreichung des Studienziels und der fachlichen Eignung für den Vorbereitungsdienst gese‑ hen, und dieser wird überwiegend dahin konkretisiert, dass der Kandidat zeigen soll, dass er das Recht mit Verständnis erfassen und anwenden kann und über die hierzu erforderlichen Kenntnisse in den Prüfungsfächern ver‑ fügt228. Mit einer solchen Konkretisierung stellt sich die Erste juristische Prüfung als reine „Verständnisprüfung“ dar, woraus folgt, dass nur das (Rechts‑)Ver ständnis der Kandidaten überprüft werden darf. Rechtsverständnis setzt zu‑ nächst einmal die Beherrschung der Methodik der Rechtsanwendung voraus, welche wiederum die Fähigkeit erfordert, den Inhalt einer Rechtsnorm genau zu ermitteln, unter die der Lebenssachverhalt sodann subsumiert wird. Durch diese Notwendigkeit der Ermittlung des Inhalts einer Rechtsnorm 225 BVerwG, Urt. v. 29.05.2013 – 6 C 8/12, juris, Rn. 37, insoweit nicht abge‑ druckt in DVBl 2013, 1122 (1126). 226 BVerwG, Urt. v. 29.05.2013 – 6 C 8/12, juris, Rn. 37, insoweit nicht abge‑ druckt in DVBl 2013, 1122 (1126). 227 BVerwG, Urt. v. 29.05.2013 – 6 C 8/12, juris, Rn. 37, insoweit nicht abge‑ druckt in DVBl 2013, 1122 (1126). 228 § 6 Satz 2 JAG HH; § 9 Satz 3 JAPG Bremen; § 1 Abs. 2 Satz 2 JAG S.-H.; § 2 Satz 3 SächsJAG (nur für staatliche Pflichtfachprüfung); § 1 Satz 3 JAG Saar‑ land; § 2 Abs. 2 JAG NRW; § 3 Abs. 1 Satz 3 JAG RLP; § 16 Abs. 1 Satz 3 JPO Bayern; § 1 JAG M-V i. V. m. § 2 Satz 3 JAG M-V; nur mit dieser konkretisierten Zweckangabe § 1 Abs. 2 JAG LSA, siehe auch § 7 Abs. 1 Satz 2 JAPrVO: hier nur bezogen auf die staatliche Pflichtfachprüfung; § 2 Abs. 1 Satz 3 NJAG.
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Kap. 4: Rechtsgrundlagen des deutschen Juristenausbildungsrechts
und die dabei zur Anwendung kommenden Methoden wird die Rechtsan‑ wendung zur Rechtswissenschaft229. Neben dieser Beherrschung der rechts‑ wissenschaftlichen Methodik setzt Rechtsverständnis aber notwendigerweise gewisse (Rechts‑)Kenntnisse voraus, die somit ebenfalls ausdrücklich zum Gegenstand der Prüfung gemacht werden dürfen. Nicht erforderlich und vom Prüfungszweck daher auch nicht gedeckt ist demgegenüber die (vor‑ ausgesetzte) Fähigkeit zur erschöpfenden Behandlung eines Rechtsproblems bzw. einer Rechtsfrage, wie sie dem Wissenschaftsmaßstab eigen ist230. Wenn und soweit vereinzelt verlangt wird, dass der Prüfling in der Schwerpunktbereichsprüfung seine Fähigkeit zu vertieftem wissenschaft lichen Arbeiten nachweist231 und hierfür die Anfertigung einer (wissen‑ schaftlichen) Hausarbeit vorgesehen ist232, deckt sich diese Prüfungsleistung zwar mit dem konkretisierten Zweck der Schwerpunktbereichsprüfung, ist aber mit dem übergeordneten Ziel der Ersten juristischen Prüfung, insbeson‑ dere die Eignung der Kandidaten für den Vorbereitungsdienst zu ermitteln233, nicht ohne Weiteres in Einklang zu bringen. Denn eine Befähigung zum (vertieften) wissenschaftlichen Arbeiten ist weder dort noch in der (richter‑ lichen) (Berufs‑) Praxis gefordert. Vielmehr sind die hier auftauchenden Rechtsfragen und -probleme gerade in einer praktischen Anforderungen gerecht werdenden Art und Weise, und das heißt in erster Linie anhand der (obergerichtlichen) Rechtsprechung, zu lösen. Wenn die vorausgesetzte Fä‑ higkeit zu vertieftem wissenschaftlichen Arbeiten im Sinne der erschöpfen‑ den Behandlung der auftauchenden Rechtsfragen und -probleme verstanden wird, würden damit Prüfungsanforderungen aufgestellt, die für die Errei‑ chung des Ausbildungsziels nicht (zwingend) erforderlich, damit unverhält‑ nismäßig und infolgedessen mit dem Gewährleistungsgehalt des Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG unvereinbar sind. Gleichwohl steht es außer Frage, dass (auch) der praktisch tätige (Voll‑)Jurist willens und in der Lage sein muss, die derzeitige Auslegung und Anwendung des (geltenden) Rechts kritisch zu hinterfragen und ggf. in methodisch korrekter Art und Weise weiterzuentwi‑ ckeln. Die geforderte Befähigung zu „vertiefter wissenschaftlicher Arbeit“ kann und muss daher verfassungskonform dahin interpretiert werden, dass hier unter Beibehaltung des Verständnismaßstabs im Rahmen der wissen‑ schaftlichen Hausarbeit nur die vertiefte Anwendung der rechtswissenschaft‑ 229 Vgl. Fröschle, Einführung in die Methodik der Rechtswissenschaft und der Fallbearbeitung, abrufbar unter http://www.uni-siegen.de/fb5/rechtswissenschaften/ froeschle/veranstaltungen/einfuehrung_ %28wire %29.pdf, S. 26. 230 Vgl. OVG Saarlouis, Bes. v. 22.11.2000 – 3 V 26/00, 3 W 6/00, NVwZ 2001, 942 (943 f.). 231 § 1 Abs. 2 Satz 3 JAG Berlin bzw. JAG Bbg; § 2 Abs. 3 JAG NRW. 232 § 5 Abs. 1 JAG Berlin bzw. Bbg.; § 28 Abs. 3 S. 3 JAG NRW. 233 § 1 Abs. 2 Satz 2 JAG Berlin bzw. Bbg.; § 2 Abs. 1 Satz 2 JAG NRW.
B. Einzelbetrachtung der Rechtsgrundlagen101
lichen Methodik erwartet wird. Entsprechend sind in denjenigen Bundeslän‑ dern, in denen die Erste juristische Prüfung als (reine) Verständnisprüfung konzipiert ist, gleichwohl aber ausdrücklich eine wissenschaftliche Hausar‑ beit im Rahmen der Schwerpunktbereichsprüfung verlangt wird234, die An‑ forderungen zu begrenzen. Im Ergebnis kann dem Rechtsstandpunkt des Bundesverwaltungsgerichtes damit nur mit der Maßgabe beigetreten werden, dass die Prüfungsanforde‑ rungen im Rahmen der wissenschaftlichen Hausarbeit nicht über die darge‑ legte Grenze hinausgehen dürfen. Darüber hinaus müssen natürlich auch die übrigen Voraussetzungen für die Verfassungsmäßigkeit einer an das Versa‑ gen in einem Teilbereich anknüpfenden Bestehensregelung erfüllt sein. Sind diese erfüllt, erscheint es entgegen dem Bundesverwaltungsgericht im Übri‑ gen nicht von vornherein ausgeschlossen, das Befähigungsurteil allein an‑ hand einer sonstigen (schriftlichen) Prüfungsleistung festzumachen. bb) Rechtsschutzmöglichkeiten Da es sich bei der Schwerpunktbereichsprüfung nunmehr um eine Berufs‑ zugangsprüfung handelt, muss der Prüfling im Sinne der bereits erwähnten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes die Möglichkeit haben, Einwände gegen die Bewertung seiner (Teil‑)Prüfungsleistungen wirkungs‑ voll vorbringen zu können. Diese ist grundsätzlich dadurch gewährleistet, dass gegen die auf der Grundlage der jeweiligen Schwerpunktbereichsprü‑ fungsordnung ergehenden Bescheide des Prüfungsausschusses – wie dies im nächsten Kapitel noch näher aufzuzeigen sein wird – das Widerspruchsver‑ fahren eröffnet ist, so dass der Prüfling im Rahmen desselben seine Einwen‑ dungen vorbringen kann. Insbesondere wenn die nach der jeweiligen Schwerpunktbereichsprüfung vorgesehenen (Teil‑)Prüfungsleistungen (auch) studienbegleitend zu absolvieren sind, liegt zwischen dem Zeitpunkt der Bekanntgabe ihrer (später) streitgegenständlichen Bewertung(en) und der Eröffnung des Prüfungs(gesamt)ergebnisses aber unter Umständen ein be‑ trächtlicher Zeitraum. Zur verfassungsrechtlich gebotenen Gewährleistung einer effektiven verwaltungsinternen Kontrolle der Prüfungsentscheidung dürfte es daher erforderlich sein, dem Prüfling die Möglichkeit einzuräu‑ men, Einwände gegen die Bewertung seiner Teilprüfungsleistungen zeitnah nach Mitteilung des Prüfungsergebnisses und damit noch während des lau‑ fenden Prüfungsverfahrens zu erheben. Diese Notwendigkeit ist von einigen Hochschulen erkannt und in den Studien- und Prüfungsordnungen entspre‑ 234 So etwa in Mecklenburg-Vorpommern (§ 2 Abs. 2 JAG M-V); Hessen (§ 24 Abs. 4 JAG); Bayern (§ 40 Abs. Nr. 1 JAPO); Baden-Württemberg (§ 31 Satz 2 JAPO).
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Kap. 4: Rechtsgrundlagen des deutschen Juristenausbildungsrechts
chend umgesetzt worden235. Aufgrund durchweg fehlender gesetzlicher Vorgaben für die Ausgestaltung des Einwendungsverfahrens fehlt es aber ganz überwiegend an solchen Vorschriften. Dies begründet ein klares Rege‑ lungsdefizit. Sofern in der Schwerpunktbereichsprüfungsordnung ein Remonstrations‑ recht des Prüflings gegen die Bewertung von Teilleistungen normiert ist, und / oder tatsächlich gewährt wird, erscheint, wie bereits im Rahmen der Bewertung der Ausgestaltung der Zwischenprüfung ausgeführt, die Bewer‑ tung der Prüfungsleistung durch einen weiteren Prüfer verfassungsrechtlich nicht geboten.
III. Staatliche Pflichtfachprüfung Nach der recht ausführlichen Darstellung und (verfassungs‑) rechtlichen Bewertung des Inhalts der Zwischenprüfungs- und Schwerpunktbereichsprü‑ fungsordnungen können die Ausführungen zu der nun in den Blick zu nehmenden Ausgestaltung der staatlichen Pflichtfachprüfung kürzer ausfal‑ len. Denn die einschlägigen Regelungen, mit denen recht differenziert na‑ mentlich die Prüfungsinhalte und das Verfahren der Leistungsermittlung und -bewertung festgelegt werden, entsprechen im Wesentlichen der Ausgestal‑ tung der vormals vorgesehenen Ersten juristischen Staatsprüfung. Und so‑ weit diese verfassungsrechtliche Fragen bzw. Probleme aufgeworfen hat, können sie als überwiegend geklärt angesehen werden. Im Rahmen der vorliegenden Abhandlung werden daher nur diejenigen „alten“ Rechtspro‑ bleme bzw. ‑fragen wieder aufgegriffen, die nach der Umsetzung der jüngs‑ ten Reform der Juristenausbildung eine andere Bewertung bzw. Beantwor‑ tung erfordern und / oder die für den Untersuchungsgegenstand von (beson‑ 235 § 16 Prüfungsordnung für das rechtswissenschaftliche Studium mit dem Ab‑ schluss Erste juristische Prüfung am Fachbereich Rechtswissenschaft der Universität Bremen vom 26.05.2010, abrufbar unter http://dbs.uni-bremen.de/sixcms/media.php/ 66/PO-1-jur-Pr %FCfung-5-10.pdf; § 34 Abs. 1 SPO Universität Frankfurt am Main; § 8 Abs. 2 Übungs- und Seminarordnung der juristischen Fakultät der Universität Augsburg gemäß § 14 der Studien- und Prüfungsordnung in der Neufassung des Beschlusses des Fakultätsrats vom 01.02.2006, zuletzt geändert durch Beschluss vom 31.07.2007, abrufbar unter http://www.jura.uni-augsburg.de/de/lehre/jura_klas sisch/medien/uebsemo010206fassung310107.pdf; § 17 Abs. 4 Prüfungsordnung für den Studiengang Rechtswissenschaft der Juristischen Fakultät an der HumboldtUniversität zu Berlin vom 13.03.2008, abrufbar unter http://www.amb.hu-berlin. de/2008/43/4320080; § 9 Abs. 5 SPO Universität Bonn; § 13 Studien- und Prüfungs‑ ordnung für das Studium der Rechtswissenschaft an der Universität Regensburg vom 01.08.2007, zuletzt geändert am 01.08.2007, abrufbar unter http://www.uni-regens burg.de/studium/pruefungsordnungen/medien/staatsexamen/707-jura-stpro2007.pdf.
B. Einzelbetrachtung der Rechtsgrundlagen103
derem) Interesse sind. Zunächst ist aber die bundes- und landesgesetzliche Ausgestaltung der staatlichen Pflichtfachprüfung in den Blick zu nehmen. 1. Bundesgesetzliche Vorgaben für die Ausgestaltung der staatlichen Pflichtfachprüfung Hier ist festzustellen, dass der Bund in einem etwas größeren Umfang als bei der Normierung der Vorgaben für die universitäre Schwerpunktbereichs‑ prüfung von seiner Regelungskompetenz Gebrauch gemacht hat. So enthält § 5d Abs. 2 Satz 3 DRiG für die Landesgesetzgeber den Regelungsauftrag, dass in der staatlichen Pflichtfachprüfung schriftliche und mündliche Prü‑ fungsleistungen zu erbringen sind, und in § 5d Abs. 4 Satz 2 DRiG die Vor‑ gabe, dass der Anteil der mündlichen Prüfungsleistungen an der Prüfungsge‑ samtnote 40 % nicht übersteigen darf. Da aber weder die Anzahl noch die Art der zu erbringenden schriftlichen Prüfungsleistungen und – in Abkehr vom früheren Recht236 – genauso wenig der Inhalt der mündlichen Prüfung vorge‑ geben sind, verbleibt dem Landesgesetzgeber noch ein recht weiter Gestal‑ tungsspielraum. Hinsichtlich der Prüfungsinhalte ist allgemein wie auch bei der universitären Schwerpunktbereichsprüfung das in §§ 5d Abs. 1 Satz 1, 5a Abs. 3 DRiG enthaltene Gebot zu beachten, auch bei der staatlichen Pflicht‑ fachprüfung die rechtsprechende, verwaltende und rechtsberatende Praxis einschließlich der hierfür erforderlichen Schlüsselqualifikationen zu berück‑ sichtigen. Wie für die Bewertung der im Rahmen der universitären Schwer‑ punktbereichsprüfungen erbrachten Prüfungsleistungen ist insoweit auch bei der staatlichen Pflichtfachprüfung die Bundesnotenverordnung maßgeblich. Erwähnungsbedürftig ist weiter die im Allgemeinen missverständlich als „Sozialpunkteklausel“237 bezeichnete und in § 5d Abs. 4 Satz 1, 2 DRiG getroffene verbindliche „Härtefall“-Regelung238, wonach das Prüfungsorgan von der rechnerisch ermittelten Gesamtnote im Umfang von bis zu einem Drittel der Notenstufe abweichen kann, wenn dies aufgrund des gewonne‑ nen Gesamteindrucks den Leistungsstand des Kandidaten besser kennzeich‑ net und auf das Bestehen der Prüfung keinen Einfluss hat. Im Übrigen hat der Bundesgesetzgeber in § 5d Abs. 5 Satz 1 DRiG zwin‑ gend eine Möglichkeit der Wiederholung der staatlichen Pflichtfachprüfung vorgesehen. 236 Siehe zum Inhalt des früheren Rechts die Darstellung bei Schmidt-Räntsch, DRiG, § 5d, Rn. 26. 237 Vgl. Staats, DRiG, § 5d, Rn. 13. 238 OVG Münster, Urt. v. 09.01.2008 – 14 A 3658/06, NVwZ 2008, 1037 (1037); Staats, DRiG, § 5d, Rn. 13.
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Kap. 4: Rechtsgrundlagen des deutschen Juristenausbildungsrechts
2. Die weitere Ausgestaltung der staatlichen Pflichtfachprüfung in den Bundesländern a) Formell-gesetzliche und / oder verordnungsrechtliche Konkretisierungen der Rahmenvorgaben Wie bei der universitären Schwerpunktbereichsprüfung hat der Bund die Länder in § 5d Abs. 6 DRiG beauftragt, im Rahmen der bundesgesetzlichen Vorgaben das Nähere des staatlichen Prüfungsrechts zu regeln. Diesem Re‑ gelungsauftrag sind die Bundesländer auch bezogen auf die jeweilige Wahl der Rechtssatzform in unterschiedlicher Art und Weise nachgekommen. Einige Bundesländer (Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen, Rheinland-Pfalz, Bayern, Baden-Württemberg) haben in ihren Juristenausbildungsgesetzen239 nur wenige Leitentscheidungen für die Ausbildung und Prüfung der Rechts‑ kandidaten getroffen, während die Ausgestaltung der Ausbildung und Prü‑ fungen im Einzelnen und damit auch der staatlichen Pflichtfachprüfung in einer durch den jeweiligen Justizminister erlassenen Juristenausbildungsver‑ ordnung240 erfolgt ist241. Besonders krasse Ausmaße hat dabei die Enthaltsamkeit des Gesetzgebers in den Ländern Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen angenommen. Zwar werden im Gesetz so unwesentliche Regelungen getroffen wie die Festlegung der Prüfungsorte für die Staatsprüfungen242, wohingegen Fragen, die für die Verwirklichung des Grundrechts der Berufsfreiheit von offenkundiger Bedeu‑ tung sind, wie etwa die im Rahmen der staatlichen Pflichtfachprüfung kon‑ kret zu erbringenden Prüfungsleistungen und die Bestehensvoraussetzungen, der Regelung durch den Verordnungsgeber überlassen worden sind. b) Verfassungsrechtliche Bewertung unter dem Gesichtspunkt der Wesentlichkeitslehre Hier drängt sich zumal bei einer pauschal gefassten Verordnungsermäch‑ tigung243 die Frage auf, inwieweit diese Regelungssystematik mit den oben 239 SächsJAG, JAG LSA, ThürJAG, JAG RLP, JAG Ba.-Wü. In Bayern gibt es kein Juristenausbildungsgesetz. 240 SächsJAPO; JAO LSA; ThürJAPO, JAPO RLP, JAPO Bayern. 241 Siehe zu den unterschiedlichen Regelungsmodellen in den Bundesländern bereits Wahl, DVBl. 1985, 822 (824); später bezüglich der vor der jüngsten Reform der Juristenausbildung vorzufindenden Rechtslage Zimmerling/Brehm, Prüfungsrecht, Rn. 728. 242 Siehe etwa §§ 4, 5 SächsJAG; § 3 ThürJAG. 243 Siehe insoweit insbesondere § 9 JAG RLP.
B. Einzelbetrachtung der Rechtsgrundlagen105
herausgestellten Anforderungen der Wesentlichkeitstheorie des Bundesver‑ fassungsgerichtes in Einklang steht. Soweit sich die Rechtsprechung mit dieser aufgrund eines entsprechenden – auf das Fehlen einer dem Parla‑ mentsvorbehalt genügenden Ermächtigungsgrundlage für den streitgegen‑ ständlichen Prüfungsbescheid abzielenden – Rüge des Prüflings befasst hat, haben die Verwaltungs- bzw. Landesverfassungsgerichte in den eingangs benannten Bundesländern keinerlei Bedenken angemeldet. So kommt etwa der SächsVerfGH zu dem Ergebnis, dass der sächsische Gesetzgeber mit der Festlegung des allgemeinen Zwecks der Ersten juristischen Prüfung in § 2 JAG Sachsen eine verbindliche Leitlinie dafür vorgegeben habe, wann die Prüfung bestanden sei, und damit die wesentlichen Entscheidungen selbst getroffen habe244. Da sich der Aussagegehalt von § 2 JAG Sachsen letztlich in der Tautologie erschöpft, dass die Prüfung der Feststellung des Wissens diene, das für die Tätigkeit des Rechtsreferendars erforderlich sei245, ist es unerklärlich, wie der parlamentarische Gesetzgeber mit dieser Bestimmung im Zusammenhang mit den in der Organisations- und Ermächtigungsnorm des § 8 JAG Sachsen gemachten Vorgaben eine Leitentscheidung im Kon‑ flikt zwischen dem gebotenen Schutz der Rechtspflege einerseits und dem Grundrecht der Berufsfreiheit andererseits getroffen haben soll246. Der in § 8 JAG Sachsen im Einzelnen erteilte Regelungsauftrag erschöpft sich – wie auch derjenige von den Gesetzgebern in den anderen oben genannten Bundesländern – überwiegend darin, dem Verordnungsgeber die Normierung von Selbstverständlichkeiten wie die Regelung der Art und Anzahl der zu erbringenden Prüfungsleistungen aufzugeben (vgl. § 8 Nr. 7 JAG Sachsen). Entgegen den in der Literatur wie dargestellt zu Recht erhobenen Forde‑ rungen wird damit etwas Grundsätzliches und Gehaltvolles nicht geregelt. Dass es durchaus praktikabel sein kann247, wenn der parlamentarische Ge‑ setzgeber selbst Vorschriften solchen Inhalts erlässt, und die Landesparla‑ mente dadurch nicht überfordert und in ihrer Funktionsfähigkeit beeinträch‑ tigt werden, belegen die in einigen Bundesländern durch die Volksvertretun‑ 244 SächsVerfG, Bes. v. 13.12.2001 – Vf.-IV-01, Vf. 78-IV-01, abrufbar unter http:// www.justiz.sachsen.de/esaver/internet/2001_050_IV/2001_050_IV.pdf, BU S. 7. 245 Vgl. insoweit Wahl, DVBl. 1985, 822 (825 m. Fn. 35), in Auseinandersetzung mit BVerwGE 68, 69 ff., zu dessen vergleichbarer Argumentation betreffend die vom Gesetzgeber bezüglich der ärztlichen Ausbildung getroffene Leitentscheidung: „Es ist unerfindlich, wie mit solchen Vorschriften die Leitscheidung zwischen dem Kon‑ flikt des Schutzes der Volksgesundheit einerseits und des Grundrechts des Berufs‑ freiheit andererseits getroffen worden sein soll“. 246 Vgl. Wahl, DVBl. 1985, 822 (825 m. Fn. 35), der völlig zu Recht in dieser Weise bezüglich einer Vorschrift des ärztlichen Ausbildungsrechts argumentiert. 247 Entgegen etwa VG Sigmaringen, Urt. v. 30.10.2003 – 8 K 556/01, juris, Rn. 35.
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Kap. 4: Rechtsgrundlagen des deutschen Juristenausbildungsrechts
gen getroffenen Vollregelungen des Juristenausbildungs- und Prüfungs‑ rechts248, in denen teils sogar die einzelnen zulässigen Prüfungsgegenstände festgelegt worden sind249. Es ist auch nicht erkennbar, dass mit diesen Voll‑ regelungen das Ziel möglichst richtiger staatlicher Entscheidungen durch ei‑ nen Gewaltenmonismus in Form eines umfassenden Parlamentsvorbehalts unterlaufen wird250, wenn die Parlamentarier selbst über die erforderliche Sachkunde verfügen oder sich wie üblich (auch) externen Sachverstand durch Anhörungen zunutze machen. Im Übrigen sind namentlich die in Ber‑ lin / Brandenburg und Niedersachsen getroffenen Regelungen im Juristenaus‑ bildungsgesetz einerseits und in der Juristenausbildungsordnung andererseits gelungene Beispiele für eine adäquate Aufteilung der Gesetzgebungskompe‑ tenzen zwischen der Legislative und der Exekutive. Hier hat nämlich der Gesetzgeber selbst wirkliche Leitentscheidungen bezüglich der staatlichen Pflichtfachprüfung getroffen, indem er insbesondere die Zulassungsvoraus‑ setzungen, die zu erbringenden Prüfungsleistungen, deren Bewertung sowie die Bestehensvoraussetzungen selbst normiert und nur die Regelung von Ein‑ zelheiten dem Verordnungsgeber überlassen hat251. Wie bereits im Rahmen der Bewertung der weitgehend unterbliebenen formell-gesetzlichen Ausge‑ staltung der Schwerpunktbereichsprüfung befundet, wird man daher verlan‑ gen dürfen, dass zumindest in Bezug auf die vorgenannten wesentlichen Re‑ gelungspunkte die maßgeblichen Entscheidungen vom parlamentarischen Gesetzgeber selbst und hinreichend konkret getroffen werden. Im Übrigen ergibt sich eine Verfehlung der Anforderungen der Wesent‑ lichkeitslehre in denjenigen Bundesländern, in denen es an wesentlichen formell-gesetzlichen Vorgaben fehlt und lediglich eine pauschale Verord‑ nungsermächtigung existiert, allein daraus, dass in Bezug auf die nunmehr gebotene Berücksichtigung der Schlüsselqualifikationen in Ausbildung und Prüfung keine parlamentarische Leitentscheidung getroffen worden ist. An‑ gesichts der Tatsache, dass die Umsetzung dieser bundesgesetzlichen Vorga‑ be grundrechtliche Gewährleistungen berühren kann (Art. 3 Abs. 1, 12 Abs. 1 GG)252, wäre insoweit eine klare Anweisung für die Ausgestaltung auch der staatlichen Pflichtfachprüfung erforderlich gewesen, wie sie auch in zahlreichen Bundesländern etwa durch die Einführung des Aktenvortrags als Teil der mündlichen Prüfung erfolgt ist. 248 Insbesondere
in Hamburg, Nordrhein-Westfalen und Bremen. etwa § 5 JAPG Bremen. 250 Vgl. BVerfGE 68, 1 (86 f.); 98, 218 (252); BayVGH, Urt. v. 19.03.2004 – 7 BV 03.1953, BayVBl. 2004, 597 (599). 251 Siehe insbesondere die in den §§ 6, 7 und 9 JAG Berlin/Brandenburg getrof‑ fenen Regelungen. 252 Vgl. Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 38. 249 Siehe
B. Einzelbetrachtung der Rechtsgrundlagen107
c) Wesentliche Grundzüge der staatlichen Pflichtfachprüfung Zu den vom Bundesgesetzgeber nicht geregelten Fragen gehört insbeson‑ dere diejenige der Voraussetzungen für die Zulassung zur staatlichen Pflichtfachprüfung. Während die Zulassung zur Ersten juristischen Staats‑ prüfung seinerzeit neben dem absolvierten rechtswissenschaftlichen Studium regelmäßig lediglich die Vorlage von im Rahmen desselben erworbenen Leistungsnachweisen in nicht für Anfänger bestimmten Lehrveranstaltungen im Bürgerlichen Recht, im Strafrecht und im Öffentlichen Recht sowie den Nachweis über die Teilnahme an den vorgesehenen praktischen Studienzei‑ ten erforderte253, hat sich der Katalog der Zulassungsvoraussetzungen für die staatliche Pflichtfachprüfung im Zuge der Reform der Juristenausbildung nicht unerheblich erweitert. Diese sind in den einzelnen Bundesländern sehr ähnlich und wie folgt ausgestaltet: Zunächst setzt die Zulassung zur staatlichen Pflichtfachprüfung regelmä‑ ßig neben der Absolvierung der erforderlichen Mindeststudienzeit (nach wie vor) den Erwerb der „großen Leistungsnachweise“ in den Fächern Zi‑ vilrecht, Strafrecht und Öffentliches Recht254 und zumeist eines Grundla‑ genscheins255 voraus. Darüber hinaus ist nunmehr im Regelfall auch die erfolgreiche Teilnahme an einer fremdsprachigen Lehrveranstaltung oder an einem Sprachkurs sowie überwiegend zudem der erfolgreiche Besuch einer Lehrveranstaltung zur Vermittlung von Schlüsselqualifikationen nach‑ zuweisen256. Schließlich ist wie ehedem die Absolvierung der vorgesehe‑ 253 Vgl. etwa § 3 Abs. 2 bis 4 Juristenausbildungsordnung Hamburg (JAO) vom 10.07.1972 (GVBl. S. 133, 148, 151), zuletzt geändert am 05.12.1995 (GVBl. S. 363). 254 Siehe etwa § 9 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 Nr. 1 JaPrO Ba.-Wü.; § 22 Abs. 1 Satz 1, 23 Abs. 1 Satz 1 JAPO Bayern; § 20 Abs. 1 Nr. 2 JAG M-V; § 5 Abs. 2 Nr. 1 JAPO M-V; § 13 Abs. 2 Nr. 4 JAG HH; § 16 Abs. 1 Nr. 5 JAPG Bremen; § 2 Abs. 1 Nr. 3 JAVO S.-H.; § 9 Abs. 3 Satz 1 JAPrVO LSA; § 4 Abs. 1 Nr. 1c NJAG; § 9 Abs. 1 Nr. 2c JAG Hessen; § 18 Abs. 1 SächsJAPO; § 16 Abs. 2 ThürJAPO; § 9 Abs. 1 Nr. 3 JAG Saarland; nur in NRW ist der Erwerb der „großen Leistungsnachweise“ keine Zulassungsvoraussetzung, vgl. § 7 Abs. 1 JAG NRW. 255 § 9 Abs. 2 Nr. 2 JaPrO Ba.-Wü.; § 20 Abs. 1 Nr. 1 JAG M-V: § 5 Abs. 2 Nr. 2 JAPO M-V; § 13 Abs. 2 Nr. 1 JAG HH; § 16 Abs. 1 Nr. 6 JAPG Bremen; § 2 Abs. 1 Nr. 7 JAVO S.H.; § 4 Abs. 1 Nr. 1 a NJAG; § 9 Abs. 1 Nr. 2 b JAG Hessen; § 6 Abs. 1 Nr. 4 JAG Berlin/Brandenburg. 256 Siehe § 20 Abs. 1 JAG M-V und § 5 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 2 Nr. 3 JAPO M-V; § 13 Abs. 2 Nr. 2, 3 JAG HH; § 16 Abs. 1 Nr. 7, 8 JAPG Bremen; § 2 Abs. 1 Nr. 1, 2 JAVO S.-H.; § 9 Abs. 4, 5 JAPrVO LSA; § 4 Abs. 1 Nr. 1 d, f NJAG; § 9 Abs. 1 Nr. 2 d, e JAG Hessen; § 9 Abs. 1, 2 JaPrO Ba.-Wü.; in Bayern, Nordrhein-West falen, Sachsen und Thüringen ist nur der erfolgreiche Besuch einer fremdsprachi‑ gen Lehrveranstaltung bzw. eines Sprachkurses, nicht aber der erfolgreiche Besuch einer Lehrveranstaltung nachzuweisen, in der Schlüsselqualifikationen vermittelt
108
Kap. 4: Rechtsgrundlagen des deutschen Juristenausbildungsrechts
nen praktischen Studienzeiten zu belegen257. Soweit darüber hinaus mitun‑ ter eine bestandene Zwischenprüfung verlangt wird258, wird damit de facto keine weitere Zulassungsvoraussetzung geschaffen, da die Teilnahme an den Fortgeschrittenenübungen respektive der Eintritt ins Hauptstudium nach den einschlägigen Studien- und Prüfungsordnungen ohnehin eine be‑ standene Zwischenprüfung voraussetzt259. Neben den vorgenannten Zulas‑ sungsvoraussetzungen wird nur in Thüringen und im Saarland weiter ge‑ hend verlangt, dass der Kandidat eine bereits bestandene Schwerpunkt bereichsprüfung bzw. das Vorliegen der diesbezüglichen Zulassungsvo raussetzungen nachweist. Diese Regelung dürfte mit dem Willen des Reformgesetzgebers, nach dem die staatliche Pflichtfachprüfung und die universitäre Schwerpunktbereichsprüfung nicht in einem rechtlichen, zeitli‑ chen oder organisatorischen Zusammenhang zueinander stehen260, nicht zu vereinbaren sein. Nach erfolgter Zulassung zur staatlichen Pflichtfachprüfung muss der Kan‑ didat im Rahmen des schriftlichen Prüfungsteils zunächst eine unterschiedli‑ che Zahl von Aufsichtsarbeiten im Zivilrecht, Strafrecht und Öffentlichen Recht anfertigen. In der ganz überwiegenden Zahl der Bundesländer sind sechs Klausuren anzufertigen261, während in Berlin262 und Brandenburg263 sieben Klausuren geschrieben werden müssen. Die Aufsichtsarbeiten werden in allen Bundesländern von zwei Prüfern bewertet, wobei für den Fall einer werden, siehe § 24 JAPO Bayern; § 7 Abs. 1 JAG NRW; § 18 SächsJAPO; § 4 Abs. 1 JAPO RLP. In Berlin und Brandenburg ist umgekehrt nur der Nachweis über den Erwerb von Schlüsselqualifikationen nachzuweisen, siehe § 6 Abs. 1 JAG Berlin/Brandenburg. 257 Siehe § 20 Abs. 1 JAG M-V und § 5 Abs. 1 Nr. 2 JAPO M-V; § 13 Abs. 1 Nr. 3 JAG HH; § 16 Abs. 1 Nr. 9 JAPG Bremen; § 2 Abs. 1 Nr. 4 JAVO S.-H.; § 4 Abs. 1 Nr. 2 NJAG; § 9 Abs. 1 Nr. 3 JAG Hessen; § 9 Abs. 1. Nr. 2 JaPrO Ba.-Wü.; § 25 JAPO Bayern; § 7 Abs. 1 Nr. 4 JAG NRW; § 19 SächsJAPO; § 4 Abs. 1 Nr. 3 JAPO RLP. 258 Siehe etwa § 16 Abs. 1 Nr. 4 JAPG Bremen; § 13 Abs. 1 Nr. 4 JAG HH. 259 Siehe etwa § 37 Abs. 1 Nr. 1 StPO HH. 260 BT-Drucksache 14/7176, S. 9; siehe zum Verhältnis von staatlicher Pflicht‑ fachprüfung und universitärer Schwerpunktbereichsprüfung auch Schmidt-Räntsch, DRiG, § 5d, Rn. 23. 261 § 15 Abs. 1 JAG HH; § 16 Abs. 1 JAPrVO LSA; § 19 Abs. 11 JAPrO Ba.Wü.; § 28 Abs. 1 Satz 1 JAPO Bayern; 3 Abs. 1 Satz 1 NJAG und § 19 NJAVO; § 18 Abs. 1 Satz 2 JAPG Bremen; § 10 Abs. 1 Nr. 1 JAVO S.H.; § 10 Abs. 2 Nr. 1 JAG Saarland; § 20 Abs. 2 ThürJAPO; § 12 Abs. 1, Abs. 2 JAO M-V; § 12 Abs. 1 Satz 2 JAG Hessen; § 10 Abs. 2 JAG NRW; § 5 Abs. 1 Satz 1 JAG RLP; § 23 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 SächsJAPO. 262 § 7 Abs. 1 Satz 1 JAG Berlin; § 5 Abs. 2, 3 JAO Berlin. 263 § 7 Abs. 1 Satz 1 Bbg. JAG; § 5 Abs. 2, 3 Bbg. JAO.
B. Einzelbetrachtung der Rechtsgrundlagen109
(erheblich264) divergierenden Bewertung265 jeweils Verfahren vorgesehen sind, die zu einer einheitlichen Bewertung führen sollen. Diese sind regelmä‑ ßig zweistufig ausgestaltet, wobei auf der ersten Stufe eine Beratung zwi‑ schen Erst- und Zweitprüfer und im Falle von deren Erfolglosigkeit eine Drittbegutachtung vorgesehen ist266. Die im Rahmen der staatlichen Pflicht‑ fachprüfung erbrachten Leistungen sind nach der wie dargestellt unmittelbar geltenden und verbindlichen Bundesnotenverordnung zu bewerten. Der schriftlichen schließt sich die mündliche Prüfung an, wenn der Kandidat die unterschiedlich ausgestalteten Zulassungsvoraussetzungen erfüllt. Diese las‑ sen sich dahin zusammenfassen, dass neben einer erforderlichen und im Be‑ reich zwischen 3,5267 und 3,8268 liegenden Mindestdurchschnittspunktzahl in den Klausuren eine bestimmte Zahl von Aufsichtsarbeiten (mindestens zwei269, höchstens vier270, überwiegend drei271) bestanden sein muss. Ledig‑ lich in Rheinland-Pfalz setzt die Zulassung zur mündlichen Prüfung mindes‑ tens ausreichende Leistungen in der schriftlichen Prüfung voraus272. Im Üb‑ rigen kommt es auf die erreichte Durchschnittspunktzahl teilweise nicht an, wenn eine festgelegte Mindestanzahl von Klausuren bestanden worden ist273. In Hamburg274 und Baden-Württemberg275 ist neben dem Erreichen einer bestimmten Durchschnittsnote und einer Mindestanzahl bestandener Klausu‑ ren darüber hinaus erforderlich, dass zumindest eine Klausur im Bürgerli‑ chen Recht bestanden worden ist. Eine ähnliche Regelung ist in Mecklen‑ burg-Vorpommern getroffen worden, wo in mindestens zwei der drei abge‑ 264 Für den Fall, dass die Punktzahlen um nicht mehr als regelmäßig drei Punkte voneinander abweichen, gilt überwiegend die Durchschnittspunktzahl, siehe etwa § 17 Abs. 3 Satz 1 JAG HH. Erst bei größeren Abweichungen ist eine Beratung zwischen Erst- und Zweitprüfer vorgesehen, siehe etwa § 17 Abs. 1 Satz 2 JAG HH; im Falle von deren Erfolglosigkeit ist die Einholung eines Drittgutachtens erforder‑ lich, siehe etwa § 17 Abs. 1 Satz 3 JAG HH. 265 Teilweise ist ein Einigungsverfahren bereits bei einer nur um einen Punkt abweichenden Bewertung vorgesehen, siehe etwa § 14 Abs. 1 JAG NRW. 266 Vgl. etwa § 17 Abs. 3 JAG HH; § 14 Abs. 1 JAG NRW. 267 Siehe § 19 Abs. 1 NJAG; § 11 Abs. 2 Satz 1 Saarland; § 7 Abs. 1 Satz 4 JAG Berlin und Bbg. JAG; § 18 JAG Hessen; § 20 Nr. 1 JAG NRW. 268 § 18 Abs. 1 JAG HH; § 31 Abs. 2 JAPO Bayern. 269 § 14 Abs. 1 NJAG; § 18 JAG Hessen. 270 § 7 Abs. 1 Satz 4 JAG Berlin und Bbg. JAG. 271 § 16 JaPrO Ba.-Wü.; § 25 Abs. 2 SächsJAPO; § 31 Abs. 2 JAPO Bayern; § 11 Abs. 2 JAG Saarland; § 18 JAO M-V; § 8 Abs. 4 JAPO RLP. 272 Dies folgt aus § 8 Abs. 4 JAPO RLP (Gesamtpunktzahl von 24 Punkten bei sechs vorgesehenen Klausuren). 273 Siehe etwa § 21 Abs. 2 JAPG Bremen. 274 § 18 Abs. 1 JAG HH. 275 § 16 JaPrO Ba.-Wü.
110
Kap. 4: Rechtsgrundlagen des deutschen Juristenausbildungsrechts
prüften Rechtsgebiete eine Klausur bestanden worden sein muss276. Die in Hamburg und Baden-Württemberg getroffenen Bestehensregelungen haben unter der eingängigen Bezeichnung „Blockversagen277(sregelung)“ Karriere gemacht und sahen sich alsbald nach ihrer Einführung verfassungsrechtli‑ chen Einwänden ausgesetzt, auf die sogleich noch näher eingegangen wird. Die mündliche Prüfung besteht in allen Bundesländern aus einem sich auf alle drei Pflichtfächer (Bürgerliches Recht, Strafrecht, Öffentliches Recht) erstreckenden und vorwiegend als Verständnisprüfung gedachten Prüfungs‑ gespräch. Darüber hinaus ist in einigen Bundesländern ein Aktenvortrag des Prüflings als weiterer mündlicher Prüfungsteil vorgesehen278, mit dem ins‑ besondere die nunmehr ausdrücklich geforderten Schlüsselqualifikationen nachgewiesen werden sollen279. Nach erfolgter Bewertung der schriftlichen und mündlichen Prüfungsleis‑ tungen wird nach Maßgabe des in den Bundesländern jeweils unterschied‑ lich bestimmten Gewichtungsfaktors und ggf. in Anwendung der Abwei‑ chensregelung nach § 5d Abs. 4 Satz 1, 2 DRiG bzw. der entsprechenden landesgesetzlichen Regelung280 vom Prüfungsausschuss die Gesamtnote für die staatliche Pflichtfachprüfung gebildet. Die Variationsbreite der Gewichtung der schriftlichen und mündlichen Prüfungsleistungen ist gering und bewegt sich zwischen einem Anteil der mündlichen Prüfungsleistungen an der Prüfungsgesamtnote von nur 25 %281 bis zu den nach § 5d Abs. 4 Satz 2 DRiG maximal zulässigen 40 %282. Überwiegend liegt der Anteil der mündlichen Prüfungsleistungen an der Prüfungsgesamtnote aber in der Mitte dieses Bereichs283. 276 § 18
JAO M-V. Begriff des „Blockversagens“ wurde allerdings auch schon früher in Be‑ zug auf Regelungen verwandt, die für das Erreichen der mündlichen Prüfung gewis‑ se Mindestleistungen vorsahen, siehe etwa § 31 Abs. 3 JAG NRW in der Fassung der Bekanntmachung v. 16.07.1985, GV. NW S. 522/GV. NW S. 315; dazu OVG Münster, Urt. v. 27.09.1974 – XV A 1336/73, juris; Rehborn/Schäfer/Tettinger, JAG NRW, § 31, Rn. 31. 278 Siehe § 20 Abs. 1 JAG HH; § 9 Abs. 2 Satz 1 JAO Berlin und Bbg. JAO; Siehe etwa § 26 Abs. 1 SächsJAPO a. F. (Schlüsselqualifikationsvortrag), der nach § 26 Abs. 1, 2 SächsJAPO n. F. aber schon wieder abgeschafft worden ist; siehe hierzu die Übergangsvorschrift in § 69 Abs. 3 SächsJAPO; § 21 JAPrVO LSA; § 20 Abs. 3 Satz 1 JAG NRW. 279 Siehe ausdrücklich etwa § 26 Abs. 1 Satz 1 SächsJAPO a. F. 280 Siehe etwa § 18 Abs. 4 JAG NRW. 281 § 22 Abs. 1 Satz 2 JAG HH; § 34 Abs. 1 JAPO Bayern. 282 So in Nordrhein-Westfalen (§ 18 Abs. 3 JAG NRW); Sachsen-Anhalt (§ 23 Abs. 1 JAPrVO LSA). 283 29,41 %: § 14 Abs. 1 JAG Saarland; 30 %: § 19 Abs. 2 Nr. 3 JaPrO Ba.-Wü.; § 22 Abs. 2 Satz 2 JAPO M-W; 33,33 %: § 21 Abs. 1 Satz 1 JAVO S.H.; § 23 Abs. 1 277 Der
B. Einzelbetrachtung der Rechtsgrundlagen111
Die staatliche Prüfung ist bestanden, wenn insgesamt eine mindestens ausreichende Leistung im Sinne der Bundesnotenverordnung erzielt wird284. Überwiegend nicht ausdrücklich geregelt ist, dass der Prüfling über die bestandene staatliche Pflichtfachprüfung ein Zeugnis285 und im Falle des Nichtbestehens derselben eine schriftliche Mitteilung in Form eines rechts‑ mittelfähigen Bescheides erhält286, was in der Praxis indes durchweg ge‑ schieht. 3. Abschließende Bewertung der Ausgestaltung der staatlichen Pflichtfachprüfung Nachdem nunmehr die staatliche Pflichtfachprüfung unter Berücksichti‑ gung des Untersuchungsgegenstandes (nur) in ihren wesentlichen Grundzü‑ gen dargestellt worden ist, kann zunächst festgehalten werden, dass trotz des nach wie vor recht weiten Gestaltungsspielraums der Landesgesetzgeber die Abweichungen namentlich hinsichtlich der in den jeweiligen Bundeslän‑ dern zu erbringenden Prüfungsleistungen und der Bestehensvoraussetzungen mit Ausnahme der in Rheinland-Pfalz getroffenen Bestehensregelung ge‑ ringfügig sind. a) Wahrung des Einheitlichkeitsgebots des § 5 Abs. 1 Satz 2 DRiG Die bestehenden geringfügigen Abweichungen geraten mit dem Einheit‑ lichkeitsgebot des § 5d Abs. 1 Satz 2 DRiG nicht in Konflikt, weil dieses wie dargelegt keine Uniformität der Prüfungsregelungen verlangt287. Diese Satz 2 JAPG Bremen; § 19 Abs. 2 Satz 1 JAG Hessen; § 9 Abs. 5 Satz 2 JAPO RLP; 35 %: § 25 Abs. 2 ThürJAPO; 36 %: § 12 Abs. 2 NJAG; 37 %: § 10 Abs. 2 JAO Berlin/Brandenburg. 284 Siehe etwa § 22 Abs. 1 Satz 2 JAG HH; § 24 JAPrVO LSA; § 19 Abs. 3 JAPrO Ba.-Wü.; § 27 Abs. 5 SächsJAPO; § 34 Abs. 3 JAPO Bayern; § 14 Abs. 1 Nr. 3 NJAG; § 23 Abs. 2 JAPG Bremen. 285 Siehe aber § 21 Abs. 5 JAVO S.-H.; § 10 Abs. 4 JAO Berlin und Bbg.; § 23 Abs. 2 JAO M-V; § 14 Abs. 5 JAG Saarland; § 13 Abs. 1 JAPO RLP, § 35 Abs. 1 Satz 1 JAPO Bayern. 286 Siehe aber § 23 Abs. 3 Satz 2 JAPG Bremen; § 8 Abs. 4 Satz 3 JAPO RLP; § 35 Abs. 1 Satz 2 JAPO Bayern. 287 Vgl. nochmals BVerwG, Bes. v. 09.06.1993 – 6 B 35792, NJW 1993, 3340 (3342); Bes. v. 09.06.1995 – 6 B 100/94, Buchholz Nr. 421.0 Nr. 350, 79 (79 f.); Urt. v. 21.03.2012 – 6 C 19/11, NVwZ 2012, 1188 (1190); Urt. v. 29.05.2013 – 6 C 18/12, DVBl. 2013, 1122 (1123); VG Mainz, Urt. v. 23.01.2002 – 7 K 656/01.MZ, juris, Rn. 22; siehe auch VG Schleswig, Urt. v. 08.09.2004 – 9 A 34/04: kein Ver‑ stoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG bei unterschiedlichen Bestehensvoraussetzungen in den
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Kap. 4: Rechtsgrundlagen des deutschen Juristenausbildungsrechts
müssen nicht identisch288, sondern nur in den wesentlichen Punkten ver‑ gleichbar sein. Gemessen daran dürfte aber die in Rheinland-Pfalz getroffene und einen „Ausreißer“ darstellende Regelung, wonach die Zulassung zur mündlichen Prüfung der staatlichen Pflichtfachprüfung voraussetzt, dass in der schriftli‑ chen Prüfung eine mindestens ausreichende Leistung erzielt worden ist289, mit dem Einheitlichkeitsgebot des § 5d Abs. 1 Satz 2 DRiG unvereinbar sein290. Denn der wesentliche Unterschied zu den in den anderen Bundes‑ ländern getroffenen Regelungen besteht hier darin, dass in Rheinland-Pfalz unzureichende schriftliche Prüfungsleistungen auch nicht teilweise durch bessere mündliche Prüfungsleistungen ausgeglichen werden können. Hierin liegt eine gravierende Abweichung von dem bei der staatlichen Pflichtfach‑ prüfung üblichen Standard, in der sich geradezu ein Systembruch manifes‑ tiert, so dass selbst bei engster Auslegung des § 5d Abs. 1 Satz 2 DRiG im Sinne des für die Ausgestaltung der Schwerpunktbereichsprüfung vom Bundesverwaltungsgericht angelegten Maßstabs291 ein Verstoß gegen das Einheitlichkeitsgebot begründet werden kann. b) Verfassungsrechtliche Bewertung der Ausgestaltung der staatlichen Pflichtfachprüfung Der mit der in Rheinland-Pfalz getroffenen Bestehensregelung einherge‑ hende Ausschluss der Kompensationsmöglichkeit gerät nicht nur mit dem Einheitlichkeitsgebot des § 5d Abs. 1 Satz 2 DRiG, sondern auch mit dem Gewährleistungsgehalt des Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG in Konflikt, wie dies anhand der Ausgestaltung einiger Bestehensregelungen in den universitären Prüfungsordnungen bereits aufgezeigt worden ist. Das VG Mainz aber hält § 8 Abs. 4 JAPO RLP für verfassungsrechtlich unbedenklich292. Angesichts des besonderen Gewichts, das in der juristi‑ schen Ausbildung den schriftlichen Leistungen als Kriterium für die Beur‑ teilung der juristischen Befähigung grundsätzlich zugeschrieben werde, sei Bundesländern; skeptisch im Hinblick auf § 5d Abs. 1 Satz 2 DRiG Zimmerling/ Brehm, Prüfungsrecht, Rn. 737. 288 Ebenso VG Mainz, Urt. v. 23.01.2002 – 7 K 656/01.MZ, juris, Rn. 22. 289 § 8 Abs. 4 Satz 1 JAPO RLP. 290 Abweichend VG Mainz, Urt. v. 23.01.2002 – 7 K 656/01.MZ, juris, Rn. 22, für die gleichlautende Vorschrift des § 49 Abs. 3 JAPO a. F. für die Zweite juristi‑ sche Staatsprüfung. Der auch unter dem Einheitlichkeitsgebot problematische Aus‑ schluss der Kompensationsmöglichkeit gerät dort aber nicht in den Blick. 291 Vgl. BVerwG, Urt. v. 23.05.2013 – 6 C 18.12, DVBl. 2013, 1122 (1123). 292 VG Mainz, Urt. v. 23.01.2002 – 7 K 656/01.MZ, juris, Rn. 25.
B. Einzelbetrachtung der Rechtsgrundlagen113
es sachgerecht, den Prüfling von der weiteren Prüfung auszuschließen, wenn er nicht zumindest ausreichende Leistungen im schriftlichen Prüfungsteil erzielt habe293. Falls er diese Leistung nicht erbringe, habe er nicht nach‑ weisen können, dass er aufgrund seiner fachlichen und allgemeinen Kennt‑ nisse die Fähigkeit besitzt, Lebenssachverhalte mit Verständnis zu erfassen und rechtlich zu würdigen294. Dieser nicht überzeugenden Argumentation des VG Mainz ist jedenfalls durch die Reform der Juristenausbildung und die gebotene Berücksichtigung von Schlüsselqualifikationen in Ausbildung und Prüfung der Boden entzo‑ gen worden. Mit dieser Neuerung hat der Bundesgesetzgeber unterstrichen, dass die Ausübung jeglicher juristischer Berufe auch kommunikative und rhetorische Fähigkeiten erfordert, die aber in einer schriftlichen Prüfung nicht nachgewiesen werden können295. Demgemäß muss dem Prüfling auch und gerade im Hinblick auf die tatsächlichen Anforderungen der späteren Berufsausübung und insoweit unter dem Gesichtspunkt des Verhältnismä‑ ßigkeitsgrundsatzes im angemessenen Umfang die Gelegenheit gegeben werden, seine Schlüsselqualifikationen im Rahmen einer mündlichen Prü‑ fung nachzuweisen, wenn seine schriftlichen Prüfungsleistungen ein Min‑ destmaß an juristischer Befähigung haben erkennen lassen. Insoweit gelten die im Rahmen der verfassungsrechtlichen Bewertung der (unterschiedli‑ chen) Ausgestaltung der Zwischen- und Schwerpunktbereichsprüfung zur dort bestehenden Parallelproblematik gemachten Ausführungen entspre‑ chend. Der vollständige Ausschluss der Möglichkeit, unzureichende schrift‑ liche Prüfungsleistungen durch bessere mündliche zu kompensieren, er‑ scheint mithin unvereinbar mit dem Gewährleistungsgehalt des Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG. Unter dem übergreifenden Gesichtspunkt des Versagens in einem Teilbe‑ reich ähnliche verfassungsrechtliche Fragen bzw. Probleme wirft die in Hamburg und Baden-Württemberg getroffene Blockversagensregelung auf, wonach von den drei im Zivilrecht anzufertigenden Klausuren296 zumindest eine mit „ausreichend“ oder besser bewertet worden sein muss297. Verfas‑ sungsrechtlich bedenklich wären diese Regelungen entsprechend den oben zur Schwerpunktbereichsprüfung getätigten Ausführungen nur dann, wenn der zivilrechtliche Prüfungsteil keine zuverlässige Grundlage für die Beur‑ 293 VG
Mainz, Urt. v. 23.01.2002 – 7 K 656/01.MZ, juris, Rn. 25. Mainz, Urt. v. 23.01.2002 – 7 K 656/01.MZ, juris, Rn. 25. 295 So auch Schmidt-Räntsch, DRiG, § 5d, Rn. 7. 296 Siehe § 15 Abs. 1 Nr. 1, 2 JAG HH sowie § 13 Abs. 3 Nr. 1 JAPO Ba.-Wü. 297 Vgl. zum Problem des Blockversagens insbesondere Zimmerling/Brehm, Prü‑ fungsrecht, Rn. 735, und VGH Mannheim, Urt. v. 16.05.2000 – S 2537/99, NVwZ 2001, 940 ff.; siehe auch VG Dresden, Urt. v. 22.03.2012 – 5 K 1327/10, juris, Rn. 51 ff. 294 VG
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Kap. 4: Rechtsgrundlagen des deutschen Juristenausbildungsrechts
teilung bietet, dass das Ausbildungsziel nicht erreicht ist298. Insoweit ist festzustellen, dass das Zivilrecht einen wesentlichen Teil der Rechtswissen‑ schaft und -praxis ausmacht und für die spätere Berufsausübung eine nahe‑ zu unverzichtbare Bedeutung auch dann hat299, wenn eine Spezialisierung auf andere Rechtsgebiete erfolgt ist. Auch in diesem Fall ist nämlich eine gelegentliche Konfrontation mit jedenfalls impliziten zivilrechtlichen Frage‑ stellungen nicht nur nicht ausgeschlossen, sondern der Regelfall. Bei ent‑ sprechender Gestaltung der Klausuren, die insoweit die Bandbreite des Zi‑ vilrechts angemessen abdecken müssen, begegnen daher auf die Prüfungs‑ leistungen im Zivilrecht bezogene Blockversagensregelungen keinen verfas‑ sungsrechtlichen Bedenken300.
IV. Das Verhältnis der Schwerpunktbereichsprüfung zur staatlichen Pflichtfachprüfung Nachdem die Grundzüge der universitären Schwerpunktbereichsprüfung und der staatlichen Pflichtfachprüfung dargestellt und bewertet worden sind, ist nun auf das im Rahmen der vorangegangenen Ausführungen bereits ange‑ sprochene Verhältnis der universitären Schwerpunktbereichsprüfung zur staatlichen Pflichtfachprüfung zusammenfassend einzugehen. Aus diesen bei‑ den Prüfungsteilen setzt sich nach § 5 Abs. 1 Hs. 2 DRiG die Erste juristische (Staats‑)Prüfung zusammen. Nach dem ausdrücklichen Willen des Reformge‑ setzgebers sind die universitäre Wahlfachprüfung und die staatliche Pflicht‑ fachprüfung sowohl hinsichtlich des Zeitpunktes als auch hinsichtlich der Ergebnisse voneinander unabhängig301. Demgemäß ergehen über die Ergeb‑ nisse der Schwerpunktbereichs- und der staatlichen Pflichtfachprüfung wie oben dargestellt jeweils gesonderte Entscheidungen, und § 5d Abs. 2 Satz 4 DRiG sieht vor, dass das Zeugnis über die Erste juristische (Staats‑)Prüfung zunächst die Ergebnisse der universitären Schwerpunktbereichsprüfung und 298 Vgl. zu den Anforderungen, die an die Verfassungsmäßigkeit von Bestehens‑ regelungen zu stellen sind, die nur an einen Teil der im Prüfungsrecht insgesamt zu erbringenden Leistungen anknüpfen, BVerfGE 80, 1 (35); BVerwG, Bes. v. 10.10.1994 – 6 B 73/94, NJW 1995, 977 (978); Bes. v. 09.06.1995 – 6 B 100.94, Buchholz 421.0 Nr. 350, 79 (80); Urt. v. 29.05.2013 – 6 C 18.12, DVBl. 2013, 1122 (1124); VGH Mannheim, Urt. v. 16.05.2000 – S 2537/99, NVwZ 2001, 940 (941); VG Sigmaringen, Urt. v. 30.10.2003 – 8 K 556/01, juris, Rn. 36; Niehues/Fischer/ Jeremias, Rn. 541. 299 Siehe zur Voraussetzung der Unverzichtbarkeit der Beherrschung des Prü‑ fungsfachs für die spätere berufliche Tätigkeit Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 541. 300 Im Ergebnis ebenso für eine Blockversagensregelung im Öffentlichen Recht: VGH Mannheim, Urt. v. 16.05.2000 – S 2537/99, NVwZ 2001, 940 (941). 301 BT-Drucksache 14/7176, S. 13; Schmidt-Räntsch, DRiG, § 5d, Rn. 23 und 27.
B. Einzelbetrachtung der Rechtsgrundlagen115
der staatlichen Pflichtfachprüfung gesondert ausweist302. § 5d Abs. 2 Satz 4 DRiG gibt aber weiter vor, dass das Zeugnis über die Erste juristische (Staats‑)Prüfung auch eine Gesamtnote ausweist, wobei die Ergebnisse so, wie sie sind, mit den in § 5d Abs. 2 Satz 4 DRiG bundesrechtlich verbindlich vorgegebenen Anteilen – das Ergebnis der universitären Schwerpunktbe‑ reichsprüfung mit 30 %, das Ergebnis der staatlichen Pflichtfachprüfung mit 70 % – in diese einfließen303. Da die bundesgesetzlichen Regelungen hin‑ sichtlich des Verhältnisses von universitärer Schwerpunktbereichs- und staat‑ licher Pflichtfachprüfung weitgehend abschließend sind und den Landesge‑ setzgebern kaum Spielraum lassen, bedarf es keines Eingehens auf die landesgesetzlichen Umsetzungsregelungen, zumal die allein den Landesge‑ setzgebern zur Regelung verbliebene Frage der Reihenfolge der beiden Prü fungen304 für den Untersuchungsgegenstand irrelevant ist. Soweit einige Bundesländer die beiden Prüfungen in der Weise verknüpft haben, dass die Zulassung zur staatlichen Pflichtfachprüfung eine bereits bestandene Schwer‑ punktbereichsprüfung bzw. den Nachweis, dass diese noch bestanden werden kann, voraussetzt, wurde dazu bereits oben ausgeführt, dass dies mit dem Willen des Reformgesetzgebers, der beide Prüfungsteile als rechtlich selbst‑ ständig und voneinander unabhängig ansieht305, unvereinbar ist.
V. Die Zweite juristische Staatsprüfung Nachdem die Ausgestaltung der Ersten juristischen (Staats‑)Prüfung aus‑ führlich dargestellt worden ist, können die Ausführungen zu den Grundzü‑ gen der Zweiten juristischen Staatsprüfung und deren Ausgestaltung in den jeweiligen Bundesländern kürzer ausfallen, da viele für die staatliche Pflichtfachprüfung erlassene Vorschriften für die Durchführung der Zweiten juristischen Staatsprüfung entsprechend gelten und damit auch dieselben (verfassungs‑)rechtlichen Fragen aufwerfen. 1. Bundesgesetzliche Vorgaben Entsprechendes gilt für die bundesgesetzlichen Vorgaben für die Ausge‑ staltung der Zweiten juristischen Staatsprüfung, auf die hier zunächst kurz 302 Vgl. auch BT-Drucksache 14/7176, S. 13; Schmidt-Räntsch, DRiG, § 5d, Rn. 27. 303 Siehe auch BT-Drucksache 14/7176, S. 13; Schmidt-Räntsch, DRiG, § 5d, Rn. 27. 304 Vgl. BT-Drucksache 14/7176, S. 13. 305 Siehe nochmals BT-Drucksache 14/7176, S. 13; Schmidt-Räntsch, DRiG, § 5d, Rn. 23.
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Kap. 4: Rechtsgrundlagen des deutschen Juristenausbildungsrechts
einzugehen ist. Ausgangspunkt insoweit ist § 5 Abs. 1 Hs. 1 DRiG, wonach die Befähigung zum Richteramt erwirbt, wer ein rechtswissenschaftliches Studium an einer Universität mit der Ersten juristischen (Staats‑) Prüfung und einen sich anschließenden Vorbereitungsdienst mit der Zweiten juristi‑ schen Staatsprüfung abschließt. Studium und Vorbereitungsdienst sind nach § 5 Abs. 2 DRiG aufeinander abzustimmen, wobei § 5b DRiG nähere Vor‑ gaben für die Ausgestaltung des Vorbereitungsdienstes enthält. Da sich nach § 5d Abs. 3 DRiG die schriftlichen Prüfungsleistungen mindestens auf die Ausbildung in den Pflichtstationen beziehen, bedürfen die bundesgesetzli‑ chen Direktiven für die Ausgestaltung des Vorbereitungsdienstes insoweit der Erwähnung, als die Ausbildung in den Pflichtstationen nach § 5b Abs. 2 DRiG stattfindet bei einem Amtsgericht in Zivilsachen, einer Staatsanwalt‑ schaft oder einem Gericht in Strafsachen, einer Verwaltungsbehörde und einem Rechtsanwalt. Während § 5d Abs. 2 Satz 3 DRiG wie oben erwähnt für die staatliche Pflichtfachprüfung die ausdrückliche Vorgabe enthält, dass sowohl schriftliche als auch mündliche Prüfungsleistungen zu erbringen sind, ergibt sich dieses Erfordernis für die Zweite juristische Staatsprüfung nur implizit aus § 5d Abs. 3 DRiG306, wo einerseits eine Vorgabe für den Zeitpunkt der Erbringung der schriftlichen Prüfungsleistung gemacht und andererseits der Gegenstand der mündlichen Prüfungsleistungen determi‑ niert ist, die sich auf die gesamte Ausbildung beziehen müssen. Art und Anzahl der zu erbringenden schriftlichen und mündlichen Prüfungsleistun‑ gen werden vom Bundesgesetzgeber ebenso wenig vorgegeben wie bei der staatlichen Pflichtfachprüfung, wohl aber wie bei eben dieser, dass der Anteil der mündlichen Prüfungsleistungen an der Prüfungsgesamtnote nicht mehr als 40 % betragen darf, § 5d Abs. 4 Satz 3 DRiG. Auch hier verbleibt ein nicht unerheblicher Gestaltungsspielraum der Landesgesetzgeber. Insbe‑ sondere besteht im Hinblick auf die zu erbringenden schriftlichen Prüfungs‑ leistungen nach wie vor die Möglichkeit, auch eine häusliche Arbeit vorzu‑ sehen, was sich aus § 5d Abs. 3 Satz 3 DRiG ergibt, wo der Zeitpunkt ihrer Anfertigung geregelt ist. Diese Vorschrift ist aber bedeutungslos geworden, nachdem mittlerweile in keinem Bundesland mehr – wie sogleich noch zu zeigen sein wird – eine häusliche Arbeit im Rahmen der Zweiten juristi‑ schen Staatsprüfung vorgesehen ist. Auch im Rahmen der Zweiten Staats‑ prüfung gilt die allgemeine Vorgabe des § 5d Abs. 1 Satz 1 Hs. 1 DRiG, die Schlüsselqualifikationen des § 5a Abs. 3 Satz 1 DRiG zu berücksichtigen. Das Einheitlichkeitsgebot des § 5d Abs. 1 Satz 2 DRiG kann hier nur im Sinne einer Verpflichtung der Länder untereinander verstanden werden, wobei aber zweifelhaft ist, ob der Bund auf diese Art und Weise die Länder 306 Siehe dazu, dass im Rahmen der Zweiten juristischen Staatsprüfung zweifel‑ los schriftliche und mündliche Prüfungsleistungen zu erbringen sind, SchmidtRäntsch, DRiG, § 5d, Rn. 32.
B. Einzelbetrachtung der Rechtsgrundlagen117
zu einem abgestimmten Verhalten verpflichten darf307. Nicht zweifelhaft ist demgegenüber, dass für das Verfahren der Leistungsbewertung die auf Grundlage der Ermächtigung des § 5d Abs. 1 Satz 3 DRiG ergangene Bun‑ desnotenverordnung verbindlich ist. Ungeregelt geblieben ist die Frage der Wiederholungsmöglichkeiten einer nicht bestandenen Zweiten juristischen Staatsprüfung. 2. Die weitere Ausgestaltung der Zweiten juristischen Staatsprüfung in den Bundesländern Trotz des den Bundesländern auch unter Berücksichtigung der bundes‑ rechtlichen Vorgaben verbliebenen, nicht unerheblichen Gestaltungspiel‑ raums ist nach einer Analyse der Ausgestaltung der Zweiten juristischen Staatsprüfung in den Bundesländern festzustellen, dass diese weitgehend vergleichbar ausgestaltet ist. Nach erfolgter Zulassung zur Zweiten juristischen Staatsprüfung, die in‑ des im Wesentlichen nur die Absolvierung der vorgesehenen Ausbildungs‑ zeit voraussetzt308, muss der Kandidat im Rahmen des schriftlichen Prü‑ fungsteils zunächst eine unterschiedliche Zahl von Aufsichtsarbeiten anfer‑ tigen, die sich auf die Ausbildung in den Stationen beziehen und demgemäß Aufgaben aus dem Zivilrecht, dem Öffentlichen Recht und dem Strafrecht aus anwaltlicher, behördlicher, richterlicher und staatsanwaltschaftlicher Perspektive zum Gegenstand haben309. In der ganz überwiegenden Zahl der Bundesländer sind acht Klausuren anzufertigen310, während hingegen in Berlin311 und Brandenburg312 nur sieben Klausuren, in Bayern313 demgegen‑ über elf Aufsichtsarbeiten geschrieben werden müssen. Staats, DRiG, § 5d, Rn. 4. etwa § 45 SächsJAPO. 309 Siehe etwa § 50 Abs. 3 JAPrO Ba.-Wü; § 39 Abs. 1 JAPO RLP; § 46 Abs. 2, Abs. 3 JAPO M-V. 310 § 47 Abs. 3 JAPrVO LSA; § 50 Abs. 2 JAPO Ba.-Wü.; § 9 Abs. 1 NJAG; § 6 Abs. 2 Übereinkunft der Länder Freie Hansestadt Bremen, Freie und Hansestadt Hamburg und Schleswig-Holstein über ein Gemeinsames Prüfungsamt und die Prü‑ fungsordnung für die zweite Staatsprüfung für Juristen, zuletzt geändert durch den Staatsvertrag vom 20.4.2005, in Kraft seit dem 5. Mai 2005 (LÜ HH, HB, S.-H.); § 45 ThürJAPO; § 5 Abs. 2 JAG M-V und § 46 Abs. 3 JAPO M-V; § 46 Abs. 1 JAG Hessen; § 51 Abs. 2 Satz 1 JAG NRW; § 7 Abs. 2 JAG; § 9 Abs. 1 JAPO RLP; nunmehr auch nach § 47 Abs. 1 Satz 1 SächsJAPO n. F. Nach der Vorgängerregelung (in der Fassung der Bekanntmachung vom 07.04.2006, SächsGVBl. S. 105) waren noch neun Aufsichtsarbeiten anzufertigen. 311 § 17 Abs. 1 Satz 1 JAG Berlin; § 28 Abs. 2 Satz 1 JAO Berlin. 312 § 17 Abs. 1 Satz 1 Bbg. JAG; § 28 Abs. 2 Satz 1 Bbg. JAO. 313 § 62 Abs. 1 Satz 2 JAPO Bayern. 307 Vgl.
308 Siehe
118
Kap. 4: Rechtsgrundlagen des deutschen Juristenausbildungsrechts
Das Verfahren der Bewertung der Aufsichtsarbeiten entspricht demjenigen bei der staatlichen Pflichtfachprüfung. Insbesondere ist demnach auch hier das Zwei-Prüfer-Prinzip obligatorisch, und die jeweils erbrachten Leistun‑ gen sind nach der Bundesnotenverordnung zu bewerten. Der schriftlichen Prüfung schließt sich die mündliche Prüfung an, wenn der Kandidat die unterschiedlich ausgestalteten Zulassungsvoraussetzungen erfüllt, die sich dahin zusammenfassen lassen, dass neben einer regelmäßig zwischen 3,5314 und 3,75315 divergierenden Mindestdurchschnittspunktzahl in den Klausuren eine bestimmte Zahl von Aufsichtsarbeiten (mindestens drei316, höchstens fünf317, überwiegend vier318) bestanden sein muss. Ledig‑ lich in Rheinland-Pfalz setzt die Zulassung zur mündlichen Prüfung mindes‑ tens ausreichende schriftliche Prüfungsleistungen voraus319, während hinge‑ gen in Hessen lediglich ein Notendurchschnitt von 3,1 Punkten erforderlich ist320. Im Übrigen kommt es auf die erreichte Durchschnittspunktzahl teil‑ weise nicht an, wenn eine festgelegte Mindestanzahl von Klausuren bestan‑ den worden ist321. In Hamburg, Bremen, Schleswig-Holstein322 und Mecklenburg-Vorpom‑ mern323 ist neben dem Erreichen einer bestimmten Durchschnittsnote und einer Mindestanzahl bestandener Klausuren darüber hinaus erforderlich, dass zumindest eine Klausur im Bürgerlichen Recht bestanden worden ist324. 314 Siehe § 48 Abs. 1 JAPrVO LSA; § 14 Abs. 2 Nr. 2 NJAG; § 17 Abs. 1 Satz 3 i. V. m. § 7 Abs. 1 Satz 4 JAG Berlin und Bbg.; §§ 56 Abs. 2, 20 Abs. 1 Nr. 1 JAG NRW. 315 § 52 Nr. 1 JAPrO Ba.-Wü.; § 15 Abs. 1 Satz 1 LÜ HH, HB, S.-H.; § 48 Abs. 2 Satz 1 ThürJAPO. 316 § 56 Abs. 2, 20 Abs. 1 Nr. 1 JAG NRW; § 49 JAG Hessen. 317 § 64 Abs. 3 Satz 1 JAPO Bayern; bis zuletzt auch nach § 48 Abs. 3 Satz 1 SächsJAPO a. F. (in der Fassung der Bekanntmachung vom 07.04.2006, SächsGVBl. S. 105). 318 § 48 Abs. 1 JAPrVO LSA; § 52 Nr. 2 JAPO Ba.-Wü.; § 15 Abs. 1 Satz 1 LÜ HH, HB, S.H.; § 48 Abs. 2 Satz 1 ThürJAPO; § 49 Satz 1 JAPO M-V; § 17 Abs. 1 Nr. 1 i. V. m. § 7 Abs. 1 Satz 4 JAG Berlin und Bbg.; § 39 Abs. 3 JAPO RLP; § 48 Abs. 3 Satz 1 SächsJAPO n. F. 319 Dies folgt aus § 39 Abs. 3 JAPO RLP (Gesamtpunktzahl von 32 Punkten bei acht vorgesehenen Klausuren). 320 § 49 JAG Hessen. 321 § 48 Abs. 1 JAPrVO LSA; § 15 Abs. 1 Satz 2 LÜ HH, HB, S.H. 322 § 15 Abs. 1 Satz 1, 2 LÜ HH, HB, S.-H.; § 49 Satz 1 JAPO M-V. 323 § 16 JaPrO Ba.-Wü. 324 Eine ähnliche Blockversagensregelung bestand bis zuletzt nach § 48 Abs. 3 Satz 1 SächsJAPO a. F. (in der Fassung der Bekanntmachung vom 07.04.2006, SächsGVBl. S. 105), wonach sowohl eine Klausur im Zivilrecht als auch eine im Öffentlichen Recht bestanden worden sein musste.
B. Einzelbetrachtung der Rechtsgrundlagen119
Die mündliche Prüfung besteht in allen Bundesländern aus einem sich auf die gesamte Ausbildung erstreckenden Prüfungsgespräch und ganz überwie‑ gend einem Aktenvortrag325. Die Gesamtnote für die Zweite juristische Staatsprüfung setzt sich zusam‑ men aus der Bewertung der schriftlichen und mündlichen Prüfungsleistun‑ gen und wird gebildet nach der in den Bundesländern unterschiedlich aus‑ gestalteten Gewichtung insbesondere der schriftlichen und mündlichen Prüfungsleistungen. Dabei ist die Variationsbreite aber gering. Sie bewegt sich zwischen einem Anteil der mündlichen Prüfungsleistungen an der Prü‑ fungsgesamtnote von 25 %326 bis zu den nach § 5d Abs. 4 Satz 2 DRiG maximal zulässigen 40 %, wobei der bundesgesetzlich vorgegebene Höchst‑ rahmen häufiger ausgeschöpft wird als bei der staatlichen Pflichtfachprü‑ fung327. Das Bestehen der Zweiten juristischen Staatsprüfung setzt in allen Bundesländern voraus, dass insgesamt mindestens ausreichende Leistungen im Sinne der Bundesnotenverordnung erzielt werden328. Überwiegend nicht ausdrücklich geregelt ist, dass der Prüfling über die bestandene Zweite ju‑ ristische Staatsprüfung ein Zeugnis329 und im Falle des Nichtbestehens derselben eine schriftliche Mitteilung in Form eines rechtsmittelfähigen Bescheides erhält330, was in der Praxis indes durchweg geschieht. 3. Bewertung der Ausgestaltung der Zweiten juristischen Staatsprüfung Nach dieser Darstellung der Grundzüge der Zweiten juristischen Staats‑ prüfung zeigt sich wie hinsichtlich der Ausgestaltung der staatlichen Pflicht‑ fachprüfung, dass die zu erbringenden Prüfungsleistungen und die Beste‑ 325 § 29 Abs. 1 JAO Berlin und Bgb.; § 16 Abs. 3 LÜ HH, HB, S.-H.; § 49 Abs. 1 SächsJAPO; § 49 Abs. 2 JAPrVO LSA; § 9 Abs. 1 2 NJAG; § 49 Abs. 2 ThürJAPO; § 50 Abs. 2 JAPO M-V; § 26 Abs. 2 Satz 2 JAG Saarland; § 50 Abs. 1 Satz 2 JAG Hessen; § 53 Abs. 2 JAPO Ba.Wü.; § 7 Abs. 3 JAG RLP. Nur in Bayern ist der Aktenvortrag nicht ausdrücklich als Prüfungsleistung in der mündlichen Prüfung vorgesehen. 326 § 67 Abs. 1 JAPO Bayern. 327 So in Sachsen-Anhalt (§ 50 Abs. 1 JAPrVO LSA); Niedersachsen (§ 12 Abs. 4 NJAG); Brandenburg und Berlin (§ 17 Abs. 1 Satz 2 JAG Berlin und Bbg.); Hessen (§ 51 Abs. 2 JAG Hessen); Nordrhein-Westfalen (§§ 56 Abs. 3; 18 Abs. 3 Satz 3 JAG NRW); Rheinland-Pfalz (§ 8 Abs. 4 JAPO RLP). 328 Siehe etwa § 67 Abs. 4 JAPO Bayern; § 14 Abs. 2 Nr. 3 NJAG; § 50 Abs. 1; § 25 Abs. 4 ThürJAPO; § 17 Abs. 4 JAG Berlin und Bbg. 329 Siehe aber etwa § 52 Abs. 1 Satz 2 SächsJAPO; § 51 Abs. 1, 2 ThürJAPO; § 53 Abs. 1 JAPO M-V. 330 Siehe aber etwa § 52 Abs. 1 Satz 2 SächsJAPO; § 51 Abs. 1 ThürJAPO.
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Kap. 4: Rechtsgrundlagen des deutschen Juristenausbildungsrechts
hensvoraussetzungen in den Bundesländern überwiegend vergleichbar sind. Aus dem Rahmen fallen lediglich erneut die in Rheinland-Pfalz getroffene Regelung, wonach die Zulassung zur mündlichen Prüfung mindestens aus‑ reichende schriftliche Leistungen voraussetzt, und auf der anderen Seite diejenige in Hessen, wo insoweit lediglich ein Notendurchschnitt von 3,1 Punkten erforderlich ist, sowie hinsichtlich der zu erbringenden Prüfungs‑ leistungen diejenige in Bayern, wonach elf Klausuren anzufertigen sind. a) Wahrung des Einheitlichkeitsgebots des § 5d Abs. 1 Satz 2 DRiG Alle drei Regelungen werfen die Frage auf, ob sie mit dem Einheitlich‑ keitsgebot des § 5d Abs. 1 Satz 2 DRiG vereinbar sind. Eindeutig zu ver‑ neinen ist dies für den in Rheinland-Pfalz normierten Ausschluss der Kom‑ pensation unzureichender schriftlicher durch bessere mündliche Prüfungs‑ leistungen, der aus gesamtstaatlicher Perspektive systemwidrig erscheint. Zur Begründung kann auf die obigen Ausführungen zur analogen Rechtsla‑ ge bei der staatlichen Pflichtfachprüfung verwiesen werden. Ergänzend ist nur darauf hinzuweisen, dass die Vergleichbarkeit der Bestehensvorausset‑ zungen bei der Zweiten juristischen Staatsprüfung umso mehr infrage ge‑ stellt ist, als in Hessen lediglich ein Notendurchschnitt von 3,1 Punkten für die Zulassung zur mündlichen Prüfung erforderlich ist. Von „begrenzten Abweichungen“, die wie oben ausgeführt nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichtes im Hinblick auf das föderalistische Prinzip noch hinnehmbar sind, kann bei dieser Sachlage nicht mehr die Rede sein. Die in Hessen getroffene Regelung begegnet zwar unter dem Aspekt des Einheitlichkeitsgebots und den Bestehensvoraussetzungen in den anderen Bundesländern ebenfalls nicht unerheblichen Bedenken, dürfte aber im Er‑ gebnis so gerade noch tragbar sein, weil durch sie das im Übrigen prakti‑ zierte System der Möglichkeit der Kompensation unzureichender schriftli‑ cher Prüfungsleistungen durch bessere mündliche Prüfungsleistungen nicht infrage gestellt ist und die Abweichungen also systemimmanent bleiben. Aus denselben Gründen erscheint auch die Regelung in Bayern, wonach im Rahmen der Zweiten juristischen Staatsprüfung elf Klausuren anzuferti‑ gen sind, auch unter Berücksichtigung der Tatsache, dass eine der Aufgaben in Abweichung von der Praxis in den anderen Bundesländern dem Steuer‑ recht entstammen muss331, gerade noch so mit dem Einheitlichkeitsgebot vereinbar. Anders wäre dies nur dann zu beurteilen, wenn die Anzahl der zu bestehenden Klausuren im Verhältnis erheblich von derjenigen in anderen Bundesländern abweichen würde, was indes nicht der Fall ist. 331 Vgl.
§ 63 III Nr. 3 JAPO Bayern.
B. Einzelbetrachtung der Rechtsgrundlagen121
b) Verfassungsrechtliche Bewertung der Ausgestaltung der Zweiten juristischen Staatsprüfung Soweit in einigen Bundesländern eine (nähere) formell-gesetzliche Aus‑ gestaltung der Zweiten juristischen Staatsprüfung (vollständig) unterblieben und in Rheinland-Pfalz eine Regelung getroffen worden ist, wonach die Zulassung zur mündlichen Prüfung voraussetzt, dass in der schriftlichen Prüfung eine mindestens ausreichende Leistung erzielt worden ist, begegnen diese (unterbliebenen) Regelungen durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken, die in Bezug auf den spiegelbildlichen Rechtszustand bei der staatlichen Pflichtfachprüfung bereits im Einzelnen dargelegt worden sind. Zur Vermeidung unnötiger Wiederholungen kann daher auf die dort er‑ folgten Ausführungen verwiesen werden.
Kapitel 5
Mögliche Angriffsgegenstände im Rahmen einer Prüfungsanfechtung und vorprozessuale Rechtsschutzmöglichkeiten des Prüflings im Überblick A. Mögliche Angriffsgegenstände im Rahmen einer Prüfungsanfechtung Im vorangegangenen Abschnitt sind die Rechtsgrundlagen des Juristen‑ ausbildungs- und Prüfungsrechts und in diesem Kontext implizit auch schon die Prüfungsentscheidungen vorgestellt worden, die auf ihrer Grund‑ lage ergehen und streitgegenständlich werden können. Diesen möglichen Angriffsgegenständen im Rahmen einer Prüfungsanfechtung gilt nun in diesem Kapitel besondere Aufmerksamkeit, die hier wie die v orprozessualen Rechtsschutzmöglichkeiten des Prüflings überblicksartig dargestellt werden sollen. Die Umsetzung der jüngsten Reform der Juristenausbildung hat nicht nur zu der aufgezeigten Vermehrung der Rechtsgrundlagen, sondern auch zu einer Erweiterung des Spektrums derjenigen Bewertungs- bzw. Prüfungsent‑ scheidungen geführt, die in den Fokus einer Prüfungsanfechtung geraten können. Dies liegt namentlich in der Einführung der universitären Schwer‑ punktbereichsprüfung begründet, die aus hochschulrechtlichen Gründen auch die Einführung einer Zwischenprüfung erforderlich machte, die wiede‑ rum zu einer Aufwertung der studienbegleitenden Leistungskontrollen ge‑ führt hat. Da die für das Bestehen der Zwischenprüfung zu erbringenden Prüfungs‑ leistungen nur begrenzt wiederholt bzw. nur innerhalb bestimmter Fristen erbracht werden können, kann regelmäßig schon die erste vom Prüfling erbrachte studienbegleitende Teil-(Prüfungs‑)Leistung, sei dies eine Klausur, eine Hausarbeit, ein Referat oder eine sonstige mündliche Prüfungsleistung, hinreichender Anlass sein, die Rechtmäßigkeit bzw. Angemessenheit ihrer Bewertung infrage zu stellen. Entsprechendes gilt für die Bewertung der weiteren vom Prüfling während des (Grund‑)Studiums erbrachten und für das Bestehen der Zwischenprüfungen relevanten sowie für die im Rahmen
A. Mögliche Angriffsgegenstände123
der Schwerpunktbereichsprüfung zu erbringenden (Teil‑)Prüfungsleistungen. Während jedes Versagen des Studierenden bei den vorstehenden (Teil‑)Prüfungen (mit‑)ursächlich für das Nichtbestehen der Zwischen- bzw. Schwerpunktbereichsprüfung sein und zum Ausschluss vom Berufszugang führen kann, haben unzureichende Leistungen in den Lehrveranstaltungen des Hauptstudiums zu den Pflichtfächern, in denen die „großen Scheine“ erworben werden können, keine unmittelbar grundrechtsgestaltenden Aus‑ wirkungen. Zwar ist der Erwerb der „großen Scheine“ wie oben aufgezeigt regelmäßig Voraussetzung für die Zulassung zum Schwerpunktbereichsstu‑ dium und zur staatlichen Prüfung, indes sind die Möglichkeiten, diese zu erwerben, nicht begrenzt. Grundsätzlich gibt es keine Beschränkung der Wiederholungsmöglichkeiten in zeitlicher oder tatsächlicher Hinsicht. Dies schließt zwar das Bedürfnis der Studierenden, die Rechtmäßigkeit bzw. Angemessenheit der Bewertung gegenüber der verantwortlichen Lehrperson infrage zu stellen, nicht von vornherein aus. Im Hinblick auf die meist unbegrenzt bestehenden Wiederholungsmöglichkeiten wird eine Anfechtung der Bewertung solcher (Prüfungs‑) Leistungen aber nur selten in Betracht gezogen. Als Zwischenresümee ist damit festzuhalten, dass als mögliche Angriffs‑ gegenstände im Rahmen einer Prüfungsanfechtung zunächst die Bewertun‑ gen der studienbegleitend erbrachten (Teil‑)Prüfungsleistungen in Betracht kommen. Klarzustellen ist dabei, dass ein Anfechtungsinteresse nicht nur bei einer als nicht bestanden gewerteten, sondern auch bei einer mit Erfolg vorgelegten (Teil‑)Prüfungsleistung bestehen kann, wenn deren Bewertung nach Auffassung des Studierenden nicht die wahre Qualität seiner Prüfungs‑ leistung abbildet. Da die Bewertung der Zwischenprüfungsleistungen – mit Ausnahme einer etwa avisierten Tätigkeit als studentische Hilfskraft bei einem Professor oder dergleichen – für das berufliche Fortkommen des Studierenden von untergeordneter Bedeutung ist, dürfte sich das Notenver‑ besserungsbegehren aber im Regelfall auf die im Rahmen der universitären Schwerpunktbereichsprüfung erbrachten Leistungen konzentrieren. Aus dem Vorstehenden ergibt sich ohne Weiteres, dass die für das beruf‑ liche Fortkommen erhebliche Mitteilung über das (endgültige) Nichtbeste‑ hen der Zwischenprüfung und der Bescheid über das (endgültige) Nichtbe‑ stehen der Schwerpunktbereichsprüfung sowie das Zeugnis über ihr Beste‑ hen (mit einer bestimmten Note) Anlass für den Prüfling sein kann, eine Korrektur der Einzelergebnisse und damit auch des auf ihnen beruhenden Gesamtergebnisses der Prüfung zu erreichen. Überwiegend sind nach den Schwerpunktbereichsprüfungsordnungen wie gesehen neben schriftlichen auch mündliche Prüfungsleistungen zu erbringen. Dann ist die Zulassung zur mündlichen Prüfung im Regelfall von dem Erreichen bestimmter Min‑ destergebnisse in den schriftlichen Prüfungsleistungen abhängig, so dass bei
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Kap. 5: Mögliche Angriffsgegenstände
der Schwerpunktbereichsprüfung zwischen dem Bescheid über das Nichtbe‑ stehen der Schwerpunktbereichsprüfung ohne und nach absolvierter münd‑ licher Prüfung zu differenzieren ist. Entsprechendes gilt für die Mitteilung über das (endgültige) Nichtbeste‑ hen der staatlichen Pflichtfachprüfung. Im Übrigen kann genauso wie bei der universitären Schwerpunktbereichsprüfung ein Bedürfnis des geprüften Rechtskandidaten bestehen, das ihm erteilte Zeugnis über die bestandene staatliche Pflichtfachprüfung anzugreifen, d. h. die erzielten Einzelergebnis‑ se und das auf ihnen beruhende Gesamtergebnis infrage zu stellen, wenn er sein (berufszugangsrelevantes) Notenziel verfehlt hat. Anders als bei der Zwischen- und universitären Schwerpunktbereichsprüfung erfolgt die Be‑ kanntgabe der Einzelergebnisse der im Rahmen der staatlichen Pflichtfach‑ prüfung angefertigten Aufsichtsarbeiten im Regelfall zusammen mit der Mitteilung über ihr Nichtbestehen, so dass hier grundsätzlich kein Bedürfnis besteht, die Einzelergebnisse der schriftlichen Prüfungen isoliert infrage zu stellen. Wohl aber kann bei Erfüllung der Voraussetzungen für die Zulas‑ sung zum mündlichen Teil der staatlichen Pflichtfachprüfung ein Interesse des Rechtskandidaten bestehen, bereits vor der mündlichen Prüfung eine Korrektur der Einzelergebnisse der Aufsichtsarbeiten zu erreichen, um sich dort eine bessere Ausgangsposition zu verschaffen. Wenn der Rechtskandidat sowohl die universitäre Schwerpunktbereichs‑ prüfung als auch die staatliche Pflichtfachprüfung bestanden hat, werden die Ergebnisse dieser beiden Prüfungen wie dargelegt in das Zeugnis über die bestandene Erste juristische (Staats‑)Prüfung aufgenommen; überdies wird aus ihnen eine Gesamtnote gebildet. Streitgegenständlich kann demnach auch das Zeugnis über die Erste juristische (Staats‑)Prüfung werden, aller‑ dings nur insoweit, als die Ergebnisse der beiden Teilprüfungen falsch übernommen worden sind und / oder die Gesamtnote falsch berechnet wor‑ den ist. Denn das Zeugnis über die Erste juristische (Staats‑)Prüfung über‑ nimmt die Ergebnisse der universitären Schwerpunktbereichsprüfung als feststehend1. Bei der Zweiten juristischen Staatsprüfung entsprechen die möglichen Angriffsgegenstände denjenigen bei der staatlichen Pflichtfachprüfung. Streitgegenständlich kann demnach insbesondere der Bescheid über ihr endgültiges Nichtbestehen aufgrund unzureichender schriftlicher Leistungen oder einer unzureichenden Gesamtleistung werden. Und bei einer Verfeh‑ lung des Notenziels kann wiederum ein Bedürfnis des Kandidaten für die 1 Vgl. BT-Drucksache 14/7176, S. 13; siehe zur Anfechtbarkeit des Zeugnisses über die bestandene Erste juristische (Staats-)Prüfung Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 815.
B. Vorprozessuale Rechtsschutzmöglichkeiten des Prüflings125
Anfechtung der auf den erzielten Einzelergebnissen beruhenden und im Zeugnis über die bestandene Zweite jur. Staatsprüfung ausgewiesenen Ge‑ samtnote bestehen. Schließlich kann auch hier der Kandidat ein Interesse daran haben, gegen die mitgeteilten Einzelnoten in der schriftlichen Prüfung vorzugehen, um sich eine bessere Ausgangsposition für die mündliche Prü‑ fung zu verschaffen.
B. Vorprozessuale Rechtsschutzmöglichkeiten des Prüflings Nach der Aufzählung der potentiell in Betracht kommenden Angriffsge‑ genstände im Rahmen einer Prüfungsanfechtung sind nun zunächst die au‑ ßergerichtlichen Möglichkeiten des Prüflings, eine Korrektur der Bewer‑ tungsergebnisse zu erreichen, in ihren wesentlichen Grundzügen darzustel‑ len. Die „klassische“ außerprozessuale Rechtsschutzmöglichkeit stellte lange Zeit das über das Prüfungsrecht hinaus bestehende, dem von einem Verwal‑ tungsakt Betroffenen grundsätzlich generell eingeräumte Recht dar, gegen ihn Widerspruch einzulegen und seine Rechtmäßigkeit in einem Wider‑ spruchsverfahren gemäß den §§ 68 ff. VwGO überprüfen zu lassen. Dieses Widerspruchsrecht resultiert (e) daraus, dass nach § 68 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 VwGO die erfolglose Durchführung eines solchen Vorverfahrens im Regel‑ fall Sachurteilsvoraussetzung bei der Erhebung einer Anfechtungs- und Verpflichtungsklage (gewesen) ist. Nachdem nun aber die Bundesländer in den letzten Jahren von der ihnen nach § 68 Abs. 1 Satz 2 VwGO eingeräumten Befugnis, das Vorverfahren für einzelne Bereiche oder auch grundsätzlich auszuschließen, zunehmend Gebrauch gemacht haben2, ist die Bedeutung dieses Widerspruchsverfah‑ rens für die Realisierung außergerichtlichen Rechtsschutzes erheblich ge‑ schwunden, der in einem förmlichen Verfahren vielfach gar nicht mehr er‑ langt werden kann. Von einem erfolgten Ausschluss des Widerspruchsverfahrens unberührt sind aber immer Entscheidungen, denen die Bewertung einer Leistung im Rahmen einer berufsbezogenen Prüfung zugrunde liegt3. Dies hat seinen 2 Vgl. zum in den letzten Jahren in den Bundesländern vorangetriebenen Aus‑ schluss der Widerspruchsmöglichkeiten in den Bundesländern und den Bedenken hinsichtlich der Wirksamkeit desselben Kopp/Schenke, VwGO, § 68, Rn. 17 a, mit den Nachweisen zum Meinungsstand in den Fn. 35 u. 36. 3 Vgl. § 110 Abs. 2 Nr. 2 Gesetz über die Justiz im Land Nordrhein-Westfalen (Justizgesetz Nordrhein-Westfalen – JustG NRW) vom 26.01.2010 (GV. NRW
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Kap. 5: Mögliche Angriffsgegenstände
Grund darin, dass das sogenannte verwaltungsinterne Kontrollverfahren, dessen Durchführung das Bundesverfassungsgericht wie erwähnt als Kom‑ pensation für die nach wie vor nur beschränkt erfolgende gerichtliche Kon‑ trolle von Prüfungsentscheidungen fordert4, ganz überwiegend im Rahmen des Widerspruchsverfahrens durchgeführt wird5. Demnach verbleibt es also für das Prüfungsrecht dabei, dass die Möglich‑ keit für den Prüfling, Widerspruch zu erheben, grundsätzlich zunächst ein‑ mal den „klassischen“ außerprozessualen Rechtsbehelf darstellt. Da nach § 68 Abs. 1 Satz 1 VwGO die Durchführung eines Vorverfahrens vor der Erhebung einer Anfechtungs- oder Verpflichtungsklage grundsätzlich obliga‑ torisch ist, muss es vom Landesgesetzgeber nur dann ausdrücklich vorgese‑ hen werden, wenn ein Widerspruch nach § 68 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 Fall 2 VwGO an sich unstatthaft wäre, weil die Prüfungsentscheidung von einer obersten Landesbehörde im Sinne dieser Vorschrift erlassen, die Existenz eines Widerspruchsverfahrens aber für die Durchführung des verwaltungsin‑ ternen Kontrollverfahrens für erforderlich bzw. zweckmäßig gehalten wird. Demgemäß musste in allen Bundesländern, in denen das (Landes‑)Justiz prüfungsamt beim Ministerium der Justiz angesiedelt ist6 und das Wi derspruchsverfahren als der geeignete Ort zur Durchführung des vom S. 30), zuletzt geändert durch Gesetz vom 25.11.2011 (GV. NRW S. 539); § 8 a Abs. 3 Nr. 1 Niedersächsisches Ausführungsgesetz zur Verwaltungsgerichtsordnung (Nds. AG VwGO) in der Fassung vom 1. Juli 1993, Nds. GVBl. 1993, 175, zuletzt geändert durch Gesetz vom 25.11.2009, Nds. GVBl. S. 437; Art. 15 Abs. 1 Nr. 6 Bayerisches Gesetz zur Ausführung der Verwaltungsgerichtsordnung (AGVwGO) in der Fassung der Bekanntmachung vom 20. Juni 1992, GVBl. 1992, S. 162; zuletzt geändert durch Gesetz vom 20.12.2011 (GVBl. S. 689). Nach dieser Vorschrift ist bei Prüfungsentscheidungen dem Prüfling fakultativ die Möglichkeit eingeräumt, Widerspruch einzulegen. Diese Vorschrift hat aber bei der Anfechtung der Ergebnis‑ se der staatlichen Prüfungen keine Bedeutung, da nach § 6 Abs. 1 JAPO Bayern das Landesjustizprüfungsamt beim Staatsministerium der Justiz eingerichtet ist, das eine oberste Landesbehörde im Sinne des § 68 Abs. 1 Satz 2 VwGO darstellt, so dass es einer Durchführung des Vorverfahrens nicht nur, wie der Wortlaut suggeriert, nicht bedarf; der Widerspruch ist in diesem Fall vielmehr unzulässig, siehe nur Kopp/ Schenke, VwGO, § 68, Rn. 16. Die dadurch entstehende Lücke im System des au‑ ßerprozessualen Rechtsschutzes wird aber durch das in § 14 JAPO Bayern vorgese‑ hene Nachprüfungsverfahren geschlossen. 4 BVerfGE 84, 34 (46 f.). 5 Nur in Bayern gibt es anstelle eines Widerspruchsverfahrens im Bereich der staatlichen Prüfungen in Umsetzung der vom Bundesverfassungsgericht aufgestellten Anforderungen das Nachprüfungsverfahren nach § 14 JAPO Bayern. 6 Siehe etwa Sachsen-Anhalt (§ 2 Abs. 1 Satz 1 JAG LSA); Sachsen (§ 1 Satz 1 SächsJAG); Thüringen (§ 1 Satz 1 ThürJAG); Mecklenburg-Vorpommern (§ 7 JAG M‑V); Hessen (§ 2 Abs. 1 JAG Hessen); Nordrhein-Westfalen (§ 48 Abs. 1 Satz 2 JAG NRW: LJPA, nur zuständig für das Zweite juristische Staatsexamen); BadenWürttemberg (ohne explizite gesetzliche Regelung).
B. Vorprozessuale Rechtsschutzmöglichkeiten des Prüflings127
Bundesverfassungsgericht geforderten verwaltungsinternen Kontroll- bzw. Überdenkungsverfahrens angesehen wird – was mit Ausnahme von Bayern durchweg der Fall ist7 – der Widerspruch per Landesgesetz8 ausdrücklich vorgesehen werden9. In Bayern dagegen hat man sich dafür entschieden, die gebotene verwaltungsinterne Kontrolle der Prüfungsentscheidung im Rah‑ men eines eigenständigen Nachprüfungsverfahrens durchzuführen10. Die in den Bundesländern beim jeweiligen Ministerium der Justiz einge‑ richteten (Landes‑) Justizprüfungsämter sind üblicherweise sowohl für die Abnahme der staatlichen Pflichtfachprüfung als auch für die Abnahme der Zweiten juristischen Staatsprüfung zuständig11. Soweit teilweise – wie in Nordrhein-Westfalen12 und Hamburg13 – die Zuständigkeit für die Abnah‑ me der staatlichen Pflichtfachprüfung und der Zweiten juristischen Staats‑ prüfung aufgespalten und bei den Oberlandesgerichten Justizprüfungsämter zur Durchführung der staatlichen Pflichtfachprüfung eingerichtet worden sind, nehmen diese (nur) die Funktion einer Landesoberbehörde wahr14, so dass es für die Entscheidung über das (Nicht‑) Bestehen der staatlichen Pflichtfachprüfung unter Berücksichtigung des Regelungsgehalts des § 68 Abs. 1 Satz 2 VwGO der Zulassung des Widerspruchs nicht bedurfte. Entsprechendes gilt für die Entscheidungen des Gemeinsamen Prüfungs‑ amtes in Hamburg für die Länder Hamburg, Bremen und Schleswig-Holstein im Rahmen der Durchführung der Zweiten juristischen Staatsprüfung15 sowie für das für die Abnahme beider staatlicher Prüfungen zuständige16 Gemeinsame Prüfungsamt der Länder Berlin und Brandenburg17. 7 Anstatt im Rahmen eines Widerspruchsverfahrens wird die verwaltungsinterne Kontrolle der Prüfungsentscheidung hier im Rahmen des nach § 14 JAPO Bayern vorgesehenen Nachprüfungsverfahrens vorgesehen. 8 Siehe zur erforderlichen Rechtsnormqualität Kopp/Schenke, VwGO, § 68, Rn. 17a. Die dort zum Ausschluss des Widerspruchsverfahrens erfolgenden Ausfüh‑ rungen dürften für die Zulassung desselben entsprechend gelten. 9 Vgl. Schmidt-Räntsch, DRiG, Anhang zu § 5d, Rn. 177. Soweit erforderlich, ist das Widerspruchsverfahren durchweg per Landesgesetz zugelassen worden, siehe etwa § 3a SächsJAG; § 8 JAG LSA; § 5 ThürJAG; § 17 JAG M-V; § 23 JAG Hessen. 10 Siehe 14 JAPO Bayern. 11 Siehe etwa § 1 Satz 1 SächsJAG; § 2 Abs. 1 Satz 1 JAG LSA; § 1 Satz 1 ThürJAG; § 2 Abs. 1 JAG Hessen. 12 Siehe einerseits § 3 Abs. 1 Satz 1 und andererseits § 48 Abs. 1 Satz 1 JAG NRW. 13 Siehe § 8 Abs. 1 JAG HH. 14 Schmidt-Räntsch, DRiG, Anhang zu § 5d, Rn. 177. 15 Siehe § 1 LÜ HH, HB und S.-H. 16 Siehe § 2 JAG Berlin und Bbg. 17 Siehe zu seinen Aufgaben, seiner Stellung und Zusammensetzung die §§ 19 ff. JAG Berlin und Bbg.
128
Kap. 5: Mögliche Angriffsgegenstände
Auch für die Entscheidungen der Prüfungsämter der Universitäten über das (Nicht‑)Bestehen der Zwischen- und Schwerpunktbereichsprüfung sowie die sonstigen Entscheidungen musste im Hinblick darauf, dass diese evident keine obersten Landesbehörden sind, das Widerspruchsverfahren nicht aus‑ drücklich vorgesehen werden. Demnach kann festgehalten werden, dass gegen die Entscheidungen der (Landes‑) Justizprüfungsämter über das (Nicht‑) Bestehen der staatlichen Pflichtfachprüfung bzw. der Zweiten juristischen Staatsprüfung in allen Bundesländern, mit Ausnahme von Bayern, und länderübergreifend gegen die Entscheidungen der bei den jeweiligen Universitäten eingerichteten Prüfungsämter der Widerspruch gegeben ist. Soweit hiernach grundsätzlich das Widerspruchsverfahren eröffnet ist, be‑ deutet dies jedoch nicht, dass tatsächlich gegen die Bekanntgabe einer jeden (Einzel‑)Bewertung über die im Rahmen der juristischen Ausbildung erbrach ten (Teil‑)Prüfungsleistungen der Widerspruch gemäß den §§ 68 ff. VwGO statthaft wäre. Die Statthaftigkeit des Widerspruchs setzt bekanntermaßen vielmehr voraus, dass die Maßnahme, gegen die sich der Betroffene wendet bzw. dessen Durchführung er begehrt, die begriffsbestimmenden Merkmale eines Verwaltungsaktes im Sinne des § 35 Satz 1 LVwVfG erfüllt18. Unstreitig ist insoweit, dass die Entscheidung über das (endgültige) (Nicht‑) Bestehen einer Abschlussprüfung einen Verwaltungsakt im Sinne des § 35 Satz 1 LVwVfG darstellt19, so dass gegen die Entscheidung über das (endgültige) Nichtbestehen der Zwischen-, Schwerpunktbereichs-, staat‑ lichen Pflichtfach-, Ersten juristischen (Staats‑)sowie der Zweiten juristi‑ schen Staatsprüfung fraglos der Widerspruch gemäß den §§ 68 ff. VwGO statthaft ist. Die nach § 35 Satz 1 LVwVfG erforderliche Regelung20 ist hier darin zu erblicken, dass verbindlich festgestellt wird, dass der Prüfling entweder die in der Prüfungsordnung festgelegten Bestehensvoraussetzun‑ gen nicht erfüllt und er demgemäß die Prüfung nicht bestanden oder aber diese erfüllt und er demnach die Prüfung bestanden hat21. Sofern der Prüf‑ ling eine Mitteilung über das erstmalige Nichtbestehen der Prüfung erhält, wird damit zudem implizit der Verbrauch eines Prüfungsversuchs festge‑ stellt, anderenfalls ein etwaiger späterer Bescheid mit der Feststellung des endgültigen Nichtbestehens nicht ergehen könnte22. nur Kopp/Schenke, VwGO, vor § 68, Rn. 12. VwVfG, § 35, Rn. 100; Stelkens, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, § 35, Rn. 204; Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 815. 20 Siehe zum Tatbestandsmerkmal der Regelung Kopp/Ramsauer, VwVfG, § 35, Rn. 88; Stelkens, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, § 35, Rn. 142. 21 Vgl. BVerwG, Bes. v. 25.03.2003 – 6 B 8/03, DÖV 2003, 727 (728). 22 Vgl. VGH Kassel, Bes. v. 28.09.1988 – 6 TG 4081/87, NVwZ 1989, 890 (890). 18 Siehe
19 Kopp/Ramsauer,
B. Vorprozessuale Rechtsschutzmöglichkeiten des Prüflings129
Gemessen daran stellt sich auch die Entscheidung über das (endgültige) (Nicht‑)Bestehen der universitären Zwischenprüfung als Verwaltungsakt dar, die unmittelbare Rechtswirkung im Sinne des § 35 Satz 1 LVwVfG insoweit hat, als wie gesehen die bestandene Zwischenprüfung Voraussetzung für die Zulassung zur universitären Schwerpunktbereichsprüfung und zur staatlichen Pflichtfachprüfung sowie zur Fortsetzung des Studiums im Übrigen ist23. Fraglich ist demgegenüber, wie insbesondere die Bekanntgabe der Bewer‑ tung von im Rahmen der Zwischen- und Schwerpunktbereichsprüfung und sonstiger während des Studiums – namentlich in Übungen zur Erlangung der „großen Scheine“ – erbrachter (Teil‑)Prüfungsleistungen durch das Prü‑ fungsamt zu bewerten ist, sofern diese im Einzelfall nach der einschlägigen Prüfungsordnung so vorgesehen ist oder rein tatsächlich erfolgt. Das Bundesverwaltungsgericht hat insoweit in der jüngeren Vergangen‑ heit wiederholt den Standpunkt eingenommen, dass Mitteilungen der Prü‑ fungsbehörde an den Prüfling über die Bewertung einer einzelnen Prüfungs‑ leistung im Allgemeinen nicht die Merkmale eines Verwaltungsaktes auf‑ weisen24. Es fehle insoweit an dem für einen Verwaltungsakt wesentlichen und unverzichtbaren Merkmal der Regelung eines Einzelfalles mit unmittel‑ barer Rechtswirkung25, da die Einzelnoten, die dem Prüfling im Verlauf des Prüfungsverfahrens erteilt werden, regelmäßig keine selbstständige rechtliche Bedeutung hätten, sondern lediglich als Grundlage der behördli‑ chen Entscheidung über das Bestehen oder Nichtbestehen der Prüfung dienten26. Der Bewertung einer einzelnen Prüfungsleistung könne nur aus‑ nahmsweise und allein bei einer entsprechenden Ausgestaltung des Prü‑ fungsverfahrens durch die Prüfungsordnung eine selbstständige rechtliche Bedeutung beigemessen werden27. Eine solche Konstellation, der die Prü‑ 23 Vgl. zur notwendigen Konsequenz des Verlustes des Anspruchs auf Zulassung zur bzw. Fortsetzung der Abschlussprüfung Stelkens, in: Stelkens/Bonk/Sachs, Vw VfG, § 35, Rn. 204; siehe auch VGH Kassel, Bes. v. 28.09.1988 – 6 TG 4081/87, NVwZ 1989, 890 (890). 24 BVerwG, Urt. v. 16.03.1994 – 6 C 5/93, NVwZ-RR 1994, 582 (582); BVerw GE 96, 126 (128); BVerwG, Bes. v. 25.03.2003 – 6 B 8/03, DVBl 2003, 871 (872); Urt. v. 23.05.2012 – 6 C 18/11, NJW 2012, 2901 (2902), siehe referierend und bewertend Morgenroth, NVwZ 2014, 32 ff. 25 BVerwG, Urt. v. 16.03.1994 – 6 C 5/93, NVwZ-RR 1994, 582 (582); BVerwG, Bes. v. 25.03.2003 – 6 B 8/03, DVBl 2003, 871 (872); BVerwGE 96, 126 (128); BVerwG, Urt. v. 23.05.2012 – 6 C 18/11, NJW 2012, 2901 (2902). 26 BVerwG, Urt. v. 16.03.1994 – 6 C 5/93, NVwZ-RR 1994, 582 (582); Bes. v. 25.03.2003 – 6 B 8/03, DVBl 2003, 871 (872); Urt. v. 23.05.2012 – 6 C 18/11, NJW 2012, 2901 (2902). 27 BVerwG, Bes. v. 25.03.2003 – 6 B 8/03, DVBl 2003, 871 (872); dies noch‑ mals klarstellend BVerwG, Urt. v. 23.05.2012 – 6 C 18/11, NJW 2012, 2901 (2902); im Wesentlichen zustimmend Morgenroth, NVwZ 2014, 32 (34 f.).
130
Kap. 5: Mögliche Angriffsgegenstände
fungsbehörde mit einem entsprechenden Rechtsfolgenausspruch, also mit dem Erlass eines Verwaltungsaktes, Rechnung zu tragen habe, sei nament‑ lich dann gegeben, wenn die Bewertung einer einzelnen Prüfungsleistung zugleich über das Ergebnis der Prüfung insgesamt entscheide oder wenn die Prüfung in mehrere selbstständige Teile untergliedert sei, die je für sich zu bestehen seien und im Nichtbestehensfall wiederholt werden müssten28. Ohne derartige Besonderheiten des Prüfungsverfahrens bestehe für die An‑ nahme eines Verwaltungsaktes grundsätzlich kein Anlass29. Allein der Um‑ stand, dass die Einzelnote rechnerisch in die Gesamtnote einfließe, die ih‑ rerseits die Entscheidung der Prüfungsbehörde über das Bestehen oder Nichtbestehen der Prüfung trage, genüge dafür nicht30. Diese jüngeren – durchweg zum juristischen Prüfungsrecht ergangenen – Entscheidungen des 6. Senats des Bundesverwaltungsgerichtes stehen in deutlichem Widerspruch zur Rechtsprechung des 1. Wehrdienstsenats des Bundesverwaltungsgerichtes, der auch in jüngeren Entscheidungen den Standpunkt einnimmt, dass eine Einzelnote Außenwirkung und (damit) Ver‑ waltungsaktcharakter habe, wenn sich eine bessere Einzelbewertung unmit‑ telbar auf die Abschlussnote auswirke31. Diesen Widerspruch aufzulösen, ist indes Aufgabe des Bundesverwaltungsgerichtes und nicht der vorliegen‑ den Untersuchung. Im Hinblick auf ihren Gegenstand ist allein festzustellen, dass das Bundesverwaltungsgericht für die Mitteilung der Bewertung juris‑ tischer (Teil‑) Prüfungsleistungen an den Prüfling den eindeutigen Stand‑ punkt eingenommen hat, dass ihr grundsätzlich keine Verwaltungsaktqualität zukommt. Diesem ist die instanzgerichtliche Rechtsprechung – zum juristischen Prüfungsrecht – vollumfänglich beigetreten. Nachdem zunächst wiederholt entschieden worden war, dass die Bewertung einzelner Klausuren in den juristischen Staatsprüfungen keinen Verwaltungsakt darstellt32, hat jüngst der BayVGH den Rechtsstandpunkt eingenommen, dass auch in der Mittei‑ lung der Prüfungsbehörde über die erzielte Einzelnote der im Rahmen der universitären Schwerpunktbereichsprüfung erstellten Studienarbeit kein Verwaltungsakt zu sehen sei. Sofern ihre (Einzel‑)Bewertung lediglich die 28 BVerwG,
Bes. v. 25.03.2003 – 6 B 8/03, DVBl 2003, 871 (872). Bes. v. 25.03.2003 – 6 B 8/03, DVBl 2003, 871 (872). 30 BVerwG, Bes. v. 25.03.2003 – 6 B 8/03, DVBl 2003, 871 (872). 31 BVerwGE 124, 317 (320); 73, 376 (377); das OVG Münster, Bes. v. 22.01.2001 – 19 A 1901/00, NVwZ-RR 2001, 384 (384), nimmt daher zu Unrecht die Überholung dieser Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichtes an. 32 BayVGH, Bes. v. 25.04.2008 – 7 ZB 07.2331, BayVBl. 2009, 603 (603); VG Wiesbaden, Urt. v. 05.03.2007 – 7 E 1536/06, NVwZ-RR 2007, 613 (613); VG Würzburg, Urt. v. 18.07.2007 – W 2 K 07.570, juris, Rn. 23, nunmehr auch VG Regensburg, Urt. v. 08.08.2012 – RO 1 K 11.800, juris, Rn. 21. 29 BVerwG,
B. Vorprozessuale Rechtsschutzmöglichkeiten des Prüflings131
Grundlage für die Ermittlung der Prüfungsgesamtnote und die Entscheidung über das Bestehen oder Nichtbestehen der Schwerpunktbereichsprüfung bilde und darüber hinaus keine eigenständige rechtliche Bedeutung habe, sei deren (schriftliche) Eröffnung daher nicht anfechtbar33. Über diesen die Vorgaben des Bundesverwaltungsgerichtes wiederholenden Rechtssatz hin‑ aus ist die Entscheidung des BayVGH aber nicht verallgemeinerungsfähig, weil für sie im Übrigen die konkrete Ausgestaltung der einschlägigen uni‑ versitären Prüfungsordnung maßgeblich war., nach der das Bestehen der Schwerpunktbereichsprüfung weder das Bestehen der Studienarbeit noch eine Mindestnote in dieser voraussetzt und auch keine sonstigen rechtlichen Folgen an das Bewertungsergebnis geknüpft sind. Die Literatur zeigt sich hinsichtlich der Frage der Verwaltungsaktqualität von Mitteilungen über erzielte Teilprüfungsleistungen gespalten. Überwie‑ gend wird der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichtes – zumindest im Grundsatz – zugestimmt34, wenngleich mitunter darauf hingewiesen wird, dass diese im Hinblick auf den Rechtsschutz des Prüflings zu unbe‑ friedigenden Ergebnissen führen könne35. Teilweise wird sie aber auch als praxisfern bezeichnet und die Auffassung vertreten, dass sie zu einer Rechtsschutzverweigerung führe36. Letztere Einschätzung erscheint – auch und gerade aus der Perspektive eines Praktikers – als das Resultat einer Überbewertung der (praktischen) Relevanz der Streitfrage und im Übrigen nicht gerechtfertigt. Im Ausgangspunkt ist zunächst einmal festzuhalten, dass für ihre Diskus‑ sion nur dann Raum besteht, wenn nach der maßgeblichen Prüfungsordnung und / oder deren tatsächlicher Handhabung der Studierende über jede bestan‑ dene oder nicht bestandene Teilprüfungsleistung durch das Prüfungsamt unterrichtet wird, er insoweit also eine Mitteilung im Sinne der Rechtspre‑ chung des Bundesverwaltungsgerichtes erhält. Das ist – wie dies die obige Betrachtung der Grundzüge der universitären Prüfungen gezeigt hat – nur ausnahmsweise der Fall. Im Übrigen erfolgt die (nichtförmliche) Bekannt‑ gabe der Bewertung der erbrachten Teilprüfungsleistungen im Rahmen der Rückgabe der Klausuren / Hausarbeiten durch den jeweiligen Leiter der Lehrveranstaltung, und die von den Studierenden erzielten Ergebnisse wer‑ den lediglich dem Prüfungsamt übermittelt, welches auf deren Grundlage (am Ende des Prüfungsverfahrens) die nach der Prüfungsordnung zu treffen‑ den Entscheidungen – namentlich über das Bestehen oder Nichtbestehen der 33 BayVGH,
Bes. v. 25.01.2010 – 7 ZB 08.1476, BayVBl. 2011, 212 (212 f.). Rn. 815; Stelkens, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG,
34 Niehues/Fischer/Jeremias,
§ 35, Rn. 204. 35 Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 816. 36 Zimmerling/Brehm, Der Prüfungsprozess, Rn. 216.
132
Kap. 5: Mögliche Angriffsgegenstände
Prüfung – erlässt. Während in diesem Fall wie oben erwähnt unzweifelhaft ein Verwaltungsakt gegeben ist, bleibt für die Annahme seines Vorliegens bei der Mitteilung des Ergebnisses der Prüfungsleistung durch den Veran‑ staltungsleiter schon aufgrund ihres objektiven Erklärungswerts37 offenkun‑ dig kein Raum. Überdies ist – worauf Niehues / Fischer / Jeremias zutreffend hinwei‑ sen38 – zu berücksichtigen, dass die meisten Prüflinge gegen nicht bestan‑ dene (Teil‑)Prüfungen vorgehen. In diesem Fall kommt es auf die rechtliche Qualifizierung der Ergebnismitteilung an den Prüfling gar nicht an, wenn erstens an das Nichtbestehen dieser Teilprüfungsleistung unmittelbar weite‑ re rechtliche Folgen geknüpft sind, wie etwa die Nichtzulassung zur münd‑ lichen Prüfung und (infolgedessen) das Nichtbestehen der Zwischen- bzw. Schwerpunktbereichsprüfung, und wenn zweitens diese Rechtsfolgen in Form eines Bescheides zeitnah nach Bekanntgabe des Teilprüfungsergebnis‑ ses oder uno actu gegenüber dem Prüfling ausgesprochen werden. Gegen diesen kann der Prüfling unmittelbar vorgehen und im Rahmen des ange‑ strengten Rechtsschutzverfahrens dann eine Überprüfung der Bewertung seiner Teilprüfungsleistung(en) erwirken. Es verbleiben aber namentlich diejenigen Fälle, in denen der Prüfling eine zeitnahe Korrektur eines Teilprüfungsergebnisses anstrebt, weil er mit der Bewertung seiner (Teil‑) Prüfungsleistung nicht einverstanden ist und befürchtet, dass gerade diese Bewertung am Ende des Prüfungsverfahrens den Ausschlag für das Nichtbestehen der Prüfung gibt, oder er bei einer nach der Prüfungsordnung vorgesehenen mündlichen Prüfung die Sorge hat, dass eine nachträgliche Korrektur der Bewertung einer schriftlichen Teilprü‑ fungsleistung das Gesamtergebnis nicht in dem Maße verbessert, wie dies der Fall gewesen wäre, wenn er von vornherein mit dem besseren schriftli‑ chen Ergebnis in die mündliche Prüfung gegangen wäre. Beide Anliegen sind legitim. Insoweit wurde im Rahmen der Vorstellung der Ausgestaltung der Zwischen- und Schwerpunktbereichsprüfung bereits darauf hingewiesen, dass die Prüfungsverfahren mehr oder weniger gestreckt sind und zwischen der ersten und der letzten Prüfungsleistung und der Feststellung des Ge‑ samtergebnisses ein erheblicher Zeitraum liegen kann. Dieser Umstand kann dazu führen, dass etwaige Einwände des Prüflings, die er nach der Feststel‑ lung des Prüfungsgesamtergebnisses gegen die Bewertung von in der Ver‑ gangenheit erbrachten Teilprüfungsleistungen vorbringt, nicht mehr wir‑ 37 Vgl. dazu, dass letztlich allein dieser für die Beurteilung der Frage des Vor‑ liegens eines Verwaltungsaktes maßgeblich ist, BVerwGE 60, 144 (145); OVG Münster, Bes. v. 22.01.2001 – 19 A 1901/00, NVwZ-RR 2001, 384 (384); Kopp/ Ramsauer, VwVfG, § 35, Rn. 54; siehe auch Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 819. 38 Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 818.
B. Vorprozessuale Rechtsschutzmöglichkeiten des Prüflings133
kungsvoll sind, obwohl dies nach der Rechtsprechung des Bundesverfas‑ sungsgerichtes zu gewährleisten ist. Im Übrigen sollen nach den maßgebli‑ chen Prüfungsordnungen die Leistungen des Prüflings in der mündlichen Prüfung zwar unabhängig von den im schriftlichen Prüfungsteil erzielten Ergebnissen bewertet werden; in der Praxis ist aber eine Vornotenorientie‑ rung der Prüfer unverkennbar. Demgemäß ist festzuhalten, dass die Effektivität des Rechtsschutzes be‑ einträchtigt sein kann, wenn der Prüfling nicht unmittelbar und zeitnah eine Korrektur der erzielten Teilprüfungsergebnisse erreichen kann. Von einer Verweigerung des Rechtsschutzes, die von Zimmerling / Brehm39 behauptet wird, kann aber nicht die Rede sein, solange der Prüfling die Möglichkeit hat, im Rahmen des Vorgehens gegen den Gesamtbescheid eine Korrektur der Einzelergebnisse zu erwirken40. Im Übrigen ist es zur Wahrung der berechtigten Rechtsschutzinteressen des Prüflings nicht erforderlich, die Verwaltungsaktqualität der Mitteilung der Bewertung von Teilprüfungsleistungen anzunehmen. Denn die verwal‑ tungsinterne Kontrolle der Prüfungsentscheidung kann – muss aber nicht – nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes im Rahmen des Widerspruchsverfahrens erfolgen41. Deswegen konnte etwa auch der bayeri‑ sche Gesetzgeber verfassungskonform ein eigenständiges Nachprüfungsver‑ fahren außerhalb eines Widerspruchsverfahrens zur Realisierung der vom Bundesverfassungsgericht geforderten verwaltungsinternen Kontrolle schaf‑ fen. Da das verwaltungsinterne Kontrollverfahren demnach nicht notwendi‑ gerweise mit dem Widerspruchsverfahren als dessen unselbstständiger Teil verknüpft ist, kann es auch außerhalb desselben als selbstständiges Verfahren durchgeführt werden. Es sprechen demgemäß auch keine rechtlichen und nicht einmal Gründe der Verwaltungspraktikabilität zwingend dagegen, zunächst im Rahmen des verwaltungsinternen Kontrollverfahrens ein Überdenken insbesondere der prüfungsspezifischen Wertungen durch die Prüfer zu ermöglichen und zu einem späteren Zeitpunkt im Rahmen des Widerspruchsverfahrens die Rechtmäßigkeit der Prüfungsentscheidung unter Einschluss der Kontrolle der Teilprüfungsergebnisse zu überprüfen. Dies umso weniger, als bei rich‑ tiger Betrachtung die verwaltungsinterne Kontrolle der Prüfungsentschei‑ dung im Rahmen des Widerspruchsverfahrens durch das Prüfungsamt und den Prüfer in einer Art Kooperationsverhältnis durchgeführt wird. Im Rah‑ men dessen ist das Prüfungsamt als Widerspruchsbehörde aufgrund des den 39 Zimmerling/Brehm,
Der Prüfungsprozess, Rn. 216. Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 816. 41 Vgl. implizit BVerfGE 84, 34 (47); BVerwGE 92, 123 (142). 40 Ähnlich
134
Kap. 5: Mögliche Angriffsgegenstände
Prüfern nach wie vor zukommenden Bewertungsspielraums auf die Kontrol‑ le der Rechtmäßigkeit der Prüfungsentscheidung beschränkt42, während hingegen die nach § 68 VwGO daneben vorgesehene „Zweckmäßigkeits‑ kontrolle“ durch den Prüfer in Form des Überdenkens der prüfungsspezifi‑ schen Wertungen erfolgt. Auf diese Kompetenzverteilung wird im Zuge der ausführlichen Darstellung des Überdenkungsverfahrens weiter unten noch zurückzukommen sein. In diesem Kapitel, das nur die überblicksartige Dar‑ stellung der außerprozessualen Rechtsschutzmöglichkeiten des Prüflings zum Gegenstand hat, soll es bei der Feststellung sein Bewenden haben, dass schon die Aufgabenverteilung zwischen Prüfungsamt und Prüfer eine Zwei‑ stufigkeit des außergerichtlichen Rechtsschutzes nahe legt und diese ein taugliches, wenn nicht gar gebotenes Mittel darstellt, um einer Minderung der Effektivität der Einwände des Prüflings aufgrund des Zeitablaufs entge‑ genzuwirken. Entsprechend dieser Erkenntnis ist, wie oben bereits erwähnt, in einigen Zwischen- und Schwerpunktbereichsprüfungsordnungen die Möglichkeit für den Prüfling vorgesehen worden, zunächst zeitnah nach Bekanntgabe der Bewertung der Teilprüfungsleistungen Einwände gegen die Bewertung vor‑ zubringen, deren Berechtigung er dann ggf. nach Erlass des abschließenden Bescheides in einem angestrengten Widerspruchsverfahren nochmals über‑ prüfen lassen kann. Diese Doppelspurigkeit des vorprozessualen Rechtsschutzes dürfte die etwaigen Nachteile aufwiegen, die infolge der Annahme, dass sich nur die abschließende Prüfungsentscheidung als Verwaltungsakt darstellt, entstehen können, und zur weitgehenden Obsoleszenz der Diskussion zur Verwal‑ tungsaktqualität von Mitteilungen über die Bewertung von Teilprüfungsleis‑ tungen führen. Im Übrigen gilt diesbezüglich Folgendes: Ob die Mitteilung der Bewertung einer Teilprüfungsleistung sich als Ver‑ waltungsakt darstellt, kann nicht abstrakt-generell geklärt werden. Diese Frage ist vielmehr konkret-individuell unter Berücksichtigung der Ausge‑ staltung der Prüfungsordnung und ihrer tatsächlichen Umsetzung zu beant‑ worten. Dabei ist insbesondere maßgeblich, ob nach dem objektiv zu ermit‑ telnden Sinngehalt des Schreibens des Prüfungsamtes43 die Bescheinigung der Note die (Rechts‑)Position des Prüflings rechtlich verbindlich feststellt oder feststellen soll44 und welche rechtlichen Folgewirkungen damit verbun‑ den sind. an dieser Stelle nur Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 839. OVG Münster, Bes. v. 22.01.2001 – 19 A 1901/00, NVwZ-RR 2001, 384 (384); VG Hamburg, Urt. v. 04.04.2012 – 2 K 2059/11, BeckRS 2013, 46263. 44 Vgl. OVG Münster, Bes. v. 22.01.2001 – 19 A 1901/00, NVwZ-RR 2001, 384 (384); VG Hamburg, Urt. v. 04.04.2012 – 2 K 2059/11, BeckRS 2013, 46263. 42 Vgl. 43 Vgl.
B. Vorprozessuale Rechtsschutzmöglichkeiten des Prüflings135
Setzt sich eine Prüfung aus mehreren (studienbegleitenden) (Teil‑)Prüfungen zusammen, die im Falle des Nichtbestehens nur begrenzt wiederholt werden können, und ist nach der Prüfungsordnung vorgesehen, dass der Studierende über das Ergebnis einer jeden Teilprüfungsleistung eine Bescheinigung er‑ hält, ist für den Regelfall vom Vorliegen eines Verwaltungsaktes auszuge‑ hen45, weil in diesem Fall verbindlich entweder das Bestehen oder das Nichtbestehen der Teilprüfung mit der Folge des Verbrauchs eines Prüfungs‑ versuchs festgestellt wird46. Anders stellt sich demgegenüber die Rechtslage dar, wenn der Studierende eine Bescheinigung über ein erzieltes Teilprü‑ fungsergebnis nur auf Antrag erhält und die Teilprüfungsleistung unbegrenzt wiederholt werden kann. In diesem Fall fehlt es der Bescheinigung an der unmittelbaren Rechtswirkung nach außen als konstituierendes Merkmal des Verwaltungsaktes47. Sie hat nur tatsächliche Auswirkungen etwa dergestalt, dass der Studierende sie beispielsweise im Rahmen von Bewerbungen als studentische Hilfskraft an einem Lehrstuhl vorlegen und so leichter die er‑ zielten Studienergebnisse nachweisen kann. Lediglich tatsächliche Auswir‑ kungen auf geschützte Rechtspositionen genügen aber für die Annahme ei‑ nes Verwaltungsaktes nicht48. Dementsprechend dürften auch die „großen Scheine“ über erfolgreich besuchte Übungen für Fortgeschrittene bzw. sonstige Bescheinigungen über erbrachte Leistungsnachweise in Lehrveranstaltungen nicht als Verwaltungs‑ akte zu qualifizieren sein. Zwar ist deren Erwerb regelmäßig Voraussetzung für die Zulassung zur universitären Schwerpunktbereichs- und staatlichen Pflichtfachprüfung, so dass dieser bzw. der Nichterwerb durchaus rechtliche Wirkungen hat. Diese sind allerdings nur von mittelbarer Art. Lediglich mittelbare rechtliche Auswirkungen genügen aber für die Annahme des Vorliegens eines Verwaltungsaktes grundsätzlich nicht49. Verwaltungsakt‑ qualität könnte den vorstehenden Leistungsnachweisen nur dann zuerkannt werden, wenn die Möglichkeiten zum Erwerb derselben nach der Prüfungs‑ ordnung begrenzt sind50. Wiederum eine divergierende rechtliche Beurteilung ergibt sich, wenn Teilprüfungen nach der Prüfungsordnung nur begrenzt wiederholt werden 45 BVerwG, Bes. v. 25.03.2003 – 6 B 8/03, DÖV 2003, 871 (872); VGH Kassel, Bes. v. 28.09.1998 – 6 TG 4081/87, NVwZ 1989, 890 (890); VG Hamburg, Urt. v. 04.04.2012 – 2 K 2059/11, BeckRS 2013, 46263. 46 VGH Kassel, Bes. v. 28.09.1998 – 6 TG 4081/87, NVwZ 1989, 890 (890). 47 Siehe zum Erfordernis, dass die Maßnahme auf unmittelbare Rechtswirkung nach außen gerichtet sein muss, Kopp/Ramsauer, VwVfG, § 35, Rn. 89. 48 BVerwGE 60, 144 (145); Kopp/Ramsauer, VwVfG, § 35, Rn. 89. 49 Kopp/Ramsauer, VwVfG, § 35, Rn. 89. 50 Vgl. insoweit zutreffend Stelkens, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, § 35, Rn. 204.
136
Kap. 5: Mögliche Angriffsgegenstände
können, eine Bescheidung des Studierenden aber im Regelfall nicht vorge‑ sehen ist und nur auf Antrag erfolgt. In diesem Fall dürfte eine antragsge‑ mäß erfolgende Bescheinigung im Regelfall als Verwaltungsakt zu qualifi‑ zieren sein. Die vorstehenden Fallgruppen unterfallen allesamt der zweiten vom Bun‑ desverwaltungsgericht beschriebenen Variante, nach der im Falle der Mittei‑ lung der Bewertung einer Teilprüfungsleistung ausnahmsweise das Vorliegen eines Verwaltungsaktes anzunehmen ist. Weniger problematisch stellt sich die erste vom Bundesverwaltungsgericht beschriebene Ausnahmevariante dar, mit der der Fall beschrieben wird, dass die Bewertung der Teilprü‑ fungsleistung über das Bestehen der Prüfung insgesamt entscheidet. Hierfür wurde oben bereits ein praktisches Beispiel mit dem Hinweis auf eine be‑ standene Studienhausarbeit als Voraussetzung für das Bestehen der Schwer‑ punktbereichsprüfung insgesamt gegeben. Allerdings konnte auch aufgezeigt werden, dass die Frage der Verwaltungsaktqualität der Einzelbewertung in diesen Fällen meist deshalb nicht virulent wird, weil die Mitteilung dersel‑ ben im Regelfall mit der Bekanntgabe des Nichtbestehens der Gesamtprü‑ fung einhergeht. Von der umstrittenen Frage der rechtlichen Qualität der Mitteilung der Bewertung von Teilprüfungsleistungen zu unterscheiden ist der weitere Streitpunkt, ob die in einem Prüfungszeugnis ausgewiesene Gesamtnote einen Verwaltungsakt darstellt und ob selbiges auch für die dort aufgeführ‑ ten Einzelnoten gilt51. Im Hinblick auf die in einem Prüfungszeugnis ausgewiesene Gesamtnote wird teilweise die Auffassung vertreten, dass mit ihr nur eine Begründung für die allein einen Verwaltungsakt darstellende Feststellung des Bestehens der Prüfung gegeben werde52. Demgegenüber nimmt die herrschende Mei‑ nung an, dass die Gesamtnote nicht nur eine Begründung für das festgestell‑ te Prüfungsergebnis darstelle, sondern dass sie Regelungscharakter und da‑ mit Verwaltungsaktqualität in dem Sinne habe, dass das Bestehen der Prü‑ fung mit einer bestimmten Gesamtnote verbindlich festgestellt werde53. Der Minderheitenauffassung ist zunächst einmal zuzugeben, dass allein der Umstand, dass die erzielte Gesamtbewertung im Hinblick auf die im 51 Siehe zum Streitstand Kopp/Ramsauer, VwVfG, § 35, Rn. 100 f.; Stelkens, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, § 35, Rn. 205. 52 Grupp, JuS 1983, 351 (353); Koch/Rubel/Heselhaus, Kapitel II, Rn. 43; wohl auch Stelkens, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, § 35, Rn. 205. 53 OVG Münster, Bes. v. 22.01.2001 – 19 A 1901/00, NVwZ-RR 2001, 384 (384); BayVGH, Bes. v. 25.10.2013 – 7 ZB 13.1693, BayVBl. 2014, 341 (341); Schenke, Rn. 302; Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 816; wohl auch Kopp/Schenke, VwGO, § 42, Rn. 28.
B. Vorprozessuale Rechtsschutzmöglichkeiten des Prüflings137
Staatsdienst und in der freien Wirtschaft bestehenden Einstellungsvorausset‑ zungen von erheblicher Bedeutung ist, die Annahme der Verwaltungsakt‑ qualität nicht rechtfertigt54. Es handelt sich insoweit nämlich um rein tat‑ sächliche Wirkungen, die wie dargelegt für die Annahme des Vorliegens eines Verwaltungsaktes nicht genügen. Nicht ausreichend sind auch die mittelbaren rechtlichen Wirkungen55, die daraus resultieren, dass von der erreichten Gesamtnote beispielsweise der Teilerlass eines gewährten BAföGDarlehens abhängt56 oder die Chancen, sich erfolgreich um ein Zweitstudi‑ um zu bewerben57, beeinflusst werden. Nach hier vertretener Auffassung folgt die unmittelbare Rechtswirkung der Gesamtnote aber daraus, dass nach dem einschlägigen Juristenausbil‑ dungs- und Prüfungsrecht der Prüfling die Prüfung zur Notenverbesserung nur ausnahmsweise und dann auch nur durch nochmalige Erbringung sämt‑ licher Prüfungsleistungen und nur einmalig wiederholen darf. Aus diesem Ausschluss bzw. der Reglementierung der Möglichkeiten, eine Verbesserung der Gesamtnote zu erzielen, folgt im Umkehrschluss, dass mit der Auswei‑ sung der Gesamtnote neben der Feststellung des Bestehens der Prüfung diese festgeschrieben und verbindlich geregelt wird, dass eine Verbesserung der Gesamtnote nur in dem durch die Prüfungsordnung gezogenen Rahmen und somit allenfalls nach Durchlaufen eines erneuten Prüfungsverfahrens möglich ist. Wenn es zuträfe, dass die Gesamtnote nur eine Begründung für das Bestehen oder Nichtbestehen der Prüfung darstellt, müsste nach den einschlägigen Prüfungsordnungen die Möglichkeit vorgesehen sein, Teilprü‑ fungsleistungen zu wiederholen, um eine „bessere Begründung“ des Ge‑ samtergebnisses zu erreichen. Dies ist aber gerade nicht der Fall. Überdies ist auch allein aufgrund des objektiven Erklärungswerts des überreichten Zeugnisses über die bestandene juristische (Staats‑)Prüfung regelmäßig von der Verwaltungsaktqualität der dort ausgewiesenen Gesamtnote auszugehen, wenn es dort mit dem Anspruch auf Verbindlichkeit heißt, dass die Prüfung mit der Note „xy“ bestanden worden sei, und dem Prüfling im Zuge der Aushändigung des Zeugnisses wie üblich auch eine Rechtsbehelfsbelehrung erteilt wird.58 Im Übrigen belegt der Bescheid über die in der staatlichen Pflichtfachprüfung und der universitären Schwerpunktbereichsprüfung er‑ zielte Gesamtnote, dass sich die Regelungswirkung eines Verwaltungsaktes sehr wohl auf die Feststellung der Gesamtnote erstrecken und sich sogar 54 Vgl. insoweit zutreffend zur Irrelevanz der Bedeutung der Gesamtnote für die Frage der VA-Qualität Stelkens, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, § 35, Rn. 205. 55 Vgl. Stelkens, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, § 35, Rn. 205. 56 Siehe insoweit § 18b Abs. 2 BAFÖG. 57 Siehe § 17 Abs. 2 Verordnung über die zentrale Vergabe von Studienplätzen (Vergabeverordnung Stiftung für Hochschulzulassung). 58 VG Hamburg, Urt. v. 04.04.2012 – 2 K 2059/11, BeckRS 2013, 46263.
138
Kap. 5: Mögliche Angriffsgegenstände
darin erschöpfen kann. Im Ergebnis ist daher der herrschenden Meinung darin zuzustimmen, dass sich die in den Zeugnissen über die bestandenen juristischen (Staats‑)Prüfungen ausgewiesene Gesamtnote als Verwaltungs‑ akt darstellt. Soweit darin auch die in den jeweiligen Teilprüfungen erzielten Noten ausgewiesen werden, dürfte der Streit um die Verwaltungsaktqualität von Einzelnoten nicht Platz greifen. Denn Einzelnoten werden – soweit ersicht‑ lich – immer nur dann als Verwaltungsakt angesehen, wenn sie für die weitere berufliche Laufbahn des Prüflings von erheblicher Bedeutung und nicht Grundlage der im Prüfungsbescheid getroffenen Entscheidung gewor‑ den sind, so dass sie nicht zugleich im Vorgehen gegen diese überprüft werden können59. Bei den juristischen Prüfungen sind aber wie aufgezeigt im Prüfungs‑ zeugnis regelmäßig keine Einzelnoten aufgeführt, die nicht Grundlage der Berechnung der ausgewiesenen Gesamtnote sind. Dies gilt ausnahmslos für die in der staatlichen Pflichtfach- und Zweiten juristischen Staatsprüfung erzielte Gesamtnote. Sofern im Einzelfall Universitäten im Zeugnis über die bestandene Schwerpunktbereichsprüfung auch Noten ausweisen sollten, die nicht in die Berechnung der Gesamtnote einfließen, fehlt es an der für die Annahme eines Verwaltungsaktes konstituierenden Bedeutung der unmittelbaren Rechtswirkung nach außen. Solche Noten haben allenfalls tatsächliche Aus‑ wirkungen, indem sie die Chancen des Prüflings im Berufsleben verbessern oder verschlechtern. Entgegen der „Einzelnotenrechtsprechung“60 genügt dies ebenso wenig für die Annahme eines Verwaltungsaktes wie eine mit‑ telbare Betroffenheit des Schutzbereichs des Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG. Den ggf. berührten grundrechtlichen Interessen des Prüflings kann wie aufgezeigt auch auf andere Art und Weise Rechnung getragen werden. Auch bei der Verneinung der Verwaltungsaktqualität von im Zeugnis ausgewiesenen Ein‑ zelnoten, die nicht Grundlage der Berechnung der Gesamtnote geworden sind, ist der Prüfling nicht rechtsschutzlos. Die partielle Bejahung scheint auf dem überkommenen und längst Rechtsgeschichte gewordenen Dogma zu beruhen, dass das Vorliegen eines Verwaltungsaktes Voraussetzung für die Erlangung verwaltungsprozessualen Rechtsschutzes ist61. 59 OVG Münster, Bes. v. 22.01.2001 – 19 A 1901/00, NVwZ-RR (384); VG Braunschweig, Urt. v. 18.02.2004 – 6 A 106/03, NVwZ-RR (576). 60 OVG Münster, Bes. v. 22.01.2001 – 19 A 1901/00, NVwZ-RR (384); VG Braunschweig, Urt. v. 18.02.2004 – 6 A 106/03, NVwZ-RR (576). 61 Vgl. Kopp/Ramsauer, VwVfG, § 35, Rn. 7.
2001, 384 2004, 576 2001, 384 2004, 576
Kapitel 6
Möglichkeiten und Grenzen der (gerichtlichen) Kontrolle der Prüfungsentscheidung A. Verfahrens- und Bewertungsfehler und deren Abgrenzung im Überblick Nach der nunmehr erfolgten Darstellung der außerprozessualen Rechts‑ schutzmöglichkeiten des Prüflings drängt sich nun die für den Untersu‑ chungsgegenstand zentrale Frage auf, welche Einwendungen der Prüfling – mit Aussicht auf Erfolg – gegen die Prüfungsentscheidung bzw. die ihr zugrunde liegenden Bewertungen der einzelnen Prüfungsleistungen im Wi‑ derspruchs- bzw. Überdenkungsverfahren und im sich ggf. anschließenden Verwaltungsgerichtsprozess geltend machen kann. Diese Frage ist zunächst ausgehend von den verfassungsrechtlichen Ge‑ währleistungen, auf die sich der sein Prüfungsergebnis anfechtende Prüfling im Prüfungsanfechtungsverfahren berufen kann, zu beantworten. Deren konkreter Gehalt ist durch eine an dem mit den juristischen (Staats‑)Prüfungen verfolgten Ziel orientierte Auslegung zu ermitteln. In Anknüpfung an die obigen Darlegungen zu den verfassungsrechtlichen Grundlagen des Juristenausbildungs- und Prüfungsrechts und namentlich zur Steuerungskraft des Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG ist damit eingangs und wie‑ derholend auf folgende Erkenntnisse hinzuweisen: Mit der Durchführung der juristischen (Staats‑) Prüfungen sollen die für den angestrebten Beruf geeigneten Kandidaten ermittelt und von denjenigen unterschieden werden, die das Ausbildungsziel nicht erreicht haben. Dieser Prüfungszweck ist in verfassungsrechtlich zulässiger Weise nur dann verfolgt worden, wenn die Ausgestaltung des Verfahrens der Leistungsermittlung sowohl abstrakt-gene‑ rell als auch konkret-individuell dazu geeignet gewesen ist, die wahren Kenntnisse und Fähigkeiten des Prüflings zu ermitteln1, und wenn die unter diesen Voraussetzungen erbrachte Prüfungsleistung von den Prüfern unter Einhaltung des in der jeweiligen Prüfungsordnung vorgesehenen und verfas‑ 1 Zu diesem Ziel vgl. BVerwGE 96, 126 (134 f.); HessVGH, Urt. v. 29.04.2010 – 8 A 3247/09, LKRZ 2010, 471 (472); VG Ansbach, Bes. v. 24.02.2005 – AN 2 K 04.01309, juris, Rn. 45; Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 127, 302, 380, 467.
140 Kap. 6: Möglichkeiten (gerichtlicher) Kontrolle der Prüfungsentscheidung
sungsrechtlich geprägten Bewertungsverfahrens und unter Beachtung der namentlich aus Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG folgenden formellen und materi‑ ellen Bewertungsvorgaben bewertet worden ist. Das Grundrecht der Berufsfreiheit determiniert somit das gesamte Verfah‑ ren der Leistungsermittlung und -bewertung und eröffnet dadurch zunächst ein entsprechend weites Spektrum möglicher Einwendungen. Deren (prozes‑ suale) Durchsetzbarkeit wird einerseits durch die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG abgesichert, andererseits unter Umständen durch die zu beachtenden Grundrechtspositionen der Mitprüflinge, die mit dem sein Prüfungsergebnis anfechtenden Prüfling im Wettbewerb um den Be‑ rufszugang stehen, und damit namentlich durch den in Art. 12 Abs. 1 Satz 1, 3 Abs. 1 GG wurzelnden Grundsatz der Chancengleichheit begrenzt. Im Einzelnen gilt Folgendes: Soweit die Einwendungen des Prüflings ihre Grundlage im Verfahren der Leistungsermittlung haben, ist festzustellen, dass die Leistungs- bzw. Prü‑ fungsfähigkeit des Prüflings in vielfältiger Weise beeinträchtigt werden und das Prüfungsergebnis verfälschen kann. Dabei ist zwischen äußeren und inneren Umständen zu differenzieren2. Als Beispiel für externe Beeinflussungsfaktoren kann die „klassische“ Lärmstörung3 und als hinderlicher innerer Faktor eine gesundheitliche Be‑ einträchtigung des Prüflings während der Leistungserbringung angeführt werden4. Da sich äußere wie innere Störungen im Verfahren der Leistungsermittlung nachteilig auf das Bewertungsergebnis auswirken können, aber nicht müs‑ sen5, liegt insbesondere dann, wenn der Prüfling meint, dass ihm die Bewäl‑ tigung der Prüfungsaufgabe trotz der Beeinträchtigungen gut gelungen ist6, aus seiner Sicht ein „spekulatives Abwarten“7 des Prüfungsergebnisses in 2 Siehe zur Differenzierung zwischen äußeren und inneren Umständen BVerwGE 99, 172 (180 f.); Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 251; Birnbaum, NVwZ 2006, 286 (292 f.). 3 Siehe insoweit etwa BVerwGE 99, 172 (180); HessVGH, Urt. v. 29.04.2010 – 8 A 3247/09, LKRZ 2010, 471 (472); Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 471, mit wei‑ teren Beispielen für typische äußere Einwirkungen; Birnbaum, NVwZ 2006, 286 (292). 4 Siehe insoweit nur BVerwGE 99, 172 (181); hierher gehört auch der Fall der Befangenheit des Prüfers, vgl. Zimmerling/Brehm, Der Prüfungsprozess, Rn. 233 m. w. N., siehe dort und in Rn. 233 ff. auch die weiteren Beispiele für äußere und innere Beeinträchtigungen des Verfahrens der Leistungsermittlung. 5 Vgl. HessVGH, Urt. v. 29.04.2010 – 8 A 3247/09, LKRZ 2010, 471 (472). 6 Vgl. VG Köln, Urt. v. 24.11.2003 – 6 K 1115/98, NWVBl. 2005, 441 (442); VG Dresden, Bes. v. 27.11.2008 – 5 L 1866/08, juris, Rn. 18; 7 Vgl. BVerwGE 99, 172 (181); Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 218.
A. Verfahrens- und Bewertungsfehler141
dem Sinne nahe, dass er es von diesem abhängig macht, ob er sich auf den Verfahrensfehler beruft oder die Bewertung seiner Leistungen gegen sich gel‑ ten lässt8. Damit könnte er sich aber durch das einstweilige Verschweigen leistungsbeeinträchtigender Umstände, die für das Prüfungsamt nicht offen‑ sichtlich waren und auf die es folglich auch nicht sogleich reagieren konnte, einen weiteren Prüfungsversuch erschleichen. Durch dessen Gewährung wür‑ de er aber einen unberechtigten Vorteil gegenüber denjenigen Mitprüflingen erlangen, die ihre Prüfungsleistungen in einem nicht mit Fehlern behafteten Prüfungsverfahren erbringen konnten bzw. mussten, denen die Chance eines spekulativen Vorgehens somit von vornherein nicht eröffnet war und die das Prüfungsergebnis mithin in jedem Fall gegen sich gelten lassen mussten9. Zur Gewährleistung der Chancengleichheit aller Kandidaten wird daher eine Wahlmöglichkeit des Prüflings – insbesondere nach Notenbekanntga‑ be – dahin, ob er das von dem Verfahrensmangel möglicherweise beein‑ flusste Prüfungsergebnis gegen sich gelten lassen will oder nicht, allgemein abgelehnt10. Die Möglichkeit der nachträglichen Berufung auf einen nicht evidenten Verfahrensfehler zur Begründung der Rechtswidrigkeit der Prü‑ fungsentscheidung im Rahmen eines Prüfungsanfechtungsverfahrens wird vielmehr davon abhängig gemacht, dass der Prüfling diesen unverzüglich – jedenfalls aber im Regelfall vor Bekanntgabe des Prüfungsergebnisses – ge‑ rügt bzw. geltend gemacht hat11. 8 Davon zu unterscheiden ist der Fall, dass der Prüfling vorsorglich den Verfah‑ rensmangel rügt, später aber von einer Berufung auf ihn absieht, weil er die Prü‑ fungsaufgabe an sich als leicht empfunden hat und befürchtet, im Wiederholungsfall eine schwierigere Klausur lösen zu müssen, siehe insoweit zunächst VG Dresden, Bes. v. 27.11.2008 – 5 L 1866/06, juris, Rn. 18; Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 484. 9 Demgegenüber ist in diesen Fällen die Chancengleichheit derjenigen Prüflin‑ ge, die mit dem sein Prüfungsergebnis anfechtenden Prüfling in derselben Kampag‑ ne geprüft worden sind, und die ihre Leistungen demgemäß ebenfalls in einem durch (äußere) Verfahrensmängel beeinträchtigten Prüfungsverfahren erbringen mussten und sich ggf. frühzeitig auf diesen berufen haben, entgegen der in der Rechtspre‑ chung vertretenen Auffassung (siehe etwa VG Würzburg, Urt. v. 24.06.2009 – W 2 K 09.93, juris, Rn. 26; VG Dresden, Bes. v. 27.11.2008 – 5 L 1866/08, juris, Rn. 18) nicht berührt. Denn in Bezug auf diese Prüflingsgruppe erschöpfen sich die Wirkun‑ gen des Chancengleichheitsgrundsatzes in dem Gebot der formalen Gleichbehand‑ lung der Prüflinge, dem Genüge getan wäre, wenn jedem Prüfling aus der von dem Verfahrensmangel betroffenen Prüfungsgruppe das Recht eingeräumt werden würde, sich auch noch nach Bekanntgabe des Prüfungsergebnisses auf den angeblichen Verfahrensmangel zu berufen. Vgl. insoweit zutreffend im Zusammenhang mit dem spätestmöglichen „Rücktritt“ von der Prüfung Zimmerling/Brehm, Prüfungsrecht, Rn. 435. 10 Vgl. BVerwGE 99, 172 (181); ausdrücklich VGH Mannheim, Bes. v. 16.08.2006 – 9 S 675/06, VBlBW 2007, 65 (66); Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 485. 11 BVerwGE 96, 126 (129); HessVGH, Urt. v. 29.04.2010 – 8 A 3247/09, LKRZ 2010, 471 (472); VG Meiningen, Bes. v. 29.05.1997 – 8 E 530/97.Me, ThürVGRspr
142 Kap. 6: Möglichkeiten (gerichtlicher) Kontrolle der Prüfungsentscheidung
Weist demgegenüber das Verfahren der Bewertung der Prüfungsleistung, sei diese nun fehlerhaft oder fehlerfrei ermittelt, wegen der Missachtung formeller oder materieller Bewertungsvorschriften oder der Verletzung sons‑ tiger ungeschriebener prüfungsrechtlicher Grundsätze bzw. Maßstäbe einen beachtlichen (Bewertungs‑)Fehler auf, den der Prüfling einwenden könnte, bleibt von vornherein kein Raum für ein spekulatives Abwarten des vorbe‑ haltlich seiner Anfechtbarkeit feststehenden Bewertungsergebnisses. Daher kann der Prüfling in diesem Fall mangels einer möglichen Beeinträchtigung der Chancengleichheit der anderen Prüflinge etwaige formelle und materi‑ elle Fehler im Bewertungsvorgang bis zum Schluss der mündlichen Ver‑ handlung in der letzten Tatsacheninstanz geltend machen12. Die Steuerungswirkung des Chancengleichheitsgrundsatzes erschöpft sich indes nicht in der von diesem bestimmten Festlegung der zeitlichen Gren‑ zen, innerhalb derer sich der Prüfling erfolgreich auf einen Mangel im Verfahren der Leistungsermittlung einerseits und in der Bewertung und in dem Prozess derselben andererseits berufen kann, sondern gibt zugleich eine Antwort auf die Frage, in welcher Art und Weise diese Mängel jeweils auszugleichen sind. Beruht die Leistungsbewertung auf formellen und / oder materiellen (Be‑ wertungs‑)Fehlern, können diese im Regelfall offenkundig nur durch eine (verfahrens- bzw. bewertungsfehlerfreie) Neubewertung der Prüfungsleis‑ tung sinnvollerweise ausgeglichen werden13, da die alternativ allein in Be‑ tracht kommende Neuerbringung der Prüfungsleistung nicht mehr als eine (erneut) fehlerfrei ermittelte Prüfungsleistung hervorbringen könnte, die ebenfalls rechtsfehlerfrei zu bewerten wäre. Überdies würde die Neuerbrin‑ gung der Prüfungsleistung den Prüfling einerseits weit mehr belasten als eine von seiner Mitwirkung unabhängige Neubewertung der von ihm bereits erbrachten Prüfungsleistung, ihm aus der Perspektive der anderen Prüfungs‑ teilnehmer aber andererseits unter Umständen eine über das gebotene Maß hinaus erforderliche und damit ungerechtfertigte Möglichkeit der Notenver‑ besserung eröffnen. Der Grundsatz der Chancengleichheit fordert aber, dass 1998, 31 (33); Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 478; Zimmerling/Brehm, Prüfungs‑ recht, Rn. 115; Birnbaum, NVwZ 2006, 286 (286 ff.). 12 Vgl. BVerwGE 96, 126 (133); BVerwG, Urt. v. 27.04.1999 – 2 C 30/98, NVwZ 2000, 921 (922); Urt. v. 08.11.2005 – 6 B 45/05, NVwZ 2006, 478 (479); OVG Berlin, Bes. v. 18.12.2009 – OVG 10 N 58.08, juris, Rn. 4; HessVGH, Urt. v. 29.04.2010 – 8 A 3247/09, LKRZ 2010, 471 (472); Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 844; Birnbaum, NVwZ 2006, 286 (295). 13 BVerwGE 96, 126 (135); HessVGH, Urt. v. 29.04.2010 – 8 A 3247/09, LKRZ 2010, 471 (472); VG Ansbach, Bes. v. 24.02.2005 – AN 2 K 04.01309, juris, Rn. 36; VG Dresden, Urt. v. 02.12.2010 – 5 K 1483/08, juris, Rn. 132; Niehues/Fischer/ Jeremias, Rn. 509.
A. Verfahrens- und Bewertungsfehler143
die Beseitigung eines materiellen wie formellen Bewertungsfehlers dem Prüfling weder zum Vorteil noch zum Nachteil gereichen darf14. Das Primat der Neubewertung als Regelkompensation für formelle und / oder materielle Bewertungsfehler gilt uneingeschränkt für die fehlerhafte Bewertung der gegenständlichen und damit schriftlichen Prüfungsleistungen vorbehaltlich ihres Abhandenkommens im oder nach Abschluss des Prüfungsverfahrens15. Bei den nicht verkörperten mündlichen Prüfungsleistungen fehlt es aufgrund der regelmäßig immensen Dauer von Prüfungsanfechtungsverfahren zum Zeitpunkt der rechtskräftigen Feststellung des Neubewertungsanspruchs des Prüflings infolge der längst verblassten Erinnerung der Prüfer an die seiner‑ zeit erbrachte Prüfungsleistung demgegenüber im Regelfall an einer verläss‑ lichen Entscheidungsgrundlage. Dies gilt selbst dann, wenn dem Prüfling bereits im Rahmen der Widerspruchsentscheidung ein Wiederholungsan‑ spruch zugesprochen werden sollte, da sich nach allgemeinen Erfahrungs‑ sätzen Prüfer schon nach zwei Monaten nicht mehr hinreichend an die mündliche Prüfung erinnern können16. In diesem Fall gebietet es wiederum der Grundsatz der Chancengleichheit, dem Prüfling ausnahmsweise die Möglichkeit der Wiederholung desjenigen Prüfungsteils zu ermöglichen, der in formeller und / oder materieller Hinsicht fehlerhaft bewertet worden ist17. Aus der Sicht der Prüfungsteilnehmer, deren (mündliche) Prüfungsleistun‑ gen nicht fehlerhaft bewertet worden sind, mag dies zwar als bedenkliche Gewährung einer zusätzlichen Prüfungschance gesehen werden18. Tatsäch‑ lich dürften indes die in der Möglichkeit der Neuerbringung der Prüfungs‑ leistung liegenden Vorteile durch die damit einhergehenden Belastungen 14 Vgl. BVerwG, Urt. v. 19.12.2001 – 6 C 14/01, NVwZ 2002, 1375 (1376); VG Augsburg, Urt. v. 12.12.2006 – Au 3 K 05.1990, juris, Rn. 18; Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 498. 15 Siehe zu dieser Problematik einstweilen BVerwGE 78, 367 (371 f.); BVerwG, Bes. v. 18.02.2003 – 6 B 10/03, juris, Rn. 11; BayVGH, Bes. v. 26.02.2014 – 7 ZB 14.28, juris, Rn. 11 (die Entscheidungen behandeln jeweils einen Teilverlust der Klausur nach ihrer Bewertung); VGH Mannheim, Bes. v. 10.06.1981 – 9 S 988/81, KMK-HSchR 1982, 343 (346), VGH Mannheim, Urt. v. 01.04.1987 – 9 S 1829/86, NVwZ 1987, 1010 (1011) (Entscheidungen beziehen sich auf Verlust der Klausur vor ihre Bewertung). 16 BVerwG, Urt. v. 06.09.1995 – 6 C 18/93, NJW 1996, 2670 (2675), insoweit nicht abgedruckt in BVerwGE 99, 185 (201); VG Augsburg, Urt. v. 12.12.2006 – Au 3 K 05.1990, juris, Rn. 18. 17 Vgl. BVerfG, Bes. v. 16.01.1995 – 1 BvR 1505/94, NVwZ 1995, 469 (471); BVerwG, Bes. v. 11.04.1996 – 6 B 13/96, NVwZ 1997, 502 (502); Urt. v. 19.12.2001 – 6 C 14/01, NVwZ 2002, 1375 (1376); VG Augsburg, Urt. v. 12.12.2006 – Au 3 K 05.1990, juris, Rn. 18; VG Göttingen, Urt. v. 01.09.2005 – 4 A 175/03, juris, Rn. 68; VGH Baden-Württemberg, Bes. v. 21.09.2005 – 9 S 473/05, NVwZ-RR 2006, 255 (255); Zimmerling/Brehm, Der Prüfungsprozess, Rn. 284. 18 Vgl. Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 498.
144 Kap. 6: Möglichkeiten (gerichtlicher) Kontrolle der Prüfungsentscheidung
und Nachteile aufgewogen werden, wenn diese nicht sogar überwiegen19. Im Übrigen muss unter dem Blickwinkel des Chancengleichheitsgrundsatzes nicht auf jeden denkbaren Umstand Bedacht genommen werden, aus dem sich ein Vor- oder Nachteil für den Prüfling ergeben kann20. Es ist vielmehr ausreichend, aber auch erforderlich, dass die Prüfung für den Prüfling ins‑ gesamt unter Bedingungen stattfindet, die mit denjenigen bei einem norma‑ len Prüfungsverlauf vergleichbar sind21. Als weniger evident stellen sich die Art und der Umfang der im Regelfall gebotenen Fehlerkorrektur bei dem Vorliegen von Verfahrensfehlern dar, die nicht schon während des Verfahrens der Leistungsermittlung berücksichtigt bzw. hinreichend kompensiert worden sind22. Sofern der Prüfling der Auffas‑ sung ist, dass etwa eine während des Verfahrens der Leistungserbringung aufgetretene, aber nicht – etwa durch die Gewährung einer Schreibzeitverlän‑ gerung – ausgeglichene Lärmstörung seine Konzentrations- und damit Leis‑ tungsfähigkeit beeinträchtigt, diese die Qualität seiner Prüfungsleistung be‑ einflusst und damit auf das Prüfungsergebnis „durchgeschlagen“ hat, mag aus seiner Sicht eine Korrektur dieses Verfahrensmangels durch eine Neuund bessere Bewertung seiner Prüfungsleistung der mit Widrigkeiten und Be‑ lastungen verbundenen Neuerbringung derselben insbesondere dann vorzu‑ ziehen sein, wenn der Prüfling befürchtet, im Wiederholungsversuch mögli‑ cherweise noch schlechter abzuschneiden. Derartigen Überlegungen im Sin‑ ne des Bestehens einer Wahlmöglichkeit zwischen den potentiell in Betracht kommenden Kompensationsmöglichkeiten steht indes von vornherein auch hier der Grundsatz der Chancengleichheit entgegen23. Dies ergibt sich bereits daraus, dass sich nicht abschätzen lässt, ob und wenn ja in welchem Ausmaß sich die Lärmbeeinträchtigungen oder sonstigen Verfahrensmängel auf das von den jeweiligen Kandidaten erzielte Prüfungsergebnis ausgewirkt haben, so dass eine dem Gleichheits- respektive Chancengleichheitsgrundsatz ge‑ recht werdende Kompensation durch die (unterschiedliche) Anhebung der jeweiligen Bewertung unmöglich ist24. Infolgedessen ist ein zunächst nicht 19 Vgl.
BVerwG, Urt. v. 19.12.2001 – 6 C 14/01, NVwZ 2002, 1375 (1377). Urt. v. 10.10.2002 – 6 7.02, NJW 2003, 1063 (1063); Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 498. 21 BVerwG, Urt. v. 10.10.2002 – 6 7/02, NJW 2003, 1063 (1063), Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 498. 22 Vgl. Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 498: „Mehrere Möglichkeiten der Fehler‑ beseitigung“. 23 Vgl. Lindner, in: Geis, HSchR-Bayern, Kapitel II, Rn. 152. 24 Vgl. BVerwG, Bes. v. 16.04.1980 – 7 B 58/80, NJW 1980, 2208 (2208); aus der instanzgerichtlichen Rechtsprechung siehe OVG Schleswig, Urt. v. 03.09.1992 – 3 L 380/91, juris, Rn. 27; VG Düsseldorf, Bes. v. 11.09.2006 – 18 L 1625/06, juris, Rn. 16; VG Berlin, Urt. v. 30.11.2010 – 3 A 843.07, juris, Rn. 40; zuletzt OVG 20 BVerwG,
A. Verfahrens- und Bewertungsfehler145
bzw. nicht hinreichend kompensierter Verfahrensmangel allein dadurch zu beseitigen, dass dem Prüfling die Möglichkeit eingeräumt wird, die von dem Verfahrensmangel betroffene Prüfungsleistung erneut zu erbringen25. Der aus dieser Form der Fehlerbeseitigung resultierenden Gefahr, dass sich der Prüf‑ ling unter Verletzung der Chancengleichheit der anderen Prüfungsteilnehmer durch Hinausschieben der Verfahrensrüge namentlich über den Zeitpunkt der Bekanntgabe des Prüfungsergebnisses hinaus eine zusätzliche Prüfungschan‑ ce verschafft, kann dadurch hinreichend begegnet werden, dass deren früh‑ zeitige Erhebung verlangt wird und der Prüfling im Falle der Missachtung dieser Obliegenheit mit der späteren Geltendmachung des Verfahrensmangels ausgeschlossen ist. Die vorstehende Differenzierung „zwischen Mängeln im Prüfungsverfah‑ ren, d. h. in dem Verfahren zur Ermittlung der Kenntnisse und Fähigkeiten des Prüflings, und Bewertungsmängeln, d. h. Fehlern im Verfahren oder im Inhalt der Bewertung der erbrachten Prüfungsleistungen“26, und die sich danach richtende Art der nachträglichen Fehlerbeseitigung27 und Bestim‑ mung des Maßes der den Prüfling (vorprozessual) treffenden Mitwirkungs‑ obliegenheiten entspricht gefestigter Rechtsprechung28 und findet auch Anerkennung in der prüfungsrechtlichen Literatur29. Da sich diese Unterscheidung namentlich wegen der Möglichkeit der Präklusion der das Verfahren der Leistungsermittlung betreffenden Einwen‑ Schleswig, Urt. v. 03.05.2011 – 9 A 68/10, juris, Rn. 28; vgl. ferner VG Ansbach, Bes. v. 24.02.2005 – AN 2 K 04.01309, juris, Rn. 46, zur zu Recht als systemwidrig bezeichneten Kompensation des als Verfahrensmangel angesehenen unzulässigen Prüfungsstoffes durch die Nichtberücksichtigung der unzulässigen Frage durch den Prüfer im Rahmen der Neubewertung; siehe auch Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 253, betreffend die Kompensation gesundheitlicher Beeinträchtigungen; allgemein Lindner, in: Geis, HSchR-Bayern, Kapitel II, Rn. 152, mit dem zutreffenden Hinweis, dass ansonsten eine Leistung bewertet werden würde, die der Prüfling nicht erbracht hat. Zur insoweit fehlenden Möglichkeit der Bewertung fiktiver Leistungen siehe bereits BVerwG, aaO. 25 BVerwGE 96, 126 (135); HessVGH, Urt. v. 29.04.2010 – 8 A 3247/09, LKRZ 2010, 471 (472); VG Ansbach, Bes. v. 24.02.2005 – AN 2 K 04.01309, juris, Rn. 36, 45 f.; VG Dresden, Urt. v. 02.12.2010 – 5 K 1483/08, juris, Rn. 132; VG Meiningen, Bes. v. 29.05.1997 – 8 E 530/97.Me, ThürVGRspr 1998, 31 (33); Niehues/Fischer/ Jeremias, Rn. 500. 26 HessVGH, Urt. v. 29.04.2010 – 8 A 3247/09, LKRZ 2010, 471 (472). 27 Vgl. HessVGH, Urt. v. 29.04.2010 – 8 A 3247/09, LKRZ 2010, 471 (472). 28 HessVGH, Urt. v. 29.04.2010 – 8 A 3247/09, LKRZ 2010, 471 (472), unter Verweis auf BVerwGE 96, 126 ff.; siehe weiter aus der instanzgerichtlichen Recht‑ sprechung etwa VG Meiningen, Bes. v. 29.05.1997 – 8 E 530/97.ME, ThürVGRspr 1998, 31 (33); VG Ansbach, Bes. v. 24.02.2005 – AN 2 K 04.01309, juris, Rn. 36; VG Dresden, Urt. v. 02.12.2010 – 5 K 1483/08, juris, Rn. 132. 29 Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 498 ff., insb. Rn. 499 und 509.
146 Kap. 6: Möglichkeiten (gerichtlicher) Kontrolle der Prüfungsentscheidung
dungen bei vorprozessual versäumten Rügen wesentlich auf die Rechts‑ schutzsituation des vermeintlich fehlerbelasteten Prüflings und damit auf seine sowie die Chancengleichheit der anderen Prüflinge auswirken kann30, steht bereits die Abgrenzung zwischen Mängeln im Prüfungsverfahren ei‑ nerseits und materiellen Bewertungsfehlern andererseits unter dem Einfluss der Anforderungen, die sich zugunsten, aber auch zulasten des betroffenen Prüflings aus Art. 12 Abs. 1 i. V. m. den Art. 3 Abs. 1 und Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG ergeben, und ist daher im Lichte dieser grundrechtlichen Ge‑ währleistungen zu treffen31. Demgemäß sind unter Mängeln im Prüfungsverfahren bzw. Verfahrens‑ fehlern solche zu verstehen, die den Prüfling entweder in seiner Leistungs‑ fähigkeit als solcher oder in den Möglichkeiten, diese voll zu entfalten, (erheblich)32 beeinträchtigen und infolgedessen auch die Erreichung des Ziels der juristischen (Staats‑) Prüfungen verhindern können, die wahren Kenntnisse und Fähigkeiten des Prüflings, also seine unverfälschte Leis‑ tungsfähigkeit, zu ermitteln33. „Diese Leistungsfähigkeit, die mit Hilfe der Prüfung ermittelt und beurteilt werden soll, drückt sich nämlich typischer‑ weise in den dem Prüfling zu diesem Zweck abverlangten Prüfungsleistun‑ gen aus34. Dabei sollen die Vorschriften über das Prüfungsverfahren sicher‑ stellen, dass jeder einzelne Prüfling – gleichermaßen wie die mit ihm ge‑ prüften anderen Prüflinge – in die Lage versetzt wird, seine Leistungsfähig‑ keit bestmöglich in die ihm abverlangten und sodann von den Prüfern zu beurteilenden Prüfungsleistungen umzusetzen35“. Wird der Einzelne darin im Stadium der Erbringung der Prüfungsleistung durch äußere Einflüsse gestört oder durch eine gesundheitliche Beeinträchtigung behindert, so kann seine Prüfungsleistung dadurch beeinflusst sein36 und diese schon deshalb, bevor sie von den Prüfern bewertet wird, „keine hinreichende und geeigne‑ 30 Siehe zur Bedeutung der Abgrenzung zwischen Verfahrens- und Bewertungs‑ mängeln HessVGH, Urt. v. 29.04.2010 – 8 A 3247/09, LKRZ 2010, 471 (472); Zimmerling/Brehm, Der Prüfungsprozess, Rn. 246; Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 499; Kröpil, NdsVBl. 2011, 148 (149). 31 HessVGH, Urt. v. 29.04.2010 – 8 A 3247/09, LKRZ 2010, 471 (472). 32 Zur erforderlichen Erheblichkeit des Verfahrensmangels siehe etwa VG Dres‑ den, Urt. v. 02.12.2010 – 5 K 1483/08, juris, Rn. 135; VG Meiningen, Bes. v. 29.05.1997 – 8 E 530/97.Me, ThürVGRspr 1998, 31 (33); Zimmerling/Brehm, Der Prüfungsprozess, Rn. 232; Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 467, 488. 33 Vgl. BVerwGE 96, 126 (134); HessVGH, Urt. v. 29.04.2010 – 8 A 3247/09, LKRZ 2010, 471 (472); VG Ansbach, Bes. v. 24.02.2005 – AN 2 K 04.01309, juris, Rn. 37; Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 500. 34 BVerwGE 96, 126 (134). 35 BVerwGE 96, 126 (134). 36 Vgl. HessVGH, Urt. v. 29.04.2010 – 8 A 3247/09, LKRZ 2010, 471 (472); siehe auch BVerwGE 96, 126 (134).
B. Die (nachträgliche) Geltendmachung von Verfahrensfehlern147
te Grundlage für eine zutreffende materielle Beurteilung seiner Leistungsfä‑ higkeit“ darstellen37. „Insofern führen Mängel im Prüfungsverfahren typi‑ scherweise zu einer unzutreffenden materiellen Beurteilung der Leistungsfä‑ higkeit des Prüflings, „schlagen auf diese durch“, und zwar unabhängig davon, ob die in diesem fehlerhaften Verfahren erbrachten Prüfungsleistun‑ gen ihrerseits materiell richtig oder fehlerhaft beurteilt werden“38. Ein Verfahrensmangel unterscheidet sich von einem materiellen Bewer‑ tungsmangel nach alledem dadurch, dass hier eine Beeinträchtigung schon eintritt, bevor die Leistung von den Prüfern beurteilt wird39.
B. Die (nachträgliche) Geltendmachung von Verfahrensfehlern und deren Kompensation Lag zum Zeitpunkt der Leistungserbringung nach den vorstehenden Ab‑ grenzungskriterien ein Verfahrensmangel vor, so kann dieser im Rahmen eines nach der Bekanntgabe des Prüfungsergebnisses angestrengten Prü‑ fungsanfechtungsverfahrens nur noch dann Relevanz entfalten, wenn auf äußere oder innere Umstände, die den Prüfling während der Leistungser‑ bringung möglicherweise in seiner Leistungsfähigkeit beeinträchtigt haben, von den am Prüfungsverfahren Beteiligten nicht oder nicht angemessen re‑ agiert worden ist. Mit anderen Worten ist der Prüfling nicht mehr beschwert, wenn etwa eine Lärmstörung durch die Gewährung einer Schreibzeitverlängerung aus‑ geglichen oder eine Erkrankung des Prüflings durch die Nichtbewertung der von ihr beeinflussten Prüfungsleistung (en) anerkannt worden ist. Aufgrund der durch den Untersuchungsgegenstand bewusst verengten Perspektive ist daher auf der Tatbestandsseite nachfolgend im Wesentlichen nur zu klären, unter welchen Voraussetzungen der Prüfling nicht hinreichend ausgeglichene oder zunächst nicht (an)erkannte Verfahrensmängel erfolg‑ reich geltend machen kann, und auf der Rechtsfolgenseite, wie der ggf. bestehende Anspruch des Prüflings auf Wiederholung der fehlerbehafteten Prüfungsleistung konkret auszugestalten bzw. ausgestaltet ist.
37 Vgl. BVerwGE 96, 126 (134 f.); HessVGH, Urt. v. 29.04.2010 – 8 A 3247/09, LKRZ 2010, 471 (472). 38 BVerwGE 96, 126 (135). 39 HessVGH, Urt. v. 29.04.2010 – 8 A 3247/09, LKRZ 2010, 471 (472); zustim‑ mend Kröpil, NdsVBl. 2011, 148 (149).
148 Kap. 6: Möglichkeiten (gerichtlicher) Kontrolle der Prüfungsentscheidung
I. Voraussetzungen des Anspruchs auf die Neuerbringung einer fehlerhaft ermittelten Prüfungsleistung Die Wiederholung der Prüfung bzw. eines Prüfungsteils kann der Prüfling entsprechend den vorherigen Darlegungen zunächst nur dann verlangen, wenn die Prüfung insgesamt bzw. in Teilbereichen nicht geeignet gewesen ist, die wahren Kenntnisse und Fähigkeiten des Prüflings zu ermitteln. Dies setzt voraus, dass der Prüfling während der Leistungserbringung durch äu‑ ßere oder innere Umstände erheblich gestört worden ist oder seine Leis‑ tungsfähigkeit aufgrund eines sonstigen wesentlichen Verfahrensmangels nicht zutreffend ermittelt werden konnte40. Weiter ist erforderlich, dass das Prüfungsamt den offenkundigen oder ihm aufgrund der Rüge bzw. Anzeige eines Prüflings bekannten und beachtlichen Verfahrensmangel nicht oder nicht hinreichend behoben hat oder sein Vorliegen erst nach Notenbekannt‑ gabe festgestellt worden ist. Die vorstehenden Voraussetzungen – nament‑ lich das Erfordernis des Vorliegens eines wesentlichen Verfahrensmangels und die Obliegenheit des Prüflings zur (unverzüglichen) Rüge bzw. Anzeige nicht offenkundiger Verfahrensmängel – lassen sich wie aufgezeigt unmit‑ telbar aus den das Prüfungsgeschehen determinierenden Grundrechtsge‑ währleistungen ableiten und sind daher in den einschlägigen Prüfungsord‑ nungen vielfach nicht weiter normiert41. Sofern dort allerdings insbesonde‑ re die Form der Geltendmachung des die Prüfungsleistung beeinträchtigen‑ den Umstands vorgegeben ist und ggf. weitere Voraussetzungen für die (nachträgliche) Anerkennung des Verfahrensmangels festgelegt sind, müssen diese grundsätzlich vorliegen, damit sich der Prüfling auf einen Neuerbrin‑ gungsanspruch berufen kann. Anderes gilt aber, soweit die Restriktionen in der Prüfungsordnung mit dem Gewährleistungsgehalt des Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG nicht vereinbar sind. Wenn und soweit über die bereits benann‑ ten Voraussetzungen hinaus der Neuerbringungsanspruch in den Prüfungs‑ ordnungen von zusätzlichen Bedingungen abhängig gemacht wird, so wer‑ den diese nachfolgend ebenfalls näher beleuchtet, und bei bestehender Veranlassung wird ihre Verfassungsmäßigkeit untersucht.
Wortmann, NWVBl. 1992, 304 (307 f.). zu diesen Voraussetzungen des Neuerbringungsanspruchs des Prüflings VG Dresden, Urt. v. 02.12.2010 – 5 K 1483/08, juris, Rn. 135; Niehues/Fischer/ Jeremias, Rn. 469 ff. Die Voraussetzungen für eine nachträgliche Geltendmachung eines Verfahrensmangels (nach Bekanntgabe des Prüfungsergebnisses) sind in den Prüfungsordnungen kaum geregelt und dann meist nur in Bezug auf eine nachträg‑ liche erkannte Prüfungsunfähigkeit des Prüflings (siehe insoweit § 7 Abs. 5 i. V. m. Abs. 4 ThürJAPO). 40 Vgl.
41 Siehe
B. Die (nachträgliche) Geltendmachung von Verfahrensfehlern149
1. Vorliegen eines (wesentlichen) Verfahrensmangels Zwingende Voraussetzung für den Anspruch des Prüflings auf Wiederho‑ lung der Prüfung bzw. Teile derselben ist nach dem Dargelegten also zu‑ nächst das Vorliegen eines wesentlichen Verfahrensmangels. a) Mögliche Faktoren der Leistungsbeeinträchtigung im Überblick Die Kasuistik der potentiell erheblichen Verfahrensmängel ist, wie bereits im Rahmen des obigen Einwendungsüberblicks aufgezeigt, zunächst geprägt durch eine Abgrenzung zwischen äußeren und inneren Faktoren, die die Leis‑ tungsfähigkeit des Prüflings beeinträchtigen können. Diese sind im Folgenden näher zu beleuchten, können im Hinblick auf die gebotene Begrenzung des Umfangs der Untersuchung aber nicht alle im Detail aufbereitet werden42. aa) Äußere Störungen des Prüfungsablaufs Insoweit soll es bezüglich des äußeren Rahmens, innerhalb dessen der Prüfling seine Leistung erbringen muss, bei dem Hinweis verbleiben, dass neben den in der Praxis ganz im Vordergrund stehenden Lärmbeeinträchti‑ gungen – wobei als typische Emissionsquellen insbesondere Bauarbeiten in der Nähe des Prüfungsraums, störende Mitprüflinge oder sich vor oder in der Nähe des Prüfungsraums aufhaltende und dort Unruhe verbreitende Personen zu benennen sind – als weitere Widrigkeiten namentlich übermä‑ ßige Hitze oder Kälte im Prüfungsraum in Betracht kommen43. bb) Innere Störfaktoren Der innere Rahmen des Prozesses der Leistungserbringung wird bei schriftlichen wie bei mündlichen Prüfungen namentlich durch gesundheitli‑ che Beeinträchtigungen des Prüflings beeinflusst44. Nur bei der mündlichen Prüfung können auch in der Person des Prüfers liegende Umstände, insbesondere eine etwaige Befangenheit45, die nämlich 42 Vgl. insoweit insbesondere die Darstellung bei Zimmerling/Brehm, Der Prü‑ fungsprozess, Rn. 232 ff., mit zahlreichen Nachweisen; siehe zu den Kategorien und Einzelfällen auch Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 471, mit den dortigen Nachweisen. 43 Vgl. Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 471; Karasek, RdJB 1995, 409 (414); Wortmann, NWVBl. 1992, 304 (309); Lampe, S. 135. 44 Vgl. Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 249; Wortmann, NWVBl. 1992, 304 (307); Lampe, S. 131 f. 45 Siehe zur Befangenheit des Prüfers Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 336 ff.
150 Kap. 6: Möglichkeiten (gerichtlicher) Kontrolle der Prüfungsentscheidung
den Blick auf die tatsächliche Leistungsfähigkeit des Prüflings verstellt46, und gesundheitliche Beeinträchtigungen des Prüfers wie etwa eine Schwer‑ hörigkeit, die ihn an der (vollständigen) Wahrnehmung der von dem Prüf‑ ling erbrachten Prüfungsleistung hindern bzw. zumindest hindern können47, einen (inneren) Verfahrensmangel begründen. Von praktischer Bedeutung sind bei der schriftlichen wie bei der mündli‑ chen Prüfung aber auch nicht bzw. nicht unmittelbar in der Person des Prü‑ fers begründet liegende Umstände, die das Prüfungsergebnis ebenfalls (er‑ heblich) beeinflussen können. In diese weitere Kategorie des inneren Verfah‑ rensmangels gehört etwa die Über- bzw. Unterschreitung der bei der mündli‑ chen Prüfung in der Prüfungsordnung vorgesehenen Prüfungsdauer48. cc) Sonderfall Prüfungsstoffüberschreitung Fraglich ist demgegenüber die Einordnung einer Prüfungsstoffüberschrei‑ tung, die durch die Nichteinhaltung des durch die Prüfungsordnung in Form der Vorgabe eines Stoffkataloges49 gezogenen Rahmens oder subsidiär durch die Überschreitung der insoweit auch verfassungsrechtlich vorgegebe‑ nen Grenzen für die Stoffauswahl entstehen kann50. In dieser höchstrich‑ terlich noch nicht abschließend geklärten Frage51 geht die instanzgerichtli‑ diesem Spezifikum der Befangenheit Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 339. gebotenen „Prüfungsfähigkeit“ auch des Prüfers siehe Niehues/Fischer/ Jeremias, Rn. 303; allgemein dazu, dass Defizite des Prüfers nicht dessen Fähigkei‑ ten beeinträchtigen dürfen, die wahren Fähigkeiten des Prüflings zu ermitteln, Rn. 302. 48 Vgl. zu diesem Mangel BVerwGE 96, 126 (134); Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 491, allerdings jeweils ohne die hier erfolgte Kategorisierung; siehe aber Wortmann, NWVBl. 1992, 304 (310). 49 Siehe etwa §§ 11, 52 Abs. 1 JAG NRW; §§ 14, 43 SächsJAPO; §§ 18, 58 JAPO Bayern; § 7 HessJAG; § 19 NJAVO. 50 Vgl. Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 379. 51 Das Bundesverwaltungsgericht hat im Urt. v. 09.12.1983 – 7 C 99/82, NJW 1984, 2650 (2651) zunächst eine fehlerhafte Prüfungsfrage nicht als Verfahrensfehler angesehen. Das tat es offenkundig aber nur deshalb, um eine vollständige gerichtli‑ che Überprüfung der Frage der Eignung der Prüfungsaufgabe auszuschließen und widerspruchsfrei die Auffassung vertreten zu können, dass diesbezüglich ein Beur‑ teilungsspielraum des Prüfers anzunehmen sei, wenn deren Beantwortung auch von einer fachwissenschaftlichen Richtigkeitsentscheidung abhängt, die nach der „alten“ Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichtes allein dem Prüfer oblag. Diese Rechtsprechung und damit die gesamte referierte Entscheidung des Bundesver waltungsgerichtes ist durch BVerfGE 84, 34 (54 f.) zur Makulatur geworden. In BVerwGE 78, 55 (58) hat das Bundesverwaltungsgericht dann nach der Feststellung des Vorliegens unzulässigen Prüfungsstoffes ausgeführt, dass die Frage, ob daneben auch ein Verfahrensfehler vorliege, offen bleiben könne, und damit unzulässigen 46 Zu
47 Zur
B. Die (nachträgliche) Geltendmachung von Verfahrensfehlern151
che Rechtsprechung ganz überwiegend davon aus, dass auch eine Prüfungs‑ stoffüberschreitung den Mängeln im Prüfungsverfahren zuzurechnen ist52. Diese Einordnung scheint auch in der prüfungsrechtlichen Literatur vorge‑ nommen zu werden, in der wie selbstverständlich die Anforderungen an die Auswahl des Prüfungsstoffes und die Problematik einer Überschreitung desselben im Zusammenhang mit der Darstellung des Prüfungsverfahrens (-rechts) bzw. Mängeln desselben thematisiert werden53. Ob es sich bei ei‑ ner Prüfungsstoffüberschreitung um einen Verfahrens- oder um einen Be‑ wertungsmangel oder gar um eine dritte Kategorie handelt54, ist ausgehend von der obigen Definition des Verfahrensmangels zu beantworten, so dass zu klären ist, ob durch den falschen Prüfungsstoff die Leistungsfähigkeit des Prüflings bzw. die Möglichkeit, sie vollständig zu entfalten, beeinträch‑ tigt wird. Insoweit ist zu bedenken, dass die Leistungsfähigkeit des Prüflings in einer Prüfung von dessen körperlicher Verfassung und seinen allgemeinen intellektuellen Fähigkeiten sowie im Besonderen von dem im Rahmen der Ausbildung und in der Prüfungsvorbereitung angeeigneten Wissen abhängt. Wenn der Prüfling Letztere speziell nach den in der Prüfungsordnung fest‑ gelegten, zulässigen Prüfungsgegenständen ausrichtet, dann aber eine Prü‑ Prüfungsstoff als eine eigene Kategorie, aber in seinen Rechtsfolgen wie einen Ver‑ fahrensfehler behandelt. In Übereinstimmung damit hat das Bundesverwaltungsge‑ richt im Urt. v. 16.04.1997 – 6 C 9.95, NJW 1998, 323 (324), einen Fehler bei der Auswahl der Prüfungsstoffes gesondert neben zunächst Fehlern im Prüfungsverfah‑ ren und sodann Korrektur- und Bewertungsfehlern erwähnt. Eine ausdrückliche Kategorisierung ist in der jüngeren Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichtes aber bislang unterblieben. 52 OVG NRW, Bes. v. 10.09.09 – 14 B 1009/09, juris, Rn. 12; HessVGH, Urt. v. 29.04.2010 – 8 A 3247/09, LKZR 2010, 471 (472); VG Meiningen, Bes. v. 29.05.1997 – 8 E 530/97.Me, ThürRspr 1998, 31 (32); VG Ansbach, Bes. v. 24.02.2005 – AN 2 K 04.01309, juris, Rn. 38; VG Mainz, Urt. v. 21.03.2013 – 1 K 919/12.MZ, juris, Rn. 24; anders jetzt en passant VGH Mannheim, Urt. v. 10.11.2010 – 9 S 624/10, juris, Rn. 86 und VG Dresden, Urt. v. 08.11.2012 – 5 K 1464/10, n. v., UA S. 16; differenzierend VG Augsburg, Urt. v. 10.02.2006 – Au 3 K 05.693, BeckRS 2006, 33076. 53 Siehe Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 217, 374 ff., 491; Zimmerling/Brehm, Prüfungsrecht, Rn. 348 ff.; ausdrücklich jetzt Zimmerling/Brehm, DVBl. 2012, 265 (271). Dies ist entgegen dem VG Ansbach, Urt. v. 24.02.2005 – AN 2 K 04.01309, juris, Rn. 38, allerdings kein Argument dafür, dass es sich bei einer Prüfungsstoff‑ überschreitung tatsächlich um einen Mangel des Verfahrens handelt. 54 Vgl. zu den Kategorisierungsmöglichkeiten VG Ansbach, Bes. v. 24.02.2005 – AN 2 K 04.01309, juris, Rn. 38. Das Bundesverwaltungsgericht scheint für die Überschreitung des Prüfungsstoffes eine dritte Kategorie neben den Verfahrensfeh‑ lern und Bewertungsmängeln anzunehmen, wenn es Fehler bei der Auswahl des Prüfungsstoffes neben Fehlern im Prüfungsverfahren und Korrektur- und Bewer‑ tungsfehlern gesondert erwähnt, siehe Urt. v. 16.04.1997 – 6 C 9.95, NJW 1998, 323 (324).
152 Kap. 6: Möglichkeiten (gerichtlicher) Kontrolle der Prüfungsentscheidung
fungsaufgabe erhält, deren Bewältigung ganz andere als die erworbenen Kenntnisse erfordert, kann er insoweit nicht seine wahre Leistungsfähigkeit entfalten. Im Ergebnis erscheint es daher zutreffend und nach der obigen Abgren‑ zungsformel sogar zwingend, eine Prüfungsstoffüberschreitung als einen Mangel im Verfahren anzusehen55. Bei dieser Kategorisierung machen sich aber Bedenken insoweit breit, als das Vorliegen eines Verfahrensmangels nach der tradierten Dogmatik eine Obliegenheit des Prüflings zu seiner Rüge begründet, sich aber bei dem Vorliegen einer Prüfungsstoffüberschrei‑ tung die Frage der Möglichkeit und Zumutbarkeit ihrer Erhebung aufdrängt. Die nachfolgende Darstellung der Einzelheiten der Rügeobliegenheit des Prüflings wird jedoch zeigen, dass sich diese Problematik durch eine rest‑ riktive Handhabung derselben lösen lässt. b) Erheblichkeit des Verfahrensmangels Für äußere wie innere Mängel des Verfahrens der Leistungsermittlung gilt das bereits erwähnte Erfordernis der Erheblichkeit bzw. Wesentlichkeit des Verfahrensmangels, das ohne Weiteres aus dem Ziel der juristischen (Staats‑)Prüfungen folgt, die wahre Leistungsfähigkeit des Prüflings zu er‑ mitteln, dessen Erreichung durch unwesentliche bzw. unerhebliche und so‑ mit ohne Weiteres kompensierbare Einwirkungen nicht gefährdet werden kann. aa) Dogmatische Grundsätze Von der Wesentlichkeit eines Verfahrensmangels soll insbesondere nach der Rechtsprechung auszugehen sein, wenn es möglich erscheint, dass der Prüfling ohne die Prüfungsbeeinträchtigung bzw. im Falle der Gewährung eines Ausgleichs ein besseres Ergebnis erzielt hätte56 bzw. bei Beachtung der den Prüfling begünstigenden Verfahrensvorschriften oder der allgemei‑ nen Verfahrensgrundsätze von ihm ein Ergebnis erzielt worden wäre, mit dem das Prüfungsziel erreicht worden wäre oder zumindest hätte erreicht werden können57. Diese – in erster Linie auf äußere Verfahrensmängel wie Lärm etc. zugeschnittene – Definition entspricht der gesetzlichen Regelung 55 Anders VG Dresden, Urt. v. 08.11.2012 – 5 K 1464/10, n. v., UA S. 16; VGH Mannheim, Urt. v. 10.11.2010 – 9 S 624/10, juris, Rn. 86. 56 VG Dresden, Urt. v. 02.12.2010 – 5 K 1483/08, juris, Rn. 149. 57 VGH Mannheim, Urt. v. 08.10.1996 – 9 S 2437/95, VBlBW 1997, 70 (72); Wortmann, NWVBl. 1992, 304 (311).
B. Die (nachträgliche) Geltendmachung von Verfahrensfehlern153
in § 46 LVwVfG, wonach die Aufhebung eines Verwaltungsaktes unter an‑ derem nicht allein deshalb beansprucht werden kann, weil er unter Verlet‑ zung von Verfahrensvorschriften zustande gekommen ist, wenn keine ande‑ re Entscheidung in der Sache hätte getroffen werden können58. Mit anderen Worten ist die Erheblichkeit des Verfahrensmangels anzunehmen, wenn dessen Kausalität für das Prüfungsergebnis nicht ausgeschlossen werden kann59. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichtes erscheint es beim Vorliegen eines Fehlers im Prüfungsverfahren regelmäßig möglich, dass bei Vermeidung dieses Fehlers das erforderliche bessere Ergebnis er‑ zielt worden wäre60. Die Erheblichkeit des (Verfahrens‑) Fehlers für das Prüfungsergebnis stellt demnach die Regel, nicht die Ausnahme dar61. Dabei erfordere es das Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) sowie ins‑ besondere das aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG folgende Gebot der Gewähr‑ leistung effektiven Rechtsschutzes, grundsätzlich dem Prüfungsamt die materielle Beweislast dafür aufzuerlegen, dass sich ein (Verfahrens‑)Fehler nicht auf das Prüfungsergebnis ausgewirkt habe62. Denn von einer wirksa‑ men gerichtlichen Kontrolle könne keine Rede mehr sein, wenn die Nicht‑ aufklärbarkeit der Ursächlichkeit eines bei der Findung der Prüfungsent‑ scheidung unterlaufenen Fehlers auf das Entscheidungsergebnis zulasten des Prüflings ginge63. Diesem Rechtsstandpunkt des Bundesverwaltungsgerichtes kann ohne Weiteres beigetreten werden. Damit befindet sich der die Prüfungsentschei‑ dung unter Berufung auf das Vorliegen eines Verfahrensmangels anfechten‑ de Prüfling hinsichtlich der Beweislastverteilung in einer komfortablen Si‑ tuation. In ihrer Folge steht für ihn die Frage der Erheblichkeit des Verfah‑ rensmangels nicht im Vordergrund. Sie wird aber bei den regelmäßig unter‑ nommenen Versuchen des Prüfungsamtes, die Unbeachtlichkeit des Verfahrensmangels darzutun, für die Frage der Möglichkeiten und Grenzen der Anfechtbarkeit des Prüfungsergebnisses doch relevant. Daher sei in Bewertung der bisherigen Bemühungen, die Erheblichkeit des Verfahrens‑ 58 VGH Mannheim, Urt. v. 08.10.1996 – 9 S 2437/95, VBlBW 1997, 70 (72); ebenso Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 488. 59 Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 488. 60 Vgl. BVerwGE 70, 143 (148); BVerwG, Urt. v. 20.09.1984 – 7 C 80.82, Buchholz 421.0 Nr. 202, 201 (207); VGH Mannheim, Urt. v. 08.10.1996 – 9 S 2437/95, VBlBW 1997, 70 (72). 61 VGH Mannheim, Urt. v. 08.10.1996 – 9 S 2437/95, VBlBW 1997, 70 (72). 62 BVerwGE 70, 143 (148), BVerwG, Urt. v. 20.09.1984 – 7 C 80.82, Buchholz 421.0 Nr. 202, 201 (207); VGH Mannheim, Urt. v. 08.10.1996 – 9 S 2437/95, VBlBW 1997, 70 (72); Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 870; Zimmerling/Brehm, Der Prüfungsprozess, Rn. 244. 63 BVerwGE 70, 143 (148).
154 Kap. 6: Möglichkeiten (gerichtlicher) Kontrolle der Prüfungsentscheidung
fehlers für das Prüfungsergebnis praxistauglich zu definieren, auf Folgendes hingewiesen: Ausgeschieden werden mit diesen in erster Linie nur die oh‑ nehin evidenten Fälle, bei denen feststeht, dass sich am (Gesamt‑)Ergebnis der Prüfung auch bei deren fehlerfreiem Verlauf nichts geändert hätte64, weil der Kandidat etwa auch bei der Erreichung der Maximalpunktzahl bei der – im Falle der krankheitsbedingten Nichterbringung nur potentiell65 – fehlerbelasteten Teilprüfungsleistung die Bestehensvoraussetzungen verfehlt hätte. bb) Notwendige Maßstabskonkretisierung Im Übrigen aber ist ein operationalisierter Maßstab für die allgemeine Bestimmung der Beachtlichkeit eines Verfahrensmangels mit den bisherigen Definitionsbemühungen noch nicht gewonnen, weil sich die Frage, ob sich hinreichend sicher ausschließen lässt, dass ohne den Fehler im Prüfungsver‑ fahren ein besseres Bewertungsergebnis erzielt worden wäre, nur unter Würdigung aller Umstände des Einzelfalles beantworten lässt66. Immerhin lassen sich handhabbare Kriterien aber bei der Beachtung des Ziels der juristischen (Staats‑)Prüfungen gewinnen, die wahre Leistungsfähigkeit des Prüflings zu ermitteln, die auch an den tatsächlichen Anforderungen in der Berufspraxis zu bemessen ist67. Diesbezüglich gilt es zu bedenken, dass die Berufsausübung eher selten unter optimalen Bedingungen erfolgt, was so‑ wohl die äußeren als auch die inneren Bedingungen anbelangt, unter denen die Arbeitsleistung erbracht wird. Prüfungen dürfen daher, ja müssen sogar, ein Stück Lebenswirklichkeit abbilden. (1) Innere Bedingungen der Leistungserbringung So wird im Hinblick auf die inneren Bedingungen auch bei nicht patho‑ logisch bedingten Tagesformschwankungen erwartet, dass eine brauchbare Arbeitsleistung erbracht wird und diese Leistungseinbußen also kompensiert werden können68. Demgemäß können – (zunächst) nicht berücksichtigte Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 490; Wortmann, NWVBl. 1992, 304 (312). Fall, dass der Prüfling die Prüfung krankheitsbedingt unterbricht, nach‑ dem er bereits Prüfungsleistungen erbracht hat, aufgrund derer feststeht, dass er die Prüfung nicht mehr bestehen kann, ist teilweise gesetzlich durch die Normierung eines Ausschlussgrundes als Fall eines unwesentlichen Verfahrensmangels geregelt worden, siehe § 7 Abs. 2 Satz 2 ThürJAPO; § 12 Abs. 1 Satz 3 JAPrO Ba.-Wü. 66 Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 491. 67 Ähnlich Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 472. 68 Daher kann eine bloße schlechte „Tagesform“ auch keine Prüfungsunfähigkeit begründen, siehe Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 255; Lampe, S. 131; vgl. auch See64 Vgl.
65 Dieser
B. Die (nachträgliche) Geltendmachung von Verfahrensfehlern155
bzw. geltend gemachte – gesundheitliche Beeinträchtigungen des Prüflings während der Erbringung der Prüfungsleistung nur dann einen Verfahrens‑ mangel begründen, wenn die Leistungsfähigkeit des Prüflings im Sinne des Nachweises der wahren Kenntnisse und Fähigkeiten wesentlich bzw. erheb‑ lich beeinträchtigt gewesen ist.69 Die Prüfung muss damit ihren Zweck verfehlen, Aufschluss über die wirkliche Befähigung des Prüflings für den von ihm angestrebten Beruf zu geben70. Dies ist nicht der Fall, wenn sich im Prüfungsergebnis (nur) die gesundheitlichen Beeinträchtigungen des Prüflings durch ein gewöhnliches, chronisches Dauerleiden niedergeschla‑ gen haben71. Eine Berufung hierauf muss ihm versagt bleiben, weil dann seine wahre (beschränkte) Leistungsfähigkeit zutreffend ermittelt und ent‑ sprechend im Bewertungsresultat im Sinne eines „persönlichkeitsbedingten Merkmals“72 abgebildet worden ist73. In Betracht kommt vielmehr nur eine außergewöhnliche, akute Beeinträchtigung des Gesundheitszustandes des Prüflings74, die ihn daran gehindert hat, seine wahren Kenntnisse und Fähigkeiten unter Beweis zu stellen. Der Prüfling muss in diesem Sinne „prüfungsunfähig“ gewesen sein, womit klargestellt ist, dass entgegen der dies womöglich suggerierenden Terminologie ein totaler Verlust der Prü‑ fungsfähigkeit nicht erforderlich ist75. Ob eine Prüfungsunfähigkeit im Sinne einer erheblichen Beeinträchtigung der Leistungsfähigkeit vorgelegen hat, kann ohne einen vorliegenden ärztlichen Untersuchungsbefund regelmä‑ bass, NVwZ 1985, 521 (523 f.); Haase, in: Johlen/Oerder, MAH VerwR, § 16, Rn. 55; Wortmann, NWVBl. 1992, 304 (307). 69 Wortmann, NWVBl. 1992, 304 (307). 70 Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 249, 257; Birnbaum, NVwZ 2006, 286 (293). 71 Haase, in: Johlen/Oerder, MAH VerwR, § 16, Rn. 233; Lampe, S. 132; Wortmann, NWVBl. 1992, 304 (307). 72 Vgl. zur Terminologie und in der Sache BayVGH, Bes. v. 28.01.2011 – 7 ZB 10.2236, juris, Rn. 17. 73 Vgl. Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 258; BayVGH, Bes. v. 28.01.2011 – 7 ZB 10.2236, juris, Rn. 17 m. w. N. Chronische Dauerleiden, die nicht die aktuell geprüf‑ ten Befähigungen betreffen, sondern nur den Nachweis der vorhandenen Befähigung erschweren und die in der Prüfung sowie in dem angestrebten Beruf durch Hilfsmit‑ tel ausgeglichen werden können, führen aber unter dem Gesichtspunkt der Chancen‑ gleichheit zu einem Anspruch des Prüflings auf Kompensation der Nachteile etwa durch eine Schreibzeitverlängerung, vgl. im Einzelnen Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 259. 74 Seebass, NVwZ 1985, 521 (523 f.); siehe ausführlich zu den Kriterien der „Prüfungsunfähigkeit“ insbesondere Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 250 ff., 258 f.; siehe auch Birnbaum, NVwZ 2006, 286 (293); Lampe, S. 131; Haase, in: Johlen/ Oerder, MAH VerwR, § 16, Rn. 232. 75 Siehe zu dieser Klarstellung insbesondere Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 249 m. Fn. 230; siehe aber auch Birnbaum, NVwZ 2006, 286 (293): “… im Sinne einer …“.
156 Kap. 6: Möglichkeiten (gerichtlicher) Kontrolle der Prüfungsentscheidung
ßig nicht beantwortet werden. Demgemäß wird für die Anerkennung einer krankheitsbedingten Prüfungsunfähigkeit nach den einschlägigen Bestim‑ mungen in der Prüfungsordnung im Regelfall die Vorlage eines (amtsärztli‑ chen) Attestes verlangt76, auf das nur in Fällen der offensichtlichen Erkran‑ kung des Prüflings verzichtet wird77. Aufgabe eines konsultierten (Amts‑)Arztes ist es, die Befundtatsachen zu erheben und die Auswirkungen der gesundheitlichen Beeinträchtigungen des Prüflings auf dessen Leistungsvermögen darzulegen, während die Beurtei‑ lung, ob diese einen erheblichen Verfahrensmangel begründen, eine Rechts‑ frage darstellt, deren Beantwortung zunächst dem Prüfungsamt obliegt78. Dabei ist es als ein wesentliches Indiz für die Unbeachtlichkeit einer ge‑ sundheitlichen Beeinträchtigung anzusehen, wenn der Prüfling diese erst nach der Erbringung der Prüfungsleistung einwendet, währenddessen aber keine erhebliche Verminderung seiner Leistungsfähigkeit hat feststellen können79. Infolgedessen kommt die nachträgliche Anerkennung einer Prü‑ fungsunfähigkeit nur in seltenen Ausnahmefällen in Betracht80, in denen das Vorliegen einer behandlungsbedürftigen und prüfungsrechtlich relevan‑ ten Erkrankung aufgrund ihrer schleichenden und sich zunehmend ver‑ schlimmernden Entwicklung für den Prüfling schwer erkennbar bzw. ein‑ schätzbar ist81. Das ist insbesondere bei länger andauernden, gleichwohl aber vorübergehenden psychischen Störungen mit pathologischem Krank‑ heitsbild der Fall82.
76 § 7 Abs. 4 Satz 4 ThürJAPO; § 25 Abs. 3 Satz 1 JAPG Bremen; § 16 Abs. 7 Satz 1 JAG Hessen; § 16 Abs. 3 Satz 1 JAG Saarland; § 9 Abs. 1 Satz 3 JAPO M-V; § 10 Abs. 2 Satz 2 JAPO Bayern; § 21 Abs. 3 Satz 2 JAG NRW (fakultativ); § 7 Abs. 3 Satz 2 JAO Brandenburg/Berlin; § 7 Abs. 2 Satz 1 SächsJAPO; § 25 Abs. 1 Nr. 2 Satz 4 JAPrVO LSA; § 16 Abs. 1 Satz 4 NJAG; § 22 Abs. 3 Satz 2 LÜ HH, HB, S.-H.; § 25 Abs. 3 Satz 1 JAG HH. 77 § 25 Abs. 3 Satz 2 JAPG Bremen; § 9 Abs. 1 Satz 4 JAPO M-V; § 10 Abs. 2 Satz 3 JAPO Bayern; § 7 Abs. 2 Satz 2 SächsJAPO; § 22 Abs. 3 Satz 3 LÜ HH, HB, S.-H.; § 25 Abs. 3 Satz 2 JAG HH; zum Wegfall der Rücktrittsobliegenheit in Fällen offensichtlicher Erkrankung siehe auch Birnbaum, NVwZ 2006, 286 (294). 78 Vgl. Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 278; Seebass, NVwZ 1985, 521 (524); Lampe, S. 135. 79 Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 289; Seebass, NVwZ 1985, 521 (524); Wortmann, NWVBl. 1992, 304 (308). 80 Vgl. VG Ansbach, Urt. v. 29.01.2013 – AN 2 K 12.01567, AN 2 K 12.01568, juris, Rn. 29. 81 Vgl. VG Dresden, Bes. v. 28.12.2010 – 5 L 583/10, juris, Rn. 36. 82 Vgl. VG Dresden, Bes. v. 28.12.2010 – 5 L 583/10, juris, Rn. 36; VG Ans‑ bach, Urt. v. 29.01.2013 – AN 2 K 12.01567, AN 2 K 12.01568, juris, Rn. 29.
B. Die (nachträgliche) Geltendmachung von Verfahrensfehlern157
(2) Äußere Bedingungen der Leistungserbringung Bezüglich der äußeren Bedingungen ist zu bedenken, dass im späteren Arbeitsleben mindestens kurzfristige Störungen durch Arbeitskollegen, An‑ rufe etc. an der Tagesordnung sind und der Arbeitsplatz regelmäßig nicht derart von der Außenwelt abgeschottet ist, dass jene nicht mehr wahrgenom‑ men werden könnten. Daher wird man Störungen durch Wetterereignisse, nicht übermäßigen Verkehrslärm etc.83 und selbst etwa ein Klingeln des Telefons bei der Aufsichtsperson regelmäßig nicht als wesentlichen Mangel des Prüfungsverfahrens ansehen können. Diese dürfen sich aber nicht stän‑ dig wiederholen, auch wenn dies durchaus die Lebenswirklichkeit abbilden würde – mit zunehmenden Berufsleben lernt man aber auch, mit Störungen besser umzugehen. Zusammenfassend wird man daher zu dem Ergebnis kommen können, dass einerseits kurze – weniger als eine Minute dauern‑ de – und nicht (ständig) wiederkehrende (äußere) Störungen und anderer‑ seits insbesondere gewöhnliche Geräuschkulissen vom Prüfling hinzuneh‑ men sind84. 2. Rüge- bzw. Anzeigeobliegenheit des Prüflings a) (Verfassungsrechtliche) Grundsätze Ergibt die an den vorstehend aufgezeigten allgemeinen Grundsätzen aus‑ gerichtete Würdigung der konkreten Umstände des Einzelfalles, dass zum Zeitpunkt der Leistungserbringung ein wesentlicher Verfahrensmangel vor‑ gelegen hat, der nicht bzw. nicht hinreichend kompensiert worden ist, so setzt der Anspruch des Prüflings auf Wiederholung des von diesem betrof‑ fenen Prüfungsteils wie dargelegt grundsätzlich weiter voraus, dass der Prüfling die leistungsbeeinträchtigenden Umstände unverzüglich geltend gemacht bzw. sich auf diese berufen hat. Diese Obliegenheit zur (unverzüg‑ lichen) Geltendmachung des Verfahrensmangels ist nur für den Fall einer den Prüfling während der Leistungserbringung behindernden Erkrankung in den jeweiligen Prüfungsordnungen durchgängig und zumeist umfassend normiert85. Für den Fall des Auftretens sonstiger Störungen des Prüfungs‑ ablaufs ist demgegenüber auf eine entsprechende Regelung namentlich in an dieser Stelle Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 472 m. w. N. ähnlich Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 472. 85 § 7 Abs. 4, 5 ThürJAPO; § 25 Abs. 2, 3, 5 JAPG Bremen; § 16 Abs. 7 JAG Hessen; § 16 Abs. 3 JAG Hessen; § 9 JAPO M-V; § 10 Abs. 2 JAPO Bayern; § 21 Abs. 3 JAG NRW; § 7 Abs. 3 JAO Berlin/Brandenburg; § 7 SächsJAPO; § 25 Abs. 1 Nr. 2 JAPrVO LSA; § 16 NJAG; § 22 Abs. 3 LÜ HH, HB, S.-H.; § 25 Abs. 3 JAG HH. 83 Siehe 84 Ganz
158 Kap. 6: Möglichkeiten (gerichtlicher) Kontrolle der Prüfungsentscheidung
den westdeutschen Bundesländern ganz überwiegend verzichtet worden86. Sofern es an einer gesetzlichen Regelung der Obliegenheit des Prüflings zur unverzüglichen Anzeige der nicht aus seiner Sphäre stammenden Mängel des Prüfungsverfahrens fehlt, entnehmen Rechtsprechung87 und Literatur88 diese überwiegend wie selbstverständlich dem auch im Prüfungsrechtsver‑ hältnis geltenden Grundsatz von Treu und Glauben und einer daraus folgen‑ den Mitwirkungslast89 des Prüflings sowie insbesondere dem den Mitprüf‑ lingen zur Seite stehenden Grundsatz der Chancengleichheit90. Die vorstehenden Überlegungen stellen dann zugleich die (verfassungs‑ rechtliche) Legitimation für die vorhandenen gesetzlichen Regelungen der Rügeobliegenheit des Prüflings dar. Nach deren weitgehend übereinstim‑ mendem Inhalt ist der Prüfling bei einer nicht krankheitsbedingten Beein‑ trächtigung des Prüfungsablaufs gehalten, etwaige Verfahrensfehler unver‑ züglich zu rügen, und zwar bei schriftlichen Prüfungen zu Protokoll der Aufsichtsperson und bei mündlichen Prüfungen gegenüber dem Vorsitzenden der Prüfungskommission91. Ausreichend, aber auch erforderlich, ist dabei sowie im Falle einer fehlenden gesetzlichen Regelung der Rügeobliegenheit jede Erklärung des Prüflings gegenüber der erkennbar zuständigen Person, mit der die empfundene Beeinträchtigung der Leistungserbringung hinrei‑ chend klar artikuliert wird92. Die Rüge eines Verfahrensmangels impliziert die Möglichkeit des Prüfungsamtes zur Beseitigung desselben und wird vom Prüfling mit eben dieser Intention erhoben. Entsprechend sinnlos ist 86 Siehe aber § 31 Abs. 2 Satz 1 JAPrVO LSA; § 28 Abs. 2 JAPO M-V; § 16 Satz 1 JAO Berlin/Brandenburg; § 25 Abs. 2 Satz 1 JAPO Ba.-Wü.; § 12 Abs. 2 Satz 2 JAPO RLP. 87 HessVGH, Urt. v. 29.04.2010 – 8 A 3247/09, LKRZ 2010, 471 (472); VG Sigmaringen, Bes. v. 02.03.2006 – 8 K 2294/05, juris, Rn. 41; VG Meiningen, Bes. v. 29.05.1997 – 8 E 530/97.Me, ThürVGRspr 1998, 31 (33); VG Dresden, Urt. v. 02.12.2010 – 5 K 1483/08, juris, Rn. 135. 88 Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 214, 478; Lampe, S. 136; Lindner, in: Geis, HSchR-Bayern, Kapitel II, Rn. 148; Wortmann, NWVBl. 1992, 304 (309); siehe auch Seebass, NVwZ 1985, 521 (524); jeweils letztlich ohne jede dogmatische Ab‑ leitung der Rügeobliegenheit. 89 BVerwGE 69, 46 (49); 80, 282 (286); 85, 323 (330); 94, 64 (72 f.); VG Sig‑ maringen, Bes. v. 02.03.2006 – 8 K 2294/05, juris, Rn. 41; OVG NRW, Bes. v. 10.09.2009 – 14 B 1009/09, juris; siehe auch Seebass, NVwZ 1985, 521 (524). 90 BVerwGE 106, 369 (373); OVG NRW, Bes. v. 10.09.2009 – 14 B 1009/09; juris, Rn. 12; VG Sigmaringen, Bes. v. 02.03.2006 – 8 K 2294/05, juris, Rn. 41; Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 214. 91 Vgl. § 31 Abs. 2 Satz 1 JAPrVO LSA; § 28 Abs. 2 JAPO M-V; § 16 Satz 1 JAO Berlin/Brandenburg; § 25 Abs. 2 Satz 1 JAPO Ba.-Wü.; § 12 Abs. 2 Satz 2 JAPO RLP. 92 Vgl. Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 479; Haase, in: Johlen/Oerder, MAH Ver‑ wR, § 16, Rn. 126; Wortmann, NWVBl. 1992, 304 (309).
B. Die (nachträgliche) Geltendmachung von Verfahrensfehlern159
daher eine solche Rüge im Falle einer Erkrankung des Prüflings, weil für gewöhnlich das Prüfungsamt an diesem Zustand nichts wird ändern kön‑ nen93. Überdies kann letztlich nur der Prüfling selbst entscheiden, ob er sich auf eine Erkrankung als leistungsbeeinträchtigenden Umstand berufen will oder nicht. Hat er sich dazu entschlossen, so muss er seine Prüfungsunfä‑ higkeit in der in der Prüfungsordnung jeweils dafür vorgesehenen Form geltend machen. Dabei kann es sich um eine Rücktritts-94, Prüfungsverhin‑ derungs-95, eine sonstige96 Erklärung oder schlicht um die Anzeige der Er‑ krankung97 handeln. Die erfolgreiche Geltendmachung der Prüfungsunfähig‑ keit führt je nach gesetzlicher Ausgestaltung zur vollständigen oder teilwei‑ sen Annullierung des Prüfungsversuchs und eröffnet dem Prüfling dann die Möglichkeit entweder zur Wiederholung der gesamten Prüfung oder nur des krankheitsbelasteten Prüfungsteils98. Im Gegensatz zu einer Mängelrüge hat die erfolgreiche Berufung auf eine Prüfungsunfähigkeit damit unmittelbare rechtliche Konsequenzen. aa) Rechtsdogmatische Verortung bzw. verfassungsrechtliche Ableitung und Rechtfertigung der potentiellen Rüge- bzw. Anzeigeobliegenheit Wie bereits dargelegt wird die dem Prüfling aufgebürdete Rüge- bzw. Anzeigeobliegenheit insbesondere mit der zu wahrenden Chancengleichheit der anderen Prüfungsteilnehmer gerechtfertigt. Damit wird zwar die ver‑ meintliche dogmatische Grundlage der postulierten Rüge- bzw. Anzeigeob‑ liegenheit – um eine Rügepflicht, von der gelegentlich auch gesprochen Birnbaum, NVwZ 2006, 286 (293 f.). JAPO M-V; § 20 Abs. 2 Nr. 1 JAG NRW; § 25 Abs. 1 Nr. 2 JAPrVO LSA. 95 § 16 Abs. 3 Satz 1 JAG Saarland; § 10 Abs. 2 Satz 2 JAPO Bayern; § 7 Abs. 1, 3 JAO Berlin/Brandenburg; § 7 Abs. 2 SächsJAPO. 96 „Unterbrechung“: § 25 Abs. 2, 3 JAG HH; § 22 LÜ HH, HB, S.-H.; § 16 Abs. 1 NJAG; § 25 Abs. 2 JAPG Bremen. 97 § 16 Abs. 7 Satz 1 JAG Hessen. 98 Überwiegend ist die Wiederholung der gesamten Prüfung vorgesehen, siehe §§ 9 Abs. 6 Satz 1, 10 Abs. 3 Satz 1 JAPO M-V; § 25 Abs. 4 JAPG Bremen; § 25 Abs. 1 JAPrVO LSA; § 16 Abs. 2 Nr. 1 NJAG; § 22 Abs. 2 LÜ HH, HB, S.-H.; § 25 Abs. 4 JAG HH, § 16 Abs. 6 HessJAG. In RLP ist demgegenüber bei der schriftlichen Prü‑ fung nur die im Zustand der Prüfungsunfähigkeit erbrachte Prüfungsleistung zu wie‑ derholen, siehe § 10 Abs. 1 Satz 2 Hs. 2 JAPO RLP. Siehe zu nach der Anzahl der bereits erbrachten Prüfungsleistungen differenzierenden Regelungen § 16 Abs. 1 Satz JAG Saarland; § 7 Abs. 1 Satz 1, 2 JAPO Berlin/Brandenburg; § 10 Abs. 4, 28 Abs. 2 JAPO Bayern; § 7 Abs. 1 SächsJAPO; § 7 Abs. 2 Satz 1 ThürJAPO; Vgl. zur unterschiedlichen Ausgestaltungen der Rechtsfolgen einer geltend gemachten Erkran‑ kung und den sich danach richtenden erforderlichen Erklärungen des Prüflings auch Schmidt-Räntsch, DRiG, Anhang zu § 5d, Rn. 35 ff. 93 Vgl. 94 § 9
160 Kap. 6: Möglichkeiten (gerichtlicher) Kontrolle der Prüfungsentscheidung
wird99, handelt es sich nicht, da der Prüfling nur Rechtsnachteile erleidet, wenn er die vom Prüfungsamt nicht erzwingbare Rüge nicht erhebt100 – im Ansatz aufgedeckt. Sie wird aber durch eine Fokussierung auf die Grund‑ rechtspositionen der anderen Prüflinge einseitig grundrechtlich angebunden und nicht gegenüber denen des mit der Rüge- bzw. Anzeigeobliegenheit belasteten Prüflings gerechtfertigt, die regelmäßig nicht einmal ausdrück‑ lich (als tangiert) benannt werden101. Ohne eine exakte Offenlegung der dogmatischen Grundlagen der Rüge- bzw. Anzeigeobliegenheit und einer Konturierung des (grundrechtlichen) Interessenkonflikts lassen sich deren Grenzen aber nicht sicher abstecken, und es droht die Gefahr einer ufer‑ losen Bemühung derselben zur Begründung der Rechtsschutzverweigerung im Einzelfall102. Daher ist im Folgenden die Dogmatik der weithin ange‑ nommenen Rügeobliegenheit „in ihrem grundrechtlichen Umfeld“ näher zu beleuchten103. Diesbezüglich ist im Hinblick auf die im Falle einer unterbliebenen Rü‑ ge regelmäßig eintretende Folge der Rechtsschutzverweigerung auf Seiten des vermeintlich fehlerbelasteten Prüflings dessen Interesse zu betonen, auch etwaige Fehler im Verfahren der Leistungsermittlung möglichst unbe‑ grenzt, jedenfalls aber bis zum Ablauf der Rechtsbehelfsfristen und bei Ausnutzung der potentiell gegebenen Rechtsschutzmöglichkeiten wie bei der Geltendmachung materieller Bewertungsfehler bis zum Abschluss der letzten Tatsacheninstanz im Verwaltungsprozess einwenden zu können. Dieses Interesse ist – zunächst durch Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG – auch durchaus grundrechtlich geschützt, da aus der materiellen Komponente des Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG ohne Weiteres der bereits ins Feld geführte An‑ spruch des Prüflings auf Ermittlung seiner wahren Leistungsfähigkeit und auf Abwehr von Störungen, die der Realisierung desselben entgegenstehen, 99 OVG NRW, Bes. v. 20.06.2003 – 14 E 203/02, juris, Rn. 13; Bes. v. 09.10.2008 – 14 A 3388/07, NWVBl 2009, 151 (151); VG Sigmaringen, Bes. v. 02.03.2006 – 8 K 2294/05, juris, Rn. 38; Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 480, richtig aber Rn. 215; Wortmann, NWVBl. 1992, 304 (309); Birnbaum, NVwZ 2006, 286 (289). 100 Siehe zur Abgrenzung zwischen einer Obliegenheit und einer Pflicht allge‑ mein Kopp/Ramsauer, VwVfG, § 24, Rn. 12 a und § 26, Rn. 44 a. 101 Siehe aber zumindest BVerwGE 69, 46 (50) und im Ansatz Zimmerling/ Brehm, Prüfungsrecht, Rn. 435, die aber den von der Rechtsprechung angenomme‑ nen Rügeobliegenheiten des Prüflings skeptisch gegenüberstehen. 102 Siehe zu dieser bereits bestehenden Tendenz Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 217; Birnbaum, NVwZ 2006, 286 (288 ff.). 103 Siehe zum dogmatischen Umfeld der Rügeobliegenheit auch Birnbaum, NVwZ 2006, 286 (288), der allerdings die Grundrechtspositionen des mit der Rüge‑ obliegenheit belasteten Prüflings nicht herausstellt.
B. Die (nachträgliche) Geltendmachung von Verfahrensfehlern161
folgt104. Aus dem Effektivitätsgebot als integralem Bestandteil der materi‑ ellen Gewährleistungen bzw. aus der prozeduralen Komponente des Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG unter dem Gesichtspunkt des zu gewährleistenden Grundrechtsschutzes durch Verfahren kann der Prüfling daneben einen An‑ spruch auf die Zurverfügungstellung eines (Rechtsschutz‑)Verfahrens ablei‑ ten, das eine wirksame Durchsetzung der materiellen Gewährleistungen des Grundrechts der Berufsfreiheit gewährleistet. Während es bereits das urei‑ gene Anliegen der Figur des Grundrechtsschutzes durch Verfahren ist, eine prozedurale Absicherung materieller Grundrechtsgewährleistungen bereits im Verwaltungsverfahren zu schaffen, ergeben sich aus der Beachtung des Effektivitätsgebots jedenfalls auch Vorwirkungen insoweit. Mithin kann der Prüfling fraglos bereits vorprozessual sein verfassungs‑ rechtliches Recht auf eine wirksame Durchsetzung seiner materiellen Rechtspositionen in die grundrechtliche Waagschale werfen. Dieses Recht des Prüflings wird erheblich beeinträchtigt, wenn infolge der Nichtbeach‑ tung einer Rüge- bzw. Anzeigeobliegenheit der (Verwaltungs‑)Rechtsschutz praktisch leerläuft. Angenommene wie normierte Obliegenheiten greifen daher in den Schutzbereich des Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG ein und berühren gleichfalls den Gewährleistungsgehalt der Rechtsschutzgarantie. Soweit die prozedurale Komponente des Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG auf Verwirklichung drängt, ergeben sich nämlich Überschneidungen mit Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG dergestalt, dass diese Grundrechtsnorm gleichfalls eine effektive (ge‑ richtliche) Durchsetzung der materiellen Grundrechte gewährleistet und in‑ soweit ebenfalls in das dem Rechtsschutzverfahren vorgelagerte Verwal‑ tungsverfahren hineinwirkt. Dies wurde im Rahmen der Darstellung der verfassungsrechtlichen Grundlagen bereits aufgezeigt. Wirkungsvoller Rechtsschutz im vorstehenden Sinne erfordert aber unter anderem eine tatsächlich wirksame (gerichtsförmige) Kontrolle105. Der Sachverhalt muss deshalb wenigstens einmal vollständig in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht ermittelt werden106. Wenn der Prüfling allerdings ei‑ nen Mangel des Verfahrens nicht unverzüglich geltend gemacht hat, erfolgt gerade keine Aufklärung des Sachverhalts mehr und zwar weder im Rahmen
104 Vgl. etwa BVerwGE 69, 46 (49); 85, 323 (325). Das BVerwG sieht diesen Anspruch allerdings primär als im Grundsatz der Chancengleichheit verankert an und stellt damit in erster Linie auf Art. 3 Abs. 1 GG ab. 105 Siehe BVerfGE 84, 34 (53); 84, 59 (77); BVerfG, Bes. v. 10.12.2009 – 1 BvR 3151/07, NVwZ 2010, 435 (437); Bes. v. 04.11.2010 – 1 BvR 3389/08, NVwZ 2011, 486 (492); BVerfGE 129, 1 (20); BVerfG, Bes. v. 08.12.2011 – 1 BvR 1932/08, NVwZ 2012, 694 (695); Huber, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 19 IV, Rn. 460. 106 Huber, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 19 IV, Rn. 460.
162 Kap. 6: Möglichkeiten (gerichtlicher) Kontrolle der Prüfungsentscheidung
des Widerspruchs- noch des Klageverfahrens107. Der Prüfling ist dann viel‑ mehr insoweit rechtsschutzlos gestellt. Nach alledem stellt die Postulierung bzw. Normierung einer Rüge- bzw. Anzeigeobliegenheit grundsätzlich einen Eingriff in den Schutzbereich so‑ wohl des Art. 12 Abs. 1 Satz 1 als auch des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG dar108, der jeweils der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung bedarf. Da Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG innerhalb seines Anwendungsbereichs Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG vorgeht und also aus dem Grundrecht der Berufsfreiheit keine weiter gehenden Rechte des Prüflings folgen können, kann die Prüfung ei‑ ner Grundrechtsverletzung des vermeintlich fehler- und rügebelasteten Prüf‑ lings auf Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG beschränkt werden. Zwar ist der im Übrigen ohnehin außerhalb seiner Kerngewährleistung ausgestaltungsbe‑ dürftige Schutzbereich der Rechtsschutzgarantie nicht ausdrücklich ein‑ schränkbar. „Da sich die Interessen der Rechtsschutzsuchenden an materia‑ ler Gerechtigkeit aber typischerweise in einem Spannungsverhältnis mit anderen verfassungsrechtlichen Schutzgütern befinden […], impliziert nahe‑ zu jede prozessrechtliche Regelung einen verhältnismäßigen Ausgleich zwischen kollidierenden Verfassungsgütern“109. Demgemäß finden auch die von der Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG verbürgten Ge‑ währleistungen ihre Grenzen im kollidierenden Verfassungsrecht. Es ist Aufgabe des Gesetzgebers, durch die Herstellung praktischer Konkordanz den verhältnismäßigen Ausgleich insoweit herzustellen110. Erforderlich ist damit zumindest ein mit Verfassungsrang ausgestattetes Rechtsgut, das die mit der Auferlegung einer Obliegenheit zur (unverzüglichen) Geltendma‑ chung des Verfahrensmangels einhergehende Beschränkung des Untersu‑ chungsgrundsatzes111 und den daraus grundsätzlich resultierenden Eingriff in die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG legitimieren kann. Insoweit drängt sich die Heranziehung des – (auch) im vorliegenden Kontext bereits mehrfach erwähnten – in Art. 12 Abs. 1 Satz 1 und Art. 3 Abs. 1 GG wurzelnden Grundsatzes der Chancengleichheit auf, der (auch) den (Mit‑) Prüflingen zur Seite steht und der hier in materieller Hinsicht 107 Exemplarisch: BVerwGE 96, 126 (132): „Gleichermaßen stellt es keine Ver‑ letzung von Bundesrecht dar, dass das Berufungsgericht dem von der Klägerin geltend gemachten Mangel im Verfahren nicht mehr nachgegangen ist“; BayVGH, Bes. v. 28.01.2011 – 7 ZB 10.2236, BayVBl. 2011, 342 (344): „…, hatte das Aus‑ gangsgericht keine Veranlassung, die Frage der Prüfungsfähigkeit aufzuklären“. 108 So wohl auch BVerwGE 69, 46 (52). 109 Huber, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 19 IV, Rn. 376. 110 Huber, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 19 IV, Rn. 372. 111 Auf die mit der Auferlegung einer Rügeobliegenheit einhergehende Ein‑ schränkung des Untersuchungsgrundsatzes weist zutreffend auch Birnbaum, NVwZ 2006, 286 (288), hin.
B. Die (nachträgliche) Geltendmachung von Verfahrensfehlern163
konkret verlangt, dass dem sein Prüfungsergebnis unter Berufung auf einen angeblichen Mangel im Prüfungsverfahren anfechtenden Prüfling nicht un‑ gerechtfertigterweise ein weiterer, in der Prüfungsordnung regulär nicht vorgesehener Prüfungsversuch eingeräumt wird. Denn solange und soweit die Möglichkeiten für den Prüfling, eine (nicht bestandene) Prüfung zu wiederholen, in verfassungsrechtlich zulässiger Weise einfach-rechtlich be‑ grenzt sind, darf diese gesetzgeberische Entscheidung nicht durch die groß‑ zügige Gewährung von Wiederholungsmöglichkeiten als Kompensation für einen möglicherweise vorliegenden (wesentlichen) Verfahrensmangel oder gar unabhängig von einem solchen durch den bloßen Rücktritt von der Prüfung – auch nicht vor Bekanntgabe der Bewertung – gewährt werden112. Vielmehr muss zur Gewährleistung der Chancengleichheit aller Prüflinge soweit wie möglich sichergestellt werden, dass es keinem Prüfling gelingt, sich durch die Berufung auf einen vermeintlich vorliegenden Verfahrens‑ mangel einen ihm in Wahrheit nicht zustehenden weiteren Prüfungsversuch zu erschleichen. Die vom Chancengleichheitsgrundsatz her gebotene Restriktion der Mög‑ lichkeiten des Prüflings, sich auf Mängel des Prüfungsverfahrens zu beru‑ fen, darf aber nicht dazu führen, diesen reflexartig und vorschnell zur Rechtfertigung der dem vermeintlich fehlerbelasteten Prüfling aufgebürdeten Obliegenheiten zu bemühen. Vielmehr ist stets die sogleich erfolgende Prü‑ fung geboten, ob dessen Gewährleistungen im Einzelfall wirklich tangiert sind und eine Rechtsschutzverweigerung für den sein Prüfungsergebnis wegen eines angeblichen Mangels im Prüfungsverfahren anfechtenden Prüf‑ ling nicht bereits aus anderen Gründen legitimiert werden kann. Vorab ist aber darauf hinzuweisen, dass eine Beeinträchtigung der Chancengleichheit der anderen Prüflinge nicht bereits dann ausscheidet – wie dies aber teil‑ weise angenommen wird113 –, wenn alle Prüfungskandidaten hinsichtlich der Möglichkeit, sich auf vermeintliche Mängel im Prüfungsverfahren zu berufen, formal gleich behandelt werden. Das Gebot der formalen Gleich‑ 112 Dies verkennen Zimmerling/Brehm, Prüfungsrecht, Rn. 114, nämlich dass der Prüfling nach der Leistungserbringung durch die Heranziehung von Fachliteratur, Gerichtsentscheidungen, Gesprächen mit Fachkundigen etc. die Richtigkeit bzw. Vertretbarkeit seiner Leistung und die sich daraus ergebende Wahrscheinlichkeit des Prüfungserfolges ermitteln und es von dem Ergebnis insoweit abhängig machen könnte, ob er sich auf den vermeintlichen Verfahrensmangel beruft [siehe zutreffend BVerwGE 80, 282 (285 f.)]. Hierdurch wäre die Chancengleichheit anderer Prüflin‑ ge, die wegen eines verfahrensfehlerfreien Prozesses der Leistungsermittlung gar nicht erst die Chance zu einem solch spekulativen Vorgehen hatten, jedenfalls dann berührt, wenn dem Prüfling ein rechtsmissbräuchliches Verhalten nicht nachgewie‑ sen werden kann. 113 Siehe Zimmerling/Brehm, Prüfungsrecht, Rn. 435, in Bezug auf die Möglich‑ keiten des Prüflings, von der Prüfung zurückzutreten.
164 Kap. 6: Möglichkeiten (gerichtlicher) Kontrolle der Prüfungsentscheidung
behandlung im Sinne des Verbots der willkürlichen Ungleichbehandlung vergleichbarer Sachverhalte stellt eine Selbstverständlichkeit dar, die sich bereits aus dem allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1 GG ableiten lässt. Über dessen Gewährleistungen geht der Chancengleich‑ heitsgrundsatz aber, wie dies im Rahmen der Darstellung der verfassungs‑ rechtlichen Grundlagen aufgezeigt wurde, weit hinaus, der insbesondere auch eine materielle Chancengleichheit der Prüflinge vorliegend in dem Sinne fordert, dass allen Prüflingen grundsätzlich nur die in der Prüfungs‑ ordnung vorgesehenen Prüfungsversuche gewährt werden114. Bei der Beur‑ teilung der materiellen Chancengleichheit der Prüflinge darf dann nicht nur auf die Gruppe der vermeintlich fehlerbelasteten Prüflinge des jeweiligen Prüfungsdurchgangs abgestellt, sondern es müssen vor allem diejenigen Prüflinge als Vergleichsgruppe in den Blick genommen werden, die wegen eines von Prüfungsmängeln freien Prozesses der Leistungsermittlung gar nicht erst die Chance hatten, ein spekulatives Vorgehen im obigen Sinne in Erwägung zu ziehen, und das von ihnen erzielte Prüfungsergebnis daher in jedem Fall gegen sich gelten lassen mussten115. Dies vorausgeschickt gilt es nachfolgend zu prüfen, wann der Chancen‑ gleichheitsgrundsatz unter dem Blickwinkel des Gebots der materiellen Gleichbehandlung berührt ist bzw. zumindest sein kann und daher zur Rechtfertigung der Restriktion der Möglichkeiten des Prüflings, sich auf einen von ihm angenommenen Verfahrensmangel zu berufen, potentiell he‑ rangezogen werden kann. Der Chancengleichheitsgrundsatz wird – wenn auch teilweise nicht aus‑ drücklich – gleich in dreifacher Hinsicht zur Legitimation der dem Prüfling auferlegten Obliegenheiten ins Feld geführt116. So soll die Rügeobliegenheit erstens dazu dienen, dem Prüfungsamt eine zeitnahe Aufklärung bzw. Über‑ prüfung des gerügten Mangels zu ermöglichen117, zweitens erlauben, eine umgehende Abhilfe bzw. Kompensation zu schaffen118, und schließlich drittens und insbesondere verhindern, dass der betroffene Prüfling in Kennt‑ nis des Verfahrensmangels zunächst die Prüfung fortsetzt und das Prüfungs‑ 114 Vgl.
nur BVerwGE 78, 367 (372). zu den maßgeblichen Bezugsgruppen bei der Prüfung der Wahrung der Chancengleichheit BVerwG, Bes. v. 11.11.1975 – VII B 72.74, BayVBl. 1977, 183 (183); Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 485 m. Fn. 706, siehe auch Rn. 501. 116 Siehe zunächst Birnbaum, NVwZ 2006, 286 (287); Zimmerling/Brehm, Prü‑ fungsrecht, Rn. 115. 117 BVerwGE 96, 126 (129 f.); siehe auch 94, 64 (72 f.); VG Dresden, Urt. v. 02.12.2010 – 5 K 1483/08, juris, Rn. 135; Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 480; Birnbaum, NVwZ 2006, 286 (288). 118 BVerwGE 96, 126 (130); siehe auch 94, 64 (72 f.); VG Dresden, Urt. v. 02.12.2010 – 5 K 1483/08, juris, Rn. 135; Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 480. 115 Siehe
B. Die (nachträgliche) Geltendmachung von Verfahrensfehlern165
ergebnis abwartet, um sich im Verhältnis zu den anderen Prüflingen eine ihm an sich nicht zustehende weitere Prüfungschance zu verschaffen119. Bei der Obliegenheit zur Anzeige einer Krankheit drängen nur der Zweck der zeitnahen Abklärung derselben und der Ausschluss eines rechtsmissbräuch‑ lichen Verhaltens – dieser aber im besonderen Maße – auf Verwirklichung120. Für die verfassungsrechtliche Rechtfertigung der Auferlegung einer Rügebzw. Anzeigeobliegenheit genügt es jedoch ohnehin, dass im Einzelfall auch nur einer der Gesichtspunkte einschlägig ist121. Dass der dritte Gesichts‑ punkt dem Grundsatz der Chancengleichheit entspringt, ist offensichtlich122. Auch der angeführte Aspekt der schnellstmöglichen Aufklärung des Sach‑ verhalts findet hier – wenngleich nicht auf den ersten Blick – richtigerwei‑ se seinen Ursprung123. Denn mit zunehmendem Zeitablauf lässt sich die Frage des Vorliegens eines Verfahrensmangels schwieriger aufklären und wächst die Gefahr des Ergehens einer materiell unrichtigen Entscheidung, mit der unter Umständen – unter Verletzung der Chancengleichheit der an‑ deren Prüflinge – dem sich viel später auf den angeblichen Verfahrensman‑ gel berufenden Prüfling zu Unrecht ein diesem an sich nicht zustehender weiterer Prüfungsversuch eingeräumt wird124. Fraglich ist allerdings, ob eine Rügeobliegenheit unter dem Blickwinkel des Chancengleichheitsgrundsatzes auch mit dem Gebot der alsbaldigen Abhilfe bzw. Kompensation des Verfahrensmangels legitimiert werden kann. Zweifellos wird damit sowohl die Chancengleichheit des mit der Rügeob‑ liegenheit belasteten Prüflings als auch der anderen Prüfungsteilnehmer namentlich im Verhältnis zu den Prüflingsgruppen wiederhergestellt, die ihre Prüfungen störungsfrei ablegen konnten. Ein (allein) auf den Gesichts‑ punkt der (auch) zulasten der anderen Prüfungsteilnehmer unterbliebenen Kompensation eines Verfahrensmangels gestützter Ausschluss der späteren Berufung auf einen solchen würde den rügebelasteten Prüfling allerdings (allein) zum Sachwalter des Grundsatzes der Chancengleichheit in seiner objektiv-rechtlichen Dimension machen. Dies ist allein deshalb nicht über‑ 119 Vgl. zu allen drei Gesichtspunkten BVerwGE 96, 126 (129 f.); VG Mainz, Urt. v. 21.03.2013 – 1 K 919.MZ/12, juris, Rn. 27; VG Sigmaringen, Bes. v. 02.03.2006 – 8 K 2294/05, juris, Rn. 41; Birnbaum, NVwZ 2006, 286 (287 f.). 120 Vgl. VG Dresden, Bes. v. 28.12.2010 – 5 L 583/10, juris, Rn. 35 f. 121 Vgl. BVerwGE 96, 126 (130); VG Mainz, Urt. v. 21.03.2013 – 1 K 919/12. MZ, juris, Rn. 27. 122 Vgl. VG Sigmaringen, Bes. v. 02.03.2006 – 8 K 2294/05, juris, Rn. 41; Wortmann, NWVBl. 1992, 304 (309). 123 Vgl. BVerwGE 96, 126 (130); BVerwG, Urt. v. 15.12.1993 – 6 C 28.92, Buchholz, 421.0 Nr. 323, 323 (330). 124 Vgl. insoweit auch BVerwGE 106, 369 (375); anders wohl Birnbaum, NVwZ 2006, 286 (288): „Ausschluss auf Beweislastebene“.
166 Kap. 6: Möglichkeiten (gerichtlicher) Kontrolle der Prüfungsentscheidung
zeugend, weil es nicht Aufgabe des Prüflings, sondern der Prüfungsbehörde ist, für ein rechtmäßiges und auch ansonsten ordnungsgemäßes Prüfungs verfahren zu sorgen125. Diese Verfahrensherrschaft126 der Prüfungsbehörde ergibt sich aus ihrer Zuständigkeit für die Durchführung des Prüfungsver‑ fahrens und ihrer aus Art. 3 Abs. 1, 20 Abs. 3 GG folgenden (Grund‑)Rechts bindung. Dass sich der die Prüfungsentscheidung anfechtende Prüfling bei einem infolge einer unterbliebenen Rüge nicht erfolgten Ausgleich eines Mangels im Prüfungsverfahren namentlich nach Bekanntgabe des Prüfungsergebnisses nicht mehr auf diesen berufen kann, lässt sich jedenfalls dann, wenn der Prüfling einen Verfahrensmangel zunächst bewusst in Kauf genommen hat, demgegenüber viel überzeugender mit dem auch im öffentlichen Recht gel‑ tenden127 Grundsatz von Treu und Glauben und den aus diesem folgenden Verbot des venire contra factum proprium128 begründen129. Klarzustellen ist, dass sich der Prüfling in einem solchen Fall treuwidrigen Handelns schon gar nicht auf die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG und ebenso wenig auf Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG berufen kann, weil der Grundsatz von Treu und Glauben hier von vornherein rechtsschutzbegrenzend wirkt und es sich somit um eine unzulässige Rechtsausübung handelt130. Damit gilt zusammenfassend Folgendes: In den vorstehenden Fällen der zunächst bewussten Risikoübernahme und einer erst später – namentlich erst nach der Bekanntgabe des Prüfungsergebnisses – erfolgenden Berufung auf einen angeblichen Verfahrensmangel ist wegen der rechtsschutzbegren‑ zenden Funktion des Grundsatzes von Treu und Glauben, gegen den der Prüfling hier aufgrund seines widersprüchlichen Verhaltens verstieße, bereits weder der Schutzbereich des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG noch derjenige des Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG eröffnet. Wenn der Prüfling einen Verfahrensman‑ gel über längere Zeit nicht geltend macht und damit den Eindruck erweckt, sich auf diesen zur Begründung der Rechtswidrigkeit der Prüfungsentschei‑ dung auch nicht mehr berufen zu wollen, kann ggf. auch eine ebenfalls aus 125 BVerwGE 85, 323 (328); 94, 64 (72); VG Sigmaringen, Bes. v. 02.03.2006 – 8 K 2294/05, juris, Rn. 41; Birnbaum, NVwZ 2006, 286 (288); Wortmann, NWVBl. 1992, 304 (309). 126 Siehe zu dieser BVerwGE 85, 323 (328); 94, 64 (72); VG Sigmaringen, Bes. v. 02.03.2006 – 8 K 2294/05, juris, Rn. 41. 127 Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 216. 128 Siehe nur Palandt-Grüneberg, BGB, § 242, Rn. 55. 129 So auch VG Meiningen, Bes. v. 29.05.1997 – 8 E 530/97, ThürVGRspr 1998, 31 (33); VG Sigmaringen, Bes. v. 02.03.2006 – 8 K 2294/05, juris, Rn. 41; Birnbaum, NVwZ 2006, 286 (287); Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 216; Schnellenbach, in: Hartmer/Detmer, HSchR, Kapitel XII, Rn. 39. 130 VG Meiningen, Bes. v. 29.05.1997 – 8 E 530/97, ThürVGRspr 1998, 31 (33).
B. Die (nachträgliche) Geltendmachung von Verfahrensfehlern167
dem Grundsatz von Treu und Glauben herzuleitende131 Verwirkung132 vor‑ liegen. In den vorstehenden Fallgruppen folgt die Obliegenheit des Prüflings zur Mängelrüge also daraus, dass er sich bei dem einstweiligen Absehen von dieser später unter Umständen dem Vorwurf eines treuwidrigen Verhaltens ausgesetzt sieht, sich daher auf den Verfahrensmangel nicht mehr berufen kann, dadurch Rechtsnachteile erleidet und insoweit vorwerfbar im Sinne eines Verschuldens gegen sich selbst handelt133. Der Bemühung des Grund‑ satzes der Chancengleichheit zur Rechtfertigung der dem Prüfling aufgebür‑ deten Rügeobliegenheit bedarf es also nur dann, wenn die vorstehenden, eine Rügeobliegenheit begründenden Voraussetzungen nicht vorliegen. Dies ist der Fall, wenn der Prüfling erst später von den den Verfahrensmangel begründenden Tatsachen bzw. deren Rechtserheblichkeit erfahren hat134 bzw. ihm deren frühzeitigere Kenntnis und damit ggf. eine bewusste Risi‑ koübernahme nicht nachgewiesen werden können. Die in dieser Konstella‑ tion angenommene Obliegenheit zur Mängelrüge bzw. Anzeige der krank‑ heitsbedingten Prüfungsverhinderung resultiert dann daraus, dass dem Prüfling eine spätere Berufung auf einen Verfahrensmangel wegen der an‑ derenfalls (unverhältnismäßig) beeinträchtigten Chancengleichheit der ande‑ ren Prüflinge regelmäßig versagt wird, und insoweit ebenfalls aus einem Verschulden gegen sich selbst135. Leitet man die Mitwirkungsobliegenheit demgegenüber aus dem zwischen dem Prüfling und der Prüfungsbehörde bestehenden Prüfungsrechtsverhältnis her, wird letztlich eine Verletzung der insoweit nicht bestehenden, dann aber postulierten Verpflichtung zur Män‑ gelrüge bzw. Anzeige der Prüfungsverhinderung sanktioniert. Dogmatisch überzeugender ist es daher, im Falle des nicht nachweisbaren treuwidrigen Verhaltens des Prüflings eine Obliegenheit zur Rüge des Verfahrensmangels bzw. der Anzeige der Prüfungsverhinderung mittelbar aus dem Chancen‑ 131 Vgl. Palandt-Grüneberg, BGB, § 242, Rn. 87; VG Meiningen, Bes. v. 29.05.1997 – 8 E 530/97, ThürVGRspr 1998, 31 (33); zurückhaltend insoweit dem‑ gegenüber Birnbaum, NVwZ 2006, 286 (287). 132 Siehe zur Möglichkeit der Verwirkung eines Rechts im Allgemeinen und im Prüfungsrecht im Besonderen Zimmerling/Brehm, Prüfungsrecht, Rn. 201 ff.; siehe zur teilweise nicht passenden Heranziehung dieses Gedankens in der Rechtspre‑ chung bei einem angenommenen unwirksamen Rücktritt des Prüflings dieselben, aaO, Rn. 559 f. 133 Vgl. zum erforderlichen „Verschulden gegen sich selbst“ als Voraussetzung für eine vorwerfbare Verletzung der Mitwirkungsobliegenheit BVerwGE 66, 213 (215); 80, 282 (286); 99, 172 (176); 106, 369 (373). 134 Vgl. insoweit in diesem Zusammenhang auch Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 217, welche die oben genannten Aspekte allerdings als Voraussetzungen für die Annahme eines wirksamen Verzichtes ansehen. 135 Vgl. nochmals BVerwGE 69, 46 (50); 80, 282 (286); 106, 369 (373).
168 Kap. 6: Möglichkeiten (gerichtlicher) Kontrolle der Prüfungsentscheidung
gleichheitsgrundsatz abzuleiten. In dieser Fallkonstellation berührt die Sank‑ tionierung einer nicht beachteten Rüge- bzw. Anzeigeobliegenheit aber den Schutzbereich von Art. 12 Abs. 1 Satz 1 und Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG. bb) Fallgruppenabhängige Obliegenheit des Prüflings Ob dieser Eingriff (verfassungsrechtlich) gerechtfertigt ist, hängt von der gebotenen Abwägung der vorstehenden Grundrechtspositionen mit denen der anderen Prüflinge und insoweit mit dem Grundsatz der Chancengleich‑ heit ab. Diese Abwägung erfolgt nach dem Prinzip der praktischen Konkor‑ danz, so dass ein möglichst schonender Ausgleich zwischen den widerstrei‑ tenden Interessen vorzunehmen ist, der ersichtlich weder bei der Annahme einer generellen Rügeobliegenheit noch bei einem vollständigen Verzicht auf diese gegeben ist. Was die dazwischen liegenden möglichen Ergebnisse anbelangt, so ist zu bedenken, dass die Intensität des Eingriffs in die Rechtssphäre des potenti‑ ell rügebelasteten Prüflings und korrespondierend der Schutz der Chancen‑ gleichheit der anderen Prüflinge namentlich von den Voraussetzungen ab‑ hängen, an die die Rügeobliegenheit geknüpft ist. Je enger diese gefasst sind, desto weniger werden die Interessen des die Prüfungsentscheidung anfechtenden Prüflings berücksichtigt, umgekehrt mehr die anderen Prü‑ fungsteilnehmer in ihre grundrechtlichen Schranken verwiesen. Werden nämlich die Möglichkeiten des Prüflings, sich (nachträglich) auf Mängel im Prüfungsverfahren zu berufen, (zu) stark begrenzt, so kann es geschehen, dass dem Prüfling die Chance genommen wird, sein wahres Leistungsvermögen unter Beweis zu stellen; werden diese demgegenüber (zu) großzügig eingeräumt, besteht die Gefahr, dass sich der sein Prüfungs‑ ergebnis anfechtende Prüfling eine ihm in Wahrheit nicht zustehende weite‑ re Prüfungschance verschafft136. Im Hinblick auf die Statuierung der denkbaren Voraussetzungen für die Rü‑ geobliegenheit kann zunächst auf das Maß der (Un‑)Kenntnis des Prüflings bzw. der Prüfungsbehörde von den potentiell den Verfahrensmangel begrün‑ denden Umständen und ihrer rechtlichen Erheblichkeit abgestellt werden. Von diesen Prämissen ausgehend erschiene die Annahme einer Rügeob‑ liegenheit und vor allem des im Falle ihrer Nichtbeachtung damit unweiger‑ lich verbundenen Ausschlusses der späteren Einwendungen des Prüflings von der Prüfungsanfechtung bei vollständiger Tatsachen- und Rechtskennt‑ nis des Prüfungsamtes unverhältnismäßig. Denn ab dem Zeitpunkt der Kenntniserlangung bleibt für ein spekulatives Vorgehen des Prüflings kein 136 Vgl.
für den Fall des Rücktritts von der Prüfung BVerwGE 80, 282 (284).
B. Die (nachträgliche) Geltendmachung von Verfahrensfehlern169
Raum mehr. Von diesem Moment an hat es das Prüfungsamt in der Hand, nach (weiterer) Aufklärung des Sachverhalts einer ggf. vorliegenden Beein‑ trächtigung der Chancengleichheit aller oder einzelner Kandidaten durch die Anordnung von Kompensationsmaßnahmen zu begegnen. Zutreffend wird demgemäß eine Rüge des Prüflings zunächst für entbehr‑ lich gehalten bei allen äußeren Störungen des Prüfungsablaufs, die für je‑ dermann und damit auch für die vom Prüfungsamt eingesetzte(n) Auf sichtsperson(en) bzw. Prüfer erkennbar sind und deren (erheblicher) Einfluss auf die Leistungsfähigkeit der Prüflinge und somit die von ihnen erzielbaren Prüfungsergebnisse sich aufdrängt bzw. offenkundig nicht ausgeschlossen werden kann137. Gleichfalls von einer Rügeobliegenheit befreit ist der Prüf‑ ling aber auch dann, wenn die das Leistungsvermögen der Prüflinge beein‑ trächtigenden äußeren Umstände zwar objektiv nicht ohne Weiteres ersicht‑ lich waren, auf diese aber bereits ein Mitprüfling aufmerksam gemacht hatte und das Prüfungsamt diesen Hinweisen nachgegangen war138. Korres‑ pondierend mit den vorstehenden Erwägungen und der ausdrücklichen Re‑ gelung in einigen Prüfungsordnungen139 bedarf es auch der Anzeige der krankheitsbedingten Prüfungsverhinderung nicht, wenn die Prüfungsunfä‑ higkeit des Prüflings für jedermann ersichtlich ist. Aus den vorstehenden Überlegungen folgt umgekehrt, dass den Prüfling eine Rüge- bzw. Anzeigeobliegenheit trifft, wenn er seinerseits – im Gegen‑ satz zum Prüfungsamt – die den Verfahrensmangel begründenden Umstände kennt140 und sie rechtlich zutreffend als solchen eingeordnet hat. In diesem Fall ist die Prüfungsbehörde auf die Mitwirkung des Prüflings angewiesen141. Die Aufbürdung einer Rügeobliegenheit rechtfertigt sich hier daraus142, dass 137 Vgl. BVerwGE 94, 64 (72 f.); OVG NRW, Bes. v. 20.06.2003 – 14 E 203/02, juris, Rn. 10; Bes. v. 09.10.2008 – 14 A 3388/07, NWVBl 2009, 151 (151); VGH Mannheim, Bes. v. 16.08.2006 – 9 S 675/06, VBlBW 2007, 65 (65); VG Dresden, Bes. v. 27.11.2008 – 5 L 1866/08, juris, Rn. 17; VG Würzburg, Urt. v. 24.06.2009 – W 2 K 09./93, juris, Rn. 26; Birnbaum, NVwZ 2006, 286 (292); Niehues/Fischer/ Jeremias, Rn. 475. 138 Siehe zum Entfall der Rügeobliegenheit in dieser Konstellation BVerwGE 94, 64 (73); Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 481; Birnbaum, NVwZ 2006, 286 (292). 139 § 7 Abs. 2 Satz 2 SächsJAPO; § 10 Abs. 2 Satz 3 JAPO Bayern; § 9 Abs. 1 Satz 3 JAPO M-V. 140 Siehe zur erforderlichen Kenntnis als Voraussetzung für die Annahme einer Rügeobliegenheit VG Würzburg, Urt. v. 24.06.2009 – W 2 K 09.93, juris, Rn. 26; VG Dresden, Bes. v. 27.11.2008 – 5 L 1866/08, juris, Rn. 18; Niehues/Fischer/ Jeremias, Rn. 217; Birnbaum, NVwZ 2006, 286 (288); siehe auch Lindner, in: Geis, HSchR-Bayern, Kapitel II Rn. 148; Zimmerling/Brehm, Prüfungsrecht, Rn. 116. 141 BVerwGE 94, 64 (73). 142 Vgl. zur Annahme einer Rügeobliegenheit in den Fällen des nicht offenkun‑ digen Verfahrensfehlers BVerwGE 94, 64 (73); OVG NRW, Bes. v. 09.10.2008 – 14
170 Kap. 6: Möglichkeiten (gerichtlicher) Kontrolle der Prüfungsentscheidung
solche verdeckten Verfahrensmängel dem Prüfling die Chance zu einem rechtsmissbräuchlichen Verhalten bzw. zu einem spekulativen Vorgehen eröff‑ nen und damit der Chancengleichheit Gefahr droht. Der Prüfling muss daher das Seine dazu beitragen, dass die (zumindest auch) in seinem eigenen Inter‑ esse liegende Prüfung einen rechtsfehlerfreien Verlauf nimmt143. Zur Wahrung der Chancengleichheit der anderen Prüfungsteilnehmer ist dem Prüfling eine solche Mitwirkungsobliegenheit aber auch dann aufzuer‑ legen, wenn er aus den vorliegenden tatsächlichen und sinnlich erfassten Umständen den rechtlich zutreffenden Schluss des Vorliegens eines Verfah‑ rensmangels nur aufgrund einer Parallelwertung in der Laiensphäre gezogen hat. Denn in dieser Situation wäre dem Prüfling offenkundig gleichfalls die Möglichkeit eröffnet, sich für den Fall des Misslingens der Prüfung dadurch einen zusätzlichen Prüfungsversuch zu verschaffen, dass er einstweilen da‑ von absieht, sich auf den von ihm erkannten Verfahrensmangel zu berufen. Dies bedeutet, dass den Prüfling insbesondere auch dann eine Rügeoblie‑ genheit trifft, wenn während der Erbringung der Prüfungsleistung Mängel im Prüfungsverfahren auftreten bzw. von vornherein vorliegen, deren Be‑ achtlichkeit und Erheblichkeit nicht für jedermann ersichtlich ist, sondern von der subjektiven Wahrnehmung und Einschätzung durch den einzelnen Prüfungsteilnehmer abhängen144. In diese Fallgruppe gehören sowohl nicht ohne Weiteres erkennbare Beeinträchtigungen durch äußere oder krankheits‑ bedingte Einflüsse, nicht aber Verstöße gegen einschlägige – d. h. das Ver‑ fahren der Leistungsermittlung betreffende – Bestimmungen der Prüfungs‑ ordnung, die rein objektiv festzustellen sind. Gleichwohl ist der Prüfling in dieser Verfahrensfehlerkategorie von der Obliegenheit zur Rüge jedenfalls dann nicht befreit, wenn er aufgrund einer Parallelwertung in der Laien‑ sphäre im Gegensatz zum Prüfungsamt die sichere Erkenntnis des Vorlie‑ gens eines Prüfungsverfahrensfehlers gewonnen hat145. A 3388/07, NWVBl. 2009, 151 (151); Birnbaum, NVwZ 2006, 286 (292); Wortmann, NWVBl. 1992, 304 (309). 143 BVerwGE 69, 46 (49); 85, 323 (330); BVerwG, Bes. v. 15.01.1993 – 6 B 45/92, Buchholz 421.0 Nr. 310, S. 242 (244); BVerwG, Bes. v. 26.07.1996 – 6 B 25/96, Buchholz 421.0 Nr. 370, S. 146 (147); VG Sigmaringen, Bes. v. 02.03.2006 – 8 K 2294/05, juris, Rn. 41; Haase, in: Johlen/Oerder, MAH VerwR, § 16, Rn. 35. 144 Vgl. BVerwGE, 94, 64 (73); OVG NRW, Bes. v. 20.06.2003 – 14 E 203/02, juris, Rn. 10; Bes. v. 09.10.2008 – 14 A 3388/07, NWVBl. 2009, 151 (151); VG Dresden, Bes. v. 27.11.2008 – 5 L 1866/08, juris, Rn. 16; VG Würzburg, Urt. v. 24.06.2009 – W 2 K 09./93, juris, Rn. 26; Birnbaum, NVwZ 2006, 286 (292); Wortmann, NWVBl. 1992, 304 (309). 145 So auch Birnbaum, NVwZ 2006, 286 (289); wohl auch Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 217; großzügiger Wortmann, NWVBl. 1992, 304 (309): „Geltendmachung innerhalb der Anfechtungsfristen“.
B. Die (nachträgliche) Geltendmachung von Verfahrensfehlern171
Von der vorstehend beschriebenen Fallgruppe, in welcher der Prüfling jeweils (aufgrund einer natürlichen Betrachtung) Gewissheit von dem Vor‑ liegen eines Verfahrensmangels erlangt hat, sind diejenigen Fallkonstellati‑ onen zu unterscheiden, bei denen der Prüfling durch Einsatz all seiner Er‑ kenntniskräfte im Rahmen einer Parallelwertung in der Laiensphäre das Vorliegen eines Mangels im Prüfungsverfahren womöglich hätte erkennen können bzw. müssen, dessen Existenz aber allenfalls für möglich gehalten hat. Hier drängt sich die Annahme einer Rügeobliegenheit deshalb weniger auf, weil es in dem Fall der (grob) fahrlässigen Unkenntnis eines Verfah‑ rensmangels nicht in erster Linie darum geht, ein rechtsmissbräuchliches Verhalten des Prüflings zu unterbinden, das in diesem Fall nur noch dann in Betracht kommt, wenn sich der Prüfling der Erkenntnis des Vorliegens eines Verfahrensmangels bewusst verschließt. Vielmehr bleibt dem damit im Regelfall ebenso rechtsschutzbedürftigen, aber mit der Rügeobliegenheit belasteten Prüfling eine spätere Berufung auf den vermeintlichen Verfah‑ rensmangel zum Schutze der anderen Prüfungsteilnehmer primär deshalb versagt, weil sich dieser im Nachhinein schwerer aufklären lässt und die Gefahr des Ergehens einer materiell unrichtigen Entscheidung wächst. Trotzdem wird dem potentiell fehlerbelasteten Prüfling im Regelfall mit der Auferlegung einer Rügeobliegenheit auch in den Fällen der nur (grob) fahrlässigen Unkenntnis im Sinne des Kennenmüssens des Verfahrensman‑ gels nichts Unzumutbares abverlangt146. Das gilt im Besonderen für die Fälle einer durch eine äußere Einwirkung beeinträchtigten Leistungsfähig‑ keit, bei der ohnehin die tatsächliche und nicht die rechtliche Bewertung der relevanten Umstände im Vordergrund steht. So geht es bei äußeren Einwir‑ kungen auf den Prüfungsablauf letztlich im Wesentlichen nur darum, diese als (wesentliche) Störungen der Leistungs- bzw. Konzentrationsfähigkeit wahrzunehmen und sie dann als solche geltend zu machen. Wenn der Prüf‑ ling dies zum Zeitpunkt der Leistungserbringung unterlassen hat, stellt dies zudem ein starkes Indiz für eine unbeachtliche Beeinflussung des Leistungs‑ vermögens dar. Entsprechendes gilt für den Fall eines möglicherweise be‑ fangenen Prüfers während der (mündlichen) Prüfung nicht ohne Weiteres147. Hier wird die prinzipielle Rügeobliegenheit des Prüflings zwar ebenfalls bereits durch die Kenntnisnahme der vom Prüfling als unangemessen erach‑
146 Vgl. für den Fall einer (verspätet) geltend gemachten Prüfungsstoffüberschrei‑ tung VG Mainz, Urt. v. 21.03.2013 – 1 K 919/12.MZ, juris, Rn. 25; siehe dazu, dass für die Annahme einer Rügeobliegenheit grundsätzlich ein „Kennenmüssen“ des Verfahrensmangels ausreicht, VG Köln, Urt. v. 09.09.2010 – 6 K 3829/09, juris, Rn. 27. 147 Vgl. zu den Rügeobliegenheiten des Prüflings bei einer anzunehmenden Be‑ fangenheit des Prüfers Birnbaum, NVwZ 2006, 286 (293).
172 Kap. 6: Möglichkeiten (gerichtlicher) Kontrolle der Prüfungsentscheidung
teten Äußerungen des Prüfers ausgelöst148. Deren fehlende Beanstandung bereits während der Prüfung dürfte im Regelfall aber eher Ausdruck der berechtigten Sorge des Prüflings um die Folgen einer Rüge für den weiteren Prüfungsablauf149 und kein Anzeichen dafür sein, dass der Prüfling durch das Verhalten des Prüfers gar nicht belastet war. Als im Ergebnis rechtlich unbedenklich stellt sich ferner die gesetzlich teils ausdrücklich verankerte150 Annahme einer Obliegenheit des Prüflings zur Anzeige seiner Prüfungsverhinderung auch im Falle der (grob) fahrläs‑ sigen Unkenntnis seiner Prüfungsunfähigkeit dar. Denn auch hier steht die tatsächliche Feststellung seiner Erkrankung bzw. der sie begründenden Umstände und ihrer Auswirkungen auf seine Leistungsfähigkeit bzw. des Maßes ihrer Beeinträchtigung im Vordergrund. Zwar kann sich der Prüfling die für einen Prüfungsrücktritt bzw. eine äquivalente Erklärung erforderliche Gewissheit über seinen Gesundheitszustand und damit über seine Prüfungs‑ fähigkeit im Regelfall nur mit ärztlicher Hilfe und damit erst nach dem Zeitpunkt der Leistungserbringung verschaffen. Gesundheitliche Beeinträch‑ tigungen während der Prüfung kann er aber grundsätzlich ohne Weiteres und im Falle ihrer häufig fehlenden äußeren Erkennbarkeit (auch) nur selbst wahrnehmen, deren Folgen für seine Prüfungsfähigkeit er wiederum jeden‑ falls im Sinne einer Parallelwertung in der Laiensphäre151 beurteilen kann. Es erscheint daher entsprechend den ihrem wesentlichen Inhalt nach bereits dargestellten und verfassungsrechtlich somit nicht zu beanstandenden ge‑ setzlichen Regelungen ohne Weiteres gerechtfertigt, es dem Prüfling zur Obliegenheit zu machen, bei Anhaltspunkten für eine krankheitsbedingte Beeinträchtigung seiner Leistungsfähigkeit diesbezüglich unverzüglich eine Klärung herbeizuführen152 und eine ärztlicherseits sodann festgestellte Prü‑ fungsunfähigkeit ebenfalls umgehend gegenüber dem Prüfungsamt (in der in der Prüfungsordnung vorgesehenen Form) geltend zu machen. Im besonderen Maße rechtfertigungsbedürftig erscheint demgegenüber die Belastung des Prüflings mit einer Rügeobliegenheit bei Unregelmäßig‑ Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 347. insoweit bereits Guhl, S. 204 f.; Zimmerling/Brehm, Prüfungsrecht, Rn. 294; Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 349. 150 Vgl. § 9 Abs. 2 Satz 1 JAPO M-V; § 25 Abs. 5 Satz 1 JAPG Bremen; § 7 Abs. 4 Satz 3 ThürJAPO. 151 Vgl. BVerwG, Bes. v. 05.10.1990 – 7 B 139/90, juris, Rn. 2; Bes. v. 22.09.1993 – 6 B 36/93; Buchholz 421.0 Nr. 318, 302 (302); OVG Sachsen, Bes. v. 02.09.2008 – 4 B 104/07, juris, Rn. 7; VG Dresden, Urt. v. 28.12.2010 – 5 L 583/10, juris, Rn. 36; OVG NRW, Bes. v. 07.11.2012 – 14 A 2325/11, juris, Rn. 11; BayVGH, Bes. v. 03.07.2013 – 7 ZB 13.891, juris, Rn. 10; Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 288. 152 § 9 Abs. 2 Satz 2 JAPO M-V; § 25 Abs. 5 Satz 2 JAPG Bremen; VG Stuttgart, Urt. v. 14.11.2003 – 10 K 2206/03, juris, Rn. 21; VG Freiburg, Urt. v. 20.10.2004 – 2 K 630/04, juris, Rn. 19; siehe allgemein auch Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 266. 148 Ähnlich 149 Siehe
B. Die (nachträgliche) Geltendmachung von Verfahrensfehlern173
keiten des Prüfungsgeschehens, die aus einem Verstoß gegen einschlägige – also das Verfahren der Leistungsermittlung betreffende – Bestimmungen der maßgeblichen Prüfungsordnung resultieren. Die daraus entstehenden Verfah‑ rensmängel (z. B. Über- oder Unterschreitung der Prüfungsdauer, Prüfungs‑ stoffüberschreitung, kraft Gesetzes von der Mitwirkung ausgeschlossene Prüfer153) liegen im alleinigen Verantwortungsbereich des Prüfungsamtes, das kraft seiner Verfahrensherrschaft bei der Durchführung der Prüfung namentlich für die Einhaltung des in der Prüfungsordnung normierten Prü‑ fungsverfahrensrechts im engeren Sinne Sorge zu tragen hat. Die Feststel‑ lung von Verstößen gegen diese gesetzlichen Verfahrensbestimmungen er‑ fordert zudem im Schwerpunkt eine – nicht selten komplexe154 – rechtliche Begutachtung bzw. Bewertung. Während diese von den (hoch‑)qualifizierten Mitarbeitern des Prüfungsamtes meist schon vor dem Zeitpunkt der Leis‑ tungsermittlung ohne Weiteres vorgenommen werden kann, ist dem Prüfling zum Zeitpunkt der Leistungserbringung und mitunter selbst nach der Prü‑ fung eine (abschließende) rechtliche Beurteilung unmöglich155. Dies soll nachfolgend an dem praktisch bedeutsamen Referenzfall der Prüfungsstoffüberschreitung aufgezeigt werden. Für deren Feststellung mangelt es dem Prüfling während der mündlichen Prüfung und der Anfer‑ tigung der Aufsichtsarbeiten – anderes gilt für die Anfertigung einer Haus‑ arbeit im Rahmen einer universitären Prüfung – im Regelfall an der Kenntnis des Maßstabs, an dem die sich bei der Auslegung der Prüfungs‑ aufgabe ergebenden Prüfungsanforderungen zu messen sind. Häufig steht ihm schon der Gesetzestext der einschlägigen Prüfungsordnung, in dem die zulässigen Prüfungsgegenstände festgelegt sind, nicht zur Verfügung. Im Übrigen sind die in ihm enthaltenen Rechtsbegriffe durch verwaltungsge‑ richtliche Entscheidungen konkretisiert worden, deren Inhalt der Prüfling meist nicht kennen wird, und auf die er während der Prüfung keinen Zu‑ griff hat. Nach der Prüfung könnte sich der Prüfling ggf. unter Inanspruchnahme sachverständiger Hilfe die für eine abschließende rechtliche Beurteilung erforderlichen Rechtskenntnisse verschaffen; zu diesem Zeitpunkt liegt ihm aber die Prüfungsaufgabe nur noch in der Erinnerung vor, die ihm dann erst im Rechtsbehelfsverfahren wieder zur Verfügung gestellt wird. Rechtsklar‑ 153 Vgl. zu diesen Mängeln und deren Einordnung auch VG Dresden, Urt. v. 08.11.2012 – 5 K 1464/10, n. v., UA S. 16. 154 Vgl. Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 217; siehe für den Fall einer Prüfungs‑ stoffüberschreitung VG Dresden, Urt. v. 08.11.2012 – 5 K 1464/10, n. v., UA S. 16; exemplarisch insoweit VG Dresden, Urt. v. 22.03.2012 – 5 K 1327/10, juris, Rn. 37 ff. 155 Vgl. im Ergebnis auch VG Dresden, Urt. v. 08.11.2012 – 5 K 1464/10, n. v., UA S. 16.
174 Kap. 6: Möglichkeiten (gerichtlicher) Kontrolle der Prüfungsentscheidung
heit über das Vorliegen einer Prüfungsstoffüberschreitung kann der Prüfling somit im Regelfall erst nach der Bekanntgabe der Prüfungsergebnisse ge‑ winnen156. Dieser Umstand schließt es zwar nicht von vornherein aus, dass ihm dieser Prüfungsverfahrensfehler während oder zeitnah nach der Prüfung durch eine Parallelwertung in der Laiensphäre in den Sinn kommt. Aller‑ dings erschweren die rechtlichen Schwierigkeiten der Feststellung eines Prüfungsverfahrensfehlers im Allgemeinen und einer Prüfungsstoffüber‑ schreitung im Besonderen dem Prüfling auch eine Parallelwertung in der Laiensphäre. Zudem ist es wahrscheinlicher, dass der Prüfling in der ange‑ spannten Prüfungssituation, in der er sich zur Bewältigung einer Prüfungs‑ aufgabe nicht in der Lage sieht und daher erheblichem Leistungsdruck und Prüfungsstress ausgesetzt ist, die Ursache (zunächst) eher in der eigenen Leistungsschwäche denn in unzulässigen Prüfungsanforderungen begründet sieht. Die notwendige Konzentration auf das Prüfungsgeschehen und die damit einhergehenden psychischen Belastungen dürften auch der rationalen Feststellung von anderen Verstößen gegen die Prüfungsordnung durch den Prüfling einstweilen entgegenstehen157. Dass diese Einschätzung der Prüfungswirklichkeit entsprechen bzw. je‑ denfalls sehr nahe kommen dürfte, wird für den Fall einer als Prüfungsan‑ fechtungsgrund geltend gemachten Prüfungsstoffüberschreitung dadurch bestätigt, dass sich der Prüfling auf diese ausweislich der bislang in der Rechtsprechung ergangenen Entscheidungen erstmals nach Erbringung der Leistung und deren Bewertung im Prüfungsanfechtungsverfahren berufen hat158. Während es nach alledem dem Prüfling jedenfalls erhebliche Schwierig‑ keiten bereitet, einen Prüfungsverfahrensfehler während der Prüfung fest‑ zustellen, hat es das Prüfungsamt im Prinzip (allein) in der Hand, einen Verstoß gegen die Prüfungsordnung schon zu vermeiden und die Chancen‑ gleichheit aller Prüflinge während der Leistungserbringung sicherzustellen. Daraus folgt, dass die Statuierung überhöhter Rügeobliegenheiten bei Verfahrensfehlern im engeren Sinne dem Prüfling daher zu Unrecht die Verantwortung für ein ordnungsgemäßes Prüfungsverfahren und damit die 156 Siehe zu den Schwierigkeiten für den Prüfling, eine Prüfungsstoffüberschrei‑ tung festzustellen, Zimmerling/Brehm, DVBl. 2012, 265 (271). 157 Vgl. zu diesem Gesichtspunkt auch BVerwGE 31, 190 (192). 158 Siehe OVG NRW, Bes. v. 10.09.2009 – 14 B 1009/09, juris, Rn. 12; VG Ansbach, Bes. v. 24.02.2005 – AN 2 K 04.01.01309, juris, Rn. 20; VG Augsburg, Urt. v. 10.02.2006 – Au 3 K 05.693, BeckRS 2006, 33076; VG Köln, Urt. v. 09.09.2010 – 6 K 3829/09, juris, Rn. 21; VG Dresden, Urt. v. 08.11.2012 – 5 K 1464/10, n. v., UA S. 8; VG Mainz, Urt. v. 21.01.2013 – 1 K 919/12.MZ, juris, Rn. 10.
B. Die (nachträgliche) Geltendmachung von Verfahrensfehlern175
an sich allein beim Prüfungsamt liegende Verfahrensherrschaft übertragen würde. Auf der anderen Seite ginge es aber zu weit, den Prüfling deswegen von jeder Rügeobliegenheit freizustellen, da mit dem zunehmenden Grad der Kenntnis des Prüflings von dem Vorliegen eines Verfahrensmangels der Schutz der Chancengleichheit der anderen Prüflinge umso mehr auf Ver‑ wirklichung drängt. Es ist daher eine sorgsame Abwägung zwischen dem Interesse des potentiell rügebelasteten Prüflings an einer zeitlich unbegrenz‑ ten Möglichkeit der Einwendung eines Prüfungsverfahrensfehlers im enge‑ ren Sinne und dem legitimen Anliegen der anderen Prüfungsteilnehmer einer auch faktischen Begrenzung der Wiederholungsversuche unter Berücksich‑ tigung der Wächterfunktion des Prüfungsamtes für den allen Prüfungsteil‑ nehmern zur Seite stehenden Chancengleichheitsgrundsatz vorzunehmen. Zur Vermeidung untragbarer oder umgekehrt zur Erzielung angemessener Ergebnisse erscheint es daher geboten, für die Frage des Bestehens einer Rügeobliegenheit des Prüflings eine an dem Maß seiner (Un‑)Kenntnis von dem Vorliegen eines Verfahrensmangels orientierte, differenzierte Betrach‑ tung vorzunehmen. Dabei erscheint es im Ausgangspunkt in Analogie zu der gesetzlichen Regelung der Mitwirkungsobliegenheit des Prüflings im Falle einer (objektiv) feststellbaren Erkrankung angemessen, dem Prüfling bereits bei (greifbaren) und von ihm auch festgestellten Anhaltspunkten für das Vorliegen eines Prüfungsverfahrensfehlers im engeren Sinne und gleich‑ zeitig erkannter Unwissenheit des Prüfungsamtes eine Rügeobliegenheit aufzuerlegen. Von praktischer Bedeutung ist diese aber insoweit nicht, als man dem Prüfling bei der nachträglichen Geltendmachung eines Prüfungsverfahrens‑ fehlers im Regelfall nicht wird nachweisen können, dass er jedenfalls Zwei‑ fel an der Einhaltung der Bestimmungen der Prüfungsordnung hatte. Anders ist dies nur dann, wenn der Vortrag des Prüflings im Widerspruchs- bzw. Klageverfahren dies erkennen lässt. Darin unterscheidet sich die Fehlerka‑ tegorie des Prüfungsverfahrensfehlers wesentlich von den anderen behandel‑ ten Erscheinungsformen des Verfahrensmangels. Denn bei einer später gel‑ tend gemachten äußeren Einwirkung oder einer Befangenheit des Prüfers und im Regelfall auch einer eingewendeten Erkrankung, bei der im Übrigen auf deren frühzeitige Erkenntnis aber auch aus dem ärztlichen Attest ge‑ schlossen werden kann, muss der Prüfling einräumen, von den Beeinträch‑ tigungen jedenfalls im Ansatz gewusst zu haben. Die Rechtsprechung löst diese (Beweis‑) Problematik schlicht dadurch, dass sie die fehlende bzw. nicht erwiesene Kenntnis des Prüflings bzw. je‑ denfalls die Möglichkeit der Kenntniserlangung im Ergebnis schlicht fin‑ giert. Dies soll wiederum an dem Referenzfall der erst im Prüfungsanfech‑ tungsverfahren als Prüfungsverfahrensfehler geltend gemachten und von den Gerichten auch unter diesem Gesichtspunkt behandelten Prüfungsstoffüber‑
176 Kap. 6: Möglichkeiten (gerichtlicher) Kontrolle der Prüfungsentscheidung
schreitung aufgezeigt werden. In den einschlägigen Entscheidungen159 konnte dem Prüfling weder die Kenntnis des Verfahrensmangels noch auch nur dessen Kennenmüssen aufgrund bestehender Zweifel160 an der Konfor‑ mität der Prüfungsanforderungen mit dem einschlägigen Justizprüfungsrecht nachgewiesen werden. Er konnte vielmehr jeweils schlüssig und nachvoll‑ ziehbar darlegen, dass er die Prüfungsstoffüberschreitung erst nach der Leistungserbringung und Bekanntgabe des Prüfungsergebnisses habe fest‑ stellen können161 bzw. von dieser erst durch seinen (Prozess‑)Bevollmächtigten erfahren habe162. Dessen ungeachtet ist der Prüfling mit seiner erst nach Ergebnisbekanntgabe erhobenen und auf die Unzulässigkeit des Prüfungs‑ stoffes abzielenden Rüge von den Gerichten bisher übereinstimmend als präkludiert angesehen worden163. Dabei wird zur Rechtfertigung des ange‑ nommenen Rügeausschlusses im Ausgangspunkt wie üblich auf den gebote‑ nen Schutz der Chancengleichheit der anderen Prüfungsteilnehmer verwie‑ sen164 und (wohl) zur bestmöglichen Wahrung derselben im Ergebnis eine von jedem Grad der Erkenntnis unabhängige Rügeobliegenheit des potenti‑ ell fehlerbelasteten Prüflings angenommen. Diese Konsequenz tritt beson‑ ders deutlich hervor, wenn mit dem Rügeerfordernis ausdrücklich die Möglichkeit der nachträglichen Geltendmachung eines während der Leis‑ tungserbringung objektiv erkennbaren Verfahrensmangels ausgeschlossen werden soll165. Bei diesem Ansatz kann man bereits daran zweifeln, ob überhaupt noch ein kognitives Element auf Seiten des Prüflings als erforderlicher Anknüp‑ fungspunkt für einen Fahrlässigkeitsvorwurf verlangt wird. Ganz offensicht‑ 159 OVG NRW, Bes. v. 10.09.2009 – 14 B 1009/09, juris; VG Ansbach, Bes. v. 24.02.2005 – AN 2 K 04.01.01309, juris; VG Mainz, Urt. v. 21.03.2013 – 1 K 919/12.MZ, juris. 160 Die vom VG Mainz, Urt. v. 21.03.2013 – 1 K 919/12.MZ, juris, Rn. 26, und vom VG Ansbach, Bes. v. 24.02.2005 – AN 2 K 04.01.01309, juris, Rn. 42, im theoretischen Ausgangspunkt zutreffend als ausreichend erachtet werden. 161 So im Fall des VG Mainz, Urt. v. 21.03.2013 – 1 K 919/12.MZ, juris, Rn. 26. 162 Siehe OVG NRW, Bes. v. 10.09.2009 – 14 B 1009/09, juris, Rn. 12; VG Ansbach, Bes. v. 24.02.2005 – AN 2 K 04.01.01309, juris, Rn. 20; siehe dazu, dass die spätere Feststellung (durch den Bevollmächtigten) den Regelfall darstellt, Zimmerling/Brehm, DVBl. 2012, 265 (271). 163 OVG NRW, Bes. v. 10.09.2009 – 14 B 1009/09, juris, Rn. 12; VG Ansbach, Bes. v. 24.02.2005 – AN 2 K 04.01.01309, juris, Rn. 41 f.; VG Mainz, Urt. v. 21.03.2013 – 1 K 919/12.MZ, juris, Rn. 27 f.; anders nur VG Dresden, Urt. v. 08.11.2012 – 5 K 1464/10, n. v., das allerdings die Prüfungsstoffüberschreitung schon nicht als Verfahrensmangel einordnet. 164 OVG NRW, Bes. v. 10.09.2009 – 14 B 1009/09, juris, Rn. 12; VG Ansbach, Bes. v. 24.02.2005 – AN 2 K 04.01.01309, Rn. 41; VG Mainz, Urt. v. 21.03.2013 – 1 K 919/12.MZ, juris, Rn. 27 f. 165 OVG NRW, Bes. v. 10.09.2009 – 14 B 1009/09, juris, Rn. 12.
B. Die (nachträgliche) Geltendmachung von Verfahrensfehlern177
lich soll dessen Fehlen der Annahme einer Rügeobliegenheit aber nicht entgegenstehen. Aber auch wenn im Kontext mit deren Legitimation jeden‑ falls von dem verantwortungsbewussten Prüfling verlangt wird, dass er sich im Anschluss an die Prüfungsablegung bewusst wird, ob er sich vorschrifts‑ widrig gehindert gesehen hat, eine adäquate Leistung zu erbringen166, wird in Wahrheit ebenfalls die objektive Erkennbarkeit der Prüfungsstoffüber‑ schreitung als ausreichend erachtet und nur scheinbar ein Kennenmüssen verlangt. Denn wenn der Prüfling während der Leistungserbringung keiner‑ lei Zweifel an der Zulässigkeit des Prüfungsstoffes hatte, besteht auch kei‑ nerlei Veranlassung für ihn, nach der Prüfung der Frage des Vorliegens einer Prüfungsstoffüberschreitung (weiter) nachzugehen. Letztlich laufen also beide der im vorliegenden Kontext vorzufindenden und aufgezeigten Legi‑ timationsansätze darauf hinaus, dass dem Prüfling eine subjektive Erkenn‑ barkeit der Prüfungsstoffüberschreitung während bzw. (kurz) nach der Leistungserbringung unterstellt und ihm deshalb die nachträgliche Berufung auf diese versagt wird. Dies ist allein deshalb nicht überzeugend, weil der Umstand, dass das Prüfungsamt bei der Auswahl der Prüfungsaufgabe die Unzulässigkeit der sich aus ihr ergebenden Leistungsanforderungen nicht erkannt hat, und die‑ se während der Leistungserbringung auch von keinem anderen Prüfling eingewendet worden ist, ein starkes Indiz dafür ist, dass sie tatsächlich nicht ohne Weiteres festgestellt und daher auch von dem sich nachträglich auf die Prüfungsstoffüberschreitung berufenden Prüfling (zunächst) nicht erkannt werden konnte. Damit spricht auch viel dafür, dass dem Prüfling im Regelfall die Mög‑ lichkeit zu einem spekulativen Vorgehen dergestalt, dass er die Berufung auf die vermutete Prüfungsstoffüberschreitung zunächst von dem Prüfungs‑ ergebnis abhängig macht, gar nicht erst eröffnet ist, und der Chancengleich‑ heit der anderen Prüfungsteilnehmer daher unter diesem Gesichtspunkt kaum Gefahr droht. Entgegen der im vorliegenden Zusammenhang für eine Rügepräklusion eintretenden Gerichte167 drängen auch die anderen mit der Rügeobliegenheit üblicherweise verfolgten Zwecke nicht auf Verwirkli‑ chung. Denn ob eine Überschreitung des Prüfungsstoffes vorgelegen hat, lässt sich auch noch Jahre später mit Sicherheit feststellen168. Die Gefahr 166 VG Mainz, Urt. v. 21.03.2013 – 1 K 919/12.MZ, juris, Rn. 26; VG Ansbach, Bes. v. 24.02.2005 – AN 2 K 04.01.01309, juris, Rn. 42. 167 VG Mainz, Urt. v. 21.01.2013 – 1 K 919/12.MZ, juris, Rn. 23 ff.; VG Köln, Urt. v. 09.09.2010 – 6 K 3829/09, juris, Rn. 25 f.; OVG NRW, Bes. v. 10.09.2009 – 14 B 1009/09, juris, Rn. 12; VG Ansbach, Bes. v. 24.02.2005 – AN 2 K 04.01309, juris, Rn. 34 ff. 168 Vgl. VG Dresden, Urt. v. 08.11.2012 – 5 K 1464/10, n. v., UA S. 16. Diesen hat auch das VG Ansbach, Bes. v. 24.02.2005 – AN 2 K 04.01.01309, juris, Rn. 33,
178 Kap. 6: Möglichkeiten (gerichtlicher) Kontrolle der Prüfungsentscheidung
einer materiell unrichtigen Entscheidung zugunsten des potentiell rügebelas‑ teten Prüflings und zulasten der Chancengleichheit der anderen Prüflinge besteht hier also von vornherein nicht. Es liegt somit keineswegs auf der Hand, dass die Prüfungsbehörde nur bei einer zeitnahen Geltendmachung einer Prüfungsstoffüberschreitung in die Lage versetzt werde, dieser nach‑ zugehen und darauf in einer Form zu reagieren, die das Prüfungsgeschehen möglichst wenig beeinträchtigt169. Was die hier mit dem zweiten Aspekt angesprochenen Kompensations‑ möglichkeiten anbelangt, so ist zunächst festzuhalten, dass wie bei jedem Verfahrensmangel auch bei einer Prüfungsstoffüberschreitung letztlich nur die Wiederholung des fehlerbelasteten Prüfungsteils in Betracht kommt. Da das Prüfungsamt diese – was gesetzlich teils ausdrücklich geregelt ist170 – auch noch nach Bewertung der fehlerhaft ermittelten Prüfungsleistung und Bekanntgabe der Prüfungsergebnisse zugunsten bzw. je nach Sichtweise auch zulasten aller Prüfungsteilnehmer anordnen kann, ist nicht ersichtlich, weshalb allein eine frühzeitige Kompensation des Verfahrensmangels die Chancengleichheit wahren soll. Diese ist aber selbst dann nicht verletzt, wenn nur dem seine Prüfungsentscheidung anfechtenden Prüfling die Neu‑ erbringung der bemakelten Prüfungsleistung gewährt wird. Zwar erlangt er dadurch im Vergleich zu seinen Mitprüflingen in demselben Prüfungsdurch‑ gang einen Vorteil, die bei gleicher Sachlage davon abgesehen haben, diese anzugreifen. Entscheidend ist aber, dass auch sie die Chance gehabt hätten, den Verfahrensmangel im Rahmen einer Prüfungsanfechtung erfolgreich geltend zu machen171. Während damit im Ergebnis eine nicht durch eine Rügeobliegenheit be‑ grenzte Möglichkeit zur Einwendung einer Prüfungsstoffüberschreitung die Chancengleichheit der anderen Prüflinge kaum berührt, ist der potentiell fehlerbelastete Prüfling in diesem Recht ganz erheblich beeinträchtigt, wenn sich im Nachhinein herausstellt, dass die gesetzlichen Vorgaben für die Auswahl der Prüfungsaufgabe tatsächlich missachtet worden sind. Sein be‑ ohne Weiteres feststellen können. Zimmerling/Brehm, DVBl. 2012, 265 (271); vgl. in diesem Zusammenhang auch Birnbaum, NVwZ 2006, 286 (291). 169 So aber VG Mainz, Urt. v. 21.01.2013 – 1 K 919/12.MZ, juris, Rn. 27; VG Ansbach, Bes. v. 24.02.2005 – AN 2 K 04.01309, juris, Rn. 41. 170 Siehe § 9 Abs. 1 ThürJAPO; § 12 Abs. 1 JAPO Bayern; § 10 Abs. 1 Sächs JAPO. 171 Vgl. BVerwGE 109, 211 (219). In dieser Fallkonstellation erschöpft sich die dirigierende Kraft des Chancengleichheitsgrundsatzes – da die materielle Chancen‑ gleichheit nicht berührt ist – tatsächlich in der Forderung nach der formalen Gleich‑ behandlung all derjenigen Prüflinge, die sich in vergleichbarer Sachlage befinden; vgl. insoweit hier zutreffend, aber allgemein zu eng, Zimmerling/Brehm, Prüfungs‑ recht, Rn. 435.
B. Die (nachträgliche) Geltendmachung von Verfahrensfehlern179
rechtigtes Interesse an einer Entfaltung seiner wahren Leistungsfähigkeit muss dann nämlich zugunsten der Chancengleichheit der anderen Prüfungs‑ teilnehmer vollständig zurücktreten. Und dies letztlich nur deshalb, weil dem Prüfungsamt ein zunächst auch von keinem anderen bemerkter Fehler unterlaufen ist, bei dessen gebotener Vermeidung jegliche Gefahr für die Chancengleichheit von vornherein unterbunden worden wäre. Sofern man bei dieser Sachlage wie die bislang vorherrschende Rechtsprechung den‑ noch zur Annahme einer letztlich von jedem Grad der (Er‑)Kenntnis des Prüflings unabhängigen Rügeobliegenheit gelangt, stellt dies alles andere als das Ergebnis einer sorgsamen Abwägung der betroffenen Interessen dar. Bei dieser ist es entgegen dem VG Ansbach172 keineswegs ohne Belang, dass der in der Prüfungsstoffüberschreitung liegende Mangel aus der Sphäre des Prüfungsamtes stammt. Richtigerweise ist in den Fällen der dem Prüfungsamt fehlenden Kenntnis und dem Prüfling nicht nachweisbaren Möglichkeit der Kenntnisnahme von dem Vorliegen eines Verfahrensmangels zum Zeitpunkt der Leistungserbrin‑ gung hinsichtlich der Frage des Bestehens einer Rügeobliegenheit des Prüf‑ lings allgemein eine sphären- und verantwortungsbereichsorientierte Diffe‑ renzierung anhand der Typizität des jeweiligen Verfahrensmangels vorzu‑ nehmen173. Da wie ausgeführt ein Prüfungsverfahrensmangel im engeren Sinne aus dem alleinigen Verantwortungsbereich des Prüfungsamtes stammt und der Prüfling zunächst einmal davon ausgehen darf, dass die ihm abver‑ langen Prüfungsleistungen prüfungsordnungskonform sind174, kann nicht dessen Obliegenheit angenommen werden, sich schon vor Leistungserbrin‑ gung über den Inhalt der geltenden Rechtsvorschriften zu informieren und die Ausgestaltung des Prüfungsverfahrens im engeren Sinne an diesen zu messen175. Im Übrigen bleibt für einen Rügeausschluss nur dann Raum, wenn dem Prüfling nachgewiesen werden kann, dass er bereits wesentlich vor der Einwendung der Prüfungsstoffüberschreitung – namentlich schon zum Zeitpunkt der Leistungserbringung – Anhaltspunkte für deren Vorliegen festgestellt hat176. Anderenfalls würde dem Prüfling zu Unrecht die Verant‑ 172 VG
Ansbach, Bes. v. 24.02.2005 – AN 2 K 04.01309, juris, Rn. 41. Birnbaum, NVwZ 2006, 286 (289); Niehues/Fischer/Jeremias,
173 Ähnlich
Rn. 217. 174 Vgl. HessVGH, Urt. v. 29.04.2010 – 8 A 3247/09, LKRZ 2010, 471 (473); VGH Mannheim, Urt. v. 10.03.2015, juris, Rn. 33 ff.; Zimmerling/Brehm, DVBl. 2012, 265 (271). 175 So aber VG Mainz, Urt. v. 21.01.2013 – 1 K 919./12, juris, Rn. 25; VG Ans‑ bach, Bes. v. 24.02.2005 – AN 2 K 04.01.01309, juris, Rn. 42; ähnlich wie hier jetzt VGH Mannheim, Urt. v. 10.03.2015, juris, Rn. 33 ff. 176 In diese Richtung auch Zimmerling/Brehm, Prüfungsrecht, Rn. 116, die zu Recht die Notwendigkeit einer (unverzüglichen) Rüge des Prüflings bei einer Prü‑
180 Kap. 6: Möglichkeiten (gerichtlicher) Kontrolle der Prüfungsentscheidung
wortung für ein ordnungsgemäßes Prüfungsgeschehen aufgebürdet. Eine entsprechende Begrenzung der Rügeobliegenheit muss auch für andere Prüfungsverfahrensfehler im engeren Sinne gelten. Umgekehrt geht es in Verfolgung des hier entwickelten Sphärengedan‑ kens zulasten des Prüflings, wenn er nicht nachweisen kann, dass er zum Zeitpunkt der Leistungserbringung prüfungsunfähig erkrankt war und dies erst wesentlich später hat feststellen können. Damit kann zusammenfassend festgehalten werden, dass den Prüfling im Ausgangspunkt eine Rüge- bzw. Anzeigeobliegenheit bei allen dem Prü‑ fungsamt verborgen gebliebenen, ihm aber bekannten oder auch nur erkenn‑ baren Verfahrensmängeln trifft, eine Rügepräklusion aber nur dann legiti‑ mierbar ist, wenn dem Prüfling sein Kenntnisvorsprung nachgewiesen werden kann, was (allein) bei den Prüfungsverfahrensfehlern im engeren Sinne regelmäßig nicht der Fall ist. Kommt der Prüfling seinen dargestellten Mitwirkungsobliegenheiten nach und macht er einen Verfahrensmangel geltend, begründet die Mängelrüge wiederum eine Handlungspflicht der Prüfungsbehörde zur Beseitigung der Störung und / oder zu deren Ausgleich177, während bei einer ordnungsgemä‑ ßen Anzeige und einer tatsächlich bestehenden Prüfungsverhinderung des Prüflings diese allein anzuerkennen ist. Mit der erfolgten Rüge bzw. Anzei‑ ge des Verfahrensmangels hat der Prüfling damit im Prinzip seinen erfor‑ derlichen Beitrag dafür geleistet, dass das Prüfungsgeschehen einen ord‑ nungsgemäßen Verlauf nimmt. Fraglich ist aber, ob die Rügeobliegenheit des Prüflings wiederauflebt, wenn er einen Verfahrensmangel bereits geltend gemacht hatte, er die vom Prüfungsamt daraufhin angeordneten Kompensationsmaßnahmen aber für nicht ausreichend hält. Diese Frage, die sich im Prinzip sowohl bei der schriftlichen als auch bei der mündlichen Prüfung stellen kann, erscheint noch nicht abschließend beantwortet. Soweit in der Literatur zu dieser über‑ haupt ausdrücklich Stellung bezogen wird178, wird angenommen, dass den Prüfling auch bei als nicht hinlänglich empfundenen Ausgleichsmaßnahmen eine (erneute) Rügeobliegenheit trifft179. Ebenso ist in der instanzgerichtli‑ fungsstoffüberschreitung ablehnen. Noch deutlicher jetzt Zimmerling/Brehm, DVBl. 2012, 265 (271). Siehe zur Verneinung eines rechtsmissbräuchlichen Verhaltens des Prüflings bei fehlender Kenntnis des Verfahrensmangels für den Fall der Erkrankung auch VG Dresden, Urt. v. 28.12.2010 – 5 L 583/10, juris, Rn. 36. 177 OVG NRW, Bes. v. 09.10.2008 – 14 A 3388/07, NWVBl 2009, 151 (151); Wortmann, NWVBl. 1992, 304 (309). 178 Unklar insoweit sowohl Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 481, als auch Birnbaum, NVwZ 2006, 286 (292). 179 Haase, in: Johlen/Oerder, MAH VerwR, § 16, Rn. 122; Lampe, S. 138.
B. Die (nachträgliche) Geltendmachung von Verfahrensfehlern181
chen Rechtsprechung – eine höchstrichterliche Klärung der Problematik steht noch aus – bisher übereinstimmend der Rechtsstandpunkt eingenom‑ men worden, dass den Prüfling im Falle einer für unzureichend gehaltenen Kompensationsmaßnahme die Obliegenheit treffe, seine Bedenken der Prü‑ fungsbehörde mitzuteilen180. Zur Begründung ist dabei angeführt worden, dass das Prüfungsamt nicht gehalten sei, die von ihm gewählte Ausgleichs‑ maßnahme infrage zu stellen. Es könne vielmehr davon ausgehen, dass der aufgetretene Verfahrensfehler durch die gewählte Ausgleichsmaßnahme be‑ hoben sei181. Diese Sichtweise der Rechtsprechung vermag nicht zu überzeugen. Da die Verfahrensherrschaft wie dargestellt bei der Prüfungsbehörde liegt, ist es daher in erster Linie deren Aufgabe, für die Durchführung eines ordnungs‑ gemäßen Prüfungsverfahrens zu sorgen. Eine Mitwirkungsobliegenheit trifft den Prüfling nur in den hier aufgezeigten Grenzen. Kommt er dieser nach, begründet die Rüge des Prüflings wie dargelegt wiederum eine Handlungs‑ pflicht der Behörde182. Diese hat es dann in der Hand, durch die Anordnung der richtigen Ausgleichsmaßnahme die Chancengleichheit für alle Prüfungs‑ teilnehmer wiederherzustellen. Es geht dann nicht darum, dass das Prü‑ fungsamt von vornherein die im Rahmen seiner Verfahrensherrschaft getrof‑ fene (Auswahl‑)Entscheidung infrage stellen soll. Wenn es sich allerdings im Rahmen derselben für eine bestimmte Ausgleichsmaßnahme entschieden hat, weil es diese – etwa eine Schreibzeitverlängerung nach einer aufgetre‑ tenen Lärmstörung – nach Würdigung der Umstände des Einzelfalles zur Wiederherstellung der Chancengleichheit für ausreichend erachtet, muss sie insoweit das Risiko tragen, dass im Rahmen eines späteren vom Prüfling angestrengten Verwaltungsprozesses der geschaffene Ausgleich auf eine entsprechende Einwendung hin für unzureichend erklärt wird. Diese Risikoverteilung erscheint insbesondere auch deshalb angemessen, weil das Prüfungsamt im Gegensatz zum Prüfling langjährige Erfahrungen mit der Auswahl und Bestimmung von (angemessenen) Kompensationsmaß‑ nahmen hat und die einschlägige Judikatur dazu kennt bzw. kennen muss. Angesichts dessen macht es aus der Perspektive des Prüflings auch keinen Sinn, die Entscheidung der Behörde infrage zu stellen und mit ihr in Dis‑ kussionen über die Angemessenheit der getroffenen Ausgleichsmaßnahme einzusteigen. Solche – und dies ist letztlich der entscheidende Gesichts‑ 180 Vgl. VG Sigmaringen, Bes. v. 02.03.2006 – 8 K 2294/05, juris, Rn. 38; VG Stuttgart, Urt. v. 18.10.2002 – 10 K 4484/01, juris, Rn. 27. 181 Siehe zum Ganzen VG Sigmaringen, Bes. v. 02.03.2006 – 8 K 2294/05, juris, Rn. 38. 182 OVG NRW, Bes. v. 09.10.2008 – 14 A 3388/07, NWVBl. 2009, 151 (151); Wortmann, NWVBl. 1992, 304 (309).
182 Kap. 6: Möglichkeiten (gerichtlicher) Kontrolle der Prüfungsentscheidung
punkt – sind dem Prüfling in der Prüfungssituation auch schlichtweg nicht zuzumuten, da sie seine Konzentration auf das Prüfungsgeschehen erneut erheblich beeinträchtigen würden und der Ausgang derselben völlig unge‑ wiss wäre. Jede andere Betrachtung und damit auch die bisher in der Recht‑ sprechung vertretene Auffassung überantwortet unzulässigerweise dem Prüfling die Verantwortung für ein rechtmäßiges Prüfungsgeschehen183. Etwas anderes gilt nur dann, wenn sich die Prüflinge mit dem Prüfungs‑ amt auf eine bestimmte Ausgleichsmaßnahme geeinigt oder dieser ausdrück‑ lich zugestimmt haben. In diesem Fall erschiene es unter dem Gesichtspunkt des venire contra factum proprium treuwidrig, später eine unzureichende Kompensation des Mangels zur Begründung der Rechtswidrigkeit der Prü‑ fungsentscheidung geltend zu machen. Im Übrigen aber ist nach hier ver‑ tretener Auffassung die Annahme einer Rügeobliegenheit bei einer vom Prüfling als unzureichend erachteten Kompensationsmaßnahme grundsätz‑ lich nicht begründbar. b) Zeitpunkt der Rüge bzw. Anzeige des Verfahrensmangels Die somit auf den Fall des erstmaligen Auftretens eines Verfahrensman‑ gels bzw. einer Erkrankung beschränkte Rüge- bzw. Anzeigeobliegenheit kann die mit ihr verfolgten und der bestmöglichen Wahrung der Chancen‑ gleichheit der anderen Prüfungsteilnehmer dienenden Zwecke nur dann er‑ reichen, wenn der Prüfling die aufgetretenen und als Beeinträchtigung seiner Leistungsfähigkeit empfundenen Störungen während der Leistungserbrin‑ gung in unmittelbarer zeitlicher Nähe zu ihrem Auftreten gegenüber dem Prüfungsamt geltend macht184. Ist die Zweckerreichung und damit die Chancengleichheit der anderen Prüflinge demgegenüber nicht gefährdet, ist der Prüfling nicht nur von der Last zur Erhebung einer frühzeitigen Rüge, sondern von einer Rüge- bzw. Anzeigeobliegenheit überhaupt befreit185. (Nur) in diesem Fall genügt es, dass sich der Prüfling irgendwann einmal im Laufe des Prüfungsanfechtungsverfahrens auf den Verfahrensmangel zur Begründung der von ihm behaupteten Rechtswidrigkeit der Prüfungsent‑ scheidung beruft186. Die eine Rügeobliegenheit unter dem Gesichtspunkt der Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 217. BVerwG, Bes. v. 10.08.1994 – 6 B 60/93, DVBl. 1994, 1364 (1365). 185 Vgl. BVerwG, Bes. v. 10.08.1994 – 6 B 60/93, DVBl. 1994, 1364 (1365); siehe auch BVerwGE 106, 369 (373) (Zeitpunkt der Mitteilung von Säumnisgrün‑ den); siehe auch Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 219. 186 BVerwG, Bes. v. 10.08.1994 – 6 B 60/93, DVBl. 1994, 1364 (1365); zutref‑ fend auch Birnbaum, NVwZ 2006, 286 (291), in Bezug auf vom Prüfungsamt zu beachtende Verfahrensvorschriften; großzügiger Wortmann, NWVBl. 1992, 304 (309), bei Prüfungsverfahrensfehlern im engeren Sinne. 183 Vgl. 184 Vgl.
B. Die (nachträgliche) Geltendmachung von Verfahrensfehlern183
Chancengleichheit legitimierenden Gründe markieren damit zugleich deren (innere) Grenzen187. aa) Grundsatz: Obliegenheit zur unverzüglichen Geltendmachung Sofern diese potentiellen Legitimationsgründe in der konkreten Prüfungs‑ situation aber zur Annahme einer Obliegenheit des Prüflings zur Rüge des Mangels bzw. Anzeige der Prüfungsverhinderung führen, ist dieser das Gebot zur unverzüglichen Geltendmachung der leistungsbeeinträchtigenden Umstände immanent. Wenn und soweit die Mitwirkungsobliegenheiten des Prüflings bei auftretenden Mängeln im Prüfungsverfahren gesetzlich gere‑ gelt sind, verlangen die einschlägigen gesetzlichen Vorschriften für deren Anerkennung als Verfahrensfehler über ihre bloße Geltendmachung hinaus dementsprechend die Unverzüglichkeit der Rüge bzw. die Anzeige des Ver‑ fahrensmangels188. Auch in Rechtsprechung und Literatur steht dieses Ge‑ bot – selbst für den Fall des (gänzlichen) Fehlens einer gesetzlichen Rege‑ lung – außer Frage189. Bei der Beurteilung der Unverzüglichkeit der Mängelrüge bzw. der Prü‑ fungsverhinderungsanzeige sind in erster Linie – soweit vorhanden – vorbe‑ haltlich ihrer Verfassungskonformität die konkretisierenden Vorgaben in der jeweiligen Prüfungsordnung heranzuziehen190, an denen es aber ganz über‑ wiegend mangelt. Lediglich in Rheinland-Pfalz ist als zeitliche Obergrenze für die Geltendmachung von Störungen des Prüfungsablaufs durch äußere 187 Vgl.
BVerwGE 80, 282 (286). nicht krankheitsbedingten Mängeln des Prüfungsverfahrens: § 25 Abs. 2 Satz 1 JaPrO B.-W.; § 12 Abs. 1 Satz 1 JAPO RLP; § 16 Abs. 2 Satz 1 JAO Berlin/ Brandenburg; § 31 Abs. 2 Satz 1 JAPrVO LSA für äußere Störungen des Prüfungs‑ ablaufs („sofort nach Bekanntwerden“); im Falle der Erkrankung siehe § 7 Abs. 4, 5 ThürJAPO; § 25 Abs. 2, 3, 5 JAPG Bremen; § 16 Abs. 7 JAG Hessen; § 16 Abs. 3 JAG Hessen; § 9 JAPO M-V; § 10 Abs. 2 JAPO Bayern; § 21 Abs. 3 JAG NRW; § 7 Abs. 3 JAO Berlin/Brandenburg; § 7 SächsJAPO; § 25 Abs. 1 Nr. 2 JAPrVO LSA; § 16 NJAG; § 22 Abs. 3 LÜ HH, HB, S.-H.; § 25 Abs. 3 JAG HH. 189 Allgemeine Auffassung, siehe nur BVerwGE 96, 126 (129); BVerwG, Bes. v. 10.08.1994 – 6 B 60/93, DVBl. 1994, 1364 (1365); VG Würzburg, Urt. v. 24.06.2009 – W 2 K 09.93, juris, Rn. 26. Ferner auch für den Fall des Fehlens einer gesetzlichen Regelung BVerwG, Urt. v. 27.04.1999 – 2 C 30/98, NVwZ 2000, 921 (921); OVG Münster, Bes. v. 21.03.2013 – 14 E 135/13, juris, Rn. 4; VG Dresden, Urt. v. 02.12.2010 – 5 K 1483/08, juris, Rn. 135; Bes. v. 27.11.2008 – 5 L 1866/08, juris, Rn. 16, das jeweils eine Obliegenheit zur unverzüglichen Anzeige des Verfah‑ rensmangels annimmt, obwohl diese in der SächsJAPO nicht normiert ist; Niehues/ Fischer/Jeremias, Rn. 218; Zimmerling/Brehm, Prüfungsrecht, Rn. 142, 443, 516 ff. (für den Rücktritt von der Prüfung); Haase, in: Johlen/Oerder, MAH VerwR, § 16, Rn. 35, 121; Lampe, S. 136; Wortmann, NWVBl. 1992, 304 (308). 190 Birnbaum, NVwZ 2006, 286 (289). 188 Bei
184 Kap. 6: Möglichkeiten (gerichtlicher) Kontrolle der Prüfungsentscheidung
Einwirkungen das Ende des jeweiligen Prüfungstermins (Aufsichtsarbeit, mündliche Prüfung) bestimmt worden191. Im Ergebnis denselben Regelungs‑ inhalt weisen Vorschriften auf, nach denen Beeinträchtigungen des Prüfungs‑ ablaufs bzw. Verfahrensfehler während der schriftlichen oder mündlichen Prüfung zu rügen sind192. Für die Geltendmachung einer krankheitsbedingten Prüfungsverhinderung beschränkt sich der Inhalt der vorhandenen gesetzli‑ chen Regelungen auf die Normierung einer zeitlichen Ausschlussfrist, nach der im Falle der mündlichen Prüfung die Prüfungsunfähigkeit üblicherweise bis zur Bekanntgabe der Ergebnisse193 oder bei der schriftlichen Prüfung spä‑ testens innerhalb eines Monats nach Abschluss dieses Prüfungsteils angezeigt werden muss194. Zur Bestimmung der Unverzüglichkeit im Übrigen sowie beim Fehlen einer ausdrücklichen Regelung für einzelne Verfahrensfehler oder insgesamt bedarf es daher der Heranziehung allgemeiner Kriterien. In‑ soweit bietet sich die auch allgemein unternommene Orientierung195 an der Legaldefinition der Unverzüglichkeit in § 121 BGB an, wonach dann die Rü‑ ge bzw. die Anzeige des Verfahrensmangels ohne schuldhaftes Zögern erfol‑ gen müsste. Da den Prüfling aber keine Pflicht zur unverzüglichen Geltend‑ machung des Verfahrensmangels trifft, die er schuldhaft verletzen könnte, ist es präziser, eine Mängelrüge bzw. Prüfungsverhinderungsanzeige ohne „ob‑ liegenheitsverletzendes Zögern“ zu verlangen. Mit dieser Definition ist dann aber zunächst wenig gewonnen, da sie ihrerseits der Konkretisierung bedarf. Diese ist dadurch zu erreichen, dass wie schon bei der Ableitung der Rügebzw. Anzeigeobliegenheit im Allgemeinen auch bei der Bestimmung der Un‑ verzüglichkeit derselben eine an dem Gebot der Herstellung praktischer Kon‑ kordanz orientierte Abwägung zwischen den widerstreitenden Interessen vor‑ zunehmen ist. Es kann daher nicht zur bestmöglichen Wahrung der Chancen‑ gleichheit der anderen Prüfungsteilnehmer stets eine sofortige Geltendmachung des Verfahrensmangels verlangt werden196. 191 § 12
Abs. 1 Satz 2 JAPO RLP. Abs. 2 Satz 1 JAPO M-V; § 16 Abs. 2 Satz 1 JAO Berlin/Brandenburg; § 25 Abs. 2 Satz 1 JAPO Ba.-Wü. 193 § 7 Abs. 3 Satz 2 SächsJAPO; § 9 Abs. 3 JAPO M-V; § 16 Abs. 3 Satz 4 JAG Saarland; § 10 Abs. 3 Satz 2 JAPO Bayern; siehe auch § 10 Abs. 5 JAPO M-V: „bis zum Ende der mündlichen Prüfung“. 194 § 25 Abs. 5 Satz 3 JAPG Bremen; § 16 Abs. 3 Satz 3 JAG Saarland; § 10 Abs. 3 Satz 1 JAPO Bayern; § 9 Abs. 3 JAPO M-V; nach § 10 Abs. 3 Satz 2 JAPO RLP beträgt die Frist sowohl für die schriftliche als auch die mündliche Prüfung 1 Monat. 195 Siehe etwa BVerwGE 106, 369 (373); VG Dresden, Bes. v. 28.12.2010 – 5 L 583/10, juris, Rn. 36; Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 283; Zimmerling/Brehm, Prü‑ fungsrecht, Rn. 523; Wortmann, NWVBl. 1992, 304 (308). 196 So aber § 31 Abs. 2 Satz JAPrVO LSA; wie hier für den Fall des Rücktritts Zimmerling/Brehm, Prüfungsrecht, Rn. 523. 192 § 28
B. Die (nachträgliche) Geltendmachung von Verfahrensfehlern185
bb) Vorbehalt der Zumutbarkeit Vielmehr bedarf es bei der Beurteilung der Rechtzeitigkeit der Mängel‑ rüge bzw. der Prüfungsverhinderungsanzeige in jedem Einzelfall der Prü‑ fung, ob die Annahme einer solchen oder ähnlich weitgehenden Obliegen‑ heit auch mit den grundrechtlich geschützten Interessen des vermeintlich fehlerbelasteten Prüflings vereinbar ist, oder ob diese Restriktionen der ihn treffenden Obliegenheiten erfordern. Insoweit hat die Beurteilung der Rechtzeitigkeit der Rüge insbesondere stets auch im Lichte des Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG zu erfolgen197. Dies bedeutet konkret, dass die ange‑ nommene Obliegenheit zur zeitnahen Geltendmachung des leistungsbeein‑ trächtigenden Umstands nicht dazu führen darf, dass sich die Chancen des vermeintlich fehlerbelasteten Prüflings auf einen Prüfungserfolg allein da‑ durch verschlechtern. Mit anderen Worten muss dem Prüfling eine unver‑ zügliche Rüge bzw. Prüfungsverhinderungsanzeige unter Berücksichtigung von deren möglichen Konsequenzen in der konkreten Prüfungssituation auch zumutbar sein. Dementsprechend geht insbesondere die Rechtspre‑ chung unter Berücksichtigung der hier bereits aufgezeigten widerstreiten‑ den Interessen davon aus, dass die Rüge eines Verfahrensmangels dann nicht mehr als unverzüglich angesehen werden kann, wenn sie nicht zu dem frühestmöglichen Zeitpunkt erfolgt, zu dem sie zumutbarerweise hätte erwartet werden können198. Die in dem bezweckten Schutz der Chancengleichheit der anderen rüfungsteilnehmer begründet liegende Obliegenheit des potentiell fehler‑ P belasteten Prüflings zur frühzeitigen Rüge bzw. Anzeige des Verfahrens‑ mangels findet – worüber in Rechtsprechung und Literatur Einigkeit be‑ steht – somit ihre (äußere) Grenze in dem Kriterium der Zumutbarkeit derselben199. Die Zumutbarkeit ist also – andersherum betrachtet – für die Beurteilung der Rechtzeitigkeit der Geltendmachung der Beeinträchtigun‑ gen maßgeblich200.
197 Vgl. BVerwGE 106, 369 (372); BVerwG, Bes. v. 28.02.2002 – 6 B 5.02, BeckRS 2002, 21654. 198 BVerwGE 80, 282 (286); BVerwGE 106, 369 (373); BVerwG, Bes. v. 03.01.1994 – 6 B 57/93, Buchholz 421.0 Nr. 327, 1 (2); Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 283. 199 BVerwGE 69, 46 (50); 80, 282 (286); 106, 369 (373); VG Meiningen, Bes. v. 29.05.1997 – 8 E 530/97.Me, ThürVGRspr 1998, 31 (33); VG Sigmaringen, Bes. v. 02.03.2006 – 8 K 2294/05, juris, Rn. 41; Birnbaum, NVwZ 2006, 286 (288); Lampe, S. 136; Seebass, NVwZ 1985, 521 (524). 200 Vgl. für die Frage der Rechtzeitigkeit des Rücktritts Haase, in: Johlen/Oerder, MAH VerwR, § 16, Rn. 248: „bestimmender Faktor“.
186 Kap. 6: Möglichkeiten (gerichtlicher) Kontrolle der Prüfungsentscheidung
cc) Fallgruppenabhängige Konkretisierung Nachfolgend ist daher die Zumutbarkeit – soweit möglich – näher zu bestimmen. Insoweit gilt die Erkenntnis, dass das Maß der Zumutbarkeit nicht allgemein, sondern allenfalls fallgruppenorientiert, regelmäßig aber nur einzelfallbezogen bestimmt werden kann201. Die nachfolgende Darstel‑ lung wird sich demgemäß auf die Herausarbeitung der abstrakten Zumutbar‑ keitsmaßstäbe beschränken, im Rahmen derer entsprechend den bisherigen Ausführungen auch hier zunächst eine Differenzierung nach der Art des Verfahrensmangels geboten ist. Dabei ist im Hinblick auf die unterschiedli‑ chen Rechtsformen und -folgen ihrer Geltendmachung die Unterscheidung zwischen äußeren Störungen des Prüfungsablaufs sowie Prüfungsverfah‑ rensfehlern im engeren Sinne auf der einen und einer krankheitsbedingten Prüfungsunfähigkeit des Prüflings auf der anderen Seite von besonderer Bedeutung. Da die Prüfungssituation in einer mündlichen mit derjenigen in einer schriftlichen Prüfung ersichtlich nicht ohne Weiteres vergleichbar ist, bedarf es für die Frage des Maßes der dem Prüfling jeweils zumutbaren Obliegenheiten zudem einer dahingehenden differenzierten Betrachtung. Dem trägt die nachfolgende Darstellung Rechnung, die sich an den aus den vorstehenden Unterscheidungen resultierenden Fallgruppen orientiert. (1) Äußere Störungen und Prüfungsverfahrensfehler im engeren Sinne Hiernach ist zunächst der frühestmögliche Zeitpunkt für die Anbringung einer sich auf das Verfahren der Leistungsermittlung beziehenden Mängel‑ rüge bei einer mündlichen Prüfung zu bestimmen. Bei dieser ist insbeson‑ dere zu berücksichtigen, dass sich der Prüfling der unmittelbaren Konfron‑ tation mit den ihm gegenüber sitzenden Prüfern und deren Reaktionen auf Rügen betreffend die Ordnungsgemäßheit des Prüfungsablaufs ausgesetzt sieht202, die erhebliche Konsequenzen für den weiteren Prüfungsablauf ha‑ ben können. Das gilt uneingeschränkt für Rügen, mit denen das Verhalten der Prüfer in der Prüfung im Allgemeinen und deren Handhabung der Prü‑ fungsordnung im Besonderen beanstandet wird. In diese Kategorie gehört etwa die Rüge, dass der Prüfer eingeschlafen sei und daher nicht am Prü‑ fungsgeschehen teilnehme203, der Vorwurf der Befangenheit und – soweit 201 Vgl. BVerwGE 69, 46 (50); BVerwG, Bes. v. 15.01.1993 – 6 B 45/92, Buch‑ holz 421.0 Nr. 310, 242 (244); Bes. v. 03.01.1994 – 6 57/93, Buchholz 421.0 Nr. 327, 1 (2); Bes. v. 28.02.2002 – 6 B 5.02, BeckRS 2002, 21654. 202 Vgl. zu der daraus resultierenden Hemmschwelle, überhaupt Einwendungen zu erheben BVerwGE 69, 46 (52); Birnbaum, NVwZ 2006, 286 (292). 203 Vgl. hierzu FG Niedersachsen, Urt. v. 15.12.2011 – 6 K 59/11, EFG 2012, 1090 (1093).
B. Die (nachträgliche) Geltendmachung von Verfahrensfehlern187
erkannt – die Behauptung einer Über- oder Unterschreitung der Prüfungs‑ dauer sowie einer Überspannung der Prüfungsanforderungen. In allen ge‑ nannten und ähnlichen Fällen läuft der Prüfling Gefahr, dass seine Vorwür‑ fe als unbegründet verworfen werden, durch diese aber das Verhältnis zu den Prüfern und damit die Prüfungsatmosphäre derart belastet bzw. ange‑ spannt ist, dass sich dies nachteilig auf seine Konzentrations- / Leistungsfä‑ higkeit und / oder die Bewertung seiner Leistungen auswirkt204. Wegen der daraus resultierenden Hemmschwelle, sich mit Beschwerden an den Prüfungsausschuss zu wenden205, wird daher bei Verfahrensmängeln der vorstehenden Art zutreffend eine Rügeobliegenheit des Prüflings bereits während der mündlichen Prüfung abgelehnt206. Von dieser Prämisse ausge‑ hend erscheint es an sich nahe liegend, das Maß der zumutbaren Mitwirkung des Prüflings anders zu bestimmen207 bei Mängeln, die aus nicht von den Prüfern verursachten äußeren Beeinträchtigungen des Prüfungsablaufs resul‑ tieren. Tatsächlich wird aber insbesondere in der Literatur208 ausgehend von einer älteren Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes209 angenommen, dass dem Prüfling wegen der erforderlichen Konzentration auf das Prü‑ fungsgeschehen auch insoweit eine Mängelrüge erst nach dem Abschluss der mündlichen Prüfung zugemutet werden könne210. Das Bundesverwaltungsgericht hatte seinerzeit zwar ausgeführt, dass es dem Prüfling während des Prüfungsvorgangs unzumutbar sei, sich darüber schlüssig zu werden, ob, wann und in welcher Weise er sein Recht geltend machen solle211. In einer späteren, die Rügeobliegenheiten des Prüflings bei schriftlichen Prüfungen betreffenden (Grundsatz‑)Entscheidung hat das Bun‑ desverwaltungsgericht dann aber die Bedeutung des vorstehenden Rechts‑ satzes dahin klargestellt, dass mit ihm nur zum Ausdruck gebracht werden diese Richtung auch Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 349. BVerwG 69, 46 (52); FG Niedersachsen, Urt. v. 15.02.2011 – 6 K 59/11, EFG 2012, 1090 (1092 f.). 206 FG Niedersachsen, Urt. v. 15.12.2011 – 6 K 59/11, EFG 2012, 1090 (1093); OVG LSA, Urt. v. 18.10.2001 – 2 L 38/00, juris, Rn. 32; implizit FG Sachsen-An‑ halt, Urt. v. 29.10.1997 – I 107/96, EFG 1998, 334 (336 f.); wohl auch VG Dresden, Bes. v. 27.11.2008 – 5 L 1866/08, Rn. 16; Birnbaum, NVwZ 2006, 286 (292); Wortmann, NWVBl. 1992, 304 (309); in Bezug auf eine mögliche Befangenheit des Prüfers Guhl, S. 205; Lindner, in: Geis, Kapitel II, Rn. 150; Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 349; siehe insgesamt auch Lampe, S. 136 f. 207 Vgl. zur Formulierung BVerwG 69, 46 (51). 208 Haase, in: Johlen/Oerder, MAH VerwR, § 16, Rn. 123; Birnbaum, NVwZ 2006, 286 (292); letztlich wohl auch Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 483, aber un‑ klar; siehe im Übrigen auch referierend zur älteren Literatur Lampe, S. 136 m.z.N. 209 BVerwGE 31, 190 (192). 210 So auch VG Dresden, Bes. v. 27.11.2008 – 5 L 1866/08, juris, Rn. 16. 211 BVerwGE 31, 190 (192). 204 In
205 Vgl.
188 Kap. 6: Möglichkeiten (gerichtlicher) Kontrolle der Prüfungsentscheidung
sollte, dass es dem Prüfling nicht zumutbar sei, aus dem aufgetretenen Verfahrensmangel schon während der mündlichen Prüfung rechtliche Kon‑ sequenzen zu ziehen212. Um ein solches „Geltendmachen von Rechten“ aber ginge es nicht, wenn lediglich eine Rüge des Prüflings und damit ein bloßer Hinweis des Prüflings auf das Vorliegen einer äußeren Beeinträchtigung verlangt werde213. Mit dem Verlangen nach solch einem Hinweis werde, so das Bundesverwaltungsgericht weiter, dem Prüfling nichts Unzumutbares abverlangt, da dieser weder einen nennenswerten Zeitaufwand noch arbeits‑ unterbrechende und konzentrationsbeeinträchtigende Überlegungen – wie etwa ein Abwägen des Für und Wider bei der Geltendmachung von Rech‑ ten – erfordere214. Die vorstehenden Gründe, die nach der Auffassung des Bundesverwal‑ tungsgerichtes bei Störungen der schriftlichen Prüfungen die Annahme einer Rügeobliegenheit des Prüflings legitimieren, drängen aber bei der mündli‑ chen Prüfung gleichermaßen auf Verwirklichung und führen in der Sache zu einer Revidierung des diesbezüglich ursprünglich vom Bundesverwaltungs‑ gericht eingenommenen Rechtsstandpunktes. Denn es erschließt sich nicht, weshalb dem Prüfling ein bloßer Hinweis auf eine vorliegende Lärmstörung oder einen ihn ansonsten beeinträchtigenden (äußeren) Umstand während der mündlichen Prüfung nicht zumutbar sein soll215, der ihn in seiner Kon‑ zentrationsfähigkeit wohl kaum mehr als die empfundene Störung selbst und das Verhältnis zu den Prüfern nicht erkennbar beeinträchtigen kann. Entgegen der allgemeinen Ansicht, die sich also letztlich zu Unrecht auf die ältere Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichtes beruft, ist daher eine Rügeobliegenheit des Prüflings in Bezug auf äußere Störungen des Prü‑ fungsablaufs spätestens in den Prüfungspausen anzunehmen. Die vorgestell‑ ten Prüfungsordnungen, die dieser Erkenntnis entsprechend eine Rüge von äußeren Störungen des Prüfungsablaufs während bzw. bis zum Abschluss der mündlichen Prüfung verlangen, sind demgemäß nicht zu beanstanden. Soweit sich diese Obliegenheit weiter gehend terminologisch allgemein auf „Verfahrensfehler“ erstreckt216, sind solche Regelungen verfassungskonform dahin zu interpretieren, dass hiervon Verfahrensfehler im engeren Sinne nicht erfasst sind. Da die Belastungssituationen in einer mündlichen und schriftlichen Prü‑ fung nicht miteinander vergleichbar sind217, besteht entsprechend den vor‑ 212 Vgl.
BVerwGE 69, 46 (51). BVerwGE 69, 46 (51 f.). 214 BVerwGE 69, 46 (52). 215 In diese Richtung auch Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 483, aber unklar. 216 So § 16 Abs. 2 JAO Berlin/Brandenburg. 217 Zutreffend BVerwGE 69, 46 (51). 213 Vgl.
B. Die (nachträgliche) Geltendmachung von Verfahrensfehlern189
stehenden Ausführungen bei schriftlichen Prüfungen damit keinerlei Anlass für eine Beschränkung der Rügeobliegenheiten des Prüflings. Im Gegensatz zu mündlichen Prüfungen verfügt der Prüfling hier über einen viel größeren Gestaltungsspielraum, namentlich was seine Freiheit anbelangt, Pausen ein‑ zulegen und insoweit auch den Grad der Konzentration auf die Prüfung zu variieren, so dass er im Gegensatz zur mündlichen Prüfung hier nicht als das „bloße Objekt“ einer von ihm „unbeeinflussbaren Prüfungsmaschinerie“ erscheint218. Entlastend kommt hinzu, dass aufgrund der fehlenden Konfron‑ tation mit den nicht anwesenden Prüfern die Hemmschwelle, Einwendungen zu erheben, viel geringer ist219. Es ist dem Prüfling daher grundsätzlich ohne Weiteres zumutbar, ihm bekannte Verfahrensmängel auch sofort bzw. jedenfalls während der schriftlichen Prüfung geltend zu machen220. Die aufgezeigten gesetzlichen Regelungen entsprechenden Inhalts begegnen daher keinerlei Bedenken. (2) Prüfungsunfähigkeit Demgegenüber ist im Hinblick auf die weiter gehenden und unmittelba‑ ren Rechtswirkungen einer Prüfungsverhinderungsanzeige fraglich, ob dem Prüfling auch im Falle einer gesundheitlichen Beeinträchtigung deren Gel‑ tendmachung bis zum Ende der schriftlichen bzw. mündlichen Prüfung zu‑ gemutet werden kann. Hierzu ist in Erinnerung zu rufen, dass die erfolgrei‑ che Geltendmachung einer Prüfungsunfähigkeit im Gegensatz zur Mängel‑ rüge, die lediglich eine potentielle Handlungspflicht des Prüfungsamtes begründet, unabhängig von dem dafür in der Prüfungsordnung verwandten terminus technicus unmittelbar rechtsgestaltende Wirkung hat, indem sie zur vollständigen oder teilweisen Annullierung der bereits erbrachten Prüfungs‑ leistungen führt. So braucht der Prüfling zunächst einmal die im Zustand der Prüfungsun‑ fähigkeit erbrachte Prüfungsleistung nicht gegen sich gelten zu lassen. Über diese selbstverständliche und vom Prüfling beabsichtigte Rechtsfolge hinaus sehen die Prüfungsordnungen aber zumeist weiter gehend vor, dass auch alle bis zum Zeitpunkt der Abgabe der Rücktritts- oder äquivalenten Erklä‑ rung erbrachten Prüfungsleistungen hinfällig werden. Diese Rechtsfolge ist in allen Prüfungsordnungen zwingend für den Fall vorgesehen, dass der BVerwGE 69, 46 (51); Birnbaum, NVwZ 2006, 286 (292). zu diesem Gesichtspunkt BVerwGE 69, 46 (52); BFHE 172, 254 (259); Birnbaum, NVwZ 2006, 286 (292); Lampe, S. 136 f. 220 BVerwGE 69, 46 (52); BFHE 172, 254 (259 f.); VG Dresden, Bes. v. 27.11.200 – 5 L 1866/08, Rn. 16; VG Sigmaringen, Bes. v. 02.03.2006 – 8 K 2294/05, juris, Rn. 41; Birnbaum, NVwZ 2006, 286 (288); Lampe. S. 136 f. 218 Vgl.
219 Siehe
190 Kap. 6: Möglichkeiten (gerichtlicher) Kontrolle der Prüfungsentscheidung
Prüfling sich auf eine leistungsmindernde Erkrankung während der mündli‑ chen Prüfung beruft221. Selbst wenn von dieser nur ein Teilabschnitt der mündlichen Prüfung betroffen gewesen sein sollte, so führt auch die ent‑ sprechend beschränkte Geltendmachung der Prüfungsunfähigkeit dazu, dass die mündliche Prüfung vom Prüfling insgesamt zu wiederholen ist. Auch für den Fall, dass der Prüfling eine Prüfungsverhinderung nur während der Anfertigung einer einzelnen Aufsichtsarbeit einwendet, sehen die Prüfungs‑ ordnungen überwiegend die Annullierung aller bis dahin erbrachten schrift‑ lichen Prüfungsleistungen und infolgedessen die Wiederholung der gesamten schriftlichen Prüfung vor222. Nur in einigen Bundesländern treten weniger gravierende Rechtsfolgen ein, wenn der Prüfling zum Zeitpunkt des Eintritts der Erkrankung bereits die Mehrzahl der vorgesehenen Aufsichtsarbeiten223 oder in allen Rechtsgebieten bereits eine Klausur224 angefertigt hat. Singulär geblieben ist die Regelung in Rheinland-Pfalz, wonach sich die Wirkungen der durch Krankheit entschuldigten „Säumnis eines Termins“ zur Anferti‑ gung einer Aufsichtsarbeit darauf beschränken, dass der Prüfling nur die fehlende Aufsichtsarbeit nachzufertigen hat225. Gesamtbetrachtend kann damit festgehalten werden, dass nach den ein‑ schlägigen gesetzlichen Regelungen die Geltendmachung einer Prüfungs unfähigkeit ganz überwiegend erhebliche rechtliche Konsequenzen hat. Angesichts derselben drängt sich zunächst die Frage auf, ob mit ihnen ein verhältnismäßiger Ausgleich zwischen dem erforderlichen Schutz der Chan‑ cengleichheit der anderen Prüfungsteilnehmer und der gebotenen Wieder‑ herstellung derselben auf Seiten des eine Prüfungsunfähigkeit bei einer Teilleistung einwendenden Prüflings erreicht worden ist. Ihr soll aber erst am Schluss dieses Kapitels im Zusammenhang mit der abschließenden Dar‑ stellung der Rechtsfolgen von Verfahrensmängeln nachgegangen werden. Im gegebenen Kontext genügt die Feststellung, dass die erheblichen Rechtsfol‑ gen der Geltendmachung einer Prüfungsunfähigkeit für den betroffenen 221 § 7 Abs. 3 ThürJAPO; § 16 Abs. 2 JAG Saarland; § 10 Abs. 2 Satz 2 JAPO RLP; § 22 Abs. 2 Satz 2 LÜ HH, H.-B., S.-H.; § 16 Abs. 6 HessJAG; § 25 Abs. 4 Satz 2 JAG HH; § 7 Abs. 1 Nr. 3 SächsJAPO; § 25 Abs. 4 Satz 4 JAPG Bremen; § 10 Abs. 3 Satz 2 JAPO MV (§ 14 Abs. 3 Satz 1 JAG M-V). 222 § 9 Abs. 6 Satz 1, Satz 2 JAPO M-V; § 25 Abs. 4 Satz 1 JAPG Bremen; § 25 Abs. 4 Satz 1 JAG HH; § 16 Abs. 6 HessJAG; § 22 Abs. 2 Satz 1 LÜ HH, HB, S.-H. 223 § 16 Abs. 1 Satz 1 JAG Saarland; § 7 Abs. 2 Satz 1 Hs. 1 ThürJAPO; § 7 Abs. 1 Nr. 2 SächsJAPO; § 29 Abs. 1 Nr. 2 JAO JAPO Bayern. 224 § 7 Abs. 1 Satz 2 Hs. 1 JAO Berlin/Brandenburg. 225 Vgl. § 12 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Hs. 2 JAPO RLP. Diese Vorschriften erfassen den Fall einer zur Bewertung abgegebenen, aber im Zustand der – erst nachträglich geltend gemachten – Prüfungsunfähigkeit erbrachten Prüfungsleistung nicht aus‑ drücklich.
B. Die (nachträgliche) Geltendmachung von Verfahrensfehlern191
Prüfling eine sorgsame Abwägung der für und gegen sie sprechenden Ge‑ sichtspunkte nahe legen. So mag es aus Sicht des Prüflings sinnvoll sein, von der Einwendung einer Erkrankung abzusehen, wenn er bereits die Mehrzahl der Prüfungsleistungen im jeweiligen Prüfungsabschnitt erbracht hat und ihm diese nach seiner Einschätzung insgesamt gut gelungen erschei‑ nen, während er dann, wenn er die Qualität seiner Leistungen nicht hinrei‑ chend sicher zu beurteilen vermag und befürchtet, wegen der von der Er‑ krankung beeinträchtigten Prüfungsleistung die Prüfung insgesamt nicht zu bestehen oder sein Notenziel zu verfehlen, sich eher auf die Erkrankung berufen wird. Abwägungsrelevant dürfte insbesondere bei einer anstehenden Wiederholung der gesamten schriftlichen Prüfung vielfach auch die Überle‑ gung sein, ob man sich gewachsen fühlt, sich dieser nochmals zu unterzie‑ hen und dem damit verbundenen Prüfungsstress auszusetzen. Hiermit im Zusammenhang stehen mögliche Gedanken über die Folgen einer im Falle der erfolgreichen Einwendung der Prüfungsunfähigkeit unweigerlich eintre‑ tenden Verzögerung bei der Erreichung des (berufsqualifizierenden) Ab‑ schlusses226. Schließlich mögen eine Unsicherheit in der Beurteilung des Gesundheitszustandes, der gescheute Aufwand für den Versuch des Nach‑ weises der möglicherweise gar nicht vorliegenden Prüfungsunfähigkeit und deren Folgen für das weitere Prüfungsgeschehen sowie die Hoffnung, dass eine aufgetretene innere Störung namentlich zum Ende der Bearbeitungszeit einer Klausur nur vorübergehender Natur ist227, mitbestimmend sein. Die Entscheidung des Prüflings, sich auf eine leistungsmindernde Erkrankung zu berufen, wird damit regelmäßig von einem Konglomerat von Gesichts‑ punkten beeinflusst werden. Sie bedarf somit der entsprechenden Überle‑ gungen, die dem Prüfling nach übereinstimmender Auffassung während der Erbringung der Prüfungsleistungen nicht zugemutet werden können, so dass es infolgedessen nach allgemeiner Ansicht auch keiner Rücktrittserklärung oder einer äquivalenten Geltendmachung der Prüfungsunfähigkeit bereits während der schriftlichen oder mündlichen Prüfung bedarf228. Fraglich und umstritten ist aber, welches Mindestmaß an Überlegungszeit dem Prüfling für die gebotene Abwägung des Für und Wider229 der Geltend‑ 226 Vgl. zu diesem Gesichtspunkt im anderen Kontext VG Köln, Urt. v. 24.11.2003 – 6 K 1115/98, NWVBl. 2005, 441 (442). 227 In diese Richtung auch BVerwGE 80, 282 (286). 228 BVerwGE 80, 282 (286 f.); siehe auch 99, 172 (180 f.); BVerwG, Bes. v. 03.01.1994 – 6 B 57/93, Buchholz 421.0 Nr. 327, 1 (3); Birnbaum, NVwZ 2006, 286 (294); Haase, in: Johlen/Oerder, MAH VerwR, § 16, Rn. 251 f.; Wortmann, NWVBl. 1992, 304 (308); Zimmerling/Brehm, Prüfungsrecht, Rn. 517, 554 ff.; wohl auch Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 286 f.; enger Schmidt-Räntsch, DRiG, Anhang zu § 5d, Rn. 49, aber unter Verweis auf überholte Rechtsprechung. 229 Vgl. BVerwGE 80, 282 (286).
192 Kap. 6: Möglichkeiten (gerichtlicher) Kontrolle der Prüfungsentscheidung
machung einer Prüfungsunfähigkeit zuzubilligen ist. Erstaunlich großzügig in dieser Frage zeigt sich das Bundesverwaltungsgericht, nach dessen Rechtsprechung es dem Prüfling regelmäßig nicht anzulasten sein soll, wenn er zunächst ärztlichen Rat einholt und erst danach seine Prüfungsun‑ fähigkeit geltend macht230. Unklar ist, ob dies auch bei eindeutigen Krank‑ heitssymptomen gelten soll, in deren Fall nach dem Bundesverwaltungsge‑ richt aber jedenfalls die dem Prüfling einzuräumende Überlegungsfrist kürzer zu bemessen sein soll231. Im Übrigen lässt es das Bundesverwal‑ tungsgericht bei einer Erkrankung während der mündlichen Prüfung sogar zu, dass der Prüfling sie erst nach der Bekanntgabe der Prüfungsergebnisse einwendet232. Dem treten in der Sache Niehues / Fischer / Jeremias entge‑ gen233, die sich aber im Übrigen auf der Linie des Bundesverwaltungsge‑ richtes bewegen, soweit insbesondere die Hinzuziehung ärztlichen Rates zur konkreten Abschätzung der Krankheitsfolgen jedenfalls dann zugestanden wird, wenn die Geltendmachung der Prüfungsunfähigkeit in der konkreten Prüfungssituation für den Prüfling erhebliche Folgen hat234. Von einem an‑ deren Teil in der Literatur wird in dem Zugeständnis der Einholung ärztli‑ chen Rats aber die Eröffnung einer unbilligen Spekulationsmöglichkeit ge‑ sehen235, der dadurch begegnet werden soll, dass entweder dem Prüfling die Abgabe der Rücktritts- oder gleichwertigen Erklärung unmittelbar nach Abgabe der Prüfungsarbeit bzw. dem Ende der mündlichen Prüfung236 oder zunächst nur die Anzeige der möglichen Prüfungsverhinderung und erst nach ärztlicher Abklärung der Prüfungsfähigkeit die Abgabe einer rechtsge‑ staltenden Erklärung abverlangt wird237. Im Ergebnis vermag keine der hier referierten Auffassungen vollständig zu überzeugen. Durchgreifenden Bedenken begegnet insbesondere die dem Prüfling vom Bundesverwaltungsgericht de facto eingeräumte Möglichkeit, es vom Ergebnis der Bewertung der mündlichen Prüfungsleistungen abhän‑ gig zu machen, ob er dieses gegen sich gelten lässt, oder mit der Berufung auf eine leistungsmindernde Erkrankung die Annullierung der Prüfung an‑ strebt. Zwar mag es bei weniger eindeutigen Symptomen zur Wahrung der Verhältnismäßigkeit tatsächlich geboten sein, dem Prüfling eine über den 230 BVerwGE
80, 282 (288). BVerwGE 80, 282 (287 f.). 232 BVerwGE 99, 172 (181). 233 Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 287. 234 Vgl. Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 287 f.; ähnlich Wortmann, NWVBl 1992, 304 (308). 235 Haase, in: Johlen/Oerder, MAH VerwR, § 16, Rn. 251; Birnbaum, NVwZ 2006, 286 (294). 236 So Haase, in: Johlen/Oerder, MAH VerwR, § 16, Rn. 251 f. 237 So Birnbaum, NVwZ 2006, 286 (294). 231 Vgl.
B. Die (nachträgliche) Geltendmachung von Verfahrensfehlern193
üblichen Zeitpunkt der Bekanntgabe der Noten für die mündliche Prüfung hinaus laufende Überlegungsfrist einzuräumen, damit er vor der Abgabe einer rechtsgestaltenden Erklärung zur Abklärung seines Gesundheitszu‑ standes noch ärztlichen Rat einholen kann. Diese Möglichkeit kann dem Prüfling aber auch ohne die erhebliche Beeinträchtigung der Chancen‑ gleichheit der anderen Prüflinge verschafft werden, indem bei der mündli‑ chen Prüfung eine wie dargestellt in der Literatur teilweise generell vorge‑ schlagene zweistufige Geltendmachung der Prüfungsunfähigkeit praktiziert wird. In einem ersten Schritt zeigt der Prüfling gegenüber der Prüfungs‑ kommission seine mögliche Prüfungsunfähigkeit an und bittet daher dar‑ um, ihm sein Prüfungsergebnis einstweilen nicht bekanntzugeben. Sodann klärt er durch die umgehende Konsultation eines Arztes das Maß seiner gesundheitlichen Beeinträchtigung ab und macht im Falle der Bestätigung der vermuteten Prüfungsunfähigkeit diese dann unverzüglich gegenüber dem Prüfungsamt geltend. Diese Lösung erscheint ebenso banal wie über‑ zeugend, um einen vernünftigen Ausgleich zwischen den Interessen der um den Berufszugang konkurrierenden Prüflinge zu erreichen. Bei der schrift‑ lichen Prüfung erscheint die ebenfalls teilweise geforderte Anzeige der möglichen Prüfungsunfähigkeit nicht zweckmäßig, weil es hier nicht dar‑ um geht, die drohende Bekanntgabe des einen Prüfungsrücktritt dann aus‑ schließenden Prüfungsergebnisses abzuwenden, und nicht ersichtlich ist, wie die bloße Kundgabe des Vorliegens einer die Prüfungsfähigkeit mög‑ licherweise ausschließenden Krankheit dem Schutz der Chancengleichheit der anderen Prüfungsteilnehmer dienlich sein kann. Im Übrigen gilt, dass man selbst bei eindeutigen Krankheitssymptomen wie akutem Schwindel oder dergleichen die (Überlegungs‑)Zeit für die Konsultation eines Arztes dem erkrankten Prüfling wird zubilligen müssen, weil für die erforderliche Abwägung des Für und Wider der Geltendmachung der Prüfungsunfähig‑ keit auch die Kenntnis maßgeblich sein kann, ob trotz der akuten Beein‑ trächtigungen mit deren baldigem Abklingen gerechnet werden kann oder von einer bis zum Ende der Prüfungszeit andauernden Erkrankung ausge‑ gangen werden muss. Spekulationsmöglichkeiten des Prüflings kann dabei dadurch hinreichend begegnet werden, dass dessen Obliegenheit angenom‑ men wird, unverzüglich einen Arzt aufzusuchen und sich ebenso unverzüg‑ lich nach der eingeholten Auskunft mit der Diagnose an das Prüfungsamt zu wenden. Im Hinblick auf den damit unter Berücksichtigung der widerstreitenden und durch den Chancengleichheitsgrundsatz fundierten Interessen der Prüf‑ linge herausgearbeiteten Zumutbarkeitsmaßstab begegnen die gesetzlichen Ausschlussfristen, wonach der Prüfling bei der mündlichen Prüfung seine Prüfungsunfähigkeit vor Bekanntgabe der Prüfungsergebnisse und bei der schriftlichen Prüfung spätestens einen Monat nach deren Ende geltend ge‑
194 Kap. 6: Möglichkeiten (gerichtlicher) Kontrolle der Prüfungsentscheidung
macht haben muss, keinen verfassungsrechtlichen Bedenken238. Dies gilt jedenfalls dann, wenn der Prüfling zumindest Anhaltspunkte für das Vor‑ liegen einer Prüfungsunfähigkeit während der Prüfung bei sich festgestellt hat, diesen aber zunächst nicht weiter nachgegangen ist. Nach ganz herr‑ schender Rechtsprechung und insbesondere derjenigen des Bundesverwal‑ tungsgerichtes sollen die Ausschlussfristen aber auch dann gelten, wenn der Prüfling seine Prüfungsunfähigkeit weder kannte noch kennen muss‑ te239. Diese dienten dem Schutz der Chancengleichheit der anderen Prü‑ fungsteilnehmer, indem insbesondere einem rechtsmissbräuchlichen Verhal‑ ten des Prüflings entgegengewirkt werde, der anderenfalls die Möglichkeit hätte, sich nach Bekanntwerden des Misserfolgs auf eine unerkannte Prü‑ fungsunfähigkeit zu berufen und sich so eine unberechtigte weitere Prü‑ fungschance zu verschaffen240. Zudem bezweckten die Ausschlussfristen, der Prüfungsbehörde eine eigene, möglichst zeitnahe Aufklärung des Sach‑ verhalts zu ermöglichen241. Die Rechtsprechung namentlich des Bundesverwaltungsgerichtes vermag in mehrfacher Hinsicht nicht zu überzeugen. Das Missbrauchsargument verfängt bereits deshalb nicht, weil der Prüfling wie dargelegt bei mündli‑ chen Prüfungen die Ergebnisbekanntgabe unterbinden kann und die gesetz‑ lichen Ausschlussfristen bei schriftlichen Prüfungen bereits einen Monat nach Abschluss des Prüfungsteils und damit regelmäßig lange vor Ergebnis‑ bekanntgabe greifen. Zudem kann von einem rechtsmissbräuchlichen Ver‑ halten völlig unabhängig von der Kenntnis oder Unkenntnis des Ergebnisses keine Rede sein, wenn der Prüfling seine Prüfungsunfähigkeit weder kannte noch erkennen konnte242. Und das Aufklärungsargument greift bereits deshalb nicht, weil im Fal‑ le einer erst längere Zeit nach der Prüfung erkannten Prüfungsunfähigkeit 238 Verfassungsrechtlich problematisch erscheint danach aber die Regelung in Mecklenburg-Vorpommern, wonach die Geltendmachung eines wichtigen Grundes nach dem Ende der mündlichen Prüfung ausgeschlossen ist, siehe § 10 Abs. 5 JAPO M-V. Da diese einer verfassungskonformen Regelung kaum zugänglich ist, dürfte sie als verfassungswidrig anzusehen sein. 239 BVerwG, Bes. v. 17.01.1984 – 7 B 29/83, BayVBl. 1984, 247 (247); Bes. v. 21.11.1993 – 6 B 61/92, Buchholz 421.0 Nr. 324, 330 (331); VG Stuttgart, Urt. v. 14.11.2003 – 10 K 2206/03, juris, Rn. 19; VG Ansbach, Urt. v. 22.04.2010 – AN 2 K 09.00151, juris, Rn. 20 f.; VG Regensburg, Urt. v. 17.10.2012 – RO 1 K 12.223, juris, Rn. 20 f. 240 BVerwG, Bes. v. 17.01.1984 – 7 B 29/83, BayVBl. 1984, 247 (247); VG Stuttgart, Urt. v. 14.11.2003 – 10 K 2206/03, juris, Rn. 19; VG Regensburg, Urt. v. 17.10.2012 – RO 1 K 12.223, juris, Rn. 21. 241 BVerwGE 96, 126 (129); VG Stuttgart, Urt. v. 14.11.2003 – 10 K 2206/03, juris, Rn. 19. 242 Zutreffend VG Dresden, Bes. v. 28.12.2010 – 5 L 583/10, juris, Rn. 36.
B. Die (nachträgliche) Geltendmachung von Verfahrensfehlern195
des Prüflings das Ziel einer zeitnahen Abklärung des Gesundheitszustan‑ des243 von vornherein nicht erreichbar ist244. Ferner überzeugt es auch des‑ halb nicht, weil wie bereits oben dargelegt die materielle Beweislast für das Vorliegen einer Prüfungsunfähigkeit im Prüfungszeitraum beim Prüf‑ ling liegt245 und Nachweisschwierigkeiten – was das Bundesverwaltungs‑ gericht an anderer Stelle selbst einräumt246 – daher in erster Linie zu sei‑ nen Lasten gehen. Schließlich geht es ins Leere, wenn trotz (erheblichen) Zeitablaufs seit der Prüfung die seinerzeitige Prüfungsunfähigkeit noch sicher festgestellt werden kann247. Die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichtes zu den Ausschluss‑ fristen widerspricht auch den Entscheidungen zur Möglichkeit des nachträg‑ lichen Rücktritts im Übrigen. Hier hat das Bundesverwaltungsgericht zu Recht betont, dass der Chancengleichheit des womöglich während der Prüfung von einer Erkrankung beeinträchtigten Prüflings im Falle des Aus‑ schlusses der (nachträglichen) Rücktrittsmöglichkeit Gefahr drohe, weil ihm unter Umständen gleichheitswidrig die Chance genommen werde, sein wah‑ res Leistungsvermögen unter Beweis zu stellen248. Im Kontext der Frage der Verfassungskonformität der Ausschlussfristen ist von dem Anspruch des möglicherweise von einer inneren Störung während der Prüfung belasteten Prüflings auf Entfaltung seines wahren Leistungsvermögens dann aber keine Rede mehr, sondern nur von den ihm angeblich eröffneten Missbrauchs‑ möglichkeiten, deretwegen sein Recht auf Chancengleichheit zugunsten desjenigen der anderen Prüfungsteilnehmer dann vollständig zurücktreten soll. Diese Rechtsauffassung stellt ersichtlich nicht mehr das Ergebnis einer dem Gebot der praktischen Konkordanz gerecht werdenden Abwägung dar. Wenn es dem Prüfling mit ärztlicher Hilfe gelingt nachzuweisen, dass er während der Prüfung prüfungsunfähig erkrankt war, und er aufgrund der Eigenarten der Erkrankung, insbesondere weil sich diese schleichend entwi‑ ckelt hat, nicht in der Lage war, seinen beeinträchtigten Zustand bereits während der Prüfung zu erkennen, dann folgt aus dem aus den Art. 12 Abs. 1 Satz 1, 3 Abs. 1 GG ableitbaren Recht des Prüflings, in der Prüfung 243 Siehe zu diesem Ziel BVerwGE 80, 282 (289); BayVGH, Bes. v. 28.01.2011 – 7 ZB 10.2236, juris, Rn. 16. 244 Vgl. Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 219, für den Fall der unverzüglichen Rüge eines Verfahrensmangels. 245 BVerwGE 66, 213 (217); VG Dresden, Bes. v. 28.12.2010 – 5 L 583/10, juris, Rn. 37; VG Augsburg, Urt. v. 24.01.2006 – Au 3 K 05.01950, juris, Rn. 21; Birnbaum, NVwZ 2006, 286 (288). 246 So zutreffend BVerwGE 80, 282 (289); siehe aber nunmehr mehr den Aspekt der materiell richtigen Entscheidung betonend BVerwGE 106, 369 (375). 247 Vgl. Birnbaum, NVwZ 2006, 286 (294 f.). 248 BVerwGE 80, 282 (284).
196 Kap. 6: Möglichkeiten (gerichtlicher) Kontrolle der Prüfungsentscheidung
sein wahres Leistungsvermögen unter Beweis zu stellen, ein Anspruch auf (nachträgliche) Anerkennung seiner Prüfungsunfähigkeit249. Soweit der ge‑ botenen Anerkennung abgelaufene gesetzliche Ausschlussfristen für die Geltendmachung der Prüfungsunfähigkeit entgegenstehen, sind diese in Übereinstimmung mit einem Teil der Rechtsprechung und Literatur verfas‑ sungskonform dahin auszulegen, dass sie nur im Falle des Kennens oder Kennenmüssens der Prüfungsunfähigkeit greifen250. Wenn und soweit dem Prüfling die Möglichkeit der nachträglichen Ein‑ wendung einer Prüfungsunfähigkeit in der Rechtsprechung zugestanden wird, verlangen insbesondere die Gerichte auch in diesem Fall deren unver‑ zügliche Geltendmachung251. Der Prüfling müsse, nachdem er seine zur Prüfungsunfähigkeit führende gesundheitliche Belastung erkannt habe, als‑ bald ohne weitere Verzögerung zum frühestmöglichen, ihm zumutbaren Zeitpunkt seinen Rücktritt erklären und dabei auch unverzüglich die Gründe hierfür mitteilen252. Eine derartige Obliegenheit des Prüflings ist jedenfalls dann abzulehnen, wenn der Prüfling von seiner Prüfungsunfähigkeit erst nach Bekanntgabe der Prüfungsergebnisse erfährt, weil zu diesem Zeitpunkt allenfalls noch deren gebotene Abklärung eine unverzügliche Geltendma‑ chung derselben rechtfertigen kann. Indes wurde bereits dargelegt, dass (auch) das Aufklärungsargument nicht überzeugen kann und insbesondere dann nicht, wenn eine Prüfungsunfähigkeit zum Zeitpunkt der Prüfung zweifelsfrei erwiesen ist253. Im Ergebnis unterliegt daher nach hier vertrete‑ ner Auffassung die Geltendmachung einer nachträglichen Prüfungsunfähig‑ keit nicht dem Gebot der Unverzüglichkeit.
249 Vgl. VG Dresden, Bes. v. 28.12.2010 – 5 L 583/10, juris, Rn. 36; VG Mün‑ chen, Urt. v. 26.02.2013 – M 3 K 11.452, juris, Rn. 19; Birnbaum, NVwZ 2006, 286 (294 f.). 250 BayVGH, Bes. v. 15.11.2004 – 7 ZB 04.1308, juris, Rn. 10; Bes. v. 20.06.2008 – 7 ZB 08.193, BayVBl 2009, 115 (116); VG Augsburg, Urt. v. 30.07.2002 – Au 9 K 02.138, juris, Rn. 62; Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 219, 293; Birnbaum, NVwZ 2006, 286 (290); unklar, aber eher auf der Linie der Rechtspre‑ chung Zimmerling/Brehm, Prüfungsrecht, Rn. 514. 251 BVerwGE 80, 282 (285); BayVGH, Bes. v. 28.01.2011 – 7 ZB 10.2236, juris, Rn. 19; Bes. v. 31.05.2013 – 7 C 13.664, juris, Rn. 7; VG Meiningen, Bes. v. 29.05.1997 – 8 E 530/97, juris, Rn. 17; VG Augsburg, Urt. v. 24.01.2006 – Au 3 K 05.01950, juris, Rn. 20; VG München, Urt. v. 26.02.2013 – M 3 K 11.452, juris, Rn. 19; siehe aber auch Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 291. 252 VG Augsburg, Urt. v. 24.01.2006 – Au 3 K 05.01950, juris, Rn. 20. 253 Vgl. Birnbaum, NVwZ 2006, 286 (294 f.); Zimmerling/Brehm, Prüfungsrecht, Rn. 522, 531.
B. Die (nachträgliche) Geltendmachung von Verfahrensfehlern197
c) Notwendigkeit einer gesetzlichen Regelung der Rügebzw. Anzeigeobliegenheit Mit dieser Feststellung ist nun auch der zeitliche Rahmen, innerhalb des‑ sen der Prüfling seine (unerkannte) Prüfungsunfähigkeit (nachträglich) gel‑ tend machen muss bzw. rechtzeitig geltend machen kann, abschließend ge‑ klärt. Dieser ist wie bei der Ermittlung des Präklusionszeitpunktes für eine Verfahrensmängelrüge im Wesentlichen bestimmt worden durch eine verfas‑ sungskonforme Auslegung des (gesetzlich normierten) Erfordernisses der Unverzüglichkeit der Einwendung der Prüfungsverhinderung. Damit kann insgesamt festgehalten werden, dass die vorhandenen gesetzlichen Vor‑ schriften, die sowohl im Falle des Auftretens einer Erkrankung als auch sonstiger Verfahrensmängel die Obliegenheit des Prüflings zu deren unver‑ züglicher Geltendmachung normieren, in der Auslegung, wie sie sie vorlie‑ gend erfahren haben, nicht zu beanstanden sind. Eine andere Frage ist, ob die unter den dargelegten Voraussetzungen verfassungsrechtlich unproblematisch erscheinende Annahme einer Oblie‑ genheit des Prüflings zur unverzüglichen Geltendmachung des jeweiligen Verfahrensmangels überhaupt der gesetzlichen Regelung bedarf. Diese ist jedenfalls insoweit von praktischer Bedeutung, als die allgemein angenom‑ mene Obliegenheit des Prüflings zur unverzüglichen Rüge eines Verfahrens‑ mangels nur teilweise eine gesetzliche Regelung erfahren hat254. Im Übrigen besteht jedenfalls auch mit Blick auf mögliche Änderungen der vorhandenen gesetzlichen Regelungen ein theoretisches Interesse an ihrer Klärung. Die Frage der Notwendigkeit einer gesetzlichen Regelung der Mitwirkungslasten des Prüflings zur Beseitigung aufgetretener Unregelmä‑ ßigkeiten des Prüfungsverfahrens wird allerdings in Rechtsprechung und Literatur kaum thematisiert. Das Bundesverwaltungsgericht begnügt sich mit dem lapidaren Hinweis, dass den Prüfling auch ohne eine normative Bestimmung die Last zur unverzüglichen Rüge eines Verfahrensfehlers tref‑ fe255. In der Literatur erachten Niehues / Fischer / Jeremias eine gesetzliche Regelung der Rügeobliegenheit für sinnvoll, aber angesichts ihrer Ableitbar‑ keit aus dem Grundsatz der Chancengleichheit nicht für erforderlich, um ihr Geltung zu verschaffen256. Mehr Problembewusstsein zeigt soweit ersicht‑ 254 Die Obliegenheit des Prüflings, Mängel des Verfahrens unverzüglich zu rü‑ gen, ist nur in Brandenburg (§ 16 Abs. 2 Satz 1 JAO), Berlin (§ 16 Abs. 2 Satz 1 JAO), Mecklenburg-Vorpommern (§ 28 Abs. 2 Satz 1 JAPO M‑V), Rheinland-Pfalz (§ 12 Abs. 1 S. 2 JAPO RLP) und Baden-Württemberg (§ 25 Abs. 2 Satz 1 JAPrO Ba.-Wü.) ausdrücklich geregelt. 255 BVerwG, Urt. v. 27.04.1999 – 2 C 30/98, NVwZ 2000, 921 (921); siehe auch OVG Münster, Bes. v. 21.03.2013 – 14 E 135/13, juris, Rn. 4. 256 Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 283.
198 Kap. 6: Möglichkeiten (gerichtlicher) Kontrolle der Prüfungsentscheidung
lich allein Birnbaum, der wegen der im materiellen Ausschluss von der Prüfungsanfechtung liegenden Rechtswirkungen einer nicht beachteten (Rücktritts‑)Obliegenheit für die Notwendigkeit einer gesetzlichen Grundla‑ ge eintritt und im Ergebnis sogar eine formell-gesetzliche Grundlage für erforderlich hält257. Ob die postulierte Rüge- bzw. Rücktrittsobliegenheit des Prüflings der (formell‑) gesetzlichen Grundlage bedarf, ist ausgehend von den im Falle eines greifenden Einwendungsausschlusses tangierten Grundrechten und deren Einschränkbarkeit zu beantworten. Insoweit wurde bereits herausge‑ arbeitet, dass die aus der Nichtbeachtung einer postulierten Mitwirkungsob‑ liegenheit folgende Präklusion mit der Einwendung eines Prüfungsverfah‑ rensfehlers einen Eingriff sowohl in Art. 12 Abs. 1 Satz 1 als auch in Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG darstellt. Diesbezüglich ist nochmals hervorzuheben, dass die Nichtbeachtung einer postulierten Rügeobliegenheit zum endgültigen Nichtbestehen der Prüfung führen und diese daher zu einer die Freiheit der Berufswahl begrenzenden „Prüfungsschranke“ werden kann, so dass die vom Bundesverfassungsgericht für das materielle Prüfungsverfahren entwi‑ ckelten Grundsätze entsprechend gelten258. Zu diesen gehört das bereits unmittelbar anhand des (qualifizierten) Ge‑ setzesvorbehalts begründbare Erfordernis einer gesetzlichen Grundlage259. Dabei gibt die Wesentlichkeitstheorie eine Antwort darauf, von welchem Rechtssetzungsorgan das Eingriffsgesetz erlassen werden muss. Bei der Beurteilung der „Wesentlichkeit“ ist von Bedeutung, dass bei der Annahme bzw. Regelung einer Rügeobliegenheit die Rechtssphäre des (vermeintlich) fehlerbelasteten Prüflings und bei einem Verzicht auf sie die Chancengleich‑ heit der anderen Prüflinge berührt ist bzw. zumindest berührt sein kann; es müssen also wie aufgezeigt die Grenzen der konkurrierenden Freiheitsrech‑ te abgesteckt und die Regeln für den Wettbewerb der Kandidaten um den Berufszugang festgelegt werden. Die insoweit bereitzustellende Verfahrens‑ ordnung für das Verwaltungsverfahren gestaltet damit unmittelbar die Grundrechtspositionen der Kandidaten aus. Damit liegen hier all diejenigen Kriterien vor, die das Bundesverfassungs‑ gericht in der Mutzenbacher-Entscheidung dazu bewogen haben, mit be‑ achtlichen Gründen ein Tätigwerden des parlamentarischen Gesetzgebers für erforderlich zu halten260. Bei aller Schwierigkeit, das vage Kriterium der „Wesentlichkeit“ mit Inhalt zu füllen, kann hier nicht zweifelhaft sein, dass 257 Birnbaum,
258 Zutreffend
NVwZ 2006, 286 (290). BVerwGE 106, 369 (372), mit Verweis auf BVerfGE 84, 34 (45 f.);
84, 59 (72 f.). 259 Vgl. BVerfGE 84, 34 (45 f.); 84, 59 (72 f.). 260 Vgl. BVerfGE 83, 130 (152).
B. Die (nachträgliche) Geltendmachung von Verfahrensfehlern199
die Frage, innerhalb welcher zeitlicher Grenzen der Prüfling Mängel des Prüfungsverfahrens geltend machen kann, von wesentlicher Bedeutung für die Verwirklichung des verfassungsrechtlich gewährleisteten Rechtsschutzes ist, wobei diese Garantie sowohl in Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG als auch in Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG zum Ausdruck kommt. Nach alledem lässt sich damit sowohl aus Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG als auch aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG das Erfordernis einer formell-gesetzli‑ chen Grundlage für die aus dem Chancengleichheitsgrundsatz abgeleiteten Mitwirkungsobliegenheiten des Prüflings ableiten. Dabei dürfte den mit der Wesentlichkeitslehre aufgestellten Erfordernissen hinreichend Genüge getan sein, wenn der parlamentarische Gesetzgeber die grundsätzliche Ent‑ scheidung über die (zeitliche) Begrenzung der Möglichkeiten des Prüf‑ lings, sich auf Mängel des Prüfungsverfahrens zu berufen, trifft und diese in dem formellen Gesetz hinreichend zum Ausdruck kommt. Es müssen also die maßgeblichen Grundsätze für das Verhalten des Prüflings im Fal‑ le des Vorliegens von Verfahrensmängeln vorgegeben werden, während Detailfragen wie die an die Rüge zu stellenden Formanforderungen ohne Weiteres der Regelung durch den Verordnungsgeber überlassen werden können. Gemessen an den vorstehenden Befunden besteht namentlich in denjeni‑ gen Bundesländern, in denen es an einer gesetzlichen Regelung der Rüge‑ obliegenheiten des Prüflings gänzlich fehlt, akuter gesetzgeberischer Hand‑ lungsbedarf. Aber auch soweit gesetzliche Regelungen vorhanden sind, er‑ scheinen diese nicht hinreichend, weil die jeweilige Verordnungsermächti‑ gung sich darauf beschränkt, dem rechtssetzenden Organ die Befugnis einzuräumen, die „Folgen von Prüfungsmängeln“261 oder mit ähnlichen Formulierungen262 nichts Substantielles namentlich in Form der ausdrückli‑ chen Normierung einer Rügeobliegenheit zu regeln. Den Postulaten der Wesentlichkeitstheorie dürften diese interpretationsoffenen Verordnungser‑ mächtigungen kaum gerecht werden. 3. Unterbliebene Abstellung oder unzureichende Kompensation des Verfahrensfehlers Sobald das Prüfungsamt eine offenkundig leistungsbeeinträchtigende äu‑ ßere Störung des Prüfungsablaufs wahrnimmt oder einen sonstigen Verfah‑ rensfehler und dessen Erheblichkeit feststellt, muss es kraft seiner 261 Vgl.
etwa § 9 Abs. 1 Nr. 4 LSA JAG. von Verstößen gegen Prüfungsbestimmungen“, § 9 Abs. 1 Nr. 6 JAG
262 „Folgen
Ba.‑Wü.
200 Kap. 6: Möglichkeiten (gerichtlicher) Kontrolle der Prüfungsentscheidung
(Haupt‑)Verantwortung für ein rechtmäßiges Prüfungsgeschehen von Amts wegen einschreiten263, und nach erfolgter bzw. versuchter Beseitigung der Störung bzw. des Verfahrensfehlers die erforderlichen Maßnahmen zum Ausgleich fortbestehender Beeinträchtigungen anordnen. Weist der Prüfling im Rahmen seiner (Mit‑) Verantwortung für einen fehlerfreien Ablauf der Prüfung auf eine subjektiv als erheblich empfundene äußere Beeinträchti‑ gung oder einen sonstigen Verfahrensfehler hin, hat das Prüfungsamt zu‑ nächst über die objektive Relevanz der gerügten Umstände zu befinden. Im Falle einer angenommen Handlungspflicht muss es gleichfalls im Rahmen der bestehenden Reaktionsmöglichkeiten die zur Wiederherstellung der Chancengleichheit aller Kandidaten objektiv erforderlichen Maßnahmen er‑ greifen bzw. anordnen. Sowohl die erforderlichen Schritte zur Störungsbeseitigung als auch Art und Umfang der vom Prüfungsamt zu ergreifenden Kompensationsmaßnah‑ men aufgrund und im Rahmen der – ggf. durch eine Störungsrüge des Prüflings konkretisierten – Handlungspflicht der Behörde richten sich dabei zunächst nach dem Charakter des Verfahrensmangels und im Übrigen nach den Umständen des Einzelfalles264, auf die hier nicht im Einzelnen einge‑ gangen werden kann. Dabei wird die in der konkreten Prüfungssituation vom Prüfungsamt zu treffende Entscheidung aber durch die in der jeweili‑ gen Prüfungsordnung abstrakt-generell vorgesehenen Handlungsoptionen und im Übrigen durch den Grundsatz der Chancengleichheit bestimmt, der hier verlangt, dass durch die Durchführung der Kompensationsmaßnahme einerseits die von den fehlerbelasteten Prüflingen erlittenen Nachteile so‑ weit wie möglich aufgewogen, ihnen andererseits aber auch keine vermeid‑ baren Vorteile eingeräumt werden265. Wenn und soweit die Reaktionsmöglichkeiten des Prüfungsamtes beim Auftreten äußerer Störungen oder sonstiger Verfahrensfehler in der Prü‑ fungsordnung normiert sind, ist für den Regelfall266 oder gar als ausschließ‑ liche Kompensationsmaßnahme267 die Wiederholung der Prüfung oder von Prüfungsteilen für alle oder einzelne Prüfungsteilnehmer, teilweise aber auch (ausdrücklich) ein abgestuftes Ausgleichssystem vorgesehen268, nach 263 Vgl. nur BVerwGE 94, 64 (72); VG Dresden, Bes. v. 27.11.2008 – 5 L 1866/08, juris, Rn. 17. 264 Vgl. BVerwGE 85, 323 (326). 265 Vgl. in Bezug auf die Kompensation einer Lärmstörung BVerwGE 94, 64 (68). 266 § 9 Abs. 1 Satz 1 JAPO M-V; § 25 Abs. 1 Satz 2 JaPrO Ba.-Wü.; § 28 Abs. 1 Satz 2 JAPO M-V; § 17 Abs. Satz 1 JAG Saarland. 267 § 12 Abs. 1 JAPO; § 10 Abs. 1 SächsJAPO; § 31 Abs. 1 Satz 1 JAPrVO LSA. 268 § 25 Abs. 1 Satz 2 JaPrO Ba.-Wü.; § 28 Abs. 1 Satz 2 JAPO M-V.
B. Die (nachträgliche) Geltendmachung von Verfahrensfehlern201
dem in erster Linie269 oder jedenfalls auch270 eine Schreibzeitverlängerung oder eine andere geeignete Maßnahme angeordnet werden kann. Im Hin‑ blick auf die erheblichen Belastungen, die mit der Wiederholung insbeson‑ dere der gesamten Prüfung, aber auch einer Teilprüfungsleistung für die Prüflinge verbunden sind, dürfte eine entsprechende Anordnung nur dann in Betracht kommen, wenn die äußeren Störungen des Prüfungsablaufs abseh‑ bar während der gesamten regulären Prüfungsdauer andauern271 oder die sonstigen aufgetretenen Verfahrensfehler nicht kurzfristig behoben werden können und die Chancengleichheit daher auf andere Art und Weise nicht wiederhergestellt werden kann. Bei kurzfristigen Beeinträchtigungen wie einer vorübergehenden Lärmstörung, die ohne Weiteres durch mildere Mit‑ tel wie namentlich die Gewährung einer Schreibzeitverlängerung ausgegli‑ chen werden kann272, ist diese zur Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrund‑ satzes auch dann zu verfügen, wenn in der Prüfungsordnung ausdrücklich nur die Anordnung der Wiederholung der Prüfung vorgesehen ist. Entspre‑ chende Vorschriften sind in diesem Fall verfassungskonform dahin auszule‑ gen, dass die mögliche Anordnung der Wiederholung erst Recht die Anord‑ nung milderer Maßnahmen zulässt. Obwohl in den Prüfungsordnungen also als Regelkompensation für auf‑ getretene Verfahrensfehler die Wiederholung der Prüfung oder von Teilen derselben vorgesehen ist, steht in der Praxis die Gewährung einer Schreib‑ zeitverlängerung insbesondere bei den häufigen Lärmstörungen ganz im Vordergrund. Bei dieser stellt sich immer wieder die bei anderen Kompen‑ sationsmaßnahmen gar nicht erst auftauchende Frage ihres für die Wieder‑ herstellung der Chancengleichheit gebotenen Umfangs. Da es bei der Beur‑ teilung der ausreichenden Bemessung dieser oder auch einer anderen Aus‑ gleichsmaßnahme immer um die Chancengleichheit der Prüflinge in ent‑ sprechenden Prüfungssituationen geht, ist jedenfalls im Grundsatz nicht von der individuellen Empfindlichkeit der jeweils betroffenen Prüflinge, sondern nivellierend und verallgemeinernd von dem „Durchschnitts“-Prüfling auszu‑ gehen273. Dieser Maßstab lässt Raum für die Entwicklung von Erfahrungs‑ sätzen, die sodann der Beurteilung des Einzelfalles – vorbehaltlich der Be‑ 269 § 16
Abs. Satz 2 JAO Berlin/Brandenburg. Abs. 1 Satz 2 JaPrO Ba.-Wü.; § 28 Abs. 1 Satz 2 JAPO M-V.; § 17 Abs. 1 Satz 2 JAG Saarland sieht neben der Wiederholung ausschließlich eine Schreibzeitverlängerung vor. 271 Vgl. hier insbesondere den Rechtsgedanken in § 17 Abs. 1 Satz 2 JAG Saar‑ land sowie auch BVerfG, Bes. v. 21.12.1992 – 1 BvR 1295/90, NJW 1993, 917 (918). 272 Vgl. insoweit § 9 Abs. 1 Satz 2 ThürJAPO und BVerwGE 85, 323 (325); 94, 64 (68). 273 BVerwGE 94, 64 (70). 270 § 25
202 Kap. 6: Möglichkeiten (gerichtlicher) Kontrolle der Prüfungsentscheidung
rücksichtigung von gegebenen Besonderheiten – zugrunde gelegt werden können und müssen274. Das Bundesverwaltungsgericht hat insoweit in seiner zweiten Grundsatzentscheidung zur Bemessung des Umfangs der aufgrund einer vorliegenden Lärmstörung gebotenen Schreibzeitverlängerung einen vom Prüfungsamt herangezogenen Erfahrungssatz unbeanstandet gelassen, wonach eine Lärmstörung grundsätzlich im Verhältnis eins zu eins auszu‑ gleichen sei275. Dabei hat es entgegen seiner früheren Rechtsprechung formell eine voll‑ ständige gerichtliche Überprüfung der Angemessenheit der gewährten Schreibzeitverlängerung vorgenommen276, nachdem das Bundesverfassungs‑ gericht den bis dato vom Bundesverwaltungsgericht eingenommenen Rechtsstandpunkt, dass der Prüfungsbehörde bei der Bemessung derselben ein Entscheidungsspielraum zustünde277, für mit dem Gewährleistungsgehalt des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG unvereinbar und damit für verfassungswidrig erklärt hatte278. Die Rechtsschutzsituation des fehlerbelasteten Prüflings dürfte sich in der Sache durch diesen Rechtsprechungswandel aber nicht wesentlich verbessert haben. Denn auch bei sorgsamster Analyse des Sach‑ verhalts und Abwägung der widerstreitenden Grundrechtspositionen lässt sich – worauf das Bundesverwaltungsgericht zutreffend hinweist – der ge‑ botene Umfang der Schreibzeitverlängerung nicht mathematisch genau er‑ mitteln, so dass sich in der gerichtlichen Praxis die im Prinzip gebotene vollständige Überprüfung der Kompensationsmaßnahme de facto in einer Überprüfung namentlich der Willkürfreiheit der angewendeten Erfahrungs‑ sätze und des vollständig und zutreffend ermittelten Sachverhalts erschöpft. Dies ist indes verfassungsrechtlich und insoweit im Hinblick auf die Wer‑ tungen des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG hinnehmbar, da Grundrechtsschutz auch nur im Rahmen des Möglichen verwirklicht werden kann279. Die Frage nach dem Umfang der (gerichtlichen) Kontrolldichte stellt sich auch bei den der Bemessung der Schreibzeitverlängerung vorgelagerten Entscheidungen des Prüfungsamtes über die Notwendigkeit der Störungsbe‑ seitigung bzw. der Verfahrensfehlerbehebung sowie der gebotenen Anord‑ nung einer (zusätzlichen) Kompensationsmaßnahme und deren Auswahl. Insoweit gilt, dass auch die Reichweite der gerichtlichen Überprüfung der Entscheidung des Prüfungsamtes, von einem Einschreiten abzusehen, sowie 274 Zutreffend
BVerwGE 94, 64 (70). 94, 64 (70 f.). 276 BVerwGE 94, 64 (68). 277 Siehe BVerwGE 85, 323 (328). 278 BVerfG, Bes. v. 21.12.1992 – 1 BvR 1295/90, NJW 1993, 917 (918). 279 Siehe speziell im Hinblick auf Art. 19 Abs. 4 GG Gaier, NVwZ 2011, 385 (386); siehe auch BVerfGE 103, 242 (259), im Hinblick auf Art. 6 Abs. 1 GG. 275 BVerwGE
B. Die (nachträgliche) Geltendmachung von Verfahrensfehlern203
der Eignung eingeleiteter Maßnahmen davon abhängt, ob in der Prüfungs‑ ordnung eine Regelung der Handlungsvoraussetzungen und -optionen erfolgt ist und der Behörde ggf. ein Entscheidungsspielraum auf der Tatbestandsund / oder Rechtsfolgenseite eingeräumt ist. Zwar liegt es nach den einschlä‑ gigen Regelungen in den Prüfungsordnungen280 im Ermessen des Prüfungs‑ amtes, ob es beim Auftreten einer äußeren Störung oder eines sonstigen Verfahrensfehlers Maßnahmen zur Beseitigung und / oder zum Ausgleich der eingetretenen Beeinträchtigungen ergreift. Dennoch verfügt die Behörde im Ergebnis über keinen Entscheidungsspielraum, weil im Falle des Vorliegens eines wesentlichen Verfahrensfehlers stets eine Reduktion des Ermessens‑ spielraums auf Null vorliegt und sie demgemäß stets zu einem Einschreiten verpflichtet ist. Fehlt es an einer gesetzlichen Regelung, unterliegt die von der Behörde (nicht) getroffene Entscheidung ohnehin der vollständigen ge‑ richtlichen Kontrolle. Soweit allerdings der Behörde innerhalb des gesetz‑ lich abgesteckten Entscheidungsrahmens auch eine Handlungsfreiheit be‑ züglich der Auswahl der in Betracht kommenden Kompensationsmaßnahmen eingeräumt ist, beschränkt sich die gerichtliche Überprüfung auf die rechts‑ fehlerfreie Betätigung dieses Rechtsfolgeermessens. (Erst) wenn sich in Anwendung der vorstehenden (gerichtlichen) Über‑ prüfungsmöglichkeiten herausstellt, dass ein wesentlicher Verfahrensfehler nicht behoben und / oder eine (daneben) erforderliche Kompensationsmaß‑ nahme nicht angeordnet oder die verfügte ihrer Art oder ihrem Umfang nach nicht geeignet war, die aufgetretenen Beeinträchtigungen hinreichend aufzufangen, kann der fehlerbelastete Prüfling zur Wiederherstellung seiner Chancengleichheit die Neuerbringung der verfahrensmängelbehafteten Prü‑ fungsleistung verlangen. 4. Gesetzliche Ausschlussfristen / Obliegenheit zur rücktrittsähnlichen Erklärung Nach einigen Prüfungsordnungen ist der Prüfling aber gehalten, falls sich erwiesen hat, dass das Prüfungsverfahren mit Mängeln behaftet war, die die Chancengleichheit erheblich verletzt haben, den Antrag auf Wiederholung der Prüfung unverzüglich, spätestens aber innerhalb einer Frist von einem Monat seit Abschluss des mängelbehafteten Prüfungsteils zu stellen, nach deren Ablauf er mit diesem bzw. der Geltendmachung des Verfahrensmangel ausgeschlossen ist281. Im Ergebnis denselben Regelungsinhalt weisen Vor‑ 280 § 12 Abs. 1 JAPO Bayern; § 10 Abs. 1 SächsJAPO; § 9 Abs. 1 ThürJAPO; § 28 Abs. 1 JAPO M-V; § 12 Satz 2 JAPO RLP; § 25 Abs. 1 Satz 1 JAPrO Ba.-Wü. 281 Vgl. § 12 Abs. 2 Satz 1, 3, Abs. 1 JAPO Bayern; § 31 Abs. 2 Satz 2, 4, Abs. 1 Satz 1 JAPrVO LSA; § 10 Abs. 1, 2 SächsJAPO; § 9 Abs. 2 Satz 1, 3, Abs. 1 ThürJAPO.
204 Kap. 6: Möglichkeiten (gerichtlicher) Kontrolle der Prüfungsentscheidung
schriften auf, wonach dem Prüfling abverlangt wird, unter den gleichen Vo‑ raussetzungen die „für erforderlich gehaltenen Maßnahmen“ beim Prüfungs‑ amt zu beantragen, wenn dieses trotz einer rechtzeitigen Rüge keine oder nicht ausreichende Ausgleichsmaßnahmen ergriffen hat282. Denn bei den „für erforderlich gehaltenen Maßnahmen“ kann es sich letztlich nur um den Antrag auf Wiederholung des mängelbehafteten Prüfungsteils handeln283. Diese Regelungen können zunächst einmal als Ausdruck der zutreffenden Erkenntnis angesehen werden, dass zwischen der Rüge einer Störung bzw. eines Verfahrensfehlers und der Geltendmachung von Rechtsfolgen aus ihrer Nichtbeseitigung und damit dem (behaupteten) Vorliegen eines Verfahrens‑ mangels unterschieden werden muss284. Zwar kann wie aufgezeigt unter Umständen bereits die Rüge des Prüflings zur Wiederholung des mängelbe‑ hafteten Prüfungsteils führen, wenn das Prüfungsamt diese zur Wiederher‑ stellung der Chancengleichheit für erforderlich hält. Während aber der Prüf‑ ling diese Rechtsfolge im Falle einer Erkrankung mit der Rücktritts- oder äquivalenten Erklärung von vornherein anstrebt, bezweckt er mit der Rüge einer äußeren Störung des Prüfungsablaufs oder eines sonstigen Verfahrens‑ fehlers in erster Linie die Behebung der aufgetretenen Unregelmäßigkeiten im Prüfungsgeschehen und / oder die Einleitung einer Ausgleichsmaßnahme und damit im Ergebnis die (Wieder‑)Herstellung regulärer Prüfungsbedin‑ gungen durch das Prüfungsamt. Mit der Erfüllung der Rügeobliegenheit be‑ gründet der Prüfling jedoch zugleich die mögliche rechtliche Relevanz der beanstandeten Störung oder des sonstigen Verfahrensfehlers als erheblichen Verfahrensmangel, und er erhält sich grundsätzlich bereits damit die Mög‑ lichkeit, sich auf diesen im späteren Prüfungsanfechtungsverfahren zur Be‑ gründung der Rechtswidrigkeit der Prüfungsentscheidung berufen und auf‑ grund dessen die (Teil‑)Wiederholung der Prüfung beantragen zu können285. (Rechts‑)Folge der Ausschlussfristen – und darin liegt ihre eigentliche Be‑ deutung – ist nun aber die Begründung einer weiter gehenden Obliegenheit des Prüflings, „sich unverzüglich nach Ablegung der Prüfung darüber Klar‑ heit zu verschaffen, ob er die Prüfung trotz des Mangels gegen sich gelten 282 § 25
Abs. 3 Satz 1, 3 JAPrO Ba.-Wü.; § 28 Abs. 3 Satz 1, 3 JAPO M-V. VG Köln, Urt. v. 24.11.2003 – 6 K 1115/98, NWVBl. 2005, 441 (442) in Bezug auf den Inhalt der in § 13 Abs. 4 Satz 3 JAG NRW normierten Ausschluss‑ frist. 284 Vgl. zunächst OVG Bautzen, Bes. v. 26.05.2009 – 4 B 400/08, LKV 2009, 325 (325 f.); siehe daneben OVG NRW, Bes. v. 09.10.2008 – 14 A 3388/07, NVWBl. 2009, 151 (152) in Bezug auf die in § 13 Abs. 4 Satz 3 JAG NRW normierte Aus‑ schlussfrist des Inhalts, wonach der Prüfling sich binnen eines Monats auf die Stö‑ rung berufen muss; sowie VG Köln, Urt. v. 24.11.2003 – 6 K 1115/98, NWVBl. 2005, 441 (442). 285 Vgl. zu diesen (Rechts-)Wirkungen der Rüge nur OVG NRW, Bes. v. 09.10.2008 – 14 3388/07, NWVBl. 2009, 151 (151). 283 Vgl.
B. Die (nachträgliche) Geltendmachung von Verfahrensfehlern205
lassen möchte und, falls dies nicht der Fall sein sollte, innerhalb der laufen‑ den Frist unmissverständlich gegenüber der Prüfungsbehörde zum Ausdruck zu bringen, dass er die Prüfung unter keinen Umständen gegen sich gelten lassen wolle“286. Die Notwendigkeit einer solchen „rücktrittsähnlichen Erklärung“287, die im Gegensatz zur Rüge unmittelbar rechtsgestaltende Wir‑ kung hat und deren Abgabe Voraussetzung für den Erhalt des etwaigen Wie‑ derholungsanspruchs des Prüflings auch dann sein soll, wenn es wegen der Offenkundigkeit des Verfahrensfehlers keiner Rüge bedurfte288, wird aber auch völlig unabhängig von einer in der Prüfungsordnung erfolgten Rege‑ lung aus den allgemeinen Grundsätzen des Prüfungsrechts abgeleitet289, weil sie von der ganz herrschenden Rechtsprechung zur Wahrung der Chancen‑ gleichheit der anderen Prüfungsteilnehmer als erforderlich angesehen wird290. Insoweit wird die Gefahr gesehen, dass sich ein Prüfling, der das Prüfungs‑ ergebnis in Kenntnis des Mangels abwartet, gegenüber demjenigen Prüfling, der zeitnah nach Erbringung der Prüfungsleistung eine ihn bindende Rück‑ trittserklärung abgegeben hat, einen ihm nicht zustehenden weiteren Prü‑ fungsversuch dadurch verschafft, dass er es vom Ergebnis der Prüfung ab‑ hängig macht, ob er sich auf den Verfahrensmangel überhaupt beruft291. In der instanzgerichtlichen Rechtsprechung hat bisher lediglich das OVG Koblenz angenommen, dass jedenfalls dann, wenn in der Prüfungsordnung keine weiter gehenden Mitwirkungslasten normiert sind, dem Prüfling kein über die Rüge des störenden Umstands hinausgehendes Verhalten abverlangt werden könne292. Er sei insbesondere grundsätzlich nicht gehalten, aus der 286 Zur Terminologie siehe VG Würzburg, Urt. v. 24.06.2009 – W 2 K 09.93, juris, Rn. 26; VG Dresden, Bes. v. 27.11.2008 – 5 L 1866/08, juris, Rn. 18; zur Rechtswirkung der Ausschlussfrist VG Dresden, Urt. v. 02.12.2010 – 5 K 1483/08, juris, Rn. 135. 287 Vgl. zur Terminologie VG Dresden, Urt. v. 02.12.2010 – 5 K 1483/08, juris, Rn. 135; VG Dresden, Bes. v. 27.11.2008 – 5 L 1866/08, juris, Rn. 18. 288 Vgl. OVG NRW 09.10.2008 – 14 A 3388/07, NWVBl. 2009, 151 (152); VG Dresden, Urt. v. 02.12.2010 – 5 K 1483/08, juris, Rn. 135. 289 Vgl. VG Dresden, Bes. v. 27.11.2008 – 5 L 1866/08, juris, Rn. 18; VG Würz‑ burg, Urt. v. 24.06.2009 – W 2 K 09.93, juris, Rn. 26. 290 Vgl. BayVGH, Urt. v. 30.06.1993 – 7 B 92.1699, juris, Rn. 16 (ärztliche Prü‑ fung, normative Anbindung § 18 ÄApprO); OVG Greifswald, Bes. v. 27.11.1997 – 2 M 127/97, 2 M 128/97, DVBl. 1998, 972 (973) (zahnärztliche Prüfung, unter dem Gesichtspunkt der Verwirkung); VG Köln, Urt. v. 24.11.2003 – 6 K 1115/98, NWV‑ Bl. 2005, 441 (442) (bezogen auf § 13 Abs. 4 JAG NRW); VG Dresden, Bes. v. 27.11.2008 – 5 L 1866/08, juris, Rn. 18; VG Würzburg, Urt. v. 24.06.2009 – W 2 K 09.93, juris, Rn. 26 (bezogen auf ärztliche Prüfung); VG Dresden, Urt. v. 02.12.2010 – 5 K 1483/08, juris, Rn. 135. 291 Vgl. VG Dresden, Bes. v. 27.11.2008 – 5 L 1866/08, juris, Rn. 18; VG Würz‑ burg, Urt. v. 24.06.2009 – W 2 K 09.93, juris, Rn. 26. 292 OVG Koblenz, Urt. v. 26.02.1986 – 2 A 71/85, NVwZ 1988, 457 (457).
206 Kap. 6: Möglichkeiten (gerichtlicher) Kontrolle der Prüfungsentscheidung
Tatsache, dass das Prüfungsverfahren durch einen äußeren Umstand gestört worden ist, für sich auch rechtliche Konsequenzen zu ziehen und etwa von der Prüfung zurückzutreten. Für eine derartige rechtsgestaltende Erklärung des einzelnen Prüflings sei dann kein Raum293, und es bestünde für diese auch keine Notwendigkeit zur Wahrung des prüfungsrechtlichen Prinzips der Chancengleichheit. Denn da das Prüfungsamt nach der Rüge eines Prüf‑ lings mit Wirkung für alle Prüfungsteilnehmer darüber zu entscheiden habe, ob die Prüflinge die unter den gerügten Bedingungen erbrachte Prüfungs‑ leistung gegen sich gelten lassen müssten oder nicht, habe der einzelne Prüfling gar nicht die Möglichkeit, bei einer seiner Ansicht nach nicht ordnungsgemäßen Prüfung zu spekulieren und die nochmalige Erbringung der Prüfungsleistung von dem Ergebnis der gestörten Prüfung abhängig zu machen294. In einer im gegebenen Kontext völlig unbeachtet gebliebenen älteren Entscheidung hat auch das Bundesverwaltungsgericht den Rechtsstandpunkt eingenommen, dass der Grundsatz der Chancengleichheit es nicht ausschlie‑ ße, dass der Prüfling eine – den Prüfungsorganen bekannte – äußere Störung des Prüfungsablaufs erst nach Bekanntgabe der Prüfungsergebnisse als Verfahrensmangel geltend mache295. In dieser Situation könne sich ein Prüf‑ ling, der sich erst später auf den Verfahrensmangel zur Begründung der Rechtswidrigkeit der Prüfungsentscheidung berufe, gegenüber den anderen Prüflingen keinen mit Art. 3 Abs. 1 GG unvereinbaren Vorteil verschaffen, da der Erfolg seiner Einwendung allein davon abhänge, ob das Prüfungsamt in Bezug auf den während der Prüfung aufgetretenen Mangel hinsichtlich einer etwaigen Abhilfe oder Kompensation desselben eine rechtlich ein‑ wandfreie Entscheidung getroffen habe296. In der Literatur ist die Notwendigkeit einer rücktrittsähnlichen Erklärung des Prüflings neben einer vorausgegangenen, erfolglosen Störungsrüge ebenfalls umstritten297. Niehues / Fischer / Jeremias schließen sich in Ergeb‑ nis wie Begründung der herrschenden Rechtsprechung an und verlangen dem gestörten Prüfling zur Wahrung der Chancengleichheit der anderen Prüfungsteilnehmer ab, dass er rechtliche Konsequenzen aus dem aufgetre‑ tenen Verfahrensmangel zieht und die gewünschten Rechtsfolgen gegenüber dem Prüfungsamt einfordert, soweit ihm dies zumutbar ist298. Schmidt293 Vgl.
OVG Koblenz, Urt. v. 26.02.1986 – 2 A 71/85, NVwZ 1988, 457 (457). OVG Koblenz, Urt. v. 26.02.1986 – 2 A 71/85, NVwZ 1988, 457 (458). 295 BVerwG, Bes. v. 11.11.1975 – VII B 72.74, BayVBl. 1977, 183 (183). 296 BVerwG, Bes. v. 11.11.1975 – VII B 72.74, BayVBl. 1977, 183 (183). 297 Siehe zum Streitstand auch Lampe, S. 136, mit unklarer eigener Position. 298 Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 485. 294 Vgl.
B. Die (nachträgliche) Geltendmachung von Verfahrensfehlern207
Räntsch tritt ohne weiter gehende Begründung dem Rechtsstandpunkt des OVG Koblenz bei299. Zwar ist der herrschenden Meinung zuzugestehen, dass bei der Vernei‑ nung einer Obliegenheit des Prüflings zur Abgabe einer rücktrittsähnlichen Erklärung nach einer erfolglosen Rüge eine Verletzung der Chancengleich‑ heit derjenigen Mitbewerber um den Berufszugang droht, die ihre Prü‑ fungsleistungen in einem verfahrensfehlerfreien Prüfungsverfahren erbracht haben und denen daher die Chance zu einem spekulativen Vorgehen von vornherein nicht eröffnet war. Das OVG Koblenz weist allerdings in der Sache völlig zu Recht darauf hin, dass das Prüfungsamt es in der Hand habe, der Gefahr der Verletzung der Chancengleichheit der anderen Prü‑ fungsteilnehmer dadurch zu begegnen, dass es durch die Beseitigung der aufgetretenen Störung und / oder die Anordnung einer angemessenen Aus‑ gleichsmaßnahme wieder rechtmäßige Zustände herstellt und dadurch aus‑ schließt, dass die von den Unregelmäßigkeiten betroffenen Prüflinge fak‑ tisch eine ihnen nicht zustehende weitere Prüfungschance erhalten. So be‑ trachtet wirft die Frage, ob dem Prüfling neben einer Rüge der Störung auch eine weiter gehende rücktrittsähnliche Erklärung abverlangt werden kann, im Grunde genommen diejenige nach der angemessenen Aufgaben‑ verteilung im Prüfungsverfahren auf. Diese hat sich in gleicher Weise ins‑ besondere im Zusammenhang mit der ganz ähnlich gelagerten Frage der Notwendigkeit einer erneuten Rüge des Prüflings nach einer beanstandeten, aus seiner Sicht aber unzureichend ausgeglichenen Störung gestellt300. Sie ist hier wie dort kurz wiederholend dahin zu beantworten, dass es mit der grundsätzlichen Aufgabenverteilung im Prüfungsverfahren, nach der die Prüfungsbehörde als Herrin301 desselben die (Haupt‑)Verantwortung für ein fehlerfreies und damit rechtmäßiges Prüfungsgeschehen trifft, unvereinbar erscheint, den fehlerbelasteten Prüfling zum Sachwalter der Chancengleich‑ heit in ihrer objektiv-rechtlichen Dimension zu machen. Den Prüfling die Last der Versäumnisse des Prüfungsamtes im Rahmen der Störungsbeseiti‑ gung tragen zu lassen, erscheint auch hier deshalb völlig unangemessen, weil das Prüfungsamt aufgrund seiner langjährigen Erfahrungen und zu er‑ wartenden Rechtskenntnisse ohne Weiteres in der Lage sein müsste, eine Störung bzw. einen Verfahrensfehler entsprechend den Anforderungen der Rechtsprechung zu beheben und / oder auszugleichen, während der Prüfling 299 Schmidt-Räntsch, DRiG, Anhang zu § 5d, Rn. 74; tendenziell eine rücktritts‑ ähnliche Erklärung ablehnend auch Karasek, RdJB 1995, 409 (414). 300 Deswegen darf aber die Frage der Notwendigkeit einer erneuten Rüge nicht mit derjenigen einer erforderlichen rücktrittsähnlichen Erklärung gleichgesetzt wer‑ den; so aber letztlich Lampe, S. 136. 301 OVG Koblenz, Urt. v. 26.02.1986 – 2 A 71/85, NVwZ 1988, 457 (457).
208 Kap. 6: Möglichkeiten (gerichtlicher) Kontrolle der Prüfungsentscheidung
sich – ggf. sogar durch Einholung eines kostenpflichtigen Rechtsrats – re‑ gelmäßig erst einmal rechtskundig machen müsste, bevor er beurteilen kann, ob ein Verfahrensmangel vorliegt. Soweit sich die Obliegenheit zur Abgabe einer rücktrittsähnlichen Erklä‑ rung aus einer normierten Ausschlussfrist für die Geltendmachung von Mängeln im Prüfungsverfahren ergibt, kommt die Problematik hinzu, dass mit dieser nach der Rechtsprechung auch Mängel ausgeschlossen werden, die der Prüfling – wie etwa eine Prüfungsstoffüberschreitung – nicht kann‑ te und auch nicht kennen musste302. Dieser könnte aber noch dadurch be‑ gegnet werden, dass wie bei den Ausschlussfristen für die Geltendmachung einer gesundheitlichen Beeinträchtigung eine verfassungskonforme Ausle‑ gung dahin vorgenommen wird, dass die Frist erst ab dem Zeitpunkt der Kenntnis bzw. des Kennenmüssens des Verfahrensmangels läuft303. Trotz‑ dem sind solche Ausschlussfristen für die Geltendmachung für nicht in der Sphäre des Prüflings liegende Verfahrensmängel abzulehnen und bestehende als verfassungswidrig anzusehen, weil aus den angeführten Gründen der damit verbundene Eingriff in die Art. 19 Abs. 4 Satz 1, 12 Abs. 1 Satz 1 GG verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt ist. 5. Hinweispflichten des Prüfungsamtes Soweit kraft ausdrücklicher gesetzlicher Regelung eine Obliegenheit zur (unverzüglichen) Rüge eines Verfahrensfehlers oder zur Abgabe einer Rück‑ tritts- oder ähnlichen Erklärung bei einem vom Prüfling für gegeben erach‑ teten Verfahrensmangel besteht oder aus verfassungsrechtlichen Gründen angenommen wird, kann deren Nichtbeachtung auch im Falle ihrer Un‑ kenntnis zu erheblichen Rechtsnachteilen führen. Fraglich ist daher, ob das stets rechtskundige Prüfungsamt zu deren Vermeidung einen Beitrag leisten muss und dementsprechend dazu verpflichtet ist, den Prüfling auf die ihn treffenden Mitwirkungsobliegenheiten hinzuweisen. Für den Regelfall wird von der Rechtsprechung eine derartige Hinweispflicht verneint304, weil die zur Rechtwahrung erforderlichen (Rechts‑)Kenntnisse beim Prüfling schlicht vorausgesetzt werden. Jedenfalls soll es nach dem hier erneut bemühten Grundsatz von Treu und Glauben grundsätzlich dem Prüfling obliegen, sich rechtzeitig über die für das Prüfungsrechtsverhältnis geltenden Vorschriften 302 VG Mainz, Urt. v. 21.03.2003 – 1 K 919/12.MZ, juris, Rn. 25 f.; VG Ansbach, Urt. v. 16.11.2006 – AN 2 K 05.04271, juris, Rn. 10, 29 ff. 303 BayVGH, Bes. v. 20.06.2008 – 7 ZB 08.193, BayVBl. 2009, 115 (116). 304 Siehe aber VGH Mannheim, Bes. v. 09.08.2002 – 9 S 1573/02, juris, Rn. 3, mit der Annahme einer generellen Hinweispflicht des Prüfungsamtes bei der ärztli‑ chen Prüfung.
B. Die (nachträgliche) Geltendmachung von Verfahrensfehlern209
zu informieren305. Dies soll jedenfalls dann gelten, wenn die Prüfungsbehör‑ de dem Prüfling die maßgebliche Prüfungsordnung mit der Ladung zur Prüfung übersandt hat306. Noch strengere Anforderungen werden aufgestellt, wenn es sich um angehende Juristen handelt. Von diesen könne grundsätz‑ lich verlangt werden, dass sie sich im Zusammenhang mit behaupteten Verfahrensmängeln der Prüfung umgehend selbst über die gebotenen Schrit‑ te zur Wahrung ihrer Interessen informieren307. So soll bei Rechtsreferenda‑ ren bereits die Angabe der Gesetzesfundstelle genügen308. Eine Belehrungs‑ pflicht des Prüfungsamtes wird nur ausnahmsweise für den Fall angenom‑ men, dass der Prüfling sich bei seinen Verfahrenshandlungen in einem er‑ kennbaren Rechtsirrtum befindet und ihm offenkundig Rechtsnachteile drohen309. Soweit in der Rechtsprechung demnach nur für eine situative Hinweis‑ pflicht eingetreten wird, begegnet diese Belehrungsbeschränkung im Ergeb‑ nis durchgreifenden rechtlichen Bedenken. Nichts zu erinnern ist allerdings gegen die im Ausgangspunkt vertretene Annahme einer Obliegenheit des juristisch bewanderten Prüflings, sich im Zusammenhang mit behaupteten Verfahrensmängeln über die bestehenden Rechte und Pflichten zu informie‑ ren. Bei dieser wird allerdings übersehen, dass ein solcher „behaupteter Verfahrensmangel“ vor der Leistungserbringung noch gar nicht vorliegen kann. Da der Prüfling berechtigterweise davon ausgehen darf, dass das Prüfungsverfahren einen geordneten Verlauf nimmt, braucht er sein Verhal‑ ten nicht rein vorsorglich durch das Studium der Prüfungsordnung auf einen „fiktiven Verfahrensfehler“ einzustellen. Auch ein (angehender) Jurist hat grundsätzlich keine Veranlassung, sich anlasslos mit der rechtlichen Rege‑ lung eines Lebensbereiches näher zu befassen. Erst wenn es im Verfahren der Leistungsermittlung zu Unregelmäßigkeiten kommt und der Prüfling meint, dass er derentwegen einen Anspruch auf die Neuerbringung der Prü‑ fungsleistung hat, besteht tatsächlich aus seiner Sicht Veranlassung, den Sachverhalt unter die einschlägigen Vorschriften der Prüfungsordnung zu 305 BVerwGE 96, 126 (132); VG Ansbach, Bes. v. 24.02.2005 – AN 2 K 04.01309, juris, Rn. 42; VG Sigmaringen, Bes. v. 02.03.2006 – 8 K 2294/05, juris, Rn. 39; siehe auch Sächsisches OVG, Bes. v. 26.05.2009 – 4 B 400/08, LKV 2009, 325 (326); VG Dresden, Urt. v. 02.12.2010 – 5 K 1483/08, juris, Rn. 159; zustimmend wohl Birnbaum, NVwZ 2006, 286 (289); und in der Tendenz auch Niehues/Fischer/ Jeremias, Rn. 179. 306 BVerwGE 96, 126 (132); VG Dresden, Urt. v. 02.12.2010 – 5 K 1483/08, Rn. 159. 307 Sächsisches OVG, Bes. v. 26.05.2009 – 4 B 400/08, LKV 2009, 325 (326); VG Dresden, Urt. v. 02.12.2010 – 5 K 1483/08, Rn. 159. 308 VG Dresden, Urt. v. 02.12.2010 – 5 K 1483/08, Rn. 159. 309 VG Dresden, Urt. v. 02.12.2010 – 5 K 1483/08, Rn. 159.
210 Kap. 6: Möglichkeiten (gerichtlicher) Kontrolle der Prüfungsentscheidung
subsumieren und aus dem gefundenen Subsumtionsergebnis die gebotenen Konsequenzen zu ziehen. Es kann also nicht ohne Weiteres erwartet werden, dass er sich bereits vor der Prüfung im Einzelnen oder überhaupt mit den das Verhalten bei Verfah‑ rensfehlern regelnden Vorschriften auseinandersetzt. Schließlich liegt es auch nicht in der Natur der Sache bzw. auf der Hand, dass Verfahrensfehler noch während der Prüfung gerügt werden müssen, wie dies die frühere weitere Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichtes310 und die teils erfolgten gesetzlichen Normierungen der Rügeobliegenheit belegen. Und während es für den Prüfling mit einschneidenden Konsequenzen verbunden sein kann, wenn er der ihm unbekannten Rügeobliegenheit nicht nachkommt, ist es auf der anderen Seite für das Prüfungsamt nur mit einem marginalen Aufwand verbunden, wenn in standardisierten Schreiben im Zusammenhang mit der Ladung zur Prüfung oder unmittelbar vor der Erbringung der Prüfungsleis‑ tung der Prüfling auf seine Obliegenheiten hingewiesen wird311. Die Abwägung zwischen den Grundrechtspositionen des Prüflings und den ebenfalls verfassungsrechtlich geschützten Interessen der Behörde unter dem Gesichtspunkt der Verwaltungseffizienz312 dürfte daher zur Annahme einer Hinweispflicht des Prüfungsamtes führen313. Diese lässt sich ohne Weiteres mit dem Hinweis auf den zu gewährleistenden Grundrechtsschutz durch Ver‑ fahren, aus dem gerade auch solche Hinweispflichten folgen können314, sowie mit dem Charakter des Prüfungsrechtsverhältnisses begründen, das wie ande‑ re Rechtsverhältnisse auch von dem Grundsatz von Treu und Glauben be‑ stimmt wird, aus dem (für beide Seiten) Hinweis-, Belehrungs-, Aufklärungs-, Mitwirkungs- und Rügeobliegenheiten bzw. ‑pflichten entstehen können315. 310 BVerwGE 31, 190 (192); BVerwG, Urt. v. 18.09.1970 – VII C 26.70, Bay VBl. 1971, 24 (25). 311 Vgl. in anderem Zusammenhang zutreffend Zimmerling/Brehm, Prüfungsrecht, Rn. 647: „Ein Prüfungsamt ist sicherlich nicht überfordert, wenn der Prüfling grund‑ sätzlich auf die Möglichkeit hingewiesen wird, dass er – insbesondere bei der münd‑ lichen Prüfung – eine Begründung für die Bewertung verlangen kann.“ 312 Vgl. insoweit Huber, in: v. Mangold/Klein/Starck, GG, Art. 19, Rn. 376; v. Mutius, NJW 1982, 2150 (2150 f.); Kopp, BayVBl. 1983, 673 (673 m. Fn. 5); Kopp/Ramsauer, VwVfG, § 10, Rn. 2; siehe auch VGH Mannheim, Urt. v. 15.02.1991 – 9 S 105/90, NVwZ 1991, 1205 (1207) zur „Effektivität und Praktika‑ bilität des Prüfungswesens“ im Zusammenhang mit der Rechtfertigung der Pflicht des Prüfers, die Bewertung zu begründen. 313 Die das VG Dresden, Urt. v. 02.12.2010 – 5 K 1483, juris, Rn. 159, zumin‑ dest für wünschenswert hält, da dies dem Grundrechtsschutz und der Rechtsklarheit diene. Dem ist nichts hinzuzufügen. 314 Vgl. BVerwGE 99, 185 (199); BVerwG, Bes. v. 12.03.2004 – 6 B 2/04, juris, Rn. 26; VG Dresden, Urt. v. 05.12.2010 – 5 K 1483/08, juris, Rn. 163. 315 VG Dresden, Urt. v. 02.12.2010 – 5 K 1483/08, juris, Rn. 165.
B. Die (nachträgliche) Geltendmachung von Verfahrensfehlern211
Nach alledem ist abschließend festzuhalten, dass die Annahme einer Ob‑ liegenheit des Prüflings zur (unverzüglichen) Rüge des Verfahrensmangels bzw. zur Anzeige seiner Prüfungsverhinderung in den aufgezeigten Fall‑ gruppen keinen verfassungsrechtlichen Bedenken begegnet, sofern das Prü‑ fungsamt den Prüfling vor der Leistungserbringung auf seine Mitwirkungs‑ obliegenheiten bei Störungen des Prüfungsablaufs ausdrücklich hingewiesen hat und deren Wahrnehmung dem Prüfling in der konkreten Prüfungssitua‑ tion auch zumutbar gewesen ist.
II. Inhalt des Anspruchs bzw. Art und Weise der Kompensation Nachdem nunmehr die Voraussetzungen, unter denen der Prüfling die Annullierung eines Prüfungsteils und dessen Wiederholung beanspruchen kann, umfassend dargestellt worden sind, bedarf es abschließend noch der Bewertung der bereits aufgezeigten weiter gehenden Rechtsfolgen der Gel‑ tendmachung einer Prüfungsunfähigkeit mittels einer Rücktritts- bzw. äqui‑ valenten Erklärung sowie der Ermittlung der Reichweite des Kompensa tionsanspruchs bei der Geltendmachung sonstiger Verfahrensmängel. 1. Rechtsfolgen einer Rücktritts- oder äquivalenten Erklärung Hinsichtlich der Rechtswirkungen der Geltendmachung einer während der Prüfung eingetretenen Erkrankung des Prüflings ist daran zu erinnern, dass die in diesem Fall vorgesehene Rücktritts- oder wirkungsgleiche sonstige Erklärung im Regelfall zur vollständigen Annullierung aller bis zum Zeit‑ punkt der Abgabe derselben erbrachten Prüfungsleistungen und damit zur Notwendigkeit der vollständigen Wiederholung der schriftlichen oder münd‑ lichen Prüfung führt. Nur in einigen Bundesländern ist demgegenüber wie aufgezeigt für den Fall, dass der Prüfling bereits die Mehrzahl der Prüfungs‑ arbeiten angefertigt hat, deren Erhalt und die Fortsetzung der Prüfung nach Wegfall der Prüfungsverhinderung vorgesehen. Im Hinblick auf diese üb licherweise einschneidenden Rechtsfolgen der Geltendmachung einer krankheitsbedingten Prüfungsverhinderung bei einer (Teil‑)Prüfungsleistung drängt sich die bereits oben formulierte Frage auf, ob mit diesen ein ver‑ hältnismäßiger Ausgleich zwischen den widerstreitenden Interessen gelun‑ gen ist. Dabei stellt sich der regelungsbedürftige Interessenkonflikt konkret dergestalt dar, dass der fehlerbelastete Prüfling nicht selten ein auch grund‑ rechtlich durch Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG geschütztes Interesse am Erhalt der bis zum Eintritt der Erkrankung erbrachten Prüfungsleistungen hat, während es aus der Sicht der anderen Prüfungsteilnehmer vermieden wer‑ den muss, dass er aufgrund der Ausgestaltung des Kompensationsanspruchs
212 Kap. 6: Möglichkeiten (gerichtlicher) Kontrolle der Prüfungsentscheidung
im Vergleich zu ihnen die Prüfung insgesamt betrachtet unter erleichterten Bedingungen ablegen kann, was sich vor dem Hintergrund des Grundsatzes der Chancengleichheit als ebenso legitimes Anliegen darstellt. Mit anderen Worten darf die zur Wiederherstellung der Chancengleichheit des erkrankten Prüflings erforderliche Wiederholung der beeinträchtigten Prüfungsteile ei‑ nerseits nicht so umgesetzt werden, dass sie ihm Vorteile verschafft, die vor den grundrechtlichen Interessen der anderen Prüfungsteilnehmer nicht zu rechtfertigen wären; andererseits dürfen ihn die vorgesehenen Rechtsfolgen aber auch nicht unangemessen benachteiligen. Von diesen Prämissen ausge‑ hend erscheint es fraglich, ob die Landesgesetzgeber mit den erlassenen Kompensationsregeln (in allen Fällen) einen verhältnismäßigen Interessen‑ ausgleich gefunden haben. Das gilt zunächst und in besonderem Maße für die Geltendmachung einer Prüfungsverhinderung bei einer schriftlichen (Teil‑)Prüfungsleistung und die sich daraus üblicherweise ergebende Rechtsfolge der Annullierung und Wie‑ derholung der gesamten schriftlichen Prüfung. Hier muss unter den Kautelen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes bereits deren Eignung in Zweifel gezo‑ gen werden, die Chancengleichheit der anderen Prüfungsteilnehmer zu schützen. Zwar wird durch diese überwiegend erfolgte gesetzliche Regelung dem Prüfling der mögliche Vorteil entzogen, sich im Rahmen der (Teil‑)Wiederholung der Prüfung auf eine einzige Klausur bzw. einige we‑ nige Klausuren konzentriert vorbereiten zu können. Auf der anderen Seite erhält er aber die Möglichkeit, es von seiner Einschätzung der bis zum Eintritt der Prüfungsunfähigkeit bereits erbrachten Prüfungsleistungen ab‑ hängig zu machen, ob er diese durch die Geltendmachung einer Erkrankung an einem einzigen Tag allesamt hinfällig werden oder auch die im beein‑ trächtigten Zustand erbrachte Prüfungsleistung gegen sich gelten lässt. Wenn der Prüfling die bisherigen Leistungen als eher gelungen erachtet, wird er von der Einwendung der Prüfungsunfähigkeit – insbesondere wenn diese während der allerletzten Klausur auftritt – eher absehen, während er umge‑ kehrt diese geltend machen wird, wenn er seine bisherigen Leistungen als unzureichend ansieht. So kann er sich insbesondere den Rechtswirkungen einer ansonsten nicht bestandenen Prüfung entziehen. Dem Prüfling wird damit eine Spekulationsmöglichkeit eingeräumt, die namentlich mit der Obliegenheit zur unverzüglichen Geltendmachung einer Erkrankung als Voraussetzung für die Anerkennung der einen Wiederholungsanspruch aus‑ lösenden Prüfungsunfähigkeit aber gerade verhindert werden soll. Dieser von der Rechtsfolgenseite her begründeten Gefahr für die Chancengleichheit der anderen Prüfungsteilnehmer wird in den Prüfungsordnungen in keiner Weise begegnet. Wenn der Prüfling allerdings eine auf einen bestimmten Teil bzw. bestimmte Teile der schriftlichen Prüfung begrenzte unerkannte Prüfungsunfähigkeit nachträglich nach Bekanntgabe der Ergebnisse geltend
B. Die (nachträgliche) Geltendmachung von Verfahrensfehlern213
macht und das Nichtbestehen der Prüfung zum Eintritt der Erkrankung be‑ reits feststand, kann dem Prüfling auch unabhängig von einer gesetzlichen Regelung nach allgemeinen Grundsätzen wegen fehlender Kausalität des Verfahrensmangels die Wiederholung der Prüfung versagt werden. Das schließt allerdings nicht aus, dass sich der Prüfling durch seine nachträgli‑ che Rücktritts- oder sonstige Erklärung von bestandenen, aber seiner An‑ sicht nach nicht sein wahres Leistungsvermögen widerspiegelnden oder unangemessen bewerteten Prüfungsleistungen lösen kann. Durch diese Op‑ tion erscheint die Chancengleichheit der anderen Prüfungsteilnehmer nicht hinreichend gewahrt. Sofern man nicht bereits die Eignung derjenigen Regelungen, die zum Schutz der Chancengleichheit der anderen Prüfungsteilnehmer die vollstän‑ dige Annullierung und Wiederholung der schriftlichen Prüfung auch dann vorsehen, wenn die Erkrankung auf eine oder mehrere Klausuren beschränkt war, ausschließt, so muss doch jedenfalls deren Erforderlichkeit verneint werden. Bei der Beurteilung der Erforderlichkeit der Kompensationsrege‑ lungen muss im Ausgangspunkt vergegenwärtigt werden, dass der Chancen‑ gleichheitsgrundsatz für deren Ausgestaltung als Maßgabe vorgibt, dass der während der Erbringung der Prüfungsleistungen von einer Erkrankung be‑ einträchtigte Prüfling ebenso wie die währenddessen nicht gestörten Prüflin‑ ge die Prüfung insgesamt soweit wie möglich unter annähernd vergleichba‑ ren Bedingungen erbringen müssen316. Vergleichbar bedeutet, dass die mit der Anfertigung der schriftlichen Prüfungsleistungen einhergehenden psy‑ chischen und physischen Belastungen sowohl für den erkrankten als auch für die nicht beeinträchtigten Prüflinge in ihrem Ausmaß ähnlich sein müssen. Üblicherweise sind die schriftlichen Prüfungsleistungen über zwei Wochen verteilt von den Prüflingen en bloc zu erbringen, so dass allen Prüflingen ein Wochenende zur Regeneration zur Verfügung steht. Wenn einem Prüfling, der zu Beginn der zweiten Prüfungswoche erkrankt, nur abverlangt wird, die gesamten Klausuren, deren Bearbeitung in diesem Zeitraum angestanden hat, später (erneut) zu schreiben, ist er annähernd denselben Belastungen ausgesetzt wie die Prüflinge, die sämtliche Klausur‑ leistungen der zweiten Prüfungswoche regulär im Anschluss an die erste Prüfungswoche erbringen. Dass der wiederholende Prüfling mehr Zeit für die Vorbereitung erhält als die anderen Prüflinge auf die reguläre Prüfung, ist selbst bei einer vorgesehenen vollständigen Wiederholung derselben unvermeidbar und darf daher bei der Frage der Vergleichbarkeit der Prü‑ fungsbedingungen keine Rolle spielen. Im Ergebnis erscheint daher eine vollständige Wiederholung der Prüfung für den beeinträchtigten Prüfling zur Herstellung der Belastungs- bzw. 316 Vgl.
BVerwGE 99, 172 (179).
214 Kap. 6: Möglichkeiten (gerichtlicher) Kontrolle der Prüfungsentscheidung
Chancengleichheit mit den anderen Prüflingen nicht erforderlich und damit unverhältnismäßig. Die Prüfungsordnungen, die diesem Ergebnis zuwider eine vollständige Wiederholung der schriftlichen Prüfung auch dann vorse‑ hen, erscheinen daher verfassungswidrig, weil das Interesse des fehlerbelas‑ teten Prüflings an einem Erhalt seiner bis zum Zeitpunkt des Eintritts der Erkrankung erbrachten Prüfungsleistungen vollständig zurücktreten muss. Dieses wird fraglos durch die in einigen Prüfungsordnungen erfolgte Rege‑ lung hinreichend berücksichtigt, nach denen der Prüfling, wenn er bereits die Mehrzahl der schriftlichen Aufsichtsarbeiten angefertigt hat, nur die versäumten Klausuren nachzufertigen hat. Fraglich ist aber, ob mit diesen Regelungen die Interessen der anderen Prüfungsteilnehmer für jede Fallge‑ staltung hinreichend gewahrt sind und insoweit ein verhältnismäßiger Aus‑ gleich der widerstreitenden Interessen erzielt worden ist. Denn hiernach ist es möglich, dass der Prüfling etwa nur ein oder zwei Klausuren anstatt wie die anderen Prüflinge drei oder vier Klausuren en bloc (nach‑) schreiben muss, was im Regelfall als weniger anstrengend empfunden werden dürfte und im Grundsatz wohl auch tatsächlich so ist317. Der fehlerbelastete Prüf‑ ling erhält damit durch eine solche Kompensationsgestaltung im Vergleich zu den anderen Prüflingen einen Vorteil, der nicht ohne Weiteres gerecht‑ fertigt erscheint. Dies spricht für die Annahme, dass annähernd vergleichba‑ re Prüfungsbedingungen nur dann hergestellt werden, wenn der Prüfling bei einer Erkrankung in der zweiten Prüfungswoche unabhängig vom Zeitpunkt ihres Eintritts auch alle bereits in dieser Woche angefertigten Klausuren wiederholen muss. Sofern er allerdings auch in der zweiten Prüfungswoche schon die Mehrzahl der Klausuren angefertigt hat, besteht ebenso ein grund‑ sätzlich schützenswertes Interesse am Erhalt dieser Prüfungsleistungen. Zudem kann in Zweifel gezogen werden, ob es überhaupt zu einer relevant unterschiedlichen Belastung führt, drei oder vier Klausuren an einem Stück zu schreiben, wobei in Rechnung zu stellen ist, dass es auch in der zweiten Woche bei drei oder vier vorgesehenen Klausuren prüfungsfreie und zur Erholung zur Verfügung stehende Tage gibt. Bei der weiter gehenden Ausgestaltung der Kompensationsregelung für die zweite Prüfungswoche im Anschluss an den verfassungsrechtlich gebo‑ tenen Erhalt der Prüfungsleistungen der ersten Prüfungswoche sind also eine Vielzahl von (Abwägungs‑)Gesichtspunkten zu berücksichtigen, wobei der Chancengleichheitsgrundsatz nicht nur ein einziges Abwägungsergebnis zulässt, zumal dem Gesetzgeber innerhalb seines Gestaltungsspielraums in gewissen Grenzen auch eine pauschalierende Betrachtung zuzubilligen ist und nicht jede nur denkbare Fallgestaltung berücksichtigt werden muss318. 317 VG
318 Vgl.
Dresden, Urt. v. 02.12.2010 – 5 K 1483/08, juris, Rn. 134. nur BVerfGE 87, 234 (255) m. w. N.
B. Die (nachträgliche) Geltendmachung von Verfahrensfehlern215
Wenn er sich allerdings dafür entscheidet, nur die Neuerbringung der ver‑ säumten Prüfungsleistungen und im Übrigen deren Erhalt vorzusehen, ist kein sachlich gerechtfertigter Grund dafür erkennbar, bei einer Erkrankung in der ersten Woche stets die Annullierung sämtlicher während dieser Zeit vom Prüfling erbrachten Prüfungsleistungen vorzusehen. Auf der anderen Seite erscheint es vom Chancengleichheitsgrundsatz her durchaus gedeckt, sowohl bei einer Erkrankung in der ersten als auch in der zweiten Woche stets auch die Wiederholung aller in der jeweiligen Woche vorgesehenen Prüfungsleistungen anzuordnen. Im Sinne der Systemgerechtigkeit erscheint es nur geboten, in jeder Woche dieselben Kompensationsregelungen vorzu‑ sehen. Damit ist im Ergebnis festzuhalten, dass die für den Regelfall vor‑ gesehene vollständige Annullierung und Wiederholung der schriftlichen Prüfungsleistungen unverhältnismäßig, der als milderes Mittel teilweise vorgesehene Erhalt der Prüfungsleistungen in der ersten Woche und die Neuerbringung lediglich der verfahrensfehlerbehafteten Prüfungsteile der zweiten Woche demgegenüber gleichheitswidrig und im Ergebnis ebenfalls rechtswidrig erscheint. Die vorstehenden Grundsätze lassen sich auf die mündliche Prüfung nicht ohne Weiteres übertragen. Zunächst wird es häufig ohnehin so sein, dass sich die Erkrankung des Prüflings auf den gesamten Zeitraum der mündli‑ chen Prüfung erstreckt. In diesem Fall liegt die Wiederholung der gesamten mündlichen Prüfung schon auch im Interesse des erkrankten Prüflings. Dennoch ist es denkbar und in der Praxis gar nicht so selten, dass sich die Erkrankung erst im Laufe des Prüfungstages entwickelt und Prüfungsunfä‑ higkeit dann erst in den letzten Teilen der mündlichen Prüfung vorliegt. Hier hat der Prüfling unter Umständen dann ebenso wie im vergleichbaren Fall der schriftlichen Prüfung ein Interesse daran, seine bis zum Zeitpunkt des Eintritts der Prüfungsunfähigkeit erbrachten Prüfungsleistungen stehen zu lassen. Dieses ist aber weniger stark ausgeprägt und schützenswert als dasjenige am Erhalt mehrerer Klausurleistungen, weil die Erbringung der mündlichen Prüfungsleistungen für die meisten Prüflinge doch weniger be‑ lastend ist. Aus eben diesem Grund ist der Vorteil einer bloßen Teilwieder‑ holung aber auch nicht so immens, dass der Chancengleichheit der anderen Prüfungsteilnehmer erhebliche Gefahr droht. Für die Ausgestaltung der Kompensationsregelung ist daher letztlich die Frage entscheidend, ob die mündliche Prüfung aus einfach-rechtlichen Gründen eine untrennbare Bewertungseinheit darstellt, so dass der Prüfling allein deshalb die gesamte mündliche Prüfung wiederholen muss.319 Eine solche würde insbesondere durch die Erteilung einer Gesamtnote für die mündliche Prüfung begründet werden. Allerdings sind nach den in allen 319 Wortmann,
NWVBl. 1992, 304 (312).
216 Kap. 6: Möglichkeiten (gerichtlicher) Kontrolle der Prüfungsentscheidung
Bundesländern insoweit einheitlich erlassenen Regelungen die im Rahmen der mündlichen Prüfung zu erbringenden Teilprüfungsleistungen (Aktenvor‑ trag, Prüfungsgespräche) jeweils gesondert zu bewerten und daher rechtlich selbstständig und voneinander unabhängig320. Fraglich aber ist, ob die in § 5d Abs. 4 Satz DRiG oder entsprechend im jeweiligen Landesrecht321 vorgesehene Möglichkeit, dem Prüfling eine um bis zu einem Drittel einer Notenstufe höhere als die rechnerisch ermittelte Note zu geben, wenn diese nach dem Gesamteindruck der Mitglieder der Prüfungskommission den Leistungsstand des Prüflings besser kennzeichnet, die Wirkung hat, dass sie die Teilprüfungsleistungen der mündlichen Prüfung zu einer Bewertungsein‑ heit verknüpft. Dies könnte nur dann angenommen werden, wenn für die Bildung des „Gesamteindrucks“ die gegenwärtige, unmittelbare und persön‑ liche Wahrnehmung aller mündlichen Prüfungsleistungen des Prüflings un‑ verzichtbar ist, den sich insbesondere ein neuer Prüfungsausschuss, der unter Umständen bestellt werden muss, wenn die ursprünglichen Prüfer nicht mehr zur Verfügung stehen, nicht verschaffen könnte. Zwar mag der in der mündlichen Prüfung vom Prüfling vermittelte Eindruck für den Ge‑ samteindruck praktisch von großer Bedeutung sein322. Bei der Urteilsbildung muss der Prüfungsausschuss zur Vermeidung eines Bewertungsdefizits aber auch alle sonstigen aktenkundigen Prüfungsleistungen in den Blick nehmen, denen eine Aussagekraft für die prüfungszweckbezogene Frage der Berufs‑ eignung der Kandidaten entnommen werden kann323. Deren Berücksichti‑ gungsbedürftigkeit wird in einigen Prüfungsordnungen sogar besonders hervorgehoben324. In der Rechtsprechung namentlich auch des Bundesver‑ waltungsgerichtes wird daher zutreffend davon ausgegangen, dass die nach § 5d Abs. 4 Satz DRiG bzw. der entsprechenden landesrechtlichen Bestim‑ mung zu treffende Ermessensentscheidung des Prüfungsausschusses nicht die Rechtswirkung hat, dass die im Rahmen der mündlichen Prüfung zu 320 Siehe daher nur exemplarisch § 22 Abs. 2 Satz 3 HmbJAG; §§ 51 Abs. 3, 56 Abs. 3 JAG NRW; siehe für die Rechtslage in NRW: OVG NRW, Urt. v. 09.10.2007 – 14 A 2873/06, NWVBl. 2008, 111 (113). 321 Siehe exemplarisch § 22 Abs. 3 HmbJAG, §§ 18 Abs. 4, 56 Abs. 1 JAG NRW. 322 Vgl. BVerwG, Urt. v. 19.12.2001 – 6 C 14/01, NVwZ 2002, 1375 (1377). 323 Siehe zur Grundlage der Urteilsbildung BVerwG, Urt. v. 19.12.2001 – 6 C 14/01, NVwZ 2002, 1375 (1377); vgl. auch OVG NRW, Urt. v. 09.10.2007 – 14 A 2873/06, NWVBl. 2008, 111 (113); vgl. hinsichtlich der berücksichtigungsfähigen Leistungen und speziell derjenigen im Vorbereitungsdienst schon bei der Frage des Ob der Hebung bei der Zweiten juristischen Staatsprüfung OVG Münster, Urt. v. 09.01.2008 – 14 A 3658/06, NVwZ 2008, 1037 (1039); siehe hierzu die zustimmen‑ de Urteilsanmerkung von Maubach/Plate, NVwZ 2008, 968 f.; siehe zur Anwendung des § 5d Abs. 4 DRiG allgemein Schmidt-Räntsch, DRiG, § 5d, Rn. 41 ff.; Zimmerling/Brehm, Prüfungsrecht, Rn. 813 ff. 324 Vgl. § 22 Abs. 3 Hs. 2 HmbJAG.
B. Die (nachträgliche) Geltendmachung von Verfahrensfehlern217
erbringenden Teilprüfungsleistungen zu einer rechtlichen Bewertungseinheit verschmolzen werden325. Das einfache Recht steht damit einer Kompensati‑ onsregelung nicht entgegen, nach der der erkrankte Prüfling nur den ver‑ säumten Abschnitt der mündlichen Prüfung nachzuholen hat. Diese Lösung wird vorliegend favorisiert, erscheint wie angedeutet aber verfassungsrecht‑ lich nicht zwingend vorgegeben. Die derzeitigen Regelungen, nach denen der Prüfling stets die gesamte mündliche Prüfung zu wiederholen hat, be‑ gegnen daher keinen durchgreifenden Bedenken. 2. Rechtsfolgen der Geltendmachung sonstiger Verfahrensmängel Während die Rechtswirkungen der erfolgreichen Geltendmachung einer leistungsbeeinträchtigenden Erkrankung wie aufgezeigt durchweg im Detail geregelt sind, fehlt es für den Fall, dass der Prüfling wegen anderer Verfah‑ rensmängel die Wiederholung eines Prüfungsteils beanspruchen kann, durchweg an einer gesetzlichen Regelung der Rechtsfolgen. Diese sind da‑ her in erster Linie mit den vom Grundsatz der Chancengleichheit her vor‑ gegebenen Maßstäben zu bestimmen326. Insoweit kann grundsätzlich an die Erkenntnisse angeknüpft werden, die diesbezüglich soeben im Rahmen der Bewertung der gesetzlich vorgesehenen Rechtsfolgen einer Rücktritts- oder sonstigen Erklärung gewonnen worden sind. Hiernach darf der fehlerbelas‑ tete Prüfling auch durch die erforderlich gewordene Kompensation eines sonstigen Verfahrensmangels gegenüber seinen Mitprüflingen, deren Leis‑ tungen fehlerfrei ermittelt worden sind, weder einen ungerechtfertigten Vornoch Nachteil erlangen327. Daraus folgt im Grundsatz, dass er nur den un‑ mittelbar mängelbehafteten Prüfungsteil wiederholen muss328. Denn während diese Rechtsfolge für den fehlerbelasteten Prüfling die geringstmögliche Belastung begründet, ist hingegen auf der anderen Seite eine etwaige daraus resultierende Besserstellung gegenüber den Mitprüflingen allein deshalb hinzunehmen, weil der kompensationsbedürftige Mangel nicht aus seiner Sphäre stammt und es deshalb unverhältnismäßig wäre, von ihm die Wie‑ derholung weiterer Prüfungsteile zu verlangen. Dieser Rechtssatz gilt so‑ wohl für die schriftliche als auch für die mündliche Prüfung, bezüglich 325 BVerwG, Urt. v. 19.12.2001 – 6 C 14/01, NVwZ 2002, 1375 (1377); OVG NRW, Urt. v. 09.10.2007 – 14 A 2873/06, NWVBl. 2008, 111 (113); anders Wortmann, NWVBl. 1992, 304 (308). 326 Vgl. Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 503; siehe auch OVG NRW, Urt. v. 09.10.2007 – 14 A 2873/06, NWVBl. 2008, 111 (112). 327 Vgl. BVerwG, Urt. v. 19.12.2001 – 6 C 14/01, NVwZ 2002, 1375 (1376); OVG NRW, Urt. v. 09.10.2007 – 14 A 2873/06, NWVBl. 2008, 111 (112); Niehues/ Fischer/Jeremias, Rn. 498. 328 Vgl. BVerwG, Urt. v. 19.12.2001 – 6 C 14/01, NVwZ 2002, 1375 (1376).
218 Kap. 6: Möglichkeiten (gerichtlicher) Kontrolle der Prüfungsentscheidung
derer soeben aufgezeigt werden konnte, dass (auch) diese keine die Not‑ wendigkeit der Gesamtwiederholung nach sich ziehende rechtliche Bewer‑ tungseinheit darstellt. Von der damit geklärten Frage, welche Prüfungsteile der fehlerbelastete Prüfling zur Wahrung der Chancengleichheit der anderen Prüfungsteilneh‑ mer über den mängelbehafteten Prüfungsteil hinaus wiederholen muss, ist die Frage zu unterscheiden, ob er darüber hinaus weitere Prüfungsteile wiederholen darf. Eine solche über die Neuerbringung des unmittelbar mängelbehafteten Prüfungsteils hinaus reichende (Teil‑) Wiederholung der Prüfung kann der fehlerbelastete Prüfling nur dann beanspruchen, wenn sie zur Wiederherstellung seiner Chancengleichheit unbedingt erforderlich ist329. Voraussetzung dafür ist wiederum, dass nicht mit Sicherheit ausge‑ schlossen werden kann, dass der einem Prüfungsteil unmittelbar anhaftende Mangel mittelbar auch auf andere Prüfungsteile ausgestrahlt hat, indem er sich entweder auch auf die weitere Leistungsfähigkeit des Prüflings oder auf die Bewertung seiner Leistungen nachteilig ausgewirkt hat330. Eine solche Ausstrahlungswirkung ist im Rahmen der schriftlichen Prüfung prak‑ tisch kaum vorstellbar und wird daher – soweit ersichtlich – auch nicht diskutiert. In Bezug auf die Folgen eines auf einen Abschnitt der mündli‑ chen Prüfung beschränkten Verfahrensmangels wird sie in der Rechtspre‑ chung uneinheitlich beantwortet. So hat der früher beim Bundesverwal‑ tungsgericht für das Prüfungsrecht zuständige 7. Senat angenommen, dass der Eindruck, den der Prüfungsausschuss während der gesamten mündlichen Prüfung von dem Prüfling gewonnen hat, für die Bewertung der einzelnen Prüfungsleistungen eine erhebliche Rolle spielen könne. Der Gesamtein‑ druck sei ferner für die vom Prüfungsausschuss zu treffende Abweichens‑ entscheidung maßgeblich. Es würde den Prüfling daher benachteiligen, die Wiederholung allein auf den fehlerbehafteten Prüfungsteil zu beschränken. Die mündliche Prüfung müsse daher als Ganzes wiederholt werden, um dem Prüfling die Gelegenheit zu geben, dem Prüfungsausschuss eine un‑ mittelbare Anschauung aller Prüfungsleistungen zu geben331. Obwohl das Bundesverwaltungsgericht im Ausgangspunkt seiner Überlegungen auf die einheitliche Konzeption der mündlichen Prüfung nach dem nordrheinwestfälischen Landesrecht abgestellt hat332, so belegen doch die vorstehend referierten weiteren Überlegungen des 7. Senats, dass für dessen Rechtsauf‑ fassung im Ergebnis doch mehr die Annahme einer tatsächlichen denn einer rechtlichen Bewertungseinheit tragend gewesen ist. Dieser Befund wird 329 OVG
NRW, Urt. v. 09.10.2007 – 14 A 2873/06, NWVBl. 2008, 111 (112). Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 503 und 761. 331 Siehe zum Ganzen BVerwGE 78, 55 (59). 332 BVerwGE 78, 55 (59). 330 Ähnlich
B. Die (nachträgliche) Geltendmachung von Verfahrensfehlern219
auch bestätigt durch eine jüngere Entscheidung des nunmehr für das Prü‑ fungsrecht zuständigen 6. Senats des Bundesverwaltungsgerichtes, der den Ausführungen des 7. Senats nicht den Rechtssatz entnehmen kann, dass die mündliche Prüfung aufgrund ihrer einheitlichen Konzeption zwingend ins‑ gesamt wiederholt werden müsse333. Dieses Verständnis setzt notwendiger‑ weise die Annahme voraus, dass der 7. Senat nicht von einer rechtlichen Bewertungseinheit ausgegangen ist. Entgegen der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichtes geht nun‑ mehr das OVG Münster in Bezug auf die aktuelle Rechtslage in NordrheinWestfalen davon aus, dass der Prüfling keinen Anspruch auch auf die Wiederholung des Aktenvortrags habe, wenn nur in einem Teil des Prü‑ fungsgesprächs die Leistungen des Prüflings verfahrensfehlerhaft ermittelt worden sind334. Zwar räumt das OVG Münster im Ausgangspunkt jedenfalls in Bezug auf das Verhältnis des Aktenvortrags zum Prüfungsgespräch ein, dass die in dem einen Prüfungsteil erbrachte Prüfungsleistung und deren Bewertung auch auf den anderen Prüfungsteil ausstrahlen könnten335. Diese mögliche Ausstrahlungswirkung wirke aber nicht „wie ein Band“ für alle im Rahmen der mündlichen Prüfung zu erbringenden Teilprüfungsleistungen, weil nicht jede Möglichkeit des Einflusses auf die Bewertungsentscheidung eine Gefahr für die ordnungsgemäße Erfüllung der Prüferpflichten darstel‑ le336. Vielmehr dürfe grundsätzlich von dem Bild des Prüfers ausgegangen werden, der zu einer selbstständigen, eigenverantwortlichen und normge‑ rechten Bewertung fähig und bereit sei337. Das OVG Münster geht damit im Ergebnis entgegen dem Bundesverwaltungsgericht davon aus, dass im Hin‑ blick auf die im Rahmen der mündlichen Prüfung zu erbringenden Teilprü‑ fungsleistungen auch nicht von einer Bewertungseinheit aus tatsächlichen Gründen ausgegangen werden könne. Diese Rechtsauffassung, die namentlich auf der in der Rechtsprechung all‑ gemein vorherrschenden Vorstellung beruht, dass der Prüfer die konkrete Prüfungsleistung (völlig) unbeeindruckt von anderen (Fehl‑)Leistungen des Prüflings und unbeeinflusst von sonstigen Umständen bewerten kann, ver‑ mag nicht zu überzeugen. Dieses Bild des „idealisierten Prüfers“338 ist unter 333 Vgl. BVerwG, Urt. v. 19.12.2001 – 6 C 14/01, NVwZ 2002, 1375 (1376); so aber wohl Wortmann, NWVBl. 1992, 304 (311). 334 OVG NRW, Urt. v. 09.10.2007 – 14 A 2873/06, NWVBl. 2008, 111 (112 f.). 335 Vgl. OVG NRW, Urt. v. 09.10.2007 – 14 A 2873/06, NWVBl. 2008, 111 (113). 336 Vgl. OVG NRW, Urt. v. 09.10.2007 – 14 A 2873/06, NWVBl. 2008, 111 (113). 337 OVG NRW, Urt. v. 09.10.2007 – 14 A 2873/06, NWVBl. 2008, 111 (113). 338 Vgl. zur Terminologie Zimmerling/Brehm, NJW 2003, 2808 (2810).
220 Kap. 6: Möglichkeiten (gerichtlicher) Kontrolle der Prüfungsentscheidung
Berücksichtigung psychologischer Erkenntnisse nicht zu halten. Diese bele‑ gen zunächst, dass der erste von dem Kandidaten gewonnene Eindruck bei den Beurteilern einen sogenannten „Anker“ setzt, der sich maßgeblich auf die Bewertung der weiteren Leistungen auswirkt339. Demgemäß stellt es auch ein offenes Geheimnis in der Prüfungspraxis dar, dass der Prüfling mit dem nunmehr auch in der staatlichen Pflichtfachprüfung vorgesehenen Aktenvor‑ trag „seine Visitenkarte abgibt“. Deshalb sind die nachfolgenden Prüfungs‑ leistungen allerdings für die Gesamtbewertung keineswegs bedeutungslos. Insbesondere prägt auch die letzte Teilprüfungsleistung aufgrund ihrer unmit‑ telbaren Gegenwärtigkeit noch maßgeblich den Eindruck der Prüfungskom‑ mission. Daraus folgt als faktischer Bewertungsgrundsatz, dass der erste vom Prüfungskandidaten gewonnene Eindruck entscheidet und der letzte bleibt340, so dass die während der Mitte der Prüfungszeit erbrachten Prüfungsleistun‑ gen eine geringere Ausstrahlungswirkung haben dürften. Auch das OVG Münster schließt diese aber zu Recht nicht aus und deren gesteigerte Rele‑ vanz für die (Gesamt‑) Bewertung dürfte insbesondere dann anzunehmen sein, wenn der Prüfling während der Erbringung einer „mittigen“ (Teil‑) Prüfungsleistung nach den Maßstäben der Prüfer besonders geglänzt oder versagt hat. Wenn demnach der Einfluss der Bewertung einzelner auf die Bewertung anderer (Teil‑)Prüfungsleistungen und / oder die Gesamtbewer‑ tung entweder feststeht oder jedenfalls nicht mit der erforderlichen Gewiss‑ heit ausgeschlossen werden kann, kann es dem Prüfling letztlich nicht ver‑ wehrt werden, neben der unmittelbar mängelbehafteten Prüfungsleistung auch die an sich mängelfreien Prüfungsteile zu wiederholen. Dem Prüfling sollte daher ein Wahlrecht dahin eingeräumt werden, nur den mängelbehafte‑ ten Prüfungsteil oder die mündliche Prüfung insgesamt zu wiederholen. Aus‑ geschlossen werden muss demgegenüber die Möglichkeit, zusätzlich nur ei‑ nige der nicht mängelbehafteten mündlichen Prüfungsteile zu wiederholen, da ein derartiges „Rosinenpicken“ mit der zu wahrenden Chancengleichheit der anderen Prüfungsteilnehmer nicht vereinbar erschiene341. Sowohl bei der mündlichen als auch bei der schriftlichen Prüfung kann sich im Übrigen aber die Situation ergeben, dass der fehlerbelastete Prüfling die Möglichkeit hat, die Bewertung eines verfahrensmängelbehafteten Prü‑ fungsteils je nach dem Ergebnis gegen sich gelten zu lassen oder nicht, und dies aus prüfungsrechtlichen Gründen hinzunehmen ist. Diese Konstellation 339 Vgl. zu diesen Ankereffekten Unger, SächsVBl. 2013, 29 (31); Bermeitinger/ Unger, Psychology 2014, 91 (91 ff.). 340 Vgl. z. B. Rummer/Schweppe in: Wirtz, S. 1204; Asch, Journal of Abnormal and Social Psychology 1946, 258 (272 ff.). 341 Vgl. im ähnlichen Zusammenhang insbesondere zur Terminologie VG Dres‑ den, Urt. v. 02.12.2010 – 5 K 1483/08, juris, Rn. 134.
B. Die (nachträgliche) Geltendmachung von Verfahrensfehlern221
tritt ein, wenn der Prüfling bezüglich mehrerer Teile der schriftlichen oder mündlichen Prüfung eine äußere Störung oder einen sonstigen Verfahrens‑ fehler gerügt hatte oder die Beeinträchtigungen nicht rügebedürftig waren, die Prüfungsbehörde aber keine oder keine ausreichenden Maßnahmen zu deren Beseitigung ergriffen hatte und eine Ausschlussfrist für die Geltend‑ machung von Verfahrensmängeln in der Prüfungsordnung entweder schon nicht normiert ist, sich das Prüfungsamt auf diese ausnahmsweise nicht berufen kann oder aus den vorliegend entwickelten Gründen nicht für ver‑ fassungsgemäß gehalten wird. Entgegen dem VG Dresden342 ist die dem Prüfling hier eröffnete Möglichkeit des „Rosinenpickens“ hinzunehmen, weil das Prüfungsamt es jeweils in der Hand gehabt hätte, der hier begrün‑ deten Gefahr für die Chancengleichheit der anderen Kandidaten von vorn‑ herein durch eine hinreichende Beseitigung der gerügten Störung oder des Verfahrensfehlers zu begegnen. Fraglich ist, ob die vorstehend unter Beachtung der verfassungsrechtli‑ chen Direktiven herausgearbeiteten Rechtsfolgen eines (sonstigen) Verfah‑ rensmangels der normativen Regelung bedürfen. Dies dürfte das Bundesver‑ waltungsgericht mit seiner Formulierung, dass es in erster Linie Aufgabe des zuständigen Normgebers sei, die erforderlichen Vorkehrungen zu tref‑ fen343, in der Sache und zutreffend bejaht haben. Zwar wird durch die Festlegung der Art und Weise, in der ein noch zur Geltendmachung offen stehender Verfahrensmangel zu kompensieren ist, die Rechtsschutzgarantie, auf die sich der Prüfling berufen kann, nicht berührt. Wohl aber kann die Determinierung der Fehlerfolgen wie aufgezeigt seine und insbesondere auch die Chancengleichheit derjenigen Kandidaten tangie‑ ren, deren Prüfungsverfahren nicht mit Verfahrensmängeln behaftet war. Wegen des hier aufzulösenden Grundrechtskonflikts und des auszugestalten‑ den Wettbewerbs der Kandidaten um den Berufszugang dürfte daher nicht nur eine gesetzliche Regelung, sondern unter Berücksichtigung der Postula‑ te der Wesentlichkeitslehre sogar eine parlamentarische Leitentscheidung des Gesetzgebers erforderlich sein.
342 VG
Dresden, Urt. v. 02.12.2010 – 5 K 1483/08, juris, Rn. 134. Urt. v. 19.12.2001 – 6 C 14/01, NVwZ 2002, 1375 (1376).
343 BVerwG,
222 Kap. 6: Möglichkeiten (gerichtlicher) Kontrolle der Prüfungsentscheidung
C. Die Erhebung formeller und materieller Bewertungsrügen und ihre (potentielle) Erheblichkeit als Rechtsfehler im Bewertungsvorgang I. Der Ablauf des Bewertungsvorgangs 1. Der äußere Vorgang der Leistungsbewertung bzw. das formelle Bewertungsverfahren Sofern der Prüfling keine erfolgreiche Rücktritts- bzw. rücktrittsähnliche Erklärung abgegeben und damit seine erbrachten Leistungen ganz oder teilweise der Beurteilung durch die Prüfer von vornherein entzogen hat, schließt sich an das Verfahren der Leistungsermittlung dasjenige der Leis‑ tungsbewertung an. Dieses Bewertungsverfahren wird bei der schriftlichen Prüfung in der Universitäts-, staatlichen Pflichtfach- und Zweiten juristischen Staatsprüfung dadurch eingeleitet, dass die vom Prüfungsamt schon im Vorhinein be‑ stimmten oder noch zu bestimmenden Prüfer344 mit der Begutachtung der von den Kandidaten erbrachten Prüfungsleistungen beauftragt werden345. In den universitären Zwischenprüfungen stehen die Prüfer schon im Vorhinein dadurch fest, dass in den Zwischenprüfungsordnungen festgelegt ist, in welchen Lehrveranstaltungen Prüfungsleistungen zu erbringen sind346. Die Prüfung einschließlich des Bewertungsverfahrens ist folglich in eigener Verantwortung vom Veranstaltungsleiter durchzuführen347. Bei der in den staatlichen Prüfungen obligatorischen mündlichen Prüfung fällt der Vorgang der Leistungsermittlung mit demjenigen der Leistungs bewertung teilweise bereits zusammen. Abgeschlossen wird das Bewer‑ tungsverfahren dann dadurch, dass sich die vom Prüfungsamt eingesetzte Prüfungskommission nach vollständiger Leistungsermittlung zur abschlie‑ ßenden Beratung über die Bewertung der Leistungen der Kandidaten zu‑ rückzieht348. Für die Bewertung der schriftlichen und mündlichen Prüfungsleistungen können vom Prüfungsamt nur solche Personen eingesetzt werden, die nach 344 Siehe zu dieser Aufgabe des Prüfungsamtes etwa 4 Abs. 3 Satz 1 JAG Hes‑ sen; § 11 Abs. 1 JAG M-V; § 14 Abs. 1, 15 Abs. 2 StPO HH (Prüfungsausschuss). 345 Siehe etwa § 16 Abs. 1 Satz 2 JAPO M-V; § 24 Abs. 1 Satz 2, 48 Abs. 1 Satz 2 SächsJAPO. 346 Siehe etwa § 15 Abs. 1 StPO HH. 347 So ausdrücklich § 6 ZwPrO Universität Halle-Wittenberg. 348 Siehe etwa § 16 Abs. 3 JAG NRW.
C. Die Erhebung formeller und materieller Bewertungsrügen223
den maßgeblichen Bestimmungen der jeweiligen Prüfungsordnung349 als Prüfer für die jeweilige Prüfung berufen oder zu solchen bestellt worden sind. Aus dem Kreis der hiernach in Betracht kommenden Prüfer muss das Prüfungsamt dann die dem gesetzlich vorgesehenen Bewertungsverfahren entsprechende Anzahl von Prüfern für die Bewertung der schriftlichen und mündlichen Prüfungsleistungen bestellen. Für die Bewertung der schriftlichen Prüfungsleistungen ist für die staat‑ lichen Prüfungen wie aufgezeigt durchgängig und in den Schwerpunktbe‑ reichsprüfungsordnungen überwiegend das Zwei-Prüfer-Prinzip350 vorgese‑ hen, nach dem jede schriftliche Prüfungsleistung jeweils von zwei Prüfern zu bewerten ist351. Dabei sehen die Prüfungsordnungen für den Regelfall vor, dass die Prüfer die bei der jeweiligen Prüfungsaufgabe erbrachten Prü‑ fungsleistungen sämtlicher Kandidaten bewerten, aber auch die Möglichkeit, ab einer bestimmten Anzahl von Prüfungsteilnehmern weitere Prüfer für den Prüfungsdurchgang zu bestellen352. Das Zwei-Prüfer-Prinzip erfordert es zwar, dass die Prüfer die Leistungen des Prüflings jeweils selbstständig und unabhängig voneinander bewerten353, schließt aber die in den Prüfungsord‑ nungen teils ausdrücklich vorgesehene „offene Zweitbewertung“354, d. h. die Unterrichtung des Zweitprüfers über die vom Erstprüfer vorgenommene Bewertung, nicht aus355. Für den Fall, dass die Prüfer in Ausübung des ihnen – wie noch im Einzelnen aufzuzeigen sein wird – insoweit nach wie vor zukommenden Bewertungsspielraums zu einer unterschiedlichen Bewer‑ 349 Siehe etwa § 3 JAG Ba.-Wü.; §§ 21, 60 JAPO Bayern; § 4 Abs. 1 JAPG Bre‑ men; § 10 Abs. 1, 2 HmbJAG; § 3 JAG Hessen; §§ 9, 10 JAG M-V; §§ 4, 49 JAG NRW; § 2 Abs. 3 LÜ HH, HB, S.-H.; § 3 Abs. 2 JAG Saarland: §§ 14 Abs. 1, 15 Abs. 2 StPO HH. 350 Zu diesem ausführlich Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 547 ff. 351 § 14 Abs. 1 Satz 1 JaPrO Ba.-Wü.; §§ 30 Abs. 1, 64 Abs. 1 Satz 1 JAPO Bayern; § 19 Abs. 1 Satz 1 JAPG Bremen; § 17 Abs. 2 Satz 2 JAG HH; § 16 Abs. 1 Satz 1 JAPO M-V; § 13 Abs. 1 Satz NJAG; §§ 14 Abs. 1 Satz 1, 54 JAG NRW; § 11 Abs. 3 Satz 1 JAG Saarland; § 11 Abs. 1 Satz 1 LÜ HH, HB, S.-H.; § 9 Abs. 1 Satz 1 JAPO RLP; §§ 24 Abs. 1 Satz 1, 48 Abs. 1 Satz 1 SächsJAPO. 352 Siehe etwa §§ 30 Abs. 2 Satz 2, 64 Abs. 1 Satz 2 JAPO Bayern; § 5 Abs. 1 Satz 2 HessJAO; § 9 Abs. 1 Satz 2, Satz 5 JAPO RLP; § 11 Abs. 2 Satz 3 JAG Saarland. 353 Zu diesem Erfordernis siehe Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 320 ff., 558. 354 Siehe etwa § 14 Abs. 1 Satz 2 JaPrO Ba.Wü.; § 9 Abs. 1 Satz 5 JAPO RLP; § 16 Abs. 1 Satz 1 JAPO M-V. 355 Siehe zunächst allgemein zur (zulässigen) Kenntnis des Zweitprüfers in Bezug auf eine negativ bewertete Teilleistung: BVerwG, Bes. v. 25.04.1996 – 6 B 49.95, Buchholz, 421.0 Nr. 364, 135 (135 f.); Bes. v. 18.12.1997 – 6 B 69/97, juris, Rn. 6; Bes. v. 09.10.2012 – 6 B 39.12, NVwZ-RR 2013, 44 (46); BayVGH, Bes. v. 18.03.2005 – 7 ZB 04.3027, juris, Rn. 7; Bes. v. 14.04.2009 – 7 ZB 09.223, juris, Rn. 17; Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 609.
224 Kap. 6: Möglichkeiten (gerichtlicher) Kontrolle der Prüfungsentscheidung
tung gelangen, ist in allen Prüfungsordnungen vorgesehen, dass bis zu ei‑ nem bestimmten Abweichungsmaß die Durchschnittspunktzahl der beiden Bewertungen gilt356. Dabei liegt die Grenze nach einigen Prüfungsordnun‑ gen schon bei zwei357, nach anderen erst bei vier Punkten358. Es überwiegt aber die gesetzliche Regelung, nach der bis zu einer Divergenz von drei Punkten eine Durchschnittspunktzahl zu bilden ist359. Liegt nach dem in der jeweiligen Prüfungsordnung vorgesehenen Maßstab eine erhebliche Abwei‑ chung vor, so ist nach den weiter gehenden Bestimmungen für den Fall, dass sich die Prüfer nicht auf eine einheitliche Bewertung einigen bzw. bis zur tolerierten Divergenz annähern konnten360, die Bewertung durch Stich‑ entscheid durch den Präsidenten des Prüfungsamtes oder einen weiteren Prüfer zu treffen361. Der Stichentscheider muss sich dann für eine nach seinen subjektiven Maßstäben angemessene Bewertung entscheiden, die al‑ lerdings innerhalb des durch die Erst- und Zweitbewertung gezogenen No‑ tenrahmens liegen muss362. Für die Bewertung der mündlichen Prüfungsleistungen in den staatlichen Prüfungen ist in den Prüfungsordnungen durchgängig das Zusammenwirken mehrerer Prüfer, hier in einer drei- oder vierköpfigen Prüfungskommission, vorgeschrieben363. Soweit in der Schwerpunktbereichsprüfung eine mündli‑ 356 §§ 14 Abs. 2 Satz 2, 30 Abs. 1 Satz 3, 64 Abs. 1 Satz 3 JAPO Bayern; § 19 Abs. 1 Satz 3 JAPG Bremen; § 17 Abs. 3 Satz 1 JAG HH; § 16 Abs. 2 JAPO M-V; § 13 Abs. 1 Satz 3 NJAG. 357 §§ 30 Abs. 1 Satz 3, 64 Abs. 1 Satz 3 JAPO Bayern, §§ 24 Abs. 2 Satz 1, 48 Abs. 1 Satz 2 SächsJAPO. 358 § 14 Abs. 2 Satz 1 JaPrO Ba.-Wü. 359 Siehe etwa § 19 Abs. 1 Satz 3 JAPG Bremen; § 17 Abs. 3 Satz 1 JAG HH; § 16 Abs. 2 Satz 1 JAPO M-V, § 13 Abs. 1 Satz 3 NJAG; § 11 Abs. 3 Satz 1 LÜ HH, HB, S.-H. 360 Siehe zum Einigungs- bzw. Annäherungsverfahren etwa § 17 Abs. 3 Satz 1 JAG HH; § 14 Abs. 2 Satz 2 JaPrO Ba.-Wü.; §§ 30 Abs. 1 Satz 4 a. E., 64 Abs. 1 Satz 3 JAPO Bayern; §§ 24 Abs. 2 Satz 2, 48 Abs. 1 Satz 2 SächsJAPO; §§ 14 Abs. 1 Satz 2, 54 JAG NRW; § 11 Abs. 3 Satz 2 LÜ HH, HB, S.-H. 361 § 14 Abs. 2 Satz 3 JaPrO Ba.-Wü.; §§ 30 Abs. 1 Satz 4, 64 Abs. 1 Satz 3 JAPO Bayern; § 19 Abs. 1 Satz 4 JAPG Bremen; § 17 Abs. 3 Satz 3 JAG HH; §§ 16 Abs. 2 Satz 3, 48 Abs. 1 JAPO M-V; § 13 Abs. 1 Satz 4 NJAG; § 11 Abs. 4 Satz 3 JAG Saarland; §§ 14 Abs. 1 Satz 3, 54 JAG NRW. 362 Siehe etwa § 14 Abs. 2 Satz 3 JaPrO Ba.-Wü.; § 13 Abs. 1 Satz 4 Hs. 2 NJAG; § 11 Abs. 4 Satz 3 JAG NRW; §§ 24 Abs. 2 Satz 2, 48 Abs. 1 SächsJAPO; § 9 Abs. 3 Satz 2 JAPO RLP; § 11 Abs. 3 Satz 3 LÜ HH, HB, S.-H. 363 §§ 19, 26 JAG M-V; §§ 17 Abs. 3 Satz 1, 18 Abs. 1 Satz 1, 53 Abs. 3 Satz 1, Abs. 6 JaPrO Ba.-Wü.; §§ 32 Abs. 1 Satz 3, Abs. 2, 33 Abs. 2, 66 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 JAPO Bayern; §§ 16 Abs. 1 Satz 1, 17 Abs. 1 Satz 1 LÜ HH, HB, S.-H.; §§ 19 Abs. 3, 21 Abs. 1 JAG HH; § 13 Abs. 3 Satz 1 NJAG; §§ 15 Abs. 3 Satz 1, 55 JAG NRW.
C. Die Erhebung formeller und materieller Bewertungsrügen225
che Prüfung vorgesehen ist, ist diese auch hier als Kollegialprüfung ausge‑ staltet364. Die vom Prüfungsamt bestimmten Prüfer365 müssen die Leistungen zwar auch hier zunächst selbstständig und unabhängig voneinander bewer‑ ten, die abschließende Bewertung für die einzelnen Prüfungsabschnitte und die Prüfungsgesamtnote erfolgt aber erst nach einer Beratung der Prüfungs‑ ausschussmitglieder nach dem Mehrheitsprinzip366. Bei Stimmengleichheit gibt überwiegend die Stimme des Prüfungsausschussvorsitzenden den Aus‑ schlag367. Mit den vorstehenden Ausführungen ist das äußere Bewertungsverfahren, wie es in den Prüfungsordnungen normiert ist, in seinen wesentlichen Merk‑ malen beschrieben. Die sich aus den einzelnen Vorschriften ergebenden Verpflichtungen richten sich in erster Linie an das Prüfungsamt, welches das Bewertungsverfahren normgemäß zu gestalten hat. Nur bei der Bewer‑ tung der mündlichen Prüfungsleistungen sind die Prüfer selbst gehalten, das Bewertungsverfahren rechtskonform durchzuführen. Die Einhaltung der jeweiligen Bestimmungen und ggf. deren (gerichtli‑ che) Durchsetzung ist im Hinblick darauf, dass die materielle Prüfungsent‑ scheidung selbst nur in den noch herauszuarbeitenden Grenzen und damit nicht vollständig überprüfbar ist, von nicht zu unterschätzender Bedeutung für den Rechtsschutz des Prüflings. Die in den Prüfungsordnungen getrof‑ fenen Regelungen über das äußere Prüfungsverfahren gewährleisten nämlich Grundrechtsschutz durch Verfahren. Das gilt im besonderen Maße für das in den Prüfungsordnungen verankerte Zwei-Prüfer-Prinzip und die mit die‑ sem im Zusammenhang stehenden Regelungen über das Annäherungs-, Ei‑ nigungs- und Stichentscheidsverfahren, die eine verwaltungsinterne Selbst‑ kontrolle und Fehlerbehebung ermöglichen368. So kann etwa vermieden 364 Siehe etwa § 45 Abs. 4 StPO HH; §§ 5 Abs. 1 Satz 1, 19 SPO Universität Halle-Wittenberg. 365 Siehe zu dieser Aufgabe etwa § 19 Abs. 3 Satz 1 JAPO M-V; § 17 Abs. 3 Satz 1 JaPrO Ba.-Wü.; § 14 Abs. 1 Satz 1 JAPG Bremen. 366 Vgl. §§ 33 Abs. 2, 66 Abs. 2 Satz 1 JAPO Bayern; §§ 10 Abs. 2 Satz 1, 30 Abs. 2 Satz 1 JAO Berlin/Brandenburg; §§ 18 Abs. 1, 19 Abs. 1, 53 Abs. 6 Satz 2, 54 Abs. 1 JaPrO Ba.-Wü.; § 13 Abs. 3, 4 JAPG Bremen; § 17 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 LÜ HH, HB, S.-H.; §§ 21 Abs. 2, 22 Abs. 1 Satz 1 JAH HH; §§ 19 Abs. 1, 51 Abs. 1 Satz 1 JAG Hessen; § 13 Abs. 3 Satz 2 NJAG; § 16 Abs. 1 Satz 1, 2, § 55 JAG NRW; siehe zum Verfahren allgemein auch Schmidt-Räntsch, DRiG, Anhang zu § 5d, Rn. 158. 367 Siehe etwa § 66 Abs. 2 Satz 2 JAPO Bayern; § 53 Abs. 6 Satz 3 JaPrO Ba.Wü.; § 17 Abs. 1 Satz 2 LÜ HH, HB, S.-H.; §§ 16 Abs. 1 Satz 4, 55 JAG NRW; anders etwa § 13 Abs. 3 Satz 3 NJAG („die für den Prüfling günstigeren Stimmen“). 368 Vgl. BVerwG, Bes. v. 15.12.1987 – 7 B 216/87, NVwZ 1988, 437 (437); Bes. v. 07.09.1995 – 6 B 45.95, Buchholz 421.0 Nr. 358, 124 (125); Bes. v. 09.10.2012 – 6 B 39/12, NVwZ-RR 2013, 44 (45 f.).
226 Kap. 6: Möglichkeiten (gerichtlicher) Kontrolle der Prüfungsentscheidung
werden, dass letztlich die Bewertung eines noch unerfahrenen Prüfers, der noch über keine abgesicherten Vergleichsmaßstäbe verfügt, den Berufszu‑ gang des Prüfungskandidaten versperrt. Da das äußere Bewertungsverfahren in den Prüfungsordnungen umfas‑ send geregelt ist und die einschlägigen Vorschriften im Regelfall klar gefasst sind und keinen Auslegungsspielraum eröffnen, steht der äußere Vorgang der Leistungsbewertung mangels mit ihm verbundener grundsätzlicher Rechtsprobleme üblicherweise nicht im Fokus beim Streit um die Recht mäßigkeit der Prüfungsentscheidung.369 Wenn der Prüfling einen Verstoß gegen einschlägige Bestimmungen des äußeren Bewertungsverfahrens rügt, unterliegt die vom Prüfungsamt bzw. den Prüfern insoweit getroffene Ent‑ scheidung aber der vollständigen gerichtlichen Kontrolle. Denn durch die Be wertungsverfahrensvorschriften sind das Prüfungsamt bzw. die Prüfer vollständig rechtlich gebunden. Stellt das Prüfungsamt im Rahmen des Wi‑ derspruchsverfahrens oder das Verwaltungsgericht im Rahmen des Verwal‑ tungsprozesses einen Verstoß gegen diese und damit einen Bewertungsver‑ fahrensfehler370 fest, führt dieser zur Neubewertung der Prüfungsleistung – ggf. durch neue Prüfer –, wenn Auswirkungen auf das Prüfungsergebnis – wie im Regelfall – nicht ausgeschlossen werden können. 2. Der innere Vorgang der Leistungsbewertung bzw. das materielle Bewertungsverfahren Während also der äußere Vorgang der Leistungsbewertung seltener Anlass zu Beanstandungen gibt, stellt der sich anschließende innere Vorgang der Leistungsbewertung bzw. das materielle Bewertungsverfahren neben dem bereits ausführlich behandelten Verfahren der Leistungsermittlung eine wei‑ tere und die Hauptquelle für den Ursprung von Fehlern bzw. zumindest die Grundlage von Einwendungen dar, die im Rahmen einer Anfechtung des von diesem geprägten Ergebnisses der Bewertung (mit Aussicht auf Erfolg) geltend gemacht werden (können). Fehler im Verfahren bzw. im Vorgang der Leistungsbewertung können aber nur erkannt und rechtserhebliche Einwände diesbezüglich formuliert werden, wenn die tatsächlichen Abläufe insoweit und insbesondere die Maßstäbe bekannt sind, die hierbei zu beachten sind. Diese sollen daher zunächst einmal aufgedeckt werden, bevor dann im Folgenden das sich daraus ergebende Spektrum möglicher Einwendungen und deren Erfolgsaus‑ 369 Siehe aber etwa VG Dresden, Urt. v. 10.11.2004 – 5 K 1034/02, juris (Prü‑ ferbestellung). 370 Zur Terminologie siehe VG Arnsberg, Urt. v. 17.04.2012 – 9 K 399/11, juris, Rn. 67.
C. Die Erhebung formeller und materieller Bewertungsrügen227
sichten unter Berücksichtigung des Umfangs ihrer (gerichtlichen) Überprü‑ fung im Einzelnen dargestellt werden. Ziel eines jeden Bewertungsvorgangs ist es, sich ein Urteil über die Qua‑ lität der Prüfungsleistung371 zu bilden, das als Ergebnis desselben zunächst in der Zuordnung der Prüfungsleistung zu einer bestimmten Notenstufe zum Ausdruck kommt und sodann mit einer bestimmten Punktbewertung näher konkretisiert wird. Wie der Findung eines jeden Urteils im technischen wie im untechnischen Sinne geht auch dem (Be‑)Wertungsakt ein – mehr oder weniger aufwändiger – Prozess voraus, im Rahmen dessen in einem ersten Schritt der beurteilungsrelevante Sachverhalt ermittelt oder jedenfalls zur Kenntnis genommen und in einem zweiten Schritt dieser an bereits vorhan‑ denen oder noch zu bildenden Maßstäben gemessen werden muss. Dieser einer jeden Urteilsbildung immanente Vorgang wird (auch) in der juristi‑ schen Fachterminologie bekanntermaßen als Subsumtion bezeichnet372, im Rahmen derer eine Rechtsnorm auf einen konkreten Lebenssachverhalt an‑ gewandt, d. h. der Sachverhalt unter die Voraussetzungen der Rechtsvor‑ schrift untergeordnet wird373. Ebenso stellt sich die Bewertung einer Prüfungsleistung – wenn auch nicht ausschließlich – als (juristischer) Subsumtionsvorgang wie folgt dar374: In einem ersten Schritt muss sich der Prüfer Klarheit über die Aufgabenstellung und die sich daraus ergebenden Anforderungen für die Lösung der Prüfungs‑ aufgabe verschaffen und die vom Prüfling erbrachte Prüfungsleistung erfas‑ sen. In einem zweiten Schritt muss er diese dann an dem zugrunde gelegten Anforderungsprofil der Prüfungsaufgabe und an seinen allgemeinen Beurtei‑ lungskriterien messen und schließlich einer der von der Bundesnotenverord‑ nung vorgesehenen Notenstufen und Punktzahlen zuordnen375. 371 Vgl. zur Terminologie insoweit etwa BVerwGE 8, 272 (273). „Prüfungsur‑ teil“; VG Lüneburg, Bes. v. 18.08.2004 – 4 B 142/04, juris, Rn. 8. „… höchstper‑ sönliches Fachurteil über die Qualität einer Prüfungsleistung“ (Hervorh. d. Verf.); siehe auch VG Dresden, Urt. v. 04.06.2008 – 5 K 38/08, juris, Rn. 147: „… die den Prüfer zu seinem Urteil veranlasst haben …“ (Hervorh. d. Verf.) und OVG Lüne‑ burg, Urt. v. 18.02.1992 – 10 L 277/89, juris, Rn. 22: „… die die Prüfer zu ihrem Urteil veranlasst haben“ (Hervorh. d. Verf.). 372 Als Subsumtion wird allgemein der Vorgang bezeichnet, bei dem man einen Begriff unter einen anderen ordnet (siehe etwa Gast, Rn. 60; Klaner, S. 85), so dass die Verwendung dieses Terminus nicht allein der Rechtswissenschaft vorbehal‑ ten ist. 373 Zum juristischen Subsumtionsvorgang siehe Schoch, S. 76; Schwintowski, JA 1992, 102 (104); Schmalz, Rn. 17 ff.; Beaucamp/Treder, Rn. 99 ff. 374 BVerwGE 70, 143 (146); Seebass, NVwZ 1985, 521 (526). 375 Vgl. zum Ablauf des Bewertungsvorgangs BVerwGE 70, 143 (146); BVerwG, Urt. v. 21.10.1993 – 6 C 12/92, Buchholz 421.0 Nr. 320, 305 (309 f.); Zimmerling/ Brehm, Prüfungsrecht, Rn. 592; Haase, in: Johlen/Oerder, MAH VerwR, § 16,
228 Kap. 6: Möglichkeiten (gerichtlicher) Kontrolle der Prüfungsentscheidung
So betrachtet vollzieht sich der Bewertungsakt in ganz ähnlichen Schrit‑ ten wie die auf den Erlass eines Urteils oder eines Beschlusses gerichtete Entscheidungsfindung in einem gerichtlichen Verfahren. Entsprechend die‑ sem Befund hat das Bundesverwaltungsgericht bereits frühzeitig von einem „Prüfungsurteil“ gesprochen376 und die Wesensverwandtschaft zwischen ei‑ ner Prüfungsentscheidung und der richterlichen Entscheidungsfindung be‑ tont377. Aus dieser lassen sich – wie im Laufe der weiteren Untersuchung noch zu zeigen sein wird – eine ganze Reihe von Maßgaben für die (ge‑ richtliche) Überprüfbarkeit einer Prüfungsentscheidung ableiten. Zunächst aber gilt es, den Bewertungsvorgang in der Reihenfolge der aufgezeigten und vom Prüfer vorzunehmenden Schritte näher zu beleuchten. a) Die Ermittlung der relevanten Beurteilungsgrundlage Insoweit wurde bereits aufgezeigt, dass sich der Prüfer in einem ersten Schritt zunächst darüber klar werden muss, was als Prüfungsleistung über‑ haupt gefordert ist378. Dies bedeutet (bei schriftlichen Prüfungen) konkret, dass der Prüfer den Sachverhalt der Prüfungsarbeit und die darin enthaltene Aufgabenstellung vollständig erfassen muss. Dem schließt sich die Bestim‑ mung der Anforderungen für die Lösung der Prüfungsaufgabe an, wobei fraglich ist, ob dieser Akt, der regelmäßig eine Auslegung der Prüfungsauf‑ gabe erforderlich macht, noch dem ersten Schritt des Bewertungsvorgangs – der Ermittlung des beurteilungsrelevanten Sachverhalts – zugeordnet werden kann oder sich bereits als Teil der eigentlichen Leistungsbewertung darstellt. Die Beantwortung dieser Frage hat jedenfalls prinzipiell nicht nur rechtsthe‑ oretischen Erkenntniswert, sondern kann erhebliche Auswirkungen auf die Rechtsschutzmöglichkeiten des Prüflings haben. Dies ist dann der Fall, wenn man die Auslegung einer Prüfungsaufgabe als eine der von den Prü‑ fern vorzunehmenden sogenannten prüfungsspezifischen Wertungen einord‑ net, welche die Rechtsprechung wie bereits einleitend erwähnt nach wie vor als gerichtlich nur eingeschränkt überprüfbar ansieht. Auf die dem Bewer‑ tungsspielraum unterfallenden prüfungsspezifischen Wertungen ist ebenso wie auf deren Abgrenzung zu den gerichtlich voll überprüfbaren fachspezi‑ fischen Wertungen später noch näher einzugehen. Im unvermeidbaren Vor‑ griff auf diese Ausführungen sei im gegebenen Kontext erwähnt, dass die Rn. 163 ff.; Schmidt-Räntsch, DRiG, Anhang zu § 5d, Rn. 121; Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 527 und 633 ff.; Seebass, NVwZ 1985, 521 (526). 376 BVerwGE 8, 272 (273). 377 BVerwGE 14, 31 (34). 378 Zutreffend BVerwGE 70, 143 (146); anders Haase, in: Johlen/Oerder, MAH VerwR, § 16, Rn. 163, der zu Unrecht die Kenntnisnahme der erbrachten Leistung durch den Prüfer als ersten Schritt des Bewertungsvorgangs ansieht.
C. Die Erhebung formeller und materieller Bewertungsrügen229
Rechtsprechung soweit ersichtlich einhellig davon ausgeht, dass die Ausle‑ gung einer Prüfungsaufgabe und somit die Festlegung des Anforderungspro‑ fils der (fachspezifischen) Wertung des Prüfers unterfällt und somit gericht‑ lich voll überprüfbar ist379. Mit dieser von der (instanzgerichtlichen) Recht‑ sprechung vorgenommenen Kategorisierung ist zugleich auch die hier auf‑ geworfene Zuordnungsfrage aus deren Sicht dahin beantwortet, dass die Festlegung der speziellen Prüfungsanforderungen nicht mehr als Teil der Sachverhaltsermittlung, sondern bereits als Bestandteil der eigentlichen Leistungsbewertung anzusehen ist380. Damit steht fest, dass jedenfalls der‑ zeit unabhängig von der rechtsdogmatischen Verortung im Bewertungsvor‑ gang die maßstabsbildende Festlegung der Prüfungsanforderungen gericht‑ lich vollständig überprüfbar ist. Denn alternativ ließe sich dieser Vorgang nur demjenigen der Sachverhaltsermittlung zuordnen, der seit jeher der gerichtlichen Kontrolle unterlag. Trotzdem sei darauf hingewiesen, dass die Einordnung der Festlegung bzw. Feststellung der Prüfungsanforderungen bereits als Teil des eigentli‑ chen Bewertungsvorgangs deshalb zutreffend sein dürfte, weil die parallel zu denkende Auslegung einer Rechtsnorm im Rahmen eines gerichtlichen Entscheidungsfindungsverfahrens ebenfalls bereits Teil der Rechtsanwen‑ dung ist. Im Übrigen ist darauf hinzuweisen, dass die Festlegung der Prü‑ fungsanforderungen durch eine Vergegenwärtigung der Prüfungsaufgabe und ggf. deren Auslegung zwar nicht denklogisch zwingend der Erfassung der Prüfungsleistung vorausgehen muss. Aus Gründen der Zweckmäßigkeit geht dieser in der Praxis aber tatsächlich die (einmalige) Festlegung des Anforderungsprofils voraus, das dann die Grundlage für die Bewertung sämtlicher vom Prüfer zu begutachtender Prüfungsleistungen bildet. Unabhängig davon, ob die Erfassung der vom Prüfling erbrachten Prü‑ fungsleistung damit im Regelfall nach der Festlegung des Anforderungspro‑ fils oder ausnahmsweise davor erfolgt, stellt sich dieser Akt unzweifelhaft als Sachverhaltsermittlung dar. Die Ermittlung und Bewertung der vom Prüfling erbrachten Prüfungsleistung setzt voraus, dass diese dem Prüfer vorliegt bzw. (noch) präsent ist. Diese logische Notwendigkeit ist bei mündlichen Prüfungen grundsätzlich unproblematisch gegeben, weil Leistungsermittlung und Bewertung hier 379 BVerwG, Urt. v. 21.10.1993 – 6 C 12.92, Buchholz 421.0 Nr. 320, 305 (309 f.); Bes. v. 17.12.1997 – 6 B 55/97, NVwZ 1998, 738 (738); OVG Lüneburg, Urt. v. 24.05.2011 – 2 LB 158/10, NordÖR 2012, 98 (100); OVG Saarlouis, Bes. v. 30.06.2003 – 3 Q 70/02, juris, Rn. 25; VG Braunschweig, Urt. v. 06.06.2007 – 6 A 311/06, juris, Rn. 21; VG Göttingen, Urt. v. 01.09.2005 – 4 A 175/03, juris, Rn. 34. 380 BVerwG, Urt. v. 21.10.1993 – 6 C 12/92, Buchholz 421.0 Nr. 320, 305 (309 f.).
230 Kap. 6: Möglichkeiten (gerichtlicher) Kontrolle der Prüfungsentscheidung
durch dieselben Personen und teils uno actu erfolgen381, so dass jedenfalls die Gefahr des vollständigen „Verlustes der Prüfungsleistung“ bei der Erst‑ bewertung von vornherein nicht gegeben ist. Allerdings kann zum Zeitpunkt einer infolge eines erfolgreichen Rechtsbehelfsverfahrens ggf. erforderlichen Neubewertung der mündlichen Prüfungsleistungen die Erinnerung der Prü‑ fer bereits weitgehend bzw. vollständig verblasst sein. Auf dieses Problem ist bei der Bestimmung der Rechtsfolgen von Bewertungsmängeln bereits hingewiesen worden. Demgegenüber ist es bei schriftlichen Prüfungen schon bei der Erstbe‑ wertung der Prüfungsleistung denkbar und in der Praxis auch bereits mehr‑ fach vorgekommen, dass Prüfungsarbeiten oder Teile derselben, nachdem diese an die Aufsichtsperson abgegeben oder auf anderem Wege in den Gewahrsam des Prüfungsamtes gelangt sind, in deren Verantwortungsbe‑ reich verloren gingen382. Dabei macht es für die rechtliche Bewertung dieser Problematik einen wesentlichen Unterschied, ob die Prüfungsarbeit oder ein Teil derselben vor oder nach der Bewertung durch die Prüfer abhanden gekommen ist383. Im gegebenen Kontext – der Ermittlung der Beurteilungs‑ grundlage durch die Prüfer – ist nur auf die erste Fallkonstellation – den (Teil‑)Verlust der Prüfungsarbeit vor deren Bewertung – einzugehen. Dies‑ bezüglich gelten nach weitgehend gefestigter Rechtsprechung die auch in der Literatur anerkannten384 folgenden Grundsätze: Dem Prüfling erwächst aus dem Prüfungsrechtsverhältnis ein „Recht auf Prüfung“385, d. h. auf Durchführung des Prüfungsverfahrens und insoweit ein Anspruch darauf, dass die von ihm erbrachte Prüfungsleistung zur Kenntnis genommen und von den Prüfern bewertet wird386. Der Prüfling kann aber kraft seines Prü‑ fungsanspruchs nicht etwas tatsächlich Unmögliches verlangen, dass näm‑ lich eine nicht (mehr) existente Prüfungsleistung von den Prüfern bewertet wird. Zwar wäre es prinzipiell denkbar, dass der Prüfling seine Prüfungs‑ insoweit auch Schmidt-Räntsch, DRiG, Anhang zu § 5d, Rn. 113. aus der Praxis BVerwGE 78, 367 (367 ff.); VGH Mannheim, Bes. v. 10.06.1981 – 9 S 988/81, KMK-HSchR 1982, 343 (343 ff.). ([Teil-]Verlust von Prü‑ fungsarbeiten vor Bewertung); VGH Mannheim, Urt. v. 01.04.1987 – 9 S 1829/68, NVwZ 1987, 1010 (1010 f.); OVG Münster, Urt. v. 19.05.1987 – 22 A 177/87, NVwZ 1987, 1012 (1012 f.); HessVGH, Bes. v. 28.09.1988 – 6 TG 4081/87, NVwZ 1989, 890 (890 f.); BayVGH, Urt. v. 08.09.1999 – 7 B 99.292, BayVBl. 2000, 529 (529); siehe zu dieser Problematik auch Zimmerling/Brehm, Prüfungsrecht, Rn. 377 ff. 383 Vgl. Schmidt-Räntsch, DRiG, Anhang zu § 5d, Rn. 129. 384 Siehe Zimmerling/Brehm, Prüfungsrecht, Rn. 377 ff.; Schmidt-Räntsch, DRiG, Anhang zu § 5d, Rn. 130 f. 385 Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 3; Zimmerling/Brehm, Prüfungsrecht, Rn. 158; Schmidt-Räntsch, DRiG, Anhang zu § 5d, Rn. 130. 386 Vgl. VGH Mannheim, Urt. v. 01.04.1987 – 9 S 1829/86, NVwZ 1987, 1010 (1011); Guhl, S. 190 f.; Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 3, 166. 381 Siehe 382 Vgl.
C. Die Erhebung formeller und materieller Bewertungsrügen231
leistung aus der Erinnerung rekonstruiert und dann diese Rekonstruktions‑ leistung von den Prüfern bewertet wird. Dem steht aber von vornherein der Grundsatz der Chancengleichheit entgegen, da eine auch nur halbwegs verlässliche Rekonstruktion der eigenen Prüfungsleistung kaum möglich und es daher naheliegend ist, dass eine (Prüfungs‑)Leistung bewertet wer‑ den würde, die der Prüfling ursprünglich gar nicht erbracht hat, wodurch er im Vergleich zu seinen Mitprüflingen aber einen nicht gerechtfertigten Wettbewerbsvorteil haben könnte387. Unabhängig davon, ob man den (Teil‑) Verlust der Prüfungsarbeit nach deren Abgabe, aber vor deren Bewertung, als Verletzung einer eigenständi‑ gen, aus dem Prüfungsrechtsverhältnis folgenden und mit dem Prüfungsan‑ spruch des Prüflings korrespondierenden prüfungsrechtlichen Obhutspflicht oder diese (Neben‑)Pflichtverletzung als einen Verfahrensfehler388 und / oder materiellen Prüfungsfehler389 ansieht, kommt demnach als einzig denkbare Kompensationsmöglichkeit nur die Stellung einer Ersatzprüfungsarbeit in Betracht390, nicht auch die vom VGH Mannheim dem Prüfling alternativ eingeräumte Möglichkeit des Rücktritts von der Prüfung aus wichtigem Grund mit der Konsequenz der Wiederholung sämtlicher Prüfungsarbei‑ ten391. Denn durch die Einräumung dieser Möglichkeit erhielte der Prüfling, dessen Prüfungsarbeit verloren gegangen ist, im Vergleich zu den anderen Prüflingen die mit dem Chancengleichheitsgrundsatz unvereinbare Möglich‑ keit, auch die ihm misslungenen oder misslungen erscheinenden Klausuren zu wiederholen392. Einen Anspruch auf die Stellung einer Ersatzklausur kann der Prüfling jedenfalls dann geltend machen, wenn feststeht, dass die Prüfungsarbeit in 387 Im Ergebnis ebenso VGH Mannheim, Bes. v. 10.06.1981 – 9 S 988/81, KMKHSchR 1982, 343 (346); VGH Mannheim, Urt. v. 01.04.1987 – 9 S 1829/86, NVwZ 1987, 1010 (1011); siehe auch Zimmerling/Brehm, Prüfungsrecht, Rn. 595, dazu, dass eine fiktive Prüfungsleistung nicht bewertet werden kann; Schmidt-Räntsch, DRiG, Anhang zu § 5d, Rn. 129; sowie Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 616, 632. 388 Mit dieser Einordnung HessVGH, Bes. v. 28.09.1988 – 6 TG 4081/87, NVwZ 1989, 890 (891); VGH Mannheim, Urt. v. 01.04.1987 – 9 S 1829/86, NVwZ 1987, 1010 (1012). 389 Zur Annahme sowohl eines Verfahrens- als auch eines materiellen Prüfungs‑ fehlers tendierend BayVGH, Urt. v. 08.09.1999 – 7 99.292, BayVBl. 2000, 529 (530). 390 VGH Mannheim, Bes. v. 10.06.1981 – 9 S 988/81, KMK-HSchR 1982, 343 (346); VGH Mannheim, Urt. v. 01.04.1987 – 9 S 1829/86, NVwZ 1987, 1010 (1011); Schmidt-Räntsch, DRiG, Anhang zu § 5d, Rn. 134; Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 616, 632. 391 So aber VGH Mannheim, Urt. v. 10.06.1981 – 9 S 988/81, KMH-HSchR 1982, 343 (347). 392 Zutreffend Schmidt-Räntsch, DRiG, Anhang zu § 5d, Rn. 134.
232 Kap. 6: Möglichkeiten (gerichtlicher) Kontrolle der Prüfungsentscheidung
die Gewahrsamssphäre des Prüfungsamtes gelangt und dort verloren gegan‑ gen ist393. Ebenso wie der Prüfling wie aufgezeigt im Falle des Vorliegens eines Verfahrensfehlers die Wiederholung einer (Teil‑)Prüfungsleistung nur beanspruchen kann, wenn diese am Gesamtergebnis noch etwas ändern kann, dürfte der Anspruch des Prüflings auf Stellung einer Ersatzprüfungs‑ arbeit aber ausgeschlossen sein, wenn bereits nach dem Ergebnis der vor‑ liegenden und bewerteten Prüfungsarbeiten feststeht, dass die Gesamtprü‑ fung auch bei der Erreichung der Maximalpunktzahl in der Ersatzklausur nicht mehr bestanden werden kann. Lässt sich auch nach Ausschöpfung aller Beweismöglichkeiten nicht fest‑ stellen, ob eine Prüfungsarbeit in den Gewahrsamsbereich des Prüfungsam‑ tes gelangt ist, kommt eine Umkehr der nach allgemeinen Grundsätzen prinzipiell dem Prüfling obliegenden materiellen Beweislast394 zulasten des Prüfungsamtes dann in Betracht, wenn dieses keine organisatorischen Vor‑ kehrungen für die Feststellung getroffen hat, ob der Prüfling überhaupt eine Prüfungsarbeit zur Bewertung abgegeben hat395. Da solche in der Praxis aber getroffen werden396, stellt sich die Frage der Umkehr der materiellen Beweislast regelmäßig nicht. Von dem bisher zunächst behandelten Fall des vollständigen Verlustes der Prüfungsarbeit nach Abgabe derselben, aber vor deren Bewertung, ist das rechtlich komplexere Fragen aufwerfende Problem zu unterscheiden, dass nur Teile der Prüfungsarbeit verloren gegangen sind397. Dabei begegnet es im Ausgangspunkt – wie bereits im Rahmen der Darstellung der verfas‑ sungsrechtlichen Grundlagen dargestellt – keinem Zweifel, dass aus Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG der Anspruch eines jeden Prüflings folgt, dass sämtliche von ihm erbrachten Prüfungsleistungen, die – wenn auch vielleicht nur in Ansätzen – eine Eignung für den angestrebten Beruf erkennen lassen, auch zur Grundlage der Bewertung werden. Ist dies nicht der Fall, weil Teile der Prüfungsklausur398 abhanden gekommen sind, kann dieser Anspruch des 393 Vgl. VGH Mannheim, Urt. v. 01.04.1987 – 9 S 1829/86, NVwZ 1987, 1010 (1011); Schmidt-Räntsch, DRiG, Anhang zu § 5d, Rn. 132. 394 Siehe zur Beweislastverteilung nur Schmidt-Räntsch, DRiG, Anhang zu § 5d, Rn. 132; Zimmerling/Brehm, Der Prüfungsprozess, R. 183 f.; Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 869 f. 395 Vgl. in diese Richtung FG Hamburg, Urt. v. 30.10.2000 – V 7/00, juris, Rn. 20, mit der Überlegung, dass das Prüfungsamt als „Herr des Verfahrens“ ver‑ pflichtet sein könnte, bei Abgabe der Klausuren die Seitenzahlen zu kontrollieren. 396 Siehe zur Praxis der Prüfungsämter hinsichtlich der Empfangnahme der Klau‑ suren Schmidt-Räntsch, DRiG, Anhang zu § 5d, Rn. 132. 397 Siehe hierzu VGH Mannheim, Bes. v. 10.06.1981 – 9 S 988/81, KMK-HSchR 1982, 343 (343 ff.). 398 Dass Teile von Hausarbeiten abhanden kommen, ist angesichts der Tatsache, dass diese regelmäßig in fest gebundener Form eingereicht werden (müssen), nahe‑
C. Die Erhebung formeller und materieller Bewertungsrügen233
Prüflings nicht mehr erfüllt werden, so dass wie im Falle des Abhanden‑ kommens der ganzen Klausur nur die Stellung einer Ersatzklausur in Be‑ tracht kommt, die der Prüfling aber auch im Falle des Teilverlustes der Klausur dann nicht beanspruchen kann, wenn bereits nach dem Ergebnis der vorliegenden und bewerteten Klausuren feststeht, dass die Prüfung nicht mehr bestanden werden kann. Entsprechendes gilt für den theoretisch denk‑ baren Fall, dass der Prüfling trotz des Fehlens von Teilen der Bearbeitung in der Klausur bereits die Höchstbewertung erhalten hatte. Gleichermaßen fehlt es an der Kausalität des Teilverlustes der Prüfungsarbeit für das Ge‑ samtergebnis399, die aber zu fordern ist, damit der Prüfling durch die Stel‑ lung einer Ersatzklausur nicht gegenüber anderen Prüfungsteilnehmern in nicht gerechtfertigter Weise bevorteilt wird400, wenn nach einer hypotheti‑ schen Bewertung durch die Prüfer zweifelsfrei feststeht, dass die Ausfüh‑ rungen auf den abhanden gekommenen Seiten nicht mehr zu einer Anhebung der Bewertung führen könnten. Ein solcher Schluss, der umso näher liegt, je geringer der verlorene Teil der Prüfungsleistung ist401, setzt allerdings voraus, dass sich zuverlässig der hypothetische Inhalt der verloren gegange‑ nen Seite(n) und deren Irrelevanz für die Gesamtbewertung ermitteln lässt.402 Ein solcher Fall mag etwa gegeben sein, wenn auf dem abhanden gekommenen Teil der Klausur ohnehin nur neben der Sache liegende Aus‑ führungen fortgesetzt worden sein können oder es sich nur um einen völlig bewertungsirrelevanten Teil der Prüfungsleistung wie etwa die Unterschrif‑ ten der Richter in einem Urteilsentwurf gehandelt haben kann. Wenn – wie in einem solchen Fall – mit der erforderlichen Gewissheit auch bei objek‑ tiver Betrachtung ausgeschlossen werden kann, dass die verloren gegange‑ nen Teile der Prüfungsarbeit sich auf das Prüfungsergebnis ausgewirkt ha‑ ben, steht der Grundsatz der Chancengleichheit dem prinzipiell bestehenden Anspruch des Prüflings auf Stellung einer Ersatzklausur entgegen403. Dabei obliegt – wie dies im Rahmen der Kompensation von materiellen Bewer‑ zu ausgeschlossen. Außerdem könnte der Prüfling, der im Regelfall eine digitale Kopie der Hausarbeit hat, diese jederzeit nachreichen. 399 Vgl. allgemein zur erforderlichen Kausalität eines Bewertungsfehlers als Vor‑ aussetzung der Neubewertung BVerwGE 105, 328 (332); BVerwG, Bes. v. 14.09.2012 – 6 B 35/12, NVwZ-RR 2013, 42 (44); BayVGH, Urt. v. 08.09.1999 – 7 B 99.292, BayVBl. 2000, 529 (530); speziell zur erforderlichen Ergebniskausalität beim (Teil-)Verlust von Prüfungsarbeiten BVerwGE 78, 367 (372). 400 BVerwGE 78, 367 (372). 401 Vgl. BVerwGE 78, 367 (372); VG Ansbach, Urt. v. 12.11.1998 – AN 2 K 95.02133, juris, Rn. 20. 402 So stellt sich der Fall in der Entscheidung des BayVGH, Urt. v. 08.09.1999 – 7 B 99.292, BayVBl. 2000, 529 (530) dar; siehe auch FG Hamburg, Urt. v. 30.10.2000 – V 7/00, juris, Rn. 32. 403 BayVGH, Urt. v. 08.09.1999 – 7 B 99.292, BayVBl. 2000, 529 (530).
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tungsfehlern noch im Einzelnen darzustellen sein wird – die Beurteilung der Kausalität den Prüfern im Rahmen ihres Bewertungsspielraums, dessen Einhaltung wie bereits erwähnt (gerichtlich) nur eingeschränkt überprüft werden kann, so dass sich die Überprüfung der Einschätzung der Kausalität der hypothetischen Ausführungen des Prüflings für das Gesamtergebnis durch das Gericht in einer Plausibilitätsprüfung erschöpft404. Liegt – wie im Regelfall – die von dem Prüfling erbrachte Prüfungsleis‑ tung dem Prüfer vollständig vor, so ist dieser entsprechend dem korrespon‑ dierenden und aus Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG folgenden Anspruch des Prüf‑ lings verpflichtet, die Prüfungsleistung vollständig zur Kenntnis zu nehmen bzw. zu erfassen405. Diese selbstverständliche Verpflichtung ist bei einer schwer zu entziffernden Schrift, vertauschten Seitenzahlen, falscher Heftung, Durchstreichungen, Einschüben, angehefteten Konzept- und Gliederungsblät‑ tern etc. häufig weniger eindeutig, als man dies zunächst vermuten könnte. Im Einzelnen ergeben sich diesbezüglich für die Ermittlung der Beurteilungs‑ grundlage aus dem Grundrecht der Berufsfreiheit folgende Maßgaben: Der Prüfer muss die Prüfungsleistung aufmerksam und vollständig lesen und auf sich wirken lassen406. Diese Verpflichtung schließt grundsätzlich ein „diagonales“, nur selektives Lesen der Prüfungsarbeit aus407. Hiervon ist aber nach hier vertretener Auffassung eine Ausnahme insbesondere für den Fall zu machen, dass nach der Lektüre der bewertungsrelevanten Abschnit‑ te der Prüfungsarbeit für den Prüfer aufgrund schwerwiegender Mängel feststeht, dass etwa die Ausführungen im praktischen Teil der Klausur die bis dahin erfolgte Einschätzung des Prüfers von der Prüfungsleistung nicht mehr zu ändern vermögen. Auch wird man dementsprechend ein „Überflie‑ gen“ der Ausführungen für zulässig erachten müssen, wenn der Prüfer festgestellt hat, dass der Prüfling seitenlang Ausführungen macht, die nach der Aufgabenstellung neben der Sache liegen oder für die Falllösung völlig irrelevant sind408. Bei mündlichen Prüfungen folgt aus dem Anspruch des Prüflings auf eine vollständige Kenntnisnahme seiner Prüfungsleistungen die Verpflichtung der Mitglieder der Prüfungskommission, während des gesamten Verlaufs der 404 Siehe zu den Möglichkeiten und Grenzen der Überprüfung der Kausalität ma‑ terieller Bewertungsfehler durch das Gericht BVerwGE 105, 328 (333); BVerwG, Bes. v. 14.09.2012 – 6 B 35/12, NVwZ-RR 2013, 42 (44); siehe auch BayVGH, Urt. v. 08.09.1999 – 7 ZB 99.292, BayVBl. 2000, 529 (530 f.); Niehues/Fischer/Jeremias, 679 ff. 405 Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 527, 619 f.; Guhl, S. 190 f. 406 Haase, in: Johlen/Oerder, MAH VerwR, § 16, Rn. 168. 407 Haase, in: Johlen/Oerder, MAH VerwR, § 16, Rn. 168. 408 Teilweise anders Haase, in: Johlen/Oerder, MAH VerwR, § 16, Rn. 169; siehe in diesem Zusammenhang auch Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 623.
C. Die Erhebung formeller und materieller Bewertungsrügen235
Prüfung anwesend zu sein und dieser ihre ungeteilte Aufmerksamkeit zu widmen409. Die Prüfer müssen mit anderen Worten physisch und psychisch voll präsent sein410. Mit diesem Postulat ist es unvereinbar, wenn sich der Prüfer während der mündlichen Prüfung etwa mit prüfungsfremder Literatur beschäftigt411. Ebenso wenig ist es hinnehmbar, dass der Prüfer während der mündlichen Prüfung minutenlang „schlummert“412. In diesem Fall kann kein Zweifel daran bestehen, dass der Prüfer der Prüfung nicht seine unge‑ teilte Aufmerksamkeit gewidmet und den beurteilungsrelevanten Sachverhalt nicht vollständig zur Kenntnis genommen hat413. Das mag sich bei einem nur kurzen „Einnicken“414 des Prüfers anders darstellen. Diesbezüglich ist aber zu bedenken, dass ein „Einnicken“ des Prüfers den aufgrund allgemei‑ ner Lebenserfahrung zu ziehenden Schluss rechtfertigt, dass der Prüfer be‑ reits zuvor aufgrund seiner Müdigkeit dem Prüfungsverlauf nicht mehr mit der erforderlichen Aufmerksamkeit folgen konnte. Daher muss auch bei einem nur kurzen „Wegdämmern / Einnicken / Einschlummern“ des Prüfers von einer Verletzung der Verpflichtung des Prüfers zur vollständigen Kennt‑ nisnahme des beurteilungsrelevanten Sachverhalts und der Nichterfüllung des entsprechenden Anspruchs des Prüflings ausgegangen werden. Mitunter mag es schwierig sein, die Gestik des Prüfers zu deuten und abzuschätzen, ob dieser bereits eingeschlafen ist oder nur zur Förderung der Konzentration (kurzzeitig) die Augen geschlossen hat, dem Prüfungsablauf aber uneinge‑ schränkt folgt415. Darauf kommt es richtiger Auffassung nach aber regelmä‑ ßig gar nicht an. 409 Vgl. BVerwG, Bes. v. 11.05.1992 – 6 B 10/92, NWVBl. 1992, 315 (315); OVG NRW, Urt. v. 18.05.1991 – 22 A 1239/89, NVwZ 1992, 397 (398); VG Berlin, Bes. v. 12.07.1995 – 12 A 402.95, juris (Leitsatz); Haase, in: Johlen/Oerder, MAH VerwR, § 16, Rn. 171; Zimmerling/Brehm, Prüfungsrecht, Rn. 593; Niehues/Fischer/ Jeremias, Rn. 529; Schmidt-Räntsch, DRiG, Anhang zu § 5d, Rn. 149. 410 Vgl. Schmidt-Räntsch, DRiG, Anhang zu § 5d, Rn. 149: „körperliche und geistige Anwesenheit“. 411 Vgl. BVerwG, Bes. v. 11.05.1992 – 6 B 10/92, NWVBl. 1992, 315 (315); OVG NRW, Urt. v. 18.05.1991 – 22 A 1239/89, NVwZ 1992, 397 (398); VG Berlin, Bes. v. 12.07.1995 – 12 A 402.95, juris (Leitsatz); Schmidt-Räntsch, DRiG, Anhang zu § 5d, Rn. 149; Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 529. 412 VG Kassel, Urt. v. 30.11.1994 – 1 E 2266/88, juris (Leitsatz); Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 302, 529. 413 Vgl. Schmidt-Räntsch, DRiG, Anhang zu § 5d, Rn. 149, der zu Recht entgegen der älteren Rechtsprechung – siehe die Nachweise bei Schmidt-Räntsch ebd. – bereits eine auch nur kurzfristige Abwesenheit als prüfungsrechtlich erheblich ansieht. 414 Siehe zur Unerheblichkeit eines einnickenden Richters BVerwG, Bes. v. 13.06.2001 – 5 B 105/00, NJW 2001, 2898 (2898); zur möglichen Übertragung dieser Wertung auf den einnickenden Prüfer Narr, Rn. A 165. 415 Vgl. zu den „sicheren Schlafanzeichen“ die insoweit großzügige Judikatur: BVerwG, Urt. v. 24.01.1986 – 6 C 141/82, DÖV 1986, 437 (438); Bes. v. 13.06.
236 Kap. 6: Möglichkeiten (gerichtlicher) Kontrolle der Prüfungsentscheidung
Denn in Fällen, in denen aufgrund des Verhaltens der Prüfer bei den Prüflingen Zweifel daran aufkommen, ob diese ihrer Verpflichtung gemäß dem Prüfungsverlauf uneingeschränkt folgen, ist häufig eine Verletzung der die Prüfer gleichfalls treffenden Pflicht gegeben, Handlungen zu unterlas‑ sen, die die Prüflinge in ihrer Konzentrationsfähigkeit (wesentlich) beein‑ trächtigen416. Diese Pflicht lässt sich aus dem allgemeinen Fairnessgebot417 ableiten, das wiederum unmittelbar aus Art. 12 Abs. 1 i. V. m. Art. 3 Abs. 1 GG folgt. Denn aus diesen Verfassungsnormen folgt der bereits intensiv behandelte Anspruch des Prüflings darauf, dass im Rahmen der Prüfung seine wahren Kenntnisse und Fähigkeiten ermittelt werden. Die Verwirkli‑ chung desselben wird aber beeinträchtigt, wenn der Prüfling durch Mimik, Gestik und / oder unfaire Äußerungen des Prüfers erheblich verunsichert wird. Im Falle eines Prüfers, der den Eindruck erweckt, er sei eingeschla‑ fen, ergibt sich eine hohe Beeinträchtigung der Konzentrationsfähigkeit daraus, dass sich der Prüfling zwangsläufig überlegt, wie er auf diesen vermeintlichen Befund reagieren soll bzw. muss. Die sich hieraus ergeben‑ den Beeinträchtigungen führen zu einer Verletzung des Anspruchs des Prüf‑ lings auf Chancengleichheit im Vergleich mit anderen Prüflingen, die derar‑ tigen Ablenkungen vom eigentlichen Prüfungsgeschehen nicht ausgesetzt gewesen sind418. Allein wegen dieses Befundes können die in der Recht‑ sprechung für die Behandlung der Problematik eines (vermeintlich) schla‑ fenden Richters entwickelten (rechtlichen) Kriterien419 entgegen teilweise vertretener Auffassung420 nicht auf die Sachlage eines (vermeintlich) einge‑ schlafenen Prüfers übertragen werden. Auch wenn nach alledem hinsichtlich der Bestimmung der Beurteilungs‑ grundlage die Pflicht der Prüfer ganz im Vordergrund steht, die Prüfungs‑ leistung des Prüflings vollständig und zutreffend zu erfassen, so muss auch der Prüfling das Seine dazu beitragen, dass die von ihm erbrachte Prüfungs‑ 2001 – 5 B 105/00, NJW 2001, 2898 (2898); Bes. v. 19.07.2007 – 5 B 84/06, HFR 2008, 1291 (1292): „schlafender Richter“; referierend Narr, Rn. A 165; BFH, Bes. v. 17.05.1999 – VIII R 17/99, BFH/NV, 1999, 1491 (1491); Bes. v. 17.02.2011 – IV B 108/09, BFH/NV 2011, 996 (996). 416 Zutreffend Nds. FG, Urt. v. 15.12.2011 – 6 K 59/11, EFG 2012, 1090 (1095). 417 Siehe zum Gebot der Fairness Lampe, S. 139; Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 328; Zimmerling/Brehm, Prüfungsrecht, Rn. 280. 418 Zum Ganzen zutreffend Nds. FG, Urt. v. 15.12.2011 – 6 K 59/11, EFG 2012, 1090 (1092); FG Sachsen, Urt. v. 29.10.l997 – I 107/96, EFG 1998, 334 (336 f.). 419 Vgl. BVerwG, Urt. v. 24.01.1986 – 6 C 141/82, DÖV 1986, 437 (438); Bes. v. 19.07.2007 – 5 B 84/06, HFR 2008, 1291 (1292); BFH, Bes. v. 17.05.1999 – VIII R 17/99, BFH/NV, 1999, 1491 (1491); Bes. v. 17.02.2011 – IV B 108/09, BFH/NV 2011, 996 (996). 420 Schmidt-Räntsch, DRiG, Anhang zu § 5d, Rn. 149.
C. Die Erhebung formeller und materieller Bewertungsrügen237
leistung von den Prüfern auch erfasst werden kann421. Diese Obliegenheit422 wird bei der mündlichen Prüfung kaum relevant, da eine von den Prüfern nicht verstandene Antwort auf deren Hinweis einfach wiederholt und der Prüfling schlicht durch lauteres und verständliches Sprechen dafür sorgen kann, dass seine Prüfungsleistungen auch erfasst und seine Fähigkeiten er‑ mittelt werden können. Demgegenüber stellt das Schriftbild der Kandidaten nicht selten eine Herausforderung bei der Erfassung des prüfungsrelevanten Sachverhalts für die Prüfer dar. Trotz des auch bei einer schwer entzifferbaren Handschrift unberührt bleibenden Anspruchs des Prüflings auf eine vollständige Erfas‑ sung seiner Prüfungsleistung gilt der simple Grundsatz, dass nur etwas be‑ wertet werden kann, was auch gelesen werden kann. Wenn sich in einer Prüfungsarbeit an keiner Stelle ein sinngebender und damit bewertbarer Teil lesen lässt, hat der Prüfling keine verwertbare Prüfungsleistung er‑ bracht, so dass in diesem Fall nur die Note „ungenügend“ vergeben werden kann423. Es reicht auch nicht aus, dass einzelne Wörter oder Sätze erraten oder auch nur aus dem Gesamtzusammenhang erschlossen werden kön‑ nen424, da in diesem Fall der vom Leser vermutete Sinngehalt der Ausfüh‑ rungen, nicht aber die vom Prüfling tatsächlich erbrachte Prüfungsleistung zur Grundlage der Beurteilung werden würde425. Allerdings darf der Prüfer die Bewertung einer Klausur nicht vorschnell mit der Behauptung ablehnen, dass die Schrift des Prüflings für ihn nicht entzifferbar sei426. Vielmehr wird er zu Recht allgemein für verpflichtet gehalten, zumutbare Anstrengungen zu unternehmen, um die Prüfungsleistung zu erfassen427. Diese Verpflich‑ 421 Vgl. für schriftliche Prüfungsleistungen BVerwG, Bes. v. 19.08.1975 – VII B 24.75, Buchholz 421.0 Nr. 65, 18 (18); Bes. v. 23.02.1984 – 7 B 24/84, juris, Rn. 3; OVG NRW, Bes. v. 10.10.2008 – 14 A 1904/07, juris, Rn. 37; VG Hamburg, Urt. v. 20.05.2011 – 2 K 236/10, juris, Rn. 18. 422 Zur Obliegenheit des Prüflings, eine lesbare Prüfungsarbeit abzuliefern, siehe bereits Guhl, S. 145, die dort zwar nicht ausdrücklich, wohl aber in der Sache the‑ matisiert wird, wenn zu Recht darauf hingewiesen wird, dass der Prüfling die Nach‑ teile einer unbehebbaren Unleserlichkeit seiner Handschrift zu tragen habe. 423 VG Hamburg, Urt. v. 20.05.2011 – 2 K 236/10, juris, Rn. 18; siehe auch OVG NRW, Bes. v. 10.10.2008 – 14 A 1904/07, juris, Rn. 37. 424 Wohl teilweise anders OVG NRW, Bes. v. 10.10.2008 – 14 A 1904/07, juris, Rn. 37. 425 VG Hamburg, Urt. v. 20.05.2011 – 2 K 236/10, juris, Rn. 18. 426 Vgl. Haase, in: Johlen/Oerder, MAH VerwR, § 16, Rn. 168; so aber der Prü‑ fer im Fall des VG Lüneburg, Gerichtsbescheid v. 30.10.1996 – Az.: 1 A 16/94, juris, Rn. 39. 427 BVerwG, Bes. v. 19.08.1975 – 7 B 24.75, Buchholz 421.0 Nr. 65, 18 (18); Bes. v. 23.02.1984 – 7 24.84, juris, Rn. 3; VG Hamburg, Urt. v. 20.05.2011 – 2 K 236/10, juris, Rn. 18; Haase, in: Johlen/Oerder, MAH VerwR, § 16, Rn. 168; Niehues/ Fischer/Jeremias, Rn. 395; siehe auch Zimmerling/Brehm, Prüfungsrecht, Rn. 794.
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tung folgt entscheidend aus dem Gesichtspunkt, dass im Rahmen der juris‑ tischen (Staats‑)Prüfungen die spätere Berufseignung überprüft werden soll, über die aber die Lesbarkeit der Handschrift jedenfalls heutzutage keine Auskunft mehr gibt, weil in jedem denkbaren Tätigkeitsfeld Schriftsätze diktiert oder selbst am Computer geschrieben werden und Verfügungen etc. in gleicher Weise erfolgen können. So betrachtet trifft es dann auch zu, dass die Sanktionierung einer schwer lesbaren Schrift mit der Nichtbewertung der Prüfungsarbeit aus Gründen der Verhältnismäßigkeit nicht hingenommen werden kann428. Für den Fall, dass eine Prüfungsarbeit trotz besonderer, aber noch zumut‑ barer Anstrengungen auch bei objektiver Betrachtung nicht entziffert werden kann, ist fraglich und umstritten, ob dem Prüfling das Recht eingeräumt werden kann oder gar eingeräumt werden muss, (unter Aufsicht) eine Lese‑ abschrift anzufertigen429. Dagegen spricht aber bereits der gegen die Re‑ konstruktion einer abhanden gekommenen Prüfungsarbeit angeführte Grund, nämlich die Gefahr, dass der Prüfling eine Leseabschrift anfertigt, die je‑ denfalls teilweise nicht dem nicht entzifferbaren Inhalt der tatsächlich er‑ brachten Prüfungsleistung entspricht430. Hinzu kommt, dass der nicht lesbar schreibende Prüfling durch die Einräumung der Möglichkeit, eine Leseab‑ schrift zu fertigen, in einer Art und Weise bevorzugt behandelt werden würde, die mit dem Grundsatz der Chancengleichheit unvereinbar wäre431. Denn derjenige Prüfling, der schneller als seine Mitprüflinge schreibt, hat dadurch grundsätzlich die Möglichkeit, mehr Ausführungen zu Papier zu bringen, als ihm dies möglich gewesen wäre, wenn er langsamer und lesbar geschrieben hätte. Wenn man einem solchen Kandidaten später die Möglich‑ keit einräumt, eine Leseabschrift anzufertigen, hat er dadurch unter Umstän‑ den einen Vorteil gegenüber denjenigen Kandidaten, die leserlich, dafür aber weniger geschrieben haben und später nicht die Möglichkeit hatten, ihre Ausführungen um diejenigen zu ergänzen, auf die sie zugunsten der Lesbar‑ keit der Gesamtleistung verzichtet haben. Die Erfassung der Prüfungsleistung kann für den Prüfer neben einer schwer entzifferbaren Handschrift aber auch bzw. stattdessen dadurch er‑ Haase, in: Johlen/Oerder, MAH VerwR, § 16, Rn. 168. Haase, in: Johlen/Oerder, MAH VerwR, § 16, Rn. 168; ablehnend VG Freiburg, Urt. v. 11.07.2001 – 1 K 1080/99, juris, Rn. 26; Bedenken äußernd OVG Berlin, Bes. v. 27.11.2013 – OVG 7 N 18.13, juris, Rn. 4: „fragwürdig“. 430 In diese Richtung bereits Guhl, S. 146, der mit diesem Argument eine nach‑ trägliche Erläuterung der unlesbaren Schrift durch den Prüfling ablehnt. 431 VG Freiburg, Urt. v. 11.07.2001 – 1 K 1080/99, juris, Rn. 26; ähnlich bereits Guhl, S. 145, der die Neuerbringung der Leistung durch den Prüfling im Falle der Unleserlichkeit der Ausführungen ablehnt. Eine Leseabschrift stellt sich qualitativ kaum anders dar als die von Guhl zu Recht abgelehnte Wiederholungsmöglichkeit. 428 So
429 Bejahend
C. Die Erhebung formeller und materieller Bewertungsrügen239
schwert sein, dass aufgrund einer Mixtur von ggf. wieder zurückgenomme‑ nen Durchstreichungen, Einschüben, Verweisen und dergleichen im Einzel‑ fall nicht zweifelsfrei ist, was der Prüfling im Ergebnis als Prüfungsleistung verstanden wissen will. Ähnliche Probleme bei der Erschließung des Sinn‑ gehalts können sich ergeben, wenn der Prüfling die Blätter seiner Klausur falsch geordnet oder die Seiten falsch nummeriert hat. In all diesen Fällen gilt, dass im Grundsatz der Anspruch des Prüflings auf eine vollständige Erfassung seiner Prüfungsleistung durch diese latenten Rezeptionshindernis‑ se unberührt bleibt. Es ist aber auf der anderen Seite nicht Aufgabe des Prüfers, aus den ungeordneten und ggf. teils unrichtigen Ausführungen eines Klausurbearbeiters die verwertbaren Einzelelemente herauszufiltern und diese zu einer richtigen Lösung zusammenzufügen432. Vielmehr trifft wie ausgeführt den Prüfling die Obliegenheit, dass er die von ihm erbrachte Prüfungsleistung den Prüfern zugänglich macht. Wenn allerdings trotz gege‑ bener Erfassungsprobleme die Prüfungsleistung im Ergebnis zweifelsfrei ermittelt werden kann, ist der Prüfer kraft der dargelegten Gewährleistungen des Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG verpflichtet, die insoweit erforderlichen zu‑ mutbaren Anstrengungen bei der Ermittlung der Prüfungsleistung auch zu unternehmen. Diese Verpflichtung kann über den hier behandelten Teilas‑ pekt hinaus durchaus als allgemeiner Bewertungsgrundsatz bei der Erfas‑ sung der „äußeren“ Prüfungsleistung verstanden werden433. Gleichfalls noch im Bereich der Bestimmung des Inhalts der (äußeren) Prüfungsleistung ist die Problematik angesiedelt, ob und unter welchen Voraussetzungen der Prüfling einen Anspruch darauf hat, dass Konzept-, Skizzen- oder Gliederungsblätter Bestandteil der Bewertung werden. Diese Frage stellt sich für den Prüfling nur dann, wenn die dort gemachten Aus‑ führungen geeignet sind, die Bearbeitung hinsichtlich des Aufbaus, der Begründungen und der Ergebnisse zu ergänzen bzw. zu vervollständigen434, weil nur dann deren Berücksichtigung die brauchbare Substanz erweitern und zu einer allein im Interesse des Prüflings liegenden Anhebung der Be‑ wertung führen kann. Ergeben sich aus den vorläufigen Überlegungen 432 Vgl.
BayVGH, Bes. v. 14.04.2009 – 7 ZB 09.223, juris, Rn. 6. in diesem Zusammenhang BVerwGE 70, 143 (151 f.); BVerwG, Bes. v. 08.03.2012 – 6 B 36/11, NJW 2012, 2054 (2056), das im Zusammenhang mit dem Sachlichkeitsgebot die Verpflichtung des Prüfers betont hat, sich zu bemühen, die Darlegungen des Prüflings zu verstehen und auf dessen Gedankengänge einzugehen. Dieser Bewertungsgrundsatz für die Erfassung der „inneren Prüfungsleistung“ dürf‑ te für die Erfassung der hier behandelten „äußeren Prüfungsleistung“ entsprechend gelten. 434 Vgl. BVerwG, Bes. v. 22.07.1992 – 6 B 43/92, Buchholz 421.0 Nr. 297, 201 (202 f.); OVG Bautzen, Bes. v. 11.09.2001 – 4 BS 156/01, SächsVBl. 2002, 59 (62); VG Ansbach, Urt. v. 30.01.2001 – AN 2 K 00.00648, juris, Rn. 38. 433 Vgl.
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demgegenüber weitere Mängel, die in der Niederschrift der Lösung keinen Niederschlag gefunden haben, stellt sich allein die Frage, ob die Ausführun‑ gen in den Konzept-, Skizzen- oder Gliederungsblättern von den Prüfern zur Grundlage der Bewertung gemacht werden und zur weiteren Abwertung der Leistung führen dürfen. Von daher ist es ebenso sinnlos wie unschädlich, wenn in der Rechtsprechung435 die Eignung der Konzept-, Skizzen- oder Gliederungsblätter zur Ergänzung und Vervollständigung der Klausurlösung als anspruchsbegründende Voraussetzung für deren Berücksichtigung sta tuiert wird, weil eben im Falle mangelnder Eignung der verständige Prüfling einen solchen Anspruch ohnehin gar nicht erst geltend macht. Sofern – wie es sich de lege lata darstellt – entsprechende Reglungen in der jeweiligen Prüfungsordnung fehlen, sind die Maßstäbe für die Berücksichtigungsfähig‑ keit von Konzept-, Skizzen- oder Gliederungsblättern unmittelbar aus Art. 12 Abs. 1 Satz 1 i. V. m. Art. 3 Abs. 1 GG zu deduzieren. Dabei ist zunächst abermals zu vergegenwärtigen, dass im Rahmen des Bewertungsvorgangs grundsätzlich sämtliche Darlegungen des Prüflings, die für die Beurteilung relevant sein können, zu erfassen sind436. Dies gilt uneingeschränkt für die nach der Aufgabenstellung geforderte Prüfungsleistung. Nach jener ist aber stets eine ausformulierte Lösung etwa in Form eines Urteilsentwurfs gefor‑ dert und Konzept, Skizzen- oder Gliederungsblätter sind nicht einmal als zu erbringende Vorbereitungsleistung vorgesehen. Solche gedanklichen Vorleis‑ tungen bzw. Vorüberlegungen stellt der Prüfling im eigenen Interesse an, bevor er sich für konkrete und endgültige Abwägungen, Ergebnisse und Begründungen entscheidet, die dann ihren Niederschlag in der allein gefor‑ derten (ausformulierten) Klausurlösung437 finden. Mit anderen Worten stel‑ len Konzept-, Skizzen- oder Gliederungsblätter keinen genuinen Teil der Prüfungsleistung dar, so dass es weder geboten noch zulässig ist, diese von vornherein zur Grundlage der Beurteilung zu machen, zumal (nur) diese eben auch – in der endgültigen Lösung nicht mehr enthaltene – Fehler ent‑ halten können. Aufgrund dessen wird soweit ersichtlich übereinstimmend und nach dem Dargelegten zutreffend davon ausgegangen, dass mitabgelieferte Konzeptund Gliederungsblätter nur dann als eine verbindliche Äußerung des Prüf‑ lings angesehen und vollständig zur Kenntnis genommen werden müssen, wenn sie vom Prüfling erkennbar zum Bestandteil der Prüfungsarbeit ge‑ macht werden und dazu nach Form und Inhalt geeignet sind438. Ein solches 435 Vgl. BVerwG, Bes. v. 22.07.1992 – 6 B 43/92, Buchholz 421.0 Nr. 297, 201 (202 f.); OVG Bautzen, Bes. v. 11.09.2001 – 4 BS 156/01, SächsVBl. 2002, 59 (62). 436 Vgl. VG Ansbach, Urt. v. 30.01.2001 – AN 2 K 00.00648, juris, Rn. 38. 437 BVerwG, Bes. v. 22.07.1992 – 6 B 43/92, Buchholz 421.0 Nr. 297, 201 (202). 438 Vgl. VG Ansbach, Urt. v. 30.01.2001 – AN 2 K 00.00648, juris, Rn. 38; VGH Mannheim, Urt. v. 08.10.1996 – 9 S 2437/95, VBlBW 1997, 70 (71 f.); OVG
C. Die Erhebung formeller und materieller Bewertungsrügen241
Begehren kann durch Äußerungen gegenüber der Aufsichtsperson, die die Bearbeitung des Prüflings entgegennimmt439, einen ausdrücklichen Vermerk in der Prüfungsarbeit, durch Fortführung der Seitenzahlen440 oder Zusam‑ menheftung sämtlicher Blätter geschehen441. In diesem Zusammenhang ist klarzustellen, dass ein Anspruch auf Bewertung der Ausführungen in den Skizzen-, Konzept- und Gliederungsblättern nicht bereits aus der üblicher‑ weise bestehenden, aber nicht normierten Verpflichtung resultiert, sämtliche beschriebenen Blätter abzugeben, die allein dazu dient, eine spätere Rekon‑ struktion der Prüfungsaufgabe und deren Verbreitung durch die Prüflinge zu erschweren. Fraglich ist, ob der Prüfling sein Begehren auf Berücksichtigung der in den Skizzen-, Konzept- und Gliederungsblättern enthaltenen Ausführungen spätestens bis zur Abgabe seiner Bearbeitung kundtun muss, was wohl üb‑ licherweise stillschweigend vorausgesetzt wird, oder ob er dieses auch noch nach Bekanntgabe der Bewertung etwa im Rahmen eines Widerspruchsver‑ fahrens äußern kann. Hier dürfte der Grundsatz der Chancengleichheit es erfordern, dass der Prüfling das ihm zustehende Wahlrecht hinsichtlich der Berücksichtigung der in den Konzept- und Gliederungsblättern enthaltenen Ausführungen spätestens bis zur Abgabe seiner Klausurbearbeitung ausübt. Denn derjenige Prüflinge, der erst nach der Abgabe der Prüfungsarbeit sein Begehren auf Berücksichtigung der in den Konzept- und Gliederungsblät‑ tern enthaltenen Ausführungen äußert, hatte im Gegensatz zu denjenigen Kandidaten, die dies bereits vor der Abgabe der Prüfungsarbeit getan haben, die Möglichkeit, die Richtigkeit bzw. Vertretbarkeit seiner Ausführungen zu prüfen, und dadurch einen sachlich nicht zu rechtfertigenden Vorteil. Aus dem Chancengleichheitsgebot folgt im Übrigen zugleich die Selbst‑ verständlichkeit, dass im Falle der vom Prüfling gewünschten Berücksichti‑ gung der Ausführungen in den Skizzen-, Konzept- und Gliederungsblättern auch die dort erkennbaren Mängel zulasten des Prüflings berücksichtigt werden dürfen442. Lüneburg, Bes. v. 07.05.2007 – 2 LA 410/05, juris, Rn. 17; OVG NRW, Bes. v. 20.12.2011 – 14 E 1274/11, juris, Rn. 2; Bes. v. 18.01.2007 – 14 A 2325/04, juris, Rn. 51; Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 530, 625; Haase, in: Johlen/Oerder, MAH VerwR, § 16, Rn. 166; Zimmerling/Brehm, Prüfungsrecht, Rn. 597; v. Golitschek, BayVBl. 1994, 257 (262); siehe auch Zimmerling/Brehm DVBl. 2012, 265 (271). 439 Siehe zu dieser Möglichkeit VGH Mannheim, Bes. v. 08.10.1996 – 9 S 2437/95, VBlBW 1997, 70 (71). 440 So im Fall des VG Ansbach, Urt. v. 30.01.2001 – AN 2 K 00.00648, juris. 441 Vgl. Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 530, Zimmerling/Brehm, Prüfungsrecht, Rn. 597. 442 Vgl. Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 530; v. Golitschek, BayVBl. 1994, 257 (262).
242 Kap. 6: Möglichkeiten (gerichtlicher) Kontrolle der Prüfungsentscheidung
Erst wenn etwaige Unklarheiten hinsichtlich des Inhalts der „äußeren“ Prüfungsleistung ausgeräumt sind, kann der Prüfer seiner eigentlichen Ver‑ pflichtung nachkommen, diese aufmerksam und vollständig zu lesen und auf sich wirken zu lassen443, also die „innere“ Prüfungsleistung zu ermit‑ teln. Freilich können aufgrund von grammatikalischen Unzulänglichkeiten in Form von etwa unvollständigen und (deshalb) unverständlichen Sätzen, Begriffsverwirrungen aufgrund terminologischer Unsicherheiten des Prüf‑ lings, Schreibfehlern oder dergleichen auch hier noch Probleme bei der Erfassung der Prüfungsleistung entstehen. Hier gilt ebenso wie für die Er‑ fassung der äußeren Prüfungsleistung der Grundsatz, dass der Prüfer zwar verpflichtet ist, sich zu bemühen, die Darlegungen des Prüflings zu verste‑ hen und auf dessen Gedankengänge einzugehen444, nicht zu beseitigende Verständnisprobleme aber letztlich zulasten des Prüflings gehen. In diesem Zusammenhang ist von Bedeutung, dass der Prüfling unstreitig kein Recht zur Nachbesserung seiner Prüfungsleistung im Rechtsbehelfsverfahren hat445. Gegenstand der Bewertung und ggf. ihrer rechtlichen Überprüfung sind allein diejenigen Ausführungen des Prüflings, die sich in der Prüfungs‑ arbeit auch tatsächlich wiederfinden446, also die „äußere“ Prüfungsleistung im vorstehenden Sinne. Eine erst nach der erfolgten Leistungserbringung erfolgende „Rechtfertigung der Lösung, Erläuterung und Verdeutlichung des Gedankengangs sowie ergänzende oder erstmalige Unterfütterung der Lö‑ sung mit zusätzlichen Argumenten, die in der Prüfungsarbeit selbst so nicht angeführt worden sind, ist nicht geeignet, die an einer nicht aus sich selbst heraus verständlichen Darstellung leidende Schwäche der Prüfungsarbeit nachträglich zu beheben“447. b) Der eigentliche Vorgang der Leistungsbewertung Erst nach der ggf. mit den vorstehenden Schwierigkeiten behafteten Er‑ fassung der äußeren und inneren Prüfungsleistung kann der zu dem später möglicherweise streitgegenständlich werdenden Urteil des Prüfers über die Qualität der Prüfungsleistung führende eigentliche Akt der Leistungsbewer‑ 443 Haase,
in: Johlen/Oerder, MAH VerwR, § 16, Rn. 168. BVerwGE 70, 143 (152). 445 VG Dresden, Urt. v. 04.06.2008 – 5 K 38/08, juris, Rn. 130, 140. 446 VG Dresden, Urt. v. 04.06.2008 – 5 K 38/08, juris, Rn. 130; VG Berlin, Urt. v. 16.06.2004 – 12 A 41.00, juris, Rn. 20. 447 VG Dresden, Urt. v. 04.06.2008 – 5 K 38/08, juris, Rn. 130, 140; OVG NRW, Bes. v. 18.01.2007 – 14 A 2325/04, juris, Rn. 9; OVG Lüneburg, Bes. v. 27.01.2004 – 2 ME 386/03, juris, Rn. 9; OVG Saarland, Bes. v. 05.04.2004 – 3 Q 36/03, juris, Rn. 88; OVG NRW, Bes. v. 18.01.2007 – 14 A 2325/04, juris, Rn. 9. 444 Vgl.
C. Die Erhebung formeller und materieller Bewertungsrügen243
tung als Kern des Bewertungsvorgangs erfolgen448. Dieser ist, wie bereits im Rahmen der überblicksartigen Darstellung des Ablaufs des Bewertungs‑ vorgangs aufgezeigt, dadurch gekennzeichnet, dass die unter Berücksichti‑ gung der vorstehenden Kriterien (zutreffend) erfasste Prüfungsleistung an dem vom Prüfer für die jeweilige Prüfungsaufgabe festgelegten Anforde‑ rungsprofil und an seinen allgemeinen Bewertungskriterien gemessen wird. Demgemäß besteht die Aufgabe des Prüfers zunächst darin, die von dem Prüfling erbrachte mit der tatsächlich geforderten (Prüfungs‑)Leistung abzu‑ gleichen. Er muss also prüfen, ob der Prüfling die aus der konkreten Auf‑ gabenstellung seiner Auffassung nach resultierenden Rechts- und Fachfragen bzw. -probleme vollständig und gemessen an ihrer Beantwortung in Rechts‑ wissenschaft und -praxis falsch, richtig oder zumindest vertretbar und fol‑ gerichtig gelöst hat449. Dieser Teil des Bewertungsvorgangs wird seit der bereits einleitend erwähnten Grundsatzentscheidung des Bundesverfassungs‑ gerichtes vom 17.04.1991450 als sogenannte „fachspezifische“451 bzw. „fachwissenschaftliche“452 Wertung bezeichnet453. Zwar wird die Qualität der Prüfungsleistung maßgeblich von dem Ergeb‑ nis dieser fachspezifischen Wertung geprägt, aber keineswegs allein von ihr bestimmt, was mit Blick auf den Gewährleistungsgehalt des Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG auch nicht zu rechtfertigen wäre. Dieser verlangt nämlich, dass bei der Bewertung der einzelnen Prüfungsleistungen als Grundlage für das spätere Urteil über die Berufseignung des Kandidaten sämtliche Kriterien berücksichtigt werden, denen diesbezüglich eine Aussagekraft beigemessen werden kann. In dieser Hinsicht spielen nicht nur (die) praktische Brauch‑ barkeit des Gesamtergebnisses und die innerhalb des möglichen Ant‑ wortspektrums liegende Lösung der fallrelevanten Rechts- und Fachfragen eine Rolle, sondern auch die Einschätzungen, mit welchem Grad von 448 Siehe zur Reihenfolge des Bewertungsvorgangs BVerwGE 70, 143 (146); BVerwG, Urt. v. 21.10.1993 – 6 C 12/92, Buchholz 421.0 Nr. 320, 305 (309 f.); Haase, in:, Johlen/Oerder, MAH VerwR, § 16, Rn. 163, 172. 449 Vgl. Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 633. 450 BVerfGE 84, 34 ff., siehe insbesondere S. 53 zum Terminus der „prüfungs‑ spezifischen Wertung“ in Abgrenzung zur nicht ausdrücklich benannten „fachspezif‑ schen Wertung“. 451 OVG Lüneburg, Urt. v. 05.06.1997 – 10 L 4646/95, NdsVBl. 1997, 209 (211); Urt. v. 24.05.2011 – 2 LB 158/10, NordÖR 2012, 98 (99); Niehues/Fischer/ Jeremias, Rn. 633 f.; Haase, in: Johlen/Oerder, MAH VerwR, § 16, Rn. 185. 452 BVerwG, Urt. v. 24.02.1993 – 6 C 38/92, NVwZ 1993, 686 (687); Urt. v. 30.01.1995 – 6 C 1/92, NVwZ 1995, 788 (789). 453 Siehe zur Definition bzw. den Voraussetzungen der fachspezifischen Wertung BVerwG, Bes. v. 17.12.1997 – 6 B 55/97, NVwZ 1998, 738 (738); OVG NRW, Urt. v. 22.05.2003 – 14 A 4813/96, juris, Rn. 56.
244 Kap. 6: Möglichkeiten (gerichtlicher) Kontrolle der Prüfungsentscheidung
Schwierigkeit es verbunden war, diese zu erkennen, und wie der Prüfling diese bewältigt hat. Wenn zu einer rechtlichen Fragestellung verschiedene Rechtsauffassungen vertreten werden und auch vertreten werden können, hängt die zu überprüfende Berufseignung der jeweiligen Kandidaten zudem weniger davon ab, welchen Standpunkt der Prüfling in einer umstrittenen (Fach‑)Frage einnimmt, sondern in welcher Art und Weise er diesen begrün‑ det und ob und inwieweit es ihm gelingt, den Entscheider – hier den Prüfer oder in der Praxis etwa den Richter – von der Richtigkeit desselben zu überzeugen. Mit anderen Worten stellen der Schwierigkeitsgrad der Aufga‑ benstellung und die Qualität der Herleitung und Begründung des richtigen bzw. vertretbaren (Gesamt‑)Ergebnisses gerade auch unter Berücksichtigung der im späteren Berufsleben tatsächlich bestehenden Anforderungen weitere, wesentliche Bewertungskriterien dar454. Während sich die fachspezifische Wertung des Prüfers grundsätzlich ohne Weiteres durch eine Auswertung des zu den maßgeblichen Rechts- und Fach‑ fragen jeweils vorzufindenden Meinungsstandes objektiv nachvollziehen und kontrollieren lässt, sind die für die Einschätzung des Schwierigkeitsgrades der Aufgabenstellung und der Bewertung der „Qualität der Begründung“ maßgeblichen Kriterien weniger durch die Ergebnisse fachlicher Meinungs‑ streits, sondern – mit Folgen für ihre Überprüfbarkeit – mehr durch die sub‑ jektiven Einschätzungen des Prüfers und die damit begründeten Eigengesetz‑ lichkeiten des individuellen Bewertungsvorgangs wie folgt geprägt: Die „Qualität der Begründung“ wird maßgeblich durch die Überzeu‑ gungskraft der Argumente bestimmt, die für den jeweils eingenommenen Rechtsstandpunkt zu einer abstrakten Rechtsfrage bzw. einem konkreten Subsumtionsergebnis angeführt werden. Diese Aussage erhebt durchaus den Anspruch auf Allgemeinverbindlichkeit, so dass sich die „Qualität der Be‑ gründung“ noch objektiv anhand des Merkmals der „Überzeugungskraft der Argumentation“ bestimmen lässt, welches indes wiederum der näheren abs trakten Definition bedarf, damit es in jedem konkreten Einzelfall im Sinne einer allgemeinen Bewertungsvorgabe gleichmäßig angewendet werden kann. Insoweit ließe sich noch aus dem vom Bundesverfassungsgericht vorgegebenen und bereits einleitend erwähnten Maßstab für die fachspezifi‑ sche Bewertung, wonach eine vertretbare und mit gewichtigen Argumenten folgerichtig begründete Lösung nicht als falsch bewertet werden kann455, 454 Vgl. SächsOVG, Urt. v. 11.09.2001 – 4 BS 156/01, LKV 2002, 523 (525); VGH Mannheim, Bes. v. 25.09.2001 – 9 S 1428/01, juris, Rn. 7; Hessisches Finanz‑ gericht, Urt. v. 16.09.2004 – 13 K 668/02, juris, Rn. 30; VG Dresden, Urt. v. 04.06.2008 – 5 K 38/08, juris, Rn. 112; Guhl, S. 137. 455 BVerfGE 84, 34 (55); neuerdings spricht das Bundesverfassungsgericht unter Bezugnahme auf eine weitgehend äquivalente Formulierung im „Mediziner-Be‑
C. Die Erhebung formeller und materieller Bewertungsrügen245
entsprechend die Forderung deduzieren, dass die Argumentation des Prüf‑ lings zu einer abstrakten Fachfrage, die im Wesentlichen derjenigen in einer gerichtlichen Entscheidung oder einer in der Literatur vertretenen und aner‑ kannten Rechtsauffassung entspricht, nicht als fachlich falsch und unvertret‑ bar gewertet werden kann456. Dieses Kriterium versagt aber bereits, wenn die Überzeugungskraft zu einer sich in der Prüfungsaufgabe erstmals stel‑ lenden, in der juristischen Praxis und der Rechtswissenschaft aber noch nicht behandelten, abstrakten Rechtsfrage oder zu einem konkreten Subsum‑ tionsergebnis in Rede steht. Im Übrigen ist eine Begründung nicht allein deshalb überzeugend, weil der Prüfling sein Ergebnis auf anerkannte bzw. respektierte Argumente stützt. Entscheidend ist vielmehr auch, in welcher Art und Weise diese angeführt werden. Hier stellen neben der Ausführlichkeit bzw. Knappheit der Ausfüh‑ rungen der Aufbau der Argumentation und deren Systematik Aspekte dar, die die Verständlichkeit der Gedankengänge des Prüflings wesentlich beein‑ flussen. Die Verständlichkeit der Ausführungen kann aber durchaus auch als ein eigenständiges Kriterium für die Bestimmung der Überzeugungskraft der Argumentation angesehen werden kann, die wiederum namentlich durch den Satzbau und den allgemeinen Sprachstil des Prüflings determiniert sein dürfte. Kurzum ist für die Bewertung einer Begründung neben der generel‑ len Tragfähigkeit der angeführten Argumente deren durch die Qualität der Darstellung (mit‑) bedingte Überzeugungskraft maßgeblich. Während sich die Tragfähigkeit der Argumentation in Abhängigkeit von den Umständen des Einzelfalles wie dargelegt ggf. noch objektiv bestimmen lässt, hängt die Beantwortung der Fragen, ob der Aufbau der Argumentation geschickt oder ungeschickt gewählt ist, die Ausführungen des Prüflings zu knapp oder zu langatmig sind, die Gedanken geordnet oder konfus erscheinen, der Satzbau zu kompliziert oder zu einfach, die Sprache zu abgehoben oder das Niveau angemessen ist, ausschließlich oder jedenfalls in erster Linie von der per‑ sönlichen Einschätzung und Sichtweise eines jeden Beurteilers ab. Dessen Beurteilungsmaßstab wird wiederum von mannigfachen Faktoren bestimmt, die mehr dynamischen denn statischen Charakters sind, wobei im Einzelnen insbesondere die folgenden Aspekte maßgeblich sein dürften: Derjenige Prüfer, der erstmals schriftliche oder mündliche Prüfungsleis‑ tungen bewertet, wird sich bei der Bestimmung der Leistungsanforderungen zunächst entweder bewusst im besonderen Maße an den eigenen Kompeten‑ schluss“ [vgl. BVerfGE 84, 59 (79)] von „guten“ Gründen, siehe BVerfG, Bes. v. 04.11.2010 – 1 BvR 3389/08, NVwZ 2011, 486 (489). 456 So insbesondere OVG Saarlouis, Bes. v. 22.11.2000 – 3 V 26/00, 3 W 6/00, NVwZ 2001, 942 (943); Bes. v. 05.04.2004 – 3 Q 36/03, juris, Rn. 17; VG Dresden, Urt. v. 04.06.2008 – 5 K 38/08, juris, Rn. 112, 126.
246 Kap. 6: Möglichkeiten (gerichtlicher) Kontrolle der Prüfungsentscheidung
zen und Fähigkeiten orientieren oder unbewusst maßgeblich von diesen beeinflusst sein. Dies kann dazu führen, dass etwa der besonders qualifizier‑ te Jurist entsprechend seinen eigenen Ansprüchen einen besonders strengen Maßstab für das von ihm erwartete Argumentationsniveau anlegt oder im Bewusstsein dieser Gefahr gerade umgekehrt die Anforderungen besonders niedrig ansetzt. Dabei ist es keineswegs zwingend, dass dieser so gebildete Maßstab für die Bewertung der Argumentation zu einer maßgeblichen Fach‑ frage bis zur endgültigen Festsetzung der Noten für alle Prüfungsarbeiten beibehalten wird. So könnten den Prüfer besonders schlechte oder gute Ergebnisse dazu veranlassen, den ursprünglichen Bewertungsmaßstab zu überdenken und die Prüfungsarbeiten unter Anlegung eines wohlwollende‑ ren oder verschärften Maßstabs erneut zu bewerten. Ob eine solche Korrek‑ tur vorgenommen wird oder nicht, hängt damit also auch von dem Gesamt‑ niveau der Prüfungsleistungen ab, das durch die Qualität einer jeden einzel‑ nen Prüfungsleistung mitbestimmt wird. Bereits insoweit wird – von be‑ schränkten Ausnahmen wie der einmaligen Ausgabe eines Hausarbeitsfalles einmal abgesehen – eine Prüfungsleistung nicht isoliert bewertet, sondern in das Gesamtleistungsgefüge eingepasst. Dabei werden die Leistungen der Mitprüflinge ggf. sogar in doppelter Hinsicht berücksichtigt, da diese nicht nur die Anlegung des jeweiligen Bewertungsmaßstabs bestimmen können, sondern bei der Beurteilung der Frage, ob und inwieweit die in diesem gebündelten Kriterien vom jeweiligen Prüfling erfüllt werden, erneut ver‑ gleichend herangezogen werden. Dies kann – gerade auch bei mündlichen Prüfungen – dazu führen, dass bei einem insgesamt schwachen Leistungs‑ niveau ein bisher durchschnittlich bewerteter Kandidat glänzen und ein überdurchschnittliches Ergebnis erzielen kann, weil sich seine an sich durchschnittliche Leistung im Vergleich zu den Leistungen der anderen Kandidaten besonders abhebt. Umgekehrt kann einem schwachen Kandida‑ ten, der bei einer anderen Zusammensetzung der Prüfungsgruppe vielleicht eine gerade noch durchschnittlichen Anforderungen gerecht werdende Leis‑ tung erbracht hätte, das insgesamt hohe Leistungsniveau dadurch zum Ver‑ hängnis werden, dass in Relation zu diesem seine ansonsten gerade noch ausreichende Leistung unzureichend erscheint. Soweit hiernach in der Prüfungswirklichkeit das Leistungsniveau der je‑ weiligen Prüfungsgruppe einen maßgeblichen Bewertungsfaktor darstellt, was der bekannte Stoßseufzer von Prüfern „Eigentlich müssten sie alle durchfallen, aber das geht ja nicht“457, eindrucksvoll belegt, ist mit dieser Feststellung noch keine Aussage über die rechtliche Zulässigkeit einer rela‑ tiven Bewertung getroffen. Diesbezüglich wird zutreffend darauf hingewie‑ 457 Vgl. Richter, in: Giering/Haag, FS Ross, 344 (356); Wimmer, in: Bender, FS Redeker, 531 (537).
C. Die Erhebung formeller und materieller Bewertungsrügen247
sen, dass der mit den juristischen (Staats‑)Prüfungen verfolgte und in den Juristenausbildungsgesetzen und -ordnungen näher konkretisierte Zweck, die Berufseignung der Kandidaten zu ermitteln, im Prinzip eine von dem jeweiligen Leistungsstand der Prüfungsgruppe unabhängige Beurteilung der Leistung eines jeden Kandidaten erfordert458. Zwar liegt es auf der Hand, dass der Prüfer eine nach seiner Einschätzung im Prinzip noch ausreichende Leistung nicht allein deshalb mit „mangelhaft“ bewerten kann, weil sich diese in Relation zu den ansonsten wesentlich besseren Leistungen in der Prüfungsgruppe als äußerst schwach darstellt459. Das prinzipielle Verbot der Berücksichtigung des Leistungsstandes der Prüfungsgruppe bei der Bildung des Bewertungsmaßstabs schließt einen Vergleich der innerhalb dieser Gruppe erzielten Leistungen im Rahmen der endgültigen Notenvergabe aber nicht nur nicht aus. Vielmehr ist dieser vom (Chancen‑)Gleichheitsgrundsatz her sogar gefordert, da dieselbe Note nur für Leistungen von gleicher Qua‑ lität vergeben werden darf460. So betrachtet stellt sich die vergleichende Bewertung des Prüfers als prüfungsrechtlich gebotene (Selbst‑) Kontrolle dergestalt dar461, dass er untersucht, ob er bei allen Prüfungsarbeiten die‑ selben Bewertungskriterien zur Anwendung gebracht, etwa einen allen Prüflingen unterlaufenen Fehler bei allen Prüfungsarbeiten gleichermaßen berücksichtigt hat. Im Übrigen liegt nicht immer dann, wenn der Prüfer nach der ersten Durchsicht der Prüfungsarbeiten und deren vorläufiger Bewertung im Rah‑ men der nochmaligen Prüfung, ob die Kandidaten die an sie gestellten (Berufs‑)Anforderungen erfüllen, einen anderen als den ursprünglichen Be‑ wertungsmaßstab anlegt, eine unzulässige Berücksichtigung des (schwachen) Leistungsstandes der Prüfungsgruppe bei der Bildung des Bewertungsmaß‑ stabs vor. Denn wenn nach der vorläufigen Bewertung der Prüfungsarbeiten die Prüfungsleistungen durchgängig oder überwiegend durchschnittlichen Anforderungen im Sinne der Bundesnotenverordnung nicht mehr gerecht werden, können diese schlechten Bewertungsergebnisse etwa auch auf der ursprünglichen Verkennung des Schwierigkeitsgrades der Klausur durch den Prüfer beruhen. Entgegen Wimmer ist die im Rahmen des obigen Stoßseuf‑ zers zum Ausdruck kommende Einschätzung eines Prüfers, man könne ja nicht alle Prüflinge durchfallen lassen, also keineswegs stets rechtlich unzu‑ 458 Vgl. OVG NRW, Urt. v. 20.11.2012 – 14 A 755/11, NVwZ-RR 2013, 469 (469 f.); Guhl, S. 138 f.; Wimmer, in: Bender, FS Redeker, 531 (535). 459 Vgl. OVG NRW, Urt. v. 20.11.2012 – 14 A 755/11, NVwZ-RR 2013, 469 (470); Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 532. 460 Vgl. OVG NRW, Urt. v. 20.11.2012 – 14 A 755/11, NVwZ-RR 2013, 469 (470); Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 534, Guhl, S. 140. 461 Ähnlich Guhl, S. 139: „Rückversicherung“.
248 Kap. 6: Möglichkeiten (gerichtlicher) Kontrolle der Prüfungsentscheidung
treffend462. Vielmehr bedarf eine hohe Durchfallquote als das Ergebnis der vorläufigen Bewertung der Prüfungsarbeiten dann der Korrektur, wenn der Prüfer nach entsprechender Überprüfung erkannt hat, dass er ursprünglich einen überzogenen und mit dem Zweck der Prüfung nicht vereinbaren Be‑ wertungsmaßstab angelegt hat463. Nur wenn er diesen auch nach selbstkri‑ tischer Überprüfung nach wie vor für zutreffend hält464, ist er aus Rechts‑ gründen gehindert, diesen zugunsten der betroffenen Prüfungsgruppe und zulasten der Chancengleichheit aller anderen Kandidaten zu revidieren. Während bei der Bildung und Anwendung des jeweiligen Bewertungs‑ maßstabs zunächst das eigene Leistungsvermögen des Prüfers und die Bin‑ nendifferenzierung innerhalb der jeweiligen Leistungsgruppe im Vordergrund stehen, treten diese Faktoren mit wachsender Prüfungserfahrung des Prüfers in den Hintergrund, weil dann zunehmend seine bereits getroffenen Feststel‑ lungen bei der Beurteilung der Leistungen der Prüflinge in anderen Prü‑ fungsgruppen für die Bestimmung der Leistungsanforderungen an Bedeu‑ tung gewinnen. Soweit hiernach also auch der allgemeine Bewertungsmaßstab des Prüfers durch die Leistungen der Kandidaten in den aufeinanderfolgenden Prüfungs‑ 462 So aber Wimmer, in: Bender, FS Redeker, 533 (536), unter Bezugnahme auf Richter, FS Ross, 344 (356). 463 Vgl. in diesem Zusammenhang den prinzipiell zutreffenden Hinweis von Herzog, NJW 1992, 2601 (2603), dass der Prüfer den Schwierigkeitsgrad der Auf‑ gabenstellung einschätzen und im Rahmen der Bewertung des einzelnen Prüflings ausgleichend berücksichtigen könne. Klarzustellen ist insoweit aber, dass dieser Ausgleich nicht dadurch geschehen darf, dass bereits bei der Bildung des Bewer‑ tungsmaßstabs die ggf. schwache Gruppenleistung berücksichtigt wird, sondern eine Kompensation nur insoweit erfolgen darf, als bei der Anwendung des allgemeinen Bewertungsmaßstabs der Schwierigkeitsgrad der Aufgabenstellung namentlich bei der Gewichtung der Fehlleistungen angemessen berücksichtigt wird. Siehe weiter in diesem Kontext FG Köln, Urt. v. 07.12.2011 – 2 K 1434/09, EFG 2012, 1603 (1605). Siehe zur in diesem Urteil in der Sache bereits angesprochenen möglichen Indizwirkung einer hohen Durchfallquote für einen zu hohen Schwierigkeitsgrad bzw. für einen überzogenen Bewertungsmaßstab weiter VGH Mannheim, Urt. v. 10.11.2010 – 9 S 591/10, VBlBW 2011, 189 (190); nachfolgend BVerwG, Bes. v. 29.06.2011 – 6 B 7/11, Buchholz 421.0 Nr. 410, 10 (15); VGH Mannheim, Urt. v. 10.11.2010 – 9 S 624/10, juris, Rn. 31 f.; weiter gehend zuvor VG Stuttgart, Urt. v. 12.08.2009 – 12 K 2406/08, 12 K 4675/08, juris. Siehe zur möglichen Indizwirkung weiter BFHE 188, 502 (512); FG Hamburg, Urt. v. 31.08.2005 – V 2/04, EFG 2006, 217 (219); Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 383, 535; zur Verpflichtung des Gerichts, bei einer hohen Misserfolgsquote substantiierten gerügten Bewertungsfehlern nach‑ zugehen, BVerwG, Urt. v. 09.07.1996 – 6 3/95, NVwZ 1998, 176 (178); Bes. v. 06.11.1987 – 7 B 198/87, NVwZ 1988, 439 (440). 464 Vgl. zur ggf. „relativierenden Wirkung“ des Schwierigkeitsgrades der Aufga‑ benstellung OVG NRW, Urt. v. 20.11.2012 – 14 A 755/11, NVwZ-RR 2013, 469 (470); Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 535.
C. Die Erhebung formeller und materieller Bewertungsrügen249
gruppen mitbestimmt werden kann, ist dagegen nichts einzuwenden, wenn der Leistungsvergleich der Überprüfung der Angemessenheit der von ihm angewandten Bewertungskriterien dient. Damit dürften die wesentlichen Bewertungsgesichtspunkte benannt sein, die im Rahmen des ersten Teils der eigentlichen Leistungsbewertung zum Tragen kommen. Dieser Teil des Bewertungsvorgangs lässt sich als teilleis‑ tungsorientierte Brauchbarkeitsprüfung bezeichnen, da es hier Aufgabe des Prüfers zunächst ist, die einzelnen von dem Prüfling erbrachten Teilleistun‑ gen an den sich aus der Prüfungsaufgabe ergebenden fachspezifischen An‑ forderungen und den soeben dargestellten prüferspezifischen Bewertungskri‑ terien zu messen. Sobald diese „Messung“ erfolgt ist, steht fest, ob und inwieweit die von dem Prüfling jeweils erbrachte Teilleistung brauchbar ist, nicht aber der Einfluss des jeweils gefundenen Ergebnisses auf die Gesamt‑ bewertung. Um diesen bestimmen zu können, ist es erforderlich, den Wert der Teil(fehl)leistungen im Gesamtgefüge der Prüfungsleistung zu bestimmen, also die Teil(fehl)leistungen qualitativ zu gewichten, wozu wiederum die Festlegung eines Kriterienkatalogs erforderlich ist. In diesen einfließen dürf‑ ten neben dem bereits genannten Schwierigkeitsgrad insbesondere der Anteil der Teil(fehl)leistung an der Gesamtleistung und die Aussagekraft der Be‑ wältigung der Teilanforderungen für die spätere Berufseignung der Kandi‑ daten. Auch der Grad der Erfüllung dieser abstrakten Gewichtungskriterien im konkreten Einzelfall lässt sich nur annähernd objektiv bestimmen. So ließe sich der Grad der Schwierigkeit der im konkreten Prüfungsfall rele‑ vanten Rechts- und Streitfragen einschließlich ihrer argumentativen Lösung noch an der Intensität ihrer Diskussion in Rechtsprechung und Schrifttum sowie an dem Vorliegen tradierter Argumentationsmuster oder der Notwen‑ digkeit einer argumentativen Transferleistung festmachen. Die an diesen objektiven Merkmalen erfolgte Messung wird zwar die konkrete und durch die bisherigen Erfahrungen sowie einen Quervergleich mit Prüfungsaufga‑ ben in anderen Prüfungsdurchgängen geprägte Einschätzung des Prüfers in manchen Fällen als unvertretbar erscheinen, sich im Allgemeinen aber nicht als richtig oder falsch beurteilen lassen, weil die objektiven Orientierungs‑ punkte dafür keine hinreichend konkreten Maßstäbe liefern. Entsprechendes gilt für das Kriterium der Aussagekraft der Teil(fehl)leistung für die Berufs‑ eignung des Kandidaten. Hier könnte zwar noch die Regel aufgestellt wer‑ den, dass rechtssystematische Verständnisfehler schwerer wiegen müssen als bloße Subsumtionsfehler. Mit deren Anwendung wird man aber nicht das konkrete Gewicht eines Mangels ermitteln und die subjektive Einschätzung des Prüfers daher im Regelfall nicht infrage stellen können. Ebenso wenig objektivierbar erscheint schließlich die Festlegung des Anteils einer Teilaufgabe an der geforderten Gesamtleistung, für die in
250 Kap. 6: Möglichkeiten (gerichtlicher) Kontrolle der Prüfungsentscheidung
quantitativer Hinsicht der noch objektiv bestimmbare Umfang der erforder‑ lichen fachspezifischen Anforderungen, vor allem aber wiederum der nicht quantifizierbare Grad der Schwierigkeit ihrer Bewältigung bedeutsam ist. Nach dieser gebotenen Kategorisierung der Teilleistungen steht aber nur die potentielle Relevanz der festgestellten Mängel und Vorzüge für die Ge‑ samtbewertung, nicht aber der Gesamtwert der Prüfungsleistung fest. Für dessen Ermittlung ist es weiter erforderlich, die festgestellten Mängel der Prüfungsleistung den positiven Aspekten derselben in Form von richtigen bzw. vertretbaren Ergebnissen und brauchbaren Ansätzen gegenüberzustellen und zu prüfen, ob und inwieweit diese geeignet sind, die Mängel der Prü‑ fungsleistung zu kompensieren465. Auch für diesen wesentlichen Bewer‑ tungsschritt und die dabei zu erzielenden Ergebnisse finden sich wiederum nur objektive Orientierungspunkte in den (verfassungs‑)rechtlichen Vorga‑ ben, die es im Einzelfall erlauben mögen, die vom Prüfer getroffene Kom‑ pensationsentscheidung begründet als nicht mehr vertretbar anzusehen. So kann etwa mit Blick auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz einem Prüfling nicht ohne Weiteres die Argumentationsfähigkeit abgesprochen werden, wenn dieser an einer Problemstelle nichts Brauchbares geliefert hat, aber zu einem anderen gewichtigen Punkt gefällige Ausführungen gemacht hat. Jenseits sol‑ cher Evidenzen fehlt es aber auch und gerade auf dieser Stufe des Bewer‑ tungsvorgangs an Maßstäben für die Feststellung der (Un‑)Richtigkeit der vom Prüfer erfolgten Wertungen, weil sich den objektiven Orientierungs‑ punkten gerade nicht entnehmen lässt, mit welchem konkreten Gewicht im Einzelfall ein bestimmter Mangel zu berücksichtigen ist. Die vorstehend beschriebenen und im Anschluss an die „teilleistungsori‑ entierte Brauchbarkeitsprüfung“ erfolgenden Schritte des Gewichtens und Abwägens lassen sich als „gesamtleistungsorientierte“ Brauchbarkeitsprü‑ fung zusammenfassen. Nach Vollzug dieser freilich in der Praxis ineinander übergehenden Schritte steht die „brauchbare Substanz“ der Gesamtleistung fest. Im dritten und letzten Schritt des eigentlichen Bewertungsvorgangs muss der Prüfer nun die so ermittelte Gesamtleistung in das durch die Prüfungs‑ ordnung vorgegebene Notenschema einpassen, worin die eigentliche Kern‑ aufgabe des Prüfers gesehen werden kann. Dabei stellt sich das Problem, dass die Noten, die nach der Bundesnotenverordnung vergeben werden können, nicht im eigentlichen Sinne definiert, sondern nur allgemein um‑ 465 Vgl. zur Pflicht der Prüfer, die Bewertung aufgrund einer umfassenden Bewer‑ tung und Gewichtung sowie Abwägung der (Teil-)Leistungen zu treffen, VG Stuttgart, Urt. v. 12.08.2009 – 12 K 4675/08, juris, Rn. 60; Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 663 f.; Kopp/Ramsauer, VwVfG, § 40, Rn. 95; Unger, NordÖR 2012, 71 (75).
C. Die Erhebung formeller und materieller Bewertungsrügen251
schrieben werden, wobei als Bezugsgrößen regelmäßig die „Brauchbarkeit“ der Leistungen466 und der „Durchschnitt der Anforderungen“467 dienen468. Die maßgeblichen Kriterien für die Einordnung der Leistung des Kandida‑ ten sind damit ebenso vage, wie es bereits diejenigen für die Bestimmung der Brauchbarkeit im vorstehenden Sinne sind. Um einen Maßstab für die Bestimmung der „Brauchbarkeit“ und den „Durchschnitt der Anforderun‑ gen“ bestimmen zu können, muss der Prüfer, was durch die gebotene Er‑ mittlung des Durchschnitts sogar ausdrücklich verlangt wird, erneut die Prüfungsleistung der anderen Kandidaten innerhalb und außerhalb der Prü‑ fungsgruppe als Vergleichsmaßstab heranziehen469. Der Durchschnitt muss ermittelt werden, ehe man überdurchschnittliche oder unterdurchschnittliche Noten geben kann470. Damit steht fest, dass im Rahmen des hier als dreischrittig dargestellten Bewertungsvorgangs auf allen Stufen mehr oder weniger diffuse Bewer‑ tungskriterien zur Anwendung kommen, die ihren Ursprung im Wesentli‑ chen in den persönlichen Erfahrungen des Prüfers haben, die wiederum in erster Linie durch den sich ständig wiederholenden Vergleich der Prüfungs‑ leistungen geprägt sind und mangels anderer Bezugspunkte namentlich bei der Notenvergabe als Kern des Bewertungsvorgangs maßstabsbildend im obigen Sinne herangezogen werden. Daraus folgt, dass – wie es das Bun‑ desverfassungsgericht in seiner bereits mehrfach erwähnten Grundsatzent‑ scheidung vom 17.04.1991471 zutreffend befundet hat – Prüfungsnoten nicht isoliert gesehen werden dürfen, sondern in einem Bezugssystem zu finden sind, das durch die persönlichen Erfahrungen und Vorstellungen der Prüfer beeinflusst wird472. Die Prüfer gehen bei ihrem wertenden Urteil über die Qualität der Prüfungsleistung von Einschätzungen und Erfahrungen aus, die sie im Laufe ihrer Examenspraxis bei vergleichbaren Prüfungen und unab‑ hängig von solchen bereits zuvor entwickelt haben und allgemein anwen‑ den473. Die Anwendung der im Zuge dessen von den Prüfern hervorgebrach‑ ten Bewertungskriterien hat das Bundesverfassungsgericht in seiner Grund‑ satzentscheidung in Abgrenzung zu der fachspezifischen als sogenannte „prüfungsspezifische Wertung“ bezeichnet474. Diese „prüfungsspezifische 466 Vgl.
etwa § 1 Bundesnotenverordnung (mangelhaft, ungenügend). etwa § 1 Bundesnotenverordnung (ausreichend); zur Vagheit der Krite‑ rien „brauchbar“ und „durchschnittliche Anforderungen“ siehe Schulze, S. 155 ff. 468 Vgl. BVerfGE 84, 34 (51). 469 Vgl. BVerfGE 84, 34 (51). 470 BVerwGE 8, 272 (273). 471 BVerfGE 84, 34 ff. 472 BVerfGE 84, 34 (52). 473 BVerfGE 84, 34 (51). 474 BVerfGE 84, 34 (53). 467 Vgl.
252 Kap. 6: Möglichkeiten (gerichtlicher) Kontrolle der Prüfungsentscheidung
Wertung“ ist wie gesehen in einem solchen Maße von der Prägung des je‑ weiligen Beurteilers abhängig, dass den Bewertungskriterien überwiegend ein subjektiver Einschlag anhaftet475, und diese stellen sich zudem als der‑ maßen komplex dar, dass sie sich kaum regelhaft erfassen lassen476.
II. Die Anerkennung eines Bewertungsspielraums als Konsequenz der Eigentümlichkeiten des Bewertungsvorgangs Die vorstehend dargestellten „sachgesetzlichen Eigentümlichkeiten“477 des Bewertungsvorgangs haben das Bundesverwaltungsgericht frühzeitig dazu bewogen, die Prüfungsentscheidung als nur begrenzt gerichtlich über‑ prüfbar anzusehen und dem Prüfer einen weiten Beurteilungsspielraum zu‑ zubilligen, im Rahmen dessen er bei der Bewertung nur seinem Wissen und Gewissen unterworfen ist478. Maßgeblich für dessen Anerkennung ist dabei für das Bundesverwaltungsgericht neben der Erkenntnis der in die Bewer‑ tung einfließenden persönlichen Erfahrungen des Prüfers aus anderen Prü‑ fungen vor allem auch der Umstand gewesen, dass dieser vor der abschlie‑ ßenden Notenvergabe die jeweils zu beurteilende Leistung zusätzlich ins Verhältnis zu den Leistungen der anderen Kandidaten setzt, und er damit auch (Vergleichs‑)Maßstäbe anwendet, über die der Richter nicht verfügt479. In Anlehnung an das Kontrollprogramm von Ermessensentscheidungen soll die pädagogisch-wissenschaftliche Bewertung infolgedessen nur auf die Einhaltung der von der Rechtsordnung gezogenen Grenzen und damit nur daraufhin überprüfbar sein, ob der Prüfer von falschen Tatsachen ausgegan‑ gen ist, allgemein gültige Bewertungsgrundsätze nicht beachtet hat oder sich von sachfremden Erwägungen hat leiten lassen480. Diese zunächst im Zusammenhang mit der Überprüfbarkeit schulischer Leistungsbewertungen entwickelte Dogmatik ist später auf die Möglichkeit der gerichtlichen Kon‑ trolle insbesondere von juristischen Prüfungsentscheidungen übertragen481 und sodann mehrfach bestätigt worden482. Während vom Bundesverwal‑ 475 Vgl.
VG Hamburg, Urt. v. 16.04.2003 – 6 VG 2363/99, juris, Rn. 25. 84, 34 (52). 477 Vgl. (zur Terminologie) FG Kassel, Urt. v. 16.09.2004 – 13 K 668/02, juris, Rn. 27. 478 BVerwGE 8, 272 (274). 479 BVerwGE 8, 272 (274). 480 BVerwGE 8, 272 (274). 481 BVerwG, Bes. v. 09.10.1969 – VII B 4.69, Buchholz 421.0 Nr. 39, 15 (15). 482 BVerwG, Urt. v. 26.02.1979 – 7 B 15.79, Buchholz Nr. 104, 149 (149 f.); Bes. v. 12.11.1979 – 7 B 228.79, Buchholz Nr. 121, 194 (194); Bes. v. 13.10.1981 – 476 BVerfGE
C. Die Erhebung formeller und materieller Bewertungsrügen253
tungsgericht in seiner Grundsatzentscheidung noch der dem Prüfer vorbe‑ haltene Akt der Notengebung als wesentlicher Bestandteil des Beurteilungs‑ spielraums in den Fokus gerückt worden war, stellte es als dessen Kern hier dann die fachwissenschaftliche (fachspezifische nach obiger und heutiger Terminologie) Bewertung des Prüfers heraus483. Ferner stellte es klar, dass dem Richter trotz seiner vorhandenen Sach- und Fachkenntnis die Überprü‑ fung dieser fachwissenschaftlichen Bewertung weitgehend entzogen sei484. Dabei zögerte das Bundesverwaltungsgericht nicht, unverblümt die Konse‑ quenzen dieser Rechtsprechung aufzuzeigen, indem es feststellte, dass die Einräumung eines Beurteilungsspielraums notwendig die Konsequenz ein‑ schließe, dass Irrtümer innerhalb desselben gerichtlich nicht korrigiert wer‑ den könnten485. Diese später zu Recht als provokativ bezeichnete Feststel‑ lung486 des Bundesverwaltungsgerichtes wurde durch den weiteren Hinweis des Senats, dass Fehler des Prüfers (nur) dann zur Rechtswidrigkeit der Prüfungsentscheidung führen, wenn sie auf einer derart eklatanten und au‑ ßerhalb jedes vernünftigen Rahmens liegenden Fehleinschätzung wissen‑ schaftlich-fachlicher Gesichtspunkte beruhen, dass sich ihr Ergebnis dem Richter als gänzlich unhaltbar aufdrängen müsse487, in ihrer Widerspruch herausfordernden Wirkung eher noch verstärkt, auch wenn diese Ausführun‑ gen in der Sache eine Beschränkung des Freiraums des Prüfers bedeuteten. 1. Die verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung zum Beurteilungsspielraum des Prüfers vor dem 17.04.1991 Dennoch blieb die vorstehende Dogmatik des Bundesverwaltungsgerich‑ tes über Jahrzehnte bis zu der vom Bundesverfassungsgericht eingeleiteten Kehrtwende namentlich in der instanzgerichtlichen Rechtsprechung weitge‑ hend unangetastet488. Soweit einzelne Verwaltungsgerichte zuletzt bereits 7 B 130.81, Buchholz Nr. 153, 35 (36); Bes. v. 16.04.1980 – 7 B 67/80, BayVBl. 1980, 503 (503); Bes. v. 08.01.1983 – 7 CB 55/78, DVBl. 1983, 591 (591). 483 BVerwG, Bes. v. 12.11.1979 – 7 B 228/79, Buchholz 421.0 Nr. 121, 194 (194); Bes. v. 13.10.1981 – 7 B 130/81, Buchholz 421.0 Nr. 153, 35 (36). 484 Ausdrücklich BVerwG, Bes. v. 16.04.1980 – 7 B 67/80, BayVBl. 1980, 503 (503). 485 BVerwG, Bes. v. 26.02.1979 – 7 B 15.79, Buchholz 421.0 Nr. 104, 149 (150); Bes. v. 12.11.1979 – 7 B 228/79, Buchholz 421.0 Nr. 121, 194 (194). 486 Seebass, NVwZ 1992, 609 (614); zustimmend Zimmerling/Brehm, Der Prü‑ fungsprozess, Rn. 62 m. Fn. 190; siehe auch Niehues, NJW 1991, 3001 (3004): „Ein solcher Satz reizt ohne Zweifel dazu, schärfstens zu widersprechen“. 487 BVerwG, Bes. v. 12.11.1979 – 7 B 228/79, Buchholz 421.0 Nr. 121, 194 (195). 488 So auch der Befund von Seebass, NVwZ 1992, 609 (610), dort auch zur Entwicklung der Rechtsprechung zum Beurteilungsspielraum und deren Stand vor
254 Kap. 6: Möglichkeiten (gerichtlicher) Kontrolle der Prüfungsentscheidung
vor der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes vom 17.04.1991 von einer vollen Überprüfbarkeit der wissenschaftlich nachvollziehbaren Prü‑ fungsentscheidung ausgingen489, erfolgte durchweg eine Kassation dieser Entscheidungen durch das jeweils übergeordnete Oberverwaltungsgericht. Paradigmatisch ist insoweit eine Entscheidung des Hessischen Verwal‑ tungsgerichtshofes vom 19.03.1991490, die auch deshalb bemerkenswert ist, weil sie ziemlich genau einen Monat vor der die tradierte Dogmatik weit‑ gehend in die Abstellkammer rechtswissenschaftlicher Reminiszenzen ver‑ bannenden Grundsatzentscheidung des Bundesverfassungsgerichtes vom 17.04.1991 ergangen ist, die in der Entscheidung des HessVGH zum Ab‑ schluss einer Rechtsepoche ein letztes Mal zu voller Blüte kommt und überblicksartig wie folgt zusammengefasst wird: „Es entspricht seit langem gefestigter Rechtsprechung und der im Schrifttum vertretenen Auffassung, daß – mündliche und schriftliche – Prüfungsleistungen einer inhaltlichen Nachprüfung nicht unterworfen, pädagogisch-wissenschaftliche Entscheidungen im Verwaltungsprozeß vielmehr nur darauf hin überprüft werden können, ob der Prüfer von falschen Tatsachen ausgegangen ist, allgemein gültige Bewertungsgrundsätze nicht beachtet hat oder sich von sachfremden Erwägungen hat leiten lassen. Über diese durch die Zubilligung eines Bewertungsspielraums an die Prüfer gezo‑ genen Grenzen können sich die Gerichte auch nicht mit Hilfe von Sachverständi‑ gengutachten hinwegsetzen, weil die Vornahme der bei Prüfungen erforderlichen pädagogisch-wissenschaftlichen Wertungen nach materiellem Prüfungsrecht allein den hierfür berufenen Prüfern obliegt. Vor allem steht dem Prüfer ein Bewertungs‑ vorrecht bei der – hier allein interessierenden – fachlich-wissenschaftlichen Beur‑ teilung der Leistungen zu. In den letztlich durch das Willkürverbot gezogenen Grenzen seiner Beurteilungsermächtigung hat deshalb der Prüfer und nicht etwa das Gericht zu entscheiden, was richtig und was falsch ist, was gut und was schlecht ist. Selbst wenn sich der Prüfer bei der Beantwortung einer Fachfrage irrt und deshalb Richtiges als falsch, Gutes als schlecht bewertet, ist in diesem Be‑ reich der Leistungsbewertung seine Entscheidung maßgeblich und kann gerichtlich nicht korrigiert werden. Zu den gerichtlich überprüfbaren Tatsachen gehört insbe‑ sondere nicht die – nach Meinung des Klägers – falsche Auffassung eines Prüfers zu einer wissenschaftlichen Frage, hier beispielsweise zur Frage, ob die Parteibe‑ zeichnung in einem bestimmten Prozeßstadium ‚Antragsteller / Antragsgegner‘ oder ‚Verfügungskläger / Verfügungsbeklagter‘ lauten muß. Denn die Bewertung einer Prüfungsleistung auf der Grundlage des eigenen Fachwissens des Prüfers dem 17.04.1991; siehe insoweit auch die Darstellungen von Ibler, S. 364 f.; Seebass, NVwZ 1992, 609 (610); Zimmerling/Brehm, Der Prüfungsprozess, Rn. 62 ff.; Rozek, NVwZ 1992, 343 (346); siehe zum seinerzeitigen (Streit-)Stand in der Literatur insbesondere die Darstellung von Becker, S. 55 ff.; zustimmend insbesondere Grupp, JuS 1983, 351 (352, 355); Guhl, S. 39. 489 Siehe etwa VG Wiesbaden, Urt. v. 28.09.1989 – II/1 E 262/84, n. v. 490 HessVGH, Urt. v. 19.03.1991 – 2 UE 3746/89, HessVGRspr 1992, 1 ff.
C. Die Erhebung formeller und materieller Bewertungsrügen255 stellt gerade den Kern des Beurteilungsvorgangs dar, der sich im Rahmen der prüfungsrechtlichen Beurteilungsermächtigung abspielt und insoweit der gerichtli‑ chen Kontrolle entzogen ist. All dies gilt uneingeschränkt auch für juristische Staatsprüfungen; die Rechts‑ kenntnis des Richters gibt keinen Anlaß, bei der Überprüfung von Prüfungsent‑ scheidungen, die im Rahmen solcher Prüfungen ergangen sind, die Grenzen des Beurteilungsspielraums der Prüfer enger zu stecken als bei Prüfungen auf anderen Gebieten. Auch dies entspricht der herrschenden Rechtslehre sowie der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichtes und des erkennenden Senats; dieser ist seit jeher davon ausgegangen, daß dem Richter nach dem materiellen Prüfungsrecht die Befugnis fehlt, sich an die Stelle des Prüfers zu setzen und dessen fachlich-pädagogische Beurteilung der Prüfungsleistung durch eine eigene Würdigung zu ersetzen, auch wenn er dazu aufgrund seiner richterlichen Befähi‑ gung bei juristischen Prüfungen imstande wäre.“491
2. Die Ersetzung des „Beurteilungsspielraums“ durch einen auf „prüfungsspezifische Wertungen“ beschränkten „Bewertungsspielraum“ durch das BVerfG Bemerkenswert an der soeben referierten „alten“ Rechtsprechung (des Bundesverwaltungsgerichtes) ist, dass mit der Ablehnung der Einholung ei‑ nes Sachverständigengutachtens zur Beurteilung fachlich-wissenschaftlicher Fragen, der Anerkennung der Beurteilungskompetenz der Verwaltungsrichter bei juristischen Prüfungen und insbesondere des Fürmöglichhaltens eines Irr‑ tums des Prüfers, dessen Feststellung zwingend die Möglichkeit zur objekti‑ ven Überprüfung der fachlichen Wertungen voraussetzt, zugestanden wird, dass die Verwaltungsrichter zu deren Kontrolle und Korrektur durchaus in der Lage gewesen wären, diese aber dennoch nicht vorgenommen wurde. Dies lässt nur darauf schließen, dass schlicht der fehlende Wille insoweit denn dogmatische oder sonstige Gründe dafür ausschlaggebend waren, die fachspezifischen Wertungen der Prüfer keiner gerichtlichen Kontrolle zu unterziehen. Wilke hat diesen Befund mit dem Hinweis auf die fehlende Neigung der Verwaltungsrichter, Fachfragen zu klären, eindrucksvoll bestä‑ tigt492. Damit dürfte aber nur ein Teil der Wahrheit angesprochen sein. Das wahre Problem dürfte vielmehr darin liegen, dass eine Vielzahl der Richter, die in den für das Prüfungsrecht zuständigen Kammern beim Verwaltungs‑ gericht tätig waren und über die Rechtmäßigkeit von Prüfungsentscheidun‑ gen zu befinden hatten, selbst als Prüfer tätig waren. Aufgrund dieser Doppelfunktion hatten sie daher ein denkbar geringes Interesse, die eigene 491 HessVGRspr 492 Dieter
2601 (2602).
1992, 1 (2). Wilke, einst Präsident des OVG Berlin, Zitat nach Herzog, NJW 1992,
256 Kap. 6: Möglichkeiten (gerichtlicher) Kontrolle der Prüfungsentscheidung
Prüfungsentscheidung einer weiteren (gerichtlichen) Kontrolle zugänglich zu machen, sich selbst damit angreifbarer zu machen und die Notwendigkeit zu schaffen, im Rahmen der Leistungsbewertung unter Umständen durch Heranziehung von Fachliteratur etc. die Lösung des Prüflings auf ihre Rich‑ tigkeit bzw. Vertretbarkeit hin untersuchen zu müssen. So betrachtet kann es nicht verwundern, dass es für die Begrenzung der Freiheiten der prüfenden Verwaltungsrichter einer Entscheidung der inso‑ weit jedenfalls unbefangenen Richter am Bundesverfassungsgericht bedurf‑ te, auch wenn die Erkenntnisse, die die Entscheidung vom 17.04.1991 hervorbringt, an sich so „banal“493 sind, dass man sich fragt, warum sich diese nicht schon früher haben durchsetzen können, worauf eine mögliche Antwort aber bereits gegeben worden ist. Das Bundesverfassungsgericht erklärte jedenfalls die Zurücknahme der gerichtlichen Kontrolle auch bei der Überprüfung von fachspezifischen Wertungen für unvereinbar mit dem Gewährleistungsgehalt der aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG folgenden Rechtsschutzgarantie und postulierte nun ei‑ nen – vom Bundesverwaltungsgericht noch ausdrücklich abgelehnten494 – unmittelbar aus Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG abgeleiteten allgemeinen Bewer‑ tungsgrundsatz des Inhalts, wonach eine vertretbare und mit gewichtigen Argumenten folgerichtig begründete Lösung nicht als falsch bewertet wer‑ den dürfe495. Weiter rückte es auch den vom Bundesverwaltungsgericht im Rahmen der Willkürkontrolle angelegten Maßstab zurecht, indem es postu‑ lierte, dass diese sich nicht auf die Prüfung beschränken dürfe, ob sich die Fehlerhaftigkeit einer wissenschaftlich-fachlichen Annahme des Prüfers dem Richter als gänzlich unhaltbar „aufdränge“. Eine willkürliche Fehleinschät‑ zung sei vielmehr schon dann anzunehmen, wenn sie Fachkundigen als unhaltbar erscheinen müsse496. Etwaigen Schwierigkeiten bei der Feststel‑ lung insoweit sei durch die – vom Bundesverwaltungsgericht bis dato abge‑ lehnte – Einholung eines Sachverständigengutachtens zu begegnen497. Im Übrigen aber beließ es auch das Bundesverfassungsgericht bei der eingeschränkten gerichtlichen Kontrolle von Prüfungsentscheidungen. Es 493 Vgl. zu dieser Einschätzung in Bezug auf den postulierten Antwortspielraum Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 653: „banale Formel“; Gusy, Jura 1991, 633 (635); Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, Art. 19 Abs. 4 GG, Rn. 193: „simple Erkennt‑ nis“. 494 BVerwG, Bes. v. 12.11.1979 – 7 B 228/79, Buchholz 421.0 Nr. 121, 194 (195). 495 BVerfGE 84, 34 (54 f.); neuerdings spricht das Bundesverfassungsgericht wohl vereinfachend nur noch von „guten“ Gründen, siehe BVerfG, Bes. v. 04.11.2010 – 1 BvR 3389/08, NVwZ 2011, 486 (489). 496 BVerfGE 84, 34 (55). 497 BVerfGE 84, 34 (55).
C. Die Erhebung formeller und materieller Bewertungsrügen257
weichte aber den Beurteilungsspielraum – wohl um dadurch einen engeren Bereich der Wertungen gegenüber einem weiteren Bereich der Beurteilun‑ gen zu kennzeichnen498 – terminologisch zu einem „Bewertungsspielraum“ auf. Diesen Bewertungsspielraum begrenzte es in Konsequenz der Erstre‑ ckung der gerichtlichen Kontrolle auf die fachspezifischen Wertungen mit dem ebenfalls neu eingeführten Terminus der „prüfungsspezifischen Wer‑ tungen“ auf eben diese. Zudem stellte es den Bewertungsspielraum – bei Lichte betrachtet erstmals – auf ein dogmatisches Fundament, indem es zur Rechtfertigung der Kontrollbeschränkung den das Prüfungsrecht beherr‑ schenden Grundsatz der Chancengleichheit bemühte499, wobei im Einzel‑ nen folgende Überlegungen für das Bundesverfassungsgericht leitend waren: Zunächst gelangt das Bundesverfassungsgericht nach einem kurzen Blick auf den Ablauf des Bewertungsvorgangs zu dem auch hier und bereits aus‑ führlich dargelegten Befund, dass einer Prüfungsentscheidung komplexe Erwägungen zugrunde liegen, die auf den von den Prüfern bei vergleichba‑ ren Prüfungen gewonnenen Erfahrungen und ihren sonstigen Vorstellungen beruhen500. Da sich diese nicht regelhaft erfassen ließen, würde die gericht‑ liche Kontrolle zu einer Verzerrung der Maßstäbe führen. In dem Verwal‑ tungsgerichtsprozess eines einzelnen Kandidaten könnte das Gericht – auch mit Hilfe eines Sachverständigen – die Bewertungskriterien, die für die Gesamtheit vergleichbarer Prüflinge maßgebend waren, nicht aufdecken, um sie auf eine nur in Umrissen rekonstruierbare Prüfungssituation anzuwen‑ den. Es müsste eigene Bewertungskriterien entwickeln und an die Stelle derjenigen der Prüfer setzen. Dabei handele es sich nicht nur um praktische Schwierigkeiten der Rechtsanwendung, sondern vor allem um ein verfas‑ sungsrechtliches Problem. Nach dem Grundsatz der Chancengleichheit, der das Prüfungsrecht beherrsche, müssten für vergleichbare Prüflinge so weit wie möglich vergleichbare Prüfungsbedingungen und Bewertungskriterien gelten. Mit diesem Grundsatz sei es unvereinbar, wenn einzelne Kandidaten, indem sie einen Verwaltungsprozess anstrengten, die Chance einer vom Vergleichsrahmen unabhängigen Bewertung erhielten. Die gleichmäßige Beurteilung aller vergleichbaren Kandidaten würde tiefgreifend beeinträch‑ tigt. Sie sei nur erreichbar, wenn den Prüfungsbehörden bei prüfungsspezi‑ fischen Wertungen ein Entscheidungsspielraum verbleibe und die gerichtli‑ che Kontrolle insoweit eingeschränkt bliebe501.
498 Seebass,
NVwZ 1992, 609 (613); siehe auch Muckel, JuS 1992, 201 (202). BVerfGE 84, 34 (51 f.). 500 Vgl. BVerfGE 84, 34 (51 f.). 501 Siehe zum Ganzen BVerfGE 84, 34 (52). 499 Vgl.
258 Kap. 6: Möglichkeiten (gerichtlicher) Kontrolle der Prüfungsentscheidung
3. Die Aufnahme der Entscheidung des BVerfG in Rechtsprechung und Literatur Die „Juristenentscheidung“ des Bundesverfassungsgerichtes vom 17.04. 1991502 hat in der fachwissenschaftlichen Literatur ein starkes Echo erfah‑ ren. Dabei kann es nach dem Dargelegten nicht verwundern, dass sich insbesondere die Verwaltungsrichter, welche von der Entscheidung ggf. nicht nur als Richter, sondern zugleich auch als Prüfer und damit ggf. sogar in doppelter Hinsicht unmittelbar betroffen waren, überwiegend ablehnend äußerten503, während die Entscheidung im Übrigen grundsätzlich positiv aufgenommen wurde504. Eine Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Positionen erübrigt sich heutzutage aber, da die im Anschluss an die Ent‑ scheidung des Bundesverfassungsgerichtes lebhaft geführte Diskussion zu‑ lasten der Verfechter des Beurteilungsspielraums, die die alte Rechtspre‑ chung zum Beurteilungsspielraum gegen die Angriffe aus Karlsruhe vertei‑ digt haben, durch die Rechtswirklichkeit schnell überholt worden ist505. Denn die Rechtsprechung musste kraft der sich aus § 31 BVerfGG ergeben‑ den Bindungswirkung den Beschluss des Bundesverfassungsgerichtes ohne‑ hin umsetzen506, so dass sich zunächst die instanzgerichtliche Rechtspre‑ chung507 und sodann das Bundesverwaltungsgericht508 die neuen Grundsätze zur Kontrolle von Prüfungsentscheidungen zu eigen machte bzw. machen musste, ohne sich auch nur im Ansatz mit den den Beurteilungsspielraum alter Prägung verteidigenden Gegenstimmen auseinanderzusetzen.
502 Ebenso Lampe, S. 97 und 105: „starke Resonanz“; Michaelis, VBlBW 1997, 441 (443): „erhebliche Resonanz“; siehe auch Zimmerling/Brehm, Der Prüfungspro‑ zess, Rn. 71; zur Aufnahme der Entscheidung in der Literatur siehe insbesondere dieselben, aaO, Rn. 71 ff., und Lampe. S. 105 f., jeweils mit zahlreichen Nachweisen. 503 Siehe zu den kritischen Stimmen die aufschlussreiche Darstellung von Zimmerling/Brehm, Der Prüfungsprozess, Rn. 72 f.; hervorzuheben ist insbesondere der Beitrag von Seebass, NVwZ 1992, 609 (613 f.); ablehnend insbesondere auch Stiebler, RdJB 1992, 404 (405). 504 Siehe auch insoweit den Überblick von Zimmerling/Brehm, Der Prüfungspro‑ zess, Rn. 76 f. 505 Siehe auch Zimmerling/Brehm, Der Prüfungsprozess, Rn. 71: „Ihre Argumen‑ te [scil. der Kritiker] haben keine Durchschlagskraft mehr besessen.“ 506 Siehe insoweit auch Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 878 m. Fn. 213. 507 OVG Münster, Urt. v. 14.08.1991 – 22 A 502/90, DVBl 1992, 1049 (1050); BayVGH, Urt. v. 29.12.1992 – 3 B 92.399, juris, Rn. 33; HessVGH, Urt. v. 04.02.1993 – 6 UE 795/92, juris, Rn. 26 f. 508 Beginnend mit BVerwGE 91, 262 (265): erstmalige Anerkennung eines Be‑ gründungsanspruchs des Prüflings; BVerwGE 92, 132 (136 ff.): Anerkennung des Anspruchs auf Durchführung eines Überdenkungsverfahrens; BVerwG, Urt. v. 24.02.1993 – 6 C 38/92, NVwZ 1993, 686 (687): „Antwortspielraum“.
C. Die Erhebung formeller und materieller Bewertungsrügen259
4. Der heutige Meinungsstand zum Bewertungsspielraum Im Hinblick auf die sichere Kassation einer den Bewertungsspielraum wieder erweiternden und die Rechte des Prüflings begrenzenden Entschei‑ dung kann es nicht verwundern, dass die (instanzgerichtliche) Rechtspre‑ chung – soweit ersichtlich – die Erheblichkeit der Einwände des Prüflings durchweg anhand der neuen, die fachspezifischen Bewertungen des Prüfers in die (gerichtliche) Kontrolle einbeziehenden Formel des Bundesverwal‑ tungsgerichtes prüft509. Hinzu kommt, dass nach dem letzten „Gefecht“ auch in der (Praxis‑) Literatur kein neuerlicher Versuch unternommen worden ist, die Rechtspre‑ chung zu einer Rückkehr zur alten Kontrollformel zu bewegen, was schlicht auf fehlende neue Argumente zurückzuführen sein dürfte. In der neueren (rechtswissenschaftlichen) Literatur stehen stattdessen die Fragen der verfassungsrechtlichen Legitimierbarkeit und grundsätzlichen Legitimation des vom Bundesverfassungsgericht in den aufgezeigten Gren‑ zen anerkannten Bewertungsspielraums im Mittelpunkt der Diskussion. Dies gilt es anhand der im gegebenen Kontext erwähnungsbedürftigen Beiträge von Lampe, Koenig, Wimmer und insbesondere Ibler aufzuzeigen510. Lampe erkennt im Prinzip einen Bewertungsspielraum der Prüfer in dem vom Bundesverfassungsgericht determinierten Umfang an; sie verlangt aber, dass die eingeschränkte gerichtliche Kontrolle auf die wirklich nicht fassba‑ ren Elemente der Prüfungsentscheidung beschränkt wird511. In diesem Zusammenhang wird von ihr gerügt, dass das Bundesverfassungsgericht mit dem Hinweis auf die fehlenden allgemeinen Bewertungsgrundsätze auf niedriger Abstraktionshöhe den Kern des Problems getroffen, jedoch zu Unrecht nicht deren Entwicklung durch die Verwaltungsgerichte gefordert habe512. Im Übrigen wird der Ansatz des Bundesverfassungsgerichtes, den Be‑ wertungsspielraum primär mit der gebotenen Wahrung der Chancengleich‑ heit zu rechtfertigen, durch sie von mehreren Seiten her angegriffen. Zu‑ 509 Siehe aktuell etwa VGH Mannheim, Bes. v. 03.07.2012 – 9 S 2189/11, VBlBW 2013, 97 (97 f.); OVG NRW, Bes. v. 04.04.2014 – 14 A 968/12, juris, Rn. 4 f.; VG Schwerin, Urt. v. 03.07.2012 – 3 A 492/07, juris, Rn. 25 ff.; VG Mainz, Urt. v. 21.03.2013 – 1 K 919/12.MZ, juris, Rn. 30; VG München, Urt. v. 17.12.2013 – M 4 K 12.5490, juris, Rn. 24. 510 Siehe aus der aktuellen Praxisliteratur im Wesentlichen zustimmend Zimmerling/Brehm, Der Prüfungsprozess, Rn. 142; unkritisch referierend Niehues/Fischer/ Jeremias, Rn. 875 f. 511 Lampe, S. 113 f. 512 Lampe, S. 117.
260 Kap. 6: Möglichkeiten (gerichtlicher) Kontrolle der Prüfungsentscheidung
nächst einmal griffe diese Argumentation zu kurz, soweit nur eine Prü‑ fungsarbeit vom Prüfer ausgegeben und vom Prüfer korrigiert werde. In diesem Fall frage sich, welcher Vergleichsrahmen vom Bundesverfassungs‑ gericht gemeint sein könnte513. Im Übrigen führe nach Lampe die Argu‑ mentation mit dem Grundsatz der Chancengleichheit genau zu den Argu‑ menten zurück, die schon lange vertreten worden seien. Dass der Chancen‑ gleichheitsgrundsatz überhaupt durch eine gerichtliche Nachprüfung ver‑ letzt werden könne, liege ja gerade daran, dass nicht alle Kriterien der Bewertung aufgedeckt werden könnten. Im Ergebnis beeinträchtige die „mangelnde Möglichkeit der Mitteilbarkeit“ der Bewertungskriterien die Chancengleichheit514. Während bei Lampe die verfassungsrechtliche Legitimierbarkeit des Be‑ wertungsspielraums nach der weitgehenden Ablehnung des Chancengleich‑ heitsarguments weitgehend offen bleibt, beschäftigt sich Koenig in seiner Abhandlung mit dieser ausführlich, ohne im Rahmen derselben auf die Tauglichkeit des Chancengleichheitsarguments aber auch nur im Ansatz einzugehen. Stattdessen unterzieht er allein die überkommenen Argumente zur Rechtfertigung eines Beurteilungsspielraums des Prüfers515 einer Taug‑ lichkeitsprüfung, die er aber allesamt nicht für (ausreichend) geeignet hält, um eine Letztentscheidungskompetenz des Prüfers zu begründen516. Den Schlüssel zur eingeschränkten gerichtlichen Kontrolldichte sieht er vielmehr im Gewaltenteilungs- und Effizienzgrundsatz. Hiernach müsse bereits das Verfassungsrecht der Verwaltung geeignete Rahmenbedingungen gewähren, um dem exekutiven Auftrag des sachlichen und gerichtlich nachvollziehba‑ ren Entscheidens effizient nachkommen zu können. Wenn auch die prü‑ fungsspezifischen Wertungen einer uneingeschränkten gerichtlichen Kon trolle unterlägen, könnte sich die Prüfungsbehörde veranlasst sehen, ihre Bewertungsentscheidungen an einer antizipierten Gerichtskontrolle zu orien‑ tieren. Dem Prüfling sei damit wenig geholfen und die rechts- sowie ver‑ fassungsstaatliche Arbeitsteilung eines Miteinanders der für ihr Verwalten bzw. Judizieren eigenverantwortlichen Gewalten wäre ad absurdum ge‑ führt517. Mit anderen Worten begründet Koenig den Bewertungsspielraum des Prüfers mit dem Grundsatz der Gewaltenteilung und insoweit mit der Trennung der Funktionen von Verwaltung und Rechtsprechung518. 513 Vgl. Lampe, S. 117; skeptisch insoweit auch Zimmerling/Brehm, Der Prü‑ fungsprozess, Rn. 144. 514 Vgl. Lampe, S. 117 f. 515 Siehe insoweit die Darstellung bei Ibler, S. 386 ff.; Lampe, S. 84 ff. 516 Vgl. Koenig, VerwArch 83 (1992), 351 (358 ff.). 517 Siehe zum Ganzen Koenig, VerwArch 83 (1992), 351 (372 f., 368 f.). 518 Siehe insoweit auch die Referierung der Ansicht Koenigs bei Ibler, S. 388 f.
C. Die Erhebung formeller und materieller Bewertungsrügen261
In jüngerer Zeit ist erstmals Wimmer in einer bislang wenig beachteten Publikation519 für eine gerichtliche Vollkontrolle der prüfungsspezifischen Wertungen eingetreten. Er begrüßt die vom Bundesverfassungsgericht prin‑ zipiell geforderte Vollkontrolle der Prüfungsentscheidung in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht, wendet sich aber gegen die für den Bereich der prüfungsspezifischen Wertungen belassene Ausnahme, die er insbesondere mit der Argumentation des Bundesverfassungsgerichtes nicht für begründbar hält520. Einen durch die Einschätzungen und Erfahrungen der Prüfer gepräg‑ ten Vergleichsrahmen, über den die Prüfer, nicht aber die Richter am Ver‑ waltungsgericht, verfügten und auf den sich das Bundesverfassungsgericht zur Begründung des Bewertungsspielraums der Prüfer berufe, sähen die maßgeblichen Prüfungsrechtsnormen nicht vor. Nach diesen curricularen Bezugsnormen sei allein auf den objektiven Leistungsstand der Kandidaten bezogen auf die gesetzlich vorgegebenen und definierten Lernziele, nicht aber auf diesen in Relation zum Leistungsniveau der jeweiligen Prüfungs‑ gruppe im Sinne einer sozialen Prüfungsrechtsnorm abzustellen521. Dass es prüfungsspezifische Wertungen gibt und geben muss, steht auch für Wimmer außer Frage522. Diese seien aber aufdeckbar. Die Prüfer seien im Hinblick auf die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG verpflichtet, diese offenzulegen und die Methodik ihres Maßnehmens, etwa den von ihnen angenommenen Schwierigkeitsgrad, zu begründen und infolgedessen sei das Prüferverhalten auf seine rationale Nachvollziehbarkeit hin überprüf‑ bar523. Es dürfe im Rechtsstaat kein Verwaltungshandeln geben, das nicht aufdeckbar und rational nicht nachvollziehbar sei524. In eine ganz ähnliche Richtung gehen die Forderungen Iblers als Resultat seiner umfassenden Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung des Bun‑ desverfassungsgerichtes und den bisherigen Versuchen zur Legitimierung des Bewertungsspielraums525. Ibler erkennt zwar einen Bewertungsspielraum des Prüfers an, der nach seinem Verständnis aber zu keiner – seiner Ansicht nach mit dem Gewähr‑ leistungsgehalt des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG unvereinbaren526 – Beschrän‑ kung der gerichtlichen Kontrolle führen dürfe527. Der Bewertungsspielraum 519 Wimmer, FS Redeker, S. 531 ff.; siehe zu dessen Thesen insbesondere Niehues/ Fischer/Jeremias, Rn. 878 m. Fn. 213. 520 Wimmer, FS Redeker, 531 (533). 521 Wimmer, FS Redeker, 531 (533). 522 Wimmer, FS Redeker, 531 (533). 523 Wimmer, FS Redeker, 531 (539). 524 Wimmer, FS Redeker, 531 (540). 525 Vgl. Ibler, S. 371 ff. 526 Explizit Ibler, in: BK-GG, Art. 19 Abs. 4, Rn. 272. 527 Ibler, S. 372 ff., insb. S. 378 f., zusammenfassend S. 413.
262 Kap. 6: Möglichkeiten (gerichtlicher) Kontrolle der Prüfungsentscheidung
sei (lediglich) darin zu sehen, dass die Prüfer neben ihrer Bindung an das geschriebene Prüfungsrecht und allgemeine Bewertungsgrundsätze auch nach eigenen Maßstäben prüfen und diese entwickeln dürfen und müssen, weil der Staat nicht imstande sei, jede Prüfungssituation im Vorhinein zu regeln528. Das Gericht bzw. der Prüfer sei aber verpflichtet, die im Rahmen der Leis‑ tungsbewertung angewendeten Bewertungsmaßstäbe aufzudecken529. Könn‑ ten die Bewertungsmaßstäbe im Verwaltungsprozess nicht aufgedeckt wer‑ den, müsse die Prüfungsentscheidung aufgehoben werden, da unaufgedeckte Maßstäbe keinen Eingriff in die Grundrechte des Prüflings legitimieren könnten530. Für den Fall, dass die Bewertungsmaßstäbe des Prüfers aufge‑ deckt werden können, soll nach Ibler Folgendes gelten: Zunächst müssten diese – soweit vorhanden – an objektiven Rechtssätzen gemessen werden. Wenn solche fehlten, der Richter aber über Prüfererfahrung verfüge und die Leistung des klagenden Prüflings anders beurteilt hätte als der Prüfer, würde der Maßstab des Richters denjenigen des Prüfers ausschalten, wenn es dem Richter gelänge, sein Richterkollegium davon zu überzeugen, dass sein Be‑ wertungsmaßstab der richtige sei. Für den Fall, dass der Prüfling rügt, dass der von seinem Prüfer angewendete Bewertungsmaßstab von anderen Prüfern nicht oder anders angewendet werde, und die gerichtliche Nachprüfung er‑ gibt, dass dieser Befund zutrifft und keiner der Bewertungsmaßstäbe einen objektiven Rechtssatz verletzt, soll nach Ibler die Bewertung des Prüfers dennoch keinen Bestand haben, weil in dieser Konstellation die Rechtmäßig‑ keit des vom Prüfer angewandten Bewertungsmaßstabs nicht bewiesen sei531. In keiner der denkbaren Fallgestaltungen soll durch die erfolgende gericht‑ liche Vollkontrolle nach der Einschätzung Iblers eine Verletzung des Grund‑ satzes der Chancengleichheit vorliegen. Wenn das Gericht die Prüfungsent‑ scheidung wegen unaufgedeckter Maßstäbe aufhebe, wende es damit gerade keine eigenen an, die zu deren Verzerrung und infolgedessen zu einer Beein‑ trächtigung der Chancengleichheit der anderen Kandidaten führen könnten532. 5. Der Bewertungsspielraum des Prüfers im Lichte der aktuellen, allgemeinen Diskussion Die Frage der verfassungsrechtlichen Legitimität einer beschränkten ge‑ richtlichen Kontrolle der Prüfungsentscheidung, die mit einem dem Prüfer im Bereich der prüfungsspezifischen Wertungen eingeräumten bzw. zuer‑ 528 Ibler,
S. 413. S. 373 f., zusammenfassend S. 413. 530 Ibler, S. 378 f., zusammenfassend S. 413. 531 Vgl. zum Vorhergehenden Ibler, S. 378 f. 532 Ibler, S. 379. 529 Ibler,
C. Die Erhebung formeller und materieller Bewertungsrügen263
kannten Bewertungsspielraum – nach Ibler allerdings nicht notwendigerwei‑ se – einhergeht, ist ausgehend von denjenigen grundrechtlichen Gewährleis‑ tungen zu beantworten, auf die sich der Prüfling im Prüfungsanfechtungs‑ prozess berufen kann. Hier steht dem Prüfling neben der in der bisherigen Diskussion in den Vordergrund gerückten Rechtsschutzgarantie potentiell auch das Grundrecht der Berufsfreiheit zur Seite, aus dessen prozeduraler Gewährleistungskomponente ebenso der Anspruch auf eine effektive Durch‑ setzung des materiellen Rechts auf eine „richtige“ Prüfungsentscheidung folgt533. Die aus dieser Verfahrensgarantie mit Blick auf die gebotene Mög‑ lichkeit der gerichtlichen Durchsetzung der materiellen Rechte des Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG ableitbaren Realisierungs- und Optimierungsgebote kön‑ nen aber nicht weiter reichen als die vom formellen Hauptgrundrecht des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG garantierten, das innerhalb seines Anwendungsbe‑ reichs zudem eine abschließende Regelung darstellt. Daher ist die verfas‑ sungsrechtliche Zulässigkeit einer dem Prüfer übertragenen bzw. ihm zuge‑ standenen Befugnis, die ihm obliegende Feststellung der Aussagekraft einer Teilprüfungsleistung für die nach dem gesetzlich festgelegten Prüfungszweck zu ermittelnde Berufseignung des Kandidaten auch auf der Grundlage indi‑ vidualisierter und für das Gericht grundsätzlich verbindlicher Kriterien zu treffen, zunächst an dem Gewährleistungsgehalt des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG zu messen. Bei dessen Bestimmung ist die seit der Grundsatzentschei‑ dung des Bundesverfassungsgerichtes zur verfassungsrechtlichen Zulässig‑ keit eines Beurteilungsspielraums des Prüfers wesentlich fortentwickelte Dogmatik zu berücksichtigen, wobei sich deren aktueller Stand in Recht‑ sprechung und Literatur im Wesentlichen wie folgt darstellt: a) Der unstreitige Gewährleistungsgehalt von Art 19 Abs. 4 Satz 1 GG Das Bundesverfassungsgericht, das sein (aktuelles) allgemeines Verständ‑ nis der Rechtsschutzgarantie in einer jüngeren Senatsentscheidung534 (nochmals) ausführlich dargelegt hat, geht im Grundsatz nach wie vor davon aus, dass die Gerichte zur Gewährleistung des von Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG geforderten effektiven Rechtsschutzes dazu verpflichtet sind, die angefoch‑ tenen Verwaltungsakte in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht vollständig nachzuprüfen. Die damit im Prinzip ausgeschlossene Bindung der Verwal‑ tungsgerichte an tatsächliche und rechtliche Feststellungen und Wertungen der Verwaltungsbehörden könne aber ausnahmsweise dann anzunehmen 533 Kritisch zu dieser „Verdopplung der Garantie effektiven Rechtsschutzes“ Höfling, RdJB 1995, 387 (392 f.). 534 BVerfGE 129, 1 ff.
264 Kap. 6: Möglichkeiten (gerichtlicher) Kontrolle der Prüfungsentscheidung
sein, wenn die von ihnen zu leistende Rechtskontrolle durch der Administ‑ rative gesetzlich eröffnete Gestaltungs-, Ermessens- und Beurteilungsspiel‑ räume eingeschränkt sei, da gerichtliche Kontrolle nicht weiter reichen könne als die materiell-rechtliche Bindung derjenigen Instanz, deren Ent‑ scheidung überprüft werden soll. Sie ende deshalb dort, wo das Entschei‑ dungsverhalten der Verwaltung durch das materielle Recht nicht vollständig determiniert sei und dieser dadurch in verfassungsrechtlich unbedenklicher Weise ein Einschätzungs- und Entscheidungsspielraum eröffnet sei535. Auch das Bundesverwaltungsgericht nimmt in Übereinstimmung mit dem Bundesverfassungsgericht an, dass Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG den Verwal‑ tungsgerichten grundsätzlich die Letztscheidungsbefugnis für die Auslegung und Anwendung normativer Regelungen zuweise536, im Einzelfall aber die gerichtliche Kontrolle der Verwaltungsentscheidung beschränkt sein könne, wenn deren konkreter Inhalt gesetzlich nicht vorgegeben und der Verwaltung damit ein Entscheidungsfreiraum eröffnet sei537. Dabei werden die vom Bun‑ desverfassungsgericht insbesondere in der vorgenannten Senatsentscheidung herausgestellten Prämissen538 mit teils abweichender Formulierung, aber oh‑ ne Änderung ihres Aussageinhalts, übernommen539. Bisweilen wird aber vom Bundesverwaltungsgericht der Gewährleistungsgehalt des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG auch mit nicht unwesentlichen Akzentverschiebungen bestimmt, soweit angenommen wird, dass die Rechtsschutzgarantie nicht nur eine Ver‑ pflichtung der Verwaltungsgerichte zur umfassenden Rechtskontrolle begrün‑ de, sondern auch deren Möglichkeit zu einer vollständigen rechtlichen und tatsächlichen Nachprüfung der Verwaltungsentscheidung erfordere540. Auch in der rechtswissenschaftlichen Literatur wird Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG übereinstimmend das Gebot der Gewährleistung eines effektiven Rechtsschutzes entnommen und das daraus namentlich vom Bundesverfas‑ sungsgericht entwickelte Postulat einer vollständigen – aber auf bestehende materiell-rechtliche Bindungen der Verwaltung begrenzten – Überprüfung der Verwaltungsentscheidung in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht im Wesentlichen geteilt541. 535 Vgl.
zum Ganzen BVerfGE 129, 1 (21 f.). BVerwGE 148, 204 (208). 537 Vgl. BVerwGE 140, 384 (386); BVerwG, Urt. v. 22.06.2011 – 6 C 41/10, Buch‑ holz 442.066 § 55 TKG Nr. 8, 69 (70); BVerwGE 138, 186 (199); 129, 328 (344). 538 Siehe zuvor aber bereits BVerfGE 88, 40 (61); 103, 142 (156 f.); 116, 1 (18). 539 Vgl. BVerwGE 129, 328 (344); 138, 186 (199); BVerwG, Urt. v. 22.06.2011 – 6 C 41/10, Buchholz 442.066 § 55 TKG Nr. 8, 69 (70). 540 BVerwGE 118, 370 (373 f.); BVerwG, Bes. v. 14.12.2004 – 2 B 47/04, BeckRS 2005, 22309. 541 Schmidt-Aßmann/Groß, NVwZ 1993, 617 (619 f.); Pieroth/Kemm, JuS 1995, 780 (780 f.); Höfling, RdJB 1995, 387 (393); Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Art. 19 536 Zuletzt
C. Die Erhebung formeller und materieller Bewertungsrügen265
Lediglich Ibler will darüber hinaus im Allgemeinen auch solche behördli‑ chen Entscheidungen der gerichtlichen Vollkontrolle unterwerfen, die von der Ausübung eines der Verwaltung (gesetzlich) eingeräumten Ermessens- oder sonstigen Entscheidungsspielraums geprägt sind. Das Verwaltungsgericht soll demnach nach seiner ausdrücklich vertretenen Auffassung nicht nur zu einer Kontrolle der Rechtmäßigkeit, sondern auch der Zweckmäßigkeit der von der Behörde getroffenen Entscheidung befugt und verpflichtet sein542. b) Die Diskussion um die einschlägigen grundrechtlichen Legitimationsmaßstäbe Im Übrigen ist innerhalb der herrschenden Meinung in der Literatur die Frage höchst umstritten, ob und welche Folgerungen sich aus dem Gewähr‑ leistungsgehalt des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG ausgehend von den mit der Rechtsprechung geteilten Grundannahmen für die Zulässigkeit der Einräu‑ mung von behördlichen Beurteilungsspielräumen ergeben, die mit einer be‑ schränkten gerichtlichen Kontrolle der Verwaltungsentscheidung einherge‑ hen543. Grundlage dieses Meinungsstreits ist das namentlich vom Bundesver‑ fassungsgericht geprägte weite Gewährleistungsverständnis des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG, infolgedessen jeder vom Staat geschaffene oder nur hingenomme‑ ne Rechtszustand, bei dem – gleich aus welchem Grund – keine vollständige gerichtliche Kontrolle der Verwaltungsentscheidung stattfindet, notwendiger‑ weise als rechtfertigungsbedürftige Verkürzung desselben erscheint544. Dies gilt erst recht, wenn weiter gehend vom Bundesverwaltungsgericht nun sogar die Möglichkeit einer vollständigen rechtlichen und tatsächlichen Nachprü‑ fung durch das Gericht gefordert wird. Insbesondere diese Interpretation des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG offenbart, dass die Rechtsprechung nicht nur eine diesem Verfahrensgrundrecht zweifellos innewohnende Verpflichtung des Gesetzgebers annimmt, ein Rechtsschutzsystem zu errichten, zu erhalten und ggf. zu ergänzen, das zur effektiven Feststellung und Beseitigung von subjek‑ tiven Rechtsverletzungen potentiell geeignet ist545, sondern darüber hinaus IV, Rn. 80, 122 ff.; Huber, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 19 Abs. 4, Rn. 460, 509 ff.; Bosch, S. 109; Eifert, ZJS 2008, 336 (336); Mauer, § 7 Rn. 34; Pache, S. 460, 461 f.; Jestaedt, in: Erichsen/Ehlers, § 11, Rn. 38. 542 Vgl. insgesamt Ibler, in: BK-GG, Art. 19 Abs. 4, Rn. 264 f.; Ibler, S. 178 f. 543 Siehe zunächst den guten Überblick zum Streitstand bei Eifert, ZJS 2008, 336 (336 f.). 544 Zutreffend Eifert, ZJS 2008, 336 (337); siehe auch Jestaedt, in: Erichsen/ Ehlers, § 11, Rn. 38. 545 Schmidt-Aßmann/Groß, NVwZ 1993, 617 (619 f.); Ibler, in: BK-GG, Art. 19 Abs. 4, Rn. 3, 19, 35 ff.; Pieroth/Schlink/Kingreen/Poscher, Rn. 1096 f.; SchulzeFielitz, in: Dreier, GG, Art. 19 Abs. 4, Rn. 90 ff.
266 Kap. 6: Möglichkeiten (gerichtlicher) Kontrolle der Prüfungsentscheidung
auch zur Bereitstellung von Kontrollmaßstäben546, die auch in der Sache eine Überprüfung der Rechtmäßigkeit der vom Rechtsschutzsuchenden als rechts‑ verletzend gerügten Hoheitsakte erst ermöglichen547. aa) Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG als Legitimationsanker Auf der Grundlage der vorstehenden Interpretation des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG steht es sowohl für das Bundesverfassungsgericht als auch für das Bundesverwaltungsgericht außer Frage, dass die infolge eines der Ver‑ waltung eingeräumten Beurteilungsspielraums beschränkte (Richtig‑ keits‑) Kontrolle der zur Überprüfung gestellten Verwaltungsentscheidung den Schutzbereich der Rechtsschutzgarantie berührt und der verfassungs‑ rechtlichen Rechtfertigung bedarf. Das Bundesverfassungsgericht führt in seiner jüngsten (Senats‑) Entscheidung hierzu grundlegend wie folgt aus: Der Gesetzgeber sei nicht frei in der Einräumung behördlicher Letztschei‑ dungsbefugnisse. Auch wenn er grundsätzlich Umfang und Gehalt subjek‑ tiver Rechte durch eine entsprechend (zurückhaltende) Ausgestaltung der jeweiligen Rechtsmaterie mit Folgen für die gerichtliche Kontrolldichte bestimmen könne, so er müsse er hierbei doch die sich aus den Grund‑ rechten sowie aus dem Rechtsstaat- und Demokratieprinzip ergebenden Grenzen beachten. Sofern der Gesetzgeber subjektive Rechte anerkannt habe, dürfe er die verfassungsrechtlich gebotene effektive Kontrolle der Rechtsanwendung durch die Gerichte nicht durch zu zahlreiche oder zu weit greifende Beurteilungsspielräume aushebeln. Ergebe sich aus dem Ge‑ setz ausdrücklich eine Beurteilungsermächtigung oder sei eine solche die‑ sem hinreichend deutlich zu entnehmen, bedürfe diese eines hinreichend gewichtigen, am Grundsatz eines wirksamen Rechtsschutzes ausgerichteten Sachgrundes548. Da diese neue Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes erkennbar mit dem seinerzeit in den Prüfungsfällen eingenommenen Standpunkt zur Legitimierbarkeit von Bewertungsfreiräumen der Prüfer in Konflikt ge‑ rät549, hat es der Erste Senat nunmehr ausdrücklich offengelassen, ob auch ohne gesetzliche Grundlage Entscheidungsspielräume der Verwaltung aner‑ 546 Siehe zum Erfordernis eines Kontrollmaßstabs Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Art. 19 Abs. 4, Rn. 122; Guhl, S. 38; implizit Brohm, NJW 1984, 8 (11); siehe auch Kissel, NJW 1982, 1777 (1780); Kopp, BayVBl. 1983, 673 (675 f.); Koenig, VerwArch 83 (1992), 351 (366); Seebass, NVwZ 1985, 521 (529); Wimmer, in: Bender, FS Redeker, 531 (533); Pache, S. 461. 547 So auch die Einschätzung von Eifert, ZJS 2008, 336 (337). 548 Vgl. zum Ganzen BVerfGE 129, 1 (22 f.). 549 So auch die Einschätzung von Sachs/Jasper, NVwZ 2012, 649 (652).
C. Die Erhebung formeller und materieller Bewertungsrügen267
kannt werden könnten, wenn eine weiter gehende gerichtliche Kontrolle zweifelsfrei an die Funktionsgrenzen der Rechtsprechung stieße550. Demgegenüber hat das Bundesverwaltungsgericht in seiner aktuellsten Entscheidung, in der es zur Begründbarkeit von Letztentscheidungsbefug‑ nissen der Verwaltung Stellung bezogen hat, das Erreichen der Funktions‑ grenzen der Rechtsprechung explizit sogar als konstitutive Voraussetzung für die Anerkennung eines Beurteilungsspielraums benannt551. Davon könne nach dem Bundesverwaltungsgericht aber erst ausgegangen werden, wenn die Bestimmung des Bedeutungsgehalts einer Rechtsnorm oder ihre fallbe‑ zogene Anwendung infolge einer hohen Komplexität oder besonderen Dy‑ namik der geregelten Materie so schwierig sei, dass dies selbst mit sachver‑ ständiger Unterstützung durch das Gericht nicht zu bewältigen sei552. In zuvor ergangenen anderen Entscheidungen hat das Bundesverwaltungsge‑ richt einen Beurteilungsspielraum ohne irgendeinen näher thematisierten Legitimationsgrund anerkannt553 oder etwa ausreichen lassen, dass der Entscheidung im hohen Maße wertende Elemente anhaften und das Gesetz deshalb die Zuständigkeit eines Entscheidungsorgan vorsieht, das mit be‑ sonderer fachlicher Legitimation in einem besonderen Verfahren entscheidet, in dem mögliche Meinungsunterschiede von vornherein ausgeglichen wer‑ den und die zu treffende Entscheidung damit zugleich versachlicht wird554. Die Sichtweise der Rechtsprechung trifft nun in der Literatur immer noch auf verbreitete Zustimmung, in der ebenfalls vielfach die Gefahr gesehen wird, dass der Gesetzgeber durch eine allzu weitherzige Begründung von administrativen Letztentscheidungsrechten das Recht des Bürgers auf eine vollständige Überprüfung der ihn belastenden behördlichen Maßnahmen aushöhlen und damit faktisch entwerten könne555. bb) Die materiellen Freiheitsgrundrechte als maßgebliche Richtschnur Demgegenüber soll nach einer anderen, zunehmend vertretenen Ansicht Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG im Falle eines der Verwaltung eingeräumten Be‑ 550 BVerfGE
129, 1 (23). 147, 244 (250 f.). 552 Vgl. BVerwGE 147, 244 (250 f.). 553 BVerwG, Urt. v. 23.11.2011 – 6 C 11/10, NVwZ 2012, 1047 (1050): unions‑ rechtliche Vorgabe; BVerwGE 140, 384 (386): prognostisches Urteil. 554 BVerwGE 138, 186 (199). 555 Geis, DÖV 1993, 22 (24); Bosch, S. 109 f.; Maurer, § 7 Rn. 34, 56, 62; Schultze-Fielitz, in; Dreier, GG, Art. 19 IV, Rn. 128; siehe auch Höfling, RdJB 1995, 387 (394 f.); siehe auch Huber, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 19 Abs. 4, Rn. 514. 551 BVerwGE
268 Kap. 6: Möglichkeiten (gerichtlicher) Kontrolle der Prüfungsentscheidung
wertungsspielraums bereits „tatbestandlich nicht einschlägig“556, mit ande‑ ren Worten der Schutzbereich dieses Grundrechts nicht tangiert sein557. Die von Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG geforderte Vollkontrolle beziehe sich nur auf den Maßstab, d. h. die dem Gericht zur Verfügung stehenden Kontrollmaß‑ stäbe, nicht aber den Kontrollgegenstand, also die Verwaltungsentschei‑ dung558. Daraus ergebe sich aber nicht, dass der Gesetzgeber in der Einräu‑ mung von Beurteilungsspielräumen völlig frei sei. Die maßgeblichen verfas‑ sungsrechtlichen Grenzen würden aber nicht durch die Rechtsschutzgarantie, sondern nach einer Ansicht durch die verfahrensrechtliche Gewährleistungs‑ komponente der materiellen Grundrechte559 und nach anderer Auffassung durch die grundrechtlichen und sonstigen Gesetzesvorbehalte in Verbindung mit den sich aus der Wesentlichkeitslehre und dem Bestimmtheitsgebot er‑ gebenden Anforderungen560 gezogen. c) Stellungnahme Auf der Grundlage der vorstehenden aktuellen Rechtsauffassungen zur Legitimationsbedürftigkeit und Legitimierbarkeit eines Beurteilungsspiel‑ raums der Verwaltung ergeben sich für die verfassungsrechtliche Zulässig‑ keit eines dem Prüfer rechtlich eingeräumten oder faktisch zugestandenen Bewertungsspielraums die folgenden Konsequenzen. aa) Grundrechtliche Standortbestimmung Zunächst einmal erscheint die Frage klärungsbedürftig, ob die Annahme einer damit einhergehenden beschränkten gerichtlichen Kontrolle der Prü‑ fungsentscheidung (nur) den Schutzbereich des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG oder / und denjenigen des Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG berührt. Diese sollte allerdings ebenso wie die allgemein geführte Diskussion um die im Falle eines bestehenden (vermeintlichen) Rechtsschutzdefizits tangierten Grund‑ rechte nicht überbewertet werden. Denn für die Bestimmung der Reichwei‑ 556 Jestaedt,
in: Erichsen/Ehlers, § 11, Rn. 38. NVwZ 1993, 617 (619 f., insb. 620); Pieroth/Kemm, JuS 1995, 780 (780 f.); Eifert, ZJS 2008, 336 (337); Kopp/Ramsauer, VwVfG, § 40, Rn. 9 m. Fn. 18; wohl auch Pache, S. 459 m. Fn. 4; S. 461 f., S. 479; dagegen ins‑ besondere Huber, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 19 Abs. 4 GG, Rn. 514. 558 Jestaedt, in: Erichsen/Ehlers, § 11, Rn. 38. 559 Jestaedt, in: Erichsen/Ehlers, § 11, Rn. 38. 560 Schmidt-Aßmann/Groß, NVwZ 1993, 617 (620); Kopp/Ramsauer, VwVfG, § 40, Rn. 14; so auch Bosch, S. 109, der im Ergebnis Beurteilungsspielräume dann aber doch an Art. 19 Abs. 4 GG misst (S. 110); siehe auch Eifert, ZJS 2008, 336 (337). 557 Schmidt-Aßmann/Groß,
C. Die Erhebung formeller und materieller Bewertungsrügen269
te des dem Gesetzgeber und den Verwaltungsgerichten von Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG erteilten Rechtsschutzauftrages und den sich damit ergebenden Grenzen für die Anerkennung von administrativen Letztentscheidungsrech‑ ten sollen nach dem Bundesverfassungsgericht und der ihm folgenden Lite‑ ratur die sich aus den materiellen Grundrechten und dem Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip folgenden Wertungen maßgeblich sein. Damit werden genau diejenigen Legitimationsmaßstäbe bemüht, die auch von der Gegenauffassung herangezogen werden, die den Streit um die Zu‑ lässigkeit von Entscheidungsfreiräumen komplett auf die Ebene der materi‑ ellen Grundrechte verlagert wissen will561. Es erscheint damit auch wenig zielführend, in der aufgezeigten Streitfrage grundlegend Stellung zu bezie‑ hen. Immerhin soll aber bemerkt werden, dass sowohl der Wortlaut als auch die systematische Stellung des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG nach den materi‑ ellen Grundrechten eindeutig dafür sprechen, der Rechtsschutzgarantie nur eine formelle Gewährleistung zu entnehmen, die nicht mehr, aber auch nicht weniger fordert als die Bereitstellung eines gerichtlichen Rechtsschutzver‑ fahrens, in dem den materiellen Grundrechten zu tatsächlicher Wirksamkeit verholfen werden kann562. Hierfür ist einerseits eine hinreichende Befugnis der Richter erforderlich, bestehende Rechtsverletzungen festzustellen und zu sanktionieren, andererseits aber auch deren Verpflichtung notwendig, von dieser auch Gebrauch zu machen. Diese wird nicht nur durch Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG, sondern auch durch die in Art. 20 Abs. 3 GG normierte Bindung der Gerichte an Gesetz und Recht begründet, aufgrund derer die Richter dazu angehalten sind, bestehende rechtliche Kontrollmaßstäbe auch zur Anwendung zu bringen563. Die erforderlichen Kontrollmaßstäbe werden aber ebenso wie das durch deren Anwendung zu schützende subjektive Recht von der Rechtsschutzgarantie vorausgesetzt, die somit nicht deren Bereitstellung, wohl aber die Anwendung vorhandener durch das Gericht fordert. Soweit deshalb von der im Vordringen befindlichen Gegenauffas‑ sung der aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG folgende Anspruch auf eine vollum‑ fängliche Kontrolle gegenständlich auf vorhandene materiell-rechtliche Bindungen begrenzt wird, ist dem unter der Voraussetzung zuzustimmen, dass diese – was mitunter nicht hinreichend deutlich wird564 – auch durch die Verfassung und hier insbesondere durch die Grundrechte erzeugt wer‑ den. Damit bleibt – selbstverständlich – auch auf der Grundlage der Annah‑ me, dass die nicht vollständige Determination einer von der Verwaltung zu zur Irrelevanz dieses Streits auch Eifert, ZJS 2008, 336 (337). die Definition von Pieroth/Schlink/Kingreen/Poscher, Rn. 1096. 563 Vgl. BVerfGE 129, 1 (22). 564 Siehe Jestaedt, in: Erichsen/Ehlers, § 11, Rn. 38; deutlicher Sachs/Jasper, NVwZ 2012, 649 (652). 561 Siehe 562 So
270 Kap. 6: Möglichkeiten (gerichtlicher) Kontrolle der Prüfungsentscheidung
treffenden Entscheidung mit dem Gewährleistungsgehalt des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG nicht in Konflikt gerät, eine Verletzung der Rechtsschutzgarantie möglich, wenn das Verwaltungsgericht zu Unrecht ein Letztentscheidungs‑ recht der Verwaltung annimmt und infolgedessen vorhandene Kontrollmaß‑ stäbe nicht zur Anwendung bringt565. Unerheblich ist demgegenüber die rechtlich nicht begründbare Annahme des Vorliegens eines Beurteilungsoder Bewertungsspielraums bei tatsächlich fehlenden rechtlichen Kontroll‑ maßstäben, da in diesem Fall das infolge ihrer Nichtexistenz begründete Rechtsschutzdefizit dem Verwaltungsgericht als Kontrollorgan nicht zuge‑ rechnet werden und eine legitimationsbedürftige Verkürzung des Leistungs‑ versprechens der Rechtsschutzgarantie nicht begründen kann566. bb) Hinreichende Rechtmäßigkeitskontrolle Davon ausgehend ist im Hinblick auf den weithin anerkannten Bewer‑ tungsspielraum des Prüfers und die damit einhergehende und seit eh und je in der Verwaltungsgerichtsbarkeit praktizierte beschränkte (Richtigkeits‑) Kontrolle der Prüfungsentscheidung (allein) fraglich, ob diese wegen des Fehlens rechtlicher Kontrollmaßstäbe legitimiert werden kann. Im Hinblick auf den Umfang der bestehenden materiell-rechtlichen Bindung des Prüfers bei der Findung der Prüfungsentscheidung ist anzuknüpfen an den seiner‑ zeitigen Befund des Bundesverfassungsgerichtes, wonach es für die Findung der Bewertungsentscheidung bei juristischen Prüfungen an normativen Vor‑ gaben mit hinreichender Steuerungskraft fehlt567. An diesem hat sich bis zum heutigen Tag wenig geändert. Nach wie vor ist der Inhalt der vom Prüfer zu treffenden Bewertungsentscheidung nicht in einer Art und Weise determiniert, die es zuließe, allein anhand der maßgeblichen Prüfungsrechts‑ vorschriften die Qualität der konkret zu bewertenden Prüfungsleistung zu ermitteln und zu bestimmen, welche Note ihr mit welcher Punktzahl aus der Bundesnotenverordnung zuzuweisen ist568. Es fehlt insbesondere an einer (abschließenden) Vorgabe der im Rahmen des dargestellten Bewertungsvor‑ gangs abstrakt relevanten prüfungsspezifischen Bewertungskriterien bzw. Abwägungs- und Gewichtungsfaktoren, die wie aufgezeigt nach Abschluss der fachspezifischen Brauchbarkeitsprüfung und dann nochmals beim ab‑ schließenden Notenzuweisungsakt zum Tragen kommen. Das Gericht ist hier also nicht (allein) vor die (praktische) Schwierigkeit gestellt, vage, 565 Vgl.
BVerfGE 129, 1 (22). Gusy, Jura 1991, 633 (635); Löwer/Linke, WissR 30 (1997), 128
566 Ähnlich
(158).
567 BVerfGE 568 Vgl.
84, 34 (51). SächsOVG, Bes. v. 11.09.2001 – 4 BS 156/01, LKV 2002, 523 (525).
C. Die Erhebung formeller und materieller Bewertungsrügen271
abstrakte Maßstäbe wie das Kriterium der „Brauchbarkeit“ der Leistung oder den „Durchschnitt“ der Anforderungen zu bestimmen. Vielmehr sieht es sich mit der Rechtstatsache konfrontiert, dass es auf den vorgelagerten Stufen des Abwägungsvorgangs an prüfungsspezifischen Bewertungsvorga‑ ben gänzlich fehlt. Eine Richtigkeitskontrolle des von dem Prüfer gefunde‑ nen Abwägungsergebnisses kann das Verwaltungsgericht anhand der ein‑ fach-rechtlichen Rechtsgrundlagen nicht vornehmen. Dies allein würde noch nicht zur Unmöglichkeit einer vollständigen Überprüfung der von dem Prüfer vergebenen Bewertung führen, wenn sich in Erfüllung der die Ver‑ waltungsgerichte auch insoweit treffenden Rechtsschutzgewährungspflicht aus dem Grundrecht der Berufsfreiheit als maßgebliche – notwendigerweise abstrakte – verfassungsrechtliche Determinante operationalisierbare Kon trollmaßstäbe deduzieren und im Rahmen der Urteilsfindung anwenden569 ließen, mit denen sich die im konkreten Fall zu vergebende Bewertung er‑ mitteln und damit auch die (Un‑) Richtigkeit der vom Prüfer vergebenen Note und Punktzahl feststellen ließe. Diese Aufgabe wird aber im Allgemeinen umso schwieriger, je komplexer der rechtlich nicht oder kaum gesteuerte Vorgang ist, der der rechtlichen Entscheidungsfindung vorausgegangen ist, und je konkreter die erforderli‑ che verfassungsrechtliche Aussage bezüglich eines (Teil‑) Ergebnisses der angegriffenen Verwaltungsentscheidung sein muss570. Zudem nimmt die Verlässlichkeit der gewonnenen Aussage ab, je mehr Deduktions- bzw. Ar‑ gumentationsebenen hierzu durchlaufen werden mussten. Daran gemessen erscheint es im Hinblick auf die sehr weit gehende tatbestandliche Offenheit der relevanten Bezugsnormen im einfachen Recht und die damit im erheb‑ lichen Umfang vorhandenen und stark ausfüllungsbedürftigen Gesetzeslü‑ cken ausgeschlossen, dass deren Schließung mit den konkretisierten abstrak‑ ten Vorgaben aus Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG im Gesamtergebnis ein geschlos‑ senes Bewertungssystem in Form eines Regelwerks ergäbe571, dessen An‑ wendung im konkreten Einzelfall zu eindeutigen Subsumtionsergebnissen führen würde. Im Ergebnis lassen sich daher auch aus Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG ebenso wenig die für eine vollständige Überprüfung des Bewertungser‑ gebnisses erforderlichen Richtigkeitsmaßstäbe definieren. Soweit die Ver‑ waltungsgerichte den komplexen und von imponderablen Kriterien gepräg‑ ten prüfungsspezifischen Bewertungsvorgang wie seit jeher nur einer Feh‑ lerkontrolle unterziehen, ist dies vor dem Hintergrund des hier dargelegten 569 Siehe zur Verfassungsintegration im Rahmen der Rechtsschutzgewährleistung Brohm, NJW 1984, 8 (10); siehe zur Problematik der Lückenfüllung und Grenzen derselben ders., aaO, S. 11; siehe auch Kissel, NJW 1982, 1777 (1780). 570 In diese Richtung auch Kissel, NJW 1982, 1777 (1780). 571 Vgl. SächsOVG, Bes. v. 11.09.2001 – 4 BS 156/01, LKV 2002, 523 (525).
272 Kap. 6: Möglichkeiten (gerichtlicher) Kontrolle der Prüfungsentscheidung
Verständnisses des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG und der für eine weiter gehen‑ de Kontrolle erforderlichen, aber fehlenden Richtigkeitsmaßstäbe damit nicht zu beanstanden572. cc) Anforderungen an eine und Grenzen der Kontrolle einer rechtsverletzenden Unzweckmäßigkeit Damit steht allerdings noch nicht fest, dass das von Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG geleistete Versprechen eines wirksamen Rechtsschutzes durch eine blo‑ ße – am Maßstab der aus dem einfachen und Verfassungsrecht deduzierten Kontrollmaßstäbe ausgerichtete – Fehlerkontrolle hinreichend erfüllt wäre und eine Verletzung der Rechtsschutzgarantie damit insgesamt betrachtet ausschiede. (1) U nzweckmäßigkeit als Rechtsverletzung und mögliche Rechtskontrolle Insoweit ist zu vergegenwärtigen, dass deren eigentliches Versprechen auf die Feststellung und Beseitigung einer in diesem Fall vom Prüfling gerügten subjektiven Rechtsverletzung gerichtet ist. Dessen aus Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG folgendes Recht auf eine „richtige“ Prüfungsentscheidung ist aber nicht nur bei einer festgestellten Unvereinbarkeit einzelner das Abwägungsergeb‑ nis (mit‑) tragender Einschätzungen mit objektiven Rechtssätzen, sondern auch schon bei (fiktiven) Zweifeln der Prüfer an der Angemessenheit ihrer fallbezogenen Bewertungskriterien bzw. allgemeinen Bewertungsmaßstäbe oder deren jeweiliger Anwendung anzunehmen573. Denn mit der Zuweisung eines Bewertungsspielraums an die Prüfer ist letztlich auch die nicht unbe‑ rechtigte Erwartung verbunden, dass die Prüfer aufgrund ihrer Qualifikation, Sachkunde und Erfahrung die an der abzuprüfenden Berufseignung zu mes‑ sende Qualität der Prüfungsleistung zuverlässig einschätzen können. Wenn der Prüfer dieses Vertrauen mit dem (fiktiven) Eingeständnis von (durch‑ greifenden) Zweifeln an der Richtigkeit seiner Bewertung enttäuscht, kann mit dieser eine Verweigerung oder auch nur Erschwerung des Berufszugangs gegenüber dem dem Prüfling zur Seite stehenden Grundrecht der Berufsfrei‑ 572 In diese Richtung bereits BVerfGE 83, 34 (50); Löwer/Linke, WissR 30 (1997), 128 (158); Gohrke/Bresahn, SächsVBl. 1999, 53 (55); siehe auch Richter, in: Haag/Giehring, FS Ross, 344 (356); Gusy, Jura 1991, 633 (635 ff.); anders Guhl, S. 37 f., der allerdings eine faktische Unmöglichkeit der Nachprüfbarkeit der Prü‑ fungsentscheidung nur unter dem Aspekt des fehlenden Vergleichsmaßstabs inner‑ halb der Prüfungsgruppe – insoweit zutreffend – verneint. 573 Vgl. OVG Bremen, Urt. v. 24.11.2000 – 1 A 254/99, NVwZ 2000, 944 (944 f.).
C. Die Erhebung formeller und materieller Bewertungsrügen273
heit offenkundig nicht mehr gerechtfertigt werden. Insoweit trifft die Auf‑ fassung von Ibler sogar zu, dass subjektive Rechte auch durch unzweckmä‑ ßiges Verwaltungshandeln geschmälert und verletzt werden können574. Eine solche Unzweckmäßigkeit der Bewertung kann vom Verwaltungsgericht wegen des Fehlens rechtlicher Kontrollmaßstäbe aber im Regelfall nicht aufgedeckt werden575. (2) A blehnung einer gerichtlichen Eigenbewertung als Form der Zweckmäßigkeitskontrolle Entschieden entgegenzutreten ist aber der Auffassung Iblers, wonach vom Rechtsschutzauftrag des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG im Allgemeinen aber auch die Verpflichtung der Verwaltungsgerichte umfasst wäre, die Verwal‑ tungsentscheidung auf ihre Zweckmäßigkeit hin zu überprüfen. Konkret bezogen auf eine Prüfungsentscheidung soll eine derartige Zweckmäßig‑ keitskontrolle nach der Vorstellung Iblers folgendermaßen erfolgen: Zu‑ nächst sollen die Prüfer gegenüber dem Verwaltungsgericht ihre Erfahrun‑ gen, die daraus gewonnenen Regeln und wie sie diese angewendet haben, erläutern576. Sodann soll, sofern der (Bericht erstattende) Richter die Prü‑ fungsleistung aufgrund seiner Prüfererfahrung anders bewertet hätte als der Prüfer, dessen subjektiver Bewertungsmaßstab durch denjenigen des Rich‑ ters ersetzt werden, wenn es diesem gelingt, sein Kollegium davon zu überzeugen, dass der von ihm angelegte Maßstab der richtige ist577. Gegen diese Überlegungen Iblers spricht eine ganze Reihe von durchgreifenden rechtspraktischen und rechtsdogmatischen Einwänden. In rechtspraktischer Hinsicht erscheint zunächst die von Ibler vom Prüfer geforderte Art und Weise der Aufdeckung und Erläuterung der von ihm angewandten Bewertungsmaßstäbe wirklichkeitsfremd. Nimmt man Ibler beim Wort, müsste ein Prüfer etwa zur Rechtfertigung der Annahme eines beispielsweise leichten Schwierigkeitsgrades der Klausur erläutern, wie viele Klausuren er im Rahmen seiner Prüfertätigkeit bereits korrigiert hat, mit welchen Anforderungen die Prüflinge bei diesen Klausuren jeweils konfrontiert waren, wie er diese jeweils eingeschätzt hat und warum er je‑ weils von einem leichten, mittleren oder hohen Schwierigkeitsgrad ausge‑ gangen ist, welche Maßstäbe sich daraus bis zur Korrektur der streitgegen‑ ständlichen Klausur herausgebildet haben und warum die Aufgabenstellung 574 Ibler,
575 Siehe
in: BK-GG, Art. 19 Abs. 4, Rn. 264. aber OVG Bremen, Urt. v. 24.11.2000 – 1 A 254/99, NVwZ 2000, 944
(944 f.). 576 Ibler, S. 379. 577 Ibler, S. 380.
274 Kap. 6: Möglichkeiten (gerichtlicher) Kontrolle der Prüfungsentscheidung
derselben gerade die Merkmale eines leichten Schwierigkeitsgrades erfüllt. In ähnlicher Weise müsste der Prüfer bei allen anderen Kriterien der prü‑ fungsspezifischen Wertung vorgehen, nachdem er sich erst einmal darüber klar werden musste, welche überhaupt für die Bewertung insgesamt maß‑ geblich geworden sind. Es erscheint evident, dass man dem Prüfer damit Unmögliches abverlangen würde, weil sich die Kriterien der prüfungsspezi‑ fischen Wertung schleichend verändern und vielfach einer unbewussten und imponderablen Prägung des Beurteilers entspringen, so dass die sich im Rahmen des Bewertungsvorgangs abspielenden und die diesem vorausge‑ gangenen Prozesse selbst dem Prüfer in weiten Teilen verborgen bleiben. Richtigerweise ist im Hinblick auf diese aufgezeigten Eigentümlichkeiten vielmehr davon auszugehen, dass selbst der Prüfer seinen psychischen Ent‑ scheidungsfindungsprozess gegenüber dem Gericht nicht vollständig auf decken kann578. Infolgedessen wird dem Verwaltungsgericht der Abwä‑ gungsvorgang als Kontrollgegenstand jedenfalls teilweise entzogen579. Auch im Übrigen blendet Ibler weitgehend die Rechtswirklichkeit aus, in der Prüfungsrechtsstreitigkeiten regelmäßig durch den Einzelrichter ent‑ schieden werden. Bei der von ihm ggf. für erforderlich gehaltenen Rück‑ übertragung des Rechtsstreits auf die Kammer580 und insgesamt verkennt Ibler zudem die Leistungsfähigkeit der Justiz und lässt angesichts des Ar‑ beitsaufwands des von ihm für richtig gehaltenen Prozedere unter dem Gesichtspunkt des Gebots eines insgesamt ausgewogenen Rechtsschutzes581 sich aufdrängende Fragen nach der zeitnahen Behandlung der genauso be‑ rechtigten Rechtsschutzanliegen anderer Kläger unbeantwortet. Soweit Ibler von einer größeren „Richtigkeitsgewähr“ der Kollegialent‑ scheidung spricht, übersieht er im Weiteren, dass eine Bewertung des Prü‑ fers nicht schon dann als objektiv falsch bezeichnet werden kann, wenn der Richter zu einem anderen Ergebnis als der Prüfer kommt, sondern erst bei dem Nachweis der Verletzung objektiver Bewertungsmaßstäbe, an denen es im Bereich der prüfungsspezifischen Wertungen aber gerade – weitgehend – mangelt. Auch die Entscheidung der Kammer stellt gemäß der Idee von Ibler demnach nicht mehr als ein von mehreren getragenes subjektives Werturteil des prüfenden Richters dar, das dasjenige des Prüfers nur ersetzt, welches aber möglicherweise bereits durch das Votum des Zweitprüfers 578 Vgl. zur Unaufdeckbarkeit des psychischen Entscheidungsfindungsprozesses aufgrund der diesem zugrunde liegenden, komplexen Kriterien und irrationalen Fak‑ toren allgemein Riehm, S. 160 f. 579 Vgl. Hofmann, in: Kent, Sprache des Rechts, 289 (303). 580 Ibler, S. 380 m. Rn. 115. 581 Zu diesem Schmidt-Aßmann, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, Einleitung, Rn. 152 f.; ders. NVwZ 1983, 1 (1).
C. Die Erhebung formeller und materieller Bewertungsrügen275
gestützt wird und zudem sicherlich von einer Reihe anderer Prüfer mitge‑ tragen werden könnte. Bereits Guhl hat darauf hingewiesen, dass mit der bloßen Ersetzung des subjektiven Werturteils des Prüfers durch ein nicht weniger subjektives des Gerichtes niemandem, weder dem Prüfling noch der Prüfungsbehörde, ge‑ dient wäre, vielmehr lediglich Unzufriedenheit und Rechtsunsicherheit ge‑ stiftet werden würde582, wobei Letztere – wie zu ergänzen ist – aus der fehlenden Vorhersehbarkeit der Lückenschließung durch das Gericht583 insbesondere für den Prüfling, aber auch das Prüfungsamt, folgen würde. Noch entscheidender als die vorstehenden, unter den Topos der Praktika‑ bilität584 und Funktionalität des Rechtsschutzes, namentlich auch unter dem Aspekt der Befriedungsfunktion desselben zu verortenden Gesichtspunkte stützt die mit diesen freilich zusammenhängende, funktionsgerechte Aufga‑ benverteilung zwischen Exekutive und Judikative die hier vertretene An‑ sicht, dass die Anstellung von Zweckmäßigkeits- und Opportunitätsüberle‑ gungen vom Schutzauftrag des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG nicht umfasst ist585. Aufzugreifen ist insoweit die Argumentation von Koenig, der den Bewertungsspielraum des Prüfers wie dargelegt mit dem Effizienzgebot und dem Gewaltenteilungsprinzip rechtfertigt586. Selbst Ibler, der sich auch gegen das „Gewaltenteilungs- und Funktions‑ trennungs-Argument“ zur Legitimation eines Bewertungsspielraums des Prüfers wendet587, stellt im Rahmen seiner diesbezüglichen Ausführungen en passant zu Recht die Kontroll- und Rechtsschutzaufgabe der Verwal‑ tungsgerichtsbarkeit heraus588. Auf diese Rechtssicherungsfunktion589 sind die Verwaltungsgerichte aber namentlich durch die in Art. 20 Abs. 3 GG normierte Gesetzesbindung der Judikative grundsätzlich auch beschränkt590. Seiner Kontroll- und Rechtsschutzaufgabe kann das Verwaltungsgericht 582 Guhl, S. 39; siehe auch Seebass, NVwZ 1992, 609 (617 f.) bezüglich der Überprüfbarkeit fachspezifischer Wertungen; ders. NVwZ 1985, 521 (529); Koenig, VerwArch 83 (1992), 351 (373). 583 Siehe zu diesem Aspekt als Gefahr für die Rechtssicherheit Kissel, NJW 1982, 1777 (1780). 584 Vgl. zum zu beachtenden Gesichtspunkt der Praktikabilität des Rechtsschut‑ zes gerade im Prüfungsrecht Seebass, NVwZ 1992, 609 (617). 585 Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 19 Abs. 4, Rn. 12. 586 Siehe nochmals Koenig, VerwArch 83 (1992), 351 (369 f.); im Ansatz auch Seebass, NVwZ 1985, 521 (529), im Zusammenhang mit der normativen Ermächti‑ gungslehre. 587 Ibler, S. 388 ff. 588 Ibler, S. 390. 589 Vgl. zu dieser Terminologie Brohm, NJW 1984, 8 (10). 590 Kopp, BayVBl. 1983, 673 (676).
276 Kap. 6: Möglichkeiten (gerichtlicher) Kontrolle der Prüfungsentscheidung
aber – was Ibler verkennt – wie ausgeführt nur dann nachkommen, wenn es die Verwaltungsentscheidung an vorhandenen, objektiven Maßstäben messen kann591. Fehlt es – wie hier im Falle der prüfungsspezifischen Wer‑ tungen des Prüfers – an solchen, kann das Gericht die Entscheidung der Verwaltung bzw. des Prüfers – sofern diese ausreichend begründet ist und deshalb eine Aufhebung nicht in Betracht kommt – letztlich nur durch eine Entscheidung ersetzen, die aus der Anwendung rein subjektiver Beurtei‑ lungskriterien hervorgegangen ist. Mit einer so verstandenen Kontrollaufgabe würde das Gericht zwar for‑ mell Recht sprechende, materiell aber reine Exekutivgewalt ausüben und die Rolle einer „Superexekutivbehörde“ bzw. eines „Superprüfers“ einnehmen. Einer derartigen Übertragung der Exekutivgewalt steht aber jenseits von demokratischen Legitimationsproblemen592 offenkundig der Grundsatz der Gewaltenteilung entgegen593. Insoweit obliegt unzweifelhaft die primäre und originäre Verantwortung für den gesetzesmäßigen, sachlich richtigen und zweckmäßigen Vollzug der Gesetze den Verwaltungsbehörden und nicht den Gerichten594, was zu der bereits herausgearbeiteten Beschränkung der Verwaltungsgerichte auf eine Kontrolle der Rechtmäßigkeit des Verwal‑ tungshandelns führt und einer verwaltenden Tätigkeit namentlich im Sinne des Anstellens von Zweckmäßigkeitsüberlegungen entgegen Ibler595 grund‑ sätzlich entgegensteht. Diese Überlegungen widerlegen im Übrigen auch die Behauptung Iblers, dass Funktions- und Gewaltenteilungsthesen zu vage seien, als dass sie beantworten könnten, wo im Einzelfall der von Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG geforderte Rechtsschutz des Prüflings endet596. Der von Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG geforderte Rechtsschutz endet jedenfalls an der Grenze des Mög‑ lichen und somit dort, wo wegen des Fehlens objektiver Bewertungsmaßstä‑ be keine Kontrolle der Verwaltungsentscheidung mehr möglich ist, sondern nur noch deren Ersetzung durch eine eigene, subjektive Bewertung des Sachverhalts durch das Gericht. 591 Siehe zur Notwendigkeit eines Kontrollmaßstabs nochmals Guhl, S. 38; im‑ plizit Brohm, NJW 1984, 8 (11); siehe auch Kissel, NJW 1982, 1777 (1780) und Kopp, BayVBl. 1983, 673 (675 f.). 592 Zu diesem Brohm, NJW 1984, 8 (12); Kissel, NJW 1982, 1777 (1782); siehe auch Kopp, BayVBl. 1983, 673 (677). 593 Siehe zur Aufgabenverteilung zwischen Judikative und Exekutive Kopp, BayVBl. 1983, 673 (676); Kissel, NJW 1982, 1777 (1781 f.); Brohm, NJW 1984, 8 (12). 594 Kopp, BayVBl. 1983, 673 (676). 595 Ibler, in: BK-GG, Art. 19 Abs. 4, Rn. 264. 596 So aber Ibler, S. 389.
C. Die Erhebung formeller und materieller Bewertungsrügen277
Nur für die Kontrollaufgabe bringen im Regelfall die Richter auch die erforderlichen Voraussetzungen mit, während in Fachfragen in der Regel die Behörden über die größere Sachkenntnis und Erfahrung verfügen597. Dies gilt prinzipiell auch für die Auslegung und Anwendung des juristi‑ schen Prüfungsrechts und hier speziell für die prüfungsspezifischen Wertun‑ gen im Rahmen des Bewertungsvorgangs598. So darf man im Regelfall da‑ von ausgehen, dass ein Prüfer mit langjähriger Erfahrung etwa den Schwie‑ rigkeitsgrad einer Klausur zutreffend einordnen kann599, während etwa ein junger Richter ohne jegliche Prüfererfahrung dazu nicht imstande ist. Auch ist ein Universitätsprofessor besser über den Leistungsstand seiner Studen‑ ten informiert, als der Richter es jemals sein kann, und ein Rechtsanwalt – Stichwort Anwaltsklausur – kann die erfahrungsgeprägten Anforderungen seines Berufes im Regelfall besser beurteilen als ein Richter mit einer be‑ rufsbedingt ganz anderen Perspektive. Mit anderen Worten spricht einiges für die Annahme, dass der sachkompetente und erfahrene (Bereichs‑)Prüfer am ehesten beurteilen kann, ob der Kandidat in dem abgeprüften Teilbe‑ reich für den Beruf geeignet ist. Dies gilt jedenfalls, soweit die Heranzie‑ hung von Kriterien erforderlich ist, die der – hier erstmals so bezeichne‑ ten – „bereichsspezifischen“ als Unterfall der prüfungsspezifischen Wertung unterfallen, bei der im Regelfall von einer relativ hohen „Vertretbarkeitsge‑ währ“ ausgegangen werden kann600. Diese ist bei den häufig bereichsfrem‑ den Verwaltungsrichtern aus eben diesem funktionalen Grund nicht anzu‑ nehmen601. Wenn trotzdem den Verwaltungsrichtern die Befugnis einge‑ räumt wird, letztverbindlich über die Angemessenheit – und nicht nur Ver‑ tretbarkeit602 – der bereichs- bzw. prüfungsspezifischen Wertungen zu entscheiden, wäre damit nicht nur der Gewaltenteilungsgrundsatz und das daraus resultierende Gebot der Funktionstrennung, sondern bei Lichte be‑ trachtet auch Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG verletzt. Denn der Prüfling hat kraft des Gewährleistungsgehalts dieses Grundrechtes fraglos einen Anspruch darauf, dass nur Prüfer über seine Berufseignung entscheiden, bei denen aufgrund ihrer Ausbildung, Erfahrung und beruflichen Tätigkeit davon aus‑ 597 Kopp, BayVBl. 1983, 673 (676); siehe verklausuliert auch Koenig, VerwArch 83 (1992), 351 (368). 598 Vgl. Guhl, S. 38 f.: „… würde gerichtlicher Rechtsschutz in diesem Bereich das subjektive Werturteil der Prüfer durch ein nicht weniger subjektives, dazu meist sachferneres Urteil des Gerichts ersetzen“ (Hervorh. d. Verf.). 599 Ebenso Herzog, NJW 1992, 2601 (2603). 600 In diese Richtung Löwer, in: FS Bender, 515 (518), der allerdings von einer „Richtigkeitsgewähr“ spricht. 601 Vgl. Löwer, in: FS Bender, 515 (518). 602 Siehe zum Postulat einer Vertretbarkeitskontrolle bereits Kopp, BayVBl. 1983, 673 (679).
278 Kap. 6: Möglichkeiten (gerichtlicher) Kontrolle der Prüfungsentscheidung
gegangen werden kann, dass sie auch dazu in der Lage sind, jene hinrei‑ chend sicher zu beurteilen603. dd) Kompensation des gerichtlichen Rechtsschutzdefizits durch verwaltungsinterne Kontrolle Lehnt man es – wie hier – ab, dass das Verwaltungsgericht zur Erfüllung der aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG folgenden Rechtsschutzgewährleistungs‑ pflicht eigene subjektive Bewertungsmaßstäbe anwendet, steht aber fest, dass es den Prüfling vor Bewertungsentscheidungen, die nach der subjekti‑ ven Einschätzung der Prüfer unrichtig sind, nicht hinreichend schützen kann. Da deshalb der von Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG geforderte effektive gerichtliche Rechtsschutz nicht hinreichend gewährleistet erscheint, bedarf es zur Kompensation dieses Rechtsschutzdefizits eines grundrechtssichern‑ den Verwaltungsverfahrens, das also so ausgestaltet ist, dass innerhalb desselben unzweckmäßige Bewertungen festgestellt und korrigiert werden können604. So betrachtet verletzt der Gesetzgeber, auch wenn ihm das Feh‑ len von Kontrollmaßstäben im Bereich der prüfungsspezifischen Wertungen nicht zuzurechnen und im Hinblick auf den richtig verstandenen Gewähr‑ leistungsgehalt des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG auch unbedenklich ist, dieses Grundrecht im Ergebnis doch, wenn er dem Prüfling kein funktionsäquiva‑ lentes Instrumentarium zur Kompensation der beschränkten gerichtlichen Kontrolle zur Seite stellt, das in Erfüllung des Effektivitätsgebots eine ef‑ fektive Durchsetzung der materiellen Gewährleistungen des Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG ermöglicht605. Diesen Anforderungen wird die derzeitige Ausge‑ staltung des Prüfungsverfahrens aber grundsätzlich gerecht. Hier ist zunächst das Zwei-Prüfer-Prinzip als prozedurales Element der „Binnenkontrolle“606 hervorzuheben, mit Hilfe dessen insbesondere unzweckmäßige Bewertungen 603 Vgl. zur erforderlichen Qualifikation der Prüfer im Einzelnen Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 304 ff.; Zimmerling/Brehm, Prüfungsrecht, Rn. 232 ff.; SchmidtRäntsch, DRiG, Anhang zu § 5d, Rn. 13 ff.; Haase, in: Johlen/Oerder, MAH VerwR, § 16, Rn. 52 ff. 604 Vgl. bereits Guhl, S. 31 f., 61 f.; Jochum, S. 69 f.; siehe auch Höfling, RdJB 1995, 387 (396); Löwer/Linke, WissR 30 (1997), 128 (158); allgemein Geis, DÖV 1993, 22 (29); Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Art. 19 Abs. 4, Rn. 130; Pache, S. 505; siehe auch Jestaedt, in: Erichsen/Ehlers, § 11, Rn. 39, zur dort herausgestell‑ ten verfahrensrechtlichen Dimension der Freiheitsgrundrechte und ihrer Bedeutung für die Legitimation von behördlichen Letztentscheidungsrechten; vgl. auch BVerfGE 129, 1 (32 f.) zur Kompensation eines bestehenden gerichtlichen Kontrolldefizits durch eine gespaltene Rechtsschutzgewährleistung. 605 In diese Richtung allgemein auch Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 19 Abs. 4, Rn. 26, Guhl, S. 182. 606 Geis, DÖV 1993, 22 (29).
C. Die Erhebung formeller und materieller Bewertungsrügen279
unerfahrener Prüfer aufgedeckt werden können. Vor allem wird das vom Bundesverfassungsgericht zu Recht geforderte verwaltungsinterne Kontroll‑ verfahren, im Rahmen dessen die Prüfer bei „wirkungsvollen Hinweisen“ des Prüflings auf eine Unzweckmäßigkeit der Bewertung ihre prüfungsspe‑ zifischen Bewertungskriterien überdenken müssen und welches damit einen kompensatorischen Rechtsschutz leistet bzw. zumindest leisten könnte, im Rahmen des gesetzlich eingeführten Widerspruchsverfahrens durchgeführt. Gerade dieses verwaltungsinterne Kontrollverfahren kann einen weitaus ef‑ fektiveren Rechtsschutz leisten als die von Ibler geforderte Zweckmäßig‑ keitskontrolle durch das Verwaltungsgericht, weil eine verwaltungsinterne Zweckmäßigkeitskontrolle insbesondere wesentlich früher und innerhalb eines viel kürzeren Zeitraums erfolgen kann als eine gerichtliche607. Im Übrigen wird letztere aber – wenn auch zulasten des Prüflings – in der Sache von den Verwaltungsgerichten häufig bereits jetzt kompetenzwidrig praktiziert. Deren Unterlassung durch die Verwaltungsgerichte und eine kompetenzentsprechende Beschränkung der gerichtlichen Tätigkeit auf die gewissenhafte Wahrnehmung der originären Kernaufgaben (judical self re straint608) in Kombination mit dem zeitnah greifenden verwaltungsinternen Rechtsschutz würde den Rechtsschutz des Prüflings weit mehr effektivieren als eine Ausdehnung der „Kontrolle“ der prüfungsspezifischen Wertung im Sinne Iblers609. Im Ergebnis ergäbe sich damit ein in einer Art Kooperati‑ onsverhältnis zwischen dem Verwaltungsgericht und dem Prüfungsamt ge‑ währter, ausgewogener Rechtsschutz. ee) Der Bewertungsspielraum des Prüfers im Lichte des Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG Steht damit fest, dass im Hinblick auf die erfolgte grundrechtssichernde Ausgestaltung des Prüfungs- und Prüfungsanfechtungsverfahrens eine Verlet‑ zung der Rechtsschutzgarantie derzeit nicht festgestellt werden kann, bleibt abschließend nur noch die Frage zu klären, ob die Anerkennung eines mit einer gerichtlichen Kontrollbeschränkung verbundenen Bewertungsspiel‑ raums mit dem Grundrecht der Berufsfreiheit vereinbar ist. Diese Frage ist in Übereinstimmung mit dem Ansatz Jestaedts610 richtigerweise allein an der prozeduralen Gewährleistungskomponente des Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG zu messen. Insoweit gilt, dass der Prüfling nur einen gerichtlichen Rechtsschutz Jochum, S. 71. zum richterlichen Gebot des judical self restraint Brohm, NJW 1984, 8 (13); Koenig, VerwArch 83 (1992), 351 (366). 609 Vgl. im Allgemeinen Pache, S. 459 f. 610 Jestaedt, in: Erichsen/Ehlers, § 11, Rn. 38. 607 Ähnlich 608 Vgl.
280 Kap. 6: Möglichkeiten (gerichtlicher) Kontrolle der Prüfungsentscheidung
verlangen kann, dessen (praktische) Ausgestaltung mit dem sich aus der Ver‑ fassung ergebenden Sinngefüge in Einklang steht. Bei den unter Berücksich‑ tigung dieser Restriktion dann noch generierbaren Leistungsansprüchen ist zu bedenken, dass deren Realisierung wie im Allgemeinen611 unter dem Vorbe‑ halt des Möglichen steht. Hier konnte aber aufgezeigt werden, dass ein Re‑ gelwerk zur Feststellung der Richtigkeit einer Bewertung vom Gesetzgeber aufgrund der aufgezeigten Schwierigkeiten nicht etabliert werden kann. d) Ergebnis Nach alledem erscheinen eine aufgrund des Fehlens von Kontrollmaßstä‑ ben erfolgende beschränkte gerichtliche Kontrolle der Prüfungsentscheidung und ein daraus resultierender Bewertungsspielraum des Prüfers verfassungs‑ rechtlich unbedenklich.
III. (Verbleibende) Möglichkeiten und Grenzen der (gerichtlichen) Kontrolle Nachdem im vorangegangenen Abschnitt in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung und der ganz herrschenden Meinung in der Literatur ein Bewertungsspielraum des Prüfers im Bereich der prüfungsspezifischen Wer‑ tungen anerkannt worden ist, wird es im Folgenden darum gehen, die ver‑ bleibenden Möglichkeiten der (gerichtlichen) Kontrolle der durch die Prüfer erfolgten Leistungsbewertungen bzw. deren Grenzen aufzuzeigen. Von dieser Leistungsbewertung durch die Prüfer und damit der Bewer‑ tungsentscheidung im engeren Sinne zu trennen ist die Prüfungsentscheidung im weiteren Sinne612. Sie stellt den das Prüfungsverfahren beendenden Akt dar, ergeht auf der Grundlage der Einzelbewertungen der Prüfer und stellt fest, ob und ggf. mit welcher (Abschluss‑)Note der Prüfling die Prüfung be‑ standen hat. Ihre Rechtmäßigkeit setzt neben den in formeller und materieller Hinsicht nicht zu beanstandenden Prüferbewertungen zunächst voraus, dass die Leistungen des Prüflings verfahrensfehlerfrei ermittelt worden sind und so eine geeignete Grundlage der erfolgten Leistungsbewertungen darstellen. An diesem dem Bewertungsakt vorausgehenden Prozess der Leistungser‑ mittlung sind die Prüfer – mit Ausnahme bei der mündlichen Prüfung – 611 Vgl. zum anerkannten „Vorbehalt des Möglichen“ im Hinblick auf den leis‑ tungsrechtlichen Aspekt der Grundrechte BVerfGE 33, 303 (333); Benda/Maihofer/ Vogel, HdbVerfR, § 5 Rn. 30. 612 Vgl. zum Begriff der „Prüfungsentscheidung“ (im weiteren Sinne) Haase, in: Johlen/Oerder, MAH VerwR, § 16, Rn. 290; Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 698.
C. Die Erhebung formeller und materieller Bewertungsrügen281
regelmäßig nicht unmittelbar beteiligt; vielmehr wird dieser durch die Mit‑ arbeiter des Prüfungsamtes und deren Beauftragte gestaltet und geleitet. Gleichwohl können sich auch insoweit – wie dies die bereits beantwortete Frage nach dem Umfang der Überprüfung der vom Prüfungsamt zum Aus‑ gleich einer eingetretenen Lärmstörung ergriffenen Kompensationsmaßnah‑ men gezeigt hat – Fragen der gerichtlichen Kontrolldichte stellen613. Soweit sich bei ihrer Klärung Überschneidungen und Interdependenzen mit der Frage nach der Reichweite des Bewertungsspielraums der Prüfer ergeben und der Untersuchungsgegenstand ihre Beantwortung fordert, sind sie daher ebenfalls zu behandeln. Dabei gilt im Ausgangspunkt für die Anerkennung eines etwaigen (partiellen) Bewertungsspielraums der Mitarbeiter des Prü‑ fungsamtes wie für die Bestimmung der Reichweite des – den Prüfern grundsätzlich zustehenden – Bewertungsspielraums, dass maßgeblich inso‑ weit ist, ob die ihn nach diesseitiger Auffassung legitimierenden Gründe auf Verwirklichung drängen614. Stößt die gerichtliche Kontrolle im Bereich der prüfungsspezifischen Wertungen nach dem Dargelegten deshalb an Grenzen, weil es weithin an objektiven Kontrollmaßstäben mangelt, an denen die angewandten Bewer‑ tungskriterien gemessen werden könnten, die zudem selbst von den Prüfern meist nicht vollständig aufgedeckt werden könn(t)en, ergibt sich daraus im Grundsatz zunächst Folgendes: Für Entscheidungen des Prüfungsamtes, die im Rahmen des Verfahrens der Leistungsermittlung ergehen, besteht im Prinzip von vornherein kein Raum für die Anerkennung eines Bewertungsspielraums, weil in diesem Stadium noch keine (prüfungsspezifischen) (Be‑) Wertungen erfolgen. Für den sich anschließenden Vorgang der Leistungsbewertung gilt, dass der Prüfling die von den Art. 12 Abs. 1 Satz 1, 19 Abs. 4 Satz 1 GG prinzipiell geforderte umfassende (gerichtliche) Kontrolle der Schritte des Bewertungs‑ vorgangs und des von ihnen geprägten Ergebnisses desselben auch tatsäch‑ lich beanspruchen, soweit der Bewertungsvorgang und das Bewertungser‑ gebnis durch objektive Bewertungsmaßstäbe bereits determiniert sind, je‑ denfalls aber an solchen gemessen werden könnten. Damit ist zugleich gesagt, dass der Prüfling einen verfassungsrechtlichen Anspruch auf die Entwicklung von bisher noch nicht vorhandenen objektiven Bewertungsmaßstäben hat, sofern deren Erarbeitung nur mit tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeiten verbunden, aber nicht im obigen Sinne un‑ Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 889 f. zur Legitimation und Reichweite des Bewertungsspielraums BVerfGE 84, 34 (53); BayVGH, Urt. v. 21.11.2011 – 7 ZB 11.1320, BayVBl. 2012, 214 (215 f.); VG Mainz, Urt. v. 21.03.2013 – 1 K 919/12.MZ, juris, Rn. 30 f.; Seebass, NVwZ 1985, 521 (526). 613 Vgl. 614 Vgl.
282 Kap. 6: Möglichkeiten (gerichtlicher) Kontrolle der Prüfungsentscheidung
möglich ist. Dieses Entwicklungsgebot folgt ebenso wie dessen Reichweite unmittelbar aus dem Gewährleistungsgehalt des Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG, aus dem sich wie aufgezeigt unter Berücksichtigung des Zwecks der juristi‑ schen (Staats‑)Prüfungen prinzipiell sämtliche für die Bewertung maßgebli‑ chen Grundsätze ableiten lassen. Ebenso sind bereits der der eigentlichen Leistungsbewertung vorgelagerte Vorgang der Ermittlung der beurteilungsre‑ levanten Leistung und die davor liegenden Akte der Auswahl der Prüfungs‑ aufgabe und des Prüfungsstoffes verfassungsrechtlich determiniert. Aus den vorstehenden Grundsätzen lässt sich zunächst folgendes (Kern‑)Kontrollprogramm ableiten: Setzt die Möglichkeit der gerichtlichen Kontrolle der Prüfungsentscheidung (im weiteren Sinne) insbesondere das Vorliegen von (normierten) Kontrollmaßstäben voraus, versteht es sich von selbst, dass zunächst die Einhaltung des anzuwendenden (Prüfungs‑)Rechts durch das Prüfungsamt im Rahmen des Verfahrens der Leistungsermittlung zu überprüfen ist. Hinsichtlich des sich anschließenden Vorgangs der Erfas‑ sung der Prüfungsleistung hat der Prüfling zunächst einen Anspruch darauf, dass die Prüfungsentscheidung dahin überprüft wird, ob die Prüfer bei der Bewertung von einem vollständig und zutreffend ermittelten Sachverhalt ausgegangen sind. Denn einerseits lässt nur eine in Gänze erfasste Prü‑ fungsleistung eine verlässliche Aussage über die Berufseignung des Prüf‑ lings zu, und es ist andererseits objektiv prinzipiell ohne Weiteres feststell‑ bar, ob die Prüfer ihrem Urteil über die Qualität der Prüfungsleistung sämtliche bewertungsrelevanten (Teil‑) Leistungen zugrunde gelegt haben. Gleichfalls möglich ist die im Folgenden gebotene (gerichtliche) Kontrolle, ob die Prüfer im Rahmen der Leistungsbewertung die sich aus normiertem Prüfungsrecht ergebenden Vorgaben für die Bewertung und sonstige „allge‑ mein anerkannte Bewertungsmaßstäbe“ beachtet haben. Die vorstehenden Grundsätze kamen wie dargelegt bereits vor der Ent‑ scheidung des Bundesverfassungsgerichtes vom 17.04.1991 zur Anwendung. Und sie bilden auch den Kern der neuen Kontrollformeln, die die verwal‑ tungsgerichtliche Rechtsprechung in Umsetzung der Vorgaben des Bundes‑ verfassungsgerichtes entwickelt hat. So formuliert etwa das Bundesverwaltungsgericht, dass der Bewertungs‑ spielraum der Prüfer daraufhin überprüfbar sei, ob die Prüfungsbehörde Verfahrensfehler begangen, anzuwendendes Recht verkannt habe, von einem unrichtigen Sachverhalt ausgegangen sei, allgemeingültige Bewertungsmaß‑ stäbe verletzt habe oder sich von sachfremden Erwägungen habe leiten lassen615, womit in der Sache – wie sich aus dem Dargelegten ergibt – aber 615 BVerwG, Bes. v. 13.05.2004 – 6 B 25/04, NVwZ 2004, 1375 (1377); zuletzt bestätigt von BVerwG, Bes. v. 08.03.2012 – 6 B 36.11, NJW 2012, 2054 (2056).
C. Die Erhebung formeller und materieller Bewertungsrügen283
bereits ein Maßstab für die Kontrolle der Prüfungsentscheidung im weiteren Sinne vorgegeben wird616. Die in der instanzgerichtlichen Rechtsprechung entwickelten Kontrollfor‑ meln weichen von dieser Kontrollformel des Bundesverwaltungsgerichtes ganz überwiegend nur in Nuancen ab617. Eine Ausnahme stellen die in der bayerischen Verwaltungsgerichtsbarkeit entwickelten Kontrollprogramme dar. Nach ihnen wird, abgesehen von nur terminologischen Abweichungen, auch in der Sache über die vorstehende Kernkontrolle hinaus gehend – vor‑ geblich – meist zusätzlich geprüft, ob die Bewertung in sich schlüssig und nachvollziehbar ist und den Anforderungen rationaler Abwägung nicht wi‑ derspricht618. Da aufgrund ihrer jeweiligen Abstraktheit weder die vorliegend herausge‑ arbeitete bzw. vom Bundesverwaltungsgericht angewandte noch die von den bayerischen Verwaltungsgerichten herangezogene Kontrollformel die tat‑ sächliche Reichweite der (gerichtlichen) Kontrolle der Prüfungsentscheidung im weiteren Sinne genau erkennen lassen, wird Ziel der nachfolgenden Ausführungen eine Herausarbeitung und Konturierung der gesetzlichen (Bewertungs‑)Vorgaben sowie der nicht normierten, aber ebenso zu beach‑ tenden allgemeinen Bewertungsmaßstäbe bzw. -grundsätze sein. 1. Voraussetzungen für die Eröffnung des Bewertungsspielraums Bei der hiernach im Folgenden zu klärenden Frage nach der Reichweite des Bewertungsspielraums des Prüfers ist zunächst eine durch die bisheri‑ gen Ausführungen bereits nahe gelegte – in der diesbezüglichen Diskussion aber bislang noch nicht erfolgte619 – Differenzierung zwischen den Voraus‑ setzungen seiner Eröffnung und den Grenzen seiner Ausübung geboten. Denn erst bei einem dem Prüfer bzw. dem Prüfungsamt prinzipiell eröffne‑ 616 Siehe demgegenüber Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 882, die sich mit ihrer „Formel“ tatsächlich auf eine Beschreibung der Grenzen des den Prüfern zustehen‑ den Bewertungsspielraums beschränken. 617 Vgl. OVG Lüneburg, Urt. v. 24.05.2011 – 2 LB 158/10, NordÖR 2012, 98 (99); VG Hamburg, Urt. v. 16.04.2003 – 6 VG 2363/99, juris, Rn. 26; VG München, Urt. v. 12.03.2007 – M 3 K 06.2698, juris, Rn. 18; VG Dresden, Urt. v. 04.06.2008 – 5 K 38/08, juris, Rn. 108; VG Mainz, Urt. v. 21.03.2013 – 1 K 919/12.MZ, juris. Rn. 30 (ausdrückliche Hervorhebung des Willkürverbots). 618 BayVGH, Bes. v. 14.09.2000 – 7 B 99.3753, juris, Rn. 19; Bes. v. 29.04.2009 – 7 ZB 08.996, juris, Rn. 21; Urt. v. 12.07.2006 – 7 B 05.2660, juris, Rn. 28; VG Würzburg, Urt. v. 13.06.2005 – W 8 K 04.639, juris, Rn. 41. 619 Siehe zunächst Guhl, S. 32, S. 40, der nur die „Grenzen des Bewertungsspiel‑ raums“ erörtert, und aus neuerer Zeit Haase, in: Johlen/Oerder, MAH VerwR, § 16, Rn. 179, der dort nur von der „Einengung des Bewertungsspielraums“ spricht.
284 Kap. 6: Möglichkeiten (gerichtlicher) Kontrolle der Prüfungsentscheidung
ten Bewertungsspielraum kann sich überhaupt die bislang in den Fokus gerückte Frage stellen, welchen Beschränkungen der Prüfer bei dessen Ausübung unterliegt. Folglich sind zunächst die Voraussetzungen für die Eröffnung des Bewertungsspielraums aufzuzeigen, bevor dessen Grenzen zu erörtern sind. a) Verfahrensfehlerfrei ermittelte Prüfungsleistung Versteht man unter dem Bewertungsspielraum des Prüfers richtigerweise denjenigen (Grenz‑)Bereich der Bewertung einer Prüfungsleistung, der so‑ wohl einer prüfungsbehördlichen als auch einer gerichtlichen Kontrolle weitgehend entzogen ist620, so liegt es auf der Hand, dass dieser frühestens mit Beginn des Bewertungsvorgangs (im weiteren Sinne621) eröffnet sein kann. Diesem voraus geht zunächst das bereits beleuchtete Stadium der Ermittlung der erst im Anschluss zu bewertenden Prüfungsleistung, in wel‑ chem sich die Frage nach dem Bestehen eines Bewertungsspielraums des Prüfers und nach dessen Reichweite im Grundsatz also gar nicht erst stellen kann. Denn war das Leistungsermittlungsverfahren – das wie ausgeführt der vollständigen gerichtlichen Überprüfung unterliegt – mit (wesentlichen) Mängeln behaftet, fehlt es wie schon oben dargelegt bereits an einer hinrei‑ chenden und geeigneten Grundlage für eine zutreffende materielle Beurtei‑ lung der Leistungsfähigkeit des Prüflings622. Dies steht zwar der Einleitung des Bewertungsverfahrens nicht von vornherein entgegen623; jedoch ist dieses entbehrlich, wenn sich der Prüfling bereits vor dessen Ingangsetzung und nach erfolgter Leistungserbringung zu Recht auf einen nicht oder nicht ausreichend kompensierten Mangel im Prüfungsverfahren und seinen daraus resultierenden Anspruch auf (Teil‑)Wiederholung der Prüfung beruft. Wird dieser – wie im Regelfall – erst nach erfolgter Bewertung der fehlerhaft ermittelten Prüfungsleistung geltend gemacht, muss die sich hier ggf. stel‑ Haase, in: Johlen/Oerder, MAH VerwR, § 16, Rn. 179. dem „Bewertungsvorgang im weiteren Sinne“ wird hier die Festlegung der sich aus der Prüfungsaufgabe nach der Einschätzung des Prüfers ergebenden Prüfungsanforderungen und unter der „Bewertung im engeren Sinne“ die Anwen‑ dung des sich daraus ergebenden Bewertungsmaßstabs auf die ermittelte Prüfungs‑ leistung verstanden. In diese Richtung auch HessVGH, Urt. v. 29.04.2010 – 8 A 3247/09, LKRZ 2010, 471 (473). 622 Vgl. BVerwGE 96, 126 (134 f.); HessVGH, Urt. v. 29.04.2010 – 8 A 3247/09, LKRZ 2010, 471 (472); siehe auch OVG Schleswig, Urt. v. 03.05.2011 – 9 A 68/10, juris, Rn. 28: „… wegen der Verfahrensfehler nicht bewertungsfähig …“. 623 Anders, aber nicht überzeugend OVG Schleswig, Urt. v. 03.05.2011 – 9 A 68/10, juris, Rn. 28: „… wegen der Verfahrensfehler nicht bewertungsfähig …“, da der Prüfling auf die Rüge von Verfahrensfehlern verzichten und dann eine Bewer‑ tung beanspruchen kann. 620 Nach
621 Unter
C. Die Erhebung formeller und materieller Bewertungsrügen285
lende Frage nach der Reichweite des Bewertungsspielraums des Prüfers jedenfalls nicht mehr beantwortet werden, weil die Realisierung des Wie‑ derholungsanspruchs des Prüflings die Beurteilungsgrundlage entzieht. Da‑ mit kann festgehalten werden, dass die Eröffnung des Bewertungsspielraums des Prüfers zunächst eine verfahrensfehlerfrei ermittelte Prüfungsleistung voraussetzt624, soweit der Prüfling nicht wirksam auf die Geltendmachung von Verfahrensfehlern verzichtet hat. b) Eignung der Prüfungsaufgabe Nach den erfolgten Darlegungen zu möglichen Fehlern im Prüfungsver‑ fahren ist es damit auch und insbesondere erforderlich, dass die den Prü‑ fungsteilnehmern gestellte Prüfungsaufgabe in jeder Hinsicht geeignet ge‑ wesen ist, deren wahren Kenntnisse und Fähigkeiten zu ermitteln. aa) Eignung der Prüfungsaufgabe im engeren Sinne Davon kann grundsätzlich (nur) dann ausgegangen werden, wenn bei deren Auswahl die einschlägigen Bestimmungen der Prüfungsordnung ein‑ gehalten worden sind. (1) B ewertungsspielraum des Prüfers bzw. des Prüfungsamtes bei der Auswahl der Prüfungsaufgabe? Der Grundsatz, dass durch die Gestaltung des Verfahrens der Leistungs‑ ermittlung die Prüfungsleistung üblicherweise gerade noch nicht bewertet wird, gilt im Prinzip auch für den Akt der Auswahl der Prüfungsaufgabe und des Prüfungsstoffes, der wie aufgezeigt nach hier vertretener Auffas‑ sung dem Verfahren der Leistungsermittlung zuzurechnen ist625. Da mit diesem im Wesentlichen die Leistungsanforderungen in der jeweiligen Prü‑ fung (mit‑)bestimmt werden626, besteht aber ein unmittelbarer Zusammen‑ hang mit dem Leistungsbewertungsakt des Prüfers. Die Bestimmung der 624 In diese Richtung auch HessVGH, Urt. v. 26.05.2010 – 8 A 1595/09, LKRZ 2010, 342 (343); siehe auch OVG Schleswig, Urt. v. 03.05.2011 – 9 A 68/10, juris, Rn. 28: „… wegen der Verfahrensfehler nicht bewertungsfähig …“. Dort werden aber Zweifel dahin formuliert, ob – wie es hier bejaht wird – ein „prozesstaktischer Ver‑ zicht“ überhaupt zu einem bewertungsfähigen Leistungsbild führen kann, aaO, Rn. 33. 625 Siehe Kapitel 6 B. I. 1. 626 Vgl. BVerwGE 57, 130 (137 f.); Haase, in: Johlen/Oerder, MAH VerwR, § 16, Rn. 90; siehe auch Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 383; OVG Schleswig, Urt. v. 03.05.2011 – 9 A 68/10, juris, Rn. 31.
286 Kap. 6: Möglichkeiten (gerichtlicher) Kontrolle der Prüfungsentscheidung
Prüfungsaufgabe nimmt eine Bindegliedfunktion627 zwischen Leistungser‑ mittlung und -bewertung ein, so dass die bestehenden (gesetzlichen) Vorga‑ ben insoweit und für die Auswahl des Prüfungsstoffes nachfolgend zu be‑ leuchten sind, zumal auch insoweit das Bestehen eines Bewertungsspiel‑ raums des Prüfers und dessen Reichweite diskutiert wird. Tatsächlicher Ausgangspunkt der Diskussion Diesbezüglich ist vorab klarzustellen, dass diese Diskussion jedenfalls für die Auswahl der Prüfungsaufgaben im Rahmen des schriftlichen Teils der juristischen Staatsprüfungen nicht vollständig an den Realitäten in der Pra‑ xis ausgerichtet ist, die sich wie folgt darstellen628: Im Rahmen der staatli‑ chen Pflichtfachprüfung werden die Aufgaben für die Aufsichtsarbeiten auf Anforderung des Justizprüfungsamtes von den bestellten Prüfern – zumeist von den Lehrpersonen an den juristischen Fakultäten im jeweiligen Bundes‑ land – gestellt und sodann vom Präsidenten des Prüfungsamtes bzw. den zuständigen Sachbearbeitern aus dem vorhandenen Klausurenpool für den jeweiligen Prüfungsdurchgang ausgewählt. Diese ständige Verwaltungspra‑ xis hat nur in wenigen Bundesländern eine ausdrückliche gesetzliche Rege‑ lung erfahren629. Hinzuweisen ist im Übrigen darauf, dass die Aufsichtsar‑ beiten für die staatliche Pflichtfachprüfung zunehmend aus einem bundes‑ weiten Klausurenpool gewählt und vielfach zeitgleich dieselben Klausuren geschrieben werden630. Damit setzt sich bei der staatlichen Pflichtfachprü‑ fung ein für die Gewinnung der Aufsichtsarbeiten für die Zweite juristische Staatsprüfung schon länger praktiziertes Verfahren durch. Allerdings werden hier die Prüfungsaufgaben nicht von den potentiellen späteren Prüfern ge‑ stellt, sondern von vornherein von den zuständigen Referenten des Prü‑ fungsamtes entworfen. Die Diskussion als rechtliche Scheinproblematik Damit kann der Prüfer lediglich bei den universitären Prüfungen und im Rahmen der mündlichen Prüfung bei den staatlichen Prüfungen alleinverant‑ 627 Die womöglich auch das Bundesverwaltungsgericht annimmt, wenn es im Urt. v. 16.04.1997 – 6 C 9.95, NJW 1998, 323 (324), Fehler bei der Auswahl der Prüfungsstoffes gesondert neben zunächst Fehlern im Prüfungsverfahren und sodann Korrektur- und Bewertungsfehlern erwähnt. 628 Siehe zum Verfahren der Gewinnung der Prüfungsarbeiten auch die Darstel‑ lung bei Schmidt-Räntsch, DRiG, Anhang zu § 5d, Rn. 88. 629 Vgl. § 15 Abs. 3 JAG HH; §§ 4 Abs. 1, 19 Abs. 2 ThürJAPO; § 12 Abs. 2 JAG Hessen; siehe auch § 11 Abs. 1 Satz 2 JAG Saarland; § 13 Abs. 2 JAPrO Ba.-Wü. 630 Siehe insoweit auch § 15 Abs. 3 Satz 2 JAG HH.
C. Die Erhebung formeller und materieller Bewertungsrügen287
wortlich Art und Inhalt der Prüfungsaufgabe festlegen, während deren Aus‑ wahl im Übrigen allein den zuständigen Sachbearbeitern beim Prüfungsamt obliegt. Richtigerweise ist daher die Frage zu stellen, ob (auch) den Sach‑ bearbeitern beim Prüfungsamt bei der Bestimmung der Prüfungsaufgabe ein Bewertungsspielraum zusteht631, die sich aber selbst in dieser Form bei richtiger Betrachtung so gar nicht stellt. Denn im Hinblick auf die in Art. 20 Abs. 3 GG erfolgte Gesetzesbindung der Verwaltung steht es zunächst außer Frage, dass die Sachbearbeiter im Rahmen der Auswahl und ggf. Erstellung der Prüfungsaufgaben die sogleich darzustellenden rechtlichen Bindungen zu beachten haben632, die sich insbesondere aus der jeweiligen Prüfungsord‑ nung ergeben633. Diese rechtlichen Bindungen werden vielfach (auch) da‑ durch erzeugt, dass mit unbestimmten Rechtsbegriffen wie den „Grundzügen eines Rechtsgebietes“ die zulässige Art und der zulässige Inhalt der Prü‑ fungsaufgaben festgelegt werden. Ob diese von den Sachbearbeitern des Prüfungsamtes bzw. den Prüfern zutreffend ausgelegt und angewendet wor‑ den sind, unterliegt nach der jüngeren Rechtsprechung des Bundesverwal‑ tungsgerichtes634 und der Instanzgerichte635 sowie der ganz herrschenden 631 Richtig insoweit Schmidt-Räntsch, DRiG, Anhang zu § 5d, Rn. 92, der so‑ wohl dem Prüfer als auch dem Prüfungsamt einen von ihm so bezeichneten Ermes‑ sensspielraum zubilligt, was insoweit zutreffend ist, als die Auswahl der Prüfungs‑ aufgabe keine Bewertung im engeren Sinne darstellt. Entsprechend sprechen auch Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 378, von den rechtlichen Bindungen des Auswahler‑ messens der Prüfungsbehörden und des Prüfers; Haase, in: Johlen/Oerder, MAH VerwR, § 16, Rn. 92, fokussiert demgegenüber allein den Prüfer und gesteht diesem einen Bewertungsspielraum zu; ähnlich Zimmerling/Brehm, Prüfungsrecht, Rn. 358. 632 Vgl. Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 377: „In dem damit vorgegebenen Rah‑ men …“; ebenso Zimmerling/Brehm, Prüfungsrecht, Rn. 352; Schmidt-Räntsch, DRiG, Anhang zu § 5d, Rn. 92: „rechtliche Vorgaben“; Kopp/Ramsauer, VwVfG, § 40, Rn. 126; Kopp/Schenke, VwGO, § 114, Rn. 31. 633 Siehe bereits BVerwG, Bes. v. 14.03.1979 – 7 B 16/79, DÖV 1979, 752 (753) – Auswahl Prüfungsstoff; BVerwG, Urt. v. 09.08.1996 – 6 C 3/95, NVwZ-RR 1998, 176 (177) – Eignung Prüfungsaufgabe; HessVGH, Urt. v. 29.04.2010 – 8 A 3247/09, LKRZ 2010, 471 (472) – Auswahl Prüfungsstoff; OVG Lüneburg, Bes. v. 07.05.2007 – 2 LA 410/05, juris, Rn. 11 – Auswahl Prüfungsstoff. 634 BVerwG, Urt. v. 16.04.1997 – 6 C 9.95, NJW 1998, 323 (327); anders noch BVerwG, Urt. v. 09.12.1983 – 7 C 99/82, NJW 1984, 2650 (2651); Bes. v. 15.10.1990 – 7 B 88/90, NVwZ 1991, 271 (271). In diesen Entscheidungen hatte das Bundesverwaltungsgericht noch einen Beurteilungsspielraum des Prüfungsamtes bzw. Prüfers angenommen, soweit die Beurteilung der Eignung der Prüfungsaufgabe etc. von einer fachwissenschaftlichen Richtigkeitsentscheidung abhängt, die eben nach der „alten“ Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichtes bis zur Entschei‑ dung des Bundesverfassungsgerichtes vom 17.04.1991, BVerfGE 84, 34 (54 f.), dem Prüfer vorbehalten war. 635 VGH Mannheim, Urt. v. 09.05.1995 – 9 S 2341/93, DVBl 1995, 1356 (1357); Urt. v. 08.07.1997 – 9 S 1169/96, juris, Rn. 20; VG Chemnitz, Urt. v. 04.06.2003 – 2 K 581/02, juris, Rn. 73.
288 Kap. 6: Möglichkeiten (gerichtlicher) Kontrolle der Prüfungsentscheidung
Meinung in der Literatur636 der vollständigen gerichtlichen Überprüfung. Nur ganz vereinzelt wird noch für das Bestehen eines Beurteilungsspiel‑ raums bei der Umsetzung der unbestimmten gesetzlichen Vorgaben einge‑ treten637. Für die Annahme eines solchen besteht aber kein legitimierender Grund, da die Auslegung und Anwendung der gesetzlichen (Rah‑ men‑)Vorgaben – wie noch im Einzelnen zu zeigen sein wird – keine prü‑ fungsspezifischen Wertungen erfordert638. Raum für die Annahme des Bestehens eines Bewertungsspielraums be‑ steht erst dann, wenn und soweit innerhalb des durch die Prüfungsord‑ nung – auch durch die Verwendung unbestimmter Rechtsbegriffe – gezo‑ genen Rahmens639 die Auswahl der Prüfungsaufgaben auf der Anwendung von dem Gericht nicht oder nicht ohne Weiteres zugänglichen Kriterien und (Vergleichs‑) Maßstäben im Sinne der oben herausgearbeiteten prü‑ fungsspezifischen Wertungen beruht. Davon wird sowohl in der Rechtspre‑ chung als auch in der Literatur übereinstimmend ausgegangen640 und der Prüfungsbehörde bzw. dem Prüfer infolgedessen ein weiter „Beurteilungs-“641 und „Gestaltungsspielraum“642, ein „pädagogischer (Bewertungs‑) Spiel 636 Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 378; Zimmerling/Brehm, Prüfungsrecht, Rn. 357; Haase, in: Johlen/Oerder, MAH VerwR, § 16, Rn. 92; Kopp/Ramsauer, VwVfG, § 40, Rn. 126; Kopp/Schenke, VwGO, § 114, Rn. 31; Schnellenbach, in: Hartmer/Detmer, HSchR, Kapitel XII, Rn. 70. 637 Siehe Schmidt-Räntsch, DRiG, Anhang zu § 5d, Rn. 92. Diese Auffassung dürfte aber eher auf der Heranziehung älterer, mittlerweile überholter Rechtspre‑ chung beruhen. Insbesondere die in der von Schmidt-Räntsch zitierten Entscheidung des BVerwG, Urt. v. 09.12.1983 – 7 C 99/82, NJW 1984, 2650 (2651), vertretene Rechtsauffassung ist unter dem Eindruck von BVerfGE 84, 34 (54 f.) durch Urt. v. 16.04.1997 – 6 C 9.95, NJW 1998, 323 (327), aufgegeben worden. 638 VGH Mannheim, Urt. v. 09.05.1995 – 9 S 2341/93, DVBl 1995, 1356 (1357); Urt. v. 08.07.1997 – 9 S 1169/96, juris, Rn. 20; VG Chemnitz, Urt. v. 04.06.2003 – 2 K 581/02, juris, Rn. 73; Zimmerling/Brehm, Prüfungsrecht, Rn. 357; siehe dazu, dass bei der Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe im Prüfungsrecht, die keine von persönlichen Erfahrungen und Einschätzungen abhängige komplexe (prüfungsspezifische) Wertung erfordern, kein Raum für die Annahme eines Bewer‑ tungsspielraums besteht, OVG Sachsen, Urt. v. 16.06.2011 – 2 A 822/10, juris, Rn. 19. 639 Siehe zu diesem und dessen Verbindlichkeit nochmals Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 374 ff., insb. Rn. 377; Haase, in: Johlen/Oerder, MAH VerwR, § 16, Rn. 377; Zimmerling/Brehm, Prüfungsrecht, Rn. 352. 640 Siehe insbesondere OVG Lüneburg, Bes. v. 07.05.2007 – 2 LA 410/05, juris, Rn. 12; Haase, in: Johlen/Oerder, MAH VerwR, § 16, Rn. 92; Schnellenbach, in: Hartmer/Detmer, HSchR, Kapitel XII, Rn. 70. 641 VG Düsseldorf, Bes. v. 15.07.2003 – 15 L 1694/03, juris, Rn. 15, und Zimmerling/Brehm, Prüfungsrecht, Rn. 358, sprechen von einem Beurteilungsspielraum. 642 Mit dieser Terminologie OVG Lüneburg, Bes. v. 07.05.2007 – 2 LA 410/05, juris, Rn. 12.
C. Die Erhebung formeller und materieller Bewertungsrügen289
raum“643 oder ein „Ermessens-“644 bzw. „Entscheidungsspielraum“645 ein‑ geräumt. Ungeachtet der terminologischen Differenzen wird damit im Ergebnis übereinstimmend von einer nur beschränkten gerichtlichen Über‑ prüfbarkeit der Erstellung und Auswahl der Prüfungsaufgaben ausgegan gen646. Diese soll zur Folge haben, dass zwar die Eignung der Prüfungs‑ aufgabe im Sinne der Erfüllung namentlich der gesetzlichen Vorgaben, nicht aber ihre Zweckmäßigkeit im Übrigen vom Gericht überprüft werden kann647. Die Annahme eines solchen – auch in diesem Kontext hier sogenannten – Bewertungsspielraums648 vermag nicht zu überzeugen. Die Eignung der Prüfungsaufgabe jenseits der Erfüllung der gesetzlichen Vorgaben im Sinne der Zweckmäßigkeit der Aufgabenstellung hängt letztlich allein von dem jeweils angenommenen Schwierigkeitsgrad649 derselben ab, der wiederum durch Faktoren wie dem tatsächlichen und rechtlichen Umfang der Prü‑ fungsaufgabe im Sinne der zu erörternden Rechtsprobleme, deren Gängig‑ keit aufgrund ihrer Behandlung in der Ausbildungsliteratur etc. bestimmt wird. Über diesen wird sich im Regelfall derjenige, der die Prüfungsaufgabe erstellt, ebenso Gedanken machen wie derjenige, der von mehreren zur Verfügung stehenden Prüfungsaufgaben nur bestimmte letztverbindlich aus‑ wählt. An deren Einschätzung – so sie denn überhaupt mitgeteilt wird – ist der Prüfer, der später die Prüfungsarbeiten bewertet, aber kraft seiner – ge‑ 643 Mit dieser Terminologie BVerwG, Urt. v. 09.08.1996 – 6 C 3/95, NVwZ-RR 1998, 176 (177); HessVGH, Urt. v. 26.05.2010 – 8 A 1595/09, LKRZ 2010, 342 (344); VG Schleswig, Urt. v. 10.09.2008 – 9 A 107/07, juris, Rn. 50. 644 Von einem „Ermessensspielraum“ sprechen Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 377, und Schmidt-Räntsch, DRiG, Anhang zu § 5d, Rn. 92. 645 So Haase, in: Johlen/Oerder, MAH VerwR, § 16, Rn. 92. 646 BVerwG, Urt. v. 09.08.1996 – 6 C 3/95, NVwZ-RR 1998, 176 (177); OVG Lüneburg, Bes. v. 07.05.2007 – 2 LA 410/05, juris, Rn. 12; HessVGH, Urt. v. 26.05.2010 – 8 A 1595/09, LKRZ 2010, 342 (344); Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 377; Schmidt-Räntsch, DRiG, Anhang zu § 5d, Rn. 92; Haase, in: Johlen/Oerder, MAH VerwR, § 16, Rn. 92; auch in dieser Terminologie VG Düsseldorf, Bes. v. 15.07.2003 – 15 L 1694/03, juris, Rn. 15. 647 BVerwG, Urt. v. 09.08.1996 – 6 C 3/95, NVwZ-RR 1998, 176 (177); VG Düsseldorf, Bes. v. 15.07.2003 – 15 L 1694/03, juris, Rn. 18; OVG Lüneburg, Bes. v. 07.05.2007 – 2 LA 410/05, juris, Rn. 12; HessVGH, Urt. v. 26.05.2010 – 8 A 1595/09, LKRZ 2010, 342 (344). 648 Ebenso OVG Münster, Urt. v. 17.09.1993 – 22 A 1931/91, DVBl 1994, 644 (646). 649 Siehe zum Zusammenhang zwischen dem Schwierigkeitsgrad der Aufgaben‑ stellung und ihrer Eignung VG Frankfurt, Urt. v. 04.08.2004 – 12 E 5183/02, juris, Rn. 67; den Schwierigkeitsgrad herausstellend auch Haase, in: Johlen/Oerder, MAH VerwR, § 16, Rn. 92.
290 Kap. 6: Möglichkeiten (gerichtlicher) Kontrolle der Prüfungsentscheidung
setzlich festgelegten – Unabhängigkeit650 nicht gebunden. Er muss sich vielmehr ein eigenständiges Urteil über den Schwierigkeitsgrad der Aufga‑ benstellung bilden und danach den anzulegenden Bewertungsmaßstab (milde oder streng) ausrichten651. Weder der Klausurersteller noch die für die Auswahl der Prüfungsaufgaben verantwortlichen Personen können daher den objektiv ja gerade nicht bestimmbaren Schwierigkeitsgrad der Aufgaben vorgeben652. Im Ergebnis stellt sich daher die Diskussion um das Bestehen eines Bewertungsspielraums des Prüfers bzw. der zuständigen Sachbearbei‑ ter des Prüfungsamtes bei der Auswahl der Prüfungsaufgaben weitgehend als Scheinproblematik dar. Denn während der (nur) bewertende Prüfer653 bei der Anwendung des konkreten und insbesondere unter Berücksichtigung des von ihm angenom‑ menen Schwierigkeitsgrades der Aufgabenstellung gebildeten Bewertungs‑ maßstabs und somit im Bereich der prüfungsspezifischen Wertungen man‑ gels hinreichender Kontrollmaßstäbe prinzipiell über einen noch einzugren‑ zenden Bewertungsspielraum verfügt, sind diejenigen Personen, die die Prüfungsaufgaben nur erstellen und auswählen, im Rahmen dieser Tätigkeit an die rechtlichen Vorgaben insbesondere in der jeweiligen Prüfungsord‑ nung gebunden, wobei deren Einhaltung gerichtlich voll überprüfbar ist. Dieselben Grundsätze gelten für den die Prüfungsaufgabe (er)stellenden und die erbrachten Prüfungsleistungen bewertenden Prüfer. Diesem steht also 650 Siehe zu dessen Stellung § 2 Abs. 1 JAG Thüringen; § 6 Abs. 1 SächsJAG; § 3 Abs. 1 JAPO Bayern; § 11 Abs. 3 NJAG; § 10 Abs. 4 Satz 1 JAG HH; § 14 Abs. 2 JAPG Bremen; § 3 JAPO Bayern; § 4 Abs. 4 Hs. 1 JAG Hessen; Niehues/ Fischer/Jeremias, Rn. 27; siehe auch VGH Mannheim, Urt. v. 16.02.2009 – 4 S 1071/08, juris, Rn. 41 f. 651 Siehe dazu, dass es allein den Prüfern obliegt, den Bewertungsmaßstab zu wählen, VG Dresden, Urt. v. 22.03.2012 – 5 K 1327/10, juris, Rn. 65; vgl. auch VG Frankfurt, Urt. v. 04.08.2004 – 12 E 5183/02, juris, Rn. 67, zur gebotenen Berück‑ sichtigung des Schwierigkeitsgrades bei der Beurteilung; ebenso Niehues/Fischer/ Jeremias, Rn. 383. 652 Schmidt-Räntsch, DRiG, Anhang zu § 5d, Rn. 91, weist zu Recht auf die ggf. unterschiedliche Einschätzung des Schwierigkeitsgrades durch das Prüfungsamt ei‑ nerseits und die Prüfer andererseits hin. Dies hat der Gesetzgeber in Hamburg ver‑ kannt, wenn es in § 15 Abs. 3 Satz 3 JAG HH heißt, dass die Aufgaben in ihrem Schwierigkeitsgrad auf die Bearbeitungszeit und die zugelassenen Hilfsmittel abzu‑ stimmen sind, womit suggeriert wird, dass der Schwierigkeitsgrad objektiv bestimmt werden könnte. Zutreffend demgegenüber Schmidt-Räntsch, aaO, wonach Schwan‑ kungen des Schwierigkeitsgrades „im Rahmen des Möglichen“ auszugleichen seien. Anders ist der Fall aber zu beurteilen, soweit der Schwierigkeitsgrad jedenfalls teilweise gesetzlich vorgegeben ist, so ansatzweise in § 19 Abs. 2 NJAVO; siehe insoweit OVG Lüneburg, Bes. v. 07.05.2007 – 2 LA 410/05, juris, Rn. 15. 653 Der im vorliegenden Kontext von demjenigen Prüfer abzugrenzen ist, der für das Prüfungsamt Prüfungsaufgaben erstellt, der in dem zugehörigen Prüfungsdurch‑ gang dann aber nicht als Prüfer eingesetzt wird.
C. Die Erhebung formeller und materieller Bewertungsrügen291
nicht etwa ein doppelter Bewertungsspielraum zunächst bei der Erstellung und Auswahl der Prüfungsaufgabe und sodann bei der Bewertung der Prü‑ fungsleistungen zu654, sondern ein Bewertungsspielraum hinsichtlich der Annahme des Schwierigkeitsgrades der selbst erstellten bzw. ausgewählten Prüfungsaufgabe. (2) Gesetzliche Vorgaben für Art und Inhalt der Prüfungsaufgabe Nach diesen gebotenen Klarstellungen sind nun wie angekündigt die ge‑ setzlichen Vorgaben für die Auswahl von Art und Inhalt der Prüfungsaufga‑ ben näher zu beleuchten. Diesbezüglich ist zunächst auf den allgemeinen Befund hinzuweisen, dass der zulässige Prüfungsstoff im Sinne der Festle‑ gung der Rechtsgebiete, denen die Prüfungsaufgaben entnommen werden dürfen, vielfach recht detailliert geregelt ist, während hingegen die Art der Prüfungsaufgabe im Sinne der Festlegung der Methodik, mit der die nach‑ zuweisenden Rechts- und methodischen Kenntnisse der Kandidaten über‑ prüft werden, nur eine vereinzelte Regelung erfahren hat655. Art der Prüfungsaufgabe Hervorzuheben sind in diesem Zusammenhang für die Erste juristische (Staats‑)Prüfung die in Berlin / Brandenburg und Sachsen getroffenen Rege‑ lungen, wonach im Vordergrund von Aufgabenstellung und Leistungsbewer‑ tung das systematische Verständnis der Rechtsordnung bzw. das juristische Verständnis und die Fähigkeit zum methodischen Arbeiten stehen sollen656. Der ausdrücklichen Normierung dieses Postulats hätte es an sich gar nicht bedurft, da sich die damit einhergehenden Anforderungen und Restriktionen für die Bestimmung der Art der Prüfungsaufgabe ohne Weiteres aus dem Charakter der Ersten juristischen (Staats‑)Prüfung ableiten lassen, die wie 654 Dies wäre aber die Konsequenz, wenn man der bisher übereinstimmend in der Rechtsprechung und Literatur vertretenen Auffassung folgt. Siehe insoweit ex‑ emplarisch OVG Lüneburg, Bes. v. 07.05.2007 – 2 LA 410/05, juris, Rn. 12, wo die – einen Bewertungsspielraum legitimierenden – prüfungsspezifischen Wertungen im Rahmen der Bewertung neben denen bei der Erstellung und Auswahl der Prü‑ fungsthemen erwähnt werden. 655 Siehe zu den ohnehin fehlenden, ausdrücklichen bundesgesetzlichen Vorga‑ ben hinsichtlich Art und Gestaltung der Prüfungsaufgaben Schmidt-Räntsch, DRiG, Anhang zu § 5d, Rn. 89. 656 § 7 Abs. 2 Satz 3 JAG Berlin/Bbg.; § 14 Abs. 1 Satz 2 SächsJAPO. Ähnlich die Regelung in § 11 Abs. 1 Satz 1 JAG Saarland, wonach die Aufsichtsarbeiten dem Prüfling Gelegenheit geben sollen, auf dem Gebiet der Prüfungsfächer sein Wissen, sein Verständnis und seine methodischen Kenntnisse schriftlich darzutun.
292 Kap. 6: Möglichkeiten (gerichtlicher) Kontrolle der Prüfungsentscheidung
bereits oben dargelegt657 in den vorgenannten wie in den übrigen Bundes‑ ländern ganz überwiegend ausdrücklich als reine „Verständnisprüfung“ konzipiert ist. Dies schließt insbesondere eine auf die erschöpfende Behand‑ lung eines Rechtsproblems bzw. einer Rechtsfrage gerichtete Prüfungsauf‑ gabe, wie sie dem Wissenschaftsmaßstab eigen ist658, aus. Da im Rahmen der staatlichen Pflichtfachprüfung ohnehin kein Raum für ein (vertieftes) wissenschaftliches Arbeiten ist, hat diese Restriktion vor allem Bedeutung für eine im Rahmen der Schwerpunktbereichsprüfung vielfach obligatori‑ sche (wissenschaftliche) Hausarbeit. Die sich für die Aufgabenstellung hier konkret ergebenden Begrenzungen sind im Rahmen der verfassungsrechtli‑ chen Bewertung der Ausgestaltung der Schwerpunktbereichsprüfung bereits dargelegt worden659, worauf an dieser Stelle zu verweisen ist. Die Konzeption der Ersten juristischen (Staats‑) Prüfung als reine Ver‑ ständnisprüfung schließt aber nicht nur einen Auftrag zur (vertieften) wis‑ senschaftlichen Auseinandersetzung mit einer Rechtsfrage- bzw. einem Rechtsproblem, sondern auch eine primär bzw. ausschließlich auf die Ab‑ frage von Einzelwissen gerichtete Prüfungsaufgabe aus, da (Rechts‑)Verständ nis wie bereits ausgeführt neben (Rechts‑) Kenntnissen auch die Beherr‑ schung der rechtswissenschaftlichen Arbeitsmethodik voraussetzt. Anders formuliert dürfen bzw. müssen Prüfungsaufgaben gestellt werden, deren Bewältigung die Erbringung von (Prüfungs‑)Leistungen verlangt, die in der späteren Berufspraxis auch tatsächlich gefordert werden660. Nur so kann auch das allgemeine Ziel einer jeden Prüfung, diejenigen Kandidaten zu ermitteln, die das Ausbildungsziel erreicht, und entsprechend von denjeni‑ gen zu unterscheiden, die es verfehlt haben661, und das spezielle Ziel der Ersten juristischen (Staats‑) Prüfung, die Eignung für den Vorbereitungs‑ dienst zu ermitteln, erreicht werden. Dies bedeutet in anderer Hinsicht zu‑ gleich, dass die Prüfungsaufgabe ein gewisses Anspruchsniveau in dem Sinne aufweisen muss, dass entsprechend den gesetzlichen Vorgaben den Kandidaten hinreichend Gelegenheit gegeben werden muss, ihre erworbenen 657 Siehe
Kapitel IV B. III. 3. OVG Saarlouis, Bes. v. 22.11.2000 – 3 V 26/00, 3 W 6/00, NVwZ 2001, 942 (943 f.). 659 Siehe Kapitel 4 B. II. 3. b). 660 Siehe zur insoweit gebotenen Verhältnismäßigkeit der Prüfungsanforderungen BVerwGE 78, 55 (57); Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 378; Haase, in: Johlen/Oerder, MAH VerwR, § 16, Rn. 93. Siehe andererseits zum Erfordernis eines gewissen An‑ spruchsniveaus für die Erreichung des Prüfungszwecks OVG Lüneburg, Bes. v. 07.05.2007 – 2 LA 410/05, juris, Rn. 13. 661 BVerwGE 38, 105 (114); BVerwG, Urt. v. 09.08.1996 – 6 C 3.95, NVwZ-RR 1998, 176 (177); HessVGH, Urt. v. 29.04.2010 – 8 A 3247, LKRZ 2010, 471 (472); VG Schleswig, Urt. v. 10.09.2008 – 9 A 107/07, juris, Rn. 51; Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 380. 658 Vgl.
C. Die Erhebung formeller und materieller Bewertungsrügen293
(Rechts‑)Kenntnisse und methodischen Fähigkeiten anzuwenden. Zu reali‑ sieren ist dies dadurch, dass die Klausurlösung in einem Mindestmaß die Erörterung von Rechtsfragen und Rechtsproblemen erfordert662. Soweit in Thüringen und in Hessen hinsichtlich des Ausbildungsziels die Beherrschung wissenschaftlicher Arbeitsmethoden vorgegeben und dement‑ sprechend deren Beherrschung überprüft wird663, muss dieser (Bewer‑ tungs‑)Maßstab (verfassungskonform) dahin ausgelegt werden, dass darunter im gegebenen Kontext lediglich die Beherrschung der rechtswissenschaftli‑ chen Technik der Gesetzesauslegung, nicht aber vertieftes wissenschaftliches Arbeiten im Sinne einer erschöpfenden Behandlung der durch den Prü‑ fungsfall aufgeworfenen Rechtsfragen verstanden wird, da ein solches im Vorbereitungsdienst gerade nicht gefordert wird. Bei dieser Auslegung stellt sich auch in Thüringen die Erste juristische (Staats‑)Prüfung als „Verständ‑ nisprüfung“ mit den daraus zu ziehenden Folgerungen dar, welche in Hessen im Übrigen auch ausdrücklich als solche charakterisiert wird664. Zusammengefasst müssen – wie es in § 11 Abs. 1 Satz 1 JAG Saarland treffend formuliert wird – die Aufsichtsarbeiten dem Prüfling damit Gele‑ genheit geben, auf dem Gebiet der Prüfungsfächer sein Wissen, sein Ver‑ ständnis und seine methodischen Kenntnisse schriftlich darzutun665. Da sich diese Anforderungen bereits aus dem Charakter der Ersten juristischen (Staats‑)Prüfung als Verständnisprüfung ergeben, gelten sie in allen Bundes‑ ländern. Ihnen wird am besten dadurch genügt, dass ein – wie dies partiell ausdrücklich gesetzlich normiert ist – in tatsächlicher666 (und rechtlicher) Hinsicht einfacher Fall667 mit dem Auftrag zur rechtswissenschaftlichen Be‑ gutachtung ausgegeben wird668. Da der Umgang mit streitigen – sich aus Aktenstücken ergebenden – Sachverhalten zum prägenden Merkmal der Re‑ 662 Vgl. zum Vorhergehenden OVG Lüneburg, Bes. v. 07.05.2007 – 2 LA 410/05, juris, Rn. 13; siehe auch Schmidt-Räntsch, DRiG, Anhang zu § 5d, Rn. 90; Herzberg, JuS 1988, 239 (240); und die ausdrückliche Regelung in § 16 Abs. 2 JAPrVO LSA, wonach die Fälle Gelegenheit geben müssen, die Fähigkeit zur Erör‑ terung von Rechtsfragen darzutun; ebenso § 19 Abs. 2 NJAVO. 663 Siehe § 1 Abs. 1 Satz 2 ThürJAPO; § 6 Abs. 2 Satz 2 HessJAG. 664 Siehe § 6 Abs. 2 Satz 1 HessJAG. 665 Vgl. zu diesem Erfordernis auch nochmals OVG Lüneburg, Bes. v. 07.05.2007 – 2 LA 410/05, juris, Rn. 13. 666 Siehe § 11 Abs. 3 JAVO S.-H. 667 Siehe § 19 Abs. 2 NJAVO; zur Auslegung der Bestimmung, wonach die Auf‑ gaben in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht einfach liegen sollen, siehe OVG Lüneburg, Bes. v. 07.05.2007 – 2 LA 410/05, juris, Rn. 13 f.; § 6 Abs. 3 Satz 2 JAPO RLP. 668 Vgl. § 5 Abs. 2 JAO Saarland. Zweifelhaft in diesem Zusammenhang die Auffassung von Schmidt-Räntsch, DRiG, Anhang zu § 5d, Rn. 89, nach der die Auf‑ gabe nicht notwendig in einer Falllösung bestehen müsse, da bei einer anderen
294 Kap. 6: Möglichkeiten (gerichtlicher) Kontrolle der Prüfungsentscheidung
ferendarausbildung gehört669 und die universitäre Ausbildung auf den Um‑ gang mit feststehenden Sachverhalten ausgerichtet ist, wird man auch nur solche in der Ersten juristischen (Staats‑)Prüfung stellen dürfen670. Vereinzelt enthalten die Landesjuristenausbildungsgesetze bzw. -ordnungen Regelungen dahin, wonach die Aufsichtsarbeiten bzw. die Prüfungen Fragestellungen der rechtsberatenden oder rechtsgestaltenden Praxis enthalten können671 bzw. sollen672. Konkrete Vorgaben ergeben sich aus solchen Rechtsnormen mit Programmcharakter für die Gestaltung der Prüfungsaufgaben nicht. Anders ist dies, wenn die Mindestzahl der Aufsichtsarbeiten mit rechtsberatenden oder rechtsgestaltenden Fragen verbindlich vorgegeben wird673. Solche Re‑ gelungen erscheinen insbesondere im Hinblick auf das entsprechende Be‑ rücksichtigungsgebot in § 5d Abs. 1 Satz 1 DRiG solange unbedenklich, wie zu der Bewältigung solcher Aufgaben keine Fähigkeiten im Sinne praktischer Erfahrungen erforderlich sind, die im Laufe der Ausbildung nicht vermittelt werden674. Andererseits wird man § 5d Abs. 1 Satz 1 DRiG für die Erste juristische (Staats‑)Prüfung nicht das Postulat entnehmen können, dass Auf‑ gaben aus der jeweils unterschiedlichen Perspektive der verwaltenden, rechtsberatenden etc. Praxis gestellt werden müssen675, da das Berücksichti‑ gungsgebot offen ist für unterschiedliche Lösungen676. Dies gilt im Prinzip auch für die Auswahl der Prüfungsaufgaben in der Zweiten juristischen Staatsprüfung, die aber durch deren – ggf. näher be‑ stimmten – allgemeinen Zweck und / oder weitere gesetzliche Vorgaben im Ergebnis im Sinne des obigen Postulats determiniert werden. Im Einzelnen gilt Folgendes: Nach § 5d Abs. 3 Satz 2 DRiG beziehen sich die schriftli‑ Aufgabenstellung kaum die methodischen Kenntnisse überprüft werden könnten. Ausdrücklich eine Falllösung fordernd daher auch § 16 Abs. 2 JAPrVO LSA. 669 So zutreffend Schmidt-Räntsch, DRiG, Anhang zu § 5d, Rn. 89. 670 So zutreffend Schmidt-Räntsch, DRiG, Anhang zu § 5d, Rn. 89 und Rn. 97; ebenso in Bezug auf § 19 Abs. 2 NJAVO („tatsächlich einfacher Fall“) OVG Nie‑ dersachsen, Bes. v. 07.05.2007 – 2 LA 410/05, juris, Rn. 14. 671 § 15 Abs. 2 Satz 2 JAG HH. 672 § 18 II 2 JAPG Bremen; § 7 Abs. 2 Satz 4 JAG Berlin/Bbg. 673 So § 28 Abs. 2 Satz 4 JAPO Bayern. 674 Vgl. insoweit auch VG München, Urt. v. 23.05.2006 – M 4 K 05.2586, juris, Rn. 60, dazu, dass in der Ersten juristischen (Staats-)Prüfung in einer Anwaltsklau‑ sur kein Bearbeitungsniveau verlangt werden dürfe, das (erst) von einem Rechtsan‑ walt in der beruflichen Praxis erwartet werde. Dieser zutreffende Hinweis lässt sich grundsätzlich verallgemeinern in dem Sinne, dass keine Kenntnisse und Fähigkeiten gefordert werden dürfen, die erst im Rahmen der Referendarausbildung erlernt bzw. vorausgesetzt werden. 675 So aber Schmidt-Räntsch, DRiG, Anhang zu § 5d, Rn. 89. 676 Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 393, in Bezug auf die gebotene Umsetzung der Schlüsselqualifikationen.
C. Die Erhebung formeller und materieller Bewertungsrügen295
chen Leistungen mindestens auf die Ausbildung in den Pflichtstationen, die nach § 5b Abs. 2 Nr. 1–4 DRiG bei einem Gericht in Zivilsachen (Zivilsta‑ tion), einer Staatsanwaltschaft oder einem Gericht in Strafsachen (Strafsta‑ tion), einer Verwaltungsbehörde (Verwaltungsstation) und einem Rechtsan‑ walt (Rechtsanwaltsstation) abzuleisten sind. Bereits daraus folgt, dass bei mindestens vier der nach dem jeweiligen Landesrecht in unterschiedlicher Anzahl zu erbringenden Klausurleistungen die Bearbeitungsperspektive fest‑ gelegt ist und diese jeweils einer der vorgenannten Ausbildungsstellen ent‑ sprechen muss677. Diese Notwendigkeit hat vereinzelt eine ausdrückliche landesgesetzliche Regelung erfahren678, die im Hinblick auf die Vorgaben in § 5d Abs. 3 Satz 2 DRiG nach hier vertretener Auffassung aber nur dekla‑ ratorischen Charakter hat und sich im Übrigen auch bereits aus dem Ziel des Vorbereitungsdienstes und dem Zweck der Zweiten juristischen Staats‑ prüfung ableiten lässt, insbesondere soweit die Landesjuristenausbildungs‑ gesetze bzw. -ordnungen diesbezügliche Konkretisierungen beinhalten. In Abweichung zur Beschreibung des Ziels des juristischen Studiums und des Zwecks der Ersten juristischen (Staats‑)Prüfung sind hier aber entsprechen‑ de Regelungen nicht durchweg erfolgt. Soweit solche vorhanden sind, lässt sich trotz erheblicher Divergenzen in der (Ausführlichkeit der) jeweiligen Beschreibung als Ausbildungsziel zusammenfassend die übereinstimmende Kernaussage extrahieren, dass der Vorbereitungsdienst mit den Aufgaben der rechtspflegenden und der Verwaltungspraxis vertraut machen679 und am Ende desselben die Fähigkeit erworben sein soll, mindestens in den durch die Ausbildung in den Pflichtstationen abgedeckten Bereichen eigenverant‑ wortlich und selbstständig tätig zu sein680. Dementsprechend dient die Zweite juristische Staatsprüfung der Überprüfung, ob dieses Ziel der Aus‑ bildung erreicht worden ist681. Verlässliche Aussagen über die Fähigkeit der Kandidaten zur eigenverantwortlichen und selbstständigen Tätigkeit in den durch die Pflichtstationen abgedeckten Bereichen lassen sich aber nur ge‑ winnen, wenn die Klausuren hier auf den jeweiligen Tätigkeitsbereich ab‑ gestimmt sind. Defizite in der Prüfungspraxis lassen sich diesbezüglich 677 So wohl auch Schmidt-Räntsch, DRiG, § 5d Rn. 32 und Anhang zu § 5d Rn. 89. 678 Siehe § 47 Abs. 3 Nr. 1–4 JAPrVO LSA; § 37 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1–4 NJAVO. 679 Vgl. § 13 Abs. 1 Satz 1 JAG Berlin/Brandenburg; § 33 Abs. 1 Satz 1 Sächs‑ JAPO; § 6 Abs. 1 NJAG; § 23 Abs. 1 Satz 1 JAG Saarland; § 28 Abs. 1 Satz 1 JAG Hessen; § 44 Abs. 1 Satz 1 JAPO Bayern; § 39 Abs. 1 Satz 1 JAG NRW. 680 Vgl. § 13 Abs. 1 Satz 4, 7 JAG Berlin/Brandenburg; § 33 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 Satz 1 SächsJAPO; § 23 Abs. 2 Satz 1 JAG Saarland; § 28 Abs. 2 Satz 2 JAG Hessen; § 44 Abs. 1 Satz 2 JAPO Bayern; § 39 Abs. 1 Satz 2 JAG NRW. 681 Vgl. § 1 Abs. 3 Satz 2 JAG LSA; § 4 Abs. 1 Satz 2 JAG M-V; § 1 Abs. 4 Satz 2 Saarland; § 45 Abs. 1 JAG Hessen; § 47 Satz 1 JAG NRW; § 7 Abs. 1 JAG RLP; § 57 Abs. 2 JAPO Bayern; § 4 Abs. 1 LÜ HH, HB, S.-H.
296 Kap. 6: Möglichkeiten (gerichtlicher) Kontrolle der Prüfungsentscheidung
ausmachen, soweit nicht durchweg in den Bundesländern eine Klausur aus behördlicher Sicht gestellt wird, sondern im öffentlich-rechtlichen Bereich neben einer Anwaltsklausur meist eine solche aus gerichtlicher Perspektive anzufertigen ist, obwohl eine Station beim Verwaltungsgericht nur fakultativ und nicht obligatorisch ist. Wie bei der Ersten juristischen (Staats‑)Prüfung lassen sich auch für die Zweite juristische Staatsprüfung aus Ausbildungsziel und Prüfungszweck weitere Maßgaben für die Art der Aufgabenstellung gewinnen. Wenn die Kandidaten im Rahmen der Zweiten juristischen Staatsprüfung entsprechend dem Ziel des Vorbereitungsdienstes ihre Befähigung zum praktischen Arbei‑ ten nachweisen sollen, dann müssen die Prüfungsaufgaben – wie dies teils gesetzlich ausdrücklich geregelt ist – auch praktische Fälle aus dem Rechts‑ leben zum Gegenstand haben682 und der Entwurf der in der jeweiligen Verfahrenssituation erforderlichen Entscheidung oder Entschließung ge fordert werden683. Mit anderen Worten verbietet der Prüfungszweck eine rein theoretische Aufgabenstellung684. Das Erfordernis eines praktischen Rechtsfalles schließt im Übrigen die Notwendigkeit ein, dass die rechtlich zu würdigenden Sachverhalte entsprechend der Rechtspraxis namentlich im Zivilrecht jedenfalls teilweise streitig ausgestaltet sind685. Da in der Rechts praxis weniger die rechtswissenschaftliche Durchdringung eines Rechtspro‑ blems bzw. die Behandlung einer Rechtsfrage gefragt ist, sondern es ent‑ scheidend vielmehr darauf ankommt, in den jeweils üblichen Formen eine nachvollziehbar begründete Entscheidung zu treffen, lässt sich aus Ausbil‑ dungsziel und Prüfungszweck das Postulat ableiten, dass die jeweilige Aufgabenstellung primär den diesbezüglichen Nachweis ermöglichen muss, welches positiv-rechtlich auch in einigen Prüfungsordnungen zum Ausdruck kommt686. Für die mündlichen Prüfungen gelten die vorgenannten Anforderungen entsprechend, wobei hinsichtlich der Ersten juristischen (Staats‑) Prüfung zunächst darauf hinzuweisen ist, dass deren Charakter als reine Verständnis‑ prüfung teils ausdrücklich gesetzlich geregelt ist687, konkretisierende Be‑ 682 Ausdrücklich insoweit § 62 Abs. 2 JAPO Bayern; § 47 Abs. 2 SächsJAPO; § 48 Abs. 2 HessJAG; § 46 Abs. 2 SächsJAPO. 683 So ausdrücklich § 8 Abs. 3 Satz 3 LÜ HH, HB, S.-H.; § 33 Abs. 2 Satz 2 JAO S.-H. 684 Schmidt-Räntsch, DRiG, Anhang zu § 5d, Rn. 89. 685 Vgl. Schmidt-Räntsch, DRiG, Anhang zu § 5d, Rn. 89. 686 Vgl. § 4 Abs. 2 LÜ HH, HB, S.-H.; § 47 Abs. 1 ThürJAPO; § 48 Abs. 3 HessJAG; § 27 Abs. 1 Satz 1 JAG Saarland; § 42 Abs. 1 SächsJAPO. 687 Vgl. § 20 Abs. 1 Satz 1 JAG HH; § 18 Abs. 2 Satz 3 JAVO S.-H.; § 26 Abs. 1 Satz 2 SächsJAPO; § 32 Abs. Satz 2 JAPO Bayern. In etwas verklausulierter Form kommt dies bei verfassungskonformer Auslegung der geforderten wissen‑
C. Die Erhebung formeller und materieller Bewertungsrügen297
stimmungen hinsichtlich der Art der gebotenen Prüfungsaufgabe insoweit aber – abgesehen von dem in vielen Bundesländern mittlerweile vorgesehe‑ nen Aktenvortrag688, mit dem die Schlüsselqualifikationen des Prüflings689 bzw. dessen Fähigkeit zur mündlichen Darstellung und Diskussion von (Rechts‑)Fragen überprüft werden sollen690 – völlig fehlen. Aus den Beson‑ derheiten der mündlichen gegenüber der schriftlichen und dem allgemeinen Zweck der Prüfung lassen sich aber folgende Maßgaben ableiten691: Auch im Rahmen der mündlichen (Verständnis‑)Prüfung erscheinen Falllösungen am besten geeignet, um die für das (Rechts‑) Verständnis erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten der Kandidaten zu ermitteln und ihnen hinrei‑ chend Möglichkeit zu deren Entfaltung zu geben. Allerdings müssen die Sachverhalte deutlich knapper ausfallen als bei der schriftlichen Prüfung, weil ansonsten zu viel Zeit für die Erfassung derselben beansprucht wird und von der eigentlichen Prüfungszeit abgeht692. Dieser Aspekt mag auf der anderen Seite dafür sprechen, auch abstrakte Einzelfragen an die Prüflinge zu richten, mit denen deren Verständnis der Methodik und Dogmatik eines Rechtsgebietes bei entsprechender Fragestellung ebenfalls erfasst werden kann. Für die Zweite juristische Staatsprüfung gilt das Erfordernis eines prakti‑ schen Rechtsfalles insbesondere für den zu haltenden Aktenvortrag693. Auch die Prüfungsfragen in den übrigen Prüfungsabschnitten müssen einer typi‑ schen Bearbeitungssituation aus der Rechtspraxis entsprechen. Wie bei der Ersten juristischen (Staats‑)Prüfung gilt auch hier, dass der Lebenssachver‑ halt nicht zu komplex sein darf, was insbesondere für die ggf. streitigen Tatsachen gilt. Im Übrigen besteht die wesentliche Herausforderung bei der Durchfüh‑ rung der mündlichen Prüfung in beiden (Staats‑)Prüfungen in der angemes‑ senen Verteilung der Prüfungsfragen unter den Prüfungskandidaten in schaftlichen Denkweise – siehe insoweit die Ausführungen oben im Text – auch in § 14 Abs. 1 JAG Hessen sowie in § 23 Abs. 1 ThürJAPO zum Ausdruck. 688 Siehe etwa § 26 Abs. 1 SächsJAPO a. F. (Schlüsselqualifikationsvortrag), der nach § 26 Abs. 1, 2 SächsJAPO n. F. aber schon wieder abgeschafft worden ist; siehe hierzu die Übergangsvorschrift in § 69 Abs. 3 SächsJAPO. Vorgesehen ist die‑ ser aber nach wie vor etwa nach § 3 Abs. 1 Satz 2 NJAG; § 20 Abs. 1 Satz 3 HmbJAG; § 21 Abs. 1 Satz 2 JAPrVO LSA. 689 So § 20 Abs. 2 JAG HH. 690 So § 9 Abs. 2 JAO Berlin/Bbg. 691 Siehe zu den geeigneten bzw. zweckmäßigen Prüfungsfragen im Rahmen der mündlichen Prüfung insgesamt die Überlegungen von Schmidt-Räntsch, DRiG, An‑ hang zu § 5d, Rn. 93 ff. 692 Schmidt-Räntsch, DRiG, Anhang zu § 5d, Rn. 94. 693 Schmidt-Räntsch, DRiG, Anhang zu § 5d, Rn. 97.
298 Kap. 6: Möglichkeiten (gerichtlicher) Kontrolle der Prüfungsentscheidung
quantitativer und vor allem auch qualitativer Hinsicht. In quantitativer Hinsicht ist auf eine weitgehende Einhaltung der in der Prüfungsordnung jeweils vorgesehenen Prüfungszeit694 zu achten, während in qualitativer Hinsicht insbesondere der Grundsatz der Chancengleichheit aller Prüfungs‑ teilnehmer zu wahren ist695. Zulässiger Prüfungsstoff Nach dieser ausführlichen Darstellung der aus den rudimentären gesetzli‑ chen Vorgaben ableitbaren Vorgaben für die Bestimmung der Art der Prü‑ fungsaufgabe kann die Darstellung und Erläuterung des gesetzlichen Rah‑ mens für die zulässigen Prüfungsgegenstände im Rahmen der Ersten und Zweiten juristischen (Staats‑)Prüfung kürzer ausfallen, da die Landesjuris‑ tenausbildungsgesetze und / oder -ordnungen diesbezüglich insbesondere hinsichtlich der staatlichen Pflichtfachprüfungen weitgehend sehr konkrete Regelungen enthalten. Deren Systematik lässt sich dahin zusammenfassen, dass der zulässige Prüfungsstoff zunächst auf den Inhalt der Pflichtfächer begrenzt696 und 694 Dass die in der Prüfungsordnung enthaltenen Zeitvorgaben für die Dauer des auf den einzelnen Prüfling entfallenden Prüfungsgesprächs nicht minutengenau ein‑ gehalten werden können, ist bei einer verbindlich vorgegebenen Zeitdauer von etwa 48 Minuten (§ 49 Abs. 2 Satz 2 SächsJAPO) evident. Sinnvoller als solche offen‑ kundig unerfüllbaren Vorgaben sind daher Prüfungsbestimmungen, die nur eine Sollprüfungszeit vorschreiben (so etwa § 50 Abs. 3 Satz 2 JAPO M-V; siehe inso‑ weit auch Schnellenbach, in: Hartmer/Detmer, HSchR, Kapitel XII, Rn. 30), und damit von vornherein gewisse Ungleichgewichte im Übrigen auch im Interesse des jeweiligen Prüflings legitimieren. Siehe zur (Un-)Erheblichkeit von Über- und Un‑ terschreitungen die Darstellung von Zimmerling/Brehm, Prüfungsrecht, Rn. 337 m.w.N; Schnellenbach, aaO. 695 Vgl. allgemein zur gebotenen Wahrung der Chancengleichheit der Kandida‑ ten bei der Verteilung der Prüfungsfragen Schmidt-Räntsch, DRiG, Anhang zu § 5d, Rn. 92. Siehe dazu, dass aber gewisse Unterschiede hinsichtlich der auf den einzel‑ nen Kandidaten entfallenden Prüfungszeit sowie der Anzahl der Fragen und ihres Schwierigkeitsgrades der mündlichen Prüfung immanent sind und nicht sogleich einen Verstoß gegen den Grundsatz der Chancengleichheit begründen: OVG Müns‑ ter, Urt. v. 04.12.1991 – 22 A 1090/90, NVwZ 1992, 694 (695). Zustimmend und diese Entscheidung referierend auch Zimmerling/Brehm, Prüfungsrecht, Rn. 359. Siehe für die Steuerberaterprüfung und zum „prüfungsspezifischen Ermessensspiel‑ raum“ des Prüfers bei der Gestaltung der Fragerunde: FG Köln, Urt. v. 07.12.2011 – 2 K 1434/09, EFG 2012, 1603 (1608). Richtigerweise kann erst bei einer deutlichen „Schieflage“ hinsichtlich der Verteilung der Prüfungsfragen ein Verstoß gegen den Chancengleichheitsgrundsatz angenommen werden, siehe OVG Münster, Urt. v. 04.12.1991 – 22 A 1090/90, NVwZ 1992, 694 (695). 696 § 12 Abs. 2 Satz 2 JAG HH; § 15 Abs. 1 Satz 1 JAPG Bremen; § 3 Abs. 1 Satz 1 JAVO S-H.; § 3 Abs. 1 JAO Berlin/Bbg.; § 14 Abs. 1 Satz 1 SächsJAPO; § 3
C. Die Erhebung formeller und materieller Bewertungsrügen299
dieser überwiegend durch einen detaillierten Stoffkatalog697 oder seltener durch eine nur allgemeine Beschreibung desselben698 näher konkretisiert wird699. Ferner enthalten die Prüfungsordnungen fast durchgängig die Be‑ stimmung, dass andere Rechtsgebiete als die Pflichtfächer im Zusammen‑ hang mit diesen (nur) dann zum Gegenstand der Prüfung gemacht werden dürfen, soweit lediglich Verständnis und Arbeitsmethode festgestellt wer‑ den soll und Einzelwissen nicht vorausgesetzt wird700. Soweit es – wie in Hessen – ausnahmsweise an einer solchen Regelung fehlt, lässt sich die Begrenzung des Prüfungsstoffes im vorstehenden Sinne hier wie auch in den übrigen Bundesländern (auch) aus dem allgemeinen Ziel des rechts‑ wissenschaftlichen Studiums und dem entsprechenden Zweck der Prüfung ableiten, der wie dargestellt in erster Linie auf die Feststellung des (Rechts‑) Verständnisses der Kandidaten gerichtet ist. Konkret bedeutet dies, dass die Abprüfung von jenseits des Pflichtfachstoffes liegenden Rechtsgebieten nur dann zulässig ist, wenn der Kandidat den durchschnitt‑ lichen Prüfungsanforderungen in diesem Bereich ohne gezielte Examens‑ vorbereitung aufgrund der anerkannten Methoden der Rechtsfindung infol‑ ge von Transferleistungen der Kenntnis benannter Prüfungsgebiete gerecht werden kann701. Fraglich und neuerdings umstritten ist, ob es zur Gewährleistung gleicher und fairer Prüfungschancen erforderlich ist, im Falle der Überschreitung des Pflichtfachstoffes Lösungshilfen in die Prüfungsaufgabe einzubauen, indem etwa die Rechtsprobleme des Falles bereits im Vortrag der Beteiligten an‑ Abs. 2 Satz 1 NJAG; § 14 Abs. 1 ThürJAPO; § 11 Abs. 1 Satz 2 JAPO M-V; § 8 Abs. 1 Satz 1 JAG Saarland; § 7 Satz 1 JAG Hessen; § 11 Abs. 1 Satz 1 JAG NRW; § 1 Abs. 1 Satz 1 JAPO RLP; § 8 Abs. 1 JAPrO Ba.-Wü.; § 18 Abs. 1 Satz 1 JAPO Bayern. 697 § 12 Abs. 1 JAG HH i. V. m. § 1 Prüfungsgegenständeverordnung (PrüfGVO) vom 23.12.2003, zuletzt geändert am 18.12.2007 (HmbGVBl. S. 468); § 15 Abs. 1 JAPG Bremen; § 3 JAVO S.-H.; § 3 JAO Berlin/Bbg.; § 14 Abs. 3 SächsJAPO; § 14 Abs. 2 JAPrVO LSA; § 16 JAO Nds.; § 11 Abs. 2 JAPO M-V; § 7 JAG Hessen; § 11 Abs. 2 JAG NRW; § 1 Abs. 2 i. V. m. Anlage zur JAPO RLP; § 8 Abs. 2 JAPrO Ba.-Wü.; § 18 Abs. 2 JAPO Bayern. 698 § 14 Abs. 2 ThürJAPO; § 8 Abs. 2 JAG Saarland. 699 Siehe zu diesen Möglichkeiten der gesetzlichen Vorgabe des zulässigen Prü‑ fungsstoffes auch Haase, in: Johlen/Oerder, MAH VerwR, § 16, Rn. 91. 700 § 12 Abs. 3 JAG HH; § 5 Abs. 2 Satz 2 JAPG Bremen; § 3 Abs. 1 Satz 2 JAVO S.-H.; § 3 Abs. 3 JAO Berlin/Brandenburg; § 14 Abs. 5 SächsJAPO; § 13 Abs. 2 JAPrVO LSA; § 16 Abs. 4 JAO Nds.; § 14 Abs. 1 Satz 2 ThürJAPO; § 11 Abs. 5 JAPO M-V; § 8 Abs. 1 JAG Saarland; § 11 Abs. 1 Satz 2 JAG NRW; § 1 Abs. 1 Satz 2 JAPO RLP; § 8 Abs. 5 JAPrO Ba.-Wü.; § 18 Abs. 1 Satz 2 JAPO Bayern. 701 VGH Mannheim, Urt. v. 08.03.1989 – 9 S 3264/88, NVwZ-RR 1989, 482 (483); VG Sigmaringen, Bes. v. 02.03.2006 – 8 K 2294/05, juris, Rn. 33.
300 Kap. 6: Möglichkeiten (gerichtlicher) Kontrolle der Prüfungsentscheidung
gerissen werden702. Dies hat seitjeher insbesondere der VGH Mannheim gefordert703, während jüngst das VG Schwerin den Rechtsstandpunkt einge‑ nommen hat, dass es vom jeweiligen Einzelfall abhinge, ob solche Lösungs‑ hinweise erforderlich seien oder nicht704. Diese Sichtweise erscheint zwar im Ansatz zutreffend, tatsächlich dürfte aber regelmäßig eine Lösungshilfe erforderlich sein, um Irritationen der Prüflinge und eine damit einhergehen‑ de Verkürzung der Bearbeitungszeit, die mit dem Grundsatz der Chancen‑ gleichheit unvereinbar wäre, auszuschließen705. Schließlich wird eine Eingrenzung des zulässigen Prüfungsstoffes dadurch erreicht, dass in allen Bundesländern einige der als Prüfungsstoff benannten (Teil‑)Rechtsgebiete nur „im Überblick“ geprüft werden dürfen bzw. nur die Kenntnis von deren „Grundzügen“ vorausgesetzt werden darf. In diesem Fall können – wie sich dies den fast ausnahmslos vorzufindenden Legalde‑ finitionen der vorgenannten unbestimmten Rechtsbegriffe706 entweder aus‑ drücklich707 oder jedenfalls im Wege des Umkehrschlusses entnehmen lässt708 – keine Detailkenntnisse des (Teil‑)Rechtsgebietes verlangt werden. 702 Siehe zu den Möglichkeiten von Lösungshinweisen VGH Mannheim, Urt. v. 08.03.1989 – 9 S 3264/88, NVwZ-RR 1989, 482 (483). 703 VGH Mannheim, Urt. v. 11.12.1985 – 9 S 2823/85, juris, Urt. v. 08.03.1989 – 9 S 3264/88, NVwZ-RR 1989, 482 (483); VG Sigmaringen, Urt. v. 08.03.2006 – 8 K 2294/05, juris, Rn. 33; siehe auch VG Dresden, Urt. v. 22.03.2012 – 5 K 1327/10, juris, Rn. 43. 704 VG Schwerin, Urt. v. 03.07.2012 – 3 A 492/07, juris, Rn. 81. 705 Vgl. in diesem Kontext auch Haase, in: Johlen/Oerder, MAH VerwR, § 16, Rn. 96, bezüglich des erforderlichen Maßes der Verunsicherung auf Seiten des Prüf‑ lings für die erforderliche Kausalität des Prüfungsstoffmangels. 706 Siehe insoweit hinsichtlich des überwiegend verwandten Terminus „im Über‑ blick“ die im Kern gleichlautenden Definitionen in § 3 Satz 1 PrüfGVO HH; § 5 Abs. 2 Satz 1 JAPG Bremen; § 3 Abs. 6 JAVO S.-H.; § 3 Abs. 2 Satz 2 JAO Berlin/ Bbg.; § 14 Abs. 3 Satz 1 JAPrVO LSA; § 7 S. 2 Hs. 2 JAG Hessen; § 11 Abs. 4 JAG NRW; § 1 Abs. 1 Satz 2 JAPO RLP; für die ebenfalls im Wesentlichen gleich‑ lautenden Definitionen der „Grundzüge“ siehe § 14 Abs. 4 SächsJAPO; § 14 Abs. 3 Satz 3 JAPrVO LSA; § 13 Abs. 4 Satz 1 JAO M-V; § 18 Abs. 1 Satz 3 JAPO Bayern; § 7 Satz 2 JAG Hessen. 707 § 3 Satz 1 PrüfGVO HH: „ohne Einzelwissen“; dito § 5 Abs. 2 Satz 1 JAPG Bremen; § 3 Abs. 6 JAVO S.-H.: „ohne Einzelheiten aus Rechtsprechung und Lite‑ ratur“; ebenso § 1 Abs. 1 Satz 2 JAPO RLP; § 14 Abs. 3 Satz 1 JAPrVO LSA: „ohne Detailwissen“; § 11 Abs. 4 JAG NRW: „ohne vertieftes Wissen der Rechtspre‑ chung und Literatur“; § 13 Satz 2 JAO M-V: „keine Detailkenntnisse“. 708 So in Berlin und Brandenburg (§ 3 Abs. 2 Satz 2 JAO Berlin/Bbg.): „Ver‑ ständnis der gesetzlichen Systematik und Kenntnis über Sinn und Inhalt der wesent‑ lichen Vorschriften und Rechtsinstitute“ sowie in Hessen (§ 7 Satz 2 Hs. 2 Hess‑ JAG): „Kenntnis der gesetzlichen Strukturen“; siehe auch die die Grundzüge betref‑ fenden Regelungen in Sachsen (§ 14 Abs. 4 SächsJAPO), Sachsen-Anhalt (§ 14 Abs. 3 JAPrVO LSA) und Hessen (§ 7 Satz 2 HessJAG).
C. Die Erhebung formeller und materieller Bewertungsrügen301
Positiv formuliert lassen sich die gesetzlichen Begriffsbestimmungen dahin zusammenfassen, dass im Kern nur die Kenntnis der Systematik und der wichtigsten Rechtsfiguren ohne Einzelwissen709 und damit wenig mehr als bloßes Rechtsverständnis verlangt wird710. Für den Fall des Fehlens einer Legaldefinition der „Grundzüge“ hat die Rechtsprechung diesen Rechtsbe‑ griff zunächst dahin beschrieben, dass einerseits die allgemeinen Grundla‑ gen dieses Sachgebietes, andererseits aber auch einzelne Fragenkreise im Überblick geprüft werden können, die nach dem Inhalt und der Häufigkeit, mit der sie sich stellen, von erheblicher Bedeutung sind711. Das OVG Baut‑ zen hat später hinzugefügt, dass mit der Beschränkung auf die Grundzüge auch der Schwierigkeitsgrad in dem Sinne begrenzt werde, dass die gestell‑ te Aufgabe ausgehend vom Zweck der Ersten juristischen (Staats‑)Prüfung allein durch die Anwendung der rechtswissenschaftlichen Methodik anhand der Normtexte ohne vertiefte Kenntnisse von Rechtsprechung und Literatur lösbar sein müsse712. Damit entsprechen die Begriffsbestimmungen in der Rechtsprechung weitgehend und vor allen Dingen im Kern den Legaldefi‑ nitionen des Begriffs der „Grundzüge“ bzw. deren hier erfolgter Zusammen‑ fassung, die im Übrigen auch zur Konturierung des Terminus „im Über‑ blick“ herangezogen werden können713, auch wenn einige wenige Prüfungs‑ ordnungen marginale Unterschiede zwischen diesen konstruieren714. Gehen die Prüfungsanforderungen, die sich auf der Grundlage der gestell‑ ten Prüfungsaufgabe bei objektiver Betrachtung ergeben, über die „Grund‑ züge eines Rechtsgebietes“ hinaus, bzw. werden mehr als nur Überblicks‑ kenntnisse gefordert, dürften wie bei pflichtfachfremden Prüfungsrechtsge‑ bieten regelmäßig in der Prüfungsaufgabe angelegte Lösungshilfen erforder‑ lich sein, um eine Benachteiligung gegenüber Kandidaten, die nur mit reinem Pflichtfachstoff konfrontiert werden, zu vermeiden. Während der zulässige Prüfungsstoff für die staatliche Pflichtfachprü‑ fung – infolge der seit 1992 bundesgesetzlich vorgegebenen Stoffbegren‑ 709 So
men.
ausdrücklich § 3 Satz 1 PrüfGVO HH sowie § 5 Abs. 2 Satz 1 JAG Bre‑
710 In diese Richtung auch OVG Bautzen, Bes. v. 11.09.2001 – 4 BS 156/01, SPE 470 Nr. 75. 711 BVerwG, Urt. v. 16.04.1997 – 6 C 9/95, NJW 1998, 323 (327); VGH Mann‑ heim, Urt. v. 09.05.1995 – 9 S 2341/93, DVBl 1995, 1356 (1357); OVG Bautzen, Bes. v. 11.09.2001 – 4 BS 156/01, SPE 470 Nr. 75. 712 OVG Bautzen, Bes. v. 11.09.2001 – 4 BS 156/01, SPE 470 Nr. 75; siehe zum Begriff der „Grundzüge“ auch Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 390, sowie Zimmerling/Brehm, Prüfungsrecht, Rn. 764. 713 So in der Sache auch VG Sigmaringen, Urt. v. 24.05.2007 – 8 K 911/04, juris, Rn. 79. 714 So § 7 Satz 2 Hs. 1, 2 HessJAG; § 14 Abs. 3 Satz 1, 3 JAPrVO LSA.
302 Kap. 6: Möglichkeiten (gerichtlicher) Kontrolle der Prüfungsentscheidung
zung715 – also detailliert geregelt ist, haben es die Landesgesetzgeber bei der Zweiten juristischen Staatsprüfung teilweise bei den Vorgaben in § 5d Abs. 3 Satz 2 und Satz 4 DRiG belassen, wonach sich die schriftlichen Leistungen mindestens auf die Pflichtstationen und die mündlichen Leistun‑ gen auf die gesamte Ausbildung beziehen. Da es in der Praxis keine Stoff‑ begrenzung gibt, können die Prüfungsaufgaben nur solchen Bereichen nicht entnommen werden, in denen keine (Pflicht‑)Ausbildung erfolgt ist, so dass im Regelfall insbesondere Fälle aus der Finanz-, Sozial- und der Arbeitsge‑ richtsbarkeit716 ausgeschlossen sind. Soweit auch für die Zweite juristische Staatsprüfung eine nähere Regelung des zulässigen Prüfungsstoffes erfolgt ist, ist dies wiederum durch die überwiegende Vorgabe eines Stoffkatalo‑ ges717 und seltener durch eine auslegungsbedürftige allgemeine Beschrei‑ bung718 geschehen. Und auch hier dürfen andere Rechtsgebiete geprüft werden, soweit lediglich Verständnis und Arbeitsmethode gefragt ist und Einzelwissen nicht vorausgesetzt wird719. Zudem dürfen einzelne Fragen aus anderen Rechtgebieten gestellt werden, wenn diese im typischen Zu‑ sammenhang mit dem Prüfungsstoff der Pflichtfächer stehen720. Und soweit die Beschränkung auf die Grundzüge eines Rechtsgebietes nicht ohnehin entfällt721, gelten die (gesetzlichen) Grundsätze für die Auslegung dieses Rechtsbegriffs entsprechend722. Verlässt eine Prüfungsaufgabe ihrer Art nach im Sinne der Prüfungsme‑ thodik oder aufgrund ihres Inhalts im Sinne des (prüfungsrelevanten) Prü‑ fungsstoffes den durch die Prüfungsordnung im vorstehenden Sinne gezoge‑ nen Rahmen, liegt ein Verfahrensmangel vor, der wie jeder andere auch dann beachtlich ist, wenn ein Einfluss desselben auf das Prüfungsergebnis nicht ausgeschlossen werden kann723. Aufgrund dieser den Prüfling begüns‑ hierzu Schmidt-Räntsch, DRiG, § 5d, Rn. 15. in Hessen, da Arbeitsrecht hier ausdrücklich zum Pflichtfach gehört, siehe § 48 Abs. 1 JAG Hessen. 717 § 27 Abs. 2 i. V. m. § 3 Abs. 4 Nr. 1–3 und § 3 Abs. 5 sowie § 27 Abs. 3 JAO Berlin/Brandenburg; § 43 Abs. 2 Satz 1 i. V. m. § 14 Abs. 3 und § 43 Abs. 2 Satz 2 SächsJAPO; § 46 Abs. 2 i. V. m. § 14 ThürJAPO; § 27 Abs. 2 i. V. m. § 8 Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 4–6, § 27 Abs. 2 Satz 3 JAG Saarland; § 51 JAPrO Ba.-Wü; § 58 Abs. 2 JAPO Bayern. 718 § 45 Abs. 2 HessJAG. 719 Vgl. § 46 Abs. 3 Satz 3 ThürJAPO; § 27 Abs. 3 JAG Saarland; § 51 Abs. 4 JAPrO Ba.-Wü.; § 58 Abs. 1 Satz 3 JAPO Bayern. 720 § 58 Abs. 1 Satz 2 JAPO Bayern; § 46 Abs. 2 Satz 2 ThürJAPO. 721 Siehe etwa § 27 Abs. 2 Nr. 2 JAO Berlin/Brandenburg; § 27 Abs. 2 Satz 1 Hs. 2 JAG Saarland. 722 Siehe etwa § 43 Abs. 4 i. V. m. § 14 Abs. 4 SächsJAPO. 723 BVerwGE 78, 55 (58); siehe auch VG Chemnitz, Urt. v. 04.06.2003 – 2 K 581/02, juris, Rn. 78; Haase, in: Johlen/Oerder, MAH VerwR, § 16, Rn. 96. 715 Vgl.
716 Anders
C. Die Erhebung formeller und materieller Bewertungsrügen303
tigenden (Beweislast‑)Regel kann die Kausalität des mit der Stellung einer Prüfungsaufgabe einhergehenden Rechtsverstoßes für das Prüfungsergebnis nur dann verneint werden, wenn eine das Leistungsbild verfälschende Ver‑ unsicherung des Prüflings724 bzw. eine damit einhergehende oder durch die Erfüllung tatsächlich nicht bestehender Prüfungsanforderungen selbstständig begründete (relevante) Verkürzung der Bearbeitungszeit mit Sicherheit aus‑ geschlossen werden kann. Dies kann allenfalls angenommen werden bei Prüfungsstoffmängeln, die unter Berücksichtigung der zulässigerweise be‑ stehenden Prüfungsanforderungen nur eine ganz untergeordnete Bedeutung haben725. Ist nach diesen Maßgaben von der Kausalität des in der Überschreitung der gesetzlichen Vorgaben für die Bestimmung der Art oder die Wahl des Inhalts der Prüfungsaufgabe liegenden Verfahrensmangels für das Prüfungs‑ ergebnis auszugehen, steht damit zugleich die Ungeeignetheit der Prüfungs‑ aufgabe fest. Trifft der Prüfer im Rahmen der Erstellung des Anforderungs‑ profils bzw. der Festlegung der Prüfungsanforderungen eine derartige Fest‑ stellung, darf er die Leistungen der Prüflinge nicht mehr bewerten. Er muss vielmehr die Klausuren unter Hinweis auf seine Feststellungen an das Prüfungsamt zurückgeben726. Positiv formuliert ist daher immer dann von der Geeignetheit der Prü‑ fungsaufgabe auszugehen, wenn sich die aus ihr ergebenden Prüfungsanfor‑ derungen innerhalb des gesetzlich bestimmten Rahmens halten727. Kommt der Prüfer bei der Bewertung (im weiteren Sinne) zu dem Ergebnis, dass die grundsätzlich geeignete Prüfungsaufgabe aufgrund eines zu hohen oder zu leichten Schwierigkeitsgrades unzweckmäßig ist, muss er dies bei der Festlegung der Leistungsanforderungen berücksichtigen728. Mit anderen Worten kann eine Ungeeignetheit der Prüfungsaufgabe nicht aus dem – ob‑ jektiv ja ohnehin nicht bestimmbaren – Schwierigkeitsgrad der Aufgaben‑ stellung abgeleitet werden729. Die durch sie aufgeworfenen Rechtsfragen und -probleme sind – auch wenn man sie als sehr schwierig empfinden mag – wie die in der Praxis auftauchenden immer einer Lösung zugäng‑ 724 Vgl. BVerwGE 78, 55 (58); VG Meiningen, Urt. v. 07.05.1997 – 8 K 116/95. ME, ThürRVGRspr. 1998, 28 (30); Haase, in: Johlen/Oerder, MAH VerwR, § 16, Rn. 96. 725 Vgl. Haase, in: Johlen/Oerder, MAH VerwR, § 16, Rn. 96. 726 HessVGH, Urt. v. 26.05.2010 – 8 A 1595/09, LKRZ 2010, 342 (343). 727 Vgl. VG Schwerin, Urt. v. 03.07.2012 – 3 A 492/07, juris, Rn. 78. 728 HessVGH, Urt. v. 26.05.2010 – 8 A 1595/09, LKRZ 2010, 342 (343); VG Frankfurt, Urt. v. 04.08.2004 – 12 E 5183/02, juris, Rn. 67. 729 Zutreffend VG Frankfurt, Urt. v. 04.08.2004 – 12 E 5183/02, juris, Rn. 67; siehe auch HessVGH, Urt. v. 26.06.2010 – 8 A 1595/09, LKRZ 2010, 342 (343).
304 Kap. 6: Möglichkeiten (gerichtlicher) Kontrolle der Prüfungsentscheidung
lich730. Aufgrund dessen kann auch aus einer hohen und im Vergleich zu anderen Prüfungsaufgaben signifikant höheren Misserfolgsquote nicht auf die Ungeeignetheit der Aufgabenstellung bzw. des Prüfungsstoffes geschlos‑ sen werden731. Das vom Bundesverwaltungsgericht im Zusammenhang mit einer Abitur‑ prüfung benannte Erfordernis der objektiven Lösbarkeit der Prüfungsaufga‑ be als Voraussetzung für deren Geeignetheit732 ist daher für juristische Prüfungen ohne Belang733. Gleiches gilt für das an gleicher Stelle ange‑ brachte Postulat, dass mit der Prüfungsaufgabe nichts fachlich Unmögliches von den Kandidaten verlangt werden dürfe734. Denn mit diesem wird nicht mehr als auf die bereits ausführlich behandelte Notwendigkeit hingewiesen, dass Aufgabenstellung und Prüfungsstoff nicht über den gesetzlich vorgege‑ benen Rahmen hinausgehen dürfen735. bb) Problem der Vorbefassung der Prüflinge mit der Prüfungsaufgabe Fraglich ist, ob eine nach den vorstehenden Kriterien prinzipiell als ge‑ eignet anzusehende Prüfungsaufgabe dann als ungeeignet anzusehen ist, wenn sie allen oder einzelnen Prüflingen vorher bekannt geworden ist, so dass die Lösung bereits vor der Prüfung erarbeitet und in dieser nur repro‑ duziert werden musste. Entgegen Niehues / Fischer / Jeremias ist in diesem Fall nicht von der (tatsächlichen) Ungeeignetheit der Prüfungsaufgabe aus‑ zugehen736. Der Prüfling hat in diesem Fall vielmehr nur die eigentliche Prüfungsleistung – die Lösung der Prüfungsaufgabe mithilfe seiner Rechts‑ kenntnisse und unter Anwendung von rechtswissenschaftlichen Methoden – nicht unter den in der Prüfungsordnung vorgesehenen Bedingungen, nämlich insbesondere unbeaufsichtigt und nicht innerhalb der vorgesehenen Bearbei‑ tungszeit sowie unter Verwendung unzulässiger Hilfsmittel, erbracht. Sofern also den Prüflingen die Prüfungsaufgabe bereits vorher bekannt geworden ist, kann es evident nicht ausgeschlossen werden, dass dieser Umstand zu Schmidt-Räntsch, DRiG, Anhang zu § 5d, Rn. 92. Schleswig, Urt. v. 10.09.2008 – 9 A 107/07, juris, Rn. 52; HessVGH, Urt. v. 26.05.2010 – 8 A 1595/09, LKRZ 2010, 342 (344); siehe auch VG Stuttgart, Urt. v. 12.08.2009 – 12 K 4675/08, juris, Rn. 23. 732 BVerwG, Urt. v. 09.08.1996 – 6 C 3/95, NVwZ-RR 1998, 176 (177). 733 Schmidt-Räntsch, DRiG, Anhang zu § 5d, Rn. 92. 734 BVerwG, Urt. v. 09.08.1996 – 6 C 3/95, NVwZ-RR 1998, 176 (177). 735 Vgl. zutreffend VG Frankfurt, Urt. v. 04.08.2004 – 12 E 5183/02, juris, Rn. 67. 736 So aber Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 381. 730 Vgl. 731 VG
C. Die Erhebung formeller und materieller Bewertungsrügen305
einer Verfälschung des Leistungsbildes geführt hat, so dass es an einer hin‑ reichend verlässlichen bzw. geeigneten Grundlage für die Beurteilung der Kenntnisse und Fähigkeiten des Prüflings und somit dessen wahrer Leis‑ tungsfähigkeit fehlt737. Der gleichwohl erfolgenden Bewertung der so ermit‑ telten Prüfungsleistungen stünde zudem die zu wahrende Chancengleichheit der Prüfungsteilnehmer in anderen Durchgängen entgegen738. Sind Prüfungsaufgaben nur einzelnen Teilnehmern eines Prüfungsdurch‑ gangs bekannt, weil sie eine vergleichbare oder identische bereits im Rah‑ men der Vorbereitung gelöst haben, ohne sich sicher sein zu können, dass diese tatsächlich in der Prüfung gestellt wird, stellt das in diesem Zufall liegende Glück des Prüflings keine Verletzung der Chancengleichheit der anderen Prüfungsteilnehmer dar, denen die Prüfungsaufgabe noch unbekannt war739. Daher stellt es auch grundsätzlich keine Verletzung der Chancen‑ gleichheit dar, wenn das Prüfungsamt bzw. die Prüfer als Prüfungsaufgabe auf bereits veröffentlichte und dementsprechend diskutierte (Prüfungs‑)Fälle zurückgreifen740, zu denen im weiteren Sinne auch solche zählen, bezüglich derer ein Austausch der Prüflinge bereits in entsprechenden Internetforen stattgefunden hat741. Anders ist dieser Sachverhalt jedoch dann zu beurteilen, wenn das Prü‑ fungsamt bzw. der Prüfer zum Zeitpunkt der Ausgabe der Prüfungsaufgabe davon wissen, dass diese einigen Prüflingen bereits bekannt ist742. Solange diese keine sichere Kenntnis davon haben, dass eine Aufgabe später tatsäch‑ lich als Prüfungsaufgabe ausgegeben wird, stellen deren Prüfungsleistungen zwar eine grundsätzlich geeignete Beurteilungsgrundlage dar. Allerdings liegen aufgrund der Tatsache, dass im Regelfall die Lösung einer bereits 737 So auch OVG NRW, Urt. v. 20.11.2012 – 14 A 755/11, NVwZ-RR 2013, 469 (470); Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 381, die in diesem Fall wie das OVG NRW aber fälschlich von der Ungeeignetheit der Prüfungsaufgabe und nicht der Prüfungs‑ bedingungen ausgehen. 738 Vgl. Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 381. 739 BVerwG, Bes. v. 23.03.1994 – 6 72/93, NVwZ-RR 1994, 585 (585); OVG NRW, Urt. v. 20.11.2012 – 14 A 755/11, NVwZ-RR 2013, 469 (470); Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 381. 740 BVerwG, Bes. v. 23.03.1994 – 6 B 72/93, NVwZ-RR 1994, 585 (585); OVG Berlin, Bes. v. 15.05.2003 – 4 S 23/03, NJW 2003, 2256; Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 381. 741 OVG Berlin, Bes. v. 15.05.2003 – 4 S 23/03, NJW 2003, 2256 (2256 f.); die Gewährleistung gleicher Startchancen in diesem Fall bezweifelnd Haase, in: Johlen/ Oerder, MAH VerwR, § 16, Rn. 149 a. 742 BVerwG, Bes. v. 16.01.1984 – 7 B 169/83, NVwZ 1984, 307 (309); OVG Berlin, Bes. v. 15.05.2003 – 4 S 23/03, NJW 2003, 2256 (2256); VG Berlin, Urt. v. 04.07.2008 – 15 A 221.05, juris, Rn. 27; siehe auch OVG NRW, Urt. v. 20.11.2012 – 14 A 755/11, NVwZ-RR 2013, 469 (470).
306 Kap. 6: Möglichkeiten (gerichtlicher) Kontrolle der Prüfungsentscheidung
bekannten Prüfungsaufgabe leichter fällt als diejenige einer noch unbekann‑ ten, ungleiche Wettbewerbsbedingungen vor, deren Hinnahme durch das Prüfungsamt eine Verletzung des Grundsatzes der Chancengleichheit dar‑ stellen würde743. Folglich darf in einem solchen Fall die Prüfungsaufgabe nicht gestellt werden. Erfährt das Prüfungsamt erst später davon, dass diese einzelnen Teilnehmern aufgrund eines ihm zurechenbaren Verhaltens (seiner Mitarbeiter)744 bereits bekannt gewesen ist, dürfen deren bewertete Prü‑ fungsleistungen jedenfalls nicht mehr gewertet werden. Dabei spielt es dann im Übrigen keine Rolle, ob die Prüfungsaufgabe unmittelbar durch Mitar‑ beiter des Prüfungsamtes745 oder durch von diesem eingesetzte Prüfer746 oder mittelbar durch außenstehende Dritte wie etwa Repetitoren747 bekannt gemacht worden ist. c) Vollständige und zutreffende Feststellung der Beurteilungsgrundlage / „Sachverhaltsirrtum“ Gelangt der Prüfer nach der Erfassung der Prüfungsaufgabe zu dem Er‑ gebnis, dass sich diese – gemessen an den vorstehenden Kriterien – hin‑ sichtlich der Art und ihres Inhalts im Rahmen der gesetzlichen Vorgaben hält und auch im Übrigen zur Ermittlung der wahren Kenntnisse und Fähig‑ keiten des Prüflings geeignet und dieses Ziel des Prüfungsverfahrens auch nicht durch andere Mängel beeinträchtigt gewesen ist, kann der oben bereits beschriebene Bewertungsvorgang im weiteren Sinne mit der Feststellung der Beurteilungsgrundlage durch die Erfassung der zutreffend ermittelten Prüfungsleistung fortgesetzt werden748. Da erst im Anschluss daran die Bewertung im engeren Sinne erfolgt, indem die Prüfungsleistung an dem Anforderungsprofil der Klausur und an weiteren (prüfungsspezifischen) Bewertungskriterien gemessen wird749, unterliegt es gemäß den vorstehen‑ 743 Vgl. BVerwG, Bes. v. 16.01.1984 – 7 B 169/83, NVwZ 1984, 307 (309); OVG Berlin, Bes. v. 15.05.2003 – 4 S 23/03, NJW 2003, 2256 (2256); VG Berlin, Urt. v. 04.07.2008 – 15 A 221.05, juris, Rn. 27; siehe auch OVG NRW, Urt. v. 20.11.2012 – 14 A 755/11, NVwZ-RR 2013, 469 (470); Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 652. 744 Siehe zu dieser Voraussetzung OVG NRW, Urt. v. 20.11.2012 – 14 A 755/11, NVwZ-RR 2013, 469 (470). 745 Siehe Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 652 m. Fn. 272. 746 Zu einem solchen Fall BVerwG, Bes. v. 16.01.1984 – 7 B 169/03, NVwZ 1984, 307 (307 f.). 747 Zu einem solchen Fall BVerwG, Bes. v. 23.03.1994 – 6 B 72/93, NVwZ 1994, 585 (585). 748 Siehe zu diesem „weiteren Schritt“ im Zuge des Bewertungsvorgangs auch Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 619. 749 Vgl. BVerwG, Urt. v. 21.10.1993 – 6 C 12/92, ThürVBl. 1994, 156 (157); BVerwGE 70, 143 (146 f.).
C. Die Erhebung formeller und materieller Bewertungsrügen307
den Ausführungen der vollständigen gerichtlichen Überprüfung, ob der Prüfer Prüfungsaufgabe und Prüfungsleistung vollständig und zutreffend erfasst hat750. Dementsprechend ist der sogenannte „Sachverhaltsirrtum“ des Prüfers seit Langem als „klassischer“ Bewertungsfehler des Prüfers anerkannt751. Da die Erfassung des beurteilungsrelevanten Sachverhalts im Sinne der bloßen Lektüre der Prüfungsaufgabe und der Rezeption der Prüfungsleistung insbe‑ sondere nicht mit der Anwendung prüfungsspezifischer Bewertungskriterien einhergeht, sondern dieser Vorgang der Bewertung im engeren Sinne vorge‑ lagert ist752, erscheint es aber zutreffender, beim Vorliegen rechtserheblicher Defizite insoweit von dem Vorliegen eines Verfahrensfehlers auszugehen753. So betrachtet stellt sich das Erfordernis der vollständig und zutreffend er‑ mittelten Beurteilungsgrundlage dann als weitere Voraussetzung für die Eröffnung des Bewertungsspielraums des Prüfers dar. Ungeachtet dieser gebotenen Klarstellung in rechtssystematischer Hin‑ sicht ist in Übereinstimmung mit Rechtsprechung und Lehre davon auszu‑ gehen, dass ein Sachverhaltsirrtum des Prüfers vorliegt, wenn dieser im vorstehenden Sinne von falschen tatsächlichen Umständen ausgeht754. Dabei wird als hauptsächliches Beispiel für einen solchen der Irrtum des Prüfers über die Prüfungsaufgabe genannt755, der wiederum vorliegen soll, wenn der Prüfer diese nicht zur Kenntnis nimmt, Aufgaben verwechselt oder von einer anderen als der tatsächlich gestellten Aufgabe ausgeht756. Dem ist zuzustimmen, soweit der Irrtum des Prüfers über die Prüfungsauf‑ gabe allein aus einer unvollständigen oder unzutreffenden Erfassung des ihr zugrunde liegenden Sachverhalts bzw. des an den Prüfling gerichteten Be‑ 750 BVerwGE 70, 143 (146 f.); falsch ist es daher, wenn etwa das VG Dresden, Urt. v. 04.06.2008 – 5 K 38/08, juris, Rn. 143, die Bewertung „missverständlicher Äußerungen“ des Prüfers im Rahmen der Ermittlung der „inneren Prüfungsleistung“ (siehe insoweit oben Kapitel 6 C. II. 2.) dem Bewertungsspielraum des Prüfers zu‑ weist. 751 BVerwGE 70, 143 (146 f.); BVerwG, Urt. v. 21.10.1993 – 6 C 12/92, ThürV‑ Bl. 1994, 156 (157); OVG Hamburg, Urt. v. 26.11.1990 – Bf III 43/88, juris, Rn. 41; Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 679 m. Fn. 318; Seebass, NVwZ 1985, 521 (527). 752 BVerwG, Urt. v. 21.10.1993 – 6 C 12/92, ThürVBl. 1994, 156 (157); vgl. auch BVerwGE 70, 143 (146 f.). 753 Ebenso BayVGH, Urt. v. 12.09.1990 – 3 B 90.00061, NVwZ 1991, 499 (499); VG Ansbach, Urt. v. 12.11.1998 – AN 2 K 95.02133, juris, Rn. 20. 754 Vgl. BVerwGE 70, 143 (146 f.); BVerwG, Urt. v. 21.10.1993 – 6 C 12/92, ThürVBl. 1994, 156 (157); Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 620; Seebass, NVwZ 1985, 521 (526 f.). 755 BVerwGE 70, 143 (146), Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 620. 756 BVerwGE 70, 143 (145 f.).
308 Kap. 6: Möglichkeiten (gerichtlicher) Kontrolle der Prüfungsentscheidung
arbeitungsauftrags und nicht aus einer fehlerhaften Auslegung derselben im Rahmen der Erstellung des Anforderungsprofils – siehe insoweit die obigen Ausführungen – resultiert. Praktisch wesentlich bedeutsamer als eine in diesem Sinne fehlerhaft er‑ fasste Prüfungsaufgabe ist aber der im vorliegenden Kontext nicht in den Fokus gerückte Fall, dass der Prüfer nach der Prüfungsaufgabe gebotene Ausführungen des Prüflings als fehlend moniert, die sich aber tatsächlich in dessen Prüfungsarbeit befinden, und damit derjenige einer unvollständigen oder unzutreffenden Erfassung der Prüfungsleistung des Prüflings757. Ein solcher prüfungsleistungsbezogener „Sachverhaltsirrtum“ bzw. schlicht eine unvollständige oder unzutreffende Erfassung der Prüfungsleistung beruht dann darauf, dass der Prüfer in tatsächlicher Hinsicht während dieses Vor‑ gangs nicht die notwendige Sorgfalt hat walten lassen oder die oben aufge‑ zeigten rechtlichen Maßstäbe nicht oder nicht hinreichend beachtet hat. Demgemäß bleibt Raum für eine kontroverse Diskussion über das Vorliegen eines Sachverhaltsirrtums nur in denjenigen Fällen, in denen die vom Prüfer übersehenen oder nicht zur Kenntnis genommenen Ausführungen des Prüf‑ lings nicht unstreitig zum Gegenstand der Prüfungsleistung gehören. Hin‑ sichtlich der diesbezüglich denkbaren Streitpunkte und der hier jeweils vertretenen Auffassungen kann auf die obigen Ausführungen zur Ermittlung der Prüfungsleistung verwiesen werden. Im Übrigen ist hier lediglich noch festzuhalten, dass sich die Anerkennung eines Sachverhaltsirrtums des Prü‑ fers für den Prüfling als unproblematisch erweist, wenn der Prüfer unstreitig für die Beurteilung relevante Ausführungen des Prüflings schlicht übersieht oder gar seiner Beurteilung die Leistung eines anderen Prüflings zugrunde gelegt hat758. Steht das Vorliegen eines Sachverhaltsirrtums des Prüfers fest, so kann entsprechend den bisherigen Ausführungen zur Relevanz von (Verfah‑ rens‑) Fehlern im Abwägungsvorgang gleichfalls von dessen im Regelfall gegebener Erheblichkeit für die Gesamtbewertung ausgegangen werden759.
757 Siehe zu diesem OVG Hamburg, Urt. v. 26.11.1990 – Bf III 43/88, juris, Rn. 41; Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 679 m. Fn. 318; BVerwGE 105, 328 (332); BVerwG, Bes. v. 03.01.1985 – 7 ZB 231/84, DVBl 1985, 1082 (1083); BayVGH, Urt. v. 12.09.1990 – 3 B 90.00061, NVwZ 1991, 499 (499); Seebass, NVwZ 1985, 521 (527). 758 Siehe zum letzteren Fall Seebass, NVwZ 1985, 521 (527); BVerwG, Bes. v. 03.01.1985 – 7 B 231/84, DVBl 1985, 1082 (1083). 759 Vgl. BVerwGE 70, 143 (146); BayVGH, Urt. v. 12.09.1990 – 3 B 90.00061, NVwZ 1990, 499 (499); siehe zu den Voraussetzungen einer ausnahmsweise anzu‑ nehmenden Unerheblichkeit VG Ansbach, Urt. v. 12.11.1998 – AN 2 K 95.02133, juris, Rn. 20.
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2. Bisherige Grenzen des Bewertungsspielraums a) Einleitung und Überblick Da die Legitimation des Bewertungsspielraums des Prüfers nach diessei‑ tiger Auffassung allein auf dem Fehlen von Kontrollmaßstäben im Bereich der prüfungsspezifischen Wertungen gründet, anhand derer deren (objektive) Richtigkeit überprüft werden könnte, ließe sich konstruktiv auch erwägen, das Fehlen ebensolcher als (weitere) Voraussetzung für die Eröffnung des Bewertungsspielraums des Prüfers anzusehen. Anders betrachtet könnte – und dies entspricht der bislang üblichen Terminologie – der Bewertungs‑ spielraum des Prüfers als durch die gebotene Beachtung derjenigen (Prü‑ fungs‑) Rechtsvorschriften begrenzt angesehen werden760, aus denen sich materielle Vorgaben für die (prüfungsspezifische) Bewertung ergeben, deren Beachtung gerichtlich kontrollierbar ist. Beiden (Erklärungs‑)Ansätzen ge‑ meinsam ist damit die – im Hinblick auf die in Art. 20 Abs. 3 GG festge‑ schriebene Gesetzesbindung der Verwaltung selbstverständliche – Annahme, dass der Prüfer, der mit dem Leistungsbewertungsakt materiell Verwaltungs‑ tätigkeit ausübt761, im Rahmen des Bewertungsvorgangs diejenigen Krite‑ rien und Maßstäbe anzuwenden hat, die sich aus dem geschriebenen Prü‑ fungsrecht ergeben. Aus dieser übereinstimmenden Annahme resultiert in jedem Fall eine Beschränkung des Bewertungsfreiraums des Prüfers, so dass die Frage, welchem der dogmatischen Ansätze hinsichtlich der Beschrei‑ bung der generellen Wirkung von im Bewertungsvorgang zu beachtenden Rechtsvorschriften der Vorzug zu geben ist, rechtspraktisch auch weniger bedeutsam ist. Im Übrigen hängt die Beantwortung derselben maßgeblich davon ab, welche dirigierende Kraft den normativen Bewertungsvorgaben unter Berücksichtigung des oben ausführlich dargestellten Ablaufs des Be‑ wertungsvorgangs762 überhaupt nur beigemessen werden kann. Insoweit ist daran zu erinnern, dass sich dieser in drei Schritten voll‑ zieht und durch einen Abwägungsprozess763 dergestalt gekennzeichnet ist, 760 So insbesondere die Rechtsprechung, siehe BVerfGE 84, 34 (53); zuletzt BVerwG, Bes. v. 08.03.2012 – 6 B 36.11, NJW 2012, 2054 (2054 f.); OVG Lüne‑ burg, Urt. v. 24.05.2011 – 2 LB 158/10, NordÖR 2012; VG Stuttgart, Urt. v. 12.08.2009 – 12 K 4675/08, juris, Rn. 17; VG Dresden, Urt. v. 04.06.2008 – 5 K 38/08, juris, Rn. 134; Seebass, NVwZ 1985, 521 (526); Sachs, in: Stelkens/Bonk/ Sachs, VwVfG, § 40, Rn. 220 f., mit einer Differenzierung zwischen äußeren und inneren Grenzen des Bewertungsspielraums. 761 Vgl. Guhl, S. 18 f., 21. 762 Siehe Kapitel 6 C. I. 2. b). 763 Siehe dazu, dass sich die Bewertung einer Prüfungsleistung als Abwägungs‑ entscheidung darstellt, insbesondere Kopp/Ramsauer, VwVfG, 12. Auflage, § 40,
310 Kap. 6: Möglichkeiten (gerichtlicher) Kontrolle der Prüfungsentscheidung
dass im Rahmen der teilleistungsorientierten Brauchbarkeitsprüfung zu‑ nächst das Abwägungsmaterial gesammelt, dieses im Zuge der sich an‑ schließenden gesamtleistungsorientierten Brauchbarkeitsprüfung gewichtet und abgewogen und schließlich die so ermittelte Gesamtleistung des Prüf‑ lings einer der nach der Bundesnotenverordnung vorgesehenen Prüfungsno‑ ten zugeordnet wird. Aufgrund der ausführlich dargestellten Eigentümlich‑ keiten des Bewertungsvorgangs erweist sich dieser Abwägungs- bzw. (psy‑ chische) Entscheidungsfindungsprozess764 als dermaßen komplex, dass es wie beschrieben unmöglich ist, das Abwägungsergebnis (vollständig) zu determinieren und dieses einer objektiv-materialen Richtigkeitskontrolle zu unterziehen765. Insbesondere lassen sich keine objektiven (Kontroll‑)Maß stäbe für die Ermittlung des konkreten Erfüllungsgrades der maßgeblichen Abwägungsgesichtspunkte und (damit) deren konkrete Gewichtung sowie die Abwägung im engeren Sinne im Rahmen der gesamtleistungsorientier‑ ten Brauchbarkeitsprüfung definieren766. Die Leistung abwägungslenkender (Prüfungs‑)Rechtsvorschriften kann daher nur darin bestehen, die Auswahl des Abwägungsmaterials im Rahmen der teilleistungsorientierten Brauch‑ barkeitsprüfung sowie die abstrakte Auswahl und die abstrakte Gewichtung der Abwägungsgesichtspunkte zu steuern767. In dieser Wirkung erschöpfen sich in der Tat die wenigen normativen Bewertungsvorgaben, die es so‑ gleich im Einzelnen darzustellen gilt. Vorab ist aber bereits jetzt klarzustel‑ len, dass zwar aus verfassungsrechtlichen Vorschriften gewonnene oder anderweit abgeleitete und für ebenso verbindlich erachtete „allgemein gül‑ tige Bewertungsgrundsätze“ den Abwägungsvorgang zusätzlich in der beschriebenen Art und Weise lenken, damit in ihrer grundsätzlichen Wir‑ kung über gesetzliche Bewertungsmaßstäbe aber auch nicht hinausgehen können. Dies bedeutet, dass sich selbst durch eine Vielzahl „allgemein gültiger Bewertungsgrundsätze“ der Abwägungsvorgang nicht in der Weise steuern lässt, dass die für die jeweilige Prüfungsleistung zu vergebende Note aufgrund eines determinierten Abwägungsergebnisses im Vorhinein feststünde. Auch im Hinblick auf die „allgemein gültigen Bewertungsgrundsätze“ stellt sich wiederum die rechtsdogmatische Frage, ob deren Fehlen den Bewertungsspielraum eröffnet oder deren Existenz dessen Ausübung be‑ grenzt. Diese Frage lässt sich, wenn man – wie in der vorliegenden Un‑ Rn. 95; weniger deutlich nunmehr in der aktuellen 14. Auflage, siehe aber implizit § 40, Rn. 137. 764 Siehe zur Terminologie Riehm, S. 160. 765 Vgl. allgemein Riehm, S. 180. 766 Vgl. allgemein Riehm, S. 192; siehe auch bereits BVerfGE 88, 40 (60 f.). 767 Vgl. allgemein Riehm, S. 192.
C. Die Erhebung formeller und materieller Bewertungsrügen311
tersuchung – die verfassungsgemäße Legitimation768 des Bewertungsspiel‑ raums in dem Fehlen von Kontrollmaßstäben erblickt, letztlich nicht ab‑ schließend beantworten, weil die Betrachtung bzw. Argumentation notwen‑ digerweise zirkulär ausfällt. Im Folgenden wird daher in Übereinstimmung mit der üblichen Terminologie von einer Begrenzung des Bewertungsspiel‑ raums durch die anzuwendenden Rechtsvorschriften und die „allgemein gültigen Bewertungsgrundsätze“ gesprochen769. Diese Beschreibung er‑ scheint unabhängig von dem rechtsdogmatischen Ausgangspunkt auch des‑ halb vorzugswürdig, weil dadurch die Beschränkung der Freiheiten des Prüfers bei der Leistungsbewertung ebenso wie die sich daraus ergebenden Rechtsschutzmöglichkeiten des Prüflings pointierter zum Ausdruck ge‑ bracht werden, da er nämlich die Einhaltung der Bewertungsvorgaben ver‑ langen und prinzipiell auch gerichtlich durchsetzen kann. Im Vorgriff auf die nachfolgenden Ausführungen ist diesbezüglich bereits jetzt darauf hin‑ zuweisen, dass eine Einengung des Bewertungsspielraums bzw. eine Be‑ grenzung der Freiheiten des Prüfers durch normierte wie ungeschriebene Bewertungsvorgaben nur im Falle einer Identität der in der Rechtsvor‑ schrift bzw. in dem „allgemein gültigen Bewertungsgrundsatz“ zum Aus‑ druck kommenden Handlungsanweisung mit der (gerichtlichen) Kontroll‑ norm erreicht werden kann770. An dieser erforderlichen Identität mangelt es aber insbesondere dann, wenn die Überprüfung der Beachtung der Handlungsanweisung die Vornahme subjektiver (prüfungsspezifischer) Wer‑ tungen erfordert. b) Anzuwendendes Recht Wie bereits angedeutet sind normative Bewertungsvorgaben rar und ge‑ genwärtig lediglich im Berliner / Brandenburger JAG sowie in der Sächs JAPO vorzufinden. Hier bestimmen § 7 Abs. 2 Satz 3 JAG Berlin / Branden‑ burg und § 14 Abs. 1 Satz 2 SächsJAPO für die staatliche Pflichtfachprüfung und § 42 SächsJAPO für die Zweite juristische Staatsprüfung, dass Schwer‑ punkt von Aufgabenstellung und Leistungsbewertung das juristische Ver‑ ständnis771 und die Fähigkeit zum methodischen Arbeiten (für die Zweite 768 Siehe zu dieser Terminologie Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, § 40 Rn. 220. 769 Siehe zu dieser Funktion der „allgemein gültigen Bewertungsgrundsätze“ bereits Seebass, NVwZ 1985, 521 (527 m. Fn. 27). 770 Siehe zu den Begriffen „Handlungsanweisung“ und „Kontrollnorm“ und zur Identität im Subsumtionsmodell Gerhardt, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, Vor‑ bemerkung § 113, Rn. 19. 771 Bzw. das „systematische Verständnis für die Rechtsordnung“, siehe § 7 Abs. 3 Satz 2 JAG Berlin/Brandenburg.
312 Kap. 6: Möglichkeiten (gerichtlicher) Kontrolle der Prüfungsentscheidung
juristische Staatsprüfung unter Berücksichtigung der in der praktischen Ausbildung vermittelten Fertigkeiten772) sein soll. Diese Vorschriften sind im Zusammenhang mit der Herausarbeitung der gesetzlichen Vorgaben für die Aufgabenstellung bereits vorgestellt worden. Im Rahmen der dortigen Darlegungen ist auch bereits ausgeführt worden, dass es solcher expliziter (Bewertungs‑)Vorgaben an sich nicht bedarf, weil sich der mit den vorstehenden Vorschriften vorgegebene Maßstab bereits aus dem Ziel der jeweiligen Ausbildung und dem entsprechenden Zweck der Prüfung ableiten lässt. Diese Erkenntnis gilt gleichermaßen für die hier dargestellten expliziten Bewertungsmaßstäbe. Dies bedeutet, dass das Ziel des juristischen Studiums und der dementsprechende Zweck der Ersten ju‑ ristischen (Staats‑)Prüfung sowie das Ziel des Vorbereitungsdienstes und der dementsprechende Zweck der Zweiten juristischen Staatsprüfung die Festlegung des allgemeinen und konkreten Bewertungsmaßstabs im Rah‑ men der Leistungsbewertung in der nun darzustellenden Art und Weise bestimmen773. Soweit sich der Prüfer im Rahmen der Festlegung des allgemeinen Be‑ wertungsmaßstabs zunächst Klarheit über die Aufgabenstellung und deren Zulässigkeit verschafft und aus jener sodann die Anforderungen ableitet, die sich seiner Einschätzung nach daraus für die Lösung der Prüfungsaufgabe ergeben, müssen diese von dem Ziel der Ausbildung und dem Zweck der Prüfung her geboten bzw. mit diesem jedenfalls vereinbar sein774. Denn das Maß der Leistungsbewertung ist inhaltlich auf Ausbildungsziel und Prü‑ fungszweck ausgerichtet und demgemäß auch begrenzt775. Dies bedeutet konkret zunächst, dass der Prüfer keine Kenntnisse und Fähigkeiten fordern darf, die im Rahmen der Ausbildung nicht vermittelt und im Rahmen des Vorbereitungsdienstes und der weiteren praktischen Tätigkeit auch nicht gefordert werden. Sind die Prüfungsanforderungen in diesem Sinne nicht an Ausbildungsziel und Prüfungszweck orientiert, beruht die Bewertung mitun‑ ter zugleich auf sachfremden Erwägungen776, worauf im Zusammenhang mit der Darstellung der zu beachtenden „Bewertungsgrundsätze“ respektive der Möglichkeiten der (gerichtlichen) Kontrolle des Abwägungsprozesses noch näher einzugehen ist. Weiter darf der an die Leistung des Prüflings angelegte Bewertungsmaß‑ stab und damit das erwartete Antwortniveau nicht außer Verhältnis stehen 772 Vgl.
§ 42 SächsJAPO. allgemein zur Steuerungskraft der normativen Vorgaben Haase, in: Joh‑ len/Oerder, MAH VerwR, § 16, Rn. 151, 90. 774 Vgl. HessVGH, Urt. v. 29.04.2010 – 8 A 3247/09, LKRZ 2010, 471 (473). 775 Vgl. HessVGH, Urt. v. 29.04.2010 – 8 A 3247/09, LKRZ 2010, 471 (473). 776 BFH, Bes. v. 20.12.2005 – VII B 254/05, BFH/NV 2006, 832 (833). 773 Vgl.
C. Die Erhebung formeller und materieller Bewertungsrügen313
zu den Anforderungen, die gemessen an dem Ausbildungsziel, dessen Errei‑ chung die Prüfung ermitteln soll, seiner möglichen Qualifikation entspre‑ chen777. In diesem Sinne nicht erforderlich und vom Prüfungszweck daher auch nicht gedeckt ist etwa – wie dies bereits in anderem Kontext dargelegt wurde – die (vorausgesetzte) Fähigkeit zur erschöpfenden Behandlung eines Rechtsproblems bzw. einer Rechtsfrage, wie sie dem Wissenschaftsmaßstab eigen ist778. Dies gilt gleichermaßen für die Erste wie die Zweite juristische (Staats‑)Prüfung. In der vorstehenden Interpretation begrenzen die in § 7 Abs. 2 Satz 3 JAG Berlin / Brandenburg sowie § 14 Abs. 1 Satz 2 und § 42 SächsJAPO getroffenen Regelungen damit lediglich die Auswahl des Abwägungsmateri‑ als auf der ersten Stufe des Abwägungsvorgangs. Von der gesetzgeberischen Intention her geht die dirigierende Kraft der jeweiligen Vorschriften aber darüber hinaus. Denn soweit das „juristische Verständnis“ und die „Fähig‑ keit zum methodischen Arbeiten“ bei der Leistungsbewertung im Vorder‑ grund stehen bzw. den Schwerpunkt bilden sollen, werden damit nicht nur Bewertungsgesichtspunkte, sondern vor allem deren abstrakte Gewichtung verbindlich vorgegeben. Die damit bezweckte Steuerungswirkung erscheint aber begrenzt. Denn neben den hier benannten kommt – wie im Rahmen der Darstellung des Bewertungsvorgangs illustriert – eine Vielzahl weiterer Abwägungsgesichtspunkte in Betracht, deren Relevanz nicht ex ante fest‑ steht und deren abstrakte Gewichtung daher auch nicht im Vorhinein fest‑ gelegt werden kann779, womit eine deterministische Bewertung der einzelnen abstrakten Abwägungsgesichtspunkte ausgeschlossen erscheint780. Welche Folgen dies für die gerichtliche Kontrolle der von dem Prüfer vorgenomme‑ nen Abwägung hat, ist im Rahmen der Darstellung der „allgemein gültigen Bewertungsgrundsätze“ bzw. der Möglichkeiten und Grenzen der Abwä‑ gungskontrolle darzustellen. Über die sich aus dem gesetzlich vorgegebenen Ausbildungsziel und Prü‑ fungszweck ergebenden, eher allgemeinen Bewertungsvorgaben hinaus sind daneben die konkreten Begrenzungen für die Prüfungsanforderungen zu beachten, die sich aus den Regelungen über den zulässigen Prüfungsstoff ergeben und ihrem Charakter nach unzweifelhaft die Auswahl des Abwä‑ gungsmaterials und damit die erste Stufe des Abwägungsprozesses wie folgt steuern. Der Prüfer darf entsprechend den obigen Ausführungen keine De‑ 777 HessVGH,
Urt. v. 29.04.2010 – 8 A 3247/09, LKRZ 2010, 471 (473). OVG Saarlouis, Bes. v. 22.11.2000 – 3 V 26/00, 3 W 6/00, NVwZ 2001, 942 (943 f.); HessVGH, Urt. v. 29.04.2010 – 8 A 3247/09, LKRZ 2010, 471 (473). 779 Vgl. allgemein Riehm, S. 59, 69. 780 Vgl. allgemein Riehm, S. 69. 778 Vgl.
314 Kap. 6: Möglichkeiten (gerichtlicher) Kontrolle der Prüfungsentscheidung
tailkenntnisse in Bezug auf den prüfungsrelevanten Stoff verlangen, wenn das prüfungsgegenständliche Rechtsgebiet oder Teile desselben nach der einschlägigen Prüfungsordnung nur „in den Grundzügen“ beherrscht werden müssen bzw. – bei pflichtfachfremden Rechtsgebieten – nur „Verständnis und Arbeitsmethode“ geprüft werden dürfen781. Diese Begrenzungen erlan‑ gen insbesondere dann Bedeutung, wenn sie wie im Regelfall nicht bereits unmittelbar aus der Prüfungsaufgabe ersichtlich sind und eine vollständige Lösung bei objektiver Betrachtung im Prinzip über die normierten Prü‑ fungsanforderungen hinausgehende Darlegungen erforderlich macht782. Wenn der Prüfer die gesetzlichen Bewertungsvorgaben nicht beachtet und in diesem Sinne einen überzogenen Bewertungsmaßstab anlegt, wird sich dies im Regelfall auch in einer hohen Misserfolgsquote und / oder auch im Übrigen in überdurchschnittlich schlechten Prüfungsergebnissen nieder‑ schlagen. In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, dass der Prüfer bei der Bemessung der Qualität der Prüfungsleistung selbstverständlich an den durch die Bundesnotenverordnung und damit (bundes‑)gesetzlich vorgege‑ benen Maßstab gebunden ist783. Er darf insoweit nur die dort vorgesehenen Notenstufen und Punktzahlen auswählen und als Qualitätsurteil verwenden. Die Bundesnotenverordnung stellt in der Struktur des Abwägungsprozesses zunächst einmal nur die Bewertungsskala dar, anhand derer das endgültige Ergebnis der Abwägungsentscheidung ermittelt wird784. Dabei ist das Ent‑ scheidungsergebnis binärer Natur (Ja oder Nein), soweit der Prüfer darüber zu befinden hat, ob die Leistung des Prüflings mindestens durchschnittli‑ chen Anforderungen gerecht wird785. Dabei wird das erforderliche „Abwägungsmaß“786 weniger durch den Terminus der „durchschnittlichen Anforderungen“, sondern vielmehr durch die Definition der Note „mangel‑ haft“ vorgegeben, die für eine an erheblichen Mängeln leidende, im Ganzen nicht mehr brauchbare Leistung vorgesehen ist787. Die Leistung des Prüf‑ lings wird durchschnittlichen Anforderungen nicht mehr gerecht, wenn sie eben diese Negativmerkmale erfüllt. Nach dieser Feststellung muss der Prüfer aber noch darüber befinden, in welcher Art und Weise der Prüfling 781 Vgl.
VG Schwerin, Urt. v. 03.07.2012 – 3 A 492/07, juris, Rn. 70 ff. VG Schwerin, Urt. v. 03.07.2012 – 3 A 492/07, juris, Rn. 70 ff. 783 Haase, in: Johlen/Oeder, MAH VerwR, § 16 Rn. 151; Schmidt-Räntsch, DRiG, Anhang zu § 5d, Rn. 101 f. 784 Vgl. allgemein Riehm, S. 80, speziell im Hinblick auf die Bedeutung der Bundesnotenverordnung S. 64, 70. 785 Siehe allgemein Riehm, S. 80 f., 103; speziell im Hinblick auf den Vorgang der Leistungsbewertung Hofmeyer, S. 73. 786 Zu diesem Begriff und dessen Inhalt Riehm, S. 80 f. 787 Siehe § 1 Bundesnotenverordnung. 782 Vgl.
C. Die Erhebung formeller und materieller Bewertungsrügen315
die durchschnittlichen Anforderungen erreicht bzw. verfehlt, d. h. er muss die Gesamtleistung des Prüflings anhand der von der Bundesnotenverord‑ nung vorgesehenen Notenstufen und Punktskalen messen, wobei (auch) für dieses „komparative Abwägungsergebnis“788 das zuvor ermittelte Verhältnis der positiven und negativen Aspekte der Prüfungsleistung entscheidend ist789. Fraglich ist, ob allein aus einer – sich bei Anwendung der Bundesnoten‑ verordnung ergebenden – hohen Misserfolgsquote auf einen überzogenen Bewertungsmaßstab des Prüfers bzw. der Prüfer geschlossen werden kann. Dagegen spricht, dass die Gründe für eine hohe Misserfolgsquote bzw. schlechte Prüfungsergebnisse vielschichtig sein können. So wird der Aus‑ gang einer Prüfung namentlich bestimmt durch die Zusammensetzung der Bewerber und hier im Besonderen durch das Verhältnis der potentiell schwachen zu den begabten Kandidaten, die Qualität der Ausbildung, die der Prüfung vorangegangen ist, die unterschiedliche Intensität der Vorberei‑ tung der Kandidaten auf die Prüfung usw.790. Dementsprechend gehen Rechtsprechung791 und Literatur792 disziplinübergreifend bislang einhellig davon aus, dass eine hohe Durchfallquote allenfalls als ein Indiz für die Anwendung überzogener Bewertungsmaßstäbe gewertet werden kann793. Demnach ist der Prüfer, wenn sich nach Abschluss des Bewertungsvorgangs die gewonnenen Prüfungsergebnisse als überdurchschnittlich schlecht dar‑ stellen, gehalten, den von ihm angewendeten Bewertungsmaßstab auf seine Angemessenheit zu überprüfen, insbesondere darauf, ob eine mögliche Überziehung der Anforderungen auf der Verkennung der gesetzlichen Be‑ wertungsvorgaben beruht794. Für den Prüfling bedeutet die bloß indizielle Wirkung der überdurchschnittlich schlechten Prüfungsergebnisse, dass er 788 Zu diesem Terminus und dessen Inhalt Riehm, S. 80. Entgegen der dortigen Auffassung ist das Abwägungsergebnis daher also nicht entweder komparativer oder binärer Natur. 789 Zur Ermittlung des Verhältnisses zwischen den positiven und negativen As‑ pekten und deren Messung am Abwägungsmaß siehe allgemein Riehm, S. 80 f., 103. Hofmeyer, S. 73, spricht in diesem Zusammenhang nicht unpassend vom „Grad der Zielerreichung“. 790 Vgl. BFHE 188, 502 (512). 791 BFHE 127, 290 (295); 188, 502 (512); Sächsisches FG, Urt. v. 31.05.2011 – 2 K 243/10, DVBl 2012, 64 (66); VG Göttingen, Urt. v. 05.09.2002 – 1 A 1088/00, juris, Rn. 39; VGH Mannheim, Urt. v. 10.11.2010 – 9 S 591/10, VBlBW 2011, 189 (190); nachfolgend BVerwG, Bes. v. 29.06.2011 – 6 B 7/11, Buchholz 421.0 Nr. 410, 10 (15); VGH Mannheim, Urt. v. 10.11.2010 – 9 S 624/10, juris, Rn. 31 f. 792 Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 383, 658. 793 Zweifelnd nur VG Stuttgart, Urt. v. 12.08.2009 – 12 K 2406/08, juris, Rn. 24. 794 FG Köln, Urt. v. 07.12.2011 – 2 K 1434/09, EFG 2012, 1603 (1605), Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 383.
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sich nicht darauf beschränken kann, allein diese als Hinweis auf einen ver‑ meintlichen Prüfungsmangel anzuführen. Er muss vielmehr substantiiert darlegen, dass und warum der Prüfer möglicherweise die Anforderungshöhe überzogen hat. Kommt er dem nach, besteht eine Verpflichtung des Prü‑ fungsamtes wie des Gerichtes, dem Einwand eines unangemessenen Bewer‑ tungsmaßstabs nachzugehen795. c) Verletzung „allgemein gültiger Bewertungsgrundsätze“ Ein unangemessener Bewertungsmaßstab kann neben der Missachtung der gesetzlichen Bewertungsvorgaben prinzipiell auch aus der Verletzung „allgemein gültiger Bewertungsgrundsätze“796 resultieren. Auf deren Ein‑ haltung wird die durch die Prüfer erfolgte Bewertung unabhängig von dem Einwand der überzogenen Anforderungshöhe – jedenfalls bei hinreichendem Anlass – (vorgeblich) überprüft, seitdem die verwaltungsgerichtliche Kon trolle gegen Prüfungsentscheidungen eröffnet ist797. aa) Einleitung und Überblick So hat das Bundesverwaltungsgericht bereits in seiner ersten grundlegen‑ den Entscheidung zur Überprüfbarkeit pädagogisch-wissenschaftlicher Be‑ wertungen im Anschluss an die Vorinstanz die Beachtung „allgemein gülti‑ ger Bewertungsgrundsätze“ zum Maßstab für die Rechtmäßigkeit der Be‑ wertung erhoben, indem es dieses Erfordernis in seine sodann für lange Zeit maßstabsbildende Kontrollformel implementiert hat, wonach pädagogischwissenschaftliche Bewertungen vom Gericht nur dahin überprüft werden könnten, ob der Prüfer von falschen Tatsachen ausgegangen ist, allgemein gültige Bewertungsgrundsätze nicht beachtet hat oder sich von sachfremden Erwägungen hat leiten lassen798. Ausweislich dieser Kontrollformel über‑ nehmen die „allgemein gültigen Bewertungsgrundsätze“ seit jeher eine her‑ ausgehobene Funktion bei der Begrenzung des den Prüfern eingeräumten 795 BVerwG, Bes. v. 06.11.1987 – 7 B 198/87, NVwZ 1988, 439 (440); Urt. v. 09.07.1996 – 6 3/95, NVwZ 1998, 176 (178). 796 Siehe zur unterschiedlichen Terminologie bei der Bezeichnung derselben Hofmeyer, S. 110. Ausgehend von der richtungsweisenden Entscheidung BVerwGE 8, 272 f., wird im Folgenden hier wie dort (aaO, 274) zunächst von „allgemeingül‑ tigen Bewertungsgrundsätzen“ gesprochen. 797 Zur Entwicklung der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung im Prüfungs‑ recht siehe insbesondere Ibler, S. 360 f.; Pache, S. 128 f.; im Hinblick auf die Über‑ prüfung der Beachtung allgemein gültiger Bewertungsgrundsätze richtungsweisend BVerwGE 8, 272 (274). 798 BVerwGE 8, 272 (274).
C. Die Erhebung formeller und materieller Bewertungsrügen317
Beurteilungs- bzw. Bewertungsspielraums799. Denn es liegt auf der Hand, dass der Freiraum des Prüfers umso enger ist, je mehr „allgemein gültige Bewertungsgrundsätze“ herausgearbeitet werden, deren Beachtung dann der gerichtlichen Kontrolle unterliegt800. Deren Entwicklung und Anwendung als Kontrollmaßstab hat damit zugleich eine herausragende Bedeutung für die Verwirklichung des von Art. 19 Abs. 4 Satz 1 und Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG gewährleisteten Rechtsschutzes des Prüflings. „Allgemein gültige Be‑ wertungsgrundsätze“ übernehmen in diesem Kontext damit jedenfalls theo‑ retisch eine die Grundrechte aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 und Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG sichernde, „rechtspflegende“801 Funktion. Ob sie dieser – ge‑ messen an ihrer konkreten Ausgestaltung durch die verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung – in der Praxis gegenwärtig gerecht werden und überhaupt jemals gerecht geworden sind, darf im Hinblick darauf, dass Alberts die „allgemein gültigen Bewertungsgrundsätze“ schon und noch im Jahre 1976 als „Begriff ohne Konturen“ bezeichnet hat802, in der Folgezeit in der Lite‑ ratur ähnliche Feststellungen getroffen worden sind803 und Niehues / Fischer / Jeremias in der aktuellen Auflage ihres Standardwerkes „Prüfungs‑ recht“ noch immer konstatieren, dass es bisher nicht gelungen sei, den rechtlichen Charakter und wesentlichen Gehalt solcher „Bewertungsgrund‑ sätze“ näher zu bestimmen804, zunächst einmal stark bezweifelt werden. bb) Entwicklung und gegenwärtiger Stand der Rechtsprechung Ob die bisherigen Systematisierungs- und Konkretisierungsleistungen der Rechtsprechung aber tatsächlich in der von der rechtswissenschaftlichen und der Praxisliteratur beschriebenen Art und Weise unzureichend sind, soll im Folgenden anhand einer eigenständigen Analyse namentlich der Judika‑ tur des Bundesverwaltungsgerichtes verifiziert werden. 799 Siehe zu dieser Funktion bereits konkludent BVerwGE 8, 272 (274): pointiert später etwa in BVerwGE 57, 130 (139); Theuersbacher, NVwZ 1990, 850 (850); Seebass, NVwZ 1985, 521 (526 f.); ders. NVwZ 1992, 609 (615): „Instrument zur sinnvollen Begrenzung des prüfungsrechtlichen Beurteilungsspielraums“. 800 Siehe zur Abhängigkeit des gerichtlichen Rechtsschutzes von der Existenz und dem Detaillierungsgrad von Bewertungsmaßstäben bereits Alberts, DVBl 1976, 622 (623). 801 Zur Terminologie insoweit und auch in der Sache siehe Ibler, S. 402. 802 Alberts, DVBl 1976, 622 (622). 803 Seebass, NVwZ 1985, 521 (527): „unbeacertes [sic!] Feld“; ders. NVwZ 1992, 609 (615): „Einen festen Kanon gibt es nicht“; Theuersbacher, NVwZ 1990, 850 (850): „unübersehbare Kasuistik“; Koenig, VerwArch 83 (1992), 351 (355), im Anschluss an Alberts: „Konturenlosigkeit“; Czermak, NJW 1992, 2612 (2613); Lampe, S. 120. 804 Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 648.
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(1) Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichtes In der ersten Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes zur gerichtli‑ chen Kontrolldichte bei Prüfungsentscheidungen, mit der wie ausgeführt die „allgemein gültigen Bewertungsgrundsätze“ als Kontrollmaßstab eingeführt worden sind, wurde weder deren potentielle Herkunft erläutert noch auch nur eine Skizze ihres möglichen Inhalts gegeben805. Erste Hinweise im Hinblick auf die Gewinnung „allgemein gültiger Be‑ wertungsgrundsätze“ lassen sich dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichtes vom 12.05.1961 entnehmen. In dieser Entscheidung verwirft das Bundes‑ verwaltungsgericht den Ansatz der Vorinstanz, einen „allgemein gültigen Bewertungsgrundsatz“ allein aus dem „Wesen der Prüfung“ abzuleiten, und es stellt die Notwendigkeit heraus, dessen gewohnheitsrechtliche Anerken‑ nung nachzuweisen806. Erstmals im Urteil des Bundesverwaltungsgerichtes vom 14.06.1963807 werden als potentielle Quelle „allgemein gültiger Bewertungsgrundsätze“ die Prinzipien des Verfassungsrechts benannt. In diesem Kontext wird ins‑ besondere die Bedeutung des allgemeinen Gleichheitssatzes herausgestellt, im konkret zu entscheidenden Fall aber die fehlende – wenngleich nach der Prüfungsordnung vorgesehene – Anwesenheit eines Prüfers bei der Noten‑ festsetzung ausschließlich am Rechtsstaatsprinzip gemessen808. Im Ergebnis wird dabei ein Verstoß verneint, ohne indes zuvor herausgearbeitet zu ha‑ ben, welche allgemeinen Aussagen sich dem Rechtsstaatsprinzip für den zur Entscheidung stehenden Sachverhalt entnehmen lassen809. Mehr für den Inhalt denn für die Deduktion „allgemein gültiger Bewer‑ tungsgrundsätze“ und insoweit von wesentlicher Bedeutung namentlich im Hinblick auf den Untersuchungsgegenstand ist im Weiteren sodann der Beschluss des Bundesverwaltungsgerichtes vom 30.08.1966810, in dem die für die Bewertung einer schriftlichen Prüfungsleistung im Ersten juristischen Staatsexamen nach Auffassung des Senats maßgeblichen Bewertungsge‑ sichtspunkte herausgearbeitet werden. Das Bundesverwaltungsgericht führt diesbezüglich in Konkretisierung der Ausführungen der Vorinstanz, die weitgehend Entsprechendes bereits aus der maßgeblichen Prüfungsordnung gewonnen hatte, wonach der Prüfling in der Prüfung seine Fähigkeit zur 805 Siehe
BVerwGE 8, 272 (274). v. 12.05.1961 – VII C 80.60, NJW 1962, 122 (122 f.). 807 BVerwGE 16, 154 (154). 808 BVerwGE 16, 154 (155 f.). 809 BVerwGE 16, 154 (155 f.). 810 Bes. v. 30.08.1966 – VII B 113.66, DVBl 1996, 860 f. 806 Urt.
C. Die Erhebung formeller und materieller Bewertungsrügen319
Erörterung von Rechtsfragen darzutun habe811, Folgendes aus: Entscheidend für die Bewertung des Gutachtens sei allein, ob der Prüfling mit Hilfe der von ihm gewählten Methode seine Gedankengänge klar und folgerichtig dargelegt habe und nach Erörterung der wesentlichen Rechtsfragen zu einer brauchbaren Lösung gelangt sei812. Ausgehend davon hat das Bundesver‑ waltungsgericht wie bereits die Vorinstanz in der Sache einen allgemeinen Bewertungsgrundsatz des Inhalts verneint, wonach eine Prüfungsleistung, die im Ergebnis einer Musterlösung, der Lösung eines anderen (besser be‑ werteten) Prüflings oder der gerichtlichen Entscheidung, der die Prüfungs‑ aufgabe nachgebildet sei, gleiche, nicht mit der Note „mangelhaft“ bewertet werden dürfe813. Diese Rechtsauffassung ist im Urteil des Bundesverwal‑ tungsgerichtes vom 26.01.1968814 dahin bekräftigt worden, dass eine Prü‑ fungsleistung mit zutreffendem Ergebnis als unzulänglich bewertet werden könne, wenn dessen Herleitung erhebliche Mängel aufweise. Weiter wird dort in Bestätigung der bisherigen Rechtsprechung ausgeführt, dass „allge‑ meine rechtliche Grundsätze“, deren Verletzung eine Prüfungsentscheidung rechtlich fehlerhaft mache, sich in der Regel aus verfassungsrechtlichen Normen, insbesondere aus den Grundsätzen des Rechtsstaats (Art. 20 Abs. 3 GG) und dem Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) ergäben815. Schließlich wird in Bezug auf den konkreten Fall bemerkt, dass verbindliche, aus all‑ gemeinen Rechtsgrundsätzen folgende Bewertungsgrundsätze nicht außer Acht geblieben seien, und es wird allgemein darauf hingewiesen, dass be‑ sondere Bewertungsgrundsätze für juristische Prüfungen nicht bestünden816, was insoweit offenkundig im Widerspruch steht zu den Ausführungen im Beschluss vom 30.08.1966. Während bis hierhin das Bestehen „allgemein gültiger Bewertungsgrund‑ sätze“ im Ergebnis stets verneint worden war, bejahte das Bundesverwal‑ tungsgericht im Beschluss vom 09.10.1969817 erstmals „allgemeine Bewer‑ tungsmaßstäbe“ des Inhalts, wonach die Kriterien Aufbau, Gedankenführung, Erkenntnis der Probleme und Erfassung der rechtlichen und logischen Zu‑ sammenhänge sowie Formulierung der Arbeit als solche für die Bewertung der Qualität einer Prüfungsleistung in der Ersten juristischen Staatsprüfung als entscheidend anzusehen seien. Das Bundesverwaltungsgericht sieht hier‑ 811 Siehe zu den Ausführungen der nicht benannten Vorinstanz die Referierung des Inhalts der Entscheidung in den Gründen des Bes. des BVerwG vom 30.08.1966 – VII B 113.66, DVBl 1966, 860 (861). 812 BVerwG vom 30.08.1966 – VII B 113.66, DVBl 1966, 860 (861). 813 Vgl. BVerwG vom 30.08.1966 – VII B 113.66, DVBl 1966, 860 (861). 814 BVerwG, Urt. v. 26.01.1968 – VII C 6.66, SPE 162 Nr. 4. 815 BVerwG, Urt. v. 26.01.1968 – VII C 6.66, SPE 162 Nr. 4. 816 BVerwG, Urt. v. 26.01.1968 – VII C 6.66, SPE 162 Nr. 4. 817 BVerwG, Urt. v. 09.10.1969 – VII B 4.69, Buchholz 421.0 Nr. 39, 15 (16).
320 Kap. 6: Möglichkeiten (gerichtlicher) Kontrolle der Prüfungsentscheidung
in eine Bestätigung seiner Ausführungen im Beschluss vom 30.08.1966818, mit denen es dort wie auch im Urteil vom 26.01.1968 bekanntlich einen „allgemein gültigen Bewertungsgrundsatz“ des Inhalts, wonach eine im Ergebnis zutreffende Lösung nicht als „mangelhaft“ bewertet werden könne, verneint hatte. Dann bedarf es aber der Feststellung, dass bei Lichte be‑ trachtet die im Beschluss vom 09.10.1969 als „allgemeine Bewertungsmaß‑ stäbe“ angesehenen Kriterien den Beurteilungsspielraum des Prüfers eher bekräftigen und bestärken denn begrenzen, werden diese doch zur Vernei‑ nung eines den Prüfling bei dessen Anerkennung begünstigenden, da den Beurteilungsspielraum des Prüfers verengenden, „allgemein gültigen Bewer‑ tungsgrundsatzes“ herangezogen. Eine wirkliche Konturierung der „allgemein gültigen Bewertungsgrund‑ sätze“ erfolgt hinsichtlich ihrer Ableitung und ihres Inhalts im Ansatz im Urteil von 26.10.1973819. Dort wird eine gerichtlich beachtliche Überspan‑ nung der Prüfungsanforderungen für den Fall angenommen, dass sie auf einer Verletzung der sachlichen Richtlinien der Prüfungsordnung, auf sach‑ fremden Erwägungen oder auf der Verletzung allgemeingültiger Bewer‑ tungsgrundsätze beruht. In solchen Fällen sei, so das Bundesverwaltungsge‑ richt, ein Verstoß gegen den aus Art. 3 Abs. 1 GG folgenden Grundsatz der Gleichbehandlung aller Prüflinge anzunehmen820. Mit dieser Entscheidung bekräftigt das Bundesverwaltungsgericht abermals Art. 3 Abs. 1 GG als potentielle Quelle „allgemeingültiger Bewertungsgrundsätze“ und lässt er‑ kennen, dass diese die Prüfungsanforderungen begrenzen könnten, ohne allerdings Art und Umfang dieser Begrenzung auch nur im Ansatz zu um‑ reißen. Unter Berücksichtigung der weiteren Rechtsentwicklung von Bedeutung ist sodann ein Beschluss des Bundesverwaltungsgerichtes vom 31.10.1978821. In ihm wird nicht explizit, wohl aber in der Sache, ein allgemeiner Bewer‑ tungsgrundsatz des Inhalts, wonach die Bewertung einer Prüfungsleistung nicht widersprüchlich sein dürfe, mit dem Argument zurückgewiesen, dass die Einschätzung der Widersprüchlichkeit vom (wissenschaftlichen) Stand‑ punkt des jeweiligen Beurteilers abhänge, der aber gerade nicht der gericht‑ lichen Prüfung unterliege. Damit hatte das Bundesverwaltungsgericht bis zu diesem Zeitpunkt kei‑ nen einzigen „allgemein gültigen Bewertungsgrundsatz“ anerkannt und sich hinsichtlich ihrer möglichen Rechtsquellen eher vage geäußert. Auch in der 818 BVerwG,
Urt. v. 09.10.1969 – VII B 4.69, Buchholz 421.0 Nr. 39, 15 (16). Urt. v. 26.10.1973 – VII 73.70, MDR 1974, 515 (516). 820 BVerwG, Urt. v. 26.10.1973 – VII 73.70, MDR 1974, 515 (516). 821 BVerwG, Bes. v. 31.10.1978 – VII B 39.77, Buchholz 421.0 Nr. 99, 125 (125). 819 BVerwG,
C. Die Erhebung formeller und materieller Bewertungsrügen321
Entscheidung vom 01.12.1978822 werden mit dem Hinweis, dass die ge‑ setzlich eingeräumte Beurteilungsermächtigung namentlich durch das ver‑ fassungsrechtliche Gebot der Chancengleichheit und die hauptsächlich aus diesem abgeleiteten „allgemeinen Bewertungsgrundsätze“ eingegrenzt wer‑ de, kaum dogmatische Fortschritte erzielt. Denn das Gebot der Chancen‑ gleichheit leitete das Bundesverwaltungsgericht wie oben dargestellt als den das Prüfungsrecht beherrschenden Grundsatz zunächst aus Art. 3 Abs. 1 GG ab, der bereits in den Entscheidungen zuvor als potentielle Quelle für „all‑ gemein gültige Bewertungsgrundsätze“ angegeben worden war. Dennoch meinte das Bundesverwaltungsgericht, bereits in demselben Urteil feststellen zu können, dass die „allgemein gültigen Bewertungsgrund‑ sätze“ durch die Rechtsprechung eine hinreichend scharfe Umgrenzung er‑ fahren hätten823. In dieser Aussage liegt angesichts des offenkundigen Widerspruchs zwischen dem tatsächlichen Befund und der behaupteten (Rechtsprechungs‑)Leistung eine erstaunliche Selbstüberschätzung. In den Beschlüssen vom 26.02.1979824 und 12.11.1979825 setzt das Bun‑ desverwaltungsgericht dann seinen Ansatz im Beschluss vom 31.10.1978 konsequent fort. Es verneint zwar einen allgemeinen Bewertungsgrundsatz des Inhalts, wonach Richtiges nicht als falsch bewertet werden dürfe, letzt‑ lich nicht generell, wohl aber die gerichtliche Möglichkeit der Überprüfung seiner Beachtung durch den Prüfer. Dieser Rechtsstandpunkt wird mit dem Hinweis gerechtfertigt, dass die Beurteilung der Richtigkeit der Lösung al‑ lein dem Prüfer obliege und in dessen Beurteilungsspielraum falle826. Es sind bereits gut 25 Jahre seit der ersten grundlegenden Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes vom 24.04.1959 zur gerichtlichen Kontrol‑ le von Prüfungsentscheidungen vergangen, in der als Grenze des Beurtei‑ lungsspielraums des Prüfers in erster Linie die „allgemein gültigen Bewer‑ tungsgrundsätze“ benannt worden sind, als im Urteil vom 20.09.1984827 mit 822 BVerwGE
57, 130 ff. 57, 130 (138). 824 BVerwG, Bes. v. 26.02.1979 – 7 B 15/79, Buchholz 421.0 Nr. 104, 149 f. 825 BVerwG, Bes. v. 12.11.1979 – 7 B 228/79, Buchholz 421.0 Nr. 105, 194 (195). 826 BVerwG, Bes. v. 26.02.1979 – 7 B 15/79, Buchholz 421.0 Nr. 104, 149 (150); Bes. v. 12.11.1979 – 7 B 228/79, Buchholz 421.0 Nr. 121, 194 (195); entge‑ gen Alberts, DVBl 1976, 622 (623 m. Fn. 5 und 3), hat das Bundesverwaltungsge‑ richt einen „allgemein gültigen Bewertungsgrundsatz“ des Inhalts, wonach Richtiges nicht als falsch bewertet werden könne, nicht bereits in den Beschlüssen vom 09.10.1969, 26.01.1968 und 30.08.1966 verneint. Hier ging es noch darum, dass eine im Ergebnis richtige Lösung wegen unzureichender Begründung etc. dennoch als unzulänglich bewertet werden dürfe. 827 BVerwGE 70, 143 (151). 823 BVerwGE
322 Kap. 6: Möglichkeiten (gerichtlicher) Kontrolle der Prüfungsentscheidung
dem Gebot der Sachlichkeit erstmals tatsächlich ein solcher „allgemein gültiger Bewertungsgrundsatz“ anerkannt wird828. Diesen verortet das Bun‑ desverwaltungsgericht entsprechend seinen bisherigen Ansätzen zunächst im Rechtsstaatsprinzip und im Grundsatz der Chancengleichheit mit dem eher vagen Hinweis auf einen aus diesen Verfassungsprinzipen folgenden An‑ spruch des Prüflings auf ein faires Prüfungsverfahren; es gewinnt diesen aber letztlich wohl allein aus dem Rechtsstaatsprinzip, was durch die Fest‑ stellung des Bundesverwaltungsgerichtes in der einschlägigen Urteilspassa‑ ge, dass eine Prüfung diesem nur dann gerecht werde, wenn sich der Prüfer dem Gebot der Sachlichkeit unterwerfe, unterstrichen wird829. Eine überzeu‑ gende argumentative Ableitung des Gebots der Sachlichkeit aus den ange‑ führten Verfassungsprinzipien, deren Steuerungskraft letztlich nur behauptet wird830, bleibt jedenfalls aus. Einen vermeintlichen Wendepunkt in der Entwicklung der „allgemein gültigen Bewertungsgrundsätze“ markiert sodann die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes vom 17.04.1991, in welcher ein unmittelbar aus Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG folgender, „allgemeiner Bewertungsgrundsatz“ des Inhalts postuliert wird, wonach eine vertretbare und mit gewichtigen Argu‑ menten folgerichtig begründete Lösung nicht als falsch bewertet werden dürfe831. Dieser stellt eine Modifizierung des bis zuletzt vom Bundesverwal‑ tungsgericht negierten „allgemein gültigen Bewertungsgrundsatzes“ des In‑ halts dar, wonach Richtiges nicht als falsch bewertet werden dürfe. Dessen Bedeutung und der wesentliche Unterschied zur bisherigen Judikatur des Bundesverwaltungsgerichtes werden erst deutlich, wenn die Erwägungen des Bundesverfassungsgerichtes, die zur Annahme des neuen „allgemein gültigen Bewertungsgrundsatzes“ geführt haben, verinnerlicht werden. Dies‑ bezüglich ist darauf hinzuweisen, dass das Bundesverfassungsgericht im Ausgangspunkt angenommen hat, dass der Gewährleistungsgehalt des Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG es im Hinblick auf den verfolgten Prüfungszweck, diejenigen Bewerber zu ermitteln, die die fachlichen Mindestqualifikationen nicht erfüllen, im Prinzip verböte, zutreffende Antworten und brauchbare Lösungen als falsch zu bewerten. Weiter hat es ausgeführt, dass die für die Überprüfung der Richtigkeit der Ergebnisse bzw. Lösungen erforderlichen Beurteilungen anhand fachspezifischer Wertungen vom Gericht – notfalls mit sachverständiger Hilfe – vorgenommen werden könnten und müssten832. 828 Kritisch hinsichtlich der erfolgten Einordnung als „allgemeingültiger Bewer‑ tungsgrundsatz“ Koenig, VerwArch 83 (1992), 351 (355). 829 Vgl. BVerwGE 70, 143 (151 f.). 830 BVerwGE 70, 143 (151). 831 BVerfGE 84, 34 (55). 832 BVerfGE 84, 34 (55)
C. Die Erhebung formeller und materieller Bewertungsrügen323
Die einzige – aber wesentliche – Abweichung von der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichtes liegt also in der Annahme des Bundesver‑ fassungsgerichtes begründet, dass die fachwissenschaftlichen Beurteilungen der vollständigen gerichtlichen Überprüfung zugänglich seien833. Einen „allgemeingültigen Bewertungsgrundsatz“ des Inhalts, wonach eine vertret‑ bare und mit gewichtigen Argumenten folgerichtig begründete Lösung nicht als falsch bewertet werden dürfe, hätte das Bundesverwaltungsgericht auf der Grundlage seiner Entscheidungen vom 30.08.1966, 26.01.1968 und 09.10.1969 an sich ohne Weiteres unterstreichen können. Es hat ihn aller‑ dings im Hinblick auf seine Auffassung, dass die fachspezifische Richtig‑ keitskontrolle allein dem Prüfer obliege, als Kontrollmaßstab und damit als Grenze des Beurteilungs- bzw. Bewertungsspielraums abgelehnt. Aufgrund der sich aus § 31 BVerfGG ergebenden Bindungswirkung der verfassungsgerichtlichen Entscheidungen vom 17.04.1991 musste nun aber auch das Bundesverwaltungsgericht den vom Bundesverfassungsgericht neu kreierten „allgemeinen Bewertungsgrundsatz“, der sich in Anlehnung an dessen Terminologie834 verkürzt auch als „Gebot der Beachtung des Ant‑ wortspielraums des Prüflings“ bezeichnen lässt, anerkennen. Das Bundes‑ verwaltungsgericht kam dem unter Aufgabe seiner früheren Rechtsprechung erstmals mit Urteil vom 21.10.1993835 nach. Weitere „allgemein gültige Bewertungsgrundsätze“ hat das Bundesver‑ waltungsgericht in der Folgezeit nicht mehr anerkannt, sondern nur das Bestehen klägerseits postulierter verneint836. Eine Fortbildung derselben ist auch jedenfalls durch das Bundesverwaltungsgericht einstweilen nicht mehr zu erwarten. So hat doch jüngst der für das Prüfungsrecht zuständige 6. Se‑ nat den – im Hinblick auf die dem Bundesverwaltungsgericht insbesondere in seiner Funktion als Revisionsgericht auch nach eigenem Verständnis obliegende Aufgabe zur Rechtsfortbildung837 – erstaunlichen Rechtsstand‑ punkt eingenommen, dass Umfang und Grenzen der gerichtlichen Überprüf‑ barkeit von Prüfungsentscheidungen abschließend geklärt seien838.
Seebass, NVwZ 1992, 609 (615). Bundesverfassungsgericht spricht explizit von einem „Antwortspiel‑ raum“ des Prüflings als Gegenpart zum „Bewertungsspielraum“ des Prüflings, siehe BVerfGE 84, 34 (55). 835 BVerwG, Urt. v. 21.10.1993 – 6 C 12/92, ThürVBl. 1994, 156 (157); siehe später auch BVerwG, Bes. v. 13.05.2004 – 6 B 25/04; NVwZ 2004, 1375 (1377); Bes. v. 16.08.2011 – 6 B 18/11, juris, Rn. 16. 836 Zuletzt BVerwG, Bes. v. 08.03.2012 – 6 B 36/11, NJW 2012, 2054 (2056). 837 Vgl. http://www.bverwg.de/enid/Rechtsprechung/Zustaendigkeit_4v.html. 838 BVerwG, Bes. v. 08.03.2012 – 6 B 36/11, NJW 2012, 2054 (2056). 833 Ebenso 834 Das
324 Kap. 6: Möglichkeiten (gerichtlicher) Kontrolle der Prüfungsentscheidung
(2) Instanzgerichtliche Rechtsprechung Die instanzgerichtliche Rechtsprechung hat sich jedenfalls in den ersten Epochen spiegelbildlich zur Judikatur des Bundesverwaltungsgerichtes ent‑ wickelt. So hat etwa das VG Ansbach – soweit ersichtlich als erstes Verwal‑ tungsgericht – mit Urteil vom 26.01.1966 im Anschluss an die Rechtspre‑ chung des Bundesverwaltungsgerichtes839 den Gleichheitssatz als „allgemein gültigen Bewertungsgrundsatz“ anerkannt840. Im Übrigen beschränkte sich die untergerichtliche Judikatur mangels durch das Bundesverwaltungsgericht vorgegebener weiterer (dogmatischer) Orientierungspunkte und eigener An‑ sätze korrespondierend auf die bloße Negation von klägerseits zur Diskussi‑ on gestellten „allgemein gültigen Bewertungsgrundsätzen“841. Bemerkenswert im Hinblick auf eine gewisse Emanzipation von der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichtes und die weitere Rechtsent‑ wicklung ist aber etwa eine Entscheidung des VGH Mannheim vom 01.07.1975842, in welcher der Senat aus Art. 5 Abs. 3 GG in der Sache einen „allgemein gültigen Bewertungsgrundsatz“ des Inhalts abgeleitet hat, wo‑ 839 BVerwGE 16, 154 (154). In dieser Entscheidung stellt indes das Bundesver‑ waltungsgericht den Gleichheitssatz noch keineswegs als „allgemein gültigen Be‑ wertungsgrundsatz“ heraus, sondern verweist auf ein Urteil des Senats vom 22.03.1963 – VII C 141.61, SPE 596 Nr. 2, in dem zwar die Bedeutung des Art. 3 I GG für das Prüfungsrecht, aber in einem ganz anderen Kontext, herausgestellt worden ist. 840 VG Ansbach, Urt. v. 26.01.1966 – 4810 – II/65, SPE 584 Nr. 1. 841 Vgl. exemplarisch OVG Hamburg, Urt. v. 19.01.1968, Bf. 43/66; SPE 284 Nr. 4 (Verneinung der Verletzung eines allgemein gültigen Bewertungsgrundsatzes bei der Frage der angemessenen Gewichtung von [Teil-]Leistungen); VGH Mannheim, Urt. v. 22.05.1973 – IV 101/73, SPE 162 Nr. 6 (Verneinung eines allgemein gültigen Bewertungsgrundsatzes des Inhalts, der es verbietet, dass eine schriftliche Arbeit durch einen Prüfer bewertet wird, der davon überzeugt ist, dass ein Teil der Arbeit keine selbstständige Leistung darstellt); OVG Lüneburg, Bes. v. 15.05.1974 – VII C I/73, SPE 470 Nr. 20 (Verletzung eines allgemein gültigen Bewertungsgrundsatz des Inhalts, wonach stets eine Ausgleichsmöglichkeit zwischen schriftlichen und mündli‑ chen Prüfungsleistungen bestehen muss); OVG Berlin, Urt. v. 07.11.1974 – V B 7.73, SPE 284 Nr. 16 (keine Verletzung eines allgemein gültigen Bewertungsgrundsatzes, wenn aus der Vornote 3 und der Note 4 der schriftlichen Arbeit die Note 4 gebildet wird). Diese Entscheidung ist im Übrigen paradigmatisch für die Nichtableitung und fehlende normative Anbindung eines allgemein gültigen Bewertungsgrundsatzes und völlig in der Luft hängende „Argumentation“, in der tatsächlich eine Auslegung der Prüfungsordnung vorgenommen wird. Bemerkenswert ist sie im Weiteren insoweit, als das Gericht – ganz offenbar in Übernahme der Terminologie in der Kontrollformel des Bundesverwaltungsgerichtes zur Überprüfbarkeit von beamtenrechtlichen Beur‑ teilungen – „von Bewertungsmaßstäben“ anstatt „-grundsätzen“ spricht, wohl ohne sich des Unterschieds bewusst zu sein, den es noch herauszuarbeiten gilt. 842 VGH Mannheim, Urt. v. 01.07.1975 – IV 951/73, SPE 400 Nr. 10.
C. Die Erhebung formeller und materieller Bewertungsrügen325
nach der Prüfling bei der Wahl der Methoden zur Ermittlung der Wahrheit in einer wissenschaftlichen Hausarbeit grundsätzlich frei sei. Diese Erkennt‑ nis hat sich zunächst nicht durchsetzen können, ist aber seit der Entschei‑ dung des Bundesverfassungsgerichtes im Gewande der dem Prüfling gegen‑ über erfolgten Zubilligung eines Antwortspielraums kraft § 31 BVerfGG allgemein gültig geworden. In gewisser Weise hat der VGH Mannheim damit also Pionierarbeit für die zukünftige Rechtsentwicklung geleistet. Im Übrigen aber ist die instanzgerichtliche Rechtsprechung in der ersten bis zur Anerkennung des Gebots der Sachlichkeit andauernden Rechtspre‑ chungsepoche weniger von Weitsicht denn von Unsicherheit und Orientie‑ rungslosigkeit bezüglich der Gewinnung und Verortung „allgemein gültiger Bewertungsgrundsätze“ geprägt, was anhand einiger Rechtsprechungsbei‑ spiele festzumachen ist. So spricht etwa das OVG Berlin in einer Entscheidung vom 06.09.1975 im Hinblick auf die aus der einschlägigen Prüfungsordnung gewonnenen Vorgaben und deren Nichtbeachtung von der Verletzung eines „allgemein gültigen Bewertungsgrundsatzes“, obwohl in der Sache schlicht die Nicht‑ beachtung des anzuwendenden Rechts konstatiert wird und auch zu konsta‑ tieren ist843. Und der VGH München nimmt im Urteil vom 25.07.1977 einen „allgemein gültigen Bewertungsgrundsatz“ des Inhalts an, wonach Prüfungsfragen klar und unmissverständlich gestellt werden müssten844, obwohl mit der Formulierung der Prüfungsfrage ersichtlich noch nicht der Bewertungsvorgang begonnen hat. Unterstrichen wird die seinerzeit schon von Alberts behauptete Konturenlosigkeit845 der „allgemein gültigen Be‑ wertungsgrundsätze“ schließlich, wenn deren Verletzung in der Nichtanwen‑ dung eines vom Kultusministerium in Form einer „Bewertungsrichtlinie“ vorgegebenen Bewertungsschlüssels gesehen wird. Damit werden sie in ih‑ ren Anwendungsmöglichkeiten der Beliebigkeit preisgegeben. Hier hätte ohne Rückgriff auf die „allgemein gültigen Bewertungsgrundsätze“ im Hinblick auf den schon zu diesem Zeitpunkt in der Rechtsprechung aner‑ kannten Grundsatz der Selbstbindung der Verwaltung durch (bewertungslen‑ kende) Verwaltungsvorschriften und der Verletzung des Art. 3 Abs. 1 GG im Falle ihrer Nichtbeachtung846 die Rechtswidrigkeit der Prüfungsentscheidung in eben dieser Art und Weise begründet werden können. Da somit zu Beginn der 1980er-Jahre die Erkenntnisse der instanzgericht‑ lichen Rechtsprechung hinsichtlich des rechtlichen Gehalts „allgemein gül‑ 843 Vgl.
OVG Berlin, Urt. v. 06.05.1977 – III B 90.76, SPE 102 Nr. 19. München, Urt. v. 25.07.1977 – 153 VIII 77, SPE 436 Nr. 1. 845 Siehe nochmals Alberts, DVBl 1976, 622 (622). 846 Vgl. BVerwG, Urt. v. 24.04.1959 – VII C 146.57, DVBl 1959, 745 (745). 844 VGH
326 Kap. 6: Möglichkeiten (gerichtlicher) Kontrolle der Prüfungsentscheidung
tiger Bewertungsgrundsätze“ ebenfalls bescheiden sind, wirkt es geradezu bizarr, wenn der VGH Mannheim im Beschluss vom 19.05.1980 dem An‑ tragsteller vorhält, dass dieser die Verletzung „allgemein gültiger Bewer‑ tungsgrundsätze“ nicht schlüssig dargetan habe847. Die nächste Rechtsprechungsepoche bezüglich der Herausbildung „allge‑ mein gültiger Bewertungsgrundsätze“ wird dann eingeleitet durch die Aner‑ kennung des Sachlichkeitsgebots als allgemeiner Bewertungsgrundsatz durch das Bundesverwaltungsgericht und die Rezeption dieser Rechtspre‑ chung durch die Instanzgerichte848. Erwähnenswert erscheint aus dieser Zeit daneben noch eine Entscheidung des Hessischen Verwaltungsgerichts‑ hofs vom 09.03.1988, in der nach „allgemein gültigen Bewertungsgrundsät‑ zen“ davon auszugehen sei, dass eine „sehr gute“ Leistung weit über dem Durchschnitt liegen müsse und keine wesentlichen Mängel aufweisen dür‑ fe849. Dies insbesondere deshalb, weil hier nicht im Ansatz die Rechtsquel‑ le des hier angenommenen „allgemein gültigen Bewertungsgrundsatzes“ dargelegt wird. Im Übrigen wird wie in der Zeit zuvor erneut nur das Be‑ stehen „allgemein gültiger Bewertungsgrundsätze“ ausgehend von in diese Richtung gehenden Behauptungen der Klägerseite verneint850. Wiederum ein neuer und der bisher letzte Abschnitt in der Entwicklung der „allgemein gültigen“ Bewertungsgrundsätze in der instanzgerichtlichen Rechtsprechung wird schließlich markiert durch den Beschluss des Bundes‑ verfassungsgerichtes vom 17.04.1991 und die Rezeption851 des in dieser Entscheidung kreierten „allgemein gültigen Bewertungsgrundsatzes“, wo‑ nach eine vertretbare und mit gewichtigen Argumenten folgerichtig begrün‑ dete Lösung nicht als falsch bewertet werden dürfe. Während in den voran‑ gegangenen Entwicklungsstufen das Bestehen „allgemein gültiger Bewer‑ tungsgrundsätze“ welchen Inhalts auch immer fast ausnahmslos verneint 847 Vgl.
VGH Mannheim, Bes. v. 19.05.1980 – 12/80, SPE 214 Nr. 5. etwa HessVGH, Urt. v. 07.01.1988 – 3 UE 1600/87, HessVGRspr 1988, 57 (58); OVG Saarlouis, Urt. v. 13.10.1988 – 1 R 312/85, juris, Rn. 51; VGH Mann‑ heim, Urt. v. 24.04.1990 – 9 S 3227/89, Justiz 1991, 34 (34); OVG Hamburg, Urt. v. 26.11.1990 – Bf III 43/88, juris, Rn. 46. 849 Vgl. HessVGH, Urt. v. 09.03.1988 – 1 UE 831/84, SPE 550 Nr. 6, 528 Nr. 6. 850 Vgl. etwa BayVGH, Bes. v. 25.11.1987 – 7 C 87.03235, NJW 1988, 2632 (2633); vgl. zu diesem Befund generalisierend und zutreffend Lampe, S. 120 f. 851 Siehe insoweit etwa OVG Münster, Urt. v. 14.08.1991 – 22 A 502/90, NWV‑ Bl. 1992, 67 (68); VGH Mannheim, Bes. v. 13.08.1992 – 4 S 1165/92, VBlBW 1993, 143 (144); BayVGH, Urt. v. 20.01.1993 – 7 B 91.1312, juris, Rn. 24; HessVGH, Urt. v. 25.02.1993 – 6 UE 1211/91, ESVGH 43, 171 (172 f.); OVG Schleswig, Urt. v. 13.03.1997 – 3 L 70/96, juris, Rn. 24; OVG Lüneburg, Urt. v. 05.06.1997 – 10 L 4646/95, NdsVBl. 1997, 209 (211); VG Hamburg, Urt. v. 28.03.1996 – 9 VG 3592/95, juris, Rn. 14; VG Leipzig, Urt. v. 15.08.1997 – 4 K 1819/96, NVwZ-RR 1999, 755 (759). 848 Siehe
C. Die Erhebung formeller und materieller Bewertungsrügen327
wurde, sind insbesondere in der jüngeren Vergangenheit – losgelöst von der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichtes – auch einige neue aner‑ kannt worden, wenngleich die Negation derselben nach wie vor ganz im Vordergrund steht852. Aus der Vielzahl der „allgemein gültige Bewertungs‑ grundsätze“ verneinenden Judikate herausgegriffen sei ein Urteil des OVG Koblenz vom 07.01.1994, in der ein allgemeiner Bewertungsgrundsatz des Inhalts verneint wird, dass bei logisch aufeinander aufbauenden Prüfungs‑ fragen ein sich durchziehender Fehler nur an einer Stelle gewichtet werden dürfe und bei einer in sich schlüssigen Lösung im Übrigen unberücksichtigt bleiben müsse853. Von Interesse ist dieses Urteil deshalb, weil es eine der wenigen Gerichtsentscheidungen darstellt, in der das Bestehen eines „allge‑ mein gültigen Bewertungsgrundsatzes“ nicht pauschal, sondern hier mit der Begründung verneint wird, dass die nicht negative Gewichtung von Folge‑ fehlern gegen den Grundsatz der Chancengleichheit verstieße, weil ein un‑ zutreffender Lösungsansatz – insbesondere das Auslassen von Differenzie‑ rungen – dem Prüfling „Arbeit erspare“854. Im Hinblick auf die Anerkennung „allgemein gültiger Bewertungsgrund‑ sätze“ erwähnenswert ist zunächst eine Entscheidung des VG Ansbach vom 12.11.1998, nach der bei allen Leistungsbewertungen der selbstverständliche Grundsatz gelten soll, dass diese in sich schlüssig sein, d. h. insbesondere Einzel- und Gesamtbewertung harmonieren müssten855. 852 Vgl. exemplarisch OVG Lüneburg, Urt. v. 24.05.2011 – 2 LB 158/10, Nord ÖR 2012, 98 (101) (kein allgemeiner Bewertungsgrundsatz des Inhalts, dass bei Erwähnung positiver Ansätze einer Bearbeitung automatisch die Vergabe der schlechtesten Note gleichsam gesperrt sei oder dass gleichsam wiederholend Stärken und Schwächen nochmals zusammengefasst werden müssten); VG Düsseldorf, Urt. v. 09.09.2011 – 15 K 8222/09, juris, Rn. 57 (kein allgemeiner Bewertungsgrundsatz, aufgrund dessen im Vergleich zu den Prüfungsleistungen bessere Leistungen im Vorbereitungsdienst, gleichgültig, wann und in welcher Ausbildungssituation sie er‑ zielt worden sind, den Leistungsstand eines Prüflings besser kennzeichneten als der rechnerisch ermittelte Wert); VG Berlin, Bes. v. 23.02.2005 – 12 A 22.05, juris, Rn. 10 (kein allgemein gültiger Bewertungsgrundsatz des Inhalts, wonach ein „rich‑ tiges Ergebnis“ im Rahmen einer juristischen Klausur stets zu deren Bestehen führen müsse); OVG Lüneburg, Urt. v. 02.02.2005 – 2 LB 4/03, juris, Rn. 25 (kein allge‑ mein gültiger Bewertungsgrundsatz des Inhalts, dass eine juristische Arbeit mit richtiger Lösung, gewichtigen Argumenten und erheblichem Tiefgang stets mit „voll befriedigend“ oder gar „gut“ zu bewerten sei); VG Ansbach, Urt. v. 05.12.2000 – AN 2 K 00.01105, juris, Rn. 71 (kein „Prüfungsrechtsgrundsatz“ des Inhalts, der es gebiete, dass eine Bewertung nur anhand einer Musterlösung erfolgen dürfe). 853 OVG Koblenz, Urt. v. 07.01.1994 – 2 A 11593/93, juris, Rn. 30, insoweit nicht abgedruckt in NVwZ 1994, 805 (805). 854 OVG Koblenz, Urt. v. 07.01.1994 – 2 A 11593/93, juris, Rn. 30, insoweit nicht abgedruckt in NVwZ 1994, 805 (805). 855 Vgl. VG Ansbach, Urt. v. 12.11.1998 – AN 2 K 95.02133, juris, Rn. 19, mit Blick auf die bestehenden Begründungsanforderungen bei der Bewertung mit der
328 Kap. 6: Möglichkeiten (gerichtlicher) Kontrolle der Prüfungsentscheidung
Aus jüngster Zeit beachtlich ist vor allem ein vom VG Stuttgart aufge‑ stellter „allgemein gültiger Bewertungsgrundsatz“ des Inhalts, wonach für das Erreichen einer unteren Notenstufe vom Prüfling nicht gefordert werden dürfe, dass dieser gleichgewichtig neben naheliegenden und zum juristi‑ schen Grundwissen zählenden auch fernliegende Gesichtspunkte anspreche, mit anderen Worten das Fehlen von Ausführungen zu einer speziellen Pro‑ blematik nicht zur Rechtfertigung einer schlechten Note herangezogen werden dürfe856. Das VG Stuttgart ist also der Auffassung, dass im unteren Bereich der Notenstufen nur die Beherrschung von Grundwissen den Be‑ wertungsmaßstab bilden dürfe, während die Beherrschung spezieller Proble‑ me und Fragen nur für die Notendifferenzierung im oberen Bereich der von der Bundesnotenverordnung vorgegebenen Skala relevant sei857. Bemer‑ kenswert ist dieses Postulat deshalb, weil einerseits der rechtliche Anknüp‑ fungspunkt für den gewonnenen Bewertungsgrundsatz trotz des Verweises auf die Bundesnotenverordnung vage bleibt, andererseits aber dem Prüfer mit diesem sehr konkrete Vorgaben für den im Rahmen der Leistungsbewer‑ tung anzuwendenden Maßstab gemacht werden. Das VG Stuttgart stützt mit seinem insoweit angenommenen „allgemein gültigen Bewertungsmaßstab“ seine Einschätzung, dass im konkreten Fall die Prüfungsanforderungen überzogen worden seien858. Deren Angemessenheit ist aber wie dargelegt in erster Linie anhand der sich aus der jeweiligen Prüfungsordnung ergeben‑ den Maßstäbe und bezüglich der konkreten Benotungsfrage auch mithilfe der Bundesnotenverordnung vorzunehmen, deren Auslegung das VG Stutt‑ gart in der Sache ebenso betreibt, womit aber das bereits erörterte „anzu‑ wendende Recht“ als Grenze des Bewertungsspielraums angesprochen ist. Im Hinblick auf die Gewinnung nicht normierter „allgemein gültiger Be‑ wertungsgrundsätze“ vermag damit die Entscheidung des VG Stuttgart keine weitere Erkenntnis als die bereits gesicherte Beliebigkeit ihrer Heran‑ ziehung bzw. Ablehnung zur Ergebnisbegründung und die Unsicherheit ihrer Deduktion zu liefern. In dieser Hinsicht erscheint das Urteil des VG Stutt‑ gart aber auch paradigmatisch.
Note „ungenügend“; siehe auch OLG München, Urt. v. 17.06.2006 – 1 U 2960/05, NJW 2007, 1005 (1006); siehe in der Sache auch VG Ansbach, Urt. v. 29.02.2000 – AN 99.00775, juris, Rn. 16; BayVGH, Urt. v. 17.03.2003 – 7 B 02.640, juris, Rn. 23; BayVGH, Bes. v. 19.04.1999 – 7 ZB.99.440, juris, Rn. 9, wiederum im Kontext mit den Begründungsanforderungen des Prüfers. 856 VG Stuttgart, Urt. v. 12.08.2009 – 12 K 4675/08, juris, Rn. 35. 857 Vgl. VG Stuttgart, Urt. v. 12.08.2009 – 12 K 4675/08, juris, Rn. 35. 858 Vgl. VG Stuttgart, Urt. v. 12.08.2009 – 12 K 4675/08, juris, Rn. 35: „Diese Anforderungen sind zu hoch“.
C. Die Erhebung formeller und materieller Bewertungsrügen329
cc) Eigene Bewertung der Rechtsprechungsleistung Mit der Vorstellung dieser Entscheidung soll die Analyse der verwal‑ tungsgerichtlichen Rechtsprechung bezüglich des Bestandes der „allgemein gültigen Bewertungsgrundsätze“ und ihrer Herkunft beendet werden. Diese Bestandsaufnahme erhebt – namentlich was die Ablehnung derselben anbe‑ langt – keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Ziel derselben war es aber sehr wohl, alle über den Einzelfall hinaus in der Verwaltungsgerichtsbarkeit an‑ erkannten und insoweit „allgemein gültigen Bewertungsgrundsätze“ und im Übrigen Entscheidungen vorzustellen, die im Hinblick auf deren Gewinnung oder Ablehnung dogmatische Ansätze erkennen lassen und damit eine ge‑ eignete Diskussionsgrundlage bilden können, oder gerade wegen ihres Feh‑ lens signifikant sind. Nach Abschluss der mit dieser Zielrichtung erfolgten Analyse ist den in der Literatur erhobenen und eingangs dargestellten Befunden bezüglich der Erfolge der Rechtsprechung, den rechtlichen Charakter und den wesentli‑ chen Gehalt859 der „allgemein gültigen Bewertungsgrundsätze“ zu bestim‑ men, nicht nur vollumfänglich zuzustimmen. Vielmehr ist darüber hinaus zu konstatieren, dass die Rechtsprechung mit der Kontrollformel, ausweislich derer die Prüfungsentscheidung auch auf die Einhaltung „allgemein gültiger Bewertungsgrundsätze“ überprüft wird, potemkinsche Dörfer errichtet (hat). Denn dadurch, dass das Bundesverwaltungsgericht erst 25 Jahre nach der ersten grundlegenden Entscheidung zur gerichtlichen Überprüfbarkeit von Prüfungsentscheidungen mit dem „Gebot der Sachlichkeit“ den ersten „all‑ gemein gültigen Bewertungsgrundsatz“ anerkannt hat, ist offenbart worden, dass die „allgemein gültigen Bewertungsgrundsätze“ lange Zeit nicht mehr als eine „Worthülse“860 ohne Inhalt und nicht geeignet waren, den Bewer‑ tungsspielraum des Prüfers zu begrenzen861. Da diese Eignung fortwährend suggeriert wurde, tatsächlich aber der grundgesetzlich garantierte Rechts‑ schutz weitgehend leerlief862, muss beinahe schon von einer subtilen Form der Verblendung gesprochen werden. Zu dem an sich selbstverständlichen Gebot der Sachlichkeit als Bewer‑ tungsgrundsatz hinzugekommen ist nur die letztlich ebenso banale Erkennt‑ zur Terminologie hier Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 648. zur Terminologie Hofmeyer, S. 61. 861 Vgl. insoweit auch Alberts, DVBl 1976, 622 (623), mit der Feststellung, dass der (damalige) Rechtsschutz als ein „sehr grobmaschiges Netz“ erscheint, und S. 624: „vage Einschränkung“; sowie nochmals Hofmeyer, S. 58: „Leerformel“, und S. 61: „Worthülse“. 862 So für den Fall der Nichtexistenz „allgemein gültiger Bewertungsgrundsätze“ zutreffend Hofmeyer, S. 61. 859 Vgl. 860 Vgl.
330 Kap. 6: Möglichkeiten (gerichtlicher) Kontrolle der Prüfungsentscheidung
nis863, dass eine vertretbare und mit gewichtigen Gründen folgerichtig be‑ gründete Lösung nicht als falsch bewertet werden darf. Beide Bewertungs‑ grundsätze bewirken in ihrer praktischen Anwendung zudem – wie dies im Einzelnen noch aufzuzeigen sein wird – keine effektive Begrenzung des Bewertungsspielraums des Prüfers, und sie sind jeweils nicht überzeugend abgeleitet864, sondern nur einerseits im Rechtsstaatsprinzip bzw. im Grund‑ satz der Chancengleichheit und andererseits im Gewährleistungsgehalt des Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG pauschal verortet worden. Immerhin erfolgt durch die Benennung dieser (potentiell) den (Bewertungs‑) Maßstab bildenden Determinanten wenigstens noch im Ansatz eine dogmatische Fundierung, während im Übrigen die Annahme oder Ablehnung eines „allgemein gülti‑ gen Bewertungsgrundsatzes“ wie gesehen rein kasuistisch geprägt ist. Dies heißt, dass die Verletzung eines „allgemein gültigen Bewertungsgrundsat‑ zes“ in Bezug auf einen konkreten Einwand des Klägers meist schlicht bejaht oder verneint wird, ohne zuvor das (Nicht‑)Bestehen eines solchen herausgearbeitet oder auch nur dessen potentielle Rechtsquelle benannt zu haben865. Zudem fällt auf, dass die Annahme der (Nicht‑)Verletzung „all‑ gemein gültiger Bewertungsgrundsätze“ vielfach allein auf den Ergebnissen der Auslegung der jeweils maßgeblichen Prüfungsvorschriften beruht, so dass schlicht von der unzutreffenden bzw. richtigen Anwendung des Geset‑ zes hätte gesprochen werden müssen. Diese teils erfolgende gleichsetzende Bezeichnung von sich aus normativen Vorgaben ergebenden Bewertungs‑ maßstäben mit „allgemein gültigen Bewertungsgrundsätzen“ dürfte darauf beruhen, dass das Bundesverwaltungsgericht anfänglich nicht zwischen zwingenden Prüfungsvorschriften als Grenze des Beurteilungsspielraums einerseits und normativ nicht geregelten „allgemein gültigen Bewertungs‑ grundsätzen“ andererseits differenziert, sondern die Beachtlichkeit des gel‑ tenden Prüfungsrechts als selbstverständlich vorausgesetzt hat866. 863 Vgl. zur Terminologie Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 653: „banale Formel“; Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 19 Abs. 4, Rn. 193: „simple Erkenntnis“. 864 Vgl. insoweit auch Hofmeyer, S. 111, mit dem zutreffenden Hinweis auf die fehlende Systematik der allgemein anerkannten Bewertungsgrundsätze. 865 Vgl. zu ähnlichen Befunden Hofmeyer, S. 111; Lampe, S. 120 f. 866 Vgl. zunächst die in BVerwGE 8, 272 (274) entwickelte pauschale Kontroll‑ formel ohne Differenzierung zwischen den „allgemein gültigen Bewertungsgrundsät‑ zen“ und dem „anzuwendenden Recht“ als Grenze des Bewertungsspielraums. Die Beachtlichkeit von letzterem wird dann aber bereits im Urteil des Bundesverwal‑ tungsgerichtes vom 12.05.1961 – VII C 80.60, NJW 1962, 122 (122), wie selbstver‑ ständlich vorausgesetzt. Eine ausdrückliche Trennung zwischen „zwingenden Prü‑ fungsvorschriften“ einerseits und „allgemein gültigen Bewertungsgrundsätzen“ ande‑ rerseits erfolgt dann erst später, soweit ersichtlich erstmals mit Bes. v. 16.04.1980 – 7 B 67/80, DÖV 1981, 62 (63). Die aktuelle Kontrollformel – siehe insoweit etwa BVerwG, Bes. v. 13.05.2004 – 6 B 25/04, NVwZ 2004, 1375 (1377) – geht zurück auf die Formulierung in BVerfGE 84, 34 (53 f.). Die dort wiedergege‑
C. Die Erhebung formeller und materieller Bewertungsrügen331
Hinweise auf die Gewinnung weiterer „Bewertungsgrundsätze“ – und sei dies nur durch eine obergerichtliche Anerkennung derselben – lassen sich aus Entscheidungen, die auf einer fehlenden Differenzierung zwischen gesetzli‑ chen Bewertungsmaßstäben und „allgemein gültigen Bewertungsgrundsätzen“ beruhen, jedenfalls kaum gewinnen. In diesem Zusammenhang bedarf es der nach alledem nur noch als bloße Randnotiz erscheinenden, aber dennoch er‑ forderlichen Feststellung, dass das Erfordernis der „Allgemeingültigkeit“ des Bewertungsmaßstabs für die Geeignetheit als Kontrollmaßstab nur zunächst noch als eigenständiges Kriterium Bedeutung hatte, diese sich dann aber letzt‑ lich allein aus der faktischen bzw. rechtlichen Bindungswirkung der Entschei‑ dungen des Bundesverwaltungs- bzw. -verfassungsgerichtes ergibt. Damit ist zwischenresümierend festzuhalten, dass die bisherigen Ansätze in der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung zur Herausbildung „allge‑ mein gültiger Bewertungsgrundsätze“ als Grundlage für eine dogmatisch und systematisch fundierte Deduktion derselben kaum geeignet sind. Als brauchbares Substrat in die weitere Diskussion kann letztlich nur der erkennbare Ansatz der Rechtsprechung übernommen werden, „allgemein gültige Bewertungsgrundsätze“ aus denjenigen Verfassungsnormen zu ge‑ winnen, deren dirigierende Kraft für den Fall des Fehlens gesetzlicher (Bewertungs‑)Maßstäbe bereits zu Beginn der Untersuchung herausgearbei‑ tet worden ist. dd) Die Konkretisierungs- und Konturierungsbemühungen in der Literatur In der rechtswissenschaftlichen Literatur hat man sich ganz überwiegend darauf beschränkt, die Leistung der Rechtsprechung bei der Entwicklung „allgemein gültiger Bewertungsgrundsätze“ in einer dem vorstehenden Zu‑ standsbericht vergleichbaren Art und Weise zu befunden, indem nämlich festgestellt worden ist, dass es dieser bisher nicht gelungen sei, einen sys‑ tematischen Katalog der Bewertungsgrundsätze zu entwickeln und diesen (somit) Konturen zu verleihen867. bene Kontrollformel entsprach entgegen der dortigen Darstellung aber nicht der seinerzeit im Prüfungsrecht verwendeten; vielmehr handelt es sich um diejenige, die von Anfang an zur Kontrolle von beamtenrechtlichen Beurteilungen herangezogen worden ist, siehe insoweit BVerwGE 11, 139 (140). Dass das BVerfG diese heran‑ gezogen hat, beruht wiederum darauf, dass in der Entscheidung BVerfGE 84, 34 ff. im Zusammenhang mit der Darstellung der gerichtlichen Kontrolldichte im Prü‑ fungsrecht auf Seebass, NVwZ 1985, 521 (526 m. Fn. 62), verwiesen wird, der dort die beamtenrechtliche Kontrollformel fälschlicherweise als diejenige darstellt, die auch im Prüfungsrecht herangezogen wird. 867 Vgl. Seebass, NVwZ 1985, 521 (527): „unbeacertes [sic!] Feld“; ders. NVwZ 1992, 609 (615): „Einen festen Kanon … gibt es nicht“; Theuersbacher, NVwZ 1990,
332 Kap. 6: Möglichkeiten (gerichtlicher) Kontrolle der Prüfungsentscheidung
Weder ist der Ansatz der Rechtsprechung (konsequent) weiterverfolgt worden, „allgemein gültige Bewertungsgrundsätze“ (für juristische Prü‑ fungsleistungen) aus den Verfassungsdeterminanten des Prüfungsrechts zu entwickeln, noch sind eigene Deduktionsmodelle vorgestellt worden. Ganz überwiegend erschöpfen sich die Beiträge in Postulaten bzw. der Vorstel‑ lung nicht näher konkretisierter Ideen. Als noch am weitesten reichend erscheinen die zunächst vorzustellenden Gedanken von Alberts und Czermak. Alberts leitet – insoweit noch in Ein‑ klang mit der (späteren) Rechtsprechung – aus Art. 3 Abs. 1 GG einen Anspruch auf Bewertungsgleichheit und daraus die Pflicht des Gesetzgebers zur Aufstellung von „Bewertungsrichtlinien“ ab, bei welcher die gesicherten Erkenntnisse der Prüfungs- / Test-Forschung berücksichtigt werden soll‑ ten868. Den Zweck der Bewertungsrichtlinien sieht er dabei in der Vermin‑ derung der Vagheit des Bewertungsvorgangs, für deren Einzelheiten das Recht keine Maßstäbe zur Entscheidung liefere869. Da die Bewertungsricht‑ linien die Merkmale für eine rationale Entscheidung angäben, sei diesen die Pflicht immanent, die Prüfungsentscheidung rational zu treffen, und ihre Beachtung solle dazu führen, die Prüfungsentscheidung vernünftig zu be‑ gründen870. Das Gericht habe also anhand der Bewertungsrichtlinien die Rationalität der Prüfungsentscheidung zu überprüfen871. Einen anderen Ansatz wählt Czermak, nach dessen Auffassung die „all‑ gemein gültigen Bewertungsgrundsätze“ der Konkretisierung des unbe‑ stimmten Rechtsbegriffs „Befähigung zum Richteramt“ im Sinne des § 5 Abs. 1 DRiG dienen872. Diesem sei der entscheidende (absolute) Maßstab für die Bewertung zu entnehmen, und folglich seien aus ihm „allgemein gültige Bewertungsgrundsätze“ für die Bewertung juristischer Prüfungsleis‑ tungen zu entwickeln873. Dieser Funktionsbestimmungs- und Deduktionsan‑ satz Czermaks findet sich wieder in Definitionen der „allgemein gültigen Bewertungsgrundsätze“, die im Kontext mit der Darstellung ihrer (allgemei‑ nen) Aufgabe zur Begrenzung von Beurteilungsspielräumen gegeben wer‑ den. Hiernach sollen unter allgemeinen Bewertungsgrundsätzen oder -maß‑ stäben Grundsätze zu verstehen sein, die durch Auslegung des unbestimmten 850 (850): „unübersehbare Kasuistik“; Koenig, VerwArch 83 (1992), 351 (355), im Anschluss an Alberts: „Konturenlosigkeit“; Lampe, S. 120; Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 648. 868 Alberts, DVBl 1976, 622 (624). 869 Alberts, DVBl 1976, 622 (624). 870 Alberts, DVBl 1976, 622 (625). 871 Alberts, DVBl 1976, 622 (626). 872 Czermak, NJW 1992, 2612 (2613). 873 Czermak, NJW 1992, 2612 (2613).
C. Die Erhebung formeller und materieller Bewertungsrügen333
Gesetzes abstrakt ermittelt werden, die Anwendung des Beurteilungsspiel‑ raums erleichtern sollen und in der Regel allgemein gehalten sind874. Da der Versuch, „allgemein gültige Bewertungsgrundsätze“ aus der Aus‑ legung des unbestimmten Rechtsbegriffs (der Befähigung zum Richteramt) zu gewinnen, nur gelingen kann, wenn für den Bewertungsvorgang verbind‑ liche Wertmaßstäbe aufgezeigt werden können und insoweit in erster Linie die grundrechtlichen Wertungen in Betracht kommen875, unterscheidet sich der von Czermak formulierte Gedanke letztlich nicht von dem Ansatz der Rechtsprechung, „allgemein gültige Bewertungsmaßstäbe“ unmittelbar aus der Verfassung zu gewinnen. Die für die Kontrolle der Bewertung juristischer Prüfungsleistungen noch ausstehende grundlegende Untersuchung der Bedeutung „allgemein gültiger Bewertungsgrundsätze“ und der Möglichkeiten ihrer Deduktion hat für schulische Leistungsbewertungen ausgehend von der ersten grundlegenden Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes zur Kontrolldichte bei päda‑ gogisch-wissenschaftlichen Entscheidungen Hofmeyer vorgelegt876. Wegen der strukturellen Unterschiede der jeweiligen Formen der Leistungskontrol‑ le sowie der jeweils verfolgten Ausbildungsziele und Prüfungszwecke kön‑ nen die Ergebnisse Hofmeyers zwar nicht unbesehen, wohl aber insoweit auf den vorliegenden Untersuchungsgegenstand übertragen werden, als die Schlussfolgerungen Hofmeyers877 generalisierbar erscheinen. Dies gilt un‑ eingeschränkt für die von Hofmeyer vorgeschlagene Definition und Gewin‑ nung der „allgemein gültigen Bewertungsgrundsätze“, wobei insoweit fol‑ gende Erkenntnisse zu referieren sind: Hofmeyer erblickt in ihrer Implemen‑ tierung in die verwaltungsgerichtliche Kontrollformel einen Verweis auf außerrechtliche Maßstäbe878 und für ihn steht daher fest, dass der Begriff auf Inhalte wissenschaftlich-praktischer Art Bezug nimmt879. Die Untersu‑ chung der allgemein gültigen Bewertungsgrundsätze sei daher primär Auf‑ gabe der zuständigen Fachwissenschaft880 und es bleibe daher kein Raum für richterliche Rechtsfortbildung allein durch eigenverantwortlich wertende 874 Wolff, in: Sodan/Ziekow, § 114 VwGO, Rn. 361; siehe auch Kopp/Schenke, VwGO, § 114, Rn. 28. 875 Wolff, in: Sodan/Ziekow, § 114 VwGO, Rn. 362, sieht in diesen in der Tat einen „allgemeingültigen Bewertungsmaßstab“. 876 Hofmeyer, „Allgemein anerkannte Bewertungsgrundsätze“ als schulrechtliche Beurteilungskriterien; siehe zum Gang der Untersuchung die Rezension von Theuersbacher, NVwZ 1990, 850. 877 Vgl. insoweit Hofmeyer, S. 240 f. 878 Vgl. Hofmeyer, S. 62 f. 879 Hofmeyer, S. 68. 880 Hofmeyer, S. 59, siehe auch S. 86.
334 Kap. 6: Möglichkeiten (gerichtlicher) Kontrolle der Prüfungsentscheidung
Entscheidungen881. Die originäre Sachkompetenz zur Ermittlung der „allge‑ mein gültigen Bewertungsgrundsätze“ sieht er bei der Pädagogik angesie‑ delt882 und zur Konkretisierung dieses unbestimmten Verweisungsbegriffs will er aufgrund dieses Ansatzes den „Stand der pädagogischen Praxis“ heranziehen883. Damit versteht Hofmeyer unter „allgemein gültigen Bewer‑ tungsgrundsätzen“ fachwissenschaftlich-fundierte, allgemein gültige Regeln (für Lehrer) zur Anwendung im Bewertungsakt884, die „Handlungsanwei‑ sung“ und „allgemeinverbindliche Norm“885 zugleich sind. Ihre Aufgabe sieht er darin, den Entscheidungsprozess zu beschreiben und eine rationale Zuordnung der Bewertung zu gewährleisten886. Die Untersuchung Hofmeyers ist auf große Resonanz gestoßen887 und seine Definitions- und Deduktionsversuche haben – soweit ersichtlich – nur Zustimmung erfahren888. ee) Zusammenfassung der bisherigen Erkenntnisse Trotzdem haben die von Hofmeyer gewonnenen und nun schon seit 25 Jahren vorliegenden Erkenntnisse nicht zur Herausbildung weiterer „allge‑ mein gültiger Bewertungsgrundsätze“ für die Beurteilung juristischer Prü‑ fungsleistungen geführt. Sie sind wie dargelegt in der rechtswissenschaft lichen Literatur zwar billigend zur Kenntnis genommen, aber nur im Ansatz rezipiert worden889. Zudem haben die von Hofmeyer und anderen für die Ent‑ wicklung „allgemein gültiger Bewertungsgrundsätze“ als zuständig erachte‑ ten Wissenschaften (Pädagogik, Prüfungswissenschaften, Psycho logie)890 offenbar keinerlei Beiträge insoweit geleistet. Damit verbleibt es für das juristische Prüfungsrecht zunächst bei der im Wesentlichen Hofmeyer zu verdankenden Erkenntnis891, dass es neben dem 881 Hofmeyer,
S. 68. S. 86. 883 Hofmeyer, S. 89. 884 Hofmeyer, S. 89; zustimmend Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 647. 885 Hofmeyer, S. 89. 886 Hofmeyer, S. 75. 887 Siehe zunächst die Rezension von Theuersbacher, NVwZ 1990, 850; sodann insbesondere Lampe, S. 122 ff.; Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 647; Lindner, in: Geis, Kapitel II, Rn. 157 m. Fn. 155; Gerhard, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, § 114, Rn. 74 m. Fn. 12. 888 Insbesondere Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 647. 889 Insbesondere Lampe, S. 122 ff. 890 Hofmeyer, S. 86; Lampe S. 123. 891 Ansätze des von Hofmeyer propagierten Modells finden sich bereits bei Alberts, DVBl 1976, 622 (624). 882 Hofmeyer,
C. Die Erhebung formeller und materieller Bewertungsrügen335
namentlich von der Rechtsprechung verfolgten Ansatz, „allgemein gültige Bewertungsgrundsätze“ aus Rechtsquellen – insbesondere dem Verfassungs‑ recht – zu deduzieren, noch die anderweitige Möglichkeit gibt, diese durch die Heranziehung außerrechtlicher – aber wissenschaftlich-fundierter – Maßstäbe zu gewinnen. So stehen sich im Ergebnis zwei Generierungsmo‑ delle gegenüber, nämlich einerseits der Ansatz der Rechtsprechung und von Teilen der Literatur, „allgemein gültige Bewertungsgrundsätze“ rational aus Oberbegriffen der Bewertung abzuleiten, andererseits der Versuch, sie aus der Summe der einheitlich gewonnenen Erfahrungen zu gewinnen892. Dabei wird in beiden Fällen das gemeinsame Ziel verfolgt, den durch die weitge‑ hend fehlenden normativen Bewertungsvorgaben geschaffenen Bewertungs‑ freiraum des Prüfers (weiter) zu begrenzen. 3. Einordnung der „Bewertungsgrundsätze“ und des bisherigen Kontrollansatzes Die Erkenntnis, dass es zwei Möglichkeiten der Ableitung „allgemein gültiger Bewertungsgrundsätze“ gibt, vermag an deren allseits und zu Recht beklagter Konturenlosigkeit aber nichts zu ändern. Diese Konturenlosigkeit der Bewertungsgrundsätze wäre nicht einmal dann vermeidbar gewesen, wenn bei deren „definitorischer Erhellung“893 der von Hofmeyer geforderte Rückbezug auf die Struktur des gesamten Beurteilungsprozesses894 tatsäch‑ lich beherzigt worden wäre. Bislang wurde der Ablauf des Bewertungsvor‑ gangs nämlich noch nicht in der hier erfolgten Art und Weise offengelegt und als dreistufiger Abwägungsprozess895 identifiziert. Nur auf der Grund‑ lage dieser Erkenntnis lässt sich aber die Funktion der „allgemein gültigen Bewertungsgrundsätze“ bei der Steuerung des Inhalts der Bewertungsent‑ scheidung des Prüfers und deren gerichtlicher Kontrolle klären. Ausgehend davon, dass die Bewertungsentscheidung des Prüfers das Er‑ gebnis eines Abwägungsprozesses unter Ausnutzung eines Bewertungsspiel‑ raums darstellt, erscheint es zunächst erforderlich, den Zweck der „allge‑ mein gültigen Bewertungsgrundsätze“ noch präziser als bisher erfolgt im dogmatischen Kontext zu verorten, und insoweit unabdingbar, die zwei Grundmodelle der exekutiven Entscheidungsfindung und die sich daran anschließenden Formen der gerichtlichen Kontrolle gegenüberzustellen. 892 Zur
S. 76.
Gegenüberstellung der Ansätze in dieser Terminologie siehe Hofmeyer,
893 Hofmeyer,
S. 73. S. 73. 895 Siehe zum Charakter des Bewertungsvorgangs als Abwägungsprozess noch‑ mals Kopp/Ramsauer, VwVfG, § 40, Rn. 95. 894 Hofmeyer,
336 Kap. 6: Möglichkeiten (gerichtlicher) Kontrolle der Prüfungsentscheidung
Während im Determinationsmodell das Ergebnis des Entscheidungspro‑ zesses konditional in dem Sinne programmiert ist, dass der Behörde hin‑ sichtlich der zu treffenden Entscheidung keinerlei Handlungsspielraum mehr verbleibt896, ist eben dieser prägend im exekutiven Letztentschei‑ dungsmodell. Hier wird durch die normativen Vorgaben weniger der Inhalt der Entscheidung, sondern mehr der Weg dorthin gesteuert, und die Behör‑ de kann sich innerhalb der insoweit gezogenen Grenzen grundsätzlich frei bewegen897. (Auch) im Determinationsmodell sind Abwägungen (im weite‑ ren Sinne) ggf. erforderlich zur Ermittlung des Normzwecks in Form des Bewertens der für eine bestimmte Gesetzesauslegung streitenden Aspekte und des Entscheidens zwischen den Auslegungsalternativen898, bei der wer‑ tenden Zuordnung des Einzelfalls zu den Tatbestandsmerkmalen der (Ein‑ griffs‑)Norm899, bei der Subsumtion sowie zur ggf. gebotenen Überprüfung der Verhältnismäßigkeit einer sich bei (strikter) Anwendung des Gesetzes ergebenden (Eingriffs‑)Befugnis auf seine Vereinbarkeit mit dem Verhält‑ nismäßigkeitsgrundsatz900. Demgegenüber ist die Entscheidung im exekutiven Letztentscheidungsmo‑ dell dadurch gekennzeichnet, dass die Behörde nicht nur die auch im Deter‑ minationsmodell erforderlichen Abwägungen bei der Anwendung derjenigen (Rechts‑)Vorschriften vornehmen muss, die die (gesetzlichen) Grenzen des Entscheidungsspielraums abstecken, sondern vor allem die Ausübung dessel‑ ben durch die Vornahme (fallbezogener) Abschätzungen, Bewertungen, Ge‑ wichtungen und Abwägungen (im engeren Sinne) geprägt ist901, soweit der beurteilungsrelevante Sachverhalt an den maßgeblichen oder für maßgeblich erachteten (eigenen) Bewertungskriterien gemessen wird. 896 Gerhardt, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, Vorbemerkung § 113, Rn. 19; Pache, S. 482; anders, aber nicht überzeugend, Greszick, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20, Rn. 118, 120, der – wohl auch im Determinationsmodell – bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne einen Bewertungs- und Einschätzungs‑ spielraum der Exekutive bei der hier erforderlich werdenden Abwägung annimmt. 897 Vgl. Pache, S. 482, 490. 898 Siehe zur erforderlichen Abwägung bei der Normauslegung und -konkretisie‑ rung in Zweifelsfällen Riehm, S. 4. 899 Zur ggf. erforderlichen Abwägung im Rahmen der Subsumtion Riehm, S. 5. 900 Exemplarisch und lehrbuchartig BVerwG, Urt. v. 21.03.2012 – 6 C 19/11, NVwZ 2012, 1188 (1190) anhand einer prüfungsrechtlichen Sanktionsnorm; siehe dort auch zur Korrektivfunktion desselben und diesbezüglich allgemein Reuter, JURA 2009, 511 (512); zur (abwägenden) Kontrollstruktur desselben BVerfGE 109, 279 (335 f.); 115, 320 (345); 120, 274 (318 f.); BVerfG, Bes. v. 13.07.2007 – 1 BvR 1550/03, NJW 2007, 2464 (2468); BVerwG, Urt. v. 21.03.2012 – 6 C 19/11, NVwZ 2012, 1188 (1189); Greszick, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20, Rn. 110 f.; Reuter, JURA 2009, 511 (513). 901 Vgl. (insbesondere auch zur Terminologie) Gerhardt, in: Schoch/Schneider/ Bier, VwGO, § 114, Rn. 62.
C. Die Erhebung formeller und materieller Bewertungsrügen337
Die Entscheidungsfindung im exekutiven Letztentscheidungsmodell stellt sich daher als Kombination von Subsumtionen im deterministischen Teil und damit einhergehenden fakultativen sowie obligaten Abwägungen im Rah‑ men der Ausübung des Beurteilungsspielraums im Übrigen dar902. Im Hinblick darauf, dass die Nutzung des Entscheidungsspielraums somit durch einen genuin-charakteristischen Abwägungsprozess gekennzeichnet ist, erscheint es in terminologischer Hinsicht zumindest präziser, von einem „Abwägungsspielraum“ zu sprechen903. Dieser begegnet im Übrigen nicht nur auf der Tatbestandsseite der Norm in Form von Gestaltungs- und Beur‑ teilungsermächtigungen, sondern auch auf der Rechtsfolgenseite, soweit der Behörde hier ein Ermessensspielraum eingeräumt ist, wobei er sich – was aber an dieser Stelle nicht weiter zu vertiefen ist – dogmatisch ebenfalls auf der Tatbestandsseite verorten ließe904. Festzuhalten ist hier nur die aus Rechtsschutz suchender wie gewährender Perspektive bedeutsame Erkenntnis, dass die Reichweite der gerichtlichen Überprüfbarkeit von Entscheidungen, die in einem nicht vollständig deter‑ minierten Entscheidungsprozess ergangen sind, maßgeblich von den Mög‑ lichkeiten und Grenzen der rechtlichen Steuerung der Ausübung des Abwä‑ gungsspielraums bestimmt wird. Die (Un‑)Freiheiten der Exekutive stehen damit in einem weitgehenden Interdependenzverhältnis zu dem gerichtlichen Kontrollinstrumentarium, welches aus der weitgehenden Korrespondenz des Maßes der Steuerung der Verwaltungsentscheidung mit dem gerichtlichen Kontrollmaß resultiert905. Bevor die verbleibenden Steuerungs- und Kontrollmöglichkeiten in Bezug auf die Nutzung des Abwägungsspielraums sogleich näher aufgezeigt wer‑ den, sollen zunächst die sich aus den vorstehenden Determinanten ergeben‑ den grundsätzlichen Konsequenzen für den Umfang der gerichtlichen Kon‑ trolle der Rechtmäßigkeit der im vorstehenden Sinne unterschiedlich gesteu‑ erten Verwaltungsentscheidungen aufgezeigt werden. Riehm, S. 2. auch Riehm, S. 56; Pache, S. 489, 490; so zuvor bereits Schuppert, DVBl 1988, 1191 (1200); VG Bremen, Urt. v. 28.05.2010 – 5 K 1274/09, DVBl 2010, 1044 (1047). 904 Instruktiv insoweit Riehm, S. 48; siehe auch Kopp/Schenke, VwGO, § 114, Rn. 24; Jestaedt, in: Erichsen/Ehlers, § 11, Rn. 15; zuvor bereits Schuppert, DVBl 1988, 1191 (1199), unter Verweis auf Kaufmann, in: Götz/Klein/Starck, S. 190; siehe auch Herdegen, JZ 1991, 747 (749). 905 Siehe zu dieser Korrespondenz Jestaedt, in: Erichsen/Ehlers, § 11, Rn. 54; Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, § 40, Rn. 159; Pieroth/Kemm, JuS 1995, 780 (780); Herdegen, JZ 1991, 747 (751); Pache, S. 462, 502; vgl. auch BVerfG, Bes. v. 10.12.2009 – 1 BvR 3151/07, NVwZ 2010, 435 (440). 902 Vgl. 903 So
338 Kap. 6: Möglichkeiten (gerichtlicher) Kontrolle der Prüfungsentscheidung
Sind vom Gesetzgeber Rechtsnormen geschaffen worden, die im konkre‑ ten Einzelfall einschlägig und daher im Entscheidungsprozess beachtlich sind, prüft das Gericht in beiden Entscheidungsmodellen (zunächst), ob die sich aus den gesetzlichen Vorgaben ergebenden Handlungsanweisungen be‑ achtet und die Rechtsvorschriften damit richtig angewendet worden sind906. Diese Kontrolle führt im Determinationsmodell, bei dem aufgrund der vollständigen Determinierung der von der Behörde zu treffenden Entschei‑ dung eine Identität von Handlungsanweisung und Kontrollnorm besteht907, zu einer gerichtlichen Kontrolle der (objektiven) Richtigkeit derselben. Im exekutiven Letztentscheidungsmodell führt die gerichtliche Überprü‑ fung der Beachtung der maßgeblichen Rechtsvorschriften demgegenüber lediglich zu einer Kontrolle der Einhaltung des insoweit normativ vorgege‑ benen Entscheidungsrahmens. Diese beschränkte Kontrolle gerät mit dem Gewährleistungsgehalt des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG zunächst so lange nicht in Konflikt, wie die ver‑ bleibende gerichtliche Kontrolle der von der Ausübung einer administrativen Letztentscheidungsbefugnis geprägten Entscheidung für einen wirkungsvol‑ len Schutz der Grundrechtspositionen der von ihr betroffenen Adressaten zweckgerichtet, geeignet und angemessen ist908. Hierzu ist es wie aufge‑ zeigt insbesondere erforderlich, dass das Verwaltungsgericht weiter gehende Kontrollmaßstäbe aus dem Verfassungsrecht deduziert und anwendet. Da eine Kontrolle der (objektiven) Richtigkeit der Entscheidung mangels insoweit existierender Maßstäbe evident ausscheidet, kann nur deren recht‑ mäßiges Zustandekommen überprüft werden, wozu das „innere Ent scheidungsverfahren“909, d. h. der Entscheidungsfindungsprozess innerhalb des (normativ) abgesteckten Entscheidungsrahmens, in den Blick genommen werden muss910. Dies läuft im Ergebnis auf eine Kontrolle der (subjektiven) 906 Vgl. Eifert, ZJS 2008, 336 (341); Jestaedt, in: Erichsen/Ehlers, § 11, Rn. 38 m. Fn. 149, Rn. 41. 907 Gerhardt, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, Vorbemerkung § 113, Rn. 19; zur Differenzierung zwischen Handlungs- und Kontrollnorm siehe auch Jestaedt, in: Erichsen/Ehlers, § 11, Rn. 21. 908 Vgl. BVerfGE 84, 34 (53); 60, 253 (269); Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, § 40, Rn. 221; Decker, in: Posser/Wolff, Beck’scher Online-Kommentar zur VwGO, § 114, Rn. 36.1. 909 Zum Terminus des „inneren Entscheidungsverfahrens“ siehe BVerfG, Bes. v. 10.12.2009 – 1 BvR 3151/07, NVwZ 2010, 435 (437), unter Bezugnahme auf Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 19 Abs. 4, Rn. 192. 910 Siehe zur möglichen und gebotenen Verfahrenskontrolle bzw. Kontrolle der Entscheidungsfindung im „exekutiven Letztentscheidungsmodell“ Riehm, S. 159; Gerhardt, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, Vorbemerkung § 113, Rn. 20; Pache, S. 497 ff.
C. Die Erhebung formeller und materieller Bewertungsrügen339
Richtigkeit der Entscheidung hinaus, die im „pragmatischen Sinne“911 gege‑ ben ist, wenn diese nicht falsifizierbar ist und von demjenigen Organ für richtig gehalten wird, „das nach der Kompetenzverteilung für die Letztent‑ scheidung der betreffenden Frage zuständig ist“912. Im Fokus der gerichtli‑ chen Kontrolle steht damit die behördliche Willensbildung913. Ist diese – vereinfacht ausgedrückt – „in Ordnung“, war das Verwaltungshandeln „richtig“914. Für die Beurteilung der Richtigkeit des behördlichen Willensbildungspro‑ zesses bedarf es aber wiederum der Heranziehung von Falsifikations- bzw. Kontrollmaßstäben, die unter Berücksichtigung von dessen Struktur zu entwickeln sind. Im engeren Sinne begrenzt wird der prinzipielle Freiraum der im Einzel‑ fall zur Entscheidung berufenen Person durch solche Maßstäbe nur dann, wenn dieser über die ggf. vorhandenen normativen (Bewertungs‑)Vorgaben hinaus die Auswahl der im Rahmen des Willensbildungsprozesses zu be‑ rücksichtigenden Gesichtspunkte und deren Gewicht für die zu treffende Entscheidung vorgegeben und die Einhaltung dieser Vorgaben auch (gericht‑ lich) überprüft wird. Alle anderen (Kontroll‑)Maßstäbe lassen die Freiheit des Entscheiders bis zur Grenze der Willkür im Prinzip unberührt. Ihre Wirkung erschöpft sich darin, die Fehlerhaftigkeit des Willensbildungspro‑ zesses oder gar nur Indizien für diese aufzudecken. Gleichwohl führt die Anwendung dieser Falsifikationsmaßstäbe regelmäßig zur (gerichtlichen) Aufhebung der (mutmaßlich) fehlerhaft gebildeten Entscheidung. In diesem Kontext ist die Bedeutung der von der Rechtsprechung zur Überprüfung des prüfungsspezifischen Bewertungsspielraums herangezoge‑ nen Kontrollformel und vor allem der „allgemein gültigen Bewertungs‑ grundsätze“ als deren integraler Bestandteil zu sehen. Sowohl diese als auch die übrigen mit der Kontrollformel zusammengefassten Kriterien sollen den Bewertungsspielraum (nach innen) begrenzen915. Diesbezüglich wurde be‑ reits klargestellt, dass mit dem Kriterium der fehlerfrei ermittelten Prüfungs‑ leistung und dem Ausgehen von einem richtigen Sachverhalt eher Voraus‑ setzungen für die Eröffnung des Bewertungsspielraums benannt sein dürften. 911 Siehe zur Formulierung und anderen Ansätzen der Richtigkeitsbestimmung, auf die hier nicht im Einzelnen eingegangen werden kann, die Darstellung bei Riehm, S. 166 ff. 912 Vgl. Riehm, S. 176. 913 Vgl. Gerhardt, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, Vorbemerkung § 113, Rn. 20; siehe auch Eifert, ZJS 2008, 336 (341); Riehm, S. 159 f. 914 Gerhardt, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, Vorbemerkung § 113, Rn. 20. 915 Siehe – insbesondere zur angestrebten „inneren Begrenzung“ – Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, § 40, Rn. 221.
340 Kap. 6: Möglichkeiten (gerichtlicher) Kontrolle der Prüfungsentscheidung
Auch wurde bereits angesprochen, dass eine freiheitsbeschränkende Wirkung nur von solchen (Bewertungs‑)Maßstäben ausgehen kann, die die Auswahl der entscheidungserheblichen (Abwägungs‑)Gesichtspunkte und deren (abs‑ trakte) Gewichtung vorgeben und so den Entscheidungsprozess vorstruktu‑ rieren. Diese Vorstrukturierung wird in dem dargestellten begrenzten Umfang zu‑ nächst von den prüfungsrechtlichen Vorschriften geleistet916. Dieselbe Funk‑ tion übernimmt das in engem Zusammenhang mit dem Willkürverbot stehen‑ de Verbot der Anstellung sachfremder Erwägungen917. Dieses stellt sich näm‑ lich positiv als das Gebot dar, im Rahmen der Leistungsbewertung nur solche Gesichtspunkte zu berücksichtigen, die in einem inhaltlichen Zusammenhang mit dem Zweck der Prüfung stehen918, und damit als Bewertungsmaßstab, der die entscheidungserheblichen (Abwägungs‑) Gesichtspunkte vorgibt. Auch das als „allgemein gültiger Bewertungsgrundsatz“ deklarierte Gebot, eine vertretbare und mit gewichtigen Argumenten folgerichtig begründete Lösung nicht als falsch zu bewerten, kann den Prüfer in der Zusammenstel‑ lung der (Abwägungs‑)Gesichtspunkte beschränken, indem nämlich zumin‑ dest dem theoretischen Anspruch nach die in fachlichen Fragen getroffene (Bewertungs‑)Entscheidung des Prüfers einer vollständigen Richtigkeitskon‑ trolle unterzogen wird919. Das gleichfalls als „allgemein gültiger Bewer‑ tungsgrundsatz“ verstandene Gebot der Sachlichkeit hat nur dann eine den Entscheidungsprozess steuernde und freiheitsbeschränkende Wirkung, wenn es mit der Anstellung sachfremder Erwägungen einhergeht920. Im Übrigen stellt eine Verletzung desselben – wie dies bereits ganz zu Beginn der Unter‑ suchung herausgearbeitet wurde921 – nicht mehr als ein Indiz für eine fehler‑ hafte Gewichtung der maßgeblichen (Abwägungs‑)Gesichtspunkte dar. Eine Missachtung desselben wird als Falsifikationsmaßstab herangezogen, weil in ihr ein Indikator für einen fehlerhaften Willensbildungsprozess im soeben be‑ schriebenen Sinne gesehen wird. Damit erweitern das Gebot der zweckgerichteten Korrektur und dasjenige der Respektierung des Antwortspielraums des Prüflings in Fachfragen den 916 Vgl. allgemein zur Steuerungskraft normativer (Bewertungs-)Vorgaben im exekutiven Letztentscheidungsmodell Gerhardt, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, § 114, Rn. 62; siehe zur „Vorstrukturierung“ durch die gesetzlichen Vorschriften Eifert, ZJS 2008, 336 (341). 917 Vgl. Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 642. 918 Vgl. Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 642; allgemein im Zusammenhang mit den Voraussetzungen einer rationalen Abwägung Riehm, S. 59. 919 Zutreffend VG Meiningen, Bes. v. 15.08.2005 – 1 E 510/05.Me, juris, Rn. 27. 920 Zu möglichen Überschneidungen insoweit siehe Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 642. 921 Siehe Kapitel 3 A.
C. Die Erhebung formeller und materieller Bewertungsrügen341
durch die wenigen normativen Vorgaben nur unvollkommen gezogenen Entscheidungsrahmen und begrenzen den Bewertungsspielraum des Prüfers nach außen. Die im Übrigen durch die Ausübung desselben geprägte (Be‑ wertungs‑)Entscheidung wird dann nach der Kontrollformel des Bundesver‑ waltungsgerichtes nur bei einer Missachtung des Sachlichkeitsgebots und bei einem Verstoß gegen das Willkürverbot aufgehoben. Durch diese beiden Kontrollelemente wird der Bewertungsspielraum des Prüfers gleichsam nach innen begrenzt922. Man kann daher – in Anlehnung an die entsprechende Unterscheidung im Rahmen der Ermessensfehlerlehre923 – zwischen äuße‑ ren und inneren Grenzen des Bewertungsspielraums differenzieren, die durch die Kontrollformel des Bundesverwaltungsgerichtes errichtet werden. Da aber die Bewertung einer Prüfungsleistung wie dargestellt im Rahmen eines dreistufigen Abwägungsprozesses vollzogen wird bzw. jedenfalls voll‑ zogen werden sollte, wird mit der Überprüfung der Einhaltung dieser Gren‑ zen bei genauer Betrachtung allein die Abwägung des Prüfers überprüft und der Zweck der Kontrollformel wesentlich treffender beschrieben, wenn in dieser ein Modell zur Kontrolle des normativ kaum gesteuerten Abwägungs‑ prozesses gesehen wird. Mit dieser Einordnung ist zugleich die Funktion der „allgemein gültigen Bewertungsgrundsätze“ geklärt. Soweit diese auf‑ grund ihrer Stellung innerhalb der Kontrollformel des Bundesverwaltungs‑ gerichtes ein eigenständiges Instrument der Abwägungskontrolle darzustel‑ len scheinen, ist klarzustellen, dass sie diese Bedeutung mit der Einführung des zu berücksichtigenden Antwortspielraums des Prüflings verloren haben. Denn bis dahin wurden unter „allgemeinen Bewertungsgrundsätzen“ nur solche verstanden, die den Bewertungsspielraum des Prüfers – wie das Sachlichkeitsgebot – im Kern unberührt lassen924. Nunmehr können zu die‑ sen ohne Weiteres auch das Verbot der Anstellung sachfremder Erwägungen und das Willkürverbot gezählt werden. Entgegen dem bisherigen Verständ‑ nis erscheinen daher „allgemeine Bewertungsgrundsätze“ als Abwägungs‑ kontrollmaßstäbe. 4. Das Modell der rationalen Abwägungskontrolle Soweit in der bayerischen Verwaltungsgerichtsbarkeit über die vom Bun‑ desverwaltungsgericht angewandten Kontrollmaßstäbe hinaus ausweislich der erweiterten „bayerischen Kontrollformel“ insbesondere überprüft wird, 922 Siehe zur Terminologie der „inneren Grenze“ des Bewertungsspielraums etwa BVerwGE 57, 130 (140). 923 Zur Abgrenzung insoweit siehe Jestaedt, in: Erichsen/Ehlers, § 11, Rn. 61 f.; Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, § 40, Rn. 62, 74; Stickelbrock, S. 199. 924 Vgl. Seebass NVwZ 1992, 609 (614 f.).
342 Kap. 6: Möglichkeiten (gerichtlicher) Kontrolle der Prüfungsentscheidung
ob die Bewertung dem Gebot rationaler Abwägung gerecht wird925, wird die in der Sache vorgenommene Abwägungskontrolle offensichtlich. Dabei erscheint dieses Kontrollkriterium, indem es entweder in die Kontrollformel des Bundesverwaltungsgerichtes implementiert926 oder nach der Referierung derselben explizit als Erweiterung des mit dieser vorgegebenen Kon trollprogramms dargestellt wird („darüber hinaus“927), als dessen bloße punktuelle Ergänzung bzw. Modifikation. Tatsächlich aber stellt sich eine am Maßstab des Gebots der rationalen Abwägung ausgerichtete Abwägungskontrolle im Ergebnis als eigenständi‑ ges Modell der Abwägungskontrolle dar, indem es zwar die mit der Kon trollformel des Bundesverwaltungsgerichtes vorgegebenen äußeren Grenzen des Abwägungsspielraums übernimmt, im Übrigen aber die Falsifikations‑ maßstäbe erweitert und die eigentliche Abwägung des Prüfers einer engeren Kontrolle als bisher unterzieht. Dieses Modell gilt es unter Aufgreifung der bisherigen (allgemeinen) Ansätze in Rechtsprechung und Literatur zu einer rationalen Abwägungskontrolle nachfolgend zu entwickeln. a) Einführung durch das Bundesverfassungsgericht Als Terminus und Kontrollmaßstab eingeführt wurde das Gebot der rati‑ onalen Abwägung vom Bundesverfassungsgericht in der Numerus-claususEntscheidung vom 22.10.1991, in der das Gericht den verfassungsrechtlich gebotenen Umfang der fachgerichtlichen Kontrolle einer den Hochschulzu‑ gang beschränkenden Kapazitätsverordnung aufgezeigt hat928. Diese – bzw. konkreter die ihrem Erlass vorausgegangene Abwägung des Verordnungsge‑ bers zwischen den von einer (Nicht‑)Beschränkung des Hochschulzugangs betroffenen Grundrechtspositionen – sei von den Verwaltungsgerichten nicht nur am Willkürverbot zu messen, sondern darauf zu überprüfen, ob sie den Erfordernissen rationaler Abwägung genüge929. Der Verordnungsgeber müsse von Annahmen ausgehen, die dem aktuellen Erfahrungs- und Kennt‑ nisstand entsprechen und eine etwaige Kapazitätsminderung auf das unbe‑ dingt erforderliche Maß beschränken930. Eine solche Inhaltskontrolle setze aber die Offenlegung derjenigen Annahmen und Wertungen voraus, die die 925 BayVGH, Urt. v. 05.08.1992 – 7 CE 92.896, BayVBl. 1992, 659 (660); Urt. v. 20.01.1993 – 7 ZB 91.1312, juris, Rn. 24; Urt. v. 17.10.2003 – 7 B 02.640, juris, Rn. 23; Bes. v. 21.11.2011 – 7 ZB 11.1320, juris, Rn. 8. 926 So etwa BayVGH, Urt. v. 20.01.1993 – 7 ZB 91.1312, juris, Rn. 24. 927 So etwa BayVGH, Bes. v. 21.11.2011 – 7 ZB 11.1320, juris, Rn. 8. 928 BVerfGE 85, 36 (2. Leitsatz, 57 ff.). 929 Siehe BVerfGE 85, 36 (2. Leitsatz, 57 ff.). 930 BVerfGE 85, 36 (57).
C. Die Erhebung formeller und materieller Bewertungsrügen343
Abwägungsentscheidung bestimmt haben931. Begründungslücken oder Feh‑ ler im Ableitungszusammenhang könnten den Schluss rechtfertigen, dass das Gebot erschöpfender Kapazitätsauslastung verletzt worden sei932. In der ein knappes Jahr später ergangenen Privatgrundschulentscheidung933 hat das Bundesverfassungsgericht dann die mögliche und verfas‑ sungsrechtlich gebotene Kontrolle einer am Maßstab des Vorliegens eines besonderen pädagogischen Interesses erfolgten (administrativen) Abwä‑ gungsentscheidung über die Zulassung einer privaten Grundschule aufge‑ zeigt. Insoweit betont das Bundesverfassungsgericht (lediglich) das Erfor‑ dernis einer substantiellen und nachvollziehbaren Begründung der Abwä‑ gungsentscheidung als Voraussetzung für deren verwaltungsgerichtliche Kontrolle, der nur die von der Behörde vorgenommene konkrete Bewertung und Abwägung im engeren Sinne entzogen sei934. Da diese Ausführungen nicht (ausdrücklich) im Kontext mit den Erfordernissen einer rationalen Abwägung im Sinne der Numerus-clausus-Entscheidung erfolgen, auf diese im Übrigen auch nicht (ausdrücklich) Bezug genommen wird und sich Pa‑ rallelen zwischen jener und der Privatgrundschulentscheidung allenfalls hinsichtlich des jeweils betonten Begründungserfordernisses ergeben, ist es nicht nachvollziehbar, dass in der Literatur bislang einhellig davon ausge‑ gangen wird935, dass das Bundesverfassungsgericht damit seine Rechtspre‑ chung zu den Erfordernissen einer rationalen Abwägung fortgesetzt habe. Ungeachtet dessen ist festzuhalten, dass das Gebot der rationalen Abwägung als Maßstab für die Kontrolle legislativer oder auf der Ausübung eines Beurteilungsspielraums beruhender administrativer Abwägungsentscheidun‑ gen in der nachfolgenden Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes dann nach keiner Lesart mehr wieder aufgegriffen worden ist. Diese Ein‑ schätzung entspricht – soweit dieser ersichtlich ist – dem tatsächlichen Befund. Überdies steht (somit) außer Frage, dass das vom Bundesverfas‑ sungsgericht für einen exekutiven Legislativakt aufgestellte Rationalitäts‑ postulat jedenfalls zu keinem Zeitpunkt explizit auf Behördenentscheidun‑ 931 BVerfGE
85, 36 (57). 85, 36 (57). 933 BVerfGE 88, 40 ff. 934 Vgl. BVerfGE 88, 40 (60 f.). Zum Umfang der gerichtlichen Kontrolle beim Vorliegen einer behördlichen Letztentscheidungsbefugnis siehe zuletzt insbesondere BVerfG, Bes. v. 10.12.2009 – 1 BvR 3151/07, NVwZ 2010, 435 (438), ohne indes die Abwägung und die (gerichtliche) Kontrolle dieses Vorgangs herauszustellen. 935 Siehe insbesondere Gerhardt, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, vor § 113, Rn. 23 m. Fn. 2; Kopp/Schenke, VwGO, § 114, Rn. 28, die sowohl die Numerusclausus-Entscheidung als auch die Privatgrundschulentscheidung im Kontext mit dem als Kontrollmaßstab angeführten Gebot der rationalen Abwägung als Referenz entscheidung anführen. 932 BVerfGE
344 Kap. 6: Möglichkeiten (gerichtlicher) Kontrolle der Prüfungsentscheidung
gen erstreckt worden ist, die auf der Nutzung eines (normativ) eingeräumten Entscheidungsspielraums beruhen. Im Hinblick auf diese Unterlassung und den Umstand, dass selbst bei Hinzunahme der in der Privatgrundschulentscheidung benannten Kriterien das Gebot der rationalen Abwägung als Kontrollinstrument so vage bleibt, dass dieses die damit verbundene Reich‑ weite der gerichtlichen Kontrolle kaum erkennen lässt936, ist es verwunder‑ lich, dass es in der nachfolgenden verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung dennoch zur Limitation behördlicher Entscheidungsfreiräume jedenfalls vereinzelt herangezogen worden ist, erklärt aber andererseits, warum es sich in dieser Funktion bis zum heutigen Zeitpunkt in der Breite nie hat durch‑ setzen können. Im Einzelnen sind hinsichtlich der Rezeption desselben in der verwaltungsgerichtlichen Judikatur folgende Feststellungen zu treffen: Noch vor der Privatgrundschulentscheidung des Bundesverfassungsge‑ richtes wurde vom Bayerischen Verwaltungsgerichtshof das Rationalitäts‑ postulat aus der Numerus-clausus-Entscheidung für die Kontrolle einer pä‑ dagogischen Beurteilung adaptiert und diese ausweislich der Kontrollformel darauf hin überprüft, ob sie in sich schlüssig und nachvollziehbar ist und den Erfordernissen rationaler Abwägung nicht widerspricht937. Dieser Maß‑ stab ist wenig später auf die Kontrolle nichtschulischer Prüfungsentschei‑ dungen übertragen worden938 und wird heutzutage allgemein – wie darge‑ legt insbesondere auch im Rahmen juristischer Prüfungsanfechtungen939 – in der bayerischen Verwaltungsgerichtsbarkeit angewendet940. In der übrigen instanzgerichtlichen Rechtsprechung ist das Gebot der rati‑ onalen Abwägung vereinzelt – in jüngerer Zeit zunehmend – in erster Linie als Kontrollmaßstab für die fachgerichtliche Überprüfung von beamtenrecht‑ lichen Auswahlentscheidungen und dienstlichen Beurteilungen eingeführt worden941, wird vereinzelt aber ebenfalls zur Kontrolle von (schulischen) 936 Kritisch insoweit auch Redeker, NVwZ 1992, 305 (308); Sachs, JuS 1992, 1060 (1060). 937 BayVGH, Urt. v. 05.08.1992 – 7 CE 92.896, BayVBl. 1992, 659 (660). 938 BayVGH, Urt. v. 20.01.1993 – 7 ZB 91.1312, juris, Rn. 24; Bes. v. 12.07.1993 – 7 B 92.2683, juris, Rn. 16. 939 Siehe etwa BayVGH, Urt. v. 18.02.1998 – 7 B 97.2787, juris, Rn. 26; zuletzt etwa BayVGH, Bes. v. 21.11.2011 – 7 ZB 11.1320, juris, Rn. 8; siehe im Übrigen bereits Kapitel 6 C. II. 940 BayVGH, Bes. v. 21.11.2011 – 7 ZB 11.1320, juris, Rn. 8; VG Ansbach, Urt. v. 07.03.2002 – AN 2 K 00.01712, juris, Rn. 69; VG Würzburg, Urt. v. 13.06.2005 – W 8 K 04.639, juris, Rn. 41; VG Augsburg, Urt. v. 15.01.2010 – Au 3 K 09.89, juris, Rn. 20. 941 HessVGH, Bes. v. 26.10.1993 – 1 TG 1585/93, DVBl 1994, 593 (594) (be‑ amtenrechtliche Auswahlentscheidung); OVG Magdeburg, Bes. v. 19.12.1996 – B 3 S 193/96, juris, Rn. 38 (beamtenrechtliche Auswahlentscheidung); VG Wiesbaden, Bes. v. 17.03.2010 – 8 L 1075/09.WI, juris, Rn. 52 (Anlassbeurteilung); VG Kassel,
C. Die Erhebung formeller und materieller Bewertungsrügen345
Leistungsbewertungen herangezogen942. Bisher singulär geblieben ist dessen Heranziehung zur Kontrolle „klassischer“ Ermessensentscheidungen943. Ein die Möglichkeiten und Grenzen der gerichtlichen Abwägungskontrolle im Einzelnen aufzeigendes, einheitliches Kontrollschema ist dabei im Zuge der instanzgerichtlichen Adaption des Rationalitätspostulats von den Verwal‑ tungsgerichten aber ebenso wenig erarbeitet worden. Die Ergebnisse der praktischen Rechtsanwendung beschränken sich derzeit noch auf die folgen‑ den Erkenntnisse: Einigkeit besteht darüber, dass über das (auch) vom Bun‑ desverfassungsgericht betonte formelle Begründungserfordernis hinaus die Begründung der Entscheidung in inhaltlicher Hinsicht schlüssig und nach‑ vollziehbar sein muss944. Während sich in diesem Erfordernis nach Ansicht einiger Gerichte das Gebot der rationalen Abwägung wohl erschöpfen soll945, wird dieses überwiegend als (scheinbar) eigenständiges Kontrollkriterium ne‑ ben dem Erfordernis aufgeführt, dass die Entscheidung (inhaltlich) dem Ge‑ bot der rationalen Abwägung nicht widersprechen dürfe946. Ob damit aller‑ dings tatsächlich unterschiedliche Kontrollmaßstäbe einhergehen, erscheint fraglich. Denn wenn für eine rationale Abwägung nicht mehr als eine nach‑ vollziehbare Gewichtung und Abwägung der dargelegten Abwägungsge‑ sichtspunkte verlangt wird947, geht das Erfordernis einer schlüssigen und nachvollziehbaren Abwägung ohne Weiteres in dem Rationalitätspostulat auf. Bes. v. 29.08.2011 – 1 L 481/11.KS, juris, Rn. 15 (beamtenrechtliche Auswahlent‑ scheidung); OVG Rheinland-Pfalz, Bes. v. 23.11.2011 – 2 B 10942/11, juris, Rn. 6 (Auswahlentscheidung bei Dienstpostenübertragung). 942 OVG Lüneburg, Bes. v. 10.12.2009, juris, Rn. 9 (Prüfungsentscheidung – Nichtbestehen der Zwischenprüfung für den gehobenen allgemeinen Verwaltungs‑ dienst); VG Saarlouis, Bes. v. 23.09.2011 – 1 L 763/11, juris, Rn. 28 (Zeugnisnote). 943 VG Göttingen, Urt. v. 06.07.2010 – 1 A 71/08, juris, Rn. 18 (Einrichtung einer Bushaltestelle). 944 OVG Rheinland-Pfalz, Bes. v. 23.11.2011 – 2 B 10942/11, juris, Rn. 6 (Aus‑ wahlentscheidung bei Dienstpostenübertragung); VG Wiesbaden, Bes. v. 17.03.2010 – 8 L 1075/09.WI, juris, Rn. 52 (Anlassbeurteilung), VG Kassel, Bes. v. 29.08.2011 – 1 L 481/11.KS, juris, Rn. 15 (beamtenrechtliche Auswahlentscheidung); VG Saarlou‑ is, Bes. v. 23.09.2011 – 1 L 763/11, juris, Rn. 28 (Zeugnisnote); VG Göttingen, Urt. v. 06.07.2010 – 1 A 71/08, juris, Rn. 18 (Einrichtung einer Bushaltestelle). 945 VG Wiesbaden, Bes. v. 17.03.2010 – 8 L 1075/09.WI, juris, Rn. 52 (Anlass‑ beurteilung); VG Kassel, Bes. v. 29.08.2011 – 1 L 481/11.KS, juris, Rn. 15 (beam‑ tenrechtliche Auswahlentscheidung). 946 BayVGH, Urt. v. 05.08.1992 – 7 CE 92.896, BayVBl. 1992, 659 (660); Urt. v. 17.10.2003 – 7 B 02.640, juris, Rn. 23; Bes. v. 21.11.2011 – 7 ZB 11.1320, juris, Rn. 8; Urt. v. 20.01.1993 – 7 ZB 91.1312, juris, Rn. 24; OVG Lüneburg, Bes. v. 10.12.2009 – 5 ME 182/09, juris, Rn. 9; VG Göttingen, Urt. v. 06.07.2010 – 1 A 71/08, juris, Rn. 18 (Einrichtung einer Bushaltestelle); VG Saarlouis, Bes. v. 23.09.2011 – 1 L 763/11, juris, Rn. 28 (Zeugnisnote). 947 Vgl. OVG RLP, Bes. v. 23.11.2011 – 2 B 10942711, juris, Rn. 6; siehe auch BayVGH, Bes. v. 21.11.2011, juris. Rn. 10: „keine Fehlgewichtung“.
346 Kap. 6: Möglichkeiten (gerichtlicher) Kontrolle der Prüfungsentscheidung
b) Entwicklung und gegenwärtiger Stand der Diskussion in der Verwaltungsrechtsdogmatik In der Literatur ist bei der Aufnahme der vorgenannten Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes zwar ihre Bedeutung für die Begrenzung behördlicher Entscheidungsfreiräume herausgestellt948, die diesbezügliche Rolle des Gebots der rationalen Abwägung als (mögliches) Instrument zur Intensivierung der verwaltungsgerichtlichen Kontrolle aber kaum themati‑ siert und dieser (Kontroll‑)Ansatz (zunächst) nicht zu einem (neuen) Abwä‑ gungskontrollmodell fortentwickelt worden949. Die Stellungnahmen inso‑ weit erschöpfen sich in der Einschätzung, dass in diesem Ansatz primär ein prozedurales Konzept der Kontrolldichte zu erblicken sei, das über die für die Kontrolle von Ermessensentscheidungen angewandten Maßstäbe hinaus‑ gehe950 und – wie bei der Kontrolle des Abwägungsvorgangs im Planungs‑ recht – primär auf die Rationalität des Entscheidungsverfahrens, denn des Ergebnisses gerichtet sei951. Immerhin ist aber die bereits zuvor in der Literatur geführte952 und na‑ mentlich durch die Privatgrundschulentscheidung (wieder‑)belebte Diskus‑ sion der Frage, ob aufgrund möglicherweise bestehender Gemeinsamkeiten zwischen den verschiedenen Erscheinungsformen administrativer Entschei‑ dungsfreiräume die Kontrolle derselben vereinheitlicht werden kann, fortge‑ setzt953 und insbesondere durch einige in jüngerer Zeit erschienene, ein‑ schlägige Diskussionsbeiträge954 bereichert worden. Diese haben zu einer weiteren Klärung der Stand- und Streitpunkte geführt, so dass der Stand der gegenwärtigen Diskussion wie folgt zusammengefasst werden kann955: Eine Annäherung scheint insoweit erzielt worden zu sein, als wohl mittler‑ 948 Siehe etwa Goerlich, DVBl 1993, 490 (490); Hufen, JuS 1994, 432 (433); Reidt, DÖV 1992, 916 (insb. 919 f.); Sachs, JuS 1992, 1060 (1060); Schmidt-Aßmann/Groß, NVwZ 1993, 617 (617 f.). 949 Ansatzweise noch etwa bei Sachs, JuS 1992, 1060 (1060); Goerlich, DVBl 1993, 490 (491); kritisch Redeker, NVwZ 1992, 305 (308). 950 So Goerlich, DVBl 1993, 490 (491). 951 So die Einschätzung von Sachs, JuS 1992, 1060 (1060 m. Fn. 14). 952 Siehe etwa Goerlich, DVBl 1993, 490 (490); Hufen, JuS 1994, 432 (433); Reidt, DÖV 1992, 916 (insb. 919 f.); Sachs, JuS 1992, 1060 (1060); Schmidt-Aßmann/Groß, NVwZ 1993, 617 (617 f.). 953 Initiierend und richtungsgebend insoweit wohl der Beitrag von Schmidt-Aßmann/Groß, NVwZ 1993, 617 (624 f.). 954 Siehe insbesondere Jestaedt, in: Erichsen/Ehlers, § 11, Rn. 10 ff.; Riehm, S. 51 f., 189 f., 241; Bosch, S. 22 f.; Pache, S. 457 ff.; insb. S. 497; aus didaktischer Perspektive Beaucamp, JA 2012, 193 (195 f.); Eifert, ZJS 2008, 336 (341 f.). 955 Siehe diesbezüglich auch die Darstellung von Jestaedt, in: Erichsen/Ehlers, § 11, Rn. 10 ff.; Bosch, S. 19 ff.; Wolff, in: Sodan/Ziekow, VwGO, § 114, Rn. 36.
C. Die Erhebung formeller und materieller Bewertungsrügen347
weile übereinstimmend davon ausgegangen wird, dass die verschiedenen Formen behördlicher Entscheidungsfreiräume ein übereinstimmendes Struk‑ turmerkmal insbesondere insoweit aufweisen, als im Rahmen der Ausübung derselben stets eine wertende Abwägung im Sinne des Ermittelns, des Ge‑ wichtens und des Ausgleichs der widerstreitenden Interessen erforderlich ist956, wobei das Ergebnis derselben durch die gesetzlichen Vorgaben nicht vollständig determiniert ist, so dass sich infolgedessen die gerichtliche Überprüfung im Wesentlichen auf die Einhaltung derselben sowie auf die Beachtung der Verfahrensbestimmungen und die vollständige und zutreffen‑ de Ermittlung des entscheidungserheblichen Sachverhalts beschränken und insbesondere die konkrete Abwägung im Rahmen der Subsumtion weitge‑ hend ausnehmen muss957. Während eine, ehemals vorherrschende958, mitt‑ lerweile aber wohl schon als Mindermeinung anzusehende Ansicht959 trotz‑ dem nicht nur an der begrifflichen Differenzierung zwischen namentlich Beurteilungsspielraum, Rechtsfolgeermessen und planerischer Abwägungs‑ ermächtigung, sondern im Grundsatz auch an einer jeweils eigenständigen Kontrolltypologie festhält960, konvergiert eine mindestens im Vordringen befindliche Auffassung, die nunmehr schon als herrschende Meinung zu bezeichnen sein dürfte, die aus den strukturellen Gemeinsamkeiten der Ent‑ scheidungsfreiräume folgenden, übereinstimmenden Kontrollbeschränkun‑ gen zu einheitlichen Modellen der Abwägungskontrolle961, wobei die (Konvergenz‑)Ansätze unterschiedlich sind. 956 Formulierung angelehnt an Gerhardt, in Schoch/Schneider/Bier, VwGO, Vor‑ bemerkung § 113, Rn. 20; § 114, Rn. 5; diese aufgreifend auch Jestaedt, in: Erich‑ sen/Ehlers, § 11, Rn. 41; Pache, S. 483. 957 Vgl. insbesondere Wolff, in: Sodann/Ziekow, VwGO, § 114, Rn. 40 f.; Kopp/ Schenke, VwGO, § 114, Rn. 23; Gerhardt, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, Vor‑ bemerkung § 113, Rn. 20; Jestaedt, in: Erichsen/Ehlers, § 11, Rn. 30; siehe auch Bosch, S. 22 f. 958 Siehe insoweit die Nachweise bei Herdegen, JZ 1991, 747 (747 m. Fn. 2). 959 Mit anderer Einschätzung insoweit Jestaedt, in: Erichsen/Ehlers, § 11, Rn. 10; Wolff, in: Sodan/Ziekow, VwGO, § 114, Rn. 36. 960 Wolff, in: Sodan/Ziekow, VwGO, § 114, Rn. 35 f.; Maurer, § 7, Rn. 55. 961 Insbesondere Schmidt-Aßmann/Groß, NVwZ 1993, 617 (624 f.); Schmidt-Aßmann, S. 219 f.; Jestaedt, in: Erichsen/Ehlers, § 11, Rn. 41 f.; Gerhardt, in: Schoch/ Schneider/Bier, VwGO, Vorbemerkung § 113, Rn. 20, 23; Kopp/Ramsauer, die § 40 VwVfG analog anwenden, siehe Kopp/Ramsauer, VwVfG, § 40, Rn. 4, 22 f., 104, 87, und zur Kontrollstruktur Rn. 58 ff.; Kopp/Schenke, VwGO, § 114, Rn. 23; Eifert, ZJS 2008, 336 (341 f.); letztlich auch Pache, S. 497; partiell, nämlich die Struktur der Kontrolle der planerischen Abwägung auf komplexe Ermessensentscheidungen übertragend, Bosch, S. 22 f.; ebenfalls partiell in Bezug auf Ermessens- und Beurtei‑ lungsspielräume Bamberger, VerwArch 93 (2002), 217 (232); ebenso, aus einem generellen, übergreifenden Ansatz heraus Riehm, S. 189 f.; aus primär didaktischer Perspektive insoweit Beaucamp, JA 2012, S. 193 (195 f.).
348 Kap. 6: Möglichkeiten (gerichtlicher) Kontrolle der Prüfungsentscheidung
So erblickt eine im Schrifttum vertretene Auffassung in § 114 VwGO das Grundmuster der (Abwägungs‑)Kontrolle962 und will diese Vorschrift entwe‑ der ausdrücklich963 oder jedenfalls in der Sache964 analog anwenden oder zu‑ mindest die Rechtsgedanken dieser Vorschrift übernehmen965. Demgegenüber gewinnt eine andere – bisher noch als Mindermeinung anzusehende – An‑ sicht966 die einheitlichen Kontrollparameter durch die Übernahme der im (Bau‑)Planungsrecht entwickelten Abwägungsfehlerlehre967 als dem Grund‑ modell der (rationalen)968 Abwägungskontrolle969. Diese stimmen – bei bei‑ den Ansätzen – zunächst mit den soeben schon dargestellten und hier termi‑ nologisch teils nur anders akzentuierten Kontrollbeschränkungen bzw. -mög‑ lichkeiten bei Bestehen einer behördlichen Letztentscheidungsbefugnis über‑ ein und unterscheiden sich nur in der Differenziertheit der Kontrolle des Abwägungsvorgangs bzw. ‑ergebnisses. Während insoweit bei der Übernah‑ me der Abwägungsfehlerlehre eine differenzierte Überprüfung dahin erfolgt, ob die Begründung der Abwägungsentscheidung einen Abwägungsausfall, ein Abwägungsdefizit, eine Abwägungsfehleinschätzung oder eine Abwägungs‑ disproportionalität erkennen lässt970, erfolgt bei dem anderen Konvergenzan‑ satz bisweilen nur eine Überprüfung dahin, ob die Abwägungsentscheidung eine Fehlgewichtung der Belange erkennen lässt971. Damit bleibt der Kon trollmaßstab so vage, dass dann letztlich doch bisweilen wieder auf die tra‑ dierten Ermessens- und Beurteilungsfehlerlehren zurückgegriffen wird972. 962 Insbesondere Gerhardt, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, Vorbemerkung § 113, Rn. 20, § 114, Rn. 3; Jestaedt, in: Erichsen/Ehlers, § 11, Rn. 41. 963 So Kopp/Schenke, VwGO, § 114, Rn. 23; dagegen Wolff, in: Sodan/Ziekow, VwGO, § 114, Rn. 37 f.; siehe zur analogen Anwendung des § 40 VwVfG mit glei‑ chem Ergebnis Kopp/Ramsauer, VwVfG, § 40, Rn. 4. 964 Insbesondere Beaucamp, JA 2012, 193 (195 f., insbesondere S. 197); Bamberger, VerwArch 93 (2002), 217 (232); unklar Eifert, ZJS 2008, 336 (341 f.). 965 Gerhardt, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, § 114, Rn. 3. 966 Bosch, S. 22; Pache, S. 497; zuvor – die Abwägungsfehlerlehre in die Ermes‑ sensfehlerlehre integrierend – bereits Alexy, JZ 1986, 701 (711). 967 Siehe zu dieser BVerwGE 34, 301 (309); 45, 309 (314 f.); Brohm, § 13 Rn. 15 ff.; Reidt, in: Gelzer/Bracher/Reidt/Schiller, Rn. 618; Hoppe, in: Hoppe/Bön‑ ker/Grotefels, Rn. 91 ff.; Pache, S. 498; Bosch, S. 41. 968 Die Abwägungsfehlerlehre ausdrücklich als das Postulat der rationalen Ab‑ wägung konkretisierend einordnend Berkemann, FS Schlichter, 27 (48). 969 Gerhardt, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, Vorbemerkung § 113, Rn. 20; Pache, S. 497; Jestaedt, in: Erichsen/Ehlers, § 11, Rn. 41 m. Fn. 159; Bosch, S. 22. 970 Pache, S. 497; Bosch, S. 23 ff., S. 37 ff.; siehe auch Eifert, ZJS 2008, 336 (341 f.), bei dem allerdings nicht ganz klar ist, welchen Konvergenzansatz er wählt. 971 Gerhardt, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, § 114, Rn. 7; Jestaedt, in: Erichsen/Ehlers, § 11, Rn. 42. 972 Paradigmatisch Jestaedt, in: Erichsen/Ehlers, § 11, Rn. 43, 44 ff., 55 ff.; siehe zur Überprüfung von Prüfungsentscheidungen die Übernahme der Kontrollformel
C. Die Erhebung formeller und materieller Bewertungsrügen349
Oder aber es werden von vornherein die Kriterien beider Lehren vermengt und um das Postulat der rationalen Abwägung im Sinne der referierten Recht‑ sprechung des Bundesverfassungsgerichtes ergänzt973, womit eine klare Kon‑ trollstruktur nicht mehr erkennbar ist. Bei beiden Ansätzen stellt sich übrigens die Frage des Vorteils der vermeintlich einheitlich erfolgenden Abwägungs‑ kontrolle974, die sich ungeachtet dessen überwiegend dadurch auszeichnet, dass neben dem Vorliegen einer rechtsgültigen Ermächtigungsgrundlage975 bzw. einer Abwägungsermächtigung976 nur die Einhaltung des vorgeschriebe‑ nen Verfahrens, die vollständige und zutreffende Ermittlung des Sachverhalts und die Beachtung der Abwägungsdirektiven (vollständig) überprüft wird977. Zudem erfolgt meist noch der explizite Hinweis, dass Voraussetzung der Rechtmäßigkeit der Abwägungsentscheidung sei, dass keine sachfremden Er‑ wägungen angestellt worden sind978. Auch wenn die in der Literatur vertretenen einheitlichen Abwägungsfeh‑ lerlehren nicht im Gewande eines dem Gebot der Rationalität verpflichteten Abwägungskontrollmodells präsentiert werden, so stellen sie doch ein Steu‑ erungs- und Kontrollinstrumentarium vor, mit dem fraglos Kriterien für ein sachgerechtes bzw. rationales Abwägen im Sinne des aus der Rechtspre‑ chung des Bundesverfassungsgerichtes hervorgegangenen Postulats des rati‑ onalen Abwägens definiert werden. Auffällig dabei ist, dass in der Literatur eher die materiellen Rationalitätsanforderungen in den Vordergrund gerückt werden, während in der Rechtsprechung durch das dort betonte Erfordernis der Schlüssigkeit und Nachvollziehbarkeit der Abwägungsentscheidung der Fokus mehr auf der formalen Rationalität derselben zu liegen scheint.
des Bundesverwaltungsgerichtes in Rn. 47; ebenso Gerhardt, in: Schoch/Schneider/ Bier, VwGO, § 114, Rn. 74. Siehe auch Beaucamp, JA 2012, 193 (196 f.), der zwar Ermessens- und auf der Ausübung eines Beurteilungsspielraums beruhende Entschei‑ dungen grundsätzlich nach einem einheitlichen Muster überprüfen, an dem Falsifi‑ kationsmaßstab der Verletzung „allgemein gültiger Bewertungsmaßstäbe“ bei letzte‑ ren aber festhalten will. 973 Kopp/Schenke, VwGO, § 114, Rn. 23, 28; siehe auch Gerhardt, in: Schoch/ Schneider/Bier, VwGO, Vorbemerkung § 113, Rn. 23. 974 Insoweit generell skeptisch Wolff, in: Sodan/Ziekow, VwGO, § 114, Rn. 34. 975 So Eifert, ZJS 2008, 336 (341 f.); Jestaedt, in: Erichsen/Ehlers, § 11, Rn. 42. 976 Mit dieser Terminologie Pache, S. 498. 977 Siehe insbesondere Jestaedt, in: Erichsen/Ehlers, § 11, Rn. 42; ähnlich Gerhardt, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, § 114, Rn. 7; Eifert, ZJS 2008, 336 (341); Pache, S. 498. 978 Eifert, ZJS 2008, 336 (341); Gerhardt, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, § 114, Rn. 7; Beaucamp, JA 2012, 193 (197).
350 Kap. 6: Möglichkeiten (gerichtlicher) Kontrolle der Prüfungsentscheidung
c) Das universelle Abwägungskontrollmodell Riehms Diese formalen und materialen Rationalitätskriterien sind nun zuletzt von Riehm in einer jüngeren, bislang unbeachtet gebliebenen Untersuchung zu „Abwägungsentscheidungen in der praktischen Rechtsanwendung“, in wel‑ cher erstmals die Möglichkeiten und Grenzen einer am Maßstab des Gebots der rationalen Abwägung ausgerichteten (Gerichts‑)Kontrolle einer Abwä‑ gungsentscheidung umfassend untersucht und aufgezeigt werden, gebündelt und zu einem neuen Abwägungskontrollmodell fortentwickelt worden. Die‑ ses kann als universell bezeichnet werden, weil es zur Überprüfung sämtli‑ cher, und nicht nur administrativer Abwägungsentscheidungen im Rahmen der praktischen Rechtsanwendung geeignet sein soll und auch erscheint979. aa) Die einzelnen Kontrollparameter Die sich nach der Untersuchung Riehms ergebenden Kontrollmaßstäbe sol‑ len hier kurz vorgestellt werden, die im Ausgangspunkt auf der von ihm im Anschluss an Weber980 als grundlegend erachteten Differenzierung zwischen formaler und materialer Rationalität beruhen981. Im Sinne dieser Differenzie‑ rung soll das Erfordernis der formalen Rationalität Anforderungen an das Verfahren der Entscheidungsfindung und -begründung, die materiale Ratio‑ nalität demgegenüber ebensolche inhaltlicher Art an die Prämissen des Ent‑ scheidungsprozesses und damit auch an das Entscheidungsergebnis stellen982. Ausgehend von diesem Rationalitätsbegriff postuliert Riehm einstweilen die Notwendigkeit des Vorliegens eines sachlichen Begründungszusammen‑ hangs zwischen den Entscheidungsprämissen und dem Entscheidungsergeb‑ nis, der nur gegeben sein soll, wenn über das letztlich als selbstverständlich vorausgesetzte Erfordernis der Benennung der Gründe der getroffenen Entscheidung mit diesen auch ein logischer Zusammenhang zum Entschei‑ dungsergebnis etabliert werden könne983. Vereinfacht ausgedrückt muss die im Rahmen des Abwägungsmodells getroffene Entscheidung auch nach Riehm im Sinne des ursprünglichen Wortsinns zunächst einmal „vernünftig“ begründet werden984, um als „rational“ angesehen werden zu können985. Riehm, S. 159 ff., insbesondere S. 180 ff., 186 ff., 191 f. S. 44. 981 Siehe zu dieser Riehm, S. 94 ff. 982 Riehm, S. 94. 983 Vgl. Riehm, S. 98 f. 984 Vgl. Riehm, S. 98 f. 985 Zur Definition der Rationalität http://www.duden.de/rechtschreibung/Rationa litaet; siehe im Übrigen auch Hofmeyer, S. 59. 979 Vgl.
980 Weber,
C. Die Erhebung formeller und materieller Bewertungsrügen351
An dem Vorliegen eines sachlichen Begründungszusammenhangs und entsprechend an der formalen Rationalität der Entscheidung fehlt es nach Riehm danach zunächst, wenn Gründe für die Entscheidung überhaupt nicht angegeben worden sind986. Sind solche benannt worden, sollen diese nur dann als „sachlich“ bzw. „vernünftig“ anzusehen sein, wenn von ihnen das Entscheidungsergebnis abhängen kann987. Mit anderen Worten leitet Riehm aus dem Erfordernis der formalen Rationalität in negativer Hinsicht das Verbot der Anstellung sachfremder Erwägungen und in positiver Hinsicht das Gebot ab, dass alle einschlägigen sachlichen Erwägungen auch tatsäch‑ lich berücksichtigt werden988. Schließlich soll aus dem Erfordernis des logischen Begründungszusammenhangs nach Riehm das Gebot der „logi‑ schen Konsistenz und Kohärenz der Entscheidung“ und damit insbesondere das Verbot der Anstellung widersprüchlicher Erwägungen folgen989. Riehm selbst fasst den von ihm definierten Maßstab der formalen Rationa‑ lität, den er als absolut-objektiv ansieht, weil er mit dem Anspruch auf objek‑ tive Richtigkeit ermittelt werden könne990, dahin zusammen, dass jede Abwä‑ gungsentscheidung daraufhin überprüft werden könne, ob überhaupt eine (for‑ mal) rationale Abwägung stattgefunden hat, also kein Abwägungsausfall vor‑ liegt, sowie ob die Abwägung in sich widerspruchsfrei ist und nicht auf sachfremden Erwägungen beruht991. Dabei zeigt namentlich das (auch) von Riehm aufgestellte Erfordernis eines sachlichen Begründungszusammenhangs auf, dass als Kontrollgegenstand insoweit nur die ex post gegebene Entschei‑ dungsbegründung, nicht aber der psychische Entscheidungsfindungsprozess in Betracht kommt. Dies wird von Riehm im Zusammenhang mit der Bestim‑ mung materialer Richtigkeitskriterien sodann ausdrücklich herausgearbeitet und damit begründet, dass der psychische Entscheidungsfindungsprozess im Hinblick auf seine Komplexität ohnehin nicht aufgedeckt werden könne, so dass es sinnlos sei, an diesen rechtliche Anforderungen zu stellen992. Von dieser Prämisse ausgehend wird als weiterer „absolut-objektiver Kontrollmaßstab“ zunächst derjenige der empirischen Richtigkeit in dem Sinne identifiziert, dass überprüft werden könne, ob die Abwägungsent‑ scheidung auf einer vollständigen und zutreffenden Ermittlung der tatsäch‑ lichen Grundlagen beruhe993. 986 Riehm,
S. 99. S. 99. 988 Riehm, S. 99. 989 Riehm, S. 99 990 Vgl. Riehm, S. 181. 991 Vgl. Riehm, S. 181. 992 Vgl. Riehm, S. 159 f., insbesondere. S. 163. 993 Vgl. Riehm, S. 166 f., 180 f. 987 Riehm,
352 Kap. 6: Möglichkeiten (gerichtlicher) Kontrolle der Prüfungsentscheidung
Eine darüber hinausgehende Kontrolle der Richtigkeit der Abwägungsent‑ scheidung hält Riehm – auf der Grundlage des von ihm favorisierten und oben bereits vorgestellten pragmatischen Richtigkeitsbegriffs – nur noch insoweit für möglich, als die Einhaltung der Abwägungsregeln überprüft werden könne, aus denen sich namentlich Vorgaben für die Auswahl des Abwägungsmaterials und der abstrakten Gewichtung der abstrakten Abwä‑ gungsgesichtspunkte ergäben und mit denen das Abwägungsmaß vorgegeben werde994. Die aus den Abwägungsregeln folgenden Kontrollmaßstäbe seien aber im Gegensatz zu denjenigen der empirischen Richtigkeit und der for‑ malen Rationalität nur „relativ-objektiv“, weil sie ihrerseits das Ergebnis einer Abwägung darstellten. Verbindlich würden diese nur dann, wenn „ihre Richtigkeit als Prämisse vorauszusetzen“ sei oder diese „in einem anderen Abwägungsprozess mit bindender Wirkung ermittelt“ werden würden995. Die konkrete Gewichtung der Abwägungsgesichtspunkte sei einer Kon trolle anhand objektiver Maßstäbe entzogen, so dass sich eine diesbezüg liche (eigene) Entscheidung der Kontrollinstanz nur noch als eine Zweitent scheidung nach derselben Entscheidungsprozedur darstelle, die insoweit auch mit keinem höheren Richtigkeitsanspruch verbunden sein könne996. Diese werde bei Lichte betrachtet auch dann nicht vorgenommen, wenn die Abwägungsentscheidung von der Kontrollinstanz auf eine offensichtliche Fehlgewichtung hin überprüft werde. Tatsächlich zeige die Beschränkung der Kontrolle auf eine „offensichtliche“ Fehlgewichtung, dass unter der Falschbezeichnung als Ergebniskontrolle nur eine mittelbare Kontrolle der abstrakten Gewichtung des betreffenden Abwägungsgesichtspunktes statt‑ fände997. bb) Weitgehende Korrespondenz mit den Kontrollparametern der Abwägungsfehlerlehre im (Bau‑)Planungsrecht Gleicht man die im Abwägungskontrollmodell Riehms vorzufindenden Kontrollmaßstäbe mit denjenigen ab, die bislang in der verwaltungsgericht‑ lichen Judikatur und in der Verwaltungsrechtswissenschaft als Kriterien ei‑ ner Rationalitätskontrolle im dargestellten Sinne vorgeschlagen worden sind, so zeigt sich – jedenfalls bei genauerem Hinsehen – ein frappierendes Maß an Übereinstimmung, das insoweit bemerkenswert ist, als sich das universelle Abwägungskontrollmodell Riehms nicht an irgendeine Typologie der Kontrolle administrativer Abwägungsentscheidungen anlehnt, sondern Riehm, Riehm, 996 Vgl. Riehm, 997 Vgl. Riehm, 994 Vgl. 995 Vgl.
S. 181. S. 181. S. 181. S. 182 f.
C. Die Erhebung formeller und materieller Bewertungsrügen353
losgelöst vom konkreten Anwendungsfall aus der allgemeinen Struktur einer (rationalen) Abwägungsentscheidung heraus entwickelt worden ist998. Offenkundig ist zunächst, dass der von Riehm geforderte sachliche Be‑ gründungszusammenhang zwischen den Entscheidungsprämissen und dem Entscheidungsergebnis als formales Rationalitätskriterium dem in der Rechtsprechung aufgestellten Postulat entspricht, dass die Begründung der Abwägungsentscheidung schlüssig und nachvollziehbar sein müsse. Weniger deutlich aber letztlich eindeutig ist des Weiteren, dass sich die in der Lite‑ ratur mitunter zur Rationalitätskontrolle herangezogene Abwägungsfehler‑ lehre aus dem (Bau‑)Planungsrecht in dem universellen Abwägungskontroll‑ modell Riehms wiederfindet999. Insoweit ist zu erkennen, dass die Kontroll‑ parameter „Abwägungsausfall“ und „Abwägungsdefizit“ von Riehm in der Sache angewendet werden, soweit er anhand des formalen Rationalitätskri‑ teriums des sachlichen Begründungszusammenhangs überprüft, ob überhaupt eine Abwägung stattgefunden hat und ob alle einschlägigen sachlichen Er‑ wägungen auch tatsächlich berücksichtigt worden sind1000. Verborgener sind bei Riehm die Kontrollparameter „Abwägungsfehleinschätzung“ und „Ab‑ wägungsdisproportionalität“, die in der Sache aber dadurch zur Anwendung kommen, dass in dessen Modell die abstrakte Gewichtung der Abwägungs‑ gesichtspunkte im Rahmen des Abwägungsprozesses überprüft wird1001. Evident sind im Übrigen noch die Übereinstimmungen der Abwägungskon‑ trollmodelle, soweit Riehm von dem Maßstab der empirischen Richtigkeit anstelle des Erfordernisses der vollständigen und zutreffenden Ermittlung des Sachverhalts spricht und ebenfalls das Anstellen sachfremder Erwägun‑ gen im Rahmen des Abwägungsprozesses als Kontrollmaßstab anführt. Mit anderen Worten zusammengefasst beschränken sich die Möglichkei‑ ten einer (gerichtlichen) Kontrolle der Abwägungsentscheidung im univer‑ sellen Abwägungskontrollmodell Riehms somit auf eine (formale) Rationa‑ litätskontrolle im Sinne der Überprüfung der Sachbezogenheit und Konsis‑ tenz der zur Begründung der Abwägungsentscheidung angeführten Gründe sowie in inhaltlicher Hinsicht auf die Einhaltung des Abwägungsrahmens im Sinne der Beachtung der (gesetzlichen) Abwägungsregeln und im Rah‑ men der Subsumtionskontrolle auf das Vorliegen eines Abwägungsausfalls, zu diesem übergreifenden Ansatz Riehm, S. 1. selbst stellt diese Parallele nicht her; er verweist nur darauf, dass die mit der planerischen Abwägungsfehlerlehre einhergehende Kontrolle des Abwä‑ gungsergebnisses auf eine „offensichtliche Fehlgewichtung“ letztlich der Kontrolle der abstrakten Gewichtung der Abwägungsgesichtspunkte in seinem Abwägungskon‑ trollmodell entspreche, siehe S. 182 f. m. Fn. 119. 1000 Siehe Riehm, S. 181, 99. 1001 Siehe Riehm, S. 181. 998 Vgl.
999 Riehm
354 Kap. 6: Möglichkeiten (gerichtlicher) Kontrolle der Prüfungsentscheidung
eines Abwägungsdefizits sowie einer Abwägungsfehleinschätzung bzw. -disproportionalität im Sinne einer abstrakten Fehlgewichtung eines Abwä‑ gungsgesichtspunktes. Die mit dem universellen Abwägungskontrollmodell markierten Grenzen einer objektiven Richtigkeitskontrolle stimmen – wie Riehm selbst im Ein‑ zelnen darlegt1002 – im Wesentlichen mit der Kontrolldichte von Ermessenssowie auf der Ausübung eines Beurteilungsspielraums beruhenden Entschei‑ dungen überein. Vor allem aber weist dieses Modell weitgehende Überein‑ stimmungen mit den Kontrollmaßstäben der (bau‑)planungsrechtlichen Ab‑ wägungsfehlerlehre auf. Insoweit besticht es auch im Vergleich zu den bisherigen Typologien der Kontrolle administrativer Abwägungsentschei‑ dungen durch die Differenziertheit des Instrumentariums, mit dem der Ab‑ wägungsprozess und damit auch das Abwägungsergebnis auf seine Fehler‑ freiheit hin untersucht werden, während etwa nach der tradierten Beurtei‑ lungsfehlerlehre die Abwägungsentscheidung nur darauf hin überprüft wird, ob diese einen Verstoß gegen das Willkürverbot oder die konturenlosen „allgemeinen Beurteilungs- bzw. Bewertungsgrundsätze“ erkennen lässt. Diese Feststellung legt es nahe, das Abwägungskontrollmodell Riehms bzw. die (bau‑)planungsrechtliche Abwägungsfehlerlehre für die Kontrolle sämtlicher Abwägungsentscheidungen anzuwenden. Diesbezüglich ist auf das Phänomen hinzuweisen, dass die Vertreter einer einheitlichen Abwä‑ gungsfehlerlehre zwar die grundsätzliche Tauglichkeit ihrer Modelle zur Kontrolle sämtlicher Abwägungsentscheidungen propagieren1003, diese aber wie dargelegt schon durch den theoretischen Rekurs auf die bereichsspezi‑ fischen Kontrolltypologien sogleich wieder infrage gestellt wird und bisher vor allem noch nicht durch eine (praktische) Anwendung an einem Fallbei‑ spiel unter Beweis gestellt worden ist. d) (Potentielle) Geeignetheit der Abwägungsfehlerlehre / rationalen Abwägungskontrolle zur Kontrolle der Abwägungsentscheidung des Prüfers? Ohne generell für eine einheitliche Kontrolle sämtlicher Abwägungsent‑ scheidungen eintreten zu wollen und insoweit dogmatisch weitgehend unbe‑ lastet, ist aber sowohl in der Literatur als auch in der Rechtsprechung in jüngerer Zeit vereinzelt überzeugend der Versuch unternommen worden, die (bau‑)planungsrechtliche Abwägungsfehlerlehre zur Kontrolle anderer admi‑ 1002 Riehm,
S. 189 f. in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, Vorbemerkung § 113, Rn. 20; Jestaedt, in: Erichsen/Ehlers, § 11, Rn. 41 f.; Pache, S. 497 ff. 1003 Gerhardt,
C. Die Erhebung formeller und materieller Bewertungsrügen355
nistrativer Abwägungsentscheidungen fruchtbar zu machen, nämlich zur Kontrolle komplexer Marktregulierungsentscheidungen im Telekommunika‑ tionsrecht1004 bzw. der (richtigen) Anwendung des unbestimmten Rechtsbe‑ griffs der „ethischen Vertretbarkeit“ im Sinne des § 7 Abs. 3 TSchG1005. aa) Verneinung der Übertragbarkeit der Abwägungsfehlerlehre durch das BVerwG Entsprechend solchen Ansätzen hat der Verfasser der vorliegenden Unter‑ suchung bereits in einer Anmerkung zu einem Urteil des OVG Lüneburg1006 sowie in dem nachfolgenden Verfahren der Beschwerde über die Nichtzu‑ lassung der Revision vor dem Bundesverwaltungsgericht die Übernahme der Kriterien der (bau‑)planungsrechtlichen Abwägungsfehlerlehre zur Kontrolle der Bewertungsentscheidung des Prüfers vorgeschlagen1007 und dort im Einklang mit der bislang üblichen (Kontroll‑)Terminologie auch das Gebot der rationalen Abwägung als „allgemeinen Bewertungsgrundsatz“ ins Spiel gebracht. Das Bundesverwaltungsgericht reagierte darauf lediglich mit dem lapidaren Hinweis, dass Umfang und Grenzen der gerichtlichen Überprüf‑ barkeit von Prüfungsentscheidungen in der Rechtsprechung des Bundesver‑ waltungsgerichtes abschließend geklärt seien und die zur Diskussion gestell‑ te Anerkennung eines allgemeinem Bewertungsgrundsatzes des Inhalts, wonach die Bewertung dem Gebot rationaler Abwägung gerecht werden müsse, im Hinblick auf die bereits entschiedenen Rechtsfragen keinen neu‑ erlichen Klärungsbedarf hervorriefe1008. Denn der in diesem Zusammenhang vorgeschlagenen Übertragung der Abwägungsfehlerlehre auf das Prüfungs‑ recht stünden schon die strukturellen Unterschiede beider Rechtsmaterien entgegen1009. Die im Bau- und Planungsrecht vorzufindende Mehrpoligkeit der Rechtsbeziehungen finde sich im Prüfungsrecht nicht in gleicher Weise, während hier umgekehrt wegen der Einbettung der Bewertung in den Ver‑ gleichsrahmen der Gesamtprüfung der Objektivierbarkeit der Verwaltungs‑ entscheidung und damit ihres isolierten Nachvollzugs im Verwaltungsstreit‑ verfahren anders geartete Grenzen als im Planungsrecht gesetzt seien1010. 1004 Bosch, S. 22 ff.; siehe auch Spoerr, in: Trute/Spoerr/Bosch, TKG, § 24, Rn. 58 ff. 1005 VG Bremen, Urt. v. 28.05.2010 – 5 K 274/98, DVBl 2010, 1044 (1046 f.). 1006 OVG Lüneburg, Urt. v. 24.05.2011 – 2 LB 158/10, NordÖR 2012, 98 ff., dazu Unger NordÖR 2012, 71 (75). 1007 Unger, NordÖR 2012, 71 (75). 1008 BVerwG, Bes. v. 08.03.2012 – 6 B 36.11, NJW 2012, 2054 (2056). 1009 BVerwG, Bes. v. 08.03.2012 – 6 B 36.11, NJW 2012, 2054 (2056). 1010 BVerwG, Bes. v. 08.03.2012 – 6 B 36.11, NJW 2012, 2054 (2056).
356 Kap. 6: Möglichkeiten (gerichtlicher) Kontrolle der Prüfungsentscheidung
bb) Eigene Ansicht: Eignung als Kontrollmaßstab aufgrund paralleler Entscheidungsstrukturen Diese im Stile eines obiter dictums daher kommenden Sentenzen des Bundesverwaltungsgerichtes wirken vor dem Hintergrund des geschilderten Wandels in der Dogmatik zur Überprüfung administrativer Abwägungsent‑ scheidungen geradezu provozierend. Aber selbst wenn man diesen außer Acht lässt und die weitgehende Resistenz der Verwaltungsgerichtsbarkeit gegen Erkenntnisfortschritte in der rechtswissenschaftlichen Literatur be‑ rücksichtigt, überrascht die Negation eines Klärungsbedarfs hinsichtlich der Frage der gebotenen Anerkennung eines allgemeinen Bewertungsgrundsat‑ zes des Inhalts, wonach die Bewertung dem Gebot rationaler Abwägung gerecht werden müsse. Dies zunächst vor dem Hintergrund, dass in der bayerischen Verwaltungsgerichtsbarkeit wohlgemerkt im Anschluss an und unter Berufung auf die einschlägige Judikatur des Bundesverfassungsgerich‑ tes wie aufgezeigt schon seit Langem Prüfungsentscheidungen an diesem Postulat gemessen werden. Darüber hinaus hat das Bundesverwaltungsge‑ richt in älteren Entscheidungen die vollständige Erfassung der maßgeblichen Bewertungsgesichtspunkte und deren (nicht unangemessene) Gewichtung durch den Prüfer seinerseits mit terminologischen Anleihen bei der Abwä‑ gungsfehlerlehre überprüft und diese damit auch in der Sache jedenfalls partiell zur Anwendung gebracht1011. Davon abgesehen greifen, soweit sich das Bundesverwaltungsgericht der Diskussion stellt, die gegen die Heranziehung der Abwägungsfehlerlehre zur Kontrolle von Prüfungsentscheidungen vorgebrachten dogmatischen Ein‑ wände nicht durch. Zwar trifft es zu, dass der im bipolaren Verwaltungs‑ rechtsverhältnis zwischen dem Prüfling und dem Prüfungsamt erfolgende Bewertungsakt des Prüfers zur Vorbereitung der Entscheidung über den Berufszugang des Kandidaten nicht mit dem multipolaren Interessenaus‑ gleich gleichgesetzt werden kann, den die jeweilige Gemeinde oder ein sonstiger Planungsträger im Wege der (Bau‑)Leitplanung vorzunehmen hat. Diese vordergründige Feststellung der mangelnden Vergleichbarkeit der 1011 Siehe zunächst BVerwGE 91, 262 (268): „Dies liegt übrigens auch in ihrem eigenen Interesse [scil. der Prüfer], da sie auf diese Weise den Vorwurf vermeiden können, sie hätten Gesichtspunkte, die nach Lage der Dinge für die Bewertung of‑ fenbar erheblich sind, nicht in ihre Bewertung einfließen lassen (rechtsfehlerhaftes Bewertungsdefizit)“; siehe zu diesem Entscheidungssatz und dessen wie hier erfolg‑ ter Einordnung auch Ibler, S. 398 m. Fn. 208; ferner BVerwG, Urt. v 24.02.1993 – 6 C 35/92, NVwZ 1993, 681 (682), insoweit nicht abgedruckt in BVerwGE 92, 132 ff.: „Vielmehr ist der Senat auf die Prüfung beschränkt, ob die vom Berufungsgericht getroffenen Feststellungen seine rechtliche Würdigung tragen, der Zweitprüfer habe die sprachlichen Mängel der Arbeit im Verhältnis zu den inhaltlichen Ausführungen nicht übergewichtet“.
C. Die Erhebung formeller und materieller Bewertungsrügen357
Rechtsmaterien vermag aber nichts daran zu ändern, dass trotzdem – und dies ist der entscheidende Gesichtspunkt – erhebliche Parallelen zwischen den Entscheidungsstrukturen bestehen. Denn sowohl der Bewertung einer Prüfungsleistung als auch der Entscheidung des Plangebers geht ein (drei‑ stufiger) Abwägungsprozess voraus, im Rahmen dessen zunächst aus einer Vielzahl von in Betracht kommenden Gesichtspunkten die maßgeblichen ermittelt, sodann gewichtet und schließlich gegeneinander abgewogen wer‑ den müssen. Diese tieferliegende Erkenntnis ist dem Bundesverwaltungsge‑ richt, obgleich es eine im Rahmen des Bewertungsvorgangs durch den Prüfer erfolgende Gewichtung und Abwägung positiver wie negativer Ein‑ zelelemente – die natürlich deren vorherige Feststellung erfordert – wie selbstverständlich voraussetzt1012, bislang verborgen geblieben. Dabei müss‑ te es nur aus den zutreffend erkannten Prämissen die auf der Hand liegenden Schlussfolgerungen ziehen, d. h. die in der Sache bereits zugestandene Drei stufigkeit des Abwägungsprozesses ausdrücklich und damit die strukturelle Identität mit dem Entscheidungsfindungsprozess im Bauplanungsrecht aner‑ kennen, die (dann) eine Übertragung der im Bauplanungsrecht entwickelten Abwägungsfehlerlehre auch auf das Prüfungsrecht nahe legt. Denn während die Kontrollparameter derselben passgenau auf die Struktur des Abwägungs‑ prozesses zugeschnitten sind und damit eine vorauszusetzende Grundbedin‑ gung für ein überzeugendes Abwägungsfalsifikationsmodell erfüllt ist, können mit der im Prüfungsrecht herangezogenen – in ihrem Kern vagen – Kontrollformel (mögliche) Fehler des Abwägungsprozesses und des von ihm (möglicherweise) beeinträchtigten Abwägungsergebnisses nicht verläss‑ lich und präzise identifiziert werden. So bleibt ein etwaiger Abwägungsaus‑ fall ausweislich derselben gar völlig unsanktioniert und Fehlgewichtungen maßgeblicher Abwägungsgesichtspunkte werden unterhalb der Will‑ kürschwelle ebenfalls nicht – jedenfalls aber nicht verlässlich und präzise – erfasst. e) Die den Kontrollparametern der Abwägungsfehlerlehre entsprechenden materiell-rechtlichen Bindungen im Prüfungsrecht aa) Einleitung Soweit die vorstehenden Überlegungen eindeutig dafür streiten, die aus‑ gereiftere Abwägungsfehlerlehre auch als Kontrollinstrument im Prüfungs‑ recht einzusetzen, darf dabei allerdings nicht übersehen werden, dass die Abwägungsfehlerlehre ihrerseits zwar (auch) das Ergebnis verfassungsrecht‑ 1012 Vgl. BVerwG, Urt. v. 24.02.1993 – 6 C 38/92, NVwZ 1993, 686 (688); Bes. v. 08.03.2012 – 6 B 36.11, NJW 2012, 2054 (2056).
358 Kap. 6: Möglichkeiten (gerichtlicher) Kontrolle der Prüfungsentscheidung
licher Wertungen und Abwägungen darstellt, mit der Feststellung der Über‑ tragbarkeit dieses oder eines anderen Abwägungskontrollmodells aber die letztlich entscheidende Frage, ob und inwieweit eine Überprüfung des der Prüfungsentscheidung vorausgehenden Abwägungsprozesses und dieser selbst verfassungsrechtlich geboten ist, noch nicht (zwingend) geklärt ist. Diese ist ausgehend von den im Falle einer Zurücknahme der (gerichtli‑ chen) Kontrolle tangierten Grundrechten und damit auf der Grundlage der bereits mehrfach dargelegten Gewährleistungsgehalte der Art. 19 Abs. 4 Satz 1, 12 Abs. 1 Satz 1 GG zu beantworten. Hiernach gilt, dass (auch) der Prüfling mit Hilfe der Rechtsschutzgarantie nicht mehr aber auch nicht weniger verlangen kann als die (gerichtliche) Durchsetzung derjenigen Rechtsnormen gegenüber der Verwaltung, die deren Handeln steuern und / oder das Ergebnis ihres jeweiligen Handlungsprozesses determinieren. Mit anderen Worten setzt die Eröffnung des Schutzbereichs des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG die Existenz von (Kontroll‑)Maßstäben im materiellen Recht voraus. Unter materiellem Recht in diesem Sinne sind all diejenigen Rechtssätze zu verstehen, die sich – ggf. durch Auslegung – dem einfachen und Verfassungsrecht entnehmen lassen1013. Offenkundig ist insoweit, dass der Inhalt der Prüfungsentscheidung als Ergebnis des Prüfungsverfahrens nicht vorgezeichnet ist, weil die in dieser aufgehenden und deren Grundlage bildenden Einzelbewertungen der Prüfer als Ergebnis des jeweiligen Bewertungsvorgangs durch das materielle Recht ebenso wenig vorbestimmt sind. Infolgedessen kann der Prüfling gestützt auf Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG auch keine (gerichtliche) Kontrolle der Prü‑ fungsentscheidung auf deren – ja gar nicht bestimmbare – „objektive Rich‑ tigkeit“, sondern nur auf deren Findung in einem Entscheidungsverfahren beanspruchen, das den einfach- und verfassungsrechtlichen Vorgaben ent‑ spricht. Diesbezüglich ist festzustellen, dass sich die Bewertung einer Prü‑ fungsleistung nach dem Dargelegten in einem (dreistufigen) Abwägungspro‑ zess vollzieht, der durch das einfache Justizprüfungsrecht mangels eines ausdrücklichen Abwägungsgebots nicht einmal als solcher charakterisiert und im Übrigen wie aufgezeigt nur ganz vereinzelt durch (explizite) Abwä‑ gungsdirektiven gelenkt wird. Hierin liegt durchaus ein Unterschied im Vergleich zum Bauplanungsrecht, da in § 1 Abs. 7 BauGB der Gemeinde ausdrücklich aufgegeben wird, die ermittelten öffentlichen und privaten Belange gerecht gegeneinander abzuwägen und der Abwägungsprozess durch zahlreiche Planungsleitsätze vorstrukturiert wird. Dieser ist aber nur quantitativer Natur im Sinne eines geringeren Maßes der einfach-rechtlichen Steuerung des Entscheidungsprozesses und eben nicht von qualitativem 1013 Vgl. nur BVerfG, Bes. v. 08.12.2011 – 1 BvR 1932/08, NVwZ 2012, 694 (695); BVerfGE 129, 1 (20 ff.); Sachs/Jasper, NVwZ 2012, 649 (652).
C. Die Erhebung formeller und materieller Bewertungsrügen359
Charakter im Sinne einer anders gearteten Entscheidungsstruktur1014. Im Ergebnis korrespondieren mit den Kontrollparametern der Abwägungsfeh‑ lerlehre auch im Prüfungsrecht materiell-rechtliche Bindungen. bb) Normative Anbindung des Abwägungsgebots Das gilt zunächst einmal für die geradezu „bare Selbstverständlichkeit“1015, dass der Prüfer verpflichtet ist, im Rahmen der Leistungsbewertung die positiven und negativen Aspekte gegeneinander (sachgerecht) abzuwägen, die daher an sich auch nicht weiter ableitungsbedürftig1016, aber rechtlich natürlich ohne Weiteres begründbar ist. Diese lässt sich zunächst einmal im Wege des Umkehrschlusses aus den Notenstufen der Bundesnotenverord‑ nung und deren Definitionen ableiten. Denn eine (überzeugende) Zuordnung der Prüfungsleistung insoweit kann nur erfolgen, wenn in der Bewertungs‑ begründung das Vorhandene und richtig Bearbeitete dem Fehlenden und Fehlerhaften gewichtend gegenübergestellt und (sachgerecht) gegeneinander abgewogen wird1017. Besonders deutlich wird diese Notwendigkeit bei der Abgrenzung der Note „mangelhaft“, die eine unter „erheblichen“ Mängeln leidende Leistung kennzeichnet, zur nur „Mängel“ feststellenden Note „aus‑ reichend“. Im Übrigen aber und vor allem folgt das Abwägungsgebot un‑ mittelbar aus Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG und dem in § 5 Abs. 1 Hs. 1 DRiG niedergelegten Ziel der Ausbildung sowie dem damit korrespondierenden Zweck der Prüfung. Von diesem ausgehend ist festzuhalten, dass die (wirk‑ lich) geeigneten Kandidaten nur dann ermittelt und von den (tatsächlich) ungeeigneten (rechts‑)sicher unterschieden werden können, wenn bei allen Kandidaten sowohl die für als auch gegen die Berufseignung sprechenden Leistungsaspekte berücksichtigt werden. Dementsprechend kann jeder Prüf‑ ling kraft des Gewährleistungsgehalts der Berufsfreiheit und im Hinblick auf den verfolgten Prüfungszweck wie bereits eingangs der Untersuchung ausgeführt die (angemessene) Berücksichtigung all derjenigen brauchbaren (Teil‑)Leistungen verlangen, die – wenn vielleicht auch nur in Ansätzen – eine Eignung für den angestrebten Beruf erkennen lassen, während er ande‑ 1014 Vgl. zu dieser Aussage für die Unterschiede zwischen dem Planungsermes‑ sen und dem „normalen“ Ermessen Alexy, JZ 1986, 701 (711 m. Fn. 115). 1015 Vgl. zu diesem Terminus in anderem Kontext Seebass, NVwZ 1992, 609 (614). 1016 Vgl. in diesem Kontext vor allen Dingen zur Terminologie, aber auch in der Sache Gerhardt, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, § 114, Rn. 5; siehe auch Pache, S. 485, die Ausführungen Gerhards referierend und ihm zustimmend. 1017 Vgl. VG Stuttgart, Urt. V. 12.08.2009 – 12 K 4675/08, juris, Rn. 60; siehe zum – hier vorausgesetzten – Abwägungsgebot auch VG Frankfurt, Urt. v. 04.08.2004 – 12 E 5183/02, juris, Rn. 86.
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rerseits wegen der zu gewährleistenden Chancengleichheit der anderen Prüflinge nicht die Außerachtlassung der vorliegenden Mängel, im Hinblick auf den – im Übrigen bereits unmittelbar in Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG loka‑ lisierbaren1018 – Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, zumindest aber deren Ge‑ wichtung entsprechend ihrer Aussagekraft für die angestrebte Qualifikation beanspruchen kann. Auch wenn der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz somit im Abwägungsprozess eine wichtige Funktion hat und ein Abwägungsgebot par excellence beinhaltet, so wird man das (allgemeine) Abwägungsgebot (des Prüfers) – entsprechend dessen weithin üblicher Verortung ebendort1019 – nicht (allein) als Ausprägung desselben ansehen können, da dieser einer ausschließlichen Berücksichtigung einiger (besonders) positiver Leistungs‑ aspekte für die abschließende Leistungsbewertung nicht entgegenstünde. Bereits die vorstehenden Ausführungen haben belegt, dass sich aus dem in § 5 Abs. 1 Hs. 1 DRiG niedergelegten Ausbildungsziel und dem damit korrespondierenden Prüfungszweck nicht nur das Abwägungsgebot des Prü‑ fers ableiten lässt, sondern in Verbindung mit dem Gewährleistungsgehalt des Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG auch ein den Planungsleitsätzen im Ergebnis vergleichbarer Orientierungspunkt markiert wird, indem sich nämlich daraus im Wege der Auslegung zunächst Gewichtungs- und Abwägungsgrundsätze für den Abwägungsvorgang ableiten lassen. Zusätzlich zu dem bereits aus‑ drücklich herausgearbeiteten Abwägungsgebot und der Verpflichtung des Prüfers, die positiven wie die negativen Aspekte der Leistung jeweils ent‑ sprechend ihrer Aussagekraft für die Berufseignung der Kandidaten zu ge‑ wichten, lässt sich als weitere – den vorstehenden Ausführungen bereits implizite – Anforderung formulieren, das im Rahmen der Leistungsbewer‑ tung nur solche Gesichtspunkte berücksichtigt werden dürfen, die in einem inhaltlichen Zweck mit der Leistungskontrolle stehen, die mithin eine Aus‑ sage über die Berufseignung des Kandidaten zulassen. In Vergegenwärti‑ gung der Rechtsquelle, aus der die vorstehenden Grundsätze abgeleitet worden sind, kann dem oben bereits dargestellten Ansatz Czermaks, (allge‑ meine) Bewertungsgrundsätze aus dem unbestimmten Rechtsbegriff der „Befähigung zum Richteramt“ in § 5 Abs. 1 DRiG abzuleiten1020, damit durchaus zugestimmt werden. 1018 Siehe zur Deduktion des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes allgemein Greszick, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20, Rn. 107, und die dort angegebenen Nachweise insbesondere aus der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung; sowie Reuter, JURA 2009, 511 (512). 1019 Vgl. Eifert, ZJS 2008, 336 (342 m. Fn. 49); Hofmann, Abwägungen, S. 180; Durner, S. 321; VG Bremen, Urt. v. 28.05.2010 – 5 K 1274/09, DVBl. 2010, 1044 (1046 f.). 1020 Vgl. nochmals Czermak, NJW 1992, 2612 (2613) und bereits oben (Kapitel 6 C. III. 2. d); siehe in diese Richtung auch Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 647; siehe
C. Die Erhebung formeller und materieller Bewertungsrügen361
Diese aus dem Prüfungszweck und / oder aus dem Grundrecht der Berufs‑ freiheit ableitbaren Anforderungen wurden im gegebenen Kontext bisher ganz bewusst ebenfalls nur als (Bewertungs‑)„Grundsätze“ bezeichnet, da es sich bei der dem Prüfer obliegenden Verpflichtung zur (angemessenen) Gewichtung und Abwägung der positiven und negativen Leistungsmerkma‑ le um geradezu genuine prüfungsspezifische Wertungen1021 handelt1022, de‑ ren Richtigkeit sich mangels der aus den genannten Gründen fehlenden Kontrollmaßstäbe gerade nicht feststellen lässt. Impliziert ein „(Bewer‑ tungs‑)Grundsatz“ hiernach nicht die Möglichkeit der gerichtlichen Kontrol‑ le seiner Einhaltung, sollte von diesem auch nur dann gesprochen werden, wenn – wie im Vorhergehenden – tatsächlich nur die in ihm liegende Hand‑ lungsanweisung für den Prüfer und nicht ein rechtlich durchsetzbarer objek‑ tiver Bewertungsmaßstab im Sinne einer dem Gericht zur Verfügung stehen‑ den Kontrollnorm gemeint ist, der den Bewertungsfreiraum des Prüfers nach außen oder innen begrenzt1023. Im Folgenden wird daher begrifflich und in der Sache streng zwischen Bewertungsgrundsätzen im Sinne von bloßen Handlungsanweisungen und Bewertungsmaßstäben im Sinne von Kontroll‑ normen unterschieden, die aufgrund ihrer gerichtlichen Durchsetzbarkeit den Abwägungsprozess effektiv steuern können. Voraussetzung dafür, dass die Abwägungsfehlerlehre auf das Prüfungsrecht übertragen werden kann, ist also letztlich, dass sich für deren Kontrollparameter entsprechende Kon‑ trollnormen im materiellen Prüfungsrecht finden, was es nachfolgend zu klären gilt. für die Steuerberaterprüfung ähnlich FG Köln, Urt. v. 07.12.2011 – 2 K 1434/09, EFG 2012, 1603 (1604); siehe allgemein zu diesem Ansatz nochmals Wolff, in: Sodan/ Ziekow, VwGO, § 114, Rn. 361; siehe auch Kopp/Schenke, VwGO, § 114, Rn. 28. 1021 Vgl. zu dieser Einordnung der Abwägungs- und Gewichtungsentscheidung in der Rechtsprechung BVerwG, Bes. v. 08.03.2012 – 6 B 36.11, NJW 2012, 2054 (2054, 2056): „zweifelsohne zuzuordnen“; VG Dresden, Urt. v. 04.06.2008 – 5 K 38/08, juris, Rn. 147; VG Schwerin, Urt. v. 03.07.2012 – 3 A 492/07, juris, Rn. 26; VG Hannover, Urt. v. 29.05.2013 – 6 A 4950/12, juris, Rn. 28. 1022 Vgl. Unger, NordÖR 2012, 71 (75). 1023 Ganz schief – auch in der Sache – insoweit Stüer, NVwZ 1985, 545 (545): „… je mehr sich die Bewertungsgrundsätze allgemein anerkannten und damit recht‑ lich faßbaren Maßstäben annähern“; paradigmatisch fehlerhaft auch Czermak, NJW 1992, 2612 (2613), der dort „Maßstab“ und „allgemeiner Bewertungsgrundsatz“ synonym verwendet; die Unterschiede in der Sache zutreffend herausarbeitend, ohne daraus jedoch in terminologischer Hinsicht Konsequenzen zu ziehen, Seebass, NVwZ 1992, 609 (614 f., ganz deutlich 615: „Es bleibt nur der Ausweg, von der Rechtsprechung abzurücken, dass die Einhaltung der allgemeinen Bewertungsgrund‑ sätze stets der gerichtlichen Kontrolle unterliegt“); terminologisch ganz falsch auch Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 647: „Der Prüfer muss sie [scil. die „allgemeinen Bewertungsgrundsätze“] beachten, um einen Rechtsfehler zu vermeiden“; zutreffend aus der Rechtsprechung etwa HessVGH, Urt. v. 25.02.1993 – 6 UE 1211/91, ESVGH 43, 171 (172): „allgemeiner Bewertungsmaßstab“.
362 Kap. 6: Möglichkeiten (gerichtlicher) Kontrolle der Prüfungsentscheidung
cc) Abwägungsausfall Insoweit steht zunächst außer Frage, dass wie im Bauplanungsrecht auch im Prüfungsrecht das Vorliegen eines Abwägungsausfalls gerichtlich über‑ prüfbar ist, der an dem Nichtvorliegen einer Begründung für die getroffene (Abwägungs‑)Entscheidung bzw. an einer Begründung festgemacht werden kann, die die nach dem materiellen Recht gebotene Abwägung nicht erken‑ nen lässt1024. Zwar schließt das Fehlen einer (abwägungsplausibilisierenden) Begründung nicht aus, dass in der Sache eine ordnungsgemäße Abwägung stattgefunden hat, ebenso wie umgekehrt eine nachvollziehbare (Schein‑) Begründung der Abwägungsentscheidung nicht ausschließt, dass diese ei‑ nen Entscheidungsfindungsprozess dokumentiert, der so gar nicht stattge‑ funden hat1025. Da sich der wahre (psychische) Entscheidungsfindungspro‑ zess des Prüfers – wie er sich auch immer dargestellt haben mag – im Nachhinein (aufgrund seiner dargestellten Komplexität) grundsätzlich nicht mehr aufklären lässt1026, kann der Prüfer aber nur anhand der Bewertungs‑ begründung dokumentieren, dass die Leistungsbewertung auf einer (ratio‑ nalen1027) Abwägung beruht bzw. zumindest beruhen könnte, und umgekehrt das Gericht auch nur anhand dieser eine fehlende oder irrationale Abwä‑ gung im tatsächlichen oder auch nur behaupteten Entscheidungsfindungs‑ prozess aufdecken1028. Mit anderen Worten ist eine Diskrepanz zwischen den wahren und den in der Bewertungsbegründung angegebenen leitenden Gesichtspunkten für die getroffene Entscheidung abgesehen von dem Aus‑ nahmefall des evident fehlerhaften und solchermaßen erkennbaren Ent‑ scheidungsprozesses – wie er etwa im Falle einer (generellen) Übernahme der Bewertung des Erstprüfers durch den Zweitprüfer vorliegen kann – un‑ 1024 Exemplarisch VG Stuttgart, Urt. v. 12.08.2009 – 12 K 4675/08, juris, Rn. 60; allgemein Riehm, S. 163 f., 181; diese Kontrollparameter allgemein für die Kontrol‑ le der Ausübung von Beurteilungsspielräumen vorschlagend Eifert, ZJS 2008, 336 (342); siehe auch bereits BVerfGE 85, 36 (57). 1025 Vgl. zum (Schein-)Problem der (Schein-)Begründung allgemein Riehm, S. 164 f.; Alexy, JZ 1986, 701 (707 f.). 1026 Vgl. allgemein zur Unaufklärbarkeit des realen psychischen Entscheidungs‑ findungsprozesses Riehm, S. 161 f.; zur Ausnahme insbesondere im Falle einer auf‑ gedeckten Bestechung des Entscheiders und des damit evident mangelhaften Ent‑ scheidungsprozesses Riehm, S. 162. 1027 Siehe allgemein zur rationalitätsvermittelnden Funktion der Begründung ju‑ ristischer Entscheidungen Riehm, S. 163. 1028 Entsprechend bildet auch bisher eine unzureichende Begründung den (allei‑ nigen) Anknüpfungspunkt für die Annahme eines rechtserheblichen Bewertungsdefi‑ zits des Prüfers, vgl. VG Dresden, Urt. v. 04.06.2008 – 5 K 38/08, juris, Rn. 147; OVG Lüneburg, Bes. v. 27.08.2007 – 2 LA 1208/06, juris, Rn. 5; Niehues/Fischer/ Jeremias, Rn. 710; Becker, NVwZ 1993, 1129 (1132); Wortmann, NWVBl. 1992, 304 (313); Niehues, NJW 1991, 3001 (3003).
C. Die Erhebung formeller und materieller Bewertungsrügen363
erheblich1029. Daher ist mit Riehm davon auszugehen, dass als Kontrollge‑ genstand im Rahmen der Abwägungskontrolle nur die Entscheidungs- bzw. Bewertungsbegründung in Betracht kommt1030. Klarzustellen ist aber, dass mit dieser Feststellung keine Abweichung von der bisher geübten Praxis der Kontrolle der (Abwägungs‑)Entscheidungen im Bauplanungs- und Prü‑ fungsrecht verbunden ist1031. Da ein Abwägungsausfall somit schon und nur an dem Nichtvorliegen einer Begründung bzw. an dem Vorliegen einer nicht abwägungsplausibili‑ sierenden Begründung und damit an einem rein formalen Maßstab festge‑ macht werden kann, der nicht auf der Vornahme subjektiver Wertungen und Abwägungen beruht, wie sie insbesondere bei der Auslegung und Anwen‑ dung eines Gesetzes erforderlich sind bzw. werden können, kann insoweit von einem „absolut-objektiven Maßstab der formalen Rationalität“ gespro‑ chen werden1032, wobei dieser Kontrollmaßstab mit der entsprechenden Handlungsanweisung für den Prüfer korrespondiert. dd) Abwägungsdefizit Der gerichtlichen Kontrolle zugänglich ist auch im Prüfungsrecht die Frage, ob der Prüfer – wovon auch das Bundesverwaltungsgericht zunächst noch ausgegangen zu sein scheint1033 – alle Gesichtspunkte berücksichtigt hat, die nach Lage der Dinge für die Bewertung offenbar erheblich gewesen sind1034, oder ob ein „rechtserhebliches Bewertungsdefizit“1035 bzw. allge‑ meiner und im Sinne der Abwägungsfehlerlehre formuliert ein Abwägungs‑ defizit vorliegt1036. Allerdings gilt es, hinsichtlich der gerichtlichen Mög‑ 1029 Vgl. allgemein Riehm, S. 163; anders Alexy, JZ 1986, 701 (707 f., 711), der sich allerdings nicht hinreichend mit der Frage der Aufdeckbarkeit des Entschei‑ dungsfindungsprozesses auseinandersetzt (siehe aber im Ansatz S. 708). 1030 Vgl. Riehm, S. 163 ff. und schon S. 97 ff.; siehe auch bereits Bamberger, VerwArch 93 (2002), 217 (233); Alexy, JZ 1986, 701 (708 f.). 1031 Siehe zur Praxis im Prüfungsrecht ganz deutlich BVerwGE 91, 262 (266): „Ob die Bewertung der Prüfungsarbeit diesen Spielraum einhält und auch im Übri‑ gen frei von Rechtsfehlern ist, kann nur anhand der Begründung der Notengebung ermittelt werden“; siehe zuletzt explizit im Zusammenhang mit der Abwägungskon‑ trolle VG Stuttgart, Urt. v. 12.08.2009 – 12 K 4675/08, juris, Rn. 60; ebenfalls deutlich OVG Greifswald, Bes. v. 20.12.2002 – 2 L 8/01, LKV 2003, 565 (566); für das Planungsrecht siehe etwa nur BVerwGE 45, 309 (314). 1032 So und mit dieser Terminologie Riehm, S. 181. 1033 Vgl. BVerwGE 91, 262 (266); dazu Ibler, S. 398 m. Fn. 208. 1034 Mit dieser Formulierung BVerwGE 91, 262 (266). 1035 Siehe zu diesem Terminus BVerwGE 91, 262 (262). 1036 Siehe zu diesem allgemein Pache, S. 498; für das (Bau-)Planungsrecht Bosch, S. 18; Kopp/Ramsauer, § 40, Rn. 110; BVerwGE 34, 301 (309); 45, 310 (314); Eifert, ZJS 2008, 336 (342); in der Sache auch Riehm, S. 99.
364 Kap. 6: Möglichkeiten (gerichtlicher) Kontrolle der Prüfungsentscheidung
lichkeit der Feststellung möglicher Ermittlungsdefizite des Prüfers zwischen verschiedenen Fallgruppen zu differenzieren. Als gänzlich unproblematisch erweist sich die Konstellation, in welcher der Prüfer Ausführungen des Prüflings – nachweislich oder zugestanden – aus den oben genannten Grün‑ den (zunächst) nicht zur Kenntnis genommen und daher auch nicht zur Grundlage seiner Bewertung gemacht hat. In diese Kategorie des auf ei‑ nem – wie dargelegt gerichtlich voll überprüfbaren – „Sachverhaltsirrtums“ beruhenden Bewertungs- bzw. Abwägungsdefizits lässt sich auch der der gleichen rechtlichen Beurteilung unterliegende Fall einordnen, dass der Prüfer nach an sich vollständiger und zutreffender Erfassung der Prüfungs‑ leistung aufgrund der Anwendung seiner (prüfungsspezifischen) Bewer‑ tungskriterien zu dem Ergebnis gelangt, dass eine Teilleistung eine positive Aussagekraft für die zu überprüfende Berufseignung des Kandidaten hat und dies in einer Randbemerkung oder gar in der Einzelkritik im zusam‑ menfassenden Votum auch so deutlich macht, in der Gesamtbewertung diese Teilleistung aber unmissverständlich als nicht existent darstellt. Von der irrtümlichen Nichtberücksichtigung (möglicherweise) brauchba‑ rer Teilleistungen bei der Feststellung des beurteilungsrelevanten Sachver‑ halts bzw. der Einstellung derselben in die Gesamtbewertung bzw. ‑abwä‑ gung in den ersten beiden genannten Fällen zu unterscheiden ist die wer‑ tungsbasierte und damit bewusste Außerachtlassung (vermeintlich) un‑ brauchbarer Teilleistungen in der problematischen dritten Fallkonstellation eines möglichen Ermittlungsdefizits des Prüfers. Diese ist dadurch gekenn‑ zeichnet, dass der Prüfer im Rahmen der teilleistungsorientierten Brauchbar‑ keitsprüfung zu der Wertung gelangt, dass einer Teilleistung keinerlei (po‑ sitive) Aussagekraft für die zu überprüfende Berufseignung des Kandidaten beigemessen werden kann, und er diese daher in der Gesamtbewertung auch gänzlich unberücksichtigt lässt. Die Annahme der (Un‑)Brauchbarkeit der Teilleistung kann dabei einer‑ seits darauf beruhen, dass nach der fachspezifischen Beurteilung des Prüfers bereits die angebotene Lösung / das vertretene Ergebnis falsch bzw. unver‑ tretbar ist, andererseits aber auch auf dessen prüfungsspezifischer Wertung, dass den richtigen Erkenntnissen des Prüflings wegen ihrer geringfügigen Bedeutung für die Frage seiner Berufseignung in der Gesamtbewertung je‑ denfalls kein messbar positives Gewicht beigemessen werden kann. Da die fachspezifische Kritik des Prüfers im Grundsatz der vollständigen gerichtlichen Überprüfung und nicht nur einer Abwägungskontrolle unter‑ liegt, soll in dieser dritten Fallkonstellation eines denkbaren Ermittlungsde‑ fizits nur die zweite Alternative derselben beleuchtet werden, in welcher kontrollperspektivisch nur die angemessene Gewichtung der in fachspezifi‑ scher Hinsicht noch brauchbaren Teilleistung in Rede steht.
C. Die Erhebung formeller und materieller Bewertungsrügen365
Auch in der vierten, mit der vorstehenden eng zusammenhängenden, Fallkonstellation eines möglichen Ermittlungsdefizits des Prüfers, in der vordergründig die Frage aufgeworfen ist, ob der Prüfer bei der Bewertung der Brauchbarkeit der Teilleistungen und der Gesamtleistung alle Bewer‑ tungsgesichtspunkte, die nach Lage der Dinge dafür offenbar erheblich waren, auch berücksichtigt hat, ist die gerichtliche Kontrolle bei Lichte betrachtet allein auf die Frage nach deren angemessener Gewichtung fokus‑ siert. Dies ergibt sich im Einzelnen aus folgenden Überlegungen: Sowohl bei der Gewichtung (der Teilleistung) als auch bei der Auswahl der maßgebli‑ chen Abwägungsgesichtspunkte handelt es sich – nur um durch etwaige Abwägungsdirektiven begrenzte – prüfungsspezifische Wertungen1037, deren vollständige Offenlegung in der Bewertungsbegründung aus den angeführ‑ ten Gründen schon nicht möglich ist und – wie noch im Einzelnen darzu‑ legen sein wird – in der Rechtsprechung und überwiegend auch in der Li‑ teratur nicht verlangt wird1038. Vorausgesetzt wird hier nur die Darlegung der „tragenden Erwägungen“1039. Hiervon ausgehend erweist sich die Fest‑ stellung eines Abwägungsdefizits in der vierten Fallkonstellation nur dann als unproblematisch, wenn der Prüfer – etwa im Rahmen der Darstellung des Anforderungsprofils – einen Abwägungsgesichtspunkt abstrakt als ge‑ wichtig darstellt, diesen im Rahmen der konkreten Bewertung dann aber erkennbar außer Acht lässt. Im Übrigen aber gilt, dass allein aufgrund der Nichterwähnung eines (abstrakt relevanten) Abwägungsgesichtspunktes noch nicht darauf geschlossen werden kann, dass dieser überhaupt nicht berücksichtigt worden ist, sondern nur darauf, dass dieser für den Prüfer im Rahmen der Bewertung keine besondere Bedeutung hatte. Daher kann sich bei der Nichterwähnung eines Abwägungsgesichtspunktes auch nur die Fra‑ ge stellen, ob sich dessen Gewichtung als nicht sonderlich erheblich als (un‑)angemessen erweist.
1037 Vgl.
(2055).
zuletzt BVerwG, Bes. v. 08.03.2012 – 6 B 36.11, NJW 2012, 2054
1038 Vgl. BVerwG, Bes. v. 08.03.2012 – 6 B 36.11, NJW 2012, 2054 (2055); Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 706; anders wie oben dargelegt Ibler, S. 378 f., 402 f.; Wimmer, FS Redeker, 531 (538 f.). Siehe im Einzelnen unten Kapitel 7 C. II. 2. b). 1039 Siehe hier nur BVerwG, Bes. v. 08.03.2012 – 6 B 36.11, NJW 2012, 2054 (2055 m. w. N.); Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 706 ff., insb. 709; siehe auch unten Kapitel 7 C. II. 2. b).
366 Kap. 6: Möglichkeiten (gerichtlicher) Kontrolle der Prüfungsentscheidung
ee) Abwägungsfehleinschätzung / -disproportionalität Exakt dieselbe Gewichtungsfrage stellt sich, wenn die weiteren Kontroll‑ parameter der Abwägungsfehlerlehre danach fragen, ob erstens die Bedeu‑ tung einzelner Abwägungsgesichtspunkte für die Gesamtabwägung verkannt worden ist (Abwägungsfehleinschätzung1040) oder der Ausgleich zwischen einzelnen in die Abwägung eingestellten Belangen in einer Art und Weise vorgenommen worden ist, der zu deren objektiver Gewichtigkeit erkennbar außer Verhältnis steht (Abwägungsdisproportionalität1041). Da aber die (angemessene) Gewichtung von Teilleistungen und Abwä‑ gungsgesichtspunkten im Rahmen der Leistungsbewertung eine subjektive prüfungsspezifische Wertung des Prüfers darstellt und auf ebensolchen be‑ ruht, könnte die Möglichkeit der gerichtlichen Überprüfung insoweit durch das Fehlen von Kontrollmaßstäben im materiellen Recht ausgeschlossen sein. Mit anderen Worten könnte im Sinne des zweiten Einwands des Bun‑ desverwaltungsgerichtes der Übertragung der Abwägungsfehlerlehre auf das Prüfungsrecht entgegenstehen, dass wegen der Einbettung der Bewertung in den Vergleichsrahmen der Gesamtprüfung der Objektivierbarkeit der Ver‑ waltungsentscheidung anders geartete Grenzen als im Planungsrecht gesetzt sind. Dieser Einwand ist aber nur insoweit berechtigt, als die konkrete Gewichtung, d. h. das angenommene Maß der Erfüllung der abstrakten Ab‑ wägungsgesichtspunkte1042 sowie das Abwägungsergebnis1043 als Resultat der Abwägung im engeren Sinne1044, welches der Prüfer durch die Zuord‑ nung der Prüfungsleistung zu einer bestimmten Notenstufe und Punktzahl zum Ausdruck bringt, gerichtlich wegen des Fehlens von Kontrollmaßstäben nicht auf seine Richtigkeit hin überprüfbar ist. Entgegen der offensichtlichen Annahme des Bundesverwaltungsgerichtes unterliegen aber nicht nur die Bewertungen des Prüfers, sondern auch die‑ jenigen der planenden Gemeinde (sowie im Übrigen auch sonstiger Ent‑ scheidungsträger im Rahmen administrativer Abwägungsentscheidungen) diesen Kontrollbeschränkungen1045. Insoweit hat das Bundesverwaltungsge‑ richt bereits in seiner ersten, die Abwägungsfehlerlehre in ihrer heutigen 1040 BVerwGE 34, 301 (309); 45, 309 (314 f.); Brohm, § 13 Rn. 18; Pache, S. 498; Bosch, S. 41. 1041 BVerwGE 34, 301 (309); 45, 309 (314 f.); Brohm, § 13 Rn. 19; Pache, S. 498. Bosch, S. 41. 1042 Siehe zur Terminologie insoweit Riehm, S. 70, und in der Sache allgemein S. 70 f. 1043 Siehe zur Ermittlung des endgültigen Ergebnisses der Abwägungsentschei‑ dung allgemein Riehm, S. 80 ff. 1044 Siehe zur „Abwägung im engeren Sinne“ Riehm, S. 74 ff. 1045 Vgl. Riehm, S. 160.
C. Die Erhebung formeller und materieller Bewertungsrügen367
Prägung mitbegründenden Entscheidung klargestellt, dass die Bestimmung der relativen Gewichtigkeit eines Abwägungsgesichtspunktes im Sinne des Vorziehens oder Zurücksetzens eines Abwägungsbelangs elementarer Be‑ standteil der planerischen Gestaltungsfreiheit und damit einer nachvollzie‑ henden Abwägung und gerichtlichen Kontrolle entzogen sei1046. Davon ist es auch nicht abgerückt, soweit es später ausdrücklich auch das Abwä‑ gungsergebnis der Abwägungskontrolle nach dem Maßstab der Abwägungs‑ fehlerlehre unterworfen hat1047. Denn auch bei der (vermeintlichen) Kon trolle des Abwägungsergebnisses wird nur überprüft, ob die (abstrakt-objek‑ tive) Bedeutung der einzustellenden Belange verkannt oder der Ausgleich zwischen ihnen in einer Art und Weise vorgenommen worden ist, der zu deren objektiver Gewichtigkeit außer Verhältnis steht1048. Damit wird aber – worauf Riehm überzeugend hingewiesen hat – unter der Falschbezeichnung als „Ergebniskontrolle“ ebenfalls nur eine (mittelbare) Kontrolle der abs‑ trakt-objektiven Gewichtung der Abwägungsbelange vorgenommen1049. Die Möglichkeit hierzu folgt für das Bauplanungsrecht daraus, dass es sich bei der Anwendung der Planungsleitsätze, welche nicht nur Vorgaben für die Auswahl der maßgeblichen Abwägungsgesichtspunkte, sondern auch Maß‑ stäbe für deren Gewichtung beinhalten, nach der zutreffenden Rechtsauffas‑ sung des Bundesverwaltungsgerichtes um „Rechtsanwendung und nichts anderes als das“ handelt1050. Für das Prüfungsrecht ist festzustellen, dass die abstrakten Gewichtungen, die der Bewertung des Prüfers zugrunde liegen, im Ergebnis in gleicher Weise einer gerichtlichen Überprüfung zugänglich sind, wie es das Bundes‑ verwaltungsgericht für das Bauplanungsrecht aufgezeigt hat. Festzustellen ist aber zunächst, dass hier wie dort eine deterministische Gewichtung ausscheidet, weil nicht im Vorhinein feststeht, welche der in Betracht kom‑ menden abstrakten Abwägungsgesichtspunkte im konkreten Fall tatsächlich erheblich sind, und sich deren abstraktes Gewicht daher nicht vorab bestim‑ men lässt1051. Darauf wurde für das Prüfungsrecht im Zusammenhang mit der Untersuchung der Steuerungswirkung von prüfungsrechtlichen Vor‑ schriften, die die abstrakte Gewichtung eines Abwägungsgesichtspunktes vorgeben, bereits hingewiesen1052. Dies schließt allerdings die dort noch unausgesprochen gebliebene Möglichkeit im Grundsatz nicht aus, die (kon‑ 1046 Vgl.
BVerwGE 34, 301 (309). 45, 309 (315); dagegen Gerhardt, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, § 114, Rn. 10, 38. 1048 Vgl. BVerwGE 45, 309 (315). 1049 Vgl. Riehm, S. 182 f. m. Fn. 119; siehe auch Bosch, S. 41. 1050 Vgl. BVerwGE 45, 309 (322 f.). 1051 Vgl. allgemein Riehm, S. 69. 1052 Vgl. Kapitel 6 C. III. 2. a). 1047 BVerwGE
368 Kap. 6: Möglichkeiten (gerichtlicher) Kontrolle der Prüfungsentscheidung
krete) Bewertung des Prüfers deshalb (gerichtlicherseits) zu beanstanden, weil sich diese anders als mit der abstrakten Fehlgewichtung eines maßgeb‑ lichen Abwägungsgesichtspunktes nicht widerspruchsfrei erklären lässt1053. Voraussetzung dafür ist aber wiederum das Vorliegen von objektiven Kon trollmaßstäben, d. h. Vorschriften, denen sich Vorgaben für die abstrakte Gewichtung eines Abwägungsgesichtspunktes entnehmen lassen. Während im Planungsrecht insoweit auf die Planungsleitsätze zurückge‑ griffen werden kann, fehlt es demgegenüber im Prüfungsrecht wie aufge‑ zeigt weitgehend an (expliziten) abstrakten Gewichtungsvorschriften. Diese können aber durch eine an dem in § 5 Abs. 1 Hs. 1 DRiG niedergelegten Ziel und dem damit korrespondierenden Zweck der Prüfung orientierte Auslegung des Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG gewonnen werden. Damit werden aber zunächst nur die für den Prüfer durchaus verbindlichen, aber nicht der vollständigen gerichtlichen Kontrolle unterliegenden Handlungsanweisungen im Sinne der oben bereits aufgezeigten allgemeinen Bewertungsgrundsätze generiert. Kontrollmaßstäbe lassen sich aus diesen nur insoweit gewinnen, als die grundsätzlichen Freiheiten des Prüfers auch bei der abstrakten Ge‑ wichtung der (sachgerechten) Abwägungsgesichtspunkte durch den Verhält‑ nismäßigkeitsgrundsatz begrenzt sind. Hiernach gilt, dass die Gewichtung der (sachgerecht) ausgewählten Abwägungsgesichtspunkte und der damit angelegte Bewertungsmaßstab nicht außer Verhältnis stehen dürfen zu den (Mindest‑)Anforderungen, die die Ausübung der angestrebten Berufe tat‑ sächlich (nur) mit sich bringt1054. Sofern das Gericht auf der Grundlage dieser Prämissen im Einzelfall zu der Annahme einer abstrakten Fehlge‑ wichtung eines Abwägungsgesichtspunktes gelangt, beruht diese – wie im Bauplanungsrecht – dann ebenfalls nur auf der für richtig gehaltenen Aus‑ legung und Anwendung der die Kontrollmaßstäbe liefernden (Verfas‑ sungs‑)Rechtsvorschriften und damit auf bloßer Rechtsanwendung. Da mit jeder Rechtsauslegung und -anwendung eine durch subjektive Wertungsele‑ mente geprägte (Rechtsgüter‑) Abwägung einhergeht und daher nicht mit dem Anspruch auf objektive Richtigkeit erfolgen kann1055, handelt es sich bei dem Kontrollkriterium der abstrakten Fehlgewichtung eines Abwägungs‑ gesichtspunktes auch nur um einen „relativ-objektiven Maßstab“1056. Erst wenn dessen Richtigkeit als Prämisse vorausgesetzt oder dieser in einem anderen Abwägungsprozess – namentlich in einem Revisionsverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht oder in einem Verfassungsbeschwerdever‑ in diesem Zusammenhang allgemein Riehm, S. 183. HessVGH, Urt. v. 29.04.2010 – 8 A 3247/09, LKRZ 2010, 471 (473); VGH München, Bes. v. 25.11.1987 – 7 C 87.03235, NJW 1988, 2632 (2633) hin‑ sichtlich der Berücksichtigung der äußeren Form der Prüfungsarbeit. 1055 Vgl. Riehm, S. 181. 1056 Riehm, S. 181. 1053 Vgl. 1054 Vgl.
C. Die Erhebung formeller und materieller Bewertungsrügen369
fahren vor dem Bundesverfassungsgericht – aufgrund der „Abwägungszustän digkeit“1057 dieser Gerichte mit bindender Wirkung ermittelt wird, liegt ein verbindlicher objektiver Kontrollmaßstab vor1058. Die in den aufgezeigten Grenzen somit mögliche (gerichtliche) Kontrolle, ob die Bewertung des Prüfers auf einer abstrakten Fehlgewichtung maßgeb‑ licher Abwägungsgesichtspunkte beruht, ist demnach auch verfassungsrecht‑ lich geboten. Trotzdem ist diese in der Rechtsprechung im Wesentlichen bislang nur – aber immerhin – hinsichtlich der Frage der (un‑)angemessenen Berücksichtigung formaler Mängel bei der Bewertung der Prüfungsarbeit praktiziert worden. In diesem Kontext ist insbesondere die Grundsatzent‑ scheidung des Bundesverwaltungsgerichtes zum Überdenkungsverfahren aus dem Jahr 1993 erwähnenswert, in welcher wie selbstverständlich geprüft wurde, ob der Prüfer im Rahmen seiner Bewertung die hier berücksichtigten sprachlichen Mängel im Verhältnis zu den inhaltlichen Ausführungen über‑ gewichtet hat1059. Dies ist deshalb besonders bemerkenswert, weil nur mit der Abwägungsfehlerlehre, deren Übertragung auf das Prüfungsrecht das Bundesverwaltungsgericht nunmehr ausdrücklich abgelehnt hat, eine hier für möglich gehaltene Übergewichtung eines abstrakten Abwägungsge‑ sichtspunktes erfasst werden kann, nicht aber mit der vom Bundesverwal‑ tungsgericht üblicherweise herangezogenen Kontrollformel. Auch in der instanzgerichtlichen Rechtsprechung wird – soweit der zur Entscheidung stehende Fall dazu Anlass bietet – überprüft, ob die Bewer‑ tung möglicherweise auf einer Überbewertung der äußeren Form beruht1060. Diese Rechtsprechung findet in der Literatur Zustimmung1061, ohne dass dort aber weitere Schlüsse aus ihr gezogen werden oder sie ausdrücklich dogmatisch verortet wird. In dieser Hinsicht von Interesse ist eine Entschei‑ dung des VGH München, in der als diesbezüglicher Anknüpfungspunkt – in Teilkongruenz mit dem vorliegend gewählten Ansatz – der Verhältnismäßig‑ keitsgrundsatz benannt wird1062. Dieser geböte es bezogen auf die Mitbe‑ rücksichtigung der äußeren Form bei der Bewertung, dass daraus keine im Hinblick auf den angestrebten (Prüfungs‑)Zweck übermäßigen, unzumutba‑ ren Belastungen für den Prüfling entstünden1063. Dieses Postulat kann ohne Weiteres unterstrichen, muss aber wie dargelegt auf sämtliche Abwägungs‑ zu diesem Terminus und in der Sache Riehm, S. 176 ff., 193 ff. allgemein Riehm, S. 181. 1059 BVerwG, Urt. v. 24.02.1993 – 6 C 35/92, NVwZ 1993, 681 (682), insoweit nicht abgedruckt in BVerwGE 92, 132 ff. 1060 VGH München, Bes. v. 25.11.1987 – 7 C 87.03235, NJW 1988, 2632 (2633); VGH München, Urt. v. 27.01.1988 – 9 S 3018/87, NJW 1988, 2633 (2633). 1061 Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 645. 1062 VGH München, Bes. v. 25.11.1987 – 7 C 87.03235, NJW 1988, 2632 (2633). 1063 VGH München, Bes. v. 25.11.1987 – 7 C 87.03235, NJW 1988, 2632 (2633). 1057 Siehe 1058 Vgl.
370 Kap. 6: Möglichkeiten (gerichtlicher) Kontrolle der Prüfungsentscheidung
gesichtspunkte erstreckt werden. In dieser Hinsicht ist die instanzgerichtli‑ che Rechtsprechung aber noch sehr zurückhaltend1064. Dies vermag aber nichts daran zu ändern, dass die hier hinsichtlich der Berücksichtigung sprachlicher, orthographischer etc. Mängel für möglich gehaltene Fehlge‑ wichtungskontrolle auch bei der Überprüfung anderer Gewichtungsvorgänge praktikabel ist. ff) Zusammenfassung und Erweiterung der rationalen Abwägungskontrolle im engeren Sinne Nach alledem kann festgehalten werden, dass sämtliche Kontrollparame‑ ter der Abwägungsfehlerlehre grundsätzlich uneingeschränkt auch zur Kon‑ trolle der Bewertung des Prüfers bzw. seiner Abwägungsentscheidung her‑ angezogen werden können. (1) Das Gebot der rationalen Abwägung Dies bedeutet konkret, dass einer (gerichtlichen) Kontrolle zugänglich ist, ob der Prüfer überhaupt eine (rationale) Abwägung zwischen den positiven Aspekten und den Mängeln der Leistung vorgenommen, alle wesentlichen (Teil‑)Leistungen in der Gesamtbewertung berücksichtigt und dort die Be‑ deutung dieser sowie der maßgeblichen Abwägungsgesichtspunkte nicht verkannt oder den Ausgleich zwischen den positiven Aspekten der Leistung und deren Mängeln respektive der maßgeblichen Abwägungsgesichtspunkte in einer Weise vorgenommen hat, der zu ihrem objektiven Gewicht erkenn‑ bar außer Verhältnis steht1065. Damit sind die Möglichkeiten und Grenzen einer Kontrolle der Abwägungsentscheidung des Prüfers im Wesentlichen benannt, da mangels weiterer Kontrollmaßstäbe für die prüfungsspezifischen Wertungen eine weitergehende Beanstandung der Prüfungsentscheidung nur Konsequenz der Anwendung der eigenen subjektiv geprägten Bewertungs‑ kriterien des Sachbearbeiters im Prüfungsamt oder des Richters1066, nicht aber mehr Ausdruck der möglichen und allein gebotenen (gerichtlichen) Kontrolle derselben wäre.
1064 Siehe im Ansatz etwa VG Stuttgart, Urt. v. 12.08.2009 – 12 K 4675/08, juris, Rn. 34; VG Dresden, Urt. v. 04.06.2008 – 5 K 38/08, juris, Rn. 145. 1065 Vgl. bereits Unger, NordÖR 2012, 71 (75). 1066 Vgl. VG Hamburg, Urt. v. 16.04.2003 – 6 VG 2363/99, juris, Rn. 25.
C. Die Erhebung formeller und materieller Bewertungsrügen371
(2) D as Gebot der Sachlichkeit als (weiterer) Abwägungsfalsifikationsmaßstab Dies ist aber nicht der Fall, wenn die Prüfungsentscheidung aufgrund eines Verstoßes des Prüfers gegen das als allgemeiner Bewertungsgrundsatz anerkannte Gebot der Sachlichkeit aufgehoben wird, der bei der alleinigen Anwendung der Abwägungsfehlerlehre unsanktioniert bleiben könnte. Bei dem Sachlichkeitsgebot handelt es sich aber um keinen Kontrollmaßstab im engeren Sinne, da nicht die in der Bewertungsbegründung dargelegte Abwä‑ gung kontrolliert, sondern diese nur (deshalb) falsifiziert wird, weil den unsachlichen Prüferbemerkungen indizielle Bedeutung dafür beigemessen wird, dass der psychische Entscheidungsfindungsprozess möglicherweise maßgeblich von Emotionen und insoweit von einer Verletzung des Gebots rationaler Abwägung geprägt war. Ob die Ausführungen des Prüfers einen derartigen Rückschluss zulassen, lässt sich aber anhand objektiver Kriterien überprüfen, die später noch im Einzelnen aufzuzeigen sind. Da zudem der Prüfling gestützt auf Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG fraglos die ihrem objektiven Gewicht bzw. der wahren Einschätzung des Prüfers entsprechende und nicht durch Emotionen verfälschte Berücksichtigung der positiven Ansätze und Mängel der Prüfungsleistung in der Gesamtbewertung verlangen kann, ist das durch die Abwägungsfehlerlehre geprägte Modell der Abwägungskon trolle jedenfalls für das Prüfungsrecht1067 um das Gebot der Sachlichkeit zu ergänzen. Es sollte aber nicht von einem „allgemeinen Bewertungsgrund‑ satz“, sondern von einem „Abwägungsfalsifikationsmaßstab“ gesprochen werden. Zudem ist zu beachten, dass das Sachlichkeitsgebot weniger be‑ stimmte unangemessene Prüferbemerkungen inkriminieren, sondern den Bewertungsprozess primär von (übermäßigen) Emotionen frei halten will und sich daher letztlich als bloße (weitere) Konkretisierung des Gebots der rationalen Abwägung darstellt. Die Integration des solchermaßen verstandenen Sachlichkeitsgebots in das im Wesentlichen durch die Übernahme der Abwägungsfehlerlehre geprägten und hier entwickelten Modells zur Kontrolle der Abwägung des Prüfers (im engeren Sinne) führt zwar zur Obsoleszenz des bislang herangezogenen und gleichlautenden „allgemeinen Bewertungsgrundsatzes“, nicht aber zugleich zur Beantwortung der oben aufgeworfenen Streitfrage, aus welchen (Rechts‑) Quellen „allgemein gültige Bewertungsgrundsätze“ gewonnen werden kön‑ nen. Denn diese ließe sich ohne Weiteres im neuen Gewande in Gestalt der 1067 Dass das Sachlichkeitsgebot in der Abwägungsfehlerlehre und auch im Ab‑ wägungskontrollmodell Riehms nicht auftaucht, dürfte allein darin begründet liegen, dass unsachliche Bemerkungen in anderen Abwägungsprozessen praktisch nicht vorkommen.
372 Kap. 6: Möglichkeiten (gerichtlicher) Kontrolle der Prüfungsentscheidung
Frage nach der Generierbarkeit weiterer Abwägungsfalsifikationsmaßstäbe wieder aufleben lassen. Außerdem hätten andersherum die Kontrollparame‑ ter der Abwägungsfehlerlehre auch als allgemeingültige Bewertungsgrund‑ sätze definiert, als Kontrollmaßstäbe eingeführt und davon ausgehend nun die Frage nach deren Erweiterbarkeit gestellt werden können. Daher ist eine Auseinandersetzung namentlich mit dem oben dargestellten Ansatz Hofmeyers geboten, der abweichend von der Genese des vorliegend entwickelten Abwägungskontrollmodells die „allgemeinen Bewertungsgrundsätze“ dem „Stand der pädagogischen Praxis“ entnehmen will und dementsprechend wie ausgeführt unter allgemeinen Bewertungsgrundsätzen „fachwissen‑ schaftlich fundierte, allgemeingültige Regeln (für Lehrer) zur Anwendung im Bewertungsakt“ versteht1068. Der Versuch der Übertragung dieser Überlegungen Hofmeyers auf die Bewertung juristischer Prüfungsleistungen kann an sich zu keinem anderen als den bisher dargestellten Ergebnissen führen. Denn der „pädagogischen Praxis“ bei schulischen Leistungsbeurteilungen entspricht bei juristischen Leistungsbewertungen die Bewertungspraxis der Prüfer, die aber überwie‑ gend die in der Rechtsprechung entwickelten und auch in der rechtswissen‑ schaftlichen Literatur anerkannten Bewertungsregeln anwenden. Diese Be‑ trachtung wird aber dem Anliegen Hofmeyers nicht gerecht, der ja in der Implementierung der allgemeinen Bewertungsgrundsätze in die Kontrollfor‑ mel des Bundesverwaltungsgerichtes einen Verweis auf außerrechtliche Maßstäbe erblickt1069. Dementsprechend müsste auf – nicht existente – nicht rechtswissenschaftlich fundierte Regeln zur Beurteilung juristischer Prü‑ fungsleistungen abgestellt werden, die von den Prüfern allgemein angewen‑ det werden und somit den „Stand der pädagogischen Prüfungspraxis“ bei der Bewertung juristischer Prüfungsleistungen widerspiegeln. Dieser Ansatz, bei dem im Übrigen das Gebot der Sachlichkeit nicht mehr unter die allge‑ meinen Bewertungsgrundsätze subsumiert werden könnte, ist geradezu ab‑ wegig, da er zunächst auf einer eklatanten Missachtung des Gesetzesvorbe‑ halts sowie des Demokratie-, Gewaltenteilungs- und Rechtsstaatsprinzips beruht. Nach diesen verfassungsrechtlichen Determinanten können außer‑ rechtliche Maßstäbe im Rechtsanwendungsprozess nicht durch die Gerichte oder die Behörden, sondern nur durch den parlamentarischen Gesetzgeber für verbindlich erklärt werden, und sie bedürfen daher einer ausreichenden gesetzlichen Grundlage1070. Wenn sich das Gericht trotzdem an solche ge‑ bunden hält und also deren Überprüfung am Maßstab des geltenden Rechts 1068 Hofmeyer, S. 85 f., mit seiner Definition der „allgemeinen Bewertungsgrund‑ sätze“ auf S. 89 (Klammersetzung vom Autor). 1069 Hofmeyer, S. 62 f. 1070 Vgl. BVerfGE 129, 1 (23 ff.).
C. Die Erhebung formeller und materieller Bewertungsrügen373
unterlässt, liegt zudem eine Verletzung der Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG vor1071. Jenseits dieser schwer wiegenden rechtsdogmatischen Einwände ist schließlich noch zu bemerken, dass der mit dem „Stand der pädagogischen“ Praxis für verbindlich erklärte „empirische Konsens“1072 keineswegs zur „Richtigkeit“ der Bewertung führen muss, sondern ebenso Ausdruck perpe‑ tuierter Bewertungsfehleistungen sein kann1073. Entsprechend der Regel, dass eine (gerichtliche) Kontrolle (der Prüfungsentscheidung) nur mit den Mitteln und Methoden des Rechts erfolgen kann, verbleibt es somit dabei, dass die hier an die Stelle der „allgemeinen Bewertungsgrundsätze“ getre‑ tenen Abwägungsfalsifikationsmaßstäbe nur aus den Prinzipien des Verfas‑ sungsrechts unter Berücksichtigung des festgelegten Prüfungszwecks ge‑ wonnen werden können1074. Die bei diesem dogmatischen Ansatz generierbaren Maßstäbe zur Falsifi‑ kation der konkreten Abwägungsentscheidung des Prüfers dürften mit dem vorstehend entworfenen Kontrollschema abschließend aufgezeigt worden sein. Diese markieren die dem Prüfer bei der Nutzung des ihm eingeräum‑ ten Abwägungs- bzw. Bewertungsspielraums gesetzten verfassungsrechtli‑ chen Grenzen und führen zu der dargestellten beschränkten (gerichtlichen) Kontrolle der eigentlichen Abwägung des Prüfers. f) (Weitere) Übertragung des rationalen Abwägungskontrollmodells Von dieser Abwägungskontrolle im engeren Sinne zu unterscheiden ist die der vollständigen (gerichtlichen) Überprüfung unterliegende Einhaltung der den Abwägungsrahmen absteckenden Abwägungsdirektiven, die weitge‑ hend den „äußeren Grenzen des Bewertungsspielraums“ im Kontrollmodell der Rechtsprechung entsprechen. Diese führen innerhalb des durch ihre Steuerungswirkung erfassten (Bewertung‑)Bereichs zu einer vollen Kontrol‑ le (der Richtigkeit) der hier vom Prüfer getroffenen Entscheidungen und begründen damit auch im rationalen Abwägungskontrollmodell einen „dua‑ listischen Kontrollansatz“1075. Zu den Abwägungsdirektiven zählt damit neben den wenigen aus den gesetzlichen Vorschriften folgenden (Bewer‑ tungs‑)Vorgaben zunächst das Verbot der Anstellung sachfremder Erwägun‑ gen als allgemeine Regel und Grundbedingung rationalen Abwägens1076. 1071 Vgl.
1072 Zum 1073 Vgl. 1074 Vgl. 1075 Vgl. 1076 Vgl.
BVerfGE 129, 1 (23 ff., 28 ff.). Terminus Riehm, S. 167 f. Riehm, S. 168. FG Köln, Urt. v. 07.12.2011 – 2 K 1434/09, EFG 2012, 1603 (1604). Pache, S. 499. Riehm, S. 59.
374 Kap. 6: Möglichkeiten (gerichtlicher) Kontrolle der Prüfungsentscheidung
Hinzu kommen alle bereichsspezifischen Abwägungsregeln, die der Prüfer bei der Zusammenstellung des Abwägungsmaterials zu beachten hat und die nach dem Dargelegten wie die Abwägungsfalsifikationsmaßstäbe nur aus verfassungsrechtlichen Vorschriften gewonnen werden können. Demgemäß stellt namentlich das aus Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG abgeleitete Gebot der Respektierung des Antwortspielraums des Prüflings in Fachfragen eine spe‑ zielle Abwägungsdirektive dar1077. Damit finden sich alle „äußeren Grenzen des Bewertungsspielraums“ aus dem Kontrollmodell der Rechtsprechung als Abwägungsdirektiven auch im rationalen Abwägungskontrollmodell wieder. Während damit die Abwä‑ gungskontrolle auf der ersten Stufe bei beiden Modellen identisch ist, er‑ möglicht die Anwendung der hier entwickelten Abwägungsfalsifikations‑ maßstäbe auf der zweiten Stufe eine weiter gehende Kontrolle der eigentli‑ chen Abwägung des Prüfers als die Heranziehung der „allgemeinen Bewer‑ tungsgrundsätze“. Weil diese wie aufgezeigt auch verfassungsrechtlich geboten ist, ist das rationale Abwägungskontrollmodell allein deshalb dem von der Rechtsprechung in Form der bisherigen Kontrollformel zum Aus‑ druck kommenden Ansatz einer „verkappten Abwägungskontrolle“ vorzu‑ ziehen. aa) Die den Abwägungsrahmen bildenden Abwägungsdirektiven Nachdem bislang in erster Linie die Struktur des (rationalen) Abwägungs‑ kontrollmodells erläutert worden ist, soll in der nachfolgenden zusammen‑ fassenden Darstellung desselben der Fokus vor allem auf der Darlegung des konkreten Inhalts der bisher noch nicht näher behandelten Abwägungsdirek‑ tiven und damit deren Steuerungskraft liegen. (1) D as Gebot der zweckgerichteten Korrektur / Verbot der Anstellung sachfremder Erwägungen Nachdem die (wenigen) gesetzlichen (Bewertungs‑)Vorgaben und die sich daraus ergebenden Abwägungsdirektiven bereits im Einzelnen behandelt wor‑ den sind, ist zunächst auf das Gebot der zweckgerichteten Korrektur bzw. das Verbot der Anstellung sachfremder Erwägungen als weitere Abwägungsdirek‑ tive näher einzugehen, die sich wie dargelegt ohne Weiteres aus Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG ableiten lässt. Mit dieser wird dem Prüfer aufgegeben, nur solche Abwägungsgesichtspunkte heranzuziehen, die in einem inhaltlichen Zusam‑ 1077 Siehe zur Einordnung desselben als Maßstab zur Richtigkeitskontrolle VG Meinigen, Bes. v. 15.08.2005 – 1 E 510/05.Me, juris, Rn. 27.
C. Die Erhebung formeller und materieller Bewertungsrügen375
menhang mit dem Zweck der Prüfung stehen1078 bzw. einen sachlichen Bezug zur gestellten Abwägungsfrage aufweisen1079. Ein Prüfer, der diese seinen Ab‑ wägungsspielraum ebenfalls nach außen begrenzende Regel missachtet, ver‑ stößt damit zugleich gegen das Willkürverbot1080, weil es an einem sachlich gerechtfertigten Grund für die Heranziehung nicht auf die Abwägungsfrage bezogener Gründe immer fehlt. Daraus ergibt sich zunächst, dass sich das Gebot der sachbezogenen bzw. das Verbot der sachfernen Abwägung auch aus Art. 3 Abs. 1 GG als allgemeine Voraussetzung für jede rationale Abwägung ableiten lässt1081. Auf der anderen Seite erklärt die Nähe zum Willkürverbot auch die geringe praktische Bedeutung dieser Abwägungsdirektive. Denn selbst wenn der wahre psychische Entscheidungsfindungsprozess maßgeblich von sachfremden Erwägungen beeinflusst gewesen sein sollte – was ohnehin nur in wenigen Ausnahmefällen denkbar erscheint – wird der Prüfer diesen erheblichen Verstoß gegen seine Pflichten kaum im Rahmen der Bewertungs‑ begründung zu erkennen geben1082. Es ist insoweit paradigmatisch, dass in den bislang soweit ersichtlich lediglich zwei Fällen, in denen die Gerichte die unzulässige Anstellung sachfremder Erwägungen angenommen haben1083, die Prüfer nicht zum Nachteil des Prüflings handeln wollten, als sie jeweils eine ihrer inneren Überzeugung widersprechende Bewertungsentscheidung getrof‑ fen1084 und damit einen anderen als den sonst üblichen Bewertungsmaßstab angelegt bzw. zumindest ihre Bereitschaft hierzu zu erkennen gegeben ha‑ ben1085. Dass darin jeweils ein sanktionswürdiges Prüferverhalten gesehen worden ist, erscheint deshalb berechtigt, weil in der Anlegung eines anderen als des tatsächlich für richtig gehaltenen und üblicherweise angewandten Be‑ wertungsmaßstabs ein Verstoß gegen das als „allgemeiner Bewertungsgrund‑ satz“ gehandelte Gebot, Gleiches gleich zu bewerten1086, zu sehen ist, der nur auf der Anstellung sachfremder Erwägungen beruhen kann1087. Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 642. allgemein Riehm, S. 59. 1080 Vgl. Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 642. 1081 Vgl. Riehm, S. 59. 1082 Vgl. zum schwierigen Nachweis auch Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 642. 1083 Siehe VGH Mannheim, Bes. v. 26.01.1995 – 4 S 980/94, VBlBW 1995, 410 (411); BVerfG, Bes. v. 16.01.1995 – BvR 1505/94, NVwZ 1995, 469 (470); siehe dazu Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 643. 1084 So im Fall des BVerfG, Bes. v. 16.01.1995 – BvR 1505/94, NVwZ 1995, 469 (470). 1085 So im Fall des VGH Mannheim, Bes. v. 26.01.1995 – 4 S 980/94, VBlBW 1995, 410 (411). 1086 Vgl. Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 665 f. 1087 Siehe exemplarisch VGH Mannheim, Bes. v. 26.01.1995 – 4 S 980/94, VBlBW 1995, 410 (411); siehe zum Zusammenhang zwischen dem Gebot, Gleiches gleich zu bewerten, und dem Willkürverbot auch Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 665. 1078 Vgl. 1079 Vgl.
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Diskutiert worden ist ein Verstoß gegen das Verbot der Anstellung sach‑ fremder Erwägungen im Übrigen bislang vor allem im Zusammenhang mit der (Über‑)Gewichtung sprachlicher Mängel bzw. der äußeren Form der Prü‑ fungsarbeit. Sie ist allerdings in diesem Kontext bisher noch nicht angenom‑ men worden1088. Im Übrigen könnte ihr Vorliegen ohne Weiteres und besser mit dem Gebot der rationalen Abwägung als Kontrollmaßstab erfasst werden. Zudem wird teilweise davon ausgegangen, dass im Falle einer Verletzung des Sachlichkeitsgebots mitunter zugleich nicht prüfungszweckbezogene Erwägungen angestellt werden, wenn Randbemerkungen darauf schließen lassen, dass sachfremder Ärger und Maßlosigkeit die Bewertung beeinflusst haben1089. Dies ist aber nur in dem eher fiktiven Fall gegeben, dass die Vermerke des Prüfers eine Verärgerung erkennen lassen, die nicht nur auf die vermeintlich schlechte Prüfungsleistung bezogen ist. Zudem lässt sich in den diskutierten Überschneidungsfällen die vom Prüfer getroffene Abwä‑ gungsentscheidung regelmäßig allein mit dem Verstoß gegen das Sachlich‑ keitsgebot falsifizieren, so dass es ohnehin dahinstehen kann, ob darüber hinaus möglicherweise noch eine Missachtung des Gebots der zweckgerich‑ teten Korrektur vorliegt. Äußerungen des Prüfers, die auf die Heranziehung sachfremder Erwägun‑ gen im Rahmen der Leistungsbeurteilung hindeuten könnten, sind wegen der geringeren „Hemmschwelle“ und wegen der unmittelbaren Auseinander‑ setzung mit dem Prüfling „aus dem Affekt“ heraus eher noch bei mündli‑ chen Prüfungen denkbar. Hier könnten unter Umständen etwa konfessionel‑ le oder parteipolitische Einstellungen des Prüflings1090, von denen der Prü‑ fungsausschussvorsitzende im Rahmen des Vorgesprächs zur mündlichen Prüfung erfahren hat, Anlass für eine schlechte(re) Bewertung des Prüflings sein und abfällige Bemerkungen der Prüfer insoweit indizielle Bedeutung für einen Verstoß gegen das Verbot der Anstellung sachfremder Erwägungen haben. In solchen Fällen wäre aber von einer Befangenheit des Prüfers auszugehen1091 und die hier behandelte Abwägungsdirektive hätte auch in‑ 1088 Vgl. VGH Mannheim, Urt. v. 27.01.1988 – 9 3018/87, NJW 1998, 2633 (2634 f.); VGH München, Bes. v. 25.11.1987 – 7 C 87.03235, NJW 1988, 2632 (2633); siehe auch OVG Münster – 22 A 1834/90, NVwZ 1995, 800 (803); Niehues/ Fischer/Jeremias, Rn. 645; siehe zur Möglichkeit der Berücksichtigung sprachlicher Mängel in der Lehramtsprüfung jetzt instruktiv HessVGH, Urt. v. 22.10.2015 – 9 A 1929/13, juris, Rn. 31 ff. In dem hier entschiedenen Fall besteht aber die Besonder‑ heit, dass die Möglichkeit der Berücksichtigung schwer wiegender sprachlicher Mängel in der einschlägigen Prüfungsordnung ausdrücklich geregelt ist. 1089 Vgl. Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 644. 1090 Vgl. Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 645. 1091 Siehe zur Überschneidung einer Voreingenommenheit des Prüfers und der Anstellung sachfremder Erwägungen Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 644, zur Befan‑ genheit Rn. 338 f.
C. Die Erhebung formeller und materieller Bewertungsrügen377
soweit keine eigenständige Bedeutung. Deren steuernde Kraft für die Aus‑ wahl des Abwägungsmaterials ist damit insgesamt betrachtet gering und erschöpft sich im Wesentlichen in einem moralischen Appell an den Prüfer, insbesondere Gleiches gleich zu bewerten. (2) D as Gebot der Respektierung des Antwortspielraums des Prüflings in Fachfragen Da sich aus den maßgeblichen prüfungsrechtlichen Vorschriften nur punk‑ tuelle Vorgaben ergeben, welche die Freiheiten des Prüfers im Wesentlichen unberührt lassen, und das wohl klingende Verbot der Anstellung sachfrem‑ der Erwägungen praktisch weitgehend wirkungslos ist, lässt sich ein effek‑ tiver Rechtsschutz für den Prüfling auf der Ebene der Auswahl und Zusam‑ menstellung des Abwägungsmaterials nur noch durch die Erarbeitung spe‑ zieller Abwägungsregeln verwirklichen. Mit dieser – verfassungsrechtlich motivierten – Intention hat das Bundes‑ verfassungsgericht im Juristen-Beschluss vom 17.04.1991 seinerzeit unmit‑ telbar aus dem Gewährleistungsgehalt des Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG den im Rahmen der vorliegenden Untersuchung nun bereits mehrfach angesproche‑ nen allgemeinen Bewertungsgrundsatz entwickelt, wonach eine vertretbare und mit gewichtigen Argumenten folgerichtig begründete Lösung nicht als falsch bewertet werden dürfe1092. Diesen hat es in einer jüngeren Entschei‑ dung ganz offenbar in Anlehnung an entsprechende Ausführungen im Me‑ diziner-Beschluss vom 17.04.19911093 bezüglich der Bewertung einer schriftlichen Habilitationsleistung erneut nunmehr mit der Formulierung bestätigt, dass bei fachspezifischen Fragen eine mit guten Gründen vertre‑ tene Auffassung nicht als falsch bewertet werden dürfe, nur weil das Prü‑ fungsgremium hierzu eine andere Auffassung vertrete als der Prüfling1094. Diese womöglich nicht einmal absichtliche (Um‑) Formulierung seitens des Bundesverfassungsgerichtes lässt das mit der Aufstellung des Bewer‑ tungsgrundsatzes in seiner Ursprungsterminologie verfolgte Ziel ersichtlich 1092 BVerfGE 84, 34 (55), kurze Zeit später bestätigt mit Bes. v. 10.10.1991 – 1 BvR 991/91, NVwZ 1992, 657 (658). 1093 BVerfGE 84, 59 (79), wo ausgeführt wird, dass eine mit guten Gründen vertretene Stellungnahme in einer umstrittenen Fachfrage nicht zu beruflichen Nach‑ teilen führen dürfe, nur weil ein Prüfungsgremium anderer Ansicht sei als der Prüf‑ ling; kritisch bezüglich dieses Postulats im Hinblick auf die gerichtliche Möglichkeit der Kontrolle seiner Einhaltung Seebass, NVwZ 1992, 609 (615 f.); siehe auch Niehues, NJW 1991, 3001 (3003 f.). 1094 BVerfG, Bes. v. 04.11.2010 – 1 BvR 3389/08, NVwZ 2011, 486 (489) unter Bezugnahme auf BVerfGE 84, 34 (55), in der aber der Bewertungsgrundsatz so nicht formuliert wird.
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unberührt, die fachspezifischen Bewertungen des Prüfers einer gerichtli‑ chen Kontrolle zugänglich zu machen. Und nach wie vor besteht die Not‑ wendigkeit, diese gegenüber den prüfungsspezifischen Wertungen abzu‑ grenzen, für die das Bundesverfassungsgericht im Juristen-Beschluss als Beispiele implizit die Benotungsfrage namentlich mit Blick auf die Not‑ wendigkeit der Bestimmung der „durchschnittlichen Anforderungen“1095 sowie die Einordnung des Schwierigkeitsgrades der Aufgabenstellung und die Beurteilung der Qualität der Darstellung benannt hat1096. Einen wert‑ vollen Hinweis für die Zuordnung der in Betracht kommenden Bewer‑ tungskriterien in die eine oder andere Kategorie hat das Bundesverfas‑ sungsgericht letztlich auch dadurch gegeben, dass es den neu eingeführten Bewertungsgrundsatz ausdrücklich als Kontrollmaßstab bezeichnet hat1097. Da er diese Funktion nur erfüllen kann, wenn auch von der vollständigen gerichtlichen Überprüfbarkeit der in ihm enthaltenen Kriterien der „Ge‑ wichtigkeit der Argumentation“ und der „Folgerichtigkeit der Begründung“ ausgegangen wird, muss das Bundesverfassungsgericht eben diese ange‑ nommen haben. Es wäre zu erwarten bzw. jedenfalls geboten gewesen, dass die erforderliche Differenzierung zwischen den fach- und prüfungs‑ spezifischen Wertungen ausgehend von dieser vom Bundesverfassungsge‑ richt vorausgesetzten Prämisse und dessen weiteren Vorgaben vorgenom‑ men und die Auslegung und Anwendung des ins Leben gerufenen Bewer‑ tungsgrundsatzes in einer Art und Weise erfolgt, die eine vollständige ge‑ richtliche Überprüfung der den Antwortspielraum konstituierenden Voraussetzungen ermöglicht. Die tatsächliche Entwicklung hat einen ande‑ ren, für die Prüflinge verhängnisvollen Weg genommen, der zunächst durch einige die Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichtes rezensierende Stellungnahmen geebnet worden ist. Zuvörderst zu nennen insoweit ist die überaus kritische Entscheidungs‑ besprechung von Seebass, seinerzeit Vorsitzender des für Prüfungsrecht zuständigen 6. Senats beim Bundesverwaltungsgericht. Dieser vertrat die Auffassung, dass mit Begriffen wie „richtig“ und „falsch“ oder „gut“ und „schlecht“ nicht an Merkmale angeknüpft werde, bei denen gerade losge‑ löst von der prüfungsspezifischen Wertung des Prüfers feststehe, ob sie die konkrete Prüfungsleistung kennzeichnen oder nicht1098. Er nahm (des‑ halb) an, dass der vom Bundesverfassungsgericht postulierte Bewertungs‑ grundsatz jedenfalls dann keinen Kontrollmaßstab darstelle, wenn fach‑ spezifische mit prüfungsspezifischen Wertungen untrennbar verknüpft sei‑ 1095 Vgl.
BVerfGE 84, 34 (51 f.). zur Einordnung dieser Bewertungskriterien BVerfGE 84, 34 (57 f.). 1097 BVerfGE 84, 34 (56). 1098 Seebass, NVwZ 1992, 609 (615). 1096 Vgl.
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en1099. In einer weiteren Richterstellungnahme formulierte v. Golitschek, damals Vorsitzender Richter des für Prüfungsrecht zuständigen Senats am VGH München, die wohl rhetorisch zu verstehende Frage, ob denn nicht die Merkmale „Gewichtigkeit“ der Argumentation und „Folgerichtigkeit“ der Lösung ihrerseits prüfungsspezifische Wertungen darstellten, die auch nach der neueren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes nicht voll justiziabel seien1100. Aus der rechtswissenschaftlichen Literatur hervorzuheben ist der Beitrag von Koenig. Er kritisiert zwar die Figur des Antwortspielraums zunächst als tautologischen Ansatz, weil die Schlüssigkeit der Ausführungen Vorausset‑ zung für die Nutzung des Antwortspielraums sei1101. Im Weiteren hält er aber die darin erblickte Tendenz, die Anwendung der Bewertungsmaßstäbe durch den Prüfer im Hinblick auf Folgerichtigkeit und Nachvollziehbarkeit der gerichtlichen Kontrolle zu unterwerfen, für richtig und realisierbar1102. Diese Ausführungen gehen zwar in die Richtung der hier vertretenen An‑ nahme, dass die Auslegung und Anwendung der Merkmale, die den vom Bundesverfassungsgericht aufgestellten Bewertungsgrundsatz konstituieren, nach seinem Verständnis gerichtlich voll überprüfbar sind. Klar herausgear‑ beitet wird dies indes nicht. In der kaum übersehbaren Anzahl der weiteren Entscheidungsrezensionen1103 werden zum Rechtscharakter und Bedeutungs‑ gehalt der im neu kreierten Bewertungsgrundsatz enthaltenen Begriffe und damit zu dessen Eignung als Kontrollmaßstab überhaupt gar keine Ausfüh‑ rungen gemacht. In der jüngeren rechtswissenschaftlichen und Praxisliteratur versucht sich allein Haase an deren Definition. Zur Notwendigkeit der „Gewichtigkeit der Argumentation“ führt er aus, dass es nicht ausreiche, wenn das gefundene Ergebnis mehr oder weniger zufällig dem entspreche, was vertreten werden könne1104. Und die vom Bundesverfassungsgericht geforderte „Folgerichtig‑ keit der Argumentation“ setzt seiner Auffassung nach voraus, dass die an‑ geführten Gründe geeignet sind, gerade das vom Prüfling gefundene Ergeb‑ nis zu tragen1105. Ob Haase allerdings davon ausgeht, dass die Kriterien der „Gewichtigkeit der Argumentation“ und der „Folgerichtigkeit der Begrün‑ 1099 Seebass, NVwZ 1992, 609 (613, 615); siehe zuvor bereits Seebass, NVwZ 1985, 521 (527 m. Fn. 70). 1100 v. Golitschek, BayVBl. 1994, 257 (260). 1101 Koenig, VerwArch 83 (1992), 351 (359). 1102 Koenig, VerwArch 83 (1992), 351 (361). 1103 Siehe etwa Rozek, NVwZ 1992, 343 f.; Redeker, NVwZ 1992, 305 ff.; v. Mutius/Sperlich, DÖV 1993, 45 f.; Niehues, NJW 1991, 3001 ff.; Becker, NVwZ 1993, 1129 f. 1104 Haase, in: Johlen/Oerder, MAH VerwR, § 16, Rn. 188. 1105 Haase, in: Johlen/Oerder, MAH VerwR, § 16, Rn. 188.
380 Kap. 6: Möglichkeiten (gerichtlicher) Kontrolle der Prüfungsentscheidung
dung“ der vollständigen gerichtlichen Kontrolle unterliegen, lässt sich sei‑ nen Ausführungen nicht entnehmen. Während diese Kriterien in der Literatur jedenfalls zum Teil als eigen‑ ständige Voraussetzungen des Antwortspielraums verstanden worden sind und versucht worden ist, deren Rechtscharakter und Bedeutungsgehalt1106 zu erfassen, haben sie in der (instanzgerichtlichen) Rechtsprechung infolge einer im Wesentlichen bis heute unterbliebenen rechtssystematischen An‑ wendung des neuen Bewertungsgrundsatzes kaum eigenständige Bedeutung erlangt. Anstatt die einzelnen Merkmale desselben zu definieren und den jeweiligen Sachverhalt darunter zu subsumieren, ist in der Rechtspraxis von Anfang an die gerichtliche Überprüfung auf die Frage der Vertretbarkeit der angebotenen (Teil‑) Lösung in fachwissenschaftlicher Hinsicht und damit auf das Vorliegen der ersten Voraussetzung des Bewertungsgrundsatzes be‑ schränkt worden. Eine Auseinandersetzung mit den Fragen der „Gewichtig‑ keit der Argumentation“ und der „Folgerichtigkeit der Begründung“ hat die Rechtsprechung von vornherein dadurch vermieden, dass diese gebündelt unter Bewertungskriterien wie demjenigen der „Würdigung der Qualität der Darstellung1107 bzw. Argumentation1108“, der Frage der „Überzeugungs‑ kraft1109“ derselben sowie dem Aspekt der „sorgfältigen Aufbereitung und insoweit insbesondere v. Golitschek, BayVBl. 1994, 257 (260). zu diesem Kriterium und dessen Einordnung als prüfungsspezifische Wertung BVerwG, Urt. v. 21.10.1993 – 6 12 C/92, BayVBl. 1994, 443 (443); Bes. v. 10.10.1994 – 6 B 73/94, juris, Rn. 14, insoweit nicht abgedruckt in NJW 1995, 977 f.; Bes. v. 17.12.1997 – 6 B 55/97, NVwZ 1998, 738 (738); Bes. v. 13.05.2004 – 6 B 25/04, NVwZ 2004, 1375 (1377); Bes. v. 16.08.2011 – 6 B 18/11, juris, Rn. 16; VGH Mannheim, Urt. v. 13.06.1995 – 9 S 2091/94, NVwZ-RR 1996, 27 (28); OVG Hamburg, Urt. v. 23.12.1996 – Bf III 40/96, juris, Rn. 24; HessVGH, Urt. v. 08.04.1997 – 6 UE 4494/96, juris, Rn. 39; BVerwG, Bes. v. 13.03.1998 – 6 B 28/98, juris, Rn. 4; OVG Lüneburg, Urt. v. 07.10.1999 – 10 L 6651/96, juris, Rn. 18; VG Göttingen, Urt. v. 05.09.2002 – 1 A 1088/00, juris, Rn. 28; OVG B.-B., Urt. v. 13.09.2012 – OVG 10 B 5.11, juris, Rn. 15; siehe zur „Art der Darstellung“ noch VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 14.12.1999 – 9 S 1725/99, juris, Rn. 25; VG Freiburg, Urt. v. 11.07.2001 – 1 K 1080/99, juris, Rn. 29. 1108 Siehe zu diesem Kriterium und dessen Einordnung als prüfungsspezifische Wertung HessVGH, Urt. v. 13.10.1994 – 6 UE 2077/90, juris, Rn. 16; FG Kassel, Urt. v. 16.05.2000 – 13 K 3882/99, juris, Rn. 19; VG Braunschweig, Urt. v. 21.06.2000 – 6 A 109/99, juris, Rn. 45; OVG Magdeburg, Urt. v. 11.12.2003 – L 265/02, juris, Rn. 52 f.; VG Dresden, Urt. v. 07.11.2007 – 5 K 2149/03, juris, Rn. 68; VG Dresden, Urt. v. 04.06.2008 – 5 K 38/08, juris. Rn. 112; OVG B.-B., Urt. v. 13.09.2012 – OVG 10 B 5.11, juris, Rn. 26. 1109 Siehe zu diesem Kriterium und dessen Einordnung als prüfungsspezifische Wertung OVG Münster, Urt. v. 18.03.1992 – 22 A 370/91, NVwZ 1993, 94 (95); OVG Lüneburg, Urt. v. 24.05.2011 – 2 LB 158/2010, NordÖR 2012, 98 (99); OVG Lüneburg, Bes. v. 07.05.2007 – 2 LA 410/05, juris, Rn. 4; VG Augsburg, Urt. v. 25.11.2008 – Au 3 K 07.834, juris, Rn. 36. 1106 Siehe 1107 Siehe
C. Die Erhebung formeller und materieller Bewertungsrügen381
überzeugenden Darlegung der Antworten1110“ zusammengefasst, diese je‑ weils als (komplexe) prüfungsspezifische Wertungen eingestuft1111 und da‑ mit der gerichtlichen Kontrolle entzogen worden sind. Diese Vorgehenswei‑ se hat aber nicht etwa zur Folge gehabt, dass die Qualität der Begründung im weiteren Sinne unerheblich für die Frage geworden ist, ob sich der Prüfling auf den ihm im Grundsatz einzuräumenden Antwortspielraum be‑ rufen kann. Vielmehr ist von Beginn an betont worden, dass es für die Berufung auf diesen nicht ausreiche, wenn das vom Kandidaten präsentier‑ te Ergebnis mehr oder minder zufällig mit dem übereinstimme, was im wissenschaftlichen Meinungsstreit ebenfalls als Resultat vertreten werden könne1112; innerhalb des von den Gerichten zu respektierenden Bewertungs‑ spielraums bewege sich der Prüfer auch dann, wenn er die Vertretbarkeit der Lösung nicht ausschließe, jedoch die Qualität der Darstellung bemänge‑ le1113. Die daraus folgende Konsequenz, dass nach der damit vertretenen Ansicht der dem Prüfling zu gewährende Antwortspielraum nicht dazu führt, dass der Prüfer jeden eben noch vertretbare Antwort als richtig zu bewerten hat, wird denn auch in der Rechtsprechung teils ausdrücklich ge‑ zogen1114. Mit anderen Worten kann der Prüfer hiernach eine Lösung als falsch bzw. unvertretbar bewerten, wenn diese seiner Einschätzung nach nicht mit gewichtigen Argumenten folgerichtig begründet worden ist. Und sie kann nach beinahe einhelliger Rechtsauffassung der Gerichte aufgrund einer insoweit teils auch ausdrücklich angenommenen (komplexen) prü‑ fungsspezifischen Wertung des Prüfers1115 nur sehr eingeschränkt überprüft werden.
1110 Siehe zu diesem Kriterium und dessen Einordnung als prüfungsspezifische Wertung VGH Mannheim, Bes. v. 13.08.1992 – 4 S 1165/92, VBlBW 1993, 143 (144); Urt. v. 14.12.1999 – 9 S 1725/99, juris, Rn. 25; VG Meiningen, Urt. v. 30.06.1996 – 8 K 558/94.Me, juris, Rn. 21; VG Saarlouis, Urt. v. 28.08.2000 – 1 K 141/99, juris, Rn. 33; VG Hamburg, Urt. v. 16.04.2003 – 6 VG 2363/99), juris, Rn. 52, 63, 68, 79; VG Freiburg, Urt. v. 11.07.2001 – 1 K 1080/99, juris, Rn. 29; VG Saarlouis, Urt. v. 13.01.2005 – 1 K 412/03, Rn. 108; VG Mainz, Urt. v. 13.10.2010 – 3 K 64/10.MZ, juris, Rn. 22; Urt. v. 20.05.2005 – 7 K 932/04.MZ, juris, Rn. 20; FG Baden-Württemberg, Urt. v. 13.12.2006 – 2 K 193/04, juris, Rn. 50; OVG Münster, Bes. v. 25.11.2011 – 1 B 1003/11, juris, Rn. 24; vgl. auch Niehues/Fischer/Jeremias, aaO, Rn. 634, 880, 881. 1111 Siehe insoweit die Nachweise in den vorstehenden Fußnoten. 1112 BayVGH, Urt. v. 22.01.1992 – 3 B 91.01027, n. v., zitiert nach v. Golitschek, BayVBl. 1994, 257 (260); VG Köln, Urt. v. 04.11.2004 – 6 K 5760/02, juris, Rn. 55. 1113 OVG Lüneburg, Urt. v 27.08.2007 – 2 LA 1208/06, juris, Rn. 6; BayVGH, Bes. v. 24.09.2009 – 7 ZB 08.996, juris, Rn. 24; ähnlich Niehues, NJW 1991, 3001 (3006); Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 880. 1114 FG Kassel, Urt. v. 18.02.2004 – 13 K 2/04, juris, Rn. 41. 1115 VG Dresden, Urt. v. 04.06.2008 – 5 K 38/08, juris, Rn. 112.
382 Kap. 6: Möglichkeiten (gerichtlicher) Kontrolle der Prüfungsentscheidung
Ein nur scheinbar von der vorstehend skizzierten Rechtsprechung abwei‑ chender Rechtsstandpunkt wird eingenommen, soweit das OVG Saarlouis der Ansicht ist, dass das Gericht selbstständig – unabhängig vom Votum des Prüfers – zu kontrollieren habe, ob der konkrete Lösungsweg im Antwort‑ spielraum des Prüflings nach Maßgabe gewichtiger Argumente liegt1116. Zwar beruht dieses Verständnis des gerichtlichen Kontrollauftrags durchaus auf der Annahme, dass jedenfalls das Merkmal der „Gewichtigkeit der Ar‑ gumentation“ objektivierbar ist und damit der vollständigen gerichtlichen Überprüfung unterliegt. Soweit das OVG Saarlouis im Ausgangspunkt sei‑ ner abstrakten Überlegungen das Vorliegen einer mit gewichtigen Gründen begründeten Lösung für gegeben hält, wenn der Prüfling diese „problemori‑ entiert entwickelt“1117, ist aber festzustellen, dass bei der Anwendung dieses Rechtssatzes im konkreten Einzelfall nichts anderes geprüft wird als die fachspezifische Vertretbarkeit des vom Prüfling gewählten Prüfungsansatzes bzw. eingeschlagenen Lösungswegs1118. Dieser Befund gilt auch für den abstrakten Rechtsstandpunkt des OVG Saarlouis, wonach die Übernahme der Argumentation aus einem Urteil des Bundesgerichtshofs in die eigene Falllösung als eigene Begründung nicht als falsch bewertet werden dür‑ fe1119. Dieser gründet nämlich auf einem Fall, in dem es um die Frage ging, ob die vom Prüfer vermisste Prüfung bestimmter Anspruchsgrundlagen nach Prüfungssachverhalt und Aufgabenstellung geboten war oder nicht1120, und der ersichtlich nichts mit der Frage der Qualität der Begründung im engeren Sinne für ein vom Prüfling vertretenes Ergebnis zu tun hat. Während damit das OVG Saarlouis eine nach dessen abstraktem Ansatz erwartbare Prüfung der Gewichtigkeit der Argumentation unterlässt und sich letztlich auf der allgemeinen Rechtsprechungslinie bewegt, geht das VG Dresden einen eigenen Weg. Im Ausgangspunkt folgt es dem OVG Saarlou‑ is, nimmt dann aber die von diesem Gericht nur suggerierte Rechtskontrol‑ le tatsächlich vor, obwohl dies nach den vom VG Dresden im Übrigen zugrunde gelegten Obersätzen im Prinzip ausgeschlossen ist. Diese stellen sich im Einzelnen wie folgt dar: 1116 OVG
Saarlouis, Bes. v. 05.04.2004 – 3 Q 36/03, juris, Rn. 37. Saarlouis, Bes. v. 15.01.2003 – 3 Q 38/02, n. v., BU S. 16; siehe auch OVG Saarlouis, Bes. v. 05.04.2004 – 3 Q 36/03, juris, Rn. 23. 1118 Ganz deutlich OVG Saarlouis, Bes. v. 05.04.2004 – 3 Q 36/03, juris, Rn. 46: „Gewichtige Argumente für diesen Lösungsweg können nicht angeführt werden, da die Weichenstellung für den Rechtsweg der klaren gesetzlichen Regelung wider‑ spricht …“. 1119 OVG Saarlouis, Bes. v. 05.04.2004 – 3 Q 36/03, juris, Rn. 17 f.; Bes. v. 15.01.2003 – 3 Q 38/02, n. v., BU S. 14. 1120 OVG Saarlouis, Bes. v. 22.11.2000 – 3 V 26/00, 3 W 6/00, NVwZ 2001, 942 (943). 1117 OVG
C. Die Erhebung formeller und materieller Bewertungsrügen383
Zwar nimmt auch das VG Dresden im Anschluss an das OVG Saarlouis an, dass das Gericht ganz konkret zu prüfen habe, mit welchen Worten in der Klausur und mit welchen als gewichtig anzusehenden Argumenten der Prüfling seinen Standpunkt begründet hat1121. Zugleich geht es aber aus‑ drücklich davon aus, dass die Frage, ob eine als richtig oder vertretbar an‑ zusehende Lösung mit gewichtigen Argumenten folgerichtig hergeleitet wurde, Gegenstand komplexer prüfungsspezifischer Wertungen sei und so‑ mit dem Bewertungsspielraum des Prüfers unterliege1122. Damit obliegt die Beurteilung der Qualität der Argumentation nach der Rechtsauffassung des VG Dresden insgesamt grundsätzlich allein dem Prüfer innerhalb des ihm eröffneten Bewertungsspielraums1123. Trotzdem meint das VG Dresden an anderer Stelle in der einschlägigen Entscheidung feststellen zu können, dass der Prüfling seine Lösung nicht folgerichtig hergeleitet und begründet ha‑ be1124. Dies macht es an dem Nichtvorliegen der nachstehenden Kriterien fest, bei deren Erfüllung nach dem VG Dresden wohl die Voraussetzungen für die Nutzung des Antwortspielraums erfüllt wären. Insoweit nimmt das VG Dresden in Übereinstimmung mit dem OVG Saarlouis zunächst an, dass ein Prüfling nicht „schlauer“ sein müsse als ein Obergericht, so dass eine Lösung nicht als falsch bewertet werden dürfe, wenn sich ein Prüfling derselben „kurzzeiligen Begründung“ wie ein Obergericht bediene1125. Wie bereits oben ausgeführt, ist damit aber tatsächlich ein Fall der angenomme‑ nen fachspezifischen Vertretbarkeit der Lösung und nicht der Qualität der Begründung beschrieben. Dieses Bewertungskriterium wird aber definiert, wenn das VG Dresden im Weiteren die Auffassung vertritt, dass die Bezug‑ nahme auf eine in der Fachliteratur vertretene Lösung nur nachvollziehbar sei, soweit sich der Prüfling bei der Entwicklung seines eigenen Begrün‑ dungsweges die argumentative Herleitung und Begründung der in der Fach‑ literatur vertretenen Auffassung zu eigen mache oder eine qualitativ gleich‑ wertige und auf anerkannten Methoden beruhende Begründung für die Entwicklung des von ihm gefundenen Ergebnisses gebe1126. Obwohl trotz dieses eindeutig objektivierenden Ansatzes die mit ihm aufgestellten Be‑ gründungs- und Herleitungsanforderungen nach dem VG Dresden dem Be‑ wertungsspielraum des Prüfers unterfallen sollen1127, prüft es im konkreten Fall sehr ausführlich, ob sich der Prüfling die Begründung der von ihm 1121 VG
Dresden, Urt. v. 04.06.2008 – Dresden, Urt. v. 04.06.2008 – 1123 VG Dresden, Urt. v. 04.06.2008 – 1124 VG Dresden, Urt. v. 04.06.2008 – 1125 Zum Terminus und in der Sache 38/08, juris, Rn. 126. 1126 VG Dresden, Urt. v. 04.06.2008 – 1127 VG Dresden, Urt. v. 04.06.2008 – 1122 VG
5K 5K 5K 5K VG
38/08, juris, Rn. 112. 38/08, juris, Rn. 112, 124, 133, 135. 38/08, juris, Rn. 112, 124. 38/08, juris, Rn. 125. Dresden, Urt. v. 04.06.2008 – 5 K
5 K 38/08, juris, Rn. 112. 5 K 38/08, juris, Rn. 112.
384 Kap. 6: Möglichkeiten (gerichtlicher) Kontrolle der Prüfungsentscheidung
angeführten Literaturstelle zu eigen gemacht hat1128, verneint dies und er‑ klärt im Ergebnis die vom Prüfer als mangelhaft bezeichnete argumentative Begründung des vertretbaren Ergebnisses aufgrund des tatsächlichen Wort‑ lauts der Prüfungsarbeit für ohne Weiteres nachvollziehbar1129. Die Ent‑ scheidung des VG Dresden ist damit in einem erheblichen Maße von Inkon‑ sistenzen und im Übrigen von die Nachvollziehbarkeit der Ausführungen des Gerichtes zusätzlich erschwerenden Redundanzen durchzogen. Nichts‑ destotrotz lässt sich nach einer diffizilen Urteilsanalyse feststellen, dass im Ergebnis eine Überprüfung der Qualität der Begründungsleistung bezogen auf die Tragfähigkeit der Argumente nach den vom VG Dresden insoweit benannten Kriterien im Ansatz vorgenommen wird. Durch diesen Prüfungsschritt, welcher freilich einem der den Antwort‑ spielraum konstituierenden Merkmale nicht zugeordnet werden kann, unter‑ scheidet sich die Rechtsprechungspraxis des VG Dresden ganz wesentlich von dem theoretischen Ansatz und dem praktischen Vorgehen aller anderen (Instanz‑)Gerichte. Dort führt die beschriebene ausdrückliche oder konklu‑ dente Zuordnung der Kriterien der „Gewichtigkeit der Argumentation“ und der „Folgerichtigkeit der Begründung zum Bewertungsspielraum des Prüfers in der Rechtsprechungspraxis meist dazu, dass der Frage der fachspezifi‑ schen Vertretbarkeit der vom Prüfling vertretenen (Teil‑) Lösung von den Gerichten häufig schon gar nicht mehr nachgegangen wird. Dies infolge einer Auslegung der Prüferkritik, wonach nicht das vom Prüfling vertretene Ergebnis als in fachlicher Hinsicht falsch bzw. unvertretbar bewertet, son‑ dern nur die Qualität der Darstellung etc. im vom Bewertungsspielraum des Prüfers umfasster und damit gerichtlicherseits nicht zu beanstandender Art und Weise bemängelt worden sei1130. Durch diese Herangehensweise wird bei einer interpretationsoffenen Prüferkritik nicht selten zudem die vom Prüfling erbrachte Prüfungsarbeit vom Gericht selbst bewertet und die an‑ gegriffene (fachspezifische) Kritik des Prüfers mit Erwägungen gerechtfer‑ tigt, die dieser ausweislich der maßgeblichen Bewertungsbegründung über‑ haupt gar nicht angestellt hat1131. 1128 VG
Dresden, Urt. v. 04.06.2008 – 5 K 38/08, juris, Rn. 126–134. Dresden, Urt. v. 04.06.2008 – 5 K 38/08, juris, Rn. 134. 1130 Exemplarisch OVG Lüneburg, Urt. v. 19.09.2000 – 10 L 211/00, juris, Rn. 24, 25, 28, 30, 31, 32, 33, 35; siehe auch VG Mainz, Urt. v. 21.03.2013 – 1 K 919/12.MZ, juris, Rn. 43. 1131 Dazu, dass dies unzulässig ist, vgl. BayVGH, Bes. v. 14.09.2000 – 7 B 99.3753, juris, Rn. 25; VG Dresden, Bes. v. 07.06.2007 – 5 K 148/07, juris, Rn. 24; OVG Münster, Bes. v. 21.07.2011 – 14 A 2048/11, n. v., BU S. 6; im Kontext mit der zulässigen Reichweite der Kausalitätsprüfung bei festgestellten Bewertungsfeh‑ lern siehe auch BVerwGE 105, 328 (333); BVerwG, Urt. v. 04.05.1999 – 6 C 13/98, NVwZ 2000, 915 (920). 1129 VG
C. Die Erhebung formeller und materieller Bewertungsrügen385
Im praktisch überwiegenden Ergebnis der Anwendung des vom Bundes‑ verfassungsgericht erschaffenen Bewertungsgrundsatzes wird damit die Be‑ wertung der Qualität der Argumentation im weiteren Sinne durch den Prüfer übernommen oder durch eine eigene des Gerichtes ergänzt oder gar ersetzt mit der Folge, dass die angestrebte fachspezifische Richtigkeits- bzw. Ver‑ tretbarkeitskontrolle von vornherein unterbleibt. Bei dieser Handhabung fungiert der dem Prüfling einen Antwortspielraum einräumende Bewer‑ tungsgrundsatz nur dann als Kontrollmaßstab, wenn der Prüfer – was nur theoretisch denkbar ist – in der Bewertungsbegründung eine in fachspezifi‑ scher Hinsicht seiner Auffassung nach als vertretbar anzusehende und über‑ zeugend begründete (Teil‑)Lösung als solche kennzeichnet, diese aber den‑ noch ausdrücklich als falsch bewertet, oder wenn die dargelegte Einschät‑ zung des Prüfers, dass die Begründung für das in fachspezifischer Hinsicht richtige bzw. vertretbare Ergebnis völlig unzureichend ist, sich einem Fachkundigen als unhaltbar aufdrängt1132. Im Übrigen aber erschöpft sich die Wirkung des Bewertungsgrundsatzes dann in einem bloßen „moralischen Appel“ an das gute Gewissen des Prüfers1133 und seine fehlende Eignung als Kontrollmaßstab für die Auswahl des Abwägungsmaterials ist evident. Denn eine Missachtung des Antwortspielraums des Prüflings, die in der Bewertungsbegründung nicht zum Ausdruck kommt, aber Element des rea‑ len psychischen Entscheidungsfindungsprozesses des Prüfers war, kommt mangels Aufdeckbarkeit desselben nicht zum Tragen1134. Beinahe vollständig büßt der den Beantwortungsspielraum des Prüflings konstituierende Bewertungsgrundsatz seine ihm vom Bundesverfassungsge‑ richt zugedachte Funktion als Kontrollmaßstab ein, wenn – wie teilweise in der Rechtsprechung – die Kriterien der „Gewichtigkeit der Argumenta‑ tion“ und der „Folgerichtigkeit der Begründung“ bereits als Voraussetzung für die Annahme der Vertretbarkeit der angebotenen Lösung und nicht – wie es die Formulierung des Bewertungsgrundsatzes nahe legt – erst als Bedingung für die Möglichkeit der Berufung auf den Antwortspielraum postuliert werden1135. Die mit seiner Aufstellung vom Bundesverfassungsgericht angestrebte Rechtsschutzintensivierung für den Prüfling kann nur erreicht und die grundgesetzlich geregelte Kompetenzverteilung zwischen Judikative und Exekutive nur gewahrt werden, wenn sämtliche Voraussetzungen des Be‑ 1132 Zu
diesem Maßstab der Willkürkontrolle BVerfGE 84, 34 (55). zur Terminologie und allgemein zur Wirkung von an den psychischen Entscheidungsfindungsprozess gestellten Anforderungen Riehm, S. 161. 1134 Vgl. allgemein Riehm, S. 161. 1135 VGH Mannheim, Bes. v 25.09.2001 – 9 S 1428/01, juris, Rn. 7; BayVGH, Bes. v. 24.09.2009 – 7 ZB 08.996, juris, Rn. 24. 1133 Vgl.
386 Kap. 6: Möglichkeiten (gerichtlicher) Kontrolle der Prüfungsentscheidung
wertungsgrundsatzes durch eine entsprechende Interpretation der gerichtli‑ chen Überprüfung zugänglich gemacht werden und der Antwortspielraum insbesondere nicht durch eine konditionale Verknüpfung derselben allzu sehr verengt wird. Dies ist entgegen der bisherigen Rechtsprechung ohne Weiteres möglich und vor allen Dingen auch geboten. Insbesondere handelt sich entgegen den bisherigen Annahmen bei den Merkmalen der „Gewich‑ tigkeit der Argumentation“ und der „Folgerichtigkeit der Begründung“ nicht um prüfungsspezifische Wertungen, sondern um gerichtlich voll überprüfba‑ re (unbestimmte) Rechtsbegriffe. Dieser Befund ist letztlich offensichtlich und wird für das (Bewertungs‑)Kriterium der „Gewichtigkeit der Argumen‑ tation“ zunächst dadurch bestätigt, dass der hiergegen austauschbare Termi‑ nus der „gewichtigen Gründe“ auch in anderem Kontext als (Tatbe‑ stands‑)Merkmal auftaucht und als objektivierbar und damit gerichtlich voll überprüfbar angesehen wird. So findet sich der Begriff der „gewichtigen Gründe“ etwa im Denkmalschutzrecht als Tatbestandsmerkmal des Art. 6 Abs. 2 Satz 1 BayDSchG, der hier als gerichtlich uneingeschränkt überprüf‑ barer Rechtsbegriff eingeordnet wird1136. Ebenso wird er im Berufungszu‑ lassungsantragsrecht teilweise zur Konkretisierung des Zulassungsgrundes des Bestehens ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) herangezogen und hier mit dem Anspruch auf Allge‑ meinverbindlichkeit definiert1137. Wegen des völlig anders gelagerten Kontextes lässt sich zwar aus den dort jeweils gefundenen Begriffsbestimmungen nichts für die Frage herlei‑ ten, was unter dem Begriff der „Gewichtigkeit der Argumentation“ bzw. der „guten Gründe“ im Sinne des vom Bundesverfassungsgericht aufge‑ stellten Bewertungsgrundsatzes zu verstehen ist. Immerhin belegen die vor‑ geschlagenen Definitionen aber, dass auf der jeweiligen Metaebene eine Diskussion darüber möglich ist, was im gegebenen Kontext unter „gewich‑ tige Gründen“ bzw. einer „gewichtigen Argumentation“ zu verstehen ist, und dass sich aus diesen Kriterien relativ-objektive Kontrollmaßstäbe ab‑ leiten lassen. Während diese Diskussion wie aufgezeigt in anderen Rechts‑ gebieten bereits geführt worden ist, steht sie für das Prüfungsrecht im Hin‑ blick auf die Anwendung des den Antwortspielraum konstituierenden Be‑ wertungsgrundsatzes noch weitgehend aus. Das OVG Saarlouis und das VG Dresden haben aber – wenn vielleicht auch teilweise nicht zielgerich‑ tet – den Versuch unternommen, den Begriff der „Gewichtigkeit der Argu‑ mentation“ zu objektivieren und für die Verwaltungsgerichte handhabbar zu machen. 1136 Vgl.
BayVGH, Urt. v. 11.01.2011 – 15 B 10.212, juris, Rn. 19. VGH Mannheim, Bes. v. 12.03.2007 – 9 S 2107/06, juris, Rn. 2, nicht abgedruckt in NJW 2007, 2875 ff. 1137 Vgl.
C. Die Erhebung formeller und materieller Bewertungsrügen387
Inwieweit damit tatsächlich die Möglichkeiten und Grenzen einer Objek‑ tivierbarkeit des vorstehenden Terminus aufgezeigt worden sind, gilt es nachfolgend abzuklären. Dabei ist im Ausgangspunkt zu vergegenwärtigen, dass die in der Rechtswissenschaft und in der Rechtsprechung zu einer bestimmten (abstrakten) Rechtsfrage eingenommenen Rechtsstandpunkte gemäß dem Charakter der Rechtswissenschaft als Begründungswissen‑ schaft1138 regelmäßig mit einer sachgemäßen Argumentation verbunden sind und auf dieser beruhen. Fehlt es an einer Begründung des eingenommenen Rechtsstandpunktes, wird es kaum gelingen, einen anderen von der Richtig‑ keit bzw. Vertretbarkeit desselben zu überzeugen1139. Mit anderen Worten ist die Übernahme einer in der Fachliteratur oder in der Rechtsprechung zu einem Rechtsproblem vertretenen Lösung im Prinzip nur dann nachvollzieh‑ bar, wenn der Prüfling sich bei der Entwicklung seines eigenen Begrün‑ dungsweges die argumentative Herleitung und Begründung der in der Fachliteratur oder der Rechtsprechung vertretenen Auffassung zu eigen macht oder eine Begründung für das von ihm gefundene Ergebnis gibt, deren Entwicklung auf der Anwendung anerkannter Methoden der Rechts‑ wissenschaft beruht und insoweit nicht zu beanstanden ist1140. Demgemäß liegt eine „gewichtige Argumentation“ vor, wenn ein einzelnes Argument oder eine Argumentationskette entweder abstrakt oder auf einen konkreten, vergleichbaren Fall bezogen so in der Literatur und / oder in der Rechtspre‑ chung vertreten wird oder wenn die vom Prüfling zusätzlich oder allein angeführten Argumente mit anerkannten Methoden der Rechtswissenschaft gewonnen worden sind. Während die Beurteilung der Frage des Vorliegens der ersten Voraussetzung nicht mehr als eine empirische Erforschung des Meinungsstandes erfordert, so dass diese sogar absolut-objektiv beantwortet werden kann, lässt sich im Einzelfall trefflich darüber streiten, ob die An‑ wendung einer der zur Verfügung stehenden Auslegungsmethoden tatsäch‑ lich das vom Prüfling angeführte Argument hervorbringt. Mit dem Ergebnis dieser Diskussion kann daher nur ein relativ-objektiver Beurteilungsmaßstab generiert werden. Die Beurteilung der Gewichtigkeit der Argumentation erfordert aber bei ihrer hier vorgeschlagenen Definition offensichtlich nicht die Anwendung von Kriterien, die erst durch eine lang‑ jährige Prüfungspraxis gewonnen werden können und über die das Gericht 1138 Fröschle, Einführung in die Methodik der Rechtswissenschaft und Fallbear‑ beitung, abrufbar unter http://www.wiwi.uni-siegen.de/rechtswissenschaften/froesch le/veranstaltungen/einfuehrung_ %28wire %29.pdf, S. 35. 1139 Vgl. Fröschle, Einführung in die Methodik der Rechtswissenschaft und Fall‑ bearbeitung, abrufbar unter http://www.wiwi.uni-siegen.de/rechtswissenschaften/ froeschle/veranstaltungen/einfuehrung_ %28wire %29.pdf, S. 36: „… Begründungen sind dazu da, zu überzeugen.“ 1140 Vgl. VG Dresden, Urt. v. 04.06.2008 – 5 K 38/08, juris, Rn. 112.
388 Kap. 6: Möglichkeiten (gerichtlicher) Kontrolle der Prüfungsentscheidung
nicht verfügt. Es ist daher nicht legitimierbar, sie allein dem Prüfer im Rahmen der Ausübung des ihm zustehenden Bewertungsspielraums zu über‑ lassen. Entsprechendes gilt für das Kriterium der Folgerichtigkeit der Argu‑ mentation. Dieses nimmt – ebenso wie letztlich dasjenige der Gewichtigkeit der Argumentation – Bezug auf die korrekte Anwendung der Methoden der Rechtswissenschaft und hier konkret auf die Beachtung der Regeln der Logik bei der Entwicklung der Begründung für das vertretene Gesamtergeb‑ nis zur aufgeworfenen Ausgangsfrage. Diesem gehen im Rahmen einer Falllösung – wie auch auf abstrakter Ebene – häufig mehrere argumentative Zwischenschritte voraus, bei denen aus vorhandenen Prämissen Schlussfol‑ gerungen gezogen werden müssen1141, die sich als fehlerhaft erweisen kön‑ nen, wenn bei ihrer Ableitung gegen Regeln der Logik verstoßen worden ist1142. Mit dem Erfordernis der Folgerichtigkeit der Begründung wird unter Berücksichtigung dieses Ableitungszusammenhanges nun nicht mehr ver‑ langt, als dass sich die Argumentation des Prüflings als Kette richtiger Schlüsse darstellt1143. Angesprochen sind somit die Anforderungen für ein formal richtiges Argumentieren, die sich aber allein nach objektiven Krite‑ rien – nämlich den Regeln der Logik – bemessen1144. Bei der damit gewonnenen Erkenntnis, dass sowohl das Erfordernis der „Gewichtigkeit der Argumentation“ als auch dasjenige der „Folgerichtigkeit der Begründung“ in der dargestellten Art und Weise objektivierbar und damit der gerichtlichen Überprüfung zugänglich sind, darf aber nicht über‑ sehen werden, dass – wie dies oben bereits angedeutet wurde1145 – hiermit wichtige, aber längst nicht alle Kriterien benannt sind, die die Qualität einer Begründung ausmachen. Diese hängt im Weiteren auch etwa davon ab, ob der Prüfling die Argumente innerhalb der Grenzen der Logik verständlich, zweckmäßig und in angemessener Breite dargelegt hat. Die diesbezügliche Einschätzung des jeweiligen Beurteilers ist aber allein durch dessen indivi‑ duellen Vorstellungen und Erwartungen geprägt, die sich ggf. bereits durch eine langjährige Prüfererfahrung durch den ständigen Vergleich der Leistun‑ gen der Kandidaten bei identischen oder ähnlichen Prüfungsanforderungen herausgebildet haben. Sie beruhen mithin auf prüfungsspezifischen Wertun‑ gen, bezüglich derer es wie dargelegt weithin an objektiven Richtigkeits‑ allgemein Gast, Rn. 911. allgemein Gast, Rn. 911. 1143 Vgl. allgemein Gast, Rn. 911. 1144 Ähnlich Wimmer, FS Redeker, 531 (539): „Ebenso ist rationaler Betrachtung zugänglich, ob eine Argumentation oder Begründung des Prüflings lege artis … dargelegt ist oder nicht“. Anders, aber ohne Begründung und daher nicht überzeu‑ gend OVG Lüneburg, Bes. v. 27.01.2004 – 2 ME 386/03, juris, 5. Orientierungssatz i. V. m. Rn. 15. 1145 Siehe Kapitel 6 C. I. 2. b). 1141 Vgl. 1142 Vgl.
C. Die Erhebung formeller und materieller Bewertungsrügen389
maßstäben fehlt, so dass sie der gerichtlichen Kontrolle weitgehend entzogen sind. Diese prüfungsspezifischen Wertungen sind in vielen Fällen mit dem an den Kriterien der „Gewichtigkeit der Argumentation“ und der „Folge‑ richtigkeit der Begründung“ ausgerichteten fachlichen Urteil des Prüfers über die Qualität der Argumentation (untrennbar) verknüpft. Darauf, dass sich fach- und prüfungsspezifische Wertungen des Prüfers häufig als un‑ trennbare Einheit darstellen, hat bereits das Bundesverfassungsgericht in seiner Grundsatzentscheidung hingewiesen1146, ohne sich daraus ergebende Konsequenzen für die Anwendbarkeit des den Antwortspielraum des Prüf‑ lings anerkennenden Bewertungsgrundsatzes aufzuzeigen. Seebass aber meinte, aus diesem Hinweis des Bundesverfassungsgerichtes unter Berück‑ sichtigung der weiteren Ausführungen in der maßgeblichen Entscheidung herauslesen zu können, dass in den Fällen der untrennbaren Verknüpfung der Wertungen auch das fachliche Urteil des Prüfers der gerichtlichen Kon‑ trolle entzogen sei1147. Demgegenüber hat Niehues in seiner Entscheidungsanmerkung darauf hin‑ gewiesen, dass bei juristischen Prüfungen, bei denen etwa die Gründlichkeit der Untersuchung oder die Überzeugungskraft der Argumentation wichtige Bewertungskriterien seien, die damit möglicherweise verflochtene fachwis‑ senschaftliche Beurteilung erst einmal „ausgefiltert“ und sodann ihre Bedeu‑ tung für die Prüfungsentscheidung erfasst werden müsse1148. Diesem Stand‑ punkt hat sich alsbald auch das Bundesverwaltungsgericht1149 und sodann die instanzgerichtliche Rechtsprechung angeschlossen1150. Auch in der Literatur hat sich die Auffassung von Niehues und nicht diejenige von Seebass durch‑ gesetzt1151. Hier treten allein noch Kopp / Schenke im Falle einer untrennbaren Verknüpfung der fach- und prüfungsspezifischen Wertungen für eine Be‑ schränkung der gerichtlichen Überprüfungsbefugnis1152 ein. Diese Rechtspo‑ 1146 Vgl.
BVerfGE 84, 34 (53). Seebass, NVwZ 1992, 609 (614, 615); siehe auch Stiebler, RdJB 1992, 404 (405), der generell eine Trennung und damit eine Überprüfung der fachlichen Einschätzung des Prüfers immer für unmöglich hält. Skeptisch im Hinblick auf die praktische Umsetzbarkeit auch Muckel, JuS 1992, 201 (202). 1148 Niehues, NJW 1991, 3001 (3004); jetzt Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 637, 883 f. 1149 BVerwG, Bes. v. 17.12.1997 – 6 B 55/97, NVwZ 1998, 738 (738). 1150 BayVGH, Urt. v. 04.03.1998 – 7 B 97.360, juris, Rn. 13; Bes. v. 13.05.1998 – 7 ZB 97.3479, juris, Rn. 8; Nds. OVG, Urt. v. 07.10.1999 – 10 L 6651/96, juris, Rn. 20, Urt. v. 24.05.2011 – 2 LB 158/10, NordÖR 2012, 98 (99); VG Dresden, Urt. v. 04.06.2008 – 5 K 38/08, juris, Rn. 110. 1151 Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 637, 883 f.; Haase, in: Johlen/Oerder, MAH VerwR, § 16, Rn. 183; Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, § 40, Rn. 177 m. Fn. 754. 1152 Kopp/Schenke, VwGO, § 114, Rn. 31 a. 1147 Vgl.
390 Kap. 6: Möglichkeiten (gerichtlicher) Kontrolle der Prüfungsentscheidung
sition wird im Rahmen einer Ein-Satz-Behauptung unter bloßer Bezugnahme auf das Bundesverfassungsgericht ohne nähere Begründung und insbesonde‑ re ohne Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung des Bundesverwaltungs‑ gerichtes eingenommen. Sie ist daher in exemplarischer Art und Weise nicht mit „gewichtigen Argumenten“ begründet und kann eben deshalb vernachläs‑ sigt werden. Richtigerweise ist daher mit der beinahe allgemeinen Ansicht in Rechtsprechung und Literatur davon auszugehen, dass erforderlichenfalls die fachwissenschaftliche von der prüfungsspezifischen Wertung zu lösen bzw. auszufiltern und isoliert auf ihre Richtigkeit bzw. Vertretbarkeit hin zu unter‑ suchen ist1153. Zwar ist die praktische Zuordnung der jeweiligen Prüferbe‑ merkungen in die eine oder andere Kategorie im Einzelfall mit Schwierigkei‑ ten behaftet, ebenso wie bereits die Abgrenzung auf theoretischer Ebene frag‑ lich sein kann. Diese Abgrenzung ist aber nicht von vornherein unmöglich, so dass der Prüfling sie unter Berufung auf die Art. 19 Abs. 4 Satz 1, 12 Abs. 1 GG als Folge seines Anspruchs auf gerichtliche Überprüfung der fach‑ spezifischen Wertungen auch verlangen kann. Es kann daher auch nicht ange‑ nommen werden, dass das Bundesverfassungsgericht im Hinblick auf die mit seiner Entscheidung intendierte starke Zurückdrängung des Bewertungsspiel‑ raums des Prüfers mit seinem Verweis auf die häufig gegebene untrennbare Verknüpfung der fach- und prüfungsspezifischen Wertungen die in diesem Fall wiederum beschränkte gerichtliche Kontrolle zum Ausdruck bringen wollte1154. Erweist sich eine fachspezifische Wertung als fehlerhaft, hat dies im Ergebnis vielmehr allein zur Konsequenz, dass einer mit dieser verbunde‑ nen prüfungsspezifischen Wertung die Grundlage entzogen ist1155. Fraglich ist, welche Konsequenzen es hat, wenn die Anwendung des vom Bundesverfassungsgericht aufgestellten Bewertungsgrundsatzes in der hier erfolgten Auslegung und damit als Kontrollmaßstab zu dem Ergebnis führt, dass zwar die vom Prüfling angebotene (Teil‑)Lösung unter Berücksichti‑ gung fachwissenschaftlicher Kriterien (im Ergebnis) vertretbar, diese bzw. die ihr zugrunde liegende (abstrakte) Rechtsauffassung aber nicht mit ge‑ wichtigen Argumenten und / oder nicht folgerichtig begründet worden ist. Von vornherein abzulehnen ist die wie aufgezeigt von einem Teil der Recht‑ sprechung vertretene Annahme, dass in diesem Fall bereits die (Teil‑)Lösung bzw. die ihr zugrunde liegende (abstrakte) Rechtsauffassung als nicht ver‑ tretbar zu bewerten sei. Erstens widerspricht dies den Vorgaben des Bundes‑ verfassungsgerichtes, da ausweislich der Formulierung des Bewertungs‑ 1153 Vgl. zur Terminologie VG Dresden, Urt. v. 04.06.2008 – 5 K 38/08, juris, Rn. 110. 1154 Vgl. BVerwG, Bes. v. 17.02.1997 – 6 B 55/97, NVwZ 1998, 738 (738). 1155 OVG Lüneburg, Bes. v. 05.11.2012 – 2 LA 177/12, juris, Rn. 21; Urt. v. 24.05.2011 – 2 LB 158/10, NordÖR 2012, 98 (99); VG Dresden, Urt. v. 04.06.2008 – 5 K 38/08, juris, Rn. 110; Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 637, 884.
C. Die Erhebung formeller und materieller Bewertungsrügen391
grundsatzes eine „gewichtige Argumentation“ und eine „folgerichtige Be‑ gründung“ nicht schon Voraussetzungen für die Vertretbarkeit der (Teil‑) Lösung darstellen, sondern nur für die Nutzung des Antwortspiel‑ raums. Zweitens und vor allem wird ein nach fachwissenschaftlichen Krite‑ rien richtiges bzw. vertretbares Ergebnis nicht dadurch falsch bzw. unver‑ tretbar, dass der Prüfling dieses nicht oder unzureichend begründet1156. Entgegenzutreten ist aber auch einer weiter in der Rechtsprechung vertre‑ tenen Auffassung, die auf der Grundlage der vorstehenden Erwägungen und des mit ihnen eingenommenen Standpunktes annimmt, dass aus ihnen nicht folge, dass die vertretbare Lösung einer Prüfungsaufgabe allein wegen der gebotenen Akzeptanz des Ergebnisses positiv bewertet werden müsse1157. Fehlt es an einer mit gewichtigen Argumenten versehenen und folgerichtig begründeten Lösung, kann der Prüfling nur nicht verlangen, dass diese vom Prüfer so bewertet wird, als hätte er den vom Prüfer bevorzugten Lösungs‑ weg gewählt bzw. als sei er dessen Rechtsauffassung gefolgt1158. Wenn der Prüfer das richtige Ergebnis mit deutlich geringerem Gewicht in die Abwä‑ gung einstellt, als dies bei einer beachtlichen Begründung desselben der Fall gewesen wäre, bewegt er sich daher innerhalb seines Bewertungsspielraums. Eine Überschreitung desselben liegt aber nach hier vertretener Auffassung grundsätzlich vor, wenn der Prüfer die (im Ergebnis) richtige bzw. vertret‑ bare Lösung überhaupt nicht in der Gesamtbewertung berücksichtigt. Denn auch richtige bzw. vertretbare Ergebnisse beruhen auf Überlegungen und entsprechenden Kenntnissen der Prüflinge. Werden diese in der Klausur ohne Begründung präsentiert, konnten sie häufig allein aus Zeitnot nicht mehr niedergeschrieben werden. Im Übrigen ist gerade in der Rechtspraxis ein bloß richtiges Ergebnis auch ohne Begründung durchaus von Wert1159. Da die juristische Ausbildung die Rechtskandidaten auf diese vorbereitet, erscheint es geboten, auch in den juristischen Prüfungen, mit denen schließ‑ lich das Erreichen des jeweiligen Ausbildungsabschnitts überprüft werden soll, auch bloß richtige Ergebnisse grundsätzlich positiv zu berücksichtigen. Vor dem Hintergrund des Prüfungszwecks erschiene es auch sachlich nicht 1156 Vgl. OVG Greifswald, Bes. v. 20.12.2002 – 2 L 8/01, LKV 2003, 565 (566); Zimmerling/Brehm, Der Prüfungsprozess, Rn. 104, die aber diese Entscheidung wohl weiter gehend in dem Sinne deuten, dass eine die Kriterien des Bewertungsgrund‑ satzes erfüllende Argumentation nicht einmal Voraussetzung für die Berufung auf den Antwortspielraum sei, was nicht zutreffend erscheint. 1157 Vgl. zur Terminologie und in der Sache OVG Lüneburg, Urt. v. 02.02.2005 – 2 LB 4/03, juris, Rn. 23. 1158 Vgl. OVG Greifswald, Bes. v. 20.12.2002 – 2 L 8/01, LKV 2003, 565 (566). 1159 Vgl. OVG Saarlouis, Bes. v. 15.01.2003 – 3 Q 38/02, n. v., BU S. 10 f., aller‑ dings mit dem Hinweis, dass der bloße Hinweis auf ein Ergebnis nicht dem Ziel einer Gutachtenleistung entspreche.
392 Kap. 6: Möglichkeiten (gerichtlicher) Kontrolle der Prüfungsentscheidung
gerechtfertigt, ein ohne oder mit unzureichender Begründung präsentiertes Ergebnis ebenso zu bewerten wie eine Prüfungsarbeit, mit der nur leere Blätter abgegeben werden. Lässt man es schließlich zu, dass ein begrün‑ dunglos präsentiertes, nach fachspezifischen Kriterien richtiges Ergebnis vom Prüfer als falsch bzw. jedenfalls nicht positiv bewertet wird, bietet man dem Prüfer die zur Entwertung des Antwortspielraums führende, in der Praxis häufig genutzte Möglichkeit, sich spätestens im gerichtlichen Verfah‑ ren darauf zu berufen, dass nicht das Ergebnis (zu Unrecht) als falsch, sondern nur die Begründung desselben als unzureichend bewertet worden sei1160. Dieser Ausweg bliebe den Prüfern aber versperrt, wenn verlangt wird, dass auch ein nur begründungslos präsentiertes, aber richtiges bzw. vertretbares Ergebnis grundsätzlich positiv in der Gesamtbewertung zu be‑ rücksichtigen ist. Wenn der Prüfling zu einem richtigen bzw. vertretbaren Ergebnis gelangt ist, dieses aber nicht ausreichend begründet hat, neigen die Prüfer in der Pra‑ xis nicht selten zu der Formulierung, dass dieses nur „zufällig richtig“ sei. Das OVG Saarlouis hat in einem solchen Fall, in dem der Prüfer die Auffin‑ dung einer Rechtsvorschrift dem Zufall zugeschrieben hat, ausgeführt, dass diese Bewertung mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes, wonach zutreffende Antworten und brauchbare Lösungen im Prinzip nicht als falsch bewertet werden dürfen1161, unvereinbar sei1162. Aus diesem Grundsatz folge nämlich auch, dass zutreffende Antworten und brauchbare Lösungen nicht als zufällig und damit als fehlender Nachweis von Wissen bewertet werden dürfen1163. Soweit in der übrigen instanzgerichtlichen Rechtspre‑ chung eine Auseinandersetzung mit diesem Standpunkt anlässlich identischer Korrekturbemerkungen des Prüfers erfolgt, wird dieser zwar im Prinzip ge‑ teilt, hat aber im jeweiligen Einzelfall nicht zur Annahme der Verletzung des Antwortspielraums des Prüflings geführt1164. Dies liegt auch darin begründet, dass die in der maßgeblichen Entscheidung des OVG Saarlouis vertretene Rechtsauffassung in Fortführung der dortigen Ansätze differenzierend dahin ausgelegt wird, dass eine Verletzung des Antwortspielraums nur dann vorlie‑ gen soll, wenn mit der Bezeichnung „zufällig“ das in der zutreffenden Ant‑ wort liegende Wissen als „zufällig“ im Sinne einer Kausalitätsbetrachtung des Prüfers in Bezug auf die Herkunft der Antwort verstanden werden müs‑ 1160 Vgl. zu dieser Vorgehensweise auch Zimmerling/Brehm, Prüfungsrecht, Rn. 842. 1161 BVerfGE 84, 34 (55). 1162 OVG Saarlouis, Bes. v. 22.11.2000 – 3V 26/00, 3 W 6/00, NVwZ 2001, 942 (942). 1163 OVG Saarlouis, Bes. v. 22.11.2000 – 3V 26/00, 3 W 6/00, NVwZ 2001, 942 (942). 1164 OVG Lüneburg, Urt. v. 24.05.2011 – 2 LB 158/10, NordÖR 2012, 98 (102).
C. Die Erhebung formeller und materieller Bewertungsrügen393
se1165. Hingegen soll eine Antwort als „zufällig“ bezeichnet werden können, wenn mit dieser Kritik eine fehlende systematische Einbettung der Lösung oder deren Darstellung bemängelt wird1166. Diese vom OVG Lüneburg vor‑ genommene Betrachtung erscheint zutreffend. Allerdings ist kaum ein Fall denkbar, in dem dann noch durch die Zufallsbewertung der Antwortspielraum des Prüflings verletzt wird. Denn die erste vom OVG Lüneburg aufgezeigte Alternative wäre nur dann verwirklicht, wenn der Prüfer dem Prüfling unter‑ stellt, im Rahmen seines nicht aufdeckbaren Entscheidungsfindungsprozesses das richtige Ergebnis erraten oder abgeschrieben zu haben. Dieser Fall er‑ scheint aber nur theoretisch denkbar. Die Praxis belegt demgegenüber, dass der Prüfer im Rahmen seiner Stellungnahme zu einer die Zufallsbewertung angreifenden Einwendung des Prüflings diese Kritik immer im Sinne einer fehlenden systematischen Einbettung verstanden wissen will. Eine solcher‑ maßen erfolgende Erläuterung der Prüferkritik erscheint dann plausibel, wenn die vom Prüfling niedergeschriebene Lösung wirklich keine nachvoll‑ ziehbare Ableitung des richtigen Ergebnisses erkennen lässt. Mit der so ver‑ standenen Bewertung als „Zufall“ wird dann aber vom Prüfer tatsächlich (nur) die der vollständigen gerichtlichen Überprüfung unterliegende Folge‑ richtigkeit der Begründung und damit das Vorliegen der dritten Vorausset‑ zung der den Antwortspielraum des Prüflings konstituierenden Abwägungs‑ direktive verneint. Die Zufallsbewertung stellt dabei nicht mehr als eine mögliche Folge von deren Anwendung dar und gibt somit keine Veranlassung, im Sinne der Rechtsprechung des OVG Saarlouis und des OVG Lüneburg die abstrakte Reichweite des Antwortspielraums um eine praktisch nicht relevan‑ te Fallgruppe zu erweitern. Auszugehen ist somit nach wie vor dem abstrak‑ ten Rechtssatz des Antwortspielraums1167 in der Prägung des Bundesverfas‑ sungsgerichtes, wonach eine vertretbare und mit gewichtigen Argumenten folgerichtig begründete Lösung nicht als falsch bewertet werden darf. Nachdem die Bedeutung der Kriterien der „Gewichtigkeit der Argumen‑ tation“ und der „Folgerichtigkeit der Begründung“ bereits erläutert worden ist, bedarf es nun noch der Klärung der Reichweite der mit dem Merkmal der „vertretbaren Lösung“ durch das Bundesverfassungsgericht im Prinzip eröffneten Richtigkeits- bzw. Vertretbarkeitskontrolle in fachwissenschaftli‑ chen Fragen. Diese wurde bisher bewusst zurückgestellt, weil es letztlich, wie aufgezeigt, von der Auslegung und Anwendung der weiteren Kriterien der Abwägungsdirektive und den Voraussetzungen des Antwortspielraums 1165 OVG 1166 Vgl.
Lüneburg, Urt. v. 24.05.2011 – 2 LB 158/10, NordÖR 2012, 98 (102). OVG Lüneburg, Urt. v. 24.05.2011 – 2 LB 158/10, NordÖR 2012, 98
1167 Vgl.
zur Terminologie OVG Saarlouis, Bes. v. 05.04.2004 – 3 Q 36/03, juris,
(102).
Rn. 37.
394 Kap. 6: Möglichkeiten (gerichtlicher) Kontrolle der Prüfungsentscheidung
im Übrigen sowie der an den damit gewonnenen Prämissen ausgerichteten Deutung der Prüferkritik abhängt, ob in der Praxis die Richtigkeit bzw. Angemessenheit der von dem Prüfling präsentierten (Teil‑)Lösung überhaupt noch losgelöst von der Frage der Qualität der Begründung untersucht wird. Soweit seitens des Gerichtes eine dahin gehende Überprüfung erfolgt bzw. erfolgen soll, steht häufig – wie bereits bei der Auslegung und Anwendung der Kriterien der „Gewichtigkeit der Argumentation“ und der „Folgerichtig‑ keit der Begründung“ – eine Abgrenzung zwischen fachwissenschaftlichen Fragen und prüfungsspezifischen Wertungen zur Diskussion. Für diese gilt hier wie dort, dass es für die Zuordnung des in Rede stehenden Kritikpunk‑ tes des Prüfers in die eine oder andere Kategorie maßgeblich darauf an‑ kommt, ob sich über die Berechtigung desselben anhand objektiver Richtig‑ keitsmaßstäbe streiten lässt und demgemäß ein fachliches Urteil über die Bearbeitung des Prüflings gefällt werden kann1168, oder ob es an solchen fehlt und demgemäß keine Kontrolle der Prüferkritik, sondern nur deren Ersetzung durch eine eigene subjektive Wertung des Gerichtes anhand von dessen individuellen Einschätzungen und Wertungen möglich wäre. Die vom Bundesverfassungsgericht intendierte fachspezifische Richtigkeitsbzw. Vertretbarkeitskontrolle setzt demgemäß das Vorliegen von Kontroll‑ maßstäben voraus. Deren Existenz wird vom Bundesverwaltungsgericht letztlich stillschweigend angenommen, wenn in der für die Abgrenzung von fach- und prüfungsspezifischen Wertungen richtungsweisenden Entschei‑ dung zutreffend formuliert wird, dass unter Fachfragen all diejenigen Fragen zu verstehen seien, die einer fachwissenschaftlichen Erörterung zugänglich sind1169, unter die im Weiteren sowohl fachwissenschaftlich geklärte als auch kontrovers behandelte Fragen subsumiert werden1170. Mit diesem zutreffenden Ansatz sind all diejenigen Streitfragen zwischen Prüfling und Prüfer der gerichtlichen Klärung zugänglich, die aus der Ge‑ winnung, Auslegung und Anwendung des positiven Rechts einschließlich der hierfür jeweils eingesetzten Methoden und damit aus der Beschäftigung mit dem Gegenstand der Rechtswissenschaft resultieren1171. Demgemäß geht das Bundesverwaltungsgericht (auch) von einer unzweifelhaft vorlie‑ genden Fachfrage aus, soweit bei der Beurteilung juristischer Prüfungsleis‑ tungen Methodik sowie Art und Umfang der Darstellung in Bezug auf Lö‑ sungsansatz und zur Prüfung gestellte Normen in Rede stehen1172. Hiernach 1168 Vgl.
OVG NRW, Urt. v. 22.05.2003 – 14 A 4813/96, juris, Rn. 56. Bes. v. 17.12.1997 – 6 B 55/97, NVwZ 1998, 738 (738). 1170 BVerwG, Bes. v. 17.12.1997 – 6 B 55/97, NVwZ 1998, 738 (738). 1171 Vgl. Rauschning, JuS 1993, 551 (553); siehe auch OVG NRW, Urt. v. 22.05.2003 – 14 A 4813/96, juris, Rn. 56. 1172 BVerwG, Bes. v. 17.12.1997 – 6 B 55/97, NVwZ 1998, 738 (738). 1169 BVerwG,
C. Die Erhebung formeller und materieller Bewertungsrügen395
ist insbesondere – worüber auch in der instanzgerichtlichen Rechtsprechung Einigkeit besteht – die Beurteilung der Frage, ob bei der Lösung eines mit der Aufgabe gestellten Rechtsproblems die Prüfung einer Norm geboten, vertretbar oder fernliegend ist, der fachwissenschaftlichen Erörterung und damit der gerichtlichen Überprüfung zugänglich1173. Die Auslegung einer Prüfungsaufgabe gehört damit nach fast allgemeiner Ansicht zum fach spezifischen Bewertungsbereich1174. Weitgehende Einigkeit besteht auch darüber, dass in konsequenter Fortführung der Rechtsprechung des Bundes‑ verwaltungsgerichtes die Kritik des Prüfers am Aufbau der Prüfung eine gerichtlich voll überprüfbare Fachfrage darstellt, wenn der Aufbau als me‑ thodisch fehlerhaft bemängelt worden ist1175, es sich aber um eine prüfungs‑ spezifische Wertung handelt, wenn die Lesbarkeit und Zweckmäßigkeit des Aufbaus und damit letztlich die Qualität der Darstellung negativ bewertet worden ist1176. Hinsichtlich des weiteren Ablaufs des Bewertungsvorgangs steht außer Frage, dass als Kern der fachspezifischen Richtigkeits- bzw. Vertretbarkeitskontrolle die (methodengerechte) Auslegung und Anwendung der für die Falllösung maßgeblichen Rechtsvorschriften, die innerhalb des von dem Prüfling gewählten Aufbaus die von ihm erzielten Teillösungen und das auf diesen beruhende Gesamtergebnis beeinflussen, der vollständi‑ gen gerichtlichen Überprüfung unterliegen. Nach der zutreffenden Rechtsauffassung des OVG NRW zählen zu den methodischen und damit gerichtlich voll überprüfbaren Fragen darüber hin‑ 1173 BVerwG, Bes. v. 17.12.1997 – 6 B 55/97, NVwZ 1998, 738 (738); siehe auch OVG Berlin, Bes. v. 30.11.2009 – OVG 10 N 50.08, juris, Rn. 5; OVG Lüneburg, Urt. v. 24.05.2011 – 2 LB 158/10, NordÖR 2012, 98 (100); VG Göttingen, Urt. v. 01.09.2005 – 4 A 175/03, juris, Rn. 34; VG Braunschweig, Urt. v. 06.06.2007 – 6 A 311/06, NVwZ-RR 2008, 323 (323); VG Regensburg, Urt. v. 08.08.2012 – RO 1 K 11.800, juris, Rn. 30; vgl. auch VG Hamburg, Urt. v. 16.04.2003 – 6 VG 2363/99, juris, Rn. 46; anders, aber unter Bezugnahme auf längst überholte Rechtsprechung des Bun‑ desverwaltungsgerichtes VG Saarlouis, Urt. v. 28.08.2000 – 1 K 141/99, juris, Rn. 41. 1174 OVG Lüneburg, Urt. v. 24.05.2011 – 2 LB 158/10, NordÖR 2012, 98 (100). 1175 OVG NRW, Urt. v. 27.02.1997 – 22 A 2396/94, NVWBl. 1997, 380 (381); OVG Lüneburg, Urt. v. 07.10.1999 – 10 L 6651/96, juris, Rn. 20; OVG NRW, Urt. v. 22.05.2003 – 14 A 4813/96, juris, Rn. 56; OVG Bremen, Urt. v. 14.12.2011 – 2 A 109/09, NVwZ-RR 2012, 438 (439); OVG B.B., Urt. v. 13.09.2012 – OVG 10 B 5.11, juris, Rn. 20; VG Dresden, Urt. v. 04.06.2008 – 5 K 38/08, juris, Rn. 138; VG Würzburg, Urt. v. 19.12.2008 – W 2 K 08.1761, juris, Rn. 28; VG Lüneburg, Urt. v. 01.11.2006 – 1 A 118/05, juris, Rn. 28; siehe auch VG Hannover, Bes. v. 29.04.2003 – 6 B 1256/03, juris, Rn. 18; anders nur VG Mainz, Urt. v. 21.03.2013 – 1 K 919/12.MZ, juris, Rn. 43, ohne Begründung und Auseinandersetzung mit der abweichenden, herrschenden Rechtsprechung. 1176 OVG Lüneburg, Urt. v. 07.10.1999 – 10 L 6651/96, juris, Rn. 20; OVG B.B., Urt. v. 13.09.2012 – OVG 10 B 5.11, juris, Rn. 20; Schmidt-Räntsch, DRiG, Anhang zu § 5d, Rn. 196.
396 Kap. 6: Möglichkeiten (gerichtlicher) Kontrolle der Prüfungsentscheidung
aus all diejenigen, bei denen die korrekte Anwendung der Regeln der Logik, die Einhaltung der Systematik der Darstellung, die Beachtung der Grundsät‑ ze der juristischen Fallbearbeitung sowie die zutreffende Erfassung der strukturierenden rechtlichen Prinzipien zur Diskussion steht1177. Davon ausgehend versteht es sich von selbst, dass das Vorliegen eines Folgefehlers, d. h. die in sich folgerichtige Weiterführung eines unrichtigen Ansatzes1178, der vollständigen gerichtlichen Überprüfung unterliegt, weil die Beurteilung insoweit insbesondere von der Einhaltung der sich aus dem Gesetz ergeben‑ den (Prüf‑) Systematik sowie der Beachtung der Grundsätze juristischer Fallbearbeitung abhängt. Das Folgefehlerprinzip schließt die Berücksichti‑ gung von Mängeln aus, die nur Folge der konsequenten Fortführung des fehlerhaften Ansatzes sind, und die Möglichkeit des Gerichtes ein, eine unzulässige Doppelgewichtung eines Mangels zu beanstanden1179. Aller‑ dings stellt es wiederum eine dem Bewertungsspielraum des Prüfers unter‑ fallende prüfungsspezifische Wertung dar, wie sich eine mit einem „Folge‑ fehler bemakelte Lösung“ auf die Gesamtbewertung der Prüfungsarbeit auswirkt1180. Generell handelt es sich bei der Gewichtung eines Fehlers und sonstiger Mängel und Schwächen der Bearbeitung ebenso wie von deren Stärken1181 und bei der mit diesen Bewertungsschritten im Zusammenhang stehenden Einschätzung der Bedeutung von Teil(fehl)leistungen für die Ge‑ 1177 OVG NRW, Urt. v. 22.05.2003 – 14 A 4813/96, juris, Rn. 56; siehe auch Rauschning, JuS 1993, 551 (553). 1178 Zur Definition BVerwG, Bes. v. 14.11.1986 – 2 CB 37/86, Buchholz 232.1 § 20 BLV Nr. 1, 1 (2); VG Berlin, Bes. v. 23.06.2009 – 12 A 507.07, juris, Rn. 1; VGH Mannheim, Urt. v. 16.01.1990 – 9 S 3071/88, juris, Rn. 32, insoweit nicht abgedruckt in GewArch 1990, 134 (135). 1179 Vgl. nur FG Hamburg, Urt. v. 15.12.2003 – V 12/02, juris, Rn. 136, insoweit nicht mehr abgedruckt in EFG 2004, 852 (855); anders wohl OVG RLP, Urt. v. 07.01.1994 – 2 A 11593, juris, Rn. 30, insoweit nicht abgedruckt in NVwZ 1994, 805 (805). 1180 Vgl. zur Terminologie und in der Sache VG Berlin, Bes. v. 23.06.2009 – 12 A 507.07, juris, Rn. 6; VGH Mannheim, Urt. v. 16.01.1990 – 9 S 3071/88, juris, Rn. 32, insoweit nicht abgedruckt in GewArch 1990, 134 (135); BayVGH, Urt. v. 11.02.1998 – 7 B 96.2163, juris, Rn. 36; VG Lüneburg, Urt. v. 23.02.2005 – 1 A 110/04, juris, Rn. 27; Urt. v. 01.11.2006 – 1 A 118/05, juris, Rn. 28; VG Würzburg, Urt. v. 19.11.2008 – W 2 K 08.1761, juris, Rn. 28; Zimmerling/Brehm, Der Prü‑ fungsprozess, Rn. 130. 1181 Vgl. dazu, dass diese Bewertungselemente als prüfungsspezifische Wertung dem Bewertungsspielraum des Prüfers unterfallen, BVerwG, Bes. v. 13.05.2004 – 6 B 25/04, NVwZ 2004, 1375 (1377); Bes. v. 16.08.2011 – 6 18/11, juris, Rn. 16; OVG Hamburg, Bes. v. 05.02.2007 – 3 Bf. 290/03.Z, juris, Rn. 28; OVG NRW, Bes. v. 25.10.2011 – 1 B 1003/11, juris, Rn. 14; VGH Mannheim, Bes. v. 03.07.2012 – 9 S 2189/11, VBlBW 2013, 97 (98); HessVGH, Urt. v. 21.05.2012 – 9 A 1156/11, juris, Rn. 20; VG München, Urt. v. 06.12.2011 – M 4 K 11.528, juris, Rn. 35; VG Würzburg, Urt. v. 20.09.2004 – W 8 K 03.1208, juris, Rn. 36; VG Schwerin, Urt.
C. Die Erhebung formeller und materieller Bewertungsrügen397
samtbewertung und der Abwägung sämtlicher negativer und positiver Leis‑ tungsaspekte ebendort1182 um eine geradezu genuine prüfungsspezifische Wertung1183. Denn insoweit mangelt es ganz offensichtlich an Richtigkeits‑ maßstäben, an denen die konkrete Einschätzung des Prüfers gemessen werden könnte. Der identischen rechtlichen Beurteilung unterliegt die ge‑ sondert diskutierte Einordnung der Wertung eines Teilaspektes als Kernoder Randproblem, die sich bei Lichte betrachtet nämlich als bloßes Ergeb‑ nis der Gewichtung von Teil(‑fehl‑)leistungen und damit als prüfungsspezi‑ fisch darstellt1184. Die Bedeutung, die ein Prüfer einzelnen Teil(‑fehl‑)leistungen und ihrer Summe in der Gesamtbewertung beimisst, hängt insbesondere auch vom Schwierigkeitsgrad der zu bewältigenden Teilaufgabe ab. Bei dessen Be‑ stimmung handelt es sich, wie dies oben in Übereinstimmung mit der all‑ gemeinen Ansicht bereits herausgearbeitet wurde, um eine prüfungsspezifi‑ sche Wertung1185, weil die Einschätzung der Schwierigkeit der Aufgabe (allein) von den (höchst‑) persönlichen (Prüfer‑) Erfahrungen abhängt und vergleichend nach dem individuellen Bewertungsmaßstab erfolgt, der sich bei ihnen und in ihrer Folge herausgebildet hat. Fraglich ist, ob dies gleichermaßen für die Beurteilung der Qualität bzw. Überzeugungskraft der Argumentation gilt, welche nach dem bereits Darge‑ legten die Qualität der Begründung und damit die Bewertung juristischer Prüfungsleistungen maßgeblich beeinflusst. Rechtsprechung und Literatur v. 03.07.2012 – 3 A 492/07, juris, Rn. 26; Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 635; Haase, in: Johlen/Oerder, MAH VerwR, § 16, Rn. 181. 1182 Vgl. zur Abwägung als Aspekt der prüfungsspezifischen Wertung BVerwG, Bes. v. 08.03.2012 – 6 B 36/11, NJW 2012, 2054 (2056). 1183 Vgl. VG München, Urt. v. 05.07.2010 – M 3 K 09.2803, juris, Rn. 30: „ur‑ eigene Aufgabe des Prüfers“; VG Regensburg, Urt. v. 08.08.2012 – RO 1 K 11.800, juris, Rn. 72: „Kernbereich des Bewertungsspielraums“. 1184 Zur Kategorisierung dieses Bewertungskriteriums als prüfungsspezifische Wertung siehe: BVerwG, Bes. v. 02.06.1998 – 6 B 78/97, juris, 1. Orientierungssatz, auch Rn. 2; weiter BVerwG, Bes. v. 08.03.2012 – 6 B 36/11, NJW 2012, 2054 (2056); auch VG Lüneburg, Urt. v. 01.11.2006 – 1 A 118/05, juris, Rn. 28; VG Würzburg, Urt. v. 19.11.2008 – W 2 K 08.1761, juris, Rn. 28; Zimmerling/Brehm, Der Prüfungsprozess, Rn. 131 m. w. N. 1185 Vgl. zur Einordnung des Schwierigkeitsgrades als prüfungsspezifische Wer‑ tung nur die folgenden jüngeren Entscheidungen aus der Rechtsprechung BVerwG, Bes. v. 08.03.2012 – 6 B 36.11, NJW 2012, 2054 (2055); OVG Lüneburg, Urt. v. 24.05.2011 – 2 LB 158/10, NordÖR 2012, 98 (99); OVG Bremen, Urt. v. 14.12.2011 – 2 A 109/09, NordÖR 2012, 151 (152); FG Köln, Urt. v. 07.12.2011 – 2 K 1434/09, EFG 2012, 1603 (1604); VG Regensburg, Urt. v. 05.07.2012 – RN 5 K 11.1452, juris, Rn. 34; VG Mainz, Urt. v. 21.03.2013 – 1 K 919/12.MZ, juris, Rn. 32, anders nun ohne jede Begründung und daher nicht überzeugend Knecht, BayVBl. 2013, 359 (361).
398 Kap. 6: Möglichkeiten (gerichtlicher) Kontrolle der Prüfungsentscheidung
gehen insoweit beinahe übereinstimmend davon aus, dass dieses Bewer‑ tungskriterium dem prüfungsspezifischen Wertungsbereich zuzuordnen ist1186. In Anknüpfung an die im Rahmen der Darstellung des Ablaufs des Bewertungsvorgangs bereits angelegte Differenzierung sowie die hier als zutreffend erachtete Auslegung der Voraussetzungen des Antwortspielraums ist demgegenüber davon auszugehen, dass es sich bei der Würdigung der Qualität bzw. Überzeugungskraft der Argumentation um eine gerichtlich voll überprüfbare fachspezifische Wertung handelt. Dies gilt jedenfalls dann, wenn man – wie hier – das Merkmal der Überzeugungskraft allein auf die einzelnen Argumente und nicht auch auf die Art und Weise der Darlegung derselben im Rahmen der Begründung der Lösung bezieht und dementspre‑ chend von einem entsprechend verengten Verständnis des Begriffs der „Argumentation“ ausgeht. Dieses Begriffsverständnis scheint auch der über‑ wiegenden instanzgerichtlichen Rechtsprechung zugrunde zu liegen, wenn und soweit dort von vornherein allein von dem Bewertungskriterium der „Überzeugungskraft der Argumente“ die Rede ist1187. Insoweit ist dann (nochmals) festzustellen, dass unter Berücksichtigung des dem Prüfling zuzubilligenden Antwortspielraums ein Argument bereits dann als „überzeugend“ bzw. „gewichtig“ anzusehen ist, wenn dieses in Rechtsprechung und / oder Literatur vertreten wird oder methodengerecht ab‑ geleitet worden ist1188. Dass sich über das Vorliegen der Voraussetzungen der zweiten Alternative auf der Metaebene trefflich streiten lässt, schließt den Antwortspielraum des Prüflings nicht aus, sondern begründet ihn gerade1189. Entgegen dem OVG Saarlouis und dem VG Dresden folgt aus dem vorste‑ henden Standpunkt indes nicht, dass es nicht beanstandet werden dürfe, wenn sich der Prüfling der (nur) „kurzzeiligen Begründung“ eines Obergerichtes anschließt. Denn während sich etwa ein Gericht auf eine solche deshalb be‑ schränken kann, weil es seinen Rechtsstandpunkt in einer umstrittenen Frage möglicherweise bereits in der mündlichen Verhandlung gegenüber den Betei‑ ligten ausführlich erläutert hat, muss der Prüfling seine in der Prüfungsarbeit vertretene (Teil‑)Lösung mit einer aus der Prüfungsarbeit heraus verständli‑ 1186 Siehe BVerwGE 109, 211 (216); OVG Berlin-Brandenburg, Bes. v. 30.11.2009 – OVG 10 N 50.08, juris, Rn. 5; VG Dresden, Urt. v. 04.06.2008 – 5 K 38/08, juris, Rn. 58; VG Ansbach, Urt. v. 17.10.2013 – AN 2 K 11.02377, AN 2 K 13.00740, juris, Rn. 44; Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 635; anders soweit ersichtlich nur Schmidt-Räntsch, DRiG, Anhang zu § 5d, Rn. 111. 1187 Siehe etwa OVG Lüneburg, Urt. v. 24.05.2011 – 2 LB 158/10, NordÖR 2012, 98 (99); Bes. v. 05.11.2012 – 2 LA 177/12, juris, Rn. 20; VG München, Urt. v. 06.12.2011 – M 4 K 11.528, juris, Rn. 16; VG Braunschweig, Urt. v. 30.01.2013 – 6 A 195/11, juris, Rn. 15. 1188 So wohl auch OVG Berlin, Bes. v. 30.11.2009 – OVG 10 N 50.08, juris, Rn. 5. 1189 Vgl. OVG NRW, Urt. v. 22.05.2003 – 14 A 4813/96, juris, Rn. 56.
C. Die Erhebung formeller und materieller Bewertungsrügen399
chen und insoweit vollständigen Begründung versehen1190. Zudem müssen die Richter im Gegensatz zum Prüfling nicht mehr ihre juristische Befähi‑ gung unter Beweis stellen. Für eine aus der Fachliteratur übernommene Be‑ gründung gilt Entsprechendes, so dass ein Prüfer auch diese grundsätzlich mit im Hinblick auf den Prüfungszweck nachvollziehbaren Darlegungen als unzureichend bewerten kann, ohne dass dies vom Gericht unter Anwendung objektiver Maßstäbe beanstandet werden könnte. Von der Frage der metho‑ dengerechten Ableitung der Argumente und ihrer insoweit vorliegenden Überzeugungskraft bzw. Qualität zu unterscheiden ist demgemäß eben die Art und Weise ihrer Darlegung. Die insoweit angesprochenen Bewertungskri‑ terien der „Qualität der Darstellung“1191 und der „Geordnetheit der Darlegun gen“1192 stellen mangels objektiver Beurteilungsmaßstäbe aber eine dem Prü‑ fer vorbehaltene prüfungsspezifische Wertung dar. Das soll nach allgemeiner Ansicht auch für die nach Abschluss des Ab‑ wägungsvorgangs erforderlich werdende Zuordnung der festgestellten Prü‑ fungsleistung zu einer der von der Bundesnotenverordnung vorgesehenen Notenstufen und Punktzahlen gelten1193. Diese Einschätzung erscheint nicht vollständig und dann auch nur im Ergebnis berechtigt. Insoweit ist nämlich zunächst einmal zu vergegenwärtigen, dass es sich bei der Bundesnotenver‑ ordnung um eine Rechtsnorm handelt, so dass der Notenzuweisungsakt im Prinzip „Rechtsanwendung und nichts anderes als das“1194 darstellt. Ent‑ 1190 Dies wird im Kontext mit der nicht möglichen nachträglichen Erläuterung bzw. Ergänzung der vertretenen Lösung auch zu Recht betont, siehe nur VG Dres‑ den, Urt. v. 04.06.2008 – 5 K 38/08, juris, Rn. 130. 1191 Siehe zu diesem Kriterium und dessen Einordnung als prüfungsspezifische Wertung nochmals BVerwG, Urt. v. 21.10.1993 – 6 12 C/92, BayVBl. 1994, 443 (443); Bes. v. 10.10.1994 – 6 B 73/94, juris, Rn. 14, insoweit nicht abgedruckt in NJW 1995, 977 f.; Bes. v. 17.12.1997 – 6 B 55/97, NVwZ 1998, 738; Bes. v. 13.03.1998 – 6 B 28/98, juris, Rn. 4; Bes. v. 13.05.2004 – 6 B 25/04, NVwZ 2004, 1375 (1377); Bes. v. 16.08.2011 – 6 B 18/11, juris, Rn. 16; VGH Mannheim, Urt. v. 13.06.1995 – 9 S 2091/94, NVwZ-RR 1996, 27 (28); OVG Hamburg, Urt. v. 23.12.1996 – Bf III 40/96, juris, Rn. 24; HessVGH, Urt. v. 08.04.1997 – 6 UE 4494/96, juris, Rn. 39; OVG Lüneburg, Urt. v. 07.10.1999 – 10 L 6651/96, juris, Rn. 18; OVG B.-B., Urt. v. 13.09.2012 – OVG 10 B 5.11, juris, Rn. 15; VG Göt‑ tingen, Urt. v. 05.09.2002 – 1 A 1088/00, juris, Rn. 28; siehe zur „Art der Darstel‑ lung“ noch VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 14.12.1999 – 9 S 1725/99, juris, Rn. 25; VG Freiburg, Urt. v. 11.07.2001 – 1 K 1080/99, juris, Rn. 29. 1192 OVG Lüneburg, Bes. v. 05.11.2012 – 2 LA 77/12, juris, Rn. 20; Urt. v. 24.05.2011 – 2 LB 158/10, NordÖR 2012, 98 (99); VG Braunschweig, Urt. v. 30.01.2013 – 6 A 195/11, juris, Rn. 15; Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 635. 1193 BVerwG, Bes. v. 16.08.2011 – 6 B 18/11, juris, Rn. 16; OVG NRW, Bes. v. 25.10.2011 – 1 B 1003/11, juris, Rn. 14; VGH Mannheim, Urt. v. 03.07.2012 – 9 S 2189/11, VBlBW 2013, 97 (98); Haase, in: Johlen/Oerder, MAH VerwR, § 16, Rn. 181. 1194 Vgl. zu dieser Formulierung im anderen Kontext BVerwGE 45, 309 (322 f.).
400 Kap. 6: Möglichkeiten (gerichtlicher) Kontrolle der Prüfungsentscheidung
sprechend den obigen Prämissen wäre demgemäß von einer fachspezifischen Wertung auszugehen. Die Bundesnotenverordnung operiert im Rahmen der Beschreibung der Noten aber mit vagen Begriffen wie namentlich dem Terminus der „durchschnittlichen Anforderungen“ und demjenigen der „Brauchbarkeit“ der Leistung. Mit dem für die Notendifferenzierung anzu‑ legenden Maßstab der „durchschnittlichen Anforderungen“ wird auf ein offenes1195 und damit nicht jedermann zugängliches Bezugssystem verwie‑ sen, so dass der jeweilige Rechtsanwender notwendigerweise zur individu‑ ellen und durch seine persönlichen Einschätzungen und Erfahrungen ge‑ prägten Maßstabsbildung aufgerufen ist1196. Die Notenbeschreibungen der Bundesnotenverordnung erzeugen somit durch die Einbindung der „durch‑ schnittlichen Anforderungen“ nur eine Schein- bzw. „Halbobjektivität“1197. Trotz der Notenbeschreibung stellt sich der Notenzuweisungsakt damit im Ergebnis nicht als Akt der Rechtsanwendung, sondern nach wie vor als Akt wertender Erkenntnis dar. Soweit auch in der Bestimmung der „durch‑ schnittlichen Anforderungen“ ausdrücklich eine prüfungsspezifische Wer‑ tung gesehen wird1198, kann dem also beigepflichtet werden. Nicht überzeu‑ gend aber ist es, wenn auch das Urteil des Prüfers über die „Brauchbarkeit der Leistung“ pauschal dem Bewertungsspielraum zugewiesen wird1199. Zwar handelt es sich bei der Beurteilung der Brauchbarkeit der Leistung um eine prüfungsspezifische Wertung, wenn die Abgrenzung der Noten „man‑ gelhaft“ und „ausreichend“ in Rede steht. Dies ergibt sich vor allem daraus, dass – wie eine Gegenüberstellung der Beschreibungen dieser beiden Noten in der Bundesnotenverordnung zeigt – eine Leistung in jedem Fall brauch‑ bar ist, die „durchschnittlichen Anforderungen“ noch gerecht wird, so dass letztlich das Kriterium der Brauchbarkeit in dieser prüfungsspezifischen Wertung aufgeht. Soweit es allerdings um die Abgrenzung der Noten „mangelhaft“ und „un‑ genügend“ und damit um die Bestimmung verschiedener Unbrauchbarkeits‑ stufen geht, belegt die in der instanzgerichtlichen Rechtsprechung diesbezüg‑ 1195 Vgl. Schulze, S. 156, nach dem mit dem Begriff „Durchschnitt“ diese Vorga‑ be der Beliebigkeit anheim gegeben wird. 1196 Siehe nur BVerwG, Bes. v. 08.03.2012 – 6 B 36/11, NJW 2012, 2054 (2054); OVG Lüneburg, Urt. v. 24.05.2011 – 2 LB 158/10, NordÖR 2012, 98 (99); Niehues/ Fischer/Jeremias, Rn. 635. 1197 Vgl. zum Terminus und in der Sache Schulze, S. 156. 1198 VG Wiesbaden, Urt. v. 09.03.2012 – 7 K 462/11.WI, juris, Rn. 21; Niehues/ Fischer/Jeremias, Rn. 635. 1199 BVerwG, Bes. v. 13.05.2004 – 6 B 25/04, NVwZ 2004, 1375 (1377); Bes. v. 16.08.2011 – 6 B 18/11, juris, Rn. 16; Bes. v. 08.03.2012 – 6 B 36/11, NJW 2012, 2054 (2054); VGH Mannheim, Urt. v. 03.07.2012 – 9 S 2189/11, VBlBW 2013, 97 (98); HessVGH, Urt. v. 21.05.2012 – 9 A 1156/11, juris, Rn. 20.
C. Die Erhebung formeller und materieller Bewertungsrügen401
lich vorzufindende Kontroverse, dass es hier in Wahrheit um eine Frage der zutreffenden Rechtsanwendung und damit um eine fachspezifische Wertung geht1200. Es steht nämlich in Streit, ob die Bewertung „ungenügend“ nur Leistungen zugeordnet werden darf, die überhaupt keine brauchbaren Teil‑ leistungen mehr aufweisen1201, oder auch noch vergeben werden darf, wenn diese nach der Einschätzung des Prüfers so geringfügig sind, dass sie nicht geeignet sind, den auf die Annahme der völligen Unbrauchbarkeit abzielen‑ den Gesamteindruck zu beeinflussen1202. Das Bundesverwaltungsgericht hat sich jüngst – ohne sich mit den Divergenzen in der instanzgerichtlichen Rechtsprechung auseinanderzusetzen – der zweiten Auslegungsalternative angeschlossen und damit auch die Zuordnung der Leistung zur Notenstufe „ungenügend“ oder „mangelhaft“ als prüfungsspezifische Wertung einge‑ stuft1203. Dies ist im Hinblick auf die erfolgte Auslegung des Begriffs der „völligen Unbrauchbarkeit“ konsequent und zutreffend, erscheint aber wie bereits an anderer Stelle dargelegt1204 nicht überzeugend. Im vorliegenden Kontext ist jedoch die Feststellung entscheidend, dass jedenfalls dort, wo die Notenbeschreibungen der Bundesnotenverordnung nicht den Terminus der „durchschnittlichen Anforderungen“ in Bezug nehmen – also bei der Defini‑ tion der Noten „mangelhaft“ und „ungenügend“ bzw. deren Abgrenzung und der Beschreibung der Note „sehr gut“ –, eine objektivierende Auslegung der konstituierenden Merkmale möglich erscheint mit der Konsequenz, dass aus‑ gehend von der textlichen Beschreibung der Prüfungsleistung in diesem Be‑ reich die Notenzuweisung vollständig gerichtlich überprüfbar wäre1205. Im Übrigen aber erscheint dies aus den genannten Gründen nicht möglich und auch die Punktevergabe innerhalb der Notenstufe stellt mangels objektiver Kriterien offenkundig eine dem Prüfer vorbehaltene prüfungsspezifische Wertung dar. Im Ergebnis stellt sich die Notengebung damit überwiegend – aber nicht ausschließlich – als wertender Akt dar1206. Mit der Notengebung ist in der Praxis der Bewertungsvorgang und mit deren Einordnung auch die hier im Vorhergehenden erfolgte Abgrenzung zwischen fach- und prüfungsspezifischen Wertungen abgeschlossen. Dabei hat die im Zuge dessen erfolgte (Neu‑)Zuordnung der für die Bewertung bereits Unger, NordÖR 2012, 71 (73). BayVGH, Bes. v. 19.04.1999 – ZB 99.440, juris, Rn. 9; Bes. v. 04.09.1986 – 3 B 86.01528, n. v., BU S. 4. m. w. N. 1202 OVG Lüneburg, Urt. v. 24.05.2011 – 2 LB 158/10, NordÖR 2012, 98 (101). 1203 BVerwG, Bes. v. 08.03.2012 – 6 B 36/11, NJW 2012, 2054 (2054 f.). 1204 Unger, NordÖR 2012, 71 (73). 1205 Vgl. zur Möglichkeit der Überprüfung der textlichen Beschreibung der Prü‑ fungsleistung mit der zugewiesenen Note auch VG Köln, Urt. v. 16.06.2011 – 6 K 4008/10, juris, Rn. 101. 1206 Entgegen etwa VG Trier, Urt. v. 22.05.2007 – 2 K 5/07.TR, juris, Rn. 33. 1200 Vgl. 1201 So
402 Kap. 6: Möglichkeiten (gerichtlicher) Kontrolle der Prüfungsentscheidung
relevantesten bzw. in der Diskussion befindlichen Kriterien gezeigt, dass sich bei konsequenter Anwendung des maßgeblichen Abgrenzungskriteri‑ ums – dem (Nicht‑)Vorliegen von Kontroll- bzw. Richtigkeitsmaßstäben – der Bereich der prüfungsspezifischen Wertungen in der dargelegten Art und Weise verengt. Im Ergebnis wird durch diese Verengung sowie die bereits erfolgte kontrollzugängliche Auslegung der übrigen Voraussetzungen des Antwortspielraums und das erweiterte Verständnis desselben, wonach auch ein bloß richtiges Ergebnis grundsätzlich positiv zu bewerten ist, eine er‑ hebliche Rechtsschutzintensivierung für den Prüfling und damit korrespon‑ dierend eine relevante Beschränkung der Freiheiten des Prüfers auf der Ebene der Zusammenstellung des Abwägungsmaterials erzielt. Der vom Bundesverfassungsgericht formulierte Bewertungsgrundsatz, wonach eine vertretbare und mit gewichtigen Argumenten folgerichtig begründete Lö‑ sung nicht als falsch bewertet werden darf, stellt sich – als Gebot der Res‑ pektierung des Antwortspielraums des Prüflings in Fachfragen verstanden und in der hier erfolgten Interpretation – nach alledem als spezielle Abwä‑ gungsdirektive dar. Da ohnehin nur eine (auf der Metaebene geführte) Diskussion fachlicher Fragen Kontrollmaßstäbe für die (fachspezifischen) Wertungen des Prüfers liefern kann, aber bereits das dargelegte weite Ver‑ ständnis des Begriffs der Fachfrage die Anwendung sämtlicher Kontroll‑ maßstäbe im fachspezifischen Wertungsbereich eröffnet, bleibt für die Ent‑ wicklung weiterer spezieller Abwägungsdirektiven aus verfassungsrechtli‑ chen Normen weitgehend kein Raum mehr. Diese stellen sich in der Sache dann entweder als bloße Folgerung aus dem Gebot der Respektierung des Antwortspielraums oder keinen Kontrollmaßstab dar. (3) Das Gleichbewertungsgebot Dies soll abschließend illustriert werden an dem als „allgemeinen Bewer‑ tungsgrundsatz“ gehandelten Gleichbewertungsgebot, das sich ohne Weite‑ res aus dem bereits in Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG lokalisierbaren Chancen‑ gleichheitsgrundsatz ableiten lässt und den Prüfer dazu verpflichtet, Prü‑ fungsleistungen grundsätzlich nach denselben Maßstäben zu bewerten und für vergleichbare Prüfungsleistungen auch dieselbe Note zu vergeben1207. Da kein Prüfer im Rahmen einer Bewertungsbegründung oder in anderem Kontext einen Verstoß gegen diese Verpflichtung publik machen wird, kann dieser im Prinzip nur durch den Vergleich der von einem Prüfer korrigierten Prüfungsarbeiten (desselben Prüfungsdurchgangs) und deren Bewertung 1207 Vgl. zur Ableitung des Gleichbehandlungsgebots und dessen Inhalt Niehues/ Fischer/Jeremias, Rn. 665 ff.; VG Regensburg, Urt. v. 08.08.2012 – RO 1 K 11.800, juris, Rn. 40 ff.
C. Die Erhebung formeller und materieller Bewertungsrügen403
sowie ihrer Begründung1208 aufgedeckt werden. Hier ist vom Gericht, da auch der Prüfling keinen Anspruch auf Gleichheit im Unrecht hat1209, nur zu prüfen, ob die Begründung der Bewertung desjenigen Prüflings, der sich auf einen Verstoß gegen das Gleichbewertungsgebot beruft, die Nichtan‑ wendung eines rechtmäßigen Bewertungsmaßstabs1210 erkennen lässt, nach dem die zum Vergleich herangezogene Prüfungsleistung bewertet worden ist. Dies kann aber nur zu der Prüfung führen, ob der Prüfer den Antwort‑ spielraum des Prüflings in Fachfragen berücksichtigt hat, bei der das Gleichbewertungsgebot keine eigenständige Bedeutung hat. Sollte das Ge‑ richt feststellen, dass der Prüfer die Prüfungsleistungen nicht anhand dersel‑ ben (abstrakten) prüfungsspezifischen Wertungen bewertet hat, indem er etwa ausweislich der Bewertungsbegründung jeweils einen unterschiedlichen Schwierigkeitsgrad der Aufgabenstellung angenommen hat, liegt bereits ein Verstoß gegen das Willkürverbot vor, weil ein sachlicher Grund für eine solch unterschiedliche Bewertung niemals angeführt werden kann1211. Steht schließlich ein Verstoß gegen das Gleichbewertungsgebot dergestalt in Re‑ de, dass der Prüfer vergleichbaren Prüfungsleistungen ohne sachlich ge‑ rechtfertigten Grund nicht dieselbe Note zugewiesen hat, fehlt es dem Ge‑ richt für die Feststellung eines solchen an den dafür erforderlichen Kontroll‑ maßstäben, da die Einschätzung der Gleichheit oder Vergleichbarkeit auf komplexen prüfungsspezifischen Wertungen beruht1212. bb) Das Gebot der rationalen Abwägung / „Sachlichkeitsgebot“ Wie bereits ausführlich dargelegt wurde, gilt dies auch für die gebotene Gewichtung und Abwägung der unter Berücksichtigung der vorstehend und abschließend aufgezeigten Abwägungsdirektiven ermittelten Teil(‑fehl‑)leis tungen des Prüflings im Rahmen der gesamtleistungsorientierten Brauchbar‑ keitsprüfung. Die Ergebnisse dieser Bewertungsschritte als Kern der vom Prüfer zu treffenden Abwägungsentscheidung innerhalb des ihm eröffneten Abwägungsrahmens können mangels weiter gehender Kontrollmaßstäbe nur falsifiziert, nicht aber auf ihre Richtigkeit überprüft werden. Während die Rechtsprechung als Falsifikationsmaßstäbe nur das Sachlichkeitsgebot und das Willkürverbot heranzieht, ist es möglich und damit auch (verfassungs‑ 1208 So geschehen etwa im Fall des VG Regensburg, Urt. v. 08.08.2012 – RO 1 K 11.800, juris. 1209 Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 667. 1210 Vgl. VG Regensburg, Urt. v. 08.08.2012 – RO 1 K 11.800, juris, Rn. 40. 1211 Vgl. Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 665, 639, insbesondere zum Zusammen‑ hang zwischen Gleichbewertungsgebot und Willkürverbot. 1212 VG Regensburg, Urt. v. 08.08.2012 – RO 1 K 11.800, juris, Rn. 40.
404 Kap. 6: Möglichkeiten (gerichtlicher) Kontrolle der Prüfungsentscheidung
rechtlich) geboten, die konkrete Abwägungsentscheidung des Prüfers am weiter gehenden Kontrollmaßstab des Gebots der rationalen Abwägung zu messen. Dieser begründet im Ausgangspunkt zunächst nur die Verpflichtung des Prüfers, die erfolgte Bewertung der Prüfungsleistung schlüssig und nachvollziehbar zu begründen, aus der sich aber neben einigen Erfordernis‑ sen in formeller Hinsicht vor allem eine Reihe materieller Anforderungen an den Abwägungsprozess bzw. die von diesem hervorgebrachte Abwä‑ gungsentscheidung ergeben. Zusammenfassend und ergänzend lassen sich im Einzelnen folgende Kontrollmaßstäbe formulieren: In formaler Hinsicht besteht zunächst die Notwendigkeit, dass die Bewer‑ tungsbegründung frei von Inkonsistenzen ist, also namentlich Wortgutachten und Punktbewertung sich decken. In der bayerischen (Verwaltungs‑)Gerichtsbarkeit wird diesbezüglich sogar von einem eigenständigen, „selbstverständ lichen“1213 „allgemeinen Bewertungsgrundsatz“ ausgegangen, dem oben bereits angeführten Gebot der Schlüssigkeit der Bewertung1214. Darüber hinaus hält die Bewertungsbegründung der formalen Rationalitätsprüfung nur dann Stand, wenn auch das Wortgutachten unter Einschluss eines ggf. vorhandenen Anforderungsprofils sowie die sich aus dem Wortgutachten und ggf. vorhandenen Randbemerkungen zusammensetzende Bewertungsbe‑ gründung frei von Widersprüchen ist. Das Gebot der rationalen Abwägung erschöpft sich aber keineswegs in den vorstehenden – auf die Korrespondenz von Entscheidungsverfahren und -ergebnis abzielenden – formellen Rationalitätspostulaten1215. Eine schlüssi‑ ge und nachvollziehbare Bewertungsbegründung liegt nämlich auch dann nicht vor, wenn diese einen Abwägungsausfall, ein Abwägungsdefizit, eine Abwägungsfehleinschätzung oder eine Abwägungsdisproportionalität im oben dargelegten Sinne erkennen lässt. Mit dieser Abwägungsfehlerlehre wird aber letztlich die in der Bewertungsbegründung dokumentierte Verfeh‑ lung namentlich aus Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG ableitbarer materieller Anfor‑ derungen im Rahmen des Abwägungsprozesses und nicht (nur) ein bloß formaler Mangel aufgedeckt. Insoweit wird mit dem ersten Falsifikations‑ kriterium der Abwägungsfehlerlehre eine entgegen dem hier behandelten Gebot (vollständig) unterbliebene (rationale) Abwägung und mit den weite‑ 1213 VG Ansbach, Urt. v. 12.11.1998 – AN 2 K 95.021333, juris, Rn. 19; siehe auch OLG München, Urt. v. 17.06.2006 – 1 U 2960/05, NJW 2007, 1005 (1006). 1214 Vgl. bereits oben Kapitel 6 III. 2. bb) (2) und nochmals VG Ansbach, Urt. v. 12.11.1998 – AN 2 K 95.021333, juris, Rn. 19; VG Ansbach, Urt. v. 29.02.2000 – AN 99.00775, juris, Rn. 16; BayVGH, Bes. v. 19.04.1999 – 7 ZB 99.440, juris, Rn. 9, wiederum im Kontext mit den Begründungsanforderungen des Prüfers; das Gebot der Schlüssigkeit ist seit jeher Kriterium der „bayerischen Kontrollformel“, siehe zuletzt BayVGH, Bes. v. 26.03.2014 – 7 ZB 14.389, juris, Rn. 9. 1215 Vgl. zum Begriff der „formalen Rationalität“ Riehm, S. 94.
C. Die Erhebung formeller und materieller Bewertungsrügen405
ren Falsifikationskriterien wie dargelegt eine (abstrakte) Fehlgewichtung maßgeblicher Abwägungsgesichtspunkte positiv festgestellt. Im Rahmen eines erstens „Screenings“ der Bewertungsbegründung haben emotional aufgeladene und damit zumeist unsachliche (Rand‑)Bemerkungen eine wichtige Signalfunktion für das Vorliegen eines anhand der Abwä‑ gungsfehlerlehre objektiv nachweisbaren Abwägungsfehlers. Insbesondere können scharfe Korrekturbemerkungen, die nach der subjektiven Einschät‑ zung desjenigen, der die Rechtmäßigkeit der Bewertung zu überprüfen hat, nicht zu der Schwere der mit ihnen gekennzeichneten (Teil‑)Fehlleistungen passen1216, ein starkes Indiz für das Vorliegen einer Fehlgewichtung sein1217. Wenn und soweit unsachliche Prüferkommentare nur den Rückschluss zu‑ lassen, dass der Abwägungsprozess maßgeblich nicht von an dem Zweck der Prüfung ausgerichteten und damit rationalen Kriterien, sondern von über die Maßen bewertungsbeeinflussenden Emotionen und insoweit von irratio‑ nalen Momenten geprägt war, erscheint es praktisch ausgeschlossen, dass sich in diesem Fall nicht anhand der Abwägungsfehlerlehre das Vorliegen eines Abwägungsfehlers belegen lässt. Das Gebot der Sachlichkeit ist daher in dem hier vertretenen Modell der rationalen Abwägungskontrolle, anhand dessen gerade unabhängig von und nicht nur bei dem Vorliegen bloß siche‑ rer Anzeichen eine Fehlgewichtung festgestellt werden kann, als eigenstän‑ diger Abwägungsfalsifikationsmaßstab weitgehend ohne Bedeutung. Dem‑ gegenüber ist die Rechtsprechung auf seine Heranziehung angewiesen, weil die hier zur Anwendung kommende Kontrollformel mit Ausnahme des nur äußerste Grenzen errichtenden Willkürverbots, welche die Gerichte bislang noch nie als überschritten angesehen haben, keine Handhabe bietet, eine Fehlgewichtung positiv festzustellen. Trotzdem erscheint die bereits erfolgte Integration des Gebots der Sach‑ lichkeit in dasjenige der rationalen Abwägung sinnvoll. Zunächst einmal übernimmt dieses nämlich eine unerlässliche Reservefunktion für den Fall, dass der Rechtsanwender aufgrund einer fehlerhaften Anwendung der Ab‑ wägungsfehlerlehre einen Abwägungsfehler nicht hat feststellen können, der Prüfer aber die Abwägungsentscheidung mit unsachlichen Bemerkungen versucht hat zu plausibilisieren, aufgrund derer letztlich dann doch noch ihre Falsifikation erfolgt. Im Übrigen sind jedenfalls theoretisch Fälle denk‑ bar, in denen die emotionale Erregung des Prüfers über vermeintlich oder tatsächlich vorliegende Mängel gerade zu Beginn der Prüfungsarbeit das Visier nur insoweit verstellt hat, dass er im weiteren Verlauf der Korrektur 1216 Siehe zu diesem Gesichtspunkt Schmidt-Räntsch, DRiG, Anhang zu § 5d, Rn. 125. 1217 So in der Sache auch VG Regensburg, Urt. v. 25.01.2012 – RN 1 K 11.00773, juris, Rn. 46.
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positive Ansätze des Prüflings nicht oder jedenfalls nicht mehr in dem Ma‑ ße in der Gesamtbewertung berücksichtigt hat, wie er dies üblicherweise getan hätte, sich diese Maßstabsverschiebung aber nicht dergestalt in der Bewertungsbegründung niedergeschlagen hat, dass sie einer Falsifikation anhand der Abwägungsfehlerlehre zugänglich wäre. Da aber auch in diesem Fall der Prüfling (gegenüber anderen Kandidaten) benachteiligt ist, erscheint eine Beanstandung der Bewertung hier allein aufgrund des „emotionalen Engagements“1218 des Prüfers geboten. Nachdem nun (nochmals) dargelegt worden ist, dass der vorliegend be‑ vorzugte Kontrollansatz das Gebot der Sachlichkeit als Abwägungsfalsifika‑ tionsmaßstab nicht gänzlich obsolet macht, sind unter Berücksichtigung der bisherigen Erkenntnisse abschließend noch dessen Voraussetzungen unter Ausräumung einiger Fehlverständnisse in der Rechtsprechung darzulegen. Nach dem Bundesverwaltungsgericht, das wie ausgeführt das Gebot der Sachlichkeit als ersten „allgemeinen Bewertungsgrundsatz“ entwickelt und durch seine – bis heute unangefochtene und jüngst noch einmal bestätigte – Interpretation die (instanzgerichtliche) Rechtsprechung maßgeblich geprägt hat, gilt Folgendes: Eine unsachliche und damit das Gebot der Sachlichkeit verletzende Bewertung soll vorliegen, wenn der Prüfer seiner Verärgerung über schwache Prüfungsleistungen freien Lauf lässt und damit die Gelassen‑ heit und emotionale Distanz verliert, ohne die eine gerechte Bewertung schwerlich gelingen könne1219. Hingegen sei die Schwelle zum Rechtsver‑ stoß noch nicht zwingend überschritten, wenn der Prüfer sich einer drasti‑ schen Ausdrucksweise bediene, wenn er mit deutlichen Randbemerkungen auf schlechte schriftliche Leistungen reagiere oder ein Ausrutscher oder eine Entgleisung nur gelegentlich vorgekommen seien1220. Unter Berück‑ sichtigung der Tatsache, dass mit dem Sachlichkeitsgebot eben nicht eine unangemessene Wortwahl, sondern ein von übermäßigen Emotionen beein‑ flusster Abwägungsprozess inkriminiert werden soll, ist den eher engen Voraussetzungen, die das Bundesverwaltungsgericht statuiert, im Prinzip zuzustimmen. Klarzustellen ist aber, dass bereits mehrere unsachliche Be‑ merkungen zu dem Eindruck einer insgesamt unsachlichen Begründung führen können, dann aber noch nicht zwingend darauf geschlossen werden kann, dass der Abwägungsprozess unverhältnismäßig von Emotionen ge‑ 1218 Zur Terminologie VGH Mannheim, Urt. v. 10.11.2010 – 9 S 591/10, VBlBW 2011, 189 (191). 1219 BVerwGE 70, 143 (152); 92, 132 (135); BVerwG, Bes. v. 08.03.2012 – 6 B 36/11, NJW 2012, 2054 (2056). 1220 BVerwGE 70, 143 (152); BVerwG, Urt. v. 17.07.1987 – 7 C 118/86, NVwZ 1987, 977 (977), insoweit nicht abgedruckt in BVerwGE 78, 55 (56); BVerwGE 92, 132 (135); BVerwG, Bes. v. 08.03.2012 – 6 B 36/11, NJW 2012, 2054 (2056).
C. Die Erhebung formeller und materieller Bewertungsrügen407
prägt und der Prüfer deshalb an einer sachgerechten Bewertung gehindert war1221. Richtig wäre es daher zu formulieren, dass ein Verstoß gegen das Gebot der rationalen Abwägung jedenfalls auch unter den Voraussetzungen angenommen werden kann, die nach dem Bundesverwaltungsgericht einen Verstoß gegen das Sachlichkeitsgebot begründen. Soweit namentlich auch das Bundesverwaltungsgericht in gewissem Wi‑ derspruch zu den bereits benannten Voraussetzungen, bei denen ein Verstoß gegen das Sachlichkeitsgebot vorliegen soll, im Ausgangspunkt zur Darle‑ gung seines Inhalts ausführt, dass der Prüfer die Prüfungsleistung frei von Emotionen zur Kenntnis nehmen müsse1222, ist dies – mit Verlaub – gera‑ dezu unsinnig, da eine emotionslose Überzeugungsbildung ein Widerspruch in sich ist1223. Tatsächlich wird denn auch im Sinne der vom Bundesverwal‑ tungsgericht letztlich vorgegebenen „Unsachlichkeitsformel“ in der Recht‑ sprechung ein sehr großzügiger Maßstab angelegt1224. So wird es beispiels‑ weise sogar unbeanstandet gelassen, wenn sich die emotional aufgeladenen Prüferbemerkungen „wie ein roter Faden“ durch die Beurteilung zu ziehen scheinen1225. Die Beantwortung der Frage, wann unter den vom Bundesver‑ waltungsgericht benannten Voraussetzungen konkret eine Verletzung des Sachlichkeitsgebots anzunehmen ist, ist notwendigerweise kasuistisch ge‑ prägt. Auf die kaum übersehbare Anzahl der Entscheidungen, in denen diese verneint worden ist, kann und soll hier nicht im Einzelnen eingegan‑ gen werden1226. Wohl aber sollen jedenfalls kurz die bei der Analyse der einschlägigen Entscheidungen identifizierbaren Ursachen benannt werden, die offensichtlich regelmäßig zur Verneinung eines Verstoßes gegen das Sachlichkeitsgebot führen. Hier ist zunächst auf den Umstand hinzuweisen, dass die Instanzgerichte bei der Rüge einer Verletzung des Sachlichkeitsgebots regelmäßig nur eine 1221 Siehe zu dieser richtig benannten Voraussetzung für die Falsifikation der Abwägung OVG Lüneburg, Urt. v. 24.05.2011 – 2 LB 158/10, NordÖR 2012, 98 (102). 1222 BVerwGE 70, 143 (152); 92, 132 (135); BVerwG, Bes. v. 08.03.2012 – 6 B 36/11, NJW 2012, 2054 (2056); siehe auch VGH Mannheim, Urt. v. 10.11.2010 – 9 S 591/10, VBlBW 2011, 189 (191); VG Regensburg, Urt. v. 25.01.2012 – RN 1 K 11.00773, juris, Rn. 42. 1223 Riehm, S. 97. 1224 Siehe etwa OVG Lüneburg, Urt. v. 24.05.2011 – 2 LB 158/10, NordÖR 2012, 98 (101 f.); VG Minden, 04.12.2003 – 2 K 5130/03, juris, Rn. 49; VG Frei‑ burg, Urt. v. 22.07.2009 – 1 K 477/08, juris, Rn. 47; VG Würzburg, Urt. v. 09.03.2015 – W 2 K 14.381, juris, Rn. 39 ff. 1225 VG Berlin, Urt. v. 08.07.2010 – 3 A 4.06, juris, Rn. 28 f. 1226 Siehe etwa die Darstellung bei VG Freiburg, Urt. v. 22.07.2009 – 1 K 477/08, juris, Rn. 47; Schmidt-Räntsch, DRiG, Anhang zu § 5d, Rn. 126.
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isolierte Würdigung der beanstandeten (Rand‑) Bemerkungen des Prüfers vornehmen1227. Nach dem Bundesverwaltungsgericht, wonach der erkennbar freie Lauf der Emotionen für die Annahme von Unsachlichkeit entscheidend sein soll, wäre aber eine Gesamtbetrachtung seiner Äußerungen zwingend geboten1228. Bereits die verengende Perspektive, allein auf die Art der jeweiligen Rand‑ bemerkung abzustellen1229, muss regelmäßig zur Verneinung eines Verstoßes gegen das Gebot der Sachlichkeit im richtig verstandenen Sinne führen. Hin‑ zu kommt aber, dass die Gerichte darüber hinaus keinen Anlass zur Bean‑ standung sehen, wenn die „Zuspitzungen“ des Prüfers in fachliche und sach‑ liche Kritik eingebettet sind und so gesehen einen inhaltlichen Bezug aufwei‑ sen1230. Diese Einschränkung pervertiert unter Berücksichtigung der eigentli‑ chen Zielrichtung des Sachlichkeitsgebots die Voraussetzungen für deren Verletzung geradezu ins Gegenteil, da die Feststellung einer Fehlgewichtung einen Bezug zu dem mit der unsachlichen Prüferkritik monierten Mangel ge‑ rade voraussetzt. Im Übrigen lässt sich ein sachlicher Bezug eigentlich im‑ mer herstellen. Er fehlt nur dann, wenn die Äußerungen des Prüfers auf die Fähigkeiten des Prüflings im Allgemeinen und nicht nur auf die in der Prü‑ fungsarbeit gezeigten abzielen. Entgegen der Annahme einiger Gerichte1231 begründet ein solches personenbezogenes Urteil aber keinen Verstoß gegen das Sachlichkeitsgebot, sondern wie dargelegt einen solchen gegen das Ver‑ bot der Anstellung sachfremder Erwägungen. Davon abgesehen ist festzustel‑ len, dass die Gerichte für die Darlegung eines angeblich vorhandenen sachli‑ chen Bezugs und / oder für die Angemessenheit des verwandten Ausdrucks nicht selten einen erstaunlichen und geradezu skurrilen Aufwand betreiben, mit denen den Prüferbemerkungen dann ein bei objektiver Betrachtung nicht entnehmbarer Sinngehalt beigemessen wird1232. 1227 Siehe etwa OVG Lüneburg, Urt. v. 24.05.2011 – 2 LB 158/19, NordÖR 2012, 98 (101 f.); VG Berlin, Urt. v. 08.07.2010 – 3 A 4.06, juris, Rn. 30 ff. 1228 Siehe hierzu bereits Unger, NordÖR 2012, 71 (76); insoweit zutreffend VG Regensburg, Urt. v. 25.01.2012 – RN 1 K 11.00773, juris, Rn. 42; VGH Mannheim, Urt. v. 10.11.2010 – 9 S 591/10, VBlBW 2011, 189 (191). 1229 Explizit OVG Lüneburg, Urt. v. 24.05.2011 – 2 LB 158/19, NordÖR 2012, 98 (101 f.). 1230 Zur Terminologie und in der Sache VG Berlin, Urt. v. 08.07.2010 – 3 A 4.06, juris, Rn. 2; auch OVG Lüneburg, Urt. v. 24.05.2011 – 2 LB 158/19, NordÖR 2012, 98 (101 f.); HessVGH, Urt. v. 21.05.2012 – 9 A 1156/11, juris, Rn. 40; VG Ham‑ burg, Urt. v. 16.04.2003 – 6 VG 2363/99, juris, Rn. 59; VG Regensburg, Urt. v. 21.05.2012 – RN 1 K 11.00773, juris, Rn. 42. 1231 VGH Mannheim, Urt. v. 10.11.2010 – 9 S 591/10, VBlBW 2011, 189 (191); VG Regensburg, Urt. v. 25.01.2012 – RN 1 K 11.00773, juris, Rn. 42; siehe auch VG Augsburg, Urt. v. 14.04.2005 – Au 3 K 04.94, juris, Rn. 31. 1232 Paradigmatisch VG Berlin, Urt. v. 08.07.2010 – 3 A 4.06.06, juris, Rn. 30 ff.
C. Die Erhebung formeller und materieller Bewertungsrügen409
Im Ergebnis wird damit ganz ähnlich wie bei der Interpretation des dem Prüfling einen Antwortspielraum einräumenden Bewertungsgrundsatzes auch ein Verstoß gegen das Sachlichkeitsgebot von so engen Voraussetzun‑ gen abhängig gemacht, dass dieser in der Praxis kaum mehr bejaht werden kann. Paradigmatisch ist, dass in den wenigen Fällen, bei denen namentlich in jüngerer Zeit ein Verstoß gegen das Sachlichkeitsgebot angenommen worden ist, von einem mit der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsge‑ richtes im Einklang stehenden Kontrollansatz ausgegangen worden ist1233. Klarzustellen ist, dass das hier als Ausprägung des Gebots der rationalen Abwägung verstandene Sachlichkeitsgebot auch für die Bewertung mündli‑ cher Prüfungsleistungen und den sich hier gleichermaßen vollziehenden Ab‑ wägungsprozess gilt. Bei mündlichen Prüfungen ergibt sich aber die Beson‑ derheit, dass der Prozess der Leistungsermittlung und -bewertung im Prinzip uno actu erfolgen. Ein Prüfer, der die Prüfungsleistung hier mit unsachlichen oder gar verletzenden Bemerkungen kommentiert, setzt damit den Prüfling Belastungen aus, aufgrund derer dieser ggf. nicht mehr sein wahres Leis‑ tungsvermögen zeigen kann. Er verstößt damit gegen das aus dem Chancen‑ gleichheitsgrundsatz ableitbare Gebot der Fairness im Prüfungsverfahren1234 und setzt sich zudem dem Vorwurf der Befangenheit1235 aus. Im Ergebnis liegt damit dann ein Verfahrens- und kein Abwägungsfehler vor. 5. Erheblichkeit von Abwägungsfehlern Nachdem die zur Verfügung stehenden (Kontroll‑)Instrumente zur Aufde‑ ckung möglicher Mängel des Abwägungsprozesses nun umfassend vorge‑ stellt worden sind, ist abschließend noch auf die Folgen damit festgestellter Abwägungsfehler für das Abwägungsergebnis einzugehen. 1233 VGH Mannheim, Urt. v. 11.11.2010 – 9 S 591/10, VBlBW 2011, 189 (191); VG Regensburg, Urt. v. 25.01.2012 – RN 1 K 11.00773, juris, Rn. 41 f. 1234 Grundlegend BVerwGE 55, 355 (360); VG Ansbach, Urt. v. 23.04.2009 – AN 2 K 06.02172, juris, Rn. 40; VG Würzburg, Urt. v. 30.03.2011 – W 6 K 10.14. juris, Rn. 25; Vgl. in diesem Kontext v. Golitschek, BayVBl. 1994, 300 (301), der – nicht überzeugend – auch bei schriftlichen Prüfungen einen Verstoß gegen das Sach‑ lichkeitsgebot nur bei leistungsverfälschendem Prüferverhalten annehmen will. Da der Prüfling erst nach Leistungserbringung die unsachlichen Prüferbemerkungen zur Kenntnis nimmt, wäre das Gebot der Sachlichkeit hier ohne jede Bedeutung. 1235 Siehe zum (möglichen) Zusammenhang zwischen einem Verstoß gegen das Sachlichkeitsgebot und einer Befangenheit des Prüfers VGH Mannheim, Urt. v. 10.11.2010 – 9 S 591/10, VBlBW 2011, 189 (191); BayVGH, Urt. v. 14.12.2010 – 7 ZB 10.2108, juris, Rn. 9; OVG Lüneburg, Bes. v. 17.11.2011 – 2 LA 333/10, NordÖR 2012, 102 (104); VG München, Urt. v. 24.09.2007 – M 3 K 07.1919, juris, Rn. 27; VG Frankfurt, Urt. v. 08.11.2011 – 12 K 4300/10.F, juris, Rn. 31; VG Re‑ gensburg, Urt. v. 25.01.2012 – RN 1 K 11.00773, juris, Rn. 50.
410 Kap. 6: Möglichkeiten (gerichtlicher) Kontrolle der Prüfungsentscheidung
a) Einleitung und Grundsätze Bei der Beantwortung dieser Frage ist zunächst davon auszugehen, dass der sein Prüfungsergebnis anfechtende Prüfling regelmäßig entsprechend § 113 Abs. 1, Abs. 5 VwGO die Aufhebung der ihm gegenüber ergangenen Prüfungsentscheidung und die Neubewertung seiner Prüfungsleistung(en) begehrt, deren Korrektur er beanstandet. Dies kann er unter den Vorausset‑ zungen der genannten Vorschriften aber nur verlangen, wenn die Prüfungs‑ entscheidung rechtswidrig ist und ihn in seinen Rechten verletzt. Fraglich ist daher, unter welchen Voraussetzungen dies angenommen werden kann. Insoweit gilt, dass im Determinationsmodell das Vorliegen eines materiellen Rechtsverstoßes im Sinne der zu Unrecht angenommenen Erfüllung eines Tatbestandsmerkmals aufgrund der Konditionalprogrammie‑ rung der zu treffenden Entscheidung ohne Weiteres zu deren Unrichtigkeit und damit zur Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes führt. Demgegenüber obliegt im exekutiven Letztentscheidungsmodell die Auswahl und Gewich‑ tung der zur Entscheidung führenden Gesichtspunkte und damit auch die Festlegung von deren Erheblichkeit für das Entscheidungsergebnis dem je‑ weiligen Beurteiler, weil der Abwägungsprozess vorbehaltlich des einzuhal‑ tenden Abwägungsrahmens offen gestaltet ist. Daher steht im Falle eines dem Prüfer unterlaufenen Abwägungsfehlers auch nicht von vornherein dessen zur (subjektiven) Unrichtigkeit der Abwägungsentscheidung führen‑ de Ergebnisrelevanz und somit die Rechtswidrigkeit der Prüfungsentschei‑ dung fest. Aus dieser Erkenntnis darf indes nicht gefolgert werden, dass eine Aufhebung der Prüfungsentscheidung nur dann in Betracht kommt, wenn erwiesen ist, dass sich ein Abwägungsfehler auf das Abwägungsergeb‑ nis ausgewirkt hat. Denn wie dargelegt lässt sich bei einer aus einem offe‑ nen Abwägungsprozess hervorgegangenen und damit nicht determinierten Entscheidung am Entscheidungsergebnis allein deren Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit nicht feststellen1236. Daher kann nur die Fehlerfreiheit der Entscheidungsfindung die Fehlerfreiheit des Entscheidungsergebnisses ge‑ währleisten1237. Die Sanktionierung aufgedeckter Abwägungsfehler hat da‑ her Rechtsschutz eröffnende Funktion, welche der Prüfling somit unter Berufung auf die Art. 12 Abs. 1 Satz 1, 19 Abs. 4 Satz 1 GG unter dem Gesichtspunkt des zu gewährleistenden Grundrechtsschutzes durch Verfah‑ ren auch prinzipiell beanspruchen kann. Mithin ist im Grundsatz davon auszugehen, dass sich Abwägungsfehler auch auf das Abwägungsergebnis ausgewirkt und damit die Rechtswidrigkeit der Prüfungsentscheidung zur Folge haben. 1236 Siehe
nur BVerwGE 70, 143 (148). 70, 143 (148).
1237 BVerwGE
C. Die Erhebung formeller und materieller Bewertungsrügen411
b) Generelle Erheblichkeit von Mängeln im Abwägungsvorgang im engeren Sinne Für am Maßstab des Gebots der rationalen Abwägung aufgedeckte Abwä‑ gungsfehler und somit für Mängel des Abwägungsvorgangs im engeren Sinne ist richtigerweise uneingeschränkt von ihrer Entscheidungserheblichkeit aus‑ zugehen1238. Denn sowohl im Falle des Vorliegens eines Abwägungsausfalls als auch im Falle einer (abstrakten) Fehlgewichtung erscheint es ausgeschlos‑ sen, dass der Prüfer die Unerheblichkeit dieser Abwägungsfehler plausibili‑ sieren kann. Beim Vorliegen eines Abwägungsausfalls könnte ihm das nur dann gelingen, wenn er erklärt, dass er von vornherein auf eine bestimmte Bewertung festgelegt war. In diesem Fall wäre die Prüfungsentscheidung aber jedenfalls wegen der damit erkennbar werdenden Befangenheit des Prü‑ fers aufzuheben1239. Liegt eine Fehlgewichtung von Abwägungsgesichts‑ punkten vor, ist damit auch zugleich deren Erheblichkeit festgestellt. Denn wenn ausweislich der Bewertungsbegründung unter Einschluss etwaiger Randbemerkungen ein vom Prüfer berücksichtigter Teilaspekt nachvollzieh‑ bar keine Bedeutung für die Gesamtabwägung gehabt hätte, wäre es gar nicht möglich gewesen, objektiv das Vorliegen einer Fehlgewichtung festzustellen. c) Erheblichkeit von Fehlern bei der Zusammenstellung des Abwägungsmaterials Demgegenüber indiziert die Feststellung eines Abwägungsfehlers im wei‑ teren Sinne bei der Zusammenstellung des Abwägungsmaterials nicht ohne Weiteres dessen Relevanz für die Gesamtbewertung. Wie dargelegt geht es bei der Kontrolle dieser Stufe des Abwägungsprozesses nur um die Frage, ob die Abwägungsgesichtspunkte prinzipiell sachgerecht und mit den rich‑ tigen Vorzeichen in die Gesamtabwägung eingestellt worden sind, ohne dass das Maß ihrer Gewichtung dabei eine Rolle spielt, die dann erst bei der soeben behandelten Kontrolle des eigentlichen Abwägungsprozesses im Fokus steht. Wenn der Prüfer Gesichtspunkte heranzieht, die keinen Bezug zur Abwägungsfrage haben oder deren Bedeutung diesbezüglich verkennt, weil er zu Unrecht die fachspezifische Richtigkeit oder Vertretbarkeit einer Teilleistung verneint, ist es durchaus denkbar, dass er in der (ergänzenden) Bewertungsbegründung nachvollziehbar darlegt, dass diese kein ausschlag‑ gebendes Gewicht für die Gesamtbewertung gehabt hätten. 1238 Anders allgemein Gerhardt, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, § 114, Rn. 12; Kopp/Schenke, VwGO, § 114, Rn. 6 a. 1239 Zur in einem solchen Fall anzunehmenden Befangenheit siehe BVerwG, Bes. v. 04.05.1999 – 6 C 13/98, NVwZ 2000, 915 (921).
412 Kap. 6: Möglichkeiten (gerichtlicher) Kontrolle der Prüfungsentscheidung
Trotzdem ist auch bei Fehlern auf der Ebene der Auswahl und (Ein‑)Ord nung des Abwägungsmaterials im Regelfall ihre Kausalität anzunehmen und deren Verneinung als begründungsbedürftige Ausnahme anzusehen. Denn anderenfalls wäre ein effektiver Rechtsschutz des Prüflings nicht mehr ge‑ währleistet. aa) Die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichtes Die Rechtsprechung hat sich aufgrund ihres anders gearteten Kontrollan‑ satzes, bei dem (Abwägungs‑)Fehler in Form von (abstrakten) Fehlgewich‑ tungen maßgeblicher (Abwägungs‑) Gesichtspunkte praktisch keine Rolle spielen, konsequenterweise nur mit der Frage der Kausalität von bei der Zusammenstellung des Abwägungsmaterials unterlaufenen Fehlern beschäf‑ tigt, natürlich aber ohne die Problematik in diese dogmatische Kategorie einzuordnen. Entsprechend der Kontrollformel des Bundesverwaltungsge‑ richtes wird diese als Problem der „Kausalität von Bewertungsfehlern“ be‑ handelt, wobei es dann um Fehler im Rahmen der Sachverhaltsermittlung und fachliche Korrekturfehler geht. Die sich hier stellenden Fragen können aber im Sinne des soeben dargestellten Ansatzes als höchstrichterlich ge‑ klärt angesehen werden, indem das Bundesverwaltungsgericht die folgenden jüngst noch einmal bestätigten1240 Grundsätze aufgestellt hat: Zunächst hat das Bundesverwaltungsgericht in seiner Grundsatzentschei‑ dung zur Beweislastverteilung im Prüfungsrecht und zum Sachlichkeitsgebot klargestellt, dass materielle Fehler beim Entscheidungsvorgang regelmäßig die Rechtswidrigkeit des Entscheidungsergebnisses zur Folge haben. Zu‑ gleich hat es aber darauf hingewiesen, dass nichts dagegen einzuwenden sei, wenn die Rechtsordnung ausnahmsweise auch materielle Fehler ohne Sank‑ tion lasse, sofern sich diese nicht auf das Entscheidungsergebnis ausgewirkt hätten1241. Viele Jahre später hat dann das Bundesverfassungsgericht – ohne auf diese Entscheidung Bezug zu nehmen – im Juristen-Beschluss wie selbstverständlich ausgeführt, dass eine gerichtliche Korrektur der Prüfungs‑ entscheidung ohnehin nur dann in Betracht komme, wenn sich ein Bewer‑ tungsfehler auf die Notengebung ausgewirkt haben kann. Die Verwaltungs‑ gerichte müssten daher eine solche Kausalitätsprüfung vornehmen, die ihnen bei Verfahrensfehlern bereits geläufig sei1242. Daran anknüpfend hat das Bundesverwaltungsgericht dann einige Jahre später in seiner ersten Grundsatzentscheidung zu Kausalitätsfragen ausge‑ 1240 BVerwG,
Bes. v. 14.09.2012 – 6 B 35/12, NVwZ-RR 2013, 42 (44). 70, 143 (148). 1242 Vgl. BVerfGE 84, 34 (55). 1241 BVerwGE
C. Die Erhebung formeller und materieller Bewertungsrügen413
führt, dass die Gerichte auch nach der Feststellung materieller Prüfungsfeh‑ ler in der Gestalt von Korrektur- und Bewertungsfehlern zu prüfen hätten, ob Auswirkungen dieser Fehler auf das Ergebnis der Prüfungsentscheidung ausgeschlossen werden könnten. Wenn dies mit der erforderliche Gewissheit festgestellt werden könne, folge – wie bei unwesentlichen Verfahrensfeh‑ lern – aus dem Grundsatz der Chancengleichheit, dass ein Neubewertungs‑ anspruch nicht bestehe, weil sich die Prüfungsentscheidung im Ergebnis als zutreffend und damit als rechtmäßig darstelle1243. Zugleich sind in dieser ersten Grundsatzentscheidung aber die den Ge‑ richten im Rahmen der Kausalitätsprüfung gesetzten Grenzen aufgezeigt worden. Zunächst indem der selbstverständliche Hinweis erfolgte, dass bei ihrer Vornahme der Bewertungsspielraum der Prüfer ebenso zu beachten sei wie bei der Überprüfung, ob die Bewertung des Prüfers auf einem (fachli‑ chen) Korrekturfehler beruht. In Konkretisierung dieses (abstrakten) Grund‑ satzes wurde dann weiter ausgeführt, dass es den Gerichten aufgrund des zu respektierenden Bewertungsspielraums der Prüfer daher (konkret) verwehrt sei, die Auswirkungen eines Korrekturfehlers aufgrund diesbezüglich selbst angestellter prüfungsspezifischer (Be‑)Wertungen zu verneinen1244. Nachdem diese Rechtsprechung in einem kurz darauf folgenden Beschluss bestätigt wurde, erfolgte in einer zwei Jahre später ergangenen weiteren – wenn nicht der – Grundsatzentscheidung zur Kausalitätsproblematik zu‑ nächst eine Verfeinerung der bisherigen Grundsätze dergestalt, dass eine Kausalitätsprüfung nur bei gegebener Veranlassung vorzunehmen und damit eben nicht obligatorisch sei. Im Übrigen und vor allem wurden einige Prä‑ zisierungen vorgenommen, die im Kern in der Vorgabe bestehen, dass die Gerichte sich die erforderliche Gewissheit über die Unerheblichkeit eines Korrekturfehlers nur anhand objektiver Kriterien und im Wertungsbereich allenfalls noch in Evidenzfällen verschaffen dürfen1245. Solche vom Bundes‑ verwaltungsgericht ausdrücklich als Ausnahme bezeichneten Fälle sollen abgesehen von dem Fall, dass rein rechnerisch eine Verbesserung der Note ausgeschlossen ist, vorliegen, wenn es nach der ausdrücklich oder sinnge‑ mäß zum Ausdruck gebrachten Sichtweise des Prüfers auf den zu Unrecht vorgebrachten Kritikpunkt in der Gesamtbewertung wegen (zahlreicher) anderer gewichtiger Fehler (im unteren Notenbereich) nicht mehr angekom‑ men ist oder wenn ein Korrekturfehler – z. B. eine Randbemerkung – offen‑ sichtlich nur eine Belanglosigkeit oder Beiläufigkeit betrifft, die für den Sachkundigen zweifelsfrei eine Marginalie ohne jedes Gewicht darstellt, 1243 Vgl.
zum Ganzen BVerwGE 105, 328 (332). zum Ganzen BVerwGE 105, 328 (333). 1245 Vgl. zur Terminologie BVerwG, Bes. v. 14.09.2012 – 6 B 35/12, NVwZ-RR 2013, 42 (44). 1244 Vgl.
414 Kap. 6: Möglichkeiten (gerichtlicher) Kontrolle der Prüfungsentscheidung
etwa bei unerheblichen Formfehlern. Dies gälte aber nur, wenn es zugleich auch an jeglichem Anhaltspunkt dafür fehle, dass der Prüfer dies in seiner subjektiven Gewichtung vielleicht doch anders gesehen hätte. Schließlich hat das Bundesverwaltungsgericht noch den Fall benannt, dass nur die Be‑ gründung für den in der Sache zu Recht gerügten fachlichen Korrekturman‑ gel (ursprünglich) falsch gewesen ist.1246. Weitere Verfeinerungen der vorstehenden Rechtssätze, mit denen die Möglichkeiten und Grenzen der den Gerichten im Grundsatz obliegenden Kausalitätsprüfung abgesteckt werden, sind auf höchstrichterlicher Ebene auch in der jüngsten Entscheidung nicht vorgenommen worden. bb) Bewertung der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichtes und eigener Ansatz Dieser Kausalitätsrechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichtes kann nur im Kern zugestimmt werden. (1) Der dogmatische Ausgangspunkt der Kausalitätsprüfung Zunächst vermag deren dogmatischer Ausgangspunkt nicht zu überzeu‑ gen, nach dem im Falle eines für die Gesamtbewertung unerheblichen Be‑ wertungsfehlers der Grundsatz der Chancengleichheit einer Neubewertung der Prüfungsarbeit entgegenstünde. Denn wenn sich aus der mitgeteilten subjektiven Sicht des Prüfers und auch nach objektiver Betrachtung des Gerichts der Korrekturmangel nicht auf die Bewertung ausgewirkt hat, er‑ scheint es schlichtweg ausgeschlossen, dass der Prüfer dennoch wegen dieses irrelevanten (Kritik‑) Punktes die Bewertung anhebt. Mindestens ebenso unwahrscheinlich ist es im Hinblick darauf, dass die Prüfer selbst bei gerichtlicherseits festgestellten Bewertungsfehlern und somit erkennbar berechtigten Einwendungen des Prüflings die Bewertung häufig dennoch nicht anheben, dass eine Korrektur der Note nur aus Mitleid oder anderen sachfremden Erwägungen erfolgt. Angesichts dessen ist der Chancengleich‑ heitsgrundsatz im Falle einer evidenten Irrelevanz des im Prinzip zu Recht beanstandeten Korrekturmangels ersichtlich nicht berührt. Richtigerweise wäre als verfassungsrechtlich geschütztes und entgegenstehendes Rechtsgut die Effektivität des Prüfungswesens und das daraus resultierende objektivrechtliche Gebot zu benennen, den Prüfer vor unnützer Arbeit zu schützen. Allerdings stellt die Ablehnung eines Neubewertungsanspruchs im Falle 1246 Vgl. zum Ganzen BVerwG, Urt. v. 04.05.1999 – 6 C 13/98, NVwZ 2000, 915 (919 f.).
C. Die Erhebung formeller und materieller Bewertungsrügen415
einer evidenten Unerheblichkeit des Korrekturfehlers schon gar nicht das Ergebnis einer Güterabwägung dar. Überzeugender ist es, in diesem Fall einen Neubewertungsanspruch schlicht wegen der nicht falsifizierbaren Ab‑ wägungs- / Prüfungsentscheidung und der damit auch fehlenden Rechtsver‑ letzung abzulehnen. In manchen einem Fall ist womöglich sogar schon die Zulässigkeit der Klage wegen einer fehlenden Klagebefugnis bzw. eines fehlenden Rechtsschutzbedürfnisses zu verneinen. Dieser mag etwa gegeben sein, wenn der Prüfling nur eine Klausurbewertung angreift und die Erheb‑ lichkeit der gerügten Korrekturfehler für das Gesamtergebnis schlechter‑ dings ausgeschlossen erscheint. Jedenfalls bleibt für eine Güterabwägung nur Raum, wenn Unsicherheiten hinsichtlich der Auswirkungen des Korrek‑ turmangels auf das Gesamtergebnis bestehen. Diese ist aber mit den hier und vom Bundesverwaltungsgericht entwickelten Grundsätzen bereits mit einem für den sein Prüfungsergebnis anfechtenden Prüfling positiven Ergeb‑ nis des Inhalts vorgenommen worden, dass dann zu dessen Gunsten von der Ergebnisrelevanz ausgegangen werden muss. (2) D ie vom BVerwG benannten Ausnahmefälle mangelnder Kausalität des (Abwägungs‑)Fehlers Nach diesen gebotenen Klarstellungen im dogmatischen Ansatz sind nun noch die vom Bundesverwaltungsgericht für die Annahme der Irrelevanz eines Korrekturfehlers benannten Rechtssätze zu beleuchten und auf ihre Überzeugungskraft hin zu untersuchen. Der Fall der rechnerisch ausgeschlossenen Notenverbesserung Hier gilt hinsichtlich der verneinten Kausalität im Falle einer schon rechnerisch ausgeschlossenen Notenverbesserung, dass damit nicht die Er‑ heblichkeit des Abwägungsfehlers bzw. die Kausalität des Bewertungsfeh‑ lers im engeren Sinne, sondern dessen Einfluss auf die Rechtmäßigkeit der Prüfungsentscheidung im weiteren Sinne angesprochen ist. Fehlt dieser, ist – wie bereits angedeutet – die Klage möglicherweise bereits unzulässig, jedenfalls aber unbegründet, weil dann die Prüfungsentscheidung rechtmä‑ ßig ist und damit die Voraussetzungen der §§ 113 Abs. 1, Abs. 5 VwGO nicht vorliegen. Dies lässt die Erheblichkeit möglicher Abwägungs- bzw. Bewertungsfehler auf die konkret getroffene Abwägungs- bzw. Bewer‑ tungsentscheidung aber unberührt, so dass der erste vom Bundesverwal‑ tungsgericht benannte Ausnahmefall nicht in diesen Kontext gebracht wer‑ den sollte.
416 Kap. 6: Möglichkeiten (gerichtlicher) Kontrolle der Prüfungsentscheidung
Der „reine Begründungsfehler“ Bei dem vom Bundesverwaltungsgericht benannten Ausnahmefall des „reinen Begründungsfehlers“ stellt sich die Kausalitätsfrage bei richtiger Betrachtung ebenfalls nicht. Denn wenn nur die Begründung für den unter fachspezifischen Gesichtspunkten zu Recht gerügten Mangel (ursprünglich) unzutreffend gewesen ist, hat der Prüfer den Abwägungsgesichtspunkt mit dem richtigen Vorzeichen in die Abwägung eingestellt. Bei einer auch prü‑ fungszweckbezogenen Erwägung liegt dann kein Fehler bei der Zusammen‑ stellung des Abwägungsmaterials vor. Nur beim Vorliegen eines solchen bliebe aber wie ausgeführt Raum für eine Kausalitätsbetrachtung. Dessen ungeachtet kann bei einem „reinen Begründungsfehler“ eine stets ergebnis‑ kausale Fehlgewichtung eines Abwägungsgesichtspunktes vorliegen. Die subjektive Irrelevanzerklärung des Prüfers und deren gerichtliche Plausibilitätskontrolle Und bei dem vom Bundesverwaltungsgericht in der maßgeblichen (zwei‑ ten) Grundsatzentscheidung wiederholt herausgestellten Fall, dass der Prüfer ausdrücklich oder sinngemäß einem Korrekturfehler geringe Bedeutung für die Gesamtbewertung beimisst, ist die sich im Grundsatz stellende Kausali‑ tätsfrage damit im Prinzip bereits beantwortet. Mit einer „bloßen Behaup‑ tung“ des Prüfers ist indes die tatsächliche Unerheblichkeit des mit dem Kor‑ rekturfehler beanstandeten Mangels für die Gesamtbewertung allein noch nicht nachgewiesen1247. Daher muss an die Stelle einer Prüfung der Kausali‑ tät des Bewertungsfehlers diejenige der Plausibilität der diesbezüglich mitge‑ teilten Einschätzung des Prüfers treten. Dieses Erfordernis kommt in der zweiten Grundsatzentscheidung zur (gebotenen) Kausalitätsprüfung nur mit‑ telbar zum Ausdruck, indem implizit die Nachvollziehbarkeit der Erklärun‑ gen des Prüfers verlangt und moniert wird, dass das Berufungsgericht nur auf dessen hypothetische Sicht abgestellt habe1248. In einem noch vor der ersten Grundsatzentscheidung ergangenen – wenig beachteten – Beschluss des Bun‑ desverwaltungsgerichtes sind die Voraussetzungen für die Annahme der Ver‑ bindlichkeit der Erklärungen des Prüfers demgegenüber bereits klar benannt worden. Hiernach müssten die Angaben des Prüfers zur (behaupteten) Uner‑ heblichkeit des Bewertungsmangels plausibel sein und mit seinen schriftli‑ chen Randbemerkungen übereinstimmen. Schließlich soll es noch darauf an‑ kommen, ob die mit der Erklärung des Prüfers zum Ausdruck kommende Gewichtung der Kritik das Bewertungsergebnis noch tragen könne1249. 1247 Vgl. 1248 Vgl.
BVerwG, Bes. v. 11.06.1996 – 6 B 88/95, juris, Rn. 11. BVerwG, Urt. v. 04.05.1999 – 6 C 13/98, NVwZ 2000, 915 (919).
C. Die Erhebung formeller und materieller Bewertungsrügen417
Ermittlung der subjektiven Gewichtung des (Abwägungs‑)Gesichtspunktes Mit dieser vom Bundesverwaltungsgericht verlangten Überprüfung wird den Verwaltungsgerichten in der Sache und völlig zu Recht aufgegeben, die Bewertungsbegründung in der Form, die sie durch die ergänzende(n) Stel‑ lungnahmen des Prüfers erhalten hat, am Maßstab des hier entwickelten Gebots der rationalen Abwägung zu messen. Erforderlich ist daher (zu‑ nächst) eine formale Rationalitätskontrolle in dem Sinne, ob die Erklärung des Prüfers zur fehlenden Kausalität des Bewertungsfehlers schlüssig und nachvollziehbar erscheint. Dies ist insbesondere nur dann der Fall, wenn diese in Einklang steht mit der subjektiven Gewichtung des Mangels, die der Prüfer ausweislich seiner ursprünglichen Korrekturbemerkung vorge‑ nommen hat. Wenn es an ausdrücklichen Hinweisen diesbezüglich fehlt, ist im Rahmen der gebotenen Konsistenz- und Plausibilitätsprüfung eine Aus‑ legung des Ursprungsvotums unter Einschluss der Randbemerkungen vorzu‑ nehmen, bei der insbesondere die Gewichtung der bemängelten Teilleistung in einem etwaigen Anforderungsprofil ein aufschlussreiches Auslegungskri‑ terium darstellen kann1250. Erweist sich dabei die Analyse der Äußerung des Prüfers im Hinblick auf die (ursprüngliche) subjektive Gewichtung des Mangels als unergiebig, bedarf es der Ermittlung der objektiven Bedeutung des Mangels für die Gesamtbewertung. Bestimmung des objektiven Gewichts des Korrekturfehlers Dies führt zu der Anstellung allgemeiner Kausalitätsbetrachtungen im Rahmen der Schlüssigkeitsprüfung und zu der Frage, wann die Kausalität eines Bewertungsfehlers für die Gesamtbewertung ausnahmsweise verneint werden darf. Diese hat das Bundesverwaltungsgericht mit der Benennung der vierten Fallkonstellation, in der dies ausnahmsweise der Fall sein soll, im Wesentlichen bereits beantwortet. Hiernach gilt, dass der Fall einer evi‑ denten Unerheblichkeit in Betracht kommen soll, wenn der Korrekturfehler offensichtlich nur eine Belanglosigkeit oder Beiläufigkeit betrifft, die für den Sachkundigen zweifelsfrei eine Marginalie ohne jedes wirkliche Ge‑ wicht darstellt, etwa bei unerheblichen Formfehlern1251. Als Beispiel für einen solchen Evidenzfall hat das Bundesverwaltungsgericht die in einer Randbemerkung geäußerte Kritik benannt. Dies mag der Grund dafür sein, 1249 Vgl.
BVerwG, Bes. v. 11.06.1996 – 6 B 88/95, juris, Rn. 7, 11. zur gebotenen Auslegung des Votums und Berücksichtigung anderer Umstände bei der Ermittlung der subjektiven Erheblichkeit des Kritikpunktes VG Münster, Urt. v. 30.11.2004 – 10 K 830/01, BeckRS 26623. 1251 BVerwG, Urt. v. 04.05.1999 – 6 C 13/98, NVwZ 2000, 915 (920). 1250 Vgl.
418 Kap. 6: Möglichkeiten (gerichtlicher) Kontrolle der Prüfungsentscheidung
dass in der instanzgerichtlichen Rechtsprechung in die Plausibilitätsprü‑ fung – soweit diese überhaupt vorgenommen und die marginalisierende Erklärung des Prüfers zur Bedeutung des mit dem Korrekturmangel ange‑ sprochenen Bewertungsgesichtspunktes nicht wie üblich ohne nähere Prü‑ fung übernommen wird – etwaige Randbemerkungen des Prüfers nicht einbezogen werden bzw. die Ergebnisirrelevanzerklärung des Prüfers ohne Weiteres für nachvollziehbar erklärt wird, wenn sich die beanstandete Kritik (nur) in einer Randbemerkung befindet. Jedenfalls wird ganz überwiegend davon ausgegangen, dass Randbemerkungen im Allgemeinen von unterge‑ ordneter und für die Gesamtbewertung nur dann von Bedeutung sind, wenn das schriftliche Votum ausdrücklich oder konkludent auf sie Bezug nimmt oder auf sie eingeht1252. Liegen diese Voraussetzungen nicht vor, soll insbesondere nach dem BayVGH nur eine beiläufige, offensichtlich nicht tragende und das Prü‑ fungsergebnis nicht (ohne Weiteres) beeinflussende Prüferkritik vorlie‑ gen1253. Mit diesem Rechtssatz verkehrt aber der BayVGH den vom Bun‑ desverwaltungsgericht im Rahmen der Beschreibung der vierten Fallkonstel‑ lation aufgestellten ins Gegenteil, der im Übrigen auch nicht mit dem bereits referierten Postulat des Bundesverwaltungsgerichtes in Einklang steht, wo‑ nach die Erklärung des Prüfers, dass ein ihm unterlaufener Korrekturfehler für die Gesamtbewertung bedeutungslos gewesen sei, mit dessen Randbe‑ merkungen übereinstimmen müsse. Denn aus diesem Postulat folgt, dass das Bundesverwaltungsgericht auch Kritik in Randbemerkungen grundsätz‑ lich (ohne Weiteres) Bedeutung beimisst. Für die Rechtsauffassung des Bundesverwaltungsgerichtes, wonach auch in Randbemerkungen geäußerte Kritik grundsätzlich bewertungsrelevant ist, mag man anführen, dass ein Prüfer angesichts der Vielzahl der von ihm zu korrigierenden Arbeiten und des damit verbundenen Korrekturaufwands Anmerkungen nur im Falle ihrer Bewertungsrelevanz machen dürfte1254. Mit diesem Gedanken wird im Ergebnis aber nur der hier bereits einge‑ nommene und verfassungsrechtlich abgesicherte Stand- bzw. Ausgangspunkt weiter gestärkt, dass grundsätzlich von der Bewertungsrelevanz jeder Prü‑ ferkritik auszugehen ist. Entscheidend ist letztlich, dass sich im Hinblick 1252 BayVGH, Bes. v. 15.06.2009 – 7 ZB 08.2950, juris, Rn. 12; OVG B.-B., Urt. v. 13.09.2012 – OVG 10 B 5.11, juris, Rn. 78; VG Gelsenkirchen, Urt. v. 23.08.2011 – 18 K 4655/10, juris, Rn. 38; VG Regensburg, Urt. v. 08.08.2012 – RO 1 K 11.800, juris, Rn. 47. 1253 Vgl. BayVGH, Urt. v. 15.06.2009 – 7 ZB 08.2940, juris, Rn. 12, unter Ver‑ weis auf Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 682. 1254 Vgl. zu diesem Gedanken VG Ansbach, Urt. v. 15.10.2009 – AN 2 K 07.02083, juris, Rn. 25.
C. Die Erhebung formeller und materieller Bewertungsrügen419
darauf, dass die Form der Begründung der Bewertung gesetzlich nicht vorgegeben und diese (daher) nicht standardisiert und formalisiert ist, im Rahmen der Schlüssigkeits- bzw. Kausalitätsprüfung jede pauschalierende Betrachtung verbietet1255. Daher lässt sich auch nicht mit Faustformeln des Inhalts operieren, dass Kritik in Randbemerkungen üblicherweise nicht, im abschließenden Votum demgegenüber im Regelfall1256 immer für die Ge‑ samtbewertung relevant sind, auch wenn diese häufig dem tatsächlichen Befund entsprechen mögen. Denn bei einem sehr ausführlichen Votum, das die Vorzüge und Mängel der Prüfungsleistung umfassend benennt, mag man sich ohne Weiteres vorstellen, dass nicht jeder Kritikpunkt für die Gesamt‑ bewertung relevant gewesen ist, während etwa Randbemerkungen bei einem sehr knappen Votum tragend werden können. Jede weitere exemplarische Betrachtung würde sich in einer den Rahmen der Darstellung sprengenden und daher nicht angebrachten Kasuistik verlieren. Für den Fall, dass die an den vorstehenden Kriterien orientierte Kausalitätsprüfung zu dem Ergebnis führt, dass der Einfluss mehrerer festgestellter Kritikpunkte auf die Gesamt‑ bewertung je für sich betrachtet ausgeschlossen werden kann, bedarf es aber noch des generalisierenden Hinweises, dass in dieser Konstellation noch untersucht werden muss, ob nicht unter Schlüssigkeitsgesichtspunkten im Sinne kumulativer Kausalität dann jedenfalls die Ergebnisrelevanz der Kri‑ tikpunkte in ihrer Gesamtheit angenommen werden muss. Im Übrigen ist abschließend darauf hinzuweisen, dass die Schlüssigkeitsprüfung zu dem Ergebnis führen kann, dass sich die Erklärung des Prüfers zur Bedeutungs‑ losigkeit des mit dem Korrekturfehler gerügten Kritikpunktes widerspruchs‑ frei in die bis dahin vorliegende Erklärung zur Gewichtung einordnen lässt, sich im Rahmen der materiellen Rationalitätskontrolle dann aber eine (abs‑ trakte) Fehlgewichtung feststellen lässt. Dies scheint auch das Bundesver‑ waltungsgericht im Sinn zu haben, wenn es ausführt, dass die dann sichtbar werdende Gewichtung des Prüfers das Bewertungsergebnis noch tragen können müsse. Klarzustellen ist aber, dass es sich aus den genannten Grün‑ den bei der Fehlgewichtungskontrolle um keine Kausalitätsprüfung mehr handelt.
1255 Siehe zum ggf, erforderlichen Einbezug von Randbemerkungen in die Schlüssigkeitsprüfung auch die zutreffenden Ausführungen von v. Golitschek, Bay VBl. 1994, 257 (262). 1256 Vgl. zur Relevanz von im Schlussvotum aufgeführten Kritikpunkten für die Gesamtbewertung etwa auch VG Hamburg, Urt. v. 16.04.2003 – 6 VG 2363/99, juris, Rn. 36.
420 Kap. 6: Möglichkeiten (gerichtlicher) Kontrolle der Prüfungsentscheidung
Objektiv feststellbare Irrelevanz des (Abwägungs‑)Fehlers Wenn der Prüfer – was eher unüblich ist – bis zum Ende des (gericht‑ lichen) Verfahrens keinerlei Angaben zur subjektiven Erheblichkeit des zu Unrecht bemängelten Punktes für die Gesamtbewertung gemacht hat, muss der Einfluss desselben rein objektiv bestimmt werden. Dies führt dann zu einer Kausalitätsprüfung in der soeben dargestellten Art und Weise, die das Bundesverwaltungsgericht möglicherweise allein vor Augen gehabt hat, als es insbesondere die evidente Unerheblichkeit eines Korrekturfehlers als Beispiel für die ausnahmsweise zu verneinende Kausalität benannt hat.
Kapitel 7
Das verwaltungsinterne Kontrollverfahren (Überdenkungsverfahren) A. Einleitung und Überblick Das vorangegangene Kapitel hat gezeigt, dass selbst bei sachgerechter In‑ terpretation des vom Bundesverfassungsgericht postulierten „Antwortspiel‑ raums des Prüflings“ und der Integration dieses „allgemeinen Bewertungs‑ grundsatzes“ in das die (gerichtliche) Kontrolle der Abwägungsentscheidung des Prüfers erweiternde Modell der rationalen Abwägungskontrolle immer noch ein weitreichender, kontrollunzugänglicher Abwägungsspielraum des Prüfers verbleibt. Das daraus resultierende Defizit der (gerichtlichen) Kont‑ rolle der Prüfungsentscheidung gerät mit dem Gewährleistungsgehalt des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG (nur) insoweit in Konflikt, als eine durch eine „sub‑ jektiv unrichtige“ und damit unzweckmäßige Bewertung begründete Verlet‑ zung des Art. 12 Abs. 1 GG mangels hinreichender Kontrollmaßstäbe vom Verwaltungsgericht nicht aufgedeckt und sanktioniert werden kann. Denn das Verfahrensgrundrecht des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG garantiert demjenigen den Rechtsweg, der geltend macht, durch die öffentliche Gewalt in eigenen Rech‑ ten verletzt zu sein. Damit wird nicht nur der Zugang zu den Gerichten, son‑ dern darüber hinaus auch die Wirksamkeit des Rechtsschutzes gewährleistet. Der Bürger hat einen Anspruch auf eine tatsächlich wirksame (gerichtliche) Kontrolle1. Daneben ist auch von dem Schutzbereich des jeweiligen materiel‑ len Grundrechtes und somit auch von demjenigen des Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG unter dem Gesichtspunkt des Effektivitätsgebots unmittelbar das Recht umfasst, die materiellen Gewährleistungen effektiv – gegen den Staat – durch‑ zusetzen2. (Auch) aus der prozeduralen Komponente des Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG lässt sich daher ein Anspruch des Prüflings auf die Bereitstellung eines Verfahrens ableiten, das zur effektiven Durchsetzung der materiellen Gewähr‑ 1 Siehe BVerfGE 84, 34 (53); 84, 59 (77); BVerfG, Bes. v. 10.12.2009 – 1 BvR 3151/07, NVwZ 2010, 435 (437); Bes. v. 04.11.2010 – 1 BvR 3389/08, NVwZ 2011, 486 (489); BVerfGE 129, 1 (20); BVerfG, Bes. v. 08.12.2011 – 1 BvR 1932/08, NVwZ 2012, 694 (695); Huber, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 19 Abs. 4, Rn. 459 f. m. w. N. verfassungsgerichtlicher Entscheidungen. 2 Huber, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 19 Abs. 4, Rn. 364.
422 Kap. 7: Das verwaltungsinterne Kontrollverfahren (Überdenkungsverfahren)
leistungen des Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG geeignet ist. Daher hat das Bundes‑ verfassungsgericht in seiner wegweisenden Entscheidung vom 17.04.1991 den schon mehrfach angesprochenen Anspruch des Prüflings auf die Durch‑ führung eines – später vom Bundesverwaltungsgericht so bezeichneten – „verwaltungsinternen Kontrollverfahrens“ zur hiernach gebotenen Kompen‑ sation der Lücken im (gerichtlichen) Rechtsschutzsystem auch unmittelbar aus Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG bzw. dem hier verankerten Gebot des zu ge‑ währleistenden „Grundrechtsschutzes durch Verfahren“ abgeleitet3. Konkret hat das Bundesverfassungsgericht ausgeführt, dass aufgrund der Intensität des mit der Berufszugangsprüfung erfolgenden Grundrechtseingriffes und der be‑ schränkten gerichtlichen Kontrolle der Prüfungsentscheidung grundrechtliche Verfahrensgarantien unerlässlich seien4. Dem Prüfling müsse daher ein Rechtsbehelf zur Seite stehen, der es ihm ermögliche, auf vermeintliche Irrtü‑ mer und Rechtsfehler der Prüfer rechtzeitig und wirkungsvoll hinzuweisen, um so ein Überdenken der Prüfungsentscheidung erreichen zu können5. Auch wenn sich die Notwendigkeit der Durchführung eines verwaltungs‑ internen Kontrollverfahrens unter dem Gesichtspunkt des Grundrechts‑ schutzes durch Verfahren demnach unmittelbar aus dem Gewährleistungs‑ gehalt des Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG ableiten lässt, so beruht die Existenz dieser Verfahrensgewährleistung doch auch und vor allem auf den Deter‑ minanten, die sich aus der Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG ergeben6. Denn wenn dieser entsprechend im verwaltungsgerichtlichen Verfahren im Rahmen der Überprüfung der Rechtmäßigkeit der streitge‑ genständlichen Prüfungsentscheidung (stets) auch eine Rechtsverletzung durch eine „subjektiv unrichtige“ Einzelbewertung festgestellt und beseitigt werden könnte, entstünde keine kompensationsbedürftige Rechtsschutzlü‑ cke, die über die verfahrensrechtliche Komponente des materiellen Grund‑ rechts – Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG – geschlossen werden müsste. So be‑ trachtet greift die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG, die an sich nur gerichtlichen Rechtsschutz gewährleistet, in das vorgelagerte Verwaltungsverfahren hinein. Dadurch erscheint das verwaltungsinterne Kontrollverfahren (auch) als verlängerter Arm dieser Gewährleistung7. Da‑ her hat das Bundesverwaltungsgericht in seiner die Vorgaben des Bundes‑ 3 Vgl.
BVerwGE 84, 34 (45 f.). BVerwGE 84, 34 (46). 5 Vgl. BVerfGE 84, 34 (46 f., 48 f.). 6 So wohl auch Jochum, S. 69 ff.; anders Lindner, in: Geis, HSchR-Bayern, S. 131, der mehr auf die verfahrensrechtliche Dimension der Art. 12 Abs. 1 Satz 1 und Art. 3 Abs. 1 GG abstellt. 7 Siehe allgemein zur möglichen Vorwirkung des Art. 19 Abs. 4 GG Laubinger, VerwArch 75 (1982), 60 (82 f.); Huber, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 19 Abs. 4, Rn. 489 f.; Jochum, S. 71. 4 Vgl.
A. Einleitung und Überblick423
verfassungsgerichtes umsetzenden Grundsatzentscheidung zum (dort erst‑ mals so bezeichneten) „verwaltungsinternen Kontrollverfahren“ vom 24.02. 1993 auch völlig zutreffend von dessen Komplementärfunktion zur Ergän‑ zung des gerichtlichen Rechtsschutzes gesprochen8, welche es in einer ak‑ tuellen Entscheidung nochmals hervorgehoben hat9. Das Erfordernis der Durchführung eines verwaltungsinternen Kontrollverfahrens lässt sich da‑ her sowohl aus Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG als auch aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG ableiten. Diese Erkenntnis sowie die Komplementär- bzw. Kom‑ pensationsfunktion dieses Verfahrens gilt es zu vergegenwärtigen, weil – wie später noch zu belegen sein wird – daraus Erkenntnisse für die Klä‑ rung der Fragen abgeleitet werden können, welche Voraussetzungen für die Einleitung desselben aufgestellt werden dürfen und welche Anforderungen für die Durchführung desselben sich ergeben. Das Bundesverfassungsgericht hat sich insoweit im Wesentlichen auf die Feststellung beschränkt, dass der Prüfling die Möglichkeit haben müsse, auf vermeintliche Irrtümer der Prüfer und von ihnen möglicherweise be‑ gangene Rechtsfehler rechtzeitig und wirkungsvoll hinzuweisen und ein Überdenken der von ihnen getroffenen Entscheidung zu erreichen10. Anfor‑ derungen für die Durchführung des verwaltungsinternen Kontrollverfahrens sind mittelbar nur insoweit aufgestellt worden, als die Einwände der Be‑ schwerdeführer gegen die erfolgte verwaltungsinterne Kontrolle der Prü‑ fungsentscheidung mit folgenden Ausführungen zurückgewiesen worden sind: „Die zuständigen Justizprüfungsämter haben ihre Kontrollpflicht im Widerspruchs‑ verfahren wahrgenommen. Die Beschwerdeführer konnten ihre Prüfungsakten mit den Protokollen der mündlichen Prüfungen und den Korrekturbemerkungen zu den schriftlichen Arbeiten einsehen. Ihre darauf bezogenen Einwände wurden den beteiligten Prüfern zur Berücksichtigung und Nachkorrektur zugeleitet. Diese ha‑ ben sich eingehend geäußert und dargelegt, warum sie die Kritik der Beschwer‑ deführer – jedenfalls im Ergebnis – für unberechtigt halten.“11
Diesen Ausführungen des Bundesverfassungsgerichtes lassen sich zumin‑ dest Mindestvorgaben für die Durchführung des verwaltungsinternen Kont‑ rollverfahrens entnehmen. Denn die Formulierung „Die Beschwerdeführer konnten“ impliziert, dass mit dem vom Bundesverfassungsgericht festge‑ stellten und der Entscheidung zugrunde liegenden Prozedere des Überden‑ kungsverfahrens zugleich die Mindestanforderungen benannt sind, die an 8 BVerwGE
92, 132 (137). Bes. v. 09.10.2012 – 6 B 39/12, NVwZ-RR 2013, 44 (45); zustim‑ mend Jochum, S. 69 ff. 10 BVerfGE 84, 34 (48). 11 BVerfGE 84, 34 (47). 9 BVerwG,
424 Kap. 7: Das verwaltungsinterne Kontrollverfahren (Überdenkungsverfahren)
die Durchführung desselben zu stellen sind, und sich hiernach wie folgt darstellen: Dem Prüfling muss erstens die Möglichkeit eingeräumt werden, unmittel‑ bar nach der Bekanntgabe der Prüfungsentscheidung Einsicht zu nehmen in seine Prüfungsakte. Die schriftlichen Prüfungsarbeiten müssen mit Korrek‑ turbemerkungen der Prüfer versehen sein und die auf diese bezogenen Einwände des Prüflings müssen den (ursprünglichen) Prüfern zeitnah zuge‑ leitet werden, die sodann dazu verpflichtet sind, sich mit diesen (ausführ‑ lich) auseinanderzusetzen und ihre Bewertung zu überdenken. Nachdem das Bundesverwaltungsgericht in seiner bereits erwähnten Grundsatzentscheidung zum Überdenkungsverfahren dem Prüfling in kraft der Bindungswirkung der bundesverfassungsgerichtlichen Entscheidung (§ 31 BVerfGG) gebotener Revidierung seines ursprünglichen Rechtsstand‑ punktes12 ebenfalls einen aus den Art. 12 Abs. 1 Satz 1, 19 Abs. 4 Satz 1 GG abgeleiteten Anspruch auf die Durchführung eines verwaltungsinternen Kontrollverfahrens zuerkannt hatte, konkretisierte es den Inhalt desselben bzw. die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichtes im Sinne ihrer vorste‑ henden Interpretation wie folgt: „Damit das Verfahren des Überdenkens seinen Zweck, das Grundrecht der Berufs‑ freiheit des Prüflings effektiv zu schützen, konkret erfüllen kann, muss gewähr‑ leistet sein, dass die Prüfer jedenfalls ihre Bewertung von schriftlichen Prüfungs‑ leistungen hinreichend begründen, dass der Prüfling seine Prüfungsakten mit den Protokollen der mündlichen Prüfung und den Korrekturbemerkungen zu den schriftlichen Arbeiten einsehen kann, dass die daraufhin vom Prüfling erhobenen substantiierten Einwände den beteiligten Prüfern zugeleitet werden, dass die Prü‑ fer sich mit den Einwänden des Prüflings auseinandersetzen und, soweit diese berechtigt sind, ihre Bewertung der betroffenen Prüfungsleistung korrigieren sowie alsdann auf dieser – möglicherweise veränderten – Grundlage erneut über das Ergebnis der Prüfung entscheiden.“13
Zugleich entnahm das Bundesverwaltungsgericht der Formulierung des Bundesverfassungsgerichtes, wonach der Prüfling den Prüfern „wirkungs‑ volle Hinweise“ für ein Überdenken geben müsse, dass der Anspruch des Prüflings auf die Durchführung eines verwaltungsinternen Kontrollverfah‑ rens voraussetze, dass er seine Einwände konkret und nachvollziehbar be‑ gründet und in diesem Sinne „substantiierte Einwände“ gegen die Prüferbe‑ merkungen und -bewertungen erhebt14.
12 BVerwG,
Bes. v. 14.03.1988 – 7 B 31/88, NVwZ-RR 1988, 30 (31). 92, 132 (137); BVerwG, Bes. v. 09.10.2012 – 6 B 39/12, NVwZRR 2013, 44 (45). 14 BVerwGE 92, 132 (138 f., 1. Leitsatz). 13 BVerwGE
B. (Defizitäre) Gesetzliche Regelung425
Damit lassen sich die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichtes sowie deren vom Bundesverwaltungsgericht vorgenommene Präzisierungen dahin zusammenfassen, dass der Anspruch des Prüflings auf die Durchführung eines verwaltungsinternen Kontrollverfahrens einerseits durch die Erhebung substantiierter Einwände bedingt ist (Substantiierungsobliegenheit), anderer‑ seits aber voraussetzt, dass der Prüfling eine Begründung der Bewertung seiner Leistungen erhält (Begründungsanspruch), ihm ein Recht auf Einsicht in diese gewährt wird (Akteneinsichtsrecht) und der Anspruch seinem Inhalt nach darauf gerichtet ist, dass die Prüfer ihre Bewertung im Lichte der Einwände des Prüflings überdenken (Prüferbeteiligung). Das Bundesverwaltungsgericht beschränkte sich nun aber nicht auf die Vornahme der vorstehend dargestellten Präzisierungen der Voraussetzungen für die Einleitung und Durchführung des verwaltungsinternen Kontrollver‑ fahrens, sondern nahm wegen der wesentlichen Bedeutung desselben für die Verwirklichung des von den Art. 19 Abs. 4 Satz 1, Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG dem Prüfling garantierten Rechtsschutzes den parlamentarischen Gesetzge‑ ber unter Berufung auf die Wesentlichkeitslehre des Bundesverfassungsge‑ richtes zu Recht in die Pflicht, die dargestellten wesentlichen Merkmale des Verfahrens des Überdenkens selbst zu regeln15.
B. (Defizitäre) Gesetzliche Regelung des verwaltungsinternen Kontrollverfahrens Diesem unmissverständlichen Regelungsauftrag des Bundesverwaltungs‑ gerichtes sind die Landesgesetzgeber jedenfalls insoweit nachgekommen, als in jedem Bundesland für den Prüfling die Möglichkeit geschaffen worden ist, Einwendungen gegen die Bewertung seiner Prüfungsleistungen in der Ersten und Zweiten juristischen (Staats‑)Prüfung im Rahmen eines Widerspruchsoder Nachprüfungsverfahrens vorprozessual zu erheben. Nach mehreren No‑ vellierungen stellen sich die Regelungen im Einzelnen heute wie folgt dar: Die Normierungen in Niedersachsen16, Bremen17, Hessen18, Mecklenburg15 BVerwGE
92, 132 (140 f.). Abs. 5 NJAG: „Einwendungen gegen Verwaltungsakte, denen eine Be‑ wertung von Prüfungsleistungen zugrunde liegt, werden in einem Vorverfahren nachgeprüft.“ 17 § 12 Abs. 4 Satz 2, 3 JAPG Bremen: „Das Justizprüfungsamt entscheidet über Widersprüche gegen Entscheidungen der Prüfungskommission sowie über Widersprü‑ che gegen die Versagung der Zulassung zur mündlichen Prüfung. Die Nachprüfung ist beschränkt auf die Prüfung der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Entscheidung.“ 18 § 23 JAG Hessen: „Gegen Verwaltungsakte, denen eine Bewertung von Prü‑ fungsleistungen zugrunde liegt, findet ein Widerspruchsverfahren statt“. 16 § 13
426 Kap. 7: Das verwaltungsinterne Kontrollverfahren (Überdenkungsverfahren)
Vorpommern19, Thüringen20, Sachsen21, Schleswig-Holstein22, Berlin23, Bran‑ denburg24 und Baden-Württemberg25 beschränken sich schlicht auf die Festle‑ gung, dass gegen Verwaltungsakte des (Landes‑)Justizprüfungsamtes (denen eine Bewertung von Prüfungsleistungen zugrunde liegt) Widerspruch erhoben werden kann. Die Regelungen in den genannten Ländern differieren lediglich in der Formulierung, nicht aber in der Sache. Lediglich in Rheinland-Pfalz26, Nordrhein-Westfalen27, im Saarland28 und in Sachsen-Anhalt29 ist ausdrück‑ 19 § 17 JAG M-V: „Gegen Verwaltungsakte, denen eine Bewertung von Prü‑ fungsleistungen zugrunde liegt, findet ein Widerspruchsverfahren statt“. 20 § 5 ThürJAG: „Gegen Verwaltungsakte, denen eine Bewertung von Prüfungs‑ leistungen zugrunde liegt, findet ein Widerspruchsverfahren statt“. 21 § 3a SächsJAG: „Gegen die Entscheidung über das Ergebnis der staatlichen Pflichtfachprüfung und 2. jur. Staatsprüfung findet das Widerspruchsverfahren statt“. 22 § 29 JAVO S.-H.: „Gegen abschließende Entscheidungen der Justizprüfungs‑ ämter findet der Widerspruch statt“. 23 § 22 Satz 1 JAG: „Gegen Verwaltungsakte, denen eine Bewertung von Prü‑ fungsleistungen zugrunde liegt, kann Widerspruch erhoben werden“. 24 § 22 Satz 1 Bbg. JAG: „Gegen Verwaltungsakte, denen eine Bewertung von Prüfungsleistungen zugrunde liegt, kann Widerspruch erhoben werden“. 25 § 4 JAG Baden-Württemberg: „Gegen Verwaltungsakte des Landesjustizprü‑ fungsamtes findet ein Vorverfahren statt. Über den Widerspruch entscheidet das Landesjustizprüfungsamt. Dabei werden Bewertungen der Prüfer durch das Landes‑ justizprüfungsamt nur auf Rechtmäßigkeit überprüft.“ 26 Die Regelungen in Rheinland-Pfalz finden sich in den §§ 5 Abs. 3, 7 Abs. 4 JAG RLP und § 9 Abs. 6 JAPO RLP. § 5 Abs. 3 JAG RLP hat folgenden Wortlaut: „Gegen die Bewertung einzelner Prüfungsleistungen und die abschließende Prü‑ fungsentscheidung kann innerhalb eines Monats nach der Bekanntgabe des Ergeb‑ nisses Widerspruch erhoben werden. Über den Widerspruch entscheidet die Präsi‑ dentin oder der Präsident des Prüfungsamtes unter Beteiligung der betreffenden Prüfer und Prüfer.“ (Hervorh. d. Verf.); § 9 Abs. 6 Satz 1 JAPO RLP lautet wie folgt: „Ist bei einem Widerspruch gegen die Bewertung einer Prüfungsleistung ein Bewertungsfehler nach summarischer Prüfung nicht ausgeschlossen, so erhält zunächst die Prüferin oder der Prüfer Gelegenheit zur Überprüfung der Einwendungen und Abänderung der Bewertungen. Hält die Präsidentin oder der Präsident des Prüfungsamtes anschließend einen Bewertungsfehler weiterhin für nicht ausge‑ schlossen, so kann sie oder er eine andere Prüferin oder einen anderen Prüfer mit der Bewertung beauftragen.“ (Hervorh. d. Verf.). 27 § 27 Abs. 1 JAG: „Über einen Widerspruch gem. § 68 der VwGO entscheidet die oder der Vorsitzende des Justizprüfungsamtes auf der Grundlage einer einzuholenden Stellungnahme der Personen, die an der Beurteilung beteiligt gewesen sind.“ (Hervorh. d. Verf.). 28 § 18a, § 32a JAG Saarland: „Gegen die Entscheidung über das Ergebnis der staatlichen Pflichtfachprüfung findet das Widerspruchsverfahren gem. § 68 VwGO statt. Über den Widerspruch entscheidet die Präsidentin oder der Präsident des Landes‑ justizprüfungsamtes für Juristen, im Falle von Einwänden gegen die Bewertung einzel‑ ner Prüfungsleistungen auf der Grundlage einzuholender Stellungnahmen der am Zustandekommen der Bewertung beteiligten Prüferinnen und Prüfer.“ (Hervorh. d. Verf.).
B. (Defizitäre) Gesetzliche Regelung427
lich eine Beteiligung der Prüfer in dem hier ebenfalls normierten Wider‑ spruchsverfahren vorgesehen, die Gelegenheit zur Überprüfung der Einwen‑ dungen des Prüflings erhalten bzw. von denen (mit anderen Worten) eine Stellungnahme einzuholen ist. Im hamburgischen Juristenausbildungsgesetz ist eine Regelung gänzlich unterblieben. Die Zulässigkeit des Widerspruchs gegen Prüfungsentscheidungen folgt hier aber aus §§ 6, 7 AGVwGO HH in Verbindung mit § 68 VwGO. Nach § 6 AGVwGO HH sind Verwaltungsakte generell in einem Vorverfahren nachzuprüfen und nach § 7 AGVwGO ent‑ scheidet über den Widerspruch die Behörde, die den Widerspruch erlassen hat. Dies ist in Hamburg das Justizprüfungsamt bei dem Hanseatischen Ober‑ landesgericht und damit keine oberste Landesbehörde im Sinne des § 68 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 VwGO. Einen Sonderweg hinsichtlich der Ausgestaltung des verwaltungsinternen Kontrollverfahrens ist – einmal mehr – Bayern gegangen. Bayern ist das einzige Bundesland, in dem die Rechtmäßigkeit der Prüfungsentscheidung (unter Beteiligung) der Prüfer nicht in einem Widerspruchsverfahren über‑ prüft wird. Der Ausschluss des Widerspruchsverfahrens folgt daraus, dass die Prüfungsbescheide vom Landesjustizprüfungsamt erlassen werden, das dem Bayerischen Staatsministerium der Justiz angegliedert ist30, und damit von einer obersten Landesbehörde im Sinne des § 68 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 VwGO (vgl. auch Art. 15 Abs. 3 Satz 2 AGVwGO Bayern). Gleichwohl besteht auch in Bayern die Möglichkeit einer vorprozessualen Überprüfung der Einwendungen des Prüflings in einem verwaltungsinternen Kontrollver‑ fahren. So kann der Prüfling nach § 14 Abs. 1 JAPO Bayern in einem „Nachprüfungsverfahren“ Einwendungen gegen die Bewertung seiner Prü‑ fungsleistungen erheben. Nach § 14 Abs. 2, Abs. 3 JAPO Bayern sind die Einwendungen innerhalb bestimmter Fristen zu erheben und „konkret und nachvollziehbar“ zu begründen, wobei die Fristen in Abhängigkeit von dem Angriffsgegenstand unterschiedlich ausgestaltet sind. Nach § 14 Abs. 4 JAPO Bayern erfolgt eine Zuleitung der Einwendungen an die Prüfer zur Überprüfung der Berechtigung derselben nur, wenn sie frist- und formge‑ recht im Sinne der vorgenannten Absätze erhoben worden sind. Bestimmte Anforderungen an die Qualität der erhobenen Einwendungen als Voraussetzung der Zuleitung derselben an die Prüfer werden daneben 29 § 8 JAG LSA: „Gegen die Feststellung des Ergebnisses der staatlichen Pflicht‑ fachprüfung und gegen die Feststellung des Gesamtergebnisses der ersten juristi‑ schen Staatsprüfung durch das Landesjustizprüfungsamt findet das Widerspruchsver‑ fahren gem. § 68 der VwGO statt. Über den Widerspruch entscheidet der Präsident des Landesjustizprüfungsamtes. Bei Angriffen gegen die Beurteilung einer Prüfungs‑ leistung entscheidet er auf der Grundlage einer Stellungnahme der Prüfer, die die Leistung bewertet haben.“ (Hervorh. d. Verf.). 30 Siehe § 6 Abs. 1 JAPO Bayern.
428 Kap. 7: Das verwaltungsinterne Kontrollverfahren (Überdenkungsverfahren)
nur noch in Rheinland-Pfalz aufgestellt. Nach § 9 Abs. 6 JAPO RLP erfolgt eine Beteiligung der Prüfer nur dann, wenn ein Bewertungsfehler nach summarischer Prüfung nicht ausgeschlossen ist. Auf die (nur) in RheinlandPfalz und Bayern getroffenen Detailregelungen des Überdenkungsverfahrens wird im Einzelnen im jeweiligen Sachzusammenhang noch zurückzukom‑ men sein. Hier genügt die Feststellung, dass in beiden Bundesländern eini‑ ge wesentliche Merkmale des verwaltungsinternen Kontrollverfahrens im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichtes gesetzlich gere‑ gelt worden sind. Immerhin noch diesbezügliche Regelungsansätze sind in denjenigen Bundesländern auszumachen, in denen eine Beteiligung der Prüfer im Widerspruchsverfahren ausdrücklich vorgesehen ist. Soweit sich im Übrigen aber das gesetzgeberische Tätigwerden auf die bloße Eröffnung des Widerspruchsverfahrens beschränkt hat, ist der vom Bundesverwal‑ tungsgericht in Konkretisierung der abstrakten Vorgaben der Wesentlich‑ keitslehre des Bundesverfassungsgerichtes formulierte Regelungsauftrag ganz offensichtlich verfehlt worden. Dies gilt selbst bei weitherziger Inter‑ pretation der (nur) auf den ersten Blick strengen Vorgaben der Wesentlich‑ keitslehre im Sinne des bereits oben dargelegten Verständnisses des Bundes‑ verfassungsgerichtes, wonach es ausreichend sein soll, wenn sich die gefor‑ derten parlamentarischen Leitentscheidungen unter Anwendung der aner‑ kannten Auslegungsmethodik aus den einschlägigen Vorschriften entnehmen lassen31. Denn eine den Vorgaben des Bundesverfassungs- und Bundesver‑ waltungsgerichtes annähernd gerecht werdende verwaltungsinterne Kontrol‑ le war zuvor nur in denjenigen Bundesländern durchgeführt worden, in denen wie in Hamburg und Niedersachsen32 das Widerspruchsverfahren nicht ausgeschlossen war33. Im Übrigen aber wurde vor allem durch die obligatorische Prüferbeteiligung im Falle der Erhebung substantiierter Ein‑ wände des Prüflings vor einem gerichtlichen Streitverfahren etwas wesent‑ lich Neues eingeführt, so dass der parlamentarische Gesetzgeber auch unge‑ achtet des vom Bundesverwaltungsgericht konkret formulierten Regelungs‑ auftrags umso mehr zur Regelung aufgerufen gewesen wäre.
31 BVerfGE
80, 1 (21); 58, 257 (277). BVerfGE 84, 34 (35 f., 47). 33 Vgl. Seebass, NVwZ 1992, 609 (613) zur teilweise schon vor der Entschei‑ dung des Bundesverwaltungsgerichtes üblichen Praxis, Stellungnahmen der Prüfer einzuholen. 32 Vgl.
C. Voraussetzungen für die Einleitung des Überdenkungsverfahrens429
C. Voraussetzungen für die Einleitung und Durchführung des Überdenkungsverfahrens Infolge der überwiegend nur rudimentär erfolgten Regelung des Überden‑ kungsverfahrens in den Juristenausbildungsgesetzen bzw. -ordnungen sind für die Frage, welche Voraussetzungen für die Einleitung und Durchführung desselben bestehen, in erster Linie die vom Bundesverwaltungsgericht kon‑ kretisierten, vom Bundesverfassungsgericht bereits mittelbar benannten und sich aus den Art. 12 Abs. 1 Satz 1, 19 Abs. 4 Satz 1 GG ergebenden verfas‑ sungsrechtlichen Vorgaben maßgeblich. Soweit wesentliche Merkmale des Verfahrens des Überdenkens im Einzelnen gesetzlich geregelt sind, müssen diese bei bestehender Veranlassung an den verfassungsrechtlichen Vorgaben gemessen werden. Dies sowie vor allem die Konkretisierung der einzelnen wesentlichen Voraussetzungen für die Einleitung und Durchführung des Überdenkungs‑ verfahrens unter Berücksichtigung der bisherigen Entwicklung in Rechtspre‑ chung und Literatur sowie die Bewertung des aktuellen Standes der Dog‑ matik und deren Fortführung unter Entwicklung eigener Ansätze wird Aufgabe des nachfolgenden Abschnitts sein. Dessen Gliederung wird sich dabei an dem tatsächlichen Ablauf einer Prüfungsanfechtung in der Praxis orientieren, bei der sich zunächst die Frage stellt, ob und in welchem Um‑ fang der Prüfling einen Anspruch auf die Gewährung von Akteneinsicht hat, sodann ob die erfolgten Bewertungen seiner Prüfungsleistungen ausreichend begründet worden sind, ob sich substantiierte Einwände gegen die Bewer‑ tung erheben lassen und ob sich schließlich nach deren etwaiger Erhebung die Prüfer mit diesen ausreichend befasst haben und welche Anforderungen insoweit gestellt werden können.
I. Das Recht des Prüflings auf Akteneinsicht 1. Einleitung und Überblick Der Prüfling ist nur dann in den Stand versetzt, substantiierte Einwände gegen die Bewertung im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverwaltungs‑ gerichtes zu erheben, wenn Begründungen für die streitgegenständlichen Bewertungen vorliegen und diese dem Prüfling dadurch zugänglich gemacht werden34, dass ihm zumindest das Recht gewährt wird, Einsicht in die Prüfungsakte zu nehmen35. Dies hat wie ausgeführt (auch) das Bundesver‑ 34 Zimmerling/Brehm, Prüfungsrecht, Rn. 411; Haase, in: Johlen/Oerder, MAH VerwR, § 16, Rn. 304. 35 Vgl. Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 176; Steike, NVwZ 2001, 868 (868).
430 Kap. 7: Das verwaltungsinterne Kontrollverfahren (Überdenkungsverfahren)
waltungsgericht unter Aufgabe seines früheren Standpunktes, wonach im Hinblick auf die Unabhängigkeit der Prüfer auch die Bewertungshinweise und Voten der Prüfer ihrem Wesen nach als geheim anzusehen seien36, in Umsetzung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes anerkannt37. Damit hat das Bundesverwaltungsgericht eine Wende vollzogen, die schon vorher im Sinne der Anerkennung eines Akteneinsichtsrechtes des Prüflings in der Literatur für erforderlich gehalten worden war38. 2. Rechtsgrundlage(n) des Anspruchs und Verhältnis der Regelungen zueinander Heutzutage steht sowohl in der (instanzgerichtlichen) Rechtsprechung als auch in der Literatur außer Frage, dass Prüfungsakten nicht ihrem Wesen nach geheim sind39 und der Prüfling einen Anspruch auf Einsichtnahme in seine Akte hat40. Dieser Anspruch folgt ebenso wie bereits derjenige auf Durchführung eines verwaltungsinternen Kontrollverfahrens unmittelbar aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 und Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG41. Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG gewährleistet nicht nur gerichtlichen Rechtsschutz schlechthin, sondern auch die Effektivität desselben42. Der Bürger hat einen substanti‑ ellen Anspruch auf eine tatsächlich wirksame gerichtliche Kontrolle43. Die‑ se Gewährleistung äußert unter dem Gesichtspunkt des Grundrechtsschutzes 36 BVerwGE
14, 32 (34); 19, 128 (130). 91, 262 (267); 92, 132 (137); BVerwG, Bes. v. 09.10.2012 – 6 B 39/12, NVwZ-RR 2013, 44 (45). 38 Siehe insoweit Guhl, S. 300. 39 Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 192 m. Fn. 116; Zimmerling/Brehm, Prüfungs‑ recht, Rn. 411; Steike, NVwZ 2001, 868 (870); Bonk, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, § 29, Rn. 75; Kopp/Ramsauer VwVfG, § 29, Rn. 37 b. 40 Siehe aus der instanzgerichtlichen Rechtsprechung insbesondere BayVGH, Urt. v. 30.04.1998 – 7 B 97.2986, juris, Rn. 30; VG Freiburg, Bes. v. 20.11.2009 – 4 K 2096/09, juris, Rn. 6; ferner Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 176 und 190 f.; Zimmerling/Brehm, Prüfungsrecht, Rn. 411; Haase, in: Johlen/Oerder, § 16, Rn. 304; Steike, NVwZ 2001, 868 (868). 41 Anders soweit ersichtlich nur Kunz, VerwR 1994, 217 (221), der einen un‑ mittelbar aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG folgenden Anspruch auf die Gewährung von Akteneinsicht ausdrücklich ablehnt. 42 BVerfGE 84, 34 (53); 84, 59 (77); BVerfG, Bes. v. 08.12.2011 – 1 BvR 1932/08, NVwZ 2012, 694 (695); BVerfGE 129, 1 (20); BVerfG, Bes. v. 04.11.2010 – 1 BvR 3389/08, NVwZ 2011, 486 (492); Bes. v. 10.12.2009 – 1 BvR 3151/07, NVwZ 2010, 435 (437); Huber, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 19 Abs. 4, Rn. 459, mit zahlreichen weiteren Nachweisen aus der Rechtsprechung des Bundes‑ verfassungsgerichtes in Fn. 338; Laubinger, VerwArch 73 (1982), 60 (82). 43 BVerfGE 84, 34 (53); 84, 59 (77); BVerfG, Bes. v. 08.12.2011 – 1 BvR 1932/08, NVwZ 2012, 694 (695); BVerfGE 129, 1 (20); BVerfG, Bes. v. 04.11.2010 – 37 BVerwGE
C. Voraussetzungen für die Einleitung des Überdenkungsverfahrens431
durch Verfahren Vorwirkungen auf das dem gerichtlichen Rechtsschutzver‑ fahren vorgelagerte Verwaltungsverfahren44. Das behördliche Verwaltungs‑ verfahren darf nicht so angelegt sein, dass es den (verwaltungs‑)gerichtlichen Rechtsschutz vereitelt oder unzumutbar erschwert45. Es ist vielmehr so zu gestalten, dass der durch die behördliche Maßnahme Betroffene wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz in Anspruch nehmen kann46. Dieselbe Anforde‑ rung lässt sich bereits unmittelbar aus dem Gewährleistungsgehalt des Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG – als unselbstständiger verfahrensrechtlicher Be‑ standteil des materiell-rechtlichen Anspruchs auf eine rechtmäßige Bewer‑ tung der Prüfungsleistung47 – und somit aus dem bereits beschriebenen Effektivitätsgebot als integralem Bestandteil eines jeden Grundrechtes ablei‑ ten48. Aus diesem verfassungsrechtlichen Gebot, effektiven Grundrechts‑ schutz auch durch die Gestaltung des (Verwaltungs‑)Verfahrens zu gewähr‑ leisten49, folgt allgemein die Maxime, dass denjenigen Personen, deren Grundrechte durch den Ausgang des Verwaltungsverfahrens beeinträchtigt werden können, in dem Verfahren all diejenigen Verfahrensrechte einge‑ räumt werden müssen, deren sie bedürfen, um ihre grundrechtlich geschütz‑ ten Rechtsgüter wirksam zu verteidigen50. Hierzu gehört für den Prüfling fraglos das Recht, Einsicht zu nehmen in die Begründung der Leistungsbe‑ wertung, weil ihm wie ausgeführt die Formulierung substantiierter Einwän‑ de gegen die Prüferkritik ansonsten nicht möglich ist. Aufgrund des vom Bundesverwaltungsgericht vollzogenen Rechtspre‑ chungswandels und der im Zuge dessen erfolgten Anerkennung eines ver‑ fassungsrechtlich fundierten Akteneinsichtsrechts des Prüflings sowie in Erfüllung des den Bundesländern für das Überdenkungsverfahren erteilten 1 BvR 3389/08, NVwZ 2011, 486 (492); Bes. v. 10.12.2009 – 1 BvR 3151/07, NVwZ 2010, 435 (437); Laubinger, VerwArch 73 (1982), 60 (82). 44 Vgl. Huber, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 19 Abs. 4, Rn. 489; Laubinger, VerwArch 73 (1982), 60 (82). 45 Vgl. BVerfGE 77, 275 (284); Huber, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 19 Abs. 4, Rn. 489. 46 Laubinger, VerwArch 73 (1982), 60 (82). 47 So die Formulierung und dogmatische Ableitung des Bundesverwaltungsge‑ richtes für den Begründungsanspruch des Prüflings in BVerwGE 99, 185 (189). 48 Siehe bereits Kapitel 3 A. und nochmals Huber, in v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 19 Abs. 4, Rn. 364. 49 BVerfGE 53, 30 (65 f.). 50 Laubinger, VerwArch 73 (1982), 60 (74); siehe auch BVerwGE 99, 185 (189): „Zu dem danach gebotenen Grundrechtsschutz durch Verfahren gehört auch, dass der Prüfling diejenigen Informationen erhält, die er benötigt, um feststellen zu können, ob die rechtlichen Vorgaben und Grenzen der Prüfung, insbesondere der Beurteilung seiner Leistung, eingehalten worden sind.“; siehe auch Müller-Franken, VerwArch 92 (2001), 507 (516 m. Fn. 55).
432 Kap. 7: Das verwaltungsinterne Kontrollverfahren (Überdenkungsverfahren)
Regelungsauftrags ist mittlerweile in den meisten Juristenausbildungsgeset‑ zen bzw. -ordnungen ein Akteneinsichtsrecht des Prüflings auch einfachrechtlich normiert worden51. Als weitere Rechtsquelle eines Informations‑ anspruchs des Prüflings kommt das allgemeine, in § 29 Abs. 1 Satz 1 LVwVfG geregelte Akteneinsichtsrecht der Beteiligten eines Verwaltungs‑ verfahrens in Betracht. Diese Vorschrift ist von der in § 2 Abs. 3 Nr. 2 LVwVfG für das Prüfungsrecht statuierten Bereichsausnahme nicht erfasst, so dass sich der Prüfling grundsätzlich auf diese Vorschrift berufen kann52. Überdies kommt eine Heranziehung des § 100 VwGO in Betracht. Diese Vorschrift räumt zwar nur den Beteiligten eines Verwaltungsprozesses ein (umfassendes) Akteneinsichtsrecht ein, soll nach teilweise vertretener Auf‑ fassung über § 79 Hs. 1 LVwVfG, wonach für förmliche Rechtsbehelfe gegen Verwaltungsakte vorbehaltlich einer abweichenden Regelung die Vorschriften der VwGO anzuwenden sind, aber entsprechend im Wider‑ spruchsverfahren gelten53. Jedenfalls soweit das Überdenkungsverfahren wie ganz überwiegend im Rahmen des Widerspruchsverfahrens durchgeführt wird, kann sich der Prüfling hier also ggf. auf § 79 LVwVfG i. V. m. § 100 VwGO berufen. Diese Möglichkeit dürfte ihm aber auch im Rahmen des in Bayern für die verwaltungsinterne Kontrolle der Prüfungsentscheidung vor‑ gesehenen Nachprüfungsverfahrens eröffnet sein, das ebenfalls als förmli‑ ches Rechtsbehelfsverfahren im Sinne des § 79 LVwVfG anzusehen sein dürfte54. Aufgrund dieser verschiedenen Rechtsquellen eines möglichen Aktenein‑ sichtsrechtes des Prüflings bedarf es zunächst der noch nicht abschließend erfolgten Klärung des Verhältnisses der einzelnen Regelungen zueinan‑ der55. Im Grundsatz gilt, dass jeweils speziell in den Juristenausbildungs‑ gesetzen bzw. -ordnungen ausgestaltete Akteneinsichtsrechte des Prüflings der allgemeinen Regelung in § 29 Abs. 1 Satz 1 LVwVfG nach der Regel 51 § 29 HmbJAG; § 24 LÜ HH, HB, S.-H.; § 3 JPAG Bremen; § 28 JAVO S.H.; § 17 JAB Bbg.; § 28 SächsJAPO; § 32 JAPrVO Sachsen-Anhalt; § 20 NJAG; § 30 ThürJAPO; § 33 JAPO M.-V.; § 15 JAO Saarland; § 23 JAG NRW; § 13 JAPO RLP. 52 Haase, in: Johlen/Oerder, MAH VerwR, § 16, Rn. 304; Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 190. 53 So etwa VG Potsdam, Bes. v. 08.07.2005 – 2 L 185/05, NVwZ-RR 2006, 6 (6); anders Kallerhoff, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, § 79, Rn. 20; Kallerhoff/ Bonk, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, § 29, Rn. 18 m. Fn. 5; Kopp/Ramsauer, VwVfG, § 79, Rn. 34. 54 Vgl. zur Einordnung des Überdenkungsverfahrens im Übrigen Kopp//Ramsauer, VwVfG, § 79, Rn. 15; Kallerhoff, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, § 79, Rn. 22. 55 Diese Frage offen lassend OVG Saarlouis, Bes. v. 08.05.2013 – 2 B 284/13, juris, Rn. 24.
C. Voraussetzungen für die Einleitung des Überdenkungsverfahrens433
lex specialis derogat lex generali vorgehen56. Dieser Vorrang gilt aber nur innerhalb des jeweiligen Anwendungsbereichs der speziellen Vorschriften und soweit innerhalb desselben eine abschließende Regelung des Aktenein‑ sichtsrechtes getroffen worden ist bzw. werden sollte. Folglich bedarf es einer Ermittlung des Regelungsinhalts der speziellen Akteneinsichtsrechte des Prüflings und einer Abgrenzung desselben gegenüber dem in § 29 Abs. 1 Satz 1 LVwVfG geregelten allgemeinen Akteneinsichtsrecht. Wäh‑ rend diese Vorschrift einen Anspruch des Prüflings auf Akteneinsicht von Beginn des Prüfungsverfahrens bis zu dessen vollständigem Abschluss be‑ gründet57, lässt sich nach einer Analyse der in den Juristenausbildungsge‑ setzen bzw. -ordnungen erfolgten Normierungen des Akteneinsichtsrechts des Prüflings feststellen, dass dieses nach zumeist ausdrücklicher Regelung erst ab dem Zeitpunkt der Bekanntgabe der abschließenden Prüfungsent‑ scheidung58 bzw. dem Abschluss des Prüfungsverfahrens59 entsteht60. Damit soll das nach § 29 Abs. 1 Satz 1 LVwVfG weiter gehend auch noch während des laufenden Prüfungsverfahrens bestehende Akteneinsichtsrecht des Prüflings ganz offenbar ausgeschlossen werden61. Da die speziellen Akteneinsichtsrechte unabhängig von einer etwaigen Widerspruchseinlegung eingeräumt werden, liegt der Zweck der einschlägigen Vorschriften im Üb‑ rigen ersichtlich (allein) darin, in Umsetzung der verfassungsrechtlichen Vorgaben dem Prüfling die Möglichkeit zu eröffnen, durch Einsicht in die vorliegenden Begründungen der erfolgten Bewertungen seiner Leistungen die Erfolgsaussichten eines (förmlichen) Rechtsbehelfs abzuschätzen und ggf. substantiierte Einwände gegen die Prüferkritik formulieren zu können62. Diese Intention wird besonders deutlich, soweit das Akteneinsichtsrecht ausdrücklich nur innerhalb eines Monats ab Bekanntgabe der Prüfungsent‑ scheidung und damit bis zum Ablauf der Widerspruchsfrist besteht63. 56 Zur Subsidiarität des § 29 Abs. 1 Satz 1 LVwVfG ggü. speziellen Regelungen im jeweiligen Fachrecht siehe Bonk/Kallerhoff, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, § 29, Rn. 2; Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 190. 57 Siehe zum zeitlichen Geltungsbereich des § 29 LVwVfG Bonk/Kallerhoff, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, § 29, Rn. 1; Kopp/Ramsauer, VwVfG, § 29, Rn. 23. 58 Vgl. § 20 Abs. 1 NJAG; § 30 Abs. 1 ThürJAPO; § 33 Abs. 3 JAPO M-V; § 15 JAO Saarland; § 23 Abs. 2 Satz 3 JAG NRW; § 13 Abs. 3 JAPO RLP; § 31 Abs. 1 Satz 1 JAPG Bremen; § 32 JAPrVO LSA. 59 § 29 Abs. 1 HmbJAG; § 24 Abs. 1 LÜ HH, HB, S.-H. 60 Ohne zeitliche Festlegung des Entstehungszeitpunktes § 17 JAO Berlin/Bran‑ denburg; § 28 Abs. 2 SächsJAPO. 61 Vgl. zu diesem Verständnis auch Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 192. 62 Vgl. insoweit auch OVG Saarlouis, Bes. v. 08.05.2013 – 2 B 284/13, juris, Rn. 24. 63 § 20 Abs. 1 NJAG; § 13 Abs. 3 JAPO RLP; § 29 Abs. 2 Satz 1 HmbJAG; § 24 Abs. 2 Satz 1 LÜ HH, HB, S.-H.; § 28 Abs. 1 JAVO S.-H.; § 32 JAPrVO LSA.
434 Kap. 7: Das verwaltungsinterne Kontrollverfahren (Überdenkungsverfahren)
Damit legt bereits der somit herausgearbeitete Normzweck derjenigen Vorschriften in den Juristenausbildungsgesetzen bzw. -ordnungen, die ein spezielles Akteneinsichtsrecht des Prüflings begründen, nahe, dass deren Anwendungsbereich in zeitlicher Hinsicht auf den Zeitpunkt der Bekannt‑ gabe der Prüfungsentscheidung bis zum Eintritt von deren Bestandskraft bzw. deren Verhinderung durch die Einlegung eines hiergegen gerichteten Widerspruchs begrenzt ist. Mit anderen Worten fehlt es an jeglichem An‑ haltspunkt dafür, dass das im Falle der Einlegung eines förmlichen Rechts‑ behelfs im Sinne des § 79 VwVfG erneut entstehende64 und ggf. weiter gehende Akteneinsichtsrecht des Prüflings aus § 29 Abs. 1 Satz 1 LVwVfG bzw. § 100 VwGO beschränkt oder gar ausgeschlossen werden sollte. Für die wirksame Abbedingung des § 79 VwVfG hätte es aber aufgrund des hier ausgesprochenen Anwendungsvorbehalts im Falle einer anderweitigen ge‑ setzlichen Bestimmung einer ausdrücklichen Regelung bedurft65. Damit kann im Ergebnis festgestellt werden, dass die spezialgesetzlichen Regelun‑ gen des Akteneinsichtsrechtes, wie sie teilweise in den Juristenausbildungs‑ gesetzen und -ordnungen erfolgt sind, das im Widerspruchsverfahren über § 79 LVwVfG neu entstehende Akteneinsichtsrecht unberührt lassen. Auch die in Thüringen in § 30 Abs. 4 ThürJAPO getroffene Regelung, wonach der Prüfling im Falle der Widerspruchseinlegung auf Antrag eine Ablichtung seiner Prüfungsakte gegen Kostenerstattung erhält, konkretisiert nur die Modalitäten der Gewährung der Akteneinsicht, die nach § 29 Abs. 3 Satz 2 Halbsatz 2 LVwVfG im Ermessen der Behörde stehen, und räumt dem Prüfling mehr ein, als er grundsätzlich beanspruchen kann. Nach alledem kann es zu einer Anspruchskonkurrenz zwischen § 29 Abs. 1 Satz 1 LVwVfG, und einer – soweit vorhanden – spezialgesetzlichen Regelung des Akteneinsichtsrechtes in der jeweiligen Prüfungsordnung nur für den Zeitraum ab Bekanntgabe der Prüfungsentscheidung bis zum Eintritt von deren Bestandskraft respektive deren Verhinderung durch Einlegung eines Widerspruchs kommen. Dies allerdings auch nur dann, wenn man – wie hier – die Auffassung vertritt, dass § 29 LVwVfG bis zum Eintritt der Bestandskraft des Verwaltungsaktes und nicht nur bis zum Erlass desselben greift. Für diese spricht, dass ein Wunsch auf Einsichtnahme in die Akten regelmäßig erst nach Bekanntgabe der dann streitgegenständlichen Verwal‑ tungsentscheidung entsteht und zur Beurteilung der Erfolgsaussichten eines Rechtsbehelfs von maßgeblicher Bedeutung ist66. Es wäre mit dem Ge‑ 64 Siehe zur Neuentstehung des Akteneinsichtsrechtes im Widerspruchsverfah‑ ren nur Bonk/Kallerhoff, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, § 29, Rn. 18. 65 Vgl. zur Abdingbarkeit des § 79 LVwVfG bei einer entsprechenden Regelung in einem Spezialgesetz Kallerhoff, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, § 79, Rn. 54 f. 66 Zutreffend Kopp/Ramsauer, VwVfG, § 29, Rn. 23.
C. Voraussetzungen für die Einleitung des Überdenkungsverfahrens435
währleistungsgehalt der Art. 19 Abs. 4 Satz 1, 12 Abs. 1 Satz 1 GG unter dem Gesichtspunkt des zu gewährleistenden Grundrechtsschutzes durch Verfahren unvereinbar, in diesem Stadium ein Akteneinsichtsrecht über § 29 LVwVfG zu verneinen, so dass der von der Verwaltungsentscheidung Be‑ troffene dazu gezwungen wäre, bereits einen Rechtsbehelf einzulegen, um wiederum über § 29 LVwVfG oder § 100 VwGO die begehrte Akteneinsicht zu erhalten67. Die erfolgten speziellen Akteneinsichtsregelungen in den Ju‑ ristenausbildungsgesetzen bzw. -ordnungen erklären sich daher auch vor dem Hintergrund dieses Streits um den zeitlichen Geltungsbereich des § 29 LVwVfG. Soweit nach den vorstehenden Ausführungen ein partieller Geltungs- und Anwendungsvorrang der in den jeweiligen Juristenausbildungsgesetzen und -ordnungen getroffenen speziellen Regelungen des Akteneinsichtsrechtes besteht, kann dieser nur soweit gelten, wie sich diese als verfassungskon‑ forme Ausgestaltung der grundgesetzlich gewährleisteten Informationsrechte des Prüflings darstellen. Im Übrigen sind auch die in § 29 LVwVfG vorge‑ sehenen Modalitäten der Akteneinsicht an den Art. 12 Abs. 1 Satz 1, 19 Abs. 4 Satz 1 GG zu messen und ggf. in deren Lichte auszulegen68. 3. Art und Umfang der Gewährleistung Bevor auf den Regelungsgehalt der einschlägigen Vorschriften sogleich näher einzugehen ist, gilt es zunächst aus praktischer Perspektive den Be‑ fund festzuhalten, dass die Justizprüfungsämter das Akteneinsichtsrecht unterschiedlich handhaben, dieses aber im Falle der anwaltlichen Vertretung des Prüflings und eines bereits laufenden Widerspruchsverfahrens ohne größere Restriktionen gewährt wird69. Der Rechtsanwalt erhält auf sein Akteneinsichtsgesuch hin entweder die Prüfungsakte im Original oder eine vollständige Abschrift derselben, in Hessen indes nur unter anwaltlicher Versicherung, dass insbesondere die Aufgabentexte nicht an Dritte heraus‑ gegeben werden, und in Niedersachsen und in Rheinland-Pfalz und im Zuständigkeitsbereich des Gemeinsamen Prüfungsamtes in Hamburg mit der Auflage eines Kopierverbots, wobei dort bis zuletzt zudem die Aufgaben‑ texte nur auf begründeten Antrag und in den dortigen Räumlichkeiten oder 67 Ähnlich und zutreffend Kopp/Ramsauer, VwVfG, § 29, Rn. 22 b; VG Pots‑ dam, Bes. v. 08.07.2005 – 2 l 185/05, NVwZ-RR 2006, 6 (6). 68 Siehe dazu, dass das verfassungsrechtliche Akteneinsichtsrecht des Prüflings durch einfach-rechtliche Regelungen nicht verkürzt werden darf, Haase, in: Johlen/ Oerder, MAH VerwR, § 16, Rn. 304. 69 Vgl. zur Praxis der Prüfungsämter auch Zimmerling/Brehm, Prüfungsrecht, Rn. 420.
436 Kap. 7: Das verwaltungsinterne Kontrollverfahren (Überdenkungsverfahren)
bei auswärtigen Rechtsanwälten nur bei einem Gericht oder einer anderen Behörde eingesehen werden konnten70. Deutlich restriktiver wird das Akteneinsichtsrecht bei nicht anwaltlich vertretenen Prüflingen und außerhalb eines laufenden Widerspruchsverfah‑ ren gewährt, wobei die Praxis der Prüfungsämter aber nicht unerheblich divergiert. Während in einigen Bundesländern – in Thüringen wie gesehen schon kraft Gesetzes – der Prüfling im Falle der Widerspruchseinlegung eine komplette Abschrift der Prüfungsakte erhält71, ist in anderen Bundes‑ ländern der Prüfling selbst in diesem Fall auf das Recht zur Einsicht in die Akte beim Prüfungsamt beschränkt72. Im Folgenden steht vor allem die Zulässigkeit solcher und anderer Restriktionen des Akteneinsichtsrechtes im Fokus der Erörterungen. a) Anspruchsvoraussetzungen Soweit in den Juristenausbildungsgesetzen bzw. -ordnungen eine speziel‑ le Regelung des Akteneinsichtsrechtes erfolgt ist, handelt es sich um einen gebundenen, abgesehen vom selbstverständlichen Erfordernis der persönli‑ chen Betroffenheit73 voraussetzungslos bestehenden Anspruch, der schlicht nur geltend gemacht werden muss. In diesen Fällen überzeugt es nicht, entgegen dem Normtext als (weitere) allgemeine rechtliche Voraussetzung des Einsichtsrechtes anzunehmen, dass dieses nur besteht, wenn es zur Gel‑ tendmachung oder Verteidigung rechtlicher Interessen erforderlich ist74. Vielmehr ist anzunehmen, dass die speziellen Akteneinsichtsrechte auch der Befriedigung eines allgemeinen Informationsinteresses des Prüflings dienen, was im Übrigen unzweifelhaft ist, wenn diese auch noch nach Bestandskraft der Prüfungsentscheidung bestehen75. Ein besonderes Antragsinteresse darf daher nur verlangt werden, wenn dies – wie in § 24 Abs. 1 der LÜ für die Länder Hamburg, SchleswigHolstein und Bremen – tatbestandlich ausdrücklich vorausgesetzt ist. Diese 70 Zwischenzeitlich gewährt nunmehr auch das GPA ohne besondere Restrik tionen Einsicht in die Aufgabentexte und übersendet auf Anforderung jedenfalls an auswärtige Rechtsanwälte Kopien derselben. 71 So etwa in Hessen und NRW. 72 So insbesondere in Hamburg. 73 Vgl. Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 191; Kallerhoff, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, § 29, Rn. 37. 74 So aber Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 191; Schmidt-Räntsch, DRiG, Anhang zu § 5d, Rn. 63. 75 So in Bremen, § 31 JPAG Bremen: Akteneinsichtsrecht bis zu zwei Jahre nach Bekanntgabe der Prüfungsentscheidung; § 33 Abs. 3 JAPO M-V: 6 sechs Mo‑ nate.
C. Voraussetzungen für die Einleitung des Überdenkungsverfahrens437
Vorschrift erfordert ähnlich wie § 29 Abs. 1 Satz 1 LVwVfG – hier muss die Kenntnis des Akteninhalts zur Geltendmachung oder Verteidigung der rechtlichen Interessen erforderlich sein – die Geltendmachung eines berech‑ tigten Interesses. Der Begriff des „berechtigten“ Interesses ist weiter76 als derjenige des „rechtlichen“ Interesses in § 29 Abs. 1 Satz 1 LVwVfG, so dass bei dem Vorliegen eines rechtlichen auch zugleich ein berechtigtes Interesse gegeben ist. Der Begriff des rechtlichen Interesses ist im Lichte der Art. 19 Abs. 4 Satz 1, 12 Abs. 1 Satz 1 GG auszulegen und somit groß‑ zügig zu interpretieren. Es ist bereits gegeben, wenn die Einsichtnahme bezweckt, eine gesicherte Grundlage für die Verfolgung eines Anspruchs zu erhalten77. Mehr als des Hinweises des Prüflings, er beabsichtige, Anfech‑ tungsmöglichkeiten seines Prüfungsergebnisses zu überprüfen, wird es zur Darlegung eines rechtlichen Interesses im Sinne des § 29 Abs. 1 Satz 1 LVwVfG daher nicht bedürfen78. Ein rechtliches Interesse dürfte daher nur für den theoretischen Fall zu verneinen sein, dass der Prüfling die Höchst‑ note erzielt hat79. b) Zeitpunkt des Entstehens und Erlöschens des Akteneinsichtsrechtes Solange dem Prüfling die Ergebnisse der Bewertung seiner (schriftlichen) Leistungen noch nicht mitgeteilt worden sind, wird er konkrete Überlegun‑ gen zu einer möglichen Anfechtung derselben regelmäßig noch nicht ange‑ stellt und folglich auch noch kein Interesse an einer Akteneinsicht haben80. Dieses entsteht also grundsätzlich erst mit der Eröffnung der Bewertung der (schriftlichen) Leistungen. Hat der Prüfling aufgrund der erzielten Ergebnis‑ se die Voraussetzungen für die Zulassung zur mündlichen Prüfung verfehlt, erfolgt die Ergebnismitteilung im Rahmen der Übersendung eines Nichtbe‑ stehensbescheides. In diesem Fall ist ein Akteneinsichtsrecht des Prüflings unproblematisch auch in denjenigen Bundesländern gegeben, in deren Prü‑ fungsordnungen das Akteneinsichtsrecht des Prüflings dahin ausgestaltet ist, 76 Ein berechtigtes Interesse umfasst jedes öffentlich-rechtliche und privatrecht‑ liche, nach der Sachlage anzuerkennende schutzwürdige Interesse rechtlicher, wirt‑ schaftlicher und ideeller Art, soweit es sich auf das Verfahren bezieht, siehe Bonk/ Kallerhoff, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, § 29, Rn. 47 m. w. N. 77 Bonk/Kallerhoff, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, § 29 Rn. 47 m. w. N. 78 So zu Recht Steike, NVwZ 2001, 868 (869); ähnlich Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 191 m. Fn. 115. 79 Zur Voraussetzung der Verneinung eines berechtigten Interesses im Allgemei‑ nen siehe Bonk/Kallerhoff, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, § 29, Rn. 48 m. w. N. 80 Das schließt natürlich nicht aus, dass aufgrund besonderer Umstände des Einzelfalles bisweilen ein Interesse auf Akteneinsicht gleichwohl besteht. Vgl. zu Beispielsfällen insoweit und zum „berechtigten Interesse“ des Prüflings in diesen Fällen Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 192.
438 Kap. 7: Das verwaltungsinterne Kontrollverfahren (Überdenkungsverfahren)
dass es erst nach Abschluss des Prüfungsverfahrens / ab Bekanntgabe des Prüfungsbescheides entsteht81. Denkbar ist aber auch der häufige Fall, dass ein Prüfling aufgrund der von ihm erzielten Ergebnisse im schriftlichen Teil zur mündlichen Prüfung zugelassen ist, diese für ihn aber im negativen Sinne jenseits seiner Erwar‑ tungen liegen und er daher ein Interesse daran hat, bereits vor der mündli‑ chen Prüfung die Gründe für die erfolgte Bewertung zu erfahren. In dieser Fallkonstellation ist in den vorgenannten Bundesländern wegen des noch nicht abgeschlossenen Prüfungsverfahrens ein Akteneinsichtsrecht des Prüf‑ lings aber ausgeschlossen. Fraglich ist, ob eine derartige Beschränkung des Akteneinsichtsrechtes mit dem Gewährleistungsgehalt der Art. 19 Abs. 4 Satz 1, 12 Abs. 1 Satz 1 GG vereinbar ist. Hierzu sind die schutzwürdigen Belange des Prüflings abzuwägen mit dem (allgemeinen) Interesse an einem Schutz der Funktionsfähigkeit des Prüfungsamtes im Sinne einer ordnungs‑ gemäßen Erfüllung seiner Aufgaben82. Ein rechtliches Interesse des Prüf‑ lings in dem oben bezeichneten Sinne kann ohne Weiteres bejaht werden, da er sich frühzeitig Gewissheit darüber verschaffen kann, ob die Bewertung seiner schriftlichen Prüfungsleistungen mit Aussicht auf Erfolg angefochten werden kann und auf diesem Wege (noch) eine Verbesserung seines späte‑ ren Gesamtergebnisses möglich ist. Zwar würden etwaige vom Prüfling nach einer frühzeitigen Einsichtnahme erhobene Einwendungen gegen die Bewertung seiner schriftlichen Leistungen in diesem Stadium des noch laufenden Prüfungsverfahrens den Prüfern noch nicht zugeleitet werden, da das Überdenkungsverfahren in allen Bundesländern nicht vor der Bekannt‑ gabe der abschließenden Prüfungsentscheidung stattfindet83. Immerhin könnte das Überdenkungsverfahren dann aber unmittelbar nach Abschluss des Prüfungsverfahrens eingeleitet werden, wodurch eine zeitnähere Befas‑ sung der Prüfer mit den Einwänden des Prüflings gewährleistet wäre und diese insoweit wirkungsvoller sein könnten84. Dieser Gesichtspunkt unter‑ streicht, dass ein rechtsschutzwürdiges Interesse des Prüflings an einer 81 So § 29 Abs. 1, 2 HmbJAG; § 24 Abs. 1, 2 LÜ HH, HB, S.-H.: § 28 LAVO S.-H.; § 32 JAPrVO LSA; § 20 Abs. 1 NJAG; § 30 Abs. 1 ThürJAPO; § 5 JAO Saarland; § 23 Abs. 2 Satz 3 JAG NRW; § 13 Abs. 3 JAPO RLP. 82 Vgl. zum gebotenen Schutz der Funktionsfähigkeit der Behörde allgemein Kopp/Ramsauer, VwVfG, § 29, Rn. 30; zum Schutzzweck der eine Akteneinsicht vor Abschluss des Prüfungsverfahrens ausschließenden Vorschriften siehe auch Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 191. 83 Auch in Bayern können Einwendungen im Rahmen des dort in § 14 JAPO geregelten Nachprüfungsverfahrens erst ab Bekanntgabe der Prüfungsentscheidung erhoben werden. 84 Dazu, dass eine zeitnahe Durchführung des Überdenkungsverfahrens die Ef‑ fektivität der verwaltungsinternen Kontrolle steigert, siehe BVerwGE 91, 132 (140).
C. Voraussetzungen für die Einleitung des Überdenkungsverfahrens439
Einsichtnahme in die Akte nach Abschluss der Bewertung der schriftlichen Leistungen und vor der mündlichen Prüfung bestehen kann. Demgegenüber ist nicht ersichtlich, dass die Ermöglichung derselben die ordnungsgemäße Erfüllung der Aufgaben des Prüfungsamtes im Prüfungs‑ verfahren wesentlich beeinträchtigen kann85. Denn nach vollständiger Be‑ wertung der schriftlichen Prüfungsleistungen und Bekanntgabe des hier er‑ zielten Prüfungsergebnisses und erfolgter Ladung des Prüflings zur mündli‑ chen Prüfung ist bis einige Tage vor dem entsprechenden Termin nicht er‑ kennbar, wofür die Prüfungsakte dem Prüfungsamt und / oder den Prüfern zur Verfügung stehen müsste86. Angesichts dieses Befundes bleibt für eine Interessenabwägung kein Raum mehr. Der Prüfling hat auch in dem Stadi‑ um nach Bekanntgabe der Bewertung seiner schriftlichen Prüfungsleistun‑ gen und vor der mündlichen Prüfung und somit dem Abschluss des Prü‑ fungsverfahrens nach hier vertretener Auffassung einen sich aus den Art. 19 Abs. 4 Satz 1, 12 Abs. 1 Satz 1 GG ergebenden Anspruch auf Gewährung von Akteneinsicht87. Entgegenstehende Regelungen in den jeweiligen Juris‑ tenausbildungsgesetzen bzw. -ordnungen dürften mangels in Betracht kom‑ mender verfassungskonformer Auslegung als verfassungswidrig anzusehen sein. Sofern in den Prüfungsordnungen keine spezielle Regelung des Akten‑ einsichtsrechtes erfolgt ist, ergibt sich das Recht auf Einsichtnahme in die Akten vor Abschluss des Prüfungsverfahrens ohne Weiteres aus § 29 Abs. 1 Satz 1 LVwVfG. Wie bereits ausgeführt, ist das Akteneinsichtsrecht des Prüflings, soweit es eine spezielle Ausgestaltung in der jeweiligen Prüfungsordnung erfah‑ ren hat, in allen Bundesländern zeitlich befristet. Auf die obige Darstel‑ lung kann verwiesen werden. Hier ist nur noch einzugehen auf eine be‑ sondere zeitliche Begrenzung des Akteneinsichtsrechtes des Prüflings in Thüringen. Dort muss der Prüfling nach § 30 Abs. 2 Satz 1 ThürJAPO den Antrag auf Akteneinsicht innerhalb von zwei Wochen nach Bekannt‑ gabe des Prüfungsbescheides stellen. Im Falle der Fristversäumung geht der Kandidat nach § 30 Abs. 2 Satz 2 ThürJAPO seines Einsichtsrechtes verlustig. Diese Regelung begegnet verfassungsrechtlichen Bedenken selbst dann, wenn man im Anschluss an obige Ausführungen davon ausgeht, dass das Akteneinsichtsrecht im Falle der Widerspruchseinlegung wieder‑ aber ohne überzeugende Begründung Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 192. dazu, dass dieser Gesichtspunkt einem Akteneinsichtsrecht des Prüf‑ lings prinzipiell entgegenstehen könnte, Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 192. 87 Vgl. auch Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 192, die einen Anspruch des Prüf‑ lings auf Akteneinsicht bejahen bei einer aus selbstständigen Teilen bestehenden Prüfung, wenn deren Ergebnis jeweils schon den Misserfolg der Prüfung begründet oder nur noch als feststehende Größe in das rechnerisch zu ermittelnde Gesamter‑ gebnis einfließt. 85 So
86 Siehe
440 Kap. 7: Das verwaltungsinterne Kontrollverfahren (Überdenkungsverfahren)
auflebt, da das Akteneinsichtsrecht gerade dazu dient, die Erfolgsaussich‑ ten eines Rechtsbehelfs abzuschätzen. Daher ist es mit den Art. 19 Abs. 4 Satz 1, 12 Abs. 1 Satz 1 GG unvereinbar, die Dauer des Akteneinsichts‑ rechtes auf einen kürzeren Zeitraum als den Lauf einer Rechtsbehelfsfrist zu verkürzen88. Daraus folgt zugleich, dass in dem Fall, dass wegen einer fehlenden oder fehlerhaften Rechtsbehelfsbelehrung die Widerspruchsfrist nicht zu laufen begann und keine Bestandskraft des Prüfungsbescheides eingetreten ist, das Akteneinsichtsrecht bis zum Ablauf der in den §§ 70 Abs. 2, 58 Abs. 2 VwGO laufenden Jahresfrist aus verfassungsrechtlichen Gründen fortbestehen muss89. Entgegenstehende gesetzliche Regelungen, die den Lauf der Frist für die Einsichtnahme an die Bekanntgabe der Prü‑ fungsentscheidung binden, sind daher entweder verfassungskonform derge‑ stalt auszulegen, dass eine Bekanntgabe im Sinne der jeweiligen Vor‑ schriften nur bei einer ordnungsgemäßen Rechtsbehelfsbelehrung vorliegt, oder nicht anzuwenden. c) Gegenstand der Akteneinsicht Das Akteneinsichtsrecht ist für den Prüfling nur von Interesse und Wert, wenn die Akte auch die relevanten Informationen enthält, deren er bedarf, um seine Rechte wirksam wahrnehmen zu können. Aufgeworfen damit ist die Frage, auf welche Inhalte sich das Recht des Prüflings auf Akteneinsicht erstreckt und somit diejenige nach dem Gegenstand desselben. Insoweit liegt es zunächst auf der Hand, dass die dem Prüfling auszuhändigenden Unterlagen die jeweiligen Prüfervoten zu den schriftlichen Prüfungsarbeiten und diese selbst jedenfalls dann beinhalten müssen, wenn die Prüfer die Prüfungsarbeit mit Korrektur- / Randbemerkungen versehen haben90. Denn der Prüfling kann substantiierte Einwände gegen die Bewertung nur dann erheben, wenn er die Gründe erfährt, die zu dieser geführt haben91. Aber auch wenn sich die Bewertungsbegründung der Prüfer in einem nicht durch Randbemerkungen ergänzten Wortgutachten erschöpft, erstreckt sich das Einsichtsrecht auch auf die Prüfungsarbeit92. Denn anderenfalls könnte der Prüfling die Berechtigung der Prüferkritik regelmäßig nicht überprüfen. Das gilt insbesondere für den Fall, dass der Prüfer Ausführungen in der Prü‑ fungsarbeit als fehlend moniert. Zimmerling/Brehm, Prüfungsrecht, Rn. 416. Zimmerling/Brehm, Prüfungsrecht, Rn. 416. 90 Vgl. Haase, in: Johlen/Oerder, MAH VerwR, § 16, Rn. 305; Steike, NVwZ 2001, 868 (869). 91 Steike, NVwZ 2001, 868 (870). 92 Schmidt-Räntsch, DRiG, Anhang zu § 5d, Rn. 65. 88 Ähnlich
89 Zutreffend
C. Voraussetzungen für die Einleitung des Überdenkungsverfahrens441
Anhand der Bewertungsbegründungen und der ggf. mit Anmerkungen der Prüfer versehenen Klausur allein wird der Prüfling die Erfolgsaussichten einer Prüfungsanfechtung aber regelmäßig nicht abschätzen und keine sub‑ stantiierten Einwendungen erheben können. So richten sich die erforderli‑ chen Darlegungen in einer Klausur nach dem zur Bearbeitung gestellten Sachverhalt und der gestellten Prüfungsaufgabe, von dessen bzw. deren Auslegung dann auch die Berechtigung der Prüferkritik abhängt, die der Prüfling aber ohne Zurverfügungstellung des Sachverhalts, an dessen Ein‑ zelheiten er sich allenfalls im Einzelfall wird erinnern können93, regelmä‑ ßig nicht wird überprüfen können94. Zu den der Einsicht unterliegenden Bestandteilen der Prüfungsakte gehö‑ ren nach alledem daher zunächst die schriftlichen Prüfungsarbeiten ein‑ schließlich der ggf. vorhandenen Randbemerkungen, die Gutachten / Voten der Prüfer95 sowie die Sachverhalte inklusive der Aufgabenstellung96. Durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken begegnet es daher, wenn spezialgesetzliche Normierungen den Gegenstand des Akteneinsichtsrechtes auf die Aufsichtsarbeiten und die Gutachten der Prüfer beschränken97 und Einsicht in die Sachverhalte nur auf begründeten Antrag gewährt wird98. In der Praxis weit verbreitet ist der Wunsch der Prüflinge, über die ge‑ nannten Unterlagen hinaus auch eine Musterlösung der Klausur zu erhalten. Indes darf es mittlerweile als geklärt angesehen werden, dass sich das Ein‑ sichtsrecht des Prüflings auf eine solche – soweit überhaupt vorhanden – grundsätzlich nicht erstreckt99. Denn dem Prüfling sind wie ausgeführt nur diejenigen Informationen zur Verfügung zu stellen, derer er bedarf, um substantiierte Einwände gegen die Bewertung formulieren zu können. Hier‑ zu zählt eine Musterlösung bzw. zählen generelle Hinweise des Prüfungs‑ amtes an die Prüfer regelmäßig nicht, weil diese den Prüfern nur eine un‑ 93 Ebenso Steike, NVwZ 2001, 868 (870): „Eine Rekonstruktion aus der Erin‑ nerung ist kaum möglich“. 94 Vgl. zutreffend VG Bremen, Bes. v. 25.03.1998 – 7 KV 2915/97, n. v., BU S. 5. 95 Haase, in: Johlen/Oerder, MAH VerwR, § 16, Rn. 305. 96 Ebenso Steike, NVwZ 2001, 868 (870). 97 § 29 Abs. 1 HmbJAG; § 24 Abs. 1 LÜ HH, HB; SH; § 28 Abs. 1 JAVO S.-H. 98 So die Praxis des Gemeinsamen Prüfungsamtes in Hamburg der Länder Hamburg, Bremen und Schleswig-Holstein bei sich auf die Zweite juristische Staats‑ prüfung beziehenden Akteneinsichtsgesuchen. 99 BVerwG, Bes. v. 11.06.1996 – 6 B 88.95, juris, Rn. 4; VG Düsseldorf, Urt. v. 14.11.2003 – 15 K 6773/0, juris, Rn. 26; VG Köln, Urt. v. 16.06.2011 – 6 K 4008/10, NVwZ-RR 2011, 897 (897); Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 198; Zimmerling/Brehm, Prüfungsrecht, Rn. 414; Steike, NVwZ 2001, 868 (870); Haase, in: Johlen/Oerder, MAH VerwR, § 16, Rn. 278.
442 Kap. 7: Das verwaltungsinterne Kontrollverfahren (Überdenkungsverfahren)
verbindliche Hilfestellung geben und nicht das konkrete Prüfungsverfahren betreffen100. Musterlösungen und generelle Lösungshinweise zählen dem‑ gemäß grundsätzlich nicht zu den Verwaltungsvorgängen im Sinne der §§ 29 Abs. 1 Satz LVwVfG, 99 VwGO mit der Folge, dass ein Anspruch auf Einsichtnahme nur besteht, wenn auf sie zur Begründung der Prüfungs‑ entscheidung Bezug genommen wird101. Fraglich aber ist, ob der Prüfling Zugang zu Musterlösungen bzw. Prüfer‑ vermerken unter Berufung auf das jeweils einschlägige Informationszu‑ gangsgesetz begehren kann. Dies hängt von der Ausgestaltung der jeweiligen Regelungen ab, die hier nicht im Einzelnen beleuchtet werden können. Bislang ist ein auf diese gestützter Informationsanspruch von den Verwal‑ tungsgerichten verneint worden102. Dem ist jedenfalls für den Fall zuzu‑ stimmen, dass Prüfungseinrichtungen ausdrücklich vom Anwendungsbereich des jeweiligen Informationszugangsgesetzes ausgenommen sind103. Ebenso wenig zum Prüfungsvorgang und damit zum Bestandteil der Prü‑ fungsakte gehören persönliche Notizen, Skizzen oder sonstige im Vorfeld (der Bewertung) gefertigte Aufzeichnungen des Prüfers104. Entgegen Steike105 bedarf der Prüfling dieser Informationen nicht, um substantiierte Einwände gegen die Bewertung erheben zu können. Wenn die schriftlich fixierten Vorüberlegungen des Prüfers Eingang in die Bewertungsbegrün‑ dung gefunden haben, werden sie mittelbar ohnehin zum Gegenstand der 100 BVerwG, Bes. v. 11.06.1996 – 6 B 88.95, Buchholz 421.0 Nr. 368, 141 (142); Bes. v. 03.04.1997 – 6 B 4/97, Buchholz 421.0 Nr. 379, 177 (178); VG Köln, Urt. v. 16.06.2011 – 6 K 4008/10, NVwZ-RR 2011, 897 (897); OVG Sachsen-An‑ halt, Urt. v. 02.11.2011 – 3 L 312/10, juris, Rn. 19; OVG Saarlouis, Bes. v. 08.05.2013 – 2 B 284/13, juris, Rn. 27; Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 198; Zimmerling/Brehm, Prüfungsrecht, Rn. 414. 101 BVerwG, Bes. v. 11.06.1996 – 6 B 88.95, Buchholz 421.0 Nr. 368, 141 (142); Bes. v. 03.04.1997 – 6 B 4/97, Buchholz 421.0 Nr. 379, 177 (178); OVG Sachsen-Anhalt, Urt. v. 02.11.2011 – 3 L 312/10, juris, Rn. 19; OVG Saarlouis, Bes. v. 08.05.2013 – 2 B 284/13, juris, Rn. 29 (Einsichtsrecht wurde wegen hier vorlie‑ gender Bezugnahme ausnahmsweise bejaht); VG Düsseldorf, Urt. v. 14.11.2003 – 15 K 6737/01, juris, Rn. 26; VG Köln, Urt. v. 16.06.2011 – 6 K 4008/10, NVwZ-RR 2011, 897 (897); Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 198; Zimmerling/Brehm, Prüfungs‑ recht, Rn. 414; Steike, NVwZ 2001, 868 (869); Haase, in: Johlen/Oerder, § 16, Rn. 278. 102 OVG Magdeburg, Urt. v. 02.11.2011 – 3 L 312/10, NVwZ 2012, 310 (310); VG Köln, Urt. v. 16.06.2011 – 6 K 4008/10, NVwZ-RR 2011, 897 (898). 103 Siehe etwa § 2 Abs. 5 ThürIFG; § 2 Abs. 3 IFG NRW, dazu VG Köln, Urt. v. 16.06.2011 – 6 K 4008/10, NVwZ-RR 2011, 897 (898). 104 BayVGH, Urt. v. 18.06.1986 – 3 B 85 A. 2750, BayVBl. 1987, 184 (184); Haase, in: Johlen/Oerder, MAH VerwR, § 16, Rn. 278; Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 199. 105 Steike, NVwZ 2001, 868 (869).
C. Voraussetzungen für die Einleitung des Überdenkungsverfahrens443
Akteneinsicht und der Prüfling kann sich mit ihnen auseinandersetzen. Ist dies nicht der Fall, stellen sie auch keine Gründe dar, die für die Bewertung maßgeblich gewesen sind106. Deshalb können fehlerhafte Vorüberlegungen auch die Rechtmäßigkeit der Bewertung nicht infrage stellen. Diese bemisst sich nur nach den von dem Prüfer im Votum und in den Randbemerkungen angeführten Gründen. Im Übrigen umfasst die Akteneinsicht über die Prüfungsarbeiten etc. hi‑ naus all diejenigen Vorgänge, die für die Beurteilung, ob der Anspruch des Prüflings auf verfahrensfehlerfreie Ermittlung und bewertungsfehlerfreie Beurteilung seiner Leistungen erfüllt worden ist, erforderlich sind107. Dem‑ gemäß erstreckt sich das Akteneinsichtsrecht des Prüflings auch auf die Verwaltungsakte, in der das Zulassungsverfahren, die Meldung des Prüflings zur Prüfung, die Versendung und Abgabe häuslicher Arbeiten, die Bestim‑ mung der Prüfer, die Ladung zu den Klausuren und zur mündlichen Prüfung sowie die Niederschrift über diese dokumentiert sind108. Auch muss dem Prüfling Einsicht gewährt werden in ein regelmäßig nicht bei der Prüfungs‑ akte befindliches Protokoll über den Ablauf der schriftlichen Prüfungen, in dem etwaige Unregelmäßigkeiten aufgrund erhobener Rügen der Prüflinge dokumentiert sind. Das vorstehend dargestellte Akteneinsichtsrecht in seiner gegenständlich-theoretischen Reichweite ist faktisch begrenzt durch die Möglichkeit seiner entsprechenden Gewährung und kann sich praktisch daher nur auf etwas noch Vorhandenes und damit insbesondere nicht auf Prüfervoten und Klausuren erstrecken, die nach Abschluss des Bewertungs‑ verfahrens verloren gegangen sind109. d) Modalitäten und Ort der Einsichtnahme Im Rahmen der Akteneinsicht muss dem Prüfling dem Wortsinn gemäß jedenfalls Gelegenheit zur Durchsicht und Lektüre der (gesamten) Akte gegeben werden110. Es ist aber allgemein anerkannt und jedenfalls verein‑ und zutreffend Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 199 m. Fn. 200. Steike, NVwZ 2001, 868 (869). 108 Haase, in: Johlen/Oerder, MAH VerwR, § 16, Rn. 305. 109 In diesem Fall kann der Prüfling vielfach daher auch keine substantiierten Einwände gegen die Bewertung mehr erheben und bei einem (Teil-)Verlust der Klausur ist eine Neubewertung wegen der fehlenden Beurteilungsgrundlage ohnehin nicht möglich, so dass nur noch eine Neuerbringung der Prüfungsleistung bei nicht ausschließbaren erheblichen Bewertungsfehlern in Betracht kommt. Siehe zu dieser Problematik BVerwGE 78, 367 (371 ff.); BayVGH, Bes. v. 26.02.2014 – 7 ZB 14.28, juris, Rn. 11, und nochmal unten Kapitel 8 E. I. 2. 110 Vgl. zu diesem Recht Haase, in: Johlen/Oerder, MAH VerwR, § 16, Rn. 307; allgemein Bonk/Kallerhoff, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, § 29, Rn. 34. 106 Ähnlich 107 Vgl.
444 Kap. 7: Das verwaltungsinterne Kontrollverfahren (Überdenkungsverfahren)
zelt auch in den speziellen Akteneinsichtsregelungen normiert111, dass das Recht zur Einsichtnahme darüber hinaus auch die Befugnis einschließt, sich Notizen über den Akteninhalt anzufertigen112. Fraglich ist, ob diese soweit reicht, dass der Prüfling den gesamten Inhalt der Akte abschreiben darf. Dies beurteilt sich in erster Linie nach dem Inhalt der (spezialgesetzlichen) Regelung und erscheint im Prinzip ausgeschlossen, wenn nach dieser nur eine Aufzeichnung des Inhalts der Akte gestattet ist113. Denn das Recht zur Aufzeichnung des Inhalts der Akte dürfte im Vergleich zu deren Abschrift, worunter die Erstellung einer wortgetreuen Kopie eines Schriftstücks ver‑ standen wird114, nur die Befugnis zur protokollarischen, skizzenhaften Fest‑ haltung der wesentlichen Aktenbestandteile umfassen115. Im Übrigen ist umstritten, in welchem Umfang sich der Prüfling Notizen machen darf. Die herrschende Meinung tritt insoweit für eine unbegrenzte Befugnis ein116, während teilweise geltend gemacht wird, dass ein Abschrei‑ ben der gesamten Prüfungsakte unzulässig sei, weil hierdurch eine „zweite Prüfungsakte“ entstünde117. Dieser Ansicht ist Steike zu Recht mit den Ar‑ gumenten entgegengetreten, dass erstens durch ein komplettes Abschreiben der Akte keine zweite Akte, sondern nur eine Kopie der ersten entstünde, zweitens nicht klar sei, durch wen und aufgrund welcher Maßstäbe zu ent‑ scheiden sei, wie viel der Prüfling abschreiben darf und schließlich der Prüfling ggf. einer kompletten Abschrift der Akte bedürfe, um überhaupt substantiierte Einwände gegen die Bewertung formulieren zu können118. Von Gewicht ist insbesondere das zuletzt referierte Argument. Dabei ist vor allem zu berücksichtigen, dass die (verlässliche) Beurteilung der Erfolgsaus‑ sichten einer Prüfungsanfechtung dem Prüfling trotz seiner regelmäßig vorhandenen fachspezifischen Kenntnisse allein meist nicht möglich ist. Häufig bedarf er hierzu sachverständiger Hilfe, insbesondere wenn es um die Frage geht, ob ein vom Prüfer beanstandetes Ergebnis, zu dem er in der 111 § 20
Abs. 2 NJAG; § 32 JAPrVO LSA; § 31 Satz 2 JAPB Bremen. Rn. 201; Steike, NVwZ 2001, 868 (870); Kunz, VerwR 1994, 217 (220); Bonk/Kallerhoff, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, § 29, Rn. 34. 113 Siehe § 31 JPAG Bremen; § 32 JAPrVO LSA; § 20 Abs. 2 NJAG. 114 Siehe nur die Definition im Duden http://www.duden.de/rechtschreibung/ Kopie. 115 Die Auslegung des Begriffs der „Aufzeichnung“ in diesem Sinne erscheint zwingend in Bremen und in Niedersachsen, da dem Prüfling dort als Alternative zum Recht, sich eine Aufzeichnung des Akteninhalts anzufertigen, (nur) gestattet wird, sich auszugsweise Abschriften der Beurteilungen anzufertigen, vgl. § 31 JPAG Bremen; § 20 Abs. 2 NJAG. 116 Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 201; Steike, NVwZ 2001, 868 (870). 117 Kunz, VerwR 1994, 217 (220). 118 Steike, NVwZ 2001, 868 (870). 112 Niehues/Fischer/Jeremias,
C. Voraussetzungen für die Einleitung des Überdenkungsverfahrens445
Prüfungsarbeit gelangt ist, tatsächlich auf einer vertretbaren und mit ge‑ wichtigen Argumenten folgerichtig begründeten Lösung beruht, die etwa von Professoren beantwortet werden kann, denen aber dann die Passage aus der Klausur und ggf. die Prüferkritik im Originalwortlaut vorgelegt werden müssen119. Die Vorlage der gesamten Klausur, des Sachverhalts und der Voten ist erforderlich, wenn der Prüfling von einem Dritten eine Einschät‑ zung dahingehend erbittet, ob die Klausur angemessen bewertet worden ist, wenn er also ein Drittgutachten einholt, das er ggf. zur Formulierung seiner Widerspruchsbegründung verwenden kann. Bei Beachtung dieser im Einzel‑ fall bestehenden Voraussetzungen für die Erhebung substantiierter Einwände bzw. der fraglos bestehenden Zulässigkeit der Inanspruchnahme der Hilfe Dritter bereits im Rahmen der Abschätzung der Erfolgsaussichten einer Prüfungsanfechtung kann kein Zweifel daran bestehen, dass der Prüfling zumindest das Recht haben muss, sich – auch zeitlich120 – uneingeschränkt Notizen aus der Prüfungsakte zu machen. Gemessen an den vorstehenden, am Zweck der Akteneinsicht orientierten und damit unmittelbar aus den Art. 19 Abs. 4 Satz 1, 12 Abs. 1 Satz 1 GG ableitbaren Anforderungen, begegnet die aufgezeigte gegenständliche Beschränkung des Akteneinsichts‑ rechtes in einigen Bundesländern sowie die in Thüringen getroffene Rege‑ lung, wonach die Einsicht nur einmal gewährt wird und den Zeitraum von fünf Stunden nicht überschreiten soll121, durchgreifenden verfassungsrecht‑ lichen Bedenken. Da die Anfertigung einer handschriftlichen Abschrift der Akte mit ei‑ nem erheblichen Arbeitsaufwand verbunden und (daher) unpraktikabel ist, fragt sich, ob das Recht auf Akteneinsicht heutzutage darüber hinaus nicht auch die Befugnis umfassen muss, sich eine (digitale) Kopie der Akte anzufertigen, sofern die technischen Mittel hierfür (Fotokopierer, Digital‑ kamera, Scanner etc.) auf Seiten des Prüfungsamtes und / oder des Prüf‑ lings vorhanden sind. Spezialgesetzlich ist dem Prüfling diese Möglichkeit bislang (nur) in Thüringen eröffnet, freilich nur unter der Voraussetzung, dass bereits Widerspruch gegen die Prüfungsentscheidung eingelegt wor‑ den ist122. Für diesen Fall folgt ein Kopierrecht des Prüflings aber auch aus § 100 Abs. 2 Satz 1 VwGO, sofern man diese Vorschrift über § 79 LVwVfG im Widerspruchsverfahren für anwendbar hält. Nimmt man dem‑ gegenüber entsprechend § 79 Hs. 2 LVwVfG den Vorrang von § 29 Vw 119 Darauf weist der BayVGH, Urt. v. 30.04.1998 – 7 B 97.2986, juris, Rn. 30, zutreffend hin, siehe auch VG Freiburg, Bes. v. 20.11.2009 – 4 K 2096/09, juris, Rn. 11; Zimmerling/Brehm, Prüfungsrecht, Rn. 420. 120 Ähnlich weitgehend hinsichtlich des zeitlichen Umfangs der Akteneinsicht Haase, in: Johlen/Oerder, MAH VerwR, § 16, Rn. 307. 121 § 30 Abs. 3 ThürJAPO. 122 § 30 Abs. 4 ThürJAPO.
446 Kap. 7: Das verwaltungsinterne Kontrollverfahren (Überdenkungsverfahren)
VfG an oder ist diese Vorschrift mangels spezialgesetzlicher Regelung des Akteneinsichtsrechtes ohnehin einschlägig, steht die Entscheidung des Prü‑ fungsamtes, dem Prüfling bzw. seinem Bevollmächtigten das Recht einzu‑ räumen, Fotokopien des Akteneinhalts anzufertigen, gemäß § 29 Abs. 3 Satz 2 Hs. 2 LVwVfG, in dessen pflichtgemäßen Ermessen123. Dies gilt auch dann, wenn es in der ggf. vorrangigen spezialgesetzlichen Vorschrift an einer Regelung der Modalitäten der Akteneinsichtsgewährung fehlt. Da‑ bei wird in Bezug auf § 29 Abs. 3 Satz 2 Hs. 2 LVwVfG allgemein, d. h. unabhängig vom jeweils betroffenen Fachrecht und der (besonderen) Be‑ rührung grundrechtlicher Interessen, eine Reduktion des der Behörde hier eröffneten Auswahlermessens auf Null und dementsprechend ein entspre‑ chender Anspruch des Antragstellers auf Anfertigung von Ablichtungen angenommen124. In Bezug auf die spezialgesetzlichen Regelungen besteht für eine derarti‑ ge Annahme natürlich zunächst dann kein Raum, wenn die Anfertigung von Fotokopien ausdrücklich verboten ist125 oder sich dieses Ergebnis im Wege der Auslegung der Norm ergibt126. Allerdings ist zweifelhaft, ob ein Ab‑ lichtungsverbot mit den Art. 12 Abs. 1 Satz 1, 19 Abs. 4 Satz 1 GG verein‑ bar ist. Denn mit Blick auf die mit der Akteneinsicht vom Prüfling verfolg‑ ten Intentionen erfordern es diese verfassungsrechtlichen Gewährleistungen, dass es die Modalitäten der Akteneinsicht dem Prüfling ermöglichen, sich innerhalb eines überschaubaren Zeitraums Klarheit darüber zu verschaffen, ob Einwendungen gegen die Bewertung seiner Prüfungsleistungen überhaupt mit Aussicht auf Erfolg vorgetragen und diese bejahendenfalls tatsächlich auch zeitnah erhoben werden können127. Anderenfalls kann das Überden‑ kungsverfahren seinen Zweck, das Grundrecht der Berufsfreiheit möglichst effektiv zu schützen128, nicht erfüllen129. Die zur Abschätzung der Erfolgs‑ aussichten einer Prüfungsanfechtung (durch Dritte) regelmäßig erforderliche 123 Bonk/Kallerhoff, in: Stelkens/Bonk/Kallerhoff, VwVfG, § 29, Rn. 85; Kopp/ Ramsauer, VwVfG, § 29, Rn. 41 a. 124 Kopp/Ramsauer, VwVfG, § 29, Rn. 41 a. 125 So in Niedersachsen, siehe § 20 Abs. 2 Satz 1 NJAG. 126 So in Bremen und Sachsen-Anhalt. Hier folgt dieses Verbot im Wege eines Erst-Recht-Schlusses aus den einschlägigen Vorschriften (§ 31 JPAG Bremen; § 32 JAPrVO LSA). Denn wenn der Prüfling schon nicht das Recht hat, sich eine voll‑ ständige Abschrift der Akte anzufertigen, kann er noch weniger die Anfertigung einer Kopie derselben beanspruchen, die genau zu diesem Ergebnis führt. 127 Vgl. insoweit BayVGH, Urt. v. 30.04.1998 – 7 B 97.2986, juris, Rn. 30; VG Freiburg, Bes. v. 20.11.2009 – 4 K 2096/09, juris, Rn. 11, zum dort jeweils aufge‑ stellten Erfordernis einer sachlich und zeitlich ausreichenden Prüfung. 128 Vgl. BVerwGE 92, 132 (137). 129 Vgl. insoweit VG Bremen, Bes. v. 25.03.1998 – 7 KV 2915/97, n. v., BU S. 4.
C. Voraussetzungen für die Einleitung des Überdenkungsverfahrens447
Anfertigung einer vollständigen oder auch nur teilweisen (handschriftlichen) Abschrift der Akte ist aber mit einem erheblichen Arbeits- und Zeitaufwand verbunden, der zu einer unter Umständen erheblichen Verzögerung und al‑ lemal Erschwerung der Realisierung des Überdenkensanspruchs führt. Diese erscheint dem Prüfling mit Blick auf die zur Verfügung stehenden techni‑ schen Alternativen nur dann zumutbar, wenn der Anfertigung von Abschrif‑ ten der Unterlagen gewichtige Interessen des Prüfungsamtes entgegenstehen. Der bloße zeitliche Aufwand für die Überwachung des Ablichtungsvor‑ gangs130 erscheint insoweit nicht hinreichend. Zudem muss dieser – sogar in noch größerem Maße – auch bei der bloßen Gewährung der Einsicht unter Einschluss des Rechts, sich Notizen anzufertigen, geleistet werden, um Manipulationen an der Akte zu verhindern131. Eine denkbare Beein‑ trächtigung der behördeninternen Abläufe und somit der Aufgabenerfüllung der Verwaltung kommt darüber hinaus im Übrigen nur bei der (vorüberge‑ henden) Blockierung des behördeneigenen Kopierers, nicht aber dem Ein‑ satz eigener Ablichtungsgeräte in Betracht. Damit lässt sich aber kein gene‑ relles Fotokopierverbot, sondern nur der Vorrang der behördlichen Aufga‑ benerfüllung bei der Nutzung des zur Verfügung stehenden Gerätes recht‑ fertigen. Als gewichtiges Interesse anzuerkennen ist allein die legitime Sorge der Prüfungsämter, dass die Ablichtung der Klausursachverhalte zu deren Verbreitung auch und gerade über das Internet führen könnte, diese publizierten Aufgabenstellungen dann nicht nochmals ausgegeben werden können und damit das Prüfungsamt in seiner Aufgabenerfüllung bzw. das Prüfungswesen in seiner Funktionsfähigkeit beeinträchtigt sein könnte132. Insoweit gingen einige Prüfungsämter bis zuletzt nach wie vor von einer zumindest eingeschränkten Geheimhaltungsbedürftigkeit der Aufgabentexte aus133, und sie wurden in dieser Annahme jedenfalls teilweise durch die Rechtsprechung gestützt134. Ein Fotokopierverbot erscheint aber schon ungeeignet, um die Aufgabentexte geheim zu halten bzw. deren Weiterver‑ breitung zu verhindern. Diese entstammen nämlich insbesondere im Rahmen der Zweiten juristischen Staatsprüfung einem „Klausurenpool“, zu bzw. aus dem jedes an ihm beteiligte Prüfungsamt Aufgabentexte beisteuert bzw. entnimmt und die sodann zeitversetzt als Prüfungsaufgabe gestellt werden 130 Kopp/Ramsauer,
VwVfG, § 29, Rn. 42. NVwZ 2001, 868 (870). 132 Vgl. zu diesen Befürchtungen der Prüfungsämter VG Freiburg, Bes. v. 20.11.2009 – 4 K 2096/09, juris, Rn. 8; VG Bremen, Bes. v. 25.03.1998 – 7 KV 2915/97, n. v., BU, S. 5. f.; Steike, NVwZ 2001, 868 (870). 133 Dies gilt insbesondere für das GPA in HH. Zu dessen Verwaltungspraxis siehe oben die Darstellung im Text. So im Übrigen auch die Einschätzung von Zimmerling/Brehm, Prüfungsrecht, Rn. 420. 134 VG Bremen, Bes. v. 25.08.1999 – 7 KV 2915/97, n. v., BU S. 5. 131 Steike,
448 Kap. 7: Das verwaltungsinterne Kontrollverfahren (Überdenkungsverfahren)
(können). In der Praxis bedeutete dies, dass ein Aufgabentext, der beim GPA in Hamburg einem Ablichtungsverbot unterlag, in Nordrhein-Westfalen möglicherweise längst im Umlauf war. Zudem existieren verschiedene In‑ ternetforen, in denen jeweils kurz nach dem jeweiligen Klausurtermin der Sachverhalt der jeweiligen Klausuren nicht selten sehr detailreich geschil‑ dert wird135. Schließlich darf sich der Prüfling spätestens im gerichtlichen Verfahren Ablichtungen der Sachverhalte gemäß § 100 Abs. 2 Satz 2 VwGO anfertigen lassen136. Regelmäßig ist ein Kopierverbot – namentlich im Rahmen der Zweiten juristischen Staatsprüfung – also schon nicht geeignet, eine Weiterverbrei‑ tung der Aufgabentexte zu verhindern, so dass es (schon) deshalb unverhält‑ nismäßig erscheint. Selbst wenn sich dies im Einzelfall anders darstellen sollte, bestehen regelmäßig die Rechte des Prüflings weniger beeinträchti‑ gende Möglichkeiten, die Interessen der Behörde zu wahren, indem etwa Kopien nur auf nicht kopierfähigem Sicherheitspapier zugelassen werden137. Überdies dürfte das Interesse des Prüflings an einer Anfertigung von Kopi‑ en das gegenläufige Interesse des Prüfungsamtes an einer Verhinderung der Weiterverbreitung der Aufgabentexte eindeutig überwiegen138. Denn wäh‑ rend der Prüfling einer Ablichtung der Prüfungsakte meist zwingend bedarf, um in dem kompensatorischen Rechtsschutz vermittelnden Überdenkungs‑ verfahren möglichst zeitnah und damit wirkungsvoll Einwände gegen die Bewertung seiner Leistungen geltend machen und einen effektiven Schutz seines Grundrechtes aus Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG erreichen zu können, geht es auf Seiten der Behörde letztlich nur um die Geringhaltung des Arbeits‑ aufwands bei der Suche nach geeigneten Aufgabentexten139. Gerade der bereits betonte Gesichtspunkt, dass sich das verwaltungsinterne Kontrollver‑ fahren aufgrund seiner Kompensationsfunktion gleichsam als verlängerter Arm der Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG darstellt, streitet dafür, dem Prüfling im Überdenkungsverfahren dieselben Verfahrensrechte einzu‑ 135 Vgl. insoweit OVG Berlin, Bes. v. 15.05.2003 – 4 S 23/03, NJW 2003, 2256 (2256 f.), zur Frage der – hier verneinten – Verletzung des Chancengleichheitsgrund‑ satzes. Bemerkenswert ist die Verneinung einer Verletzung des Chancengleichheits‑ grundsatzes insoweit, als gerade dieser als Legitimationsgrund für etwaige Restrik‑ tionen bei der Gewährung der Akteneinsicht insbesondere bezüglich der Aufgaben‑ texte herhalten muss, vgl. insoweit VG Bremen, Bes. v. 25.03.1998 – 7 KV 2915/97, n. v., BU, S. 4. 136 Dies zu Recht betonend VG Freiburg, Bes. v. 20.11.2009 – 4 K 2096/09, juris, Rn. 11. 137 Siehe zu dieser Möglichkeit den Vorschlag des VG Freiburg, Bes. v. 20.11.2009 – 4 K 2096/09, juris, Rn. 11. 138 Ebenso und zutreffend VG Freiburg, Bes. v. 20.11.2009 – 4 K 2096/09, juris, Rn. 11; Steike, NVwZ 2001, 868 (870). 139 Vgl. Steike, NVwZ 2001, 868 (870).
C. Voraussetzungen für die Einleitung des Überdenkungsverfahrens449
räumen wie im Verwaltungsprozess140. Da der Prüfling gestützt auf § 100 VwGO im Verwaltungsprozess ohne Weiteres die Anfertigung von Kopien beanspruchen könnte141, muss ihm demgemäß dieses Recht auch im Rah‑ men des Überdenkungsverfahrens eingeräumt werden142. Mit den und auf‑ grund der vorstehenden Erwägungen gehen Rechtsprechung143 und Litera‑ tur144 ganz überwiegend davon aus, dass der Prüfling im Regelfall das Recht hat, sich Fotokopien aus der Prüfungsakte anzufertigen. Sofern der Prüfling anwaltlich vertreten ist, kann der Rechtsanwalt kraft seiner Bevollmächtigung nur das dem Prüfling zustehende Akteneinsichts‑ recht wahrnehmen; ein eigenes Akteneinsichtsrecht steht ihm nicht zu145. Allerdings ist im Rahmen der Ermessensbetätigung hinsichtlich der Art und Weise der Akteneinsichtsgewährung die Stellung des Rechtsanwalts als Organ der Rechtspflege zu berücksichtigen und dessen berechtigten Interes‑ sen Rechnung zu tragen146 sowie die Frage der Zumutbarkeit der jeweils in Betracht kommenden Alternative aus dessen Blickwinkel zu prüfen147. Daher kann im Hinblick auf die im Regelfall anzunehmende Zuverlässig‑ keit eines Rechtsanwalts und die gewissenhafte, sorgfältige und ordnungs‑ gemäße Erfüllung der ihm obliegenden Aufgaben148 die im Falle der Übersendung der Akte regelmäßig bestehende und vom Prüfungsamt auch zu berücksichtigende Gefahr des Verlustes der und der Manipulation an der Prüfungsakte149 grundsätzlich vernachlässigt werden150. Nach § 29 Abs. 3 Satz 2 Hs. 2 LVwVfG kommt daher in analoger Anwendung des § 100 140 Zutreffend
VG Freiburg, Urt. v. 20.11.2009 – 4 K 2096/09, juris, Rn. 11. zum unabhängig von einem bestehenden rechtlichen Interesse beste‑ henden Recht, sich Ablichtungen anfertigen und übersenden zu lassen Rudisile, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, § 100, Rn. 21. 142 VG Freiburg, Urt. v. 20.11.2009 – 4 K 2096/09, juris, Rn. 11. 143 BayVGH, Urt. v. 30.04.1998 – 7 B 97.2986, juris, Rn. 30; VG Freiburg, Urt. v. 20.11.2009 – 4 K 2096/09, juris, Rn. 11; FG Hamburg, Urt. v. 15.12.2003 – V 12/02, juris, Rn. 48 f. 144 Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 201; Zimmerling/Brehm, Prüfungsrecht, Rn. 420; Steike, NVwZ 2001, 868 (870); Schmidt-Räntsch, DRiG, Anhang zu § 5d, Rn. 65; zurückhaltender Haase, in: Johlen/Oerder, MAH VerwR, § 16, Rn. 307. 145 Bonk/Kallerhoff, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, § 29, Rn. 82; Steike, NVwZ 2001, 868 (868 m. Fn. 15); unklar Kopp/Ramsauer, VwVfG, § 29, Rn. 20. 146 Haase, in: Johlen/Oerder, MAH VerwR, § 16, Rn. 281. 147 Steike, NVwZ 2001, 868 (870). 148 Steike; NVwZ 2001, 868 (871). 149 Vgl. zur im Rahmen der Ermessensbetätigung zu berücksichtigenden Verlustund Manipulationsgefahr Kopp/Ramsauer, VwVfG, § 29, Rn. 40 a; Niehues/Fischer/ Jeremias, Rn. 200; Steike, NVwZ 2001, 868 (871). 150 Vgl. Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 200; Zimmerling/Brehm, Prüfungsrecht, Rn. 417. 141 Siehe
450 Kap. 7: Das verwaltungsinterne Kontrollverfahren (Überdenkungsverfahren)
Abs. 2 Satz 2 VwGO regelmäßig auch die Übersendung der Originalprü‑ fungsakte in die Kanzlei des Rechtsanwalts zur dortigen Einsicht in Be‑ tracht151. Selbst wenn man davon ausgehen sollte, dass entgegen hier ver‑ tretener Auffassung eine Übersendung der Prüfungsakte im Hinblick auf deren Sensibilität und Unersetzbarkeit152 grundsätzlich nicht in Betracht kommt, ist als „milderes Mittel“ gegenüber der ansonsten in Betracht kom‑ menden Akteneinsichtnahme vor Ort dem Rechtsanwalt eine (kostenpflich‑ tige) Abschrift der Prüfungsakte zur Verfügung zu stellen153. Der dann immer noch nicht vollständig ausgeräumten Gefahr einer Weiterverbreitung der Aufgabentexte kann schließlich dadurch begegnet werden, dass sich der Rechtsanwalt als Organ der Rechtspflege verpflichtet, die ihm zur Verfü‑ gung gestellten Kopien keiner weiteren Person – auch nicht dem Prüf‑ ling / Mandanten selbst – zu überlassen, von diesen keine Mehrfertigungen in analoger oder digitaler Form zu erstellen und die Kopien nach Abschluss des Verfahrens umgehend zu vernichten154. An den vorstehenden Grundsätzen gemessen ist die bis zuletzt vom GPA in Hamburg geübte Praxis, dem Rechtsanwalt Akteneinsicht nur in den ei‑ genen Behördenräumlichkeiten oder bei auswärtigen Anwälten nur bei einer Behörde oder einem Gericht am Kanzleisitz zu gewähren und die Aufgaben‑ texte nur auf Antrag zur Verfügung zu stellen und mit einem generellen Kopierverbot zu belegen, als ermessensfehlerhaft anzusehen, da die Rechts‑ schutzmöglichkeiten des Prüflings, mit deren Realisierung der Rechtsanwalt beauftragt ist, dabei unzumutbar verkürzt werden155. Sofern eine spezialgesetzliche Regelung des Akteneinsichtsrechtes in der jeweiligen Prüfungsordnung § 29 Abs. 1 Satz 1 LVwVfG vorgeht, ist der dortige Begriff der „Einsichtnahme“ verfassungskonform im Sinne der Ge‑ währung der vorstehenden Rechte auszulegen.
151 Vgl. Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 200; Zimmerling/Brehm, Prüfungsrecht, Rn. 417; deutlich zurückhaltender Haase, in: Johlen/Oerder, MAH VerwR, § 16, Rn. 281: „Eine Reduzierung des Ermessens im Hinblick auf eine gebotene Übersen‑ dung der Prüfungsakte wird höchst selten in Betracht kommen“. 152 Die von Haase, in: Johlen/Oerder, MAH VerwR, § 16, Rn. 281, betont wird. 153 Vgl. zutreffend Steike, NVwZ 2001, 868 (870); Haase, in: Johlen/Oerder, MAH VerwR, § 16, Rn. 281. 154 VG Freiburg, Bes. v. 20.11.2009 – 4 K 2096/09, juris, Rn. 11. 155 Zu Recht kritisch – insbesondere auch zur – jetzt aufgegebenen – Praxis in Hamburg beim GPA – Zimmerling/Brehm, Prüfungsrecht, Rn. 420.
C. Voraussetzungen für die Einleitung des Überdenkungsverfahrens451
II. Der Anspruch des Prüflings auf eine Begründung der Leistungsbewertung 1. Einleitung und Überblick Der Prüfling ist (nach erfolgter Akteneinsicht) weiter nur dann in den Stand versetzt, substantiierte Einwände gegen die dem streitgegenständli‑ chen Prüfungsbescheid zugrunde liegenden Bewertungen seiner Prüfungs‑ leistungen zu erheben, wenn ihm diese hinreichend erläutert worden sind156. Die Bewertungsbegründung erfüllt mangels Aufdeckbarkeit des wahren psychischen Entscheidungsfindungsprozesses157 zudem eine unerlässliche Garantie-, Klarstellungs- und vor allem Kontrollfunktion158. Nur anhand der Begründung der Bewertung können nämlich der Prüfling, das Prüfungs‑ amt und das Gericht überprüfen, ob der Prüfer die Grenzen des ihm eröff‑ neten Abwägungsspielraums eingehalten hat. Sie „dient somit der sprachli‑ chen Vermittlung der Rationalität“159 der mit der erfolgten Leistungsbewer‑ tung getroffenen Abwägungsentscheidung. Das Vorliegen einer Bewertungs‑ begründung ist somit für die Realisierung der dem Prüfling durch die Art. 19 Abs. 4 Satz 1, 12 Abs. 1 Satz 1 GG garantierten Rechtsschutzmöglichkeiten von (mit‑)konstituierender Bedeutung. Daher lässt sich ein darauf gerichteter Anspruch des Prüflings ebenso wie bereits derjenige auf die Durchführung eines verwaltungsinternen Kontroll‑ verfahrens und die Gewährung eines Akteneinsichtsrechtes unmittelbar aus den vorstehenden Verfassungsnormen und dabei wiederum aus dem Verfas‑ sungsgebot des zu gewährleistenden Grundrechtsschutzes durch Verfahren deduzieren160. Denn dieses verlangt wie dargelegt, dass dem von einer 156 Vgl. BVerwGE 91, 262 (266); 99, 185 (190 f.); VGH Mannheim, Urt. v. 15.02.1991 – 9 S 105/90, NVwZ 1991, 1205 (1206); Urt. v. 13.06.1995 – 9 S 2091/94, NVwZ-RR 1996, 27 (27); OVG Lüneburg, Urt. v. 18.02.1992 – 10 L 277/89, juris, Rn. 20; Bes. v. 27.08.2007 – 2 LA 1208/06, juris, Rn. 5; BayVGH, Bes. v. 04.12.1998 – 7 ZB 98.2422, juris, Rn. 8; VG Dresden, Urt. v. 10.11.2004 – 5 K 1034/02, juris, Rn. 44; Urt. v. 04.06.2008 – 5 K 38/08, juris, Rn. 146; Niehues/ Fischer/Jeremias, Rn. 706; Zimmerling/Brehm, Prüfungsrecht, Rn. 632; MüllerFranken, VerwArch 92 (2001), 507 (515); Löwer/Linke, WissR 30 (1997), 128 (146). 157 Vgl. insoweit Riehm, S. 162 f. 158 Siehe zur Garantie- und Klarstellungsfunktion der Bewertungsbegründung BVerwGE 91, 262 (267); VGH Mannheim, Urt. v. 15.02.1991 – 9 S 105/90, NVwZ 1991, 1205 (1207); Guhl, S. 246; Löwer/Linke, WissR 30 (1997), 128 (146). 159 Riehm, S. 163. 160 BVerwGE 99, 185 (189); Müller-Franken, VerwArch 92 (2001), 507 (516), der in Fn. 55 zu Recht darauf hinweist, dass das BVerwG in BVerwGE 91, 262 (265) den Begründungsanspruch des Prüflings verkürzt nur aus Art. 19 Abs. 4 GG
452 Kap. 7: Das verwaltungsinterne Kontrollverfahren (Überdenkungsverfahren)
nachteiligen Prüfungsentscheidung betroffenen Prüfling all diejenigen Ver‑ fahrensrechte einzuräumen sind, derer er bedarf, um seine grundrechtlich geschützten Interessen wahrzunehmen bzw. zu verteidigen161. Zu diesen Verfahrensrechten gehört aus den genannten Gründen fraglos die Einräu‑ mung eines Anspruchs auf eine nachvollziehbare Begründung der Leis‑ tungsbewertung162. Einen derart abgeleiteten Begründungsanspruch hat mit im Kern gleichlautenden Erwägungen erstmals der VGH Mannheim für die Bewertung schriftlicher Prüfungsleistungen angenommen163 und zwar noch bevor der Juristenbeschluss des Bundesverfassungsgerichtes ergangen ist. Unter dem Eindruck dieser verfassungsgerichtlichen Entscheidung hat so‑ dann auch das Bundesverwaltungsgericht unter Aufgabe seiner früheren Rechtsprechung164 noch vor der Grundsatzentscheidung zum verwaltungsin‑ ternen Kontrollverfahren einen entsprechenden Informationsanspruch des Prüflings anerkannt165 und diesen einige Jahre später im Grundsatz auch auf die Bewertung mündlicher Prüfungsleistungen erstreckt166. Heutzutage steht es sowohl in der (instanzgerichtlichen) Rechtsprechung als auch in der Literatur außer Frage167, dass der Prüfling sowohl bei schriftlichen als auch bei mündlichen Prüfungen einen Anspruch auf die Erläuterung jedenfalls der tragenden Gründe der Bewertung hat168. Diese ableitet; siehe zur Ableitung des Begründungsanspruchs aus Art. 19 Abs. 4 GG und Art. 12 Abs. 1 GG auch Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 705; Zimmerling/Brehm, Prü‑ fungsrecht, Rn. 629. 161 Laubinger, VerwArch 73 (1982), 60 (74); siehe auch BVerwGE 99, 185 (189): „Zu dem danach gebotenen Grundrechtsschutz durch Verfahren gehört auch, dass der Prüfling diejenigen Informationen erhält, die er benötigt, um feststellen zu können, ob die rechtlichen Vorgaben und Grenzen der Prüfung, insbesondere der Beurteilung seiner Leistung, eingehalten worden sind“; siehe auch Müller-Franken, VerwArch 92 (2001), 507 (516 m. Fn. 55). 162 Dazu, dass aus dem Gedanken des Grundrechtsschutzes durch Verfahren allgemein ein Anspruch des betroffenen Bürgers auf eine Begründung der Verwal‑ tungsentscheidung folgt, siehe Laubinger, VerwArch 73 (1982), 60 (75). 163 VGH Mannheim, Urt. v. 15.02.1991 – 9 S 105/90, NVwZ 1991, 1205 (1206 f.). 164 BVerwGE 14, 31 (34); 19, 128 (130); BVerwG, Bes. v. 20.09.1984 – 7 C 80.82, Buchholz 421.0 Nr. 202, 201 (204); Bes. v. 15.12.1987 – 7 B 216.87, Buch‑ holz 421.0 Nr. 247, 36 (39 f.); zusammenfassend BVerwGE 91, 262 (266 f.). 165 BVerwGE 91, 261 (265). 166 BVerwGE 99, 185 (191). 167 So auch die Einschätzung von Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 703. 168 BVerwGE 91, 262 (265 ff.); 99, 185 (189 ff.); BVerwG, Bes. v. 15.07.2010 – 2 B 104/09, juris, Rn. 10; Bes. v. 08.03.2012 – 6 B 36.11, NJW 2012, 2054 (2055); VGH Mannheim, Urt. v. 13.06.1995 – 9 S 2091/94, NVwZ-RR 1996, 27 (27); BayVGH, Urt. v. 17.10.2003 – 7 B 02.640, juris, Rn. 26; OVG Sachsen-Anhalt, Urt. v. 22.07.2009 – 3 L 133/07, juris, Rn. 33; VGH Mannheim, Bes. v. 23.04.2010 – 9
C. Voraussetzungen für die Einleitung des Überdenkungsverfahrens453
allseitige Anerkennung des Begründungsanspruchs mag ursächlich dafür sein, dass eine gesetzliche Kodifizierung desselben weithin unterblieben ist. Allein der Begründungsanspruch des Prüflings bei mündlichen Prüfungen hat jedenfalls teilweise eine gesetzliche Regelung in den Juristenausbil‑ dungsgesetzen bzw. -ordnungen erfahren169. Wenn und soweit eine einfachgesetzliche Normierung unterblieben ist, bedarf es auch zur nunmehr gebo‑ tenen Bestimmung der Voraussetzungen sowie des Inhalts und Umfangs des Begründungsanspruchs eines Rückgriffs auf die Art. 19 Abs. 4 Satz 1, 12 Abs. 1 Satz 1 GG. 2. Rechtsgrundlagen und Anspruchsvoraussetzungen a) (Obligatorische) Begründung der Bewertung schriftlicher Prüfungsleistungen Da der Anspruch des Prüflings auf eine Begründung der Bewertung sei‑ ner schriftlichen Prüfungsleistungen wie dargelegt spezialgesetzlich nicht geregelt ist und aufgrund des in § 2 Abs. 3 LVwVfG normierten Anwen‑ dungsausschlusses sowie der fehlenden Verwaltungsaktqualität der im Rah‑ men der juristischen (Staats‑) Prüfungen erbrachten Teilleistungen170 auch 171 nicht aus § 39 LVwVfG folgt , könnte fraglich sein, ob der Prüfling wie nach dieser Vorschrift einen obligaten oder nur einen fakultativen bzw. be‑ dingten Begründungsanspruch hat und in welcher Form dieser zu realisieren ist. Da aber zwischen dem Zeitpunkt der Bewertung der schriftlichen Prü‑ fungsleistungen und deren Bekanntgabe bzw. dem Zeitpunkt der Einsicht‑ nahme des Prüflings in seine Prüfungsakte regelmäßig ein erheblicher Zeitraum liegt, kann ersichtlich nur durch eine im unmittelbaren Anschluss S 278/10, juris, Rn. 2; OVG Lüneburg, Urt. v. 24.05.2011 – 2 LB 158/10, NordÖR 2012, 98 (100 f.); VG Dresden, Urt. v. 04.06.2008 – 5 K 38/08, juris, Rn. 147; Lampe, S. 148; Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 706, 709 f.; Zimmerling/Brehm, Prü‑ fungsrecht, Rn. 631 f.; Müller-Franken, VerwArch 92 (2001), 507 (516 f.); Löwer/ Linke, WissR 30 (1997), 128 (146 f.). 169 In Nordrhein-Westfalen (§ 23 Abs. 1, 56 Abs. 1 JAG NRW); MecklenburgVorpommern (§ 23 Abs. 1 JAPO M-V); Niedersachsen (§ 13 Abs. 4 NJAG); Sachsen (§ 28 Abs. 1 SächsJAPO); Brandenburg (§ 10 Abs. 3 Bbg. JAO); Berlin (§ 10 Abs. 3 JAO Berlin); Schleswig-Holstein (§ 21 Abs. 4 JAVO S.H.); Hamburg (§ 22 Abs. 4 JAG HH); Hamburg, Bremen und Schleswig-Holstein für die Zweite juristische Staatsprüfung (§ 18 Abs. 2 LÜ). 170 Die mangelnde VA-Qualität von Teilleistungen im Zusammenhang mit der Frage der Anwendbarkeit des § 39 LVwVfG, die im gegebenen Kontext häufig un‑ erwähnt bleibt, betont zu Recht der VGH Mannheim im Urt. v. 15.02.1991 – 9 S 105/90, NVwZ 1991, 1205 (1206). 171 Siehe nur Schmidt-Räntsch, DRiG, Anhang zu § 5d, Rn. 165.
454 Kap. 7: Das verwaltungsinterne Kontrollverfahren (Überdenkungsverfahren)
an die Bewertung erfolgende Begründung und deren umgehende Fixierung die Möglichkeit gewährleistet werden, dass (nur) diejenigen Erwägungen in der Bewertungsbegründung niedergelegt werden, die dem psychischen Ent‑ scheidungsfindungsprozess auch tatsächlich zugrunde gelegen haben172. Die aufgrund eines durch die spätere Erhebung von Einwendungen gegen die Bewertung bedingten Begründungsanspruchs erst nach deren Bekanntgabe erfolgende nachträgliche Bewertungsbegründung könnte ihre Garantie- und Klarstellungsfunktion offensichtlich nicht mehr erfüllen173. Zur Gewährleis‑ tung eines effektiven Grundrechtsschutzes im Prüfungsverfahren ist es daher bei der Bewertung schriftlicher Prüfungsleistungen zwingend erforderlich, dass die Bewertungsbegründung für die Prüfer obligatorisch ist und diese unverzüglich nach Abschluss des Bewertungsvorgangs (schriftlich174) er‑ folgt. Angesichts dieses Befundes bleibt für eine im Grundsatz gebotene Abwä‑ gung zwischen dem Interesse des Prüflings an einer möglichst effektiven Durchsetzung des materialen Gewährleistungsgehalts des Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG einerseits und dem kollidierenden und unter dem Gesichtspunkt der gebotenen Erhaltung der Effektivität des Prüfungswesens auch verfas‑ sungsrechtlich geschützten175 Interesse des Prüfers an einer Geringhaltung des Arbeitsaufwands176 kein Raum. b) Der fakultative Begründungsanspruch bei mündlichen Prüfungen Für die Bestimmung der Voraussetzungen der Begründungspflicht der Prüfer bei der Bewertung mündlicher Prüfungsleistungen gilt dies aufgrund abweichender Ausgangsvoraussetzungen177 nicht gleichermaßen. So ist die 172 Vgl.
BVerwGE 99, 185 (190 f.). VGH Mannheim Urt. v. 15.02.1991 – 9 S 105/90, NVwZ 1991, 1205 (1207), Guhl, S. 249 f. 174 Zur gebotenen Schriftlichkeit der Bewertungsbegründung siehe VGH Mann‑ heim Urt. v. 15.02.1991 – 9 S 105/90, NVwZ 1991, 1205 (1207); BVerwGE 91, 262 (267); Guhl, S. 251. 175 Zur Effektivität der Verwaltung als Verfassungsrechtsgut siehe allgemein Huber, in: v. Mangold/Klein/Starck, GG, Art. 19, Rn. 376; v. Mutius, NJW 1982, 2150 (2150 f.); Kopp, BayVBl. 1983, 673 (673 m. Fn. 5); Kopp/Ramsauer, VwVfG, § 10, Rn. 2; siehe auch VGH Mannheim, Urt. v. 15.02.1991 – 9 S 105/90, NVwZ 1991, 1205 (1207) zur „Effektivität und Praktikabilität des Prüfungswesens“ im Zusammenhang mit der Rechtfertigung der Pflicht des Prüfers, die Bewertung zu begründen. 176 Zur gebotenen Geringhaltung des Arbeitsaufwands des Prüfers im Kontext mit deren Begründungspflicht siehe auch BVerwGE 99, 185 (193). 177 Vgl. BVerwGE 99, 185 (191). 173 Vgl.
C. Voraussetzungen für die Einleitung des Überdenkungsverfahrens455
mündliche im Gegensatz zur schriftlichen Prüfung zunächst dadurch ge‑ kennzeichnet, dass das Verfahren der Leistungsermittlung mit demjenigen der Leistungsbewertung jedenfalls teilweise zusammenfällt. Der Prüfling wird hier gewissermaßen Zeuge des (teilweise) sichtbar werdenden psychi‑ schen Entscheidungsfindungsprozesses der Prüfer, indem er durch deren positive oder negative Äußerungen und / oder deren Gestik und Mimik un‑ mittelbar eine Rückmeldung zur Brauchbarkeit bzw. Qualität der von ihm erbrachten Prüfungsleistung erhält. Zudem erlauben die ihm selbst nicht möglichen und daher von den anderen Kandidaten gegebenen Antworten auf Prüfungsfragen bzw. schon deren Weitergabe eine (Selbst‑)Einschätzung seiner Prüfungsleistung bzw. deren Einordnung durch die Prüfer. Diese wird häufig mit der später tatsächlich vergebenen Bewertung im Wesentlichen übereinstimmen. In diesem Fall wird der Prüfling daher häufig gar kein Interesse daran haben, dass ihm die Gründe für die erfolgten Einzelbewer‑ tungen und die daran anknüpfende Gesamtbewertung (nochmals) ausführlich erläutert werden178. Auf der anderen Seite wäre eine generelle Pflicht der Prüfer zur Begründung der Bewertung mündlicher Prüfungsleistungen für diese mit einem nicht unerheblichen Arbeitsaufwand verbunden179. Soweit eine gesetzliche Normierung (der Voraussetzungen) des Begründungsan‑ spruchs des Prüflings bei mündlichen Prüfungen erfolgt ist, hat der jeweili‑ ge Gesetz- bzw. Verordnungsgeber die somit unter anderen Vorzeichen ge‑ botene Abwägung zwischen den gegenläufigen Interessen des Prüflings und der Prüfer ganz überwiegend dahin vorgenommen180, dass der Prüfling eine (ergänzende) Begründung für die erfolgten Bewertungen seiner Prü‑ fungsleistungen nur erhält, wenn er diese verlangt181, beantragt182 bzw. wünscht183. Diese Regelungen eines nur fakultativen Begründungsanspruchs stellen sich als das Resultat eines zweifellos sachgerechten Abwägungser‑ gebnisses dar und stehen daher mit den verfassungsrechtlichen Gewährleis‑ tungen aus den Art. 19 Abs. 4 Satz 1, Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG ebenso in Einklang wie mit der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichtes.
178 Vgl. zum Vorstehenden insgesamt BVerwGE 99, 185 (193); zustimmend Kischel, S. 254. 179 Vgl. zu diesem zu beachtenden Gesichtspunkt BVerwGE 99, 185 (193). 180 Nur in Niedersachsen (§ 13 Abs. 4 Satz 1 NJAG) und Mecklenburg-Vorpom‑ mern (§ 23 Abs. 1 Satz 1 JAPO M-V) ist ein obligatorischer Begründungsanspruch des Prüflings vorgesehen. 181 Siehe § 13 Abs. 4 Satz 2 NJAG für die Ergänzung der obligatorischen Be‑ gründung. 182 § 28 Abs. 1 Satz 1 SächsJAPO. 183 § 10 Abs. 3 JAO Bbg.; § 10 Abs. 3 JAO Berlin; § 21 Abs. 4 JAVO S.-H.; § 22 Abs. 4 JAG HH; § 18 Abs. 2 LÜ HH, HB, S.-H.
456 Kap. 7: Das verwaltungsinterne Kontrollverfahren (Überdenkungsverfahren)
aa) Erfordernis eines (spezifizierten) Begründungsverlangens des Prüflings Das Bundesverwaltungsgericht hat nämlich in seiner Grundsatzentschei‑ dung zur Begründungspflicht der Prüfer bei mündlichen Prüfungen ausge‑ führt, dass der dem Grunde nach bestehende Informationsanspruch des Prüf‑ lings nicht voraussetzungslos bestehe. Vielmehr hänge dieser sowie der kon‑ krete Inhalt desselben und damit korrespondierend eine Pflicht der Prüfer, ihre Bewertungen von mündlichen Prüfungsleistungen zu begründen, davon ab, ob der jeweilige Prüfling eine Begründung verlange, wann er dies tue und mit welchem konkreten Begehren und mit welcher Begründung184. Einige Jahre später hat das Bundesverwaltungsgericht diesen Rechtssatz abschwä‑ chend dahin klargestellt, dass der Prüfling eine (erste) Bewertungsbegrün‑ dung schon mit „sachlich-vertretbaren Gründen“ verlangen könne und deren Erhalt ein substantiiertes Begründungsverlangen nicht erfordere185. Der Bundesfinanzhof schließt aus dieser Rechtsprechung (dennoch), dass bereits der Anspruch des Prüflings auf eine erste Begründung voraussetze, dass das Begründungsverlangen nicht pauschal und gleichsam ins Blaue hinein gestellt werde, sondern Mindestanforderungen an eine kritische Aus‑ einandersetzung mit dem Prüfungsergebnis genügen müsse186. Der Prüfling müsse seine Bedenken gegen die Benotung seiner Leistung dadurch spezi‑ fizieren, dass er zumindest allgemeine Anhaltspunkte dafür angebe, weshalb er vermute, dass die Benotung auf in fach- und / oder prüfungsspezifischer Hinsicht angreifbaren Erwägungen der Prüfer beruhe oder zumindest beru‑ hen könne187. Die Verwaltungsgerichte haben sich dieser finanzgerichtlichen Rechtspre‑ chung nicht angeschlossen. Vielmehr hat das Verwaltungsgericht Berlin in einer zunächst wenig beachteten Entscheidung ausdrücklich entgegen dem Bundesfinanzhof den (Rechts‑)Standpunkt eingenommen, dass derart quali‑ fizierte Anforderungen an das Begründungsverlangen des Prüflings der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichtes nicht entnommen werden und diese in der Sache auch nicht überzeugen könnten188. Es bestünde kei‑ 184 Vgl. zum Ganzen BVerwGE 99, 185 (193); BVerwG, Urt. v. 16.04.1997 – 6 C 9/95, NJW 1998, 323 (326); Bes. v. 08.11.2005 – 6 B 45/05, NVwZ 2006, 478 (478); Bes. v. 15.07.2010 – 2 B 104/09, juris, Rn. 6; zustimmend Niehues/Fischer/ Jeremias, Rn. 713; Müller-Franken, VerwArch 92 (2001), 507 (521); Kischel, S. 255. 185 BVerwG, Bes. v. 20.05.1998 – 6 B 50/97, NJW 1998, 3657 (3658). 186 BFHE 187, 373 (378), wohl ebenso VG Hannover, Bes. v. 29.01.2003 – 6 B 5865/02, juris, Rn. 25. 187 BFHE 187, 373 (379). 188 VG Berlin, Bes. v. 30.07.2004 – 12 A 32.04, juris, Rn. 7 f.
C. Voraussetzungen für die Einleitung des Überdenkungsverfahrens457
ne Veranlassung, die sachlogisch vorgegebene und im Rahmen der schrift‑ lichen Prüfung unbestrittene Abfolge – erst Begründung, dann Kritik – um‑ zukehren189. Die Prüfer seien von der obligatorischen Begründungspflicht bei der mündlichen Prüfung nur deshalb befreit, weil die mit einem erheb‑ lichen Arbeitsaufwand verbundene Anfertigung einer Bewertungsbegrün‑ dung vom Prüfling häufig gar nicht gewünscht werde und daher vielfach überflüssig wäre190. Gäbe der Prüfling dagegen sein Begründungsinteresse rechtzeitig zu erkennen, sei die grundlegende Frage des „Ob“ der Begrün‑ dung bereits beantwortet191. Damit hält das VG Berlin entsprechend der Ausgestaltung der einfach-rechtlichen Vorschriften für das Entstehen des Begründungsanspruchs bei mündlichen Prüfungen ein bloßes Begründungs‑ verlangen des Prüflings für ausreichend192. Nachdem die Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs in der prüfungs‑ rechtlichen Literatur insbesondere bei Niehues zunächst auf Zustimmung gestoßen war193, haben sich dann Niehues / Fischer ausdrücklich der Recht‑ sprechung des VG Berlin angeschlossen194, die nunmehr ebenfalls das blo‑ ße ernsthafte Verlangen des Prüflings nach einer Begründung für die vom Bundesverwaltungsgericht geforderte Spezifizierung desselben als genü‑ gend ansehen195. Der Prüfling müsse lediglich deutlich machen, dass er sich ungerecht behandelt fühle, dass er die Bewertung nicht nachvollzie‑ hen könne oder dass er erwäge, Einwände gegen die Bewertung vorzu‑ bringen196. Nach dem gegenwärtigen Stand der Diskussion folgt damit soweit er‑ sichtlich nur noch Müller-Franken – allerdings ohne Begründung – dem Rechtsstandpunkt des Bundesfinanzhofs197. Dieser vermag abgesehen von 189 VG
Berlin, Bes. v. 30.07.2004 – 12 A 32.04, juris, Rn. 5. Berlin, Bes. v. 30.07.2004 – 12 A 32.04, juris, Rn. 5. 191 VG Berlin, Bes. v. 30.07.2004 – 12 A 32.04, juris, Rn. 6. 192 Ähnlich VG Ansbach, Bes. v. 30.01.2013 – AN 2 E 13.00004, juris, Rn. 29. 193 Niehues, Prüfungsrecht, 4. Auflage, Rn. 723; Müller-Franken, VerwArch 92 (2001), 507 (521); kritisch Zimmerling/Brehm, Prüfungsrecht, Rn. 641. 194 Dies ist nicht überraschend, da Herr Fischer zuständiger Richter einer der für Prüfungsrecht beim VG Berlin zuständigen Kammern ist. 195 Niehues/Fischer, 5. Auflage, Rn. 717; an dieser Auffassung wird auch in der 6. Auflage unter der Mitautorenschaft von Jeremias festgehalten: Niehues/Fischer/ Jeremias, 6. Auflage, Rn. 717; ebenso nunmehr VG Ansbach, Bes. v. 30.01.2013 – AN 2 E 13.00004, juris, Rn. 29; zuvor bereits – wenn auch weniger deutlich – Zimmerling/Brehm, Prüfungsrecht, Rn. 641 m. Fn. 1649. 196 Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 717; siehe zur bloßen Notwendigkeit des „Deutlichmachens“ des Begründungsbegehrens auch BVerwG, Bes. v. 20.05.1998 – 6 B 50/97, NJW 1998, 3657 (3658). 197 Müller-Franken, VerwArch 92 (2001), 507 (521). 190 VG
458 Kap. 7: Das verwaltungsinterne Kontrollverfahren (Überdenkungsverfahren)
der vom VG Berlin zu Recht festgestellten Fehlinterpretation der maßgeb‑ lichen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichtes198 aus verfassungs‑ rechtlichen Gründen nicht zu überzeugen. Zunächst führt das Erfordernis der Erhebung substantiierter Einwände für den Erhalt einer Bewertungsbe‑ gründung zu einer im Ansatz schon vom VG Berlin bemängelten Verwi‑ schung der Grenzen des Anspruchs des Prüflings auf eine Begründung der Bewertung seiner mündlichen Prüfungsleistungen und des Anspruchs auf die Durchführung eines verwaltungsinternen Kontrollverfahrens199. Diese Grenzverwischung ist deshalb bedenklich, weil sie dazu führen kann, dass das Überdenkungsverfahren im Einzelfall nach erfolgter Begründung der Bewertung bereits als abschließend durchgeführt angesehen wird, obwohl der Prüfling erst durch diese in den Stand versetzt wird, (weitere) substan‑ tiierte Einwände gegen die Prüferkritik zu erheben. Vor allem aber wird mit den in diesem Sinne vom Bundesfinanzhof aufgestellten qualifizierten Anforderungen für eine Spezifizierung des Begründungsverlangens eine – unter Umständen unüberwindbare – Hürde bereits für den (erstmaligen) Zugang zum verwaltungsinternen Kontrollverfahren errichtet, indem dem Prüfling nämlich eine Substantiierungsobliegenheit schon zu einem Zeit‑ punkt aufgebürdet wird, bei welchem er dieser mangels (ausreichender) Begründung der Bewertung noch gar nicht (hinreichend) nachkommen kann200. Diese Erschwerung bei der Realisierung des Überdenkensanspruchs er‑ scheint durch gegenläufige (Abwägungs‑)Belange nicht gerechtfertigt. Ins‑ besondere verfängt das Argument des Bundesfinanzhofs nicht, dass dem Prüfling im Falle von Spezifizierungsanforderungen, die auf die bloße Geltendmachung eines Begründungsanspruchs abgesenkt sind, Ansatzpunkte für einen Angriff gegen die Prüfungsentscheidung verschafft würden, die er – abgesehen von seiner Unzufriedenheit über das Prüfungsergebnis – sonst nicht besäße201. Denn diese Konsequenz ist die notwendige Folge einer jeden Bewertungsbegründung und kann entgegen dem Bundesfinanz‑ hof schlechterdings nicht als Argument für die Erhöhung der Voraussetzun‑ gen des Anspruchs auf den bloßen Erhalt einer Begründung angeführt werden. Nicht das Entstehen, sondern die Begrenzung des Begründungsan‑ 198 VG
Berlin, Bes. v. 30.07.2004 – 12 A 32.04, juris, Rn. 8. insoweit Müller-Franken, VerwArch 92 (2001), 507 (520), der zu Recht betont, dass der Anspruch des Prüflings auf eine (erste) Begründung und der An‑ spruch des Prüflings auf ein Überdenken der Bewertung nicht verwechselt werden dürften; siehe zur (gebotenen) Differenzierung insoweit auch Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 719 und bereits BVerwGE 99, 185 (196). 200 Vgl. VG Ansbach, Bes. v. 30.01.2013 – AN 2 E 13.00004, juris, Rn. 29. 201 Vgl. BFHE 187, 373 (381). 199 Vgl.
C. Voraussetzungen für die Einleitung des Überdenkungsverfahrens459
spruchs bedarf der verfassungsrechtlichen Legitimation202. Nach alledem erscheinen die vom Bundesfinanzhof für den Erhalt einer (ersten) Bewer‑ tungsbegründung bei mündlichen Prüfungen statuierten Anforderungen überzogen203 und mit dem Gewährleistungsgehalt der Art. 19 Abs. 4 Satz 1, 12 Abs. 1 Satz 1 GG unvereinbar. Soweit eine gesetzliche Normierung der Voraussetzungen des Begründungsanspruchs des Prüflings bei mündlichen Prüfungen unterblieben ist, kann daher für die geforderte Spezifizierung des Begründungsverlangens allenfalls verlangt werden, dass der Prüfling angibt, für welche Abschnitte der mündlichen Prüfung er eine Begründung wünscht und (damit) zu erkennen gibt, dass er mit der Bewertung derselben nicht einverstanden ist204. bb) Faktische und normative Befristungen des Begründunganspruchs Da das Vermögen der Prüfer, sich an den Inhalt und Ablauf der mündli‑ chen Prüfung und die dort gezeigten Leistungen der Prüflinge zu erinnern, naturgemäß begrenzt ist und es den Prüfern daher mit zunehmendem Zeit‑ ablauf immer schwieriger fallen wird, etwaigen Wünschen des Prüflings nach einer Begründung der erfolgten Bewertung (hinreichend) nachzukom‑ men, liegt es zunächst in dessen wohlverstandenem eigenen Interesse, eine solche möglichst frühzeitig einzufordern. Fraglich ist, ob wegen dieses Umstands die in einigen Bundesländern erfolgte Normierung einer einwöchigen205 oder längeren – ab dem Tag der mündlichen Prüfung laufenden – (Ausschluss‑) Frist, innerhalb derer der Prüfling seinen fakultativen Begründungsanspruch zur Meidung von Rechts‑ verlusten geltend machen muss, ohne Weiteres als zulässig angesehen wer‑ den kann. Davon kann nur für den Fall bzw. unter der Voraussetzung aus‑ gegangen werden, dass nach Fristablauf mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit eine hinreichende Erinnerung der Prüfer an die mündli‑ che Prüfung nicht mehr gegeben ist. Denn unter dieser tatsächlichen Prä‑ 202 Siehe auch Zimmerling/Brehm, Prüfungsrecht, Rn. 641, die zutreffend anneh‑ men, dass die Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs zu einem Unterlaufen der verfassungsrechtlichen Begründungspflicht bei mündlichen Prüfungen führe. 203 Im Ergebnis ebenso Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 717; VG Ansbach, Bes. v. 30.01.2013 – AN 2 E 13.00004, juris, Rn. 29. 204 Vgl. Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 717; siehe zur erforderlichen Benennung der Fächer der mündlichen Prüfung, für die eine Begründung verlangt wird, bereits BVerwGE 99, 185 (195). 205 Solche Regelungen existieren etwa in NRW (§ 23 Abs. 1 JAG NRW); Sach‑ sen (§ 28 Abs. 1 Satz 2 SächsJAPO) und Niedersachsen (§ 13 Abs. 4 Satz 2 NJAG).
460 Kap. 7: Das verwaltungsinterne Kontrollverfahren (Überdenkungsverfahren)
misse ist der fakultative Begründungsanspruch des Prüflings wegen subjek‑ tiver Unmöglichkeit der Erfüllung durch die Prüfer (auch) rechtlich unterge gangen. Ein gesetzlicher Ausschluss desselben hat hier nur deklarativen Charakter und begegnet deshalb keinen verfassungsrechtlichen Bedenken, weil auch die Art. 19 Abs. 4 Satz 1, 12 Abs. 1 Satz 1 GG wie bereits an anderer Stelle dargelegt206 nur (Grund‑)Rechtsschutz im Rahmen des Mög‑ lichen gewähren (können). Maßgeblich für die verfassungsrechtliche Zulässigkeit der (kurzen) Aus‑ schlussfristen, denen der fakultative Begründungsanspruch des Prüflings bei mündlichen Prüfungen in einigen Bundesländern unterliegt, ist daher zu‑ nächst die Frage, ab welchem Zeitpunkt mit hinreichender Gewissheit von einem weitgehenden Erinnerungsverlust der Prüfer ausgegangen werden kann. Überwiegend wird diesbezüglich im Anschluss an die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichtes207 von einem allgemeinen Erfahrungssatz ausgegangen, wonach den Prüfen zwei Monate nach Abschluss der mündli‑ chen Prüfung die Erstellung einer substantiellen Begründung für die erfolg‑ te Bewertung der dort gezeigten Prüfungsleistungen nicht mehr möglich sei208. Teilweise erfolgt bei der Bestimmung des (höchst‑)möglichen Erin‑ nerungszeitraums aber auch eine Orientierung an der in der Rechtsprechung bestimmten Frist von fünf Monaten für die Absetzung von Gründen eines Urteils, die auf der Annahme beruht, dass eine präsente Erinnerung der Richter an die mündliche Verhandlung in einem Verwaltungsprozess und die sich ggf. anschließende Beratung zu einem späteren Zeitpunkt nicht mehr gegeben ist209. Dementsprechend geht das VG Dresden auch bezüglich des Erinnerungsvermögens der Prüfer an das Prüfungsgeschehen in einer münd‑ lichen Prüfung von einer widerlegbaren Vermutung dahingehend aus, dass nach Ablauf von fünf Monaten den Prüfern eine Erinnerung an die bewer‑ tungsrelevanten Einzelheiten der mündlichen Prüfung und entsprechend deren Erläuterung gegenüber dem Prüfling nicht mehr möglich ist210. Im Übrigen wird allgemein und zu Recht betont, dass die Möglichkeit der Wiedergabe der maßgeblichen Gründe der Bewertung der mündlichen Prüfungsleistungen stets von den konkreten Umständen des Einzelfalles wie namentlich dem Vorhandensein von erinnerungsstützenden (Bewer‑ 206 Kapitel 6
II. 5. Urt. v. 06.09.1995 – 6 C 8/93, NJW 1996, 2670 (2675), insoweit nicht abgedruckt in BVerwGE 99, 185 ff. 208 BFHE 180, 485 (488); VG Augsburg, Urt. v. 05.03.2013 – Au 3 K 12.1505, juris, Rn. 28; FG Niedersachsen, Urt. v. 15.12.2011 – 6 K 59/11, EFG 2012, 1090 (1095). 209 Vgl. BVerwGE 92, 367 (Leitsatz und 375 f.); siehe auch Kischel, S. 149. 210 Vgl. VG Dresden, 11.02.2010 – 5 L 24/10, juris, Rn. 53, zweifelnd VG Gie‑ ßen, Urt. v. 03.11.2011 – 5 K 1391/11.GI, juris, Rn. 22. 207 BVerwG,
C. Voraussetzungen für die Einleitung des Überdenkungsverfahrens461
tungs‑)Notizen211 und – wie zu ergänzen ist – dem individuellen Erinne‑ rungsvermögen der Prüfer abhängt. Diese falltypischen Besonderheiten führen dann aber dazu, dass die Prüfer über die üblicherweise angenomme‑ nen Zeiträume hinaus die tragenden Bewertungsgründe im Regelfall länger rekapitulieren können. Zwar mag es im Einzelfall vorkommen, dass sich ein Prüfer etwa aufgrund zahlreicher Prüfungen schon nach einigen Wochen nicht mehr an die Details der Prüfung und die Gründe der Bewertung erin‑ nern kann. Keinesfalls aber kann nach dem Ausgeführten von einem allge‑ meinen Erfahrungssatz ausgegangen werden, wonach im Regelfall die Prüfer schon nach einer Woche die wesentlichen Gründe der Bewertung nicht mehr wiedergeben können. Entgegen dem VG Aachen212 findet eine einwöchige Ausschlussfrist ihre sachliche Rechtfertigung damit nicht in der bereits nach einer Woche weitgehend verblassten Erinnerung der Prüfer an das Prüfungs‑ geschehen. Der Ausschluss des Begründungsanspruchs bereits zu diesem Zeitpunkt und über diesen hinaus bedarf vielmehr der verfassungsrechtli‑ chen Rechtfertigung, solange der Begründungsanspruch des Prüflings tat‑ sächlich noch erfüllbar ist. Diese setzt voraus, dass dem grundrechtlich durch die Art. 12 Abs. 1 Satz 1, 19 Abs. 4 Satz 1 GG geschützten Interesse des Prüflings an dem zeitlich unbegrenzten Fortbestehen eines tatsächlich noch erfüllbaren Be‑ gründungsanspruchs ein konfligierendes und ebenfalls verfassungsrechtlich geschütztes Interesse entgegengesetzt werden kann. Hier kommt wiederum nur eine zu vermeidende (Mehr‑)Belastung der Prüfer unter dem Gesichts‑ punkt der Effektivität des Prüfungswesens in Betracht. Fraglich ist bereits, ob eine solche überhaupt vorliegt bzw. vom Prüfer als solche empfunden wird, wenn er sich die Prüfungsleistungen erst in Erinnerung rufen muss, anstatt auf der Grundlage der noch präsenten mündlichen Prüfung sogleich die Begründung verfassen zu können. Jedenfalls erscheint der etwaige Mehraufwand für die Anfertigung der Begründung im Hinblick auf deren (mit‑) konstituierende Bedeutung für die Rechtsschutzmöglichkeiten des Prüflings zu gering, als dass dieser schon eine Woche nach Abschluss der mündlichen Prüfung die Freistellung der Prüfer von jeder Begründungs‑ 211 Vgl. BVerwG, Urt. v. 06.09.1995 – 6 18/93, NJW 1996, 2670 (2675), inso‑ weit nicht abgedruckt in BVerwGE 99, 185 ff.; VG Dresden, 11.02.2010 – 5 L 24/10, juris, Rn. 53; FG Niedersachsen, Urt. v. 15.12.2011 – 6 K 59/11, EFG 2012, 1090 (1095). Weiter mag maßgeblich sein, in wie vielen weiteren mündlichen Prü‑ fungen die Prüfer zwischenzeitlich als Prüfer tätig gewesen sind und welche Beson‑ derheiten es im Prüfungsablauf gegeben hat, aufgrund derer die mündliche Prüfung in besonderer Erinnerung geblieben ist. Die Praxis zeigt, dass sich die Prüfer im Einzelfall auch noch über ein Jahr nach der mündlichen Prüfung zumindest teilwei‑ se an den Ablauf der mündlichen Prüfung erinnern können; so auch VG Dresden, 11.02.2010 – 5 L 24/10, juris, Rn. 54. 212 VG Aachen, Bes. v. 04.01.2007 – 5 L 600/06, juris, Rn. 6.
462 Kap. 7: Das verwaltungsinterne Kontrollverfahren (Überdenkungsverfahren)
pflicht legitimieren könnte. Ein Ausschluss des Begründungsanspruchs er‑ scheint erst dann hinnehmbar, wenn erfahrungsgemäß eine für die Anferti‑ gung einer substantiellen Bewertungsbegründung genügende Erinnerung der Prüfer nicht mehr angenommen werden kann. Vorzugswürdig erscheint hier die vom VG Dresden herangezogene Fünfmonatsfrist, da es nicht vermittel‑ bar ist, weshalb sich ein Richter in dieser Funktion noch bis zu fünf Mona‑ te an eine mündliche Verhandlung, in seiner Eigenschaft als Prüfer aber nur zwei Monate an eine mündliche Prüfung soll erinnern können, und weshalb also insoweit mit zweierlei Maß gemessen werden soll213. cc) Hinweispflichten des Prüfungsamtes Fraglich ist, ob das Prüfungsamt und / oder die Prüfer den Prüfling zur Wahrung der Verhältnismäßigkeit des mit ihr erfolgenden Eingriffs in den Gewährleistungsgehalt der Art. 12 Abs. 1 Satz 1, 19 Abs. 4 Satz 1 GG auf das Bestehen einer Ausschlussfrist für die Geltendmachung des fakultativen Begründungsanspruchs hinweisen müssen, In seiner Grundsatzentscheidung zum Begründungsanspruch des Prüflings bei mündlichen Prüfungen hat das Bundesverwaltungsgericht eingangs der‑ selben noch eine generelle Hinweispflicht postuliert214, diese im Weiteren dann aber nur unter Verweis auf die konkreten Umstände des Einzelfalles bejaht215. In späteren Entscheidungen hat es dann ausdrücklich nur noch eine situationsabhängige Hinweispflicht angenommen216. In der Literatur und in der instanzgerichtlichen Rechtsprechung wird demgegenüber über‑ wiegend für die Annahme einer generellen Hinweispflicht des Prüfungsam‑ tes bzw. des Prüfers auf die (gesetzlichen) Obliegenheiten des Prüflings eingetreten217. Dafür spricht die bereits mehrfach thematisierte Aufgaben‑ verteilung im Prüfungsverfahren und die daraus – bzw. aus dem Prüfungs‑ rechtsverhältnis – erwachsenden Verpflichtungen und Obliegenheiten. Wäh‑ rend die Mitarbeiter des Prüfungsamtes hinreichend rechtskundig sind und insbesondere um das Bestehen einer Ausschlussfrist wissen, ist der Prüfling über seine Obliegenheiten zum Erhalt einer Bewertungsbegründung häufig allgemein Kischel, S. 169. 99, 185 (192). 215 BVerwGE 99, 185 (198). 216 BVerwG, Urt. v. 16.04.1997 – 6 C 9/95, NJW 1998, 323 (326); Urt. v. 10.10.2002 – 6 C 7/02, NJW 2003, 1063 (1065). 217 Kischel, S. 254, Müller-Franken, VerwArch 92 (2001), 507 (524); Zimmerling/Brehm, Prüfungsrecht, Rn. 647; FG Niedersachen, Urt. v. 15.12.2011 – 6 K 59/11, EFG 2012, 1090 (1095); VG Berlin, Bes. v. 30.07.2004 – 12 A 32.04, juris, Rn. 10; Hösch, JuS 1997, 602 (604); anders etwa VG Augsburg, Urt. v. 17.04.2012 – Au 3 K 10.1860, juris, Rn. 56; Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 720. 213 Vgl.
214 BVerwGE
C. Voraussetzungen für die Einleitung des Überdenkungsverfahrens463
völlig im Unklaren. Es erscheint daher unangemessen, den Prüfling auf‑ grund einer unterbliebenen Belehrung über seine Rechte möglicherweise im Unklaren zu lassen und deren Verlust hinzunehmen und zwar selbst dann, wenn dieser sich noch nicht (offenkundig) abzeichnet. Vielmehr muss das Prüfungsamt als Herr des Prüfungsverfahrens und aufgrund seiner daraus resultierenden Verantwortung für ein rechtmäßiges Prüfungsgeschehen als verpflichtet angesehen werden, die Grundlagen für die Erfüllbarkeit des fakultativen Begründungsanspruchs zu schaffen218. Die daraus resultierende Annahme einer Hinweispflicht erscheint auch deshalb geboten, weil im Regelfall eine Dokumentation des Prüfungsablaufs und der Gründe der Bewertung unterbleibt und deshalb die Rekonstruktion des Prüfungsablaufs und der Gründe der Bewertung selbst bei obliegenheitsgemäßem Verhalten des Prüflings erschwert ist219. So betrachtet lässt sich eine Hinweispflicht des Prüfungsamtes zudem mit der Verpflichtung des Gesetzgebers begrün‑ den, Grundrechtsschutz auch durch die Gestaltung des Verfahrens und hier dergestalt zu gewährleisten, dem Prüfling die Chance auf eine möglichst vollständige und zutreffende Begründung zu erhalten. Auch bei der Annahme einer generellen Hinweispflicht bestehen hinsicht‑ lich solcher Ausschlussfristen, die so kurz bemessen sind, dass zu diesem Zeitpunkt eine Begründung der Bewertung nach allgemeinen Erfahrungs‑ werten noch möglich ist, durchgreifende verfassungsrechtliche Bedenken. Entsprechende gesetzliche Regelungen sind daher – soweit möglich – ver‑ fassungskonform im Sinne einer Ordnungsvorschrift zu interpretieren, die die spätere Geltendmachung eines Begründungsanspruchs nicht ausschließt, im Übrigen als verfassungswidrig anzusehen. Sofern in der maßgeblichen Prüfungsordnung eine zeitliche Befristung des fakultativen Begründungsanspruchs des Prüflings nicht vorgesehen ist, besteht dieser vorbehaltlich seiner tatsächlichen Erfüllbarkeit im Prinzip also unbegrenzt. Nicht ausgeschlossen aber ist im Einzelfall die Annahme der Verwirkung220 bei Vorliegen der diesbezüglichen Voraussetzungen. 3. Form, Inhalt und Umfang der Begründung Ebenso wie die nunmehr geklärten Voraussetzungen des Begründungsan‑ spruchs richten sich auch die im Weiteren zu bestimmenden Anforderungen 218 Vgl. 219 Vgl.
Hösch, JuS 1997, 602 (605). FG Niedersachsen, Urt. v. 15.12.2011 – 6 K 59/11, EFG 2012, 1090
(1095). 220 Vgl. VG Berlin, Bes. v. 30.07.2004 – 12 A 32.04, juris, Rn. 13, das im kon‑ kreten Fall aber das Vorliegen der Voraussetzungen der Verwirkung verneint, siehe auch OVG Münster, Urt. v. 27.08.2001 – 14 A 481/96, NVwZ-RR 2002, 193 (195).
464 Kap. 7: Das verwaltungsinterne Kontrollverfahren (Überdenkungsverfahren)
an Form, Inhalt und Umfang der Begründung nach den Erfordernissen des von den Art. 19 Abs. 4 Satz 1, 12 Abs. 1 Satz 1 GG gewährleisteten effek‑ tiven Grundrechtsschutzes. a) Form der Bewertungsbegründung Was die erforderliche Form der Bewertungsbegründung anbelangt, so konnte hinsichtlich der Begründung der Bewertung schriftlicher Prüfungs‑ leistungen bereits herausgearbeitet werden, dass die der Gewährleistung eines effektiven Grundrechtsschutzes dienende Garantie-, Klarstellungs- und Kon trollfunktion der Bewertungsbegründung zwingend eine schriftliche Begrün‑ dung der Bewertung erfordert. Für die Begründung der Bewertung mündli‑ cher Prüfungsleistungen gilt dies aufgrund der dargestellten Besonderheiten des Prüfungs- und Bewertungsverfahrens nicht gleichermaßen. Hier wird der Prüfling häufig bereits mit einer (ergänzenden) mündlichen Erläuterung der Gründe der Bewertung zufrieden sein. Wenn allerdings auch nach dieser eine erhebliche Diskrepanz zwischen der Einschätzung der eigenen Leistung und deren Bewertung durch die Prüfer verbleibt und der Prüfling daher erwägt, Einwände gegen diese zu erheben, führt eine Abwägung zwischen dem Inte‑ resse des Prüfers an einer Geringhaltung des Begründungsaufwands und dem Interesse des Prüflings an einer möglichst effektiven Durchsetzung seines Grundrechts der Berufsfreiheit ebenfalls zu einem Anspruch auf eine schrift‑ liche Niederlegung der Bewertungsgründe. Denn auf deren Grundlage fällt dem Prüfling die Erhebung substantiierter Einwände gegen die Bewertung wesentlich leichter als auf Basis eines selbst erstellten Gedächtnisprotokolls über den Inhalt des mit dem Prüfer bzw. Prüfungsausschussvorsitzenden ge‑ führten Gesprächs. Insbesondere macht die Garantie- und Klarstellungsfunk‑ tion der schriftlichen Bewertungsbegründung den anderenfalls erforderlichen und kaum möglichen Nachweis entbehrlich, dass die Prüfer die Bewertung in einer bestimmten Art und Weise begründet haben. Allerdings liegt es auf der Hand, dass der Prüfling aus Gründen der Ver‑ hältnismäßigkeit unmittelbar im Anschluss an die Bekanntgabe der Bewer‑ tung keine schriftliche Begründung verlangen kann221. Im Übrigen hängt der Anspruch des Prüflings auf eine schriftliche Darlegung der Bewertungs‑ gründe nach der zutreffenden Auffassung des Bundesverwaltungsgerichtes nur davon ab, dass der Prüfling eine solche verlangt und zum Zeitpunkt dieses Verlangens den Prüfern eine schriftliche Begründung unter zumutba‑ ren Bedingungen noch möglich ist222. Insoweit begegnen normative Rege‑ 221 BVerwGE
99, 185 (195). 99, 185 (186), 4. Leitsatz; BVerwG, Urt. v. 10.10.2002 – 6 C 7/02, NJW 2003, 1063 (1065); zustimmend Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 714; siehe auch 222 BVerwGE
C. Voraussetzungen für die Einleitung des Überdenkungsverfahrens465
lungen im jeweiligen Juristenausbildungsgesetz bzw. der Juristenausbil‑ dungsordnung, nach denen nur ein Anspruch auf eine mündliche Erläuterung der Gründe der Bewertung bestehen soll223, erheblichen Bedenken. Soweit dies möglich ist224, sind solche Regelungen aufgrund des soeben Ausge‑ führten verfassungskonform dahin auszulegen, dass eine schon erfolgte mündliche Begründung im unmittelbaren Anschluss an die Bekanntgabe der Bewertung einen weiteren Anspruch auf eine schriftliche Begründung nicht ausschließt, im Übrigen als verfassungswidrig anzusehen. b) Allgemeine Erfordernisse an Inhalt und Umfang der Bewertungsbegründung Auch der erforderliche Inhalt und Umfang der von den Prüfern vorzule‑ genden Bewertungsbegründung bestimmen sich nach den ihr unter Beach‑ tung der verfassungsrechtlichen Vorgaben zugewiesenen Funktionen225. Diesbezüglich ist einerseits an deren Aufgabe zu erinnern, durch die Doku‑ mentation des Abwägungsprozesses die Rationalität der darauf beruhenden und in einer bestimmten (Punkt‑) Bewertung zum Ausdruck kommenden Abwägungsentscheidung zu vermitteln226, andererseits der Zweck der Be‑ wertungsbegründung hervorzuheben, dem Prüfling die Formulierung subs‑ tantiierter materieller Rügen gegen die Bewertung zu ermöglichen und diese einer beschränkten gerichtlichen Kontrolle zugänglich zu machen227. aa) Mitteilung der leitenden Gründe (§ 108 Abs. 1 Satz 2 VwGO analog) Damit entsprechen die an die Begründung der Bewertung einer Prüfungs‑ entscheidung gestellten Erwartungen weitgehend denjenigen Funktionen, die auch die Gründe eines verwaltungsgerichtlichen Urteils erfüllen. Denn ne‑ ben dem als grundlegend erachteten Zweck, die Legitimation der getroffe‑ Zimmerling/Brehm, Prüfungsrecht, Rn. 643: „Die Entscheidung des Bundesverwal‑ tungsgerichtes bedeutet, dass auch die Bewertung mündlicher Prüfungsleistungen in der Regel schriftlich begründet werden muss“. 223 § 13 Abs. 4 Satz 2 NJAG; § 10 Abs. 2 JAO Bbg.; § 10 Abs. 2 JAO Berlin; § 21 Abs. 4 JAVO S.-H.; § 22 Abs. 4 JAG HH; § 18 Abs. 2 LÜ HH. 224 Dies ist nicht der Fall bei § 13 Abs. 4 Satz 2 NJAG, nach dessen ausdrück‑ lichen Wortlaut der Prüfling nur sofort eine mündliche Ergänzung der Begründung verlangen kann. 225 Vgl. jetzt ausdrücklich BVerwG, Bes. v. 08.03.2012 – 6 B 36.11, NJW 2012, 2054 (2055). 226 Vgl. Riehm, S. 163. 227 Vgl. BVerwG, Bes. v. 08.03.2012 – 6 B 36.11, NJW 2012, 2054 (2055).
466 Kap. 7: Das verwaltungsinterne Kontrollverfahren (Überdenkungsverfahren)
nen Entscheidung darzulegen228, soll gerade auch die schriftlich fixierte Urteilsbegründung als Grundlage und Ansatzpunkt für die Überprüfung der vom Gericht getroffenen Entscheidung dienen229. Die weitgehende Funk tionsgleichheit der für den Richter in § 108 Abs. 1 Satz 2 VwGO normierten und für den Prüfer jedenfalls aus verfassungsrechtlichen Gründen bestehen‑ den Begründungspflicht kann einerseits aufgrund der bereits mehrfach betonten strukturellen Ähnlichkeiten in den jeweiligen Entscheidungsfin‑ dungsprozessen nicht überraschen und legt es andererseits nahe, bei der Bestimmung des erforderlichen Inhalts und Umfangs der von dem Prüfer zu erstellenden Bewertungsbegründung an die den Richter treffenden Darle‑ gungspflichten anzuknüpfen. Auszugehen ist insoweit zunächst von § 108 Abs. 1 Satz 2 VwGO, wonach in dem Urteil die Gründe anzugeben sind, die für die richterliche Überzeugungsbildung leitend gewesen sind, und im Weiteren von der wie folgt vorgenommenen Konkretisierung der sich aus dieser Vorschrift damit ergebenden Anforderungen in Rechtsprechung und Literatur. Hiernach ergibt sich aus der Verpflichtung (nur) zur Angabe der leitenden (Beweg‑)Gründe die Notwendigkeit der Mitteilung der als gege‑ ben angesehenen tatsächlichen Umstände und derjenigen rechtlichen Erwä‑ gungen, die für die richterliche Entscheidungsfindung maßgeblich gewesen sind230. Dabei ist neben den als einschlägig angesehenen Rechtsgrundlagen ggf. anzugeben, weshalb dieser oder jener Sachverhalt als erwiesen angese‑ hen worden ist, und die Subsumtion unter die herangezogenen Rechtsvor‑ schriften231. In welcher Ausführlichkeit dies zu geschehen hat, wird durch die in § 108 Abs. 1 Satz 2 VwGO enthaltene Beschränkung auf die Mittei‑ lung der „leitenden Gründe“ bestimmt. Demnach ist es nicht erforderlich, alle für die Beantwortung der maßgeblichen Rechtsfragen in diese oder jene Richtung in Betracht kommenden Gesichtspunkte zu benennen und anzuge‑ ben, mit welchem Gewicht sie berücksichtigt worden sind232. Geboten ist aber die Mitteilung der tragenden Erwägungen der richterlichen Überzeu‑ gungsbildung233. Insgesamt ist erforderlich, dass die für das Urteil schließ‑ Höfling, in: Sodan/Ziekow, VwGO, § 108, Rn. 170. Höfling, in: Sodan/Ziekow, VwGO, § 108, Rn. 170; Kopp/Schenke, VwGO, § 108, Rn. 30; Dawin, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, § 117, Rn. 118; Kilian, in: Sodan/Ziekow, VwGO, § 117, Rn. 80. 230 Vgl. BVerwG, Bes. v. 30.06.2009 – 9 B 23/09, juris, Rn. 3; Bes. v. 20.10.2011 – 2 B 86/11, juris, Rn. 3; Bes. v. 25.09.2013 – 1 B 8/13; juris, Rn. 16; Kopp/Schenke, VwGO, § 108, Rn. 30; Höfling, in: Sodan/Ziekow, VwGO, § 108, Rn. 170; Dawin, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, § 108, Rn. 118. 231 Vgl. BVerwG, Bes. v. 12.03.2009 – 3 B 2/09, juris, Rn. 7; Bes. v. 30.06.2009 – 9 B 23/09, juris, Rn. 3; Clausing, in Schoch/Schneider/Bier, VwGO, § 117, Rn. 18. 232 Vgl. Kopp/Schenke, VwGO, § 108, Rn. 31. 233 Vgl. Kopp/Schenke, VwGO, § 117, Rn. 14; Clausing, in Schoch/Schneider/ Bier, VwGO, § 117, Rn. 118. 228 Vgl. 229 Vgl.
C. Voraussetzungen für die Einleitung des Überdenkungsverfahrens467
lich maßgeblichen Überlegungen in nachprüfbarer und nachvollziehbarer Weise offengelegt werden234. Zieht man diese Grundsätze zur Konkretisierung der den Prüfer treffen‑ den Begründungspflicht heran, ergibt sich folgendes Bild: Von geringer(er) Bedeutung (als bei der Rechtfertigung eines Urteilstenors) ist die Angabe der tatsächlichen Umstände, von denen der Prüfer bei der Bewertung aus‑ gegangen ist. Dies gilt namentlich für die Begründung der Bewertung schriftlicher Prüfungsleistungen, da die Bewertungsgrundlage hier urkund‑ lich vorliegt. Gleichwohl können sich wie gezeigt auch bei deren Ermittlung etwa infolge einer schwer lesbaren Handschrift Schwierigkeiten ergeben. In diesem Fall muss der Prüfer dann angeben, welche Passagen der Klausur er nicht entziffern bzw. in einen sinnhaften Zusammenhang bringen konnte. Sodann können vom Prüfer zwar keine Rechtsgrundlagen benannt235, wohl aber müssen von ihm diejenigen fachspezifischen Anforderungen angegeben werden, die sich bei seiner Auslegung der Prüfungsaufgabe für deren voll‑ ständige und zutreffende Bearbeitung ergeben haben und an denen er die (zu‑ vor ermittelte) Prüfungsleistung gemessen hat236. Mit anderen Worten sind in der Bewertungsbegründung analog zur erforderlichen Darstellung der Rechts‑ grundlagen und des Subsumtionsvorgangs im Rahmen der Urteilsgründe ins‑ besondere die fachspezifischen Bewertungskriterien anzugeben. Wie gesehen wird die vom Prüfer im (Abwägungs‑)Ergebnis anzugebende Qualität der Prüfungsleistung im Sinne einer bestimmten (Punkt‑)Bewertung aber nicht allein determiniert durch die fachspezifische Richtigkeit bzw. Vertretbarkeit der Ausführungen des Prüflings. Maßgeblich für das Urteil über die Brauchbarkeit der Prüfungsleistung sind vielmehr neben dem vom Prüfer angenommenen Anspruchsniveau der fachspezifischen Anforderun‑ gen die Art und Weise ihrer Bewältigung und damit diejenigen prüfungsleis‑ tungsbezogenen, spezifischen Bewertungskriterien (Geordnetheit der Dar‑ stellung, Zweckmäßigkeit des Prüfungsaufbaus, Argumentationsniveau etc.), deren konkrete Bedeutung und jeweiliger Erfüllungsgrad sich (ebenfalls) allein nach der subjektiven Einschätzung des Prüfers bemessen. Mithin ist es erforderlich, dass der Prüfer in der Bewertungsbegründung neben seiner fachspezifischen Einschätzung auch diejenigen Abwägungsgesichtspunkte 234 Vgl. BVerwG, Bes. v. 31.07.2002 – 8 C 37/01, juris, Rn. 41; Bes. v. 10.06.2003 – 8 B 32/03, juris, Rn. 7; Bes. v. 30.06.2009 – 9 B 23/09, juris, Rn. 3; Bes. v. 28.01.2010 – 6 B 50/09, juris, Rn. 18; Bes. v. 20.10.2011 – 2 B 86/11, juris, Rn. 3; Kopp/Schenke, VwGO, § 108, Rn. 31. 235 Zur erforderlichen Angabe der angewandten Rechtsnormen siehe explizit BVerwG, Bes. v. 12.03.2009 – 3 B 2/09, juris, Rn. 7. 236 Vgl. VG Stuttgart, Urt. v. 12.08.2009 – 12 4675/08, juris, 4. Leitsatz i. V. m. Rn. 28.
468 Kap. 7: Das verwaltungsinterne Kontrollverfahren (Überdenkungsverfahren)
bzw. prüfungsspezifischen Wertungen angibt, die für sein abschließendes Urteil über die Qualität der Prüfungsleistung (mit‑) bestimmend gewesen sind. Hiernach bedarf es also nicht der – letztlich auch gar nicht mögli‑ chen – Aufdeckung sämtlicher bewertungsbeeinflussender Gesichtspunkte. Wohl aber kann vom Prüfer die Angabe derjenigen Erwägungen verlangt werden, welche für die von ihm getroffene Auswahl und erfolgte Zusam‑ menstellung des Abwägungsmaterials sowie seine Gewichtung und Abwä‑ gung im Rahmen der teil- und gesamtleistungsorientierten Brauchbarkeits‑ prüfung tragend gewesen sind. Anders formuliert besteht im Sinne des hier entwickelten Gebots der formalen Rationalität das Erfordernis, dass die Gründe der Bewertung so ausführlich angegeben werden, dass die (Punkt‑)Bewertung schlüssig und nachvollziehbar aus dem Wortgutachten folgt237. bb) Äquivalenter Anspruchsinhalt nach der Rechtsprechung des BVerwG Die hier in entsprechender Anwendung von § 108 Abs. 1 Satz 2 VwGO entwickelten Anforderungen an Inhalt und Umfang der Bewertungsbegrün‑ dung entsprechen im Wesentlichen denjenigen Festlegungen, die das Bun‑ desverwaltungsgericht bereits in seiner Grundsatzentscheidung zur Begrün‑ dungspflicht der Prüfer bei schriftlichen Prüfungen ohne die hier vorgenom‑ mene normative Anbindung getroffen und an denen es bis zuletzt festgehal‑ ten hat238. So stellt auch das Bundesverwaltungsgericht im Ausgangspunkt den Zweck der Bewertungsbegründung in den Vordergrund, den von Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG geforderten effektiven Grundrechtsschutz zu gewährleis‑ ten239. Hieraus leitet es das Erfordernis ab, dass die Begründung so be‑ schaffen sein müsse, dass die Möglichkeit des Prüflings, durch die Erhebung substantiierter Einwände namentlich gegen die prüfungsspezifischen Wer‑ tungen (zunächst) deren verwaltungsinternes Überdenken zu initiieren, ebenso gewährleistet sein müsse wie sein Recht auf eine gerichtliche Kon‑ trolle der Prüfungsentscheidung240. Diese Voraussetzungen sind nach der 237 BayVGH, Urt. v. 17.03.2003 – 7 B 02.640, juris, Rn. 23; Bes. v. 21.11.2011 – 7 ZB 11.1320, BayVBl. 2012, 214 (215); VG Ansbach, Urt. v. 12.11.1998 – AN 2 K 95.02133, juris, Rn. 19, im Anschluss an BVerwG, Urt. v. 16.03.1994 – 6 C 5/93, NVwZ 1994, 582 (584). 238 Siehe zuletzt BVerwG, Bes. v. 08.03.2012 – 6 B 36.11, NJW 2012, 2054 (2055). 239 BVerwGE 91, 262 (265); BVerwG, Bes. v. 08.03.2012 – 6 B 36.11, NJW 2012, 2054 (2055). 240 Vgl. BVerwGE 91, 262 (268); BVerwG, Bes. v. 08.03.2012 – 6 B 36.11, NJW 2012, 2054 (2055).
C. Voraussetzungen für die Einleitung des Überdenkungsverfahrens469
Einschätzung des Bundesverwaltungsgerichtes nur dann gegeben, wenn der Prüfling die die Bewertung tragenden Gründe der Prüfer in den Grundzügen nachvollziehen kann, d. h. diejenigen Kriterien erfährt, die für die Bewer‑ tung seiner Prüfungsleistung maßgeblich waren, und ihm ferner mitgeteilt wird, wie die Anwendung dieser Kriterien in wesentlichen Punkten zu dem Bewertungsergebnis geführt hat241. Es müsse aus der Bewertungsbegrün‑ dung zwar nicht in allen Einzelheiten, aber doch in den für das Ergebnis ausschlaggebenden Punkten erkennbar sein, welchen Sachverhalt sowie welche allgemeinen oder besonderen Bewertungsmaßstäbe der Prüfer zu‑ grunde gelegt hat und auf welcher wissenschaftlich-fachlichen Annahme des Prüfers die Bewertung beruht242. Vereinzelt hat auch das Bundesverwal‑ tungsgericht später dem vorliegenden Ansatz entsprechend die Erfordernisse an die Begründung der Prüfer leitsatzartig dahingehend zusammengefasst, dass sich die allgemeinen Gedankengänge des Prüfers schlüssig nachvoll‑ ziehen lassen243 bzw. diese plausibel sein müssten244. Die vorstehend dargestellten Anforderungen sollen nach dem Bundesver‑ waltungsgericht mit Einschränkungen, die sich aus den Besonderheiten der Prüfungsanforderungen in einer mündlichen Prüfung ergeben sollen, auch für die Begründung der Bewertung der dort erbrachten Prüfungsleistungen gelten245. Da hier als wesentlich für die Bewertung vor allem die Art und Weise der Beantwortung der Prüfungsfragen in der Situation der Gruppen‑ prüfung angesehen wird246, die dafür maßgeblichen Bewertungskriterien aber nur für begrenzt erläuterungsfähig gehalten werden, soll der Schwer‑ punkt der Begründungspflicht daher bei den fachspezifischen Inhalten der Prüfung liegen247. Gleichwohl hält das Bundesverwaltungsgericht eine Er‑ läuterung der prüfungsspezifischen Wertungen, die nach dessen Einschät‑ zung die Gesamtbewertung einer mündlichen Prüfungsleistung bestimmen, in gewissen Grenzen für möglich und zur Gewährleistung eines effektiven Grundrechtsschutzes auch für erforderlich248. So ließen sich jedenfalls die Grundlagen der prüfungsspezifischen Wertungen und deren wesentlichen Kriterien angeben249. Neuerdings betont das Bundesverwaltungsgericht, 241 Vgl. BVerwGE 91, 261 (266); BVerwG, Bes. v. 08.03.2012 – 6 B 36.11, NJW 2012, 2054 (2055). 242 Vgl. BVerwGE 91, 262 (268); BVerwG, Bes. v. 08.03.2012 – 6 B 36.11, NJW 2012, 2054 (2055). 243 BVerwG, Urt. v. 16.03.1994 – 6 C 5/93, NVwZ-RR 1994, 582 (584). 244 BVerwG, Bes. v. 11.06.1996 – 6 B 88/95, juris, Rn. 7, 11. 245 BVerwGE 99, 185 (196). 246 BVerwGE 99, 185 (196 f.). 247 BVerwGE 99, 185 (197). 248 BVerwGE 99, 185 (197). 249 BVerwGE 99, 185 (197).
470 Kap. 7: Das verwaltungsinterne Kontrollverfahren (Überdenkungsverfahren)
dass auch bei der Begründung der Bewertung schriftlicher Prüfungsleistun‑ gen die Erläuterung der prüfungsspezifischen Bewertungen nicht ausgespart bleiben dürfe, da gerade diese im verwaltungsinternen Kontrollverfahren zum Überdenken anstünden250. In der instanzgerichtlichen Rechtsprechung sind die vom Bundesverwal‑ tungsgericht entwickelten Maßgaben für die Bestimmung des notwendigen Inhalts und Umfangs der Begründung der Bewertung einer schriftlichen oder mündlichen Prüfungsleistung durchgängig rezipiert und ohne weiter gehenden (dogmatischen) Erkenntnisgewinn fortgetragen worden251. Dieser Befund gilt auch für die Leistungen der bayerischen Verwaltungsgerichts‑ barkeit, in der aber wie bereits dargelegt zu Recht das Erfordernis der Schlüssigkeit und Nachvollziehbarkeit der Begründung als Ausfluss des Postulats der (formalen) Rationalität der Bewertung betont wird252, dem nämlich dann Genüge getan ist, wenn die Korrekturanmerkungen des Prü‑ fers bei unterstellter Richtigkeit imstande sind, die (Punkt‑)Bewertung zu tragen253. Auch in der Literatur beschränkt man sich im Wesentlichen auf die Referierung der vom Bundesverwaltungsgericht herausgearbeiteten Grundsätze254. cc) Verfassungsrechtliche Determinanten Da die hier in Orientierung an § 108 Abs. 1 Satz 2 VwGO aufgestellten Begründungsanforderungen weitgehend denjenigen Grundsätzen entspre‑ chen, die das Bundesverwaltungsgericht unmittelbar aus den Art. 12 Abs. 1 250 BVerwG,
Bes. v. 08.03.2012 – 6 B 36.11, NJW 2012, 2054 (2055). Mannheim, Urt. v. 13.06.1995 – 9 S 2091/94, NVwZ-RR 1996, 27 (27); Bes. v. 23.04.2010 – 9 S 278/10, juris, Rn. 2; BayVGH, Urt. v. 17.10.2003 – 7 B 02.640, juris, Rn. 26; OVG Sachsen-Anhalt, Urt. v. 22.07.2009 – 3 L 133/07, juris, Rn. 33; OVG Lüneburg, Urt. v. 24.05.2011 – 2 LB 158/10, NordÖR 2012, 98 (100 f.); VG Dresden, Urt. v. 04.06.2008 – 5 K 38/08, juris, Rn. 147; siehe als Bei‑ spiel für eine bloße Akzentuierung der anerkannten Grundsätze VG Stuttgart, Urt. v. 12.08.2009 – 12 K 2406/08, juris, Rn. 31, mit dem Hinweis, dass der Prüfer ver‑ pflichtet sei, seine Bewertungsbegründung zu substantiieren. 252 BayVGH, Urt. v. 17.03.2003 – 7 B 02.640, juris, Rn. 23; Bes. v. 21.11.2011 – 7 ZB 11.1320, BayVBl. 2012, 214 (215); VG Ansbach, Urt. v. 12.11.1998 – AN 2 K 95.02133, juris, Rn. 19, im Anschluss an BVerwG, Urt. v. 16.03.1994 – 6 C 5/93, NVwZ 1994, 582 (584). 253 Siehe zur Definition der Schlüssigkeit OVG Münster, Urt. v. 25.04.1997 – 22 A 4028/94, NWVBl. 1997, 434 (435); vgl. insoweit auch VG Düsseldorf, Urt. v. 02.07.2010 – 15 K 1415/10, juris, Rn. 48: „unschlüssig ist die Argumentation des Prüflings, wenn sie die Zielrichtung der Prüferkritik verkennt“. 254 Siehe Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 706 und 709 f.; Zimmerling/Brehm, Prü‑ fungsrecht, Rn. 631 f.; Müller-Franken, VerwArch 92 (2001), 507 (516 f.). 251 VGH
C. Voraussetzungen für die Einleitung des Überdenkungsverfahrens471
Satz 1, 19 Abs. 4 Satz 1 GG abgeleitet hat und die weithin anerkannt sind, scheint sich die Frage zu erübrigen, ob die Begrenzung der Begründungs‑ pflicht der Prüfer auf die Mitteilung der tragenden Erwägungen den verfas‑ sungsrechtlichen Anforderungen genügt. Gleichwohl ist es natürlich nicht von vornherein ausgeschlossen, dass aus den maßgeblichen verfassungsrecht‑ lichen Determinanten weiter gehende Anforderungen insbesondere an die Ausführlichkeit der Begründung folgen. Ergänzend zu benennen ist diesbe‑ züglich das in Art. 20 Abs. 3 GG verankerte Rechtsstaatsprinzip, das unter dem Gesichtspunkt des aus ihm ableitbaren Willkürverbots eine sachbezoge‑ ne und so ausführliche Begründung der Bewertung fordert, dass sich diese rational nachvollziehen und keine ernsthaften Zweifel an ihrer Legitimität aufkommen lässt. Aus diesem Postulat folgt aber auch nur, dass die mitgeteil‑ ten Begründungserwägungen imstande sein müssen, die erfolgte (Punkt‑)Be wertung zu tragen255. Darüber hinausgehende Erfordernisse an den Umfang der Begründung lassen sich im Ergebnis ebenso wenig aus den Art. 12 Abs. 1 Satz 1, 19 Abs. 4 Satz 1 GG ableiten. Zwar muss dem Prüfling zur Gewähr‑ leistung des hiernach geforderten effektiven Rechtsschutzes Zugang zu den‑ jenigen Informationen verschafft werden, derer er bedarf, um die Rechtsfeh‑ lerhaftigkeit der Abwägungsentscheidung aufzeigen zu können. Die Mittei‑ lung auch nicht tragender Erwägungen in der Bewertungsbegründung wäre für den Prüfling allerdings unter Rechtsschutzgesichtspunkten nicht mit einer Effektivitätssteigerung verbunden, da selbst deren Abänderung zugunsten des Prüflings an der Gesamtbewertung nichts ändern könnte. Damit folgt also auch aus den Art. 19 Abs. 4 Satz 1, 12 Abs. 1 Satz 1 GG kein Begründungs‑ anspruch des Prüflings, der über den materiellen Gehalt der in § 108 Abs. 1 Satz 2 VwGO analog verankerten Gewährleistung hinausginge. dd) Konkretisierung der Ursprungsbegründung Sofern der Prüfling nach erfolgter Kenntnisnahme von den an den vorste‑ henden Anforderungen ausgerichteten Bewertungsgründen die Berechtigung der in ihnen zum Ausdruck kommenden Prüferkritik mit substantiierten Einwänden infrage stellt, kann deren vollständige oder teilweise Zurückwei‑ sung im daraufhin eingeleiteten Verfahren des Überdenkens der Bewertung zu einer Präzisierung der Begründung im Sinne einer näheren Erläuterung und / oder Ergänzung der bereits mitgeteilten (tragenden) Erwägungen der Bewertung führen. Denn der Prüfer ist aus Garantie-, Klarstellungs- und Kontrollgründen auch zur Dokumentation des Überdenkens- und ggf. erneu‑ ten Abwägungsprozesses und insoweit zur rational nachvollziehbaren Dar‑ 255 Siehe zur erforderlichen Eignung der Begründung, den Urteilstenor zu tra‑ gen, BVerwG, Bes. v. 25.09.2013 – 1 B 8/13, juris, Rn. 17.
472 Kap. 7: Das verwaltungsinterne Kontrollverfahren (Überdenkungsverfahren)
legung der maßgeblichen Gründe verpflichtet, die ihn dazu bewogen haben, auch im Lichte der Einwendungen des Prüflings die Bewertung aufrechtzu‑ erhalten256. Dabei hängt der Umfang der möglichen Konkretisierung der Ursprungsbegründung von dem weiter unten im Einzelnen noch zu klären‑ den Ausmaß der Äußerungslast des Prüfers im Überdenkungsverfahren ab. Nimmt man hier insbesondere mit dem Bundesverwaltungsgericht an, dass jenes durch das Maß der Substantiierung der Einwände durch den Prüfling determiniert wird und demgemäß die Begründung des Prüfers umso detail‑ lierter ausfallen muss, je konkreter die Einwendungen des Prüflings sind257, kann die Ursprungsbegründung in ihrem Umfang erheblich wachsen. Verfehlt erscheint es aber, aus diesem Befund – wie es das Bundesver‑ waltungsgericht für die Erfüllung des Begründungsanspruchs des Prüflings (bei mündlichen Prüfungen) angenommen hat – den dogmatischen Rück‑ schluss zu ziehen, dass dieser deshalb (von vornherein) in zwei Stufen zu realisieren sei, bei der die Begründung auf der ersten Stufe nur rechtsstaat‑ liche Mindeststandards erfüllen müsse und ggf. auf der zweiten Stufe bei der Erhebung substantiierter Einwände konkretisiert werde258. Soweit deren Geltendmachung zu einer Konkretisierung der (tragenden) Gründe der Be‑ wertung führt, stellt sich dies als bloßer Nebeneffekt der Erfüllung des Anspruchs des Prüflings auf ein Überdenken der Bewertung, nicht aber ei‑ nes im Prinzip von vornherein bestehenden und nur der Aktivierung bedürf‑ tigen Anspruchs auf eine „weitere, konkrete“ Begründung der Bewertung dar259. Dass der Prüfling eine Konkretisierung der Begründung nicht er‑ zwingen kann, belegt auch die Überlegung, dass diese im Regelfall ausblei‑ ben kann, wenn er mit seinen Bewertungsrügen durchdringt und damit sein Primärziel einer Anhebung der Bewertung erreicht. Angesichts dieses im Vordergrund stehenden Begehrens bei einer Initiierung des Überdenkungs‑ verfahrens wird der Zweck desselben auch nicht zutreffend erfasst, wenn stattdessen von einem Begehren des Prüflings die Rede ist, eine Erläuterung und Präzisierung der bisherigen Begründung zu erhalten260. Auch wenn der 256 Vgl. BVerwG, Bes. v. 15.07.2010 – 2 B 104/09, juris, Rn. 10; VGH Mann‑ heim, Urt. v. 16.02.2009 – 4 S 1071/08, juris, Rn. 32; siehe auch – wenn auch zu‑ rückhaltender – BFHE 191, 140 (147). 257 Vgl. BVerwGE 99, 185 (194 f.); siehe auch BVerwG, Bes. v. 15.07.2010 – 2 B 104/09, juris, Rn. 10; HessVGH, 28.04.2004 – 13 K 1182/02, juris, Rn. 37; siehe auch BayVGH, Urt. v. 17.10.2003 – 7 B 02.640, juris, Rn. 27. 258 BVerwG, Bes. v. 20.05.1998 – 6 B 50/97, NJW 1998, 3657 (3658); zustim‑ mend Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 718; Müller-Franken, VerwArch 92 (2001), 507 (521 f.). 259 So aber BVerwG, Bes. v. 20.05.1998 – 6 B 50/97, NJW 1998, 3657 (3658). 260 So aber VGH Mannheim, Urt. v. 16.02.2009 – 4 S 1071/08, juris, Rn. 32; VG Hamburg, Urt. v. 28.06.2013 – 2 K 1516/11, n. v., UA S. 13.
C. Voraussetzungen für die Einleitung des Überdenkungsverfahrens473
Prüfling diese gewissermaßen hilfsweise im Falle der Zurückweisung seiner Einwände begehrt, steht eine Erweiterung der Begründung nicht in seinem Belieben261, weil diese als bloße Nebenfolge der Realisierung des Überden‑ kensanspruchs unter dem Vorbehalt hinreichender Substantiierung der vor‑ getragenen und vom Prüfer zurückgewiesenen Einwände steht und zudem das Vorliegen von Angriffspunkten in der Ursprungsbewertung zur Voraus‑ setzung hat. Damit bleibt es im Ergebnis dabei, dass der Prüfling lediglich einen – einheitlich zu erfüllenden – Begründungsanspruch hat, der auf die Mitteilung der tragenden Gründe der Abwägungsentscheidung gerichtet ist. Auch insoweit lassen sich Parallelen zum erforderlichen Umfang der Urteilsgründe ziehen. So kann das Gericht zwar in unmittelbarer bzw. ent‑ sprechender Anwendung des § 117 Abs. 5 VwGO im Rahmen der Urteils‑ begründung auf die Ausführungen in einer vorangegangenen Entscheidung – etwa einen in einem Prozesskostenhilfebewilligungsverfahren ergangenen Beschluss – verweisen262. Wenn und soweit die in Bezug genommenen Darlegungen allerdings von einem der Beteiligten des Verwaltungsstreitver‑ fahrens mit substantiierten Einwänden infrage gestellt werden, müssen diese vom Gericht in der Begründung des in derselben Sache ergehenden Urteils zum Nachweis des erfolgten Überdenkens der angegriffenen Entscheidung nachvollziehbar beschieden werden263. Die im Zuge dessen angestellten Erwägungen stellen sich dann aber ebenfalls nicht als das Resultat der Er‑ füllung eines im Hinblick auf die in Bezug genommene Entscheidung po‑ tentiell bestehenden Anspruchs auf eine konkrete, weitere Begründung, sondern allein der notwendigen Gewährleistung rechtlichen Gehörs dar (§ 108 Abs. 2 VwGO, Art. 103 Abs. 2 GG). Auch wenn das prüfungsrechtliche Überdenkungsverfahren nach alledem von seiner Zweckbestimmung her ebenso nicht auf eine Ergänzung der Ur‑ sprungsbegründung gerichtet ist, schließt dies gleichwohl nicht aus, dass erst im Rahmen dieser Verfahrensgewährleistung der Anspruch des Prüflings auf Mitteilung der tragenden Gründe der Bewertung (vollständig) erfüllt wird. Diese Situation kann sich namentlich dann ergeben, wenn der Prüfer (erst) im formellen Stadium des Überdenkens auf den (ausschließlichen) Einwand des Prüflings reagiert, dass die bisher vorliegende Begründung in wesentlichen 261 So aber ablehnend VGH Mannheim, Urt. v. 13.06.1995 – 9 S 2091/94, NVwZ-RR 1996, 27 (28); siehe auch BayVGH, Urt. v. 17.10.2003 – 7 B 02.640, juris, Rn. 27. 262 Siehe zum zulässigen Umfang von Bezugnahmen BVerwG, Bes. v. 20.10.2011 – 2 B 86/11, juris, Rn. 4 f.; OVG Schleswig, Bes. v. 16.07.2013 – 2 LA 7/13, juris, Rn. 9 f.; Kopp/Schenke, VwGO, § 117, Rn. 16, 23; Clausing, in: Schoch/ Schneider/Bier, VwGO, § 117, Rn. 19. 263 BVerwG, Bes. v. 20.10.2011 – 2 B 86/11, juris, Rn. 5; Kopp/Schenke, VwGO, § 117, Rn. 27; Clausing, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, § 117, Rn. 20.
474 Kap. 7: Das verwaltungsinterne Kontrollverfahren (Überdenkungsverfahren)
Punkten unvollständig und / oder unverständlich oder im Wesentlichen unter‑ blieben sei und ihn deshalb nicht (hinreichend) in den Stand versetze, subs‑ tantiierte Einwände gegen die Bewertung zu erheben264. Insbesondere bei der Begründung und dem Überdenken der Bewertung mündlicher Prüfungsleis‑ tungen kann sich so im Anschluss an eine kursorische (mündliche) Erstbe‑ gründung die Realisierung des Begründungsanspruchs mit der verwaltungs‑ internen Kontrolle der Prüfungsentscheidung überschneiden. Dieser Befund macht es einerseits umso mehr erforderlich, sowohl im theoretisch-dogmati‑ schen Ausgangspunkt als auch in der praktischen Rechtsanwendung zwischen dem Begründungsanspruch auf der einen und dem Überdenkensanspruch auf der anderen Seite streng zu differenzieren, damit Letzterer nicht voreilig un‑ ter unzulässiger Verkürzung der Rechtsschutzmöglichkeiten des Prüflings als erfüllt angesehen wird. ee) (Teilweise) Nachreichung der tragenden Begründungserwägungen Andererseits ist damit die materiell-rechtliche Frage aufgeworfen, ob der Prüfer nicht nur dazu berechtigt ist, eine dem aufgezeigten Mindeststandard genügende Ursprungsbegründung im Sinne einer näheren Erläuterung und Ergänzung einzelner fach- und prüfungsspezifischer Wertungen im Über‑ denkungsverfahren zu konkretisieren, sondern darüber hinausgehend inner‑ halb oder außerhalb desselben eine anfänglich unterbliebene Begründung nachzuholen oder fehlende tragende Erwägungen nachzuschieben. Im Aus‑ gangspunkt der diesbezüglichen Überlegungen ist zunächst zu erkennen, dass sich die Frage der Zulässigkeit des Nachholens einer komplett fehlen‑ den bzw. des Nachbesserns einer unzureichenden Begründung bei der Be‑ wertung einer mündlichen Prüfungsleistung so nicht stellt, weil der Prüfling hier keinen obligaten, sondern nur einen von den dargestellten Vorausset‑ zungen abhängigen Begründungsanspruch hat, der letztlich von vornherein nur auf ein Nachholen bzw. Ergänzen der Begründung gerichtet ist265. Demgemäß stellt sich die Frage, ob eine fehlende oder unzureichende Be‑ gründung der Bewertung mit einer den ursprünglichen Begründungsmangel heilenden Wirkung zu einem späteren Zeitpunkt nachgeholt werden kann, letztlich auch nur bei der Bewertung schriftlicher Prüfungsleistungen. Mit dieser hat sich – soweit ersichtlich – erstmals Guhl eingehend be‑ fasst266. Im Ergebnis hat er die Möglichkeit des Nachholens einer Begrün‑ 264 Siehe zum ergänzenden Begründungsanspruch des Prüflings in diesem Fall bei mündlichen Prüfungen BVerwGE 99, 185 (195); BVerwG, Bes. v 20.05.1998 – 6 B 50/97, NJW 1998, 3657 (3658); ebenso Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 718; Müller-Franken, VerwArch 92 (2001), 507 (522). 265 Vgl. VG Frankfurt, Urt. v. 22.02.2013 – 4 K 366/11.F, juris, Rn. 20, 22. 266 Guhl, S. 249 ff.
C. Voraussetzungen für die Einleitung des Überdenkungsverfahrens475
dung mit heilender Wirkung für eine in der Vergangenheit liegende Bewer‑ tung verneint267. Zur Begründung hat er ausgeführt, dass Prüfungsentschei‑ dungen die Besonderheit aufwiesen, dass die Tatsachen, die als Gründe für die Bewertung infrage kämen, in hohem Maße mit dem Bewertungsvorgang selbst identisch seien268. Aus dieser Untrennbarkeit von Entscheidung und Bewertung hat er unter anderem gefolgert, dass eine fehlende Begründung im Sinne des Fehlens einer Motivation für die erfolgte Bewertung nicht nachträg‑ lich dadurch heilbar sei, dass irgendwelche – zur Zeit der Entscheidung selbst noch nicht vorhandenen – Motivationen nachgeschoben würden269. Erst durch eine unmittelbar artikulierte Motivation werde die Prüfungsentscheidung indi‑ vidualisiert, während eine neue nachgeschobene Begründung sie in ihrem We‑ sen verändere270. Zudem spreche auch die Warn- und Klarstellungsfunktion gegen die Möglichkeit des „Nachschiebens“ der Begründung. Es liege nahe, dass Bewertungsfehler nur dann weitgehend vermieden werden könnten, wenn die Motivationen gleichzeitig mit dem Zustandekommen der Entschei‑ dung artikuliert würden. Eine nachträgliche Begründung vermöge nichts im Hinblick auf die Richtigkeit der Entscheidung sicherzustellen, da ja das Ent‑ scheidungsergebnis in solchen Fällen bereits unumstößlich feststehe271. In der Rechtsprechung hat sich erstmals der VGH Mannheim eingehend mit der Frage der Nachholbarkeit einer ursprünglich fehlenden Begründung der Bewertung befasst272 und sich im Ergebnis der vorstehenden Argumen‑ tation Guhls vollständig angeschlossen273. Entsprechend wurde das seiner‑ zeit beklagte Prüfungsamt nicht nur zur Abgabe einer Begründung für die angegriffene Bewertung, sondern zur erneuten Bewertung der Prüfungsarbeit und zwar durch zwei andere Prüfer verpflichtet, weil nach Ansicht des VGH Mannheim nicht auszuschließen sei, dass die ursprünglichen Prüfer sich vom negativen Ergebnis ihrer früheren Beurteilung beeinflussen lassen und dieses – als feststehend – nur noch nachträglich begründen274. Die Entscheidung des VGH Mannheim ist vom Bundesverwaltungsgericht in seiner Grundsatzentscheidung zur Begründungspflicht der Prüfer275 im 267 Guhl,
S. 250, 256. S. 249. 269 Guhl, S. 250. 270 Guhl, S. 250. 271 Siehe zu den vorhergehenden Ausführungen insgesamt Guhl, S. 250 f. 272 VGH Mannheim, Urt. v. 15.02.1991 – 9 S 105/90, NVwZ 1991, 1205 (1207). 273 VGH Mannheim, Urt. v. 15.02.1991 – 9 S 105/90, NVwZ 1991, 1205 (1207). 274 VGH Mannheim, Urt. v. 15.02.1991 – 9 S 105/90, NVwZ 1205 (1207 f.); Guhl, S. 256, hält ebenfalls im Falle des Fehlens einer Begründung eine Neubewer‑ tung für erforderlich, äußert sich aber nicht dazu, ob diese durch neue Prüfer erfol‑ gen muss. 275 BVerwGE 91, 262 ff. 268 Guhl,
476 Kap. 7: Das verwaltungsinterne Kontrollverfahren (Überdenkungsverfahren)
Wesentlichen gebilligt worden. Weder der aus Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG folgende Grundrechtsschutz durch eine entsprechende Gestaltung des Prü‑ fungsverfahrens noch das Gebot des effektiven Rechtsschutzes verböten es, eine Bewertung der Prüfungsleistung mit entsprechend (neuer) Begründung nachzuholen und auf diese Weise einen früheren Begründungsmangel zu korrigieren276. Um den Mangel des Prüfungsverfahrens als behoben ansehen zu können, müsse jedoch erkennbar sein, dass der Prüfer sich erneut mit dem Inhalt der Prüfungsarbeit auseinandergesetzt hat. Zutreffend sei, dass nicht „irgendwelche Gründe im Sinne sachlicher Motivationen nachge‑ bracht“ werden dürften, sondern dass die Gründe, die das Ergebnis der Bewertung bestimmten, erkennbar aus dem Bewertungsvorgang hergeleitet sein müssten. Die inhaltliche Befassung mit der Prüfungsarbeit und deren Bewertung solle zwar grundsätzlich in engem zeitlichen Zusammenhang mit der Prüfung erfolgen, diese sei aber auch zu einem späteren Zeitpunkt noch möglich. Es sei nicht ersichtlich, wie ein Begründungsmangel auf andere Art und Weise auszugleichen wäre277. In Abweichung vom VGH Mannheim soll aber die erforderliche Neubewer‑ tung und deren Begründung durch die ursprünglichen und nicht durch andere Prüfer erfolgen278. Für den prinzipiellen Vorrang des Grundsatzes der Bewer‑ tung durch dieselben Prüfer spräche der Grundsatz der Chancengleichheit, nach dem für vergleichbare Prüflinge soweit wie möglich vergleichbare Prü‑ fungsbedingungen und Prüfungskriterien gelten müssten279. Dieser sei am besten gewahrt, wenn eine notwendig werdende Neubewertung von denselben Prüfern vorgenommen werde, da somit dieselben Einschätzungen und Erfah‑ rungen zugrunde gelegt werden würden wie bei den anderen Prüflingen280. Diese Rechtsprechung ist vom Bundesverwaltungsgericht in der Folgezeit mehrfach bestätigt281 und unter Bezugnahme auf dessen Grundsatzentschei‑ dung zum Verschlechterungsverbot282 dahin präzisiert worden, dass die Nachholung der Bewertung mit entsprechender (neuer) Begründung zulässig sei, soweit das Bewertungssystem nicht geändert werde und keine beliebi‑ gen Gründe nachgeschoben werden würden283. 276 BVerwGE
91, 262 (272). zum Ganzen BVerwGE 91, 262 (272 f.). 278 BVerwGE 91, 262 (273). 279 BVerwGE 91, 262 (273), unter Verweis auf BVerfGE 84, 34 (52). 280 BVerwGE 91, 262 (274). 281 BVerwG, Bes. v. 30.03.2000 – 6 B 8/00, NVwZ-RR 2000, 503 (503); Bes. v. 28.04.2000 – 6 B 6/00, juris, Rn. 7; BVerwG, Bes. v. 01.03.2001 – 6 B 6/01, NVwZ 2001, 922 (922 f.). 282 BVerwGE 109, 211 ff. 283 BVerwG, Bes. v. 30.03.2000 – 6 B 8/00, NVwZ-RR 2000, 503 (503); zu‑ stimmend BayVGH, Urt. v. 17.10.2003 – 7 B 02.640. 277 Siehe
C. Voraussetzungen für die Einleitung des Überdenkungsverfahrens477
Diese vom Bundesverwaltungsgericht aufgestellten Grundsätze sind in der instanzgerichtlichen Rechtsprechung ausnahmslos rezipiert worden284, so dass gegen die Einschätzung des BayVGH in einer jüngeren Entschei‑ dung, nach der es als geklärt angesehen werden könne, dass eine fehlende oder unvollständige Begründung bis zum Abschluss der letzten Tatsachen‑ instanz des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens nachgeholt oder nachgebes‑ sert werden könne285, aus der Perspektive der Rechtsprechung nichts zu erinnern ist. Auch in der Literatur wird im Anschluss an die Rechtsprechung des Bun‑ desverwaltungsgerichtes ohne Weiteres von der Möglichkeit der Nachholung und Nachbesserung der Begründung ausgegangen286, wobei Niehues / Fischer / Jeremias annehmen, diese normativ an § 45 Abs. 1 Nr. 2 (L)VwVfG anbinden zu können287. Die Frage, ob der Prüfer den Mangel einer vollständig fehlenden oder gemessen an den oben dargestellten Grundsätzen unzureichenden Begrün‑ dung durch deren Nachholung bzw. Ergänzung zu einem späteren Zeitpunkt heilen kann, stellt sich im Ergebnis als Scheinproblematik dar. Denn entge‑ gen einigen missverständlichen Ausführungen insbesondere in der Recht‑ sprechung begründet eine fehlende oder unzureichende Begründung der erfolgten Bewertung nicht nur einen formellen Mangel der Prüfungsent‑ scheidung im Sinne eines bloßen Verfahrensfehlers288. Die Begründung einer Bewertung „dient der sprachlichen Vermittlung ihrer Rationalität“289 und stellt wie ausgeführt mangels Aufdeckbarkeit des wahren psychischen Entscheidungsfindungsprozesses den einzigen Kontrollgegenstand dar290. Aus ihrem Fehlen bzw. ihrer Unvollständigkeit muss daher der Rückschluss gezogen werden, dass die Abwägungsentscheidung nicht entsprechend den materiell-rechtlichen Anforderungen getroffen worden ist291. Entweder hat 284 Siehe insbesondere die ständige Rechtsprechung des BayVGH, Bes. v. 14.09.2000 – 7 B 99.3753, BayVBl. 2001, 244 (244 f.); Urt. v. 17.10.2003 – 7 B 02.640, juris, Rn. 28; Bes. v. 01.06.2010 – 7 ZB 09.3014, juris, Rn. 15; Bes. v. 14.12.2010 – 7 ZB 10.2108, juris, Rn. 14; VG München, Urt. v. 12.03.2007 – M 3 K 06.2698, juris, Rn. 23. 285 BayVGH, Bes. v. 14.12.2010 – 7 ZB 10.2108, juris, Rn. 14. 286 Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 712; Löwer/Linke, WissR 30 (1997), 128 (148 f.); Müller-Franken, VerwArch 92 (2001), 507 (528). 287 Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 712. 288 So aber BVerwGE 91, 262 (270); BVerwG, Bes. v. 01.03.2001 – 6 B 6/01, NVwZ 2001, 922 (923): „… handelt es sich nicht weniger eindeutig um einen Man‑ gel des Prüfungsverfahrens, …“; dagegen zu Recht Kischel, S. 180. 289 Vgl. Riehm, S. 163. 290 Vgl. Riehm, S. 160 ff., insb. S. 163. 291 Vgl. allgemein BVerwG, Bes. v. 31.07.2002 – 8 C 37/01, juris, Rn. 41.
478 Kap. 7: Das verwaltungsinterne Kontrollverfahren (Überdenkungsverfahren)
eine Abwägung überhaupt nicht stattgefunden (Abwägungsausfall) und die Bewertung erfolgte damit willkürlich oder der Prüfer hat maßgebliche Ab‑ wägungsgesichtspunkte nicht oder nicht mit dem ihnen objektiv zukommen‑ den Gewicht berücksichtigt (Abwägungsdefizit bzw. ‑fehleinschätzung). Allemal kann nicht ausgeschlossen werden, dass bei einer ordnungsgemäßen Begründung, die eben auch Gegenstand der Selbstkontrolle des Prüfers ist, die Entscheidung anders ausgefallen wäre292. Bei einer fehlenden oder unvollständigen Begründung liegt damit sowohl ein formeller Begründungs‑ mangel als auch ein materielles Bewertungs- bzw. Abwägungsdefizit vor293. Rechtliche Konsequenz dieses Doppelmangels kann nur eine Neubewertung der Prüfungsleistung sein, die dann ordnungsgemäß zu begründen ist. Wenn das Bundesverwaltungsgericht ausführt, dass nicht ersichtlich sei, wie ein Begründungsmangel auf andere Art und Weise angemessen auszugleichen wäre294, kann dieser Einschätzung ohne Weiteres zugestimmt werden. Folgende Klarstellungen erscheinen aber geboten: Der Anspruch des Prüflings auf eine Neubewertung mit ordnungsgemäßer Begründung folgt unmittelbar aus den Art. 12 Abs. 1 Satz 1, 19 Abs. 4 Satz 1 GG. In mehr‑ facher Hinsicht verfehlt ist demgegenüber die weit verbreitete Annahme, dass eine fehlende oder unzureichende Begründung gemäß § 45 Abs. 1 Nr. 2 LVwVfG nachgeholt bzw. ergänzt werden könne295. Eine unmittelbare Anwendung von § 45 Abs. 1 Nr. 2 LVwVfG scheidet schon deshalb aus, weil nach § 2 Abs. 3 Nr. 2 LVwVfG die Vorschrift des § 39 LVwVfG, wonach ein Verwaltungsakt mit einer Begründung zu verse‑ hen ist, bei Prüfungsentscheidungen nicht anwendbar ist und infolgedessen die vom Anwendungsbereich nicht ausgenommene Vorschrift des § 45 Abs. 1 Nr. 2 LVwVfG ins Leere geht296. Überdies sieht § 45 Abs. 1 Nr. 2 LVwVfG nur die Möglichkeit vor, die Begründung eines Verwaltungsaktes nachzuholen bzw. zu ergänzen. Die Bewertung einer einzelnen Prüfungsar‑ beit stellt aber wie bereits eingangs der Untersuchung dargelegt keinen Verwaltungsakt dar. Schließlich ergibt sich aus § 45 Abs. 1 Nr. 2 LVwVfG auch nicht die im gegebenen Kontext angenommene Rechtsfolge, weil sich die Heilungsmöglichkeit nur auf den formellen Begründungsfehler, nicht aber auf das materielle Bewertungsdefizit erstreckt297. Deshalb stellt sich auch die Frage einer analogen Anwendbarkeit des § 45 Abs. 1 Nr. 2 LVw BVerwGE 92, 262 (270); Guhl, S. 256. BayVGH, Urt. v. 03.12.2001 – 7 B 01.774, juris, Rn. 37. 294 BVerwGE 91, 262 (273). 295 Siehe insbesondere VG München, Urt. v. 12.03.2007 – M 3 K 06.2698, juris, Rn. 23; Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 712. 296 Im Ergebnis ebenso Löwer/Linke, WissR 30 (1997), 128 (149). 297 Siehe allgemein Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, § 45, Rn. 45. 292 Vgl. 293 Vgl.
C. Voraussetzungen für die Einleitung des Überdenkungsverfahrens479
VfG von vornherein nicht, die im Übrigen aber bereits an dem Fehlen einer planwidrigen Regelungslücke als konstitutive Voraussetzung für eine Analo‑ gie298 scheitern würde. Es ist daher im Hinblick auf die fehlende Einschlägigkeit des § 45 Abs. 1 Nr. 2 LVwVfG auch mindestens missverständlich, von einem Nachholen oder Nachbessern der Bewertung zu sprechen299. Diese Formulierung sug‑ geriert nämlich, dass durch das Nachschieben einer Begründung letztlich doch der ursprüngliche Begründungsmangel geheilt und die „alte“ Bewer‑ tung damit aufrechterhalten werden kann. Nach den dargelegten Auffassun‑ gen ist dies aber gerade nicht der Fall. Diese Ansicht ist zutreffend, weil mangels Begründung der ursprünglichen Bewertung der ihr zugrundliegende Entscheidungs- bzw. Abwägungsprozess nicht erkennbar wird, so dass die Annahme der Nachholbarkeit der Begründung mit erst nachträglich ange‑ stellten bzw. dargelegten Erwägungen zu einer Wesensänderung der zunächst begründungslos erfolgten Bewertung führen würde300. Eine Wesensänderung markiert aber im allgemeinen Verwaltungsrecht auch bei Ermessensverwal‑ tungsakten anerkanntermaßen die Grenze der Zulässigkeit des Nachschie‑ bens von Gründen, soweit diese Möglichkeit überhaupt bejaht wird301. Ebenfalls entsprechend den allgemeinen Grundsätzen302 kommt daher kon‑ struktiv nur die Rücknahme der „alten“ und deren Ersetzung durch die neue Bewertung mit entsprechender Begründung in Betracht. Freilich ist zu be‑ denken, dass sich in der Praxis wegen der mangelnden Aufdeckbarkeit des psychischen Entscheidungsfindungsprozesses überhaupt gar nicht feststellen lässt, ob die vom Prüfer im Nachhinein gegebene Begründung die in der Vergangenheit getroffene oder eine tatsächlich vorgenommene Neubewer‑ tung rechtfertigt. Die Tatsache, dass zwischen dem Zeitpunkt der erfolgten Bewertung und der Nachreichung einer Begründung im Rechtsbehelfsverfahren infolge der Rüge ihres Fehlens üblicherweise ein erheblicher Zeitraum liegt, spricht jedoch dafür, dass die vom Prüfer erstmals mitgeteilten Erwägungen für die erfolgte Bewertung auf einer infolge der ihm nicht mehr präsenten ur‑ sprünglichen Motive notwendig gewordenen erneuten Befassung mit der Prüfungsarbeit beruhen und diesen neuen Entscheidungsfindungsprozess zu den Voraussetzungen einer Analogie Schmalz, Rn. 383 ff. aber etwa Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 712. 300 Vgl. allgemein Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, § 45, Rn. 51; Kopp/ Schenke, VwGO, § 113, Rn. 69; im Speziellen Guhl, S. 250. 301 Vgl. hierzu und zum Streitstand Kopp/Schenke, VwGO, § 113, Rn. 64 ff., insb. Rn. 64 m. Fn. 118; Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, § 45, Rn. 51. 302 Vgl. Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, § 45, Rn. 50, 67; Kopp/Schenke, VwGO, § 113, Rn. 68. 298 Vgl. 299 So
480 Kap. 7: Das verwaltungsinterne Kontrollverfahren (Überdenkungsverfahren)
dokumentieren. Selbst wenn der Prüfer aber mit der dargelegten Begrün‑ dung nicht den Prozess einer (nicht) erfolgten Neubewertung beschreibt, sondern mit dieser in der Sache nur die in der Vergangenheit erfolgte Be‑ wertung rechtfertigt, deren Grundlage möglicherweise kein ordnungsgemä‑ ßer Abwägungsprozess war, er also eine Scheinbegründung gibt, so belegt diese, sofern sie gemessen am Maßstab der rationalen Abwägung nicht zu beanstanden ist, dass die in der Vergangenheit in unzulässiger Art und Wei‑ se getroffene Entscheidung durchaus mit rationalen Erwägungen begründbar ist303. Im Ergebnis ist damit der Prüfling im Prinzip nicht beschwert, wenn die – wann auch immer erfolgte – Bewertung vom Prüfer sofort oder auch noch zu einem späteren Zeitpunkt mit rationalen Erwägungen plausibili‑ siert werden kann. Gleichwohl erweist sich die nach dem Dargelegten al‑ lein in Betracht kommende Heilung des Begründungs- und Bewertungs‑ mangels durch eine neue Bewertung mit ordnungsgemäßer Begründung aus der Rechtsperspektive des Prüflings nicht als unproblematisch. Denn der Prüfer muss sich für seine in der Vergangenheit erfolgte Bewertung eben‑ so verantworten wie für eine ggf. erfolgte Neubewertung304. Tatsächlich wird der Prüfer aus Gründen der eigenen Interessenwahrung daher regel‑ mäßig die ursprüngliche Bewertung selbst dann aufrechterhalten (müssen), wenn er im Rahmen der (erneuten) Durchsicht der Klausur zu dem Ergeb‑ nis kommt, dass die Klausur eigentlich (viel) besser hätte bewertet werden müssen. Denn wenn er nach einer Neubewertung eine (deutlich) bessere Note vergibt, gesteht er damit letztlich ein, im Rahmen der Erstbewertung willkürlich eine schlechte(re) Note vergeben zu haben. Durch ein solches Eingeständnis ist nicht nur die Qualifikation als Prüfer infrage gestellt. Ein solches Vorgehen könnte auch Rückschlüsse auf die Ausübung der beruf‑ lichen Tätigkeit zulassen und insoweit zu nachteiligen Konsequenzen füh‑ ren. Auch das Bundesverwaltungsgericht sieht die Gefahr, dass der Prüfer wegen solcher oder ähnlicher Erwägungen dazu neigen könnte, unter allen Umständen an der bisherigen Bewertung festzuhalten, wenn es ausführt, dass die Beibehaltung der Note nicht auf einer Änderung des Bewertungs‑ systems oder einem Nachschieben beliebiger Gründe beruhen dürfe305. Nicht die möglicherweise – aber nicht zwingend – sachfremden Motivati‑ onen für die Beibehaltung der Note stellen jedoch das eigentliche Problem dar, sondern die Tatsache, dass die Motivationen für die Vergabe der ur‑ allgemein Riehm, S. 165. allgemein Riehm, S. 165. 305 BVerwG, Bes. v. 30.03.2003 – 6 B 8/00, NVwZ-RR 2000, 503 (503), zur naheliegenden Befangenheit des Prüfers in der hier behandelten Fallkonstellation Müller-Franken, VerwArch 92 (2001), 507 (528 m. Fn. 146). 303 Vgl. 304 Vgl.
C. Voraussetzungen für die Einleitung des Überdenkungsverfahrens481
sprünglichen Note nicht oder unzureichend mitgeteilt worden sind und da‑ mit überhaupt gar nicht überprüft werden kann, ob die Beibehaltung der Note auf sachfremden Erwägungen beruht. Mit anderen Worten kann gar nicht festgestellt werden, ob der Prüfer sein Bewertungssystem geändert hat, wenn das ursprünglich zugrunde gelegte Bewertungssystem aufgrund einer fehlenden oder unzureichenden Begründung nicht oder nicht hinrei‑ chend erkennbar ist. Die vom Bundesverwaltungsgericht zugunsten des Prüflings vorgesehe‑ nen Schutzmechanismen versagen also offenkundig. Bereits die vorstehen‑ den Erwägungen streiten dafür, einen anderen als den bisherigen Prüfer mit der erforderlichen Neubewertung zu beauftragen. Entgegen dem Bundesver‑ waltungsgericht306 ist eine Heranziehung der bisherigen Prüfer nicht auf‑ grund des Grundsatzes der Chancengleichheit geboten. Vielmehr fordert dieser sogar die Beauftragung neuer Prüfer, wenn er gewährleisten soll, dass im Rahmen der Neubewertung dieselben Einschätzungen und Erfahrungen zugrunde gelegt werden wie bei der Erstbewertung307. Denn wenn eine Begründung ganz fehlt oder völlig unzureichend ist, ist es ja wie ausgeführt gerade nicht überprüfbar und damit nicht gewährleistet, dass die ursprüng‑ lichen Prüfer bei der Neubewertung dieselben Bewertungskriterien zugrunde legen wie bei der Erstbewertung. Ein neuer Prüfer wird aber immerhin im Regelfall diejenigen Bewertungskriterien zugrunde legen, die auch für die von ihm vorgenommene Bewertung der anderen Prüfungsarbeiten in dem jeweiligen Prüfungsdurchgang maßgeblich gewesen sind308. Überhaupt muss man sich fragen, wieso ein Prüfer, der im Rahmen des „ersten Versuchs“ unter (massiver) Missachtung der Rechte des Prüflings dessen verfassungsrechtlichen Anspruch auf eine die tragenden Erwägungen mitteilende und somit schlüssige und nachvollziehbare Bewertungsbegrün‑ dung nicht erfüllt und willkürlich eine Bewertung „ausgeworfen“ hat, be‑ rechtigt sein soll, die Leistung des Prüflings nochmals zu bewerten. Die Prüfer in den juristischen (Staats‑)Prüfungen sind Volljuristen und dass der Prüfling eine schlüssige und nachvollziehbare Begründung der Bewertung seiner Leistung beanspruchen kann, ist seit nunmehr 20 Jahren anerkannt. Der Begründungsanspruch des Prüflings und die daraus resultierenden Ver‑ pflichtungen können daher als bekannt vorausgesetzt werden. Wenn ein Prüfer sich trotzdem heutzutage darauf beschränkt, nur eine Note oder eine 306 BVerwGE
91, 262 (273 f.). aber nach dem BVerwGE 91, 262 (274) gewährleistet sein soll. 308 Vgl. in diesem Zusammenhang VG Dresden, Urt. v. 10.11.2004 – 5 K 1034/02, juris, Rn. 49; Urt. v. 07.11.2007 – 5 K 2149/03, juris, Rn. 58, 62. In diesen Entscheidungen wird jeweils die Neubewertung durch einen Korrektor verlangt, der bereits an dem einschlägigen Prüfungsdurchgang beteiligt war. 307 Was
482 Kap. 7: Das verwaltungsinterne Kontrollverfahren (Überdenkungsverfahren)
Zwei-Satz-Begründung hinzuschreiben, ist das Vertrauen in eine ordnungs‑ gemäße Erfüllung der dem Prüfer obliegenden Aufgaben so massiv erschüt‑ tert, dass dieser nach hier vertretener Auffassung zumindest in dem konkre‑ ten Fall nicht erneut als Prüfer tätig werden kann. Ob man dies mit der (generellen) Nichteignung des Prüfers oder mit seiner konkreten Befangen‑ heit begründet, die aus dem Umstand resultiert, dass er (zunächst) nicht bereit gewesen ist, dem verfassungsrechtlich legitimierten Begründungsan‑ spruch des Prüflings nachzukommen309, ist dabei nicht von entscheidender Bedeutung. Damit steht im Ergebnis fest, dass im Falle einer fehlenden bzw. völlig unzureichenden Begründung nur die Neubewertung der Prüfungsleistung durch einen anderen Prüfer in Betracht kommt. c) Realisierung des Begründungsanspruchs im konkreten Einzelfall Sofern man dem hier eingenommenen Rechtsstandpunkt beitritt, dass die tragenden Gründe der Bewertung schriftlicher Prüfungsleistungen nicht nachgeholt werden können, gewinnt die im Folgenden zu klärende Frage umso mehr an Bedeutung, mit welchen Angaben in welcher Art und Weise in welchem Umfang der Anspruch des Prüflings auf Mitteilung der tragen‑ den Gründe der Bewertung im jeweiligen Einzelfall zu erfüllen ist. Deren Beantwortung erscheint im Allgemeinen wie insbesondere im Rahmen der vorliegenden Untersuchung aber nur in dem Maße zweckmäßig, wie sich im Sinne einer praktischen Handreichung für den Prüfer, das Prüfungsamt und das Gericht aus den bereits dargelegten abstrakten Begründungsanforderun‑ gen weiter gehende konkrete (Kontroll‑)Maßstäbe entwickeln lassen. Demgemäß ist im Ausgangspunkt an die aus den Erfordernissen des ein‑ fachen und Verfassungsrechts resultierende Verpflichtung des Prüfers zu erinnern, die maßgeblichen Gründe der Bewertung in einem solchen Um‑ fang anzugeben, dass die (Punkt‑)Bewertung schlüssig und nachvollziehbar aus dem Wortgutachten folgt. Dies erfordert eine Plausibilisierung der Richtigkeit des Abwägungsergebnisses durch eine Konkretisierung des am Prüfungszweck ausgerichteten Abwägungsprogramms und eine Rechtferti‑ gung des hiervon geleiteten Abwägungsvorgangs durch Mitteilung der die‑ sen bestimmenden Erwägungen310. 309 Vgl. VG Dresden, Urt. v. 10.11.2004 – 5 K 1034/02, juris, Rn. 48; VG Ans‑ bach, Urt. v. 04.08.2011 – AN 2 K 10.01591, juris, Rn. 52. 310 Vgl. insoweit allgemein BVerfGE 115, 205 (247) zu den Erfordernissen im Rahmen der Begründung einer Abwägungsentscheidung.
C. Voraussetzungen für die Einleitung des Überdenkungsverfahrens483
aa) Die Offenlegung des fachspezifischen Bewertungsmaßstabs Im Rahmen der Bewertung einer Prüfungsleistung wird das maßgebliche Abwägungsprogramm unmittelbar weniger von den diesbezüglichen Vorga‑ ben in den einschlägigen Rechtsnormen, sondern mehr von der – ebenfalls einer gerichtlichen Kontrolle zugänglichen – fachspezifischen Einschätzung des Prüfers, welche Ergebnisse und Darlegungen bei sachgerechter Ausle‑ gung der Prüfungsaufgabe einschließlich des ihr zugrunde liegenden Sach‑ verhalts zu erwarten sind, bestimmt. Der daraus resultierende fachspezifi‑ sche Erwartungshorizont des Prüfers stellt sich aufgrund der den Prüflingen abverlangten Rechtsanwendung mittelbar damit ebenfalls als das Ergebnis der für richtig gehaltenen Anwendung der im konkreten Fall für einschlägig erachteten Rechtsnormen dar. Wenn und soweit sich damit wie bereits an früherer Stelle ausgeführt die Bewertung einer Prüfungsleistung jedenfalls auch als Subsumtionsvorgang darstellt, ist der Prüfer ebenso wie der Richter im Verwaltungsprozess dazu verpflichtet, die fachspezifischen Bewertungs‑ maßstäbe anzugeben, an denen er die konkrete Prüfungsleistung gemessen hat311. Der mit dieser Verpflichtung korrespondierende Begründungsanspruch des Prüflings lässt sich am zweckmäßigsten dadurch realisieren, dass der Prüfer eingangs seines Votums den bei allen Leistungsbewertungen im Rah‑ men des Prüfungsdurchgangs allgemein zugrunde gelegten Erwartungshori‑ zont darstellt, auf den er dann bei der nachfolgenden konkreten Würdigung der erbrachten Prüfungsleistung Bezug nehmen kann. Sieht der Prüfer von der Voranstellung des allgemeinen Anforderungsprofils ab, kann er seiner Verpflichtung zur Offenlegung des fachspezifischen Bewertungsmaßstabs nur noch dadurch nachkommen, dass das Anforderungsprofil der Klausur in die eigentliche Leistungsbewertung eingebettet dargestellt und dieses deren integraler Bestandteil wird. Dies wiederum lässt sich etwa dadurch realisie‑ ren, dass durch das ausführliche Darlegen der Mängel der Leistung mittelbar die Ideallösung des Klausurfalles aufgezeigt wird. Dies ist mit deutlich mehr Arbeitsaufwand verbunden als die Ausarbeitung eines Erwartungshori‑ zonts, der allen Leistungsbewertungen vorangestellt wird und auf den dann im Rahmen der Darstellung des Subsumtionsvorgangs, sprich der konkreten Beurteilung der Prüfungsleistung, Bezug genommen werden kann. Es liegt demnach im Prinzip im ureigenen Interesse des Prüfers, das Anforderungsprofil der Prüfungsaufgabe als Bestandteil der Bewertungsbe‑ gründung darzulegen. Geschieht dies nicht, ist in der Praxis zu beobachten, 311 Vgl. zutreffend VG Stuttgart, Urt. v. 12.09.2009 – 12 K 2406/08, juris, 4. LS i. V. m. Rn. 31; zur erforderlichen Angabe der Rechtsnorm im Urteil siehe BVerwG, Bes v. 12.03.2009 – 3 B 2/09, juris, Rn. 7.
484 Kap. 7: Das verwaltungsinterne Kontrollverfahren (Überdenkungsverfahren)
dass der höhere Arbeitsaufwand für die Anfertigung der Begründung, der mit dem Verzicht auf einen allgemeinen Erwartungshorizont einhergeht, häufig nicht geleistet wird, so dass in vielen Fällen die Einzelkritik und das Ergebnis der Bewertung in der Luft hängen und eine nicht schlüssige Be‑ wertungsbegründung moniert werden muss. Solche Befunde bilden dann den Nährboden für die in der Praxis häufig erhobene Forderung nach der Niederlegung eines Erwartungshorizonts oder die Offenlegung einer Mus terlösung in der Bewertungsbegründung. In Übereinstimmung mit der Rechtsprechung312 ist davon auszugehen, dass diese Forderung im Grund‑ satz nicht berechtigt ist, weil es wie aufgezeigt verschiedene Möglichkeiten gibt, um dem Anspruch des Prüflings auf Offenlegung des fachspezifischen Bewertungsmaßstabs nachzukommen313. Sofern der Prüfer allerdings zur Begründung seiner Bewertung auf die Hinweise zur Lösung der Prüfungs‑ aufgabe in der amtlichen Lösungsskizze Bezug nimmt, bedarf es entweder deren Zurverfügungstellung oder der Referierung ihres Inhalts314. Im Falle der Verwendung eines allgemeinen Anforderungsprofils bzw. einer vorangestellten Musterlösung kann die nachfolgende konkrete Bewer‑ tungsbegründung zwar grundsätzlich knapper ausfallen als bei einer integ‑ ralen Offenlegung der fachspezifischen Bewertungsmaßstäbe. Allerdings reicht die in der Praxis immer wieder anzutreffende alleinige Feststellung, dass die Prüfungsleistung gemessen an den dargelegten Anforderungen (nur) das mit der vergebenen Bewertung einhergehende und in der Bundesnoten‑ verordnung beschriebene Niveau erreiche, nicht aus. Der Prüfer kann sich also mit anderen Worten nicht darauf beschränken, zur Begründung der fachspezifischen Wertung allein auf seinen allgemeinen Erwartungshorizont zu verweisen315. Er muss vielmehr die konkret ermittelte Prüfungsleistung in Beziehung setzen zu den dort angelegten Anforderungen und darlegen, in welcher Art und Weise der Prüfling diesen (nicht) gerecht geworden ist, ebenso wie der Richter verpflichtet ist, anzugeben, in welchen konkreten Bezug er den ermittelten Sachverhalt zu den angewandten Rechtsnormen gesetzt hat316. Die erforderliche Subsumtionsleistung ist allein vom Prüfer 312 Ablehnend OVG Münster, Urt. v. 23.08.2007 – 14 A 3270/06, juris, Rn. 17; VGH Mannheim, Bes. v. 23.04.2010 – 9 S 278/10, juris, Rn. 2; VG Köln, Urt. v. 26.02.2009 – 6 K 1421/06, juris, Rn. 30. 313 Ebenso Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 710. 314 OVG Saarlouis, Bes. v. 08.05.2013 – 2 B 284/13, juris, Rn. 29; Zimmerling/ Brehm, Prüfungsrecht, Rn. 633. 315 So auch – wenngleich im Hinblick auf die Begründungsanforderungen des Zweitvotanten – VGH Mannheim, Urt. v. 10.11.2010 – 9 S 591/10, VBlBW 2011, 189 (192): „… reicht es nicht aus, lediglich auf den … Erwartungshorizont hinzu‑ weisen“. 316 Vgl. BVerwG, Bes. v. 30.06.2009 – 9 B 23/09, juris, Rn. 3.
C. Voraussetzungen für die Einleitung des Überdenkungsverfahrens485
und nicht vom Prüfling und / oder vom Gericht zu erbringen. Anderenfalls wäre der Garantie- und Klarstellungsfunktion der Bewertungsbegründung nicht hinreichend Genüge getan. In welchem Umfang dabei die Korrelation der Ausführungen des Prüflings mit den aufgezeigten allgemeinen Anforde‑ rungen dargestellt werden muss, hängt dabei von den Umständen des Ein‑ zelfalles ab. Allerdings gibt hier wiederum das Gebot der Schlüssigkeit und Nachvollziehbarkeit der Bewertungsbegründung eine verbindliche Richt‑ schnur vor, so dass jedenfalls eine Subsumtion unter die bewertungsbestim‑ menden fachspezifischen Anforderungen erfolgen muss und hier hinsichtlich des vom Prüfer hergestellten Bezugs kein Raum bleiben darf für Interpreta‑ tionen, Mutmaßungen und Spekulationen317. bb) Die Plausibilisierung der Abwägungsentscheidung Die Abarbeitung des Abwägungsprogramms im Sinne der Vornahme der fachspezifischen Bewertung stellt nur einen Teilaspekt im Rahmen der Zu‑ sammenstellung des Abwägungsmaterials dar und bildet damit nur die Grund‑ lage für den eigentlichen Abwägungsvorgang, innerhalb dessen sodann im Rahmen der sogenannten prüfungsspezifischen Wertung die fachspezifischen Teil-(fehl‑)Leistungen des Prüflings gewichtet und in der gesamtleistungsori‑ entierten Brauchbarkeitsprüfung gegeneinander abgewogen werden müssen. Allein mit der schlüssigen und nachvollziehbaren Darlegung der fachspezifi‑ schen Wertungen bliebe die Bewertungsbegründung somit unvollkommen. Darüber hinaus müssen also auch die maßgeblichen Erwägungen der prü‑ fungsspezifischen Wertung mitgeteilt, d. h. diejenigen Kriterien angegeben und in ihrer Anwendung erläutert werden, die im Vorgang des Gewichtens und Abwägens zum Tragen gekommen und für das jeweilige Abwägungser‑ gebnis bestimmend gewesen sind. Dabei folgt bereits aus der damit zum Aus‑ druck kommenden Beschränkung des Prüfers auf die Verpflichtung nur zur Angabe der ausschlaggebenden prüfungsspezifischen Wertungen, dass dieser insoweit keinem umfassenden Offenlegungs-, Abwägungs- und Differenzie‑ rungsgebot unterliegt, das ihm die ausdrückliche Gewichtung und Abwägung sämtlicher positiver und negativer Prüfungsleistungen aufgibt318. 317 Deutlich großzügiger insoweit HessVGH, Bes. v. 14.02.2011 – 11 A 1080/10.Z, n. v., BA S. 8. 318 Insoweit zutreffend VG Dresden, Urt. v. 04.06.2008 – 5 K 38/08, juris, Rn. 147; OVG Lüneburg, Urt. v. 24.05.2011 – 2 LB 158/10, NordÖR 2012, 98 (101); anders früher VG Lüneburg, Gerichtsbescheid vom 30.10.1996 – 1 A 16/94, juris, 2. LS; siehe hierzu insgesamt Unger, NordÖR 2012, 71 (74 f.). Die Entschei‑ dung des OVG Lüneburg ist später vom BVerwG, Bes. v. 08.03.2012 – 6 B 36.11, NJW 2012, 2054 (2055 f.), mit dem Hinweis der Einzelfallabhängigkeit des gebote‑ nen Umfangs der Abwägungsentscheidung bestätigt worden.
486 Kap. 7: Das verwaltungsinterne Kontrollverfahren (Überdenkungsverfahren)
Zurückzuweisen ist daher die teils in der Literatur319 und vor allem in der Praxis häufig vertretene Rechtsauffassung, wonach der Prüfer generell zur erläuternden Angabe einiger bestimmter oder gar aller Kriterien verpflichtet sein soll, die dem Abwägungsvorgang zugrunde gelegen haben. Der Prüf‑ ling hat vielmehr nur einen Anspruch auf Mitteilung der tragenden Erwä‑ gungen des Gewichtungs- und Abwägungsvorgangs. Diesbezüglich kann zwar davon ausgegangen werden, dass sämtliche (Bewertungs‑) Kriterien, die der prüfungsspezifischen Wertung unterfallen, prinzipiell bei jeder Leis‑ tungsbewertung – wenngleich mit unterschiedlichem abstrakten Gewicht – zum Tragen kommen, nicht aber jedes Kriterium für die Leistungsbewertung (mit‑)tragend ist. Vielmehr verhält es sich notwendigerweise so, dass die Bedeutung aller abstrakt relevanten prüfungsspezifischen Bewertungskriteri‑ en bzw. Gewichtungs- und Abwägungsfaktoren im konkreten Einzelfall von ihrem jeweiligen Ausprägungs- bzw. Erfüllungsgrad abhängt. So dürfte etwa der Schwierigkeitsgrad der jeweiligen Aufgabenstellung bei jeder Leistungs‑ bewertung potentiell erheblich, für das Abwägungsergebnis aber nur dann von ausschlaggebender Bedeutung sein, wenn der Prüfer im konkreten Fall von einem unter- oder überdurchschnittlichen Anspruchsniveau der Aufga‑ benstellung ausgeht und deshalb den fachspezifischen Mängeln und Vorzü‑ gen der Prüfungsleistung eine geringere oder höhere Bedeutung als im Normalfall beimisst. Entsprechend diesem abstrakten Ansatz wird in der Rechtsprechung etwa die Angabe des Schwierigkeitsgrades der Aufgaben‑ stellung zutreffend nur dann für erforderlich gehalten, wenn der Prüfer da‑ rauf seine Bewertung gestützt320 bzw. jener auf diese besondere Auswir‑ kungen gehabt hat321. Die vorstehenden Erwägungen erscheinen ohne Weiteres verallgemeine‑ rungsfähig in dem Sinne, dass ein Gewichtungs- und Abwägungskriterium nur dann (mit‑)tragend für die Bewertung und damit der Erwähnung in deren Begründung bedürftig sein wird, wenn dieses nach der Einschätzung des Prü‑ fers über- oder unterdurchschnittlich ausgeprägt gewesen bzw. erfüllt worden 319 Müller-Franken, VerwArch 92 (2001), 507 (517): „Der Prüfer hat in der Be‑ gründung darzulegen …“; Zimmerling/Brehm, Prüfungsrecht, Rn. 798: „Nach der zutreffenden Ausführung … muss sich ein Prüfer zum Schwierigkeitsgrad der Auf‑ gabenstellung äußern“; anders Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 706, die die Notwen‑ digkeit einer situationsabhängigen Konkretisierung der Anforderungen betonen. 320 OVG Münster, Bes. v. 12.03.2009 – 14 A 66/09, NWVBl. 2009, 389 (389); ebenso VG Köln, Urt. v. 26.02.2009 – 6 K 1421/06, juris, Rn. 30; generell ableh‑ nend VG Sigmaringen, Urt. v. 30.10.2003 – 8 K 556/01, juris, Rn. 44. Missverständ‑ lich hierzu Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 706, die einerseits zunächst die Angabe des Schwierigkeitsgrades der Aufgabenstellung verlangen, dann aber auf das Urteil des OVG Münster verweisen und in Übereinstimmung mit diesem die Angabe des Schwierigkeitsgrades nicht für erforderlich halten. 321 VGH Mannheim, Bes. v. 16.09.2002 – 9 S 1704/02, juris, Rn. 7.
C. Voraussetzungen für die Einleitung des Überdenkungsverfahrens487
ist. Für die prüfungsleistungsbezogenen Bewertungskriterien – wie etwa die Zweckmäßigkeit des Prüfungsaufbaus und die Überzeugungskraft der Argu‑ mentation – folgt daraus im Besonderen, dass ein Eingehen auf diese in der Bewertungsbegründung nur dann erforderlich ist, wenn sie nach der Ein‑ schätzung des Prüfers besonders gut oder schlecht erfüllt worden sind. Die (rationale) Nachvollziehbarkeit des Vorgangs des Gewichtens der fachlichen Mängel und Vorzüge und des sich daran anschließenden Abwä‑ gungsprozesses bei der Bildung des Gesamturteils über die Qualität der Prüfungsleistung erfordert neben der Darstellung und Begründung der be‑ wertungsbestimmenden Gewichtungs- und Abwägungsfaktoren in Grundzü‑ gen auch die Erläuterung ihres komplexen Zusammenspiels. In welchem Umfang dies zu erfolgen hat, hängt aber dermaßen von den konkreten Umständen des Einzelfalles ab, dass sich generalisierende Aussagen hier kaum treffen lassen322. So mag es komplexe Beurteilungssituationen geben, in denen die Plausibilisierung des Qualitätsurteils eine entsprechend ausdif‑ ferenzierte Begründung der erfolgten Gewichtungen und Abwägungen erfor‑ derlich macht, während diese in anderen Konstellationen aufgrund der sig‑ nifikanten Charakteristika der Prüfungsleistung wesentlich knapper ausfallen kann323. Verallgemeinernd lässt sich diesbezüglich noch der Rechtssatz aufstellen, dass die erforderliche Breite der Begründung von der Qualität der Prüfungsleistung bestimmt wird324. Wenn sich aus der fachspezifischen Einzelkritik des Prüfers ergibt, dass der Prüfling das Anforderungsprofil der Klausur (beinahe) vollständig verfehlt oder erfüllt hat, bedarf es somit im Regelfall allenfalls einer kurzen Darlegung des prüfungsspezifischen Be‑ wertungsvorgangs325. Je mehr sich allerdings die fachspezifischen Mängel und Vorzüge der Prüfungsleistung die Waage halten, desto umfänglicher muss der Abwägungsvorgang offengelegt werden. Die etwaige Verpflich‑ tung des Prüfers, das Positive und Negative der Prüfungsleistung in der Bewertungsbegründung ausführlich gegeneinander abzuwägen, besteht da‑ mit nicht nur bei „äußerst schwachen“ Prüfungsleistungen326. Bei der Recht‑ 322 Vgl. BVerwG, Bes. v. 08.03.2012 – 6 B 36.11, NJW 2012, 2054 (2055 f.); VGH Mannheim, Urt. v. 23.04.2010 – 9 S 278/10, juris, Rn. 2: „Die sich hieraus im Einzelfall ergebenden Anforderungen hängen von der jeweiligen Begründung ab und stellen damit keine generell klärungsbedürftige Rechtsfrage dar“. 323 BVerwG, Bes. v. 08.03.2012 – 6 B 36.11, NJW 2012, 2054 (2055 f.). 324 Vgl. OVG Koblenz, Urt. v. 30.07.2003 – 2 A 10770/03, NJW 2003, 3073 (3075). 325 Zur Annahme geringerer Begründungsanforderungen bei einer besseren Be‑ wertung siehe VG Ansbach, Urt. v. 05.03.2009 – AN 05.03.2009, juris, Rn. 23; ablehnend Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 706. 326 So aber VG Stuttgart, Urt. v. 12.08.2009 – 12 K 4675/08, juris, Rn. 60; ab‑ lehnend zur etwaigen Annahme gesteigerter Begründungspflichten bei nicht ausrei‑ chenden Bewertungen OVG Münster, Bes. v. 14.03.2007 – 14 A 2447/06, juris,
488 Kap. 7: Das verwaltungsinterne Kontrollverfahren (Überdenkungsverfahren)
fertigung der Note „ungenügend“ können sich aber spezielle Anforderungen an die Darlegung der Gewichtungs- und Abwägungsentscheidung ergeben, wenn wie in der bayerischen Verwaltungsgerichtsbarkeit angenommen wird, dass diese Note nur dann vergeben werden darf, wenn nachgewiesen wer‑ den kann, dass die Prüfungsleistung in der Gesamtbetrachtung nicht einmal eine einzige brauchbare Teilleistung aufweist327. Sofern der Prüfer im Rah‑ men der Einzelkritik brauchbare Teilleistungen konzediert hat, müsste die Bewertungsbegründung dann erkennen lassen, durch welche schweren Män‑ gel diese nach der Einschätzung des Prüfers wieder vollständig entwertet worden sind328. Geht man demgegenüber wie nunmehr auch das Bundesverwaltungsge‑ richt davon aus, dass die Note „ungenügend“ einen weiter gehenden An‑ wendungsbereich hat und auch Prüfungsleistungen zugeordnet werden kann, die einzelne positive, in der Gesamtbetrachtung nach Einschätzung des Prüfers aber völlig unbedeutende Leistungselemente aufweisen329, hängt der gebotene Umfang der Darlegung der Abwägungsentscheidung allein von den Umständen des Einzelfalles ab. Hier ist bei der Vergabe der Note „ungenügend“ im Besonderen und bei der Bewertung im Allgemeinen aber für alle Beurteilungsfälle wiederum ein gewisses Begründungsmaß für die prüfungsspezifischen Bewertungskriteri‑ en durch das allgemeine Erfordernis der Schlüssigkeit der Bewertungsbe‑ gründung vorgegeben, wonach die Gesamtbewertung schlüssig aus den Einzelbewertungen und die vergebene Note schlüssig aus dem Wortgutach‑ ten folgen muss. Dieses (formale) Rationalitätspostulat setzt, wie bereits gesehen, zunächst voraus, dass die mitgeteilten Bewertungsgründe einen allein von rationalen Erwägungen geprägten Abwägungsvorgang und ein auf diesen beruhendes Abwägungsergebnis und somit die Einhaltung des Gebots der rationalen Abwägung erkennen lassen. Den sich aus diesem Gebot im Einzelnen ergebenden Erfordernissen ist nicht hinreichend Genüge getan, wenn die Bewertungsgründe eine Gewichtung und Abwägung der positiven und negativen Aspekte der Prüfungsleistung überhaupt nicht oder erkennen lassen, dass der Prüfer nicht alle wesentlichen (Teil‑)Leistungen in der Ge‑ Rn. 4; diese Frage offen lassend VGH Mannheim, Urt. v. 08.03.1994 – 9 S 484/92, juris, Rn. 21; SPE 446 Nr. 22 (3. Leitsatz). 327 Siehe BayVGH, Bes. v. 19.04.1999 – 7 ZB 99.440, juris, 9; VG Ansbach, Urt. v. 12.11.1998 – AN 2 K 95.02133, juris, Rn. 19; siehe insoweit auch bereits Unger, NordÖR 2012, 71 (76). 328 So in der Tat BayVGH, Bes. v. 19.04.1999 – 7 ZB 99.440, juris, Rn. 9; VG Ansbach, Urt. v. 12.11.1998 – AN 2 K 95.02133, juris, Rn. 19; referierend Zimmerling/Brehm, Prüfungsrecht, Rn. 819. 329 BVerwG, Bes. v. 08.03.2012 – 6 B 36.11, NJW 2012, 2054 (2054); OVG Lüneburg, Urt. v. 24.05.2011 – 2 LB/158/10, NordÖR 2012, 98 (101).
C. Voraussetzungen für die Einleitung des Überdenkungsverfahrens489
samtbewertung berücksichtigt, die Bedeutung einer (Teil‑)Leistung verkannt oder den Ausgleich zwischen den Mängeln und positiven Aspekten der Leistung in einer Art und Weise vorgenommen hat, der zu deren objektivem Gewicht erkennbar außer Verhältnis steht330. Da bei einem Schweigen der Bewertungsgründe zu sich aufdrängenden Abwägungsfragen von der Nichtbzw. nicht hinreichenden Berücksichtigung maßgeblicher Abwägungsge‑ sichtspunkte ausgegangen werden muss331, sind mit der gebotenen (forma‑ len) Wahrung des rationalen Abwägungsgebots notwendigerweise gewisse Anforderungen an die Ausführlichkeit der Begründung verbunden. Entgegen dem VG Dresden332 dürfte dazu in concreto insbesondere das Erfordernis einer kurzen Schlussbetrachtung am Ende des Prüfervotums gehören, in der das Ergebnis der Gesamtabwägung begründet dargelegt und der festgestell‑ ten Prüfungsleistung eine Notenstufe und Punktzahl zugewiesen werden333. Denn eine bloße Auflistung der festgestellten positiven und negativen Leis‑ tungsaspekte in der Einzelkritik lässt allenfalls deren Gewichtung erkennen, nicht aber, ob und ggf. in welchem Maße der Prüfer deren erforderliche Abwägung vorgenommen hat334. Davon ausgehend erscheinen die in der Praxis immer wieder auftauchen‑ den Bewertungsraster, in welchen die nach der Aufgabenstellung erforderli‑ chen Darlegungen nach Abschnitten gegliedert aufgelistet, in ihrer Bedeu‑ tung für die Gesamtbewertung gewichtet und die vom Prüfling erbrachten Teilleistungen hieran gemessen und jeweils gesondert bepunktet werden, so dass sich die Gesamtnote rechnerisch ermitteln lässt, zur schlüssigen Be‑ wertungsbegründung jedenfalls dann nur bedingt geeignet, wenn es – wie meist – an einer (zusätzlichen) verbalen Gesamtabwägung fehlt, mit der die mathematisch ermittelte Note (zusätzlich) gerechtfertigt wird335. Im Übri‑ gen führt die Verwendung eines Bewertungsrasters zwar einerseits zu einer hohen Transparenz, andererseits aber auch zu einer gewissen Starrheit der Bewertung, die prinzipiell weniger Raum lässt für die Berücksichtigung von Besonderheiten der jeweiligen Prüfungsleistung336 und sich daher mit der dem Abwägungsgebot immanenten Flexibilität nur schwer in Einklang brin‑ gen lässt. Dies gilt namentlich dann, wenn in dem Bewertungsschema keine bereits Unger, NordÖR 2012, 71 (75). allgemein BVerwG, Urt. v. 31.07.2002 – 8 C 37/01, juris, Rn. 41. 332 VG Dresden, Urt. v. 04.06.2008 – 5 K 38/08, juris, Rn. 147. 333 Siehe bereits Unger, NordÖR 2012, 71 (75). 334 Vgl. Unger, NordÖR 2012, 71 (75). 335 Vgl. zu einem im Einzelfall (deshalb) als ungenügend angesehenen Bewer‑ tungsraster VG Hamburg, Urt. v. 13.05.2015 – 2 K 189/14, Rn. 31 ff. 336 Vgl. – referierend – Zimmerling/Brehm, Prüfungsrecht, Rn. 797; die dort angeführten Rechtsprechungsnachweise passen allerdings nicht zu den Ausführungen im Text. 330 Vgl.
331 Siehe
490 Kap. 7: Das verwaltungsinterne Kontrollverfahren (Überdenkungsverfahren)
alternativen Lösungswege aufgezeigt werden. Zudem besteht die Gefahr, dass die fachspezifischen Kriterien die Leistungsbewertung allzu sehr domi‑ nieren und prüfungsspezifische Bewertungsgesichtspunkte wie etwa diejeni‑ gen der Überzeugungskraft der Argumentation und Geordnetheit der Dar‑ stellung zu wenig zum Tragen kommen. Denn ein Bewertungsraster verlei‑ tet zu einer punktuellen, schematischen Betrachtung im Sinne eines Soll-IstVergleichs, bei dem das Gesamtbild der Leistung schnell aus dem Blick gerät und nur noch die Ergebnisse zählen. Bei juristischen Prüfungen wie in der juristischen Praxis ist die überzeugende Herleitung eines Ergebnisses aber mindestens von genauso großer Bedeutung wie dieses selbst. Daher erscheinen Bewertungsraster in anderen Disziplinen, bei denen nur die rich‑ tigen Ergebnisse zählen, tendenziell besser aufgehoben als bei der Bewer‑ tung juristischer Prüfungsleistungen, bei der namentlich die Überzeugungs‑ kraft der Argumentation eine annähernd ebenso wichtige Rolle spielt. Be‑ wertungsraster mögen daher bei der schlüssigen Begründung einer (Punkt‑)Bewertung einer juristischen Prüfungsleistung ein adäquates Hilfs‑ mittel darstellen, auf sie allein sollte die Bewertung aber nicht gestützt werden. Damit erscheint im Ergebnis das „klassische“ Wortgutachten in Verbindung mit Randbemerkungen am besten geeignet, um den Anspruch des Prüflings auf eine schlüssige Bewertungsbegründung zu erfüllen337. Da der Prüfer in der Wahl der Mittel zur Realisierung einer schlüssigen Bewertungsbegründung grundsätzlich frei ist, kann es ihm erst recht nicht zur Verpflichtung gemacht werden, die Leistung anhand eines Bewertungs‑ schemas zu bewerten338. Begründungslücken und erkennbar werdende Abwägungsfehler unterbre‑ chen den rationalen Ableitungszusammenhang ebenso339 wie vorzufindende logische Brüche, so dass sich aus dem (formalen) Rationalitätspostulat im Weiteren das Erfordernis der Konsistenz der Bewertungsgründe ergibt. Hier‑ nach ist der Prüfer zunächst gehalten, ein stimmiges Verhältnis zwischen den im Rahmen des Gewichtungsvorgangs getroffenen Einzelfeststellungen und dem mitgeteilten Ergebnis desselben herzustellen340. Ebenso müssen 337 Vgl. zur im Regelfall gebotenen Kombination von Randbemerkungen mit einem zusammenfassenden Prüfervotum OVG Lüneburg, Urt. v. 18.02.1992 – 10 L 277/89, juris, Rn. 22; Urt. v. 24.05.2011 – 2 LB 158/10, NordÖR 2012, 98 (100 f.). 338 Gegen eine solche Verpflichtung auch die Rechtsprechung: VGH Mannheim, Bes. v. 23.04.2010 – 9 S 278/10, juris, Rn. 2; OVG Koblenz, Urt. v. 30.07.2003 – 2 A 10770/03, NJW 2003, 3073 (3075). 339 Vgl. allgemein BVerfGE 85, 36 (57). 340 Vgl. zur erforderlichen Stimmigkeit der (dienstlichen) Beurteilung BayVGH, Urt. v. 22.06.1999 – M 5 K 97.1717, DRiZ 2000, 61 (64); OVG LSA, Urt. v. 31.05.2011 – 1 L 86/10, juris, Rn. 44; VG Ansbach, Urt. v. 12.12.2006 – AN 1 K 03.00890, juris, Rn. 33.
C. Voraussetzungen für die Einleitung des Überdenkungsverfahrens491
die angeführte Einzelkritik mit dem Ergebnis der Gesamtabwägung und dieses wiederum mit der Beschreibung der zugeordneten Notenstufe harmo‑ nieren. 4. Anforderungen an die Begründung des Zweitvotanten Die vorstehend herausgearbeiteten Anforderungen an die Begründung der Bewertung gelten fraglos für alle am Bewertungsverfahren beteiligten Prü‑ fer gleichermaßen. Daher muss insbesondere auch die (Punkt‑)Bewertung des Zweitvotanten schlüssig aus seinem Wortgutachten folgen bzw. dieses muss geeignet sein, die Note zu tragen341. In tatsächlicher Hinsicht ergibt sich daraus für den Fall, dass der Zweitprüfer die Prüfungsleistung in Un‑ kenntnis der Bewertung des Erstprüfers und deren Begründung begutachtet, die Notwendigkeit, eine den dargestellten rechtlichen Anforderungen genü‑ gende eigenständige Bewertungsbegründung vorzulegen. Dieses Verfahren der „verdeckten Zweitkorrektur“ wird aber kaum mehr praktiziert. Absolut vorherrschend ist die „offene Zweitkorrektur“, bei welcher dem Zweitprüfer rein faktisch die Möglichkeit eröffnet ist, die Bewertung des Erstvotanten und die dafür gegebene Begründung zur Kenntnis zu nehmen und zur Rechtfertigung der eigenen Bewertung sodann vollumfänglich auf die er‑ folgten Ausführungen des Erstprüfers zu verweisen. Die sich hier stellende Frage der rechtlichen Zulässigkeit eines solchen Vorgehens hat das Bundes‑ verwaltungsgericht für den Fall einer übereinstimmenden Bewertung der Prüfungsleistung bereits frühzeitig bejaht und dem Zweitprüfer zugestanden, sich der Beurteilung des Erstvotanten ohne weitere eigene Ausführungen schlicht mit dem Vermerk „einverstanden“ anzuschließen342. Diese Recht‑ sprechung hat das Bundesverwaltungsgericht in seiner Grundsatzentschei‑ dung zu den an die Bewertungsbegründung zu stellenden Anforderungen noch einmal bestätigt, dort aber betont, dass der Zweitprüfer im Falle einer Abweichung von der Bewertung des Erstprüfers deutlich machen müsse, worin diese begründet liege343. Jenseits der bestehenden Divergenzen in der Einschätzung der Prüfungsleistung bleibt es dem Zweitprüfer hiernach unbenommen, auf die von ihm im Übrigen geteilten Ausführungen des Erstprüfers Bezug zu nehmen. Darüber hinaus wirft der vom Bundesverwaltungsgericht aufgestellte Rechtssatz die Frage auf, ob der Zweitprüfer möglicherweise sogar dazu 341 Vgl.
(192).
VGH Mannheim, Urt. v. 10.11.2010 – 9 S 591/10, VBlBW 2011, 189
342 BVerwG, Bes. v. 10.06.1983 – 7 B 48/82, Buchholz 421.0 Nr. 175, S. 127 (128); Bes. v. 15.12.1987 – 7 B 216.87, Buchholz 421.0 Nr. 247, 36 (40). 343 BVerwGE 91, 261 (269).
492 Kap. 7: Das verwaltungsinterne Kontrollverfahren (Überdenkungsverfahren)
verpflichtet ist, sich mit dem Erstvotum auseinanderzusetzen. Aufgeworfen damit ist zunächst einmal die Frage des generellen Verhältnisses von Erstund Zweitvotum, zu der erstmals der VGH Mannheim ausdrücklich Stellung bezogen hat. Dieser hat betont, dass die Bewertung der Prüfungsleistung jedem Prüfer einzeln und nicht etwa beiden Prüfern zur gesamten Hand übertragen sei344. Folglich hat der VGH Mannheim eine Pflicht des Zweit‑ prüfers, sich mit der Bewertung des Erstprüfers auseinanderzusetzen, auch bei einer nach unten abweichenden Zweitbewertung ursprünglich nur für wünschenswert, nicht aber für rechtlich geboten erachtet345. Ebenso hat das VG Schwerin in einem jüngeren Urteil klargestellt, dass das Erst- und Zweitvotum gleichberechtigt nebeneinander stünden. Es sei daher nicht so, dass der Erstprüfer mit seiner Erstbewertung den Maßstab setze und der von dieser negativ abweichende Zweitprüfer infolgedessen per se einer besonderen Begründungspflicht unterliege. Umgekehrt sei auch der Erstprüfer im Falle einer günstigeren Bewertung des Zweitprüfers nicht dazu verpflichtet, seine Bewertung zu überprüfen, wenn die Abweichung sich noch innerhalb des durch die Prüfungsordnung tolerierten Rahmens halte346. Mit der vorstehend referierten Rechtsprechung werden im Grunde ge‑ nommenen nur Selbstverständlichkeiten festgestellt. Nach der gesetzlichen Ausgestaltung des Zwei-Prüfer-Prinzips steht es außer Frage, dass die Prüfer dazu verpflichtet sind, die Prüfungsleistung selbst, unmittelbar und vollstän‑ dig zur Kenntnis zu nehmen und aus eigener Sicht selbstständig zu beurtei‑ len347. Dies schließt es von vornherein aus, dass der Zweitprüfer die Be‑ wertung des Erstprüfers als verbindlich hinnimmt348 oder in der Weise grundsätzlich bindend hinnehmen muss, dass Abweichungen der besonderen Rechtfertigung bedürfen349. Das vom Bundesverwaltungsgericht aufgestellte Postulat ist daher insofern missverständlich, als der Zweitprüfer nicht die Abweichung von der Erstbewertung, sondern die erfolgte eigene Bewertung rechtfertigen muss, wobei hier die dargestellten allgemeinen Anforderungen 344 VGH
Mannheim, Urt. v. 08.03.1994 – 9 S 484/92, juris, Rn. 22. Mannheim, Urt. v. 08.03.1994 – 9 S 484/92, juris, Rn. 22, SPE 446 Nr. 22 (3 Leitsatz). 346 Siehe zum Ganzen VG Schwerin, Urt. v. 03.07.2012 – 3 A 492/07, juris, Rn. 41 f. 347 Vgl. etwa § 30 Abs. 1 JAPO Bayern; § 14 Abs. 1 JAG NRW; siehe im Üb‑ rigen BVerwG, Urt. v. 10.10.2002 – 6 C 7/02, NJW 2003, 1063 (1063) m. w. N. aus der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichtes; Zimmerling/Brehm, Prüfungs‑ recht, Rn. 608; Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 321, 558. 348 Vgl. OVG Bautzen, Bes. v. 14.10.2003 – 4 BS 221/03, NVwZ-RR, 188 (188); Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 321. 349 HessVGH, Bes. v. 14.02.2011 – 11 A 1080/10.Z, n. v., BA S. 5. 345 VGH
C. Voraussetzungen für die Einleitung des Überdenkungsverfahrens493
an die Begründung der Bewertung gelten. Infolge der selbstständigen und unabhängigen Zweitbewertung bleibt es dem Zweitprüfer daher unbenom‑ men, auch im Verfahren der offenen Zweitkorrektur eine von der Begrün‑ dung des Erstvotanten vollständig losgelöste, eigenständige Bewertungsbe‑ gründung anzufertigen. In diesem Fall, der offenbar auch dem VGH Mann‑ heim zur Entscheidung vorlag, bleibt für eine Pflicht des Zweitvotanten, sich mit dem Erstvotum auseinanderzusetzen und eine ggf. abweichende Bewertung zu rechtfertigen, kein Raum, die vom Senat daher auch zutref‑ fend verneint worden ist. Aus Sicht des Prüflings besteht dafür auch kein Bedarf, da er die Möglichkeit hat, die positiven Aspekte, die den Erstvotan‑ ten zu seiner höheren Bewertung bewogen haben, als Einwände gegen die Bewertung des Zweitvotanten vorzubringen. Mit diesen muss sich dann der Zweitvotant und also spätestens im Überdenkungsverfahren mit der Bewer‑ tung des Erstvotanten auseinanderzusetzen. Nur bei einer vom Bundesverwaltungsgericht stillschweigend vorausge‑ setzten und in der Praxis tatsächlich auch ganz überwiegend erfolgenden Begründung der (abweichenden) Bewertung durch eine weitgehende Bezug‑ nahme auf die Ausführungen des Erstvotanten ergibt sich die Notwendig‑ keit, sich mit diesen auseinanderzusetzen und die Unterschiede in der Ein‑ schätzung der Prüfungsleistung herauszustellen. Auch dann aber handelt es sich in der Sache um eine Rechtfertigung der eigenen Bewertung, nicht der vorliegenden Abweichung, und die Zweitbewertung bleibt selbstständig und unabhängig. Nach dem soeben Ausgeführten im Grundsatz wenig zielfüh‑ rend ist daher auch die lebhaft geführte Diskussion um die Frage, ob den Zweitprüfer jedenfalls dann, wenn seine abweichende Bewertung zum Nichtbestehen der Klausur führt, er also insbesondere die Klausur entgegen dem Erstprüfer nicht mit vier, sondern nur mit drei Punkten bewertet, eine „gesteigerte Begründungspflicht“ trifft. Eine solche wird insbesondere vom VG Ansbach angenommen350 und soll darin bestehen, dass eine grundsätz‑ lich zulässige Bezugnahme auf die Bewertung des Erstkorrektors bei einer Notenabweichung im Grenzbereich zwischen „ausreichend“ und „mangel‑ haft“ nicht ausreichend sei351. Diese „gesteigerte Begründungspflicht“ leitet das VG Ansbach insbesondere aus der besonderen Bedeutung ab, die nach 350 VG Ansbach, Urt. v. 23.03.2000 – AN 2 K 99.01000, juris, Rn. 61 f.; VG Ansbach, Urt. v. 04.08.2011 – AN 2 K 10.01591, juris, Rn. 48. 351 VG Ansbach, Urt. v. 23.03.2000 – AN 2 K 99.01000, juris, Rn. 62. Die Aus‑ führungen des VG Ansbach sind an dieser Stelle unklar, da das Gericht zuvor – Rn. 59 – eine Bezugnahme auf das Erstvotum nur für den Fall der übereinstimmen‑ den Bewertung für ausreichend erachtet hatte. Die späteren Ausführungen des VG Ansbach erwecken aber den Eindruck, als halte das VG Ansbach die Begründung der abweichenden prüfungsspezifischen Wertung nur im Grenzbereich zwischen „ausreichend“ und „mangelhaft“, nicht aber im Übrigen für erforderlich.
494 Kap. 7: Das verwaltungsinterne Kontrollverfahren (Überdenkungsverfahren)
dem Bewertungssystem (in der JAPO Bayern) dem Zweitkorrektor an der Nahtstelle zwischen drei und vier Punkten dadurch zukomme, dass letztlich er alleine darüber entscheide, ob die Klausur mit „ausreichend“ oder „man‑ gelhaft“ bestanden oder nicht bestanden sei352. Ursprünglich hatte auch das VG Schwerin erhöhte Anforderungen an die Begründungspflicht des Zweitkorrektors gestellt, wenn dieser im Wege der offenen Zweitkorrektur von der Bestehensbeurteilung des Erstkorrektors abweicht. In diesem Falle reiche es nicht aus, im Wesentlichen auf die Prüferkritik des Erstkorrektors Bezug zu nehmen, ohne weitere (unangreif‑ bare) Kritikpunkte und deren Maßgeblichkeit für die Nichtbestehensbewer‑ tung aufzuzeigen353, da ansonsten nicht deutlich werde, woraus sich die erheblichen Mängel der Arbeit ergeben, die eine Bewertung der Arbeit mit „mangelhaft“ nach Einschätzung des Zweitprüfers gerechtfertigt erscheinen lassen354. Es sei daher erforderlich, dass dieser ggf. auch die positiven Aspekte der Arbeit aufzeige und im Rahmen einer Gesamtgewichtung dar‑ lege, inwieweit die positiven Aspekte der Klausur gleichwohl nicht aus‑ reichten, damit die Klausur als bestanden gewertet werden könne355. In dem bereits erwähnten aktuellen Urteil des VG Schwerin lehnt das Gericht nun aber eine gesteigerte Begründungspflicht des Zweitprüfers bei einer abweichenden Bewertung wie dargelegt im Allgemeinen ab und lässt die Frage ihres Bestehens für die beschriebene Sonderkonstellation ausdrücklich offen356. Der VGH Mannheim hat in einer aktuellen Entscheidung eindeu‑ tig Position bezogen und den Rechtsstandpunkt eingenommen, dass der Zweitprüfer, der sich den Ausführungen des Erstprüfers hinsichtlich der in der Klausur enthaltenen Mängel uneingeschränkt anschließe, aber ungeach‑ tet dessen die Arbeit schlechter bewerte, verpflichtet sei, auch inhaltlich darzulegen, aus welchen Gründen die Leistung entgegen der Einschätzung des Erstprüfers nicht mehr durchschnittlichen Anforderungen entspreche357. Der BayVGH vertritt demgegenüber für jede Konstellation einer abwei‑ chenden Bewertung des Zweitprüfers die Auffassung, dass dieser zur Dar‑ legung der hierfür maßgeblichen Gründe nur dann verpflichtet sei, wenn diese der gerichtlichen Kontrolle unterliegen358. Schließe er sich indes der fachspezifischen Kritik des Erstprüfers vollinhaltlich an und komme er nur 352 VG Ansbach, Urt. v. 23.03.2000 – AN 2 K 99.01000, juris, Rn. 61 f.; Urt. v. 04.08.2011 – AN 2 K 10.01591, juris, Rn. 48. 353 VG Schwerin, Bes. v. 17.11.2000 – 7 859/00, juris, Rn. 30. 354 VG Schwerin, Bes. v. 17.11.2000 – 7 859/00, juris, Rn. 30. 355 VG Schwerin, Bes. v. 17.11.2000 – 7 859/00, juris, Rn. 30. 356 VG Schwerin, Urt. v. 03.07.2012 – 3 A 492/07, juris, Rn. 42. 357 VGH Mannheim, Urt. v. 10.11.2010 – 9 S 591/10, VBlBW 2011, 189 (192). 358 BayVGH, Bes. v. 04.12.1998 – 7 ZB 98.2422, juris, Rn. 9.
C. Voraussetzungen für die Einleitung des Überdenkungsverfahrens495
in Ausschöpfung seines Bewertungsspielraums zu einer anderen Einschät‑ zung der Leistung des Prüflings, so könne er sich auf die knappe Aussage beschränken, er sehe die Leistungen des Prüflings in einem schlechteren Licht359. Die Literatur folgt demgegenüber der Rechtsprechung, die für den Fall, dass die Zweitbewertung in den Nichtbestehensbereich führt, eine gesteiger‑ te Begründungspflicht annimmt360. Die hier missverständlich unter dem Topos der „gesteigerten Begrün‑ dungspflichten“ des Zweitkorrektors geführte Diskussion stellt sich damit im Ergebnis als bloße Fortsetzung des Streits um die allgemeinen Begrün‑ dungsanforderungen des Prüfers und insoweit insbesondere der Kontroverse um den erforderlichen Umfang der Darlegung der prüfungsspezifischen Wertungen in der Bewertungsbegründung dar. Somit kann die Frage nach den (gesteigerten) Begründungspflichten des Zweitkorrektors auch schlicht damit beantwortet werden, dass sich diese aus den allgemeinen Begrün‑ dungsanforderungen ergeben. Der Zweitprüfer ist daher lediglich dazu ver‑ pflichtet, seine abweichende Beurteilung schlüssig und nachvollziehbar zu begründen. Hierzu kann er entweder ein komplett eigenständiges Votum vorlegen oder die Ausführungen des Erstvotanten überwiegend auch in den Dienst der eigenen Bewertungsbegründung stellen und sich darauf beschrän‑ ken, nur die für die abweichende Bewertung tragenden Gründe darzulegen. In diesem Fall muss er insbesondere die von ihm weiter gehend festgestell‑ ten fachspezifischen Mängel und deren prüfungsspezifische Bewertung vorlegen. Aber auch dann, wenn die abweichende Zweitbewertung allein auf einer innerhalb des Abwägungsrahmens getroffenen, abweichenden Ab‑ wägungsentscheidung des Zweitprüfers beruht, sind entgegen dem BayVGH die maßgeblichen Abwägungsgesichtspunkte darzulegen, weil der Prüfling anderenfalls nicht in den Stand versetzt wäre, substantiierte Einwände ge‑ gen die Bewertung zu erheben. Dies aber wäre mit den Art. 12 Abs. 1 Satz 1, 19 Abs. 4 Satz 1 GG unvereinbar. Im Ergebnis bedarf daher eine Abweichung des Zweitvotanten von der Bewertung des Erstvotanten keiner Rechtfertigung, die über die Anforderungen hinausginge, die sich bereits aus der allgemeinen Begründungspflicht ergeben. Dies gilt auch dann, wenn die Abweichung dazu führt, dass die Klausur insgesamt als nicht bestanden gilt. Eine „gesteigerte Begründungspflicht“ des Zweitvotanten ist auch in dieser Konstellation abzulehnen. 359 BayVGH, Bes. v. 04.12.1998 – 7 ZB 98.2422, juris, Rn. 9; ähnlich VG Trier, Urt. v. 23.09.2009 – 5 K 275/09.TR, n. v., UA S. 16. 360 Zimmerling/Brehm, Prüfungsrecht, Rn., 615, 634, 636, 805, 798; dies., DVBl 2012, 265 (273); Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 711, wohl auch Knecht, BayVBl 2013, 359 (360).
496 Kap. 7: Das verwaltungsinterne Kontrollverfahren (Überdenkungsverfahren)
III. Voraussetzungen für die Einleitung des Überdenkungsverfahrens Wenn das Prüfungsamt und die Prüfer ihren umfassend dargestellten Ver‑ pflichtungen im Rahmen der Gewährung des dem Prüfling zustehenden Akteneinsichtsrechts bzw. der Erfüllung seines Anspruchs auf Begründung der Prüfungsentscheidung nachgekommen sind, liegt es am Prüfling, die Vo‑ raussetzungen für die Einleitung des Überdenkungsverfahrens zu schaffen. 1. Erfordernis der Geltendmachung substantiierter Einwände a) Einleitung und Begriffsklärung Das Bundesverwaltungsgericht hatte schon vor der in ihren wesentlichen Grundzügen bereits referierten Grundsatzentscheidung zum verwaltungsin‑ ternen Kontrollverfahren von dem Prüfling, der im Rahmen eines ange‑ strengten Verwaltungsprozesses die Bewertung einer Prüfungsarbeit bean‑ standet, die Erhebung substantiierter Einwände gegen die Bewertung als Voraussetzung für deren gerichtliche Überprüfung verlangt. Es liege, so führte das Bundesverwaltungsgericht in der maßgeblichen Entscheidung aus dem Jahre 1992 aus, „auf der Hand“ und bedürfe keiner besonderen Darle‑ gung, dass ein Prüfling, der die Bewertung einer Prüfungsarbeit beanstande, konkrete und substantiierte Einwendungen vorbringen müsse und sich nicht darauf verlassen könne, dass sich irgendein (Bewertungs‑) Fehler finden werde361. Soweit bereits vor den richtungsweisenden Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes und des Bundesverwaltungsgerichtes bei Ge‑ genvorstellungen des Prüfungskandidaten im Grundsatz eine Beteiligung der Prüfer (im Widerspruchsverfahren) stattfand, ging auch die instanzgerichtli‑ che Rechtsprechung insoweit wie selbstverständlich davon aus, dass nur substantiierte Einwendungen den Prüfern zugeleitet werden müssten362. Dementsprechend und in der Sache anknüpfend an seine Rechtsprechung zum selbstverständlichen Erfordernis der Substantiierung der Einwände im gerichtlichen Verfahren stellte das Bundesverwaltungsgericht klar, dass (auch) der Anspruch des Prüflings auf ein verwaltungsinternes Kontrollver‑ fahren zum Zwecke des Überdenkens der prüfungsspezifischen Wertungen nicht voraussetzungslos bestehe363. Dem Recht des Prüflings, auf vermeint‑ liche Irrtümer und Rechtsfehler wirkungsvoll hinzuweisen, entspreche viel‑ 361 Bes. v. 01.09.1992 – 6 B 22/92, Buchholz 421.0 Nr. 302, S. 213 (214); unter Bezugnahme auf Kopp, DVBl 1991, 989 (990). 362 HmbOVG, Urt. v. 26.11.1990 – Bf III 43/88, juris, Rn. 71. 363 BVerwGE 92, 132 (138).
C. Voraussetzungen für die Einleitung des Überdenkungsverfahrens497
mehr nur dann eine Pflicht der Prüfer zum Überdenken ihrer Bewertungen, wenn ihnen „wirkungsvolle Hinweise“ gegeben, d. h. die Einwände konkret und nachvollziehbar begründet werden. Dazu genüge es nicht, dass der Prüfling sich generell gegen eine bestimmte Bewertung seiner Prüfungsleis‑ tungen wende und etwa pauschal eine zu strenge Korrektur bemängele. Vielmehr müsse er konkret darlegen, in welchen Punkten die Korrektur bestimmter Prüfungsleistungen nach seiner Auffassung Bewertungsfehler aufweise, indem er substantiierte Einwände gegen Prüferbemerkungen und -bewertungen erhebe364. In einer einige Jahre später ergangenen Entschei‑ dung, auf die nachfolgend noch im Einzelnen einzugehen sein wird, hat das Bundesverwaltungsgericht die vorstehenden Grundsätze bestätigt und die Darlegungsanforderungen bei Angriffen gegen die fachwissenschaftliche Bewertung der Prüfer präzisiert365. Soweit dort und auch in späteren Entscheidungen des Senats sowie an‑ derer Gerichte im Zusammenhang mit dem vom Bundesverwaltungsgericht statuierten Erfordernis der Erhebung substantiierter Einwände gegen die Bewertung als Voraussetzung für die Einleitung des Überdenkungsverfah‑ rens bisweilen von einer Mitwirkungs- bzw. Substantiierungspflicht des Prüflings die Rede ist366, bedarf es der Klarstellung, dass das Substantiie‑ rungsgebot in der Sache nur eine Obliegenheit des Prüflings begründet367. Denn eine Pflicht im Rechtssinne liegt nur vor, wenn sich aus einer Norm oder aus allgemeinen Rechtsgrundsätzen ein Verhaltensgebot ergibt, das gegen den Adressaten – notfalls mit den Mitteln des Verwaltungszwan‑ ges – durchgesetzt werden kann368. Dieses Charakteristikum begründet den wesentlichen Unterschied zur Obliegenheit, bei der es nur im wohl ver‑ standenen eigenen Interesse des Betroffenen liegt, sich in einer bestimmten Art und Weise zu verhalten369. Soweit von dem Prüfling eine Substantiie‑ rung seiner Einwendungen verlangt wird, geht es schlicht um die Festle‑ 364 Vgl.
zum Ganzen BVerwGE 92, 132 (138 f.). Urt. v. 04.05.1999 – 6 C 13/98, NVwZ 2000, 915 (918). 366 Siehe zum Terminus „Substantiierungspflicht“ BVerwG, Bes. v 08.11.2005 – 6 B 45.05, NVwZ 2006, 478 (479); BayVGH, Urt. v. 04.12.2000 – 7 B.99.3195, juris, Rn. 29; VG Ansbach, Urt. v. 05.12.2000, AN 2 K 00.01105, juris; VG Berlin, Urt. v. 27.10.2004 – 12 A 559.94, juris, Rn. 24; zum Terminus „Mitwirkungspflicht“ siehe BVerwG, Urt. v. 04.05.1999 – 6 C 13/98, NVwZ 2000, 915 (918); HessVGH, Urt. v. 21.05.2012 – 9 A 1156/11, juris, Rn. 21; VG Berlin, Urt. v. 08.07.2010 – 3 A 4.06, juris, Rn. 34; VG Düsseldorf, Urt. v. 14.11.2003 – 15 K 6737/01, juris, Rn. 31. 367 Mit dieser zutreffenden Terminologie VG Meiningen, Urt. v. 03.05.2010 – 1 K 611/07, ThürVBl. 2011, 16 (17). 368 Vgl. (zur Abgrenzung) VG Stuttgart, Gerichtsbescheid v. 21.10.2010 – 11 K 3128/10, juris, Rn. 22; Gröschner, S. 171; zur in § 26 Abs. 2 VwVfG normierten Mitwirkungsobliegenheit: Kellerhoff, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, § 26, Rn. 46. 369 Siehe etwa Palandt-Grüneberg, BGB, vor § 241, Rn. 13. 365 BVerwG,
498 Kap. 7: Das verwaltungsinterne Kontrollverfahren (Überdenkungsverfahren)
gung der Zugangsvoraussetzungen zum verwaltungsinternen Kontrollver‑ fahren. Trägt der Prüfling gar keine oder keine hinreichend substantiierten Einwendungen vor, hat er keinen Anspruch auf die Durchführung eines solchen Verfahrens. Von den Prüfern wird keine Stellungnahme eingeholt und im Rahmen eines Widerspruchsverfahrens wird nach Aktenlage ent‑ schieden. Der Prüfling erleidet also schlicht einen Nachteil. Hingegen hat das Prüfungsamt weder ein Interesse daran, den Prüfling zur Erhebung substantiierter Einwände anzuhalten, noch hat es die Möglichkeit, dem Prüfling durch (vollstreckbaren) Verwaltungsakt eine Substantiierung seiner Einwände aufzugeben. Nach alledem wird bei dem Erfordernis der Erhe‑ bung substantiierter Einwände nachfolgend von einer Substantiierungsob‑ liegenheit gesprochen. b) (Unterbliebene) Gesetzliche Regelung Der – durch die Grundsatzentscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes zunächst nur grob umrissene – (konkrete) Inhalt dieser Substantiierungsob‑ liegenheit ist wesentlich für die Verwirklichung der aus Art. 12 Abs. 1 Satz 1, 19 Abs. 4 Satz 1 GG folgenden Grundrechte des Prüflings, weil von deren Erfüllung die Einleitung des Überdenkungsverfahrens und damit die Eröffnung dieser komplementären Rechtsschutzmöglichkeit für den Prüfling abhängt. Entsprechend der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerich‑ tes370 bedürfte die Substantiierungsobliegenheit daher als „wesentliches Merkmal“ der konkreten Ausgestaltung in der jeweiligen Prüfungsordnung. Tatsächlich aber ist eine Normierung der Voraussetzungen für die Einleitung des Überdenkungsverfahrens weitgehend unterblieben. Nachdem die ur‑ sprünglich in Mecklenburg-Vorpommern getroffene Regelung, wonach Vor‑ aussetzung für die Beteiligung der Prüfer die Erhebung von (substantiierten) Einwendungen des Prüflings im Sinne der Rechtsprechung des Bundesver‑ waltungsgerichtes war371, ersatzlos gestrichen worden ist, existiert wie bereits eingangs des Kapitels dargelegt aktuell nur noch in Bayern und in Rheinland-Pfalz eine einfach-gesetzliche Regelung (des Inhalts) der Subs‑ tantiierungsobliegenheit. Hiernach bestehen die folgenden (Darle‑ gungs‑)Anforderungen: Nach § 14 Abs. 2 Satz 2, Abs. 3 JAPO Bayern muss der Prüfling entsprechend der dargelegten und hier umgesetzten Rechtspre‑ chung des Bundesverwaltungsgerichtes seine gegen die Bewertung seiner Prüfungsleistungen erhobenen Einwendungen konkret und nachvollziehbar 370 BVerwGE
92, 132 (140 f.). § 25 JAPO M-V a. F. und OVG Greifswald, Bes. v. 20.09.2002 – 2 L 110/02, NordÖR 2003, 18 (19), zur Gesetzeshistorie und den Fundstellen des Ge‑ setzes. 371 Siehe
C. Voraussetzungen für die Einleitung des Überdenkungsverfahrens499
schriftlich begründen372. Kommt er dieser Obliegenheit nach, werden seine Einwendungen den jeweiligen Prüfern zur Überprüfung zugeleitet (§ 14 Abs. 4 Satz 2 JAPO Bayern), anderenfalls werden sie vom Justizprüfungs‑ amt zurückgewiesen (§ 14 Abs. 4 Satz 1 JAPO Bayern). Nach § 9 Abs. 6 Satz 1 JAPO Rheinland-Pfalz erhält der Prüfer erst dann Gelegenheit zur Überprüfung und Abänderung der Bewertung, wenn nach summarischer Prüfung (des Landesjustizprüfungsamtes) ein Bewertungsfeh‑ ler nicht ausgeschlossen ist. Diese aus der Prüferperspektive formulierte Regelung hat für den Prüfling nach deren eindeutigem Wortlaut zur Konse‑ quenz, dass die Durchführung eines Überdenkungsverfahrens jedenfalls dann gänzlich unterbleibt, wenn sich seine Einwendungen ausschließlich gegen die prüfungsspezifischen Wertungen des Prüfers richten. Darüber hi‑ naus hat das OVG Koblenz dem Normgehalt des § 9 Abs. 6 Satz 1 JAPO zunächst weiter gehend sogar entnommen, dass eine Beteiligung der Prüfer nur dann veranlasst sei, wenn es sich bei den Vorhalten des Prüflings um fachliche Meinungsverschiedenheiten handelt, die in der gebotenen Art und Weise vom Prüfling konkret und nachvollziehbar vorgebracht worden sind373. In einer weiteren Entscheidung hat das OVG Koblenz an seiner Ansicht festgehalten, dass in erster Linie die Kritik des Prüflings an der fachwissenschaftlichen Bewertung eine Beteiligung der Prüfer erfordere, diese nach § 9 Abs. 6 Satz 1 JAPO RLP aber auch dann erforderlich werden könne, wenn der Prüfling auf den traditionellen Kanon der Bewertungsfeh‑ ler bezogene Einwände erhebe374. Hierzu zählt nach dem Verständnis des OVG Koblenz die Rüge des Prüflings, der Prüfer sei von falschen Tatsachen ausgegangen, er habe sich bei bestimmten Korrekturbemerkungen von sach‑ fremden Erwägungen leiten lassen oder die Begründung der Bewertung genüge nicht den rechtlichen Anforderungen375. Nach wie vor führen aber lediglich auf die prüfungsspezifischen Wertungen abzielende Einwendungen des Prüflings nach der vom OVG Koblenz gebilligten Praxis in RheinlandPfalz nicht zu einem Prüferbeteiligungsverfahren. Den Prüfern wird in diesem Fall die Widerspruchsbegründung dann etwa gar nicht oder nur in Ausschnitten zugeleitet. Die daran – unter anderem in einem Verfahren der Beschwerde über die Nichtzulassung der Revision – von Zimmerling / Brehm mit dem Hinweis geübte (verfassungsrechtliche) Kritik, dass das Überden‑ 372 Im Rahmen der Auslegung und Anwendung dieser Vorschrift wird auch al‑ lein auf die einschlägige Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichtes Bezug genommen, siehe etwa VG München, Urt. v. 17.12.2013 – M 4 K 12.5490, juris, Rn. 25. 373 OVG Koblenz, Urt. v. 01.06.2002 – 2 A 10205/01.OVG, n. v., UA S. 8; hier‑ zu berichtend Zimmerling/Brehm, Der Prüfungsprozess, Rn. 37. 374 OVG Koblenz, Urt. v. 30.07.2003 – 2 A 10770/03, NJW 2003, 3073 (3075). 375 OVG Koblenz, Urt. v. 30.07.2003 – 2 A 10770/03, NJW 2003, 3073 (3075).
500 Kap. 7: Das verwaltungsinterne Kontrollverfahren (Überdenkungsverfahren)
kungsverfahren doch gerade der Überprüfung der prüfungsspezifischen Wertungen diene376, hat das Bundesverwaltungsgericht zurückgewiesen. In der Rechtsprechung des 6. Senats sei geklärt, dass der Anspruch des Prüf‑ lings auf die Durchführung eines verwaltungsinternen Kontrollverfahrens zum Zwecke des Überdenkens der prüfungsspezifischen Wertungen nicht (weitgehend) voraussetzungslos bestehe, sondern substantiierte Einwände im Sinne „wirkungsvoller Hinweise“ auf Bewertungsfehler voraussetze377. Vor diesem Hintergrund sei es nicht zu beanstanden, wenn zur Überprüfung des Vorliegens dieser Voraussetzung eine „summarische Prüfung“ auf das Vorliegen eines Bewertungsfehlers durch das Prüfungsamt stattfinde und deren Vornahme in einer Rechtsverordnung bestimmt sei378. Diesen Ausführungen entsprechend wird der Zweck des § 9 Abs. 6 Satz 1 JAPO RLP von den Gerichten in Rheinland-Pfalz darin gesehen, die Anfor‑ derungen an die Substantiierungslast des Prüflings zu kontrollieren und zu verhindern, dass auch unsubstantiierte Einwände des Prüflings die Chance einer Zweitbewertung eröffnen. Auf diese habe der Prüfling gerade keinen Anspruch379, weil es mit dem Grundsatz der Chancengleichheit unvereinbar wäre, wenn der Prüfling die Chance einer vom Vergleichsrahmen unabhän‑ gigen Bewertung erhielte380. Diese Gefahr sei indes gegeben, wenn die Prüfer auf jedwede Einwendung des Prüflings hin ihre Erstbewertung über‑ denken müssten381. Zur Vermeidung von Chancenungleichheiten sei es deshalb sachgerecht, wenn nicht sogar geboten, eine Beteiligung der Prüfer erst dann vorzusehen, wenn die Möglichkeit eines Bewertungsfehlers hin‑ reichend substantiiert dargelegt werde382. c) Verfassungsrechtliche Bewertung (der Substantiierungsobliegenheit) Die vorstehenden Darlegungen zum Inhalt der in Rheinland-Pfalz erfolg‑ ten gesetzlichen Regelung der Substantiierungsobliegenheit des Prüflings sowie zu deren Auslegung und Bewertung in Rechtsprechung und Literatur werfen neben der sich aufdrängenden Frage, von welchen Voraussetzungen der Zugang des Prüflings zum verwaltungsinternen Kontrollverfahren ab‑ 376 Zimmerling/Brehm,
Der Prüfungsprozess, Rn. 38. Bes. v. 11.12.2003 – 6 B 64.03, n. v., BU S. 5. 378 BVerwG, Bes. v. 11.12.2003 – 6 B 64.03, n. v., BU S. 6. 379 Vgl. VG Mainz, Urt. v. 21.03.2013 – 1 K 919/12.MZ, juris, Rn. 34. 380 Vgl. VG Mainz, Urt. v. 21.03.2013 – 1 K 919/12.MZ, juris, Rn. 34; OVG Koblenz, Urt. v. 30.07.2003 – 2 A 10770/03, NJW 2003, 3073 (3074). 381 VG Mainz, Urt. v. 21.03.2013 – 1 K 919/12.MZ, juris, Rn. 34. 382 VG Mainz, Urt. v. 21.03.2013 – 1 K 919/12.MZ, juris, Rn. 34; OVG Kob‑ lenz, Urt. v. 30.07.2003 – 2 A 10770/03, NJW 2003, 3073 (3075). 377 BVerwG,
C. Voraussetzungen für die Einleitung des Überdenkungsverfahrens501
hängig gemacht werden darf, streng dogmatisch betrachtet zunächst einmal die vorgelagerte Frage auf, ob dieser überhaupt – in verfassungsrechtlich zulässiger Art und Weise – beschränkt werden darf. (Auch) diese Frage ist ausgehend von den im Falle der Annahme einer Substantiierungsobliegen‑ heit potentiell berührten Grundrechten und damit auf der Grundlage des Gewährleistungsgehalts der Art. 19 Abs. 4 Satz 1, 12 Abs. 1 Satz 1 GG sowie unter Berücksichtigung der Funktion des verwaltungsinternen Kon trollverfahrens zu beantworten. Dieses dient – wie gesehen – der Kompen‑ sation der Rechtsschutzlücke, die dadurch entsteht, dass den Prüfern nach wie vor ein – auf prüfungsspezifische Wertungen beschränkter – Bewer‑ tungsspielraum zusteht und somit der prozeduralen Absicherung der materi‑ ellen Gewährleistungen des Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG. Auch wenn die Notwendigkeit der Durchführung eines verwaltungsinternen Kontrollverfah‑ rens unter dem Gesichtspunkt des Grundrechtsschutzes durch Verfahren unmittelbar aus dem Gewährleistungsgehalt des Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG folgt, so beruht dessen Existenz – wie dargelegt – doch auch und vor allem auf den Determinanten, die sich aus der Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG ergeben383. Diese Erkenntnis legt es nahe, bei der Frage, welche Hürden für den Zugang zum verwaltungsinternen Kontrollverfahren errichtet werden dür‑ fen, die Dogmatik zu übertragen, die sich zu Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG herausgebildet hat, d. h. konkret diejenigen Anforderungen, die sich nach dem gegenwärtigen Stand der Erkenntnisse aus der Rechtsschutzgarantie für die Ausgestaltung, Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts ergeben. Insoweit ist zunächst zu konstatieren, dass dem Gewährleistungsgehalt des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG nicht etwa ein Anspruch des Bürgers auf Bereitstellung eines von jeder Mitwirkungsobliegenheit unabhängigen ge‑ richtlichen Rechtsschutzsystems entnommen wird. Vielmehr wird aus der Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG, die ihrem Wortlaut nach für die Eröffnung des gerichtlichen Rechtsschutzes sinnwidrig – da deren Vorliegen doch gerade erst überprüft werden soll – eine bereits eingetretene Rechtsverletzung verlangt, zumindest eine Obliegenheit des Rechtsschutzsu‑ chenden abgeleitet, die behauptete Rechtsverletzung substantiiert darzule‑ gen384. Diese Mitwirkungslast bei der Verwirklichung des gerichtlichen Rechtsschutzes wird auch dem Charakter der Rechtsschutzgarantie als „Teilhaberecht gegenüber dem Staat auf Bereitstellung gerichtlicher Verfah‑ 383 Siehe
Kapitel 7A. in: BK-GG, Art. 19 Abs. 4, Rn. 107; Enders, in: Epping/Hillgruber, Beck’scher Online-Kommentar zum GG, Art. 19, Rn. 51; Pieroth/Schlink/Kingreen/ Poscher, Rn. 1104 f.; Huber, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 19 IV, Rn. 417. 384 Ibler,
502 Kap. 7: Das verwaltungsinterne Kontrollverfahren (Überdenkungsverfahren)
ren zur Rechtsdurchsetzung“ entnommen385, aus der die Obliegenheit folgen soll, selbst für die Geltendmachung der aus der Rechtsschutzgarantie fol‑ genden Ansprüche zu sorgen386. Dieser Auffassung, dass dem von Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG gewährleisteten Individualrechtsschutz eine „Prozessver‑ antwortung“ korrespondiert, die sich in Anfechtungs- und Mitwirkungslasten bis in das Verwaltungsverfahren hinein niederschlägt387, ist uneingeschränkt beizupflichten. Damit ist die Frage, ob der Zugang zum verwaltungsinternen Kontrollverfahren davon abhängig gemacht werden darf, dass der Prüfling seine Einwendungen gegen die Bewertung seiner Prüfungsleistungen hinrei‑ chend substantiiert, bereits beantwortet. Denn wenn der Gewährleistungsge‑ halt des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG die Statuierung von Mitwirkungsoblie‑ genheiten bei der Verwirklichung und Ausgestaltung des Rechtsschutzes nicht nur zulässt, sondern diese zumindest implizit fordert, können Substan‑ tiierungsobliegenheiten, die sich aus einfach-rechtlichen (prozessualen) Vorschriften ergeben (könnten), mangels Berührung des Schutzbereiches keine Grundrechtsverletzung begründen. Diese Erkenntnis gilt zunächst einmal nur für die Ausgestaltung des gerichtlichen Rechtsschutzes. Für die Festlegung der Zugangsvoraussetzungen zum verwaltungsinternen Kontroll‑ verfahren, das wie gesehen nur einen verlängerten Arm der Rechtsschutzga‑ rantie darstellt und regelmäßig im Rahmen des Widerspruchsverfahrens durchgeführt wird, kann letztlich aber nichts anderes gelten. Denn es er‑ schiene systemwidrig, wenn der Zugang zum Widerspruchs- bzw. Überden‑ kungsverfahren von geringeren Voraussetzungen abhängig wäre als derjeni‑ ge zum Verwaltungsprozess. Demgemäß wird (bereits) für die Zulässigkeit des Widerspruchs allgemein insbesondere eine Widerspruchsbefugnis analog § 42 Abs. VwGO gefordert, die nach überwiegender Ansicht nur dann gege‑ ben ist, wenn sich aus dem substantiierten Vortrag des Widerspruchsführers die Möglichkeit einer Rechtsverletzung bzw. zumindest der Zweckwidrig‑ keit der Entscheidung ergibt388. Nach alledem lässt sich eine Substantiierungsobliegenheit des Prüflings mit dem Gewährleistungsgehalt des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG ohne Weite‑ res vereinbaren. Es bleibt aber noch die Frage zu klären, ob die Auferle‑ gung einer Substantiierungsobliegenheit mit dem Gewährleistungsgehalt des Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG in Konflikt gerät. Dies erscheint zweifel‑ 385 So die zutreffende Charakterisierung und Formulierung bei Huber, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 19 Abs. 4, Rn. 371. 386 Huber, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 19 Abs. 4, Rn. 371. 387 Huber, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 19 Abs. 4, Rn. 371; siehe auch Ibler, in: BK-GG, Art. 19 Abs. 4, Rn. 247; Ibler, S. 422 ff.; Schulze-Fielitz, in: Drei‑ er, GG, Art. 19 Abs. 4, Rn. 97. 388 Dolde/Porsch, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, § 70, Rn. 41 f.; Geis, in: Sodan/Ziekow, § 69, Rn. 51 f.
C. Voraussetzungen für die Einleitung des Überdenkungsverfahrens503
haft389, da dann von dem Schutzbereich des Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG das Recht umfasst sein müsste, die materiellen Gewährleistungen dieses Grund‑ rechtes in Verfahren, die keinerlei Mitwirkungsobliegenheit für den Prüf‑ ling vorsehen, durchsetzen zu können. Soweit der Bereich des gerichtli‑ chen Rechtsschutzes und hier bestehender Substantiierungsobliegenheiten betroffen ist, geht Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG ohnehin als Spezialregelung vor390, so dass ein Rückgriff auf Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG nicht zulässig ist. Eine Berührung des Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG ist hier insoweit ausge‑ schlossen. Was den aus dem Effektuierungsgebot391 und damit den aus der prozeduralen Komponente des Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG folgenden An‑ spruch des Prüflings auf einen wirksamen verwaltungsinternen Rechts‑ schutz anbelangt, so wird dieser von Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG aufgrund der nur eingeschränkt möglichen gerichtlichen Kontrolle der prüfungsspe‑ zifischen Wertungen nicht nur flankiert, sondern postuliert. Infolgedessen folgt aus der Kompensationsfunktion des verwaltungsinternen Kontrollver‑ fahrens, dass die hier bestehenden Rechtsschutzmöglichkeiten des Prüflings nicht über diejenigen im Verwaltungsprozess hinausgehen können und ins‑ besondere nicht eine mitwirkungsfreie Ausgestaltung desselben erfordern. Der vorstehende Befund, nach dem die Annahme einer Substantiierungs‑ obliegenheit als Voraussetzung für die Einleitung des Überdenkungsverfah‑ rens mit den Grundrechten des seine Bewertung anfechtenden Prüflings ohne Weiteres vereinbar ist, dürfte auch mit der Sichtweise beinahe aller von einer vermeintlich fehlerhaften Bewertung betroffenen Prüflinge korre‑ spondieren. Diese haben typischerweise sogar das dringende Bedürfnis, darzulegen bzw. jedenfalls darlegen zu lassen, weshalb die erfolgte Bewer‑ tung ihrer Auffassung nach ungerechtfertigt ist und hegen nicht die Erwar‑ tung, dass das Prüfungsamt oder gar der Prüfer selbst dies ohne irgendwel‑ che „wirkungsvollen Hinweise“ von Amts wegen feststellen. Soweit das Bundesverwaltungsgericht ausführt, es liege „auf der Hand“ und bedürfe keiner besonderen Darlegung, dass ein Prüfling, der die Bewertung einer Prüfungsarbeit beanstande, konkrete und substantiierte Einwendungen vor‑ 389 Ibler nimmt – ohne nähere Begründung und deshalb nicht überzeugend – einen solchen an, S. 420, 424 f. 390 Siehe zur Spezialität des Art. 19 Abs. 4 GG Huber, in: von Mangoldt/Klein/ Starck, GG, Art. 19 Abs. 4 GG, Rn. 364. 391 Dazu Huber, in: Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 19 Abs. 2, Rn. 157 ff.; Cornils, S. 264 f., mit Hinweis auf die begrenzte Aussagekraft dieses Kriteriums für die Ausgestaltung des von Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG geforderten (effektiven) Rechts‑ schutzes im Hinblick auf die dabei zu berücksichtigenden gegenläufigen Interessen; ausführlich zum Effektivitätsgebot Kaufmann, S. 244 ff., der eine prozedurale Kom‑ ponente der materiellen Grundrechte im Sinne des Effektivitätsgebots ablehnt, S. 276.
504 Kap. 7: Das verwaltungsinterne Kontrollverfahren (Überdenkungsverfahren)
bringen müsse und sich nicht darauf verlassen könne, dass sich irgendein (Bewertungs‑)Fehler finden werde392, so entspricht dies also durchaus dem weitgehenden (Selbst‑)Verständnis der Prüflinge und somit der Rechtswirk‑ lichkeit. Hiernach liegt es also im wohlverstandenen und weitgehend auch so in‑ terpretierten Interesse des Prüflings, seine Einwände gegen die (prüfungs‑ spezifischen) Wertungen des Prüfers hinreichend zu substantiieren, weil er dadurch dem Überdenkungsverfahren eine bestimmte Richtung und hinrei‑ chende Anhaltspunkte für ein Überdenken der Bewertung gibt393. Es ist aber nicht zu verkennen, dass auf der anderen Seite die Substantiierungsoblie‑ genheit auch – entsprechend der Klagebefugnis nach § 42 Abs. 2 Vw‑ GO394 – eine Filterfunktion erfüllt, indem diese das Prüfungsamt und den Prüfer vor unnützer Inanspruchnahme durch die gebotene Bescheidung of‑ fensichtlich unbegründeter Einwendungen des Prüflings schützt. Es liegt auf der Hand, dass trotz grundsätzlicher Übereinstimmung hin‑ sichtlich des Erfordernisses einer hinreichenden Substantiierung der Ein‑ wände allein die Verfolgung dieses Schutzinteresses zu divergenten Auf fassungen hinsichtlich der Frage führen kann, welches Maß an Darlegung erforderlich ist, damit der Prüfling eine Selbstkontrolle der prüfungsspezifi‑ schen Wertungen durch die Prüfer in einem verwaltungsinternen Kontrollver fahren erreichen kann. Noch näher liegen diesbezügliche Kontroversen, wenn wie dargelegt angenommen wird, dass die Substantiierungsobliegen‑ heit auch dem Schutz der Chancengleichheit der anderen Prüflinge dient bzw. zumindest dienen kann. Ob und inwieweit die gegenläufigen Interessen der am Prüfungsgesche‑ hen Beteiligten bei der (gesetzlichen) Ausgestaltung der Substantiierungsob‑ liegenheit des Prüflings berücksichtigt werden können, hängt neben der Frage, ob diese auch tatsächlich betroffen und verfassungsrechtlich geschützt sind, zunächst und vor allem von der Reichweite des Überdenkensanspruchs des Prüflings und damit dem Umfang seiner verfassungsrechtlich geschütz‑ ten Interessen ab. Nach den bis hierher erfolgten Ausführungen kann insoweit im Ausgangs‑ punkt nicht (mehr) fraglich sein, dass der Prüfling generell einen verfas‑ sungsrechtlich abgesicherten, generellen Anspruch auf die (Selbst‑)Kontrolle der prüfungsspezifischen Wertungen in einem verwaltungsinternen Kontroll‑ verfahren hat. Durch die in der Rechtsprechung vorgenommene Auslegung 392 BVerwG,
(214).
393 BFHE
Bes. v. 01.09.1992 – 6 B 22/92, Buchholz 421.0 Nr. 302, S. 213
195, 93 (97). zur Filterfunktion der Klagebefugnis etwa Wahl/Schütz, in: Schoch/ Schneider/Bier, VwGO, § 42 Abs. 2, Rn. 10; Baumgartner, S. 16. 394 Siehe
C. Voraussetzungen für die Einleitung des Überdenkungsverfahrens505
und Bewertung der in Rheinland-Pfalz getroffenen Regelung der Substanti‑ ierungsobliegenheit des Prüflings ist allerdings die Reichweite des Überden‑ kensanspruchs des Prüflings fraglich geworden. Konkret fragt sich, ob der Prüfling eine verwaltungsinterne Kontrolle der prüfungsspezifischen Wertungen nur dann beanspruchen kann, wenn er zugleich die mit diesen verknüpften (fachwissenschaftlichen) Wertungen mit substantiierten Einwendungen beanstandet, oder ein Überdenken der Bewertung seitens der Prüfer auch dann verlangen kann, wenn er sich isoliert gegen einzelne prüfungsspezifische Wertungen wie etwa den ange‑ nommenen Schwierigkeitsgrad der Aufgabenstellung wendet. Die bisher dargelegte Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichtes sowie der Ge‑ richte in Rheinland-Pfalz bezüglich der Substantiierungsregelung in § 9 Abs. 6 Satz 1 JAPO RLP kann nur dahin verstanden werden, dass der Prüfling mit seinen substantiierten Einwendungen zugleich auch die Mög‑ lichkeit des Vorliegens eines Bewertungsfehlers aufzeigen muss, um die Durchführung eines Überdenkungsverfahrens unter Beteiligung der ur‑ sprünglichen Prüfer zur Überprüfung (auch) der prüfungsspezifischen Wer‑ tungen beanspruchen zu können. Jedenfalls das Bundesverwaltungsgericht hat in anderen Entscheidungen aber Ausführungen gemacht, die sich durchaus dahin deuten lassen, dass auch isolierte Angriffe gegen prüfungsspezifische Wertungen den Überden‑ kensanspruch des Prüflings auslösen (können). So hat es in seiner Grund‑ satzentscheidung zum Inhalt des Begründungsanspruchs des Prüflings bei mündlichen Prüfungen im Kontext mit dem gebotenen Umfang der Erläute‑ rung der prüfungsspezifischen Wertungen explizit ausgeführt, dass ein An‑ spruch des Prüflings auf Überdenken derselben (auch) dann bestehe, wenn der gerichtliche Rechtsschutz nicht greift395. Damit hat es in der Sache in dieser Entscheidung einen Anspruch auf eine verwaltungsinterne Kontrolle der prüfungsspezifischen Wertungen auch dann zugesprochen, wenn nach dem Vorbringen des Prüflings Bewertungsfehler nicht ersichtlich sind. In einem weiter erwähnenswerten Beschluss vom 11.06.1996 hat das Bundes‑ verwaltungsgericht ausgeführt, dass die Anforderungen an die Darlegungs‑ last des Prüflings „hoch“ seien, soweit dieser sich (ausschließlich) gegen eine prüfungsspezifische Wertung wende396. Im konkreten Fall war dies die Einschätzung des Prüfers, dass der vom Prüfling gewählte Aufbau unüber‑ sichtlich und daher unzweckmäßig sei. In einem jüngeren Beschluss vom 18.12.2008 hat das Bundesverwaltungsgericht dann den Rechtsstandpunkt eingenommen, dass der Anspruch auf ein Überdenken von Prüfungsleistun‑ gen durch die mit der Bewertung befassten Prüfer in erster Linie die mit 395 BVerwGE 396 BVerwG,
99, 185 (197). Bes. v. 11.06.1996 – 6 B 88/95, juris, Rn. 16.
506 Kap. 7: Das verwaltungsinterne Kontrollverfahren (Überdenkungsverfahren)
einem prüfungsrechtlichen Bewertungsspielraum verbundene Einordnung der erbrachten Leistungen in ein Bewertungssystem betreffe397. Auch aus diesen beiden Entscheidungen kann durchaus gefolgert werden, dass der Anspruch des Prüflings auf Durchführung eines Überdenkungsverfahrens auch dann besteht, wenn sich der Prüfling ausschließlich gegen prüfungs‑ spezifische Wertungen wendet. Dieser Rechtsstandpunkt wird ganz offen‑ sichtlich in der instanzgerichtlichen Rechtsprechung sowie in der Literatur ebenso eingenommen, soweit denn zu der hier aufgeworfenen Frage jeden‑ falls implizit Stellung genommen wird398. Insoweit betont das OVG Müns‑ ter unter Bezugnahme auf die Einwendung des Prüflings, der die Prüfungs‑ entscheidung unter anderem unter dem Gesichtspunkt einer unangemessenen Gewichtung der erbrachten Teilleistungen angegriffen hatte, dass das ver‑ waltungsinterne Kontrollverfahren gerade eine Selbstkontrolle der Prüfer in dem Bereich bezwecke, der durch die gerichtliche Überprüfung nicht mehr erreicht werden kann, weil dieser durch den Bewertungsspielraum der Prü‑ fer abgedeckt ist399. Und das OVG Greifswald weist deutlich darauf hin, dass der Umstand, dass ein Prüfling mit seinen Einwendungen Prüferbemer‑ kungen angegriffen habe, die wegen des bestehenden Bewertungsspielraums der Prüfer der gerichtlichen Kontrolle entzogen seien, gerade keinen Grund darstelle, den Prüfer nicht zu einem Überdenken zu veranlassen400. Die damit im Ergebnis ungeklärte bzw. umstrittene Frage der konkreten Reichweite des Überdenkensanspruchs des Prüflings ist wiederum ausge‑ hend von dem Umfang des durch die Art. 12 Abs. 1 Satz 1, 19 Abs. 4 Satz 1 GG vermittelten (Grund‑)Rechtsschutzes zu beantworten. Insoweit ist noch‑ mals in Erinnerung zu rufen, dass Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG im Sinne einer formellen (Verfahrens‑)Gewährleistung dem Prüfling (gerichtlichen) Rechts‑ schutz gegen rechtswidrige Beeinträchtigungen des materiellen Schutzbe‑ reichs des Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG garantiert. Diese werden namentlich hervorgerufen durch den Berufszugang verhindernde oder erschwerende, unrichtige Prüfungsentscheidungen des Prüfungsamtes, deren Abwehr der Prüfling gestützt auf das Grundrecht der Berufsfreiheit beanspruchen und deren gerichtliche (Voll‑)Kontrolle er kraft des Gewährleistungsgehalts der Rechtsschutzgarantie im Rahmen des Möglichen verlangen kann. Wegen des weitgehenden Fehlens objektiver Kontrollmaßstäbe im Bereich der prü‑ fungsspezifischen Wertungen kann aber wie dargelegt die objektive 397 BVerwG,
Bes. v. 18.12.2008 – 6 B 70/08, juris, Rn. 7. OVG Münster, Urt. v. 06.09.1995 – 22 A 1844/94, DVBl 1996, 446 (447); OVG Greifswald, Bes. v. 20.12.2002 – 2 L 8/01, NordÖR 2003, 18 (19); Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 789 f., insb. Rn. 790; Zimmerling/Brehm, Der Prü‑ fungsprozess, Rn. 38. 399 OVG Münster, Urt. v. 06.09.1995 – 22 A 1844/94, DVBl 1996, 446 (447). 400 OVG Greifswald, Bes. v. 20.12.2002 – 2 L 08/01, NordÖR 2003, 18 (19). 398 Vgl.
C. Voraussetzungen für die Einleitung des Überdenkungsverfahrens507
(Un‑)Richtigkeit der Prüfungsentscheidung selbst nicht (gerichtlich) festge‑ stellt werden. Daher muss sich die gerichtliche Kontrolle der Prüfungsent‑ scheidung auf die Überprüfung beschränken, ob die ihr zugrundliegenden Bewertungen der (Teil‑) Prüfungsleistungen aus einem nach objektiven Maßstäben beanstandungsfreien Entscheidungsprozess hervorgegangen sind. Dies bedeutet, dass das Gericht (nur) überprüfen kann und muss, ob die erfolgten prüfungsspezifischen Wertungen der Prüfer sich noch innerhalb des ihnen eröffneten Abwägungsrahmens bzw. Bewertungsspielraums bewe‑ gen und insoweit rechtmäßig sind. Die gerichtliche Kontrolle bleibt damit aber unvollkommen, weil nur rechtswidrige, nicht aber durch den Abwägungs- bzw. Bewertungsspielraum zwar noch gedeckte, aber unzweckmäßige prüfungsspezifische Bewertungen sanktioniert werden können. Zur Kompensation der dadurch entstehenden Rechtsschutzlücke ist daher eine verwaltungsinterne (Selbst‑)Kontrolle der prüfungsspezifischen Wertungen durch die Prüfer verfassungsrechtlich zwingend geboten. Daraus folgt, dass der Prüfling die Zuleitung seiner Einwendungen an die Prüfer jedenfalls dann verlangen kann, wenn hiernach eine Überschreitung des Abwägungs- bzw. Bewertungsspielraums durch die Prüfer plausibel bzw. zumindest nicht ausgeschlossen erscheint, etwa weil er substantiiert geltend machen kann, dass die Prüfer im Rahmen ihrer (prüfungsspezifischen) Wertung das Gebot der rationalen Abwägung im engeren Sinne missachtet hätten. Unterhalb dieser Schwelle einer mögli‑ chen – durch die Missachtung der Grenzen des Bewertungsspielraums be‑ gründeten – Rechtsverletzung im Sinne des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG scheint der Prüfling ein Überdenken der prüfungsspezifischen Wertungen aber nicht beanspruchen zu können. Denn wenn diese innerhalb des den Prüfern eröff‑ neten Abwägungsrahmens liegen, kann wie dargelegt mangels weiter rei‑ chender objektiver Kontrollmaßstäbe die Rechtswidrigkeit der Prüfungsent‑ scheidung und damit das Vorliegen einer – deren (gerichtliche) Kontrolle eröffnenden – (objektiven) Rechtsverletzung im Sinne des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG nicht begründet und geltend gemacht werden. Dabei bliebe aber unbeachtet, dass aus Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG wie bereits dargelegt auch ein Abwehrrecht des Prüflings gegen solche Prüfungsentscheidungen folgt, deren Grundlage auch die Bewertung einer (Teil‑)Prüfungsleistung gewor‑ den ist, die (auch) die verantwortlichen Prüfer gemessen an ihren subjekti‑ ven Maßstäben nach selbstkritischer Überprüfung für falsch halten (würden). Denn die Legitimation des den Prüfern zustehenden Abwägungs- bzw. Be‑ wertungsspielraums folgt letztlich auch aus der (berechtigten) Erwartung, dass diese kraft ihrer besonderen Erfahrung und Sachkunde eine nach ihrer subjektiven Einschätzung richtige Entscheidung getroffen haben. Liegt diese Voraussetzung nicht vor, fehlt es an jeder verfassungsrechtlichen Rechtfer‑ tigung, dem Prüfling mit Verweis auf den Bewertungsspielraum der Prüfer
508 Kap. 7: Das verwaltungsinterne Kontrollverfahren (Überdenkungsverfahren)
und die damit fehlende Möglichkeit der Rechtskontrolle kompensatorischen Rechtsschutz in einem auf die Kontrolle der Zweckmäßigkeit der getroffe‑ nen (prüfungsspezifischen) Wertungen gerichteten verwaltungsinternen Kontrollverfahren zu verwehren. Nach alledem muss dem Prüfling das Recht eingeräumt werden, die Prüfer mittels substantiierter Einwendungen davon zu überzeugen, dass ihre mittels objektiver Maßstäbe nicht falsifizier‑ bare (Erst‑)Bewertung bei Zugrundelegung der von ihnen selbst entwickel‑ ten Bewertungsmaßstäbe „subjektiv unrichtig“ war. Bei dem – in seinem konkreten Umfang noch zu klärenden – Erfordernis der Erhebung substantiierter Einwände kann der hier angenommenen Reich‑ weite des Überdenkensanspruchs des Prüflings offensichtlich nicht der ge‑ botene Schutz der Effektivität / Funktionsfähigkeit der Verwaltung401 bzw. des Prüfungswesens402 als verfassungsrechtlich durchaus legitimiertes Kollisionsrechtsgut entgegengehalten werden. Ebenso wenig vermag der das Prüfungsrecht „beherrschende“ Grundsatz der Chancengleichheit eine Be‑ grenzung des Anspruchs auf ein Überdenken möglicherweise rechtsfehler‑ hafter Bewertungen zu rechtfertigen. Dies gilt selbst im Falle des Verzichts auf das Erfordernis der Erhebung substantiierter Einwände. Denn auch bei deren Erhebung ist die Neigung der Prüfer, ihre Bewertung im Überden‑ kungsverfahren zu korrigieren, ausgesprochen gering ausgeprägt. Daher erscheint es ausgeschlossen, den Prüfer durch die Erhebung völlig pauschaler Einwände zu einer „vom Vergleichsrahmen“ unabhängigen Be‑ wertung zu bewegen403. Diese ist aber auch dann nicht zu befürchten, wenn die Zweitbewertung des Prüfers aufgrund einer Korrektur der prüfungsspezi‑ fischen Wertungen infolge substantiierter Einwände des Prüflings günstiger ausfällt. Entgegen der Ansicht der Gerichte in Rheinland-Pfalz bleibt der na‑ mentlich durch die Leistungen der Mitprüflinge in dem konkreten Prüfungs‑ durchgang geprägte Vergleichsrahmen derselbe. Der Prüfer ändert ggf. ledig‑ lich sein Bewertungssystem. Dies begründet aber keine rechtfertigungsbe‑ dürftige Ungleichbehandlung der anderen Prüflinge, weil diese ebenso wie der vermeintlich zu Unrecht begünstigte Prüfling die Chance gehabt hätten, 401 Ebenso Huber, in: v. Mangold/Klein/Starck, GG, Art. 19 Abs. 4, Rn. 376; v. Mutius, NJW 1982, 2150 (2150 f.); Kopp, BayVBl. 1983, 673 (673 m. Fn. 5); Kopp/Ramsauer, VwVfG, § 10, Rn. 2; siehe auch VGH Mannheim, Urt. v. 15.02.1991 – 9 S 105/90, NVwZ 1991, 1205 (1207), zur „Effektivität und Praktika‑ bilität des Prüfungswesens“ im Zusammenhang mit der Rechtfertigung der Pflicht des Prüfers, die Bewertung zu begründen. 402 Mit dieser argumentiert Ibler, S. 415. 403 Siehe in diesem Zusammenhang auch BVerwG, Urt. v. 21.03.2012 – 6 C 19/11, NVwZ 2012, 1188 (1191) zur Beeinflussungsresistenz von Prüfern; siehe hierzu auch die Anmerkung von Unger NVwZ 2012, 1192 (1193) sowie Unger, SächsVBl. 2013, 29 (31 f.).
C. Voraussetzungen für die Einleitung des Überdenkungsverfahrens509
den Prüfer durch Erhebung substantiierter Einwände davon zu überzeugen, dass seine Bewertung „subjektiv unrichtig“ und damit korrekturbedürftig ist. Wenn die anderen Prüflinge ihre Rechtsschutzmöglichkeiten nicht in An‑ spruch nehmen wollen oder den ihnen insoweit obliegenden Mitwirkungslas‑ ten nicht nachgekommen sind, kann dies schwerlich eine Rechtsschutzver‑ kürzung auf Seiten desjenigen Prüflings rechtfertigen, der sich unter Inan‑ spruchnahme seiner Rechte mit substantiierten Einwänden erfolgreich gegen eine ihm ungerechtfertigt erscheinende Bewertung zur Wehr setzt404. Nach alledem dürfte die in § 9 Abs. 6 Satz 1 JAPO RLP getroffene Regelung als verfassungswidrig anzusehen sein, soweit mit dieser gezielt ein isoliertes Überdenken prüfungsspezifischer Einwendungen ausgeschlossen wird, das der Prüfling nach dem Dargelegten zur Kompensation der aufgezeigten Lü‑ cken im gerichtlichen Rechtsschutzsystem gestützt auf die Art. 12 Abs. 1 Satz 1, 19 Abs. 4 Satz 1 GG nämlich beanspruchen kann. Keinen durchgrei‑ fenden Bedenken begegnet demgegenüber die in § 14 Abs. 2 Satz 2, Abs. 3 JAPO Bayern normierte Substantiierungsobliegenheit, die eine Prüferbeteili‑ gung auch bei ausschließlich auf die prüfungsspezifischen Wertungen abzie‑ lenden Bewertungsrügen des Prüfers zulässt. d) (Konkreter) Inhalt der Substantiierungsobliegenheit Nachdem nun geklärt worden ist, dass der Prüfling auch dann einen An‑ spruch auf die Durchführung eines verwaltungsinternen Kontrollverfahrens hat, wenn Gegenstand seiner Einwendungen ausschließlich prüfungsspezifi‑ sche Wertungen sind, ist nun zu prüfen, welches konkrete Maß an Substan tiierung insoweit und für den Fall, dass diese mit fachspezifischen Bewertun‑ gen (untrennbar) verknüpft sind, gefordert werden kann. Hierzu soll zunächst als Basis für die Entwicklung eines eigenen Standpunktes ein Blick auf die bisherigen Konkretisierungsbemühungen namentlich in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichtes und der Literatur geworfen werden. aa) Das Substantiierungserfordernis in der Rechtsprechung des BVerwG Das Bundesverwaltungsgericht hat in seiner bisherigen Rechtsprechung aus‑ schließlich zu den Substantiierungsanforderungen bei Einwendungen des Prüf‑ lings gegen die fachwissenschaftliche Kritik Stellung genommen. Hierzu hat es zunächst in seiner Grundsatzentscheidung zum verwaltungsinternen Kon trollverfahren Ausführungen gemacht, die im Wesentlichen bereits referiert 404 Vgl.
BVerwGE 109, 211 (219); Ibler, S. 376.
510 Kap. 7: Das verwaltungsinterne Kontrollverfahren (Überdenkungsverfahren)
worden sind. Diese hat es in einem ebenfalls bereits erwähnten, im Übrigen aber im gegebenen Zusammenhang kaum beachteten405 Urteil vom 04.05.1999 bestätigt und präzisiert. Die insoweit maßgeblichen Darlegungen sind wegen ihrer Bedeutung hier einführend im Originalwortlaut wiederzugeben: „Hiernach entspricht dem Recht des Prüflings, auf vermeintliche fachliche Irrtü‑ mer und daran anknüpfende Rechtsfehler wirkungsvoll hinweisen zu können, im Rechtsstreit um die Rechtmäßigkeit einer Prüfungsentscheidung eine Mitwir‑ kungspflicht. Diese besteht darin, derartige Fehler mit ‚wirkungsvollen Hinweisen‘ aufzuzeigen, d. h. sie substantiiert mit einer nachvollziehbaren Begründung beste‑ hender Einwände darzulegen. Soll sein Vorbringen berücksichtigt werden können, hat der Prüfling klarzustellen, in welchen konkreten Einzelpunkten die Korrektur bestimmter Prüfungsleistungen nach seiner Auffassung Korrekturfehler aufweist; dabei hat er auf Inhalt und Zielrichtung einzelner Prüferbemerkungen und -wer‑ tungen einzugehen. Eine bloße Wiederholung des eigenen Standpunktes auf ver‑ breiteter subjektiver Argumentationsbasis reicht nicht aus. Die fachwissenschaftli‑ che Richtigkeit oder Vertretbarkeit einer Lösung muß vielmehr mit Hilfe objekti‑ ver und gewichtiger Kriterien einsichtig gemacht werden. Der Prüfling kann etwa mit geeigneten Mitteln in qualifizierter Weise plausibel machen, daß die konkrete fachwissenschaftliche Beurteilung der Prüfer einem Fachkundigen als unhaltbar erscheine. Macht er geltend, die Prüfer hätten zu einer verallgemeinerungsfähigen Frage eine vom Prüfling vertretene Auffassung als falsch bewertet, obwohl diese Auffassung vertretbar sei und so auch vertreten werde, so hat er den Gegensatz zwischen seinem Standpunkt und dem der Prüfer in qualifizierter Weise aufzuzei‑ gen, d. h. er muß zunächst anhand genau zu benennender Prüferbemerkungen klarstellen, daß und was genau die Prüfer seiner Meinung nach als falsch oder unvertretbar bezeichnet haben, und er kann sodann die Vertretbarkeit des in der Prüfungsarbeit vertretenen gegenteiligen Standpunktes unter Hinweis auf entspre‑ chende Fundstellen ausreichend qualifiziert erläutern. Wesentlich ist dabei insbe‑ sondere, den unmittelbaren Gegensatz zur Auffassung der Prüfer darzulegen. Richtige und umfangreich belegte Ausführungen zu einem strittigen Rechtspro‑ blem, das in der Prüfungsarbeit abgehandelt worden ist, können dann nicht als hinreichende Substantiierung angesehen werden, wenn die Prüfer lediglich kriti‑ siert haben, hier werde in überflüssiger Weise eine Problematik entfaltet, die den Weg zum richtigen Prüfungsergebnis nur erschwere.“406
Zu den im Falle des möglichen Vorliegens anderer Bewertungsfehler bestehenden Darlegungsanforderungen hat sich das Bundesverwaltungsge‑ richt überhaupt nicht geäußert und in Bezug auf prüfungsspezifische Bewer‑ tungen wie dargelegt nur bemerkt, dass sie „hoch“ und im Übrigen einzel‑ fallbezogen seien407. 405 So wird diese Entscheidung im Kontext mit der Substantiierungslast etwa weder von Niehues/Fischer/Jeremias, Prüfungsrecht, noch von Zimmerling/Brehm, Der Prüfungsprozess, erwähnt. 406 BVerwG, Urt. v. 04.05.1999 – 6 C 13.98, NVwZ 2000, 915 (918). 407 Siehe nochmals BVerwG, Bes. v. 11.06.1996 – 6 B 88/95, juris, Rn. 16.
C. Voraussetzungen für die Einleitung des Überdenkungsverfahrens511
bb) Das Substantiierungserfordernis in der instanzgerichtlichen Rechtsprechung Soweit in der instanz- bzw. finanzgerichtlichen Rechtsprechung eine Aus‑ einandersetzung mit dem (konkreten) Inhalt der den Prüfling treffenden Substantiierungsobliegenheit stattfindet, erschöpfen sich die jeweiligen Dar‑ legungen weitgehend in einer Bezugnahme auf die – ihrerseits wenig ergie‑ bige – Grundsatzentscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes vom 24.02. 1993 und die Wiedergabe des dortigen Postulats, welches wiederum auf den Beschluss des Bundesverfassungsgerichtes vom 17.04.1991 Bezug nimmt, dass der Prüfling den Prüfern „wirkungsvolle Hinweise“ geben, d. h. subs‑ tantiierte Einwände erheben müsse, indem er konkret und nachvollziehbar – ggf. unter Hinweis auf entsprechende Fundstellen – darlegt, in welchen Punkten die Korrektur bestimmter Prüfungsleistungen nach seiner Auffas‑ sung Bewertungsfehler aufweist408. Soweit die Formulierungen des Bundes‑ verwaltungsgerichtes nicht im Originalwortlaut übernommen und / oder im Ansatz ergänzende Ausführungen gemacht werden, wird betont, dass aus dem Erfordernis der Substantiierung der Einwendungen die Notwendigkeit folge, sich mit den Beanstandungen der Prüfer auseinanderzusetzen und die‑ se konkret und plausibel darzulegen409, also genau anzugeben, aus welchen Gründen der Prüfling der Auffassung ist, dass seine Leistung zu schlecht bewertet worden sei410; andererseits wird aber auch mitunter betont, dass an die Darlegungen des Prüflings keine besonderen Anforderungen gestellt wer‑ den dürften411. Eine erwähnenswerte Ergänzung bzw. Abweichung von der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichtes liegt nur darin, dass die instanzgerichtliche Rechtsprechung mitunter von dem Prüfling nicht aus‑ nahmslos verlangt, dass die Vertretbarkeit des von ihm in der Prüfungsarbeit eingenommenen Rechtsstandpunktes durch entsprechende Nachweise belegt wird, sondern nur insoweit, als dies möglich ist412. 408 OVG Münster, Urt. v. 17.09.1993 – 22 A 1931/91, DÖV 1994, 392 (392); OVG Greifswald, Bes. v. 20.12.2002 – 2 L 110/0, NordÖR 2003, 18 (19); OVG Bremen, Bes. v. 24.06.2009 – 2 B 118/09, NordÖR 2009, 410 (411); mit etwas anderen Worten BFH, Urt. v. 12.06.2001 – VII R 49/00, BFHE 195, 93 (96 f.); VG Hamburg, Urt. v. 16.04.2003 – 6 VG 2363/99, juris, Rn. 38; VG Minden, Urt. v. 04.12.2003 – 2 K 5130/03, juris, Rn. 37 f.; VG München, Urt. v. 20.01.2009 – M 4 K 07.3021, juris, Rn. 46; vgl. auch VG Dresden, Urt. v. 04.06.2008 – 5 K 38/08, juris, Rn. 108, 139, in Rn. 139 wird die Notwendigkeit betont, die maßgebliche Fundstelle genau in konkreter Weise zu benennen. 409 VG Minden, Urt. v. 04.12.2003 – 2 K 5130/03, juris, Rn. 37. 410 BFHE 195, 93 (96). 411 OVG Greifswald, Bes. v. 20.12.2002 – 2 L 8/01, NordÖR 2003, 18 (19). 412 OVG Münster, Urt. v. 17.09.1993 – 22 A 1931/91, DÖV 1994, 392 (392); VG Minden, Urt. v. 04.12.2003 – 2 K 5130/03, juris, Rn. 37.
512 Kap. 7: Das verwaltungsinterne Kontrollverfahren (Überdenkungsverfahren)
cc) Die Interpretation des Substantiierungserfordernisses in der Literatur Auch die Darstellungen in der Literatur beschränken sich im Wesentli‑ chen auf eine Wiedergabe der Anforderungen, die das Bundesverwaltungs‑ gericht aufgestellt hat und die oben bereits referiert worden sind413. Welche Erfordernisse sich aus der Substantiierungsobliegenheit in concreto ergeben, bleibt weitgehend offen. Erwähnenswert erscheint noch der Definitionsver‑ such von Ibler, der eine hinreichende Substantiierung der Darlegungen des Prüflings annimmt, wenn diese wegen der objektiven Umstände des Falles Anlass geben, an der Rechtmäßigkeit der Prüferbewertung zu zweifeln und deshalb weiter nachzuforschen414. dd) Bewertung und eigener Ansatz Augenfällig ist zunächst, dass das Bundesverwaltungsgericht dem Prüf‑ ling, der die Zuleitung seiner Einwendungen an die Prüfer begehrt, eine Darlegungslast aufbürdet, wie sie in ganz ähnlicher Weise auch dem Beru‑ fungszulassungsantragsteller, der die Zulassung der Berufung gegen ein Urteil des Verwaltungsgerichtes durch das Oberverwaltungsgericht erstrebt, sowie dem Beschwerdeführer im Verfahren über die Nichtzulassung der Revision üblicherweise auferlegt werden. Die Anforderungen, die insoweit an den Vortrag des Berufungszulassungsantragstellers respektive des Be‑ schwerdeführers gestellt werden, gilt es zunächst einmal aufzuzeigen, um die bestehenden Parallelen deutlich machen zu können. So muss sich der Berufungszulassungsantragsteller auf einen der in § 124 Abs. 2 VwGO aufgeführten Zulassungsgründe berufen und darlegen, aus wel‑ chen Gründen die Berufung zuzulassen ist, § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO415. Nach § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO muss der Beschwerdeführer ebenfalls darle‑ gen, warum etwa der Rechtssache grundsätzliche Bedeutung zukommt. Das Darlegungserfordernis bei § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO entspricht grundsätz‑ lich demjenigen der Begründung bei der Nichtzulassungsbeschwerde416. 413 Siehe Zimmerling/Brehm, Der Prüfungsprozess, Rn. 33 und 35; Fliegauf, Rn. 30 ff., Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 789, die sich zumindest im Ansatz um eine Konturierung der Darlegungsanforderungen bemühen, wobei aber die Konkretisie‑ rungsbemühungen letztlich doch im Abstrakten stecken bleiben; Birnbaum, NVwZ 2006, 286 (295). 414 Ibler, S. 418. 415 Zu den Begründungserfordernissen im Allgemeinen siehe Kopp/Schenke, VwGO, § 124a, Rn. 49 ff.; Schoch/Schneider/Bier, VwGO, § 124, Rn. 38 ff. 416 Kopp/Schenke, VwGO, § 124a, Rn. 48; Meyer-Ladewig/Rudisile, in: Schoch/ Schneider/Bier, VwGO, § 124a, Rn. 89; siehe zu den parallelen Tatbestandsmerkma‑ len auch Pietzner/Bier, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, § 133, Rn. 29.
C. Voraussetzungen für die Einleitung des Überdenkungsverfahrens513
Zentraler Begriff ist demnach derjenige des „Darlegens“, den Rechtspre‑ chung und Literatur wie folgt mit Gehalt gefüllt haben: Darlegen erfordert mehr als einen nicht näher spezifizierten Hinweis auf das Vorliegen eines Zulassungsgrundes. Voraussetzung ist, dass der Antragsteller „erläutert“, „erklärt“, „näher auf etwas eingeht“417. Hierzu bedarf es einer substantiier‑ ten Auseinandersetzung mit der angegriffenen Entscheidung, durch die der Streitstoff durchdrungen und aufbereitet wird.418 Nicht ausreichend ist hiernach insbesondere eine bloße Wiederholung des erstinstanzlichen Vortrags, ohne einen Bezug zur Entscheidung herzustel‑ len419. Diese Konkretisierung ist deckungsgleich mit dem Hinweis des Bundesverwaltungsgerichtes in der oben auszugsweise wiedergegebenen Entscheidung, dass eine bloße Wiederholung des eigenen Standpunktes auf verbreiteter subjektiver Argumentationsbasis nicht ausreiche. Und soweit das Bundesverwaltungsgericht dort ausführt, dass sich der Prüfling mit den Prüferbemerkungen und -wertungen auseinanderzusetzen und auf deren In‑ halt und Zielrichtung einzugehen habe, deckt sich dies mit dem in Bezug auf das erforderliche Darlegen bei § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO aufgestellten Erfordernis, dass sich der Berufungszulassungsantragsteller mit der ange‑ griffenen Entscheidung auseinandersetzen und den Streitstoff durchdringen und aufbereiten müsse. Aber nicht nur die Anforderungen, die sich aus dem Begriff des „Darle‑ gens“ in § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO und in § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO hinsichtlich des Vortrags des Antragstellers / Beschwerdeführers im Allge‑ meinen ergeben, decken sich mit denjenigen, die nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichtes vom Prüfling zu erfüllen sind. Auch die auf die einzelnen Zulassungsgründe des § 124 Abs. 2 VwGO abgestimmten Darlegungsanforderungen und diese selbst lassen sich bisweilen übertragen bzw. stimmen überein. Das gilt namentlich für den Zulassungsgrund der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils nach § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO. Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der angegriffenen Entscheidung im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO sind nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes immer schon dann begründet, wenn ein einzel‑ ner tragender Rechtssatz oder eine erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten infrage gestellt wird. Diese seien bereits dann 417 BVerwG,
Bes. v. 09.03.1993 – 3 B 105/92, NJW 1993, 2825 (2825). VwGO, § 124a, Rn. 49; Pietzner/Bier, in: Schoch/Schneider/ Bier, VwGO, § 133, Rn. 29. 419 Kopp/Schenke, VwGO, § 124a, Rn. 49; Meyer-Ladewig/Rudisile, in: Schoch/ Schneider/Bier, VwGO, § 124a, Rn. 90; Pietzner/Bier, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, § 133, Rn. 29. 418 Kopp/Schenke,
514 Kap. 7: Das verwaltungsinterne Kontrollverfahren (Überdenkungsverfahren)
vorgetragen, wenn der Antragsteller substantiiert rechtliche oder tatsächliche Umstände aufzeige, aus denen sich die gesicherte Möglichkeit ergibt, dass die erstinstanzliche Entscheidung unrichtig ist420. Sie seien nicht erst gege‑ ben, wenn bei der im Zulassungsverfahren allein möglichen summarischen Überprüfung der Erfolg des Rechtsmittels wahrscheinlicher ist als der Miss‑ erfolg421. Auch wenn die Auslegung des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO insbesondere in diesem Punkt höchst umstritten ist422 und in der Literatur vielfach weiter gehend eine überwiegende Erfolgswahrscheinlichkeit für das Bestehen ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des Urteils in der Literatur verlangt wird423, so herrscht doch hinsichtlich der zu stellenden Anforderungen an die Darlegungen des Antragstellers im Grundsatz weitgehende Einigkeit. Als nicht genügend angesehen wird die „unspezifizierte Behauptung der Unrichtigkeit der angegriffenen Entscheidung“424. Erforderlich sei vielmehr ein substantiiertes Vorbringen des Berufungszulassungsantragstellers, wel‑ ches voraussetze, dass eine kritische Analyse der Urteilsgründe erfolgt und aufgezeigt wird, aus welchen Gründen das Urteil für falsch gehalten wird425. Es müsse also in Auseinandersetzung mit den entscheidungserheblichen Gründen des Verwaltungsgerichtes versucht werden, deren Fehlerhaftigkeit aufzuzeigen426. Soweit damit die allgemeinen Darlegungsanforderungen ei‑ ne Konkretisierung dahin erfahren, dass sich der Antragsteller mit den tra‑ genden Rechtssätzen und erheblichen Tatsachenfeststellungen des Verwal‑ tungsgerichtes auseinandersetzen müsse427, deckt sich diese Voraussetzung im Wesentlichen mit den Ausführungen des Bundesverwaltungsgerichtes zur 420 BVerfG,
Bes. v. 20.12.2010 – 1 BvR 2011/10, NVwZ 2011, 546 (548). 110, 77 (78); BVerfG, Bes. v. 21.12.2009 – 1 BvR 812/09, NJW 2010, 1062 (1063); im Wesentlichen zustimmend Kopp/Schenke, VwGO, § 124, Rn. 7. 422 Siehe zur Darstellung des Streitstandes und zur umstrittenen Auslegung des § 124 Abs. 1 Nr. 1 VwGO Meyer-Ladewig/Rudisile, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, § 124, Rn. 26 a f. 423 So etwa Meyer-Ladewig/Rudisile, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, § 124, Rn. 26 d, mit zahlreichen Nachweisen in Fn. 6. 424 Kopp/Schenke, VwGO, § 124a, Rn. 52. 425 Meyer-Ladewig/Rudisile, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, § 124a, Rn. 100 m. w. N. 426 Kopp/Schenke, VwGO, § 124a, Rn. 52. 427 Die auch von denjenigen verlangt wird und auch verlangt werden muss, die für das Vorliegen ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit der Entscheidung im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO fordern, dass der Erfolg der Berufung wahrscheinli‑ cher ist als deren Misserfolg, siehe etwa Meyer-Ladewig/Rudisile, in: Schoch/ Schneider/Bier, VwGO, § 124a, Rn. 100: „Die Zweifel können sich auch auf die dem Urteil zugrunde liegenden Tatsachen beziehen“. 421 BVerfGE
C. Voraussetzungen für die Einleitung des Überdenkungsverfahrens515
gebotenen Substantiierung fachspezifischer Einwände, wonach der Prüfling darlegen müsse, zu welcher verallgemeinerungsfähigen Rechtsfrage er wel‑ chen Rechtsstandpunkt eingenommen habe, der von den Prüfern zu Unrecht als falsch bewertet worden sei, weil seine Auffassung vertretbar sei und so auch vertreten werde. Damit bestehen also offenkundige Übereinstimmungen zwischen den für die Darlegung der Zulassungsgründe im Verfahren über die Zulassung der Berufung / Revision aufgestellten und denjenigen Anforderungen, die für Einleitung des Überdenkungsverfahrens bei der Erhebung fachspezifischer Einwände des Prüflings bislang aufgestellt worden sind. Diese festgestellten Parallelen legen es nahe, die Dogmatik, die sich zur Auslegung des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO i. V. m. § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO herausgebildet hat, insgesamt auf das Überdenkungsverfahren zu übertragen und für den Zu‑ gang zu diesem dem Prüfling allgemein eine entsprechende Substantiie‑ rungslast aufzubürden. Möglich ist dies aber nur dann, wenn das Urteil des Richters in einer Verwaltungsrechtssache und dasjenige des Prüfers über die Qualität einer Prüfungsleistung insbesondere auch hinsichtlich ihres Zustandekommens hinreichend vergleichbar sind. Diese Wesensverwandtschaft ist aber im Zu‑ sammenhang mit der Darstellung des Ablaufs des Bewertungsvorgangs be‑ reits betont und im Wesentlichen auch schon begründet worden. Nur noch einmal wiederholend und präzisierend ist daher auf die folgenden Erkennt‑ nisse hinzuweisen: Dem Urteilstenor nach § 117 Abs. 2 Nr. 3 VwGO ent‑ spricht bei der Bewertung einer Prüfungsleistung die Punktbewertung, d. h. die Zuordnung der ermittelten Leistung zu einer der in der Bundesnotenver‑ ordnung428 vorgesehenen Notenstufen. Entscheidender aber ist der Ge‑ sichtspunkt, dass sowohl der Prüfer als auch der Richter am (Ober‑)Verwal tungsgericht sich in einer ersten Stufe zunächst Klarheit über den entschei‑ dungserheblichen Sachverhalt verschaffen und diesen in einer zweiten Stufe rechtlich würdigen müssen. Was die Ermittlung des entscheidungserhebli‑ chen Sachverhalts anbelangt, so stellt sich für den Prüfer natürlich nicht die Frage der Notwendigkeit einer Beweiserhebung. Immerhin muss sich aber auch der Prüfer Klarheit darüber verschaffen, was die Grundlage seiner Bewertung ist bzw. was der Prüfling als Prüfungsleistung verstanden wissen will. Dies ist wie dargelegt bei vertauschten Seitenzahlen, falscher Heftung, Durchstreichungen, Einschüben und angehefteten Konzept- und Gliede‑ rungsblättern häufig weniger eindeutig, als man dies zunächst vermuten könnte. Im Rahmen der vorzunehmenden rechtlichen Würdigung muss der 428 Verordnung über eine Noten- und Punkteskala für die Erste und Zweite ju‑ ristische Prüfung (Bundesnotenverordnung vom 3. Dezember 1981 – GVBl. I S. 1243).
516 Kap. 7: Das verwaltungsinterne Kontrollverfahren (Überdenkungsverfahren)
Richter am Verwaltungsgericht prüfen, ob der festgestellte Sachverhalt die Voraussetzungen erfüllt, aus denen der Kläger die gewünschten Rechtsfol‑ gen herleitet. Regelmäßig geht es hier um die Feststellung der Vorausset‑ zungen der jeweils einschlägigen Anspruchsnorm bzw. Ermächtigungs‑ grundlage. Auch der Prüfer betreibt Rechtsanwendung, indem er die ermit‑ telte Prüfungsleistung an dem jeweiligen Anforderungsprofil der Klau‑ sur / Hausarbeit und an den Zielen der juristischen Ausbildung misst und mit der Vergabe der in der Bundesnotenverordnung vorgesehenen Bewertung angibt, ob und in welchem Ausmaß diese erreicht worden sind. Schließlich müssen die Entscheidungsgründe des Urteils in der Lage sein, den Tenor desselben zu tragen, ebenso wie die Punktbewertung des Prüfers schlüssig aus dem Wortgutachten folgen muss429. Nun können Fehler bei der Urteilsfindung und beim Bewertungsvorgang auf beiden Stufen auftreten wie auch in beiden Fällen die Begründung der Bewertung Defizite aufweisen kann. Auf der ersten Stufe kann sowohl dem Verwaltungsrichter als auch dem Prüfer der Fehler unterlaufen, den Sach‑ verhalt nicht vollständig zu ermitteln. Die zweite Stufe beherbergt Fehler‑ quellen für den Verwaltungsrichter insoweit, als dieser falsche Rechtsvor‑ schriften und ‑grundsätze für die Entscheidungsfindung heranziehen oder die einschlägigen Rechtsvorschriften und ‑grundsätze aufgrund falscher Subsumtion fehlerhaft anwenden kann. Ebenso ist es möglich, dass der Prüfer im Rahmen der Bewertung von unzutreffenden fachlichen Annahmen ausgeht. Diese Fehlerquellen hat die Rechtsprechung (bzgl. der richterlichen Entscheidungsfindung) im Blick, wenn angenommen wird, dass ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO vorliegen, wenn ein einzelner tragender Rechtssatz oder eine erheb‑ liche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Argumenten infrage gestellt wird430. Nach alledem können aufgrund der vorzufindenden strukturellen Gemein‑ samkeiten bei der jeweiligen Urteilsfindung auch für das hinreichende Aufzeigen der möglichen Fehlerhaftigkeit der jeweils getroffenen Entschei‑ dung dieselben Darlegungsmaßstäbe herangezogen werden. Der Prüfling, der ein Überdenken der Bewertung durch die Prüfer erreichen will, ist demnach gehalten, sich kritisch mit den Gründen der Bewertung auseinan‑ derzusetzen und aufzuzeigen, aus welchen Gründen er diese für falsch hält. Er muss also versuchen, in Auseinandersetzung mit den tragenden Gründen der Bewertung deren Fehlerhaftigkeit aufzuzeigen. Hierfür ist es ausrei‑ 429 Zum Schlüssigkeitsgrundsatz siehe oben Kapitel 6 III. 4. ff) (2) und sogleich zur Begründungspflicht der Prüfer. 430 BVerfGE 110, 77 (83); BVerfG, Bes. v. 21.12.2009 – 1 BvR 812/09, NJW 2010, 1062 (1063); Bes. v. 20.12.2010 – 1 BvR 2011/10, NVwZ 2011, 546 (547).
C. Voraussetzungen für die Einleitung des Überdenkungsverfahrens517
chend, aber auch erforderlich, wenn der Prüfling eine erhebliche Tatsachen‑ feststellung des Prüfers, einen einer tragenden fach- oder prüfungsspezifi‑ schen Wertung zugrunde liegenden (abstrakten) Rechtssatz oder Maßstab der Bewertung oder ein Subsumtionsergebnis mit schlüssigen Gegenargu‑ menten infrage stellt, was wiederum gelungen ist, wenn sich aus diesen die gesicherte Möglichkeit ergibt, dass die Bewertung des Prüfers (im Ergebnis) nach objektiven oder subjektiven Maßstäben unrichtig ist. Die damit gefun‑ dene Substantiierungsformel stimmt im Übrigen mit dem Ansatz Iblers überein, wonach die Darlegungen des Prüflings Anlass geben müssten, an der Rechtmäßigkeit der Prüferbewertung zu zweifeln. e) Zielrichtung der Einwendungen und erforderliche Präzisierungen Die mit dieser Substantiierungsformel zum Ausdruck gebrachten allge‑ meinen Anforderungen sind nun mit Blick auf die jeweils unterschiedliche Zielrichtung der Einwendungen des Prüflings zu präzisieren. Dabei ist ins‑ besondere eine Differenzierung geboten zwischen Rügen, die sich gegen mit fachspezifischen Wertungen (untrennbar) verknüpfte und isoliert gegen prüfungsspezifische Wertungen des Prüfers richten. aa) Allgemeine Grenzen des Darlegungsmaßes Bei der mit Blick auf die jeweilige Zielrichtung gebotenen Präzisierung der sich aus der Substantiierungsformel allgemein ergebenden Anforderun‑ gen ist zu berücksichtigen, dass das Maß der im Einzelfall für erforderlich gehaltenen Darlegungen durch verfassungsrechtliche Wertungen begrenzt wird. Insoweit ist zunächst an die Kompensationsfunktion des verwaltungs‑ internen Kontrollverfahrens für die nach wie vor beschränkte gerichtliche Kontrolle von Prüfungsentscheidungen und daran zu erinnern, dass dieses lediglich einen verlängerten Arm der Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG darstellt. Erneut ist auch darauf hinzuweisen, dass die Rechts‑ schutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG zwar keinen bestimmten Rechts‑ weg garantiert, aber der Zugang zu einem einmal eröffneten Rechtsweg nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes nicht in einer un‑ zumutbaren, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigenden Art und Weise erschwert werden darf431. Dieses Erfordernis hat das Bundesverfassungsge‑ richt insbesondere im Hinblick auf den zulässigen Umfang der geforderten Darlegung der Zulassungsgründe des § 124 Abs. 2 VwGO betont432. Da das 431 BVerfGE 77, 275 (284); 78, 88 (99); 84, 366 (369 f.); 104, 220 (231 f.); Huber, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 19 Abs. 4, Rn. 459. 432 BVerfG, Bes. v. 20.12.2010 – 1 BvR 2011/10, NVwZ 2011, 546 (547) m.z.N.
518 Kap. 7: Das verwaltungsinterne Kontrollverfahren (Überdenkungsverfahren)
Überdenkungsverfahren seine verfassungsrechtliche Legitimation aus der prozeduralen Gewährleistungskomponente des Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG im Zusammenhang mit dem Schutzbereich der Rechtsschutzgarantie im Sinne einer vorprozessualen Vorwirkung schöpft und der Zugang zu diesem nach hier vertretener Auffassung mit einer letztlich analogen Anwendung des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO zu reglementieren ist, folgt daraus, dass dieser weder durch eine ausufernde Interpretation der aus dieser Norm sowie aus § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO abgeleiteten Substantiierungsformel noch durch sonstige Restriktionen unzumutbar erschwert werden darf. Aus der vorste‑ henden Maßgabe folgt unter anderem, dass die Darlegungsanforderungen von dem Umfang der erfolgten bzw. unterbliebenen Begründung der Bewer‑ tung abhängig zu machen sind. So sind die Anforderungen an das Vorbrin‑ gen substantiierter Rügen des Prüflings umso höher, je detaillierter die Be‑ wertungen durch die Prüfer erfolgt sind433. Umgekehrt sind an die Obliegen‑ heiten des Prüflings zum Vorbringen von Einwendungen umso geringere Anforderungen zu stellen, je allgemeiner die Bewertung der Prüfer ist, so dass eine Wechselwirkung zwischen der Begründungspflicht der Prüfer und den Rügeobliegenheiten des Prüflings besteht434. Anders formuliert bedeutet dies auch, dass die Anforderungen an die Darlegungen des Prüflings umso höher sind, je weniger die Fehlerhaftigkeit der Bewertung zutage tritt und entsprechend umso geringer, je deutlicher diese erkennbar ist435. Diese Aus‑ legung des Substantiierungserfordernisses entspricht ebenfalls der Dogmatik, die sich zu § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO herausgebildet hat. Denn auch hier sind die an die Darlegungen des Berufungszulassungsantragstellers zu stel‑ lenden Anforderungen umso geringer, je deutlicher der Zulassungsgrund zu‑ tage tritt436. hier auch Birnbaum, NVwZ 2006, 286 (295). Dresden, Urt. v. 10.11.2004 – 5 K 1034/02, SächsVBl. 2005, 150 (152); Urt. v. 04.06.2008 – 5 K 38/08, juris, Rn. 108; BayVGH, Urt. v. 04.12.2000 – 7 B 99.3195, juris, Rn. 27; siehe auch BVerwG, Urt. v. 16.03.1994 – 6 C 5/93, NVwZRR 1994, 582 (584): „…, ist zu berücksichtigen, dass sie [scil. die Klägerin] sich nicht substantiiert äußern konnte, wenn es an konkreten Beanstandungen der Prüfer fehlte“; Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 709; anders noch Niehues, NJW 1991, 3001 (3004); Ibler, S. 422; Michaelis, VBlBW 1997, 441 (444 f.); siehe auch Birnbaum, NVwZ 2006, 286 (295); siehe schließlich auch BVerwGE 99, 185 (194) zur Begrün‑ dungspflicht bei mündlichen Prüfungen: Je konkreter der Prüfling seinen Anspruch auf eine Begründung der Bewertung seiner mündlichen Prüfungsleistungen geltend macht, desto konkreter werde die Begründung sein müssen. Die hier in der Sache vom Bundesverwaltungsgericht angenommene Wechselwirkung gilt entsprechend im obigen Kontext. 435 Vgl. insoweit VG Ansbach, Urt. v. 23.03.2000 – AN 2 K 99.01000, juris, Rn. 18, das eine fehlende Substantiierung als unbeachtlich ansieht, wenn sich Hin‑ weise auf Fehler dem Gericht anderweitig aufdrängen. 436 Kopp/Schenke, VwGO, § 124a, Rn. 49. 433 Wie 434 VG
C. Voraussetzungen für die Einleitung des Überdenkungsverfahrens519
Fehlt es an einer Begründung gänzlich oder sind die tragenden Gründe der Bewertung nicht erkennbar, kann vom Prüfling zunächst nicht mehr verlangt werden als die Erfüllung der unverzichtbaren Mindestvoraussetzungen einer kritischen Auseinandersetzung mit der Bewertung, die bei einer fehlenden oder unvollständigen Begründung allein mit der Geltendmachung dieses Be‑ gründungsdefizits erfüllt wird437. In diesem Fall geht es in einer ersten Stufe zunächst einmal nur darum, dass die Prüfer erst die Voraussetzungen für die Möglichkeit der Erhebung substantiierter Einwände schaffen438. bb) Verfahrensfehler und Missachtung von Abwägungsdirektiven Zielen die Einwendungen des Prüflings darauf ab, dass der Prüfer mit seiner Kritik einem „Sachverhaltsirrtum“ unterliege oder er mit dieser maß‑ gebliche Abwägungsdirektiven nicht beachtet habe, etwa weil er dessen „Antwortspielraum“ nicht respektiert oder sachfremde Erwägungen ange‑ stellt habe, kann die dem § 124a Abs. 4, Abs. 2 VwGO und dessen Interpre‑ tation entlehnte Substantiierungsformel im Prinzip ohne Modifikationen angewendet werden. Klärungsbedürftig ist im Hinblick auf das erforderliche Darlegungsmaß bei Angriffen gegen die fachspezifische Wertung aber noch die durch entsprechende Postulate in der Rechtsprechung aufgeworfene Frage, ob dem Prüfling abverlangt werden kann, die Richtigkeit bzw. Ver‑ tretbarkeit seiner Lösung / seines Lösungsansatzes bzw. seines Ergebnisses durch Rechtsprechungs- und / oder Literaturzitate zu belegen439. Insoweit ist zunächst darauf hinzuweisen, dass in Verfahren mit Amtsermittlung nicht mehr an Darlegung verlangt werden darf, als dies dem von der Obliegenheit Betroffenen den Umständen nach noch möglich und zumutbar ist440. Gibt 437 Vgl. BVerwG, Bes. v. 20.05.1998 – 6 B 50/97, NJW 1998, 3657 (3658); BVerwGE 99, 185 (191); BayVGH, Urt. v. 04.12.2000 – 7 B 99.3195, juris, Rn. 27, wo allerdings dem Prüfer die Erfüllung unverzichtbarer Mindestvoraussetzungen einer Auseinandersetzung mit der Prüfungsleistung abverlangt, in der Sache aber wie hier ausgeführt wird. 438 BayVGH, Urt. v. 04.12.2000 – 7 B 99.3195, juris, Rn. 27. 439 Siehe neben den bereits oben angeführten Rechtsprechungsnachweisen zum Umfang der angenommenen Substantiierungsobliegenheit noch VG Düsseldorf, Urt. v. 26.08.2009 – 15 K 2754/08, n. v., UA S. 9, das nicht nur die Angabe von Belegen aus der Fachliteratur, sondern auch deren Beibringung in Form von Kopien etc. verlangt. 440 Vgl. zu dieser Beschränkung in anderem Kontext (Verfassungsbeschwerde‑ verfahren) Magen, in: Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfGG, § 92, Rn. 26; allge‑ mein für die Substantiierungsobliegenheiten im Verwaltungsprozess Dawin, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, § 86, Rn. 74; für die Mitwirkungslasten im Verwal‑ tungsverfahrensrecht Kallerhof, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, § 26, Rn. 47; für die Substantiierungsobliegenheiten des Prüflings im Prozess Ibler, S. 422.
520 Kap. 7: Das verwaltungsinterne Kontrollverfahren (Überdenkungsverfahren)
es für die Vertretbarkeit des Rechtsstandpunktes des Prüflings etwa zu einer neuen Rechtsfrage noch keine Belege, muss es unter dem Gesichtspunkt der Grenze des Möglichen im Hinblick auf die Darlegungsanforderungen genü‑ gen, wenn der Prüfling die Vertretbarkeit seines Rechtsstandpunktes nach‑ vollziehbar darlegt und sich dabei aus den vorgetragenen Gegenargumenten die gesicherte Möglichkeit ergibt, dass die gegenteilige Auffassung des Prüfers unrichtig ist441. Im Übrigen erscheinen Nachweise entbehrlich, wenn die Vertretbarkeit des Rechtsstandpunktes, den der Prüfling eingenommen hat, bzw. des Ergebnisses, das er gefunden hat, evident ist. Denn es wäre unverhältnismäßig, eine Zuleitung der nicht mit Nachweisen unterfütterten Einwendungen an die Prüfer abzulehnen, wenn der zuständige Sachbearbei‑ ter beim Prüfungsamt die Vertretbarkeit der Lösung des Prüflings erkannt hat oder diese sich ihm hätte aufdrängen müssen. cc) Prüfungsspezifische Wertungen bzw. Gewichtungen und Abwägungen Schwierig(er) zu beantworten ist die Frage, welche Anforderungen an die Darlegungen des Prüflings sich aus der ihm aufgebürdeten Substantiierungs‑ obliegenheit ergeben, wenn sich dessen Angriffe gegen die prüfungsspezifi‑ schen Wertungen bzw. die vorgenommenen Gewichtungen und Abwägungen der Prüfer richten. Dabei ist im Ausgangspunkt der diesbezüglichen Über‑ legungen wiederum zu vergegenwärtigen, dass das verwaltungsinterne Kon‑ trollverfahren gerade der Kompensation der Rechtsschutzlücke dient, die dadurch entsteht, dass den Prüfern nach wie vor ein – auf diese prüfungs‑ spezifischen Wertungen beschränkter – gerichtlich nur begrenzt überprüfba‑ rer Bewertungsspielraum zusteht. Mithin soll das verwaltungsinterne Kon trollverfahren gerade das im Hinblick auf die prüfungsspezifischen Wertun‑ gen bestehende gerichtliche Kontrolldefizit ausgleichen442. Es wäre dem‑ nach widersinnig, besonders hohe Anforderungen an die Darlegungen des Prüflings zu stellen, wenn dieser sich mit seinen Einwendungen gegen die prüfungsspezifischen Wertungen der Prüfer richtet. Auf der anderen Seite muss die Substantiierungsobliegenheit aber auch ihrer Filterfunktion im Hinblick auf den verfassungsrechtlich gebotenen Schutz des Prüfungsamtes und der Prüfer vor allzu pauschalen bzw. substanzlosen und damit offenkun‑ dig erfolglosen Rügen des Prüflings gerecht werden. Daher kann auch bei Einwänden, die sich gegen die prüfungsspezifischen Wertungen des Prüfers 441 Siehe auch OVG Münster, Urt. v. 17.09.1993 – 22 A 1931/91, DÖV 1994, 392 (392); VG Minden, Urt. v. 04.12.2003 – 2 K 5130/03, juris, Rn. 37: „soweit möglich“. 442 BVerwGE 99, 185 (197 f.).
C. Voraussetzungen für die Einleitung des Überdenkungsverfahrens521
bzw. dessen Gewichtungen und Abwägungen richten, dem Prüfling abver‑ langt werden, dass er sich kritisch mit den Gründen der prüfungsspezifi‑ schen Wertung auseinandersetzt. Es fragt sich aber, ob er hier entsprechend den obigen Grundsätzen auch deren Fehlerhaftigkeit aufzeigen muss. Dagegen scheint zu sprechen, dass das verwaltungsinterne Kontrollverfahren der Selbstkontrolle der Prüfer in dem Bereich dient, der durch ihren Abwägungs- bzw. Bewertungsspielraum abgedeckt ist, nicht aber der Aufdeckung einer Überschreitung der Grenzen desselben443, die auch vom Gericht festgestellt werden könnte. Demgegen‑ über ist aber wiederum zu berücksichtigen, dass die Darlegung der Rechts‑ fehlerhaftigkeit der prüfungsspezifischen Wertungen anhand der im Rahmen dieser Untersuchung herausgearbeiteten Abwägungsfalsifikationsmaßstäbe keinen besonderen Begründungsaufwand erfordert. Und wenn es dem Prüf‑ ling insbesondere nicht gelingt, eine abstrakte Fehlgewichtung maßgeblicher Abwägungsgesichtspunkte darzulegen, dann setzt der Prüfling letztlich al‑ lein seine Einschätzung – etwa hinsichtlich des Schwierigkeitsgrades der Aufgabenstellung – anstelle derjenigen des Prüfers. In diesem Fall liegt dann aber ein pauschaler bzw. substanzloser und also kein substantiierter Einwand des Prüflings vor, der eine Zuleitung an den Prüfer nicht rechtfer‑ tigt. Damit kann im Ergebnis also vom Prüfling auch bei Angriffen gegen die prüfungsspezifischen Wertungen verlangt werden, deren Fehlerhaftigkeit aufzuzeigen. Ausreichend, aber auch erforderlich, ist es daher, wenn der Prüfling eine erhebliche Tatsachenfeststellung des Prüfers für die prüfungs‑ spezifische Wertung oder einen tragenden Grund derselben oder ein „Sub‑ sumtionsergebnis“ mit schlüssigen Gegenargumenten infrage stellt. Im Hinblick darauf, dass für die prüfungsspezifischen Wertungen bzw. Gewich‑ tungen und Abwägungen üblicherweise bei weitem keine so ausführliche Begründung erfolgt wie für die fachspezifische Kritik, muss allerdings bei der Anwendung der Substantiierungsformel im besonderen Maße die Wech‑ selwirkung zwischen dem Umfang der Begründung und dem Maß der den Prüfling treffenden Substantiierungsobliegenheit berücksichtigt werden. Auch im Übrigen dürfen die Darlegungsanforderungen mit Blick auf die üblicherweise beschränkten Kenntnisse des Prüflings im Prüfungsrecht nicht überspannt werden. Eine weitere Orientierung bietet insoweit die vom Bun‑ desverfassungsgericht aufgestellte Maßgabe zur Auslegung des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO, wonach die Anforderungen an die Darlegung der Zulassungsgründe nicht derart erschwert werden dürfen, dass sie von einem durchschnittlichen, nicht auf das gerade einschlägige Rechtsgebiet speziali‑ sierten Rechtsanwalt mit zumutbarem Aufwand nicht mehr erfüllt werden 443 So zutreffend das OVG Münster, Urt. v. 06.09.1995 – 22 A 1844/94, DVBl 1996, 446 (447).
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können444. Dementsprechend dürfen nur solche Anforderungen für die Dar‑ legungen des Prüflings aufgestellt werden, die von einem „durchschnittli‑ chen Prüfling“ ohne Kenntnisse im Prüfungsrecht und ohne Zuhilfenahme anwaltlicher Unterstützung mit zumutbarem Aufwand noch erfüllt werden können. Dies führt im Ergebnis dazu, dass es regelmäßig genügt, wenn der Prüfling sich mit der prüfungsspezifischen Wertung des Prüfers, soweit deren Kriterien und Grundlagen aufgedeckt worden sind, kritisch auseinan‑ dersetzt und im Sinne der „alten Formel“ des Bundesverfassungsgerichtes „wirkungsvolle Hinweise“ für eine anhand der hier entwickelten Maßstäbe falsifizierbare Abwägung gibt. 2. (Zusätzliches) Erfordernis der Schlüssigkeit der Einwendungen? Fraglich ist, ob über das hier bislang dargestellte erforderliche Maß der Substantiierung der Einwände hinaus als weiterer Teilaspekt der Substanti‑ ierungsobliegenheit oder als eigenständige Darlegungslast zusätzlich deren Schlüssigkeit in dem Sinne zu verlangen ist, dass die substantiierten Ein‑ wendungen des Prüflings die in den Voten niedergelegte Kritik auch tatsäch‑ lich berühren. a) Der Meinungsstand in der (instanzgerichtlichen) Rechtsprechung Eine derartige Obliegenheit ist erstmals vom OVG Hamburg in Bezug auf die dort vom Gemeinsamen Prüfungsamt geübte Praxis formuliert worden, bei entsprechender Qualität der Einwendungen des Prüflings im Rahmen des Widerspruchsverfahrens eine Prüferstellungnahme einzuholen445. Nach‑ dem das Bundesverwaltungsgericht im Anschluss an das Bundesverfas‑ sungsgericht die Durchführung eines verwaltungsinternen Kontrollverfahrens als verfassungsrechtlich notwendig erachtet hatte, nahm zunächst das OVG Münster den Rechtsstandpunkt ein, dass die Einwände des Prüflings nicht nur substantiiert, sondern auch schlüssig sein müssten, um eine diesbezüg‑ liche Stellungnahme der Prüfer und ein Überdenken der Bewertung auf deren Grundlage beanspruchen zu können446. Dabei forderte das OVG Münster im abstrakten Obersatz, dass nach dem Inhalt der Einwände des Prüflings nicht ausgeschlossen werden könne, dass ein Überdenkungsver‑ fahren im Ergebnis zu einer Änderung der Bewertung führt447, verlangte im Rahmen der konkreten Würdigung der Einwände des Prüflings dann aber 444 BVerfG,
Bes. v. 23.06.2000 – 1 BvR 830/00, NVwZ 2000, 1163 (1164). OVG Hamburg, Urt. v. 26.11.1990 – Bf II 43/88, juris, Rn. 80. 446 OVG Münster, Urt. v. 17.09.1993 – 22 A 1931/91, DÖV 1994, 392 (392). 447 OVG Münster, Urt. v. 17.09.1993 – 22 A 1931/91, DÖV 1994, 392 (392). 445 Vgl.
C. Voraussetzungen für die Einleitung des Überdenkungsverfahrens523
letztlich unter dem Gesichtspunkt der Schlüssigkeit ebenso wie das OVG Hamburg lediglich, dass diese „nicht ins Leere gehen“448. In einer weiteren Entscheidung führte das OVG Münster dann einschrän‑ kend aus, dass der Prüfling bei substantiierten Einwänden zwar einen An‑ spruch darauf habe, dass sich die Prüfer mit diesen auseinandersetzen, es aber für die Rechtmäßigkeit der Durchführung des Überdenkungsverfahrens unerheblich sei, wenn die Prüfer zu substantiierten, aber unschlüssigen Ein‑ wänden nicht Stellung nehmen449. Denn die Prüfer seien zu einer Änderung ihrer Bewertung nur dann berechtigt und verpflichtet, wenn die Einwände des Prüflings schlüssig und auch in der Sache begründet seien450. Schlüssig seien die Einwände des Prüflings dann, wenn diese bei unterstellter Richtig‑ keit die Berechtigung der Prüferkritik infrage stellen451. Mit diesen Rechts‑ ausführungen ist das OVG Münster nur scheinbar von seinem ursprünglichen Rechtsstandpunkt abgerückt, da es bei einer angenommenen fehlenden Ver‑ pflichtung der Prüfer zur Bescheidung unschlüssiger Einwände korrespondie‑ rend notwendigerweise an einem entsprechenden Anspruch des Prüflings fehlt. In der Sache bleibt damit auch in der zweiten Entscheidung des OVG Münster das Erfordernis – jedenfalls teilweise – schlüssiger Einwände als Voraussetzung für den Anspruch des Prüflings auf Durchführung eines Über‑ denkungsverfahrens aufrechterhalten. Auch das Bundesverwaltungsgericht hat in mehreren Entscheidungen jedenfalls implizit den Rechtsstandpunkt eingenommen, dass nur schlüssige Einwände den Überdenkensanspruch des Prüflings auslösen. Hervorzuheben ist hier insbesondere das bereits erwähnte und teilweise im Originalwortlaut wiedergegebene Urteil des Bundesverwal‑ tungsgerichtes vom 04.05.1999. So wird dort im Kontext mit der gebotenen Substantiierung der Einwände zunächst verlangt, dass der Prüfling auf Inhalt und Zielrichtung einzelner Prüferbemerkungen und -wertungen einzugehen habe. Und am Ende der wiedergegebenen Urteilspassage heißt es dann, dass (es) wesentlich sei, den unmittelbaren Gegensatz zwischen dem selbst einge‑ nommenen Standpunkt und der Auffassung der Prüfer aufzuzeigen. Richtige und umfangreiche Ausführungen zu einem strittigen Rechtsproblem könnten dann nicht als hinreichende Substantiierung angesehen werden, wenn die Prüfer lediglich kritisiert haben, es werde in überflüssiger Weise eine Proble‑ matik entfaltet, die den Weg zum richtigen Ergebnis nur erschwere. Damit fordert das Bundesverwaltungsgericht ebenso wie das OVG Hamburg und das OVG Münster, dass der Prüfling seine Darlegungen in der Prüfungsarbeit in einem Punkt verteidigen müsse, der von den Prüfern auch tatsächlich be‑ 448 OVG
Münster, Münster, 450 OVG Münster, 451 OVG Münster, 449 OVG
Urt. v. 17.09.1993 – 22 A 1931/91, DÖV 1994, 392 (392). Urt. v. 25.04.1997 – 22 A 4028/94, NWVBl. 1997, 434 (435). Urt. v. 25.04.1997 – 22 A 4028/94, NWVBl. 1997, 434 (435). Urt. v. 25.04.1997 – 22 A 4028/94, NWVBl. 1997, 434 (435).
524 Kap. 7: Das verwaltungsinterne Kontrollverfahren (Überdenkungsverfahren)
mängelt worden ist. In der Sache wird damit nichts anderes als die Schlüssig‑ keit der Einwendungen insbesondere in dem vom OVG Münster dargelegten Sinne verlangt. Während aber die Instanzgerichte wie dargelegt in diesem Erfordernis eine eigenständige Voraussetzung für die Einleitung des Über‑ denkungsverfahrens neben demjenigen der hinreichenden Substantiierung sehen, erblickt das Bundesverwaltungsgericht in diesem Merkmal einen Teil‑ aspekt der als erforderlich angesehenen Substantiierung der Einwände. Mit Ausnahme der Verwaltungsgerichte in Nordrhein-Westfalen, die dem Rechtsstandpunkt des OVG Münster ausnahmslos folgen452, wird auch in der übrigen instanzgerichtlichen Rechtsprechung die Schlüssigkeit der Ein‑ wendungen nur en passant gefordert und hier mehr als Teilaspekt der erfor‑ derlichen Substantiierung angesehen453. b) Die Rechtsmeinungen in der Literatur Ein entsprechendes Bild zeigt sich auch in der Literatur: Während Fliegauf dem von Niehues / Fischer / Jeremias nur referierten454 Rechtsstandpunkt des OVG Münster ausdrücklich beitritt455, wird dem Schlüssigkeitserforder‑ nis ansonsten entweder ohne vertiefte Auseinandersetzung und dogmatische Einordnung beigetreten456 oder dieses ebenfalls in dem Substantiierungser‑ fordernis aufgehend angesehen457. Ausdrücklich entgegen getreten sind dem Postulat der Schlüssigkeit der Einwendungen als Voraussetzung für den Überdenkensanspruch des Prüflings bislang nur Zimmerling / Brehm mit dem Argument, dass es fraglich sei, ob das Prüfungsamt zu einer entsprechenden Beurteilung überhaupt in der Lage sei458. c) Gesetzliche Normierung des Schlüssigkeitserfordernisses Die in Rechtsprechung und Literatur somit teilweise angenommene Ob‑ liegenheit des Prüflings zur Erhebung schlüssiger Bewertungsrügen ist in 452 VG Minden, Urt. v. 04.12.2003 – 2 K 5130/03, juris, Rn. 57 ff.; VG Düssel‑ dorf, Urt. v. 14.11.2003, 15 K 6737/01, juris, Rn. 31; Urt. v. 02.07.2010 – 15 K 1415/10, juris, Rn. 46 ff. 453 VG Dresden, Urt. v. 04.06.2008 – 5 K 38/08, juris, Rn. 139; VG Berlin, Urt. v. 08.07.2010 – 3 A 4.06, juris, Rn. 34. 454 Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 789. 455 Fliegauf, Rn. 34. 456 Birnbaum, NVwZ 2006, 286 (295); Linke, NVwZ 2006, 1382 (1382). 457 Löwer/Linke, WissR 30 (1997), 128 (143); Niehues, NJW 1991, 3001 (3004); Wortmann, NWVBl 1993, 324 (325); Becker, NVwZ 1993, 1129 (1132). 458 Zimmerling/Brehm, Der Prüfungsprozess, Rn. 36.
C. Voraussetzungen für die Einleitung des Überdenkungsverfahrens525
den vorhandenen gesetzlichen Regelungen des Überdenkungsverfahrens nicht ausdrücklich verankert. Im Lichte der vorstehenden Ausführungen ist aber zu erkennen, dass mit dem in § 9 Abs. 6 Satz 1 JAPO RLP enthaltenen Terminus „wenn nach summarischer Prüfung ein Bewertungsfehler nicht ausgeschlossen ist“ nur Rügen für beachtlich erklärt werden, die die Prüfer‑ kritik zutreffend erfassen, womit dem Prüfungsamt in der Sache auch eine Schlüssigkeitsprüfung abverlangt wird. d) Stellungnahme Dass auch noch so sorgfältig begründete Einwendungen des Prüflings keinen Erfolg haben können, wenn mit diesen von den Prüfern letztlich gar nicht angegriffene Darlegungen in der Prüfungsarbeit verteidigt werden, ist evident. Fraglich ist aber, ob diese auf die Begründetheit der Einwendungen abzielende Anforderung auch auf den Darlegungsbereich zu übertragen ist und demgemäß als Voraussetzung für den Überdenkungsanspruch des Prüf‑ lings statuiert werden sollte. Dagegen spricht zunächst der berechtigte Hinweis von Zimmerling / Brehm, dass allein der Prüfer derjenige sei, der verlässlich darüber Auskunft geben kann, ob seine Kritik durch die substantiierten Einwendungen des Prüflings berührt wird. Dann liegt es auch nahe, den Prüfer mit diesen zu konfrontie‑ ren und ihn die Frage beantworten zu lassen, ob der Prüfling seine Kritik zutreffend erfasst hat, anstatt dass sich die Mitarbeiter des Prüfungsamtes in komplizierten Auslegungen des Prüfervotums und Mutmaßungen über die Relevanz von Kritikpunkten verlieren. Damit wird auch der naheliegenden Gefahr begegnet, dass das Prüfungsamt oder das Gericht im Rahmen einer Schlüssigkeitskontrolle und der vermeintlichen Auslegung des Prüfervotums letztlich eine ihnen nicht zustehende Eigenbewertung der Prüfungsleistung unter Verletzung des Bewertungsspielraums des Prüfers vornehmen459. Im Übrigen sind es aber vor allem dogmatische Gründe, die dafür strei‑ ten, das Schlüssigkeitserfordernis als Voraussetzung für die Einleitung des Überdenkungsverfahrens abzulehnen. Denn eine Schlüssigkeit der Einwen‑ dungen in dem dargelegten Sinne wird in der Auslegung und Anwendung der hier analog herangezogenen gesetzlichen Regelungen des Berufungszu‑ lassungsantragsrechts nur bei der Rüge des Vorliegens eines Verfahrensman‑ gels im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO dergestalt verlangt, dass sich bei unterstellter Richtigkeit des substantiierten Vorbringens des Antragstel‑ 459 Siehe zu diesem Verbot BVerwGE 105, 328 (333); BVerwG, 27.04.1999 – 2 C 30.98, NVwZ 2000, 921 (922); BayVGH, Bes. v. 04.09.2000 – 7 B 99.3753, juris. Rn. 25; OVG NRW, Bes. v. 19.12.2012 – 14 A 2048/11, n. v., BU S. 6.
526 Kap. 7: Das verwaltungsinterne Kontrollverfahren (Überdenkungsverfahren)
lers der gerügte Verfahrensmangel schlüssig ergibt460. Diese gesteigerte Darlegungslast findet ihre Rechtfertigung letztlich in dem Umstand, dass der substantiierte Sachvortrag im Rahmen des Vorliegens der Voraussetzun‑ gen des § 124 Abs. 1 Nr. 5 VwGO nicht – wie namentlich etwa bei dem hier analog angewandten § 124 Abs. 1 Nr. 1 VwGO – die materielle Rich‑ tigkeit der getroffenen Entscheidung grundsätzlich ohne Weiteres berührt. Forderte man daher im Rahmen der Prüfung des Vorliegens der Voraus‑ setzungen des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO die mit einer eingeschränkten Begründetheitsprüfung einhergehende Schlüssigkeit der Einwendungen des Prüflings als Voraussetzung für die Einleitung des Überdenkungsverfahrens, würde der Zugang zu diesem letztlich in einer unzumutbaren, aus Sachgrün‑ den nicht mehr zu rechtfertigenden und damit in einer mit Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG unvereinbaren Art und Weise erschwert werden.
IV. Die Einleitung und Durchführung des Widerspruchs- / Überdenkungsverfahrens 1. (Organisations‑)Aufgaben und (Kontroll‑)Befugnisse des Prüfungsamtes Geht beim Prüfungsamt eine Begründung für einen bereits vorliegenden oder zeitgleich eingelegten Widerspruch ein, mit dem sich der Prüfling ge‑ gen die in dem streitgegenständlichen Prüfungsbescheid festgestellten Prü‑ fungsergebnisse wendet, so richtet sich der weitere Ablauf des Widerspruchs‑ verfahrens einerseits nach den maßgeblichen gesetzlichen und verfassungs‑ rechtlichen (Verfahrens‑) Bestimmungen und andererseits nach dem Inhalt und der Zielrichtung der Einwendungen des Prüflings. Sofern der Prüfling ausschließlich Rechtsmängel des Verfahrens der Leistungsermittlung geltend macht, ist die Involvierung der Prüfer in die in diesem Fall allein mögliche und gebotene Kontrolle der Rechtmäßigkeit der Prüfungsentscheidung ein‑ fach-rechtlich zumeist nicht vorgesehen461 und verfassungsrechtlich auch nicht geboten. Das nach den maßgeblichen Kompetenzvorschriften zur Ent‑ scheidung über den Widerspruch berufene Prüfungsamt462 kann daher in die‑ 460 Pietzer/Bier, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, § 133, Rn. 38; Meyer-Ladewig/Rudisile, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, § 124a, Rn. 110. 461 Siehe aber § 27 Abs. 1 JAG NRW, der jedenfalls ausweislich seines Wort‑ lauts auch in diesem Fall die Einholung einer Stellungnahme der Prüfer vorsieht. 462 Die Zuständigkeit des Prüfungsamtes für eine Entscheidung über den Wider‑ spruch ist entweder ausdrücklich bestimmt (siehe etwa § 12 Abs. 4 Satz 2, 3 JAPG Bremen; § 4 Abs. 1 Satz 2 JAG Baden-Württemberg; § 5 Abs. 3 Satz 2 JAG RLP; § 27 Abs. 1 JAG NRW; §§ 18a Satz 2, 32a JAG Saarland; § 8 Satz 2 JAG LSA) oder sie ergibt sich aus der allgemeinen Kompetenznorm, wonach grundsätzlich alle
C. Voraussetzungen für die Einleitung des Überdenkungsverfahrens527
sem Fall autonom über die Begründetheit des Widerspruchs entscheiden. Beinhaltet die Widerspruchsbegründung demgegenüber auch Rügen gegen die Bewertung einzelner Prüfungsleistungen oder beschränkt sich deren In‑ halt auf diese, so ergeht die Entscheidung über den Widerspruch nach den das Überdenkungsverfahren näher regelnden Prüfungsordnungen auf der Grundlage einer einzuholenden Stellungnahme der Prüfer zu dem Wider‑ spruchsvorbringen des Prüflings463. Dabei sehen die maßgeblichen Vor‑ schriften im Regelfall eine Prüferkonsultation ihrem Wortlaut nach unabhän‑ gig davon vor, ob der Prüfling mit seinen Einwendungen nur eine unzweck‑ mäßige Anwendung der prüfereigenen Abwägungskriterien innerhalb des Abwägungsrahmens und / oder Rechtsfehler innerhalb des Bewertungsvor‑ gangs und / oder des Bewertungsverfahrens moniert. Diese über die verfassungsrechtlichen Vorgaben hinausgehende Prüferbe‑ teiligung entspricht auch bei einer fehlenden einfach-rechtlichen Normie‑ rung ihrer Voraussetzungen der gängigen (Nach‑)Prüfungspraxis und wirft die Frage auf, ob und inwieweit damit die gesetzliche Aufgabe, die Prü‑ fungsentscheidung auf ihre Recht- und Zweckmäßigkeit zu überprüfen (§ 68 Abs. 1 Satz 1 VwGO), auf die Prüfer delegiert worden ist bzw. werden kann. Angesprochen damit ist mit anderen Worten die umstrittene Kompe‑ tenzverteilung im Widerspruchsverfahren im Falle einer Beteiligung der Prüfer an der Überprüfung auch der Rechtmäßigkeit der Prüfungsentschei‑ dung. Hier kann es im Ausgangspunkt aufgrund des die Verwaltung binden‑ den (Art. 20 Abs. 3 GG) Inhalts der gesetzlichen Vorgaben keinen ernsthaf‑ ten Zweifeln begegnen, dass das Prüfungsamt auch bei einer umfassenden Stellungnahme der Prüfer zu den von dem Prüfling gerügten Rechtsfehlern zu einer (abschließenden) eigenständigen Rechtmäßigkeitskontrolle berech‑ tigt und verpflichtet ist464. Denn nach den ausdrücklichen Prüferbeteili‑ gungsvorschriften erfolgt die Entscheidung des Prüfungsamtes über die Begründetheit des Widerspruchs „auf der Grundlage“ und nicht „gemäß“ der Stellungnahme der Prüfer465; im Übrigen gilt nach den speziellen prü‑ fungsrechtlichen Kompetenzvorschriften in Verbindung mit der allgemeinen (Prüfungs-)Entscheidungen vom Justizprüfungsamt getroffen werden (siehe etwa § 13 JAG M-V; § 1 JAPO M-V; siehe speziell § 1 Satz 2 JAPO M-V für das Nach‑ prüfungsverfahren; § 11 Abs. 1 Satz 3 NJAG; § 5 Abs. 2 Satz 2 HessJAG; § 4 Abs. 1 ThürJAPO; § 3a SächsJAG, § 2 Abs. 2 Satz 1 SächsJAPO; § 7 Abs. 2 Satz 2 JAVO S.-H.). 463 § 27 Abs. 1 JAG NRW; §§ 18a Satz 2, 32 a JAG Saarland; § 8 Satz 3 JAG LSA; § 5 Abs. 3 Satz 2 JAG RLP. 464 Unklar insoweit aber VG Düsseldorf, Urt. v. 01.03.2002 – 15 K 2809/00, juris, Rn. 47 ff., das hier eine generelle Bindung des Prüfungsamtes an die Stellung‑ nahmen der Prüfer anzunehmen scheint. 465 § 27 Abs. 1 JAG NRW; §§ 18a Satz 2, 32a JAG Saarland; § 8 Satz 2 JAG LSA.
528 Kap. 7: Das verwaltungsinterne Kontrollverfahren (Überdenkungsverfahren)
Norm des § 68 Abs. 1 Satz 1 VwGO, dass das Prüfungsamt selbst im An‑ schluss an eine im Widerspruchsverfahren erfolgte Prüfung der Rechtmäßig‑ keit der Prüfungsentscheidung den Widersprechenden zu bescheiden hat. Soweit die Prüfer generell in die Kontrolle der Rechtmäßigkeit der Prü‑ fungsentscheidung eingebunden werden, wird ihnen damit entsprechend den allgemeinen Grundsätzen zur Abhilfemöglichkeit der Ausgangsbehörde466 auch eine Selbstkontrolle ihrer fachspezifischen Bewertungen ermöglicht, die auch unter Praktikabilitätserwägungen wegen der im Regelfall untrenn‑ baren Verknüpfung von fach- und prüfungsspezifischen Wertungen ange‑ zeigt erscheint. Fraglich und umstritten ist, ob das Prüfungsamt über die anerkannte funk‑ tionale Verpflichtung zur Rechtmäßigkeitskontrolle hinaus auch eine Über‑ prüfung der Zweckmäßigkeit der Bewertung der einzelnen Prüfungsleis tungen vornehmen muss oder zumindest darf. Während nunmehr einige Prüfungsordnungen die Befugnisse des Prüfungsamtes im Rahmen des Wi‑ derspruchsverfahrens ausdrücklich auf eine Rechtmäßigkeitskontrolle be‑ schränken467, ist vor dem Inkrafttreten solcher entgegenstehender Regelun‑ gen in der Rechtsprechung vereinzelt die Auffassung vertreten worden, dass das Prüfungsamt entsprechend § 68 Abs. 1 Satz 1 VwGO die Einzelbewer‑ tungen auch auf ihre Zweckmäßigkeit überprüfen und hierfür unter Wahrung der Chancengleichheit der anderen Prüflinge eine eigenständige Beurteilung der Prüfungsleistung vornehmen müsse468. Diese Rechtsauffassung vermag nicht zu überzeugen. Auch wenn es an einem ausdrücklichen Ausschluss der Zweckmäßigkeitskontrolle fehlt, so folgt die fehlende Befugnis des Prü‑ fungsamtes hierzu daraus, dass nach den Prüfungsordnungen allein die vom Prüfungsamt jeweils bestellten Prüfer zur abwägenden Bewertung der Prü‑ fungsleistungen berechtigt469 und in dieser Tätigkeit unabhängig und an Weisungen nicht gebunden sind470. Das Prüfungsamt darf daher aufgrund seiner hiernach fehlenden Entscheidungskompetenz die Abwägungskriterien des Prüfers nicht durch eine eigenständige Bewertung der Prüfungsleistung 466 Siehe
Rn. 2.
467 § 12
insoweit nur Dolde/Porsch, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, § 72
Abs. 4 Satz 3 JAPG Bremen; § 4 Abs. 1 Satz 2 JAG Ba.-Wü. Bremen, Urt. v. 24.11.1999 – 1 A 254/99, NVwZ 2000, 944 (945); referierend Zimmerling/Brehm, Der Prüfungsprozess, Rn. 11; Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 790. 469 Ausdrücklich etwa § 2 Abs. 3 Nr. 1 SächsJAPO; § 11 Abs. 1 Satz 2 NJAG; § 17 Abs. 2 Satz 1, 2 JAG HH; § 14 Abs. 2 Satz 1 JAPG Bremen; § 21 Abs. 1 JAPO Bayern; § 4 Abs. 3 Satz 1 JAG Hessen. 470 Vgl. § 2 Abs. 1 JAG Thüringen; § 6 Abs. 1 SächsJAG; § 3 Abs. 1 JAPO Bayern; § 11 Abs. 3 NJAG; § 10 Abs. 4 Satz 1 JAG HH; § 14 Abs. 2 JAPG Bremen; § 3 JAPO Bayern; § 4 Abs. 4 Hs. 1 JAG Hessen; Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 27; siehe auch VGH Mannheim, Urt. v. 16.02.2009 – 4 S 1071/08, juris, Rn. 41 f. 468 OVG
C. Voraussetzungen für die Einleitung des Überdenkungsverfahrens529
ersetzen und zu deren Abänderung nur dann anhalten, soweit sich jene im Rahmen der Rechtmäßigkeitskontrolle, auf die das Prüfungsamt beschränkt ist, als rechtswidrig erwiesen haben. Diese Kompetenzverteilung ist verfassungsrechtlich nicht nur unbedenk‑ lich, sondern zur Wahrung der Chancengleichheit aller Prüflinge sogar ge‑ boten, die in Bezug auf die Ausgestaltung des Überdenkungsverfahrens nur dann hergestellt wird, wenn eine Korrektur der prüfungsspezifischen Wer‑ tungen nur innerhalb desjenigen Bewertungssystems erfolgt, das der jewei‑ lige Prüfer bei allen Prüflingen im Rahmen des Bewertungsverfahrens zur Anwendung gebracht hat471. Aus eben diesem Grund begegnet es auch keinen Bedenken, dass der Prüfer in das Verfahren der Überprüfung seiner eigenen Bewertung eingebunden ist472. Dies gilt auch, soweit er dabei zu‑ gleich zur Beseitigung etwaiger Rechtsfehler eingeschaltet wird, weil dies den Prüfling durch die Verschaffung einer zusätzlichen Rechtsschutzmög‑ lichkeit nur begünstigt473. Nach alledem kann die aufgeworfene Frage der Kompetenzverteilung im Widerspruchsverfahren dahin beantwortet werden, dass die nach § 68 Abs. 1 Satz 1 VwGO vorgesehene Kontrolle der Rechtund Zweckmäßigkeit der Prüfungsentscheidung bzw. der ihr zugrunde lie‑ genden Einzelbewertungen im Rahmen eines bereits an anderer Stelle be‑ schriebenen Kooperationsverhältnisses zwischen dem Prüfungsamt und dem Prüfer erfolgt. Innerhalb desselben ist das Prüfungsamt zu einer Rechtmä‑ ßigkeitsprüfung anhand der aufgezeigten und namentlich die fachspezifische Bewertung des Prüfers erfassenden objektiven Kontrollmaßstäbe berechtigt und verpflichtet, während der Prüfer an diesen im Wege der Selbstkontrolle seine Abwägungsentscheidung messen darf und darüber hinaus (auch) die Anwendung seiner Abwägungskriterien überdenken muss. Auch wenn nach den einfach-rechtlichen und / oder verfassungsrechtlichen Rechtsvorschriften aufgrund des Einwendungsinhalts im Grundsatz eine Beteiligung der Prüfer im Widerspruchsverfahren oder in Bayern außerhalb desselben im Rahmen des dort vorgesehenen Nachprüfungsverfahrens gebo‑ ten wäre, ist diese gleichwohl nur dann veranlasst, wenn auch die übrigen Voraussetzungen für die Einleitung des Überdenkungsverfahrens vorliegen. Insoweit kann auf die im vorangegangenen Kapitel umfassend dargestellten (gesetzlichen) Erfordernisse und insoweit insbesondere auf die den Prüfling treffende Substantiierungsobliegenheit verwiesen werden. In Anknüpfung an die dort erfolgten Darlegungen ist (wiederholend) festzustellen, dass in Bayern und in Rheinland-Pfalz eine Zuleitung der Einwendungen an die Prüfer nur dann erfolgt, wenn diese nach der Einschätzung des Prüfungsam‑ 471 Vgl.
BVerwGE 109, 211 (219). 84, 34 (47); Zimmerling/Brehm, Der Prüfungsprozess, Rn. 11. 473 Unklar insoweit der Standpunkt von Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 790. 472 BVerfGE
530 Kap. 7: Das verwaltungsinterne Kontrollverfahren (Überdenkungsverfahren)
tes den in § 14 Abs. 2 Satz 2, Abs. 3 JAPO Bayern bzw. § 9 Abs. 6 Satz 1 JAPO RLP normierten Darlegungserfordernissen genügen. Auch wenn eine derartige (Vorab‑)Prüfungspflicht in den anderen Bundesländern nicht aus‑ drücklich vorgesehen ist, so erfolgt in der Praxis auch dort eine – mehr oder weniger intensive – Vorsichtung der Einwendungen des Prüflings durch das Prüfungsamt. Dieser bedarf es allein aus faktisch-organisatorischen Grün‑ den, um überhaupt die vom Prüfling beanstandeten Einzelbewertungen so‑ wie die an ihrem Zustandekommen beteiligten Prüfer feststellen und die ggf. gebotene Weiterleitung der Einwendungen veranlassen zu können. Da der Prüfling aber nur bei deren hinreichender Substantiierung die Einleitung eines Überdenkungsverfahrens verlangen kann, ist eine auf die Erfüllung der Substantiierungsobliegenheit abzielende Vorprüfung der Einwendungen des Prüflings nicht zu beanstanden, jedenfalls soweit dabei kein höherer als der im vorherigen Kapitel entwickelte Maßstab angelegt wird474. Funktional betrachtet besteht sogar eine Annex-Verpflichtung der Prüfungsbehörde, als Herrin des Prüfungsverfahrens auch aktiv darüber zu wachen, dass die für das Überdenkungsverfahren geltenden Rechtsvorschriften und (verfassungs‑ rechtlichen) Grundsätze eingehalten werden und die dafür erforderlichen (organisatorischen) Maßnahmen zu ergreifen475. Mit der grundsätzlichen Anerkennung einer Vorprüfungsbefugnis ist aber noch keine Aussage getrof‑ fen über deren zulässige Reichweite im konkreten Einzelfall. Praktisch be‑ deutsam ist vor allem die Frage, ob das Prüfungsamt vom Prüfling im größeren Umfang vorgebrachte Einwendungen in dem Sinne „vorstrukturie‑ ren“ darf, dass die substantiierten Einwendungen herausgefiltert und den Prüfern isoliert zur Kenntnis gebracht werden476. Eine solche Selektionsbe‑ fugnis des Prüfungsamtes ist in der Rechtsprechung bislang und im Ergebnis zu Recht abgelehnt worden477. Die dafür als tragend angesehene Erwägung, dass allein die Prüfer darüber zu befinden hätten, ob sie im Lichte der Einwendungen des Prüflings ihre Bewertungen abändern478, vermag aller‑ dings nicht zu überzeugen. Der maßgebliche Grund ist vielmehr darin zu sehen, dass ein Herauslösen der vermeintlich allein substantiierten Einwen‑ dungen regelmäßig zusammenhängende und aufeinander aufbauende Aus‑ 474 In diesem Zusammenhang unklar Zimmerling/Brehm, Der Prüfungsprozess, Rn. 36, die aber im Ergebnis und zu Recht (nur) eine Schlüssigkeitsprüfung ablehnen. 475 Vgl. VGH Mannheim, Urt. v. 16.02.2009 – 4 S 1071/08, juris, Rn. 40. 476 Vgl. zur Formulierung VGH Mannheim, Urt. v. 16.02.2009 – 4 S 1071/08, juris, Rn. 40. 477 VGH Mannheim, Urt. v. 16.02.2009 – 4 S 1071/08, juris, Rn. 40; VG Cott‑ bus, Urt. v. 12.12.2012 – VG 3 K 117/12, n. v., UA S. 11; jetzt auch OVG NRW, Urt. v. 25.09.2014 – 14 A 1872/12, juris, Rn. 54. 478 Vgl. VGH Mannheim, Urt. v. 16.02.2009 – 4 S 1071/08, juris, Rn. 40; VG Cottbus, Urt. v. 12.12.2012 – VG 3 K 117/12, n. v., UA S. 11; OVG NRW, Urt. v. 25.09.2014 – 14 A 1872/12, juris, Rn. 54.
C. Voraussetzungen für die Einleitung des Überdenkungsverfahrens531
führungen auseinanderreißt, wodurch die Überzeugungskraft der Gesamtar‑ gumentation des Prüflings jedenfalls wesentlich beeinträchtigt und der Einwendungsschrift damit ein Teil ihrer Wirkkraft genommen wird. Von der somit abzulehnenden Vorstrukturierungsbefugnis des Prüfungs‑ amtes zu unterscheiden ist das mögliche Recht des Prüfungsamtes oder eine unter Umständen sogar bestehende Pflicht, den Prüfern zur Erleichterung durch Markierungen, Unterstreichungen etc. die substantiierten Einwendun‑ gen des Prüflings kenntlich zu machen. Dies mag zwar bei langatmigen und von Wiederholungen gekennzeichne‑ ten Widerspruchsbegründungen im Prinzip durchaus sachgerecht sein, birgt allerdings ebenso die Gefahr, dass die Einwendungen des Prüflings von den Prüfern nur entsprechend selektiv und im Ergebnis unzureichend gewürdigt werden. Da bereits der Anschein zu vermeiden ist, dass Hinweise gegeben werden sollen, wie die Prüfer in sachlicher Hinsicht mit den Einwänden zu verfahren haben479, sollte von solchen von vornherein abgesehen werden. Rechtlich unbedenklich erscheint es aber, den Prüfern richtige, allgemeine Hinweise dahin zu erteilen, wie mit den Einwendungen des Prüflings nach der Rechtsprechung zu verfahren ist. Wenn das Prüfungsamt nach abgeschlossener Vorprüfung zu dem Ergeb‑ nis gekommen ist, dass der Prüfling jedenfalls zum Teil hinreichend subs‑ tantiierte Einwendungen gegen die streitgegenständlichen Einzelbewertun‑ gen erhoben hat, sind diese – vorbehaltlich eines von ihm erklärten und beachtlichen Verzichts auf eine Prüferbeteiligung480 – unverzüglich den zuständigen Prüfern zum Zwecke des zeitnahen Überdenkens der Bewer‑ tung481 zuzuleiten. Zuständig sind nach teils ausdrücklich erfolgter gesetzli‑ cher Regelung482 im Grundsatz die ursprünglichen Prüfer, die die in Rede stehenden Prüfungsleistungen beurteilt haben. Dieser Grundsatz folgt aus der Natur des verfahrensrechtlich gewährleisteten Überdenkens der Bewer‑ tung und aus den verfassungsrechtlichen Vorgaben, wobei im Einzelnen die folgenden Erwägungen maßgeblich sind: Sofern ein anderer (Prüfer) als derjenige, der die streitgegenständliche Be‑ wertung vorgenommen hat, die Einwände des Prüflings auf ihre Berechti‑ gung hin überprüfen würde, so könnte er die Bewertungskriterien des (Vor‑)Prüfers nur insoweit anwenden, als diese aus seinem Votum ohne Wei‑ 479 Zutreffend
VGH Mannheim, Urt. v. 16.02.2009 – 4 S 1071/08, juris, Rn. 40. Münster, Urt. v. 18.09.1991 – 22 A 1239/89, NVwZ 1992, 397 (398); VG Augsburg, Bes. v. 17.02.2004 – Au 9 K 03.650, juris, Rn. 24. 481 Siehe zum Erfordernis des möglichst zeitnahen Überdenkens BVerwGE 92, 132 (140). 482 § 5 Abs. 3 Satz 2 JAG RLP; § 9 Abs. 6 Satz 1 JAPO; § 27 Abs. 1 JAG NRW; §§ 18a Satz 2, 32a JAG Saarland; § 8 JAG Satz 2 LSA. 480 OVG
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teres ersichtlich sind. Zur Füllung der Lücken im unvollständig aufgedeckten Bewertungssystem müsste er dann im Übrigen seine eigenen subjektiven Be‑ wertungsmaßstäbe zur Anwendung bringen. Damit liefe das Überdenken der Bewertung auf eine – wenngleich beschränkte – Neubewertung außerhalb des ursprünglichen Vergleichsrahmens hinaus und nicht auf eine bloße kom‑ pensatorische Rechtsschutzgewährung gegenüber der ursprünglich erfolgten Bewertung483. Infolge der verfassungsrechtlich gebotenen Gewährleistung der Chancengleichheit aller Prüflinge darf dem einzelnen Prüfling durch das ihm zustehende Überdenken der Abwägungsentscheidung innerhalb eines verwaltungsinternen Kontrollverfahrens aber im Vergleich zu Prüflingen, die dieses infolge des Fehlens von Anknüpfungspunkten in der Bewertung für die Erhebung substantiierter Einwände nicht initiieren konnten, keine (poten‑ tielle) Besserstellung widerfahren, die nicht dem Sinn und Zweck des Über‑ denkungsverfahrens immanent ist und durch diesen legitimiert werden kann. Da das Überdenkungsverfahren aber nur eine kritische Selbstkontrolle der Prüfer in demjenigen Wertungsbereich bezweckt, der durch die dem Gericht zur Verfügung stehenden Kontrollmaßstäbe nicht erfasst werden kann, wäre eine Ersetzung des vom Prüfling infrage gestellten subjektiven Bewertungs‑ maßstabs desjenigen Prüfers, der die streitgegenständliche Bewertung vorge‑ nommen hat, sinnwidrig484 und daher nicht zu rechtfertigen. Entgegen einer teilweise in der Literatur vertretenen Auffassung ist im Überdenkungsverfah‑ ren die vom Chancengleichheitsgrundsatz her prinzipiell gebotene Anwen‑ dung derjenigen Kriterien, die auch der Ursprungsbewertung zugrunde gele‑ gen haben, nicht auch dann gewährleistet, wenn ein anderer Prüfer herange‑ zogen wird, der in dem maßgeblichen Prüfungs- / Klausurdurchgang ebenfalls als Prüfer eingesetzt worden ist485. Denn der neue Prüfer kann zwar die Leis‑ tung des Prüflings, der seine Bewertung anficht, in Relation setzen zu den unter den gleichen Bedingungen angefertigten Leistungen der anderen Prü‑ fungsteilnehmer486. Der Vergleichsrahmen ist aber auch und vor allem ge‑ prägt durch die über Jahre erfolgte Kenntnisnahme der Leistungen der Ge‑ samtheit vergleichbarer Prüfungskandidaten und die dadurch gewonnenen individuellen Prüfererfahrungen487. 483 Zutreffend BFHE 201, 471 (474 f.). Vgl. in diesem Zusammenhang zurück‑ haltend hinsichtlich der Bestellung eines neuen Prüfers auch Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 792: „… soweit dies überhaupt sinnvoll möglich ist …“. 484 Vgl. in diesem Zusammenhang nochmals Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 792, in Bezug auf ein mögliches Überdenken der Bewertung durch einen anderen Prüfer. 485 So aber wohl Zimmerling/Brehm, Der Prüfungsprozess, Rn. 28; Brehm, NJW 2003, 2808 (2809 f.); Müller-Franken, VerwArch 92 (2001), 507 (528 m. Fn. 146). 486 Insoweit zutreffend Müller-Franken, VerwArch 92 (2001), 507 (528 m. Fn. 146). 487 Siehe zur Bildung des Vergleichsrahmens insoweit etwa nur VG Braun‑ schweig, Urt. v. 06.06.2007 – 6 A 311/06, NVwZ-RR 2008, 323 (324).
C. Voraussetzungen für die Einleitung des Überdenkungsverfahrens533
Der Einsatz neuer Prüfer kommt ausnahmsweise nur dann in Betracht, wenn eine Stellungnahme durch die bisherigen Prüfer aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen unmöglich ist488. Die damit für den Prüfling mögli‑ cherweise verbundene Besserstellung gegenüber anderen Prüflingen auf‑ grund der Anwendung eines großzügigeren Bewertungsmaßstabs durch den neuen Prüfer muss hingenommen werden, weil die erste in Betracht kom‑ mende Alternative – Verlust des Überdenkensanspruchs – mit den Art. 12 Abs. 1 Satz 1, 19 Abs. 4 Satz 1 GG unvereinbar wäre489 und die zweite Alternative – sogleich Anordnung einer (vollständigen) Neubewertung durch einen anderen Prüfer – den Grundsatz der Chancengleichheit über das Un‑ vermeidbare hinaus beeinträchtigen würde490. Letztlich stellt sich daher in den Fällen, in denen der ursprüngliche Prüfer aus tatsächlichen oder recht‑ lichen Gründen nicht mehr herangezogen werden kann, das Überdenken der Bewertung – d. h. eine auf die Einwände des Prüflings beschränkte Neube‑ wertung491 – als der schonendste Ausgleich zwischen dem (kompensatori‑ schen) Rechtsschutzinteresse des Prüflings und dem Grundsatz der Chan‑ cengleichheit dar. Im Übrigen ist es – um den zu wahrenden Grundsatz der Chancengleich‑ heit nicht mehr als unvermeidbar zu beeinträchtigen – verfassungsrechtlich geboten, nach Möglichkeit einen Prüfer als „Ersatzprüfer“ auszuwählen, der in dem betreffenden Klausurdurchgang auch als Prüfer tätig gewesen ist492. Denn wenn der Prüfer bereits die Aufgabenstellung und vor allem die Prü‑ fungsleistungen anderer Kandidaten kennt, verfügt er damit zumindest über annähernd denselben (konkreten) Vergleichsrahmen wie der ursprüngliche Prüfer. Es ist dann am ehesten gewährleistet, dass im Rahmen des „Über‑ denkens“ dieselben bzw. zumindest ähnliche Bewertungskriterien zur An‑ wendung kommen wie im Rahmen der Erstbewertung493. 488 OVG NRW, Urt. v. 06.07.1998 – 22 A 1566/96, NWVBl. 1999, 52 (52); siehe auch VG Köln, Urt. v. 02.06.2010 – 6 K 7330/08, NWVBl. 2011, 76 (77); Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 688, 792; siehe auch für den Fall der Voreingenom‑ menheit bzw. Befangenheit VG Dresden, Urt. v. 10.11.2004 – 5 K 1034/02, juris, Rn. 44; VG Mainz, Urt. v. 20.04.2005 – 7 K 932/04.MZ, juris, Rn. 16. 489 Vgl. BayVGH, Urt. v. 22.10.1997 – 7 B 97.1139, BeckRS 1997, 19450. 490 Anders VG Gelsenkirchen, Urt. v. 13.12.2012 – 18 K 2151/11, juris, Rn. 44. 491 Vgl. dazu, dass die Neubewertungsbefugnis des Prüfers im Überdenkungs‑ verfahren auf die mit den Einwendungen des Prüflings infrage gestellten Kritikpunk‑ te begrenzt ist, BayVGH, Urt. v. 22.10.1997 – 7 B 97.1139, BeckRS 1997, 19450; Bes. v. 04.12.1998 – 7 ZB 98.2422, juris, Rn. 8. 492 Vgl. VG Sigmaringen, Bes. v. 02.08.2004 – 8 K 924/04, juris, Rn. 8; VG Dresden, Urt. v. 07.11.2007 – 5 K 2149/03, juris, Rn. 58. 493 Müller-Franken, VerwArch 92 (2001), 507 (528 m. Fn. 146 a. E.); Brehm, NJW 2003, 2808 (2809 f.); Zimmerling/Brehm, Der Prüfungsprozess, Rn. 28.
534 Kap. 7: Das verwaltungsinterne Kontrollverfahren (Überdenkungsverfahren)
Aus tatsächlichen Gründen unmöglich ist die Beteiligung des ursprüngli‑ chen Prüfers namentlich dann, wenn dieser verstorben ist494. Dem Fall des Todes des Prüfers gleichzustellen ist derjenige, dass der Prüfer jedenfalls für längere Zeit daran gehindert ist, zu den Einwendungen des Prüflings Stel‑ lung zu nehmen. Dieser tritt etwa ein, wenn der Prüfer aufgrund einer schweren Erkrankung495 oder aus anderen Gründen auf nicht absehbare Zeit sein Amt nicht ausüben kann oder will. Aus rechtlichen Gründen geboten ist die Heranziehung eines neuen Prü‑ fers, wenn der bisherige aus seinem Amt ausgeschieden496, sich aufgrund jahrelanger Abstinenz von Beruf und Prüfung der Vergleichsmaßstäbe nicht mehr sicher ist497 und vor allem dann, wenn objektive Anhaltspunkte für dessen Befangenheit vorliegen498. Die Besorgnis der Befangenheit ist der praktisch wichtigste Grund für eine gebotene Ablösung des bisherigen Prü‑ fers, so dass die Voraussetzungen für deren Annahme hier näher in den Blick zu nehmen sind. Auszugehen ist dabei zunächst von § 21 LVwVfG, der auch im Prüfungsverfahren gemäß § 2 Abs. 3 Nr. 2 LVwVfG unmittel‑ bar gilt. Danach ist – auch bei den nicht schon kraft Gesetzes gemäß § 20 LVwVfG ausgeschlossenen Personen499 – die Besorgnis der Befangenheit begründet, wenn ein Grund vorliegt, der geeignet ist, Misstrauen gegen eine unparteiische Amtsausübung zu rechtfertigen. Dies setzt voraus, dass ein Verfahrensbeteiligter die auf objektiv feststellbaren Tatsachen beruhende, subjektiv vernünftigerweise mögliche Besorgnis hat, der Amtsträger werde in dieser Sache nicht unparteiisch, unvoreingenommen oder unbefangen entscheiden500. 494 VG Köln, Urt. v. 02.06.2010 – 6 K 7330/08, NWVBl. 2011, 76 (77); anders OVG Bremen, Bes. v. 03.06.2002 – 2 A 20/02, NordÖR 2002, 338 (338, Leitsatz), i.Ü. n. v.: für den Fall einer aus vier Mitgliedern bestehenden Prüfungskommission und dem Versterben eines der Mitglieder. 495 Vgl. VG Köln, Urt. v. 02.06.2010 – 6 K 7330/08, NWVBl. 2011, 76 (77). 496 OVG Münster, Urt. v. 06.07.1998 – 22 A 1566/96, NWVBl. 1999, 52 (52); siehe in diesem Zusammenhang VG Ansbach, Urt. v. 14.05.2013 – AN 2 K 11.01975, juris, Rn. 25 ff., das in Bezug auf die Rechtslage in Bayern (§ 21 Abs. 4 JAPO) eine Fortdauer des Prüferamtes trotz erfolgten Wechsels an eine andere Universität aus Gründen der Chancengleichheit annimmt. 497 BVerwG, Urt. v. 04.05.1999 – 6 C 13/98, NVwZ 2000, 915 (921); VG Dres‑ den, Urt. v. 07.11.2007 – 5 K 2149/03, Rn. 57; Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 688. 498 Vgl. zu diesem Ablösungsgrund (und möglichen Gründen hierfür) VGH Mannheim, Urt. v. 16.02.2009 – 4 S 1071/08, juris, Rn. 37; SächsOVG, Urt. v. 02.06.2010 – 2 A 128/10, HRZ 1, 109 (121); VG Köln, Urt. v. 02.06.2010 – 6 K 7330/08, NWVBl. 2011, 76 (77); Löwer/Linke, WissR 30 (1997), 128 (137). 499 Vgl. Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 338. 500 Vgl. VGH Mannheim, Urt. v. 16.02.2009 – 4 S 1071/08, juris, Rn. 37; VG Regensburg, Urt. v. 25.01.2012 – RN 1 K 11.00773, juris, Rn. 50; Kopp/Ramsauer, VwVfG, § 21, Rn. 14 ff.; Schmitz, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, § 21, Rn. 10.
C. Voraussetzungen für die Einleitung des Überdenkungsverfahrens535
In Prüfungsverfahren bedeutet dies, dass aus der Sicht eines „vernünfti‑ gen“ Prüflings nicht Mutmaßungen, sondern Tatsachen vorliegen müssen, die ohne Rücksicht auf individuelle Empfindlichkeiten des Prüflings den Schluss rechtfertigen, dass der Prüfer die Prüfungsleistung nicht mit der gebotenen Distanz, Objektivität und sachlichen Neutralität beurteilen wird, sondern sich bei deren Bewertung oder ihrer Überprüfung maßgeblich von (sach‑)fremden Erwägungen leiten lässt501. Im Ergebnis ist daher eine Be‑ fangenheit des Prüfers immer dann anzunehmen, wenn dieser aufgrund äu‑ ßerer oder innerer Umstände zu einer rationalen Abwägung der Prüfungs‑ leistung nicht mehr in der Lage und in diesem Sinne auf eine bestimmte (negative) Bewertung festgelegt ist502. Ausgehend davon kommt eine Befan‑ genheit des Prüfers vor Einleitung des Überdenkungsverfahrens zunächst bei einer persönlichen (Nähe‑)Beziehung zwischen ihm und dem Prüfling unterhalb der Schwelle des § 20 Abs. 5 LVwVfG in Betracht. In diesem Zusammenhang hat das Bundesverwaltungsgericht entgegen der Vorins‑ tanz503 zu Recht die Befangenheit des Prüfers bei einer vom Prüfling aus‑ gehenden persönlichen Kontaktaufnahme anlässlich des Überdenkungsver‑ fahrens und einer damit verbundenen Schilderung der Ausgangssituati‑ on / persönlichen Lebensumstände unter der Voraussetzung verneint, dass diese lediglich zu einer Erweiterung der Informationsbasis des Prüfers führt, von der dieser ohnehin auszugehen hatte504. Eine berechtigte Besorgnis der Befangenheit der Prüfer bereits vor Einleitung des Überdenkungsverfahrens kann aber in dem Umstand begründet liegen, dass das Prüfungsamt den Prüfern konkrete Hinweise des Inhalts gibt, in welcher Art und Weise mit den Einwendungen des Prüflings zu verfahren ist505. Durchgreifende An‑ haltspunkte für eine Unvoreingenommenheit, die einer nochmaligen Befas‑ sung des Prüfers mit der Prüfungsleistung entgegenstehen, können daneben insbesondere aus schriftlichen oder mündlichen Äußerungen in Bezug auf 501 Vgl. Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 338 f.; Lampe, S. 145; VGH Mannheim, Urt. v. 16.02.2009 – 4 S 1071/08, juris, Rn. 37; VG München, Urt. v. 03.07.2006 – M 3 K 05.6046, juris, Rn. 20; VG Gelsenkirchen, Urt. v. 13.12.2012 – 18 K 2151/11, juris, Rn. 74. 502 Vgl. VG München, Urt. v. 24.09.2007 – M 3 K 07.1919, juris, Rn. 28; VG Gelsenkirchen, Urt. v. 13.12.2012 – 18 K 2151/11, juris, Rn. 74; Niehues/Fischer/ Jeremias, Rn. 338. 503 SächsOVG, Urt. v. 02.06.2010 – 2 A 128/10, HRZ 1, 109 (121). 504 Vgl. BVerwG, Urt. v. 21.03.2012 – 6 C 19/11, NVwZ 2012, 1188 (1191), mit Anmerkung Unger (1192 f.); ausführlich zu dieser Problematik Unger, SächsV‑ Bl. 2013, 29 ff. 505 Vgl. (im konkreten Fall bejahend) VG Freiburg, Urt. v. 28.02.2008 – 2 K 1276/07, juris, Rn. 26 f., aufgehoben durch VGH Mannheim, Urt. v. 16.02.2009 – 4 S 1071/08, juris, Rn. 36 f.; siehe auch Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 344 m. Fn. 443.
536 Kap. 7: Das verwaltungsinterne Kontrollverfahren (Überdenkungsverfahren)
die Prüfungsleistung oder den Prüfling folgen, die einen Verstoß gegen das Fairnessgebot und / oder das Gebot der Sachlichkeit begründen506. 2. Befassungs- und Bescheidungspflicht des Prüfers Damit das Verfahren des Überdenkens seinen Zweck, das Grundrecht der Berufsfreiheit effektiv zu schützen, erfüllen kann, muss nach der von den Instanzgerichten (formal) mitgetragenen507 und in der Literatur nicht infra‑ ge gestellten508 Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichtes gewähr‑ leistet sein, dass die Prüfer sich mit den ihnen zugeleiteten Einwänden des Prüflings unabhängig voneinander auseinandersetzen und, soweit diese be‑ rechtigt sind, ihre Bewertung korrigieren sowie alsdann auf dieser – mögli‑ cherweise veränderten – Grundlage unter hinreichender schriftlicher Be‑ gründung erneut über das Ergebnis der Prüfung entscheiden509. Diese zu‑ treffenden, vom Bundesverwaltungsgericht rechtsdogmatisch aber nicht be‑ gründeten Anforderungen ergeben sich daraus, dass der Prüfer wie ein Richter über die Berechtigung der Einwendungen gegen eine (von ihm selbst) in gleicher Sache getroffene Entscheidung zu befinden und dabei den Anspruch des Rechtsbehelfsführers auf Gewährung rechtlichen Gehörs zu erfüllen hat (entsprechend § 108 Abs. 2 VwGO, Art. 103 Abs. 1 GG)510. Das verwaltungsinterne Kontroll- bzw. Überdenkungsverfahren könnte seinen Zweck, das Rechtsschutzdefizit, das aus der mangelnden (gerichtli‑ chen) Kontrolldichte resultiert, zu kompensieren, nicht erfüllen, wenn es in das Belieben des Prüfers gestellt wäre, ob und ggf. in welchem Umfang er sich mit den Einwendungen des Prüflings auseinandersetzt. Aus dem Kom‑ pensations- und Kontrollelement, das dem verwaltungsinternen Kontrollver‑ fahren innewohnt, folgt ohne Weiteres, dass der Prüfer im Rahmen des Überdenkens ebenso wie der Richter im Verwaltungsprozess dazu verpflich‑ 506 Vgl. zu den Überschneidungen eines Verstoßes gegen das Gebot der Sach‑ lichkeit und der Befangenheitsbesorgnis BayVGH, Urt. v. 30.04.1998 – 7 B 97.29986, juris, Rn. 19; Bes. v. 14.12.2010 – 7 ZB 10.2108, juris, Rn. 9; VG Re‑ gensburg, Gerichtsbescheid v. 21.10.1998 – RN 2 K 98.465, Rn. 26; VG München, Urt. v. 03.07.2006 – M 3 K 05.6046, juris, Rn. 20; Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 339, 344. 507 Vgl. OVG Lüneburg, Bes. v. 28.08.2013 – 2 LA 329/12, n. v., BU S. 4; OVG Münster, Bes. v. 28.03.2014 – 14 A 238/12, juris, Rn. 5 f.; VG Hamburg, Urt. v. 13.06.2013 – 2 K 1576/11, n. v., UA S. 11 f.; VG Köln, Urt. v. 30.10.2013 – 10 K 5755/12, juris, Rn. 27 ff. 508 Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 791. 509 Vgl. BVerwGE 91, 132 (137); BVerwG, Bes. v. 09.10.2012 – 6 B 39/12, NVwZ 2013, 44 (45); VGH Mannheim, Urt. v. 16.02.2009 – 4 S 10171/08, juris, Rn. 39; Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 791. 510 So wohl im Ansatz auch Löwer/Linke, WissR 30 (1997), 128 (158).
C. Voraussetzungen für die Einleitung des Überdenkungsverfahrens537
tet ist, die Einwände des Prüflings gegen die Bewertung vollständig zur Kenntnis zu nehmen und umfassend in seine Erwägungen einzubeziehen511. Er muss diese auf sich wirken lassen, versuchen, sie nachzuvollziehen und ihre Berechtigung nötigenfalls anhand der angegebenen Quellen und Hin‑ weise überprüfen512. Ebenso wie im Verwaltungsprozess nur beim Vorlie‑ gen einer schriftlichen Urteilsbegründung überprüft werden kann, ob der Richter seiner dem Anspruch der Beteiligten auf Gewährung rechtlichen Gehörs (§ 108 Abs. 2 VwGO, Art. 103 Abs. 1 GG) korrespondierenden Ver‑ pflichtung gemäß das rechtliche wie tatsächliche Vorbringen der Beteiligten beachtet und bei der Entscheidung in Erwägung gezogen hat513, kann auch nur bei Vorliegen einer schriftlichen Stellungnahme der Prüfer514 wirklich überprüft werden, ob der Prüfer die Einwendungen des Prüflings vollständig zur Kenntnis genommen und während des Überdenkens in Erwägung gezo‑ gen hat. Die Begründung für deren Zurückweisung hat damit eine ähnliche Garantie-, Klarstellungs- und Kontrollfunktion wie die Erstbegründung515. Demgemäß müssen die Prüfer also, jedenfalls dann, wenn sie die Einwän‑ de des Prüflings nicht für berechtigt erachten, in einer jeweils eigenständig verfassten Stellungnahme516 die maßgeblichen Gründe dafür mitteilen, wes‑ 511 VGH
Mannheim, Urt. v. 16.02.2009 – 4 S 1071/08, juris, Rn. 40. Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 320. 513 Siehe zum Inhalt des Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs BVerfG, Bes. v. 06.08.2002 – 2 BvR 2357/00, NVwZ-RR 2002, 802 (803); BVerfGE 83, 24 (35); 96, 205 (216); Thomas/Putzo, ZPO, Einleitung I Rn. 13; Maunz/Dürig/Assmann, GG, Art. 103, Rn. 94 ff.; vgl. auch Löwer/Linke, WissR 30 (1997), 128 (158): „deshalb ist das ‚Überdenken‘ auf das dem Prüfling gewährte Gehör hin so wichtig“. 514 Siehe zur gebotenen schriftlichen Niederlegung der Überdenkensentschei‑ dung nunmehr ausdrücklich BVerwG, Bes. v. 09.10.2012 – 6 B 39/12, NVwZ-RR 2013, 44 (46). 515 Vgl. zu dieser: VGH Mannheim, Urt. v. 15.02.1991 – 9 S 105/90, NVwZ 1991, 1205 (1207); BVerwGE 91, 262 (267). 516 Dieses – an sich selbstverständliche – Erfordernis hat das BVerwG zuletzt noch einmal für das Überdenken der Bewertung schriftlicher Prüfungsleistungen betont, siehe BVerwG, Bes. v. 09.10.2012 – 6 B 39/12, NVwZ-RR 2013, 44 (45). Aus diesem Erfordernis dürfte entgegen dem jetzt vom VG Aachen, Urt. v. 20.03.2014 – 1 K 1892/12, juris, Rn. 70, eingenommenen Rechtsstandpunkt aber nicht folgen, dass eine bloße „Einverstandenerklärung“ des Zweitprüfers per se un‑ zureichend ist. Wenn der Zweitprüfer die – von ihm selbstständig gewürdigten Ein‑ wände des Prüflings – aus den vom Erstprüfer angeführten Gründen für unerheblich hält, ist nicht ersichtlich, warum eine Bezugnahme auf diese unzureichend sein soll. Im Übrigen dürfte das Erfordernis des selbstständigen Überdenkens auch auf das Überdenken der Bewertung mündlicher Prüfungsleistungen zu erstrecken sein, so auch VG Halle, Urt. v. 23.03.2004 – 1 A 2/03, juris, Rn. 25; anders jetzt VG Ham‑ burg, Urt. v. 23.12.2014 – 2 K 1285/11, Rn. 132 ff., das die Zustimmung der anderen Prüfungsausschussmitglieder zu einem Entwurf der Stellungnahme durch die Prü‑ fungsausschussvorsitzende im Umlaufverfahren ausreichen lässt. 512 Vgl.
538 Kap. 7: Das verwaltungsinterne Kontrollverfahren (Überdenkungsverfahren)
halb sie ihre erste Bewertung nach wie vor für zutreffend erachten517. In welchem Umfang diese darzulegen sind, hängt nicht nur von den Umständen des jeweiligen Einzelfalles518, sondern vor allem auch von dem rechtsdog‑ matischen Ansatz ab, aus dem die Befassungs- und Bescheidungspflicht des Prüfers im Überdenkungsverfahren abgeleitet wird. An einem solchen hat es bis zuletzt in der Rechtsprechung gefehlt. Rechtstatsächlich war und ist aber in den instanzgerichtlichen Entscheidungen eine eindeutige Tendenz erkenn‑ bar, eine zusammenfassende bzw. konkludente Stellungnahme oder gar die bloße Behauptung des Prüfers ausreichen zu lassen, sich mit den Einwen‑ dungen des Prüflings befasst zu haben519. Dafür haben nun erstmals zunächst das VG Hamburg und sodann das OVG Lüneburg eine rechtsdogmatische Begründung gegeben. Das VG Hamburg sieht den Zweck des Überden‑ kungsverfahrens ausschließlich darin, dem Prüfling im Sinne einer Verfah‑ rensgewährleistung Einblick in die tragenden Gründe der Bewertung zu er‑ möglichen. Dementsprechend hält es auch einen bloßen Verweis des Prüfers auf die Ausführungen in der Ursprungsbegründung als Stellungnahme zu ausführlichen Einwendungen des Prüflings für ausreichend520. In eine ähnliche Richtung weist ein Beschluss des OVG Lüneburg, in dem die Anforderungen an die Begründungstiefe aus einer entsprechenden Anwendung des § 39 Abs. 1 Satz 2 VwVfG heraus entwickelt werden. Demgemäß sei den Prüfern eine fallbezogene Beschränkung auf die wesent‑ lichen Gründe gestattet, so dass nicht jedweder Einwand des Prüflings der ausdrücklichen Erörterung bedürfe, sondern nur auf solche Einwendungen einzugehen sei, denen die Prüfer Ergebnisrelevanz beimessen. Neben der Sache liegende oder marginale Einwendungen dürften demgegenüber zu‑ gunsten einer Konzentration auf das Wesentliche vernachlässigt werden521. Insbesondere die vorstehend dargestellte Rechtsauffassung des VG Hamburg begegnet durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken, weil mit ihr das dem kompensatorischen Rechtsschutz des Prüflings dienende Überden‑ kungsverfahren zu einem bloßen Begründungsergänzungsverfahren degra‑ diert wird, was dessen grundrechtlicher Bedeutung nicht annähernd gerecht wird. Richtigerweise sind die Anforderungen an den Umfang der Begrün‑ 517 Vgl. BVerfGE 84, 34 (47); BVerwGE 92, 132 (137); BVerwG, Bes. v. 15.07.2010 – 2 B 104/09, juris, Rn. 10; Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 791; Löwer/ Linke, WissR 30 (1997), 128 (137). 518 OVG Münster, Bes. v. 28.03.2014 – 14 A 238/12, juris, Rn. 7 f. 519 Siehe etwa OVG Bremen, Bes. v. 06.11.2011 – 2 S 66/11, n. v., BA S. 3; VG Hamburg, Urt. v. 13.06.2013 – 2 K 1516/11, n. v., UA S. 13. 520 VG Hamburg, Urt. v. 13.06.13 – 2 K 1516/11, n. v., UA S. 12; ähnlich jetzt VG Hamburg, Urt. v. 13.05.2015 – 2 K 189/14, juris, Rn. 86. 521 Siehe zum Vorhergehenden OVG Lüneburg, Bes. v. 28.08.2013 – 2 LA 329/12, n. v., BU S. 4.
C. Voraussetzungen für die Einleitung des Überdenkungsverfahrens539
dung ausgehend von der gebotenen Erfüllung des Anspruchs des Prüflings auf Gewährung rechtlichen Gehörs (entsprechend § 108 Abs. 2 VwGO, Art. 103 Abs. 2 GG) und den hierzu im Allgemeinen bereits herausgearbei‑ teten Grundsätzen zu entwickeln522. Danach gilt Folgendes: Zwar kann im Allgemeinen davon ausgegangen werden, dass das Gericht die Ausführun‑ gen der Prozessbeteiligten nicht nur zur Kenntnis genommen, sondern auch in Erwägung gezogen hat523. Dies setzt allerdings voraus, dass das wesent‑ liche Vorbringen in den Entscheidungsgründen verarbeitet wird524. Auch wenn das Gericht nicht als verpflichtet angesehen wird, sich mit jedem vorgetragenen Argument in den Entscheidungsgründen ausdrücklich zu be‑ fassen, ist es aber gehalten, deutlich zu machen, weshalb von der Ausein‑ andersetzung mit diesem oder jenem abgesehen worden ist525. Dies kann etwa dadurch geschehen, dass ausdrücklich oder jedenfalls konkludent dar‑ auf hingewiesen wird, dass es nach dem Rechtsstandpunkt des Gerichtes auf einen von den Beteiligten als erheblich angesehenen Umstand gerade nicht ankam526. Fehlt es an solchen Hinweisen für eine fehlende Entscheidungs‑ erheblichkeit und setzt sich das Gericht mit Gesichtspunkten, die für die Beteiligten erkennbar zentral gewesen sind, nicht auseinander, muss davon ausgegangen werden, dass das Gericht diese schon nicht zur Kenntnis oder jedenfalls nicht in Erwägung gezogen hat527. Es verletzt dann sowohl den Anspruch der Beteiligten auf Gewährung rechtlichen Gehörs528 als auch 522 Diesen Gedanken hat jetzt das VG Hamburg im Urteil vom 13.05.2015 – 2 K 189/14, juris, Rn. 88, ausdrücklich mit dem Argument abgelehnt, dass das Gericht im Gegensatz zum Prüfer, dessen Entscheidung durch prüfungsspezifische Wertun‑ gen geprägt sei, eine unabhängige, objektive, an Gesetz und Recht ausgerichtete Entscheidung treffe. Abgesehen davon, dass das VG Hamburg übersieht, dass der Prüfer ebenfalls in seiner Entscheidung unabhängig ist, verkennt es, dass das Über‑ denkungsverfahren wie das gerichtliche Verfahren Rechtsschutzfunktion hat und daher jeweils eine Dokumentation des Entscheidungsprozesses erforderlich ist, um überprüfen zu können, dass dieser Rechtsschutz durch eine hinreichende Würdigung der jeweils vorgetragenen Einwände auch tatsächlich gewährt worden ist. 523 BVerwG, Bes. v. 31.07.2002 – 8 C 37/07, juris, Rn. 38; BVerfG, Bes. v. 06.08.2002 – 2 BvR 2357/00, NVwZ-RR 2002, 802 (803); BVerfGE 83, 24 (35); 96, 205 (216). 524 BVerfGE 47, 182 (189); 54, 43 (46); 86, 133 (146); BVerwG, Bes. v. 31.07.2002 – 8 C 37/07, juris, Rn. 38. 525 BVerwG, Bes. v. 31.07.2002 – 8 C 37/07, juris, Rn. 38. 526 Vgl. BVerfG, Bes. v. 06.08.2002 – 2 BvR 2357/00, NVwZ-RR 2002, 802 (803); BVerfGE 83, 24 (35); 96, 205 (216); BVerwG, Bes. v. 31.07.2002 – 8 C 37/07, juris, Rn. 38. 527 BVerwG, Urt. v. 31.07.2002 – 8 C 37/01, juris, Rn. 41. 528 BVerfG, Bes. v. 06.08.2002 – 2 BvR 2357/00, NVwZ-RR 2002, 802 (803); BVerfGE 83, 24 (35); 96, 205 (216); BVerwG, Bes. v. 31.07.2002 – 8 C 37/07, juris, Rn. 38.
540 Kap. 7: Das verwaltungsinterne Kontrollverfahren (Überdenkungsverfahren)
zugleich seine Begründungspflicht529. Eine fehlende Auseinandersetzung ist insbesondere auch dann anzunehmen, wenn das Gericht zur Begründung lediglich auf seine Ausführungen in einer vorangegangenen Entscheidung Bezug nimmt, obwohl diese von einem der Beteiligten mit substantiierten Einwendungen infrage gestellt worden sind530. Die vorstehenden Anforderungen können auf den Umfang der Befas‑ sungs- und Bescheidungspflicht des Prüfers im Überdenkungsverfahren ohne Weiteres übertragen werden. Demnach besteht im Grundsatz eine Verpflichtung des Prüfers, sich mit sämtlichen substantiierten Einwänden des Prüflings im Einzelnen auseinanderzusetzen, von der er nur dann befreit ist, wenn diese die Zielrichtung seiner Kritik bereits nicht treffen und in diesem Sinne unschlüssig oder deshalb unerheblich sind, weil die vom Prüf‑ ling angegriffenen Kritikpunkte für seine Gesamtbewertung ohne Bedeutung waren. In diesen Fällen muss der Prüfer allerdings zumindest die Gründe für die evidente Irrelevanz der erhobenen Einwendungen darlegen. Geht der Prüfer weder in der einen noch in der anderen Art und Weise auf eine substantiierte Einwendung des Prüflings ein, muss davon ausgegangen wer‑ den, dass der Prüfer diese nicht zur Kenntnis oder jedenfalls nicht in Erwä‑ gung gezogen hat. Von einer in diesem Fall vorliegenden Nichterfüllung des Anspruchs des Prüflings auf Gewährung rechtlichen Gehörs und der Verlet‑ zung der Begründungspflicht des Prüfers ist entgegen dem VG Hamburg insbesondere auch dann auszugehen, wenn der Prüfer lediglich auf seine Ausführungen in der bisherigen Bewertungsbegründung verweist. Im Übrigen dürfte eine „hinreichende schriftliche Begründung“ im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichtes voraussetzen, dass sich die Prüfer mit den Einwendungen des Prüflings entsprechend deren Spezi‑ fizierungsgrad auseinandersetzen531 und demgemäß von einer Wechselwir‑ kung zwischen der Substantiierungsobliegenheit des Prüflings und der Be‑ scheidungspflicht der Prüfer auszugehen sein. Diese Wechselwirkung hat das Bundesverwaltungsgericht insbesondere in seiner grundlegenden Ent‑ scheidung zur Begründungspflicht bei mündlichen Prüfungen betont532, soweit dort ausgeführt wird, dass die Konkretisierung des Rechts auf eine Begründung der Bewertung der mündlichen Prüfungsleistungen maßgeblich vom Verhalten des Prüflings abhänge, insbesondere davon, wann er den Anspruch geltend mache und wie er sein Verlangen begründe. Je konkreter 529 BVerwG,
(209).
Bes. v. 28.01.2010 – 6 B 50/09, juris, Rn. 18; BVerwGE 96, 200
530 BVerwG, Bes. v. 20.11.2011 – 2 B 86/11, juris, Rn. 5; Clausing, in: Schoch/ Schneider/Bier, VwGO, § 117, Rn. 20. 531 Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 791. 532 BVerwGE 99, 185 ff.
C. Voraussetzungen für die Einleitung des Überdenkungsverfahrens541
er dies tue, desto konkreter werde die Begründung sein müssen, um den Prüfling in den Stand zu versetzen, etwa berechtigte Einwände wirkungsvoll vorzubringen533. Zwar betrifft diese Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes unmit‑ telbar nur die Anforderungen an das Begründungsverlangen des Prüflings und die daraus resultierenden Anforderungen, die an die Ausführungen der Prüfer zu stellen sind. Der dortige Rechtssatz ist aber ohne Weiteres auf die zu stellenden Anforderungen an die Stellungnahmen der Prüfer im Überden‑ kungsverfahren übertragbar. Denn das Begründungsverlangen des Prüflings bei mündlichen Prüfungen geht wie bereits oben ausgeführt regelmäßig mit der Erhebung substantiierter Einwände einher und der Prüfling, dessen sub‑ stantiierter Einwand gegen die Bewertung ordnungsgemäß zurückgewiesen wird, erhält insoweit eben eine erweiterte Begründung der Bewertung534, so dass die an die Begründung der Bewertung zu stellenden Anforderungen auch im untrennbaren Zusammenhang mit den Einwendungen des Prüflings und deren Qualität stehen. Demgemäß hat etwa auch das VG Dresden535 die bestehende Wechselwirkung zwischen der Substantiierungsobliegenheit des Prüflings und der Begründungspflicht der Prüfer betont und ausgeführt, dass an die Anforderungen an das Vorbringen substantiierter Rügen des Prüflings umso höhere Anforderungen zu stellen seien, je detaillierter die Bewertungen durch die Prüfer erfolgt sind536. Umgekehrt seien an die Obliegenheiten des Prüflings zum Vorbringen von Einwendungen umso geringere Anforderungen zu stellen, je allgemeiner die Bewertung der Prü‑ fer ist, so dass eine Wechselwirkung zwischen der Begründungspflicht der Prüfer und den Rügeobliegenheiten des Prüflings bestehe537. Diese Wech‑ selwirkung gilt natürlich auch in umgekehrter Richtung und damit für den erforderlichen Umfang der Stellungnahmen der Prüfer im Überdenkungsver‑ fahren. Das heißt, dass die Prüfer zu jeder Einwendung des Prüflings in einer Ausführlichkeit Stellung nehmen müssen, die dem Maß der Substan‑ tiierung des Einwands durch den Prüfling entspricht. Wenn der Prüfer die Bewertung entsprechend dem Begehren des Prüf‑ lings anhebt, weil er die Einwände des Prüflings zumindest teilweise für berechtigt hält, hat der Prüfling typischerweise kein Interesse mehr daran zu erfahren, weshalb der Prüfer nicht sämtliche Einwände für berechtigt gehal‑ 533 BVerwGE
99, 185 (194). entgegen dem VGH Mannheim, Urt. v. 13.06.1995 – 9 S 2091/94, NVwZ-RR 1996, 27 (28), wie ausgeführt nicht zu beanstanden, sondern notwendige Nebenfolge des Überdenkungsverfahrens ist bzw. sein kann. 535 VG Dresden, Urt. v. 04.06.2008 – 5 K 38/08, zitiert nach juris, Rn. 108. 536 VG Dresden, Urt. v. 04.06.2008 – 5 K 38/08, zitiert nach juris, Rn. 108. 537 VG Dresden, Urt. v. 04.06.2008 – 5 K 38/08, zitiert nach juris, Rn. 108. 534 Was
542 Kap. 7: Das verwaltungsinterne Kontrollverfahren (Überdenkungsverfahren)
ten und aus welchem Grund er die Bewertung angehoben hat. Daher mag es angehen, die Prüfer in diesem Fall – zunächst – von der Niederlegung der Gründe freizustellen. 3. Umfang und Grenzen der Überprüfungskompetenz des Prüfers Die Verpflichtung des Prüfers, seine Bewertung im Lichte der Einwen‑ dungen des Prüflings zu überdenken, schließt (nur) die Notwendigkeit ein, die vom Prüfling infrage gestellten Kritikpunkte auf ihre Berechtigung zu überprüfen und im Falle ihrer (teilweisen) Rücknahme die von ihnen betrof‑ fenen Teilleistungen und die von diesen beeinflusste Gesamtleistung neu zu bewerten. Der Prüfer muss sich daher im Überdenkungsverfahren keines‑ wegs von vornherein (erneut) mit der gesamten Prüfungsleistung befassen wie dies bei einer Erstbewertung der Fall wäre538. Die bisherigen Teilbe‑ wertungen im Sinne des zusammengestellten Abwägungsmaterials, die der Prüfling nicht mit substantiierten Einwendungen angegriffen hat und dem‑ gemäß gegen sich gelten lässt, können also bestehen bleiben und die Grund‑ lage für die im verwaltungsinternen Kontrollverfahren ggf. erneut vorzuneh‑ mende Gesamtbewertung bilden539. Soweit hiernach die Neubewertungs‑ verpflichtung des Prüfers im Überdenkungsverfahren auf den durch die substantiierten Einwendungen des Prüflings gezogenen Überprüfungsrahmen beschränkt ist, schließt dieser Befund nicht zugleich die Berechtigung des Prüfers aus, auch ohne ein entsprechendes Begehren des Prüflings Teile der Prüfungsleistung oder diese insgesamt erneut zu begutachten und / oder auf diese bezogene Kritikpunkte zu überprüfen, die der Prüfling gar nicht zur Disposition gestellt hat. Die Frage des Bestehens einer derart weit reichen‑ den Überprüfungsberechtigung des Prüfers ist für den Prüfling nur dann von Bedeutung, wenn aus dem umfänglicher als von ihm gewollt ausfallenden 538 Vgl. BayVGH, Bes. v. 04.12.1998 – 7 B 98.2422, juris, Rn. 12. Der Senat zieht allerdings nicht wie hier den Vergleich zu einer Erstbewertung, sondern zu einer Neubewertung, was aber nicht zutreffend erscheint. Denn auch bei einer Neu‑ bewertung durch den ursprünglichen Prüfer muss sich dieser nicht von vornherein mit der gesamten Prüfungsleistung befassen, sondern nur die als rechtsfehlerhaft beanstandeten Einzelbewertungen ergänzen und die neu vorzunehmenden Einzelbe‑ wertungen in die komplexen Erwägungen, auf denen das Bewertungsergebnis be‑ ruht, einpassen; siehe insbesondere BVerwG, Urt. v. 24.02.1993 – 6 C 38.92, Buch‑ holz, 421.0 Nr. 314, 272 (279). Eine „von Grund auf neue Bewertung“ muss nur der Prüfer vornehmen, der – etwa aufgrund von Befangenheit des ursprünglichen Kor‑ rektors – erstmals mit der (Neu-)Bewertung beauftragt wird, siehe BVerwG, Urt. v. 24.02.1993 – 6 C 38.92, Buchholz 421.0 Nr. 314, 272 (279); Urt. v. 10.10.2002 – 6 C 7/02, NJW 2003, 1063 (1063). 539 BayVGH, Urt. v. 22.10.1997 – 7 B 97.37.1137, BeckRS 1997, 19450; Bes. v. 04.12.1998 – 7 B 98.2422, juris, Rn. 12.
C. Voraussetzungen für die Einleitung des Überdenkungsverfahrens543
Neubewertungsvorgang neue, negative Kritikpunkte resultieren, mit denen der Prüfer seine Einschätzung rechtfertigt, dass er auch im Lichte der Ein‑ wendungen des Prüflings seine ursprüngliche und vom Prüfling beanstande‑ te (Gesamt‑)Bewertung (im Ergebnis) nach wie vor für zutreffend erachtet. In diesem Fall ist aus Sicht des insoweit benachteiligten Prüflings die Frage der Zulässigkeit des „Nachschiebens“ der neuen, weiteren Kritikpunkte aufgeworfen. Diese Problematik wird allgemein unter dem Aspekt der rechtlichen Mög‑ lichkeit erörtert, im Überdenkungsverfahren „verbösernde“ Bewertungen vorzunehmen, ohne dass dabei entsprechend der grundsätzlichen Diskussion der Zulässigkeit der reformatio in peius im Widerspruchsverfahren540 zwi‑ schen der erforderlichen Zuständigkeit des Prüfers für die umfassende(re), nachteilige Neubewertung und einer notwendigen materiell-rechtlichen Ab‑ änderungsbefugnis hinreichend differenziert wird541. Diese pauschale Be‑ trachtung vermag aber an dem Umstand nichts zu ändern, dass eine um‑ fängliche Überprüfungsberechtigung des Prüfers auch im Überdenkungsver‑ fahren rechtslogisch zwingend zunächst einmal eine entsprechende Überprü‑ fungskompetenz voraussetzt. Hierfür müsste die im Folgenden zu klärende Stellung des Prüfers im Überdenkungsverfahren entsprechend der ausdrück‑ lichen Annahme des Finanzgerichtes Berlin-Brandenburg542 mit derjenigen im ursprünglichen Bewertungsverfahren identisch sein. Zunächst sind nach den einschlägigen prüfungsrechtlichen Bestimmungen fraglos (allein) die bestellten Prüfer sachlich sowohl für die Erst- als auch etwaige Nach- / Neubewertungen der von den Prüflingen erbrachten Prü‑ fungsleistungen zuständig. Aus dieser sachlichen Zuständigkeit folgt im Rahmen des (erstmaligen) Bewertungsverfahrens ohne Weiteres auch die funktionelle Zuständigkeit eines jeden für den jeweiligen Prüfungsdurch‑ gang bestimmten Prüfers, von vornherein die gesamte Prüfungsleistung selbstständig und unabhängig zu bewerten. Im Rahmen der verwaltungsin‑ ternen Kontrolle der Prüfungsentscheidung ist der Prüfer aber nicht zur erstmaligen Bewertung der Prüfungsleistung berufen, sondern im Prinzip allein zum Überdenken der prüfungsspezifischen Bewertungen eingeschaltet und in dieser Funktion auf die Gewährung des kompensatorischen Rechts‑ 540 Siehe insoweit etwa Dolde/Porsch, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, § 68, Rn. 51, 49 f.; Geis, in: Sodan/Ziekow, VwGO, § 68, Rn. 229, 230 f.; Sachs, in: Stel‑ kens/Bonk/Sachs, VwVfG, § 48, Rn. 75; Kingreen, DÖV 2003, 1, (2, 5). 541 Siehe etwa FG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 10.09.2008 – 12 K 460/05, EFG 2009, 51(52 f.); Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 691 ff.; andererseits aber Kingreen, DÖV 2003, 1 (5). 542 FG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 10.09.2008 – 12 K 460/05, EFG 2009, 51 (52).
544 Kap. 7: Das verwaltungsinterne Kontrollverfahren (Überdenkungsverfahren)
schutzes beschränkt543, den das verwaltungsinterne Kontrollverfahren als Ausgleich für das infolge des Bewertungsspielraums des Prüfers entstehen‑ de Defizit der gerichtlichen Kontrolle der Prüfungsentscheidung bieten will und muss. Dabei ist die Prüfungsleistung – wie der Verfahrensgegenstand im Allgemeinen bei einer allein zur bloßen Rechtskontrolle berechtigten Widerspruchsbehörde544 – nur insoweit zur (erneuten) Begutachtung an den Prüfer herangetragen545, wie der Prüfling substantiierte Einwendungen ge‑ gen die Bewertung erhoben und mit diesen eine nochmalige Überprüfung der betroffenen Klausurabschnitte verlangt hat. Auch die Berechtigung des Prüfers, die ursprüngliche Bewertung zu überprüfen, geht damit nur so weit, wie dessen Verpflichtung reicht546. Dies bedeutet aber auch, dass der Prüf‑ ling selbst etwa mit einer Vielzahl von und unterschiedliche Bewertungs‑ komplexe erfassenden Einwendungen und / oder einer Infragestellung der vom Prüfer vorgenommen Gesamtabwägung der Prüfungsleistung den Weg für deren mehr oder weniger komplette Neubewertung frei machen kann und im Einzelfall auch machen wird. Im theoretischen Ausgangspunkt wie im praktischen Regelfall hat der Prüfer im Rahmen des Überdenkungsverfahrens aber nicht dieselbe verfah‑ rensrechtliche Stellung wie bei der Erstbewertung inne. Ebenso wie die Widerspruchsbehörde ihre funktionelle Zuständigkeit verletzt, wenn sie aus Anlass eines Widerspruchs über den durch das Vorverfahren gezogenen Rahmen hinaus tätig wird547, verletzt der Prüfer so betrachtet seine funkti‑ onelle Zuständigkeit, wenn er aus Anlass des Überdenkungsverfahrens über den durch den Prüfling gezogenen Überprüfungsrahmen hinaus tätig wird. Nach hier vertretener Auffassung ist es dem Prüfer daher bereits aus kom‑ petenziellen Gründen verwehrt, trotz Rücknahme vom Prüfling beanstande‑ ter Kritikpunkte eine Anhebung der Bewertung mit der Anbringung neuer Beanstandungen abzulehnen, die ihren Ursprung in dem Umfang einer durch die Einwendungen des Prüflings nicht veranlassten Neubewertung der Prüfungsleistung haben.
543 Vgl. zur möglichen landesrechtlichen Beschränkung der Widerspruchsbehör‑ de auf eine solche bloße Rechtsschutzfunktion im Allgemeinen Dolde/Porsch, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, § 68, Rn. 51. 544 Vgl. insoweit allgemein Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, § 48 Vw VfG, Rn. 75. 545 Vgl. insoweit allgemein Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, § 48 Vw VfG, Rn. 75. 546 Vgl. BayVGH, Bes. v. 04.12.1998 – 7 B 98.2422, juris, Rn. 12. 547 Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, § 44, Rn. 176.
C. Voraussetzungen für die Einleitung des Überdenkungsverfahrens545
4. Umfang und Grenzen der Neubewertungs- / Abänderungsbefugnis des Prüfers Die damit noch offen bleibende Frage, ob und inwieweit der Prüfer im Übrigen im Rahmen einer bestehenden Überprüfungskompetenz berechtigt ist548, die vorgenommenen Einzelbewertungen auch zum Nachteil des Prüf‑ lings abzuändern, wird wiederum pauschal unter dem Aspekt der Zulässig‑ keit der reformatio in peius im Überdenkungsverfahren erörtert549. Da sich der wahre psychische Überdenkens- bzw. (ergänzende) Entscheidungsfin‑ dungsprozess nicht aufdecken und demgemäß der Umfang der vom Prüfer vorgenommenen Neubewertung nur an dessen schriftlicher Dokumentation festmachen lässt, geht es dabei im Kern um die für den Prüfer bestehenden rechtlichen Möglichkeiten und Grenzen, die im Überdenkungsverfahren beibehaltene oder zulasten des Prüflings geänderte Bewertung auch mit negativen Kritikpunkten zu rechtfertigen, die (so) noch nicht schon Gegen‑ stand der angegriffenen ursprünglichen Bewertungsbegründung gewesen sind. Solange aufgrund des „Nachschiebens“ neuer, weiterer Kritikpunkte bzw. ergänzender Bewertungsgründe nur die ursprüngliche Bewertung der Prü‑ fungsleistung – nunmehr mit geänderter Begründung – beibehalten, die Note aber nicht zulasten des Prüflings geändert wird, ist klarzustellen, dass sich dann die Frage der Zulässigkeit eines solchen Vorgehens nicht unter dem Aspekt der „reformatio in peius“ im engeren Sinne stellt. Denn eine „reformatio in peius“ setzt eine tatsächliche Schlechterstellung des Betrof‑ fenen durch eine Verböserung des Regelungsgehaltes des Verwaltungsaktes voraus; die Änderung der Begründung des Verwaltungsaktes zulasten des Widerspruchsführers reicht also nicht aus550. Soweit sich der Prüfling gegen das Nichtbestehen der Prüfung wendet, liegt demnach selbst bei einer Ab‑ änderung der Bepunktung / Benotung einer einzelnen Prüfungsleistung man‑ gels Regelungscharakters derselben keine „reformatio in peius“ im „klassi‑ schen“ Sinne vor. Bei einer entsprechenden Anwendung dieser Rechtsfigur bzw. der zu ihrer Behandlung erarbeiteten Grundsätze wäre zwischen einer „relativen Verböserung“ im Sinne einer bloßen Änderung der Begründung der ursprünglichen und beibehaltenen Bewertung und einer „absoluten Ver‑ böserung“ im Überdenkungsverfahren durch eine Absenkung der Punktzahl 548 Dass die materiell-rechtliche Neubewertungsbefugnis des Prüfers nicht weiter reichen kann als seine beschränkte Überprüfungskompetenz, liegt auf der Hand. 549 FG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 10.09.2008 – 12 K 460/05, EFG 2009, 51 (52 f.); Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 797, 691 ff.; Lindner, SchulVw BY 2000, 114 (114); Lampe, S. 159 f. 550 Dolde/Porsch, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, § 68, Rn. 47; Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, § 48, Rn. 76; Kingreeen, DÖV 2003, 1 (2).
546 Kap. 7: Das verwaltungsinterne Kontrollverfahren (Überdenkungsverfahren)
oder gar Änderung der Notenstufe als Folge eines neuen – in der Stellung‑ nahme des Prüfers dargelegten – Gesamtabwägungsergebnisses zu differen‑ zieren551. Die Erkenntnis, dass der Prüfer sowohl für die Änderung des (Regelungs‑)Inhalts der ursprünglich getroffenen Entscheidung als auch für deren Begründung einer materiell-rechtlichen Befugnis bedarf552, kann aller‑ dings auch ohne Einordnung dieser Verschlechterungsvarianten in die allge‑ meine Problematik der reformatio in peius im Widerspruchsverfahren schlicht durch die Beachtung des verfassungsrechtlichen Prinzips des Vor‑ behalts des Gesetzes (Art. 20 Abs. 3 GG) gewonnen werden. Ausgehend von dieser Notwendigkeit ist zunächst die Feststellung zu treffen, dass die Befugnisse des Prüfers im Rahmen des Überdenkungsverfahrens nicht spe‑ ziell geregelt und daher auch nicht ausdrücklich gegenüber denjenigen im Rahmen der erstmaligen Bewertung begrenzt sind. Die Bestimmung der Rechtsmacht, über die der Prüfer im Überdenkungs‑ verfahren verfügt, muss daher anhand der einschlägigen verfassungsrechtli‑ chen Determinanten erfolgen, auf die sich einerseits in ihrer subjektivrechtlichen Ausprägung der das Bewertungsergebnis anfechtende Prüfling berufen kann und die andererseits auch in ihrer objektiv-rechtlichen Dimen‑ sion vom Prüfer beim Überdenken zu beachten sind. Von maßgeblicher Bedeutung ist insoweit zunächst der mit diametraler Steuerungswirkung ausgestattete, aus den Art. 12 Abs. 1 Satz 1, 3 Abs. 1 Satz 1 GG folgende Grundsatz der Chancengleichheit, der auch im Verfahren der Leistungsbe‑ wertung Geltung beansprucht553. Aus dieser abstrakten Gewährleistung las‑ sen sich nach der Grundsatzentscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes zur Reichweite des Verschlechterungsverbots im Prüfungsverfahren bei der Neubewertung einer Prüfungsleistung konkret die nachfolgenden Beschrän‑ kungen für die Neubewertungs- / Abänderungsbefugnisse des Prüfers ablei‑ ten: Die anlässlich der Neubewertung nachgeschobenen Erwägungen des Prüfers dürften nicht auf einer gleichheitswidrigen Änderung der Prüfungs‑ praxis beruhen554. Dem Prüfer soll es hiernach insbesondere verwehrt sein, neue fachliche Einwände in Bezug auf die Prüfungsleistung zu erheben, die ersichtlich nur erfolgen, um eine Verbesserung der Bewertung auszuschlie‑ ßen und in diesem Sinne als beliebig erscheinen555. Vor allem aber soll er daran gehindert sein, mit demselben Ziel nachträglich sein Bewertungssys‑ tem zulasten des Prüflings zu ändern, das nach dem Bundesverwaltungsge‑ 551 Haase,
in: Johlen/Oerder, MAH VerwR, § 16, Rn. 196. ausdrücklich nur Kingreen, DÖV 2003, 1 (5); im Ansatz Niehues/Fischer/ Jeremias, Rn. 691 f. 553 BVerwGE 109, 211 (216). 554 BVerwGE 109, 211 (218). 555 BVerwGE 109, 211 (218). 552 So
C. Voraussetzungen für die Einleitung des Überdenkungsverfahrens547
richt aber nur diejenigen Bewertungskriterien umfasst, die in den Bewer‑ tungsspielraum der Prüfer fallen556. Dabei soll dem Prüfer insbesondere eine abweichende Gewichtung der Vorzüge und Mängel im Rahmen der erneuten Durchsicht der Prüfungsarbeit versagt bleiben557. Die vorstehenden Grundsätze, die das Bundesverwaltungsgericht ausdrücklich nur für die Neubewertung einer Prüfungsleistung in Umsetzung eines entsprechenden verwaltungsgerichtlichen Urteils aufgestellt hat, sind auch in der instanzge‑ richtlichen Rechtsprechung und der Literatur anerkannt558. Darüber hinaus werden sie auch zur Begrenzung der Überprüfungs- und Abänderungsbefug‑ nisse des Prüfers im Überdenkungsverfahren herangezogen559. Daraus ergibt sich zusammengefasst, dass der Einwendungen gegen die Bewertung seiner Prüfungsleistung erhebende Prüfling vom Prüfer verlangen kann, dass dieser (auch) im Rahmen des Verfahrens des Überdenkens dieselben fachlichen Bewertungsmaßstäbe und prüfungsspezifischen Abwägungskriterien zur Anwendung bringt wie bei der Erstbewertung seiner Prüfungsleistung und derjenigen aller anderen Kandidaten desselben Prüfungsdurchgangs. Dass dieser materiell-rechtliche Ansatz zutreffend und ihm daher zu folgen ist, lässt sich durch den zusätzlichen Hinweis belegen, dass einer auf den Ein‑ zelfall beschränkten Abänderung der bisherigen Bewertungsmaßstäbe nicht nur der Chancengleichheitsgrundsatz, sondern vor allen Dingen auch das Willkürverbot entgegensteht. Da diese den Handlungsspielraum des Prüfers verengenden Bestimmungsfaktoren jeweils verfassungsrechtlichen Ursprungs sind, begegnet es auch keinen ernsthaften Zweifeln, dass sie bei jeder Neu‑ bewertung auf Beachtung drängen. Auf der Grundlage der vorstehenden Prämissen sind im Grundsatz auch anlässlich des Überdenkens der Bewertung neu angestellte und in der schrift‑ lichen Stellungnahme zu den Einwendungen des Prüflings dokumentierte Erwägungen nicht zu beanstanden, sofern diese keinen Rückschluss darauf zulassen, dass sie auf einer Änderung der bisherigen Bewertungsmaßstäbe beruhen. Demnach kann es zunächst in Übereinstimmung namentlich mit 556 BVerwGE
109, 211 (216). 109, 211 (216). 558 VG München, Urt. v. 14.07.2004 – M 27 K 03.1773, juris, Rn. 44 f.; VG Ansbach, Urt. v. 14.05.2013 – AN 2 K 11.01975, juris, Rn. 33 ff.; Haase, in: Johlen/ Oerder, MAH VerwR, § 16, Rn. 223, 225; Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 691 ff., 797 ff.; Lampe, S. 159 f.; v. Golitschek, BayVBl. 1994, 257 (263); siehe auch Zimmerling/Brehm, Der Prüfungsprozess, Rn. 285 f.; i. E. auch Lindner, SchulVw BY 2000, 114 (114). 559 VGH Mannheim, Urt. v. 16.02.2009 – 4 S 1071/08, juris, Rn. 32; FG BerlinBrandenburg, Urt. v. 10.09.2008 – 12 K 460/05, EFG 2009, 51 (52); VG Bayreuth, Urt. v. 07.12.2009 – B 3 K 08.3, juris, Rn. 44; Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 797; v. Golitschek, BayVBl. 1994, 257 (263). 557 BVerwGE
548 Kap. 7: Das verwaltungsinterne Kontrollverfahren (Überdenkungsverfahren)
dem Bundesverwaltungsgericht im Grundsatz als prüfungsrechtlich unbe‑ denklich angesehen werden, wenn der Prüfer in seiner Einwendungsreplik das Ergebnis einer dem Einwendungsbegehren des Prüflings entsprechenden erstmaligen Begutachtung einer Teilleistung darlegt560, die der Prüfer auf‑ grund eines Sachverhaltsirrtums bei der Erstbewertung schlicht übersehen oder wegen eines zu Unrecht bereits für verfehlt gehaltenen rechtlichen An‑ satzes im Rechtsgutachten zunächst nicht näher in den Blick genommen hat561. In diesem Fall nimmt der Prüfer nämlich im formellen Stadium des Überdenkens materiell eine mit den entsprechenden weiter gehenden Be‑ rechtigungen verbundene Erstbewertung vor. Geht aus diesem Bewertungs‑ vorgang trotz Rücknahme des beanstandeten Kritikpunktes eine neue negati‑ ve Einzelbewertung und folglich ein unverändertes oder für den Prüfling sogar ungünstigeres Gesamtabwägungsergebnis hervor, begründet dieses für ihn keine unzulässige Benachteiligung, wenn der Prüfer die zunächst außer Acht gelassenen Ausführungen des Prüflings an seinen ursprünglichen fach‑ spezifischen Bewertungs- und prüfungsspezifischen Abwägungskriterien ge‑ messen hat. Bei gleichbleibender (Punkt‑)Bewertung ist dann lediglich eine Begünstigung ausgeblieben, die sich der Prüfling als Ausgang des Neube‑ wertungsvorgangs erhofft hat. Da mit diesem Ergebnis also keine Ver‑ schlechterung seiner Rechtsposition einhergeht, ist es folglich auch nicht weiter rechtfertigungsbedürftig. Sofern die neuen Begründungserwägungen dieses widerspiegeln, liegt, ohne dass es eines näheren Eingehens auf diese Rechtsfigur bedürfte, bereits kein Nachschieben von Gründen vor, weil der Prüfer zwar die Begründung für das Gesamtergebnis abändert, im Übrigen aber das bislang noch ausstehende Ergebnis der Bewertung einer Teilleistung entsprechend der ihn treffenden Pflicht erstmals begründet. Des Weiteren bewegt sich der Prüfer im Rahmen des Überdenkungsver‑ fahrens zunächst dann zweifelsfrei innerhalb seiner Befugnisse, wenn er in seiner Stellungnahme zu den Einwendungen des Prüflings lediglich die Anwendung seiner der Erstbewertung zugrunde liegenden Bewertungsmaß‑ stäbe näher erläutert. Demgemäß hat das Bundesverwaltungsgericht in Fortführung seiner aufgezeigten Rechtsprechung sowohl die Erläuterung einer objektiv mehrdeutigen Einzelbewertung562 als auch die Klarstellung einer im Ergebnis eindeutigen Einzelbewertung, die nur in ihren Grundlagen der Erläuterung bedurfte, ohne Weiteres für zulässig erklärt563. Sofern im Rahmen solcher Erläuterungen die vom Prüfling als unklar gerügten Kritik‑ 560 Zu Recht den Aspekt der erstmaligen Begutachtung betonend Zimmerling/ Brehm, Der Prüfungsprozess, Rn. 286. 561 BVerwGE 109, 211 (218). 562 BVerwG, Bes. v. 30.03.2000 – 6 B 8/00, NVwZ-RR 2000, 503 (503). 563 BVerwG, Bes. v. 01.03.2001 – 6 B 6/01, NVwZ 2001, 922 (923).
C. Voraussetzungen für die Einleitung des Überdenkungsverfahrens549
punkte in ihrem Kern erhalten bleiben, ist dieser Rechtsauffassung des Bundesverwaltungsgerichtes zuzustimmen, weil der Prüfer in diesem Fall nur punktuell den Anspruch des Prüflings auf eine durchgängig schlüssige und nachvollziehbare Bewertungsbegründung nacherfüllt. Gleichfalls keinen Anlass zur Beanstandung bietet demnach auch eine vom Prüfer vorgenommene Präzisierung der bereits die tragenden Erwägun‑ gen der Bewertung offenlegenden und damit ausreichenden Erstbegründung, mit der er allein seiner Pflicht zur Bescheidung der zurückgewiesenen Ein‑ wände des Prüflings im Überdenkungsverfahren nachkommt. Denn die Er‑ füllung der Bescheidungspflicht, die den Prüfer wie dargelegt dazu anhält, die maßgeblichen Gründe dafür darzulegen, weshalb er auch im Lichte der Einwendungen des Prüfling an seiner Bewertung festhält, geht im Regelfall notwendigerweise mit einer näheren Erläuterung und partiellen Ergänzung der angegriffenen Kritikpunkte einher564. Diese Bewertungspräzisierungen erfüllen bei Aufrechterhaltung der Bewertung eine unerlässliche Befrie‑ dungsfunktion und liegen damit jedenfalls im mittelbaren Interesse des Prüflings565. Solange der Prüfer – ausgehend von einer ausreichenden Erstbegründung – lediglich einzelne Korrekturanmerkungen präzisiert und bei mangelnder Eindeutigkeit klarstellt, liegt demnach bereits rechtsbegriff‑ lich kein „Nachschieben von Gründen“ vor566. Dieses setzt nämlich defini‑ torisch voraus, dass der Prüfer die Ursprungsbegründung um Kritikpunkte ergänzt, die dort nicht schon im Kern angelegt waren und damit für die Bewertung tatsächlich nicht maßgebend gewesen sind567. Nach alledem liegt ein „Nachschieben von Gründen“ im eigentlichen Sinne nur vor, wenn ein im Rahmen der Erstbegründung noch nicht ange‑ legter Kritikpunkt angeführt wird, dessen Erhebung nicht die Folge der Rücknahme eines als unberechtigt erkannten Kritikpunktes und der erstma‑ ligen Bewertung einer bislang unberücksichtigt gebliebenen Teilleistung ist. Es handelt sich um solche fachlichen Mängel, die dem Prüfer anlässlich bzw. bei Gelegenheit der in Folge der Rücknahme eines Kritikpunktes er‑ forderlich gewordenen Neubewertung ins Auge springen, die er aber im 564 Vgl. BayVGH, Urt. v. 12.04.2000 – 7 B 99.1899, BayVBl. 2001, 51 (51); Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 693, die allerdings mindestens missverständlich von der nicht vorliegenden „Verschlechterung der Begründung“ sprechen. 565 VGH Mannheim, Urt. v. 16.02.2009 – 4 S 1071/08, juris, Rn. 32; siehe auch BayVGH, Urt. v. 14.04.2000 – 7 B 99.1899, BayVBl. 2001, 51 (51). 566 BayVGH, Urt. v. 14.04.2000 – 7 B 99.1899, BayVBl. 2001, 51 (51 f.); VGH Mannheim, Urt. v. 16.02.2009 – 4 S 1071/08, juris, Rn. 33. 567 VGH Mannheim, Urt. v. 16.02.2009 – 4 S 1071/08, juris, Rn. 32; exempla‑ risch insoweit der der Entscheidung des OVG Münster, Urt. v. 16.07.1992 – 22 A 2549/91, NWVBl. 1992, 429 (429, 431), zugrunde liegende Sachverhalt; allgemein Kischel, S. 180.
550 Kap. 7: Das verwaltungsinterne Kontrollverfahren (Überdenkungsverfahren)
Rahmen der Erstkorrektur nicht festgestellt hat568. Eine solche „Gelegen‑ heitskritik“ kann in verschiedenen Facetten auftreten. Ausgeklammert wer‑ den kann dabei im gegebenen Kontext die Fallgruppe, in welcher der Prüfer eine Anhebung der Bewertung trotz Rücknahme eines Kritikpunktes mit der Anführung neuer fachlicher Mängel ablehnt, die er im Rahmen einer durch die Einwendungen des Prüflings nicht veranlassten Überprüfung der bishe‑ rigen Bewertung festgestellt hat. Denn in diesem Fall ist die neue Beanstan‑ dung nach den obigen Darlegungen zur Reichweite der Überprüfungsbe‑ rechtigung des Prüfers bereits kompetenzwidrig zustande gekommen569. Klärungsbedürftig ist daher nur die Zulässigkeit von Gelegenheitskritik in‑ nerhalb einer bestehenden Überprüfungskompetenz, wobei innerhalb dieser Fallgruppe wiederum danach unterschieden werden kann, ob die neuen Kritikpunkte allein darauf beruhen, dass der Prüfer zulasten des Einwendun‑ gen gegen die Bewertung seiner Prüfungsleistungen erhebenden Prüflings einen neuen, verschärften Bewertungsmaßstab anlegt, oder das bloße Ergeb‑ nis der korrekten Anwendung desjenigen Bewertungsmaßstabs darstellt, an dem auch die Prüfungsleistungen aller anderen Prüflinge gemessen worden sind. Nach den bisherigen Darlegungen ist das Vorgehen des Prüfers in der ersten Fallvariante als offenkundig unzulässig anzusehen570, weil hier unter gleichheitswidriger Änderung des bisherigen Bewertungsmaßstabs Gründe für die Beibehaltung des bisherigen Bewertungsergebnisses angeführt wer‑ den, die erkennbar nicht aus demjenigen Bewertungsvorgang hergeleitet worden sind571, der infolge der gebotenen Rücknahme eines Kritikpunk‑ tes572 erforderlich geworden ist573, und deshalb im Sinne der Rechtspre‑ chung des Bundesverwaltungsgerichtes als beliebig anzusehen sind. Diese Ergebnisevidenz mag der Grund dafür sein, dass in der Diskussion um die Zulässigkeit der Gelegenheitskritik eine Differenzierung im vorste‑ henden Sinne weitgehend unterbleibt. Im Übrigen stellt sich diese wie folgt dar: Das Bundesverwaltungsgericht hat die Gelegenheitskritik von der Reichweite des Verschlechterungsverbots ausdrücklich ausgenommen und Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 695. Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 695. 570 Siehe auch Zimmerling/Brehm, Der Prüfungsprozess, Rn. 287. 571 So zutreffend VGH Mannheim, Urt. v. 16.02.2009 – 4 S 1071/08, Rn. 32. 572 Siehe insoweit BVerwGE 109, 211 (218): „…, so stellen sie sich [scil. die Einwendungen = neuen Kritikpunkte] lediglich als Folge der Rücknahme der ur‑ sprünglichen Kritik dar“. 573 Ähnlich VG München, Urt. v. 12.07.2005 – M 4 K 04.4143, juris, Rn. 26 ff., insbesondere Rn. 31: „Auch dieser Kritikpunkt ist völlig neu und durfte anlässlich einer bloßen Korrektur der früheren Begründungsmängel nicht in die Bewertung mit aufgenommen werden“; siehe auch Haase, in: Johlen/Oerder, MAH VerwR, § 16, Rn. 225. 568 Vgl.
569 Weitherziger
C. Voraussetzungen für die Einleitung des Überdenkungsverfahrens551
zur Lösung dieser Problematik auf die Maßgeblichkeit von Erwägungen des Vertrauensschutzes verwiesen574. Daran anknüpfend wird in der instanzge‑ richtlichen Rechtsprechung und in der Literatur der Prüfer überwiegend für berechtigt gehalten, bei der Erstbewertung noch übersehene und im Über‑ denkungsverfahren erstmals festgestellte fachliche Mängel in die (neue) Gesamtabwägung einzustellen575. Der maßgebliche Legitimationsgrund da‑ für soll dabei nach einer Ansicht im Chancengleichheitsgrundsatz wurzeln, der den Prüfer dazu verpflichte, alle Prüfungsleistungen leistungsgerecht zu beurteilen576, nach anderer Auffassung sei die Berechtigung des Prüfers zur Gelegenheitskritik der Selbstkontroll- und Entlastungsfunktion des Wider‑ spruchsverfahrens zu entnehmen, das eine umfassende Rechtmäßigkeitskon‑ trolle in fachwissenschaftlichen Fragen rechtfertige577. Wiederum überein‑ stimmend wird aber davon ausgegangen, dass die Zulässigkeit der Berück‑ sichtigung der erstmals aufgefallenen Mängel unter dem Vorbehalt entge‑ genstehender Gesichtspunkte des Vertrauensschutzes steht578, ohne dass damit die für die Berücksichtigungsfähigkeit von Gelegenheitskritik abstrakt markierte Grenze näher konkretisiert wird. Richtigerweise kann diese allein durch die eingangs dargestellten maß‑ geblichen verfassungsrechtlichen Determinanten gezogen werden. Ein An‑ spruch des Prüflings auf Beibehaltung eines dem Prüfer unterlaufenen Korrekturfehlers lässt sich aber aus den Art. 12 Abs. 1 Satz 1, 19 Abs. 4 Satz 1 GG zweifelsfrei bereits nicht ableiten. Andererseits fordert aber der Grundsatz der Chancengleichheit in seiner objektiv-rechtlichen Dimension unter dem Gesichtspunkt der gleichmäßigen Bewertung aller Kandidaten ebenso deutlich eine Anpassung der Bewertung. Sofern der Prüfling (auch) darauf vertraut haben sollte, dass der Prüfer seine ursprüngliche Begrün‑ dung nicht um neue negative Kritikpunkte ergänzt und in diesem Sinne die Negativkritik in ihrem bisherigen Bestand erhalten bleibt, ist dieses Vertrau‑ en bereits aus den vorstehenden Gründen nicht schutzwürdig. Soweit der Prüfling im Übrigen mit seinen Einwendungen den Weg frei gemacht hat für eine – wenn auch auf Teilbereiche begrenzte – erneute Befassung des Prüfers mit seiner Prüfungsleistung, muss er damit rechnen, dass dieser ei‑ nen im Zuge dessen aufgefallenen Korrekturmangel zu seinen Ungunsten berücksichtigt. Das Vorgehen des Prüfers in der zweiten Fallvariante der 574 BVerwGE,
109, 211 (216 f.). Berlin-Brandenburg, Urt. v. 10.09.2008 – 12 K 460/05, EFG 2009, 51 (52); Lindner, SchVw BY 2000, 114 (114); Kingreen, DÖV 2003, 1 (9); Niehues/ Fischer/Jeremias, Rn. 695; anders Haase, in: Johlen/Oerder, MAH VerwR, § 16, Rn. 225; Schnellenbach, in: Hartmut/Detmer, HSchRG, Kapitel XII, Rn. 40. 576 Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 695. 577 Kingreen, DÖV 2003, 1 (8 f.). 578 Kingreen, DÖV 2003, 1 (9); Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 695. 575 FG
552 Kap. 7: Das verwaltungsinterne Kontrollverfahren (Überdenkungsverfahren)
Gelegenheitskritik ist umso weniger zu beanstanden, als er hier – ebenso wie bei der infolge eines Bewertungsfehlers gänzlich unterbliebenen Bewer‑ tung einer Teilleistung – allein seiner Verpflichtung zur rechtsfehlerfreien Bewertung der Prüfungsleistung nachkommt. Da der Prüfer diese bereits bei der erstmaligen Befassung mit der Prüfungsarbeit hätte erfüllen können und müssen, steht der Prüfling mit dem Ergebnis des Überdenkens ebenso da wie es sich bei der ordnungsgemäßen Erstbewertung dargestellt hätte, so dass er durch dieses nicht beschwert sein kann. Zuzustimmen ist daher im Ergebnis der vorherrschenden Annahme, nach der von einer grundsätzlichen Befugnis des Prüfers ausgegangen wird, im Zuge des Überdenkens erstmals aufgedeckte Mängel zulasten des Prüflings in der Gesamtbewertung zu berücksichtigen. Unbeschadet dieses Rechtsstandpunktes genießt der Prüfling aber auf der Grundlage der bisherigen Erkenntnisse Bestandsschutz hinsichtlich derjeni‑ gen positiven fachlichen Einschätzungen, die außerhalb der im Überden‑ kungsverfahren beschränkten Überprüfungskompetenz des Prüfers liegen und innerhalb derselben bezüglich derjenigen, die auf einer richtigen und gleichmäßigen Anwendung der maßgeblichen Bewertungsmaßstäbe beru‑ hen579. Gelangt der Prüfer im Rahmen des Überdenkens der Bewertung zu der Erkenntnis, dass ein vom Prüfling monierter fachlicher Kritikpunkt tatsächlich unberechtigt ist, so muss er daher unter Übernahme der den Prüfling begünstigenden und dem Bestandsschutz unterliegenden fachlichen Einschätzungen seine Bewertung durch die Korrektur der als rechtsfehler‑ haft beanstandeten Einzelwertung ergänzen und die neu vorzunehmende Wertung in die komplexen Erwägungen einpassen, auf denen sein (ur‑ sprüngliches) Bewertungsergebnis beruht580. Er muss mit anderen Worten prüfen, ob er seine Gesamtbewertung nach der erforderlichen neuen Abwä‑ gung der verschiedenen Einzelbewertungen – die nun einen Kritikpunkt weniger enthalten – (noch) aufrechterhalten kann581. Sofern bei oder an‑ lässlich der – infolge eines bei der Erstbewertung unterlaufenen Korrektur‑ mangels erforderlich gewordenen – partiellen Neubewertung keine für den Prüfer neuen fachspezifischen Mängel der Prüfungsleistung offenbar wer‑ 579 Siehe zum Gedanken des Bestandsschutzes unter dem Aspekt des Verschlech‑ terungsverbots bei der prüfungsrechtlichen Verbesserungsklage OVG Münster, Urt. v. 16.07.1992 – 22 A 2549/91, NWVBl. 1992, 429 (430); VG München, Urt. v. 14.07.2004 – M 27 K 03.1773, Rn. 45. 580 BVerwG, Urt. v. 24.02.1993 – 6 C 38.92, Buchholz, 421.0 Nr. 314, 272 (279); VG München, Urt. v. 12.07.2005 – M 4 K 04.4143, juris, Rn. 25; Haase, in: Johlen/Oerder, MAH VerwR, § 16, Rn. 223; Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 693, Zimmerling/Brehm, Prüfungsprozess, Rn. 285. 581 Vgl. BVerwG, Urt. v. 24.02.1993 – 6 C 38.92, Buchholz, 421.0 Nr. 314, 272 (280).
C. Voraussetzungen für die Einleitung des Überdenkungsverfahrens553
den, kann diese grundsätzlich zu keinem ungünstigeren als dem bisherigen Abwägungsergebnis führen, da dies nur über eine Änderung der bisherigen Gewichtungs- und Abwägungsfaktoren erreicht werden könnte, hinsichtlich derer der Prüfling aber im Prinzip einen uneingeschränkten Bestandsschutz genießt582. Eine Ausnahme ist für den bisher unberücksichtigten Fall anzu‑ nehmen, dass der Prüfer die im Rahmen des Bewertungsvorgangs erforder‑ lichen Gewichtungen und Abwägungen innerhalb eines Bewertungsrasters mathematisch vorgenommen hat und im Rahmen der durch die Einwendun‑ gen des Prüflings veranlassten Überprüfung desselben einen Rechenfehler feststellt, dessen Korrektur zu einem ungünstigeren Abwägungsergebnis führt. Hierzu ist der Prüfer ebenso berechtigt und verpflichtet wie zur Be‑ rücksichtigung eines erstmals festgestellten und auch bei allen anderen Prüflingen berücksichtigten fachlichen Mangels. Im Übrigen aber kann sich ein Gesamtabwägungsergebnis, das für den Prüfling nachteiliger als bisher ausfällt, nur dann ergeben, wenn der Prüfer bei der partiellen Neubewertung mindestens einen neuen fachlichen Mangel feststellt, der so schwer wiegt, dass er die mit der Rücknahme der nachteiligen Einzelbewertung einherge‑ hende qualitative Aufwertung des Abwägungsmaterials nicht nur egalisiert, sondern im Ergebnis sogar zu einer Minderung der brauchbaren Substanz führt. Die sich daran notwendigerweise anschließenden Fragen, ob der Prüfer im Weiteren auch zu einer Abänderung der ursprünglichen Einzelnote und das Prüfungsamt zu einer entsprechenden Korrektur des bisherigen Gesamt‑ ergebnisses berechtigt ist, werden in der Diskussion um die Zulässigkeit der reformatio in peius zumeist miteinander vermengt und divergent beantwor‑ tet583. Richtigerweise ist aber eine differenzierte Betrachtung dieser beiden rechtlichen Aspekte vorzunehmen und hier zunächst die Zulässigkeit einer Abänderung der Einzelnote durch den Prüfer zu klären. Soweit man dessen Befugnis annimmt, unter den dargestellten Voraussetzungen fachliche Kri‑ tikpunkte auch mit der Konsequenz einer Änderung des bisherigen Ge‑ samtabwägungsergebnisses als Ergebnis des erneuten Abwägungsprozesses nachzuschieben, erscheint die Annahme einer Berechtigung zur Abänderung der ursprünglich vergebenen Note nur als weiteres Glied einer logischen Gedankenkette. Der Grundsatz der Chancengleichheit steht aus der Perspek‑ tive des anfechtenden Prüflings einer solchen Verschlechterung seiner 582 Vgl.
BVerwGE 109, 211 (216). (dafür): Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 797, 691 ff.; Kingreen, DÖV 2003, 1 (9); (dagegen) FG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 10.09.2008 – 12 K 460/05, EFG 2009, 51 (52, dann offenlassend auf S. 53); Lindner, SchVw BY 2000, 114 (114); siehe auch v. Golitschek, BayVBl. 1994, 257 (263), der allerdings die refor‑ matio in peius nur unter dem Gesichtspunkt einer Änderung des Bewertungssystems erörtert; ebenso Lampe, S. 159 f. 583 Siehe
554 Kap. 7: Das verwaltungsinterne Kontrollverfahren (Überdenkungsverfahren)
Rechtsposition jedenfalls dann nicht entgegen, wenn auch bei allen anderen Prüflingen bei einem vergleichbaren Abwägungsergebnis dieselbe Note ver‑ geben worden ist. Wenn der Prüfling davon ausgegangen ist, dass es im Überdenkungsverfahren zu keiner Verschlechterung der Note kommen kann, ist dieses Vertrauen in den Fortbestand der Note bereits deshalb nicht schutzwürdig, weil der Prüfling selbst sie durch ihre Anfechtung zur Dispo‑ sition gestellt hat584. 5. Abschluss des Überdenkungs- / Widerspruchsverfahrens Sobald die Prüfer ihre Stellungnahmen zu dem (Widerspruchs‑)Vorbringen des Prüflings abgegeben haben, muss das Prüfungsamt vor einer Beschei‑ dung des Widerspruchs zunächst kontrollieren, ob das damit (vorläufig) abgeschlossene Überdenkungsverfahren ordnungsgemäß durchgeführt wor‑ den ist. Dabei muss es konkret untersuchen, ob die Prüfer sich mit sämtli‑ chen substantiierten Einwendungen des Prüflings im ausreichenden Umfang auseinandergesetzt und bei einer etwaigen Neubewertung der Prüfungsleis‑ tung die ihnen dabei gesetzten Grenzen beachtet haben. Sofern das Prü‑ fungsamt in dieser Hinsicht Anlass für Beanstandungen sieht, muss es die bisherigen Prüfer zu einer ergänzenden Stellungnahme und / oder zu einer Neubewertung der Prüfungsleistung unter Beachtung seiner Rechtsauffas‑ sung auffordern. Sollten sich allerdings aus der Art und Weise der (Nicht‑)Behandlung der vom Prüfling im Rahmen des Überdenkungsverfah‑ rens geltend gemachten Einwendungen bzw. aus dem Umgang der Prüfer mit den ihnen vorgehaltenen Fehlern Anhaltspunkte für deren Befangenheit ergeben585, muss das Prüfungsamt ausnahmsweise andere Prüfer mit dem Überdenken der Bewertung bzw. der Neubewertung der Prüfungsleistung beauftragen. Wenn die Stellungnahmen der Prüfer keine Rechtsfehler erken‑ nen lassen, ist auf deren Grundlage über den Widerspruch des Prüflings bzw. die Aufrechterhaltung oder Abänderung des ursprünglichen Prüfungs‑ bescheides zu entscheiden. 584 Allgemein hierzu VG Würzburg, Urt. v. 03.12.2012 – W 5 K 11.983, juris, Rn. 57; Geis, in: Sodan/Ziekow, VwGO, § 68, Rn. 226; a. A. Lindner, SchVw BY 2000, 114 (114). 585 Vgl. näher zu den Voraussetzungen für die Annahme der Befangenheit nach einer erneuten Bewertung/dem Überdenken der Prüfungsleistung BVerwG, Urt. v. 04.05.1999 – 6 C 13/98, NVwZ 2000, 915 (921); BayVGH, Bes. v. 14.12.2010 – 7 ZB 10.2108, juris, Rn. 9; VG Stuttgart, Urt. v. 12.08.2009 – 12 K 2406/08, juris, Rn. 60; VG München, Urt. v. 24.09.2007 – M 3 K 07.1919, juris, Rn. 28 (bemer‑ kenswerter Fall!); Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 343 f.; Löwer/Linke, WissR 30 (1997), 128 (137); speziell zur Annahme der Befangenheit beim Übergehen von Einwendungen des Prüflings siehe VG Dresden, Urt. v. 10.11.2004 – 5 K 1034/02, juris, Rn. 48; VG Ansbach, Urt. v. 04.08.2011 – AN 2 K 10.01591, juris, Rn. 52.
C. Voraussetzungen für die Einleitung des Überdenkungsverfahrens555
Dabei stellt sich im Falle einer seitens der Prüfer erfolgten Abänderung der Einzelnote dann die bereits aufgeworfene Frage, ob das Prüfungsamt dementsprechend in einem neuen Prüfungsbescheid ein entsprechend geän‑ dertes Gesamtprüfungsergebnis ausweisen darf oder gar muss. Rechtlich weitgehend unproblematisch stellt sich eine solche Änderung dar, wenn der Prüfling auf der Grundlage der erzielten Einzelleistungen die Prüfung nach wie vor nicht bestanden hat und damit nicht die allein in der Feststel‑ lung des Nichtbestehens regelnde Wirkung des Bescheides, sondern nur dessen Begründung durch die Ausweisung der geänderten Einzelnote geän‑ dert wird. Hier erfährt der Prüfling im Ergebnis keine Verschlechterung seiner bisherigen Rechtsstellung, es bleibt vielmehr nur deren erhoffte Verbesserung aus. Die Änderung des Gesamtprüfungsergebnisses einer (ur‑ sprünglich) bestandenen Prüfung führt allerdings – sofern sie im Rahmen des Widerspruchsverfahrens erfolgt – zu einer „echten“ reformatio in peius und in jedem Fall zu einer negativen Veränderung des status quo. Gleich‑ wohl streiten auch hier diejenigen Grundsätze, mit denen bereits die Abän‑ derung einer Einzelnote gerechtfertigt worden ist, im Prinzip für die Zuläs‑ sigkeit einer Abänderung des bisherigen Gesamtprüfungsergebnisses als das letzte logische Glied der aufgezeigten Gedankenkette. Hinzu kommt, dass es aus dem Blickwinkel des Prüfungsamtes im Hinblick auf die Rele‑ vanz der Abschlussnote für den Berufszugang verfassungsrechtlich geboten erscheinen mag, zur Wiederherstellung der Chancengleichheit der anderen Prüflinge dem Widersprechenden durch die Korrektur der falschen Note den ihm durch deren Erteilung verschafften ungerechtfertigten Wettbe‑ werbsvorteil wieder zu entziehen. Auf der anderen Seite ist das Interesse des Prüflings an einer Aufrechterhaltung seines bisherigen Gesamtprü‑ fungsergebnisses namentlich dann unabweisbar, wenn er auf der Grundlage desselben bereits berufliche Dispositionen getroffen hat und die Notenver‑ schlechterung zum nachträglichen Wegfall von Einstellungsvoraussetzungen führen würde586. In welcher Art und Weise dieses Spannungsfeld aufgelöst werden kann, richtet sich zunächst nach dem einfach-rechtlichen Rahmen, innerhalb des‑ sen das Überdenkungsverfahren durchgeführt und die Einzelnote abgeändert worden ist. Hier ist zwischen der Rechtslage in Bayern und den übrigen Bundesländern zu differenzieren. Da in Bayern das verfassungsrechtlich geforderte Überdenken der prüfungsspezifischen Wertungen im Rahmen des eigenständigen Nachprüfungsverfahrens stattfindet und die Rechtsfolgen einer Abänderung der Einzelnote für das Gesamtprüfungsergebnis nicht speziell geregelt sind, bestimmen sich diese nach den allgemeinen Vor‑ schriften für die Aufhebung eines Verwaltungsaktes außerhalb eines förmli‑ 586 Siehe
zu dieser Problematik Schlette, DÖV 2002, 816 (819).
556 Kap. 7: Das verwaltungsinterne Kontrollverfahren (Überdenkungsverfahren)
chen Rechtsbehelfsverfahrens und damit nach den Art. 48 f. BayVwVfG. Da bei der nachträglichen Abänderung einer Einzelnote die rein rechnerisch zu ermittelnde Prüfungsgesamtnote im ursprünglichen Prüfungsbescheid nun‑ mehr falsch ausgewiesen und dieses damit rechtswidrig wird, steht dessen Aufhebung und Ersetzung durch die Ausstellung eines neuen Prüfungszeug‑ nisses nach Art. 49 Abs. 1 Satz 1 BayVwVfG im Rücknahmeermessen des Prüfungsamtes. Bei dessen Ausübung ist dann eine Abwägung des Interesses des Prüflings am Fortbestand der bisherigen Note mit der Chancengleichheit der anderen Kandidaten im beruflichen Wettbewerb und mit dem Vertrauen der Allgemeinheit in die Wahrheit und Aussagekraft von Zeugnisnoten ge‑ boten587. Sofern der (ehemalige) Prüfling auf der Grundlage des falschen Prüfungszeugnisses bereits eine gefestigte tatsächliche und / oder rechtliche Stellung erworben hat, wird diese Abwägung vielfach zu seinen Gunsten ausfallen. Wenn er sich auf den gleichwohl ungewissen Ausgang eines sol‑ chen Abwägungsprozesses nicht einlassen will, muss er von der Verfolgung seiner rechtlichen Interessen im Nachprüfungsverfahren Abstand nehmen und sogleich das gerichtliche Verfahren anstreben. Diese Möglichkeit ist dem Prüfling in Bayern ohne Weiteres gegeben, weil das erfolglose Durchlaufen des Nachprüfungsverfahrens keine Sachurteilsvo‑ raussetzung für eine Klage darstellt. Im Klageverfahren kann sich der eine Notenverbesserung anstrebende Prüfling vor einer Notenverschlechterung dann anerkanntermaßen dadurch schützen, dass er seinen das Gericht über § 88 VwGO bindenden und auf eine Neubescheidung hinsichtlich des erziel‑ ten Prüfungsgesamtergebnisses gerichteten Klageantrag unter die Bedingung stellt, dass die Neubewertung seiner Prüfungsleistungen zu einem besseren Ergebnis geführt hat588. Soweit hiernach eine Neubewertung innerhalb des Nachprüfungsverfahrens und im Anschluss an ein gerichtliches Beschei‑ dungsurteil in Bayern zu divergenten Ergebnissen führen kann, erscheint dies verfassungsrechtlich nicht ganz unbedenklich. Denn während das multifunk‑ tionale Widerspruchsverfahren auch auf eine Selbstkontrolle der Verwaltung gerichtet ist589 und dem Bürger nur eine zusätzliche – von Art. 19 Abs. 4 Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 695. Münster, Urt. v. 16.07.1992 – 22 A 2549/91, NVwZ 1993, 95 (95); BayVGH, Urt. v. 19.03.2004 – 7 B 03.1162, BayVBl. 2005, 662 (664); VG Dres‑ den, Urt. v. 07.11.2007 – 5 K 2149/03, juris, Rn. 61; Schlette, DÖV 2002, 816 (817 f.); Kingreen, DÖV 2003, 1 (8); Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 696; siehe auch Dolde/Porsch, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, § 68, Rn. 49; Eiding/HofmannHoeppel, § 57 Rn. 9; Haase, in: Johlen/Oerder, MAH VerwR, § 16, Rn. 221; aus verfassungsrechtlichen Erwägungen siehe auch Löwer/Linke, WissR 30 (1997), 128 (155). 589 Geis, in: Sodan/Ziekow, VwGO, § 68, Rn. 1; Dolde/Porsch, VwGO, Vorbe‑ merkung § 68, Rn. 1. 587 Vgl.
588 OVG
C. Voraussetzungen für die Einleitung des Überdenkungsverfahrens557
Satz 1 GG nicht geforderte590 – Rechtsschutzmöglichkeit bietet, dient das Nachprüfungsverfahren von seiner Intention her allein der verfassungsrecht‑ lich notwendigen Schließung der – infolge der gerichtlich nur in den aufge‑ zeigten Grenzen überprüfbaren Abwägungsentscheidung des Prüfers – ent‑ stehenden Rechtsschutzlücke591. Diese primäre Rechtsschutzfunktion dürfte den Prüfling aber nur vor einer Notenverschlechterung schützen, die auch oder allein darauf beruht, dass der Prüfer im Rahmen der Nachkorrektur das bei allen Prüflingen bei der Erstbewertung gleichmäßig angewandte Bewer‑ tungssystem insgesamt oder in Teilaspekten als zu wohlwollend erachtet und nun allein zu seinen Lasten abändert592. Einem derartigen Vorgehen stehen aber wie ausgeführt bereits der Grundsatz der Chancengleichheit593 und das Willkürverbot entgegen. Im Übrigen wird man dem Nachprüfungsverfahren auch eine Selbstkontrollfunktion nicht absprechen können, soweit in ihm auch eine dem Begehren des Prüflings entsprechende Überprüfung der fach‑ spezifischen Bewertungen erfolgt. Auch wenn die vorstehenden Gesichts‑ punkte im Ergebnis für die Zulässigkeit einer Änderung des Gesamtprü‑ fungsergebnisses sprechen mögen, so erscheint es letztlich doch mit den Art. 12 Abs. 1 Satz 1, 19 Abs. 4 Satz 1 GG unvereinbar, wenn der Prüfling von dem Gebrauchmachen eines kompensatorischen, grundrechtssichernden Rechtsbehelfs deshalb absieht, weil er befürchten muss, dass das von ihm initiierte Verfahren ungünstiger ausgeht als das Ergebnis einer Neubewertung im Anschluss an einen Verwaltungsprozess sein könnte594. Dies gilt umso mehr, als die rechtskonstruktive Ausgestaltung des Nachprüfungsverfahrens dem Prüfling in Bayern bei einer drohenden Verschlechterung des Prüfungs‑ gesamtergebnisses keine Flucht aus diesem durch die „Rücknahme der Ein‑ wendungen“ ermöglicht. Bei einer Verschlechterung dürfte das dem Prü‑ fungsamt nach Art. 49 Abs. 1 Satz 1 BayVwVfG zustehende Rücknahmeer‑ messen daher regelmäßig verfassungskonform dahin auszuüben sein, dass von einer Korrektur des Prüfungsgesamtergebnisses abgesehen wird. Auf der Grundlage der vorstehenden Ausführungen zur Rechtslage in Bayern lässt sich die Problematik einer Abänderung der ursprünglichen 590 BVerfGE 35, 65 (73); 60, 253 (291); Dolde/Porsch, in: Schoch/Schneider/ Bier, VwGO, Vorbemerkung § 68, Rn. 13; Geis, in: Sodann/Ziekow, VwGO, § 68, Rn. 225. 591 Vgl. zur herausgehobenen Rechtsschutzfunktion des Überdenkungsverfahrens an dieser Stelle nur Kingreen, DÖV 2003, 1 (8). 592 Vgl. Kingreen, DÖV 2003, 1 (8). 593 Diesen im gegebenen Kontext als nicht einschlägig erachtend Kingreen, DÖV 2003, 1 (8). 594 Zur Unzulässigkeit der reformatio in peius unter dem Gesichtspunkt der Schutzfunktion des Überdenkungsverfahrens siehe auch v. Golitschek, BayVBl. 1994, 257 (263).
558 Kap. 7: Das verwaltungsinterne Kontrollverfahren (Überdenkungsverfahren)
Prüfungsgesamtnote zulasten des Prüflings auch für die anderen Bundeslän‑ der lösen, in denen das Überdenkungsverfahren als integraler Bestandteil des Widerspruchsverfahrens durchgeführt wird. Diese Notenabänderung ist nicht etwa allein im Hinblick darauf gerechtfertigt, dass das Widerspruchs‑ verfahren gegenüber dem Überdenkungsverfahren eine potentiell weiter reichende Selbstkontrollfunktion hat, da die Integration des verwaltungsin‑ ternen Kontrollverfahrens in den formellen Rahmen des Widerspruchsver‑ fahrens allein aus Praktikabilitäts- und Zweckmäßigkeitsgründen erfolgt ist und das Prüfungsamt die Prüfer aufgrund ihrer Unabhängigkeit nicht zu einer Abänderung der Bewertung (zulasten des Prüflings) aufgrund festge‑ stellter und bisher unberücksichtigt gebliebener (fachlicher) Fehler anhalten kann595. Damit gilt auch für den Fall einer Abänderung einer Einzelnote innerhalb eines Widerspruchsverfahrens und der damit drohenden Ver‑ schlechterung des Gesamtprüfungsergebnisses, dass vor dem Hintergrund der Art. 12 Abs. 1 Satz 1, 19 Abs. 4 Satz 1 GG eine Ergebnisäquivalenz mit dem möglichen Ausgang einer Neubewertung in Erfüllung eines gerichtli‑ chen Bescheidungsurteils gewährleistet sein muss. Diese kann dadurch hergestellt werden, dass dem Prüfling vor der Aufhebung des alten und dem Erlass des neuen, „verbösernden“ Bescheides gemäß § 71 VwGO rechtli‑ ches Gehör gewährt wird596. Der Prüfling kann dann entscheiden, ob er den Widerspruch zurücknimmt oder die Rechtmäßigkeit der angekündigten Än‑ derung des Prüfungsergebnisses insgesamt gerichtlich überprüfen lässt. Damit wird ein angemessener Ausgleich zwischen den widerstreitenden Interessen hergestellt597. Sofern sich der Prüfling für die Aufrechterhaltung des Widerspruchs entscheidet, muss das Prüfungsamt gleichwohl prüfen, ob die Verschlechterung des bisherigen Prüfungsergebnisses für den Prüfling zu untragbaren Ergebnissen führt und damit unverhältnismäßig erscheint598.
Gesichtspunkt wird von Kingreen, DÖV 2003, 1 (8), verkannt. Kingreen, DÖV 2003, 1 (8); siehe allgemein zum Anwendungs‑ bereich des § 71 VwGO Dolde/Porsch, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, § 71, Rn. 5. 597 Kingreen, DÖV 2003, 1 (8). 598 Zu dieser allgemeinen Grenze der reformatio in peius siehe VG Würzburg, Urt. v. 03.12.2012 – W 5 K 11.983, juris, Rn. 57; Dolde/Porsch, in: Schoch/Schnei‑ der/Bier, VwGO, § 68, Rn. 49. 595 Dieser
596 Zutreffend
Kapitel 8
Verwaltungsprozessuale Rechtsschutzmöglichkeiten Nachdem nunmehr umfassend dargestellt worden ist, inwieweit der Prüf‑ ling außergerichtlich innerhalb des Widerspruchs- bzw. Überdenkungsver‑ fahrens eine Annullierung oder Überprüfung und Abänderung der streitgegen ständliche(n) Bewertung(en) erreichen kann, sollen im Rahmen dieses Ka‑ pitels nun abschließend die verwaltungsprozessualen Rechtsschutzmöglich‑ keiten des Prüflings aufgezeigt werden.
A. Gegenstand und Voraussetzungen der gerichtlichen Überprüfung I. (Ursprünglicher) Klage- und Streitgegenstand 1. Der Streitgegenstand im Allgemeinen Da wie dargelegt dem Prüfling im Regelfall die (außergerichtliche) Kontrolle des streitgegenständlichen Prüfungsbescheides im Rahmen eines Widerspruchsverfahrens eröffnet ist und mit Ausnahme von Bayern das Überdenkungsverfahren in allen Bundesländern als integraler Bestandteil des Widerspruchsverfahrens stattfindet, endet das Überdenkungs- und Wi‑ derspruchsverfahren daher üblicherweise mit dem Erlass eines Wider‑ spruchsbescheides. Streitgegenständlich ist damit im Rahmen des gerichtli‑ chen Verfahrens im Prinzip der Prüfungsbescheid in Gestalt des Wider‑ spruchsbescheides. Der Prüfling muss daher – unabhängig von der im Einzelfall statthaften und gewählten Klageart – den Prüfungsbescheid in der Gestalt, die er durch den Widerspruchsbescheid erfahren hat, zum Ge‑ genstand der gerichtlichen Überprüfung machen. Für die Anfechtungsklage folgt dies unmittelbar aus § 79 Abs. 1 Nr. 1 VwGO. Diese Vorschrift gilt aber für die Verpflichtungsklage entsprechend1. Auch wenn sich der Prüfling formal gegen die in dem Prüfungsbescheid ausgesprochene (allein) im Sinne des § 35 Satz 1 LVwVfG regelnde Feststellung des Nichtbestehens der Prüfung bzw. des erzielten Gesamtergebnisses wenden 1 Kopp/Schenke,
VwGO, § 79, Rn. 3.
560
Kap. 8: Verwaltungsprozessuale Rechtsschutzmöglichkeiten
muss2, so richten sich seine Einwendungen in der Sache doch nur gegen das Verfahren der Ermittlung und / oder gegen die Bewertung einzelner Teilprüfungsleistungen, die Grundlage des formal streitgegenständlichen Prüfungsbescheides geworden sind. In der Praxis begehrt der Kläger regel‑ mäßig nur die Neuerbringung oder Neubewertung einzelner Prüfungsleis‑ tungen und die anschließende Verpflichtung des Prüfungsamtes zur Neube‑ scheidung hinsichtlich des von ihm erzielten Gesamtergebnisses unter Auf‑ hebung des entgegenstehenden Prüfungsbescheides in der Gestalt des Wi‑ derspruchsbescheides. Prozessrechtliche Hindernisse stehen dem nicht entgegen. Es entspricht sowohl dem Gebot der Prozessökonomie und der Gewährung effektiven Rechtsschutzes als im Übrigen auch ständiger verwaltungsgerichtlicher Pra‑ xis, von einer Teilbarkeit des Streitgegenstandes, welcher durch das (Neu‑ bescheidungs‑) Begehren des Klägers und dem der Streitsache zugrunde liegenden Sachverhalt bestimmt wird3, auszugehen und demgemäß die An‑ fechtung einzelner Teilprüfungsleistungen zuzulassen und den Gegenstand der gerichtlichen Überprüfung zu beschränken4. Der Prüfling hat es infolge‑ dessen in der Hand, die Bewertung einzelner Teilprüfungsleistungen mit substantiierten Einwendungen anzugreifen oder diese gegen sich gelten zu lassen5. Er kann im Laufe des gerichtlichen Verfahrens von Angriffen gegen die Bewertung einzelner Teilprüfungsleistungen oder des ihnen zugrunde liegenden Verfahrens der Leistungsermittlung Abstand nehmen, vorbehalt‑ lich einer etwaigen Rügepräklusion den Streitgegenstand bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung aber auch noch durch die Erhebung ergänzen‑ der Verfahrens- und / oder Bewertungsrügen hinsichtlich weiterer Teilprü‑ fungsleistungen erweitern6. Aus der dem Prüfling aufgebürdeten Substanti‑ 2 Vgl. BVerwG, Urt. v. 23.05.2012 – 6 C 8/11, NJW 2012, 2901 (2902); Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 815. 3 Zum Streitgegenstand bei der Bescheidungsklage und im Allgemeinen siehe BVerwG, Bes. v. 24.10.2006 – 6 B 47/06, NVwZ-RR 2007, 104 (105 f.); speziell bei der prüfungsrechtlichen (Bescheidungs-)Klage HessVGH, Urt. v. 26.05.2010 – 8 A 15/95/09, LKRZ 2010, 342 (342 f.). 4 Vgl. VGH Mannheim, Urt. v. 08.03.1994 – 9 S 484/92, juris, Rn. 17; teil‑ weise missverständlich Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 815, 822. 5 BVerwG, Urt. v. 16.03.1994 – 6 C 5/93, NVwZ-RR 1994, 582 (583); BayVGH, Urt. v. 30.04.1998 – 7 B 97.2986, juris, Rn. 14; HessVGH, Urt. v. 29.04.2010 – 8 A 3247/09, LKRZ 2010, 471 (475); VG Augsburg, Bes. v. 17.02.2004 – Au 9 K 03.650, juris, Rn. 17; VG Regensburg, Urt. v. 08.08.2012 – RO 1 K 11.800, juris, Rn. 21. 6 Vgl. BVerwG, Urt. v. 08.11.2005 – 6 B 45/05, NVwZ 2006, 478 (479); Urt. v. 27.04.1999 – 2 C 30/98, NVwZ 2000, 921 (922); BVerwGE 96, 126 (133); OVG Berlin, Bes. v. 18.12.2009 – OVG 10 N 58.08, juris, Rn. 4; HessVGH, Urt. v. 29.04.2010 – 8 A 3247/09, LKRZ 2010, 471 (472); Urt. v. 26.05.2010 – 8 A 595/09,
A. Gegenstand und Voraussetzungen der gerichtlichen Überprüfung561
ierungsobliegenheit folgt also als deren Kehrseite die auch allgemein in § 88 VwGO zum Ausdruck kommende (Dispositions‑) Befugnis des Prüf‑ lings, auf die Geltendmachung seiner Rechte zu verzichten7. Daraus darf nun aber nicht zulasten des Prüflings geschlossen werden, dass die Bewer‑ tung derjenigen Einzelleistungen, gegen die er im Vorgehen gegen den Gesamtbescheid der Prüfungsbehörde innerhalb der Rechtsmittelfristen keine Einwendungen erhoben hat, unabänderlich feststünden und zur fixen Berechnungsgrundlage des Prüfungs- bzw. Widerspruchsbescheides würden. Dieser zunächst vom Hessischen Verwaltungsgerichtshof eingenommene Rechtsstandpunkt8 ist vom Bundesverwaltungsgericht in einer jüngeren Ent‑ scheidung für den Fall als mit dem Gewährleistungsgehalt des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG unvereinbar erklärt worden, dass – wie im Regelfall – nach der einschlägigen Prüfungsordnung die dem Prüfungsbescheid zugrunde liegen‑ den Einzelbewertungen keine Regelungsqualität im Sinne des § 35 Satz 1 LVwVfG haben9. Zum Tragen kommt diese den Prüfling begünstigende Rechtsauffassung zunächst in der folgenden Konstellation: Der Prüfling dringt mit seinen im Rahmen des Widerspruchsverfahrens gegen die Bewertung seiner Prüfungs‑ leistungen erhobenen Einwendungen teilweise durch. Infolgedessen wird zwar der ursprüngliche Prüfungsbescheid durch den Widerspruchsbescheid aufgehoben und in diesem die Neuerbringung oder Neubewertung einzelner Prüfungsleistungen angeordnet, die übrigen Einwendungen des Prüflings werden aber abschlägig beschieden. Sieht der Prüfling, etwa weil er davon ausgeht, dass die Neuerbringung und / oder Neubewertung der vormals streitgegenständlichen Prüfungsleistung ihm zum Prüfungserfolg verhilft, von der Erhebung der Klage gegen den Widerspruchsbescheid ab, kann er nur nach der Rechtsauffassung des Bundesverwaltungsgerichtes in einem neuen Widerspruchs- und / oder Klageverfahren gegen einen etwaigen neuen Nichtbestehens- / Prüfungsbescheid die zunächst nicht weiter angegriffenen Bewertungen in das Verfahren mit einbeziehen10. Eine ähnliche und die‑ selbe rechtliche Beurteilung erfordernde Fallgestaltung liegt vor, wenn nicht bereits das Prüfungsamt als Widerspruchsbehörde den streitgegenständlichen Prüfungsbescheid aufhebt, sondern erst das Gericht, und der Prüfling, nach‑ LKRZ 2010, 342 (343); Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 822, 844; Birnbaum, NVwZ 2006, 286 (295); siehe auch bereits Unger, VBlBW 2012, 358 (362). 7 Vgl. bereits Unger, VBlBW 2012, 358 (362). 8 HessVGH, Urt. v. 29.04.2010 – 8 A 3247/09, LKRZ 2010, 471 (475). 9 BVerwG, Urt. v. 23.05.2012 – 6 C 8/11, NJW 2012, 2901 (2902). 10 So geschehen in dem der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes zu‑ grunde liegenden Sachverhalt, siehe hierzu BVerwG, Urt. v. 23.05.2012 – 6 C 8/11, NJW 2012, 2901 (2901); HessVGH, Urt. v. 29.04.2010 – 8 A 3247/09, LKRZ 2010, 471 (471).
562
Kap. 8: Verwaltungsprozessuale Rechtsschutzmöglichkeiten
dem die vom Gericht ausgesprochene Verpflichtung zur Neubewertung / Neu‑ erbringung der Teilprüfungsleistung(en) nicht zur Erreichung des vom Prüfling verfolgten Prüfungsziels geführt hat, nach dem Ergehen eines er‑ neuten Prüfungsbescheides und des damit abermals eröffneten Wider‑ spruchsverfahrens im Rahmen desselben nun gegen Einzelbewertungen vorgehen will, die im Laufe des bisherigen Verfahrens noch zu keinem Zeitpunkt streitgegenständlich waren. Zwar mag es unter dem Aspekt der Rechtssicherheit namentlich aus der Perspektive des Prüfungsamtes wün‑ schenswert sein, zu einem möglichst frühen Zeitpunkt zu wissen, ob Einzel‑ bewertungen vom Prüfling noch zur Disposition gestellt oder als feststehend behandelt werden können. Im demokratischen Rechtsstaat sind aber im Rahmen eines Verwaltungsstreitverfahrens wie im Übrigen nicht die Wün‑ sche der Beteiligten, sondern allein die vom demokratisch legitimierten Gesetzgeber getroffenen Entscheidungen verbindlich. Wenn nach dessen Willen im juristischen Prüfungsrecht Einzelbewertungen nicht isoliert, son‑ dern nur im Zusammenhang mit der abschließenden Prüfungsentscheidung in Bestandskraft erwachsen können, dann ist diese Entscheidung auch dann zu akzeptieren, wenn sie als unzweckmäßig erachtet wird. Jede dogmatische Konstruktion, die in Anerkennung der fehlenden Bestandskraftfähigkeit von Teilleistungen diese im Ergebnis dennoch für unabänderlich hält, wenn sie nicht während des Laufs der jeweiligen Rechtsbehelfsfrist angegriffen wer‑ den, untergräbt die Entscheidung des Gesetzgebers, nach der das Institut der Bestandskraft an das Vorliegen eines Verwaltungsaktes geknüpft ist11. Der Rechtsauffassung des Bundesverwaltungsgerichtes ist daher im vollen Um‑ fang zuzustimmen. Neben der soeben dargestellten Fallgestaltung ist im gegebenen Kontext rechtspraktisch bedeutsam noch deren Abwandlung, in welcher die Prüfer im Rahmen des Überdenkungs- bzw. Widerspruchsverfahrens die Bewer‑ tung einer Teilprüfungsleistung anheben, der Widerspruch dadurch teilweise Erfolg hat und der ursprüngliche Prüfungsbescheid deshalb aufgehoben wird, die Einwendungen des Prüflings im Übrigen aber wiederum abschlä‑ gig beschieden werden und neben dem Widerspruchsbescheid daher ein neuer Nichtbestehensbescheid erlassen wird. Dieses Vorgehen ist in einigen Bundesländern gängige Praxis. Da aber Einzelbewertungen gerade keine Regelungsqualität zukommt und sich daher in dieser Fallkonstellation nur die Berechnungsgrundlage für die nach wie vor rechtmäßige Feststellung des Nichtbestehens der Prüfung ändert, besteht für eine Aufhebung des Prüfungsbescheides an sich kein Anlass. Wenn der Prüfling seine Angriffe gegen die für rechtmäßig befundenen Einzelbewertungen im gerichtlichen Verfahren fortsetzen will, sollte er gleichwohl rein vorsorglich auch aus 11 Vgl.
BVerwG, Urt. v. 23.05.2012 – 6 C 8/11, NJW 2012, 2901 (2902).
A. Gegenstand und Voraussetzungen der gerichtlichen Überprüfung563
Klarstellungsgründen und der Rechtsanwalt zudem aus Gründen der anwalt‑ lichen Sorgfaltspflicht den neuen Prüfungsbescheid neben dem Wider‑ spruchsbescheid als Streitgegenstand in das gerichtliche Verfahren einführen. 2. Der Kontrollgegenstand bei Bewertungsrügen Sofern die Rügen des Prüflings im Rahmen des Widerspruchsverfahrens (allein) auf die Bewertung einzelner Teilleistungen abzielten, erlangt der bereits dargelegte Umstand besondere Bedeutung, dass in der Sache nicht die im Prüfungsbescheid getroffene Feststellung des Nichtbestehens oder des Bestehens der Prüfung mit einer bestimmten Note einschließlich der dafür gegebenen Begründung, sondern die der Gesamtprüfungsentscheidung zugrunde liegenden Einzelbewertungen der Teilprüfungsleistungen und die dafür gegebenen Begründungen streitgegenständlich sind. Dass im Falle der Erhebung von Bewertungsrügen im Regelfall allein die in den Begründungen der Einzelbewertungen angestellten Erwägungen, nicht aber die Ausführungen im Widerspruchsbescheid streitgegenständlich sind, liegt darin begründet, dass das Prüfungsamt insoweit eine gebundene Entscheidung trifft, als es nicht in den Bewertungsspielraum der Prüfer eindringen und deren Bewertungen mit ergänzenden Abwägungen rechtfer‑ tigen darf. Infolgedessen bilden im Streit um die Rechtmäßigkeit der Be‑ wertungen einzelner Teilprüfungsleistungen die angefochtenen Ursprungsbe‑ wertungen in der Gestalt, die sie durch die Stellungnahmen der Prüfer im Überdenkungsverfahren erhalten haben, den eigentlichen Gegenstand der gerichtlichen Kontrolle12. Die Ursprungsbewertung und die im Überden‑ kungsverfahren in Auseinandersetzung mit den Einwendungen des Prüflings abgegebene Stellungnahme verschmelzen daher zu einer sodann streitbefan‑ genen rechtlichen Bewertungseinheit13. Die vorstehenden Ausführungen erlangen insbesondere dann Bedeutung, wenn – wie in Bayern hinsichtlich der Ergebnisse der juristischen Staatsprüfungen – kein Widerspruchsverfah‑ ren stattfindet. Streitgegenständlich sind dort dann die Einzelbewertungen in der Gestalt, die sie durch das Nachprüfungsverfahren erhalten haben. Ist die Durchführung des Nachprüfungsverfahrens in Bayern oder des Überdenkungsverfahrens im Rahmen des Widerspruchsverfahrens in den anderen Bundesländern mangels der Erhebung substantiierter Einwände, 12 VG Dresden, Urt. v. 04.06.2008 – 5 K 38/08, juris, Rn. 121; VGH Mann‑ heim, Urt. v. 08.03.1994 – 9 S 484/92, juris, Rn. 19; VG Sigmaringen, Urt. v. 30.10.2003 – 8 K 556/01, juris, Rn. 39. 13 OVG Koblenz, Urt. v. 16.08.2001 – 2 A 10441/01, juris, Rn. 23; VG Mainz, Urt. v. 20.04.2005 – 7 K 932/04.MZ, juris, Rn. 22; VG Ansbach, Urt. v. 04.08.2011 – AN 2 K 10.01591, juris, Rn. 51.
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Kap. 8: Verwaltungsprozessuale Rechtsschutzmöglichkeiten
aufgrund eines Verzichts des Prüflings oder aus sonstigen Gründen, unter‑ blieben, sind im Rahmen der gerichtlichen Kontrolle des Prüfungsbeschei‑ des allein die diesem zugrunde liegenden Einzelbewertungen mit deren unveränderter Begründung maßgeblich. Die Feststellung, dass im Streit um die Rechtmäßigkeit der dem Prü‑ fungsbescheid zugrunde liegenden Einzelbewertungen üblicherweise die Ursprungsbewertungen in der Gestalt, die sie durch das verwaltungsinterne Kontrollverfahren gefunden haben, den Gegenstand der gerichtlichen Kont‑ rolle bilden, beinhaltet rechtliche Folgerungen, die bereits in den vorange‑ gangenen Abschnitten getroffen wurden und hier daher nur noch einmal zu referieren sind. So gilt der Rechtssatz, dass es dem Prüfer unbenommen ist, aufgrund und im Rahmen der Einwendungen des Prüflings die ursprüngliche Begründung zu präzisieren, zu ergänzen und in einzelnen oder auch mehreren Punkten klarzustellen, um Missverständlichkeiten aus dem Weg zu räumen und die Bewertungsbegründung weiter zu plausibilisieren. Aber selbst dann, wenn der Prüfer die ihm innerhalb des Überdenkungsverfahrens zustehenden (be‑ grenzten) Kompetenzen überschreitet, indem er etwa mit unzulässiger „Gele‑ genheitskritik“ die ursprüngliche Bewertung unter Rücknahme anderer Kri‑ tikpunkte im Übrigen aufrechterhält, bleibt die Ursprungsbegründung in der durch die Prüferstellungnahme erlangten Gestalt allein streitgegenständlich. Die „Überdenkensstellungnahme“ des Prüfers tritt nur dann vollständig an die Stelle der ursprünglichen Bewertung bzw. deren Begründung, wenn die ergänzenden Erwägungen und Abwägungen des Prüfers zu einer Wesensän‑ derung des Ursprungsvotums führen. Eine solche liegt wie dargelegt (nur) vor, wenn die Begründung der Erstbewertung nicht den dargestellten verfas‑ sungsrechtlichen Anforderungen genügt hat und auf entsprechende Einwen‑ dungen des Prüflings hin dann im Laufe des Überdenkungsverfahrens eine Neubewertung mit ordnungsgemäßer Begründung „nachgeschoben“ wird. Nach hier vertretener Auffassung kann das aufgrund einer defizitären Begründung der Ursprungsbewertung bestehende Plausibilitäts- und Bewer‑ tungsdefizit aber nur durch die Neubewertung der Prüfungsleistung durch einen anderen Prüfer mit ordnungsgemäßer Begründung beseitigt werden. In diesem Fall unterliegt allein die Ursprungsbewertung des neuen Prüfers der gerichtlichen Kontrolle. Sofern allerdings dem Prüfling die Gelegenheit gegeben wird, nach erfolgter Neubewertung bereits im Rahmen des verwal‑ tungsinternen Kontrollverfahrens abermals gegen diese Einwendungen zu erheben, fließen auch hier die diesbezüglichen Stellungnahmen in die Ur‑ sprungsbegründung mit ein, die dann zusammen mit ihr den gerichtlichen Kontrollgegenstand bilden. Nichts anderes gilt, wenn wie im Regelfall die erforderliche Neubewertung vom ursprünglichen Prüfer vorgenommen wird
A. Gegenstand und Voraussetzungen der gerichtlichen Überprüfung565
und dieser seine Begründung auf entsprechende Einwendungen des Prüf‑ lings hin ergänzt. 3. Veränderungen des Streitgegenstandes im gerichtlichen Verfahren Die vorstehend beschriebenen möglichen Klagegegenstände, die vom Prüfling mit der Erhebung der Klage und durch die Stellung eines bestimm‑ ten Klageantrags in das gerichtliche Verfahren als Streitgegenstand einge‑ führt werden, können sich im Laufe desselben noch verändern und zwar aus den soeben nochmals dargestellten Gründen, die auch zur Veränderung der Ursprungsbewertung führen können. So kann eine (beinahe) vollständig unterbliebene Begründung der Bewer‑ tung nach der Rechtsprechung insbesondere auch noch während eines be‑ reits laufenden Verwaltungsprozesses dadurch geheilt werden, dass der Prüfer eine Neubewertung mit ordnungsgemäßer Begründung nachholt14. Auch soll es bundesrechtlich insbesondere nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichtes zulässig sein, dass der Prüfer eine in ihrer objektiven Aussage oder ihren Grundlagen erläuterungsbedürftige Einzelbe‑ wertung erst im Rahmen des Verwaltungsprozesses klarstellt oder präzi‑ siert15 und die Bewertung in ihrer klargestellten Fassung sodann Gegen‑ stand der gerichtlichen Überprüfung wird16. Schließlich soll es nach der Rechtsprechung auch möglich sein, dass der Prüfer erst in der mündlichen Verhandlung seine Bewertungsbegründung erläutert17. Hinsichtlich dieser gerichtlichen Praxis haben Zimmerling / Brehm jeden‑ falls für den Fall Bedenken angemeldet, dass die Vernehmung der Prüfer als 14 BVerwGE 91, 262 (271); BayVGH, Bes. v. 14.12.2010 – 7 ZB 10.2108, juris, Rn. 14; Bes. v. 01.06.2010 – 7 ZB 09.3014, juris, Rn. 15; Urt. v. 17.10.2003 – 7 B 02.640, juris, Rn. 28 f.; OVG Berlin-Brandenburg, Bes. v. 18.12.2009 – OVG 10 N 58.08, juris, Rn. 6. 15 BVerwG, Bes. v. 30.03.2000 – 6 B 8/00, NVwZ-RR 2000, 503 (503); Bes. v. 01.03.2001 – 6 B 6/01, NVwZ 2001, 922 (923); OVG Berlin-Brandenburg, Bes. v. 18.12.2009 – OVG 10 N 58.08, juris, Rn. 6. 16 BayVGH, Urt. v. 17.10.2003 – 7 B 02.640, juris, Rn. 28 f.; siehe auch BayVGH, Bes. v. 14.12.2010 – 7 ZB 10.2108, juris, Rn. 14; Bes. v. 01.06.2010 – 7 ZB 09.3014, juris, Rn. 15; OVG Berlin-Brandenburg, Bes. v. 18.12.2009 – OVG 10 N 58.08, juris, Rn. 6. 17 BVerwG, Bes. v. 01.03.2001 – 6 B 6/01, juris, Rn. 4; BayVGH, Bes. v. 14.09.2000 – 7 ZB 99.3753, juris, Rn. 25 f.; siehe auch Urt. v. 17.10.2003 – 7 B 02.640, juris, Rn. 28 f.; VG München, Urt. v. 12.03.2007 – M 3 K 06.2698, juris, Rn. 23; VG Augsburg, Urt. v. 17.02.2004 – Au 9 K 03.650, juris, Rn. 24; OVG Berlin-Brandenburg, Bes. v. 18.12.2009 – OVG 10 N 58.08, juris, Rn. 6.
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Kap. 8: Verwaltungsprozessuale Rechtsschutzmöglichkeiten
Zeugen ausschließlich dazu dient, eine wenig plausible Bewertungsbegrün‑ dung plausibler zu machen18. Auch Linke steht einer Vernehmung der Prüfer als Zeugen kritisch gegenüber und will diese – wenn nicht zugleich dem Prüfling auch ein Anspruch eingeräumt wird, dass sich die Prüfer mit seinen (erstmals vorgetragenen) Einwendungen befassen – nur dann zulas‑ sen, wenn diese ausschließlich der Erforschung der Willkürfreiheit der streitgegenständlichen Bewertung dient19. Die Veränderung des in das gerichtliche Verfahren eingeführten Streitge‑ genstandes setzt freilich voraus, dass die Prüfer in den gerichtlichen Streit um die Rechtmäßigkeit der Prüfungsentscheidung auf Initiative des Prü‑ fungsamtes oder des Gerichtes durch die an sie gerichtete Aufforderung zur schriftlichen oder mündlichen Stellungnahme zu den Bewertungsrügen des Klägers oder mit der Bitte um Erläuterung der streitgegenständlichen Be‑ wertung involviert werden. In der Tat entspricht es zumindest in einigen Bundesländern der Verwal‑ tungspraxis der Prüfungsämter20, die Klagebegründung des Klägers und auch alle weiteren von ihm eingereichten Schriftsätze den Prüfern während der gerichtlichen Auseinandersetzung zuzuleiten und diese zur Stellungnahme zu entweder bisher noch nicht beschiedenen oder zu den modifizierten oder erst‑ mals vorgetragenen Bewertungsrügen aufzufordern, die dann vom beklagten Prüfungsamt als neue Tatsache in den Prozess eingeführt wird. Das OVG Berlin sieht die Einholung von Stellungnahmen der Prüfer zu den Bewer‑ tungsrügen des Klägers durch das Prüfungsamt ausdrücklich als Bestandteil einer sachlich angemessenen und zweckdienlichen Äußerung der Prüfungs‑ behörde an, die der Behörde zur Gewährung rechtlichen Gehörs im Rahmen des Zumutbaren ermöglicht werden müsse21. Umgekehrt soll der Prüfling aber eine erneute Beteiligung der Prüfer nicht beanspruchen können22. Im Übrigen holen einige Verwaltungsgerichte auch völlig unabhängig von einem etwaigen Initiativakt eines der Prozessbeteiligten mitunter von Amts wegen schriftliche Stellungnahmen der Prüfer zu dem Klagevorbringen des Klägers ein23 oder laden diese als Zeugen zur mündlichen Verhandlung.
18 Zimmerling/Brehm,
Der Prüfungsprozess, Rn. 145. NVwZ 2006, 1382 (1383). 20 Insbesondere des Landesjustizprüfungsamtes in NRW. 21 OVG Berlin, Bes. v. 18.12.2009 – OVG 10 N 58.08, juris, Rn. 6; siehe auch VG Augsburg, Urt. v. 17.02.2004 – Au 9 K 03.650, juris, Rn. 24; VG Frankfurt, 04.08.2004 – 12 E 5183/02, juris, Rn. 64. 22 OVG Berlin, Bes. v. 18.12.2009 – OVG 10 N 58.08, juris, Rn. 6; VG Frank‑ furt, 04.08.2004 – 12 E 5183/02, juris, Rn. 64. 23 Siehe etwa VG Augsburg, Urt. v. 17.02.2004 – Au 9 K 03.650, juris, Rn. 24. 19 Linke,
A. Gegenstand und Voraussetzungen der gerichtlichen Überprüfung567
II. Prozessuale Konsequenzen und Grundsätze Ist wie im Regelfall im Rahmen des Widerspruchs- / Überdenkungsverfah‑ rens und / oder wie gelegentlich im Laufe des angestrengten Verwaltungspro‑ zesses eine Veränderung des ursprünglichen Streitgegenstandes eingetreten, so ist der Prüfling gehalten, darauf zwecks (zielgerichteter) Initiierung einer gerichtlichen Überprüfung der Prüfungsentscheidung oder zur Meidung von Rechtsnachteilen bei der Weiterverfolgung des Rechtsschutzbegehrens ange‑ messen, d. h. in einer der materiellen und Prozessrechtslage Rechnung tra‑ genden Art und Weise zu reagieren. 1. Substantiierungsobliegenheit / Amtsermittlungsgrundsatz Für den Prüfling, der nach einem erfolglosen Widerspruchs- / Überden‑ kungsverfahren die gerichtliche Weiterverfolgung seines Rechtsschutzbegeh‑ rens erwägt, bedeutet dies, dass er nach Ausschöpfung dieser außerprozes‑ sualen Rechtsschutzmöglichkeiten anhand der im Widerspruchsbescheid bzw. der von den Prüfern gegebenen Begründungen für die Rechtmäßigkeit der Prüfungsentscheidung zunächst überprüfen muss, ob diese überhaupt noch prüfungsergebniskausale Rechtsfehler erkennen lassen, deren Vorlie‑ gen aufgrund der dargestellten eingeschränkten gerichtlichen Überprüfungs‑ kompetenz vom Verwaltungsgericht allein nur beanstandet werden kann24. Sofern der Prüfling sich auch noch unter Berücksichtigung dieser einge‑ schränkten Kontrollmöglichkeiten eine gerichtliche Kassation der Prüfungs‑ entscheidung erhofft, darf er nicht erwarten, dass das Gericht diese von sich aus einer umfassenden Rechtmäßigkeitskontrolle unterzieht. Ebenso wie der aus den Art. 19 Abs. 4 Satz 1, 12 Abs. 1 Satz 1 GG deduzierbare Anspruch des Prüflings auf die Durchführung eines verwaltungsinternen Kontrollver‑ fahrens besteht auch und gerade der aus denselben Verfassungsnormen folgende Anspruch auf eine umfassende und tatsächlich wirksame gerichtli‑ che Kontrolle der Prüfungsentscheidung25 nicht voraussetzungslos. Viel‑ mehr erstreckt sich die den Prüfling bereits vorprozessual treffende Subs‑ tantiierungsobliegenheit auch auf das gerichtliche Verfahren und aufgrund der im Rahmen dieser Untersuchung herausgearbeiteten weiter gehenden Abwägungsfalsifikationsmaßstäbe in gleicher Weise26. Demnach ist eine 24 Siehe zum Zweck der (Bewertungs-)Begründung, die Erfolgsaussichten der beabsichtigten Rechtsverfolgung abzuschätzen, an dieser Stelle OVG Greifswald, Bes. v. 09.11.2009 – 2 l 74/09, juris, Rn. 9, und bereits die Ausführungen und Nach‑ weise oben (Kapitel 7 II. 3.). 25 Vgl. nur BVerfGE 84, 34 (49 f.). 26 Bei Zugrundelegung der tradierten Dogmatik einer engeren gerichtlichen Überprüfung anhand der Kontrollformel des Bundesverwaltungsgerichtes sind ent‑
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Kap. 8: Verwaltungsprozessuale Rechtsschutzmöglichkeiten
gerichtliche Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Prüfungsentscheidung nur in dem Maße veranlasst, wie der Sach- und Rechtsvortrag des Klägers An‑ haltspunkte für eine (verfahrens‑)fehlerhafte Ermittlung und / oder Bewer‑ tung der dieser zugrunde liegenden Teilprüfungsleistungen bietet27. Ist dies nicht der Fall und macht der Prüfling hinsichtlich einzelner Prüfungs‑ abschnitte bzw. -teile eine Verletzung seiner Rechte nicht geltend, besteht grundsätzlich kein Rechtsschutzbedürfnis für deren gerichtliche Überprü‑ fung28. Das Gericht ist somit nur im Rahmen „wirkungsvoller Hinweise“29 des Prüflings und nicht von Amts wegen dazu verpflichtet, das (gesamte) Prüfungsgeschehen zu rekonstruieren und auf (verborgene) Rechtsfehler abzutasten30. Die nach § 86 Abs. 1 VwGO im Grundsatz bestehende Amts‑ aufklärungspflicht des Gerichtes ist damit entsprechend begrenzt31. Namentlich bei den in der Praxis überwiegenden materiellen Rügen ge‑ gen die Bewertung obliegt es dem Prüfling, diese hinreichend zu substanti‑ ieren, indem er in der dargestellten und in diesem Umfang gebotenen Art und Weise eine Überschreitung des den Prüfern eingeräumten Abwägungs‑ spielraums konkret und nachvollziehbar aufzeigt32. Hierzu wird es im Regelfall erforderlich sein, seine in diesem Sinne regelmäßig bereits vorpro‑ zessual vorgetragenen Bewertungsrügen zu ergänzen, zu modifizieren und auf das Vorliegen von Bewertungsfehlern zu fokussieren, indem er in Aus‑ einandersetzung mit den von den Prüfern im Rahmen des Überdenkungsver‑ sprechend im Überdenkungsverfahren die Substantiierungsobliegenheiten des Prüf‑ lings abgesenkt. 27 VG München, Urt. v. 02.12.2003 – M 16 K 02.3148, juris, Rn. 38; VG Schwerin, Urt. v. 22.03.2007 – 3 A 137/06, juris, Rn. 23 f., insb. Rn. 23 f.; Zimmerling/Brehm, Der Prüfungsprozess, Rn. 161. 28 BVerwG, Urt. v. 16.03.1994 – 6 C 95/93, NVwZ-RR 1994, 582 (583). 29 Vgl. BVerfGE 84, 34 (48). 30 Vgl. – auch zur Formulierung – Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 853; Zimmerling/Brehm, Der Prüfungsprozess, Rn. 161; VG München, Urt. v. 02.12.2003 – M 16 K 02.3148, juris, Rn. 38. 31 Vgl. BVerwG, Urt. v. 16.03.1994 – 6 C 95/93, NVwZ-RR 1994, 582 (583); VG München, Urt. v. 02.12.2003 – M 16 K 02.3148, juris, Rn. 38; VG Dresden, Urt. v. 22.03.2012 – 5 K 1327/10, juris, Rn. 62; VG Dresden, Urt. v. 04.06.2008 – 5 K 38/08, juris, Rn. 108; VG Düsseldorf, Urt. v. 05.03.2010 – 26 K 1841/09, juris, Rn. 40; VG Berlin, Urt. v. 08.07.2010 – 3 A 4.06, juris, Rn. 34; Niehues/Fischer/ Jeremias, Rn. 853; Ibler, S. 418. 32 Vgl. BVerwG, Bes. v. 01.09.1992 – 6 B 22/92, Buchholz 421.0 Nr. 302, 213 (214); VG Berlin, Urt. v. 08.07.2010 – 3 A 4.06, juris, Rn. 34; VG Dresden, Urt. v. 04.06.2008 – 5 K 38/08, juris, Rn. 108; Urt. v. 22.03.2012 – 5 K 1327/10, juris, Rn. 62; Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 853, 855 f., 886; kritisch zu den Substantiie‑ rungsobliegenheiten des Prüflings Zimmerling/Brehm, Der Prüfungsprozess, Rn. 162. Vgl. zu den weiter gehenden Kontrollpflichten des Gerichts bei „klassischen“ Be‑ wertungsfehlern OVG Koblenz, Urt. v. 16.08.2001 – 2 A 10441/01, juris, Rn. 23.
A. Gegenstand und Voraussetzungen der gerichtlichen Überprüfung569
fahrens vorgenommenen Bewertungserläuterungen, -ergänzungen und ‑prä‑ zisierungen substantiiert aufzeigt, dass die Stellungnahmen der Prüfer seine Bedenken an der Rechtmäßigkeit der Bewertung nicht haben ausräumen können33. Er darf sich im wohlverstandenen eigenen Interesse nicht darauf verlassen, dass das Gericht bereits auf der Grundlage seines bisherigen Vorbringens schon irgendeinen (Bewertungs‑) Fehler finden wird34. So‑ fern es der Prüfling im Laufe des Widerspruchsverfahrens versäumt oder bewusst unterlassen hat, wirkungsvolle Hinweise für ein Überdenken der Bewertung bzw. eine Überschreitung des den Prüfern eröffneten Abwä‑ gungsspielraums zu geben, hat er damit sein Recht auf eine gerichtliche Kontrolle der Prüfungsentscheidung nach Maßgabe der erstmals anlässlich des angestrengten Verwaltungsprozesses erhobenen substantiierten Einwen‑ dungen nicht verwirkt35. In diesem Fall ist die prozessuale Substantiie‑ rungsobliegenheit aber von besonderer Bedeutung und drängt umso mehr auf Beachtung, wenn der Prüfling eine über eine Evidenzprüfung hinaus gehende Rechtmäßigkeitskontrolle der Prüfungsentscheidung durch das Gericht anhand des vorprozessual noch nicht aufbereiteten Streitstoffes er‑ reichen will. Spätestmöglicher Zeitpunkt für deren Wahrnehmung ist wie dargelegt vorbehaltlich eines beantragten und gewährten Schriftsatznachlas‑ ses36 in diesem Fall wie im Übrigen der Schluss der mündlichen Verhand lung in der (letzten) Tatsacheninstanz37. Wie ebenfalls bereits ausgeführt, hat es der Prüfling damit als Kehrseite der Substantiierungsobliegenheit im Prinzip in der Hand, durch den Ver‑ zicht auf die Erhebung von materiellen oder formellen Bewertungsrügen hinsichtlich einzelner Teilprüfungsleistungen deren Bewertung gegen sich gelten zu lassen und damit den Umfang der gerichtlichen Überprüfung zu bestimmen38. 33 Vgl.
VG Berlin, Urt. v. 08.07.2010 – 3 A 4.06, juris, Rn. 34 f. Bes. v. 01.09.1992 – 6 B 22/92, Buchholz 421.0 Nr. 302, 213 (214); VG Dresden, Urt. v. 04.06.2008 – 5 K 38/08, juris, Rn. 108; Urt. v. 22.03.2012 – 5 K 1327/10, juris, Rn. 62; Kopp, DVBl 1991, 989 (990); Niehues/ Fischer/Jeremias, Rn. 855, Ibler, S. 417. 35 VG Wiesbaden, Urt. v. 09.03.2012 – 7 K 462/11.WI, juris, Rn. 20. 36 Siehe zu dieser Möglichkeit BVerwG, Bes. v. 01.03.2001 – 6 B 6/01, NVwZ 2001, 922 (923 f.). 37 Siehe nochmals BVerwG, Urt. v. 08.11.2005 – 6 B 45/05, NVwZ 2006, 478 (479); Urt. v. 27.04.1999 – 2 C 30/98, NVwZ 2000, 921 (922); BVerwGE 96, 126 (133); OVG Berlin, Bes. v. 18.12.2009 – OVG 10 N 58.08, juris, Rn. 4; HessVGH, Urt. v. 29.04.2010 – 8 A 3247/09, LKRZ 2010, 471 (472); Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 844; Birnbaum, NVwZ 2006, 286 (295). 38 BVerwG, Urt. v. 16.03.1994 – 6 C 95/13, NVwZ-RR 1994, 582 (583); Hess‑ VGH, Urt. v. 29.04.2010 – 8 A 3247/09, LKRZ 2010, 471 (475); VG Augsburg, Urt. v. 30.07.2002 – Au 9 K 02.138, juris, Rn. 17; VG Regensburg, Urt. v. 08.08.2012 – 34 BVerwG,
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Kap. 8: Verwaltungsprozessuale Rechtsschutzmöglichkeiten
Wenn und soweit der hinreichend konkretisierte Sach- und Rechtsvortrag des Klägers genügenden Anlass für das Gericht bietet, die Rechtmäßigkeit der Ermittlung und / oder Bewertung einer Teilprüfungsleistung in den Blick zu nehmen, ist der Überprüfungsumfang des Gerichtes nicht notwendiger‑ weise auf den durch die konkreten Bewertungsrügen des Klägers abgesteck‑ ten Rahmen beschränkt39. Das Gericht darf und muss vielmehr bei seiner Entscheidung auch solche Rechtsfehler beanstanden, die vom Kläger zwar nicht ausdrücklich behauptet, deren Vorliegen auf der Grundlage seines (vor‑) prozessualen Vorbringens für das Gericht aber offenkundig oder so naheliegend gewesen ist, dass diese nach deshalb gebotener näherer Prüfung festgestellt worden sind40. Es wäre mit den maßgeblichen Verfassungs- und namentlich Grundrechtspositionen des Prüflings (Art. 1 Abs. 3, 12 Abs. 1 Satz 1, 19 Abs. 4 Satz 1 GG) offenkundig unvereinbar, wenn das Gericht sehenden Auges eine aufgrund eines offenbaren Bewertungsfehlers vorlie‑ gende Rechtsverletzung des Klägers ignorieren müsste bzw. dürfte, nur weil er sich auf diesen nicht explizit berufen hat41. Dies gilt namentlich für den Fall, dass der Kläger nicht anwaltlich ver‑ treten ist42. Die Pflicht, objektiv vorliegende und vom Gericht festgestell‑ te Rechtsfehler im Rahmen der Urteilsfindung zu berücksichtigen, gilt im Prinzip auch für nicht gerügte Verfahrensmängel43. Fraglich ist, ob das Gericht aber auch solche Verfahrensmängel in die rechtliche Würdigung des Streitstoffes einbeziehen darf oder gar muss, auf deren Geltendmachung der Kläger bewusst verzichtet hat, weil die aus ihnen herzuleitenden Rechtsfol‑ gen seinem eigentlichen Klagebegehren zuwiderlaufen, indem diese etwa eine Wiederholung der vom Kläger erbrachten Prüfungsleistungen anstatt der von ihm erstrebten Neubewertung derselben erforderlich machen wür‑ de44. Richtigerweise kann eine derartige Berechtigung bzw. Verpflichtung des Gerichtes nur dann angenommen werden, wenn die Außerachtlassung der vom Gericht erkannten Verfahrensmängel die Chancengleichheit der RO 1 K 11.800, juris, Rn. 21; VG Gelsenkirchen, Urt. v. 13.12.2012 – 18 K 2151/11, juris, Rn. 32. 39 Vgl. HessVGH, Urt. v. 26.05.2010 – 8 A 1595/09, LKRZ 2010, 342 (342 f.), unter Bezugnahme auf BVerwG, Bes. v. 24.10.2006 – 6 B 47/06, NVwZ 2007, 104 (105 f.). Wegen der Besonderheiten im Prüfungsrecht erscheint diese Entscheidung aber nur begrenzt übertragbar. 40 Vgl. OVG Koblenz, Urt. v. 16.08.2001 – 2 A 10441/01, juris, Rn. 23; VG Gelsenkirchen, Urt. v. 13.12.2012 – 18 K 2151/11, juris, Rn. 61. 41 Vgl. OVG Koblenz, Urt. v. 16.08.2001 – 2 A 10441/01, juris, Rn. 23. 42 Zu den anderenfalls erhöhten Substantiierungsobliegenheiten siehe nur BVerwG, Bes. v. 01.09.1992 – 6 B 22.92, Buchholz Nr. 421.0 Nr. 302, 213 (214). 43 Vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Bes. v. 27.11.2013 – OVG 7 N 18.13, juris, Rn. 5; Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 893. 44 So ohne erkennbare Einschränkung Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 893.
A. Gegenstand und Voraussetzungen der gerichtlichen Überprüfung571
anderen Prüfungsteilnehmer verletzen würde. Im Übrigen folgt aus der be‑ reits beschriebenen Kehrseite der Substantiierungsobliegenheit bzw. aus der in §§ 86, 88 VwGO niedergelegten Dispositionsbefugnis des Klägers das Recht des Prüflings, auf die Geltendmachung von Verfahrensmängeln, deren Vorliegen sich möglicherweise sogar erst im Rahmen des Verwaltungspro‑ zesses herausgestellt hat, zur Begründung der Rechtswidrigkeit der ange‑ fochtenen Prüfungsentscheidung zu verzichten und eine entsprechende Bindung des Gerichtes an das daran angepasste Klagebegehren45. Dessen ungeachtet besteht im Rahmen der aus § 86 Abs. 1, Abs. 3 VwGO folgenden Aufklärungs- und Hinweispflicht das Recht und die Verpflichtung des Gerichtes, die Prozessbeteiligten auf solche Umstände hinzuweisen, die aus seiner Sicht dem Klagebegehren entgegenstehen, muss dabei aber stets die gebotene Objektivität, Neutralität und Distanz wahren. In diesem Zu‑ sammenhang ist insbesondere der Hinweis des Gerichtes als problematisch anzusehen, dass einer Klausurleistung, deren Neubewertung der Kläger er‑ strebt, ein Täuschungsversuch zugrunde liegen könnte, weil dieser erst nach einer entsprechenden Sanktionierung durch das Prüfungsamt prozesserheb‑ lich wird und diesem insoweit ein Weg aufgezeigt wird, sich einem mögli‑ cherweise bestehenden Neubewertungsanspruch des Klägers zu dessen Lasten zu entziehen46. 2. Weitergehende prozessuale Handlungslasten des Prüflings Auch wenn der Prüfling der vorstehend im Wesentlichen behandelten prozessualen Substantiierungsobliegenheit durch die Einreichung einer ent‑ sprechend dezidierten Klagebegründung nachgekommen ist, lebt diese ggf. erneut wieder auf, wenn die für die streitgegenständlichen Bewertungen verantwortlichen Prüfer auf Veranlassung des Prüfungsamtes und / oder des Gerichtes zu den modifizierten oder neuen Bewertungsrügen des Klägers eine Stellungnahme abgegeben und im Zuge dessen ihre bisherigen Bewer‑ tungsbegründungen (nochmals) schriftlich und / oder mündlich erläutert und / oder ergänzt haben47. Der Prüfling ist in diesem Fall zur erneuten Überprüfung angehalten, ob und inwieweit durch die ergänzenden Stellung‑ nahmen der Prüfer nunmehr seinen Monita des Vorliegens eines Begrün‑ dungs- und Abwägungsdefizits oder sonstiger Bewertungsfehler möglicher‑ 45 Siehe bereits Unger, VBlBW 2012, 358 (362); zur Bindung des Gerichts an das Klagebegehren siehe im Übrigen nur Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 892 f., insb. 894. 46 Vgl. zu einer bei solchen Hinweisen des Gerichtes möglicherweise gegebe‑ nen Befangenheit Czybulka, in: Sodan/Ziekow, VwGO, § 54, Rn. 72. 47 Vgl. VG Schwerin, Urt. v. 22.03.2007 – 3 A 137/06, juris, Rn. 28.
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weise die Grundlage entzogen worden ist. Gelangt er dabei zu der Erkennt‑ nis, dass die Einlassungen der Prüfer seine vorgetragenen Rechtmäßigkeits‑ zweifel nicht ausräumen können, obliegt es ihm, dies abermals konkret und nachvollziehbar gegenüber dem Gericht darzulegen, soweit dazu aufgrund des Inhalts der Prüferstellungnahmen Veranlassung besteht. Wenn der Prüf‑ ling in dem Vorbringen der Prüfer weitere argumentative Ansatzpunkte für die von ihm behauptete Rechtsfehlerhaftigkeit der angegriffenen Bewertun‑ gen erkennt, sollte er diese zur Verbreiterung seiner subjektiven Argumen‑ tationsbasis durch entsprechend ergänzten Prozessvortrag nutzen. Möglicherweise gelangt der Prüfling nach einer Befassung mit den ihre Kritik verteidigenden Ausführungen der Prüfer aber auch zu der Erkenntnis, dass die von ihm gerügten Prüfungsmängel tatsächlich nie vorgelegen haben oder sie – durch eine zur Behebung eingeräumter Korrekturfehler oder zur Beseitigung des Defizits einer unzureichenden oder völlig fehlenden Begrün‑ dung erfolgte – (teilweise) Neubewertung seiner Prüfungsleistung (vollstän‑ dig) beseitigt worden sind. In diesem Fall, in dem also auch durch eine Er‑ gänzung des bisherigen Klagevorbringens das Vorliegen eines Neubewer‑ tungsanspruchs nicht mehr dargetan werden könnte, obliegt es dem Prüfling, zur Abwendung drohender prozessualer Nachteile und einer daraus resultie‑ renden Kostenlast die Klage zurückzunehmen (§ 92 VwGO) oder den Rechts‑ streit in der Hauptsache für erledigt zu erklären (§ 161 Abs. 2 VwGO). Auf diese etwaigen Handlungslasten des Prüflings ist im Rahmen der Erörterung der Möglichkeiten der Prozessbeendigung noch näher einzugehen.
B. Erneuter Eintritt in das Überdenkungsverfahren? Zunächst soll hier den mit den vorstehenden Ausführungen bereits ange‑ legten Fragen nachgegangen werden, inwieweit eine (erneute) Einbindung der Prüfer in die (gerichtliche) Überprüfung der Rechtmäßigkeit der vom Kläger angegriffenen Prüfungsentscheidung zulässig ist und ob der Prüfling aufgrund der damit einhergehenden Änderung des Streitgegenstandes / der Einwendungsgrundlage seinerseits eine erneute Beteiligung der Prüfer zwecks Befassung mit seinen modifizierten Bewertungsrügen beanspruchen kann.
I. Prüferbeteiligung gegen den Willen des Prüflings? Zunächst ist im Hinblick auf beide vorstehenden Fragen festzustellen, dass eine (erneute) verwaltungsinterne Kontrolle der Prüfungsentscheidung dem Prüfling im Prinzip eine zusätzliche Rechtsschutzmöglichkeit eröffnet, weil die Prüfer auch unabhängig von dem Vorliegen eines Bewertungsfeh‑
B. Erneuter Eintritt in das Überdenkungsverfahren?573
lers – auf dessen Feststellung das Verwaltungsgericht beschränkt ist – inner‑ halb des ihnen zukommenden Bewertungsspielraums eine dem Prüfling günstigere Abwägungsentscheidung treffen können. Während daher die au‑ ßergerichtliche Durchführung eines Überdenkungsverfahrens auch im (allei‑ nigen) Interesse des Prüflings liegt, bezweckt eine auf Veranlassung des Prüfungsamtes erfolgende (erneute) Befassung der Prüfer mit den Einwen‑ dungen des Prüflings während des Verwaltungsprozesses in erster Linie dessen Klaglosstellung zu seinen Ungunsten. Von daher nimmt es auch nicht wunder, dass die bereits erörterte Zulässigkeit des Verzichts des Prüf‑ lings auf die außergerichtliche Durchführung des Überdenkungsverfahrens außer Frage steht, während demgegenüber die Rechtmäßigkeit einer prozes‑ sualen Prüferbeteiligung, die entgegen dem klägerischen Begehren oder zumindest unabhängig von einem solchen erfolgt, wie zum Teil bereits dargestellt kontrovers diskutiert wird. Insoweit ist aber in Ergänzung der bisherigen Ausführungen darauf hinzuweisen, dass die Problematik einer gegen den Willen des Prüflings erfolgenden Prüferbeteiligung schon in der älteren Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichtes und des Bundesfi‑ nanzhofs mit folgenden Ergebnissen erörtert worden ist: Das Bundesverwal‑ tungsgericht hat in seiner maßgeblichen Entscheidung den unmissverständ‑ lichen Rechtssatz aufgestellt, dass es (allein) der Dispositionsmaxime des Prüflings unterliege, abzuwägen, ob er vorrangig das verwaltungsinterne Verfahren des Überdenkens der Prüfungsentscheidung durch die Prüfer durchführen lassen will oder nicht vielmehr – mit dem Ziel einer schnellst‑ möglichen Entscheidung – allein eine Rechtskontrolle durch das Verwal‑ tungsgericht anstrebt, weil er auch Rechtsfehler geltend macht und meint, dass seinem Rechtsschutzbegehren mit einer schnellen Aufhebung der Prü‑ fungsentscheidung am besten gedient sei48. Begehre der Prüfling nach einer erfolgten Abwägung eine sofortige Entscheidung des Gerichtes, bege‑ he dieses einen Verfahrensfehler, wenn es dennoch die Aussetzung des ge‑ richtlichen Verfahrens anordne49. Nachfolgend hat sich der Bundesfinanz‑ hof dieser Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichtes für die Anfech‑ tung der Ergebnisse der Steuerberaterprüfung angeschlossen und noch pointierter festgestellt, dass das verwaltungsinterne Verfahren des Überden‑ kens der Prüfungsentscheidung durch die ursprünglichen Prüfer dem Prüf‑ ling nicht ohne seinen Willen aufgedrängt werden dürfe50. Zwar sind beide Entscheidungen zu einem Zeitpunkt ergangen, zu dem die Durchführung eines Überdenkungsverfahrens vor Klageerhebung auch mangels gesetzlicher Regelung desselben noch nicht obligatorisch war und 48 Vgl.
BVerwGE 92, 132 (146). 92, 132 (140). 50 BFHE 172, 273 (277). 49 BVerwGE
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Kap. 8: Verwaltungsprozessuale Rechtsschutzmöglichkeiten
übergangsweise daher nur während des gerichtlichen Verfahrens – auf An‑ trag des Klägers – durch dessen förmliche Aussetzung nach § 94 VwGO oder auch unabhängig davon im Wege der Sachaufklärung nachgeholt wer‑ den musste. Nach wie vor stellt allerdings der Anspruch des Prüflings auf Durchführung eines verwaltungsinternen Kontrollverfahrens auch nach dessen durchweg erfolgter Normierung in den Prüfungsordnungen einen Nebenanspruch zur Durchsetzung einer rechtmäßigen Prüfungsentscheidung dar51. Steht die Verwirklichung dieses (Neben‑) Anspruchs erst anlässlich eines bereits anhängigen Verwaltungsprozesses zur Diskussion, unterliegt diese auch heute noch der Dispositionsmaxime des Klägers52. Auch wenn die Beteiligung der Prüfer im Regelfall angesichts des Umstandes, dass in Prüfungsanfechtungsprozessen die gerichtliche Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der Prüfungsentscheidung ohnehin durchschnittlich erst nach einem Jahr ergeht, zu keiner weiteren Verzögerung führt, so begehen die Gerichte bei Zugrundelegung der Rechtsprechung des Bundesverwal‑ tungsgerichtes und des Bundesfinanzhofs einen Verfahrensfehler, wenn sie entgegen dem Begehren des Klägers eine verwaltungsinterne Kontrolle in die Wege leiten. Dieser Rechtsauffassung kann im Anschluss an die schon bisher erfolgten Darlegungen zum Umfang der Dispositionsbefugnisse des Klägers im gerichtlichen Verfahren ohne Weiteres beigepflichtet werden. Wenn der Kläger keinen Antrag auf die erstmalige oder ergänzende Durch‑ führung des verwaltungsinternen Kontrollverfahrens stellt, kann sich das Gericht darüber ebenso wenig hinwegsetzen wie über einen in einer be‑ stimmten Art und Weise gestellten Hauptantrag. Hinzu kommt, dass der außergerichtlich erklärte und grundsätzlich für beachtlich gehaltene Verzicht des Prüflings auf die Durchführung eines Überdenkungsverfahrens letztlich schlicht ignoriert werden würde, wenn man die Nachholung desselben wäh‑ rend des gerichtlichen Verfahrens und gegen den Willen des Prüflings für zulässig erachten würde53. Bei alledem ist zu beachten, dass hinter einem erklärten Verzicht des Prüflings auf die Durchführung des verwaltungsinter‑ nen Kontrollverfahrens die nicht fernliegende Befürchtung einer anderen‑ falls erfolgenden Verschlechterung seiner Rechtsstellung liegen kann. Inso‑ weit erscheint es keineswegs ausgeschlossen, dass sich die Chance des Prüflings, eine bessere Bewertung der streitgegenständlichen Prüfungsleis‑ tung zu erreichen, verschlechtern kann, wenn der Prüfer seine Bewertung bereits einmal unter voller Ausschöpfung seines Abwägungsspielraums unter Festhaltung an seiner (fachspezifischen) Kritik überdacht und diese auf‑ 51 BVerwG,
Bes. v. 10.07.1998 – 6 B 63/98, juris, Rn. 8. wohl auch VG Berlin, Urt. v. 19.01.2005 – 12 A 413.02, juris, Rn. 24. 53 Dies verkennt das VG Augsburg, Bes. v. 17.02.2002 – Au 9 K 03.650, juris, Rn. 23. 52 So
B. Erneuter Eintritt in das Überdenkungsverfahren?575
rechterhalten hat54. Es kann durchaus von Vorteil sein, wenn das Gericht dem Prüfer aufgibt, die Klausur unter der Beachtung seiner Rechtsauffas‑ sung erneut zu bewerten, und dessen erneute Bewertungsentscheidung durch die Vorgabe verbindlicher Abwägungsdirektiven von vornherein steuert. Praktisch bedeutsamer als eine dem Begehren des Klägers widersprechen‑ de Einleitung des verwaltungsinternen Kontrollverfahrens durch das Gericht ist aber eine ebensolche durch das Prüfungsamt. Für diesen Fall gelten je‑ doch die vorstehenden Grundsätze entsprechend mit der Maßgabe, dass in diesem Fall das Gericht das Prüfungsamt zwar nicht daran hindern kann, (erneute) Stellungnahmen der Prüfer einzuholen, es diese seiner Entschei‑ dung dann aber nicht zugrunde legen darf55, sondern bei ihr von dem Klage- und Streitgegenstand ausgehen muss, wie er von dem Kläger in den Prozess eingeführt worden ist. Soweit hiernach der Befund gesichert werden kann, dass das verwal‑ tungsinterne Kontrollverfahren erstmals oder ergänzend nicht gegen den erkennbaren Willen des Prüflings während des Verwaltungsprozesses durch‑ geführt werden darf, bedeutet dies keineswegs, dass jegliche nicht dem ausdrücklichen Begehren des Klägers entsprechende Involvierung der Prüfer in den Prozess als unzulässig angesehen werden müsste. So muss ein erklär‑ ter Verzicht des Prüflings auf eine (ergänzende) Durchführung des Überden‑ kungsverfahrens wegen eines Verstoßes gegen den auch im Öffentlichen Recht geltenden Grundsatz von Treu und Glauben (§ 242 BGB) zunächst als unbeachtlich angesehen werden, wenn er ausdrücklich die unterbliebene oder unzureichende Durchführung dieses Verfahrens rügt, um womöglich dadurch eine Neubewertung der streitgegenständlichen Bewertungen unter Aufhebung des entgegenstehenden Prüfungsbescheides zu erreichen. Zudem muss von einer Nachholung oder ergänzenden Durchführung des verwal‑ tungsinternen Kontrollverfahrens die Neubewertung der Prüfungsleistung in Anerkennung der Berechtigung der Bewertungsrügen des Klägers unter‑ schieden werden, auch wenn dies im Einzelfall sehr schwierig sein kann56. Von einer „echten“ Neubewertung kann aber nur dann ausgegangen werden, wenn das Prüfungsamt das Vorliegen von Bewertungsfehlern – und sei dies auch nur das Monitum des Klägers einer fehlenden oder unzureichenden Begründung – einräumt und demgemäß die Prüfer dazu verpflichtet, die Klausur unter Beachtung seiner Rechtsauffassung neu zu bewerten. Diesbe‑ züglich ist anerkannt, dass das Prüfungsamt einem entsprechenden Beschei‑ 54 Vgl. zu diesem Aspekt VG Bremen, Bes. v. 25.03.1998 – 7 KV 2915/97, n. v., BU S. 5. 55 Anders VG Augsburg, Bes. v. 17.02.2004 – Au 9 K 03.650, juris, Rn. 23. 56 Vgl. zur notwendigen Differenzierung BVerwG, Urt. v. 30.01.1995 – 6 C 1/92, NVwZ 1995, 788 (789).
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Kap. 8: Verwaltungsprozessuale Rechtsschutzmöglichkeiten
dungsurteil des Gerichtes zuvorkommen darf57. In der Praxis erfolgt aller‑ dings ganz überwiegend keine „echte“ Neubewertung, sondern die bloße Einholung von Stellungnahmen der Prüfer, in denen diese die bisherige Kritik und ihre Bewertung aufrechterhalten, die sich dann zulasten des Klä‑ gers perpetuiert.
II. Anspruch des Prüflings auf (erneute) Prüferbeteiligung? Aus Sicht des Prüflings entsteht das Bedürfnis für den erstmaligen oder ergänzenden Eintritt in ein Prüferbeteiligungsverfahren insbesondere dann, wenn das Ursprungsvotum des Prüfers aufgrund einer (beinahe) vollständig fehlenden Begründung der erfolgten Bewertung im Laufe des Verwaltungs‑ prozesses durch eine Neubewertung ganz oder teilweise ersetzt wird oder sich dessen Gestalt durch einwendungsbezogene Stellungnahmen des Prü‑ fers (erheblich) verändert und sich auf Basis dieser veränderten Einwen‑ dungsgrundlage erstmals oder neue Angriffspunkte ergeben. Da die Prüfungsämter ganz überwiegend den Widerspruch nach Eingang der eingeholten Prüferstellungnahmen auf deren Grundlage bescheiden, ohne dem Prüfling nochmals eine Äußerungsmöglichkeit einzuräumen, kann aber jedenfalls aus Sicht des Prüflings unter den soeben erörterten Prämis‑ sen gleichfalls die Notwendigkeit entstehen, bereits vor Einreichung einer Klagebegründung und einer etwaigen Stellungnahme der Prüfer zu den da‑ rin vorgetragenen Bewertungsrügen unmittelbar nach Erhalt des Wider‑ spruchsbescheides, die Prüfer erstmals oder erneut mit seinen Einwendungen außerhalb oder während des bereits laufenden Verwaltungsprozesses zu konfrontieren. Offenkundig ist das fortwährende Begehren des Prüflings auf eine Prüfer‑ beteiligung auch dann, wenn ein verwaltungsinternes Kontrollverfahren bisher noch gar nicht durchgeführt worden ist, weil das Prüfungsamt dieses wegen angeblich unsubstantiierter Einwände gar nicht erst eingeleitet hat oder es aus Sicht des Prüflings nicht ordnungsgemäß durchgeführt worden ist, weil die Prüfer nicht zu allen seiner substantiierten Einwände Stellung genommen haben. Schließlich mag es sein, dass der Prüfling seiner Obliegenheit zur Erhe‑ bung substantiierter Einwände nicht nachgekommen ist, weil er eine gesetzte Frist zur Begründung des Widerspruchs versäumt oder von deren Erhebung insgesamt oder in Bezug auf die Bewertung einzelner Teilleistungen zunächst bewusst abgesehen hat. Auch in diesen Fällen kann ein offenkundiges Be‑ dürfnis für die Nachholung der verwaltungsinternen Kontrolle entstehen. 57 BVerwGE
91, 262 (272).
B. Erneuter Eintritt in das Überdenkungsverfahren?577
In allen der vorstehend beschriebenen Fallkonstellationen ist es fraglich und im Ergebnis auch umstritten, ob der Prüfling nach Abschluss des Wi‑ derspruchsverfahrens einen Anspruch auf die erstmalige bzw. ergänzende Durchführung des Überdenkungsverfahrens hat. 1. (Fehlende) Einfach-rechtliche Regelungen Bevor die einzelnen Standpunkte nachfolgend referiert und bewertet wer‑ den, sind zunächst einmal die in Bezug auf diese Ausgangsfrage relevanten einfach-rechtlichen Grundlagen darzustellen, von denen ausgehend die Dis‑ kussion geführt werden muss. a) Die Rechtslage in Bayern Hier lassen sich belastbare Aussagen hinsichtlich des maßgeblichen Zeit‑ punktes der Durchführung des verwaltungsinternen Kontrollverfahrens nur der in § 14 JAPO Bayern getroffenen Regelung entnehmen. Da das hier vorgesehene Nachprüfungsverfahren nicht wie in den anderen Bundeslän‑ dern innerhalb des Widerspruchsverfahrens, sondern als eigenständiges Nachprüfungsverfahren durchgeführt wird und in der Praxis nicht vor Ab‑ lauf der Klagefrist nach § 74 Abs. 1 Satz 2 VwGO seinen Abschluss findet, muss der Prüfling zur Meidung der Bestandskraft des Prüfungsbescheides rechtzeitig Klage gegen diesen erheben58. Der Prüfling muss also de facto das verwaltungsinterne Kontrollverfahren neben dem gerichtlichen Verfah‑ ren betreiben, wenn er sich die Möglichkeit der gerichtlichen Überprüfung der dem Prüfungsbescheid zugrunde liegenden Einzelbewertungen bzw. der rechtmäßigen Durchführung des Nachprüfungsverfahrens offen halten will59. Aus dieser Erkenntnis lässt sich aber noch nichts für die Beantwortung der Frage ableiten, ob nach dem Abschluss oder dem Ablauf der Fristen des für die Selbstkontrolle der Prüfer vorgesehenen (Widerspruchs‑)Verfahrens auf Antrag des Prüflings erstmals oder erneut in ein Prüferbeteiligungsver fahren parallel zum laufenden Verwaltungsprozess eingestiegen werden kann bzw. gar muss. Jedenfalls für die erstmalige Erhebung von Ein wendungen gegen die Bewertung der dem Prüfungsbescheid zugrunde lie‑ genden Einzelbewertungen, deren Überdenken durch die Prüfer der Prüf‑ ling erstrebt, liefert die Rechtslage in Bayern aber einen eindeutigen Befund. Da nach § 14 Abs. 4 Satz 1 JAPO Bayern der Prüfling mit seinen Einwen‑ 58 Vgl. BayVGH, Bes. v. 09.08.2012 – 59 Vgl. BayVGH, Bes. v. 09.08.2012 –
Bes. v. 08.02.2012 – 7 BV 11.2480, juris, Rn. 16, 18; BVerwG, 6 B 19/12, NVwZ 2013, 83 (84). Bes. v. 08.02.2012 – 7 BV 11.2480, juris, Rn. 16, 18; BVerwG, 6 B 19/12, NVwZ 2013, 83 (84).
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Kap. 8: Verwaltungsprozessuale Rechtsschutzmöglichkeiten
dungen ausgeschlossen ist, wenn er sie nicht innerhalb der in § 14 Abs. 2, 3 JAPO Bayern normierten Fristen geltend macht und begründet, kann der Prüfling nach deren ungenutztem Ablauf jedenfalls in Bezug auf bisher noch nicht streitgegenständliche Bewertungen die Durchführung eines Nachprüfungsverfahren während des Gerichtsverfahrens grundsätzlich nicht mehr verlangen. Da die in § 14 Abs. 2, 3 JAPO Bayern normierten Fristen für die Erhebung und Geltendmachung der Einwendungen bereits durch die ordnungsgemäße Bekanntgabe des Prüfungsbescheides in Lauf gesetzt wer‑ den, ist der Prüfling aber auch mit Einwendungen, die ihre Grundlage in den Stellungnahmen der Prüfer (und nicht in den Ursprungsvoten) haben und die er erst nach Abschluss des Nachprüfungsverfahrens erhebt, im Prin‑ zip präkludiert. Etwas anderes gilt nur dann, wenn die Prüfer ihre Bewer‑ tungen im Nachprüfungsverfahren ändern und daraufhin der Prüfungsbe‑ scheid nach den Art. 48 bzw. 49 BayVwVfG aufgehoben und durch einen neuen ersetzt wird60. In diesem Fall hätte der Prüfling dann aber auch die Möglichkeit, Einwendungen gegen Prüfungsleistungen zu erheben, deren Bewertung er im ersten Nachprüfungsverfahren noch nicht angefochten hatte. Ist das Nachprüfungsverfahren vom Prüfungsamt wegen angeblich nicht hinreichender Substantiierung der Einwendungen gar nicht erst einge‑ leitet worden, steht § 14 JAPO Bayern einer Durchführung des Verfahrens nach Ablauf der in § 14 Abs. 2, 3 JAPO Bayern normierten Fristen und einer etwaigen gerichtlichen Durchsetzung des Überdenkensanspruchs of‑ fensichtlich nicht entgegen. Dies gilt auch für den Fall, dass das Nachprü‑ fungsverfahren nach Ansicht des Prüflings nicht ordnungsgemäß durchge‑ führt worden ist und eine ergänzende Beteiligung der Prüfer erforderlich macht. b) Die Rechtslage in den übrigen Bundesländern Im Übrigen lassen sich den einschlägigen Bestimmungen in den Juristen‑ ausbildungsgesetzen bzw. -verordnungen keine eindeutigen Aussagen hin‑ sichtlich der inmitten stehenden Frage entnehmen. Dies gilt insbesondere dann, wenn sich diese auf die Festlegung beschränken, dass gegen Verwal‑ tungsakte, denen eine Bewertung von Prüfungsleistungen zugrunde liegt, das Widerspruchsverfahren stattfindet61. Aber auch wenn in den jeweiligen das Widerspruchsverfahren eröffnenden landesrechtlichen Vorschriften – wie etwa in § 9 Abs. 6 JAPO Rheinland-Pfalz – ausdrücklich die Einholung von 60 Siehe zu dieser Verwaltungspraxis BayVGH, Bes. v. 08.02.2012 – 7 BV 11.2480, juris, Rn. 17. 61 § 13 Abs. 5 NJAG; § 23 JAG Hessen; § 17 JAG M-V; § 5 ThürJAG; § 22 Satz 1 JAG Berlin/Brandenburg; siehe auch § 29 JAVO S.-H.; § 3a SächsJAG; § 12 Abs. 4 Satz 2, 3 JAPG Bremen.
B. Erneuter Eintritt in das Überdenkungsverfahren?579
Prüferstellungnahmen bei Einwendungen des Prüflings gegen die Bewer‑ tung einzelner Prüfungsleistungen innerhalb des Widerspruchsverfahrens vorgesehen ist62, steht deren Wortlaut einer (ergänzenden) Durchführung des Überdenkungsverfahrens nach dessen Abschluss parallel zu einem lau‑ fenden Verwaltungsprozess nicht ohne Weiteres entgegen. 2. Differenzierung wesentlicher Fallgruppen Für das Verständnis der Diskussion erscheint es wesentlich, zunächst zwischen zwei Fallgruppen zu unterscheiden, nämlich einerseits derjenigen, dass die Gründe für die unterbliebene (oder nicht ordnungsgemäße) Durch‑ führung des Überdenkungsverfahrens in der Sphäre des Prüfungsamtes lie‑ gen, andererseits derjenigen, dass diese aus dem Verantwortungsbereich des Prüflings stammen. a) Verantwortlichkeit des Prüfungsamtes Die unterbliebene bzw. nicht ordnungsgemäße Durchführung des Über‑ denkungsverfahrens ist vom Prüfungsamt zu verantworten, wenn es ein Überdenkungsverfahren wegen seiner Ansicht nach nicht hinreichender Substantiierung der Einwände gar nicht erst eingeleitet hat, dieses in der Sache nicht stattgefunden hat, weil der Prüfer im Rahmen des verwaltungs‑ internen Kontrollverfahrens keine Einwände des Prüflings überdacht, son‑ dern eine Neubewertung der Prüfungsleistung mit erstmals ordnungsgemä‑ ßer Begründung vorgenommen hat oder im Falle einer unterbliebenen oder unzureichenden Stellungnahme des Prüfers nicht auf eine Nachbesserung hingewirkt hat. aa) Neubewertung der Prüfungsleistung mit erstmaliger Begründung Als unproblematisch hinsichtlich der Frage des (Fort‑) Bestehens des Überdenkensanspruchs des Prüflings stellt sich noch die Konstellation dar, dass der Prüfling durch eine Neubewertung der Prüfungsleistung mit deren erstmaliger Begründung überhaupt erst in den Stand versetzt wird, subs‑ tantiierte Einwände gegen die Bewertung zu erheben. Das Bundesverwal‑ tungsgericht hat für diesen Fall unmissverständlich klargestellt, dass dem Prüfling hier in demselben Umfang das Recht eingeräumt werden müsse, 62 §§ 5 Abs. 3, 7 Abs. 4 JAG RLP; § 9 Abs. 7 JAPO RLP; § 27 Abs. 1 JAG NRW; §§ 18a, 32a JAG Saarland; § 8 JAG LSA.
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Kap. 8: Verwaltungsprozessuale Rechtsschutzmöglichkeiten
im Rahmen eines verwaltungsinternen Kontrollverfahrens Einwendungen gegen die Bewertung zu erheben, wie einem Prüfling, der aufgrund einer von Anfang an ordnungsgemäßen Begründung der Bewertung unmittelbar in den Stand versetzt war, seine Bewertungsrügen zu formulieren63. Es ist nicht ersichtlich, dass dieser Rechtsstandpunkt des Bundesverwaltungsge‑ richtes zu irgendeinem Zeitpunkt von irgendjemandem infrage gestellt wor‑ den wäre64. bb) Unterbliebene Durchführung des Überdenkungsverfahrens Als in der rechtlichen Behandlung unumstritten stellt sich auch noch die Fallkonstellation dar, in der die Einleitung eines verwaltungsinternen Kon trollverfahrens vom Prüfungsamt wegen der aus seiner Sicht nicht hinrei‑ chend substantiierten Einwände abgelehnt wird. Zwar soll eine unterbliebe‑ ne Durchführung des Überdenkungsverfahrens die Rechtmäßigkeit des Prüfungsbescheides nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerich‑ tes nicht unmittelbar berühren65. Da es sich bei dem verwaltungsinternen Kontrollverfahren um ein eigenständiges Verfahren handele, könne sich sein Fehlen oder ein bei Durchführung desselben unterlaufener Formfehler auf die Rechtmäßigkeit der Bewertung nicht unmittelbar auswirken66. Derartige Fehler führten lediglich dazu, dass die Sache für das Gericht regelmäßig noch nicht entscheidungsreif sei, da die in Bezug auf etwaige Bewertungs‑ spielräume unvollkommene und unvollständige Rechtskontrolle des Aus‑ gleichs und einer Ergänzung durch ein verwaltungsinternes Überdenken der Bewertungen in geeigneter Form bedürfe67. Das Bundesverwaltungsgericht hat in einer aktuellen Entscheidung aber nochmals klargestellt, dass der aus Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG folgende An‑ spruch auf Durchführung eines verwaltungsinternen Kontrollverfahrens leerliefe, wenn im Falle einer Erfüllungsverweigerung des Prüfungsamtes dem Prüfling gegen diese kein Rechtsschutz eröffnet wäre68. Folglich kann der Prüfling nach dieser Rechtsauffassung die Durchführung des ver‑ 63 Vgl.
BVerwGE 91, 262 (275). zustimmend etwa BayVGH, Bes. v. 14.09.2000 – 7 B 99.3753, juris, Rn. 26. 65 BVerwGE 92, 132 (139); BVerwG, Urt. v. 16.04.1997 – 6 C 9/95, NJW 1998, 323 (327). 66 BVerwG, Urt. v. 16.04.1997 – 6 C 9/95, NJW 1998, 323 (327). 67 BVerwG, Urt. v. 16.04.1997 – 6 C 9/95, NJW 1998, 323 (327); siehe nun auch BVerwG, Bes. v. 09.08.2012 – 6 B 19/12, NVwZ 2013, 83 (84). 68 BVerwG, Bes. v. 09.08.2012 – 6 B 19/12, NVwZ 2013, 83 (84 f.); siehe auch BVerwGE 109, 211 (214). 64 Ausdrücklich
B. Erneuter Eintritt in das Überdenkungsverfahren?581
waltungsinternen Kontrollverfahrens auch noch während eines laufenden gerichtlichen Verfahrens verlangen. Auch diese Ansicht des Bundesverwal‑ tungsgerichtes ist ausdrücklich bisher nicht infrage gestellt worden. cc) Ungenügende Durchführung des Überdenkungsverfahrens Innerhalb der in der Sphäre des Prüfungsamtes liegenden Gründe für eine unterbliebene bzw. unzureichende Durchführung des Überdenkungsverfah‑ rens ist vor allem die Behandlung der Konstellation umstritten, dass ein Überdenkungsverfahren zwar eingeleitet, dieses aber nicht ordnungsgemäß durchgeführt wird, weil die Prüfer sich entweder gar nicht oder (völlig) unzureichend mit den Einwendungen des Prüflings auseinandersetzen. Nach der soeben dargelegten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichtes soll ein solcher Mangel die Rechtmäßigkeit des Prüfungsbescheides ebenso wenig berühren. Im Übrigen hat das Bundesverwaltungsgericht in einem aktuellen Beschluss die vom Senat bisher noch nicht entschiedene Frage ausdrücklich offen gelassen, inwieweit gerichtlicher Rechtsschutz auch ge‑ gen die Missachtung grundlegender Anforderungen an die Gestaltung des verwaltungsinternen Kontrollverfahrens eröffnet sein müsse69. Aus der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichtes lässt sich damit (noch) nichts für die Frage herleiten, ob der Prüfling im Falle der unzureichenden Durchführung des Überdenkungsverfahrens die erneute Befassung der Prü‑ fer mit seinen übergangenen oder unzureichend beschiedenen Einwendun‑ gen verlangen kann. In der instanzgerichtlichen Rechtsprechung wird diese uneinheitlich beantwortet. Das OVG Münster hat den bislang nicht aufgegebenen Standpunkt einge‑ nommen, dass dem Prüfungsanspruch des Prüflings nicht genügt und die Prüfungsentscheidung aufzuheben sei, wenn die Prüfer zu substantiierten Einwänden des Prüflings nicht (oder nicht in dem gebotenen Umfang) Stel‑ lung nehmen70. Dabei hatte es zwar eine Nachholung des verwaltungsinter‑ nen Kontrollverfahrens erwogen, diese Möglichkeit im konkreten Fall aber mit dem Argument abgelehnt, dass in dem der Entscheidung zugrunde lie‑ genden Sachverhalt71 aufgrund des vorgesehenen Widerspruchsverfahrens die Möglichkeit für ein Überdenken durch die Prüfer bereits bestanden, das Bundesverwaltungsgericht aber nur für die Übergangsfälle bis zu einer ge‑ setzlichen Normierung des Überdenkungsverfahrens die Möglichkeit des 69 BVerwG,
Bes. v. 09.08.2012 – 6 B 19/12, NVwZ 2013, 83 (85). Münster, Urt. v. 06.09.1995 – 22 A 1844/94, DVBl 1996, 446 (446); ebenso Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 557. 71 Vgl. zu dem der Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt OVG Müns‑ ter, Urt. v. 06.09.1995 – 22 A 1844/94, DVBl 1996, 446 (446). 70 OVG
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Kap. 8: Verwaltungsprozessuale Rechtsschutzmöglichkeiten
Nachholens des Überdenkens bejaht habe72. Überdies sei es im konkreten Fall aufgrund der schon vier Jahre zurückliegenden Prüfungsentscheidung schlicht ausgeschlossen, dass die Prüfer noch eine am Prüfungsablauf ori‑ entierte Überprüfung ihrer Bewertung der (mündlichen) Prüfungsleistungen vornehmen könnten73. Das OVG Lüneburg vertritt im Anschluss an das Bundesverwaltungsgericht die Auffassung, dass der im gerichtlichen Verfah‑ ren anhängige Prüfungsrechtsstreit in diesem Fall noch nicht entscheidungs‑ reif sei und demgemäß ergänzende Stellungnahmen der Prüfer eingeholt werden müssten74. Das VG Gelsenkirchen hat eine Neubewertung der Prü‑ fungsleistung für den Fall erwogen, dass das Überdenkungsverfahren nicht ordnungsgemäß durchgeführt worden ist75. Das OVG Berlin hat nun in der im gegebenen Zusammenhang geführten Diskussion den an sich unmissverständlichen Rechtsstandpunkt eingenom‑ men, dass der Prüfling keinen Anspruch auf die Durchführung eines ergän‑ zenden Überdenkungsverfahrens nach Abschluss des Widerspruchsverfah‑ ren mehr habe, wenn sich seine Einwände gegen erstmals im Wider‑ spruchsverfahren abgegebene Äußerungen und Bewertungen der Prüfer richten76. „Einen Anspruch auf ein ‚Überdenken des Überdenkens‘ mit der Folge, dass ein Prüfling jede nachträgliche Stellungnahme der Prüfer zum Anlass für die Fortsetzung des Überdenkungsverfahrens nehmen kann“, gäbe es nicht77. Unklar werden die Ausführungen des OVG Berlin aber, soweit es dann einerseits weiter heißt, dass der Prüfling durch diese Rechtssauffassung nicht rechtsschutzlos gestellt werde, weil das ergänzte Ursprungsvotum in dieser Gestalt zum Gegenstand der gerichtlichen Kon‑ trolle werde, andererseits ein Anspruch des Prüflings auf eine Entschei‑ dung des Prüfungsamtes für den Fall erwogen wird, dass die nachträgli‑ chen Stellungnahmen der Prüfer Anhaltspunkte für eine Überschreitung ihres Bewertungsspielraums bieten78. Damit könnte gemeint sein, dass ein fortbestehender Überdenkensanspruch des Prüflings bei Einwänden beste‑ hen könnte, die sich allein gegen die prüfungsspezifischen Wertungen der Prüfer richten. Eindeutige Schlüsse lassen sich aber aus dieser Formulie‑ rung nicht ziehen. 72 Vgl. zu dem der Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt OVG Müns‑ ter, Urt. v. 06.09.1995 – 22 A 1844/94, DVBl 1996, 446 (446). 73 OVG Münster, Urt. v. 06.09.1995 – 22 A 1844/94, DVBl 1996, 446 (447). 74 OVG Lüneburg, Bes. v. 01.08.2008 – 2 ME 324/08, Nds. Rechtspfleger 2008, 411 (412). 75 VG Gelsenkirchen, Urt. v. 27.10.2010 – 4 K 4594/09, n. v., BU S. 7. 76 OVG Berlin, Urt. v. 13.09.2012 – OVG 10 B. 5.11, juris, Rn. 70. 77 OVG Berlin, Urt. v. 13.09.2012 – OVG 10 B. 5.11, juris, Rn. 70. 78 OVG Berlin, Urt. v. 13.09.2012 – OVG 10 B. 5.11, juris, Rn. 70.
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In der Literatur treten Niehues / Fischer / Jeremias (nur) dafür ein, die ne‑ gative Prüfungsentscheidung aufzuheben, wenn der Prüfer in seiner Stel‑ lungnahme nicht substantiiert auf die Einwände des Prüflings eingeht und (damit) nicht erkennbar ist, ob er selbstkritisch seine Maßstäbe überdacht hat. Dies allerdings explizit auch nur für den Fall, dass es an einer Zweit‑ bewertung der Prüfungsleistung fehlt79. Auch wenn es für die Beantwortung der im Raum stehenden Frage nicht unmittelbar relevant ist, so soll kurz auf die nach dem Dargelegten im Raum stehende Frage eingegangen werden, welche Auswirkungen eine feh‑ lerhafte Durchführung des Überdenkungsverfahrens auf die Rechtmäßigkeit des Prüfungsbescheides hat, da deren Beantwortung im Ergebnis doch wie‑ der zur Ausgangsfrage führt. Der Prüfling hat wie gesehen einen aus Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG folgen‑ den Anspruch darauf, dass seine Leistungen verfahrens- und bewertungsfeh‑ lerfrei ermittelt und bewertet werden. Liegt ein Verfahrensfehler im Stadium der Leistungsermittlung vor, hat er bei dessen Erheblichkeit für das Prü‑ fungsergebnis einen Anspruch auf (teilweise) Neuerbringung der (Prü‑ fungs‑)Leistung. Eine (teilweise) Neubewertung derselben kann er nur bei ergebniskausalen Bewertungsfehlern verlangen. Da im Überdenkungsverfah‑ ren keine Leistungen des Prüflings mehr ermittelt werden, sondern die Prüfer im Rahmen desselben nur eine Selbstkontrolle ihrer Bewertung vornehmen (sollen), kann allein deshalb ein Fehler bei deren Durchführung die Rechtmäßigkeit der Prüfungsentscheidung unmittelbar nicht mehr berüh‑ ren. Im Übrigen ist das Prüfungsverfahren mit der Bekanntgabe des Prü‑ fungsbescheides abgeschlossen und mit der Einlegung eines Widerspruchs gegen diesen beginnt ein neues Verfahren, so dass auch deshalb Fehler bei der Durchführung dieses Verfahrens nicht unmittelbar die Rechtmäßigkeit der Ausgangsentscheidung berühren können. Zutreffend erscheint damit die Auffassung des Bundesverwaltungsgerichtes, nach der die Rechtmäßigkeit der Prüfungsentscheidung durch ein unterbliebenes oder unzureichend durchgeführtes verwaltungsinternes Kontrollverfahren grundsätzlich nicht berührt wird. Abzulehnen sind folglich diejenigen Auffassungen, nach denen allein wegen der fehlerhaften Durchführung des Überdenkungsverfahrens der Prüfungsbescheid aufzuheben und / oder die Prüfungsleistung neu zu bewerten sein soll. Im Übrigen beruht die Rechtsprechung des OVG Münster zunächst auf einem Fehlverständnis der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichtes, das die Nachholbarkeit des verwaltungsinternen Kontrollverfahrens auch für den Fall einer erfolgten Normierung desselben nicht ausgeschlossen, son‑ 79 Niehues/Fischer/Jeremias,
Rn. 557.
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dern nur betont hat, dass bis zu diesem Zeitpunkt ein Überdenken der Be‑ wertung durch die Prüfer übergangsweise ohne gesetzliche Regelung sicher‑ zustellen sei80. Dennoch ist der Hinweis des OVG Münster auf die gesetzlich zwar nicht ausdrücklich vorgesehene, aufgrund des durchzuführenden Wi‑ derspruchsverfahrens aber doch gegebene Möglichkeit des Überdenkens der Bewertung durch die Prüfer beachtlich. Offensichtlich hat das OVG Müns‑ ter die in dem konkreten Fall einschlägige Regelung dahin interpretiert, dass nach dem Willen des Gesetzgebers das Überdenkungsverfahren abschließend im Rahmen des Widerspruchsverfahrens stattfindet. Bei diesem im gegebe‑ nen Kontext wie dargestellt auch vom OVG Berlin eingenommenen Stand‑ punkt ist in der Tat die Möglichkeit der Nachholbarkeit des Überdenkungs‑ verfahrens nach Abschluss des Widerspruchsverfahrens nicht mehr gegeben. b) Verantwortlichkeit des Prüflings Dieser leitet über zu der zweiten maßgeblichen Fallgruppe, in welcher der Prüfling für die unterbliebene Durchführung des Überdenkungsverfahrens verantwortlich zeichnet, weil er es entweder versäumt hat, im Rahmen des Überdenkungsverfahrens substantiierte Einwände zu erheben oder davon insgesamt oder in Bezug auf die Bewertung einzelner Teilleistungen zu‑ nächst bewusst abgesehen hat. Die Behandlung dieser Fallgruppe wird ebenfalls kontrovers diskutiert. aa) Die Rechtsprechung der Instanzgerichte Obgleich wie dargelegt § 9 Abs. 6 JAPO RLP der ergänzenden oder erst‑ maligen Durchführung des Überdenkungsverfahrens nach Abschluss des Widerspruchsverfahrens nicht offenkundig entgegensteht, vertritt das OVG Rheinland-Pfalz, das sich im gegebenen Kontext erstmals mit der Frage befasst hat, bis zu welchem Zeitpunkt das Überdenkungsverfahren durchge‑ führt werden kann81, die Rechtsauffassung, dass die zur Verteidigung des Antwortspielraums erforderlichen Einwendungen des Prüflings, die ein Prüferbeteiligungsverfahren erforderlich machen, aus Gründen der Verfah‑ rensbeschleunigung und -konzentration bereits im Widerspruchsverfahren zu erheben seien und der Prüfling mit diesen nicht mehr gehört werden könne, wenn er sie erstmals im gerichtlichen Verfahren geltend mache82. 80 BVerwGE 92, 132 (144 f.); vgl. zur Nachholbarkeit des Überdenkungsverfah‑ rens im Rahmen des gerichtlichen Verfahrens durch dessen Aussetzung Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 800. 81 OVG Koblenz, Urt. v. 07.01.1994 – 2 A 11593/93, NVwZ 1994, 805 (805). 82 OVG Koblenz, Urt. v. 16.08.2001 – 2 A 10441/01, juris, Rn. 29.
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Diesem Rechtstandpunkt hat sich später das OVG Berlin in Bezug auf die dortige Rechtslage angeschlossen, indem es zunächst dem Wortlaut des § 19 Abs. 5 JAG Berlin a. F. sowie insbesondere der Entstehungsgeschichte dieser Norm entnommen hat, dass die Durchführung des Widerspruchsverfahrens nach dem Willen des Gesetzgebers auf das Widerspruchsverfahren beschränkt sei83. Überdies hat es dieses (Auslegungs‑)Ergebnis mit grundsätzlichen Er‑ wägungen wie folgt gerechtfertigt: Das in § 19 Abs. 5 JAG Berlin a. F. vorge‑ sehene Widerspruchsverfahren könne ebenso wenig wie andere Wider‑ spruchsverfahren nach Belieben des Widerspruchsführers ohne rechtfertigen‑ den Grund erst im Klageverfahren durchgeführt werden. Die im Vergleich zum gerichtlichen Rechtsschutz weiteren Befugnisse / Pflichten der Behör‑ de – namentlich die Zweckmäßigkeitskontrolle nach § 68 Abs. 1 Alt. VwGO und hier das verwaltungsinterne Überdenken – könnten nicht zugleich das prozessuale Verfahren bestimmen. Die Regelung in § 19 Abs. 5 JAG Berlin a. F. stelle keine Präklusion dar und sei mit Bundesverfassungsrecht verein‑ bar, da es keinen Verfassungsrechtssatz des Inhalts gäbe, dass gebotene Über‑ denkungsverfahren müsse, falls der Prüfling es nicht im Widerspruchsverfah‑ ren beansprucht habe, im Verwaltungsprozess realisiert werden. Das Verfas‑ sungsgebot des Überdenkens durch die Verwaltung sei vom Gesetzgeber umzusetzen und dies müsse er nicht derart tun, dass er es dem Prüfling über‑ lässt, wann er den Überdenkensanspruch geltend machen will.84 Zwischenzeitlich hat das VG Berlin in einem vom Verfasser angestreng‑ ten Verfahren den Rechtsstandpunkt eingenommen, dass sich an dieser Rechtslage auch durch die im Jahre 2003 erfolgte Novellierung des JAG85 nichts geändert habe86. Auch das VG Frankfurt hat für die Rechtslage in Hessen entschieden, dass das Verfahren zum Zwecke des Überdenkens der Prüfungsbewertung bei juristischen Staatsprüfungen ausschließlich im Rahmen des Wider‑ spruchsverfahrens durchzuführen sei87. Mit der Einfügung des § 22a JAG Hessen a. F., wonach gegen Verwaltungsakte, denen eine Bewertung von Prüfungsleistungen zugrunde liege, das Widerspruchsverfahren stattfände, habe der Gesetzgeber die vom Bundesverfassungsgericht entwickelte Kon 83 OVG Berlin, Bes. v. 17.05.2002 – 4 N 48/01, LKV 474 (474); zu diesem Urteil Linke, NVwZ 2006, 1382 (1383); OVG Berlin-Brandenburg, Bes. v. 18.12.2009 – OVG 10 N 58.08, juris, Rn. 6. 84 Vgl. zum Ganzen OVG Berlin, Bes. v. 17.05.2002 – 4 N 48/01, LKV 2002, 474 (474). 85 GVBl. S. 232. 86 VG Berlin, Bes. v. 30.05.2011 – VG 15 K 84.10, n. v., UA S. 2 f. 87 VG Frankfurt, Urt. v. 04.08.2004 – 12 E 5183/02, juris, Rn. 62; jetzt auch HessVGH, Beschluss vom 30.04.2014 – 9 A 40/14. Z., LKRZ 2014, 336 (337).
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trolle von prüfungsspezifischen Wertungen ermöglichen, diese aber auch auf das Widerspruchsverfahren beschränken wollen. Zur Untermauerung dieses Rechtstandpunktes stellt das VG Frankfurt ganz ähnliche Erwägungen an wie das OVG Berlin, auf dessen Rechtsprechung aber nicht Bezug genom‑ men wird. Insbesondere weist das VG Frankfurt darauf hin, dass die ange‑ nommene Beschränkung der verwaltungsinternen Kontrolle auf das Wider‑ spruchsverfahren dem Verfahrensrecht nicht fremd sei. Sie fände ihre Par‑ allele in der Beschränkung der Zweckmäßigkeitskontrolle auf das Wider‑ spruchsverfahren88. bb) Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes Der aufgezeigten Rechtsprechung der Instanzgerichte steht die Rechtspre‑ chung des Bundesverfassungsgerichtes nicht ohne Weiteres entgegen. Das Bundesverfassungsgericht führt im maßgeblichen Beschluss vom 17.04.1991 lediglich aus, dass das Prüfungsverfahren so ausgestaltet sein müsse, dass der Prüfling die Möglichkeit habe, Einwände gegen seine Abschlussnote wirksam vorzubringen, um so ein Überdenken der Bewertung durch den Prüfer erreichen zu können89; und es hält das Widerspruchsverfahren grundsätzlich für den geeigneten Ort, um diesen (verfassungsrechtlichen) Anforderungen nachzukommen90. Dass der Prüfling das Recht haben müs‑ se, Einwendungen gegen die Bewertung seiner Prüfungsleistungen zeitlich unbegrenzt bzw. jedenfalls bis zum (rechtskräftigen) Abschluss eines ver‑ waltungsgerichtlichen Verfahrens vorzubringen, kann der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes nicht entnommen werden91. cc) Die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichtes Auch das Bundesverwaltungsgericht hat sich in seiner Grundsatzentschei‑ dung zum verwaltungsinternen Kontrollverfahren vom 24.02.199392 zunächst auf die Feststellung beschränkt, dass ein solches im Rahmen eines Wider‑ spruchsverfahrens – aber auch in anderer geeigneter Weise – durchgeführt werden könne93. Eine Aussage zu den zeitlichen Grenzen des verwaltungsin‑ 88 Siehe zum Ganzen VG Frankfurt, Urt. v. 04.08.2004 – 12 E 5183/02, juris, Rn. 63. 89 BVerfGE 84, 34 (47) und vor allem der 1. Leitsatz. 90 BVerfGE 84, 34 (47) und vor allem der 1. Leitsatz. 91 Zu dieser zutreffenden Einschätzung gelangt auch Linke, NVwZ 2006, 1382 (1383). 92 BVerwGE 92, 132 ff. 93 BVerwGE 92, 132 (140).
B. Erneuter Eintritt in das Überdenkungsverfahren?587
ternen Kontrollverfahrens bzw. dazu, dass der Überdenkensanspruch des Prüflings zeitlich befristet ist, lässt sich dem Urteil nicht entnehmen. Bereits im folgenden Jahr hat das Bundesverwaltungsgericht aber in zwei Entscheidungen, in denen es jeweils um einen Anspruch des Klägers auf Aussetzung des Gerichtsverfahrens gemäß § 94 VwGO zur (nochmaligen) Durchführung des Überdenkungsverfahrens ging, insoweit jedenfalls mittel‑ bar Position bezogen. Denn sowohl in dem Urteil vom 30.06.199494 als auch in dem Beschluss vom 10.10.199495 führt das Bundesverwaltungsge‑ richt aus, dass die nochmalige Durchführung des verwaltungsinternen Kon‑ trollverfahrens „keinen Sinn mache“, wenn dieses entsprechend den vom Bundesverwaltungsgericht herausgearbeiteten Vorgaben durchgeführt wor‑ den sei, weil der verfassungsrechtliche Anspruch des Prüflings in diesem Fall in der Sache erfüllt sei96. Eine Ausnahme von diesem Rechtssatz, der beiden Entscheidungen zugrunde liegt, wird aber in dem Urteil vom 30.06.1994 im zweiten Leitsatz für den Fall gemacht, dass der Prüfling neue Einwendungen gegen die Bewertung seiner Arbeiten geltend macht97. Da zu dieser Einschränkung aber in den Entscheidungsgründen keine weiteren Ausführungen gemacht werden, bleibt unklar, ob mit „neuen Einwendun‑ gen“ ergänzende Bewertungsrügen gegen eine bereits vor Klageerhebung streitgegenständliche Gesamtbewertung einer Teilprüfungsleistung oder erstmalige Angriffe gegen eine solche gemeint sind, die erst im Laufe des gerichtlichen Verfahrens angefochten worden ist. So folgt aus den beiden im Jahr 1994 ergangenen Entscheidungen lediglich, dass der Prüfling seine „alten“ Einwendungen unter Beanspruchung der erneuten Durchführung des Überdenkungsverfahrens nicht nochmals erheben kann, wenn diese im Rah‑ men des bereits durchgeführten verwaltungsinternen Kontrollverfahrens ordnungsgemäß beschieden worden sind. In einem viele Jahre später ergangenen Beschluss vom 18.12.200898 hat das Bundesverwaltungsgericht sodann die Revisionsrüge des Klägers, dass das Gericht nicht seine in der Berufungsinstanz vorgebrachten neuen und substantiierten fachwissenschaftlichen Einwände gegen die bereits in erster Instanz bzw. im Widerspruchverfahren streitgegenständlichen Bewertungen den Prüfern zur Stellungnahme zugeleitet habe, mit dem Argument zurück‑ gewiesen, dass der Anspruch des Prüflings auf ein Überdenken außerhalb des Gerichtsverfahrens in einem eigenständigen verwaltungsinternen Kon 94 Urt.
v. 30.06.1994 – 6 C 4/93, Buchholz 421.0 Nr. 334, 34 (37). v. 10.10.1994 – 6 B 73/94, BayVBl. 1995, 86 (88 f.). 96 Urt. v. 30.06.1994 – 6 C 4/93, Buchholz 421.0 Nr. 334, 34 (37); Bes. v. 10.10.1994 – 6 B 73/94, BayVBl. 1995, 86 (88 f.). 97 Urt. v. 30.06.1994, 6 C 4/93, Buchholz 421.0 Nr. 334, 34 (34). 98 Bes. v. 18.12.2008 – 6 B 70/08, juris. 95 Bes.
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Kap. 8: Verwaltungsprozessuale Rechtsschutzmöglichkeiten
trollverfahren stattfände99. Nichts anderes könne dann gelten, wenn der Anspruch wiederholt bzw. in Bezug auf ein Gerichtsverfahren der Tatsa‑ cheninstanz geltend gemacht werde100. Die Befassung der Korrektoren stelle keine von Amts wegen durchzuführende gerichtliche Sachverhaltser‑ mittlung im Sinne des § 86 Abs. 1 VwGO dar101. Mit diesen Ausführungen hat das Bundesverwaltungsgericht aber einen Anspruch des Prüflings auf Überdenken ergänzender Bewertungsrügen in Bezug auf bereits streitgegen‑ ständliche Einzelbewertungen auf dessen Antrag außerhalb des Gerichtsver‑ fahrens in einem verwaltungsinternen Kontrollverfahren mittelbar bejaht, jedenfalls aber nicht ausdrücklich ausgeschlossen. Dieses Verständnis des Beschlusses korrespondiert auch mit den Ausführungen in einem weiteren aktuellen Beschluss des Bundesverwaltungsgerichtes aus dem Jahre 2012, wonach im Falle der Erhebung substantiierter Einwendungen gegen Prüfer‑ bewertungen im Rahmen eines gerichtlichen Verfahrens dieses auf Antrag des Prüflings nach § 94 VwGO auszusetzen sei, sofern zu ihnen eine ver‑ waltungsinterne Kontrolle noch nicht stattgefunden habe102. Zwar hat das Bundesverwaltungsgericht die Aussetzung des gerichtlichen Verfahrens zur Durchführung der gerichtlichen Kontrolle bereits in früheren Entscheidun‑ gen für erforderlich gehalten. Diese Rechtsauffassung galt allerdings nur für Fälle, in denen mangels einer noch nicht erfolgten gesetzlichen Regelung des Überdenkungsverfahrens eine verwaltungsinterne Kontrolle der Prü‑ fungsentscheidung noch nicht vorgesehen war und (dementsprechend) auch nicht durchgeführt wurde103. Trotz der nunmehr in allen Bundesländern geschaffenen Möglichkeit der verwaltungsinternen Kontrolle der Prüfungs‑ entscheidung soll nun offenbar eine Aussetzung des Verfahrens auch dann geboten sein, wenn diese trotzdem nicht stattgefunden hat, wobei die Grün‑ de, die dafür maßgeblich gewesen sind, scheinbar irrelevant sein sollen. Zugleich betont das Bundesverwaltungsgericht aber, dass die Ausgestaltung des verwaltungsinternen Kontrollverfahrens dem Gesetzgeber obliege und lässt die in Bayern getroffene Regelung desselben in diesem Zusammen‑ hang ausdrücklich unbeanstandet104. Damit bleibt in der Gesamtbetrachtung der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichtes offen, ob eine gesetz‑ liche Beschränkung der verwaltungsinternen Kontrolle auf das Wider‑ spruchsverfahren bzw. ein sonstiges dem gerichtlichen Verfahren vorgela‑ gertes Verwaltungsverfahren verfassungsrechtlich zulässig ist. 99 Bes.
v. 18.12.2008 – 6 B 70/08, juris, Rn. 6. v. 18.12.2008 – 6 B 70/08, juris, Rn. 6. 101 Bes. v. 18.12.2008 – 6 B 70/08, juris, Rn. 6. 102 BVerwG, Bes. v. 09.08.2012 – 6 B 19/12, NJW 2013, 83 (84). 103 BVerwGE 92, 132 (144); BVerwG, Urt. v. 30.06.1994 – 6 C 4/93, Buchholz 421.0 Nr. 334, 34 (37). 104 BVerwG, Bes. v. 09.08.2012 – 6 B 19/12, NJW 2013, 83 (84). 100 Bes.
B. Erneuter Eintritt in das Überdenkungsverfahren?589
dd) Die Rechtsstandpunkte im Schrifttum In der (prüfungsrechtlichen) Literatur finden sich zur Frage, bis zu wel‑ chem Zeitpunkt der Prüfling die Durchführung eines Überdenkungsverfah‑ rens beanspruchen kann, im Gegensatz zu vielen anderen Rechtsfragen eine Reihe von – divergierenden – Stellungnahmen. Fliegauf sieht in der Begrenzung des Überdenkensanspruchs des Prüflings auf den zeitlichen Rahmen des Widerspruchsverfahrens durch das OVG Koblenz eine Präklusion im Klageverfahren, die ihm als „nicht ganz unbe‑ denklich“ erscheint105. Diesem Standpunkt pflichten Zimmerling / Brehm bei, die aber mehr die fehlende gesetzliche Grundlage für die Einwendungsprä‑ klusion betonen106. Linke tritt demgegenüber im Wesentlichen dem von den Instanzgerichten eingenommenen Rechtsstandpunkt bei, wonach das Überdenkungsverfahren auf das Widerspruchsverfahren beschränkt sei. Nutze der Prüfling die ihm prüfungsverfahrensrechtlich eingeräumte Möglichkeit nicht, Einwände ge‑ gen die Korrektur und Bewertung im verwaltungsinternen Kontrollverfah‑ ren in ausreichender Form vorzubringen, könne er weder eine gerichtliche Kontrolle der prüfungsspezifischen Wertungen, die über die Willkürkon trolle hinausgeht, noch den erneuten Einstieg in die verwaltungsinterne Kontrolle verlangen107. Diese Rechtsauffassung stützt er insbesondere mit dem auch vom OVG Berlin und VG Frankfurt angeführten Argument, dass auch im Übrigen die im Widerspruchsverfahren erfolgende Zweckmäßig‑ keitskontrolle grundsätzlich nicht mehr während eines gerichtlichen Verfah‑ rens stattfände108. Auch Niehues / Fischer / Jeremias nehmen den Standpunkt ein, dass das verwaltungsinterne Kontrollverfahren beendet sei, wenn ein ordnungsgemä‑ 105 Fliegauf,
Rn. 32.
106 Zimmerling/Brehm,
Der Prüfungsprozess, Rn. 39, bezüglich der Rechtspre‑ chung des OVG Koblenz und des OVG Berlin und somit hinsichtlich der Rechtsla‑ ge in Rheinland-Pfalz und Berlin. 107 Linke, NVwZ 2006, 1382 (1383). Warum Linke in diesem Falle die gericht‑ liche Kontrolle gar nur auf eine „Willkürkontrolle“ beschränken will, ist nicht ver‑ ständlich. Selbst das OVG Koblenz will ja insoweit noch die „klassische Überprü‑ fung“ vornehmen, ob bei der Leistungsfeststellung das anzuwendende Recht ver‑ kannt worden ist, die Prüfer von einem unzutreffenden Sachverhalt ausgegangen sind, allgemein gültige Bewertungsmaßstäbe verletzt haben oder sich von sachfrem‑ den Erwägungen haben leiten lassen, vgl. OVG Koblenz, Urt. v. 16.08.2001 – 2 A 10441/01, juris, Rn. 20. Selbst dieser Überprüfungsmaßstab ist, wie oben bereits aufgezeigt wurde (Kapitel 6 C. III. 4.), noch zu eng. Der von Linke angelegte ist mit dem Gewährleistungsgehalt von Art. 19 Abs. 4 GG schlechthin unvereinbar. 108 Linke, NVwZ 2006, 1382 (1383).
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Kap. 8: Verwaltungsprozessuale Rechtsschutzmöglichkeiten
ßes Überdenken stattgefunden habe. Der Prüfling habe in diesem Fall kei‑ nen Anspruch darauf, dass sich die Prüfer mit weiteren, erst mit der Klage‑ begründung vorgebrachten substantiierten Einwänden auseinandersetzen und insoweit nochmals in ein Überdenkungsverfahren „eingestiegen“ wird109. Niehues selbst hatte sich noch gegen die referierte Rechtsprechung des OVG Koblenz gewandt und geltend gemacht, dass mangels gesetzlicher Regelung der Anspruch auf Überdenken nicht nur während des Wider‑ spruchsverfahrens geltend gemacht werden könne; eine Präklusion von Einwendungen setze grundsätzlich eine entsprechende gesetzliche Regelung voraus110. ee) Eigene Auffassung Die Frage, ob der Prüfling in den dargestellten Fallkonstellationen einen Anspruch auf die erstmalige bzw. ergänzende Durchführung des verwal‑ tungsinternen Kontrollverfahrens parallel zu einem angestrengten Verwal‑ tungsprozess hat bzw. ob dessen ausdrückliche Begrenzung auf den zeitli‑ chen Rahmen des Widerspruchserfahrens zulässig ist, muss ausgehend von dem Gewährleistungsgehalt der in diesem Fall tangierten Grundrechte be‑ antwortet werden. Das folgt im Ausgangspunkt daraus, dass – dieser abermalige Hinweis ist ebenso redundant wie erforderlich – das verwaltungsinterne Kontrollverfah‑ ren der Kompensation der Rechtsschutzlücke dient, die dadurch entsteht, dass den Prüfern nach wie vor ein – auf prüfungsspezifische Wertungen beschränkter – Bewertungsspielraum zusteht. Davon ausgehend liegt es auf der Hand, dass der Prüfling einen verfas‑ sungsrechtlichen Anspruch auf die erstmalige Durchführung eines verwal‑ tungsinternen Kontrollverfahrens hat, wenn der Prüfer bereits im Rahmen des Überdenkungs- oder erst im gerichtlichen Verfahren ein bestehendes Begründungs- und damit Bewertungsdefizit dadurch beseitigt, dass er eine Neubewertung mit ordnungsgemäßer Begründung vorlegt. Denn der Prüf‑ ling ist in diesem Fall erst ab dem Zeitpunkt des Vorliegens der Begründung in den Stand versetzt, substantiierte Einwände gegen die dem Votum zu‑ grunde liegenden Wertungen zu erheben und seinen Überdenkensanspruch zu realisieren. Eine zeitliche Beschränkung des Überdenkensanspruchs auf den zeitlichen Rahmen des Widerspruchsverfahrens wäre in diesem Fall mit den Art. 12 Abs. 1 Satz 1, 19 Abs. 4 Satz 1 GG unvereinbar. 109 Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 858, im Anschluss an Niehues/Fischer, 5. Auf‑ lage, Rn. 858. 110 Niehues, 4. A., Rn. 773 m. Fn. 37.
B. Erneuter Eintritt in das Überdenkungsverfahren?591
Entsprechendes gilt für die Fälle, in denen sich die Begründung des Prü‑ fers nur hinsichtlich einiger Teilbereiche oder Kritikpunkte als unzulänglich erweist und der Prüfling erst durch die Erläuterungen und Präzisierungen in den Stand versetzt wird, Einwendungen gegen die prüfungsspezifischen Wertungen zu erheben. Hier wäre der Anspruch des Prüflings auf eine ver‑ waltungsinterne Kontrolle seiner Einwendungen nur unvollständig erfüllt, wenn der Überdenkensanspruch des Prüflings zeitlich auf das Widerspruchs‑ verfahren begrenzt werden würde, so dass die verbleibende Rechtsschutzlü‑ cke durch eine nochmalige Beteiligung der Prüfer zu schließen ist. Klarzu‑ stellen ist, dass diese Konstellation nichts mit dem vom OVG Berlin abge‑ lehnten „Überdenken des Überdenkens“ gemein hat. Denn auch wie bei einer kompletten Neubewertung mit ordnungsgemäßer Begründung hat der Prüfer hier in Teilbereichen nur eine Neubewertung der Prüfungsleistung vorgenommen und diese ordnungsgemäß begründet, nicht aber Einwendun‑ gen des Prüflings in Bezug auf die Bewertung der Teilbereiche überdacht. Für ein Fortwirken des Überdenkensanspruchs des Prüflings spricht in den Fällen einer defizitären Begründung auch der Ablauf des Überdenkungsver‑ fahrens bei mündlichen Prüfungen. Die erste Verfahrensstufe dient somit lediglich dem Erhalt einer Begründung, die den Prüfling in die Lage ver‑ setzt, substantiierte Einwände gegen die Bewertung zu erheben. Das Über‑ denkungsverfahren findet erst auf der zweiten Stufe statt, nachdem der Prüfling nach Erhalt der Begründung eben diese hat formulieren können. Würde man den Überdenkensanspruch des Prüflings (auch) in den Fällen einer defizitären Begründung auf das Widerspruchsverfahren begrenzen wollen, würde man somit im Vergleich mit dem Ablauf des Überdenkungs‑ verfahrens bei mündlichen Prüfungen auf der ersten Stufe stehen bleiben. Dies wäre aber mangels des bisher realisierten Überdenkensanspruchs des Prüflings mit den Art. 19 Abs. 4 Satz 1, 12 Abs. 1 Satz 1 GG unvereinbar. Demgemäß sollte es auch außer Frage stehen, dass der Prüfling einen fortbestehenden Anspruch auf eine verwaltungsinterne Kontrolle unter maß‑ geblicher Beteiligung der ursprünglichen Prüfer hat, wenn das Überden‑ kungsverfahren zu Unrecht nicht eingeleitet worden ist oder die Prüfer nicht oder nicht ausreichend zu den substantiierten Einwänden des Prüflings Stellung genommen haben. Das verwaltungsinterne Kontrollverfahren wür‑ de seinen ihm zukommenden Sinn vollständig bzw. weitgehend einbüßen, wenn die Missachtung der grundlegenden Anforderungen für dessen Durch‑ führung ohne jegliche rechtliche Konsequenzen bleiben sollte. Von einem „Anspruch“ des Prüflings könnte dann keine Rede mehr sein, der per defi‑ nitionem seine Durchsetzbarkeit impliziert. Fraglich ist hiernach nur noch, wie es sich mit den Einwendungen ver‑ hält, die der Prüfling aufgrund einer ausreichenden oder nur teilweise unzu‑ reichenden Begründung bereits im Widerspruchsverfahren hätte erheben
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Kap. 8: Verwaltungsprozessuale Rechtsschutzmöglichkeiten
können, aber versäumt hat geltend zu machen oder davon insgesamt oder teilweise zunächst abgesehen hat. Insoweit ist zunächst der Gedanke des OVG Berlin und des VG Frankfurt aufzugreifen, die eine Parallele in der Beschränkung der Zweckmäßigkeits‑ überprüfung von Ermessensentscheidungen auf das Widerspruchsverfahren einerseits und der Begrenzung des Überdenkensanspruchs des Prüflings auf den zeitlichen Rahmen des Widerspruchsverfahrens andererseits sehen111. Dieses systematische Argument, das letztlich auf dem dogmatischen Funda‑ ment der Funktionstrennung von Rechtsprechung und Verwaltung112 fußt, hat durchaus Gewicht, zumal es sich noch durch weitere Gesichtspunkte stützen lässt. Zunächst ist es im vorliegenden Kontext um den Hinweis zu ergänzen, dass – soweit ersichtlich – niemand die Beschränkung der Zweck‑ mäßigkeitskontrolle auf das Widerspruchsverfahren unter dem Gesichtspunkt einer (unzulässigen) Präklusion im technischen oder nichttechnischen Sinne problematisiert. Auch wird es widerspruchslos hingenommen, dass der Prüf‑ ling Bewertungsmängel nur bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung in der letzten Tatsacheninstanz geltend machen kann und mit Vorbringen nach diesem Zeitpunkt aufgrund der §§ 173 VwGO, 296a ZPO ausgeschlos‑ sen ist113. Schließlich werden hinsichtlich der dem Kläger (auch im Prü‑ fungsrechtsstreit) allgemein aufgebürdeten Substantiierungsobliegenheiten, wie sie sich aus den §§ 82 Abs. 1 Satz 2 und 86 Abs. 1 Satz 1 VwGO er‑ geben, und den Konsequenzen ihrer Nichterfüllung keine Bedenken ange‑ meldet. Dies mag Konsequenz des Umstandes sein, dass es als prozessrecht‑ liche Banalität erscheint, dass jemand, der gestützt auf eine Rechtsnorm einen Anspruch geltend macht, substantiiert das Vorliegen der Anspruchsvo‑ raussetzungen vortragen muss114 und auf der weiteren – nicht thematisier‑ ten – Selbstverständlichkeit beruhen, dass der Bürger nicht das zeitlich unbegrenzte Vorbringen von Einwänden gegen eine Verwaltungsentschei‑ dung und deren Überprüfung beanspruchen kann. Wie bereits oben ausge‑ führt wurde, folgt aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG nun einmal kein Anspruch auf die Zurverfügungstellung eines von jeder Mitwirkungsobliegenheit be‑ freiten Rechtsschutzsystems. So betrachtet erscheint der teils angenommene Verlust des Überdenkungsanspruchs bei nicht bis zum Abschluss des Wider‑ spruchsverfahrens geltend gemachten Einwendungen nur als Konsequenz 111 OVG Berlin, Bes. v. 17.05.2002 – 4 N 48/01, LKV 2002, 474 (474); VG Frankfurt, Urt. v. 04.08.2004 – 12 E 5183/02, juris, Rn. 64. 112 So die zutreffende Einordnung von Linke, NVwZ 2006, 1382 (1383). 113 Siehe zum grundsätzlichen Ausschluss neuen Vorbringens nach Schluss der mündlichen Verhandlung im Verwaltungsprozess Ortloff, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, § 104, Rn. 71; zur Verfassungsmäßigkeit des § 296a ZPO BVerfG, Bes. v. 24.04.1985 – 2 BvR 1248/82, NJW 1985, 3005 (3006). 114 Ortloff/Riese, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, § 87b, Rn. 3.
B. Erneuter Eintritt in das Überdenkungsverfahren?593
der Nichterfüllung der den Prüfling allgemein treffenden Substantiierungs‑ obliegenheit und die daraus resultierende Präklusion im nichttechnischen (prozessualen) Sinne als Anwendung des allgemeinen Rechtsgrundsatzes, dass Rechte durch Verschweigen oder Verwirkung verloren gehen kön‑ nen115. Diese scheinbar schlüssige Betrachtung greift indes zu kurz, weil sie wesentliche Besonderheiten des verwaltungsinternen Kontrollverfahrens unberücksichtigt lässt. So darf bei der auch hier grundsätzlich angenommenen Parallele zwi‑ schen der Beschränkung der Zweckmäßigkeitskontrolle und des Überden‑ kensanspruchs des Prüflings auf das Widerspruchsverfahren nicht übersehen werden, dass Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG das Widerspruchsverfahren nicht gebietet116, während eben diese Verfassungsnorm – wie gesehen in Verbin‑ dung mit Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG – die Einrichtung eines verwaltungsin‑ ternen Kontrollverfahrens zum Ausgleich des durch die begrenzte gerichtli‑ che Überprüfbarkeit von Prüfungsentscheidungen bedingten Rechtsschutz‑ defizits fordert, das in seinen wesentlichen Merkmalen vom Gesetzgeber zu regeln ist. Bei der gesetzlichen Ausgestaltung desselben war und ist die in Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG zum Ausdruck kommende objektive Wertentschei‑ dung zu berücksichtigen, die als solche den Gesetzgeber verpflichtet, einen ausgewogenen und wirkungsvollen (gerichtlichen) Rechtsschutz zur Verfü‑ gung zu stellen117. Kann ein wirkungsvoller gerichtlicher Rechtsschutz – wie dies bei der Kontrolle von Prüfungsentscheidungen aufgrund des den Prüfern zustehenden Bewertungsspielraums der Fall ist – nicht zur Verfü‑ gung gestellt werden – bedarf es (auch) aufgrund des prozeduralen Gehalts des materiellen Grundrechts der Kompensation des dadurch entstehenden „materiell-rechtlichen Defizits an Richtigkeitsgewähr“118, so dass die in Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG zum Ausdruck kommende objektive Wertentschei‑ dung hier in den Gewährleistungsgehalt des Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG hin‑ einwirkt. Damit ist in komplexer Weise das einleuchtende Bild des verwal‑ tungsinternen Kontrollverfahrens als „verlängerter Arm“ der Rechtsschutz‑ garantie des Art. 19 Abs. 4 GG in den Fokus gerückt. Diese Erkenntnis bedingt, dass die für die Ausgestaltung des gerichtlichen Rechtsschutzsystems herausgearbeiteten Determinanten in gleicher, zumin‑ dest aber ähnlicher Weise für die Ausgestaltung des verwaltungsinternen Kontrollverfahrens gelten. Das heißt konkret, dass auch bei der Ausgestal‑ tung des verwaltungsinternen Kontrollverfahrens ein weiter Gestaltungs‑ diesem Grundsatz etwa Ossenbühl, NVwZ 1982, 465 (472). in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, Vorbemerkung § 68, Rn. 13. 117 Huber, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 19 Abs. 4, Rn. 375; SchmidtAßmann, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, Einleitung Rn. 152. 118 Ossenbühl, NVwZ 1982, 465 (466). 115 Zu
116 Dolde/Porsch,
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Kap. 8: Verwaltungsprozessuale Rechtsschutzmöglichkeiten
spielraum des Gesetzgebers besteht119. Bei dessen Ausfüllung ist nicht die optimale Befriedigung des Rechtsschutzinteresses das Leitziel, sondern die Statuierung eines ausgewogenen Rechtsschutzes im Sinne der Herstellung praktischer Konkordanz mit den Verfassungsgütern, die mit der Rechts‑ schutzgarantie in Konflikt geraten können120. So betrachtet kann sich die Annahme, dass die Substantiierungsobliegenheit des Prüflings die Geltend‑ machung des Überdenkensanspruchs bis zum Abschluss des Widerspruchs‑ verfahrens erfordert, nicht als banale Selbstverständlichkeit darstellen. Sie kann vielmehr nur das Ergebnis der gebotenen Abwägung zwischen den widerstreitenden (Verfassungs‑) Rechtsgütern sein. Bei dieser ist einerseits das Interesse des Prüflings an einer möglichst optimalen Kompensation der Rechtsschutzlücke, die aus der begrenzten gerichtlichen Überprüfbarkeit der Prüfungsentscheidung resultiert, zu berücksichtigen. Andererseits sind das Gebot der Effektivität des Verwaltungshandelns, das bereits oben im Zu‑ sammenhang mit der grundsätzlichen Anerkennung der Substantiierungsob‑ liegenheit als Widerpart erkannt worden ist, sowie die Gebote der Rechtssi‑ cherheit121 und der zu wahrenden Chancengleichheit der anderen Prüfungs‑ teilnehmer in die Abwägung einzustellen. Zu fragen ist daher, ob die Annahme des Verlustes des Überdenkensan‑ spruchs bezüglich möglicher Einwendungen, die der Prüfling schon im Laufe des verwaltungsinternen Kontrollverfahrens hätte erheben können, aber nicht erhoben hat, sich als das Ergebnis eines verhältnismäßigen Aus‑ gleichs zwischen den verschiedenen gegenläufigen Interessen darstellt. Da‑ bei erscheint eine differenzierte Betrachtung geboten, weil je nach Fallge‑ staltung die in Rede stehenden Verfassungsgüter mit unterschiedlichem Gewicht in die Abwägung einzustellen sind. Das Gewicht des Schutzgutes der Rechtssicherheit ist aber in allen denkbaren Fallkonstellationen so ge‑ ring, dass es von vornherein als beachtenswertes kollidierendes Verfas‑ sungsrechtsgut ausgeschieden werden kann. Rechtssicherheit lässt sich schon aus dogmatischen Gründen schwer verwirklichen, weil nach zutref‑ fender Auffassung die Bewertungen von Teilleistungen nicht in Bestands‑ kraft (als Element der Rechtssicherheit122) erwachsen und diese wie gesehen 119 Zum Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers bei der Ausgestaltung des gericht‑ lichen Rechtsschutzes siehe Huber, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 19 Abs. 4, Rn. 378; beim verwaltungsinternen Kontrollverfahren siehe etwa OVG Berlin, Bes. v. 17.05.2002 – 4 N 48/01, LKV 474 (474): „er muss dies nicht derart tun …“. 120 Vgl. für die Ausgestaltung des gerichtlichen Rechtsschutzes Huber, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 19 Abs. 4, Rn. 376. 121 Zum Schutzgut der Rechtssicherheit als der Rechtsschutzgarantie gegenläufig siehe Huber, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 19 Abs. 4, Rn. 376. 122 Siehe zuletzt insbesondere BVerwG, Urt. v. 23.05.2012 – 6 C 8/11, NJW 2012, 2901 (2901 f.).
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gerichtlich auch dann noch angefochten werden können, wenn im Wider‑ spruchsverfahren keine Einwendungen erhoben worden sind. Rechtssicher‑ heit tritt mit anderen Worten erst dann ein, wenn der Prüfungsbescheid insgesamt in Bestandskraft erwachsen oder rechtskräftig die Rechtmäßigkeit desselben festgestellt worden ist. Erst dann sind auch die Bewertungen der Teilleistungen verbindlich. Der Ausschluss des Überdenkensanspruchs stellt daher im Sinne des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes schon kein geeignetes Mittel zur Herstellung von Rechtssicherheit dar. Auch der zu wahrende Grundsatz der Chancengleichheit aller Prüflinge ist in keiner der denkbaren Fallgestaltungen berührt. Im Zuge der Rechtfer‑ tigung der dem Prüfling aufgebürdeten Substantiierungsobliegenheit wurde bereits darauf hingewiesen, dass bei dem vielfach bemühten Chancengleich‑ heitsargument häufig der wahre Gewährleistungsgehalt des Art. 3 Abs. 1 GG aus dem Blick gerät, dem der Grundsatz der Chancengleichheit aber ent‑ nommen wird. Unter Bezugnahme auf die dortigen Ausführungen123 ist hier nur zu betonen, dass eine Verletzung des Art. 3 Abs. 1 GG bzw. der Chan‑ cengleichheit aller Prüflinge nur vorläge, wenn bei vergleichbarer oder identischer Sach- und Rechtslage aufgrund der nach Abschluss des Wider‑ spruchsverfahrens erhobenen Einwendungen bei dem einen Prüfling erneut in ein Überdenkungsverfahren eingetreten, während bei einem anderen Prüfling ohne sachlich gerechtfertigten Grund davon abgesehen wird. Eine Berührung des Chancengleichheitsgrundsatzes kann aber nicht deshalb an‑ genommen werden, weil nur der eine Prüfling seinen Überdenkensanspruch geltend macht und diesem sodann nachgekommen wird, während ein ande‑ rer gar nicht erst versucht, die Durchführung eines verwaltungsinternen Kontrollverfahrens nochmals anzustoßen124. Damit bleibt als gegenläufiges Verfassungsrechtsgut nur die – durch Ver‑ fahrensbeschleunigung und -konzentration zu erhaltende – Effektivität der Verwaltung übrig. Dabei dürfte die Abwägung zwischen dieser und dem Rechtsschutzinteresse des Prüflings eindeutig zu dessen Gunsten ausfallen, wenn der Überdenkensanspruch bezüglich einer Klausur geltend gemacht wird, deren neue Bewertung beantragt wird, die im Widerspruchsverfahren noch nicht streitgegenständlich war und wenn die Praxis des Gerichtes bzw. des Prüfungsamtes dahin geht, stets Stellungnahmen der Prüfer bezüglich der vom Kläger geltend gemachten Bewertungsfehler einzuholen. Da in diesem Fall also der Prüfer ohnehin im Rahmen des gerichtlichen Überprü‑ fungsverfahrens involviert ist, stellt es nur eine geringe Zusatzbelastung dar, wenn dieser sich daneben auch mit den Bewertungsrügen des Prüflings auseinandersetzen muss, mit denen keine Bewertungsfehler aufgezeigt wer‑ 123 Siehe 124 Vgl.
oben Kapitel 3 A. BVerwGE 109, 211 (219).
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Kap. 8: Verwaltungsprozessuale Rechtsschutzmöglichkeiten
den, sondern nur die prüfungsspezifische Wertung infrage gestellt wird. Fraglich ist aber, ob überhaupt von einer Zusatzbelastung des Prüfers ge‑ sprochen werden kann. Diesbezüglich darf nicht übersehen werden, dass der Prüfer sich einer Inanspruchnahme im Rahmen des Widerspruchsverfahrens (im Sinne der Konfrontation mit den die prüfungsspezifische Wertung be‑ treffenden Einwänden des Prüflings) nicht hätte widersetzen können bzw. das Prüfungsamt bei substantiierten Einwänden des Prüflings zur Durchfüh‑ rung eines Überdenkungsverfahrens verpflichtet gewesen wäre. So gesehen ist nicht etwa eine Zusatzbelastung des Prüfers eingetreten, es ist vielmehr die erhoffte Mehrung des Freiraums durch das Ausbleiben von Einwendun‑ gen des Prüflings ausgeblieben. Aus der Perspektive des Prüfungsamtes betrachtet kann insoweit nicht von einem zu vermeidenden Schaden im Sinne einer Einbuße der Verwaltungseffektivität gesprochen werden125, da ohnehin die erforderlichen Kapazitäten im Prinzip auch für den Fall vorhan‑ den sein müssen, dass sämtliche Prüflinge Einwendungen gegen die Bewer‑ tungen ihrer Prüfungsleistungen erheben. Hier muss ohnehin seitens des Prüfungsamtes dafür Sorge getragen werden, dass der Prüfer über den er‑ forderlichen Freiraum verfügt und also in allen Fällen zeitnah ein Prüferbe‑ teiligungsverfahren durchgeführt werden kann. Es spricht daher viel dafür, auch eine Berührung des Verfassungsrechtsguts der Effektivität der Verwal‑ tung abzulehnen. Selbst wenn man aber eine Effektivitätsminderung annäh‑ me, stünde das Interesse des Prüfers an Freihaltung von zusätzlicher Mehr‑ arbeit dem Interesse des Prüflings an einer effektiven Durchsetzung des Grundrechts der Berufsfreiheit bzw. seines „individuellen Lebensentwurfs“126, dessen Umsetzung möglicherweise nur von der (Höher‑) Bewertung einer Klausur abhängt, gegenüber. Insoweit sollte es auf der Hand liegen, dass bei dem Ausschluss des Überdenkensanspruchs des Prüflings in dieser Fallkon‑ stellation dem Freiraum des Prüfers bzw. der „Effektivitätssteigerung“ ein Wert beigemessen werden würde, der außer Verhältnis stünde zu der Bedeu‑ tung, die ein Überdenken der Bewertung für den Prüfling haben kann. Mithin würde ein Ausgleich zwischen den widerstreitenden Interessen vor‑ genommen werden, der nicht mehr verhältnismäßig im engeren Sinne wäre127. Das aus der begrenzten gerichtlichen Überprüfbarkeit von Prü‑ 125 Auch im Strafrecht wird überwiegend kein Vermögensschaden im Sinne des § 263 StGB angenommen, wenn nur die erhoffte Mehrung des Vermögens ausgeblie‑ ben ist, siehe etwa Fischer, StGB, § 263, Rn. 114. 126 Huber, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 19 Abs. 4, Rn. 371. 127 Die hier erfolgte Bewertung wird bestätigt durch VGH Mannheim, Urt. v. 15.02.1991 – 9 S 105/90, NVwZ 1991, 1205 (1207), der im Zusammenhang mit der Rechtfertigung der Begründungspflicht der Prüfer ausführt, dass der Gesichtspunkt der Beeinträchtigung der Effektivität und Praktikabilität des Prüfungsverfahrens – infolge einer Überlastung der Prüfer – „schwerlich auf Kosten des verfassungsrecht‑ lichen Gebots der Gewährung effektiven Rechtsschutzes durchschlagen könne“.
B. Erneuter Eintritt in das Überdenkungsverfahren?597
fungsentscheidungen resultierende Rechtsschutzdefizit ist so erheblich, dass zur Vermeidung eines anderenfalls vorliegenden Eingriffs in die Art. 12 Abs. 1 Satz 1, 19 Abs. 4 Satz 1 GG nicht auf eine kompensatorische Ver‑ fahrensgestaltung verzichtet werden kann, die eine tatsächlich wirksame Kontrolle der Prüfungsentscheidung ermöglicht128. Im Ergebnis setzt sich daher so oder so das Rechtsschutzinteresse des Prüflings durch. Dasselbe gilt für den Fall, dass der Prüfling ein Prüferbeteiligungsverfah‑ ren bezüglich einer Klausur einfordert, deren Bewertung er im Wider‑ spruchsverfahren noch nicht angegriffen hatte, deren Neubewertung er aber auch im gerichtlichen Verfahren nicht beantragt, weil für ihn Bewertungs‑ fehler nicht ersichtlich sind. In diesem Fall erscheint die Aufforderung an den Prüfer, zu den Einwänden des Prüflings Stellung zu nehmen, aus dessen Perspektive als zusätzliche und vermeidbare Belastung, weil er auf Initiati‑ ve des Prüfungsamtes bzw. des Gerichtes in das Verfahren nicht involviert worden wäre. Auch hier gilt aber, dass letztlich keine Effektivitätsminderung eingetreten, sondern nur die erhoffte Effektivitätsmehrung ausgeblieben ist, die aber nicht schutzwürdig erscheint. Daher muss auch hier in die an sich gebotene Abwägung schon nicht mehr eingetreten werden, wobei aber das Ergebnis derselben aus den genannten Gründen nicht anders ausfiele als in der obigen Konstellation. Damit kann im Gesamtergebnis festgehalten wer‑ den, dass sich die Annahme einer Obliegenheit des Prüflings, seine auf die Durchführung eines Überdenkungsverfahrens abzielenden Einwände bis zum Schluss des Widerspruchsverfahrens vorzutragen, nicht als das Ergeb‑ nis eines schonenden Ausgleichs zwischen den potentiell berührten Verfas‑ sungsrechtsgütern darstellt. Allenfalls büßt das Prüfungswesen durch einen Überdenkensanspruch des Prüflings, der sich bis zum Schluss der mündli‑ chen Verhandlung der letzten Tatsacheninstanz erstreckt, an Effektivität ein. Aufgrund der überragenden Bedeutung des Grundrechtes der Berufsfreiheit und der auch aus dieser resultierenden Notwendigkeit der Durchführung eines verwaltungsinternen Kontrollverfahrens zur Kompensation der beste‑ henden Lücke im gerichtlichen Rechtsschutz muss sich aber letztlich das Rechtsschutzinteresse des Prüflings durchsetzen. Von den vorstehenden Ergebnissen unberührt bleibt aber die Möglichkeit, dass der Prüfling seinen Anspruch auf die Durchführung eines verwaltungs‑ internen Kontrollverfahrens verwirkt129. Voraussetzung für die Annahme 128 Ähnlich OVG Lüneburg, Urt. v. 18.02.1992 – 10 L 277/89, juris, Rn. 21. Das OVG Lüneburg stellt aber auf die Prüfung als Eingriff ab – was nicht ganz zutref‑ fend erscheint – und zudem im Zusammenhang mit der Rechtfertigung der Begrün‑ dungspflicht der Prüfer. 129 BVerwG, Bes. v. 26.05.1999 – 6 B 75/98, juris, Rn. 4; OVG Münster, Urt. v. 27.08.2001 – 14 A 481/96, NVwZ-RR 2002, 193 (195); Zimmerlimg/Brehm, Prü‑ fungsrecht, Rn. 201 f.; siehe allgemein zur Möglichkeit der Verwirkung von materi‑
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Kap. 8: Verwaltungsprozessuale Rechtsschutzmöglichkeiten
einer Verwirkung des Überdenkensanspruchs ist zunächst, dass seit dem Zeitpunkt, zu dem dieser erstmals hätte geltend gemacht werden können, schon längere Zeit verstrichen ist. Weiter müssen besondere Umstände hin‑ zutreten, welche die verspätete Geltendmachung des Überdenkensanspruchs als einen Verstoß gegen Treu und Glauben erscheinen lassen. Davon ist nach der Rechtsprechung im Allgemeinen insbesondere dann auszugehen, wenn der Verpflichtete infolge des Verhaltens des Berechtigten darauf ver‑ trauen durfte, dass dieser das Recht nach so langer Zeit nicht mehr geltend machen würde130. Ob diese Voraussetzungen bei einer nicht frühzeitigen Geltendmachung des Überdenkensanspruchs im Speziellen gegeben sind, hängt naheliegenderweise von den jeweiligen Umständen des Einzelfalles ab. Das OVG Münster hat das Vorliegen der Voraussetzungen der Verwir‑ kung in einem Fall verneint, in dem der Kläger erst zweieinhalb Jahre nach der Prüfung Einwendungen gegen die Bewertung seiner mündlichen Prü‑ fungsleistungen erhoben und in seinem seinerzeitigen Widerspruch erklärt hatte, dass er diesen auf die Bewertung der häuslichen Arbeit beschränke131.
C. Gerichtliches Rechtsschutzinstrumentarium I. Hauptsacheverfahren 1. Die prinzipiell statthafte Klageart Das Begehren des Prüflings im Rahmen einer Prüfungsanfechtung ist wie dargelegt zunächst stets auf die Aufhebung des streitgegenständlichen Prü‑ fungsbescheides gerichtet, bei dem es sich entweder um den aufgrund un‑ zureichender schriftlicher bzw. mündlicher Prüfungsleistungen ergangenen Nichtbestehensbescheid oder den das Bestehen der Prüfung mit einer be‑ stimmten Note feststellenden Bestehens- / Prüfungsbescheid handelt. Über diesen Aufhebungsantrag hinaus erstrebt der Prüfling üblicherweise weiter gehend die Verpflichtung der Beklagten, ihm die Neuerbringung einzelner Prüfungsleistungen zu ermöglichen und / oder deren Neubewertung zu ver‑ anlassen und ihn sodann hinsichtlich des Gesamtergebnisses der Prüfung ellen und Verfahrensrechten auch BVerwG, Bes. v. 22.05.1990 – 8 B 156.89, Buch‑ holz, 310, § 81 VwGO Nr. 13, 9 (9); Bes. v. 04.06.1991 – 6 ER 400.91, Buchholz 310, § 132 Nr. 298, 33 (34); BVerwG, Bes. v. 26.05.1999 – 6 B 75/98, juris, Rn. 4. 130 BVerwG, Bes. v. 04.06.1991 – 6 ER 400.91, Buchholz 310, § 132 Nr. 298, 33 (34); Bes. v. 26.05.1999 – 6 B 75/98, juris, Rn. 4; Zimmerling/Brehm, Prüfungs‑ recht, Rn. 201. 131 OVG Münster, Urt. v. 27.08.2001 – 14 A 481/96, NVwZ-RR 2002, 193 (195 f.).
C. Gerichtliches Rechtsschutzinstrumentarium599
erneut zu bescheiden132. (Allein) nach diesen Begehren richtet sich grund‑ sätzlich die jeweils statthafte Klageart (§ 88 VwGO133), die allerdings der materiellen Rechtslage anzupassen und davon abhängig zu machen ist, welchen konkreten Anspruch der Kläger insoweit geltend machen kann134. Nach materiellem Recht hat der Prüfling kraft des Gewährleistungsgehalts des Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG einen Anspruch auf die (verfahrens‑)fehlerfreie Ermittlung und Bewertung der von ihm erbrachten Prüfungsleistungen. Ist dieser nicht erfüllt, dies aber im streitgegenständlichen Prüfungsbescheid (in der Gestalt des Widerspruchsbescheides) ausdrücklich oder konkludent so festgestellt worden, kann er dessen begehrte Aufhebung mit der Anfech‑ tungsklage nach § 42 Abs. 1 1. Alt. VwGO erreichen, da der (Nicht‑)Bestehens bescheid zweifelsohne die begriffsbestimmenden Merkmale des von dieser Norm für die Statthaftigkeit vorausgesetzten Verwaltungsaktes erfüllt135. Allein durch die Erfüllung dieses Anfechtungsteils des Klagebegehrens werden die vom Prüfling weiter gehend erstrebte Verpflichtung des Prü‑ fungsamtes zur erneuten Entscheidung über das Bestehen der Prüfung (mit einer bestimmten Note) nach erfolgter Neubewertung und / oder Neuerbrin‑ gung einzelner Teilprüfungsleistungen aber nicht und sein materielles Be‑ gehren auf rechtsfehlerfreie Erfüllung seines Prüfungsanspruchs nicht ohne Weiteres erfüllt. Fraglich ist daher an sich allein, ob zur vollständigen Befriedigung des Rechtsschutzbegehrens des Klägers zusätzlich die Annahme der Statthaftig‑ keit der gesetzlich nicht geregelten, aber allgemein anerkannten136 allgemei‑ nen Leistungsklage oder nur der rechtsschutzintensiveren Verpflichtungskla‑ ge nach § 42 Abs. 1 2. Alt. VwGO geboten ist, der ein unselbstständiges Anfechtungselement137 insoweit innewohnt, als der mit dieser Klageart be‑ gehrte Verwaltungsakt notwendigerweise die (konkludente) Aufhebung der 132 Siehe beispielhaft die Tenorierungen/den Antrag in den Entscheidungen: OVG RLP, Urt. v. 27.03.2009 – 10 A 11116/08, juris, Rn. 8; HessVGH, Urt. v. 26.05.2010 – 8 A1595/09, juris, Rn. 53 ff., insoweit nicht abgedruckt in LKRZ 2010, 342 f.; BayVGH, Urt. v. 05.12.2006 – 7 B 05.2683, juris, Rn. 5, insoweit nicht ab‑ gedruckt in BayVBl. 2007, 723 ff.; OVG LSA, Urt. v. 11.12.2003 – 2 L 265/02, juris, Rn. 13; VG Berlin, Urt. v. 19.01.2005 – 12 A 413.02, juris, Rn. 5; VG Ans‑ bach, Urt. v. 15.10.2009 – AN 2 K 07.02083, juris, Rn. 5; VG Ansbach, Urt. v. 04.08.2011 – AN 2 K 10.01591, juris, Rn. 19; VG Schwerin, Urt. v. 03.07.2012 – 3 A 492/07, juris, Rn. 12. 133 OVG Berlin, Bes. v. 25.09.1978 – VII S 12.78, juris, Rn. 6.; allgemein Kopp/ Schenke, VwGO, § 88, Rn. 1. 134 Vgl. VG München, Urt. v. 03.07.2006 – M 3 K 05.3363, juris, Rn. 18. 135 Vgl. OVG Berlin, Bes. v. 25.09.1978 – VII S 12.78, juris, Rn. 6. 136 Siehe nur Ehlers, in: Ehlers/Schoch, Rechtsschutz, § 24. 137 Vgl. OVG Berlin, Bes. v. 25.09.1978 – VII 12.78, juris, Rn. 6; VG München, Urt. v. 03.07.2006 – M 3 K 05.3363, juris, Rn. 18; Rozek, NVwZ 1992, 33 (36).
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Kap. 8: Verwaltungsprozessuale Rechtsschutzmöglichkeiten
entgegenstehenden Bescheide voraussetzt138. Dies hängt davon ab, ob der Kläger mit dem verpflichtenden Element seines Klagebegehrens ein auf den Erlass eines Verwaltungsaktes gerichtetes oder ein schlicht-hoheitliches Handeln des Prüfungsamtes begehrt. Sofern das Begehren des Klägers nach bereits absolvierter mündlicher Prüfung auf eine erneute Entscheidung des Prüfungsamtes über das Bestehen der Prüfung (mit einer bestimmten) Note nach Neubewertung und / oder Neuerbringung schriftlicher und / oder münd‑ licher Prüfungsleistungen gerichtet ist, zielt dieses zweifelsohne auf den Erlass eines Verwaltungsaktes ab. Da die Prüfungssache im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung aber mangels der dann noch ausstehenden Neu‑ bewertung / Neuerbringung einzelner Teilprüfungsleistungen noch nicht spruchreif ist, kann der Prüfling sein Klageziel im Regelfall nur mit der Verpflichtungsklage (§ 42 Abs. 1 2. Alt. VwGO) in Form der Bescheidungs‑ klage (§ 113 Abs. 5 Satz 2 VwGO) erreichen139. Die Statthaftigkeit der Verpflichtungsklage in der aufgezeigten Konstellation ist nach allgemeiner Ansicht unabhängig davon gegeben, ob der Prüfling ausweislich der Schlus‑ sentscheidung des Prüfungsausschusses die Prüfung nicht bestanden oder er mit dem erreichten Gesamtergebnis nur sein Notenziel verfehlt hat und sich dagegen mit der sogenannten „Verbesserungsklage“140 wendet. Fraglich und umstritten ist aber, ob die Verpflichtungsklage auch dann die richtige Klageart darstellt, wenn der Prüfling die Prüfung bereits nach dem Ergebnis der schriftlichen Prüfungsleistungen nicht bestanden hat und das Prüfungsverfahren deshalb nicht fortgesetzt wird141. Ganz überwiegend wird angenommen, dass der Prüfling auch hier sein in dieser Konstellation in der Sache auf die Zulassung zur mündlichen Prüfung gerichtetes Klagebegehren mit der Verpflichtungsklage in Form der Bescheidungsklage verfolgen kann142, 138 Siehe nur Kopp/Schenke, VwGO, § 42 Rn. 6, 29; Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 828; Zimmerling/Brehm, Der Prüfungsprozess, Rn. 223. 139 Vgl. Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 829; Zimmerling/Brehm, Der Prüfungs‑ prozess, Rn. 225; VG Berlin, Urt. v. 19.01.2005 – 12 A 413.02, juris, Rn. 15; VG München, Urt. v. 03.07.2006 – M 3 K 05.3363, juris, Rn. 18. 140 Siehe zu dieser VG München, Urt. v. 03.07.2006 – M K 05.3363, juris, Rn. 18; Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 829; Zimmerling/Brehm, Der Prüfungspro‑ zess, Rn. 226; Schlette, DÖV 2002, 816 (817 f.). 141 Siehe zum Streitstand etwa OVG Berlin-Brandenburg – OVG 10 86.08, juris, Rn. 5. 142 Siehe bereits OVG Berlin, Bes. V. 25.09.1978 – VII S 12.78, juris, Rn. 6; ausdrücklich HessVGH, Urt. v. 26.06.2010 – 8 A 1595/09, LKRZ 2010, 342 (342); VG Schwerin, Bes. v. 17.11.2000 – 7 B 859/00, juris, Rn. 19; VG Berlin, Urt. v. 19.01.2005 – 12 A 413.02, juris, Rn. 15; die Tenorierungen/den Antrag in den Ent‑ scheidungen: BayVGH, Urt. v. 05.12.2006 – 7 B 05.2683, juris, Rn. 5, insoweit nicht abgedruckt in BayVBl. 2007, 723 ff.; OVG LSA, Urt. v. 11.12.2003 – 2 L 265/02, juris, Rn. 5, 13; OVG RLP, Urt. v. 27.03.2009 – 10 A 11116/08, juris, Rn. 8;
C. Gerichtliches Rechtsschutzinstrumentarium601
während teilweise nur die Anfechtungsklage143 oder die Anfechtungsklage in Kombination mit der allgemeinen Leistungsklage für statthaft erachtet wird144. Wenn – wie im Regelfall – die Fortsetzung des Prüfungsverfahrens nach (er‑ folgreicher) Absolvierung der schriftlichen Prüfungsleistungen schlicht durch die Ladung des Prüflings zur mündlichen Prüfung erfolgt und dieser nach der Ausgestaltung der Prüfungsordnung nicht ein förmlicher Zulassungsakt vor‑ ausgeht, kommt richtigerweise die Verpflichtungsklage nicht in Betracht145. Denn die Ladung zur mündlichen Prüfung stellt sich in diesem Fall als ein schlicht-hoheitliches Handeln dar146 und die einen Verwaltungsakt darstellen‑ de Entscheidung über das Bestehen der Prüfung kann wegen der noch ausste‑ henden mündlichen Prüfung und des damit noch nicht abgeschlossenen Prü‑ fungsverfahrens zu diesem Zeitpunkt noch nicht abschließend getroffen wer‑ den147. Auch wenn nach allgemeinen Grundsätzen aufgrund der Behördenei‑ genschaft des Prüfungsamtes davon ausgegangen werden kann, dass es auch ohne ausdrückliche gerichtliche Verpflichtung die aus einem bloßen Kassati‑ onsausspruch des Gerichtes gebotenen Konsequenzen zieht148 und den Prüf‑ ling bei Vorliegen der Voraussetzungen nach erfolgter Beseitigung der vom Gericht beanstandeten Prüfungsmängel zur mündlichen Prüfung lädt, kann dem Prüfling ein Rechtsschutzbedürfnis für eine entsprechende Tenorierung nicht von vornherein abgesprochen werden149. Überzeugend erscheint daher die Annahme einer kombinierten Anfech‑ tungs- und Leistungsklage in der beschriebenen Situation, in welcher der Prüfungserfolg ohne Fortgang des Prüfungsverfahrens noch nicht festgestellt werden kann, sofern der Prüfling über die beantragte Aufhebung des Prü‑ VG Ansbach, Urt. v. 15.10.2009 – AN 2 K 07.02083, juris, Rn. 3 f. 15; Urt. v. 04.08.2011 – AN 2 K 10.01591, juris, Rn. 19; VG Schwerin, Urt. v. 03.07.2012 – 3 A 492/07, juris, Rn. 12. 143 OVG Lüneburg, Bes. v. 01.07.2008 – 2 ME 324/08, Nds.Rpfl. 2008, 411 (411); VG Hannover, Urt. v. 17.12.2003 – 6 A 5940/02, juris, Rn. 21; VG München, Urt. v. 03.07.2006 – M 3 K 05.3363, juris, Rn. 18; Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 826. 144 BFHE 195, 19 (21); OVG LSA, Urt. v. 18.10.2001 – 2 L 38/00, juris, Rn. 27. 145 OVG LSA, Urt. v. 18.10.2001 – 2 L 38/00, juris, Rn. 27; OVG Lüneburg, Bes. v. 01.07.2008 – 2 ME 324/08, Nds.Rpfl. 2008, 411 (411); VG München, Urt. V. 03.07.2006 – M 3 K 05.3363, juris, Rn. 18; Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 826. 146 BFHE 195, 19 (21); OVG LSA, Urt. v. 18.10.2001 – 2 L 38/00, juris, Rn. 27. 147 BFHE 195, 19 (21); OVG Lüneburg, Bes. v. 01.07.2008 – 2 ME 324/08, Nds.Rpfl. 2008, 411 (411); VG München, Urt. v. 03.07.2006 – M 3 K 05.3363, juris, Rn. 18. 148 OVG Berlin, Bes. v. 25.09.1978 – VII S 12.78, juris, Rn. 7; VG Hannover, Urt. v. 17.12.2003 – 6 A 5940/02, juris, Rn. 21. 149 Siehe auch Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 830; exemplarisch VG Ansbach, Urt. v. 04.08.2011 – AN 2 K 10.01591.
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Kap. 8: Verwaltungsprozessuale Rechtsschutzmöglichkeiten
fungsbescheides hinaus ausdrücklich die Verpflichtung / Verurteilung des Prüfungsamtes zu den nach der materiellen Rechtslage gebotenen Handlun‑ gen beantragt hat. Anderenfalls mag man auch die bloße Anfechtungsklage im Hinblick darauf als hinreichend rechtsschutzintensiv ansehen, dass wie dargelegt die Umsetzung des Urteils entsprechend der materiellen Rechtsla‑ ge zu erwarten ist. Die praktischen Konsequenzen des Streits um die statt‑ hafte Klageart sind (daher) gering, da zunächst die Rechtskraftwirkung (§ 121 VwGO) eines Bescheidungs- bzw. Leistungstenors, mit dem der verpflichtende Teil des Klagebegehrens des Klägers ausgeurteilt wird, nicht über diejenige eines bloßen Kassationsausspruchs hinausgeht. Dies gilt ins‑ besondere dann, wenn zutreffend angenommen wird, dass das Verwaltungs‑ gericht bei der Entscheidung über die Begründetheit einer in Form der Bescheidungsklage erhobenen Verpflichtungsklage selbst dann nicht an die insoweit vom Kläger angeführten Klagegründe gebunden ist, wenn er diese in den Hauptantrag mit eingebunden oder in Hilfsanträgen zum Ausdruck gebracht hat150. Das bedeutet konkret, dass es sich bei dem Antrag des Klägers auf Neu‑ bewertung / Neuerbringung bestimmter Teilprüfungsleistungen um nicht mehr als die Darlegung einer Rechtsauffassung handelt, die seiner Ansicht nach zur Begründetheit der Bescheidungsklage führen muss und als konkrete Ver‑ fahrensweise zur Beseitigung der aufgetretenen Prüfungsmängel dem Prü‑ fungsamt vorgeschrieben werden soll151. Demgemäß beschränkt sich der Tenor eines stattgebenden Urteils auch häufig auf den Ausspruch der Ver‑ pflichtung des Prüfungsamtes, unter der Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichtes über das Gesamtergebnis der Prüfung erneut zu entscheiden152. Insbesondere in diesem Fall ergibt sich die im Übrigen auch allgemein aner‑ kannte Notwendigkeit153, zur Ermittlung der konkreten Rechtskraftwirkung eines Bescheidungsurteils den Verpflichtungstenor mithilfe der in den Ent‑ scheidungsgründen niedergelegten Rechtsaufassung des Gerichtes auszule‑ gen154. Infolgedessen ist das Prüfungsamt bei der Umsetzung eines stattge‑ 150 Vgl. allgemein BVerwG, Bes. v. 24.10.2006 – 6 B 47/06, NVwZ 2007, 104 (106); im Besonderen HessVGH, Urt. v. 26.05.2010 – 8 A 1595/09, LKRZ 2010, 342 (342 f.). 151 Vgl. HessVGH, Urt. v. 26.05.2010 – 8 A 1595/09, LKRZ 2010, 342 (343). 152 Vgl. etwa VG Berlin, Urt. v. 19.01.2005 – 12 413.02, juris; VG Schwerin, Urt. v. 03.07.2012 – 3 A 492/07, juris; anders etwa VG Ansbach, Urt. v. 04.08.2011 – AN 2 K 10.01591, juris. 153 BVerwG, Bes. v. 22.04.1987 – 7 B 76/87, Buchholz 310 § 121 VwGO Nr. 54, 1 (2); Redeker/v. Oertzen, VwGO, § 121, Rn. 8, 11a; Stuhlfauth, in: Bader/ Funke-Kaiser/Stuhlfauth/v. Albedyll, VwGO, § 121, Rn. 13, 19. 154 Vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Bes. v. 08.01.2010 – OVG 10 N 86.08, juris, Rn. 4; Bes. v. 27.11.2013 – OVG 7 N 18.13, juris, Rn. 13; HessVGH, Urt. v. 26.05.2010 – 8 A 1595/09, LKRZ 2010, 342 (343).
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benden Bescheidungsurteils in dem Maße gebunden, wie der Kläger mit seinen Einwänden, dass bestimmte Teilprüfungsleistungen und aus welchen konkreten Gründen fehlerhaft ermittelt und / oder bewertet worden sind, durchgedrungen ist155. Bei der bloßen Kassation eines Prüfungsbescheides folgt aber aus den Entscheidungsgründen des Aufhebungsurteils ebenso, aus welchen Gründen der Anspruch des Klägers auf (verfahrens‑)fehlerfreie Er‑ mittlung und / oder Bewertung nicht erfüllt worden ist und damit in welchem Umfang und unter welchen Bedingungen das Prüfungsamt die Neubewer‑ tung veranlassen bzw. die Neuerbringung einer Teilprüfungsleistung ermög‑ lichen muss und inwieweit es gehindert ist, einen Prüfungsbescheid auf derselben Grundlage zu erlassen156. In der Sache sind daher die Rechtskraft‑ wirkungen eines Aufhebungsurteils nicht anders zu beurteilen als die eines Bescheidungsurteils157. Im Ergebnis berührt die Frage der im Einzelfall statthaften Klageart letztlich in erster Linie die kostenrechtliche Seite des Verwaltungsprozesses, wenn der Kläger einen nicht der Rechtslage bzw. der Rechtsauffassung des Gerichtes entsprechenden Antrag stellt und die Klage daher mit der Folge der teilweisen Kostentragungslast abgewiesen wird. 2. Prozessuale Überholung des Klagebegehrens Zwischen dem Zeitpunkt der Einreichung der Klage(-begründung) mit den für die mündliche Verhandlung angekündigten Anträgen und der Ent‑ scheidung des Gerichtes über deren Begründetheit vergeht in der Regel ein ganz erheblicher Zeitraum. Währenddessen können sich die der Klageerhe‑ bung zugrunde liegenden (persönlichen) Verhältnisse des Klägers grundle‑ gend ändern und das Interesse an einer Weiterverfolgung der (ursprüngli‑ chen) Anträge wegfallen oder deren Änderung aus rechtlichen Gründen geboten sein. a) Fortbestehendes Rechtsschutzbedürfnis bei bestandener Wiederholungsprüfung? Anzusprechen ist in diesem Kontext zunächst der häufige Fall des Beste‑ hens einer während eines laufenden Prüfungsanfechtungsprozesses unter‑ nommenen Wiederholungsprüfung. Fraglich und umstritten ist, ob dieses 155 Vgl.
OVG Berlin-Brandenburg, Bes. v. 08.01.2010 – OVG 10 N 86.08, juris,
156 Vgl.
OVG Berlin-Brandenburg, Bes. v. 08.01.2010 – OVG 10 N 86.08, juris,
Rn. 5. Rn. 5.
157 So auch OVG Berlin-Brandenburg, Bes. v. 08.01.2010 – OVG 10 N 86.08, juris, Rn. 5.
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Kap. 8: Verwaltungsprozessuale Rechtsschutzmöglichkeiten
Ereignis das Rechtsschutzinteresse (nur) für die Weiterverfolgung eines Verpflichtungs- / Leistungsbegehrens oder auch eines damit konkludent mit‑ verfolgten oder ausschließlich zur gerichtlichen Entscheidung gestellten Anfechtungsbegehrens entfallen und eine Erledigung des Rechtsstreits im Rechtssinne eintreten lässt. Dies hängt in erster Linie von dem jeweiligen Rechtsverständnis des in der Verwaltungsgerichtsordnung in den §§ 113 Abs. 1 Satz 4, 161 Abs. 2 sowie in § 43 Abs. 2 LVwVfG verwandten und zwar nicht in terminologischer, wohl aber in der Sache weitgehend einheit‑ lich bestimmten Rechtsbegriffs der „Erledigung“ ab. So soll sich nach dem Bundesfinanzhof ein Rechtsstreit in der Hauptsache erledigen, wenn nach Rechtshängigkeit ein Ereignis eingetreten ist, durch das das gesamte im Klageantrag zum Ausdruck kommende, in dem Verfahren streitige Klagebe‑ gehren objektiv gegenstandslos geworden ist158. Davon dürfte nach einer anderen und im Wesentlichen auf das Bundesverwaltungsgericht zurückge‑ henden Definition der Erledigung auszugehen sein, wenn der angegriffene Bescheid keine Regelungswirkung mehr entfaltet159, (damit) rechtliche Wirkungen nicht mehr äußert und die anfänglich in ihm liegende Beschwer für den Kläger deshalb entfallen lässt160, so dass dessen ursprünglich (kon‑ kludent) beantragte Aufhebung sinnlos erscheint161. aa) Erledigung des Verpflichtungs- / Leistungsbegehrens Auf der Grundlage dieser Prämissen geht die Rechtsprechung seit jeher zunächst ganz überwiegend wie selbstverständlich davon aus, dass sich der mittels eines Verpflichtungs- bzw. Leistungsbegehrens in Kombination mit der Anfechtungsklage geführte Rechtsstreit um das Bestehen der Prüfung im Erst- oder Zweitversuch erledigt, wenn der Prüfling die Prüfung im letztma‑ ligen Wiederholungsversuch besteht162. Dieser Subsumtionsschluss erscheint auf den ersten Blick zwingend, weil vorbehaltlich der Möglichkeit eines No‑ tenverbesserungsversuchs jede Prüfung nur ein Mal bestanden werden kann163 und der Prüfling durch die Fortsetzung bzw. Teilwiederholung des 158 BFHE
195, 19 (20). BVerwG, Urt. v. 15.11.1990 – 3 C 49/87, NVwZ 1991, 570 (571); Gerhardt, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, § 113, Rn. 81. 160 Vgl. BVerwG, Urt. v. 27.02.1969 – VIII C 88/68, NJW 1969, 1822 (1822); siehe etwa auch VG München, Urt. v. 20.04.2010 – M 16 K 09.4294, juris, Rn. 25; referierend Kopp/Schenke, VwGO, § 113, Rn. 102. 161 Vgl. Kopp/Schenke, VwGO, § 113, Rn. 102. 162 Vgl. BVerwGE 40, 205 (207); VG Schleswig, Urt. v. 08.03.1978 – 9 A 243/75, juris, Rn. 17; siehe auch BFHE 122, 11 (11); 195, 19 (21). 163 Vgl. BFHE 122, 11 (11); 195, 19 (21); VGH Mannheim, Urt. v. 17.07.1990 – 9 S 70789; DVBl 1991, 60 (60). 159 Vgl.
C. Gerichtliches Rechtsschutzinstrumentarium605
ursprünglichen Prüfungsverfahrens im Ergebnis nicht mehr erreichen könnte als die erneute Feststellung des Bestehens der Prüfung. Ein rechtsschutzwür‑ diges Interesse dafür und damit an der uneingeschränkten Weiterverfolgung des bisherigen Klagebegehrens ist in der Tat nicht erkennbar164. Es darf allerdings nicht übersehen werden, dass gerade bei den juristi‑ schen (Staats‑) Prüfungen die erzielte Abschlussnote in der bestandenen Prüfung für die Möglichkeit der Verwirklichung der beruflichen Ziele von maßgeblicher Bedeutung ist und im Einzelfall durchaus die Möglichkeit besteht, dass der Prüfling im Falle der Fortsetzung / Teilwiederholung des ersten Prüfungsverfahrens im ersten Prüfungsversuch eine bessere Ab‑ schlussnote als im bestandenen Wiederholungsversuch erzielt hätte. Diese Konstellation ist etwa dann gegeben, wenn das übermittelte Ergebnis der schriftlichen Prüfungsleistungen des Repetenten nach dem ersten Prüfungs‑ anlauf eine höhere Durchschnittspunktzahl als im bestandenen Wiederho‑ lungsversuch ausweist, die Voraussetzungen für die Fortführung des Prü‑ fungsverfahrens aber wegen Verfehlens der erforderlichen Mindestanzahl bestandener Klausuren ursprünglich nicht vorgelegen haben165. Wenn es dem Prüfling hier gelänge, nach erstrittener Neubewertung / Neuerbringung einzelner Teilprüfungsleistungen die Voraussetzungen für eine Fortführung des seinerzeit abgebrochenen Prüfungsverfahrens mit der mündlichen Prü‑ fung zu schaffen, könnte er dort aufgrund der besseren „Startposition“ durchaus ein besseres Gesamtergebnis erzielen. Für diesen Fall kann dem Prüfling ein Interesse an der Weiterverfolgung des ursprünglichen Klagebe‑ gehrens mit dem Ziel des erfolgreichen Abschlusses des Prüfungsverfahrens nicht abgesprochen werden166. Fraglich ist allerdings, ob diesem durch Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG auch durchaus rechtlich geschützten Interesse nicht möglicherweise die (Gleichheits‑)Rechte der anderen Prüfungsteilneh‑ mer entgegenstehen, weil in diesem Fall dem Repetenten im Gegensatz zu jenen durch die Kompensation der Prüfungsmängel zwei erfolgreiche Prü‑ fungsversuche eröffnet werden würden und er sich eines der erzielten Er‑ gebnisse aussuchen könnte. Mit dem damit in der Sache angesprochenen Chancengleichheitsgrundsatz und den über diesen erzeugten rechtlichen Bindungen gerät die dem Repetenten eröffnete (Wahl‑) Möglichkeit aber jedenfalls dann nicht in Konflikt, wenn nach der maßgeblichen Prüfungs‑ ordnung den im ersten Versuch erfolgreichen Kandidaten – wie dies bei der 164 Vgl. VG Schleswig, Urt. v. 08.03.1978 – 9 A 243/75, juris, Rn. 17; siehe auch BFHE 122, 11 (11); 195, 19 (21). 165 Siehe bereits Unger, VBlBW 2012, 358 (360). 166 Zutreffend VGH Mannheim, Urt. v. 17.07.1990 – 9 S 707/89, DVBl 1991, 60 (60 f.); nachfolgend aufgehoben durch BVerwGE 88, 111 f.; siehe auch BFHE 195, 19 (21); HessVGH, Urt. v. 05.03.2009 – 8 A 1037/07, LKRZ 2009, 311 (312); Unger, VBlBW 2012, 358 (360).
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Zweiten juristischen Staatsprüfung mittlerweile durchweg und bei der staat‑ lichen Pflichtfachprüfung zunehmend der Fall ist – ein Verbesserungsver‑ such eröffnet ist. Denn in diesem Fall hat jeder Prüfling, der die erste Prüfung im ersten Versuch bestanden hat, ohnehin zwei Möglichkeiten, eine gute Abschlussnote zu erzielen, und es ist kein hinderlicher Rechtsgrund ersichtlich, die Fortsetzung bzw. Teilwiederholung des ersten Prüfungsver‑ suchs in diesem Fall als Unternehmen eines Notenverbesserungsversuchs zu werten167. Soweit ein Notenverbesserungsversuch nicht vorgesehen ist oder es sich bei dem erfolglosen Prüfungsversuch bereits um die zweite Wiederholungs‑ prüfung und demgemäß bei der letztlich bestandenen Prüfung bereits um den „Gnadenversuch“ gehandelt hat, ist eine Verletzung des Chancengleich‑ heitsgrundsatzes aber ebenso zu verneinen. Zugunsten des vermeintlich bevorteilten Repetenten müssen nämlich auch die Nachteile in Rechnung gestellt werden, die dieser durch die letztlich unnötige und ungerechtfertig‑ te Wiederholung der Prüfung erlitten hat. Und es muss berücksichtigt wer‑ den, dass ein Prüfling letztlich nicht allein durch einen überlangen Prü‑ fungsanfechtungsprozess und die (nur) deshalb bereits angetretene Wieder‑ holungsprüfung um die Früchte des ersten Prüfungsversuchs gebracht werden darf. Sofern eine Verbesserung des Prüfungsgesamtergebnisses durch Fortfüh‑ rung des dem bestandenen Wiederholungsversuch vorausgegangenen Prü‑ fungsversuchs ausgeschlossen erscheint oder der Prüfling an dieser ohnehin kein Interesse hat, fragt sich, ob jedenfalls in dieser Prüfungssituation von einer Erledigung des Rechtsstreits ausgegangen werden kann. Dies kann nicht ohne Weiteres angenommen werden, weil es allein nicht ausreicht, dass nur der Kläger an der Fortsetzung des Rechtsstreits kein Interesse mehr hat168. Dann müsste aber ein rechtsschutzwürdiges Interesse des Prüfungs‑ amtes an der Herbeiführung einer Entscheidung über den ursprünglichen Verpflichtungs- bzw. Leistungsantrag des Klägers bestehen. Dieses wäre wiederum nur gegeben, wenn – und sei dies auch nur zur Wahrung der Chancengleichheit der anderen Prüfungsteilnehmer – die Feststellung von Bedeutung wäre und getroffen werden könnte, dass der Repetent auch nach Beseitigung vorliegender Prüfungsmängel die Prüfung „im Erstversuch“ nicht bestanden hat. Diese Möglichkeit hat das VG Stuttgart im Zusammen‑ hang mit der Frage, ob das erste Prüfungsverfahren nach einer zwischen‑ zeitlich unternommenen und bestandenen Wiederholungsprüfung und des‑ halb nur noch beantragter und erfolgter Aufhebung des ursprünglichen 167 In diese Richtung auch HessVGH, Urt. v. 05.03.2009 – 8 A 1037/07, LKRZ 2009, 311 (312). 168 BFHE 195, 19 (20).
C. Gerichtliches Rechtsschutzinstrumentarium607
Nichtbestehensbescheides in dem noch anhängigen Prüfungsprozess gegen den Willen des Prüflings fortgesetzt werden kann, zu Recht verneint169. Neben der allgemein fehlenden Rechtsgrundlage170 für den Erlass eines Bescheides des Inhalts, dass die Prüfung „im Erstversuch“ nicht bestanden worden ist, mangelt es vor allem auch an einem erkennbaren und verfas‑ sungsrechtlich legitimen Zweck für eine solche Feststellung171. Denn der Prüfungskandidat, der lediglich erfolgreich die Aufhebung bzw. Feststellung der Rechtswidrigkeit des Bescheides über das Nichtbestehen der Prüfung beantragt, kann deshalb nicht behaupten, die Prüfung im Erstversuch be‑ standen zu haben, so dass es auch an einem Bedürfnis fehlt, dies durch eine Fortsetzung des Prüfungsverfahrens (gegen den Willen des Prüflings) festzustellen172. Vor allem wäre diese mit der allgemeinen und insbesondere auch aus den Freiheitsrechten des Prüflings folgenden Dispositionsbefugnis offenkundig unvereinbar173. Nach alledem ist bei einem entfallenen Interesse des Klägers an einer Weiterverfolgung des ursprünglichen Verpflichtungs- / Leistungsbegehrens aufgrund prozessualer Überholung hinsichtlich dieses Streitgegenstandes immer von einer Erledigung des Rechtsstreits auszugehen. bb) Erledigung auch des Anfechtungsbegehrens Zu klären ist hiernach nur noch, ob in diesem Fall auch ein Rechts‑ schutzinteresse an der Weiterverfolgung des in dem Verpflichtungsbegeh‑ ren konkludent enthaltenen Anfechtungsbegehrens und damit auch inso‑ weit eine Erledigung des Rechtsstreits anzunehmen ist. So gestellt beant‑ wortet sich die Frage im Prinzip von selbst, wenn der Kläger eine Ver‑ pflichtungsklage in Form der Bescheidungsklage erhoben hatte, da wie dargelegt hier das Anfechtungselement keine selbstständige Bedeutung hat und daher als bloßer Annex des Verpflichtungsbegehrens das rechtliche Schicksal desselben in Form der Erledigung teilt174. Sie stellt sich aber im neuen Gewand, wenn der Kläger bei einer kombinierten Anfechtungs- und 169 VG Stuttgart, Urt. v. 08.03.2012 – 12 K 1650/11, VBlBW 2012, 357 (357 f.); siehe hierzu die Anmerkung von Unger, VBlBW 2012, 358 (362). 170 Siehe für die Rechtslage in BW VG Stuttgart, Urt. v. 08.03.2012 – 12 K 1650/11, VBlBW 2012, 357 (357). 171 Vgl. VG Stuttgart, Urt. v. 08.03.2012 – 12 K 1650/11, VBlBW 2012, 357 (358). 172 Vgl. zutreffend VG Stuttgart, Urt. v. 08.03.2012 – 12 K 1650/11, VBlBW 2012, 357 (358). 173 Vgl. bereits Unger, VBlBW 2012, 358 (362). 174 So zutreffend VGH Mannheim, Urt. v. 17.07.1990 – 9 S 707/89, DVBl 1991, 60 (61); anders, aber insoweit nicht überzeugend BVerwGE 88, 111 (114 f.).
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Leistungsklage im Wege der Klageänderung von der Weiterverfolgung des Leistungsbegehrens Abstand nimmt oder von der Verpflichtungsklage auf die (isolierte) Anfechtungsklage umstellt oder diese von vornherein nur erhoben hatte. Für diesen Fall gehen das Bundesverwaltungsgericht175 und die ihm bei‑ nahe ausnahmslos folgenden Instanzgerichte176 in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass sich ein negativer Prüfungsbescheid durch das Bestehen einer Wiederholungsprüfung nicht umfassend erledige. Er bleibe vielmehr insoweit rechtswirksam und beschwere seinen Adressaten, als er das Nicht‑ bestehen wegen nicht ausreichender Prüfungsleistungen feststelle177 und die später bestandene Prüfung zwangsläufig als Wiederholungsprüfung und den Prüfling als Repetenten ausweise178. Ein Rechtsschutzbedürfnis für die iso‑ lierte Anfechtungsklage gegen berufsbezogene Prüfungsentscheide trotz Bestehens der Wiederholungsprüfung sei anzuerkennen, wenn die Befürch‑ tung berechtigt erscheine, der vom negativen Prüfungsentscheid ausgehende „Makel des Durchfallens“ könne sich als Hemmnis für das berufliche Fort‑ kommen erweisen179. Ob dies der Fall ist, lasse sich allerdings nicht abs‑ trakt-generell beantworten, sondern hänge von der Art der Prüfung und den vom Prüfling verfolgten Zielen sowie seinen weiteren beruflichen Planungen ab180. Diese auf das Bundesverwaltungsgericht zurückgehende MakelRechtsprechung sah sich bisher Einwänden im Wesentlichen nur durch den VGH Mannheim ausgesetzt. Der VGH Mannheim hat es zur „Erhaltung der Funktionsfähigkeit des Instituts des Verwaltungsaktes im Bereich des Prü‑ fungsrechtes“ als geboten angesehen, den Regelungsinhalt des negativen oder positiven Prüfungsbescheides nicht nach seiner Bedeutung für den Prüfling zu bestimmen. Demgemäß hat er eine Erledigung des negativen Prüfungsbescheides für den Fall des Bestehens des Wiederholungsversuchs zumindest unter der Voraussetzung angenommen, dass das Prüfungszeugnis keinerlei Hinweis darauf enthält, dass die Prüfung erst in der Wiederholung 175 BVerwGE 40, 205 (206); 88, 111 (113); BVerwG, Urt. v. 21.10.1993 – 6 C 12.92, Buchholz 421.0 Nr. 320, 305 (306); Bes. v. 10.06.1996 – 6 B 81/95, NVwZRR 1997, 101 (102). 176 HessVGH, Urt. v. 05.03.2009 – 8 A 1037/07, LKRZ 2009, 311 (312); VG München, Urt. v. 20.04.2010 – M 16 K 09.4294, juris, Rn. 25; OVG NRW, Urt. v. 18.04.2012 – 14 A 2687/09, BeckRS 2012, 50007; siehe für die Steuerberaterprü‑ fung auch BFHE 195, 19 (21 f.); 122, 11 (12); anders bisher nur VGH Mannheim, Urt. v. 17.07.1990 – 9 S 707/89, DVBl 1991, 60 (61). 177 BVerwG, Urt. v. 21.10.1993 – 6 C 12/92, Buchholz 421.0 Nr. 320, 305 (306). 178 Vgl. BVerwGE 40, 205 (207); 88, 111 (112). 179 Vgl. BVerwGE 88, 111 (113 f.); BVerwG, Urt. v. 21.10.1993 – 6 C 12/92, Buchholz 421.0 Nr. 320, 305 (306). 180 Vgl. BVerwGE 88, 111 (113 f.).
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bestanden worden ist181. Vereinzelt wird auch in der Literatur bemängelt, dass das Bundesverwaltungsgericht ohne zwingenden Grund Aspekte des (Fortsetzungsfeststellungs‑) Interesses in den Regelungsgehalt des Verwal‑ tungsaktes verlagere182. Im Übrigen aber wird in der prüfungsrechtlichen Literatur der Makel-Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichtes weit‑ gehend uneingeschränkt gefolgt183. Im Hinblick auf die eingangs dargelegte Definition der Erledigung und den (beschränkten) Regelungsinhalt eines Nichtbestehensbescheides vermag die Annahme eines fortbestehenden Rechtsschutzinteresses für eine hierge‑ gen gerichtete (isolierte) Anfechtungsklage auch für den Fall des Bestehens der Wiederholungsprüfung nicht zu überzeugen. Der Bescheid über das Nichtbestehen der Zwischen-, Schwerpunkt-, Staatlichen Pflichtfach- oder Zweiten juristischen Staatsprüfung beschränkt sich auf eben diese Feststel‑ lung. Soweit das Bundesverwaltungsgericht ausführt, dass die fortwährende Beschwer des Nichtbestehensbescheides nach Bestehen der Wiederholungs‑ prüfung darin zu sehen sei, dass mit diesem das Nichtbestehen der Prüfung wegen nicht ausreichender Leistungen festgestellt werde, liegt darin ein Pleonasmus. Denn das Vorliegen nicht ausreichender Prüfungsleistungen ist notwendige Rechtmäßigkeitsvoraussetzung für die Feststellung des Nichtbe‑ stehens der Prüfung. Wenn der Prüfling im Wiederholungsversuch für das Bestehen der Prüfung ausreichende Leistungen zeigt und dies in einem entsprechenden Zeugnis so ausgewiesen wird, entfällt damit die Regelung der Feststellung des Nichtbestehens der Prüfung, da diese nur einmal be‑ standen werden kann. Es ist auch nicht nachvollziehbar, dass der ursprüng‑ liche Nichtbestehensbescheid die bestandene Prüfung zwangsläufig als Wiederholungsprüfung und den Prüfling als Repetenten ausweist. Dass der ursprüngliche Nichtbestehensbescheid eine solche Regelung nicht enthalten kann, wird auch daran deutlich, dass der Prüfling nicht immer eine Wieder‑ holungsprüfung unternimmt und ihm daher nicht von vornherein ein Repe‑ tentenstatus zugewiesen werden kann. Der ursprüngliche Nichtbestehensbe‑ scheid führt auch in der Praxis nicht dazu, dass in dem Prüfungszeugnis festgestellt wird, dass der Kandidat die Prüfung erst im Zweit- oder gar Drittversuch bestanden habe. Für eine solche Feststellung fehlt es in den Prüfungsordnungen jedenfalls bislang auch an der dafür erforderlichen Rechtsgrundlage. Im Übrigen kann umgekehrt grundsätzlich entgegen der 181 Siehe zum Ganzen VGH Mannheim, Urt. v. 17.07.1990 – 9 S 707/89, DVBl 1991, 60 (61). 182 Gerhardt, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, § 113, Rn. 86, siehe hierzu auch bereits Unger, VBlBW 2012, 358 (361). 183 Insbesondere Zimmerling/Brehm, Der Prüfungsprozess, Rn. 261 f.; Niehues/ Fischer/Jeremias, Rn. 848, leicht skeptisch Rn. 833.
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offensichtlichen Annahme des Bundesverwaltungsgerichtes184 auch nicht davon ausgegangen werden, dass durch die Aufhebung des ursprünglichen Nichtbestehensbescheides die Wiederholungsprüfung automatisch zur Erst‑ prüfung avanciert. Denn ob der Prüfling die Prüfung im Erstversuch bestan‑ den hätte, steht ja gerade nicht fest, wenn diese nicht fortgesetzt wird. Eine Aufwertung der Wiederholungs- zur Erstprüfung erscheint daher mit dem Grundsatz der Chancengleichheit unvereinbar und kommt nur in Betracht, wenn die Kompensation der Prüfungsmängel im Erstversuch nur durch eine Wiederholung der gesamten Prüfung hätte erfolgen können185. Nach alle‑ dem ist daher davon auszugehen, dass die regelnde Wirkung der Feststellung des Nichtbestehens der Prüfung mit dem Bestehen der Wiederholungsprü‑ fung gegenstandslos und die Weiterverfolgung auch des Aufhebungsbegeh‑ rens sinnlos ist, so dass sich der ursprüngliche Prüfungsrechtsstreit insge‑ samt erledigt. cc) Umstellung des Klagebegehrens auf eine Fortsetzungsfeststellungsklage Dem Prüfling bleibt daher nur die Möglichkeit, die Erledigung der Haupt‑ sache (§ 161 Abs. 2 VwGO) zu erklären oder sein ursprüngliches Klagebe‑ gehren auf eine Fortsetzungsfeststellungklage nach § 113 Abs. 1 Satz 4 (analog) umzustellen. Die Zulässigkeit einer solchen Klage setzt als beson‑ dere Ausprägung des Rechtsschutzbedürfnisses aber das Vorliegen eines Fortsetzungsfeststellungsinteresses voraus. Aus dem anerkannten Kanon der Gründe eines qualifizierten Feststellungsinteresses (Wiederholungsgefahr, Präjudizialität, nachhaltige Grundrechtsbetroffenheit, Rehabilitationsinteres‑ se186) kommt hier im Hinblick auf den eine (vollständige) Erledigung des Nichtbestehensbescheides verneinenden Ansatz des Bundesverwaltungsge‑ richtes namentlich zunächst ein Rehabilitationsinteresse des Repetenten unter dem Gesichtspunkt einer „bemakelnden“ bzw. diskriminierenden Wirkung des ursprünglichen Nichtbestehensbescheides in Betracht. Ob diese unter dem Gesichtspunkt etwaiger beruflicher Hemmnisse bejaht werden kann, erscheint höchst fraglich. Die beachtlichen Gründe dafür hat insbe‑ sondere bereits der VGH Mannheim dargelegt187. Maßgeblich erscheint 184 Siehe BVerwGE 88, 111 (113, 117); siehe dazu auch bereits Unger, VBlBW 2012, 358 (359). 185 Siehe im Einzelnen Unger, VBlBW 2012, 358 (360). 186 Vgl. BayVGH, Urt. v. 28.11.2006 – 21 B 04.400, BayVBl 2007, 761 (763); Kopp/Schenke, VwGO, § 113, Rn. 136 ff.; Gerhardt, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, § 113, Rn. 90 ff. 187 VGH Mannheim, Urt. v. 17.07.1990 – 9 S 707/89, DVBl. 1991, 60 (63 f.); siehe auch bereits Unger, VBlBW 2012, 358 (361).
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insbesondere derjenige, dass nicht ersichtlich ist, wie die bloße Feststellung der Rechtswidrigkeit des Prüfungsbescheides bzw. des etwaigen Bestehens eines Neubescheidungsanspruchs die Rechtsstellung des Berufsaspiranten messbar verbessern soll. Denn er könnte, wenn denn das Nichtbestehen der Prüfung im Bewerbungsgespräch überhaupt zur Sprache käme, nur auf die Rechtswidrigkeit des Nichtbestehensbescheides und das Bestehen eines Neubescheidungsanspruchs sowie die theoretische Möglichkeit des Beste‑ hens der Prüfung im ersten Versuch verweisen188, ohne sich dem Vorwurf der arglistigen Täuschung auszusetzen aber nicht behaupten, die Prüfung bereits im ersten Versuch bestanden zu haben189. Ob er damit seine Situation gegenüber Kandidaten, die gegen den ur‑ sprünglichen Nichtbestehensbescheid nichts unternommen haben, verbessern würde, erscheint höchst fraglich. Entscheidend dürften für die Frage der Einstellung neben dem letztlich erzielten Prüfungsergebnis die persönlichen Merkmale des Kandidaten sein190. Ein durch den Verweis auf die Rechts‑ widrigkeit des ursprünglichen Prüfungsbescheides zum Ausdruck kommen‑ des Merkmal der Rechthaberei191 dürfte hier aber eher hinderlich sein. Schon näher liegend erscheint eine diskriminierende Wirkung dadurch, dass sich der im ersten Versuch gescheiterte Kandidat im Familien-, Freundesund Bekanntenkreis für das Nichtbestehen unter Umständen rechtfertigen muss. Im Ergebnis erscheint damit ein Rehabilitationsinteresse des Prüflings zwar nicht von vornherein ausgeschlossen, aber doch fraglich und bedarf daher der guten und einzelfallabhängigen Begründung. Letztlich kommt ein Fortsetzungsfeststellungsinteresse aber vor allem unter dem Gesichtspunkt einer präjudiziellen Wirkung eines stattgebenden Feststellungsurteils unter dem Gesichtspunkt der materiellen Rechtskraftwir‑ kung im Hinblick auf einen von Kläger angestrebten Amtshaftungsanspruch (Art. 34 GG, § 839 BGB) in Betracht, mit dem er geltend machen will, dass er wegen der rechtswidrigen Prüfungsentscheidung verspätet in das Berufs‑ leben eingetreten ist und dadurch einen materiellen Schaden erlitten hat192. Ein Urteil, mit dem die Rechtswidrigkeit der negativen Prüfungsentschei‑ dung wegen vorliegender Verfahrens- und / oder Bewertungsfehler festge‑ stellt wird, kann die Beweisführung im Schadensersatzprozess zumindest 188 Vgl. 189 Vgl.
(358).
VGH Mannheim, Urt. v. 17.07.1990 – 9 S 707/89, DVBl 1991, 60 (63). VG Stuttgart, Urt. v. 08.03.2012 – 12 K 1650/11, VBlBW 2012, 357
bereits Unger, VBlBW 2012, 358 (361). zu diesem Gedanken zutreffend VGH Mannheim, Urt. v. 17.07.1990 – 9 S 707/89, DVBl 1991, 60 (63). 192 Siehe zu dieser Möglichkeit und den Voraussetzungen im Einzelnen etwa OLG München, Urt. v. 17.08.2006 – 1 U 2960/05, NJW 2007, 1005 ff.; Niehues/ Fischer/Jeremias, Rn. 511 ff.; Zimmerling/Brehm, Der Prüfungsprozess, Rn. 496 ff. 190 Vgl. 191 Vgl.
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erleichtern193. Ein Fortsetzungsfeststellungsinteresse unter dem Gesichts‑ punkt der Präjudizialität ist dabei aber an weitere Voraussetzungen ge‑ knüpft194, auf die hier nicht in allen Einzelheiten eingegangen werden kann. Hingewiesen sei aber auf folgende maßgebliche Gesichtspunkte: Ne‑ ben der in den beschriebenen Konstellationen gegebenen Notwendigkeit, dass zum Zeitpunkt der Erledigung eine gegen den ursprünglichen Nichtbe‑ stehensbescheid gerichtete verwaltungsgerichtliche Klage bereits anhängig ist195, muss im Weiteren auch eine Schadensersatzklage vor dem Zivilgericht bereits erhoben bzw. deren zeitnahe Erhebung nach dem substantiierten Vortrag des Klägers zumindest beabsichtigt sein196. Ferner darf diese nicht offensichtlich aussichtslos sein197. Für den Fall, dass der Prüfling sich im „Freiversuch“ der Schwerpunkt‑ bereichs- oder staatlichen Pflichtfachprüfung unterzogen und diese nicht bestanden, gegen den entsprechenden Prüfungsbescheid nach erfolglosem Widerspruchsverfahren Klage erhoben und sodann während des laufenden Verwaltungsprozesses die Prüfung im regulären Versuch bestanden hat, ist anerkannt, dass sich auch der Anfechtungsteil des ursprünglichen Verpflich‑ tungs- bzw. Leistungsbegehrens erledigt, weil ein Freiversuch nach den einschlägigen gesetzlichen Regelungen im Falle des Nichtbestehens als nicht unternommen gilt und von einem entsprechenden Bescheid daher auch auf der Grundlage der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichtes keine diskriminierenden Wirkungen mehr ausgehen können198. Dieser Ein‑ 193 Siehe zu diesem Erfordernis OVG Münster, Urt. v. 18.04.2012 – 14 A 2687/09, BeckRS 2012, 50007; teilweise anders noch Unger, VBlBW 2012, 358 (361). 194 Arg verkürzt daher Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 833; Zimmerling/Brehm, Der Prüfungsprozess, Rn. 267. 195 Vgl. VGH Mannheim, Urt. v. 17.07.1990 – 9 S 707/89, juris, Rn. 55, inso‑ weit nicht abgedruckt in DVBl. 1991, 60 ff.; VG Sigmaringen, Urt. v. 24.06.1999 – 8 K 1577/99, juris, Rn. 24. 196 BVerwGE 53, 134 (137); BVerwG, Urt. v. 15.11.1990 – 3 C 49/87, NVwZ 1991, 570 (571); VGH Mannheim, Urt. v. 21.07.1991 – 3206/95, NVwZ-RR 1998, 549 (549); BayVGH, Urt. v. 28.11.2006 – 21 B 04.3400, BayVBl. 2007, 761 (763); VG Sigmaringen, Urt. v. 24.06.1999 – 8 K 1577/99, juris, Rn. 24; Kopp/Schenke, VwGO, § 113, Rn. 136. 197 BayVGH, Urt. v. 28.11.2006 – 21 B 04.3400, BayVBl. 2007, 761 (763); VG Weimar, Urt. v. 28.12.1999 – 2 K 2294/97, ThürVBl. 2000, 139 (140); VG München, Urt. v. 20.04.2010 – M 16 K 09.4294, juris, Rn. 25; OVG Münster, Urt. v. 18.04.2012 – 14 A 2687/09, BeckRS 2012, 50007; Kopp/Schenke, VwGO, § 113, Rn. 136. 198 VG Weimar, Urt. v. 28.12.1999 – 2 K 2294/97, ThürVBl. 2000, 139 (140); OVG Bremen, Bes. v. 29.06.2000 – 1 A 104/00, NVwZ-RR 2001, 98 (98); OVG Münster, Urt. v. 18.04.2012 – 14 A 2687/09, BeckRS 2012, 50007; missverständlich und unklar HessVGH, Urt. v. 05.03.2009 – 8 A 1037/07, LKRZ 2009, 311 (312), da der HessVGH in der Sache nur mit zutreffenden Gründen die Erledigung eines
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schätzung kann nur ausgehend von der wie dargelegt nicht überzeugenden Konstruktion des Bundesverwaltungsgerichtes beigetreten werden, nach der die Regelungswirkung des ursprünglichen Nichtbestehensbescheides (auch) darin bestehe, den Prüfling zwangsläufig als Repetenten auszuweisen. Denn mit der gesetzlichen Fiktion, nach der im Falle des Nichtbestehens der Freiversuch als nicht unternommen gilt, fehlt es gerade an der Grundlage für den in diesem Fall vom Bundesverwaltungsgericht im Regelfall ange‑ nommenen Makel. Im Übrigen ist durchaus fraglich, ob nicht auf Basis der soeben skizzierten Erwägungen auch in dieser Konstellation ein generell fragwürdiges Rehabilitationsinteresse begründbar wäre. Einer solchen Über‑ legung braucht aber nicht näher getreten zu werden, da sich das Fortset‑ zungsfeststellungsinteresse des Klägers hier unter den gegebenen Vorausset‑ zungen ohne Weiteres unter dem Gesichtspunkt der Präjudizialität ergibt199. b) Prozessuale Handlungslasten bei vollständiger Erledigung Sofern es aufgrund einer bestandenen Wiederholungsprüfung zu einer Überholung des ursprünglichen Klagebegehrens gekommen ist und es dem Prüfung auch an einem für die Umstellung auf die Fortsetzungsfeststel‑ lungsklage erforderlichen Fortsetzungsfeststellungsinteresse fehlt, trifft ihn die prozessuale Handlungslast, den Rechtsstreit in der Hauptsache für erle‑ digt zu erklären (§ 161 Abs. 2 VwGO), weil ansonsten seine Klage abge‑ wiesen werden würde und er die Kosten des Prozesses tragen müsste. Fraglich ist, ob und unter welchen Voraussetzungen diese Situation auch durch eine Veränderung des Streitgegenstandes während des gerichtlichen Verfahrens im oben beschriebenen Sinne eintreten kann. Voraussetzung da‑ für wäre, dass das ursprüngliche Klagebegehren des Klägers durch ein au‑ ßerprozessuales Ereignis vollständig erfüllt wird und dadurch eine Erledi‑ gung des Rechtsstreits eintritt200. Das Bundesverwaltungsgericht hat das für den Fall angenommen, dass der Rechtsfehler einer ursprünglich fehlenden Begründung während des gerichtlichen Verfahrens durch eine Neubewertung mit ordnungsgemäßer Begründung geheilt wird und weitere Rechtsmängel der Bewertung nicht vorgetragen werden und auch nicht ersichtlich sind201. Für den Fall, dass Verpflichtungsbegehrens unter den dort dargestellten Voraussetzungen verneint, dann aber en passant auch die Erledigung eines Anfechtungsbegehrens ohne Problembe‑ wusstsein verneint; Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 833, 849; siehe insgesamt kurz referierend auch Zimmerling/Brehm, Der Prüfungsprozess, Rn. 269. 199 Vgl. OVG NRW, Urt. v. 18.04.2012 – 14 A 2687/09, juris, Rn. 49 f. 200 Vgl. Rozek, NVwZ 1992, 33 (37); Kopp/Schenke, VwGO, § 161, Rn. 21. 201 BVerwGE 91, 261 (272).
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während des Verwaltungsprozesses das verwaltungsinterne Kontrollverfah‑ ren nachgeholt wird und in diesem eine Neubewertung erfolgt, die zu dem gleichen Ergebnis führt wie die ursprüngliche Bewertung, hat das Bundes‑ verwaltungsgericht aber eine Erledigung des Rechtsstreits mit dem Argu‑ ment verneint, dass hierdurch der Anspruch des Prüflings auf eine gericht‑ liche Überprüfung seiner Einwände nicht erfüllt werde202. Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof hat eine Erledigung des Rechtsstreits für den Fall für möglich gehalten, dass nach einer Erläuterung und Konkretisierung der Prüferkritik während des gerichtlichen Verfahrens Bewertungsfehler nicht mehr ersichtlich sind203. Und Rozek schließlich ist in einem Fall für die Annahme der Erledigung des Rechtsstreits eingetreten, in dem der Prüfer während des Verwaltungsprozesses einen Sachverhaltsirrtum eingeräumt hat, im Ergebnis aber wegen Irrelevanz des unberechtigten Kritikpunktes für die Gesamtbewertung an seiner Bewertung festgehalten und diese sich nach Einschätzung des Gerichtes im Übrigen als rechtmäßig erwiesen hat204. Hinsichtlich der Frage des Eintritts einer Erledigungssituation durch eine Veränderung des ursprünglichen Streitgegenstandes ergibt sich damit kein einheitliches Bild. Diese ist im Grundsatz ausgehend von dem oben darge‑ stellten allgemeinen Verständnis der Erledigung zu beantworten, das aller‑ dings stark auf die alleinige Anfechtungssituation abgestimmt ist und die Besonderheiten in der Verpflichtungssituation weniger in den Blick nimmt. Nimmt man eine Fokussierung der Begriffsbestimmung auf das Verpflich‑ tungsbegehren vor, tritt als entscheidungserheblich weniger der Umstand zutage, ob die regelnde Wirkung des diesem entgegenstehenden Prüfungs‑ bescheides durch ein außerprozessuales Ereignis weggefallen ist, sondern die Frage, ob der vom Kläger geltend gemachte prozessuale Anspruch vollständig erfüllt und die Klage dadurch unbegründet geworden ist, so dass die Aufrechterhaltung des ursprünglichen Antrags objektiv sinnlos erscheint. Maßgeblich ist daher für die Frage der Erledigung des Rechtsstreits durch eine Änderung des Streitgegenstandes, ob durch diese der Anspruch des Klägers auf (verfahrens‑)fehlerfreie Ermittlung und Bewertung seiner Prü‑ fungsleistungen vollständig erfüllt worden ist205. Auf der Grundlage dieser Definition vermag zunächst die Annahme des Bundesverwaltungsgerichtes nicht zu überzeugen, dass eine Neubewertung der Prüfungsleistung während des verwaltungsinternen Kontrollverfahrens 202 BVerwG,
Urt. v. 30.01.1995 – 6 C 1/92, NVwZ 1995, 788 (789). Bes. v. 14.09.2000 – 7 B 99.3753, BayVBl. 2001, 244 (245); sie‑ he auch VG Schwerin, Urt. v. 22.03.2007 – 3 A 137/06, juris, Rn. 29. 204 Rozek, NVwZ 1992, 33 (36). 205 In der Sache ähnlich Rozek, NVwZ 1992, 33 (36 f.). 203 BayVGH,
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keine Erledigung herbeiführen könne, weil dadurch der Anspruch des Klä‑ gers auf gerichtliche Überprüfung seiner Einwendungen nicht erfüllt werde. Würde man diesen Rechtsstandpunkt generalisieren, könnte eine Erledigung des Rechtsstreits überhaupt nicht mehr eintreten, weil für diese gerade kennzeichnend ist, dass der Streitgegenstand dem Gericht durch die Betei‑ ligten entzogen wird. Zuzustimmen ist dem Bundesverwaltungsgericht aber darin, dass allein durch ein erstmaliges oder ergänzendes Überdenken der Bewertungsrügen des Klägers der prozessuale Anspruch des Klägers nicht ohne Weiteres erfüllt wird. Denn der Anspruch des Prüflings auf ein Über‑ denken der Bewertung durch die Prüfer im Rahmen eines verwaltungsinter‑ nen Kontrollverfahrens stellt nur einen Neben- bzw. Hilfsanspruch zur Durchsetzung einer rechtmäßigen Prüfungsentscheidung dar206, deren Vor‑ liegen mit einer ordnungsgemäßen Durchführung dieses Verfahrens damit noch keineswegs feststeht. Wenn allerdings während des gerichtlichen Ver‑ fahrens eine „echte“ Neubewertung der Prüfungsleistung stattfindet, kann damit der materiell-rechtliche Anspruch des Klägers auf rechtsfehlerfreie Bewertung seiner Prüfungsleistungen durchaus erfüllt werden. Eine solche „echte“ Neubewertung kann allerdings nur dann angenommen werden, wenn das Prüfungsamt unter dem Eindruck des Klagevorbringens den ange‑ griffenen Prüfungsbescheid aufhebt und die Prüfer zu einer Neubewertung nach Maßgabe der für berechtigt erkannten Bewertungsrügen des Klägers anhält und die Neubewertung dann unter Erlass eines neuen Prüfungsbe‑ scheides in das gerichtliche Verfahren einführt. Es bleibt dann dem Prüfling überlassen, ob er auf diese geänderte Situation durch Klageänderung, Erklä‑ rung des Prüfungsrechtsstreits für erledigt oder Klagerücknahme reagieren will207. Eine auf die Einbeziehung des neuen Prüfungsbescheides abzielen‑ de und insoweit stets als sachdienlich anzusehende Klageänderung208 er‑ scheint aus Sicht des Prüflings angezeigt, wenn er auch die (Neu‑)Bewertung für rechtsfehlerhaft erachtet. Anderenfalls empfiehlt sich eine Erledigungs‑ erklärung. Wenn der ursprüngliche Prüfungsbescheid nicht aufgehoben, sondern dieser nur nach einer „unechten“ Neubewertung im Rahmen des erstmals oder ergänzend durchgeführten verwaltungsinternen Kontrollver‑ fahrens auf veränderter Grundlage im Wege einer unselbstständigen Verfah‑ renshandlung bekräftigt wird (§ 44a VwGO)209, kann sich gleichwohl die Situation ergeben, dass den Einwendungen des Klägers durch die Stellung‑ nahmen der Prüfer und damit dem Klagebegehren insgesamt die Grundlage 206 BVerwG,
Bes. v. 10.07.1998 – 6 B 63/98, juris, Rn. 8. zu diesen Reaktionsmöglichkeiten des Prüflings BVerwG, Urt. v. 30.06.1994 – 6 C 4/93, DVBl. 1992, 362 (363). 208 BVerwG, Urt. v. 30.01.1995 – 6 C 1/92, NVwZ 1995, 788 (789). 209 Vgl. zu dieser Möglichkeit BVerwG, Urt. v. 30.01.1995 – 6 C 1/92, NVwZ 1995, 788 (789); Rozek, NVwZ 1992, 33 (37). 207 Siehe
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entzogen worden ist210, weil der materielle Anspruch auf rechtsfehlerfreie Bewertung der Prüfungsleistung nunmehr erfüllt erscheint. Dabei darf aber nicht übersehen werden, dass allein durch die Erfüllung dieses Anspruchs bei einer erhobenen Verpflichtungsklage das auf den Erlass eines neuen Prüfungsbescheides auf veränderter Entscheidungsgrundlage gerichtete Klagebegehren des Klägers an sich noch nicht vollständig erfüllt worden ist. Allerdings ist zu bedenken, dass das Prüfungsamt im Rahmen der Neubescheidung wegen des den Prüfern zustehenden Bewertungsspiel‑ raums an deren rechtmäßige (Neu‑)Bewertungen gebunden ist, so dass sich der Erlass eines neuen Prüfungsbescheides in der bloßen Feststellung des erneut nicht ausreichenden Prüfungsergebnisses erschöpfen würde und die materielle und prozessuale Rechtsstellung des Klägers nicht mehr verbessern könnte211. Mit anderen Worten wird die vom Kläger erstrebte Neubeschei‑ dung bereits durch die Prüfer vorweggenommen. Es erschiene daher als pu‑ rer Formalismus, im Falle der Erfüllung des Anspruchs des Klägers auf rechtsfehlerfreie Bewertung seiner Prüfungsleistungen durch eine „unechte“ Neubewertung auch den Erlass eines neuen Prüfungsbescheides zu for‑ dern212. Wenn nach einer „unechten“ Neubewertung der Prüfungsleistung Bewertungsfehler objektiv nicht mehr feststellbar sind, ist daher ebenso von einer Erledigung des Rechtsstreits auszugehen213 und es obliegt dem Prüf‑ ling, den Rechtsstreit zur Kostenmeidung in der Hauptsache für erledigt zu erklären. Anderenfalls bleibt der Streit um die Rechtswidrigkeit bzw. Recht‑ mäßigkeit des ursprünglichen Prüfungsbescheides anhängig214. Im Ergebnis kann daher auch bei einer „unechten“ Neubewertung während des verwal‑ tungsinternen Kontrollverfahrens entgegen dem Bundesverwaltungsgericht eine Erledigung des Rechtsstreits eintreten. Die prozessualen Folgen einer „unechten“ Neubewertung unterscheiden sich daher nicht wesentlich von denjenigen einer „echten“ Neubewertung. Wenn die Beteiligten auch oder ausschließlich um die verfahrensfehlerfreie Ermittlung einzelner Teilprü‑ fungsleistungen gestritten haben, dürfte eine Erledigung bereits dann anzu‑ nehmen sein, wenn das Prüfungsamt den Prüfungsbescheid aufhebt und dem Prüfling wie beantragt die Neuerbringung einzelner Prüfungsleistungen zusi‑ chert. Schließlich ist eine Erledigung des Rechtsstreits ohne Weiteres anzu‑ nehmen, wenn der Prüfling nur die Aufhebung des Prüfungsbescheides bean‑ tragt hatte und eben diese während des gerichtlichen Verfahrens erfolgt. zu diesem erledigenden Gesichtspunkt Rozek, NVwZ 1992, 33 (37). VGH München, Urt. v. 12.09.1990 – 3 B 90.00061, NVwZ 1991, 499 (500); Rozek, NVwZ 1992, 33 (37). 212 Vgl. VGH München, Urt. v. 12.09.1990 – 3 B 90.00061, NVwZ 1991, 499 (500). 213 Ebenso Rozek, NVwZ 1992, 33 (37). 214 BVerwG, Urt. v. 30.01.1995 – 6 C 1/92, NVwZ 1995, 788 (789). 210 Siehe 211 Vgl.
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II. Vorläufiger Rechtsschutz Aufgrund der erheblichen Prozessdauer im Hauptsacheverfahren ist der von Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG garantierte effektive Rechtsschutz praktisch vielfach nicht mehr gewährleistet. Einem Prüfer, der viele Jahre nach der erfolgten Erstbewertung eine Prüfungsleistung in Umsetzung eines gericht‑ lichen Verpflichtungstenors unter der Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichtes erneut bewerten muss, wird es im Regelfall nicht gelingen, im Rahmen der Neubewertung dieselben (subjektiven) Bewertungsmaßstäbe anzulegen wie bei der Erstbewertung, obwohl dies zur Gewährleistung der Chancengleichheit des erfolgreichen Klägers erforderlich wäre. Denn infol‑ ge des erheblichen Zeitablaufs wird sich der Prüfer an den durch die sei‑ nerzeitigen Leistungen der Mitprüflinge mitgeprägten Vergleichsrahmen nicht mehr erinnern können und / oder der Beurteilungsmaßstab des Prüfers hat sich wegen der mittlerweile zusätzlich gewonnenen Prüfererfahrung – etwa hinsichtlich der Einschätzung des Schwierigkeitsgrades der Aufgaben‑ stellung – zulasten des Prüflings verschoben. Von dieser Gefahr einer (al‑ lein) aufgrund der (unbewussten) Änderung des Vergleichs- bzw. Beurtei‑ lungsmaßstabs unterbleibenden Abänderung der streitgegenständlichen Bewertung(en) sind alle Prüflinge gleichermaßen betroffen, die gerade diese erstrebt haben, unabhängig davon, ob sie mit der Prüfungsanfechtung im Endziel (lediglich) eine Verbesserung des erzielten Gesamtergebnisses oder eine – bisher versagte – Zulassung zur mündlichen Prüfung verfolgt haben. Der klagende Prüfling, der insoweit eine Fortsetzung des Prüfungsverfah‑ rens nach erfolgter Neu- und Höherbewertung einzelner oder aller schriftli‑ cher Prüfungsleistungen begehrt, ist aber weiter gehend gegenüber denjeni‑ gen Kandidaten benachteiligt, die sich zeitnah nach der rechtsfehlerfreien Bewertung ihrer schriftlichen Prüfungsleistungen der das Prüfungsverfahren abschließenden mündlichen Prüfung unterziehen konnten, weil er im Unter‑ schied zu ihnen sein Prüfungswissen in Vorbereitung auf diese vorsorglich für einen unabsehbar langen Zeitraum konservieren und aktualisieren muss, um den sich stellenden Prüfungsanforderungen gerecht werden zu können. 1. Die vorläufigen Rechtsschutzbegehren im Überblick Im Hinblick auf die vorstehend skizzierten erheblichen Benachteiligun‑ gen, die dem Prüfling aus der überlangen Dauer eines Prüfungsanfech‑ tungsprozesses erwachsen können, ist es für ihn zunächst von erheblicher rechtspraktischer Bedeutung, ob er sein Begehren auf eine zeitnahe Neu bewertung der streitgegenständlichen Teilprüfungsleistungen und / oder de‑ ren (Neu‑) Erbringung durch ihre Wiederholung oder die Fortsetzung des Prüfungsverfahrens im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes vorläufig
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durchsetzen kann. Daneben ist im Rahmen der Darstellung des verwal‑ tungsinternen Kontrollverfahrens bereits das mögliche Bedürfnis des Prüf‑ lings aufgezeigt worden, seinen Anspruch auf Durchführung desselben sowie die weiteren der Durchsetzung einer rechtmäßigen Prüfungsentschei‑ dung dienenden Nebenansprüche wie denjenigen auf Gewährung von Akteneinsicht und einer hinreichenden Begründung der Prüfungsentschei‑ dung im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes durchzusetzen. Im Rahmen der nachfolgenden Darstellung soll zunächst der Möglichkeit der Verwirklichung dieser Nebenansprüche im Wege der vorläufigen Rechts‑ schutzgewährung nachgegangen werden. Darauf aufbauend sollen dann die Möglichkeiten und Grenzen aufgezeigt werden, den materiellen Hauptan‑ spruch auf rechtsfehlerfreie Ermittlung und Bewertung der Prüfungsleistung durchzusetzen. Insgesamt kann und soll hier keine in alle Einzelheiten gehende Darstel‑ lung erfolgen215. Vielmehr soll diese auf die problematischen und bisher we‑ nig beleuchteten dogmatischen Fragen konzentriert werden, die das vorläufi‑ ge Rechtsschutzsystem der VwGO unter Berücksichtigung der materiellrechtlichen Rechtspositionen und praktischen Begebenheiten aufwirft. In Bezug auf letztere erfordert dies eingangs den Hinweis, dass der vorläufige Rechtsschutz im Prüfungsrecht angesichts der Tatsache, dass bereits eine Entscheidung in der Hauptsache selten vor Ablauf eines Jahres ergeht und bisweilen sogar mehrere Jahre auf sich warten lässt, praktisch vielfach und zunehmend an die Stelle des Hauptsacheverfahrens tritt, wodurch sich die Verfahrensdauer in den Hauptsacheverfahren noch weiter erhöht. Jenseits dieses hier nicht zu vertiefenden rechtspolitischen Problems ist damit schlicht festzustellen, dass der vorläufige Rechtsschutz im Prüfungsrecht eine überra‑ gende Rolle spielt216, wofür die reichhaltige Kasuistik ein Beleg sein mag. 2. Vorläufige Durchsetzung der Neben- und Hilfsansprüche Dies gilt auch für die Durchsetzung der Neben- und Hilfsansprüche auf dem Weg zu einer rechtmäßigen Prüfungsentscheidung, wobei die Frage der isolierten prozessualen Durchsetzbarkeit des Überdenkensanspruchs des Prüflings im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes diesbezüglich ganz im Vordergrund steht. Diese taucht auf, wenn ein verwaltungsinternes Kontroll‑ verfahren wegen – nach Auffassung des Prüfungsamtes – nicht hinreichend 215 Siehe ausführlich zum vorläufigen Rechtsschutz etwa Zimmerling/Brehm, Der Prüfungsprozess, Rn. 298 ff.; Jakobs, VBlBW 1984, 129 ff. 216 Vgl. zu dieser Einschätzung auch Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 901, Zimmerling/Brehm, Der Prüfungsprozess, Rn. 298.
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substantiierter Einwände gar nicht erst eingeleitet oder nach Einschätzung des Prüflings nicht ordnungsgemäß durchgeführt worden ist. a) Einordnung des Begehrens Der vorläufige Rechtsschutz in der VwGO bestimmt sich grundsätzlich nach dem in § 123 Abs. 1 VwGO vorgesehenen Verfahren, wenn und soweit nicht die in den §§ 80, 80a VwGO getroffenen Regelungen vorrangig sind (§ 123 Abs. 5 VwGO), auf welche gestützt die Aussetzung der Vollziehung eines belastenden Verwaltungsaktes begehrt werden kann und die somit grundsätzlich (allein) Fälle erfassen, bei denen in der Hauptsache die An‑ fechtungsklage nach § 42 Abs. 1 1. Alt. VwGO statthaft ist217, während der vorläufige Rechtsschutz nach § 123 Abs. 1 VwGO in erster Linie dann ge‑ geben ist, wenn der in Rede stehende Anspruch in der Hauptsache mittels Verpflichtungs- und / oder Leistungsklage durchzusetzen wäre218. Die Bestimmung der statthaften Antragsart im vorläufigen Rechtsschutz‑ verfahren nach dieser üblichen „Faustformel“ führt sogleich zu der zentralen Problematik, nämlich ob und ggf. in welcher Form der Anspruch auf Durch‑ führung eines verwaltungsinternen Kontrollverfahrens im Hauptsacheverfah‑ ren durchgesetzt werden kann. Dieser aus den Art. 19 Abs. 4 Satz 1, 12 Abs. 1 Satz 1 GG folgende Anspruch stellt nämlich nur einen Annex zum materiell-rechtlichen Anspruch des Prüflings auf eine fehlerfreie Ermittlung und Bewertung seiner Prüfungsleistungen und damit in der Sache eine Ver‑ fahrensgewährleistung zur Absicherung der durch die vorgenannten Grund‑ rechte garantierten materiellen Rechtspositionen dar219. Der Überdenkensan‑ spruch könnte daher in der Hauptsache (nur) durch die Erhebung einer Anfechtungsklage gegen den Prüfungsbescheid in Kombination mit einer Leistungsklage gerichtet auf die Verpflichtung des Prüfungsamtes zur Durchführung des verwaltungsinternen Kontrollverfahrens durchgesetzt werden220. Es könnte aber nicht isoliert – insbesondere nicht nach eingetre‑ tener Bestandskraft – der Anspruch auf (ordnungsgemäße) Durchführung dieses Verfahrens gerichtlich durchgesetzt werden221. Dieses Ergebnis folgt 217 Zum Anwendungsbereich des § 80 VwGO siehe nur Kopp/Schenke, VwGO, § 80, Rn. 12. 218 Kopp/Schenke, VwGO, § 123, Rn. 4. 219 Vgl. BVerwG, Bes. v. 09.08.2012 – 6 B 19/12, NVwZ 2013, 83 (84). 220 Zur gegebenen Rechtsschutzmöglichkeit des Prüflings bei unterbliebener Durchführung des verwaltungsinternen Kontrollverfahrens siehe BVerwGE 109, 211 (214); BVerwG, Bes. v. 09.08.2012 – 6 B 19/12, NVwZ 2013, 83 (84). 221 BVerwG, Bes. v. 10.07.1998 – 6 B 63/98, juris, Rn. 8; Bes. v. 09.08.2012 – 6 B 19/12, NVwZ 2013, 83 (84 f.).
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allein aus der Funktion des verwaltungsinternen Kontrollverfahrens, steht aber einer isolierten prozessualen Durchsetzung des Überdenkensanspruchs im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes vor Eintritt der Bestandskraft der Prüfungsentscheidung nicht entgegen. b) § 44a Satz 1 VwGO als Durchsetzungshindernis? Die isolierte Geltendmachung des Überdenkensanspruchs im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes könnte aber an § 44a Satz 1 VwGO scheitern, wonach Rechtsbehelfe gegen behördliche Verfahrenshandlungen nur gleich‑ zeitig mit den gegen die Sachentscheidung zulässigen Rechtsbehelfen gel‑ tend gemacht werden können. Bislang ist die Frage der Durchsetzbarkeit des Überdenkensanspruchs im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes kaum erörtert worden. Mit ihr hat sich – soweit ersichtlich – bis dato allein das VG Mainz in einer jüngeren Entscheidung befasst222. In ihrem Ergebnis hat es das verwaltungsinterne Kontrollverfahren als „Verfahrenshandlung“ im Sinne des § 44a Satz 1 Vw‑ GO eingestuft, den Antrag der Antragstellerin auf isolierte Durchsetzung ihres Überdenkensanspruchs deshalb als unzulässig verworfen und sie auf den Hauptsacherechtsschutz verwiesen223. Fraglich ist, ob diese Rechtsauffassung zutreffend, insbesondere mit dem Gewährleistungsgehalt der Art. 12 Abs. 1 Satz 1, 19 Abs. 4 Satz 1 GG ver‑ einbar ist. Zugestimmt werden kann dem VG Mainz noch in dem einfachrechtlichen Ausgangspunkt, dass das verwaltungsinterne Kontrollverfahren eine Verfahrenshandlung im Sinne des § 44a Satz 1 VwGO darstellt. Denn als Verfahrenshandlungen im Sinne des § 44a Satz 1 VwGO kommen alle Maßnahmen in Betracht, die eine Behörde in einem Verfahren auf Antrag oder von Amts wegen vornimmt oder vorzunehmen ablehnt224. Entgegen dem Wortlaut („gegen“) erfasst § 44a Satz 1 VwGO damit auch auf die Vornahme von Verfahrenshandlungen gerichtete und insbesondere auch im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes gestellte Anträge225. Die (abge‑ lehnte) Durchführung eines Überdenkungsverfahrens innerhalb eines laufen‑ den Widerspruchsverfahrens fällt damit zweifelsohne unter § 44a Satz 1 VwGO. Allgemein wird aber davon ausgegangen, dass § 44a VwGO nur 222 VG Mainz, Bes. v. 21.02.2013 – 1 L 1717/12.MZ, NVwZ 2013, 645 (Leit‑ satz), juris, Rn. 5 f. 223 VG Mainz, Bes. v. 21.02.2013 – 1 L 1717/12.MZ, NVwZ 2013, 645 (Leit‑ satz), juris, Rn. 5 f. 224 Kopp/Schenke, VwGO, § 44a, Rn. 3. 225 Vgl. Kopp/Schenke, VwGO, § 44a, Rn. 4, 1.
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Verfahrenshandlungen anspricht, die im Zusammenhang mit einem schon begonnenen und noch nicht abgeschlossenen Verfahren zum Erlass einer behördlichen, gerichtlich überprüfbaren Sachentscheidung stehen226. Wird unabhängig von einem Verwaltungsverfahren oder nach dessen Abschluss Akteneinsicht begehrt, trifft demnach § 44a Satz 1 VwGO schon tatbestand‑ lich nicht zu227. Sofern ein Prüfling nach Abschluss des Widerspruchsver‑ fahrens, in dem das Überdenkungsverfahren durchgeführt worden ist oder hätte werden sollen, seinen (ergänzenden) Anspruch auf Durchführung die‑ ses internen Kontrollverfahren geltend macht, steht § 44a Satz 1 VwGO dem also nicht entgegen. Für Bayern gilt dieser Befund uneingeschränkt, weil hier das für das Überdenken der Bewertung durch die Prüfer vorgesehene Nachprüfungsver‑ fahren nach § 14 JAPO Bayern im Gegensatz zu dem mit dem Erlass eines Widerspruchsbescheides endenden Widerspruchsverfahren228 schon nicht auf den Erlass einer (isoliert gerichtlich überprüfbaren) Sachentscheidung im Sinne des § 44a Satz 1 VwGO gerichtet ist229, bei der es sich nur um einen – hier nicht ergehenden – Verwaltungsakt im Sinne des § 35 LVwVfG handeln kann230. In den anderen Bundesländern aber sind Konstellationen nicht ausge‑ schlossen, in denen der Prüfling vor dem förmlichen Abschluss des Wider‑ spruchsverfahrens darüber unterrichtet wird, dass eine Zuleitung seiner Bewertungsrügen an die Prüfer nicht erfolgen wird. Dementsprechend kann hier auf Seiten des Prüflings das Bedürfnis für eine isolierte Durchsetzung des Überdenkensanspruchs entstehen. Fraglich ist, ob diesem Begehren jedenfalls in diesem Fall § 44a Satz 1 VwGO entgegensteht. Nach dem Dargelegten ist diese Vorschrift hier tatbe‑ 226 Stelkens, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, § 44a, Rn. 8, 14; Kopp/Schenke, VwGO, § 44a, Rn. 4 a. 227 VG Berlin, Urt. v. 17.11.1981 – 12 A 1405/80, NVwZ 1982, 576 (577); Stelkens, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, § 44a, Rn. 18; Kopp/Schenke, VwGO, § 44a, Rn. 4 a. 228 Zu dessen Einordnung siehe Ziekow, in: Sodan/Ziekow, VwGO, § 44a. Rn. 32. 229 Siehe insoweit auch BVerwG, Bes. v. 09.08.2012 – 8 B 19/12, NVwZ 2013, 83 (84) dazu, dass das verwaltungsinterne Kontrollverfahren keine Ergebnisrichtig‑ keit garantiert. 230 Vgl. Kopp/Schenke, VwGO, § 44a, Rn. 3, 7; Stelkens, in: Schoch/Schneider/ Bier, VwGO, § 44a Rn. 13; der Begriff der Sachentscheidung ist aber nicht unum‑ stritten. Siehe zum Streitstand Stelkens, aaO, Rn. 9 f.; siehe dazu, dass das Überden‑ kungsverfahren nicht auf den Erlass eines Verwaltungsaktes gerichtet ist VG Mainz, Bes. v. 21.02.2013 – 1 L 1717/12.MZ, juris, Rn. 6. Das VG Mainz bejaht mit dieser zutreffenden Erkenntnis aber fälschlich die Einschlägigkeit von § 44a VwGO.
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standlich einschlägig. Und auch der Normzweck, der einerseits eine Verzöge‑ rung und Erschwerung eines bei der Verwaltungsbehörde noch anhängigen Verwaltungsverfahrens und andererseits eine Befassung der Gerichte mit Fäl‑ len verhindern will, bei denen noch offen ist, ob die Betroffenen überhaupt durch das Ergebnis des Verfahrens in der Sache beschwert und in ihren Rech‑ ten betroffen werden231, drängt prinzipiell auf Verwirklichung. Allerdings ist zu prüfen, ob im Hinblick auf die möglichen Folgen einer verzögerten Reali‑ sierung des Überdenkensanpruchs § 44a Satz 1 VwGO im Lichte der Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG, 12 Abs. 1 Satz 1 GG nicht der verfassungskonformen Aus‑ legung bedarf. Denn anerkanntermaßen darf der Ausschluss einer isolierten Überprüfbarkeit von Verfahrenshandlungen nicht zu unzumutbaren Nachtei‑ len führen, die in einem späteren (Hauptsache‑)Prozess nicht mehr vollstän‑ dig beseitigt werden können232. Der aus den Art. 12 Abs. 1 Satz 1, 19 Abs. 4 Satz 1 GG folgende Anspruch des Prüflings auf eine möglichst effektive ver‑ waltungsinterne Kontrolle seiner Einwendungen erfordert eine möglichst zeitnahe Realisierung des Überdenkensanspruchs233. Je länger die Bewertung der Prüfungsleistungen durch die Prüfer zurückliegt, desto größer wird die Gefahr, dass diese sich nicht mehr hinreichend an den durch die Mitprüflinge geprägten Vergleichsmaßstab erinnern und die Leistung des Widersprechen‑ den in diesen nicht mehr zuverlässig einordnen können, so dass sie sich des‑ halb zu einem Überdenken der Bewertung und deren Anhebung nicht mehr in der Lage sehen234. Die den Prüfern zu einem späteren Zeitpunkt übermittel‑ ten Einwände des Prüflings sind daher unter Umständen wirkungslos oder weit weniger wirkungsvoll. Dies gilt insbesondere dann, wenn die Bewertung mündlicher Prüfungsleistungen streitgegenständlich ist. Ein etwaiger Zeitver‑ lust bei der Realisierung des Überdenkensanspruchs kann daher zu einem (materiellen) Rechtsverlust führen235. Infolgedessen ist entgegen dem VG Mainz § 44a Satz 1 VwGO – soweit diese Norm prinzipiell einschlägig ist – verfassungskonform dahin auszulegen, dass verfassungswidrige Folgen von dieser Vorschrift nicht intendiert sind und daher dem Begehren einer isolier‑ ten Durchsetzung des Überdenkensanspruchs nicht entgegensteht. 231 VG Mainz, Bes. v. 06.09.2011 – 3 K 673/11.MZ, juris, Rn. 7; siehe auch Bes. v. 21.02.2013 – 1 L 1717/12.MZ, juris, Rn. 4; Kopp/Schenke, VwGO, § 44a, Rn. 1. 232 BVerfG, Bes. v. 24.10.1990 – 1 BvR 1028/90, NJW 1991, 415 (416); VG Freiburg, Bes. v. 20.11.2009 – 4 K 2096/09, juris, Rn. 11; Bonk/Kallerhoff, in: Stel‑ kens/Bonk/Sachs, VwVfG, § 29, Rn. 86; siehe auch OVG Koblenz, Bes. v. 17.02.2000 – 2 B 10209/00, DöD 2000, 140 (140); BayVGH, Bes. v. 18.05.1995 – 7 CE 95.1069, BayVBl. 1995, 631 (632): „Ein materieller Rechtsverlust darf nicht eintreten“. 233 Vgl. BVerwGE 92, 132 (140); VG Freiburg, Bes. v. 20.11.2009 – 4 K 2096/09, juris, Rn. 11. 234 Siehe zu dieser Problematik Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 202. 235 Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 202.
C. Gerichtliches Rechtsschutzinstrumentarium623
Die vorstehenden Erkenntnisse können für die Beantwortung der Frage, ob der Prüfling seinen Anspruch auf Gewährung von Akteneinsicht (in einer bestimmten Art und Weise) isoliert gerichtlich geltend machen kann, ent‑ sprechend herangezogen werden. Hiernach gilt Folgendes: Sofern der Prüf‑ ling also nach Erlass und Bekanntgabe des Prüfungsbescheides, aber noch vor Widerspruchseinlegung, Akteneinsicht zur Abklärung der Erfolgsaus‑ sichten einer Prüfungsanfechtung begehrt, steht § 44a Satz 1 VwGO dem etwaigen Antrag des Prüflings auf Erlass einer einstweiligen Anordnung des Inhalts, ihm Akteneinsicht überhaupt bzw. in einer bestimmten Art und Weise zu gewähren, von vornherein nicht entgegen236. Aus den dargelegten Gründen gilt dieser Befund für einen im Rahmen des nach § 14 JAPO Bay‑ ern durchgeführten Nachprüfungsverfahrens geltend gemachten Anspruch auf Gewährung von Akteneinsicht uneingeschränkt. Hat der Prüfling aber in den übrigen Bundesländern bereits Widerspruch gegen die Prüfungsentscheidung eingelegt und entsteht sodann Streit über das Ob oder Wie der Gewährung von Akteneinsicht, steht der gerichtlichen Klärung desselben im Prinzip ebenfalls § 44a Satz 1 VwGO entgegen. Wenn der Prüfling nun aber aufgrund einer ganz oder teilweise verweigerten bzw. nicht in seinem Sinne gewährten Form der Akteneinsicht nicht oder nur eingeschränkt in der Lage gewesen ist, frühzeitig substantiierte Einwände namentlich gegen die prüfungsspezifischen Wertungen der Prüfer zu erhe‑ ben, wird aus den dargelegten Gründen die Effektivität der verwaltungsin‑ ternen Kontrolle unter Umständen wesentlich beeinträchtigt oder der Über‑ denkensanspruch des Prüflings gar vereitelt. Diese etwaigen Nachteile können in einem späteren (Hauptsache‑)Prozess überhaupt nicht mehr aus‑ geglichen werden. Nähme man dies zugunsten einer Verfahrens- bzw. Pro‑ zessökonomie hin, würde das als Kompensation für die nur beschränkt er‑ folgende verwaltungsgerichtliche Kontrolle der Prüfungsentscheidung vor‑ gesehene Überdenkungsverfahren im Kern entwertet237. Zutreffend wird daher in der Literatur238 weitgehend übereinstimmend und in der Rechtsprechung239 zumindest teilweise davon ausgegangen, dass § 44a Satz 1 VwGO einem Antrag des Prüflings auf Erlass einer einstwei‑ 236 VG Berlin, Urt. v. 17.11.1981 – 12 A 1405/80, NVwZ 1982, 576 (577 f.); Ziekow, in: Sodan/Ziekow, VwGO, § 44a, Rn. 47; siehe auch VG Mainz, Bes. v. 06.09.2011 – 3 K 673/11.MZ, juris, Rn. 7. 237 VG Bremen, Bes. v. 25.03.1998 – 7 KV 2915/97, n. v., BU S. 4; VG Frei‑ burg, Bes. v. 20.11.2009 – 4 K 2096/09, juris, Rn. 3, 11. 238 Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 202; Zimmerling/Brehm, Prüfungsrecht, Rn. 418; Steike, NVwZ 2001, 868 (872); anders Bonk/Kallerhoff, in: Stelkens/Bonk/ Sachs, VwVfG, § 29, Rn. 85, aber ohne jedes Problembewusstsein. 239 VG Bremen, Bes. v. 25.03.1998 – 7 KV 2915/97, n. v., BU S. 4; VG Frei‑ burg, Bes. v. 20.11.2009 – 4 K 2096/09, juris, Rn. 3.
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ligen Anordnung des Inhalts, ihm Akteneinsicht überhaupt bzw. in einer bestimmten Art und Weise zu gewähren, nicht entgegensteht. Soweit einige Gerichte davon abweichend die Auffassung vertreten, dass die Entscheidung über die (Nicht‑)Gewährung der Akteneinsicht jedenfalls dann eine gemäß § 44a Satz 1 VwGO nicht selbstständig durch gerichtliche Rechtsbehelfe angreifbare Verfahrenshandlung darstelle, wenn die Erteilung von Kopien im Rahmen eines anhängigen Widerspruchsverfahrens und zur Durchfüh‑ rung dieses Verfahrens begehrt werde240, wird übersehen, dass dadurch dem Prüfling die aufgezeigten materiellen Rechtsverluste entstehen können, die aber gerade verhindert werden sollen. Schließlich kann auch im Falle einer fehlenden oder unzureichenden Be‑ gründung der Bewertung Anlass für eine isolierte gerichtliche Durchsetzung des Anspruchs auf die Mitteilung der wesentlichen Gründe der Bewertung entstehen, da der Prüfling ohne deren Kenntnis seiner Obliegenheit zur Erhebung substantiierter Einwände gegen die Prüferkritik gar nicht nach‑ kommen und das seinem kompensatorischen Rechtsschutz dienende Über‑ denkungsverfahren gar nicht erst initiieren kann. Das VG Augsburg hat damit im Ergebnis zutreffend – wenn auch mit anderer Begründung – an‑ genommen, dass § 44a Satz 1 VwGO dem im Wege des vorläufigen Rechts‑ schutzes geltend gemachten Begehren eines Prüflings auf eine schriftliche Begründung seines Prüfungsergebnisses nicht entgegensteht241. Aufgrund der „Flüchtigkeit des Prüfungsablaufs“ spielt die Möglichkeit der isolierten Durchsetzbarkeit eines Begründungsanspruchs aber in erster Linie für die Bewertung mündlicher Prüfungsleistungen eine Rolle. Da sich die Prüfer an den Ablauf der mündlichen Prüfung und die dort gezeigten Leistungen mit zunehmenden Zeitablauf immer weniger erinnern können, entstehen dem Prüfling irreparable und im Hauptsacheverfahren nicht wiedergutzumachen‑ de Schäden242, so dass § 44a Satz 1 VwGO zur Wahrung der grundrechtli‑ chen Interessen des Prüflings und namentlich der Ermöglichung des Über‑ denkensanspruchs nicht angewendet werden kann. Bei einer fehlenden oder unzureichenden Begründung der Bewertung schriftlicher Prüfungsleistungen läuft die vorläufige Durchsetzung des Anspruchs auf eine Mitteilung der tragenden Erwägungen in der Sache auf eine endgültige Neubewertung hi‑ naus. Dies spricht zwar nicht für die Anwendung des § 44a Satz 1 VwGO, wirft aber unter dem Aspekt des „vorläufigen“ Rechtsschutzes spezifische 240 BayVGH, Bes. v. 18.05.1995 – 7 CE 95.1069, BayVBl. 1995, 631 (632); OVG Koblenz, Bes. v. 17.02.2000 – 2 B 10209/00, DöD 2000, 140 (140); VG Mainz, Bes. v. 06.09.2011 – 3 K 673/11.MZ, juris, Rn. 7. 241 VG Ansbach, Bes. v. 30.01.2013 – AN 2 E 13.00004, juris, Rn. 22. Der angenommene Begründungsanspruch bezieht sich auf ein vom Antragsteller durch‑ laufenes Auswahlverfahren. 242 VG Ansbach, Bes. v. 30.01.2013 – AN 2 E 13.00004, juris, Rn. 21, 36.
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Probleme auf, die bei der vorläufigen Durchsetzung des dem Prüfling zu‑ stehenden Anspruchs auf eine rechtsfehlerfreie Ermittlung und Bewertung seiner Prüfungsleistungen noch gesondert zu erörtern sind. c) Anspruchsvoraussetzungen Nachdem nunmehr festgestellt worden ist, dass die der Verwirklichung dieses Anspruchs dienenden Nebenansprüche auf die Gewährung von Ein‑ sicht in eine vorliegende Begründung der Bewertung und die Erhebung auf diese abzielender Rügen im Rahmen eines verwaltungsinternen Kontrollver‑ fahrens trotz § 44a Satz 1 VwGO isoliert im Wege des vorläufigen Rechts‑ schutzes durchgesetzt werden können, bedarf es nun noch der bereits begon‑ nenen Klärung, über welche Normen dieser abzuwickeln ist. Da alle Neben‑ ansprüche auf eine Leistung des Prüfungsamtes bzw. der Prüfer gerichtet sind, liegt es nach dem Dargelegten auf der Hand, dass deren Durchsetzung sich auch dann nach § 123 Abs. 1 VwGO richtet, wenn in der Hauptsache nur die Anfechtungsklage statthaft wäre bzw. für statthaft gehalten wird. Im Weiteren unterliegt es keinen Zweifeln, dass der Prüfling mit der Verwirkli‑ chung seiner Nebenansprüche eine Erweiterung seiner Rechtsposition be‑ gehrt, so dass die Regelungsanordnung nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO einschlägig ist243. Nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO kann das Gericht eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf das streitige Rechtsverhältnis erlassen, um wesentliche Nachteile abzu‑ wenden oder drohende Gewalt zu verhindern oder wenn die Regelung aus anderen Gründen nötig erscheint. Diese tatbestandlichen Voraussetzungen werden üblicherweise dahin zusammengefasst, dass der Antragsteller einen materiell-rechtlichen Anspruch (Anordnungsanspruch) und die Notwendig‑ keit einer vorläufigen Regelung bzw. die Dringlichkeit ihres Erlasses geltend und glaubhaft (§ 123 Abs. 3 VwGO) machen muss (Anordnungsgrund)244. Im Hinblick auf den Inhalt der vom Antragsteller erstrebten Regelung soll sich aus dem Wesen des vorläufigen Rechtsschutzes nach umstrittener, aber überwiegender Auffassung die Beschränkung ergeben, dass diese grundsätz‑ lich die in der Hauptsache zu treffende Entscheidung nicht vorwegnehmen 243 Vgl. VG Ansbach, Bes. v. 30.01.2013 – AN 2 E 13.00004, juris, Rn. 23 (Begründungsanspruch). Siehe auch VG Freiburg, Bes. v. 20.11.2009 – 4 K 2096/09, juris (Akteneinsicht); VG Mainz, Bes. v. 21.02.2013 – 1 L 1717/12.MZ, juris (Über‑ denkensanspruch), jeweils ohne genaue Einordnung. 244 Vgl. OVG Thüringen, Bes. v. 15.06.2005 – 1 EO 678/05, juris, Rn. 16; VG Dresden, Bes. v. 27.11.2008 – 5 L 1866/08, juris, Rn. 8; VG Ansbach, Bes. v. 30.01.2013 – AN 2 E 13.00004, juris, Rn. 23; Kopp/Schenke, VwGO, § 123, Rn. 23; Schoch, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, Rn. 69 ff., 76 ff.; Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 907 f.
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darf245. Dabei ist im Weiteren umstritten, ob eine unzulässige Vorwegnahme der Hauptsache bereits zur Unzulässigkeit246 oder nur zur Unbegründetheit des Antrags247 führt. Jenseits dieser Streitpunkte steht es aber außer Frage, dass § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO im Lichte des aus Art 19 Abs. 4 Satz 1 GG folgenden Gebots eines effektiven Rechtsschutzes und der gebotenen und mit ihm bezweckten Absicherung der im Einzelfall tangierten materiellrechtlichen Grundrechtspositionen auszulegen ist248. Weiter besteht Einigkeit darüber, dass diese verfassungskonforme Auslegung des § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO gerade im Prüfungsrecht Ausnahmen vom überwiegend angenomme‑ nen Verbot der Vorwegnahme der Hauptsache zulässt bzw. erfordert249. Eine solche Ausnahme soll geboten und damit zulässig sein, wenn der Antragstel‑ ler in der Hauptsache (bei summarischer Prüfung250) zumindest überwiegen‑ de Erfolgsaussichten hat und er schlechthin unzumutbaren, anders nicht ab‑ wendbaren Nachteilen ausgesetzt wäre, wenn er auf eine Entscheidung in der Hauptsache verwiesen werden würde251. Überwiegende Erfolgsaussich‑ ten bestehen allgemein dann, wenn der geltend gemachte Anspruch mit großer Wahrscheinlichkeit begründet ist und aller Voraussicht nach auch im Hauptsacheverfahren bestätigt werden wird252. 245 Vgl. OVG Thüringen, Bes. v. 15.06.2005 – 1 EO 678/05, juris, Rn. 16; OVG Berlin-Brandenburg, Bes. v. 29.01.2010 – OVG 10 M 13.09, juris, Rn. 3; VG Dres‑ den, Bes. v. 27.11.2008 – 5 L 1866/08, juris, Rn. 9; VG München, Bes. v. 29.02.2012 – M 16 E 12.375, juris, Rn. 28; Kopp/Schenke, VwGO, § 123, Rn. 13; Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 909; andere Auffassung Schoch, in: Schoch/Schnei‑ der/Bier, VwGO, § 123, Rn. 146, referierend zum Streitstand Rn. 145, aaO; kritisch auch Zimmerling/Brehm, Der Prüfungsprozess, Rn. 325. 246 So VG München, Bes. v. 29.02.2012 – M 16 E 12.375, juris, Rn. 26, 28. 247 So Kopp/Schenke, VwGO, § 123 Rn. 14, 26. 248 Vgl. BVerfG, Bes. v. 25.07.1996 – 1 BvR 638/96, NVwZ 1997, 479 (480); OVG Thüringen, Bes. v. 15.06.2005 – 1 EO 678/05, juris, Rn. 20; VG Dresden, Bes. v. 27.11.2008 – 5 L 1866/08, juris, Rn. 10. 249 Vgl. OVG Thüringen, Bes. v. 15.06.2005 – 1 EO 678/05, juris, Rn. 18 f.; OVG Hamburg, Bes. v. 13.02.2007 – 3 Bs 270/06, NJW 2007, 2874 (2875); VG Hannover, Bes. v. 29.04.2003 – 6 B 1256/03, juris, Rn. 16; VG Braunschweig, Bes. v. 23.02.2005 – 6 B 557/04, juris, Rn. 2; VG Freiburg, Bes. v. 20.11.2009 – 4 K 2096/09, juris, Rn. 12; VG Ansbach, Bes. v. 30.01.2013 – AN 2 E 13.00004, juris, Rn. 23, 36; Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 909. 250 OVG Thüringen, Bes. v. 15.05.2005 – 1 EO 678/05, juris, Rn. 20; VG Dres‑ den, Bes. v. 27.11.2008 – 5 L 1866/08, juris, Rn. 13; Kopp/Schenke, VwGO, § 123, Rn. 24. 251 Vgl. VG Ansbach, Bes. v. 30.01.2013 – AN 2 E 13.00004, juris, Rn. 23, 35; siehe auch VG Hannover, Bes. v. 29.04.2003 – 6 B 1256/03, juris, Rn. 16; VG Braunschweig, Bes. v. 23.02.2005 – 6 B 557/04, juris, Rn. 2; OVG Thüringen, Bes. v. 15.06.2005 – 1 EO 678/05, juris, Rn. 18 f.; OVG Hamburg, Bes. v. 13.02.2007 – 3 Bs 270/06, NJW 2007, 2874 (2875); Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 909. 252 VG Ansbach, Bes. v. 30.01.2013 – AN 2 E 13.00004, juris, Rn. 23.
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Gemessen an den vorstehend dargestellten wesentlichen Voraussetzungen für die Zulässigkeit und Begründetheit einer Regelungsanordnung nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO im Allgemeinen ergibt sich für den Erlass einer vom Prüfling begehrten Regelungsanordnung des Inhalts, das Prüfungsamt zu verpflichten, ihm Akteneinsicht zu gewähren, die Prüfer anzuhalten, eine nachvollziehbare Begründung der Bewertung der (mündlichen) Prüfungs‑ leistung zu geben oder die vorgetragenen Bewertungsrügen den Prüfern im Rahmen eines verwaltungsinternen Kontrollverfahrens mit der Aufforderung zur Stellungnahme zuzuleiten, im Speziellen, dass diese Begehren grund‑ sätzlich Erfolg haben dürften. So folgt der materiell-rechtliche (Anordnungs‑)Anspruch auf die Durch‑ führung eines verwaltungsinternen Kontrollverfahrens, auf die Gewährung von Akteneinsicht und eine angemessene Begründung der Prüfungsentschei‑ dung wenn nicht aus den dargestellten einfach-rechtlichen Vorschriften, so doch unmittelbar aus den Art. 12 Abs. 1 Satz 1, 19 Abs. 4 Satz 1 GG. Und da bei der (formalen) Erfüllung dieser bereits während eines Widerspruchs‑ verfahrens bestehenden Ansprüche erst zu einem viel späteren Zeitpunkt nach einer im gerichtlichen Hauptsacheverfahren zugunsten des Prüflings ergangenen Entscheidung häufig bereits nicht mehr kompensierbare materi‑ elle Rechtsverluste entstünden, folgt aus denjenigen im Einzelnen benannten Gründen, die für die Nichtanwendung des § 44a Satz 1 VwGO streiten, das Vorliegen auch eines Anordnungsgrundes und zugleich die gebotene Vor‑ wegnahme der Hauptsache. 3. Vorläufige Durchsetzung des materiell-rechtlichen Hauptanspruchs Auf der Grundlage der vorstehenden Ausführungen kann nun ohne Wei‑ teres geklärt werden, ob und ggf. unter welchen Voraussetzungen der Prüf‑ ling im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes die Zulassung zur mündlichen Prüfung und die Neuerbringung und Neubewertung von Teilprüfungsleistun‑ gen durchsetzen kann. a) Allgemeine Einordnung und Bewertung des Begehrens Diese Rechtsschutzziele lassen sich richtiger Auffassung nach ebenfalls nur über den erstrittenen Erlass einer Regelungsanordnung nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO verwirklichen253. Das gilt jedenfalls dann, wenn 253 Siehe etwa VG Schwerin, Bes. v. 17.11.2000 – 7 B 859/00, juris, Rn. 19; allge‑ mein Jakobs, VBlBW 1984, 129 (134); Finkelnburg/Dombert/Külpmann, Rn. 1438.
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man – wie hier – der Ansicht ist, dass in der Hauptsache die Anfechtungs‑ klage auch in der häufigen Konstellation, in welcher die Prüfung bereits wegen unzureichender schriftlicher Prüfungsleistungen für nicht bestanden erklärt worden ist, nicht die (allein) statthafte Klageart darstellt, weil in der Sache über die bloße Aufhebung des Prüfungsbescheides hinaus mit der begehrten Ladung zur mündlichen Prüfung nach erfolgter Neuerbrin‑ gung / Neubewertung einzelner Teilprüfungsleistungen die Vornahme von mittels der allgemeinen Leistungsklage durchzusetzenden Handlungen des Prüfungsamtes begehrt wird. Die Gegenauffassung, die in dieser Konstella‑ tion konsequenterweise den Rechtsschutz nach § 80 Abs. 5 VwGO als ge‑ geben ansieht254, muss sich dem Problem stellen, dass einem Suspendie‑ rungsantrag des Prüflings schon bei einem das Vollzugsinteresse – im Falle der (offensichtlichen) Rechtswidrigkeit des Prüfungsbescheides stets – über‑ wiegenden Aussetzungsinteresse stattzugeben ist255, womit die engeren Vo‑ raussetzungen für den Erlass einer Regelungsanordnung nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO unterlaufen werden könnten256. Fraglich ist zunächst, ob die Zulässigkeit eines darauf gerichteten und auf das Vorliegen von Bewertungsmängeln gestützten Rechtsschutzantrags vor‑ aussetzt, dass der Prüfling diese bereits im Rahmen eines abgeschlossenen verwaltungsinternen Kontrollverfahrens erfolglos vorgebracht hat. Während in der Rechtsprechung ein derartiges Erfordernis bislang noch nicht aufge‑ stellt worden ist257, wird für den Fall eines noch ausstehenden Überdenkens in der Literatur bisweilen ausdrücklich258 bzw. in der Sache259 die Rechts‑ schutzbedürftigkeit des Antragstellers verneint. Diese Restriktion vermag 254 Insbesondere VG Lüneburg, Bes. v. 01.07.2008 – 2 ME 324/08, NdsRpfl 2008, 411 (411); Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 904, aber teilweise unklar. 255 Zum Prüfungsmaßstab im Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO siehe Kopp/ Schenke, § 80 Rn. 152 ff.; Schoch, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, § 80, Rn. 369 ff., kritisch zur überkommenen Dogmatik Rn. 378 f.; VG Lüneburg, Bes. v. 01.07.2008 – 2 ME 324/08, NdsRpfl 2008, 411 (411). 256 Siehe zu dieser möglichen Problematik OVG Berlin, 25.09.1978 – VII S. 12.78, juris, Rn. 7; nicht überzeugend gelungen ist deren Lösung dem VG Düs‑ seldorf, Bes. v. 18.03.2010 – 15 L 271/10, juris, Rn. 17, in einer besonderen Kons‑ tellation, in der das Prüfungsamt die sofortige Vollziehbarkeit des Nichtbestehensbe‑ scheides angeordnet und die Antragstellerin sowohl einen Antrag nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO als auch nach § 80 Abs. 5 VwGO gestellt hat. 257 Siehe insoweit insbesondere HessVGH, Bes. v. 05.07.2004 – 8 TG 732/04, NVwZ-RR 2005, 330 (330). Hier wird trotz eines noch nicht begonnenen Über denkungsverfahrens die Zulässigkeit (und Begründetheit) des Antrags nicht infrage gestellt. 258 Kuhla/Hüttenbrink, K 353 D. 259 Vgl. Zimmerling/Brehm, Der Prüfungsprozess Rn. 359, dogmatisch fehlerhaft verortet unter dem Anordnungsgrund.
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nicht zu überzeugen. Das verwaltungsinterne Kontrollverfahren eröffnet dem Prüfling nur eine zusätzliche Rechtsschutzoption neben der Möglich‑ keit der gerichtlichen Kontrolle der Prüfungsentscheidung. Auch nach des‑ sen gesetzlicher Regelung unterliegt es der Dispositionsmaxime des Prüf‑ lings, ob er eine Prüferbeteiligung oder unter einstweiligem Verzicht auf diese eine schnellstmögliche gerichtliche Klärung der Rechtmäßigkeit der Prüfungsentscheidung anstrebt260. Im Hinblick auf die erhebliche Dauer und den überwiegend erfolglosen Ausgang des Überdenkungsverfahrens kann auch keine Rede davon sein, dass dieses einen einfacheren und schnel‑ leren Weg darstellt, um die Voraussetzungen für den Fortgang der Prüfung zu schaffen261. Bei der Prüfung der Begründetheit des Antrags im Sinne des Vorliegens eines Anordnungsanspruchs und -grundes und damit der Auslegung und Anwendung der tatbestandlichen Voraussetzungen des § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO sind wiederum und in besonderem Maße die sich aus den Art. 19 Abs. 4 Satz 1, 12 Abs. 1 Satz 1 GG ergebenden grundrechtlichen Bindungen zu beachten, die namentlich durch das Bundesverfassungsgericht konkreti‑ siert und in stetiger Rechtsprechung immer wieder betont worden sind262. Danach sind die Gerichte im Rahmen ihrer Entscheidungsfindung gehalten, „diejenigen Folgen zu erwägen, die mit der Versagung des vorläufigen Rechtsschutzes für den Prüfling verbunden sind. Je schwerer die sich daraus ergebenden Belastungen wiegen, je geringer die Wahrscheinlichkeit ist, daß sie im Falle des Obsiegens in der Hauptsache rückgängig gemacht werden können, um so weniger darf das Interesse an einer vorläufigen Regelung oder Sicherung der geltend gemachten Rechtsposition zurückgestellt werden“263. Sofern die Versagung des vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare Nachteile für den Antragsteller befürchten lasse, sei daher entweder bei einer Prüfung der Begründetheit des Antrags anhand der Er‑ folgsaussichten in der Hauptsache die Sach- und Rechtslage eingehend zu untersuchen oder alternativ eine Entscheidung nach einer reinen Folgenab‑ wägung zu treffen264. Dabei ergeben sich nach dem Bundesverfassungsge‑ richt besondere Anforderungen an die Effektivität des zu gewährleistenden 260 BVerwGE
92, 132 (146). dann aber ließe sich die Rechtsschutzbedürftigkeit verneinen, siehe zu diesem Negativmerkmal nur Kopp/Schenke, VwGO, Vorb. § 40, Rn. 48. 262 Vgl. BVerfG, Bes. v. 31.03.2004 – 1 BvR 356/04, NVwZ 2004, 1112 (1113); Bes. v. 25.07.1996 – 1 BvR 638/96, NVwZ 1997, 479 (480) m. w. N.; referierend VG Schwerin, Bes. v. 17.11.2000 – 7 B 859/00, juris, Rn. 23. 263 BVerfG, Bes. v. 25.07.1996 – 1 BvR 638/96, NVwZ 1997, 479 (480). 264 BVerfG, Bes. v. 25.07.1996 – 1 BvR 638/96, NVwZ 1997, 479 (480); siehe zusammenfassend auch VG Dresden, Bes. v. 27.11.2008 – 5 L 1866/08, juris, Rn. 10 ff. 261 Nur
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Kap. 8: Verwaltungsprozessuale Rechtsschutzmöglichkeiten
Rechtsschutzes, wenn die Versagung des vorläufigen Rechtsschutzes zu ei‑ ner erheblichen Ausbildungsverzögerung führe, weil der Prüfling in diesem Fall gezwungen sei, seine prüfungsrelevanten Kenntnisse und Fähigkeiten auf dem aktuellen Stand zu halten, obwohl seine Situation durch die Unge‑ wissheit über den Ausgang des Hauptsache- und Prüfungsverfahrens ge‑ kennzeichnet sei265. b) Vorläufige Zulassung zur mündlichen Prüfung Aus eben diesem Grund und (damit) unter dem Eindruck der Rechtspre‑ chung des Bundesverfassungsgerichtes ist in der instanzgerichtlichen Recht‑ sprechung mittlerweile die Möglichkeit, im Wege der einstweiligen (Rege‑ lungs‑) Anordnung die Fortsetzung des Prüfungsverfahrens mit der noch ausstehenden mündlichen Prüfung durch eine entsprechende Verpflichtung des Prüfungsamtes zu erwirken, selbst dann anerkannt, wenn in diesem Regelungsinhalt – nicht überzeugend266 – eine Vorwegnahme der Hauptsa‑ che gesehen wird267. Der meist nicht besonders hervorgehobene erforderli‑ che materiell-rechtliche (Anordnungs‑) Anspruch folgt im Grundsatz aus dem (verletzten) Recht des Prüflings auf eine fehlerfreie Ermittlung und Bewertung seiner Prüfungsleistungen268. Darüber hinaus wird aber für das 265 BVerfG, Bes. v. 25.07.1996 – 1 BvR 638/96, NVwZ 1997, 479 (480 f.); Bes. v. 12.03.1999 – 1 BvR 355/99, NVwZ 1999, 866 (877). 266 Denn die vorläufige Zulassung zur mündlichen Prüfung vermittelt dem Prüf‑ ling nur eine vorläufige Rechtsposition, deren Erhalt unter dem Vorbehalt eines Obsiegens auch im Hauptsacheverfahren sowie eines positiven Ausgangs des Prü‑ fungsverfahrens im Sinne einer besseren Bewertung der wiederholten oder neu be‑ werteten Klausur steht, vgl. BVerfG, Bes. v. 25.07.1996 – 1 BvR 638/96, NVwZ 1997, 479 (481); Bes. v. 12.03.1999 – 1 BvR 355/99, NVwZ 1999, 866 (867); VG Schwerin, Bes. v. 17.11.2000 – 7 B 859/00, juris, Rn. 34; HessVGH, Bes. v. 05.07.2004 – 8 TG 732/04, NVwZ-RR 2005, 330 (331). 267 OVG Lüneburg, Bes. v. 17.01.2003 – 2 ME 16/03, NordÖR 2003, 124 (124 f.); HessVGH, Bes. v. 05.07.2004 – 8 TG 732/04, NVwZ 2005, 330 (331); OVG Thüringen, Bes. v. 15.06.2005 – 1 EO 678/05, ThürVBl. 2005, 241 (242); SächsOVG, Bes. v. 25.06.2010 – 2 B 85/10, juris, Rn. 6, 13; VG Schwerin, 17.11.2000 – 7 B 859/00, juris, Rn. 34; VG Augsburg, Bes. v. 16.05.2002 – Au 9 S 02.566, juris, Rn. 15; VG Hannover, Bes. v. 29.04.2003 – 6 B 1256/03, juris, Rn. 16; VG München, Bes. v. 20.08.2004 – M 27 E 04.4095, juris, Rn. 19; VG Meiningen, Bes. v. 09.05.2005 – 1 E 971/04.Me, ThürVBl. 2006, 160 (161); VG Düsseldorf, Bes. v. 18.03.2010 – 15 L 271/10, juris, Rn. 8; eine Vorwegnahme der Hauptsache wird nur vereinzelt – etwa vom VG Weimar, Bes. v. 03.07.1998 – 4 E 1514/97.We, zitiert nach VG Meiningen, Bes. v. 09.05.2005 – 1 E 971/04.Me, ThürVBl. 2006, 160 (161); VG Hannover, Bes. v. 29.04.2003 – 6 B 1256/03, juris, Rn. 16 – ange‑ nommen. 268 Vgl. VG Meiningen, Bes. v. 09.05.2005 – 1 E 971/04.Me, ThürVBl. 2006, 160 (162).
C. Gerichtliches Rechtsschutzinstrumentarium631
Vorliegen eines Anordnungsanspruchs im Falle gerügter Bewertungsmängel über die bloße Fehlerhaftigkeit der Leistungsbewertung(en) hinaus verlangt, dass der Prüfling nach einer rechtsfehlerfreien Neubewertung seiner Prüfungsleistung(en) mit gewisser269, hoher270 oder überwiegender Wahr‑ scheinlichkeit271 die Voraussetzungen für die Fortsetzung des Prüfungsver‑ fahrens mit der mündlichen Prüfung erfüllt272. Dies setzt die berechtigte Erwartung voraus, dass die gebotene Kompensation der Prüfungsmängel in dem im Hinblick auf die prüfungsrechtliche Ausgangslage des Antragstel‑ lers erforderlichen Umfang zu einer Anhebung der streitgegenständlichen Bewertung(en) führt273. Dieses Postulat begründet im Grunde genommen einerseits die Obliegen‑ heit des Antragstellers, ihm im Hauptsacheverfahren von den Gerichten wegen unzulässigen Eindringens in den Bewertungsspielraum der Prüfer ansonsten stets untersagte Erwägungen274 hinsichtlich der Angemessenheit der Bewertung der Prüfungsleistung(en) anzustellen und andererseits die Gefahr, dass das Gericht seinerseits anstelle des hierzu allein berufenen Prüfers Überlegungen dahingehend anstellt, ob und in welchem Umfang sich die Rücknahme unberechtigter Kritikpunkte auf die Gesamtbewertung auswirkt. (Auch) dem Gericht ist es aber verwehrt, die Prüfungsleistung selbst zu bewerten275. Das schließt insbesondere eine eigenständige Kausa‑ litätsbetrachtung von Prüfungsmängeln aus276, die allerdings jeder Grad ei‑ ner geforderten Wahrscheinlichkeit einer Anhebung der Bewertung und Zulassung zur mündlichen Prüfung impliziert. Ein derartiges, dem Vorliegen 269 HessVGH,
Bes. v. 05.07.2004 – 8 TG 732/04, NVwZ-RR 2005, 330 (330). Augsburg, Bes. v. 16.05.2002 – Au 9 S 02.566, juris, Rn. 15. 271 VG Hannover, Bes. v. 29.04.2003 – 6 B 1256/03, juris, Rn. 16. 272 Siehe insbesondere VG Hannover, Bes. v. 29.04.2003 – 6 B 1256/03, juris, Rn. 16. 273 So in der Tat VG Hannover, Bes. v. 29.04.2003 – 6 B 1256/03, juris, Rn. 16; HessVGH, Bes. v. 05.07.2004 – 8 TG 732/04, NVwZ-RR 2005, 330 (330). 274 Vgl. etwa VG Dresden, Urt. v. 07.06.2007 – 5 K 148/07, juris, Rn. 34; Urt. v. 04.06.2008 – 5 K 38/08, juris, Rn. 137; VG München, Urt. v. 06.12.2011 – M 4 K 11.528, juris, Rn. 35; VG Hamburg, Urt. v. 10.06.2013 – 2 K 1581/11, juris, Rn. 21. 275 Zu diesem Verbot BVerwGE 105, 328 (333); BVerwG, Urt. v. 27.04.1999 – 2 C 30.98, NVwZ 2000, 921 (922); BayVGH, Bes. v. 04.09.2000 – 7 B 99.3753, juris, Rn. 25; OVG NRW, Bes. v. 19.12.2012 – 14 A 2048/11, n. v., BU S. 6.; VG Dresden, Bes. v. 07.06.2007 – 5 K 148/07, juris, Rn. 24; VG Hamburg, Urt. v. 10.06.2013 – 2 K 1581/11, juris, Rn. 25. 276 BVerwGE 105, 328 (333); BVerwG, Urt. v. 27.04.1999 – 2 C 30.98, NVwZ 2000, 921 (922); BayVGH, Bes. v. 04.09.2000 – 7 B 99.3753, juris. Rn. 25; OVG NRW, Bes. v. 19.12.2012 – 14 A 2048/11, n. v., BU S. 6; VG Hamburg, Urt. v. 10.06.2013 – 2 K 1581/11, juris, Rn. 25. 270 VG
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Kap. 8: Verwaltungsprozessuale Rechtsschutzmöglichkeiten
eines Anordnungsanspruchs immanentes Erfordernis ist daher zur Wahrung der durch die Anerkennung eines Bewertungsspielraums des Prüfers abge‑ steckten Kompetenzgrenzen des Gerichtes und der Interessen der Prüflinge strikt abzulehnen277. Gemäß der die Verwaltungsgerichte bindenden Einschätzung des Bundes‑ verfassungsgerichtes wird der für den Erlass einer Regelungsanordnung im Weiteren erforderliche Anordnungsgrund in dem Umstand erblickt, dass sich bei einer nicht zeitnahen Absolvierung der mündlichen Prüfung die Ausbildung des Prüflings erheblich verzögern würde und dieser infolgedes‑ sen für einen unabsehbar langen Zeitraum gehalten wäre, sein Prüfungswis‑ sen zu konservieren und ständig zu aktualisieren278. Dementsprechend wird umgekehrt in der Rechtsprechung das Vorliegen eines Anordnungsgrundes im Regelfall dann verneint, wenn der Prüfling in absehbarer Zeit eine ihm noch regulär zustehende Wiederholungsprüfung absolvieren kann und es damit selbst in der Hand hat, die zeitliche Verzögerung seiner Ausbildung auf ein zumutbares Maß zu begrenzen279. Die vorgenannte Rechtsprechung vermag nur teilweise zu überzeugen. Soweit die ggf. erforderliche Wis‑ senserhaltung als unzumutbar angesehen wird, ist einzuwenden, dass sich die Kandidaten selbst bei regulärem Prüfungsverlauf noch gesondert auf die mündliche Prüfung vorbereiten. Auch demjenigen Prüfling, der sich erfolg‑ reich in die mündliche Prüfung „eingeklagt“ hat, kann nach dem Abschluss des Hauptsacheverfahrens ein angemessener Vorbereitungszeitraum bis zum Prüfungstermin eingeräumt werden. Dies wird von den Prüfungsämtern in der Praxis zur gebotenen Wiederherstellung der Chancengleichheit auch gewährleistet. Es besteht daher nicht die Notwendigkeit, das erforderliche Prüfungswissen über Jahre hinweg präsent zu halten, sondern nur irgend‑ wann wieder in Vorbereitung auf die mündliche Prüfung aufzufrischen. Gerade hierin liegt aber das Problem. Denn bis zum rechtskräftigen Ab‑ schluss des Hauptsacheverfahrens haben sich die persönlichen Umstände der Prüflinge häufig dermaßen geändert, dass sie sich nicht mehr in der Zimmerling/Brehm, Der Prüfungsprozess, Rn. 363. Bes. v. 05.07.2004 – 8 TG 732/04, NVwZ-RR 2005, 330 (331); SächsOVG, Bes. v. 25.06.2010 – 2 B 85/10, juris, Rn. 13; VG Düsseldorf, Bes. v. 18.03.2010 – 15 L 271/10, juris, Rn. 10; VG Schwerin, Bes. v. 17.11.2000 – 7 B 859/00, juris, Rn. 34; Zimmerling/Brehm, Der Prüfungsprozess, Rn. 339. 279 VG Düsseldorf, Bes. v. 18.03.2010 – 15 L 271/10, juris, Rn. 12; siehe auch VGH Mannheim, Urt. v. 17.07.1990 – 9 S 707/89, DVBl 1991, 60 (61); OVG Münster, Bes. v. 31.08.2000 – 14 B 634/00, DVBl 2001, 820 (821); OVG BerlinBrandenburg, Bes. v. 29.01.2010 – OVG 10 13.09, juris, Rn. 4; VG Schwerin, Bes. v. 17.11.2000 – 7 B 859/00, juris, Rn. 23. Dagegen Zimmerling/Brehm, Der Prü‑ fungsprozess, Rn. 341 f.; offen lassend HessVGH, Bes. v. 05.07.2004 – 8 TG 732/04, NVwZ-RR 2005, 330 (330), im konkreten Fall dies aber nicht als Ausschlussgrund ansehend. 277 Ebenso
278 HessVGH,
C. Gerichtliches Rechtsschutzinstrumentarium633
Lage sehen, sich den (Vor‑)Belastungen einer mündlichen Prüfung auszuset‑ zen. Im Ergebnis ist daher der Annahme des Vorliegens eines Anordnungs‑ grundes bis zu einer mündlichen Prüfung zuzustimmen. Entgegen der An‑ sicht der Rechtsprechung kann dieser aber nicht ohne Weiteres dann verneint werden, wenn der Prüfling noch eine reguläre Wiederholungsprüfung bean‑ spruchen kann. Denn zunächst liegen häufig gewichtige Gründe in den persönlichen Lebensumständen der Prüflinge vor, die sie an der Wahrneh‑ mung der ihnen theoretisch noch offen stehenden Wiederholungsmöglichkeit hindern und einen umgehenden Berufseinstieg erforderlich machen280. Überdies ist auch der Ausgang des Wiederholungsversuchs völlig ungewiss und dessen Absolvierung mit erheblichen Belastungen und einer ebenfalls nicht unerheblichen Ausbildungsverzögerung verbunden. Für den Regelfall ist daher auch bei einem noch offen stehenden regulären Wiederholungsver‑ such das Vorliegen eines Anordnungsgrundes anzunehmen281. c) Vorläufige Neuerbringung von Prüfungsleistungen Die vorstehenden Gründe streiten bei auch im Übrigen gleichlautenden Erlassvoraussetzungen ebenso für den Erlass einer auf die vorläufige Neu‑ erbringung von Prüfungsleistungen gerichteten Regelungsanordnung bzw. stehen dieser entgegen282. Da die Vorbereitung auf die schriftliche Prüfung einen ungleich größeren Aufwand erfordert als auf die mündliche Prüfung, liegt die Unzumutbarkeit bzw. ggf. Unmöglichkeit einer zureichenden Prü‑ fungsvorbereitung nach Abschluss des Hauptsacheverfahrens noch mehr auf der Hand. d) Vorläufige Neubewertung von Prüfungsleistungen Während damit die Möglichkeit und Notwendigkeit, den Prüfling einst‑ weilen zur mündlichen Prüfung und Erbringung schriftlicher Prüfungsleis‑ tungen zuzulassen, weithin anerkannt ist, steht insbesondere die instanzge‑ richtliche Rechtsprechung der Anordnung der vorläufigen Neubewertung von Prüfungsleistungen skeptisch gegenüber. Den Vorbehalten liegt die dort übereinstimmend vertretene Annahme zugrunde, dass die Beurteilung einer Prüfungsleistung ihrem Wesen nach nur eine endgültige sein könne und daher mit der Anordnung einer „vorläufigen“ Neubewertung die Entschei‑ 280 Zutreffend erkannt vom HessVGH, Bes. v. 05.07.2004 – 8 TG 732/04, NVwZ-RR 2005, 330 (331). 281 Im Ergebnis ebenso Zimmerling/Brehm, Der Prüfungsprozess, Rn. 341. 282 Siehe zur grundsätzlichen Möglichkeit ihres Erlasses VG Dresden, Bes. v. 27.11.2008 – 5 L 1866/08, juris, Rn. 8 f., 13.
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Kap. 8: Verwaltungsprozessuale Rechtsschutzmöglichkeiten
dung in der Hauptsache stets vorweggenommen werden würde283. Diese wird daher auch nur unter engen Voraussetzungen zugelassen. So werden für den Anordnungsanspruch zunächst eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit des Obsiegens in dem auf eine Neubewertung gerichteten Hauptsachever‑ fahren und eine gewisse Wahrscheinlichkeit dafür gefordert, dass die Neu‑ bewertung zu einer höheren Punktvergabe führen wird. Ein Anordnungs‑ grund sei nur gegeben, wenn ohne die einstweilige Neubewertung der diesbezüglich ggf. bestehende Anspruch des Antragstellers vereitelt oder dessen Realisierung in unzumutbarer Weise erschwert werde und der in der Abwendung wesentlicher Nachteile bestehende Regelungszweck des § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO nicht auf andere Weise erreicht werden könne284. Im Anschluss an das Bundesverwaltungsgericht, das in einem Mitte der Neunzigerjahre ergangenen Beschluss en passant die Möglichkeit angespro‑ chen hatte, dass der Prüfling im Wege einer einstweiligen Anordnung eine vorläufige Neubewertung seiner mündlichen Prüfungsleistungen durch‑ setzt285, sieht die Rechtsprechung die vorstehenden Voraussetzungen jeden‑ falls theoretisch bei mündlichen Prüfungen im Hinblick darauf als erfüllbar an, dass wegen der Flüchtigkeit der Erinnerungen der Prüfer an die erbrach‑ ten Prüfungsleistungen eine dem Prüfling zustehende Neubewertung mit zunehmendem Zeitablauf unmöglich wird286. Die vorläufige Neubewertung schriftlicher Prüfungsleistungen wurde demgegenüber in der jüngeren Rechtsprechung bisher strikt ausgeschlossen287. Tragend dafür ist neben der 283 HessVGH, Bes. v. 07.04.2004 – 7 TG 732/04, NVwZ-RR 2005, 330 (330); OVG Hamburg, Bes. v. 13.02.2007 – 3 Bs 270/06, NJW 2007, 2874 (2874); OVG Berlin-Brandenburg, Bes. v. 29.01.2010 – OVG 10 13.09, juris, Rn. 3; VG Dresden, Bes. v. 07.06.2007 – 5 K 148/07, juris, Rn. 18; Bes. v. 11.02.2010 – 5 L 24/10, juris, Rn. 50; siehe auch OVG Münster, Bes. v. 31.08.2000 – 14 B 634/00, DVBl 2001, 820 (822); grundsätzlich ablehnend auch Schmidt-Räntsch, DRiG, Anhang zu § 5d, Rn. 186; zurückhaltend auch Schnellenbach, in: Hartmer/Detmer, HSchR, Kapitel II, Rn. 73; anders früher VGH Mannheim, Bes. v. 05.03.1981 – 9 S 151/81, VBlBW 1981, 395 (397). Die Einschätzung von Zimmerling/Brehm, Der Prüfungsprozess, Rn. 356, dass nur noch vereinzelt die Auffassung vertreten werde, dass eine „vorläu‑ fige Neubewertung“ die Hauptsache vorwegnehme, ist daher (nicht mehr) zutreffend. 284 Vgl. zu den dargestellten Voraussetzungen VG Dresden, Bes. v. 07.06.2007 – 5 K 148/07, juris, Rn. 19; Bes. v. 11.02.2010 – 5 L 24/10, juris, Rn. 50; HessVGH, Bes. v. 05.07.2004 – 8 TG 732/04, NVwZ 2005, 330 (330); OVG Berlin-Brandenburg, Bes. v. 29.01.2010 – OVG 10 M 13.09, juris, Rn. 3; siehe zu den Anforderungen an den Anordnungsgrund VGH Mannheim, Bes. v. 17.08.1992 – 9 S 1871/92, juris, Rn. 4; OVG Hamburg, Bes. v. 13.02.2007 – 3 Bs 270/06, NJW 2007, 2874 (2875). 285 BVerwG, Bes. v. 11.04.1996 – 6 B 13/96, NVwZ 1997, 502 (502). 286 VG Dresden, Bes. v. 07.06.2007 – 5 K 148/07, juris, Rn. 19; OVG BerlinBrandenburg – OVG 10 M 13.09, juris, Rn. 4. 287 OVG Hamburg, Bes. v. 13.02.2007 – 3 Bs 270/06, NJW 2007, 2874 (2874 f.); VG Dresden, Bes. v. 07.06.2007 – 5 K 148/07, juris, Rn. 19; Bes. v. 11.02.2010 – 5
C. Gerichtliches Rechtsschutzinstrumentarium635
allgemeinen Annahme der Vorwegnahme der Hauptsache aufgrund der End‑ gültigkeit der Bewertung die Erwägung, dass eine Neubewertung schriftli‑ cher Prüfungsleistungen regelmäßig auch noch nach dem Abschluss des Hauptsacheverfahrens möglich sei und die rechtlichen Interessen des An‑ tragstellers durch eine vorläufige Zulassung zur mündlichen Prüfung hinrei‑ chend gesichert werden könnten288. Diese Überlegungen erscheinen im Ansatz zunächst einmal inkonsistent, da auch bei einer vorläufigen Zulassung zur mündlichen Prüfung und der vorläufigen Neuerbringung von Klausuren die dort gezeigten Leistungen endgültig und nicht nur vorläufig bewertet werden. Eine unterschiedliche Behandlung der Rechtsschutzziele ist daher insoweit nicht gerechtfertigt. Im Übrigen müsste schon gemessen an den eingangs benannten Voraussetzun‑ gen sowie namentlich unter Berücksichtigung des Gewährleistungsgehalts der Art. 12 Abs. 1 Satz 1, 19 Abs. 4 Satz 1 GG und der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes ein Anordnungsgrund auch für die Neubewer‑ tung schriftlicher Prüfungsleistungen angenommen werden. Tatsächlich führt nämlich die Versagung vorläufigen Rechtsschutzes im Regelfall zu im Hauptsacheverfahren nicht mehr kompensierbaren und damit unzumutbaren Nachteilen. Denn ein Prüfer kann nach einem vom Prüfling ggf. sogar mehrfach durchlaufenen Hauptsacheverfahren und einem damit verbunde‑ nen Zeitablauf von mindestens drei bis zu zehn Jahren den seinerzeit maß‑ geblichen Vergleichsmaßstab, in den die Leistung einzubetten wäre, mit Sicherheit nicht mehr rekonstruieren. Zudem wird sich sein Beurteilungs‑ maßstab aufgrund der zwischenzeitlich gewonnenen weiteren Prüfererfah‑ rung häufig und nicht selten zulasten des Prüflings verschoben haben. Möglicherweise stehen die ursprünglichen Prüfer für eine Neubewertung aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen auch gar nicht mehr zur Verfü‑ gung. Im Ergebnis wird daher die Prüfungsleistung nicht mehr nach dem seinerzeit maßgeblichen Bewertungssystem beurteilt, was vielfach auch bei gebotener Rücknahme von Kritikpunkten dazu führt, dass sich an der ur‑ sprünglichen Bewertung nichts ändert. Es besteht daher regelmäßig auch der L 24/10, juris, Rn. 50; OVG Berlin-Brandenburg, Bes. v. 29.01.2010 – OVG 10 M 13.09, juris, Rn. 3; siehe auch OVG Münster, Bes. v. 31.08.2000 – 14 B 634/00, DVBl 2001, 820 (822). Die von Zimmerling/Brehm, Der Prüfungsprozess, Rn. 357, aufgestellte Behauptung, dass die Rechtsprechung die Neubewertung einer schrift lichen Prüfungsleistung zulasse, ist schlichtweg falsch. Die dort in Fn. 1153 ange‑ führten Nachweise belegen dies und stützen nicht die von Zimmerling/Brehm aufge‑ stellte Behauptung. Jüngst hält jetzt aber zumindest das VG Bremen die Durchset‑ zung des Neubewertungsanspruchs im Eilverfahren auch bei schriftlichen Prüfungsleistungen wegen der langen Verfahrensdauer in Bremen im Hauptsachever‑ fahren für möglich, siehe VG Bremen, Bes. v. 04.03.2015 – 1 V 80/15, juris, Rn. 21 ff. 288 VG Dresden, Bes. v. 07.06.2007 – 5 K 148/07, juris, Rn. 19.
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Kap. 8: Verwaltungsprozessuale Rechtsschutzmöglichkeiten
für eine begehrte „vorläufige“ Neubewertung erforderliche Anordnungs‑ grund289. Üblicherweise kann und muss bereits im vorläufigen Rechts‑ schutzverfahren eine abschließende Feststellung des Vorliegens von Bewer‑ tungsfehlern erfolgen290. Im Prinzip erlangt der Prüfling aber auch bei einer „vorläufigen“ Neubewertung nur eine vorläufige Rechtsposition, weil mög‑ licherweise das substantiiert behauptete Vorliegen von Bewertungsfehlern nach der Einholung eines Sachverständigengutachtens im Hauptsachever‑ fahren nicht bestätigt wird.
D. Gerichtlicher Entscheidungsfindungsprozess I. Allgemeine Grundsätze 1. Amtsaufklärungspflicht Im Rahmen der vom Kläger bzw. Antragsteller im Hauptsache- bzw. vorläufigen Rechtsschutzverfahren gestellten Anträge und des hierzu in Wahrnehmung der Substantiierungsobliegenheit erfolgten Sach- und Rechts‑ vortrags muss das Gericht aufgrund seiner Amtsaufklärungspflicht (§ 86 Abs. 1 VwGO) den Sachverhalt von Amts wegen erforschen und ggf. auch unabhängig von gestellten Beweisanträgen der Beteiligten die hierzu erfor‑ derlichen Beweise erheben291. 2. Beweislastverteilung und Beweisgrundsätze Wenn allerdings auch nach Ausschöpfung aller Beweismöglichkeiten das Vorliegen der Voraussetzungen einer Anspruchs- bzw. Einwendungsnorm nicht feststeht, bedarf es der Festlegung, zu wessen Lasten dies geht292. An‑ gesprochen damit ist die Frage der Beweislastverteilung im Prüfungsprozess, die bereits in verschiedenen Kapiteln der Untersuchung eine Rolle gespielt hat. Im Rahmen dieses abschließenden Kapitels soll daher nach einer kurzen Zusammenfassung der bisherigen Ergebnisse auch nur noch auf sich erst im Verwaltungsprozess stellende – zum Teil bereits angesprochene, aber noch nicht abschließend beantwortete – Beweisfragen eingegangen werden. Ergebnis ebenso Zimmerling/Brehm, Der Prüfungsprozess, Rn. 359. VG Hannover, Bes. v. 29.04.2003 – 6 B 1256/03, juris, Rn. 16. 291 Vgl. zum Umfang der Amtsaufklärungspflicht Kopp/Schenke, VwGO, § 86, Rn. 5; Dawin, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, § 86, Rn. 23 ff. 292 Zur materiellen Beweislast siehe allgemein Kopp/Schenke, VwGO, § 108, Rn. 11; siehe auch Zimmerling/Brehm, Der Prüfungsprozess, Rn. 183; Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 869. 289 Im
290 Vgl.
D. Gerichtlicher Entscheidungsfindungsprozess637
Im Ausgangspunkt gilt für die Verteilung der materiellen Beweislast im Prüfungsprozess, dass diese und damit auch den Nachteil einer nicht bewie‑ senen Tatsache derjenige trägt, der aus ihrem Vorliegen Rechte für sich ableiten will293. Sofern der Prüfling aus von ihm behaupteten rechtserheblichen Prüfungs‑ verfahrensmängeln, Bewertungsverfahrensfehlern oder materiellen Rechts‑ fehlern des Bewertungsvorgangs einen Anspruch auf Wiederholung und / oder Neubewertung einzelner Teilprüfungsleistungen geltend macht, geht es grundsätzlich zu seinen Lasten, wenn die von ihm substantiiert behaupteten und potentiell anspruchsbegründenden Umstände nach abgeschlossener Sachaufklärung nicht zur Überzeugung des Gerichtes feststehen294. Dieser Grundsatz bedarf aber im Lichte des Gebots der Gewährleistung eines ef‑ fektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG) sowie des Rechtsstaats‑ prinzips (Art. 20 Abs. 3 GG)295 und des Grundrechts der Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG296) im Einzelfall der Durchbrechung und führt dann zu einer Beweislastumkehr zulasten des Prüfungsamtes. Eine solche Beweislastumkehr kommt vor allem bei unklaren tatsächli‑ chen Umständen im Zusammenhang mit der Rüge von Fehlern im Vorgang des Verfahrens der Leistungsermittlung und hier insbesondere bei Prüfungs‑ verfahrensfehlern im engeren Sinne in Betracht, deren Vorliegen – wie eingangs nochmals dargelegt – der vollständigen gerichtlichen Überprüfung unterliegt. Gelingt es dem Prüfling, aufgrund seiner substantiierten Rüge Indizien für das Vorliegen eines Prüfungsverfahrensfehlers aufzuzeigen und dem Prüfungsamt umgekehrt nicht, diese zu entkräften, ist von deren Existenz auszugehen. Die Umkehr der Beweislast bei Prüfungsverfahrensfehlern im engeren Sinne bei Rügen des Prüflings, die das Vorliegen eines Mangels nahelegen297, rechtfertigt sich daraus, dass die Umstände, die diesen begrün‑ den, aus der Sphäre des Prüfungsamtes stammen. Insoweit kann auf die im 293 Vgl. BVerwGE 78, 367 (370); BVerwG, Bes. v. 31.07.1989 – 7 B 104/89, NVwZ 1990, 65 (65); VG Regensburg, Gerichtsbescheid vom 12.05.1999 – RO 2 K 98.1566, juris, Rn. 21 f.; Kopp/Schenke, § 108, Rn. 13. 294 Vgl. BVerwGE 78, 367 (370); BVerwG, Bes. v. 31.07.1989 – 7 B 104/89, NVwZ 1990, 65 (65); VG Regensburg, Gerichtsbescheid vom 12.05.1999 – RO 2 K 98.1566, juris, Rn. 21 f. 295 Zur Maßgeblichkeit dieser Normen für die Frage der Beweislastverteilung siehe BVerwGE 70, 143 (148). 296 Siehe zur Maßgeblichkeit auch dieser Norm für die Frage der Beweislastver‑ teilung Guhl, S. 46 f. 297 Siehe zu dieser Möglichkeit BVerwG, Bes. v. 31.07.1989 – 7 B 104/89, NVwZ 1990, 65 (65); VG Regensburg, Gerichtsbescheid vom 12.05.1999 – RO 2 K 98.1566, juris, Rn. 21 f.
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Kap. 8: Verwaltungsprozessuale Rechtsschutzmöglichkeiten
Rahmen der Ermittlung der Rügeobliegenheiten des Prüflings entwickelte und auf die entsprechende allgemeine Sphärentheorie im Beweisrecht ver‑ wiesen werden298. Nach herrschender Meinung keine Beweislastumkehr299, wohl aber eine Beweiserleichterung für den Prüfling wie das Prüfungsamt ergibt sich, wenn die Voraussetzungen der auch im Verwaltungsprozessrecht geltenden Regeln des Beweises des ersten Anscheins300 vorliegen. Steht das Vorliegen von Mängeln im Leistungsermittlungsverfahren fest, ist wie bereits dargelegt anerkannt, dass die materielle Beweislast für die Unerheblichkeit eines Verfahrensfehlers beim Prüfungsamt liegt, weil ande‑ renfalls dem Prüfling die erfolgreiche Verteidigung seiner Rechte unzumut‑ bar erschwert werden würde301. Beweisfragen können sich ausnahmsweise auch bei der Geltendmachung materieller Bewertungsfehler ergeben, wenn die Prüfungsarbeit oder Teile derselben nach erfolgter Bewertung der Prüfungsleistung abhanden gekom‑ men sind302. Dies ist dann der Fall, wenn sich allein anhand der noch vorliegenden Prüfervoten unter Berücksichtigung des substantiierten Vor‑ bringens des Prüflings das Vorliegen eines Bewertungsfehlers weder sicher feststellen noch mit der erforderlichen Gewissheit ausschließen lässt. Eine solche Beweissituation kann letztlich nur eintreten, wenn der Prüfling be‑ hauptet, dass sich vom Prüfer als fehlend gerügte Ausführungen in seiner Prüfungsarbeit befänden oder diese entgegen dessen Kritik in fachlicher Hinsicht nicht zu beanstanden seien. Weiter ist erforderlich, dass die Erheb‑ lichkeit eines unterstellten Abwägungsfehlers für die Gesamtbewertung der Klausur nicht ausgeschlossen werden kann. Diese ist nach den Umständen des Einzelfalles zu beurteilen und kommt etwa bei dem Verlust von Teilen der Prüfungsarbeit in Betracht, wenn nach Lage der Dinge mit der erforder‑ lichen Gewissheit ausgeschlossen werden kann, dass sich in diesen noch substantielle Ausführungen des Prüflings befunden haben. Sofern das Ver‑ waltungsgericht auch nach Ausschöpfung der ihm zur Verfügung stehenden 298 Siehe hierzu Kopp/Schenke, VwGO, § 108, Rn. 13a; Zimmerling/Brehm, Der Prüfungsprozess, Rn. 185. 299 Siehe zum Streit um die dogmatische Einordnung des prima-facie-Beweises die Darstellung bei Dawin, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, § 108, Rn. 67. 300 Vgl. Dawin, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, § 108 Rn. 64; Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 870. 301 BVerwGE 70, 143 (148); BVerwG, Urt. v. 20.09.1984 – 7 C 80.82, Buchholz 421.0 Nr. 202, 201 (207); VGH Mannheim, Urt. v. 08.10.1996 – 9 S 2437/95, VBlBW 1997, 70 (72); Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 870; Zimmerling/Brehm, Der Prüfungsprozess, Rn. 244; siehe auch Kopp/Schenke, VwGO, § 108, Rn. 13 a m. Fn. 40. 302 Zu dieser Problematik BVerwGE 78, 367 (371 f.); BayVGH, Bes. v. 26.02.2014 – 7 ZB 14.28, juris, Rn. 11.
D. Gerichtlicher Entscheidungsfindungsprozess639
Erkenntnisquellen (§ 86 Abs. 1 VwGO) und vollständiger Überzeugungsbil‑ dung (§ 108 Abs. 1 VwGO) die Möglichkeit des Vorliegens eines rechtser‑ heblichen Bewertungsfehlers nicht mit dem erforderlichen Überzeugungs‑ grad verneinen kann, soll nach der Rechtsprechung bei einem von der Prüfungsbehörde verschuldeten (Teil‑)Verlust dann von dem Vorliegen des Prüfungsmangels auszugehen sein303. Diese Rechtsprechung vermag nur teilweise zu überzeugen, weil es im Hinblick auf das Gebot der Gewährleis‑ tung eines effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG) zu eng erscheint, für eine Beweislastumkehr ein Verschulden des Prüfungsamtes zu fordern. Es muss vielmehr ausreichen, wenn die Prüfungsarbeit in der Sphä‑ re des Prüfungsamtes verloren gegangen ist und dem Prüfling nicht nachge‑ wiesen werden kann, dass er selbst – etwa im Rahmen der Akteneinsicht – diese an sich genommen hat304.
II. Die Feststellung von Bewertungsfehlern im Besonderen Auch bei der Geltendmachung von Bewertungsfehlern steht zunächst einmal die Frage ihres Vorliegens im Vordergrund, die vom Gericht prinzi‑ piell in einem dreistufigen Verfahren geklärt wird. So bedarf es in einem ersten Schritt der durch den Vortrag der Beteiligten bestimmten und be‑ grenzten Feststellung des entscheidungserheblichen Sachverhalts (§ 86 Vw‑ GO) durch die Ermittlung des (objektiven) Aussagegehalts der Prüferkritik sowie der tatsächlichen Grundlagen der Bewertungsrügen des Klägers. In einem zweiten Schritt muss das Gericht sodann den ihm unterbreiteten bzw. ermittelten Sachverhalt im Rahmen seiner Überzeugungsbildung (§ 108 Satz 1 VwGO) würdigen und diesen schließlich drittens an den maßgebli‑ chen Rechtsnormen messen (Art. 20 Abs. 3 GG305). Die in diesem theore‑ tisch also dreischrittigen, praktisch aber zumeist einheitlichen Entschei‑ dungsfindungsprozess auftauchenden wesentlichen Rechtsfragen und -prob‑ leme gilt es nachfolgend zu erörtern. 1. Sachverhaltsermittlung Auf der ersten Stufe der Sachverhaltsermittlung stellt sich zunächst die Frage des adäquaten Umgangs mit einer interpretationsoffenen Prüferkritik. 303 BVerwG, Bes. v. 18.02.2003 – 6 B 10/03, juris, Rn. 7; BayVGH, Bes. v. 26.02.2014 – 7 ZB 14.28, juris, Rn. 11. 304 Ähnlich VGH Mannheim, Urt. v. 01.04.1987 – 9 S 1829/86, NVwZ-RR 1987, 1010 (1011). 305 Vgl. zur Differenzierung zwischen Sachverhaltswürdigung und Rechtsanwen‑ dung BVerwG, Bes. v. 21.07.1998 – 6 B 44/98, NVwZ 1999, 187 (187).
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Kap. 8: Verwaltungsprozessuale Rechtsschutzmöglichkeiten
Zwar muss das Gericht im Rahmen seiner Überprüfungsberechtigung und -verpflichtung durch Auslegung den objektiven Sinngehalt einer Prüferkritik ermitteln und diese sodann einer Rechtmäßigkeitskontrolle unterziehen306. Auf diese muss es sich aber auch beschränken. Es ist dem Gericht daher einerseits verwehrt, im Rahmen einer Selbstkorrektur der Prüfungsarbeit seine eigene subjektive Meinung anstelle derjenigen des Prüfers zu set‑ zen307, andererseits darf es dieser aber auch nicht beitreten, indem es – wie in der Praxis häufig zu beobachten308 – leere Begründungshülsen des Prü‑ fers dadurch mit Inhalt füllt, dass es die vom Prüfling angegriffene Prüfer‑ kritik mit Erwägungen rechtfertigt, die vom Prüfer so überhaupt gar nicht angestellt worden sind. Fraglich aber ist, ob aufgrund dieses Selbstbewertungsverbots umgekehrt für das Gericht Veranlassung besteht, bei unklarer Kritik den Prüfer als Zeu‑ gen zu vernehmen, um abzuklären, ob ein vom Prüfling gerügter Bewer‑ tungsfehler vorliegt oder nicht. Wie dargelegt wird es in der Rechtsprechung als zulässig angesehen, den Prüfer in der mündlichen Verhandlung als Zeu‑ gen zu hören, um sich eine bisher noch nicht hinreichend begründete Prüfer‑ kritik erläutern zu lassen309. Dagegen werden in der Literatur zu Recht Be‑ denken erhoben310. Unter dem Aspekt der Waffengleichheit – der Prüfling kann seine Prüfungsarbeit anerkanntermaßen nicht nachbessern311 – ist die Einvernahme des Prüfers als Zeuge wegen des unterschiedlichen Zwecks der Prüfungsleistung einerseits und der Bewertungsbegründung andererseits zwar nicht zu beanstanden312. Die mündliche Begründung der Bewertung gerät aber zunächst mit deren Garantie-, Klarstellungs- und Kontrollfunktion in Konflikt, die bei schriftlichen Prüfungen auch stets eine schriftliche Be‑ gründung der Bewertung erfordert. Wenn die Prüfer zudem bereits im Rah‑ men des verwaltungsinternen Kontrollverfahrens und – ggf. sogar mehr‑ fach – im Rahmen des gerichtlichen Verfahrens die Gelegenheit hatten, ihre Bewertung schriftlich zu erläutern, besteht keine Veranlassung mehr, dem 306 Vgl. im Ansatz zutreffend OVG NRW, Bes. v. 19.12.2012 – 14 A 2048/11, n. v., BU S. 6. 307 BVerwGE 105, 328 (333 f.); BVerwG, 27.04.1999 – 2 C 30.98, NVwZ 2000, 921 (922); BayVGH, Bes. v. 04.09.2000 – 7 B 99.3753, juris, Rn. 25; OVG NRW, Bes. v. 19.12.2012 – 14 A 2048/11, n. v., BU S. 6; VG Hamburg, Urt. v. 10.06.2013 – 2 K 1581/11, juris, Rn. 25. 308 Siehe etwa VG Köln, Urt. v. 21.07.2011 – 6 K 1635/10, n. v., UA S. 7. 309 BayVGH, Bes. v. 14.09.2000 – 7 B 99.3753, juris, Rn. 26; BVerwG, Bes. v. 01.03.2001 – 6 B 6/01, NVwZ 2001, 922 (922 f.). 310 Zimmerling/Brehm, Der Prüfungsprozess, Rn. 170; Linke, NVwZ 2006, 1382 (1383). 311 Siehe an dieser Stelle nur VG Dresden, Urt. v. 04.06.2008 – 5 K 38/08, juris, Rn. 140. 312 OVG Saarlouis, Bes. v. 05.04.2004 – 3 Q 36/03, juris, Rn. 81 ff.
D. Gerichtlicher Entscheidungsfindungsprozess641
Prüfer nochmals die Möglichkeit zu eröffnen, seine Begründung – nunmehr mündlich – zu erläutern313. Dies gilt umso mehr, als das Prüfungsamt hinrei‑ chend rechtskundig ist, um die Erfolgsaussichten der Rechtsverteidigung bereits vor der mündlichen Verhandlung hinreichend sicher abschätzen zu können314. Weder der Anspruch des beklagten Prüfungsamtes auf Gewäh‑ rung rechtlichen Gehörs noch die Amtsaufklärungspflicht des Gerichtes er‑ fordern und rechtfertigen es, einen Prüfer so lange zu befragen, bis im Er‑ gebnis eine plausible Begründung vorliegt315. Durch ein solches Vorgehen werden die Rechtsschutzmöglichkeiten des Prüflings, der anderenfalls eine Neubewertung hätte erstreiten können, letztlich in unzulässiger Art und Wei‑ se beschränkt. Wenn die Kritik des Prüfers auch nach Abgabe der letzten schriftlichen Stellungnahme zu den Einwendungen des Prüflings noch immer erläuterungsbedürftig und damit unzureichend begründet ist, ist dem Prüfer nicht eine abermalige Nachbesserungsmöglichkeit einzuräumen. Vielmehr muss das Gericht in diesem Fall wegen eines vorliegenden Verstoßes gegen das Gebot der formalen Rationalität der Bewertung die Verpflichtung des Prüfungsamtes aussprechen, unter Aufhebung des Prüfungsbescheides die Prüfungsarbeit – ggf. durch einen anderen Prüfer – neu bewerten zu lassen. 2. Beweiserhebung Bestehen auch nach dem Vorliegen der letzten (schriftlichen) Stellungnah‑ me des Prüfers zu den (fachspezifischen) Bewertungsrügen des Klägers die durch diese aufgetretenen Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Bewertung fort, fragt sich, welche (Beweis‑)Mittel dem Gericht zur Verfügung stehen, um einen fachwissenschaftlichen Meinungsstreit zwischen dem Prüfling und dem Prüfer zu klären. Da die Berechtigung einer auf die fachspezifische Wertung des Prüfers abzielenden Rüge bei juristischen Prüfungen stets und allein von der Frage der richtigen Rechtsanwendung im Einzelfall abhängt und das Gericht zu eben dieser im Rahmen seiner Kontrollfunktion (allein) berufen ist, liegt es nahe, dass das Gericht selbst – ggf. nach der Heranzie‑ hung von (weiteren) Erkenntnisquellen – die fachspezifische Vertretbarkeits‑ kontrolle vornimmt. Wenn das Gericht vor der abschließenden Überzeu‑ gungsbildung über das Durchgreifen der Vertretbarkeitsrüge des Prüflings seinen Erkenntnishorizont erweitern will, kann es im Prinzip jedenfalls auf die in § 96 Abs. 1 VwGO beispielhaft genannten Beweismittel zugreifen316. 313 Vgl.
VG Berlin, Urt. v. 19.01.2005 – 12 A 413.02, juris, Rn. 24. Berlin, Urt. v. 19.01.2005 – 12 A 413.02, juris, Rn. 24. 315 Zutreffend Zimmerling/Brehm, Der Prüfungsprozess, Rn. 170. 316 Vgl. zu den zulässigen Beweismitteln BVerwG, Bes. v. 06.03.1995 – 6 B 81/94, Buchholz 310 § 86 Abs. 1 VwGO Nr. 265, 8 (9). 314 VG
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Kap. 8: Verwaltungsprozessuale Rechtsschutzmöglichkeiten
Zulässig und vom Prüfling auch stets gewollt ist daher, dass das Gericht seinen fachspezifischen Rügen im Wege des Urkundenbeweises durch Her‑ anziehung und Prüfung der von ihm ggf. benannten Belegstellen für die Vertretbarkeit seiner fachwissenschaftlichen Auffassung nachgeht317. Auf‑ grund der eigenen Sachkunde des Gerichtes bedarf es aber regelmäßig nicht einmal deren Würdigung und noch seltener der Einschaltung eines Sachver‑ ständigen zur Abklärung der Berechtigung der fachspezifischen Vertretbar‑ keitsrüge des Prüflings. Das Bundesverwaltungsgericht geht daher auch in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass es zwar für die Beurteilung von Fachfragen im Allgemeinen, aber im Regelfall nicht im Rahmen eines juris‑ tischen Prüfungsrechtsstreits der Heranziehung eines Sachverständigen be‑ dürfe, da üblicherweise von der erforderlichen Qualifikation der Gerichte ausgegangen werden könne, die Vertretbarkeit juristischer Ausführungen zu klären318. Wenn sich auch ein Prüfling von einem Sachverständigengutach‑ ten keine weitergehenden Erkenntnisse verspricht, liegt das Absehen von dessen Einholung auch in seinem Interesse, zumal diese mit ggf. von ihm zu tragenden Kosten verbunden ist. Wegen dieses Kostenaspekts und der übli‑ cherweise anzunehmenden erforderlichen Sachkunde der Gerichte verlangt das Bundesverwaltungsgericht daher für die Einschaltung eines Sachverstän‑ digen sogar gewichtige und den Beteiligten offengelegte Gründe, damit durch die entstehenden Kosten für die Beweiswürdigung nicht unzulässig hohe Hürden für einen wirksamen Rechtsschutz errichtet werden319. Weiter verlangt das Bundesverwaltungsgericht, dass das Gericht seine eigene Sach‑ kunde nicht hinter diejenige der Gutachter zurücktreten lassen dürfe320. Als gewichtige Gründe für eine Beweiserhebung kommen dabei auf der Grund‑ lage der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichtes eine Vielzahl um‑ fänglicher, schwer zu durchschauender und / oder in den Einzelheiten – ohne besonderes Fachwissen – schwierig zu beurteilender Einwände in Betracht321. Aufgrund dieser Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichtes stellt die Einholung eines Sachverständigengutachtens im Rahmen der fachspezi‑ 317 BVerwG, Bes. v. 06.03.1995 – 6 B 81/94, Buchholz 310 § 86 Abs. 1 VwGO Nr. 265, 8 (9). 318 BVerwG, Bes. v. 24.02.1993 – 6 C 38/92, NVwZ 1993, 686 (687); Bes. v. 09.06.1993 – 6 B 35/92, NJW 1993, 3340 (3343); Bes. v. 30.01.1995 – 6 C 1/92, NVwZ 1995, 788 (789); Bes. v. 06.03.1995 – 6 B 81/94, Buchholz 310 § 86 Abs. 1 VwGO Nr. 265, 8 (9); Bes. v. 19.12.1996 – 6 B 95/96, juris, Rn. 2; Bes. v. 21.07.1998 – 6 B 44/98, NVwZ 1999, 187 (187); Bes. v. 18.02.2008 – 6 B 70/08, juris, Rn. 14. 319 Vgl. BVerwG, Bes. v. 21.07.1998 – 6 B 44/98, NVwZ 1999, 187 (187). 320 Vgl. BVerwG, Bes. v. 21.07.1998 – 6 B 44/98, NVwZ 1999, 187 (187). 321 BVerwG, Bes. v. 30.01.1995 – 6 C 1/92, NVwZ 1995, 788 (789); Bes. v. 21.07.1988 – 6 B 44/98, NVwZ 1999, 187 (188); kritisch insoweit Zimmerling/ Brehm, Der Prüfungsprozess, Rn. 173.
D. Gerichtlicher Entscheidungsfindungsprozess643
fischen Vertretbarkeitskontrolle in der Praxis die absolute Ausnahme dar. Unabhängig davon, ob sich das Gericht dieser, einer anderen oder keiner weiteren Erkenntnisquelle bedient, stellt sich die Überprüfung der Berechti‑ gung der fachspezifischen Einwände des Prüflings zwar formell als Sach‑ verhaltswürdigung dar (§ 108 Satz 1 VwGO)322. Wenn allerdings die Ver‑ tretbarkeitskontrolle ohne Hinzuziehung eines Sachverständigen erfolgt, handelt es sich bei dieser bei juristischen Prüfungen materiell um Rechtsan‑ wendung und nichts anderes als das. Dass diese vom Gericht selbst vorge‑ nommen wird, liegt beinahe in der Natur der Sache, weshalb die Rechtspre‑ chung des Bundesverwaltungsgerichtes im Prinzip durchaus schlüssig er‑ scheint. Problematisch an dieser autonomen Vornahme der Vertretbarkeitskontrol‑ le durch das Gericht ist allerdings, dass diese sich nicht gerade förderlich auf die Objektivität der gerichtlichen Entscheidung auswirkt. Denn aufgrund der damit gebotenen intensiven Befassung des Gerichtes mit der Prüfungs‑ arbeit des Prüflings besteht die sich in der Praxis immer wieder verwirkli‑ chende Gefahr, dass die Richter diese (auch) nach ihren eigenen subjektiven Maßstäben bewerten und das Ergebnis dieser subjektiven Bewertung dann auch dasjenige der allein zulässigen und gebotenen Rechtskontrolle be‑ stimmt323. Dies gilt insbesondere dann, wenn die nach der Geschäftsvertei‑ lung zuständigen Richter selbst als Prüfer tätig sind. Es ginge sicher zu weit, dieser Gefahr dadurch zu begegnen, dass das Gericht für verpflichtet gehalten wird, stets ein Sachverständigengutachten zu den fachspezifischen Einwendungen des Prüflings einzuholen. Die am Verwaltungsgericht für das Prüfungsrecht zuständigen Richter sollten allerdings nicht zugleich als Prü‑ fer tätig sein, um möglichst wenig Zweifel an der Objektivität ihrer Ent‑ scheidung aufkommen zu lassen. Im Übrigen zeigt die Erfahrung, dass sich die Erfolgschancen des Prüflings wesentlich erhöhen, wenn er ein Privatgut‑ achten einholt und mit diesem seine Einwände substantiiert, weil das Ge‑ richt in diesem Fall üblicherweise eine weniger tiefgehende Prüfung und damit auch weniger intensive Eigenbewertung der Prüfungsleistung vor‑ nimmt324. Zudem hat ein Privatgutachten etwa eines Professors einen weitaus höheren Stellenwert als ein noch so fundierter Vortrag des Prüflings. Daher werden die dort getroffenen Feststellungen im Regelfall übernom‑ 322 Vgl. BVerwG, Bes. v. 21.07.1998 – 6 B 44/98, NVwZ 1999, 187 (187); OVG Bremen, Bes. v. 06.03.2009 – 1 S 497/08, juris, Rn. 7; anders wohl HessVGH, Bes. v. 14.02.2013 – 9 D 2354/12, juris, Rn. 2 ff. 323 Vgl. in diesem Zusammenhang auch Herzog, NJW 1992, 2601 (2604) zum enger interpretierten Bewertungsspielraum der Prüfer bei juristischen Prüfungen und der vermeintlichen eigenen Sachkunde des Gerichts. 324 Siehe in diesem Kontext Zimmerling/Brehm, Der Prüfungsprozess, Rn. 171 m. Fn. 519.
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men, auch weil das Gericht den erhöhten argumentativen Aufwand scheut, um sich über diese hinwegzusetzen. 3. Sachverhalts- und Beweiswürdigung Grundsätzlich muss das Gericht von dem positiven Vorliegen eines (fach‑ spezifischen) Bewertungsfehlers überzeugt sein und es geht aufgrund der beim Prüfling liegenden materiellen Beweislast zu seinen Lasten, wenn die Rechtsfehlerhaftigkeit der Bewertung nur nicht ausgeschlossen werden kann. Etwas anderes gilt aber dann, wenn die Unaufklärbarkeit des Prüfungsgesche‑ hens auf einer Pflichtverletzung des Prüfungsamtes beruht. So kommt wie gesehen bei mündlichen Prüfungen eine Beweislastumkehr zum prozessualen Nachteil des Prüfungsamtes in Betracht, wenn dieses pflichtwidrig nicht die erforderlichen organisatorischen Maßnahmen ergriffen hat, um den Gegen‑ stand der Prüfung(sleistung) und deren Bewertung bei (zeitnahen) Einwänden des Prüflings noch einigermaßen zuverlässig rekonstruieren zu können325. Der VGH Mannheim hält bei einer überdurchschnittlichen Durchfallquote an einem bestimmten Prüfungsort bzw. einem bestimmten „Prüferpärchen“ und dem Hinzutreten weiterer Umstände zu Recht die Annahme eines Be‑ weises des ersten Anscheins für das Vorliegen überspannter Prüfungsanfor‑ derungen und damit eines Verstoßes gegen den Grundsatz der Chancen‑ gleichheit für möglich326. Im Übrigen aber gibt es bei der Feststellung des Vorliegens eines (fachspezifischen) Bewertungsfehlers für den Anscheinsbe‑ weis keinen Anwendungsbereich. 4. Grenzen der Kausalitätsprüfung eines festgestellten Bewertungsfehlers Wenn nach der Würdigung des Sachverhalts und der damit einhergehen‑ den Rechtskontrolle das Vorliegen eines fachspezifischen oder sonstigen Bewertungsfehlers zur Überzeugung des Gerichtes feststeht, so ist zuguns‑ ten des Prüflings im Regelfall davon auszugehen, dass sich dieser auch auf die Gesamtbewertung nachteilig ausgewirkt hat. Dem Prüfling obliegt damit ebenso wenig wie bei dem Vorliegen eines Verfahrensfehlers ein Kausali‑ tätsnachweis327. Bei Lichte betrachtet stellt sich diese Vermutungsregel der 325 BVerwG, Urt. v. 06.09.1995 – 6 C 18/93, NJW 1996, 2670 (2674 f.), insoweit nicht abgedruckt in BVerwGE 99, 185 ff.; OVG NRW, Urt. v. 27.08.2001 – 14 A 48/13/96, NVwZ-RR 2002, 193 (196); FG Hannover, Urt. v. 15.12.2011 – 6 K 59/11, EFG 2012, 1090 (1095), Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 869. 326 VGH Mannheim, Urt. v. 10.11.2010 – 9 591/10, VBlBW 2011, 189 (190). 327 Vgl. BVerwGE 70, 143 (147 f.).
E. Möglichkeiten der Prozessbeendigung645
Erheblichkeit der erwiesenen materiellen Bewertungsfehler für das Ergebnis des Abwägungsprozesses weniger als das Ergebnis der im Lichte der Art. 12 Abs. 1 Satz 1, 19 Abs. 4 Satz 1 GG getroffenen Verteilung der materiellen Beweislast328, sondern eher als Anwendungsfall des Anscheinsbeweises dar, wonach im gegebenen Kontext wie bereits oben dargelegt jedenfalls bei rechtsfehlerhaften Korrekturbemerkungen im Prüfervotum (und nicht nur in einer Randbemerkung) im Regelfall von deren Ergebnisrelevanz ausgegan‑ gen werden kann. Dies gilt jedenfalls dann, wenn man – wie hier – die Beweisregel des Anscheinsbeweises dogmatisch als Beweiserleichterung und nicht als Beweislastumkehr einordnet. Letztlich stellt sich die Regelannahme der Ergebnisrelevanz eines festge‑ stellten bzw. bewiesenen Bewertungsfehlers aber gar nicht als eine (verfas‑ sungsrechtlich geprägte) prozessuale Regel dar, sondern schlicht als die notwendige Konsequenz der infolge des Fehlens hinreichender Kontroll‑ maßstäbe beschränkten materiell-rechtlichen Überprüfungsbefugnis des Ge‑ richtes und des daraus resultierenden Bewertungsspielraums des Prüfers. In diesen darf das Gericht mit seinen Kausalitätsbetrachtungen weder zuguns‑ ten noch zulasten des Prüflings eindringen, ebenso wie der Prüfling selbst und das Prüfungsamt bei entsprechenden eigenen Überlegungen zur Respek‑ tierung der Prüferprärogative verpflichtet sind329. Es ist den Richtern am Verwaltungsgericht insbesondere verwehrt, anstelle des von dem Prüfer zu Unrecht monierten Fehlers in Bezug auf dieselbe oder eine andere Teilleis‑ tung einen anderen gleichgewichtigen oder noch schwerer wiegenden Man‑ gel festzustellen, um mit diesem die Kausalität des von dem Prüfling gerüg‑ ten Korrekturfehlers zu verneinen und die Bewertung als „im Ergebnis richtig“ aufrechtzuerhalten330. Das Gericht darf vielmehr die Erheblichkeit eines Korrekturfehlers nur innerhalb der bereits aufgezeigten Grenzen der objektiven Überprüfbarkeit seiner Ergebnisursächlichkeit ausschließen bzw. feststellen.
E. Möglichkeiten der Prozessbeendigung Sobald das Gericht seine Überzeugungsbildung (weitgehend) abgeschlos‑ sen und den Beteiligten entweder schon schriftsätzlich oder in der mündli‑ chen Verhandlung seine (vorläufige) Rechtsauffassung hinsichtlich der Er‑ folgsaussichten der vom Prüfling erhobenen Klage und damit auch der 328 So
aber BVerwGE 70, 143 (147 f.). 105, 328 (333); BVerwG, 27.04.1999 – 2 C 30.98, NVwZ 2000, 921 (922); Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 887. 330 Vgl. BVerwGE 105, 328 (333 f.); BVerwG, Urt. v. 27.04.1999 – 2 C 30.98, NVwZ 2000, 921 (922); Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 887. 329 BVerwGE
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Rechtsverteidigung des Prüfungsamtes unterbreitet hat, ergeben sich je nach dem Inhalt der gerichtlichen Einschätzung bzw. Anregung (für den Prüfling) verschiedene Möglichkeiten der Prozessbeendigung.
I. Überblick Sofern das Gericht die Klage aus Gründen, die für den Prüfling nachvoll‑ ziehbar sind, für offensichtlich nicht (mehr) begründet hält und / oder er auf‑ grund eines außerprozessualen Ereignisses an der Rechtsverfolgung kein In‑ teresse mehr hat, erfordert die wohlverstandene Wahrnehmung seiner prozes‑ sualen Handlungslasten die Rücknahme der Klage oder die Abgabe einer im Regelfall gleichfalls prozessbeendenden (Hauptsache‑)Erledigungserklärung. Bei einem nach der Beurteilung durch das Gericht offenen Prozessaus‑ gang steht nicht selten der Vorschlag einer gütlichen Beilegung des Rechts‑ streits durch einen Vergleich im Raum. Ob der Prüfling diesem zustimmt oder die streitige Entscheidung des Prüfungsrechtsstreits durch Urteil vor‑ zieht, hängt von einer durch die Umstände des Einzelfalls bestimmten Risi‑ ko-Nutzen-Abwägung ab.
II. Gerichtlicher Entscheidungsrahmen bei einer Prozessbeendigung durch Urteil Wie sich der Prüfling auch entscheidet, so ist das Gericht in jedem Fall sowohl bei einer Entscheidung des Rechtsstreits durch Urteil als auch – und noch mehr – bei einer Prozessbeendigung durch Vergleich an den im Rah‑ men der Dispositionsmaxime (§ 88 VwGO) zum Ausdruck gebrachten Willen des Prüflings und des Prüfungsamtes gebunden. 1. Bindung des Gerichtes an das Klagebegehren im Allgemeinen Nach § 88 Hs. 1 VwGO darf das Gericht über das Klagebegehren nicht hinausgehen, ist aber an die Fassung der Anträge nicht gebunden. Aus die‑ ser prozessrechtlichen Bestimmung wird allgemein gefolgert, dass das Ge‑ richt dem Kläger nicht mehr oder etwas anderes als mit dem bei verständi‑ ger Würdigung seines Begehrens gestellten Antrag zusprechen darf331. Für 331 Kopp/Schenke, VwGO, § 88, Rn. 1; Ortloff/Riese, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, § 88, Rn. 10, die allerdings nicht überzeugend auch das Zusprechen eines Weniger als unzulässig ansehen; richtig dagegen Kopp/Schenke, aaO, wonach dies zulässig ist, wenn die Klage nur teilweise zulässig oder begründet ist.
E. Möglichkeiten der Prozessbeendigung647
den Prüfling ist diese Bindung des Gerichtes an das in seinem Gesamtvor‑ bringen zum Ausdruck kommende Rechtsschutzziel zunächst insoweit von Bedeutung, als das Gericht bei einer vom Prüfling lediglich erstrebten Neubewertung stattdessen nicht ohne Weiteres eine Verpflichtung des Prü‑ fungsamtes zur Ermöglichung der Neuerbringung der Prüfungsleistung aussprechen und bei einer allein gewollten Neuerbringung der Prüfungsleis‑ tung nicht ohne Weiteres stattdessen eine Neubewertung ausurteilen darf. § 88 VwGO ist damit für die materielle Beurteilung des Streitstoffes inso‑ fern von Bedeutung, als (offensichtliche) Verfahrens- und Bewertungsfehler nicht von Amts wegen entgegen dem prozessualen Begehren des Prüflings berücksichtigt werden dürfen. Dies bedeutet etwa auch, dass das Gericht selbst dann nicht entgegen dem Willen des Klägers die Neubewertung oder Neuabnahme der (Teil‑)Prüfungsleistungen durch andere als die bisherigen Prüfer anordnen darf, wenn diese nach der Überzeugung des Gerichtes als befangen anzusehen sind332. 2. Prozessuale Bindungswirkung eines Notenverbesserungsbegehrens im Besonderen Über die vorstehenden Anwendungsfelder hinaus wird § 88 VwGO auch Bedeutung für den Fall beigemessen, dass das erkennbare Klageziel des Prüflings allein auf eine Verbesserung seiner bislang erzielten Abschlussno‑ te gerichtet ist („Verbesserungsklage“). Diesbezüglich wird sowohl in der Rechtsprechung als auch in der Literatur übereinstimmend davon ausgegan‑ gen, dass der Prüfling einer theoretisch denkbaren Verschlechterung des bisherigen Gesamtprüfungsergebnisses jedenfalls im Falle der Neubewer‑ tung einzelner Teilprüfungsleistungen praktisch dadurch begegnen könne, dass er eine Neubescheidung nur in dem Umfang einer von ihm verfehlten besseren Gesamtbewertung und eine entsprechend begrenzte Aufhebung der Prüfungsentscheidung beantragt333. An einen solchen Antrag sei das Ge‑ richt gebunden, so dass der Prüfling nur das Risiko einer Klageabweisung, 332 Siehe in diesem Zusammenhang OVG Berlin-Brandenburg, Bes. v. 27.11.2013 – OVG 7 N 18.13, juris, Rn. 4, das keine Bedenken gegen eine Berück‑ sichtigung der Befangenheit von Amts wegen bei einem einer Anfechtungsklage stattgebenden Urteil hat. Dies erscheint im Hinblick darauf bedenklich, dass deshalb das Prüfungsamt unter Umständen entgegen dem Willen des Prüflings die Neube‑ wertung durch andere Prüfer anordnen wird, siehe dazu auch OVG Berlin-Branden‑ burg, aaO, Rn. 5. 333 Siehe insbesondere Schlette, DÖV 2002, 816 (817 f.); ihm folgend Niehues/ Fischer/Jeremias, Rn. 829 m. Fn. 74, Rn. 696; OVG Münster, Urt. v. 16.07.1992 – 22 A 2549/9, NVwZ 1993, 95 (95); VG Dresden, Urt. v. 07.11.2007 – 5 K 2149/03, juris, Rn. 59; VG München, Urt. v. 17.12.2007 – M 3 K 07.4727, juris, Rn. 24.
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nicht aber einer Notenverschlechterung trage334. Gleichfalls wird auch für den Fall einer angestrebten (Teil‑)Wiederholung der Prüfung teilweise ange‑ nommen, dass der Prüfling bei einem entsprechend beschränkten Antrag ebenso gegen eine Verschlechterung seines bisherigen Prüfungsergebnisses geschützt sei335. Gegen die damit zum Ausdruck gebrachte Annahme, dass eine Notenver‑ schlechterung bereits aus prozessualen Gründen ausgeschlossen sein kann, ist im Ergebnis nichts zu erinnern. Die vorstehend referierten Ausführungen sind aber insoweit schief, als sich die Bindung des Gerichtes an die vom Prüfling gestellten Anträge angesichts des klaren Norminhalts von § 88 VwGO und den soeben erfolgten Ausführungen als prozessrechtliche Banalität darstellt und das Gericht selbst aufgrund der fehlenden Befugnis zur Selbstbewertung der streitgegenständlichen Teilprüfungsleistungen und erst Recht zu deren Neuabnahme eine Verschlechterung des Prüfungsgesamtergebnisses über‑ haupt gar nicht herbeiführen kann. Entscheidend ist vielmehr die Frage, ob der Prüfling durch die Stellung eines bloßen Notenverbesserungsantrags eine Bindung des Prüfungsamtes an das bislang erreichte Prüfungsgesamtergebnis und eine dementsprechende Beschränkung im Rahmen der Erfüllung des Neubescheidungsanspruchs erreichen kann. Deren Beantwortung hängt von der materiell-rechtlichen Regelungswirkung des eine bestimmte Prüfungsge‑ samtnote ausweisenden Prüfungs- / Bestehensbescheides und dem diesbezüg‑ lich eingenommenen Rechtsstandpunkt ab. Geht man wie vorliegend davon aus, dass die Ausweisung einer Prüfungsgesamtnote in einem Bestehensbe‑ scheid regelnden Charakter und damit Verwaltungsaktqualität hat, kann rechtskonstruktiv weiter angenommen werden, dass mit der Feststellung des Bestehens der Prüfung mit einer bestimmten Note zugleich die Feststellung getroffen wird, dass der Prüfling auf der Grundlage seiner Einzelergebnisse kein besseres Gesamtergebnis als eben dieses erreicht hat. Diese Erkenntnis eröffnet dem Prüfling dann in der Tat die Möglichkeit, sich nur gegen den ihn beschwerenden impliziten Feststellungsteil der Ver‑ fehlung eines noch besseren Gesamtergebnisses zu wenden und den ihn begünstigenden Feststellungsteil des Bestehens der Prüfung mit der im Bescheid ausgewiesenen Note von vornherein aus dem Prüfungsrechtsstreit auszuklammern und in Bestandskraft erwachsen zu erlassen336. Dies gilt aber richtigerweise nur dann, wenn der Prüfling nicht die Grundlagen des bisher erreichten Prüfungsergebnisses infrage stellt, indem er seinen auf eine Notenverbesserung begrenzten Neubescheidungsantrag auf die Rechts‑ 334 Niehues/Fischer/Jeremias,
Rn. 696; Schlette, DÖV 2002, 817 (818). DÖV 2002, 816 (817 f.); anders Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 696. 336 Im Ergebnis ebenso Schlette, DÖV 2002, 817 (818); Löwer/Linke, WissR 1997, 129 (155); Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 829, 696. 335 Schlette,
E. Möglichkeiten der Prozessbeendigung649
fehlerhaftigkeit des Leistungsermittlungsverfahrens bei einzelnen Teilprü‑ fungsleistungen und einen daraus resultierenden Neuerbringungsanspruch stützt337. Denn in diesem Fall bleibt wegen der vom Prüfling notwendiger‑ weise erstrebten Annullierung der Teilprüfungsleistung für die Annahme der Bestandskraft der bislang erzielten Note kein Raum338. Damit ist aber nicht gesagt, dass eine Verschlechterung des Prüfungsergebnisses im Falle einer Wiederholungsprüfung ohne Weiteres zulässig ist. So hält Schlette nicht nur aus prozessualen Gründen, sondern auch aus verfassungsrechtlichen Erwä‑ gungen namentlich unter dem Gesichtspunkt der Chancengleichheit die Annahme eines Verschlechterungsverbots für geboten339. Niehues / Fischer / Jeremias verweisen demgegenüber lapidar darauf, dass der Prüfling es doch in der Hand habe, welchen Antrag er im gerichtlichen Verfahren stellt, und er um das Risiko der Bewertungsgrundlage im Falle einer Teil‑ wiederholung der Prüfung wisse340. Diese Sichtweise greift ersichtlich zu kurz und erscheint mit den Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG, 19 Abs. 4 Satz 1 GG jedenfalls dann unvereinbar, wenn aus der Sphäre des Prüfungsamtes stam‑ mende, nicht behobene Mängel des Prüfungsverfahrens oder unbeseitigte äußere Störungen des Prüfungsablaufs, die offensichtlich oder vom Prüfling gerügt worden waren, den Anspruch auf Wiederholung der Teilprüfungsleis‑ tungen auslösen. Die Chancengleichheit des fehlerbelasteten Prüflings mit denjenigen Kandidaten, die ihre Prüfungsleistungen unbeeinträchtigt erbrin‑ gen konnten, wäre nicht annähernd wiederhergestellt, wenn der erfolgreiche Kläger befürchten müsste, dass sich durch die Wahrnehmung des erstrittenen Wiederholungsversuchs sein Prüfungsergebnis sogar mit der möglichen Folge des Nichtbestehens verschlechtern könnte341. Die vom Prüfungsamt zu verantwortenden Verfahrensmängel, die möglicherweise ein besseres Prüfungsergebnis im ersten Versuch verhindert haben und die durch den Wiederholungsversuch kompensiert werden sollen, würden bei einer als zulässig angesehenen Verschlechterung die Rechtsverletzung des fehlerbe‑ lasteten Prüflings im Ergebnis sogar noch vertiefen. Dieses Ergebnis wäre umso weniger einsichtig, als der Prüfling im ersten Versuch trotz der Wid‑ rigkeiten die Prüfungsanforderungen bewältigt hat342. Im Übrigen ist zu bedenken, dass selbst bei der hier für erforderlich gehaltenen Annahme ei‑ nes Verschlechterungsverbots bei einer notwendigen Wiederholungsprüfung die Chancengleichheit des fehlerbelasteten Prüflings mit den unbeeinträch‑ 337 So
(817).
auch Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 697; a. A. Schlette, DÖV 2002, 816
Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 697. DÖV 2002, 816 (818 f.). 340 Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 697. 341 Ähnlich Schlette, DÖV 2002, 816 (819). 342 Ähnlich Schlette, DÖV 2002, 816 (818). 338 Vgl.
339 Schlette,
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Kap. 8: Verwaltungsprozessuale Rechtsschutzmöglichkeiten
tigten Kandidaten nur annähernd wiederhergestellt werden kann, da insbe‑ sondere die Prüfungsaufgaben und die Prüfer nicht identisch sind. Und auch mit Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG ist es nicht in Einklang zu bringen, wenn die Wahrnehmung der formal eröffneten und verfassungsrechtlich garantierten (effektiven) Rechtsschutzmöglichkeit für den Prüfling auch eine Verschlech‑ terung seines Prüfungsergebnisses mit sich bringen könnte343. Anders liegt der Fall aber, wenn der Prüfling wegen gesundheitlicher Män‑ gel seinen Rücktritt von der Prüfung erklärt oder eine gleichwertige Erklä‑ rung abgegeben hatte und die damit in der Sache geltend gemachte Beein‑ trächtigung zunächst nicht anerkannt worden war. In diesem Fall hat sich der Prüfling ganz bewusst dafür entschieden, die vermeintlich durch die krank‑ heitsbedingte Indisposition geprägte (Teil‑)Prüfungsleistung nicht gegen sich gelten zu lassen. Wenn es ihm nun gelungen ist, deren Annullierung und Neuerbringung gerichtlich durchzusetzen, muss er sich selbstverständlich an seiner rechtsgestaltenden Erklärung festhalten und deren Rechtsfolgen im weiteren Sinne gegen sich gelten lassen. Im Ergebnis kann damit festgehalten werden, dass der Prüfling nach hier vertretener Auffassung im Falle einer angestrebten (Teil‑)Wiederholung der Prüfung einer möglichen Verschlechte‑ rung des Prüfungsergebnisses nicht mit prozessualen Mitteln begegnen kann, er aber gegen diese materiell-rechtlich geschützt ist, sofern er nur in den Ver‑ antwortungsbereich des Prüfungsamtes fallende Mängel gerügt und keine rechtsgestaltende (Rücktritts‑)Erklärung abgegeben hatte. 3. Abarbeitung des Klagebegehrens und möglicher Urteilsinhalt Die Bedeutung des § 88 VwGO erschöpft sich nicht in einer Begrenzung der gerichtlichen Entscheidungsbefugnisse im Umfang der vorstehenden Erörterungen, sondern begründet umgekehrt auch eine Verpflichtung des Gerichtes, das zutreffend ermittelte Klagebegehren vollständig auf seine prozessuale und materielle Erfüllbarkeit zu untersuchen344. So darf das Ge‑ richt insbesondere ein etwaiges hilfsweises Begehren des Prüflings auf (Teil‑)Wiederholung neben dem im Hauptantrag gestellten Neubewertungs‑ antrag nicht außer Acht lassen. Innerhalb des somit durch das jeweilige Sachbegehren des Klägers abge‑ steckten Entscheidungsrahmens kann und muss das Gericht am Ende des Entscheidungsfindungsprozesses bei entsprechender materieller Rechtslage im Falle einer (isolierten) Anfechtungsklage den Prüfungsbescheid (nur) aufheben oder bei einer zusätzlich erhobenen allgemeinen Leistungsklage 343 Schlette, 344 Vgl.
DÖV 2002, 816 (818). Kopp/Schenke, VwGO, § 88, Rn. 3.
E. Möglichkeiten der Prozessbeendigung651
das Prüfungsamt zur Fortsetzung bzw. (Teil‑)Wiederholung des Prüfungs‑ verfahrens durch (Neu‑)Erbringung (noch ausstehender) Teilprüfungsleistun‑ gen und / oder deren Neubewertung verpflichten. Sofern (allein) die Ver‑ pflichtungsklage die statthafte Klageart ist, lautet die Urteilsformel auf Neubescheidung des Klägers unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichtes, wobei diese bereits im Tenor durch die Anordnung der Neuer‑ bringung und / oder Neubewertung von (Teil‑)Prüfungsleistungen zum Aus‑ druck gebracht oder in den Entscheidungsgründen dargelegt werden kann. Teil dieser dargelegten Rechtsauffassung kann auch die Ansicht des Gerich‑ tes sein, dass die Neubewertung wegen der Befangenheit der ursprünglichen Prüfer durch andere Korrektoren erfolgen muss. Die Befangenheitsgründe sind dieselben, die wie dargestellt bereits im Überdenkungsverfahren einen Prüferaustausch erforderlich machen können. Bei der Beurteilung der Be‑ fangenheit muss aber auch der diesbezügliche Aussagewert von ggf. anläss‑ lich des Gerichtsverfahrens noch ergänzend eingeholten Stellungnahmen der Prüfer berücksichtigt werden, die Zweifel an der Unvoreingenommenheit der Prüfer sowohl stärken als auch ausräumen können.
III. Prozessvergleich und möglicher Inhalt Bei entsprechender Bereitschaft der Beteiligten kann ein Prüfungsrechts‑ streit auch durch den Abschluss eines Vergleichs beendet werden, bei dem indes namentlich die durch § 106 VwGO gezogene Grenze zu beachten ist, wonach der Vergleichsgegenstand der Verfügungsbefugnis der Beteiligten unterliegen muss. Diese Beschränkung wird allgemein dahin verstanden, dass der Vergleich keine Regelungen enthalten darf, die gegen zwingende gesetzliche Vorschriften oder allgemein anerkannte Grundsätze des öffentli‑ chen Rechts verstoßen345. Dies bedeutet konkret, dass sich das Prüfungsamt aufgrund des Bewertungsspielraums des Prüfers insbesondere nicht dazu verpflichten kann, für die von ihm bewertete Prüfungsleistung eine bessere Note zu geben. An ein entsprechendes Protokollierungsbegehren der Betei‑ ligten ist das Gericht daher nicht gebunden, weil der Prozessvergleich kei‑ nen rechtswidrigen Inhalt haben darf.
IV. (Bindungs‑)Wirkung von Urteil und Vergleich Für den Prüfling von größerer Bedeutung als die Frage der Bindung des Gerichtes an die gestellten Anträge ist diejenige, in welchem Umfang sich die Beteiligten auf die in einem Urteil getroffenen Feststellungen bzw. die 345 Siehe allgemein Kopp/Schenke VwGO, § 106, Rn. 12; im Besonderen Zimmerling/Brehm, Der Prüfungsprozess, Rn. 296; Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 917 f.
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Kap. 8: Verwaltungsprozessuale Rechtsschutzmöglichkeiten
in einem Prozessvergleich getroffenen Regelungen berufen können bzw. dadurch rechtliche Bindungen in ihrem Verhältnis eingetreten sind. Ange‑ sprochen damit ist die zum Teil bereits erörterte materielle Rechtskraftwir‑ kung eines Urteils bzw. Prozessvergleichs. Nach § 121 Nr. 1 VwGO bin‑ den rechtskräftige Urteile die Beteiligten, soweit über den Streitgegenstand entschieden worden ist. An der Rechtskraftwirkung des Urteils partizipie‑ ren wie ausgeführt neben der Urteilsformel auch die Urteilsgründe346. Dies hat Bedeutung insbesondere für den Umfang der materiellen Rechtskraft‑ wirkung eines Bescheidungsurteils347. Dabei sind hier maßgeblich nicht allein die Gründe, die das Gericht (nicht) zur Aufhebung der Prüfungsent‑ scheidung bewogen haben, sondern welche Rechtsauffassung es dem Prü‑ fungsamt zur verbindlichen Beachtung bei Erlass eines neuen Prüfungsbe‑ scheides vorgegeben oder gerade nicht vorgeschrieben hat348. Mit anderen Worten hängt die Bindungswirkung eines Bescheidungsurteils davon ab, in welchem Umfang die Beteiligten mit ihrer Rechtsaufassung zum (Nicht‑) Vorliegen von Verfahrens- und Bewertungsfehlern durchgedrungen sind349. Aber auch im Falle des einer Anfechtungsklage stattgebenden Urteils ist das Prüfungsamt (nur) in dem Umfang der tragenden Aufhebungsgründe und der sich daraus ergebenden Bindungswirkung daran gehindert, einen Prüfungsbescheid desselben Inhalts zu erlassen350. Insoweit kommt dem Prüfling der Kassationsausspruch des Gerichtes dann aber auch zu Gute. Auch bei einer allgemeinen Leistungsklage erstreckt sich die Rechtskraft‑ wirkung auf die begünstigende Urteilsformel und deren tragende Begrün‑ dung351. 346 Siehe
(407).
hier nur BVerwG, Urt. v. 03.12.1981 – 7 30, 31/80, NJW 1983, 407
347 Vgl. BVerwG, Urt. v. 03.12.1981 – 7 30, 31/80, NJW 1983, 407 (407); Urt. v. 27.01.1995 – 8 C 8/93, NJW 1996, 737 (738). 348 Vgl. BVerwG, Urt. v. 03.12.1981 – 7 C 30, 31/80, NJW 1983, 407 (407); Bes. v. 22.04.1987 – 7 B 76/87, Buchholz 310 § 121 VwGO Nr. 54, 1 (2); Urt. v. 27.01.1995 – 8 C 8/93, NJW 1996, 737 (738); Bes. v. 24.10.2006 – 6 B 47/06, NVwZ 2007, 104 (106); die Rechtsprechung des BVerwG referierend und dieser zustimmend VG Schwerin, Urt. v. 22.03.2007 – 3 A 137/06, juris, Rn. 31 ff.; siehe auch VG Hannover, Urt. v. 29.05.2002 – 6 A 181/02, juris, Rn. 65; OVG BerlinBrandenburg, Bes. v. 08.01.2010 – 10 N 86.08, juris, Rn. 4; HessVGH, Urt. v. 26.05.2010 – 8 A 1595/09, LKRZ 2010, 342 (343); OVG Berlin-Brandenburg, Bes. v. 27.11.2013 – OVG 7 N 18.13, juris, Rn. 3; Kopp/Schenke, VwGO, § 121, Rn. 21 a; Clausing, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, § 121, Rn. 85. 349 Vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Bes. v. 08.01.2010 – 10 N 86.08, juris, Rn. 5. 350 Vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Bes. v. 08.01.2010 – 10 N 86.08, juris, Rn. 5. 351 Siehe etwa allgemein BVerwG, Urt. v. 03.12.1981 – 7 V 30, 31/80, NJW 1983, 407 (407).
E. Möglichkeiten der Prozessbeendigung653
Sofern das Gericht der Klage des Prüflings (nur) wegen eines festgestell‑ ten Verfahrensfehlers stattgibt, beschränkt sich die materielle Rechtskraft‑ wirkung des Urteils darauf, dass der beanstandete Rechtsfehler im Prozess der Leistungsermittlung im Rahmen der (Teil‑) Wiederholung nicht erneut auftreten darf. Dies ist aus tatsächlichen Gründen sehr unwahrscheinlich und theoretisch denkbar nur bei dem erneuten Einsatz eines für befangen erklärten Prüfers oder der abermaligen Abprüfung des für unzulässig erklär‑ ten Prüfungsstoffes. Von wesentlicher praktischer Bedeutung für den Prüfling ist demgegen‑ über das Ausmaß der Bindung des Prüfers bei einer vom Gericht entweder schon im Urteilstenor oder in den Entscheidungsgründen für materiellrechtlich geboten erklärten Neubewertung einer (Teil‑) Prüfungsleistung. Bereits kraft der Rechtskraftwirkung des Urteils (§ 121 Nr. 1 VwGO) ist hier die Neubewertungsberechtigung und -verpflichtung des Prüfers auf eine neue Gesamtabwägung der Prüfungsleistung nach Eliminierung der vom Gericht beanstandeten Bewertungsfehler begrenzt352. Dem Prüfer ist es also ebenso wie im Rahmen des Überdenkungsverfahrens verwehrt, die Prüfungsleistung von Grund auf in fachspezifischer Hinsicht neu zu bewer‑ ten und die in Erfüllung des gerichtlichen Urteils notwendige Rücknahme von Kritikpunkten durch neue Beanstandungen soweit zu kompensieren, dass das Ergebnis der Gesamtabwägung und damit die Bewertung letztlich doch unverändert bleibt. Mit anderen Worten ist die Kompetenz des Prüfers zur Überprüfung der Bewertung ebenso wie im Überdenkungsverfahren auch bei einer durch das Gericht angeordneten Neubewertung auf den durch die vom Gericht als berechtigt anerkannten Bewertungsrügen des Prüflings abgesteckten Rahmen begrenzt. Dem Prüfer ist daher namentlich die Aufrechterhaltung der ursprünglichen Bewertung mit neuer „Gelegen‑ heitskritik“ verwehrt; andererseits darf er aber eine wegen eines ihm unter‑ laufenen Bewertungsfehlers bislang noch nicht in den Blick genommene Passage in der Klausur bei vorliegenden fachspezifischen Mängeln (erstma‑ lig) negativ bewerten und deswegen an seiner ursprünglichen Bewertung festhalten oder sogar eine noch ungünstigere Note vergeben353. Bei einer Notenverbesserungsklage kann sich der Prüfling aber wie ausgeführt durch einen entsprechend beschränkten Antrag gegen eine tatsächliche Verschlech‑ terung des Prüfungsergebnisses schützen. Die Bindungswirkung des ge‑ richtlichen Urteils schützt den Prüfling aber nicht davor, dass der Prüfer zwar im Rahmen der Neubewertung die Rechtsauffassung des Gerichtes umsetzt, eine Notenverbesserung aber dadurch ausschließt, dass er seine 352 VG München, Urt. v. 12.07.2005 – M 4 K 04.4143, juris, Rn. 25; Niehues/ Fischer/Jeremias, Rn. 693. 353 Vgl. Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 694.
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Kap. 8: Verwaltungsprozessuale Rechtsschutzmöglichkeiten
prüfungsspezifischen Abwägungskriterien und also zulasten des Prüfling sein ursprünglich zugrunde gelegtes Bewertungssystem ändert. Einem der‑ artigen Unterlaufen der Bindungswirkung des Urteils steht aber in materiellrechtlicher Hinsicht der Grundsatz der Chancengleichheit entgegen, kraft dessen der Prüfling dieselbe Anwendung des prüfungsspezifischen Bewer‑ tungsmaßstabs wie bei allen Kandidaten im Rahmen der Erstbewertung beanspruchen kann354. Eine zugunsten des Prüflings notwendige Korrektur einer früheren nachteiligen Bewertung darf nicht durch neue nachteilige Einzelbewertungen zunichte gemacht werden, die ersichtlich nur erfolgen, um eine Verbesserung der Bewertung auszuschließen355. Das materiellrechtliche Verschlechterungsverbot im Rahmen einer erforderlichen Neube‑ wertung entspricht in seinen dogmatischen Grundlagen und seiner Reich‑ weite demjenigen im Zuge eines Überdenkungsverfahrens, so dass hinsicht‑ lich der weiteren Einzelheiten auf die dortigen Ausführungen verwiesen werden kann. Es gilt im Übrigen auch, soweit das Gericht aufgrund einer durchgreifen‑ den Befangenheitsrüge die Neubewertung der Prüfungsleistung durch ande‑ re Prüfer angeordnet hat. Zwar müssen die neuen Prüfer nach der Recht‑ sprechung des Bundesverwaltungsgerichtes eine von Grund auf neue Be‑ wertung vornehmen356. Gleichwohl soll es ihnen verwehrt sein, zum Nachteil des Prüflings von der ursprünglichen Bewertung abzuweichen, weil es mit dem Grundsatz der Chancengleichheit als unvereinbar angese‑ hen wird, wenn wegen des gebotenen Ausscheidens des bisherigen Prüfers dem Prüfling wegen eines anderen Bewertungssystems unter Umständen eine Verschlechterung droht357. Dieser Rechtsprechung kann hinsichtlich der Erstreckung des Verschlechterungsverbots auf die Neubewertung durch die neuen Prüfer vollumfänglich zugestimmt werden. Im Übrigen aber ist frag‑ lich, ob der Prüfling durch diese hinreichend geschützt ist. Denn Ziel einer Neubewertung einer Prüfungsleistung ist immer die Verbesserung der Be‑ wertung und nicht lediglich die Verhinderung einer Verschlechterung. Wenn der neue Prüfer berechtigt wäre, ein komplett neues Bewertungssystem zu‑ grunde zu legen, könnte er die durch die Umsetzung des gerichtlichen Ur‑ teils für den Prüfling günstigeren Einzelbewertungen dadurch wieder zu‑ 354 BVerwG, Urt. v. 24.02.1993 – 6 C38/92, NVwZ 1993, 686 (688); Bes. v. 11.06.1996 – 6 B 88/95, juris, Rn. 8; BVerwGE 109, 211 (216). 355 BVerwGE 109, 211 (218); VG München, Urt. v. 12.07.2005 – M 4 K 04.4143, juris, Rn. 26. 356 BVerwG, Urt. v. 24.02.1993 – 6 C 38/92, NVwZ 1986, 686 (688); VG Mün‑ chen, Urt. v. 12.07.2005 – M 4 K 04.4143, Rn. 26; VG Gelsenkirchen, Urt. v. 13.12.2012 – 18 K 2151/11, juris, Rn. 44. 357 BVerwG, Urt. v. 24.02.1993 – 6 C 38/92, NVwZ 1993, 686 (688); VG Mün‑ chen, Urt. v. 12.07.2005 – M 4 K 04.4143, juris, Rn. 26.
E. Möglichkeiten der Prozessbeendigung655
nichtemachen, dass er an anderer Stelle oder insgesamt – etwa hinsichtlich des Schwierigkeitsgrades der Aufgabenstellung – dem Prüfling ungünstigere Bewertungskriterien anlegt. Dadurch ist dann aber in vielen Fällen eine Verbesserung der Bewertung faktisch ausgeschlossen und die Chancen‑ gleichheit des in mehrfacher Hinsicht benachteiligten Kandidaten nicht an‑ nähernd wieder hergestellt. Nach hier vertretener Auffassung ist der neue Prüfer daher gehalten, im Rahmen der Ausübung der durch die Bindungs‑ wirkung des gerichtlichen Urteils ohnehin begrenzten Neubewertungskom‑ petenz sich soweit wie möglich an den Bewertungsmaßstäben des ursprüng‑ lichen Prüfers zu orientieren358 und dessen Bewertungssystem fortzuschrei‑ ben359. Diese Beschränkung der Neubewertungsbefugnis des neuen Prüfers scheint im Übrigen auch zur Wahrung der Chancengleichheit der anderen Prüflinge geboten, da es im Grundsatz auch vermieden werden muss, dass infolge des Prüferwechsel die Prüfungsleistung des Prüflings nach einem für ihn günstigeren Maßstab bewertet wird360. Das Verschlechterungsverbot drängt auch bei dem Abschluss eines Ver‑ gleichs und einer darin vereinbarten Neubewertung (durch andere Prüfer) und auch dann auf Verwirklichung, wenn dieses nicht ausdrücklich verein‑ bart worden ist. Auch wenn dessen Geltung nicht schon zwingend aus der in § 106 Satz 1 VwGO folgenden Verfügungsbeschränkung folgen mag, so spricht regelmäßig die verständige Würdigung des Begehrens des Prüflings für die konkludente Vereinbarung eines Verschlechterungsverbots, der mit einem Vergleich sicher nicht schlechter dastehen will als bei dem Erlass eines ihn begünstigenden Urteils361. Aus den vorstehenden Ausführungen zum Umfang der Rechtskraftwir‑ kung des dem Klageantrag stattgebenden Urteils folgt ohne Weiteres, dass insbesondere ein Bescheidungsurteil den im Prinzip erfolgreichen Prüfling auch beschweren kann. Dies ist nach dem Dargelegten und der Rechtspre‑ chung des Bundesverwaltungsgerichtes dann der Fall, wenn sich die vom Gericht für verbindlich erklärte Rechtsauffassung nicht mit derjenigen des Prüflings deckt und diese für ihn ungünstiger ist als seine eigene, so dass er bei einer Neubescheidung nach Maßgabe der Rechtsauffassung des Ge‑ 358 So für den Fall eines erforderlichen Überdenkens der Bewertung infolge der Befangenheit der ursprünglichen Prüfer zutreffend BayVGH, Urt. v. 22.10.1997 – 7 B 97, 1139, BeckRS 1997, 19450. 359 Siehe zur Formulierung und in der Sache die hier vertretene Auffassung ausdrücklich ablehnend VG Gelsenkirchen, Urt. v. 13.12.2012 – 18 K 2151/11, juris, Rn. 46. 360 Vgl. BayVGH, Urt. v. 22.10.1997 – 7 B 97.1139, BeckRS 1997, 19450. 361 Vgl. in diesem Kontext VG München, Urt. v. 17.12.2007 – M 3 K 07.4727, juris, Rn. 26.
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Kap. 8: Verwaltungsprozessuale Rechtsschutzmöglichkeiten
richtes mit einem entsprechend ungünstigeren Ausgang als bei Zugrunde‑ legung der von ihm für richtig gehaltenen rechnen muss362. Mit anderen Worten ist auch der erfolgreiche Kläger beschwert, soweit sich das Gericht mit seiner Rechtsauffassung zum Vorliegen von (weiteren) als den aner‑ kannten Verfahrens- und / oder Bewertungsfehlern in den Entscheidungs‑ gründen auseinandergesetzt hat und er mit dieser nicht durchgedrungen ist. Der Prüfling ist daher im Rahmen seiner prozessualen Handlungslasten gehalten, auch bei einem stattgebenden Bescheidungsurteil, das ausweislich des Tenors seinem Klagebegehren im vollen Umfang entspricht, die Ur‑ teilsgründe sorgsam daraufhin zu untersuchen, inwieweit die dargelegte Rechtsauffassung des Gerichtes hinter seinem Begehren zurückbleibt und, wenn er diese für unzutreffend hält, ggf. die ihm offenstehenden Rechts‑ mittel einzulegen363. Unterlässt er dies, so muss er in einem etwaigen Fol‑ geprozess, in dem um die Rechtmäßigkeit des nach einer gerichtlich durchgesetzten Neubewertung ergangenen Prüfungsbescheides gestritten wird, die in dem Vorprozess vom Gericht vertretene und in Rechtskraft erwachsene Rechtsauffassung gegen sich gelten lassen. Denn über den Wortlaut des § 121 Nr. 1 VwGO hinaus binden rechtskräftige Urteile nicht nur die Beteiligten, sondern auch die Gerichte in einem späteren Prozess der Beteiligten über denselben Streitgegenstand364. Die Rechtskraft schafft ein unabdingbares, in jeder Verfahrenslage von Amts wegen zu beachten‑ des Prozesshindernis für eine erneute gerichtliche Nachprüfung des An‑ spruchs, über den bereits entschieden wurde365. Obwohl – wie eingangs dieses Kapitels nochmals dargelegt – die Bewertung von Teilprüfungsleis‑ tungen nicht in Bestandskraft erwachsen kann, wenn der Prüfling im Vor‑ gehen gegen den Prüfungsbescheid gegen diese keine Einwendungen erho‑ ben hat, stehen diese doch unter Umständen unabänderlich fest, wenn der Prüfling die Rechtmäßigkeit der Bewertung von Teilprüfungsleistungen zur Diskussion gestellt und das Gericht die hierzu vom Prüfling vorgetragenen Argumente als nicht durchgreifend angesehen hat.
362 Vgl. BVerwG, Urt. v. 03.12.1981 – 7 C 30, 31/80, NJW 1983, 407 (407); Urt. v. 27.01.1995 – 6 C 8/93, NJW 1996, 737 (738); Bes. v. 24.10.2006 – 6 B 47/06, NVwZ 2007, 104 (106); referierend und beitretend VG Schwerin, Urt. v. 22.03.2007 – 3 A 137/06, juris, Rn. 33 ff.; siehe auch VG Hannover, Urt. v. 29.05.2002 – 6 A 181/02, juris, Rn. 65; OVG Berlin-Brandenburg, Bes. v. 08.01.2010 – OVG 10 N 86.08, juris, Rn. 4; Bes. v. 27.11.201 – OVG 7 N 18.13, juris, Rn. 3. 363 Vgl. Niehues/Fischer/Jeremias, Rn. 897. 364 Vgl. BVerwG, Urt. v. 27.01.1995 – 8 C 8/93, NJW 1996, 737 (737 f.); VG Schwerin, Urt. v. 22.03.2007 – 3 A 137/06, juris, Rn. 30 ff. 365 Vgl. BVerwG, Urt. v. 27.01.1995 – 8 C 8/93, NJW 1996, 737 (737 f.); VG Schwerin, Urt. v. 22.03.2007 – 3 A 137/06, juris, Rn. 30 ff.
E. Möglichkeiten der Prozessbeendigung657
Die vorstehend ausgehend von § 121 Nr. 1 VwGO dargestellten Grund‑ sätze zum Umfang der begünstigenden wie beschwerenden Rechtskraftwir‑ kung eines Urteils sind zwar auf einen Prozessvergleich, der keine gericht‑ liche Entscheidung darstellt, nicht ohne Weiteres anwendbar, können aber sinngemäß bei der Beantwortung der Frage herangezogen werden, inwieweit ein den Rechtsstreit beendender Prozessvergleich der erneuten gerichtlichen Geltendmachung der darin geregelten Streitfragen unter dem Gesichtspunkt des Rechtsmissbrauchs und des widersprüchlichen Verhaltens entgegen‑ steht366.
366 Vgl.
HessVGH, Urt. v 26.05.2010 – 8 A 1595/09, LKRZ 2010, 342 (343).
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Sachverzeichnis Abänderungsbefugnis(se) 543, 545–547 Abhilfe(maßnahmen) 164, 165, 206, 528 Abwägung 41, 168, 175, 179, 184, 191, 193, 195, 202, 210, 250, 283, 310, 313, 336, 340–353, 355–357, 361, 362, 366, 367, 370, 371, 373–376, 391, 397, 403–405, 407, 409, 411, 416, 417, 454, 455, 464, 468, 478, 480, 485, 488, 507, 522, 535, 552, 556, 573, 594, 595, 597, 646 –– rationale → Gebot der Rationalität Abwägungsausfall 348, 351, 353, 357, 362, 363, 404, 478 Abwägungsdefizit 348, 353, 363, 404, 478 Abwägungsdirektive(n) 349, 358, 365, 373–376, 393, 402, 403, 519, 575 Abwägungsdisproportionalität 348, 353, 366, 404 Abwägungsentscheidung 42, 309, 314, 343, 348–354, 362, 366, 370, 373, 376, 403–405, 410, 421, 451, 465, 471, 473, 477, 482, 485, 488, 495, 529, 532, 557, 573 Abwägungsergebnis 214, 272, 310, 315, 354, 366, 367, 409, 410, 485, 486, 488, 553, 554 Abwägungsfalsifikationsmaßstab 339 Abwägungsfalsifikationsmaßstab / -stäbe 371–374, 405, 406, 521, 567 Abwägungsfehleinschätzung 348, 353, 354, 366, 404 Abwägungsfehler 405, 409–412, 415, 420, 490, 638 Abwägungsfehler, Erheblichkeit von 409
Abwägungsfehlerlehre 348, 352–357, 359, 361, 363, 366, 367, 369–372, 404–406 Abwägungskontrolle 313, 341, 342, 345, 347–349, 354, 363, 364, 367, 370, 371, 373, 374, 405, 421 Abwägungskontrollmodell 346, 349, 358, 372 –– rationales 341 –– universales 350 Abwägungsmaterial 310, 313, 352, 374, 377, 402, 411, 412, 416, 468, 485, 542, 553 Abwägungsprozess 42, 309, 312–314, 335, 337, 341, 352–354, 357, 358, 360, 361, 368, 404–406, 409–411, 465, 471, 479, 480, 487, 553, 556, 645 Abwägungsrahmen 353, 373, 374, 403, 410, 495, 507, 527 Abwägungsspielraum 337, 342, 375, 421, 451, 568, 569, 574 Abwägungszuständigkeit 369 Akteneinsicht 50, 52, 425, 429, 451, 496, 618, 621, 623, 624, 627, 639 –– Anspruchsvoraussetzungen 436, 623 –– Art und Umfang der Gewährleistung 435 –– Gegenstand 440 –– Rechtsgrundlagen 52, 430, 623 Amtsaufklärungspflicht 568, 636, 641 Anfechtungsklage 559, 599, 601, 602, 604, 608, 609, 619, 625, 628, 650, 652 Anforderungen 28, 35, 38–40, 44, 47, 50, 65–67, 73–75, 81–85, 91–93, 105, 106, 113, 146, 151, 154, 173, 174, 176, 177, 187, 199, 207, 209,
670 Sachverzeichnis 227–229, 244–249, 251, 268, 271, 272, 278, 283, 285, 291, 293, 296, 301, 303, 312–315, 320, 328, 349–351, 361, 368, 378, 383, 388, 400, 401, 404, 423, 427, 429, 445, 456, 458, 459, 463, 466, 468–471, 477, 482, 484, 485, 488, 489, 491, 497, 498–501, 505, 509–515, 517, 518, 520–522, 536, 538, 540, 541, 564, 581, 586, 591, 617, 629, 644, 649 –– fachspezifische 249, 250, 467, 485 Angriffsgegenstände 122, 427 Antwortspielraum 23, 323, 325, 340, 341, 374, 377, 409, 421, 519, 584 Anzeigeobliegenheit 157, 184, 197 Argumentation 29, 113, 244–246, 249, 250, 260, 261, 271, 275, 311, 380, 382, 383, 385, 387–389, 397, 398, 467, 475, 487, 490, 510, 513, 531, 572 –– Folgerichtigkeit → Folgerichtigkeit der Argumentation –– Gewichtigkeit → Gewichtigkeit der Argumentation Ausgestaltung 21, 23, 26, 29, 31, 35, 36, 38, 39, 41, 45, 47, 50, 51, 56, 59, 60, 63, 64, 66–69, 71–73, 75, 79–83, 85, 86, 91, 94, 96–98, 102–104, 106, 111–113, 115, 117, 119, 121, 129, 131, 132, 134, 139, 159, 179, 211, 213–215, 266, 278, 279, 292, 317, 427, 435, 439, 442, 457, 492, 498, 501–504, 529, 557, 588, 593, 594, 601 Ausschlussfrist 184, 193–196, 203, 221, 460, 461, 462 Befangenheit 140, 149, 150, 171, 175, 186, 187, 376, 409, 411, 480, 482, 533–535, 542, 554, 571, 647, 651, 655 Befassungspflicht 536 Begründung 28, 30, 48, 99, 136, 137, 141, 160, 166, 182, 204, 206, 240, 244, 245, 261, 267, 327, 328, 343,
345, 348, 350, 351, 353, 359, 362, 363, 365, 371, 375, 378, 380–388, 390–394, 397–399, 402–406, 411, 414, 416, 417, 425, 429, 431, 433, 440–442, 445, 451–453, 482–490, 496, 499, 505, 510, 512, 516, 518, 519, 521, 526, 527, 531, 536–541, 545, 546, 548, 549, 551, 555, 563–567, 571, 572, 575, 576, 579, 580, 590, 591, 603, 611, 613, 618, 624, 625, 627, 640, 641, 652 –– Form 419, 465 –– Inhalt und Umfang 465, 491 –– mündliche Prüfungen 454 –– Nachholung 474, 476, 477 –– Nachschieben 475, 479, 480, 543, 545, 548, 549, 564 –– Rechtsgrundlagen und Anspruchs voraussetzungen 50, 52, 453 Begründungsverlangen 456, 541 Berufsfreiheit 23, 32–36, 38, 50, 72, 85, 93, 104, 105, 140, 161, 162, 234, 263, 271, 273, 279, 359, 361, 424, 446, 464, 506, 536, 596, 597, 637 Bescheidungsklage 560, 600, 602, 607 Bescheidungspflicht 536, 549 Bestehensregelungen 93, 110, 112 Bestehensvoraussetzungen 64, 66, 81, 82, 84, 85, 92, 104, 106, 111, 120, 128, 154 Beurteilungsgrundlage 228, 285, 305, 306 Beurteilungsgrundlage, Ermittlung der 230, 234 Beurteilungsspielraum 22, 23, 252, 253, 258, 263, 266–268, 288, 320, 321, 330, 333, 337, 343, 347, 354 Beweis 96, 155, 168, 175, 195, 354, 399, 641 –– Beweiserhebung 515, 641 –– Beweislastverteilung 54, 153, 195, 232, 303, 412, 636, 644, 645 –– Beweiswürdigung 642, 644 Bewertungen, fachspezifische 244, 259, 378, 395, 467, 483–485, 529
Sachverzeichnis671 Bewertungen, prüfungsspezifische 270, 271, 279, 339, 470, 486–488, 490, 495, 543, 654 Bewertungsfehler 46, 54, 139, 160, 234, 307, 412–417, 428, 475, 497, 499, 500, 505, 510, 511, 525, 552, 568, 570, 571, 573, 575, 583, 595, 597, 611, 614, 616, 636, 638, 639, 647, 652, 653, 656 Bewertungsgrundlage 467, 649 Bewertungsgrundsatz, allgemeiner / all‑ gemein gültiger 22, 23, 40–42, 252, 254, 256, 259, 262, 310, 311, 316–335, 340, 341, 355, 368, 371–375, 377, 402, 404, 406 Bewertungsmaßstab 43, 68, 246–248, 262, 272, 273, 282, 283, 290, 310, 312, 314–316, 319, 320, 328, 330, 331, 333, 340, 361, 368, 375, 379, 397, 403, 469, 508, 533, 547, 548, 550, 552, 655 –– objektiver 77, 274, 276, 281, 361 –– subjektiver 273, 278, 532, 617 Bewertungsrügen 222, 472, 509, 524, 560, 563, 566, 568–572, 575, 576, 580, 587, 588, 595, 615, 621, 627, 639, 641, 653 Bewertungsspielraum 23, 24, 40, 53, 76–78, 134, 223, 228, 234, 252, 280–283, 335, 339, 341, 373, 374, 381, 383, 384, 388, 390, 391, 396, 400, 413, 495, 501, 506, 507, 520, 521, 525, 544, 547, 563, 573, 582, 590, 593, 616, 631, 632, 645, 651 Bewertungsverfahren 140, 284, 443, 464, 491, 527, 529, 543, 637 –– formelles 222 –– materielles 226 Bewertungsvorgang 88, 142, 222, 252, 257, 270, 274, 277, 281, 284, 306, 309, 310, 313, 315, 325, 332, 333, 335, 357, 358, 395, 398, 401, 454, 475, 476, 515, 516, 527, 548, 550, 553, 637 Bindungswirkung 258, 323, 331, 424, 647
–– Urteil und Vergleich 651 Bundesnotenverordnung 44, 60, 68, 70, 71, 88, 103, 109, 111, 117–119, 227, 247, 250, 251, 270, 310, 314, 315, 328, 359, 399, 400, 401, 484, 515, 516 Chancengleichheitsgrundsatz 32, 39, 42, 43, 45–48, 51, 54, 140–146, 155, 158, 159, 161–165, 167–170, 174–179, 181–185, 190, 193–195, 197, 198, 200, 201, 203–207, 212–215, 217, 218, 220, 221, 231, 233, 236, 238, 241, 247, 248, 257, 259, 260, 262, 298, 300, 305, 306, 321, 322, 327, 330, 360, 413, 414, 476, 481, 500, 504, 508, 528, 529, 532–534, 546, 551, 553, 555–557, 570, 594, 595, 606, 610, 617, 632, 644, 649, 654, 655 Determinanten, verfassungsrechtliche 29, 31, 372, 422, 470, 501, 546, 551 Deutsches Richtergesetz → Richter gesetz, Deutsches Einheitlichkeitsgebot 67, 73, 91, 111, 112, 116, 120 Einwände 23, 50, 75, 78, 101, 132, 134, 226, 259, 356, 373, 423–425, 428, 429, 431, 433, 440–444, 448, 451, 457, 458, 464, 468, 472, 474, 493, 495–497, 499, 500, 504, 508, 510, 511, 515, 519, 522, 523, 531, 533, 537, 539, 541, 546, 549, 563, 576, 579, 580, 582–584, 586, 587, 589–591, 597, 614, 619, 622–624, 642, 643 Einwendungen –– Schlüssigkeit 522 –– Substantiierung 496 Einzelbewertung 130, 136, 280, 358, 422, 455, 488, 528–531, 542, 545, 548, 552, 553, 561–565, 577, 588, 654 Einzelnoten 125, 129, 130, 136, 138, 553, 555, 556, 558
672 Sachverzeichnis Erheblichkeit des Verfahrensmangels → Verfahrensmangel Erheblichkeit Erledigung 572, 603, 646 Eröffnung des Bewertungsspielraums 283, 309, 339 Erste juristische (Staats-)Prüfung 61, 70, 94, 102, 124, 294 Erste juristische (Staats)Prüfung 58, 59, 60, 71, 93, 99–101, 105, 114–116, 124, 291–294, 296, 297, 301, 312 Erstprüfer 77, 223, 362, 491, 492–494, 537
Gewichtung 41, 80, 89, 92, 93, 110, 119, 248, 250, 310, 313, 324, 327, 340, 345, 352, 353, 356, 357, 360, 361, 365–368, 396, 403, 410, 411, 414, 416, 417, 419, 468, 485, 488, 506, 547 Gleichbewertungsgebot 402 Gleichheitssatz 32, 45, 48, 51, 144, 247, 318, 319, 324, 403 Grenzen der Kausalitätsprüfung 644 Grenzen des Bewertungsspielraums 309
Falsifikation → Abwägungsfalsifika tionsmaßstab Fehlerquelle(n) 516 Folgefehler 327, 396 Folgefehlerprinzip 396 Folgerichtigkeit –– der Argumentation 319, 379, 388 –– der Begründung 378, 380, 384–386, 388–391, 393, 394 –– der Lösung 23, 41, 243, 244, 256, 322, 323, 326, 330, 340, 377, 379, 381, 383, 391, 393, 402, 445 Fortsetzungsfeststellungsklage 610, 613
Handlungslasten, prozessuale 571, 572, 613, 646, 656 Hauptsacheverfahren 598, 618, 619, 624, 626, 627, 631–636 Hinweispflichten 208, 462, 571
Gebot der rationalen Abwägung → Gebot der Rationalität Gebot der Rationalität 342, 343–346, 350, 370, 371, 375, 376, 403, 404, 407, 507 Gebot der Respektierung des Antwort‑ spielraums 377, 402 Gebot der Sachlichkeit 42, 54, 239, 322, 325, 326, 329, 340, 341, 371, 376, 403, 405–409, 412, 536 Gebot der zweckgerichteten Korrektur 340, 374 Gerichtliche Überprüfbarkeit 228, 289, 323, 329, 337, 355, 378, 593, 594, 596 Gewichtigkeit der Argumentation 378–380, 382, 384–388, 391, 393
Juristenausbildungsgesetz / -ordnung 61, 62, 104, 106, 107, 427, 465 Juristenausbildungsreformgesetz 58 Juristenausbildungsverordnung 62, 104 Kausalität 153, 213, 233, 234, 300, 303, 412, 415–417, 419, 420, 645 Kausalitätsprüfung 384, 412–414, 416, 419, 420, 644 Klage 415, 556, 560, 561, 565, 572, 575, 577, 603, 610, 612–614, 645, 646, 653 –– Anfechtungs- → Anfechtungsklage –– Bescheidungs- → Bescheidungsklage –– Fortsetzungsfeststellungs- → Fortsetzungsfeststellungsklage –– Leistungs- → Leistungsklage –– Verbesserungs- → Verbesserungsklage –– Verpflichtungs- → Verpflichtungsklage Klageart 559, 598 Klagegegenstand 559 Klageverfahren 162, 175, 556, 561, 585, 589 Klausur(en) 22, 69, 70, 75, 79, 80, 87, 89, 90, 97–99, 103, 108–110, 112–114, 116–118, 120–123, 125,
Sachverzeichnis673 130, 131, 141, 143, 159, 184, 186, 188–191, 193, 212–215, 218, 220, 222, 223, 231–234, 237, 239, 247, 273, 277, 286, 295–297, 303, 306, 327, 383, 391, 424, 438, 439, 441, 443, 445, 448, 452–457, 464, 467, 470, 474, 480, 482, 483, 487, 493–495, 516, 537, 575, 595–597, 600, 601, 605, 617, 624, 628, 630, 633–635, 638, 653 Klausur, Verlust 230–233, 316, 321, 324, 327, 329, 361, 372, 638, 639 Kompensation 147 –– des gerichtlichen Rechtsschutzdefizits 278 –– Kompensationsmaßnahme 169, 180–182, 200–203, 281 Kontrollformel 259, 283, 316, 324, 329, 330, 333, 339, 341, 342, 344, 348, 357, 369, 372, 374, 404, 405, 412, 567 Kontrollparameter 348, 350, 357 Kontrollverfahren, verwaltungsinternes → Überdenkungsverfahren Leistungsklage 599, 601, 608, 619, 628, 650, 652 Makel-Rechtsprechung 608 Mündliche Prüfung 22, 74, 79, 80, 84, 87–91, 93, 96–99, 103, 106, 109, 110, 112, 113, 116, 118–125, 132, 133, 143, 149, 150, 173, 180, 184, 186–194, 210, 211, 215–225, 230, 235, 237, 245, 280, 286, 297, 298, 324, 376, 409, 424, 425, 437–439, 443, 452, 454–462, 464, 469, 470, 474, 518, 540, 598, 600, 601, 605, 617, 622, 624, 627, 628, 630–635 Nachprüfungsverfahren 126, 127, 133, 425, 427, 432, 527, 529, 555–557, 563, 577, 578, 621, 623 Neubewertung 43, 142, 143, 226, 230, 410, 413–415, 476, 478–482, 532, 533, 542–545, 554, 556–558, 560–562, 564, 565, 570–572, 575,
576, 579, 582, 583, 590, 591, 597–600, 602, 603, 605, 613–617, 624, 627, 628, 631, 633 Neubewertungsbefugnis(se) 545 Nichtbestehensbescheid 437, 562, 598, 607, 609, 610–613 Notendivergenz 71 Notenskala 60, 328 Notenverbesserung 123, 137, 142, 415, 556, 604, 606, 647, 648, 653 Obliegenheit 145, 148, 152, 157, 203, 208–212, 237, 239, 425, 458, 462, 463, 497–500, 518–522, 524, 529, 530, 540, 541, 561, 567 Pflichtfachprüfung, staatliche → staatliche Pflichtfachprüfung Prozessbeendigung, Möglichkeiten der 645 Prozessvergleich 651 Prüfer –– Erst- → Erstprüfer –– Zweit- → Zweitprüfer Prüferbeteiligung 425, 428, 509, 527, 531 –– erneute 573, 576 –– gegen den Willen des Prüflings 572 –– Verzicht 531 Prüferbeteiligungsverfahren 499, 576, 577, 584, 596, 597 Prüfung –– Erste juristische (Staats-) → Erste juristische (Staats-)Prüfung –– mündliche → mündliche Prüfung –– schriftliche → Klausur –– Schwerpunktbereichs- → Schwerpunktbereichsprüfung –– staatliche Pflichtfach- → staatliche Pflichtfachprüfung –– summarische 426, 428, 499, 500, 525, 626 –– Zweite juristische (Staats-) → Zweite juristische (Staats-)Prüfung –– Zwischen- → Zwischenprüfung
674 Sachverzeichnis Prüfungsamt 28, 33, 78, 117, 126, 127, 129, 131, 133, 141, 148, 153, 156, 159, 160, 164, 169, 170, 172, 174, 175, 177–182, 193, 199, 200, 202, 204, 206–208, 210, 211, 221, 222, 225, 226, 232, 275, 279, 281–283, 286, 287, 290, 303, 305, 356, 370, 425–427, 436, 439, 447, 449, 451, 462, 463, 475, 482, 496, 498–500, 503, 504, 520, 522, 524, 525–531, 535, 553, 554, 555, 557, 558, 561, 563, 566, 571, 575, 576, 578–580, 596, 602, 615, 616, 627, 628, 637, 638, 641, 645, 647, 649, 651, 652 Prüfungsanforderungen 39, 67, 74, 91, 92, 93, 173, 174, 176, 187, 229, 299, 301, 303, 312–314, 320, 328, 388, 469, 617, 644, 649 Prüfungsaufgabe –– Auswahl 177, 178, 282, 285–291, 294 –– Eignung 285 Prüfungsbescheid 33, 105, 138, 427, 438–440, 451, 526, 554–556, 559–564, 575, 577, 578, 580, 581, 583, 595, 598, 602, 603, 608, 611, 612, 614–616, 619, 623, 628, 641, 650, 652, 656 Prüfungsentscheidung –– im engeren Sinne 280, 284, 287, 306, 307 –– im weiteren Sinne 280, 283, 415 Prüfungsstoff / -inhalt –– Auswahl 39, 96, 150, 151, 282 –– Überschreitung 150, 171, 173, 174, 176–180, 208, 299, 303 Prüfungsunfähigkeit 155, 156, 159, 169, 172, 184, 186, 189, 197, 211, 212, 215 Prüfungsverfahren 26, 44, 46, 47, 51, 54, 75, 77, 82, 95, 101, 129–132, 137, 141, 143, 145–147, 151, 153, 154, 157, 158, 163, 166, 168, 170, 171, 174, 179, 181, 183, 197–199, 203, 206–209, 221, 225, 230, 278, 280, 284–286, 306, 322, 358, 409, 433, 438, 439, 442, 454, 462, 463, 476,
477, 530, 534, 535, 546, 583, 586, 596, 600, 601, 605–607, 617, 630, 631, 649, 651 Prüfungsverfahrensfehler im engeren Sinne 180, 186 Rationalität → Gebot der Rationalität Rechtmäßigkeitskontrolle 78, 134, 265, 270, 276, 337, 526–529, 551, 567, 569, 640 Rechtsschutz –– außergerichtlicher 125, 134, 421 –– vorläufiger 617 Rechtsschutzdefizit 53, 268, 270, 278, 536, 593, 597 Rechtsschutzgarantie 32, 53, 140, 161, 162, 166, 221, 256, 261, 263, 264, 266, 268, 269, 272, 279, 358, 373, 422, 448, 501, 506, 517, 593, 594 Rechtsschutzinstrumentarium, gericht liches 598 Rechtsschutzmöglichkeiten –– außergerichtliche 125, 421 –– verwaltungsprozessuale 559 Rechtsstaatsprinzip 32, 42, 49, 52, 54, 153, 269, 318, 322, 330, 471 Reformatio in peius → Verschlechte‑ rungsverbot Regelungsgehalt 127, 435, 609 Rhetorik 74 Richter 22, 27, 29, 33, 40, 57, 94, 95, 233, 236, 244, 252, 253, 255, 256, 258, 261, 262, 269, 273, 274, 277, 370, 379, 399, 457, 460, 462, 466, 483, 484, 515, 536, 643 Richtergesetz, Deutsches 56 Richtigkeit (der Bewertung) –– objektive 338, 351, 354, 358, 368, 388, 517 –– subjektive 78, 224, 244, 273, 339, 368, 410, 421, 422, 507–509, 517 Rücktritt 163, 193, 195, 198, 203, 231 –– Erklärung 159, 172, 189, 191, 192, 208, 211, 217, 222, 650 –– Unverzüglichkeit 184, 196, 197, 203
Sachverzeichnis675 Rüge –– Unverzüglichkeit 183, 184 –– Zeitpunkt 182 –– Zumutbarkeit 152, 185, 186 Rügeobliegenheit 152, 158, 160, 162, 164, 165, 167–170, 171, 172, 174–180, 182, 187–189, 197–199, 204, 210, 541, 638 Rügepflicht → Rügeobliegenheit Sachlichkeitsgebot → Gebot der Sachlichkeit Sachverhaltsermittlung 229, 349, 353, 412, 588, 639 Satzungsautonomie 64, 81 Schlüsselqualifikationen 73, 74, 83, 84, 86, 88, 91, 96, 103, 106, 107, 110, 113, 116, 294, 297 Schlüssigkeit der Einwendungen 522 schriftliche Prüfung → Klausur Schwerpunktbereichsprüfung 28, 58–60, 62, 63, 67, 71, 73, 79, 114, 122–124, 128–132, 136–138, 224, 292 –– Ordnungen 62, 123, 134, 223 Sphärentheorie 638 staatliche Pflichtfachprüfung 58, 60, 75, 95, 97, 99, 102, 114–116, 118–121, 124, 127–129, 135, 137, 220, 286, 292, 298, 301, 311, 606, 612 Stellungnahme, Prüfer 417, 427, 428, 522, 526, 527, 537, 541, 546, 554, 563, 564, 566, 569, 571, 575, 576, 578, 579, 582, 595, 615, 641, 651 Störungen –– äußere 149, 186, 188, 649 –– innere 149, 189 Streitgegenstand → Klagegegenstand Substantiierungsformel 517, 519, 521 Substantiierungsobliegenheit 425, 458, 498, 500–505, 509, 520–522, 529, 530, 540, 541, 561, 567, 569, 571, 592–595, 636
Überdenkungsverfahren 24, 25, 28, 30, 50, 51, 53, 75, 76, 78, 85, 126, 127, 133, 134, 139, 279, 369, 421, 572 –– Durchführung 526 –– Einleitungsvoraussetzungen 496 –– erneuter Eintritt 572 –– gesetzliche Regelung 425 –– Verzicht 574, 575 Überprüfbarkeit → gerichtliche Überprüfbarkeit Überprüfungskompetenz –– Gericht 22, 279, 567 –– Prüfer 542, 545, 550, 552 Unverzüglichkeit –– der Rüge → Rüge Unverzüglichkeit –– des Rücktritts → Rücktritt Unverzüg‑ lichkeit Unzweckmäßigkeit 272, 279 Urteil 39, 72, 95, 98, 227, 228, 242, 243, 248, 251, 267, 277, 282, 290, 318–321, 323–325, 327, 328, 330, 355, 382, 386, 389, 394, 400, 408, 460, 465–467, 473, 483, 486, 492, 494, 510, 512–516, 523, 539, 547, 558, 585, 587, 602, 603, 611, 646, 647, 651 Verantwortung 64, 81, 173, 174, 179, 180, 182, 200, 207, 222, 230, 276, 463, 502, 579, 650 Verbesserungsklage 552, 600, 647 Verbot der Anstellung sachfremder Erwägungen 41, 42, 340, 341, 351, 373, 374, 377, 408 Verbot der Vorwegnahme der Haupt sache 626 Verfahren –– Nachprüfungs- → Nachprüfungs verfahren –– Überdenkungs- → Überdenkungs verfahren –– verwaltungsinternes Kontroll- → Überdenkungsverfahren –– Widerspruchs- → Widerspruchs verfahren
676 Sachverzeichnis Verfahrensfehler 141, 144, 146, 147, 215, 219, 221, 226, 231, 232, 282, 285, 307, 412, 413, 477, 519, 573, 574, 583, 637, 638, 644, 653 Verfahrensherrschaft 166, 173, 175, 181 Verfahrensmangel 141, 144, 145, 147–149, 157, 158, 162–171, 175, 176, 178–180, 182–186, 197, 200, 203–206, 208, 209, 211, 213, 217, 218, 221, 302, 303, 525, 526 –– äußerer 149, 186 –– Erheblichkeit 152 –– innerer 149, 189 Vergleich 44, 47, 178, 646, 651 Vergleichbarkeit 40, 46, 47, 68, 99, 112, 117, 120, 144, 164, 186, 188, 213–215, 251, 257, 305, 331, 356, 387, 402, 403, 476, 515, 532, 554 Verhältnismäßigkeitsgrundsatz 34, 35, 38, 42, 55, 72, 94, 113, 201, 212, 250, 336, 360, 368, 595 Verlust der Prüfungsleistung / Klausur → Klausur, Verlust Verpflichtungsklage 125, 126, 559, 599–602, 607, 608, 616, 619, 651 Verschlechterungsverbot 476, 543, 545, 546, 550, 553, 555, 557, 558, 649, 654, 655 Verwaltungsakt 38, 53, 125, 128–138, 153, 263, 410, 425–427, 432, 434, 443, 453, 478, 498, 545, 555, 562, 578, 585, 599–601, 608, 609, 619, 621, 648 Vorprüfung 530, 531 Vorwegnahme der Hauptsache, Verbot der → Verbot der Vorwegnahme der Hauptsache
Wesentlichkeitstheorie / -lehre 36, 37, 50, 64, 81, 91, 104, 105, 198, 199, 221, 268, 425, 428 Widerspruch 125–128, 130, 253, 319, 407, 426, 427, 445, 526, 554, 558, 562, 576, 598, 623 Widerspruchsverfahren 23, 29, 75, 101, 125, 126, 128, 133, 134, 139, 175, 226, 241, 279, 423, 427, 428, 432, 434–436, 445, 496, 498, 502, 522, 526, 559, 561–563, 569, 577–579, 581, 582, 584–586, 588–597, 612, 620, 621, 624, 627 Wiederholung 64, 70, 76, 78–81, 85, 103, 117, 123, 143, 144, 147–149, 157, 159, 163, 175, 178, 190, 191, 200, 201, 203, 205, 211–213, 215, 217, 218, 219, 231, 232, 285, 510, 513, 570, 603–606, 608–610, 613, 617, 632, 633, 637, 649 Zumutbarkeit, Vorbehalt der 185, 186 Zweckmäßigkeit 229, 289, 395, 467, 487, 558 –– Kontrolle 134, 265, 273, 279, 508, 528, 529, 585, 586, 589, 592, 593 –– Überprüfung 273, 289, 527, 528, 592 Zwei-Prüfer-Prinzip 77, 118, 223, 225, 278 Zweite juristische (Staats-)Prüfung 75, 112, 116, 126, 216, 441, 453, 515 Zweite juristische (Staats)Prüfung 22, 28, 33, 58, 60, 115, 124, 127, 128, 138, 222, 286, 294–298, 302, 311–313, 425, 447, 448, 606, 609 Zweitprüfer 77, 78, 88, 109, 223, 274, 356, 362, 491–495, 537 Zwischenprüfung 28, 58, 60, 63, 79, 81, 82, 86, 88, 89, 97, 102, 108, 122, 123, 129, 222